Wege des Humanismus: Studien zu Techniken und Diffusion der Antike-Leidenschaft im 15. Jahrhundert 9783161500473, 9783161586101, 3161500474

Im Zentrum des Bandes steht die Frage nach der Diffusion des Humanismus. Von Italien ausgehend, wurde der Humanismus als

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Titel
Inhaltsverzeichnis
I. Wege des Humanismus: Einleitung
II. Der Humanismus in Deutschland
III. Diffusion des Humanismus
IV. Vestigia Aeneae imitari. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel’ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion
V. Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz
VI. Der europäische Humanismus und die Funktionen der Rhetorik
VII. Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus
VIII. Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500
IX. Pius II. und die Türken
X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist. Die ,Invectiva in Felicem antipapam‘ (1447)
XI. Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie
Verzeichnis der Publikationsorte
Personen- und Werkeregister
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Wege des Humanismus: Studien zu Techniken und Diffusion der Antike-Leidenschaft im 15. Jahrhundert
 9783161500473, 9783161586101, 3161500474

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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Matthias Pohlig (Münster), Eva Schlotheuber (Düsseldorf)

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Johannes Helmrath

Wege des Humanismus Studien zu Praxis und Diffusion der Antikeleidenschaft im 15. Jahrhundert Ausgewählte Aufsätze Band 1

Mohr Siebeck

Johannes Helmrath, geboren 1953; 1984 Promotion; 1995 Habilitation; 1988–97 Mit­ arbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaf­ ten in Köln am Editionsunternehmen „Deutsche Reichstagsakten“; 1995/96 Lehrtätig­ keit an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1996/97 an der Universität zu Köln; seit 1997 Professor für mittelalterliche Geschichte mit besonderer Berücksichtigung des Spätmit­ telalters an der Humboldt-Universität zu Berlin; Mitglied der Mittelalter-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Sprecher des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“.

ISBN 978­3­16­150047­3 / eISBN 978-3-16-158610-1 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865­2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver­ lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und V erarbeitung in elektronischen Sys­ temen. Das Buch wurde von Gulde­Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Inhaltsverzeichnis I.

Wege des Humanismus: Einleitung...................................................... 1

II.

Der Humanismus in Deutschland ....................................................... 17

III.

Diffusion des Humanismus ................................................................ 53

IV.

Vestigia Aeneae imitari. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel’ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion ...................... 73

V.

Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz ........... 115

VI.

Der europäische Humanismus und die Funktionen der Rhetorik ..... 159

VII.

Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus ......................................................... 189

VIII. Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500 .................. 213 IX.

Pius II. und die Türken ..................................................................... 279

X.

Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist. Die ,Invectiva in Felicem antipapam‘ (1447) ................................... 343

XI.

Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie ....... 379

Verzeichnis der Publikationsorte .................................................................. 431 Personen- und Werkeregister ...................................................................... 433

I.

Wege des Humanismus: Einleitung Der Renaissancehumanismus gehört zu den großen Themen historischer Forschung. Auch der Verfasser ist seinem eigentümlichen Sog gefolgt, wenn auch erst relativ spät. Die eigenen Aufsätze lesen und einleiten zu müssen, bedeutet freilich, einen Blick in den Rückspiegel zu tun, oder ein geistiges Zimmer zu betreten, das man nicht mehr selbst bewohnt, das aber noch zur Wohnung gehört. Der Verfasser hat lange gezögert, der Anregung Berndt Hamms und Jürgen Miethkes zu folgen, diese Publikation zu wagen – und formuliert den unvermeidlich zu erwartenden Kommentar vorweg gleich selbst: „Wenn er schon keine Bücher schreibt, müssen eben die Aufsätze das Buch machen.“ Es sei dahingestellt, ob es tatsächlich, wie Theodor E. Mommsen meinte, unter Wissenschaftlern einen „Buchtyp“ und einen „Aufsatztyp“ gibt. Für die Publikation gab einzig die Zuversicht den Ausschlag, dass die hier vereinigten Aufsätze kein bloßes Florilegium bilden, sondern eine inhaltliche Kohärenz aufweisen und der Forschung in ihrer Gemeinsamkeit größeren Nutzen bieten können als an ihren disparaten Erscheinungsorten. Wie der Historiker zu seinen Gegenständen kommt, ist eine merkwürdige Verkettung von Zufällen, von wirklichen Entscheidungen, – sei es für Themen, die in Mode sind, sei es für solche, die es gerade nicht, Forschungslücken also, – und dem Gewahrwerden von Affinitäten, die nicht immer rational erklärbar sind. In gemessener Bewegtheit zurückblickend könnte der Verfasser versuchen, seinen Weg zur Humanismusforschung auszumachen, in moderner geschichtswissenschaftlicher Diktion wohl eher: zu konstruieren. So stünden am Anfang die Persönlichkeit seines stets oratorisch gestimmten, von der Antike begeisterten Vaters, seine Latein- und Griechischlehrer des Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen, in den achtziger Jahren die Seminare seines Kölner Lehrers, des Mediävisten Erich Meuthen, zum deutschen und europäischen Humanismus. Zuvor hatte Meuthen bereits das Interesse auf das Gebiet der Kirchengeschichte, insbesondere der Konzilienforschung gerichtet, woraus die Dissertation ‚Das Basler Konzil 1431–1449‘ (1987) erwuchs. Hierin befindet sich schon ein kleines Kapitel über ‘Humanisten’, das in den folgenden Jahren ausgebaut wurde. Dabei inspirierte stets der Besuch der famosen, von Fritz Schalk aufgebauten Bibliothek des Petrarca-Instituts der Universität zu Köln. Dazu kamen die kurzen Begegnungen mit Paul Oskar Kristeller und die ausgiebigeren mit Agostino Sottili. Unter den an- und umtreibenden Lektüren wirkten am frühesten motivierend, kaum verwunderlich,

I. Wege des Humanismus

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Jacob Burckhardt, dann Ernst Robert Curtius’ ,Lateinische Literatur und Europäisches Mittelalter‘, Aby Warburg und besonders wiederum Kristeller in ihren gesammelten Aufsätzen1 und das außergewöhnliche Renaissance-Buch des russischen Gelehrten Leonid Batkin,2 welches seinerseits stark vom Theorem der Dialogizität Michail Bachtins angeregt ist. Doch keine Geschichte ohne Menschen. Der Weg zum Humanismus war auch ein Weg auf den Spuren von Enea Silvio Piccolomini (1406–1464), der als Person und Autor schon während der Studien über das Basler Konzil jene lebendig-leichte und doch immer pointierte Präsenz gewann, die wohl kein anderer Autor der Zeit zu evozieren vermag.3 Als Epistolograph und Redner begleitete er, immer plastischer werdend, die Arbeiten an der Edition des Bandes 19.2 der ‚Deutschen Reichstagsakten‘, der dem Frankfurter Tag von Oktober 1454 gewidmet ist. Durchaus folgerichtig wurde er mit seinen Reden dann zum Hauptgegenstand der Habilitationsschrift und zugleich für den Verfasser, und nicht nur für ihn, zur Lieblingsfigur, zur Personifikation des Humanismus überhaupt. Offen oder verdeckt ist der Piccolomini, ist Papst Pius II. auch die zentrale Gestalt dieses Bandes. Zwei Beiträge sind ausschließlich ihm und seinen Rollen gewidmet (Nr. IV und IX), in allen anderen kommt er mehr oder weniger prominent vor. Mit ihm verbinden sich auch die zentralen Begriffe des Bandes: Diffusion und Transformation, Rhetorik und Historiographie. Das Vertrautwerden mit einer Person der Vergangenheit hat trotz (oder wegen?) seiner vorwissenschaftlichen Elemente für den Historiker etwas Beglückendes, das nur der versteht, der es selbst erleben durfte. Es mag einerseits der Gefahr trübenden Distanzverlusts ausgesetzt sein, es lässt andererseits gerade jene Formen individueller Intimität leichter nachvollziehen, welche die Humanisten mit ihren Klassikern pflegten, die nach Petrarcas berühmten Worten nobiscum vivunt, cohabitant, colloquuntur.4

1

PAUL O. KRISTELLER: Humanismus und Renaissance, hg. von ECKHARD KEßLER, 2 Bde., München 1973 (als Taschenbuch 1975); DERS.: Studies in Renaissance Thought and Letters I–IV (Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi 54, 166, 178 und 193), Rom 1984– 1996. Kristellers Versuch einer Definition des Humanismus als kulturelle beziehungsweise wesentlich textuell-literarische Praktik auf dem Feld der fünf Humaniora in der Tradition der mittelalterlichen dictatores ist trotz ihrer Engführung nach wie vor eine der wenigen praktikablen. ABY W. WARBURG: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von DIETER WUTTKE (Saecula Spiritalia 1), Baden-Baden 31992 (zuerst 1980). 2 LEONID BATKIN: Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps, Dresden 1979. 3 Dieses Gespür vermittelt feinsinnig ARNOLD ESCH: Landschaften der Frührenaissance. Auf Ausflug mit Pius II., München 2008. 4 FRANCESCO PETRARCA: De remediis utriusque fortunae/Heilmittel gegen Glück und Unglück. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl übersetzt von RUDOLF SCHOTTLÄNDER, hg. von ECKHARD KEßLER (Humanistische Bibliothek II/18), München 1988, 48.

I. Wege des Humanismus

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1. Humanismus: Antikebegeisterung, ihre Formen und Funktionen Damit kommen wir auf den zweifellos ebenso vorwissenschaftlichen wie erläuterungsbedürftigen Begriff im Untertitel des Bandes zu sprechen: ,Antikebegeisterung‘. Sie scheint mir in der Tat eine habituelle Gestimmtheit der Humanisten zu sein. Das emphatische Bewusstsein von der eigenen Epoche, das ebenso intime und emotionale wie zugleich unweigerlich historisch gebrochene Verhältnis zu Werk und Person der Klassiker, die pathetische Wiedergeburts- und Dunkel-Lichtmetaphorik bei den prestigeträchtigen ‘Scoperte’ von Klassikerhandschriften, das große Pathos bei der philologischen Reinigung der renatae litterae, ein missionarisches Sendungsbewusstsein, die Sammelleidenschaft – all dies bildet diejenige affektive Komponente des Humanismus, die in der älteren Forschung von Georg Voigt bis hin zu August Buck als die eigentliche, die epochale Innovation angesehen wurden. Ich glaube, dass diese Sicht zwar stark verengt, aber nicht, dass sie im Wesen verfehlt ist. Man könnte sogar so weit gehen, von einem Lustfaktor, von ästhetischer Manier zu sprechen, von Wort-Erotik im Lateinischen, die aber mit heiligem Ernst betreiben wird, vom neuen Pläsir der Intertextualität, das freilich schon lange bibel- und rechtsgeschult war. Vielleicht darf man sogar den Begriff eines Antike-Fetischismus bemühen, der freilich spätere Renaissancisten noch weit stärker befallen sollte als ihre durchaus pädagogisch bewegten Vorbilder des Quattrocento.5 Daß Begeisterung nicht rotwangige Verzücktheit bedeutete, war bereits Jacob Burckhardt deutlich. Der Freundschaftskult der Humanisten war zugleich Streitkultur. Und das Verhältnis der Humanisten zur Antike war nicht naiv, sondern im schillerschen Sinn sentimentalisch. Habitus und Texte der Humanisten changieren in verschiedenen simultanen Attitüden,6 sie sind multiperspektivisch, dialogisch, oft genug ironisch gebrochen oder von obszönem Witz; sie schrieben sich ein in verschiedene antike Traditionen, die sie dabei in einem Akt imaginativer Überblendung ebenso transformierten wie sich selbst. Man mag bloß an manche fast selbstquälerisch vergrübelten Texte Petrarcas, an Leonardo Brunis ‚Dialogi in Petrum Histrum‘ oder die ,Commentarii‘ Pius’ II. denken. Dennoch lässt sich die unmittelbare Begeisterung, die Empathie für die längst vergangenen Meister der antiken ‘Leitkultur’ als durchgängiger Wesenskern fassen, um den sich vor allem die Praktiken und Techniken der Begegnung mit antiken Texten gruppierten, die 5

Vgl. HARTMUT BÖHME: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006, hier etwa 237–248 über Aby Warburg. 6 Zum Problem des Habitus und der humanistischen Gruppenkultur am Beispiel der monastischen Humanisten HARALD MÜLLER: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Gespräch (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 34), Tübingen 2006, sowie unter dem Aspekt der politischen Indienstnahme ALBERT SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien. Neue Folge 4), Köln/Weimar/Wien 2003.

I. Wege des Humanismus

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immens arbeitsintensiven Modi ihrer Aneignung durch Abschreiben, Memorieren, Anlegen von Listen der loci communes, Emendieren und Edieren.7 Diese Praktiken, Haltungen und Wertvorstellungen generierten eine elitäre Corona oder, erlauben wir uns die Anleihe bei Ludwik Fleck, ein neues Denkkollektiv, einen neuen Denkstil. Die Renaissance und der ihr zugehörige, aber engere Bereich des Humanismus, bezeichnen ja Wandlungsprozesse, die nicht Geringeres als eine Neuformierung der europäischen Kultur in vielen Bereichen bewirkten. Das Verhältnis zur Antike, die Modi der Antikeaneignung sind lediglich ihre Parameter – und nur auf dieser Ebene wäre es, wenn überhaupt, sinnvoll, die Epochendiskussion Mittelalter/Renaissance erneut zu führen. Denn der rasante Erfolgsweg des Humanismus zur kulturellen Deutungshoheit war nicht providenziell; er beruhte ebenso wenig wie zuvor der Erfolg der mittelalterlichen Universität rein auf schöngeistiger Emphase. Dieser Erfolg ist vielmehr nur funktional und politisch überhaupt erklärlich, als Antwort auf neue Bedürfnisse, als performatives Vehikel, Autorisierung und Katalysator eines Elitenwechsels. Um es mit Gerrit Walther pointiert zu formulieren: „Historisch betrachtet ist Humanismus die Summe seiner Funktionen.“8 Die Mächtigen verstanden bald, diese keineswegs weltfremden Bucherotiker in Dienst zu nehmen und deren spezifische Kompetenz für ihre Zwecke im politischen Feld zu funktionalisieren. Sie passten sich aber gleichzeitig deren Habitus an. Auch der Fürst ist seither antikegebildet und weiß lateinische Verse zu zitieren, wenn nicht selbst zu schmieden. So diente Wissen der Macht und kam selbst an die Macht. Daß der Humanismus somit einerseits ein Phänomen europäischer Globalisierung darstellt, zugleich aber ebenso stringent den ersten nationalen Großdiskurs auslöste, macht eine seiner vielen dialektischen Spannungen aus.9

7

Zu den humanistischen ‘Techniken’: AUGUST BUCK: ‘Studia humanitatis’ und ihre Methode, in: Die humanistische Tradition in der Romania, Bad Homburg 1968, 133–150 (zuerst 1959); REMIGIO SABBADINI: Il metodo degli umanisti (Bibliotechina del ‚Saggiatore‘ 3), Florenz 1922 (ND New York o. J.); SILVIA RIZZO: Il lessico filologico degli umanisti (Sussidi eruditi 26), Rom 1973, sowie KRISTELLER (wie Anm. 1), passim; ANTHONY GRAFTON: Joseph Scaliger – A Study in the History of Classical Scholarship. Vol. I: Textual Criticism; Vol. II: Historical Chronology, Oxford 1983–1993; DERS.: Commerce with the Classics: Ancient Books and Renaissance Readers (Jerome Lectures 20), Ann Arbor 1997; RONALD G. WITT: ‘In the Footsteps of the Ancients’: The Origins of Humanism from Lovato to Bruni (Studies in Medieval and Reformation Thought 74), Leiden 2000. 8 GERRIT WALTHER: Funktionen des Humanismus. Fragen und Themen, in: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von THOMAS MAISSEN/GERRIT WALTHER, Göttingen 2006, 9–17, hier 11. 9 Dazu anregend CASPAR HIRSCHI: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005; DERS.: Vorwärts in die Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland, in: Funktionen des Humanismus (wie Anm. 8), 362–395.

I. Wege des Humanismus

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Diese Wege des Humanismus von Italien durch Europa zu verfolgen fasziniert, verlangt aber auch nach einem nuancierten methodischen und begrifflichen Instrumentarium. Wie verbreiten sich Ideen und Haltungen, auf welche Weise werden sie verbreitet? Die folgenden Beiträge kreisen fast alle um dieses Problem und fügen sich so in eine Forschungstendenz ein, die den Prozessen des kulturellen Transfers und Austauschs und deren Medien wachsendes Augenmerk schenkt. Dabei wurde zunächst am Begriff der ‘Diffusion’ gearbeitet (Nr. III), drückt dieser ursprünglich biologische Begriff doch den unleugbar vorhandenen Aspekt des Nichtintentionalen und doch Gerichteten im Prozeß der Verbreitung besser aus als ältere Termini. An ihm ist festzuhalten. Aber er wurde wesentlich weiterentwickelt durch den Begriff der ‘Transformation’. Dieser erweist sich als breiter und besser operationalisierbar; es fehlt ihm gegenüber ‘Diffusion’ allenfalls der Charakter der gerichteten Bewegung. Der Sonderforschungsbereich 644 ,Transformationen der Antike‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin hat daraus mittlerweile ein Organon entwickelt, mit dem sich sowohl auf der Ebene der transformierten (antiken) Objekte wie auf Ebene der daran beteiligten (und häufig genug emphatisch bewegten) Akteure das Phänomen Humanismus als Ausdruck, aber auch Praxis kulturellen Wandels beschreiben läßt. Ich zitiere aus dem Programm: „Transformationen sind komplexe Wandlungsprozesse, die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen. Dabei wird im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur, sondern auch die Referenzkultur in verschiedensten Möglichkeiten modifiziert.“ Antike entsteht dabei jedes Mal neu. Für diese stets reziproke Veränderung wurde der Begriff ‘Allelopoiese’ geprägt. Wesentliche Aneignungsmodi sind bei derartigen Transformationsprozessen solche der (projektiven, introjizierenden, adaptiven, verschmelzenden) Identifikation, der Autorisierung durch Antike.10 Eben dies ist das Arbeitsfeld, an welches sich die hier neu aufgelegten Aufsätze heranzutasten versuchten, freilich – mit Ausnahme von Nr. XI – vor Entfaltung der Berliner Transformationstheorie. Wie sehr die Forschung und mehr noch das allgemeine Bild der Renaissance von Burckhardts Vorstellung eines Epochenbruchs zum Mittelalter, von der ,Entdeckung des Individuums‘, der von Jules Michelet entlehnten Formel ,Entdeckung der Welt und des Menschen‘ geprägt sind, ist bekannt. Humanismus und Renaissance waren zwar keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, aber die Bilder von ihnen wurden hier tief und dauerhaft geprägt: vom Klassi-

10

Siehe jetzt: Transformation. Eine Theorie des kulturellen Wandels, hg. von LUTZ BER2011, besonders HARTMUT BÖH-

GEMANN/HARTMUT BÖHME/MARTIN DÖNIKE u.a., München ME: Einladung zur Transformation, S. 7–38, hier 11.

I. Wege des Humanismus

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zismus wie von Neuromantik und Renaissancismus,11 vom Zweiten Humanismus Wilhelm von Humboldts, und vom Dritten Humanismus eines Werner Jaeger. Dieser Bildungsidealismus, das Ideal der Bildbarkeit und Moralisierbarkeit durch Sprache, er sitzt uns noch latent im Hirn. So schreibt ‘der Renaissancehumanismus’, Etikett für eine Geistesströmung, zwangsläufig auch die Geschichte seiner forschenden Träger und Präger. Über Humanismus und Renaissance zu forschen bedeutete stets, seinen Gegenstand in Begriff und Sache zu reflektieren, seine stets prekäre und angezweifelte Existenz zu manifestieren und damit implizit neu zu konstituieren. Vielleicht hat der Mediävist hier die besseren Voraussetzungen, denkt er doch die Kontinuitäten a priori stärker mit. Zwar klingen die alten Platten der Epochendiskussion,12 das Burckhardt-Paradigma, die sogenannte ‘Revolte der Mediävisten’ mittlerweile arg abgenutzt, doch drehen sie sich noch immer. Nicht selten begegnet dem Humanismusforscher der unausgesprochene Verdacht, er sei ‘gegen das Mittelalter’; dies wohl deshalb, weil bekanntlich schon die Humanisten selbst ‘gegen das Mittelalter’ gewesen seien und dessen finsteres Zerrbild kreiert hätten. Und noch manch heutiger Mittelalter- oder Reformationshistoriker assoziiert mit Renaissance wenn nicht gleich verbuhlte Päpste, so doch ‘irgend was mit nackten Venussen’. Ein junger Historiker, der mit Humanismusthemen in der Zunft reüssieren möchte, hängt unweigerlich zwischen den hier – ganz dysdisziplinär – immer noch ehernen Fachgrenzen von Mittelalter und Früher Neuzeit. Er sitzt, grenzpolizeilich beäugt, zwischen den (Lehr-)Stühlen. Dabei hat der Renaissancehumanismus seine Basis im Mittelalter, nicht in der Antike selbst, und ohne das Mittelalter wäre er weder zu denken noch zu erforschen. Die Humanisten mußten ihr Dazwischen entdecken, um Humanisten sein zu können. Keine Antikebegeisterung ohne Mittelalter. Und deshalb muß der Renaissanceforscher auch Mediävist sein, um die Kontinuitäten wie das Neue zu sehen, um seiner rhetorischen Prätension nicht zu erliegen.

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Das breite Renaissanceinteresse der wilhelminischen Zeit brachte auch so reizvolle Randblüten wie die von MARIE HERZFELD im Verlag Eugen Diederichs herausgegebene, auf 24 Bände angelegte Reihe ,Das Zeitalter der Renaissance. Ausgewählte Quellen der italienischen Kultur.‘ hervor. Die Reihe wurde im 1. Weltkrieg unvollendet eingestellt. 12 Statt vieler Titel zur älteren Renaissancedebatte: WALLACE K. FERGUSON: The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation (Renaissance Society of America Reprint Texts), Toronto u.a. 2006 (zuerst 1948); AUGUST BUCK (Hg.): Zu Begriff und Problem der Renaissance (Wege der Forschung 204), Darmstadt 1969, hier besonders HANNS W. EPPELSHEIMER: Das Renaissance-Problem, 96–121 (zuerst 1933); jetzt anregend WILLIAM CAFERRO: Contesting the Renaissance (Contesting the Past), Chichester 2011, v.a.1–30, 96– 125.

I. Wege des Humanismus

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2. Die Situation der Humanismusforschung vor und nach 1945 Man bringt seine Person in die Forschung ein, aber genauso wird man von ihr sozialisiert. Wissenschaftsgeschichte zu betreiben heißt insofern Selbsterkundung zu betreiben. Die Forschung der Nachkriegsjahrzehnte war in Deutschland zweifellos durch die Zwangsemigration zahlreicher meist jüdischer Gelehrter, vor allem Philosophen und Kunsthistoriker, stark geschwächt: eines Ernst Cassirer, Paul Oskar Kristeller, Hans Baron, Erwin Panofsky, Raymond Klibansky, Gerhart B. Ladner, Edgar Wind, Rudolf Wittkower und vieler anderer. Doch haben Nostalgie und Trauer über den selbstverschuldeten Verlust deutscher Gelehrter13 wohl auch zu dessen Mythisierung geführt und dürfen nicht über zwei Dinge hinwegtäuschen. Erstens: Die deutsche Humanismusforschung verfügte auch vor 1933 über kein breites Netzwerk und keine eigenen Institutionen, sondern wurde wesentlich von solitären Randfiguren betrieben. Dazu zählten die Germanisten Ludwig Geiger (1848–1919), Konrad Burdach (1859–1936), die Historiker Paul Joachimsohn (1867–1930) und Eberhard Gothein (1859–1923) sowie dessen Sohn, der Romanist Percy Gothein (1896–1944), der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929), er als einziger ansatzweise schulbildend, dazu zählten der junge Hans Baron (1900– 1988) – in Berlin Schüler von Ernst Troeltsch, in Leipzig von Walter Goetz –, und ein krasser Außenseiter wie Ludwig Bertalot (1884–1960).14 Zweitens: Die später berühmten Emigranten wie Baron, Klibansky, Kristeller und andere standen vor ihrer Emigration, mit Ausnahme Cassirers und Panofskys, erst am Anfang möglicher Karrieren und bauten ihre Forschung wie ihre Wirkung erst im Land ihrer Immigration auf. Unter ihnen war wiederum Paul Oskar Kristeller nach Produktivität, Einfluß und Schulbildung singulär. Hans Baron, zum Vergleich, blieb zeitlebens Bibliothekar an der Newberry Library in Chicago.15 Das hinderte ihn nicht, mit seinem ‚Bürgerhumanismus/civic 13

Vgl. JÜRGEN PETERSOHN: Deutschsprachige Mediävistik in der Emigration. Wirkungen und Folgen des Aderlasses der NS-Zeit (Geschichtswissenschaft – Rechtsgeschichte – Humanismusforschung), in: Historische Zeitschrift 277 (2003), 1–60. Eine Ausweitung auf die gesamte Renaissanceforschung ist Desiderat. 14 Zur deutschen Renaissanceforschung siehe PETER P. RIEDL: Epochenbilder – Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930, Frankfurt am Main 2005, hier zu Geiger 179–189, 213–244; PERDITA LADWIG: Das Renaissancebild deutscher Historiker, Frankfurt am Main/New York 2004. Kurzer Überblick zur Renaissanceforschung in Berlin vor 1945: JOHANNES HELMRATH: Geschichte des Mittelalters an der Berliner Universität II: 1902/1918 bis 1945, in: Geschichte der Universität Unter den Linden 1810 bis 1910, Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, hg. von HANS-ELMAR TENORTH, Berlin 2010, 371–410, hier 377–379. 15 Zu Kristeller: Kristeller Reconsidered: Essays on his Life and Scholarship, hg. von JOHN MONFASANI, New York 2006; CHRISTOPHER S. CELENZA: Italian Renaissance History in the Twentieth Century: Eugenio Garin and Paul Oskar Kristelller, in: DERS.: Lost Italian Renaissance (wie Anm. 12), 16–57. Zu Baron: KAY SCHILLER: Hans Baron und der Bürgerhumanismus, in: DERS.: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 20. Jahr-

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I. Wege des Humanismus

humanism‘ eine der prägnantesten und zugleich umstrittensten Forschungsthesen zum Humanismus in die Welt zu setzen.16 Die zahlreichen, nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten gegründeten ,Departments of Renaissance Studies‘ waren als unverkennbarer Europäisierungsschub zwar ein internes bildungspolitisches Phänomen der USA. Damit hängt aber zusammen, dass die ‚American Renaissance Society‘ und ihre Tagungen schon quantitativ derzeit die wichtigste, ja: die eigentliche internationale Organisation ihrer Art in der Gegenwart darstellt. In Deutschland waren Träger der Humanismusforschung nach 1945 – ihre Geschichte ist noch zu schreiben und nur einige Vertreter können hier genannt werden – vor allem Romanisten wie Fritz Schalk (1902–1980) und August Buck (1911–1998), der zeitweise die Rolle eines Doyens einnahm, ferner Neu-Latinisten wie Walther Ludwig, Germanisten wie Franz-Josef Worstbrock, Wilhelm Kühlmann und Dieter Wuttke, der Medizinhistoriker Gundolf Keil und eben Mittelalter-Historiker wie Otto Herding (1911–2001) und sein Schüler Dieter Mertens in Freiburg, wie Alfred A. Strnad (1937–2003) in Innsbruck und auch Erich Meuthen in Köln. Ihm sieht sich der Verfasser seit 35 Jahren in großer Dankbarkeit verbunden. Meuthen sah seine Humanismusstudien freilich immer als liebgewonnene Ausflüge,17 nicht als Zentrum seiner Arbeit an; dieses blieb immer Nikolaus von Kues. Aus dem Exil zurückgekehrt war der Jurist Georg Kisch (1889–1985), um nun im Alter ab 1952 in Basel die humanistische Jurisprudenz als Forschungszweig aufzubauen. Eine stärker philosophisch-rhetorische Richtung (Humanismus als „erste Aufklärung“) vertraten der Gentile-Schüler Ernesto Grassi (1902–1991)18 und seine Nachfolger Eberhard Otto, Eckhard Keßler hundert, Frankfurt am Main 2000, 99–173; LADWIG: Renaissancebild (wie Anm. 14), 278– 359. Kritisch RICCARDO FUBINI: Renaissance Historian. The Career of Hans Baron, in: Journal of Modern History 64 (1992), 541–574. Weitere Beiträge Fubinis zur Wissenschaftsgeschichte der Humanismusforschung: DERS.: L’Umanesimo italiano e i suoi storici. Origini rinascimentali – critica moderna, Mailand 2001, 211–336 (v.a. über Jacob Burckhardt). Für eine wissenschaftshistorische Bibliographie aller genannten Gelehrten ist hier nicht der Ort. Von zentraler Bedeutung sind dabei die fortlaufend erscheinenden Editionen der Briefwechsel Panofskys und Kristellers. 16 JAMES HANKINS (Hg.): Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections, Cambridge 2000. Siehe auch Anm. 15. 17 Dies gilt selbst für seinen magistralen Überblick: Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus, in: Säkulare Aspekte der Reformationszeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 5), hg. von HEINZ ANGERMEIER, München 1984, 217–276. Ebenfalls nur Teile Ihres Oeuvres widmeten etwa Michael Seidlmayer (1902–1961) oder Peter Herde dem Humanismus. 18 Zu Grassi vor 1948 jetzt: WILHELM BÜTTEMEYER: Ernesto Grassi – Humanismus zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, Freiburg im Breisgau/München 2009. Siehe auch CLAUDIA RAZZA: Ernesto Grassi: L’umile potenza del suo umanesimo, in: Germania Latina – Latinitas Teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis zu unserer Zeit, hg. von ECKHARD KEßLER und HEINRICH C. KUHN (Humanistische Bibliothek I/54), München 2003, 879–888.

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und Thomas Ricklin, an dem von Grassi 1948 in München gegründeten, 1985 umbenannten ‚Institut für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance‘. Auch Paul Oskar Kristeller (1905–1999) hätte als Schüler des Cusanus-Forschers Ernst Hoffmann diese Richtung tragen können. Er vereinigte in seiner Person einen philosophischen Impetus einerseits, so in seinen Studien zu Marsilio Ficino, mit extensiv handhaftem Quellenzugriff andererseits; beides nicht zuletzt auch in einer italienischen Tradition, die seit Remigio Sabbadini (1850–1934) Humanismusforschung einerseits wesentlich als Wissenschaft der Handschriften- und Textüberlieferung, mithin als Grundlagenforschung des Kulturtransfers betreibt, die andererseits aber, wie gesagt, mit Giovanni Gentile (1875–1944) und dann Eugenio Garin (1909–2004) eine stark philosophische Linie aufweist. Die Ernte der ‘Scoperte’ Kristellers war der sechsbändige Handschriftenkatalog ‚Iter Italicum‘, der seinerseits einen beispiellosen Boom gezielter Handschriftenforschung zu humanistischen Texten auslöste. Zu dieser Richtung gehören prägend auch Giuseppe Billanovich (1913–2000) und sein allzu früh verstorbener Schüler Agostino Sottili (1939– 2004), der sie aber in seinen Kölner Jahren um die prosopographisch-transfergeschichtliche Dimension der deutschen Italienstudenten erweiterte. Forschungszentren nach Art der amerikanischen ‚Renaissance-Departments‘ sind in Deutschland bis heute rar geblieben.19 Neben Grassis Münchner Institut belebte in Hamburg der Kunsthistoriker Martin Warnke das Warburg-Institut wieder, in Frankfurt gründete der Anglist Klaus Reichert ein Institut für Renaissance-Studien. Jüngere Formen der Wissenschaftsorganisation integrieren das per se interdisziplinäre Themenfeld des RenaissanceHumanismus häufiger, so die Sonderforschungsbereiche 573 ,Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‘ in München (bis 2011) und, schon genannt, 644 ,Transformationen der Antike‘ in Berlin. Hinzu kommen diverse universitäre Zentren, gläserne Regale allermeist, die zu gründen man nicht müde wird. In einem lockeren Verbund fanden zwischen 1975 und 1988 am Humanismus interessierte Forscher verschiedener Disziplinen in der Kommission für Humanismusforschung der DFG zusammen. Es war wohl das erste Mal, dass in Deutschland ein breiteres ‘Denkkollektiv’ in Sachen Humanismus miteinander arbeitete. Die insgesamt fünfzehn thematischen Tagungshefte ihrer ‚Mitteilungen‘ bilden bis heute profunde Grundlagen, aber dabei ist es dann auch geblieben. In kleinerem Format gründete sich 1997, gefördert von der Gerda-Henkel-Stiftung und geleitet von Notker Hammerstein (Frankfurt), ein neuer Arbeitskreis für Humanismusforschung. Der Verfasser verdankt diesem 19 Als einzige deutsche Zeitschrift sind die vom Umfang recht bescheidenen, von AUGUST BUCK gegründeten ‚Wolfenbütteler Mitteilungen zur Renaissanceforschung‘ zu nennen, die sich wesentlich als Rezensionsorgan verstehen. Das verdienstvolle, von FRANZ FUCHS herausgegebene ‚Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung‘ bringt hingegen thematische Tagungsbände.

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Kreis, dem er zusammen mit Dieter Mertens, Ulrich Muhlack, Anton Schindling und Gerrit Walther als Mentor angehörte, sehr viel. Es kam uns vor allem darauf an, Nachwuchswissenschaftler zu motivieren, individuell zu fördern und damit Forschungen in diese Richtung auf verbreiterter Basis zu verstetigen. Dies geschah durchaus erfolgreich in regelmäßigen internen Gesprächskreisen, die dreimal zu größeren internationalen Tagungen geweitet wurden. Aus diesen Diskussionen und Symposien sind die Bände ‚Späthumanismus‘, ,Diffusion des Humanismus‘ und ,Funktionen des Humanismus‘ erwachsen.20 Wechselseitig befruchtet haben sich dieser Kreis und die Berliner Projekte des Verfassers zur politischen Redekultur (,Oratorik auf vormodernen Reichsund Ständeversammlungen‘21) und zur ,Historiographie des Humanismus‘.22 Seinen Berliner Studenten und Mitarbeitern am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität, allen voran Harald Müller, und an den beiden Sonderforschungsbereichen weiß sich der Verfasser dankbar verbunden.

3. Zum Inhalt des Bandes Die hier versammelten zehn Beiträge bilden einen Querschnitt meiner Forschungen zum europäischen Humanismus. Sie stammen aus den Jahren 2000 bis 2009 und waren zum Teil an entlegenem Ort publiziert. Neu bearbeitet erscheint gegenüber seiner italienischen Erstfassung der Beitrag zum deutschen Humanismus (Nr. II). Nicht aufgenommen wurden frühe Versuche der Kölner Zeit, kleinere Parerga zu Enea Silvio Piccolomini,23 ein Beitrag zu den 20

Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, hg. von NOTHAMMERSTEIN/GERRIT WALTHER, Göttingen 2000; Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von JOHANNES HELMRATH/ULRICH MUHLACK/GERRIT WALTHER, Göttingen 2002; Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von THOMAS MAISSEN/ GERRIT WALTHER, Göttingen 2006. 21 Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von JÖRG FEUCHTER/JOHANNES HELMRATH (Eigene und Fremde Welten 9), Frankfurt am Main u.a. 2008. 22 Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. von JOHANNES HELMRATH/ALBERT SCHIRRMEISTER/STEFAN SCHLELEIN (Transformationen der Antike 11), Berlin 2009; sowie demnächst: Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume, hg. von DENS. (Transformationen der Antike 12), Berlin 2012. Vgl. grundsätzlich MARKUS VÖLKEL: Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive (UTB 2692), Köln 2006, bes. 195–226. 23 JOHANNES HELMRATH: Die italienischen Humanisten und das Basler Konzil, in: Vita activa. Festschrift für Johannes Zilkens, hg. von HANS-JOACHIM HOFFMANN-NOWOTNY/ ANNELIESE SENGER, Köln 1987, 55–72.; DERS.: ‘Humanismus und Scholastik’ und die deutschen Universitäten um 1500 (zugleich Rezension von: JAMES H. OVERFIELD: Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, Princeton 1984), in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), 187–204; DERS.: Enea Silvio, Plinius und die ‘inventores rerum’. ‚De KER

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Reden des Gherardo Landriani, der sich zu sehr mit Nr. IV überschnitten hätte,24 und ein noch allzu frischer Beitrag zu den Invektiven der italienischen Humanisten.25 Manches Argument, manches Zitat, das mir wichtig wurde, das ich auch liebgewann, wird in den folgenden Studien unausweichlich mehrfach und in Variation auftauchen. Daß sich diese Studien mit Arbeiten über andere Schwerpunkte (Konzilien und Reichstage, politische Oratorik) überlappen, liegt auf der Hand. Fehler wurden, soweit sie auffielen, stillschweigend getilgt, aber die Beiträge bleiben in der jeweiligen Zeitgebundenheit erhalten. Dem Drang zu Verbesserungen und Nachträgen wurde weitgehend widerstanden, was vor allem angesichts der rasch expandierenden Enea-Silvio-Literatur schwer fiel. Wenn sie dennoch vorkommen (meist Literaturangaben), sind sie im Druck durch eckige Klammern markiert. Dieser Einleitung (Nr. I) folgt ein eher essayhafter Forschungs- und Problemüberblick zum Humanismus in Deutschland und seinen Spezifica in vier Wirkkreisen: Hof, Stadt, Universität und Kloster, mit abschließenden Thesen zum Verhältnis von Humanismus und Reformation (Nr. II). Die folgenden drei Beiträge sind primär dem bereits angesprochenen Paradigma der europäischen Diffusion der Humanismus gewidmet (Nr. III–V). Beleuchtet werden die Trägerfiguren, vornehmlich am Beispiel des Enea Silvio Piccolomini in Deutschland und seiner politischen wie literarischen Wirkungsfelder sowie die Medien des Transfers, das heißt im wesentlichen die Handschriften und ihre Wege als Kulturträger (Nr. III). Aeneae vestigia imitari, Zitat aus einem Brief des Niklas Wyle, führt in eine Mikrostudie über die konkreten Vorgänge der Vermittlung: Der mentoralen Attitüde des Humanisten einerdiversarum scienciarum arciumque origine‘ in der Nürnberger Handschrift Cent VI App. 14 – (k)ein unbekannter Traktat Pius’ II., in: Osmanische Expansion und europäischer Humanismus (Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 20), Wiesbaden 2005, 97–107; DERS.: Enea Silvio Piccolomini – Vater des modernen Europagedankens?, in: RÜDIGER HOHLS u. a. (Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, 361–369, mit lateinisch-deutschen Auszügen der Frankfurter Rede ,Constantinopolitana clades‘ (15. Oktober 1454). – Ein früher, noch dem Begriff der Kommunikation verpflichteter Versuch, der bereits einige der dann für die Humanismusstudien relevante Phänomene anspricht: JOHANNES HELMRATH: Kommunikation auf den spätmittelalterlichen Konzilien, in: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von HANS POHL (Vierteljahrschrift für Sozial und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 87), Stuttgart 1989, 116–172, bes. 140–148 (Reden) und 154–166 (Büchermarkt). 24 JOHANNES HELMRATH: ‘Non modo Cyceronianus, sed etiam Iheronymianus’. Gherardo Landriani, Bischof von Lodi und Como, Humanist und Konzilsvater, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von FRANZ J. FELTEN/ NIKOLAS JASPERT unter Mitarbeit von STEFANIE HAARLÄNDER (Berliner Historische Studien 31 = Ordensstudien 13), Berlin 1999, 933–960. 25 JOHANNES HELMRATH: Streitkultur. Die ‘Invektiven’ bei den italienischen Humanisten, in: Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive, hg. von MARC LAUREYS/ROSWITHA SIMON (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 10), Bonn 2010, 259–293.

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seits, der übenden imitatio andererseits, also der zunächst durchaus bescheidenen und mühsamen Aneignung der neuen Techniken und Praktiken bei seinen ersten deutschen Anhängern. Dies gilt für die Aneignung des klassischen Latein, für den neuen Briefstil bis hin zum Malen der Buchstaben in der neuen Handschrift der Humanistica. Der Beitrag schließt mit einem Versuch und Ausblick, die Geschichtsschreibung des Enea Silvio, Papst Pius’ II. zu würdigen. Der folgende Beitrag (Nr. V) ordnet die Diffusion dem Forum der großen internationalen Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) zu und schlägt so die Brücke zu einem weiteren Forschungsfeld.26 Die Konzilien boten sich als Distributionsbasen des kulturellen Transfers an, sowohl als „Büchermarkt“ (Paul Lehmann) und Basis humanistischer ‘Scoperte’ wie als Zentrum vielfältiger Kommunikation. Sie dienten dabei auch als Bühnen rhetorischer Performanz – darunter des neuen Redestils, wie Enea Silvio und Gherardo Landriani ihn in Basel als actio in Szene setzten. Auf dem Konzil von Ferrara-Florenz sollte sich zeigen, wie humanistische Handschriftenkenntnis in der Debatte um das filioque auch theologische Relevanz erhielt. Anschließend sind drei Beiträge (Nr. VI–IX) den zentrale Funktionen und Kompetenzen gewidmet, in denen sich der globale Erfolg der Humanisten als Erzeuger neuer Sinnstiftungspotenziale aus transformierten antiken Materien manifestierte. Als erstes stehen ‘Die Funktionen der Rhetorik’ als Leitdisziplin der Humanisten im Vordergrund (Nr. VI), beginnend mit einer Erläuterung der Grundbegriffe. Entscheidend geht es dabei um die rednerische Praxis, die Oratorik. Denn Reden gehören als längere, rhetorisch durchgeformte Sprechakte zugleich diskursiven wie zeremoniellen Charakters zu den sequenziellen Basisakten politischer Versammlungen. Sie nahmen im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmend antikische Formen an. Dies wird am Beispiel der Reichstage (Türkenreden des Enea Silvio und späterer Humanisten), der französischen États généraux und des englischen Parliament angedeutet.27 Das zweite genauer behandelte Kompetenzfeld der Humanisten umfasst die Geschichtsschreibung. Die Humanisten beanspruchten nicht nur, literarische Kunstwerke zu schaffen, sondern auch neue Geschichte. Unter transformierten antiken Stil- und Frageauspizien etwa zur origo gentis und zu dem neu konstruierten Kollektivsignet der Nation machten sie neue Deutungsangebote. Sie kamen dabei einem wachsenden dynastisch-höfischen Bedarf entgegen. Diesem Feld sind zwei eng verzahnte Aufsätze gewidmet. Im ersten Beitrag geht es, zunächst anläßlich einer Tagung ‚Fakten und Fiktionen‘, die der allzu früh verstorbene Weggefährte Johannes Laudage veranstaltet hatte, mehr 26 Genannt sei nur: Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Institution und Personen, hg. von HERIBERT MÜLLER/JOHANNES HELMRATH (Vorträge und Forschungen 67), Ostfildern 2007, v.a. 9–30: Zur Einführung, mit Forschungsüberblick. 27 Vgl. Anm. 19.

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schlaglichtartig um die Umprägung von Geschichtsbildern im nationalen Paragone (Nr. VII). Hier nahmen neugewonnene Wissensressourcen aus der Antike eine Schlüsselrolle ein, etwa das Paradigma der protorömischen (und protonationalen) Autochthonie von Etruskern, Germanen, Galliern, Briten. Bezeichnenderweise waren es aber Italiener wie Polidoro Virgilio in England oder Paulo Emilio in Frankreich, die um 1500 von den dortigen Monarchen beauftragt wurden, neue im mehrfachen Sinne klassische Nationalgeschichten zu schreiben. Der folgende lange Aufsatz arbeitet diese Ansätze aus und strebt zugleich eine umfassende Ortsbestimmung, der Probleme und Aufgaben bisheriger und künftiger Forschung zur nationalen und regionalen Historiographie des Humanismus an (Nr. VIII). Dabei erfolgt auch ein Gang durch die deutschen Regionen von Preußen bis zur Schweiz und die entsprechenden humanistischen Autoren regionaler Historiographie. Grundsätzlich erweisen sich Dekonstruktion durch die neu erlernte textkritische Historisierung der Quellen und Konstruktion von Geschichte durch neue identitätsstiftende Mythisierung als zwei Seiten der gleichen Medaille. Das folgende Aufsatzpaar personalisiert an zwei prominenten Humanisten schließlich die neue ideologische Formatierung und Propagierung von Feindbildern. Der erste ist einmal mehr Enea Silvio Piccolomini/Papst Pius II. gewidmet; diesmal nicht in der Rolle des geistvollen Lehrers der Humaniora, sondern des leidenden Kämpfers: ,Pius II. und die Türken‘ (Nr. IX) analysiert auf breiter Quellenbasis, anhand der Briefe, Geschichtswerke und vor allem der großen Reden des Piccolomini die langsame Genese seines polemischen Türkenbildes vor und nach dem Fall Konstantinopels 1453. In der Frage der origo Turcorum, ihrer dementierten Abkunft von den edlen Trojanern, im Bild des Sultans Mehmed II. etc., zeigt sich, wie traditionelle Vorstellungen durch neues gelehrtes Antikewissen auch polemisch verändert werden können. Zugleich geht es anlässlich des Türkenkriegs um die Motive politischen Handelns im sich formierenden Staaten-Europa des 15. Jahrhunderts. Am Ende ist der Beitrag zu einem Lebensbild des Piccolomini-Papstes geworden. Der andere Akteur ist Poggio Bracciolini (Nr. X). Man erlebt ihn, der wie viele Humanisten im Dienst der römischen Kurie stand, hier bei seiner Lieblingsbeschäftigung als Polemiker: in der ‚Invectiva‘ von 1447 gegen den Papst von des Basler Konzils Gnaden, Felix V., ehemaligen Herzog von Savoyen. Es geht dabei auch um die Gattungsfrage. Die Invektive hatte als literarischer Typus ihre agonale Funktion im sozialen Verband der humanistischen Corona, sie war aber oft genug politisiert. Hier wird versucht, das polemische Wortspektrum des Textes aufzufächern, das ganz im Kontext des scharfen Konflikts zwischen Papst Eugen IV. und des Basler Konzils, aber auch nationaler Stereotype stand. Der letzte Beitrag (Nr. XI) steht im Banne des bereits angesprochenen Konzepts ‚Transformation der Antike‘. Zugleich ließ sich hier erstmals eine alte persönliche Leidenschaft seit Jugendtagen, römische Kaisermünzen mit

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eigenen, diesmal auch ikonischen Forschungen verbinden. Die Faszination eines Petrarca von der Aura des Kaiserbilds auf der Münze als ‘authentisches’ Porträt von ‘viri illustres’ steht am Anfang des Beitrags, der zum einen die Verwendung des Kaiserporträts in der humanistischen Historiographie als Text-Bild-Phänomen, das aus der Sammelleidenschaft erwachsende altertumskundliche Interesse an den Serien römischer Münzen und dessen ‘Verwissenschaftlichung’ anhand der frühen Münztraktate hin zu einer Spezialdisziplin, der Numismatik untersucht, deren Beherrschung zugleich verbindlicher Ausdruck universalen Antikeweltwissens wurde. Zum anderen verfolgt der Beitrag Transformationen, Applikationen und Materialwechsel römischer Münzbilder in Handschriften, Gemälden und Freskenzyklen der Renaissance.28

4. Ausblick Die Komplexität des Phänomens und der breiten Forschung der letzten Jahrzehnte haben bisher eine brauchbare Gesamtsicht des europäischen Humanismus verhindert. Sie zu schreiben ist eine reizvolle Zukunftsaufgabe. Die Darstellung müsste von den zentralen Begriffen der Diffusion und Transformation, des emphatischen Elements, des politischen und gesellschaftlichen ‘Bedarfs an Antike’ und den humanistischen Techniken ihrer Aneignung und Repräsentation, mithin der Funktionen des Humanismus ausgehen. Die hier vorgelegten Beiträge bieten dafür erste Ansätze.29 Ganz neu und kritisch prüfend aufzurollen ist aber auch die alte Diskussion um die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen (‘Bürgertum’?), Nährböden und Kontexte von Renaissance und Humanismus. Man bewegt sich dabei einmal mehr auf den Spuren von Burckhardt sowie nachfolgender Deutungs- und Syntheseversuche eines Alfred von Martin, Lauro Martines, Leonid Batkin, John Hale, Peter Burke, einer Agnes Heller und vieler anderer.30 28 Ähnlich, nur stärker auf die Traktate und die Verwendung in der Geschichtsschreibung zugeschnitten: JOHANNES HELMRATH: Die Aura der Kaisermünze. Bild-Text-Studien zur Historiographie der Renaissance und zur Entstehung der Numismatik als Wissenschaft, in: DERS./ SCHIRRMEISTER/SCHHLELEIN (Hg.): Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung (wie Anm 22), 99–138. 29 Versuch einer Zwischenbilanz der Renaissanceforschung mit Zukunftsblick: L’Étude de la Renaissance: nunc et cras. Actes du colloque de la Fédération internationale des Sociétés et Instituts de la Renaissance (FISIER) Genève, septembre 2001, hg. von MAX ENGAMMARE/ MARIE M. FRAGONARD u.a. (Travaux d’Humanisme et Renaissance 381), Genf 2003. Deutsche Forschung ist hier beinahe inexistent. Das gleiche gilt für das auf zehn Bände geplante Monumentalwerk Il Rinascimento italiano e l’Europa, hg. von GIOVANNI LUIGI FONTANA/LUCA MOLA, Treviso 2006 ff.; zuletzt Bd. 6 (2010). 30 ALFRED VON MARTIN: Soziologie der Renaissance, Stuttgart 1931 (München 31974); LAURO MARTINES: The Social World of the Florentine Humanists, 1390–1460, London 1963;

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Führt diese alte Spur, wieder verfolgt, auch auf neue Wege zum Humanismus? Und lohnte es sich dann auch, Begriffe wie Zeitgeist, Denkstil oder gar Diltheys Typen der Weltanschauung, wie sie durch die junge Kulturwissenschaft wieder hoffähig werden, noch einmal auf den Prüfstand zu stellen, ihrerseits nun als Produkte der Transformation? Die alte Epochenfrage Mittelalter/Renaissance wird man auch mit Blick auf den Humanismus als deren Teilphänomen stärker unter den Vorzeichen Durchlässigkeit, der Supposition mittelalterlicher Elemente, der ‘Anachronie’ aufrollen müssen,31 wie es das Transformationskonzept und Arbeiten von humanistischer Seite begonnen haben. Die intendierte Darstellung des Renaissance-Humanismus wäre idealiter mit einer Geschichte und Kultursoziologie seiner Erforschung engst verflochten. Denn wie wären Humanismus und Renaissance von der Geschichte ihrer Adepten zu trennen? Berlin, den 20. November 2012

Johannes Helmrath

BATKIN: Renaissance (wie Anm. 2); JOHN HALE: Die Kultur der Renaissance in Europa, München 1994 (engl. 1993); PETER BURKE: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1984 (engl. 1979), hier 9–25; CAFFERRO: Contesting the Renaissance (wie Anm. 12), 126–155; SAMUEL K. COHN JR.: Burckhardt Revisted from Social History, in: Languages and Images of Renaissance Italy, hg. von ALISON BROWN, Oxford 1995, 217–236. 31 ALEXANDER NAGEL/CHRISTOPHER S. WOOD: Anachronic Renaissance, New York 2010.

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Der Humanismus in Deutschland* O saeculum, o litterae – iuvat vivere, dieser Ausruf des deutschen Humanisten Ulrich von Hutten im Brief an Willibald Pirckheimer1 – lebensfroh, und fern von deutscher Vergrübelung – ist geradezu zum Erkennungsfanal des Humanismus überhaupt geworden. Zugleich ist er Ausdruck einer emphatischen Selbstdeutung der Humanisten, einer Emphase, von der die Forschung sich oft mitreißen ließ, verständlicherweise, aber doch auch auf Kosten der stets gebotenen Skepsis. In jedem Fall aber gehört ‘der Humanist’ zu den prägenden Modellen gelehrter Lebenskunst in Europa.

Vorüberlegungen Unter den europäischen ‘Humanismen’ darf der deutsche nicht fehlen. Ehe aber nach genuin ‘deutschen’ Signaturen gesucht wird, ist zu fragen: Sind wir uns überhaupt einig, was ‘der’ Humanismus ist?2 Der Gegenstand war * Zuerst veröffentlicht als: L’umanesimo in Germania, in: Studi Francesi 153 (2007), 565–582. Der vorliegende Beitrag gibt in stark erweiterter und durch Literatur ergänzter Form den Vortrag wieder, der in italienischer Sprache am 14. November 2006 auf einer Tagung der Turiner Akademie der Wissenschaften über die europäischen Humanismen gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde weitgehend bewahrt, Literatur in asymmetrisch-subjektiver Auswahl gebracht. 1 Ulrich von Hutten an Willibald Pirckheimer, in: EDUARD BÖCKING (Hg.): Ulrichi Hutteni, equitis Germani, opera quae reperiri potuerunt omnia, Bd. 1, Leipzig 1864, 195–217, hier 217; auch in: ULRICH VON HUTTEN: Deutsche Schriften, hg. von PETER UKENA (Nachwort von Dietrich Kurze), München 1970, 317–340, hier 340. Zu Hutten jetzt HERBERT JAUMANN: Hutten, Ulrich von, in: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 6), Bd. 1, 1185–1238. 2 Statt umfangreicher Literaturangaben sei lediglich auf einige neuere Lexikonartikel hingewiesen. VOLKER HONEMANN: Art. Humanismus, in: Enzyklopädie des Märchens 6 (1990), 1302–1312; WALTER RÜEGG u.a.: Art. Humanismus, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 186–205, regionale Einteilung: B) Deutsches Reich, 193–197 (FRANZ-JOSEF WORSTBROCK); ALFRED NOE u.a., Art. Humanismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998), 1– 80, regionale Einteilung: 5. Deutschland, 27–32 (A. PRICE), 7. Niederlande, 37–44 (MARC VAN DER POEL); ausgezeichnet: GERRIT WALTHER: Art. Humanismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit 5 (2007), 666–692. Weiterführend MATTHIAS POHLIG: War Flacius Humanist?, in: Catalogus und Zenturien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und zu den Magdeburger Zenturien, hg. von ARNO MENTZEL-REUTERS/MARTINA HARTMANN, Tübingen 2008, 19–51.

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ja von jeher diffus und oszillierend. So ist es denn nicht leicht, sauber zu unterscheiden zwischen nationalen Exempla allgemeiner Prozesse und Praktiken des Humanismus und seiner Diffusion einerseits und Elementen, die als vorgegebene oder als Transformationsprodukte dann ‘typisch deutsch’, ‘typisch englisch’ etc. genannt werden können, andererseits. Vieles, was man für Deutschland beobachten kann, lässt sich zweifellos auch an anderen nationalen ‘Humanismen’ konstatieren. So ist es künftig sinnvoll, erneut nach durchgängigen Regionalisierungstypen zu fragen, einen Strukturvergleich regionaler Diffusions-, Transfer- und Rezeptionsprozesse des Humanismus zu versuchen.3 Zur wissenschaftshistorischen Genese der Forschung über den deutschen Humanismus, die neu darzustellen wäre, hier nur wenige Worte: Jacob Burckhardt (1860) hatte die Renaissance mit den bis heute prägenden Signaturen (die ‚Entdeckung des Individuums‘, ‚Die Entdeckung der Welt und des Menschen‘ etc.) ganz auf Italien konzentriert. Burckhardt zeichnete ein eher statisches Bild dieser Kultur und interessierte sich daher auch kaum für die europäische Diffusion desjenigen Elements der Renaissance, das für ihn nie das wichtigste war: des ‘Humanismus’ qua ‚Wiederentdeckung des Altertums‘ (3. Abschnitt). Aber in dem ein Jahr vor Burckhardt erschienenen Portalwerk der Humanismusforschung im engeren Sinne, in Georg Voigts ,Wiederbelebung des classischen Alterthums‘ (1859), finden wir diesen Ansatz: Voigt gibt dem 6. Buch des Werkes den Titel ,Propaganda des Humanismus nördlich der Alpen‘, – wobei mit „Propaganda“ hier im etymologisch engen Sinne die aktive Verbreitung gemeint ist, – und fächert entsprechend national auf: Humanismus in England, in Deutschland (deutlich am ausführlichsten), in Ungarn, Polen, Frankreich und Spanien.4 Ludwig Geiger (1848–1919), der von Burckhardt autorisierte Redaktor der ‚Kultur der Renaissance‘, behandelte in einem

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Vgl. den Versuch in dem Sammelband JOHANNES HELMRATH/ULRICH MUHLACK/GERWALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 9–25. Siehe in diesem Band Nr. III. Der Ansatz wurde in einem Projekt zur humanistischen Historiographie weiterentwickelt, das seit 2004 Teil des Sonderforschungsbereichs 644 ‚Transformationen der Antike‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin ist. 4 GEORG VOIGT: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Bd. 1–2, hg. von MAX LEHNERDT, Berlin 31893 (11859; ND Berlin 1960), Bd. 2, 246–358, für Deutschland 261–314. Zur deutschen Renaissanceforschung in biographischen Beispielen siehe PERDITA LADWIG: Das Renaissancebild deutscher Historiker, Frankfurt/New York 2004. RIT

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eigenen, reich illustrierten Werk ‚Renaissance und Humanismus‘ auch Deutschland – zwar hinter Italien, aber wohl erstmals so ausführlich.5 Geiger und Voigt lieferten schon die meisten jener vielen Namen deutscher Humanisten, mit denen wir uns bis heute beschäftigen. Auf eine neue Grundlage gestellt wird die Erforschung des deutschen Humanismus jetzt durch die beiden Bände ,Deutscher Humanismus 1480–1520‘, der Fortsetzung des bislang schon für den deutschen Frühhumanismus einschlägigen ,Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters‘.6 Ein ganze Serie von Lexikonartikeln und Sammelbänden sind in nationale Humanismen eingeteilt und enthalten folgerichtig auch einen Artikel ,Humanism in Germany‘ oder ähnlich: den Anfang machte 1975 die Kristeller-Festschrift ,Itinerarium Italicum‘ (hier für den deutschen Humanismus Lewis William Spitz)7; Interessanterweise bündelten sich Bände diesen Typs um das Jahr 1990: so Bd. 2 des von Albert Rabil herausgegebenen Sammelwerks ,Renaissance Humanism‘, so die Bände von Goodman/McKay (1990), und von Porter/Teich (1992) etc.8 Alle diese Bände 5 LUDWIG GEIGER: Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen II/8), Berlin 1882, für Deutschland 323–563. Geiger unterteilt den deutschen Humanismus in vier Phasen: die Vorläufer, eine theologische (Agricola), eine wissenschaftliche und eine polemische Phase. Zu Geiger PETER P. RIEDL: Epochenbilder – Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930, Frankfurt am Main 2005, S. 179–189, 213–244. 6 Die biographischen Großartikel bieten u.a. eine komplette Werkerschließung und Bibliographie: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, hg. von FRANZ-JOSEF WORSTBROCK, Bd. 1: A–K, Berlin/New York 2008; von Bd. 2 erschien bislang Lieferung 1 (L-Murner), Berlin/New York 2009. Zu den Personen siehe auch Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, hg. von PETER G. BIETENHOLZ/ THOMAS B. DEUTSCHER, 3 Bde., Toronto 1985–1987; [umfassend jetzt: GORDON CAMPBELL (Hg.): The Grove Encyclopedia of Northern Renaissance, 3 Bde., Oxford 2009.] Siehe auch Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hg. von PAUL G. SCHMIDT, Sigmaringen 1993. 7 Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations. Dedicated to Paul Oskar Kristeller on the occasion of his 70th birthday, hg. von HEIKO A. OBERMAN (Studies in Medieval and Reformation Thought 14), Leiden 1975, darin: LEWIS WILLIAM SPITZ: The Course of German Humanism, 371–435. 8 ALBERT RABIL JR. (Hg.): Renaissance Humanism, 3 Bde, Philadelphia 1988, hier Bd. 1: Humanism Beyond Italy, darin NOEL E. BRANN: Humanism in Germany, 123–155: ANTHONY E. GOODMAN/ANGUS MACKAY (Hg.): The Impact of Humanism on Western Europe, London/New York 1990, darin: LEWIS W. SPITZ: Humanism in Germany, 202–219; ROY PORTER/ MIKULÁŠ TEICH (Hg.): The Renaissance in National Context, Cambridge 1992, darin: JAMES H. OVERFIELD: Germany, 93–122. Vgl. auch Die Renaissance im Blick der Nationen Europas, hg. von GEORG KAUFFMANN (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 9), Wiesbaden 1991; WINFRIED EBERHARD/ALFRED A. STRNAD (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 28), Köln/Weimar/Wien 1996; Umanesimo e culture nazionali europee. Testimonianze letterarie dei secoli XV–XVI, hg. und mit einem Vorwort versehen von FRANCESCO TATEO (Bibliotheca 17), Palermo 1999. Siehe jetzt das auf

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und Einzelbeiträge sind bis heute wertvoll. Und doch wirken sie recht additiv, man vermißt den strukturellen Vergleich. Eine Wissenschaftsgeschichte der deutschen Humanismusforscher fehlt ebenso wie diejenige – was nicht dasselbe ist – der (internationalen) Erforschung des deutschen Humanismus. Sieht man sich wichtige jüngere Protagonisten nach Voigt und Geiger an, stellt man fest, daß viele von ihnen versuchten, Forschungsbilanzen oder grundsätzliche Deutungsversuche eines ‘deutschen Humanismus’ anzubieten: dies gilt schon für Paul Joachimsen und Hans Rupprich (1898–1972), wie nach dem 2. Weltkrieg für Otto Herding (1911–2001) und Lewis W. Spitz (1922–1999), Agostino Sottili (1939–2004)9 sowie besonders prägnant für die Germanisten FranzJosef Worstbrock und Dieter Wuttke10 wie für die Historiker Erich Meuthen11 und Dieter Mertens.12 In seiner internationalen Breite eine Ausnahme blieb der als französisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt publizierte und noch heute grundlegende Sammelband ‚L’humanisme allemand‘ (1979).13 Wichtige Marksteine setzten sechzehn zwischen 1975 und 1987 erschienene thematische Aufsatzbände in den ‚Mitteilungen der Humanismuskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft.‘ Den Versuch eines Gesamtüberlicks legte im Rahmen einer ‚Sozialgeschichte der deutschen Literatur‘ jüngst Eckhard Bernstein vor, Anlass, hier allgemein auf 10 Bde. veranschlagte Monumentalwerk: Il Rinascimento italiano e l’Europa, dir. da GIOVANNI LUIGI FONTANA/LUCA MOLA, Treviso 2006 ff., zuletzt Bd. 6 (2010). Ausschließlich den italienisch englischen Kulturaustausch umfaßt: Renaissance Go-Betweens. Cultural Exchange in Early Modern Europe, hg. von ANDREAS HÖFELE/WERNER VON KOPPENFELS (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies 2), Berlin/ New York 2005. 9 OTTO HERDING: Über einige Richtungen in der Erforschung des deutschen Humanismus seit etwa 1950, in: Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht (Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 2), Boppard 1975, 59–110. Zu Joachimsen siehe unten Anm. 15, zu Rupprich Anm. 14, zu Spitz Anm. 7–8; zu Sottili Anm. 31 und 41. 10 FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte des Stuttgarter Germanistentags 1972, hg. von WALTER MÜLLER-SEIDEL, München 1974, 499– 519; DERS.: ‘Imitatio’ in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), 187–201; DIETER WUTTKE: Deutsche Germanistik und Renaissanceforschung. Ein Vortrag zur Forschungslage (Respublica Literaria 3), Bad Homburg 1968, mit Bibliographie. 11 ERICH MEUTHEN: Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus, in: Säkulare Aspekte der Reformationszeit, hg. von HEINZ ANGERMEIER (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 5), München 1984, 217–276 (grundlegend, Literatur bis 1983). 12 DIETER MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus, in: Humanismus in Europa, hg. von der Stiftung ‘Humanismus heute’ des Landes Baden-Württemberg (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Reihe 2, Neue Folge 103), Heidelberg 1998, 187–210. 13 L’humanisme allemand (1480–1540), XVIIIe Colloque de Tours, hg. von JEAN-CLAUDE MARGOLIN (Humanistische Bibliothek 38/De Pétrarque à Descartes 37), München/Paris 1979.

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das Thema Humanismus in deutschen Literaturgeschichten zu verweisen.14 Eine solche Gesamtdarstellung würde freilich dem kulturellen Polyzentrismus, den Deutschland mit Italien teilt, Rechnung tragen und daher nach regionalen Zentren und entsprechenden Personenkreisen gegliedert sein müssen. Das wäre nicht nur sachgemäß, sondern Humanismusforschung als ‘Landesgeschichte’ zu betreiben, hat bereits eine lange Tradition, die schon vor 1918 bei Pionieren der Erforschung des deutschen Humanismus wie Gustav Bauch, Karl Hartfelder und vor allem Paul Joachimsen, zu beobachten ist.15 14

Drei Beispiele: HANS RUPPRICH: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter. Humanismus und Renaissance, 1370–1520 (Geschichte der deutschen Literatur 4/1), München 1970; THOMAS CRAMER: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter (Deutsche Literatur im Mittelalter 3), München 1990, 349–431 (regionales Panorama des deutschen Humanismus); vielfach weiterführend WERNER RÖCKE/ MARINA MÜNKLER (Hg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1), München 2004, hier die Beiträge von ECKHARD BERNSTEIN: Vom lateinischen Frühhumanismus bis Conrad Celtis (54–76); Humanistische Standeskultur (97–129); Humanistische Intelligenz und kirchliche Reformen (166–197). – Nicht hinreichend bekannt sind die Textsammlungen: HANS RUPPRICH (Hg.): Die Frühzeit des Humanismus und der Renaissance in Deutschland (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Humanismus und Renaissance 1), Leipzig 1938; DERS. (Hg.): Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten (wie Anm. 2), Leipzig 1936 (ND Darmstadt 1964); MARIANNE BEYER-FRÖHLICH (Hg.): Aus dem Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Reihe deutsche Selbstzeugnisse 4), Leipzig 1931; HEDWIG HEGER (Hg.): Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd.1–2 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 2/1.2), München 1975–77. – WINFRIED TRILLITZSCH (Hg.): Der deutsche Renaissance-Humanismus, Leipzig/ Frankfurt am Main 1981, mit der Einleitung 7–110; Texte in deutscher Übersetzung: NICOLETTE MOUT (Hg.): Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München 1998. Einer Gesamtdarstellung näherte sich HEINZ O. BURGER: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 7), Bad Homburg u.a. 1969. 15 Frühe Studien über deutsche Humanisten legte bereits der Historiker WILHELM WATTENBACH (1817–1897) vor, etwa: Sigismund Gossembrot als Vorkämpfer der Humanisten und seiner Gegner, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 25 (1873), 35–69. Zu GUSTAV BAUCH siehe unten Anm. 57. – PAUL JOACHIMSEN: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken, hg. von NOTKER HAMMERSTEIN, Bd. 1–2, Aalen 1970–1983; KARL HARTFELDER: Studien zum pfälzischen Humanismus, hg. von WILHELM KÜHLMANN/ HERMANN WIEGAND (Schriftenreihe des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums 6), Heidelberg 1993. – Vgl. auch JOHANNES HELMRATH: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, hg. von MATTHIAS WERNER (Vorträge und Forschungen 61), Ostfildern 2005, 333–392; siehe in diesem Band Nr. VIII. Die großen Landesgeschichten widmen gelegentlich dem regionalen Humanismus ein eigenes Kapitel. Als ergiebiges Beispiel: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts: MAX SPINDLER/ ANDREAS KRAUS (Hg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte Bd. III/1, München 31997, hier ANDREAS KRAUS: Gestalten und Bildungskräfte des fränkischen Humanismus (995–1053 § 78–80), mit den Kapiteln: Humanistische Zentren (§ 78). Geistliche und weltliche Residenzstädte

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In der italienischen Forschung gibt es Parallelen. Nachdem man sich vom unitarischen Literaturparadigma eines Francesco De Sanctis (1817– 1893) verabschiedet hatte, stellten etwa Carlo Dionisotti und Francesco Tateo diesem den Entwurf einer Vielzahl von regionalen Literaturen und Zentren Italiens entgegen.16 Es hat eben auch in Italien eine Binnendiffusion des Humanismus gegeben. 17 Er kam von Florenz später nach Genua oder Venedig als etwa nach Ungarn. Ich möchte im Folgenden fünf ausgewählte Komplexe ansprechen, die die jüngere Humanismusforschung in Deutschland besonders interessiert haben, aber wohlgemerkt in keiner Weise deren gesamte Breite repräsentieren. Zum Teil wird dies auch nur in Form von Thesen geschehen: 1. Thesen zum Humanismus allgemein und zu seinen deutschen Spezifica; 2. Die Diffusion des Humanismus am Beispiel Deutschlands; 3. Soziale Zentren humanistischer Wirksamkeit; 4. Humanismus und deutsche Nation; 5. Thesen zu Humanismus und Reformation, mit einem Ausblick in das Problem des sog. ‘Späthumanismus’.

1. Thesen zum Humanismus allgemein und zu seinen Besonderheiten in Deutschland: 1. Der Renaissance-Humanismus war eines der „Kulturgüter“, die Italien exportierte, wie Fernand Braudel in seinem ‘Modell Italien’ formulierte, einer der „uses of Italy“, wie Peter Burke18 sagte. Auch der deutsche Humanismus war zunächst Importware, verstand sich selbst als „Translationshumanismus“ (Worstbrock). Doch fügte er sich in den geistigen Pluralismus Europas, dem auch ein Pluralismus von Humanismen entsprach, ein. 2. Der Humanismus war eine Erfolgsgeschichte! Um 1600 war die Elitenbildung zwischen Portugal und Polen, Neapel und England fast uniform humanistisch. Es war den Humanisten gelungen, höfische, städtische, geistliche und universitäre Eliten von der Nützlichkeit ihrer Art von Antikewissen, ihrer Kulturtechnik (Rhetorik, Stil), ihres Habitus zu überzeugen, jener neuen Rezeptions-, Vermittlungs-, und Funktionalisierungsweise (§ 79) und Die Reichsstadt Nürnberg (§ 80). Weiteres zur Geschichte der deutschen Humanismusforschung in der Einleitung zu diesem Band Nr. I. 16 CARLO DIONISOTTI: Geografia e storia della letteratura italiana (Saggi 409), Torino 1967; FRANCESCO TATEO: I Centri culturali dell’Umanesimo (Letteratura italiana Laterza 3/10), Roma/Bari 1971 (31981). 17 Zu den regionalen Zentren des Humanismus in Italien siehe die Beiträge in RABIL (Hg.): Renaissance Humanism (wie Anm. 8), Bd. 1: Humanism in Italy, 146–456, wo zahlreiche Regionalstudien genannt sind. 18 PETER BURKE: The uses of Italy, in: PORTER/TEICH (Hg.): Renaissance (wie Anm. 8), 1–20.

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von antiken Texten und antikem Wissen. Daß er letztlich in der ‘Querelle des anciens et des modernes’ den kürzeren zog, ändert nichts an diesem anhaltend breiten Substrat. 3. Die Humanisten erweiterten das antike Material auch quantitativ beträchtlich: Der ‘scoperta dei codici’, nach vergessenen oder unbekannten Texten der lateinischen sowie des Gros der griechischen Antike, tritt eine ‘scoperta dei reali’, der antiken Münzen, Inschriften, Statuen etc. zur Seite. Der Beitrag der deutschen Humanisten auf diesem Feld der beginnenden Altertumskunde scheint mir bemerkenswert. Er wird ergänzt durch Leistungen im Bereich der Studien im Griechischen19 und vor allem im Hebräischen, beginnend mit Johannes Reuchlin, als Pioniere der Hebräischstudien außerhalb Italiens. Dazu kommen sehr ausgeprägt Leistungen in einem breiten, dem Quadrivium entwachsenden mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Feld, als Mathematiker, Astronomen, Geographen etc.; Fachbereiche, die zwar nicht primär im Zentrum humanistischen Sachinteresses, wohl aber, wie der gesamte Bereich des Wissens, dem (antiken) Textinteresse der Humanisten wesentliche Impulse verdankten.20 4. Im Zentrum humanistischen Interesses und aller fünf Humaniora steht Bildung durch Sprache. Homines non nascuntur, sed finguntur, sagte Erasmus.21 Aristie wird also vor allem in der Sprache erworben, einem elitären Hochlatein, das auf seine Weise die Tradition der wissenschaftlichen Diglossie des bekämpften scholastischen Fachlateins fortsetzte. Doch bestand ihre Leistung auch, wie in allen nationalen Humanismen, im Transfer qua Übersetzung, und zwar in durchaus verschiedene Richtungen: vom Griechischen ins Lateinische, vom Lateinischen und Griechischen in die Volkssprachen (aber nicht selten auch umgekehrt volkssprachliche Texte ins Lateinische, man denke an Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘/,Stultifera navis‘). Sie begleiteten ferner als Korrektoren die klassische Literatur über die Buchdruckschwelle. 5. Christlicher Humanismus? – ein immergrünes Problem. Der Renaissancehumanismus steht im christlichen Koordinatensystem. Er war aber – 19

Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten, hg. von DIETER HARLFINbearb. von REINHARD BARM (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 59), Weinheim/New York 1989; NIKLAS HOLZBERG: Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland (Humanistische Bibliothek I/41), München 1981. Zur Alterthumskunde siehe unten bei Anm. 80. 20 Siehe die deutschen Beispiele unten bei Anm. 47–48. 21 Erasmus von Rotterdam: Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis. Édition critique et Traduction par JEAN-CLAUDE MARGOLIN, Genève 1966, 388 f. Zu Erasmus, statt Bergen von Literatur, jetzt: FRANZ-JOSEF WORSTBROCK u.a.: Erasmus von Rotterdam (Desiderius Erasmus Roterodamus), in: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 6), Bd. 1, 658–807. Zu den Übersetzungen siehe u.a. FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Zur Einbürgerung der Übersetzung antiker Autoren im deutschen Humanismus, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 99 (1970), 45–81. GER,

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sieht man von Petrarca einmal ab – in seinen genuinen Interessen zunächst religiös eher indifferent. Aber er drängte weiter vor, in andere wissenschaftliche Disziplinen und, über die lebenspraktische Moralphilosophie wie über die Bibel- und Kirchenväterphilologie, erneut ins religiöse Feld, so bei Lorenzo Valla, bei Lefèvre d’Étaples, bei Erasmus von Rotterdam und Philipp Melanchthon, bei John Colet in England wie bei den Venezianern Paolo und Tommaso Giustiniani. Die jüngere Forschung hat im Blick auf die Verzweigtheit und Subtilität religiöser Denkstile im Humanismus frühere Ansichten doppelt relativiert: Weder sieht man in Humanismus und Renaissance allein einen säkularisierenden Impetus oder Effekt, noch läßt sich ein ‘christlicher Humanismus’ als Typus auf den Humanismus nördlich der Alpen oder gar nur den niederländischen im Gefolge der ‘devotio moderna’ konzentrieren. Weder die einseitige Säkularisierungsthese noch die gänzliche Vereinnahmung des Humanismus als christlich, mit Dante beginnend, wie ihn einst Giuseppe Toffanin postulierte, oder gar die Unterscheidung eines ‘guten’ christlichen und eines ‘schlechten’, angeblich ‘heidnischen’ (und kirchenfeindlichen) Humanismus im Stile Ludwig Pastors sind noch diskutabel.22 Daß mit Erasmus der größte aller Humanisten eine genuin christliche Prägung besaß und gerade aus dem Norden, aus dem niederländischen Raum stammte, ändert nichts daran, dass er zugleich der größte Kosmopolit von allen war. 6. Ganz entscheidend: der Habitus. Die Humanisten bildeten eine eigene Standeskultur aus! Robert Black sagte dazu schön provokant: „A humanist is someone who acts like other humanists“.23 Humanismus läßt vor allem 22 Vgl. die nach wie vor treffenden Aussagen von MEUTHEN: Charakter (wie Anm. 11), 220 f., 224–226, sowie unten unsere Schlußthesen zu Humanismus und Reformation. GIUSEPPE TOFFANIN: Geschichte des Humanismus, Wormersweer 1941; DERS.: L’uomo antico nel pensiero del Rinascimento, Bologna 1957; DERS.: Perché l’umanesimo comincia con Dante, Bologna 1967; LUDWIG VON PASTOR: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1–3, Freiburg/Br. 8–91926, 8–91925, 5–71924. Vgl. den Versuch von AUGUST BUCK: Säkularisierende Grundtendenzen der italienischen Renaissance, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von JOHANNES HELMRATH/HERIBERT MÜLLER unter Mitarbeit von HELMUT WOLFF, München 1994, Bd. 2, 609–622. – Grundlegend für die jüngere Forschung zum Verhältnis von Humanismus, Ethik und Theologie, auf Italien konzentriert: CHARLES TRINKAUS: In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde., Chicago 1970 (ND Notre Dame 1995); EUGENIO MASSA: L’eremo, la bibbia e il Medioevo. in: Umanisti veneti del Cinquecento (Nuovo Medioevo 36), Neapel 1992; REMO L. GUIDI: Il dibattito sull’uomo nel ‘400. Indagini e dibattiti, Rom 21999. Für den deutschen Humanismus fehlen gleichwertige Forschungen (aber wohl auch gleichwertige humanistische Opera). Zu Erasmus siehe Anm. 21. 23 ROBERT BLACK: Humanism, in: The New Cambridge Medieval History 7: c. 1415– 1500, hg. von CHARLES ALLMAND, Cambridge 1998, 243–278, hier 252. Zum zentralen Problem des ‘Habitus’, dabei vom Modell eines ‘Klosterhumanismus’ ausgehend, das implizit als Aporie erwiesen wird, siehe HARALD MÜLLER: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Gespräch (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 34), Tübingen 2006; jetzt DERS.:

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an den Humanisten erkennen. Er ist als ein Identität und Solidarität stiftender gelehrter Habitus zu begreifen, er öffnet den Weg zu den persönlichen Verknüpfungen zwischen den Gleichgesinnten zu einer selbstdefinierten Gruppe. Ich nenne sie ‘die Corona’. Die Humanisten bildeten eine übergreifende intellektuelle Konsensgemeinschaft. Ihre Akteure teilten ästhetische Werte (die Latinität vor allem) und historische Interessen ebenso wie methodische Standards und – nicht zu vergessen – kollektive Feindbilder wie ‘die Barbaren’, ‘die Scholastiker’ und, zunehmend, konkurrierende Nationen. Sie zelebrierten ihre Themen und ihren Kult der Freundschaft in einem ritualisierten brieflichen Austausch, – geronnen in dem bei Eurycius Puteanus begegnenden Dictum: Tolle epistolas et barbaries erit – oder durch ausgedehnte gemeinsame Reisen, woraus das Genre der ‚Hodoeporica‘ erwächst. Durch diese Kontakte regulierte die Corona stets neu die Inklusion, aber auch die Exklusion. Konformität in Werken, Werten und Verhalten war der Schlüssel zu einer Zugehörigkeit, die sich aber nie statisch geregelt, sondern permanent gruppendynamisch bewegt ausagierte. Der Wettkampf, der Agon, die Rivalität gehörten strukturell dazu. Die scharfe Invektive wurde als Regulativ und zugleich als Pläsir der Gruppe in Szene gesetzt. Als Besonderheiten in der Standeskultur des deutschen Humanismus könnte man mit einiger Vorsicht nennen: Erstens die exzessive elitäre Metonomasie qua Latinisierung oder auch Gräzisierung der Namen. Sie ist sattsam bekannt: Johannes aus Sommerfeld nennt sich Aesticampianus, Philipp Schwarzerd wird zum Melanchthon etc. Zweitens die poetae laureati, die gekrönten Dichter. Nach Vorbild der Italiener Petrarca (Rom 1341) und Enea Silvio Piccolomini (Frankfurt 1442) begann die Reihe der Deutschen mit Konrad Celtis’ Krönung 1487 durch Kaiser Friedrich III. in Nürnberg. Sie traten als staatlich anerkannte Akteure des literarischen Feldes in das politische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus ist hier elegant übertragbar.24 ‘Privilegien für Panegyrik’, oder ‘Specimen eruditionis’. Zum Habitus der Renaissance-Humanisten und seiner sozialen Bedeutung, in: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter, hg. von FRANK REXROTH (Vorträge und Forschungen 73), Ostfildern 2010, 117–151. Zuvor der Versuch von CHRISTINE TREML: Humanistische Gemeinschaftsbildung. Soziokulturelle Untersuchungen zur Entstehung eines neuen Gelehrtenstandes in der frühen Neuzeit (Historische Studien und Texte 12), Hildesheim 1989. Zum epistularen Freundschaftskult zuletzt: JOHANNES K. KIPF: Humanistische Freundschaft im Brief. Zur Bedeutung von ‘amicus’, ‘amicitia’ und verwandter Begriffe in Briefcorpora deutscher Humanisten, 1480–1520, in: Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter, hg. von GERHARD KRIEGER, Berlin 2009, ebd. 491–509. 24 DIETER MERTENS: Zur Sozialgeschichte und Funktion des ‘poeta laureatus’ im Zeitalter Maximilians I., in: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten im Reich des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von RAINER C. SCHWINGES (Zeitschrift für

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auch ‘Prestige für Prestige’ lautete der implizite Vertrag zwischen Fürsten, die der Antike als Repräsentationsarsenal bedurften, und Humanisten, die eben diese als Herrschaftswissen zunehmend gefragte Antike-Kompetenz mitbrachten. Drittens sind die lokalen Sodalitäten zu nennen. Begründet vor allem durch Konrad Celtis, waren sie mehr als lockere Intellektuellenzirkel, aber doch keine Institutionen. Man denke an die ‚Sodalitas Rhenana‘ in Heidelberg, die ‚Sodalitas Danubiana‘ in Wien, an ähnliche Kreise in Straßburg, Ingolstadt oder Olmütz.25 Es waren Erprobungsräume des humanistischen Freundschaftskults wie literarischer Genres, elitär reformerischer Ambition wie wissenschaftlichen Austauschs. 7. Der Humanismus gewann überall in Europa eine wesentlich nationale und agonale Einfärbung. Dies ist gerade für den deutschen Humanismus kaum zu überschätzen. Darüber ist noch zu reden.26

2. Diffusion und Aneignung Frühere Versuche, den Humanismus aus autochthon ‘deutschen’ oder nordalpinen Wurzeln erwachsen zu lassen, wie sie etwa Paul Mestwerdt oder Konrad Burdach unternahmen, sind längst aufgegeben. Auch wenn personelle Verbindungen zwischen ‘Devotio moderna’ und Humanismus bestanden (Erasmus!), wenn es äußere Ähnlichkeiten wie das Interesse an ‘reinen’ Texten gab, sind sowohl der Textzugriff wie der Habitus (in een huechsken met ein buexken) kategorial verschieden.27

Historische Forschung. Beiheft 18), Berlin 1996, 327–348; ALBERT SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien. Neue Folge 4), Köln/Weimar/Wien 2003, mit fruchtbarer Anwendung des bourdieu’schen Begriffs des politischen/literarischen Feldes. 25 STEPHAN FÜSSEL/JAN PIROZYēSKY (Hg.): Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 12), Wiesbaden 1997; WOLFGANG HARDTWIG: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997, 197–207; FRANZ MACHILEK: Konrad Celtis und die Gelehrtensodalitäten, in: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa (wie Anm. 8), 137–156; SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters (wie Anm. 24), 159–194; HARALD MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 425 s.v.; JOHANNES HELMRATH: Art.: Sodalitäten, humanistische, in: Enzyklopädie der Neuzeit 12 (2010), 144–147. 26 Siehe unten Kap. 4. 27 So dezidiert MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus (wie Anm. 12), 192–194, hier 192 f. zur zitierten Grabinschrift des Thomas von Kempen 1471. Stärkere Betonung der Parallelen und Verbindungen bei NIKOLAUS STAUBACH: ‘Christianam sectam arripe’: Devotio moderna und Humanismus zwischen Zirkelbildung und gesellschaftlicher Integration, in: KLAUS GARBER/HEINZ WISSMANN (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische

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Der sogenannte Prager Frühhumanismus, wie ihn vor allem der Germanist Konrad Burdach propagiert hat, war als eine bemerkenswerte Blüte höfischer Kultur unter Karl IV.28 Aber er wirkte erstens kurzlebig und insular, zweitens war er trotz Verbindungen zu Petrarca nicht ‘humanistisch’. Das Latein Johanns von Neumarkt steht zu dem Petrarcas und seiner Nachfolger wie Wagner zu Debussy. Neumarkt war wohl mehr an der pompösen Latinität eines Petrus de Vinea als an derjenigen Ciceros orientiert. Man ist sich also heute einig, daß der Renaissancehumanismus als geistige Bewegung in Italien seinen Ausgang genommen hat. Es stellt sich nach wie vor die Frage, auf welche Weise diese sich zuerst in Italien selbst und (dann?) auch in ganz Europa verbreiten konnte. Ich nenne den Gesamtprozeß Diffusion. Er zerfällt in viele kleinere Transfervorgänge über diverse Medien.29 Der Begriff ‘Diffusion’ ist nicht unproblematisch, aber doch flexibel genug. Er läßt die Vorstellung einer zielgerichteten wie unsystematischen Verbreitung (im Sinne des englischen spread) zu. Diffusion ist nicht wie in der Biologie zu verstehen, wo etwas von einem zum anderen Ort diffundiert und dabei am Ausgangsort ein Vakuum hinterläßt. Wäre es so, dann würde der Humanismus nach Beendigung dieses Prozesses beispielsweise in Deutschland, aber nicht mehr in Italien vorhanden sein. „Alles was übermittelt wird, verändert sich/All what is transmitted, changes“ formulierte Sem Dresden lapidar. Das Empfängerinteresse ist als Activum das entscheidende. Die Materie – nennen wir sie ‘die Antike’ Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Bd. 1, Tübingen 1996, 112–167. 28 Burdachs Verdienste um die Erforschung des deutschen Humanismus in seinen 1893 begonnenen, schließlich siebenbändigen Studien ‚Vom Mittelalter zur Reformation‘ verlangten freilich neue kritische Bewertung. Vgl. auch KONRAD BURDACH: Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung, Berlin 1920 (ND der 2. Aufl. 1917). Über Burdach KLAUS GARBER: Versunkene Monumentalität. Das Werk Konrad Burdachs, in: DERS. (Hg.): Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, München 2002, 109–158; RIEDL: Epochenbilder (wie Anm. 5), 118–138, 292–297; PAUL PIUR: Burdach-Bibliographie 1880–1930, Berlin 1930. Zum sog. Prager Frühhumanismus ferner: BENEDIKT K. VOLLMANN: Prager Frühhumanismus?, in: JOACHIM HEINZLE u.a. (Hg.): Literatur im Umkreis des Prager Hofs der Luxemburger (Wolfram-Studien 12), Berlin 1994, 58–66; kritischer FRANTIŠEK SMAHEL: Die Anfänge des Humanismus in Böhmen, in: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa (wie Anm. 8), 189–214, hier 189–191. 29 Vgl. JOHANNES HELMRATH: Diffusion des Humanismus, in: HELMRATH/MUHLACK/ WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3), 9–29; in diesem Band Nr. III. Vgl. PETER BURKE: Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien (Europa bauen), München 1998 (in englischer Sprache: The European Renaissance. Centres and Peripheries, Oxford 1998); JOHN J. MARTIN (Hg.): The Renaissance: Italy and Abroad, London 2002. Zur Diffusion der Renaissancekunst vgl. Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und in den Nachbargebieten um 1500, hg. von NORBERT NUSSBAUM/CLAUDIA EUSKIRCHEN, Köln 2003.

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oder auch ‘etwas Antikes’ – unterliegt also in je neuen ständischen, regionalen, nationalen Wissenskulturen und Bildungstraditionen auch einem Prozeß der Transformation.30 Er führt seinerseits zur Konstruktion nationaler Kulturen und Geschichten ebenso wie zur Herausbildung einer Wissenschaft von der Antike selbst, einer Altertumskunde. Der Transfer verläuft in beide Richtungen: Italiener – ich nenne sie ‘Stifterfiguren’ – gehen nach Norden, und Deutsche, wie andere Bewohner aus dem Norden, gehen zum Studium in den Süden. Selbstverständlich sind auch dies europäische Parallelphänomene. Die Stifterfigur für Deutschland und Böhmen ist Enea Silvio Piccolomini, für Ungarn spielte noch etwas früher Pier Paolo Vergerio ansatzweise diese Rolle, später für Polen Callimachus (Filippo Buonaccorsi), ähnlich Poggio Bracciolini und Tito Livio Frulovisi für England. Doch nirgendwo kann man auf beiden Feldern, Stifterfiguren wie Studenten, so präzise, so genetisch, ja so mikroskopisch arbeiten wie im Falle Deutschlands und der Deutschen. Stifterfiguren Zwei Personen sind für Deutschland gar nicht zu überschätzen: Francesco Petrarca und der besagte Enea Silvio Piccolomini. 1. Petrarca, freilich mit Vorbehalt. Er wirkte weniger durch seine Besuche in Prag und Köln als durch weitest verbreitete Handschriften. Deren Analyse, vor allem im Werk von Agostino Sottili,31 zeigt, daß die Verbreitung früh einsetzte. Die Motive dieser Verbreitung waren auch noch im 15. Jahrhundert keineswegs nur genuin ‘humanistische’. Es war vielmehr ein religiösmonastisches Interesse, das die Traktate ‚De remediis utriusque 30 Dieses Paradigma wird maßgeblich vom SFB 644 ,Transformationen der Antike‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin geprägt und angewendet. Siehe jüngst: Übersetzung und Transformation, hg. von HARTMUT BÖHME/CHRISTOF RAPP/WOLFGANG RÖSLER (Transformationen der Antike 1), Berlin 2007; Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. von JOHANNES HELMRATH/ALBERT SCHIRRMEISTER/STEFAN SCHLELEIN (Transformationen der Antike 11), Berlin 2009. – Zum vorausgehenden Zitat: SEM DRESDEN: „The essential characteristic of cultural transmission is that what ever is transmitted changes.“; The Profile of the Reception of the Italian Renaissance in France, in: Itinerarium Italicum (wie Anm. 7), 118–189, hier 119, 31 I codici del Petrarca nella Germania occidentale, hg. von AGOSTINO SOTTILI (Censimento dei Codici Petrarcheschi 4 und 7), Padova 1971, 1978; die Fortsetzung für den Osten Deutschlands, hg. von FABIO FORNER, ist im Druck. Siehe auch AGOSTINO SOTTILI: Il Petrarca e l’umanesimo tedesco, in: Il Petrarca Latino e le origini dell’umanesimo (Quaderni Petrarcheschi 9–10), Firenze 1992–1993, 239–291; DERS.: Zur Verbreitung von PetrarcaHandschriften im Deutschland des 15. Jahrhunderts, in: Petrarca. 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Bibliotheca Petrarchesca Reiner Speck, hg. von REINER SPECK/FLORIAN NEUMANN, Köln 2004, 211–226; JÜRGEN GEIß: Zentren der Petrarca-Rezeption in Deutschland (um 1470–1525). Rezeptionsgeschichtliche Studien und Katalog der lateinischen Drucküberlieferung, Wiesbaden 22004.

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fortunae‘, und ‚De vita solitaria‘ (um diese Lebensform geht es!) in Klosterkreisen wie in solchen der Devotio moderna so erfolgreich machte. 2. Enea Silvio Piccolomini (1405–1464)32 war in seiner Zeit wohl der beste ausländische Kenner Mitteleuropas. Georg Voigt nennt ihn „Apostel des Humanismus in Deutschland“. Und er selbst nennt sich in seinen ‚Commentarii‘: Eneas Germanorum semper et laudator et defensor.33 Er hatte auf dem Basler Konzil bei verschiedenen Prälaten Karriere gemacht, hatte hier ähnlich wie Gherardo Landriani frühe Kostproben der neuen ciceronischen Oratorik Italiens im Norden geliefert. Der unmittelbare Beitrag der großen Konzilien, die ja auch Märkte für Bücher aller Art waren, für die Diffusion des Humanismus in Deutschland (und Europa) läßt sich jedoch nur schwer bestimmen. Enea jedenfalls wurde 1442 in Frankfurt zum Dichter gekrönt und als gelehrter Spezialist an der Kanzlei König Friedrichs III. engagiert, als Rat, Kanzler, Diplomat. Hier baute er ein Netzwerk von Freunden und Korrespondenten auf und initiierte dadurch – schreibend! – reiche Weiterverbreitung humanistischer Interessen und Techniken. Und dies, ohne je richtig Deutsch gelernt zu lernen. Die unter Friedrich III. bei Hofe tätigen, häufig fluktuierenden Funktionseliten (dazu gehörten ‘gelehrte’ Räte und nicht gelehrte, meist adlige Personen) rekrutierten sich aus diversen Regionen Süddeutschlands, Hessens, Böhmens, und der habsburgischen Erblande. Sie öffneten damit Kontaktzonen nicht nur für den Humanismus. Sie und die von ihnen getragenen Institutionen wie Kanzlei, Kronrat und Kammergericht besassen bei Eneas Ankunft keinen am Hof selbst identitätsstiftenden Bildungscode und dürfen insofern zumindest als humanismusoffen bezeichnet werden. Enea war dort zunächst ein Solitär.34 Aber weder mussten Freundschaft und dienst32

Das folgende Kapitel beruht insbesondere auf folgenden Aufsätzen: JOHANNES HELMDiffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara-Florenz, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, hg. von LUDGER GRENZMANN/KLAUS GRUBMÜLLER u.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse 3/263), Göttingen 2004, 9–54 (in diesem Band Nr. III); DERS.: ‘Aeneae vestigia imitari’. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel des Humanismus’. Formen und Wege seiner Diffusion, in: HELMRATH/MUHLACK/ WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3), 99–142 (in diesem Band Nr. IV). Siehe auch DERS., Art. Enea Silvio Piccolomini/Pius II., in: Killy’s Literaturlexikon (Neuausgabe) 9 (2010), 219–224. 33 Pii II Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt, ... nunc primum editi ab ADRIANO VAN HECK, Bd. 1–2 (Studi e Testi 313), Vatikanstadt 1984, Bd. 1, 33, 93 f. – Zur Cicero-Rezeption: CARL J. CLASSEN: Cicero inter germanos redivivus I–II, in: DERS.: Antike Rhetorik im Zeitalter des Humanismus (Beiträge zur Altertumskunde 182), München/Leipzig 2003, 189–245. 34 Zum Hof Friedrichs III. siehe die prosopographische Erschließung von PAUL-JOACHIM HEINIG: Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik, Bd. 1–3 (Beihefte zu JOHANN F. BÖHMER. Regesta Imperii 17), Köln/Wien 1997, zu Enea Silvio 296–299, 527– 533, 737–740. RATH:

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licher Umgang humanistische Gleichgesinntheit erzeugen, noch verhinderte umgekehrt fehlende humanistische Bildung Kontakt und Kommunikation des Hofpersonals. Von einem sichtbar und abgrenzbar sozialisierten ‘Humanistenkreis’ am königlichen Hof wird man daher keinesfalls sprechen können. Die in diesem Nahraum ablaufenden Kontakte waren mündlich und sind kaum zu rekonstruieren. Wichtigstes Medium bleibt die Korrespondenz – für den Forscher, wie für die Diffusion der neuen Lehre aus Italien. Es gab einzelne Adepten in einem dienstlich geprägten Gruppenambiente, die den Briefkontakt pflegten, wenn sie nicht zusammen bei Hofe weilten, und es gab Briefkontakte durch Interessierte von außen, die den Kreis virtuell erweiterten. Bedarf an den humanistischen Fähigkeiten Enea Silvios entstand so vornehmlich auf zwei Feldern: Zum einen war Eneas Korrespondenz ein nachzuahmendes Lehrstück geschliffener Briefkunst, und zweitens war Enea selbst als Kritiker lateinischer Stilistik und humanistischer Handschrift gefragt.. Ein Beispiel: Michael Rentz von Pfullendorf aus Rottweil, der 1451 mit 26 Jahren in Siena starb, war seit 1442 Kanzleisekretär und darf als einer der frühesten humanismusbegeisterten Deutschen gelten. Mit ihm sah sich Enea, der ihn als alter ego bezeichnete, als wohl einzigem in einer persönlichen Freundschaft verbunden, die über humanistischen Kult der amicitia hinausging. Pfullendorf vermittelte den Kontakt zwischen Jakob von Waldenburg in Zürich und dem Stadtschreiber Niklas Wyle in Esslingen, der zwischen 1464 und 1478 die erste gedruckte Edition von Enea-Briefen überhaupt herausgeben sollte.35 Kulturtransfer bedeutete Arbeit, man mußte seinen Stil ändern. Wyles Vorwort ist an rührender Eindeutigkeit kaum zu überbieten: He tamen epistule Enee in stili claritate et latini familiaritate videntur antecellere. Quare illas duxi amplectendas et hominibus huius artis studiosis communicandas fore, ut ipsi his insudantes, ex earundem frequenti lectione habitum in se ipsis huiusmodi latinitatis et ornatus adipisci queant et vestigia Enee imitari.36

Ein anderer imitierender Frühhumanist, Albrecht von Bonstetten, spricht gar vom „süßen Aeneas“ (dulcis Enea).37 Man glaubt zu sehen, wie man 35

Vgl. zum Folgenden HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’ (wie Anm. 32), 121–131. Zu Pfullendorf jetzt CLAUDIA VILLA: ‘Immo alter ego’: Michele di Pfullendorf ed Enea Silvio Piccolomini, in: Enea Silvio Piccolomini: Uomo di lettere e mediatore di culture. Gelehrter und Vermittler der Kulturen. Atti del Convegno Internazionale di Studi Basilea, 21–23 aprile 2005, hg. von MARIA A. TERZOLI, Basel 2006, 239–252. 36 Vorwort zu: Eneae Silvii Epistolae familiares. De duobus amantibus ..., hg. von NIKLAS VON WYLE, Straßburg (Adolf Ruysch) vor 1478; vgl. HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’ (wie Anm. 32), 122. 37 ALBRECHT VON BONSTETTEN: Briefe und ausgewählte Schriften, hg. von ALBERT BÜCHI (Quellen zur Schweizer Geschichte 13), Basel 1893, 127 (Brief an Herzog Siegmund von Tirol, 1492 März 4). Zu Bonstetten siehe RENATE SCHWEERS: Albrecht von Bonstetten

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sich die neue Latinität, wie man seinen neuen Stil-Habitus, buchstäblich mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen, erarbeitete. Enea wurde auch als Korrektor und arbiter litterarum angegangen und er spielte diese Rolle gern. Während die beiden großen Erziehungsbriefe an König Ladislaus von Böhmen-Ungarn (1440) und an Herzog Sigismund von Tirol (1450) ein theoretisches Programm humanistischer Erziehung entwarfen, begegnet man hier – inszeniert als Lehrer-Schüler-Verhältnis – gleichsam der Praxis. Das Beispiel des Johannes Tröster gewährt genaue, ja intime Einblicke in einen Transferprozeß, der durch lateinische Sprachkritik konstituiert wird. Tröster schickte Enea Silvio am 2. Juli 1454 seinen an Ovid sowie an Eneas eigenem Brieftraktat (1445) orientierten Dialog ‚De remedio amoris‘. Es war einer „der frühesten literarischen Versuche des deutschen Humanismus“ überhaupt.38 Die Antwort, schon eine Woche später, lobt zunächst das Werk (dialogus tuus est tersus et limatus aptis compositus verbis) und schwenkt sogleich zur nationalen Komponente, denn schließlich ist Enea Italiener, der mit Petrarca um die abgrundtiefe barbaries aller Nichtitaliener weiß, ihr aber gönnerhaft bis missionarisch, Chancen nachträglicher Akkulturation einräumt:39 Wenn der Verfasser so weitermache, ornabis tuam patriam nomenque tibi efficies, quod non Teuthones solum, sed Galli quoque atque Itali celebrent. Aber dann geht es los: Du verbindest die Worte de amore, quid sentirem scriberem; eleganter hättest Du gesagt: quid sentirem de amore, scriberem. Statt eam accersam müßte man ausgefeilter (limacius) sagen: eam accurram. Gründe für die Liebe einfach hintereinander zu ordnen, gleiche der Methode der dyalectici, also der verachteten Scholastiker. Manche Worte könne man zwar verwenden, aber es seien nicht die vorbildhaften der oratores und historici. Und so weiter. Die Kritik traf also Syntax und Wortwahl, vor allem die Wortstellung, unschöne gleichlautende Endungen, Kasushäufungen (nimis multi genitivi), aber auch falsche Klassikerzitate (non recte locutus es, [...] ut Maroni (sc. Vergil) placet), aber sie traf auch den Inhalt. Die Türken dürften nicht mehr mit dem edlen Namen der Teucrer (= Troianer) belegt werden. Das war nicht nur literarisches Theater: Die beiden erhaltenen, späteren, Fassungen von ‚De remedio amoris‘ offenbaren faszinierenderweise, daß Tröster die vom Zensor Enea vorgeschlagenen Korrekturen folgsam in beide Textfassungen eingearbeitet hat.

und die vorländische Historiographie zwischen Burgunder- und Schwabenkriegen (Studien und Texte zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit 6), Münster 2004. 38 FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Art. Tröster, Johannes, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters 9 (1995), 1079. 39 Vgl. für die folgenden Zitate HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’ (wie Anm. 32), 127 f., nach Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. Lat. 347, fol. 98r–99r.

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Zuletzt die Handschrift. Ein wesentliches Element der Diffusion stellte die neue Humanistica dar. Relativ frühe Spuren der Aneignung dieser Schrift in Deutschland hat wiederum ein Brief Eneas hinterlassen, auch hier an Niklas Wyle gerichtet. Er lobt den Freund für Stil und Handschrift: sed attulisti et iocunditatem tuis scriptis mihi, quia vidi epistolam tuam duabus perstare partibus, quas convenit habere omnem scripturam. nam caracteres rotundi sunt et bene connexi et apta oblectare legentem sunt tota.

Die Buchstaben sind rund (rotundi), gut miteinander verbunden (bene connexi), gut lesbar.40 Auch wenn diese Kriterien nicht eindeutig auf einen bestimmten Schrifttyp rückschließen lassen, liegt die Deutung doch nahe, dass Wyle sich in humanistischer oder zumindest italianisierender Schrift, in Minuskel oder Kursive (bene connexi), übte und dem Meister eine Probe lieferte. Das Lob der Lesbarkeit kam in dieser ‘privaten Öffentlichkeit’ der Humanistenkorrespondenz eines Enea Silvio wohl einem Ritterschlag gleich. Wer seine Handschrift änderte, mochte imitierend einer Mode folgen, zugleich aber prägte er sich damit ein „ostensives Kennzeichen“ (Mertens) auf, mit dem er sich als Gleichgesinnter zu erkennen gab. Insofern konnte die Adaptation der Humanistica einem persönlichen Bekenntnis zur neuen Bildungsbewegung und ihrer Ästhetik Visualität verleihen. Die Humanistica ist daher ein Diffusionskriterium erster Ordnung. Die paläographische Forschung hat allerdings deutlich die zahlreichen Mischformen gerade im Norden aufgezeigt, die als Verharren in oder Assimilierung an autochthone Schrifttraditionen zu werten sind. Sie bilden ein besonders faszinierendes Feld von Transformationsvorgängen, ein Phänomen der Hybridisierung. Die betreffenden Verfasser verfügten normalerweise über mindestens zwei Handschriftenformen: ihre alte und die neuerworbene Humanistica. Humanismus-Rezeption bestand eben auch, ja zuallererst, in der Aneignung neuer Fertigkeiten. Die klassische Latinität, aber auch Rede- und Briefkunst, waren zusammen mit der Schrift hochgradig performative Signale. 40 Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, hg. von RUDOLF WOLKAN, Bd. 3.1: Briefe als Bischof von Siena (Fontes Rerum Austriacarum 68), Wien 1918, 100 Nr. 47; vgl. HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’ (wie Anm. 32), 128–131. Breit angelegte Studien zur Verbreitung der Humanistica finden sich nur für Italien, fehlen aber für Deutschland; siehe jedoch Renaissance- und Humanistenhandschriften, hg. von JOHANNE AUTENRIETH (Schriften des historischen Kollegs. Kolloquien 13), München 1988, hier v.a. MARTIN STEINMANN: Von der Übernahme fremder Schriften im 15. Jahrhundert, 51–62. Zu Italien: THOMAS FRENZ: Das Eindringen humanistischer Schriftformen in die Urkunden und Akten der päpstlichen Kurie im 15. Jahrhundert, in: Archiv für Diplomatik 19 (1973), 247–418; HORST ZIMMERHACKL: Das Eindringen humanistischer Schriftformen in die Dokumentenschrift der kommunalen Behörden der Emilia Romagna im 15. Jahrhundert, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), 119– 333.

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Studium in Italien Das hatte eine lange Tradition. In der Forschung zählt vor allem ein Name: Agostino Sottili und sein Archipel prosopographisch-codicologischer Studien.41 Es ist mir ein persönliches Anliegen, dieses viel zu früh verstorbenen Gelehrten und Freundes zu gedenken, eines Mannes, der in seiner profunden Gelehrsamkeit als ‘Brückenfigur’ zwischen deutscher und italienischer Humanismusforschung eine Verkörperung von Transfer war. Bis zuletzt schrieb er über seine Deutschen in Italien, jene Löffelholz, Schedel, Pirckheimer, Ruysch, und über den ersten deutschen Humanisten europäischen Niveaus: Rudolf Agricola († 1485).42 „Die Studenten“, so Sottili, „waren wahrscheinlich die wichtigsten Mittler für die Rezeption des Humanismus in Deutschland“.43 Nehmen wir Johannes Löffelholz, den Patriziersohn aus Nürnberg. Er studierte zuerst in Erfurt, dann aber in Padua die Humaniora (ut Paduae dulces sibi junxit amore Camaenas, wie ein späterer Biograph dichtete), kehrte zurück nach Deutschland, und kam wieder, um nun in Pavia vier Jahre, 1469–1472, Jurisprudenz zu studieren, beendet mit dem Lizenziat. Hier lernte er aber auch Griechisch bei Demetrios Chalkondyles. Mindestens sieben Handschriften konnte Sottili nachweisen, die Löffelholz in Italien selbst abgeschrieben oder gekauft hatte, darunter 41 Lediglich zwei Aufsatzsammlungen seien genannt: AGOSTINO SOTTILI: Università e cultura: studi sui rapporti italo-tedeschi nell’età dell’Umanesimo (Biblioteca eruditorum 5), Goldbach 1993; DERS.: Humanismus und Universitätsbesuch. Die Wirkung italienischer Universitäten auf die ‘Studia Humanitatis’ nördlich der Alpen/Renaissance Humanism and University Studies. Italian Universities and their Influence on the ‘Studia Humanitatis’ in Northern Europe (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 26), Leiden/Boston 2006. Wichtige Studien auch in der Gedächtnisschrift ‘Margarita amicorum’. Studi di cultura europea per Agostino Sottili, hg. von FABIO FORNER/CARLA M. MONTI/ PAUL G. SCHMIDT, Bd. 1–2, Milano 2005; etwa DIETER MERTENS: Laudes Germaniae in Bologna und Wittenberg, Zu Christoph Scheurls ,Libellus de laudibus Germaniae et Ducum Saxoniae‘ 1506 und 1508, in: Margarita Bd. 2, 717–731. Siehe auch GERALD DÖRNER (Hg.): Reuchlin und Italien (Pforzheimer Reuchlinschriften 7), Stuttgart 1999. [Zum Thema auch JAMES M. WEISS: Kennst Du das Land, wo die Humanisten blühen? References to Italy in the Biographies of German Humanists, in: DERS.: Humanist Biography in Renaissance Italy and Reformation Germany. Friendship and Rhetoric (Collected Studies Series 947), Aldershot 2010, 439–456.] 42 „Agricola war der erste Nordländer, der sich frei und ebenbürtig in der Welt der Renaissance zu bewegen wusste, ohne seine Nationalität preiszugeben. Niemand von seinen Nachfolgern hat ihn hierin erreicht“; FRIEDRICH VON BEZOLD: Konrad Celtis, ‘der deutsche Erzhumanist’ zuerst in: Historische Zeitschrift 48 (1883), wieder in: FRIEDRICH VON BEZOLD: Aus Mittelalter und Renaissance. Kulturgeschichtliche Studien, München/Berlin 1918, 82– 164, hier 85. 43 Die folgende Passage nach AGOSTINO SOTTILI: Die humanistische Ausbildung deutscher Studenten an den italienischen Universitäten im 15. Jahrhundert: Johannes Löffelholz und Rudolf Agricola in Padua, Pavia und Ferrara, in: Die Welt im Augenspiegel. Johannes Reuchlin und seine Zeit (Pforzheimer Reuchlinschriften 8), Stuttgart 2002, 67–132, hier 72; wieder in: SOTTILI: Humanismus und Universitätsbesuch (wie Anm. 41), 211–297.

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griechische wie den Codex Jenensis O 25. Wir stehen hier wohl am „Anfangsstadium der Rezeption des Griechischen in Deutschland“, der Graecogermania.44 Dazu kamen: Freundschaften, die Erfahrung von Ambiente und Habitus, und – immer als Herzstück – von Sprache, von Latinitäten. Die akademische Kultur der Universitäten zwang auch Deutsche, humanistisch geprägte Vorträge wie Inaugurations- und Doktorreden zu halten. Das waren die „uses of Italy“. Löffelholz hat, so Sottili, Italien „als fertiger Jurist, und zugleich als Mensch der neuen Zeit, als Humanist, verlassen“.45 Der ‘Kulturtransfer’ erfolgte dann buchstäblich per Lastesel, der Personen und Handschriften über die Alpen schleppte. Im Prinzip war das nicht neu, aber in dieser Intensität doch ungewohnt. Der Humanismus erreichte dann auch im Reich die ‘oberen Fakultäten’ der klassischen universitären Fächerhierarchie an den Universitäten. Diese wurden methodisch gleichsam philologisiert und durch Neukenntnis antiker Texte und Praktiken in einem neuen Schub antikisiert und damit zugleich und keineswegs paradoxerwesie modernisiert.46 Neben vielen Medizinern, die oft die verschiedensten Tätigkeiten ausübten, waren vor allem Juristen, die neuen politischen Funktionseliten, in Deutschland wie etwas später in Frankreich, neben den ‘Poeten’ wichtige Träger des Humanismus. In spezifisch deutscher Umprägung – man denke an Ulrich Zasius oder Claudius Cantiuncula – waren sie auch Reformer und Aktivisten bei der Rezeption des Römischen Rechts.47 Hinzu kommen die Leistungen humanistisch geprägter Deutscher als Mathematiker und Astronomen, als Hersteller technischer Geräte, als Geo- und und Kartographen im Gefolge des Anfang des 15. Jahrhunderts im Kreis um Manuel Chrysoloras zu Florenz ins Lateinische übersetzten Ptolemaios. Genannt seien die Mathematiker Konrad Peuerbach und Johannes Müller (Re44

SOTTILI: Humanistische Ausbildung (wie Anm. 43), 84. Vgl. oben Anm. 19. SOTTILI: Humanistische Ausbildung (wie Anm. 43), 91. 46 Der Humanismus und die oberen Fakultäten, hg. von GUNDOLF KEIL/BERND MOELLER/ WINFRIED TRUSEN (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 14), Weinheim 1987. 47 Dieser Bereich kann hier nur gestreift werden. Siehe jetzt: Medizin, Jurisprudenz und Humanismus, hg. von FRANZ FUCHS (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 24), Wiesbaden 2010. Bereits drei Jahre vor Burckhardt erschien die ZasiusBiographie von RODERICH STINTZING: Ulrich Zasius. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation, Basel 1857 (ND Darmstadt 1961); vgl. STEVEN ROWAN: Ulrich Zasius: A Jurist in the German Renaissance, 1471–1535, Frankfurt am Main 1987; THOMAS BURGER: Jakob Spiegel: Ein humanistischer Jurist des 16. Jahrhunderts, Freiburg 1973. Vgl. allgemein GUIDO KISCH: Humanismus und Jurisprudenz. Der Kampf zwischen mos italicus und mos gallicus an der Universität Basel (Basler Beiträge zur Rechtswissenschaft 42), Basel 1955; KARL H. BURMEISTER: Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich, Wiesbaden 1974; RICHARD J. SCHOECK: Humanism and Jurisprudence, in: Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy, hg. von ALBERT RABIL JR., Philadelphia 1988, Bd. 3, 310–326. 45

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giomontanus), dann Johannes Spießhaimer (Cuspinianus) in Wien, aber auch etwa der Astronom Johannes Stoeffler (1452–1531) in Tübingen. Zu erwähnen sind auch Georg Agricola (1490–1555), der als Vater der Mineralogie und des Montanwesens angesehen wird, und schließlich im Bereich der Kartographie der erste Globus (ca. 1490) des Martin Beheim (1459–1507), der in Lissabon starb, die Globen, die Weltkarte (1569) und der Weltatlas (posthum 1595) eines Gerhard Mercator (1512–1594) usw.48 Auf Dauer aber gingen die Fächer des Quadriviums, gingen Naturwissenschaften und Technik in der Frühen Neuzeit eigene Wege.

3. Soziale und institutionelle Wirkzentren der Humanisten in Deutschland Ich möchte aber weniger von Personen, wie Rudolf Agricola oder Konrad Celtis, dem ‘Erzhumanisten’ und ‘uomo universale’ Deutschlands sprechen,49 als vielmehr von Orten und Zentren des Humanismus in Deutschland: Denn der Humanismus in Deutschland ist, wie gesagt, regional zu verstehen. Diese Zugangsweise hat schon vor 1918 seit Gustav Bauch und Paul Joachimsen, in der Forschung eine längere Tradition. Am prägnantesten sind sicherlich die Humanisten am Oberrhein, in Schwaben und im Elsaß, in der Pfalz, in Thüringen und Schlesien sichtbar, während ein Albert Kranz (1448–1517) in Hamburg ein vereinzeltes Nordlicht blieb,50 48

KRAUS: Gestalten und Bildungskräfte des fränkischen Humanismus (wie Anm. 16), 1001 f., 1043–1048; HELMUTH GROSSING: Humanistische Naturwissenschaft. Zur Geschichte der Wiener mathematischen Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts (Saecula spiritalia 8), Baden-Baden 1983; JOHANNES K. W. WILLERS/PETER J. BRÄUNLEIN/RENATE HILSENBECK u.a. (Hg.): Focus Behaim-Globus (Ausstellungskataloge des Germanischen Nationalmuseums), Teil 1: Aufsätze, Teil 2: Katalog, Nürnberg 1992. Vgl. allgemein ANTHONY GRAFTON: The New Science and the Traditions of Humanism, in: The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, hg. von JILL KRAYE, Cambridge 1996, 203–223. 49 Vgl. BEZOLD: Aus Mittelalter und Renaissance (wie Anm. 42), 85 zum Titel ,archihumanista‘. Von den zahlreichen Arbeiten zu Celtis seien genannt: D IETER WUTTKE: Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen Erzhumanisten Conradus Celtis. Eine ikonologische Studie zur programmatischen Graphik Dürers und Burgkmairs, in: DERS.: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, Bd. 1, Baden-Baden 1996, 389–454; GERNOT M. MÜLLER: Die ‘Germania generalis’ des Konrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar (Frühe Neuzeit 67), Tübingen 2001; JÖRG ROBERT: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich (Frühe Neuzeit 76), Tübingen 2003; Konrad Celtis und Nürnberg. hg. von FRANZ FUCHS (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 19), Wiesbaden 2004; JÖRG ROBERT: Art. Celtis, Konrad, in: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 6), Bd. 1, Lief., 375–425; siehe zu Celtis auch Anm. 29. 50 Versuch einer Definition des oberrheinischen Humanismus: „Verbindung jener neuen Rezeptions-, Vermittlungs- und Funktionalisierungsweise von antiken Texten und antikem

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Ich werde im Folgenden von vier politisch-sozialen Wirkungsfeldern der Humanisten zu sprechen: den Höfen, den Städten, den Universitäten und den Klöstern.51 Höfe Der deutsche Humanismus war (auch) ein höfischer Humanismus. Und Herrscherhöfe waren schon immer Modernisierungszentren. Der Kaiserhof stand an Rang allen anderen Höfen voran. Vom Hof Kaiser Friedrichs III. war schon die Rede. Unter Friedrichs Sohn Maximilian I. (1493–1518) und dessen Nachfolgern wurden die Kaiserhöfe in Wien und Innsbruck, später auch in Prag Zentren der Renaissancekultur. Von den Fürstenhöfen, zu denen auch die bischöflichen gehörten, ist (nach aktuellem Forschungsstand und mangels systematischer Vergleiche) der kurpfälzische Hof der Wittelsbacher in Heidelberg hervorzuheben. Die Humanisten wirkten hier vor allem als Fürstenerzieher, Geschichtsschreiber und Panegyriker sowie in den Kanzleien. Wie in Italien nahmen die Fürsten auch in Deutschland das neue Antikewissen in den Dienst. „Neue Gelehrte im Dienste alter Herren“ hat man die höfischen Humanisten treffend genannt.52 Die humanistisch trainierten Intellektuellen wurden auch aus räumlicher Distanz in den ‘weiten Hof’ eingebunden. Sie entwickelten ein spezifisches Profil als poeta et orator – waren aber so gut wie nie „freischwebend“, wie Burckhardt sagte, sondern standen immer auch in funktionalen Bindungen. Vor allem Maximilian I., und sein Kaiserhof ist mit seiner Intensivkultur Wissen mit einer Kleruskritik, die gewöhnlich ein innerkirchliches und papsttreues Phänomen bleibt“; FRANK WITTCHOW: ‘Satis est vidisse labores, quos patior propter labentis crimina mundi.’ Lochers Ausstand, in: Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren, hg. von SVEN LEMBKE/MARKUS MÜLLER (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 37), Leinfelden/Echterdingen 2004, 209–236, hier 209. Zu Albert Kranz siehe ULRICH ANDERMANN: Albert Kranz. Wissenschaft und Historiographie um 1500 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 38), Weimar 1999. 51 Vgl. zur Fragestellung: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von THOMAS MAISSEN/GERRIT WALTHER, Göttingen 2006, hier besonders die Einleitung von GERRIT WALTHER: Funktionen des Humanismus. Fragen und Thesen, 9–18. 52 Siehe MAISSEN/WALTHER (Hg.), Funktionen des Humanismus (wie Anm. 51), hierin DIETER MERTENS: Der Preis der Patronage. Humanisten und Höfe (125–154); GABÓR ALMÁSY: Humanisten bei Hof. Öffentliche Selbstdarstellung und Karrieremuster (155–165); LEMBKE/MÜLLER (Hg.): Humanisten am Oberrhein (wie Anm. 50), Einleitung und Resümee von SVEN LEMBKE (1–8) und MARKUS MÜLLER (303–313); SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters (wie Anm. 24); DIETER MERTENS: Dichter und Herrscher. Rituale der Zuordnung, in: Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, hg. von CLAUDIA GARNIER/HERMANN KAMP, Darmstadt 2010, 291–303. Für zahlreiche Forschungen grundlegend: JAN-DIRK MÜLLER: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), München 1982.

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habsburgischer gedechtnus für den deutschen Humanismus auch als nationale Integrationsfigur kaum zu überschätzen. Hier überlappen sich, um mit Bourdieu zu sprechen, das politische und das literarische Feld. Denn Tätigkeit für den Hof generierte reziprok wieder symbolisches Kapital im Feld der eigenen Humanisten-Corona.53 Städte Wer dächte nicht an Nürnberg und Augsburg, an Straßburg und Basel, an die Familien der Pirckheimer oder Peutinger. Ohne den städtischen Raum, wo sie lebten, ohne ein bürgerliches Umfeld, dem sie oft genug selbst entstammen, sind Humanisten und ihr Wirken kaum zu denken.54 Die Städte boten ja auch attraktive Tätigkeitsfelder für sie. Hier lagen die Universitäten und die Druckereien, hier gab es oft auch Fürstenresidenzen. Aber wie die Forschung ohnehin sehr zurückhaltend geworden ist, was die genuin ‘bürgerlichen’ Wurzeln von Humanismus und Renaissance betrifft, wird man auch den Einfluß der Humanisten in den deutschen Städten relativieren müssen. Sie prägten vor der Mitte des 16. Jahrhunderts (noch) nicht die städtische Gesellschaft, sondern sogar in Nürnberg nur kleine Teile ihrer Eliten. Und selbst bei dem grossen Albrecht Dürer ist die Tatsache, dass er ein bedeutender Künstler der Renaissance mit engen Italienkontakten war, nicht hinreichend, ihn nach unserem Verständnis als Humanisten zu bezeichnen.55 Ein Dr. Peter Rinck (ca. 1429–1501) und seine

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Ein Beispiel: ALBERT SCHIRRMEISTER: Die zwei Leben des Heinrich Glarean: Hof, Universität und die Identität eines Humanisten, in: Humanisten am Oberrhein (wie Anm. 50), 237–254; vgl. DERS.: ‘Quid cum aulae poetae?’ Dichter, Redner oder Historiker. Formen humanistischer Bildung am Hof und ihre Protagonisten, in: Erziehung und Bildung bei Hofe, hg. von WERNER PARAVICINI/JÜRGEN WETTLAUFER (Residenzenforschung 13), Stuttgart 2002, 235–247. 54 Zum Beispiel: Humanismus und höfisch-städtische Eliten im 16. Jahrhundert/Humanisme et élites des cours et des villes au XVIe siècle, hg. von KLAUS MALETTKE/ JÜRGEN VOSS, Bonn 21990; Konrad Celtis und Nürnberg (wie Anm. 49); Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, hg. von GERNOT M. MÜLLER (Frühe Neuzeit 144), Berlin/New York 2010. Die klassische Biografie: HEINRICH LUTZ: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9), Augsburg 1958. Vgl. HOLZBERG: Pirckheimer (wie Anm. 19). Ferner: Die Pirckheimer. Humanismus in einer Nürnberger Patrizierfamilie, hg. von FRANZ FUCHS (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 21), Wiesbaden 2006; [CARLA MEYER: Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 (Mittelalter-Forschungen 26), Ostfildern 2009, bes. 245–342 über den Beitrag der Humanisten (Städtelob etc.) zur städtischen Identität.] 55 Vgl. WOLFGANG SCHMID: Dürer als Unternehmer. Kunst, Humanismus und Ökonomie in Nürnberg um 1500 (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 1), Trier 2003. Zugespitzt hatte die These vom Bürgertum als gesellschaftliche Grundlage der Renaissancekultur in Italien ALFRED VON MARTIN: Soziologie der Renaissance, München 31974 (11932) vertreten.

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Söhne waren im Köln seiner Zeit eher eine Ausnahme.56 Denn die städtisch-kaufmännische Führungsschicht insgesamt war (noch) nicht selbst humanistisch erzogen. Wie stark unterschiedlich hier die Prägungen waren, zeigt sich darin, dass es in Nürnberg zwischen dem Meistersinger Hans Sachs und dem Humanisten Willibald Pirckheimer und ihren Kreisen offenbar kaum Kontakte gab. Universitäten57 Die als ‘Vorläufer’ des deutschen Humanismus in der älteren Forschung liebgewordenen (und überschätzen) Wanderhumanisten wie Peter Luder oder Samuel Karoch waren ein universitätsgeschichtliches Konkurrenzphänomen. Zehn Jahre vor Luders bekannter Heidelberger Rede von 1456 hatte bereits Engelbert Schut aus Leiden in Köln das Lob der renatae litterae und der Klassikerlektüre auf seinen Lehrer an der Universität Köln, Johannes Tinctoris, gesungen.58 Der Humanisten-Mythos vom Etablierungskampf in einer verkrusteten ‘scholastischen’ Universität fußte in der Organisation der Universität selbst. Die fünf Humaniora waren im etablierten Curriculum der Artes und der höheren Fakultäten nicht oder nur rudimentär durch die Grammatik vertreten. Auch wenn rasch eigene Lehrstühle für Latein 56 WOLFGANG SCHMID: Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln, Köln 1994, hier 63–222. [Zu Renaissance und Humanismus im Rheinland jetzt: Renaissance im Rheinland (Ausstellungskatalog), hg. vom Landschaftsverband Rheinland/Landes-Museum Bonn, Ostfildern 2010, hier HARALD MÜLLER: Von Italien an den Rhein. Der Humanismus verändert die Bildungslandschaft (40–55); STEPHAN HOPPE u.a. (Hg.): Städte, Höfe und Kulturtransfer. Studien zur Renaissance am Rhein (Sigurd-Greven-Kolloquium zur Renaissanceforschung 3), Regensburg 2010.] 57 Hierzu nach wie vor wichtig die Arbeiten des frühen Humanismusforschers GUSTAV BAUCH (1848–1924). Seine Studien verdienten gesammelt herausgegeben zu werden. Exemplarisch genannt sei: Die Anfänge des Humanismus in Ingolstadt. Eine literarische Studie zur deutschen Universitätsgeschichte (Historische Bibliothek 13), München/Leipzig 1901. [Als jüngeres Beispiel: Der Humanismus an der Universität Leipzig, hg. von ENNO BÜNZ/FRANZ FUCHS (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 23), Wiesbaden 2008. Zu Integration und Konkurrenz der Humanisten jetzt MARIAN FÜSSEL: Institution und Habitus. Das Erbe der Antike und die Wissenskultur der Universitäten, in: Transformationen antiker Wissenschaften, hg. von GEORG TOEPFER/HARTMUT BOEHME (Transformationen der Antike 15), Berlin 2010, 171–189, bes. 176–182.] 58 GÖTZ-RÜDIGER TEWES: Frühhumanismus in Köln. Neue Beobachtungen zu dem thomistischen Theologen Johannes Tinctoris von Tournai, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von JOHANNES HELMRATH/HERIBERT MÜLLER unter Mitarbeit von HELMUT WOLFF, München 1994, , Bd. 2, 667–696, mit der Edition des Briefes; vgl. an Tewes anknüpfend MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus (wie Anm. 12), 191 f. [Siehe auch MARTIN WAGENDORFER: Eneas Silvius Piccolomini und die Wiener Universität – ein Beitrag zum Frühhumanismus in Österreich, in: Pirckheimer Jahrbuch für Renaissanceund Humanismusforschung 22 (2008), 21–52.]

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und Griechisch geschaffen wurden, blieben sie Appendizes, solange sie kein Prüfungsstoff waren. Die dafür nötige Umgestaltung des gesamten Curriculums kam in Deutschland aber erst im 16. Jahrhundert zustande; beginnend 1516 in Wittenberg und dann, nach einem massiven Einbruch der Studentenzahlen, an allen anderen deutschen Universitäten.59 Wichtig erscheinen personelle und inhaltliche Überlagerungen mit dem sogenannten Wegestreit, in dem pauschal gesagt der erkenntnisphilosophische Realismus als via antiqua, der Nominalismus hingegen als via moderna rivalisierten. An der Universität Köln standen die Albertisten der Bursa Laurentiana dem Humanismus fern, während die Thomisten der Bursa Montana und des späteren Gymnasium Tricoronatum humanismusoffener waren und zu Pflanzstätten von Humanisten wurden. Studenten wechselten damals oft ihre Universität. Viele Kölner Realisten/Humanisten gingen nach Mittel- und Süddeutschland, nach Erfurt, Wittenberg, Trier oder Tübingen; ein bisher unterschätzter Aspekt binnendeutscher Diffusion des Humanismus via Mobilität der Personen.60 Man muß sich vor Augen führen, daß die Fronten des Wegestreits und der Rivalitäten zwischen den Bursen nicht wesentlich anders als im großen Reuchlinstreit ab 1511 verliefen (wo eben die Kölner Albertisten im Zentrum der Kritik standen), um die Bedeutung dieser ersten großen Polarisierung der deutschen Intellektuellen unmittelbar vor der Reformation richtig einschätzen zu können. Spürbarer noch als für die Universitäten fehlt in der Forschung eine Zusammenschau für die humanistischen Schulen und Gymnasien. Sie und die von ihnen bewirkte ǥVerschulung’ waren für die Einwurzelung des Humanismus als Bildungsstandard in Deutschland wie in Europa die entscheidenden Institutionen in den Jahrzehnten vor und nach 1500. Man denke im Reich an die Schulen in Nürnberg (Eobanus Hessus, Joachim Camerarius), Schlettstadt (Ludwig Dringenberg, Hieronymus Gebwyler, Johannes Sapidus), Straßburg (Johannes Sturm), Deventer (Alexander Hegius), Münster (Rudolf von Langen, Alexander Murmellius) und Emmerich (Matthias Bredenbach).61 59

JOHANNES HELMRATH: ‘Humanismus und Scholastik’ und die deutschen Universitäten um 1500, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), 187–204, eine Rezension zu JAMES H. OVERFIELD: Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, Princeton 1984. Wichtiger zum deutschen Humanismus und seinen Netzwerken als es der Titel vermuten lässt: GÖTZ-RÜDIGER TEWES: Die Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 13), Köln/Weimar/Wien 1993. 60 TEWES: Bursen der Kölner Artisten-Fakultät (wie Anm. 57), hier besonders 396–665 zu den humanismusfreundlichen „thomistischen Netzwerken“. 61 Zum ‘Schulhumanismus’ vgl. MEUTHEN: Deutscher Humanismus (wie Anm. 11), 226 f., 252–255; ARNO SEIFERT: Das Höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: NOTKER HAMMERSTEIN (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert, München 1996, 197–374. Als Monographie modellhaft ANTON SCHINDLING:

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‘Scientia latet in cucullis?’ Klöster und ‘Klosterhumanismus’ Bereits Paul Oskar Kristeller hatte den Beitrag der Orden für den Humanismus herausgestellt und Franz Machilek verwendete, am Beispiel Nürnbergs, schon in den Siebziger Jahren den Begriff ‘Klosterhumanismus’.62 Systematisch aber hat vor allem Harald Müller in seiner grundlegenden Studie ‚Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog‘, den deutschen Humanismus aus dem klösterlichen Kontext untersucht und dabei die Briefcorpora der deutschen Humanisten in ganzer Breite einbezogen. Der Benediktinerorden hat eine ganze Reihe von Persönlichkeiten hervorgebracht, die durchaus zu den Protagonisten humanistischer Kultur im Reich zu rechnen sind. Zu nennen sind, natürlich, Johannes Trithemius aus Sponheim, von dem die in der obigen Kapitelüberschrift zitierte Sentenz stammt, oder Veit Bild aus St. Ulrich und Afra in Augsburg, Nikolaus Ellenbog aus Ottobeuren, Leonhard Leontorius aus Engelthal, Johannes Butzbach aus Maria Laach. Und doch, so die These Müllers, ist der sogenannte Klosterhumanismus mehr Brennglas für inklusive und exklusive Mechanismen der humanistischen Corona denn ein genuiner Lebens- und Denkstil der neuen Lehre. Die Problematik ist schnell umrissen: Die monastische Tradition hatte den christlich konditionierten Umgang mit antiken Texten und Bildung quasi nur propädeutisch, unter dem Kriterium der utilitas, etwa für die Bibelexegese etc. zugelassen. Humanistisch interessierte Mönche standen in einem „zwiefachen Spannungsverhältnis“,63 das sie an der vita activa hinderte: zu ihrem Gelübde, zum heimischem Kloster und zu den Mitmönchen einerseits, zur elitären, ungebundenen, nicht selten auch mönchskritischen Corona der Humanisten andererseits. Die Klage des Nikolaus Ellenbog: si

Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538–1621 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Universalgeschichte 77), Wiesbaden 1977; vgl. DERS.: Die humanistische Bildungsreform in den Reichsstädten Straßburg, Nürnberg und Augsburg, in: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von WOLFGANG REINHARD (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 12), Weinheim 1984, 107–120. 62 PAUL O. KRISTELLER: The Contribution of the Religious Orders to Renaissance Thought and Learning, in: American Benedictine Review 21 (1970), 1–54; wieder in: Medieval Aspects of Renaissance Learning. Three Essays by Paul Oskar Kristeller, hg. von EDWARD MAHONEY, New York 1992, 93–163 (mit Nachtrag); FRANZ MACHILEK: Klosterhumanismus in Nürnberg um 1500, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 64 (1977), 10–45. 63 MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 76; DERS.: Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg. Sigismund Meisterlin und Veit Bild im Vergleich, in: Humanismus und Renaissance in Augsburg (wie Anm. 54), 291–406; DERS.: ‘Specimen eruditionis’ (wie Anm. 23).

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obedientiae nexus me non ligaret,64 über seine primäre Sozialisation im Mönchtum ist geradezu paradigmatisch für das Oxymoron ‘Klosterhumanismus’. War „das normativ umgrenzte Lebensfeld Kloster [...] gleichsam von einer schützenden Membran aus Ordensregeln, Statutengesetzgebung und Strukturen des praktischen Zusammenlebens im Konvent umschlossen“, so mußten die „geistigen Kontakte zur Außenwelt“, so Müller in glücklicher Formulierung, auf eine Art selektierenden „Osmoseprozeß“ beschränkt bleiben.65 Im Kloster blieben die humanistisch interessierten Mönche wie Trithemius und Ellenbog meist unverstandene Sonderlinge. Welche Rolle konnten sie auf der anderen Seite, in den Reihen der bewunderten Humanisten spielen? Die Bilanz fällt bescheiden aus. Die Humanisten in Mönchskutte tauchen eher randständig in den Briefnetzen eines Celtis, Pirckheimer, Reuchlin oder Peutinger (hier Veit Bild mit 27 Briefen) auf. Genausoweing konnten sie innerhalb ihrer Klöster rüssieren. Johannes Trithemius, die Paradefigur des ‘Klosterhumanismus’, ist an diesem Spagat gescheitert; er hat, nach seinem Hinauswurf aus Sponheim, in den letzten neun Jahren seines Lebens die Kontakte zu Humanisten weitgehend abgebrochen. Das Streben nach Wissen ordnet er nun wieder dem Primat der genuin monastischen professio unter und läßt in seiner als Conversio stilisierten Verhärtung nur mehr eine „bedingungslos christliche Ausrichtung der Wissenschaften“.66 und nur eine restriktive innermonastische amicitia claustralium gelten. Und doch schienen den Zeitgenossen Humanismus und Klosterleben zumindest im Ideal vereinbar. Werfen wir einen Blick auf den Kanoniker Konrad Mutian († 1526) als Zentralfigur eines Humanistenkreises in Gotha und Erfurt. Er zeichnet ein ideales Bild vom geglückten Leben eines Mönchshumanisten als sacer et eruditus coenobita,67 das er in gelehrten Mönchen (erudicocenobitae) wie dem Zisterzienser Heinrich Urban († 1538) und dem Augustiner und Lutherfreund Heinrich Lange († 1548) verkörpert sah. Sie erfüllten für Mutian die ‘kulturelle Norm’ der urbanitas wie auch – am wichtigsten – der latinitas und wurden daher stillschweigend in die Corona kooptiert. Die zahlreichen Ordensreformen haben den Humanismus kaum gefördert. Personen wie in Italien einen Luigi Marsili OESA, einen Ambrogio Traversari, Maffeo Vegio oder Baptista Mantuanus, sehe ich in deutschen 64

Siehe Zitat und Kommentar bei MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 355; zu Ellenbog jetzt GERALD DÖRNER: Art. Ellenbog, Nikolaus, in: Deutscher Humanismus 1480– 1520 (wie Anm. 6), Bd. 1, Lief. 2, 600–614. 65 MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 52 f. 66 MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 209. 67 MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 346.

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Klöstern nicht, auch nicht ein klösterliches Zentrum des Humanismus, das mit Santa Giustina in Padua vergleichbar wäre.68 „Humanismus ist vor allem an den Humanisten zu verstehen“69 – und unter diese sind einige Ordensleute zu rechnen. Aber sie waren stets Humanisten im Mönchsstand, keine Vertreter einer eigenen Denk- oder Lebensform namens Klosterhumanismus. Den hat es zumindest in Deutschland nicht gegeben! Im Grunde ist der ‘Klosterhumanismus’ eine Facette des bereits angesprochenen Problems eines ‘christlichen Humanismus’.

4. Deutscher Humanismus und Nation Der erste Schub eines starken deutschen Nationalismus geht– lange vor 1789 und dem 19. Jahrhundert – von den Humanisten um 1500 aus! Man kann das nicht genug betonen, entgegen den Monopolansprüchen vieler Neuzeithistoriker. Die Nation als agonal verteidigte Ehrgemeinschaft wurde von den deutschen Humanisten, den Celtis, Wimpfeling, Bebel und Hutten kreiert. Die Studien von Dieter Mertens, Ulrich Muhlack, Herfried Münkler/Hans Grünberger und Christopher Krebs sowie Caspar Hirschis ‚Wettkampf der Nationen‘ haben das noch einmal überdeutlich gemacht.70 Das Phänomen ist freilich europäisch: „Die deutschen Humanisten beteiligten sich an der allgemeinen kognitiven Nationalisierung Europas“.71 Es 68

MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 23), 81–105. So in Anlehnung an den Titel des Resümees von SVEN LEMBKE/MARKUS MÜLLER: An Humanisten den Humanismus verstehen. Ein Resümee, in: DIES. (Hg.): Humanisten am Oberrhein (wie Anm. 50), 303–313. 70 HERFRIED MÜNKLER/ HANS GRÜNBERGER/ KATHRIN MAYER (Hg.): Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen 8), Berlin 1998; ULRICH MUHLACK: Kosmopolitismus und Nationalismus im deutschen Humanismus, in: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zum 65. Geburtstag, hg. von HELMUT NEUHAUS/ BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Historische Forschungen 73), Berlin 2002, 19–36; REINHARD STAUBER: Hartmann Schedel, der Nürnberger Humanistenkreis und die „Erweiterung der deutschen Nation“, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3), 159–185; CHRISTOPHER B. KREBS: ‘Negotiatio Germaniae’. Tacitus’ ,Germania‘ und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel (Hypomnemata 158), Göttingen 2005; CASPAR HIRSCHI: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005. Vgl. auch MÜLLER: ‘Germania generalis’ (wie Anm. 49); JOHANNES HELMRATH: Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellung und ihre kritische Aufbereitung, hg. von JOHANNES LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln/ Weimar/Wien 2003, 323–352 (in diesem Band Nr. VII); MERTENS: ‘Laudes Germaniae’ (wie Anm. 40). 71 MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus (wie Anm. 12), 209. 69

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gehörte zu den wesentlichen Antagonismen des Humanismus, dass er einerseits kosmopolitische und andererseits massiv nationale Ursprungs- und Identitätsideen propagierte. Ohne erstere wäre jene übernationale und überkonfessionelle res publica litterarum, ohne letztere der frühmoderne Patriotismus und Nationalismus nicht denkbar gewesen. Ich skizziere die wichtigsten Elemente des zweiten zuerst. Der Paragone mit Italien ist entscheidend. Einerseits bewunderte man die Italiener und wußte, was man ihnen verdankte. Rudolf Agricolas ‚Vita Petrarchae‘, und wieder Melanchthons Vita des Agricola geben davon Zeugnis. Hier wird über Agricola gesagt: Laus fuit homini Germano […] eruditione et genere sermonis […] satisfacere Italiae, morose et fastidiose iudicanti.72 Hier wird das Aufbegehren artikuliert. Man litt nämlich zugleich unter der gefühlten Überlegenheit der Italiener, empfand ihre ostentative antibarbaries als Arroganz. Diesen Paragone führten auch, und früher als in Deutschland, die Intellektuellen anderer Länder. Man denke an Petrarcas eigene Kontroverse mit dem Franzosen Pierre de Hesdin. Die Celtis-Generation glaubte einen allgemeinen kulturellen Nachholbedarf in Deutschland zu erkennen. Der translatio imperii sollte daher eine translatio studii folgen, die Deutschland, die natio germanica, intellektuell autark machen würde. Dies stilisierte Konrad Celtis zur kulturpolitischen Aufgabe hoch: „Nach wenigen Jahren, wenn Juppiter sie gewährt, wirst du sagen, daß die Germanen die italische Poesie übertreffen können.“73. Die Spitze einer antiromanitas ist unverkennbar. ‘Nation’ wird allgemein zu einem exkludierenden Kriterium! Hinzu kam der Kairos eines Späterfolgs der ‘scoperta dei codici’: Tacitus’ ‚Germania‘. Sie wurde bekanntlich zur Bibel des deutschen Nationalismus.74 Der Text stand schon länger gleichsam bereit, in Italien war er 72

Zit. SOTTILI: Humanistische Ausbildung (wie Anm. 43), 103 Anm. 134. Dices post paucos, tribuet si Iuppiter, annos/ Germanos Latias vincere posse lyras; Celtis: Epigrammata 2,28; dazu MÜLLER: ‘Germania generalis’ (wie Anm. 49), 429 f., der zurecht von einer Verengung des Celtisbildes auf die Tacitus-Lektüre und einen ‘Germanenmythos’ warnt und stattdessen die breiten „gattungsspezifischen Erfordernisse“ (428) in den Texten Celtis’ herausstellt. 74 Vgl. den magistralen Aufsatz von DIETER MERTENS: Die Instrumentalisierung der ,Germania‘ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: HEINRICH BECK/DIETER GEUENICH/ HEIKO STEUER (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (Reallexikon der German. Altertumskunde. Ergänzungsband 34), Berlin/New York 2004, 37–101; DONALD R. KELLEY: ‘Tacitus noster’. The ,Germania‘ in the Renaissance and Reformation, in: TORRY J. LUCE/A. J. WOODMAN (Hg.): Tacitus and the Tacitean Tradition, Princeton 1993, 152–167; ULRICH MUHLACK: Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Bd. 1, hg. von HERBERT JANKUHN/DIETER TIMPE (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse 3/175), Göttingen 1986, 128–154; wieder in: ULRICH MUHLACK: Staatensystem und Geschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus, Historismus, Absolutismus und 73

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seit 1455 bekannt, seit 1472 lag er gedruckt vor. Aber erst die Edition durch Celtis im Jahre 1500 setzte das Fanal. Enea Silvio freilich hatte den Text schon viel früher benutzt, um den Deutschen (eigentlich: der deutschen Reichskirche), die in den ,Gravamina der deutschen Nation‘ gegen Zahlungen an die Kurie in einem bereits deutlich antirömischem Affekt opponierten, mit seinem eigenen, später ,Germania‘ titulierten Brieftraktat von 1457/58 zuzurufen: Ihr wart einst als Germanen primitiv, dank der Kirche und des Christentums seid ihr jetzt kultiviert und reich – und könnt zahlen!75 Aber eben erst am Ende des Jahrhunderts wird die taciteische ,Germania‘ zum Erweckungserlebnis einer germanischen, und in eben diesem Zusammenhang, deutschen Identität. Der nationale Agon der Humanisten wurde auf fünf Schauplätzen ausgefochten: Herrschaft und Territorium, religiöse Leistung, Sittenindex, mechanische und freie Künste. Wir finden hier Antiromanitas aller Art, Aggressivität und Chauvinismus. Es war aber ein imaginärer, paradoxrhetorischer Diskurs, denn der direkte Gegner fehlte. Denn man pflegte ja mit den italienischen Kollegen persönlich weiter gute und respektvolle persönliche Verbindungen. Die Auswirkungen waren allerdings vielfältig: 1. Entdeckung der Germanen als vorrömische kulturelle Autochthonie und ihre positive Wertkonnotation bis zur Germanentümelei: germanischer gleich deutscher Indigenat, deutsche Treue und Unverdorbenheit, alte Stereotypen, wurden autoritativ aufgeladen, geradezu geheiligt. Man pflegte eine protorömische Autochthonie, was freilich wieder kein genuin deutsches, sondern ein europäisches Phänomen war. Die Franzosen entdeckten als origo ihre Gallier, die Engländer ihre Briten, Spanier und Schweden ihre Goten, die Holländer ihre Bataver, die Ungarn gar die Hunnen.76 2. Die Entdeckung des Mittelalters. Für deutsche Humanisten bedeutete ad fontes zu gehen nicht mehr allein, zu Cicero, Horaz und Tacitus hinabzusteigen. Da diese nur importiert waren, mußte man sich den Texten einer kulturell gesehen großen deutschen Vergangenheit zuwenden; und das war das Mittelalter, die Zeit der Ottones, Heinrici und Friderici. Der (vermeintliche) Bruch der italienischen Humanisten mit der media tempestas konnte in Deutschland nicht so stark ausfallen. Man entdeckte stattdessen in diesem ‘deutschen’ Mittelalter lateinisch schreibende Autoren, die zwar kein klassizistisches, aber doch ein akzeptables, zumindest ein Aufklärung, hg. von NOTKER HAMMERSTEIN/GERRIT WALTHER (Historische Forschungen 83), Berlin 2006, 274–299. 75 Der Titel ‚Germania‘ erschien erst in der Druckausgabe von 1515. Siehe ULRICH MUHLACK: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, 202–214; HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 70), 342– 344; KREBS: Negotiatio (wie Anm. 70), 111–158; HIRSCHI: Wettkampf (wie Anm. 70), 144– 151, 549. 76 Vgl. die in Anm. 70 und 74 genannten Titel.

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vorscholastisches Latein geschrieben hatten. Otto von Freising hatte schon Enea Silvio Piccolomini in Göttweig wiedergefunden und hoffähig gemacht; Celtis entdeckt Roswitha von Gandersheim und den Ligurinus. Textausgaben von Widukind von Corvey, Einhard, Lampert von Hersfeld etc. entstanden. Die erste Entdeckung althochdeutscher Texte (Otfrid von Weißenburg) in Regensburg löste hingegen unter den lateindominierten Humanisten Irritation aus. Man muß sich klar machen, dass ein Celtis zwar die natio Germanica pries, aber nie eine Zeile Deutsch publiziert hat. Der neue ‘Mediävalismus’ in der Renaissance scheint mir in jedem Fall ein attraktives Thema.77 3. So wird man auf lange Sicht Worstbrock zustimmen: Die Konstitution einer deutsch(sprachig)en Literatur in der Frühen Neuzeit kam nicht durch Anknüpfung an die deutsche Literatur des Mittelalters, an Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide, zustande, sondern durch die neulateinische Literatur und den von ihr geprägten Habitus des Dichters. Doch es entstand im 16. Jahrhundert auch eine deutschsprachige humanistische Literatur.78 4. Die Deutschen als Griechen. Celtis erfand die Geschichte von griechischen Druiden, die als Träger einer vorrömischen Weisheit kulturstiftend über Gallien nach Germanien gekommen waren.79 Johannes Aventinus spann die Saga fort. Man mag hier bereits eine deutsche Griechenaffinität vor Winckelmann erkennen. 5. Neben den Germanen entdeckte man aber auch die Römer neu. Die ersten Ansätze einer Altertumskunde liessen das neue Bild eines provinzialisierten römischen Imperiums entstehen: die Römische Provinz Germa77

[Siehe dazu jetzt NORBERT KÖSSINGER: Otfrieds ‚Evangelienbuch‘ in der Frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie (Frühe Neuzeit 135), Tübingen 2009.] Zur Neurezeption Ottos von Freising siehe BRIGITTE SCHÜRMANN: Die Rezeption Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert (Historische Forschungen 12), Stuttgart 1986. Vgl. allgemeiner auch DIETER MERTENS: Mittelalterbilder in der Frühen Neuzeit, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hg. von GERD ALTHOFF, Darmstadt 1992, 29–54; [Renaissance Medievalisms, hg. von KONRAD EISENBICHLER (Center for Reformation and Renaissance Studies. Essays and Studies 18), Toronto 2009; Early Modern Medievalisms. The Interplay between Scholarly Reflection and Artistic Production, hg. von ALICIA C. MONTOYA u.a. (Intersections 15), Leiden/ Boston 2010.] 78 Vgl. auch MARINA MÜNKLER: Volkssprachlicher Früh- und Hochhumanismus, in: DIES./RÖCKE (Hg.): Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (wie Anm. 14), 77– 96; [Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von NICOLA MCLELLAND/HANS-JOCHEN SCHIEWER/STEFANIE SCHMITT, Tübingen 2008.] Zum Problemfeld Latinität/Volkssprache: Germania Latina – Latinitas Teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis zu unserer Zeit (Humanistische Bibliothek I/54), München 2003, hier etwa KLAUS GARBER: Späthumanistische Verheißungen im Spannungsfeld von Latinität und nationalem Aufbruch, 107–142. 79 MÜLLER: ‘Germania Generalis’ (wie Anm. 49), 417–423, 521 s.v.

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nien als ‘deutsches’ Rom. Über antike Inschriften, Münzen und Ruinen, die in der Region gefunden wurden, konnte man nun ‘seine’ Römer im eigenen Land erleben.80 6. Geschichtsschreibung: Erstmals wird eine ‘deutsche’ Geschichte, geschrieben, die partikular beginnend mit den Germanen, trotzdem unauslöschlich universal, am Reich orientiert bleibt, so in Jakob Wimpfelings Versuch einer ‚Epitome rerum Germanicarum‘ von 1505. Ein deutscher Widerspruch, der prägend blieb. Celtis und sein Kreis strebten als großes nationales Projekt der deutschen Humanisten eine ‚Germania illustrata‘ an, eine Beschreibung der Regionen Deutschlands nach Vorbild der ,Italia illustrata‘ des Flavio Biondo an, mit der dreifachen Konnotation des Wortes illustrare: erläutern, erleuchten, durchschweifen. Das Werk blieb ein Torso.81 Den Mehrwert einer neuen, von humanistischer Textkritik geförderten historischen Methode, die tatsächlich historisiert, Anachronismen auch bei den sakrosankten antiken Autoritäten aufdeckt, akkumuliert freilich erst 1531 die deutsche Geschichte des Beatus Rhenanus, ,Rerum Germanicarum libri tres‘.82

5. Thesen zu ‘Humanismus und Reformation’83 Auch was den Humanismus und insbesondere den deutschen betrifft, hat die Forschung gebannt auf die Reformation geblickt und immer wieder nach personellen und geistigen Verbindungen, Überlappungen und Gegen-

80 MARTIN OTT: Die Entdeckung des Altertums. Der Umgang mit der römischen Vergangenheit Süddeutschlands im 16. Jahrhundert (Münchener Historische Studien. Abteilung Bayerische Geschichte 18), Kallmünz 2002; DIETER MERTENS: Oberrheinische Humanisten um 1500 als Sammler und Verfasser von Inschriften, in: Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext, hg. von CHRISTINE MAGIN/ULRICH SCHINDEL/CHRISTIANE WOLF, Wiesbaden 2008, 149–164; JOHANNES HELMRATH: Die Aura der Kaisermünze. Bild-Text-Studien zur Historiographie der Renaissance und zur Entstehung der Numismatik als Wissenschaft, in: Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. von DEMS./ALBERT SCHIRRMEISTER/STEFAN SCHLELEIN (Transformationen der Antike 11), Berlin 2009, 99–138, hier 85–87. 81 ULRICH MUHLACK: Das Projekt der ‚Germania illustrata‘. Ein Paradigma der Diffusion des Humanismus?, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3), 142–158; MÜLLER: ‘Germania generalis’ (wie Anm. 49), 523 s.v. passim. 82 Die Grundlage für die längst fällige vertiefte Erforschung bilden jetzt Edition und Kommentar von FELIX MUNDT: Beatus Rhenanus. Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien (Frühe Neuzeit 127), Tübingen 2008. 83 Prägend dazu MOELLER (wie Anm. 85–86). Vgl. jeweils weiterführend MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus (wie Anm. 12), 194–197, und MEUTHEN: Deutscher Humanismus (wie Anm. 11), 223–225, hier etwa: „was die Humanisten zunächst einhellig an

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sätzen∗ dieser beiden Bewegungen gefragt. Es handelt sich nicht um zwei Welten, sondern beide müssen als Reaktionen auf die gleiche Krise, als Bemühen um eine Neuzentrierung der Intellektualität und Religiosität verstanden werden.84 Wir müssen uns hier mit acht Thesen begnügen, die mit einem Ausblick auf den sogenannten ‘Späthumanismus’schließen. 1. Der Streit um Reuchlin und seine Stellung zum Judentum wuchs sich zu einer ersten großen Spaltung der deutschen Intellektuellen aus. Sie präfigurierte bereits die Parteiungen der Reformation. Die fiktiven ‚Dunkelmännerbriefe‘ (‚Epistulae obscurorum virorum‘), verfaßt von Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten, sind das eminenteste Sprachkunstwerk des deutschen Humanismus. Typisch humanistisch wird über die krude Latinität auch die Denkweise der an der Laurentiana-Burse der Universität Köln um Ortwin Gratius lokalisierten ‘Dunkelmänner’ als Antitypus ätzend und subtil zugleich karikiert und invektival parodiert, allerdings auch die Universität Köln nachhaltig mitdiskreditiert.85 2. Das häufig zitierte Wort von Bernd Moeller bleibt zwar gültig: „Ohne Humanismus keine Reformation.“ Doch hatte Moeller zugleich von einem „produktiven Missverständnis.“86 gesprochen. Die Reformation in DeutLuther rühmend hervorhoben, war seine Gelehrtheit, nicht seine Lehre.“ Zuvor bereits (hier in strikter Auswahl gebracht) L. W. SPITZ: Humanism in the Reformation, in: Renaissance Studies in Honor of Hans Baron, hg. von ANTONIO MOLHO/JOHN A. TEDESCHI, Dekalb 1971, 641–662; ROBERT STUPPERICH: Humanismus und Reformation in ihren gegenseitigen Beziehungen, in: Humanismusforschung seit 1945 (wie Anm. 9), 41–57; HEINRICH LUTZ: Humanismus und Reformation. Alte Antworten und neue Fragen, in: Wort und Wahrheit 27 (1972), 65–77, hier 65 f.; wieder in: DERS.: Politik, Kultur und Religion im Werdeprozeß der frühen Neuzeit. Aufsätze und Vorträge, Klagenfurt 1982, 3–14; Renaissance – Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten, hg. von AUGUST BUCK (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 5), Wiesbaden 1984; HELMAR JUNGHANS: Der junge Luther und die Humanisten, Weimar 1984; Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstag des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, hg. von MICHAEL BEYER/GÜNTHER WARTENBERG, Leipzig 1996; ERIKA RUMMEL: The Confessionalization of Humanism in Reformation Germany (Oxford Studies in Historical Theology), Oxford 2000, mit Kritik an Moellers These; Humanismus und Reformation. Historische, theologische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung, hg. von REINHARD MOKROSCH/HELMUT MERKEL (Beiträge zur historischen und systematischen Philologie 3), Münster 2001; POHLIG: War Flacius Humanist? (wie Anm. 2), bes. 28–35. 84 Weiterführend BERNDT HAMM: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Normative Zentrierung – Normative Centering, hg. von RUDOLF SUNTRUP/JAN R. VEENSTRA (Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 2), Frankfurt am Main 2002, 21–63. 85 ERICH MEUTHEN: Die ‚Epistolae obscurorum virorum‘, in: Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte. Festgabe für Remigius Bäumer, hg. von WALTER BRANDMÜLLER u.a., Paderborn 1988, Bd. 2, 53–80; GERLINDE HUBER-REBENICH: Art. ‚Epistulae obscurorum virorum‘, in: Deutscher Humanismus 1480–1520 (wie Anm. 6), Bd. 1, 646–658 (Literatur). Zu Hutten siehe JAUMANN: Hutten (wie Anm. 1). 86 BERND MOELLER: Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 70 (1959), 47–61, Zitate 54 und 50.

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schland hatte verschiedene Zeittendenzen in sich zusammengeführt: die Hoffnung auf eine allgemeine Reform von Kirche und Reich, Klerus- und Papstkritik (Gravamina), aber auch protonationale Emotionen. Der Luther der ersten Reformationsjahre war für viele, auch für viele Humanisten, ein Heros der Nation. 3. Fast alle Humanisten hatten Luther in diesen ersten Jahren applaudiert. am aktivsten der Ulrich von Hutten des iuvat vivere. Ohne Zweifel hatte das städtische Beziehungsnetz der Humanisten, hatten ihre Kontakte zu Druckereien die rapide Verbreitung von Luthers Schriften wesentlich erleichtert.87 4. Diese Euphorie wich aber einer Desillusionierung, welche die Humanistengenerationen schließlich entzweien sollte. Fast alle Humanisten der älteren Generation wie Erasmus, Peutinger, Pirckheimer, Reuchlin, Wimpfeling, Beatus Rhenanus, Mutian blieben katholisch, aber in einer neutralen oder distanzierten Haltung, einer via media. Nur eine Minderheit von ihnen begann, Luther aktiv zu bekämpfen, zum Beispiel Johannes Eck, Johannes Cochläus und Thomas Murner. Die meisten Humanisten der jüngeren Generation dagegen wurden Lutheraner, angefangen bei Hutten, über Philipp Melanchthon, Konrad Bugenhagen, bis zu Hermann von dem Busche und Christoph Scheurl. 5. Das Befreiungs- und Reformvokabular eines Zurück (zur ecclesia primitiva, beziehungsweise zur antiken Kultur), das Interesse am reinen Text (der Bibel beziehungsweise der Klassiker,) genauso wie der antischolastische Affekt sind Parallelen zwischen Humanismus und Reformation, aber wohl mehr äußerliche als substanzielle. Luther selbst hatte eine scholastische, aber auch eine gründliche humanistische Ausbildung an den Klassikern erfahren.88 Aber das scriptura sola und andere zentrale Elemente seiner Theologie und Anthropologie, insbesondere die Rechtfertigungs- und Gnadenlehre, haben völlig andere Wurzeln und waren, wie Kurt Flasch formuliert hat, in gewisser Weise ein Rückfall aus dem erreichten „Rationalitätsstandard“ in rigiden mittelalterlichen Spätaugustinismus.89 Die Konfrontation von Erasmus und Luther, also die paradigmatische Opposition von liberum arbitrium und servum arbitrium, war keineswegs symbolisch. Sie bleib fundamental.

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Dazu vor allem BERND MOELLER: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. von JOHANNES SCHILLING, Göttingen 2001. 88 JUNGHANS: Der junge Luther und die Humanisten (wie Anm. 83), 193–239; VOLKER LEPPIN: Martin Luther, Darmstadt 2006. Eines für viele biographische Beispiele: GERHARD SIMON: Humanismus und Konfession. Theobald Billican. Leben und Werk (Arbeiten zur Kirchengeschichte 49), Berlin/New York 1980. 89 KURT FLASCH: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 22000, 638–663.

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6. Zum Stichwort ‘Konfessionalisierung’:90 Beide Konfessionen – haben den Humanismus als Mittel in hermeneutischen, philologischen und propagandistischen Belangen, etwa in der politischen Rhetorik und in der Predigt, aber auch für den Schulunterricht genutzt. Für die Protestanten war Melanchthon in diesem Punkt ein großer Bewahrer.91 In diesem Zusammenhang ist sowohl das pädagogische wie, eng verbunden, das sozialkritische und -reformerische sowie das (reich)politische Engagement deutscher Humanisten in Theorie und Lebenspraxis neu in den Blick zu nehmen.92 Als ‘Schulhumanismus’ hat der Humanismus in den Gymnasien der Protestanten wie der Jesuiten, jenen überwältigenden Einfluß auf die Elitenbildung der kommenden drei Jahrhunderte genommen hat, dürfte kaum bestreitbar sein, wie gerade die beiden folgenden Punkte zeigen.93 7. Zur zeitlichen Begrenzung: Der Humanismus endete auch in Deutschland nicht mit der Reformation und nicht mit dem Tod des Erasmus von Rotterdam im Jahre 1534! Die Reformation bedeutete für den Humanismus „einen tiefen Einschnitt, sie bedeutet aber nirgends das Ende.“94 Er war nicht erstickt worden, aber thematisch und habituell wurde er eingegrenzt, um nicht zu sagen: konfessionell diszipliniert, unter Beobachtung gestellt und in Dienst genommen, eine Transformation, für die ein treffender Begriff noch fehlt.

90 Zum Paradigma ‘Konfessionalisierung’ vgl. zahlreiche Arbeiten von HEINZ SCHILLING, zum Beispiel: Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: WOLFGANG REINHARDT/HEINZ SCHILLING (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 198), Gütersloh 1995, 1–49; DERS.: Confessione e identità politica in Europa agli inizi dell’età moderna (XV–XVIII secolo), in: Concilium 6 (1995), 16–29; DERS.: La ‘confessionnalisation’, un paradigme comparatif et interdisciplinaire. Historiographie et perspectives de recherche, in: Études Germaniques 57 (2002), 401–420. 91 Genannt seien nur MEUTHEN: Deutscher Humanismus (wie Anm. 11), 225, 250; 500 Jahre Philipp Melanchthon (1497–1560), hg. von REINHOLD FRIEDRICH/KLAUS A. VOGEL (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 13), Wiesbaden 1998; [HEINZ SCHEIBLE: Aufsätze zu Melanchthon (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 49), Tübingen 2010.] 92 DIETER MERTENS: Zum politischen Dialog bei den oberdeutschen Humanisten, in: Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance, hg. von BODO GUTHMÜLLER/WOLFGANG G. MÜLLER (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 21), Wiesbaden 2004, 293–318. 93 Dies betont MEUTHEN: Deutscher Humanismus (wie Anm. 11), 226 f., ebenso wie MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus (wie Anm. 12), 196 f. 94 MERTENS: Deutscher Renaissance-Humanismus (wie Anm. 12), 195. Die gegenteilige Sicht (der Humanismus ist um 1540 am Ende) etwa bei RONALD G. WITT: The Humanist Movement, in: THOMAS A. BRADY u.a. (Hg.): Handbook of European History 1400–1600, Leiden/New York/Köln 1994, Bd. 1, 93–119, hier 119.

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8. ‘Späthumanismus’?95 Ein europäisches Phänomen, und in Begriff und Sache umstritten. Die konfessionelle Bindung des zuvor weltanschaulich eher neutralen Humanismus gehört sicherlich ebenso dazu wie seine – konfessionsübergreifende – schulische Veralltäglichung, und wie die zunehmende Integration seiner Techniken in das System sich spezialisierender Wissenschaften. Jeder Gebildete war fortan humanistisch gebildet. Ja, auch die internationale res publica litteraria verständigte sich weiter lateinisch und über humanistisch-elitäre Codes und Denkstile. Was aber ein Descartes, ein Galilei an Neuem erdachten, war nicht mehr humanistisch. Für den deutschen ‘Späthumanismus’ haben etwa Walther Ludwig, Willhelm Kühlmann und Dieter Mertens, um nur diese drei Gelehrten zu nennen, vor allem auf literarischem Gebiet ein breites Terrain bestellt.96 Die Forschung ist überhaupt hier in den letzten Jahren sehr rege, arbeitet eine Einzelfigur nach der anderen auf. Und diese Personen sind in breiter regionaler Streuung und dabei oft genug in Regionen zu gewärtigen, die in der ersten Humanistengeneration noch keine Rolle spielten. Genannt seien, im Zentrum des Forschungsinteresses der letzten zehn Jahre David Cincinnius († 1555), Jakob Omphalius († 1567), Joachim Camerarius († 1574), Konrad Heresbach († 1576), Nicodemus Frischlin († 1590), Jean Matal († 1597), David Chytraeus († 1600), Caspar Dornau († 1631), Julius Wilhelm Zincgref († 1635)97 und die als Editoren nun breit aufgearbeiteten 95

Zum ‘Späthumanismus’, als Begriff wohl von Erich Trunz eingeführt: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, hg. von NOTKER HAMMERSTEIN/GERRIT WALTHER, Göttingen 2000; MARKUS FRIEDRICH: Zwischen ‘Späthumanismus’ und ‘Standeskultur’. Neuere Forschungen zur intellektuellen und sozialen Situation von Gelehrten um 1600, in: Wege in die Frühe Neuzeit. Werkstattberichte, hg. von ARNDT BRENDECKE/WOLFGANG BURGDORF, Neuried 2001, 61–91; DIETER MERTENS: Julius Wilhelm Zincgref und das Problem des Späthumanismus, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 150 (2002), 185–207; EIKE WOLGAST: Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus, in: Späthumanismus und reformierte Konfession, hg. von CHRISTOPH STROHM/JOSEF S. FREEDMAN/HERMAN J. SELDERHUIS (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 31), Tübingen 2006, 1–26 – Zu Kunst und materieller Kultur etwa: Die Renaissance im deutschen Südwesten zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg. Eine Ausstellung des Landes Baden-Württemberg, 2 Bde. Karlsruhe 1986; Renaissance im Rheinland (wie Anm. 56). 96 WALTHER LUDWIG: Miscellanea Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003, hg. von ASTRID STEINER-WEBER, 3 Bde., Hildesheim u.a. 2004; Schriftenverzeichnis 1944–2004: Bd. 3, 543–577; WILHELM KÜHLMANN: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland, hg. von JOACHIM TELLE/FRIEDRICH VOLLHARDT/HERRMANN WIEGAND, Tübingen 2006. Zu Mertens siehe v.a. Anm. 93 und 96. 97 ANDREAS FREITÄGER: Johannes Cincinnius von Lippstadt (ca. 1485–1555): Bibliothek und Geisteswelt eines westfälischen Humanisten, Münster 2000; INGMAR AHL: Humanistische Politik zwischen Reformation und Gegenreformation: Der Fürstenspiegel des Jakob Omphalius, Stuttgart 2004; RAINER KÖßLING (Hg.): Joachim Camerarius (Leipziger Studien zur klassischen Philologie 1), Tübingen 2003; MEINHARD POHL (Hg.): Der Niederrhein im

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Marquard Freher (1565–1614) und Janus Gruter (1560–1627).98 Kann man im Blick auf die res publica litteraria des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts und in Kenntnis von Figuren wie der Leidener Philologen Justus Lipsius († 1606) und Joseph Justus Scaliger († 1609) oder des Astronomen Johannes Kepler († 1630), und eben nicht mehr nur der zweifelsfreien Zäsur-Figur René Descartes, von Späthumanismus überhaupt sprechen? Was ist dann das (noch) Humanistische an ihm? Und besitzt er ein genuines Paradigma, einen eigenen Wissenshabitus, der unter anderem etwa im Antiquarischen und Enzyklopädischen, in ‘Verwissenschaftlichung’ überhaupt liegt? Hier fehlen immer noch wirklich überzeugende Konzepte. Trotz alledem: Das iuvat vivere Huttens und der Humanisten möge als Ausdruck eines elementaren Optimismus ein unzerstörbares Prinzip Europas bleiben.

Zeitalter des Humanismus: Konrad Heresbach und sein Kreis, Bielefeld 1997; SABINE HOLTZ/DIETER MERTENS (Hg.): Nicodemus Frischlin (1547–1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur 1), Stuttgart/Bad Cannstatt 1999; PETER ARNOLD HEUSER: Jean Matal. Humanistischer Jurist und europäischer Friedensdenker (1517–1597), Köln/Weimar 2003; KARL H. GLASER (Hg.): David Chytraeus (1530–1600). Norddeutscher Humanismus in Europa. Beiträge zum Wirken des Kraichgauer Gelehrten, Umstadt-Weiher 2000; ROBERT SEIDEL: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk (Frühe Neuzeit 20), Tübingen 1994; [WILHELM KÜHLMANN (Hg.): Julius Wilhelm Zincgref und der Heidelberger Späthumanismus. Zur Blüte- und Kampfzeit der calvinistischen Kurpfalz, Mannheim 2010]; MERTENS: Zincgref (wie Anm. 94). Zum rheinischen (Spät-)Humanismus siehe auch oben Anm. 56. Siehe auch THOMAS HAYE (Hg.): Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee (Chloe. Beiheft zum Daphnis 32), Amsterdam 2000; Spätrenaissance-Philosophie in Deutschland 1570–1650. Entwürfe zwischen Humanismus und Konfessionalisierung, okkulten Traditionen und Schulmetaphysik, hg. von MARTIN MULSOW (Frühe Neuzeit 124), Tübingen 2009. 98 Die deutschen Humanisten: Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit, Abt. 1: Die Kurpfalz, Bd. I/1: Marquard Freher, I/2: Janus Gruter, hg. von WILHELM KÜHLMANN/VOLKER HARTMANN/SUSANN EL KHOLI (Europa Humanistica), Turnhout 2005. Das groß angelegte Werk präsentiert komplett alle von den beiden Humanisten betreuten Drucke, mit Edition und breitester Kommentierung der jeweiligen Paratexte. Es würde, entsprechend fortgesetzt, zu einem Kompendium des deutschen Humanismus insgesamt.

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Diffusion des Humanismus* Im Rückblick erscheint die Geschichte des europäischen Humanismus als Erfolgsgeschichte: Um 1600 war zwischen Portugal und Schweden die Elitenbildung in den Höheren Schulen, war die internationale Gelehrtenkultur als ‘République des lettres’ und waren zu wesentlichen Teilen auch die Hofkulturen konfessionsübergreifend in einer selbstverständlich gewordenen Koine humanistisch geprägt. Sie blieben es auch, als sich Grundparadigmen im 17. Jahrhundert änderten1, veralltäglicht im Formalen und Motivischen, bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts.2 Es war eine Bewegung, die Europa vereinheitlichte, die seinen Eliten in krisenhafter Zeit einen neuen gemeinsamem Code bereitstellte, dessen sie offenkundig bedurften. Wie konnte es dazu kommen? Es geht um ein Grundthema der Humanismus- und Renaissanceforschung: Die europäische Ausbreitung/Diffusion des italienischen Humanismus als Prozeß, seine Inhalte, seine Träger, Wege, Medien, Milieus, Rezipienten, Transformationen. Es gilt im Folgenden, in die Problematik, Begrifflichkeit und Forschungslage einzuführen. Der spezifische historische Prozeß der Diffusion von Bildungsgütern, der zu dem angedeuteten Erfolg führte, ist zu hinterfragen. Wie kann dieser Prozeß begrifflich gefaßt werden? Welches waren seine Voraussetzungen? Welchen Steuerungen unterlag er, inwieweit hatte er gesamthaft Züge eines autonomen Prozesses?3 Seine Geschwindigkeit und sein Ergebnis mochten providentielle Wirkkräfte im Hegelschen Sinne suggerieren; auch Jacob Burckhardt hatte von * Verfaßt als Einführung in den Tagungsband: JOHANNES HELMRATH/ULRICH MUHW ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 9–29. Die rein tagungsbezogenen Teile zu Beginn und am Schluß wurden in der vorliegenden Fassung getilgt. 1 NOTKER HAMMERSTEIN/GERRIT W ALTHER (Hg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, bes. die Einleitung von H AMMERSTEIN (9–18). 2 Siehe, auch für das Gesamtthema vielfältig anregend: PETER B URKE: Die Europäische Renaissance. Zentren und Peripherien (Europa Bauen), München 1998, hier 15: Werbung für einen anthropologisch-distanzierten Blick auf die europäische Kultur einschließlich der Renaissance; ebd. Kap. 5: Die Alltagskultur der Renaissance. 3 Dabei kann fruchtbar auf Diskussionen der siebziger Jahre zurückgegriffen werden. Genannt sei nur: KARL-GEORG FABER/CHRISTIAN MEIER (Hg.): Historische Prozesse. (Theorie der Geschichte 2), München 1978. LACK/G ERRIT

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einer „hohen geschichtlichen Notwendigkeit“ gesprochen. Jedenfalls war hier die Humanismusforschung von einer gewissen Emphase nie ganz frei. Doch sollen, mit Ernst Gombrich gesagt, Antworten auf die Hauptfrage selbstverständlich nicht „in einer Metaphysik der Geschichte“, sondern pragmatisch gesucht werden, etwa, wie Gombrich selbst anregte, „in der Sozialpsychologie von Modeströmungen und -bewegungen“.4 Der Humanismus verbreitete sich bekanntlich nicht als Folge militärischer Eroberungen, gewaltsamer Kulturüberlagerungen. So schwingt immer die grundsätzliche Frage mit, welches Interesse, welcher Bedarf, welcher Nutzen diesen Erfolg erklärbar macht. Mit anderen Worten: welche Funktion(en) der Humanismus für seine Propagatoren wie für seine Rezipienten einnahm,5 oder warum er ‘einfach in der Luft lag’. Eine spannende Frage, die auch mit dem treffenden Wort von Robert Black ihre Offenheit nicht verliert: „Humanism succeeded because it persuaded Italian and ultimatively European society, that without its lessons no one was fit to rule or lead.“6 Produktive Aneignung antiker Denkelemente und klassischer Sprache in neuer Form und Intensität, das heißt spezifische Kenntnisse, durch Belehrung und Lernen erworbene Fertigkeiten und Techniken (klassische Latinität als Prestigesprache, Epistularstil, Oratorik, humanistische Schrift), bestimmte Kerninteressen (zunächst die fünf Humaniora) und schließlich bestimmte Grundüberzeugungen und Lebenshaltungen (lectio transit in mores) konstituierten den Humanismus. Zwar darf das Diffusionsproblem keinesfalls auf literarische Gattungen und Fertigkeiten reduziert werden, doch verdienen diese weiterhin gezielte Aufmerksamkeit. Ein Beispiel: die variantenreiche Aneignung der neuen, in Florenz um 1400 kreierten Humanistenschrift als Habitussignet durch Interessierte in Italien wie im übrigen 4 ERNST H. GOMBRICH: Antike Regeln und objektive Kriterien. Von der Schrift- und Sprachreform zur Kunst der Renaissance: Niccolò Niccoli und Filippo Brunelleschi, in: DERS.: Die Entdeckung des Sichtbaren. Zur Kunst der Renaissance, Stuttgart 1987 (11967), Bd. 3., 114–135, hier 114. 5 Als Ausgangspunkte der Diskussion können dienen: ALFRED VON MARTIN: Soziologie der Renaissance (Beck’sche Schwarze Reihe 106), München 31974 (zuerst Stuttgart 1932); PETER B URKE: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1984 (engl. 1979); KLAUS M ALETTKE/J ÜRGEN VOSS (Hg.): Humanismus und höfisch-städtische Eliten (Pariser Historische Studien 27), Bonn 2 1990; LISA J ARDINE: Wordly Goods. A New History of the Renaissance, London 1996 (dt.: Der Glanz der Renaissance. Ein Zeitalter wird entdeckt, München 1999); GERRIT W ALTHER: Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 359–385. Vgl. auch W ALTHER: Zusammenfassung, in: J OHANNES HELMRATH/U LRICH MUHLACK/GERRIT W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 436–443. 6 ROBERT B LACK: Humanism, in: CHRISTOPHER ALLMAND (Hg.): The New Cambridge Medieval History 7: c. 1415 – c. 1500, Cambridge 1998, 243–277, hier 276; derzeit bester problemorientierter Überblick, zum Diffusionsproblem: 269–277.

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Europa wird als Diffusionsfaktor des Humanismus noch unterschätzt. Gefordert ist daher, verstärkt Spezialdisziplinen wie Paläographie und Schriftgeschichte in die allgemeine Humanismusforschung einzubinden.7 Unsere Vorstellung des Diffusionsprozesses ist zunächst eine räumliche. Sie kann sich der Kategorien von Zentrum und Peripherie bedienen. Der Prozeß war – das ist heute unstrittig – von Italien ausgegangen. Insofern kann man Italien als Zentrum bezeichnen. Alle Theorien einer autochthonen Zeugung des Humanismus außerhalb Italiens sind weitgehend ad acta gelegt,8 etwa die Versuche Konrad Burdachs, einen deutsch-böhmischen Frühhumanismus am Prager Hof Karls IV. zu verorten9 oder ähnliches für den Bereich der ‘devotio moderna’ zu reklamieren.10 Dies stellt natürlich nicht das Faktum in Abrede, daß der Humanismus auf je eigengeprägte Bildungslandschaften stieß, in die er sich einfügen, mit denen er aber auch brechen konnte. Folgende Einschränkungen zum Primat Italiens sind freilich zu machen: 1. Bereits Petrarca als italienische Portalfigur war kein italienisches, sondern ein europäisches Phänomen. Petrarcas Wirkung müßte eigentlich am Anfang von Studien zur Diffusion des Humanismus stehen.11 7

Hierin ist HORST ZIMMERHACKL zuzustimmen: Die Entwicklung der humanistischen Dokumentarschrift. Ergebnisse eines Würzburger Forschungsprojekts, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 79 (1999), 319–331. Zum Thema Diffusion der Humanistica grundlegend, seither aber in den Ergebnissen wenig vertieft: J OHANNE AUTENRIETH (Hg.): Renaissance- und Humanistenhandschriften (Schriften des historischen Kollegs. Kolloquien 13), München 1988. Siehe auch G OMBRICH: Antike Regeln (wie Anm. 4), 124–127; MARTIN DAVIES : Humanism in Script and Print in the fifteenth Century, in: J ILL KRAYE (Hg.): The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Cambridge 1996, 47–62, sowie JOHANNES HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’. Enea Silvio als ‘Apostel’ des Humanismus. Formen und Wege der Diffusion. in: DERS./MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 5), 128–131; in diesem Band Nr. IV. 8 Vgl. HEIKO A. OBERMAN: ‘Quoscunque Tulit Foecunda Vetustas’, in: OBERMAN/ BRADY (Hg.): Itinerarium Italicum (wie Anm. 21), XV–XXVIII, hier XVII: „The evidence in favour of Italian export rather than indigenous developments as fundamentally decisive ... is so overwhelming, that this side of the debate does not deserve to be reopened.“. Vgl. ähnlich BLACK: Humanism (wie Anm. 6), 269. 9 Dazu BENEDIKT K. VOLLMANN: Prager Frühhumanismus?, in: JOACHIM HEINZLE u.a. (Hg.): Literatur im Umkreis des Prager Hofs der Luxemburger (Wolfram-Studien 12), Berlin 1994, 58–66. 10 Vgl. NIKOLAUS STAUBACH: ‘Christianam sectam arripe’: Devotio moderna und Humanismus zwischen Zirkelbildung und gesellschaftlicher Integration, in: KLAUS GARBER/ HEINZ W ISSMANN (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, Tübingen 1996, Bd. 1, 112–167. Es geht hier weniger um die Wiederbelebung der alten Prioritätspostulate als um den typologischen Vergleich devoter und humanistischer Denkanalogien. 11 Zumindest was die handschriftliche Verbreitung und Rezeption seiner Werke angeht, hat die Forschung Wesentliches geleistet; für Westdeutschland wurden die Petrarca-

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2. Italien war kein Monolith, weder politisch noch kulturell. Eine Binnendiffusion, ein Prozeß der Aneignung und Multiplikation in Schrift und Rede mit deutlichen Phasenverschiebungen ist auch innerhalb Italiens zu konstatieren. Diese inneritalienische Zentren bildende Binnendiffusion verlief mit dem außeritalienischen Export zum Teil parallel oder folgte ihm gar verzögert nach.12 Sie ging von wenigen Zentren wie Florenz aus; Venedig oder Genua öffneten sich dem Renaissance-Humanismus deutlich später als etwa Ungarn.13 3. Die Priorität Italiens erstreckte sich nicht auf alle Gebiete der Kultur, sie war also keine Einbahnstraße. In der Musik zum Beispiel verliefen die Wege zunächst genau umgekehrt. Hier waren im 15. Jahrhundert noch die Italiener die Lernenden – zumindest bis zu Palestrina. Die Motette zur Einweihung des Florentiner Doms mit Brunelleschis Kuppel durch Papst Handschriften von AGOSTINO SOTTILI, für Ostdeutschland von FABIO FORNER erschlossen; siehe grundlegend FRANZ-J OSEF WORSTBROCK: Art. Petrarca, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7 (1989), 471–490, bes. 479 f.; ferner die Studien von AGOSTINO SOTTILI: Il Petrarca e l’umanesimo tedesco, in: Il Petrarca latino e le origini dell’umanesimo (Quaderni Petrarcheschi 9/10), Florenz 1992/93, 239–291; DERS.: Il Petrarca nella cultura tedesca del Quattrocento, in: Dynamique d’une expansion culturelle. Petrarque en Europe XIVe–XXe siècle. Actes ... du XXVIe congrès international du CEFI Turin et Chambéry décembre 1995. A la memoire de Franco Simone, hg. von P IERRE B LANC, Paris 2001, 595–622. Vgl. auch HERIBERT MÜLLER: Der französische Frühhumanismus um 1400, in: HELMRATH/MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 5), 319–322. 12 Diesem Phänomen trugen bereits JACOB B URCKHARDT und GEORG VOIGT (siehe Anm. 17) Rechnung. LUDWIG GEIGER, der BURCKHARDTs ,Cultur der Renaissance in Italien‘ weiterbearbeitete, stellte in seinem eigenen Hauptwerk einem stark Burckhardt verpflichteten Italienkapitel, welches die einzelnen italienischen Höfe thematisiert, ein großes Deutschland-Kapitel an die Seite: Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen 2/8), Berlin 1882, hier 323– 563. 13 Vgl. FRANCESCO T ATEO: I centri culturali dell’Umanesimo. (Letteratura italiana Laterza 10/3), Roma 21981. Das von ALBERT RABIL JR. hg. dreibändige Sammelwerk ,Renaissance Humanism. Foundations, Forms and Legacy‘ trug dem Phänomen Rechnung (Bd. 1: Humanism in Italy. Philadelphia 1988), in dessen zweitem Teil (,Italian Humanism‘) den Humanismen in Florenz (CHARLES L. S INGER, 175–208), Venedig (MARGARET L. KING, 209–234), Mailand (ALBERT RABIL JR., 235–263), Rom (JOHN F. D’AMICO, 264–295) und Neapel (MARIO S ANTORO, 296–331) eigene Kapitel eingeräumt werden (vgl. zu dem Werk auch unten Anm. 22). – Im Artikel ,Humanism‘ der sechsbändigen Encyclopedia of the Renaissance, hg. von P AUL F. GRENDLER, New York 1999, Bd. 3, 209–233, besitzt der Unterartikel ,Italy‘ von ALBERT RABIL JR. (212–218) ein Unterkapitel ,Spread of Humanism in Italy‘ (214–216). Der Unterartikel ,Germany and the Low Countries‘ (223–226) von ERIKA RUMMEL wird durch einen Abschnitt ,Origin and Dissemination‘ (223) eingeführt. – Zu Ungarn siehe die Beiträge von HORST BREDEKAMP: Herrscher und Künste in der Renaissance Ostmitteleuropas (250–280) und LÁSZLÓ HAVAS/SEBESTYÉN KISS: Die Geschichtskonzeption Antonio Bonfinis (281– 307), in: HELMRATH/MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 5).

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Eugen IV. schrieb 1436 der Nordfranzose Guillaume DuFay. In der Malerei, vor allem am Beispiel der engen Verbindungen zwischen Flandern einerseits, der Toskana und Neapels andererseits, hat man früh den Austausch- und Transformationscharakter der kulturellen Beziehungen Italiens mit dem Norden erkannt.14 4. Der Renaissance-Humanismus war (nur) eines der „Kulturgüter“, die Italien exportierte, wie Fernand Braudel in seinem ‘Modell Italien’ – eigentlich dem Entwurf einer breiten Diffusions- und Diversifikationsgeschichte – ausgeführt hat, wobei er zugleich die Notwendigkeit einklagte, eine solche Geschichte zu schreiben.15 5. Zeit und Intensität der Aneignung des Humanismus weisen in Europa nach Ländern und Regionen deutliche Entwicklungsunterschiede und Phasenverschiebungen auf, wobei in der Forschung die bekannte Neigung zu triadischer Grundtypologie auffällt. Man spricht also auch hier gern von Früh-, Hoch- und Späthumanismus in Frankreich, in Deutschland etc.16 Blickt man auf frühere Versuche, das Thema Diffusion/Ausbreitung des Humanismus komplex anzugehen, so begegnet sogleich der Pionier der Humanismusforschung, der in Königsberg gebürtige Leipziger Historiker Georg Voigt. Sein Hauptwerk, ‚Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus‘, war 1859, ein Jahr vor Burckhardts ‚Cultur der Renaissance‘ erschienen. Das sechste Buch des Werks trägt den bemerkenswerten Titel ‚Propaganda des Humanismus jenseits der Alpen‘. Voigt hatte den Humanismus zuerst in großer Breite binnenitalienisch (Petrarca, Humanismus in italienischen Republiken und Fürstenhöfen etc.) behandelt, um dann in diesem ‚Propaganda‘-Kapitel länderweise vorzugehen.17 Er sparte dabei nicht mit emphatischen Metaphern wie „Samenkorn“, „Apostel“, „Funken“ und „Zündstoff“ etc., die 14 Genannt sei aus einer abundanten Literatur hier nur: LIANA C. VEGAS: Italien und Flandern. Die Geburt der Renaissance. Stuttgart/Zürich 1984 (ND 1994; ital. 1982); B URKE: Europäische Renaissance (wie Anm. 2), 70–75. Zuletzt der Sammelband: MAX SEIDEL (Hg.): L’Europa e l’arte Italiana (Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz 3), Venedig 2000; Jan van Eyck und seine Zeit. Flämische Meister und der Süden 1430– 1530, Stuttgart 2002 (zur Ausstellung 2002 im Groeninge-Museum Brügge). Allgemein, unter Benutzung des Begriffs ‘Diffusion’, auch EARL R OSENTHAL: The Diffusion of the Italian Renaissance-Style in Western European Art, in: Sixteenth Century Journal 9 (1978), 33–44. 15 FERNAND BRAUDEL: Modell Italien, 1450–1650, Stuttgart 1991 (frz. 1989), 44–51 (Humanismus), 74–97 (Renaissancekunst); dazu siehe WOLFGANG SCHMALE: Geschichte Europas (UTB für Wissenschaft 8213), Wien/Weimar/Köln 2001, 163 f. 16 Vgl. HAMMERSTEIN: Einleitung, in: DERS. (Hg.): Späthumanismus (wie Anm. 1), 9– 15, und die in Anm. 13, 21–25 genannten Länderartikel. 17 GEORG VOIGT: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 2 Bde., Dritte Auflage besorgt durch MAX LEHNERDT, Berlin 1893 (11859; ND Berlin 1960), Bd. 2, 254–358 (behandelt nacheinander England, Deutschland, Ungarn, Polen, Frankreich und, sehr knapp, Spanien und Portugal).

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implizit eine wesenseigen diffusive wie missionarische Dynamik der ‘Bewegung’ nahelegten. Voigt betonte auch die jahrhundertelange – gleichfalls von Italien und Rom ausgehende – akkulturierende Vorleistung der Kirche für die relativ rasche Ausbreitung des Renaissance-Humanismus. Darunter fällt auch die seither in der Forschung immer wieder unterstrichene Forumsfunktion der großen Reformkonzilien auf deutschem Boden in Konstanz und Basel.18 Die Forschung wandte sich seither, wie in allen Belangen damals, so auch hier national begrenzt, den einzelnen ‘Humanismen’ der europäischen Nationen zu. Diese Erschließung nationalstaatlich und regional circumskribierter Humanismuskulturen und ihrer sehr unterschiedlichen Phasen – wozu freilich auch die Verbindungen nach Italien beziehungsweise zu Italienern gehören – ist breit und kaum mehr übersehbar; sie dauert unvermindert an und steht auch für Ostmitteleuropa in Blüte.19 1962 erschien Kristellers wichtiger Aufsatz ‚The European Diffusion of Italian Humanism‘.20 Über dessen fugenlos gelehrter Gescheitheit merkt man beinahe nicht, daß das Blickfeld personell und materiell doch recht eng gezogen ist: auf Trägerpersonen sowie auf Handschriften und Drucke. Es folgte dann eine ganze Serie von Sammelbänden jeweils mit länderweise separierter Betrachtung. Nachdem 1972 ein Tagungsband des Institute of Medieval Studies der Universität Löwen noch das Bild des Morgengrauens bemüht hatte (,The dawn of humanism outside Italy‘), dabei aber mehr auf die subkutanen Kontinuitäten zwischen ‘Mittelalter’ und ‘Humanismus’ abhob, setzte die Festschrift für Kristeller im Jahre 1975 mit ihren bis heute einschlägigen Länderartikeln einen Markstein: ‚Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European 18 Dazu HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’, in: DERS./MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 5), 123–126; in diesem Band Nr. IV. 19 Siehe zur ersten Orientierung die Länderüberblicke und Bibliographien in den Anm. 13, 21–25 genannten Sammelbänden, für Ostmitteleuropa (Ungarn, Polen, Böhmen) auch HORST BREDEKAMP: Herrscher und Künste (wie Anm. 13), sowie ferner als Auswahl jüngerer Beispiele: W INFRIED EBERHARD/ALFRED A. STRNAD (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 28), Köln/Weimar/Wien 1996; PETER W ÖRSTER: Humanismus in Olmütz. Landesbeschreibung, Stadtlob und Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien 5), Marburg 1994; S TEPHAN FÜSSEL/J AN P IROZYēSKY (Hg.): Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung12), Wiesbaden 1997. 20 P AUL O. KRISTELLER: The European Diffusion of Italian Humanism, in: Italica 39 (1962), 1–20; wieder in: DERS.: Studies in Renaissance Thought and Letters (Storia e letteratura 166), Rom 1985, Bd. 2, 147–165; deutsch: Die Verbreitung des italienischen Humanismus in Europa, in: DERS.: Humanismus und Renaissance, Bd. 2: Philosophie, Bildung und Kunst (Humanistische Bibliothek I/22), Stuttgart 1975, 85–100 (Reprint als UTB 915, München o.J.).

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Transformations‘.21 In den Jahren 1988 bis 1992 erschienen dann innerhalb kürzester Zeit vier recht ähnliche Sammel-Unternehmen mit charakteristischen Titeln: 1988 innerhalb der von Albert Rabil jr. herausgegebenen Sammlung ,Renaissance Humanism‘ als zweiter Band ,Humanism beyond Italy/Humanismus außerhalb Italiens‘, ein Titel, der offenbar bewußt die Vorstellung eines Transfers vermeidet. 1990 folgte Goodman/ MacKay, ‚The Impact of Humanism in Western Europe‘;22 1991 Porter/ Teich, ,The Renaissance in national context‘,23 sowie 1991 der von Georg 21 GÉRARD VERBEKE/J OZEF IJSEWIJN (Hg.): The Late Middle Ages and the Dawn of Humanism outside Italy (Mediaevalia Lovaniensia. Series 1 : Studia 1), Löwen/Den Haag 1972, darin etwa N ICHOLAS MANN: Recherches sur l’influence et la diffusion du ,De remediis‘ de Petrarque aux Pays–Bas (78–88). – HEIKO A. OBERMAN/ T HOMAS A. BRADY JR. (Hg.): Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations. Dedicated to Paul Oskar Kristeller on the occasion of his 70th birthday (Studies in Medieval and Reformation Thought 14), Leiden 1975. Inhalt: HEIKO A. OBERMAN: ‘Quoscunque tulit foecunda vetustas’. Ad Lectorem (XI–XXVIII); MYRON P. GILMORE: Italian Reactions to Erasmian Humanism (61–118); SEM DRESDEN: The Profile of the Reception of the Italian Renaissance in France (119–192); J OZEF IJSEWIJN: The Coming of Humanism to the Low Countries (193–304); DENYS HAY: England and the Humanities in the Fifteenth Century (305–370); LEWIS W SPITZ: The Course of German Humanism (371–435). 22 ANTHONY GOODMAN/ANGUS MACKAY (Hg.): The Impact of Humanism on Western Europe, London 1990; einleitend ein programmatischer Aufsatz, der den meisten anderen genannten Bänden fehlt: PETER B URKE: The Spread of Italian Humanism (1–22), mit dem nützlichen, aber notgedrungen fragmentarischen Versuch von Listen italienischer Humanisten im Ausland und ausländischer Studenten in Italien (20–22); ferner u.a. die Länderartikel: GEORGE HOLMES: Humanism in Italy (118–136); J AMES K. CAMERON: Humanism in the Low Countries (137–163); J EAN-C LAUDE MARGOLIN: Humanism in France (164– 201); LEWIS W. SPITZ: Humanism in Germany; JEREMY N. H. LAWRANCE: Humanism in the Iberian Peninsula (220–258); GEOFFREY ELTON: Humanism in England (259–278). Zahlreiche Länderartikel im Sammelwerk von A LBERT RABIL JR. (Hg.): Renaissance Humanism (wie Anm. 13), Bd. 2, Washington 1988; RICHARD J. SCHOECK: Humanism in England (5–38); RETHA M. W ARNICKE: Women and Humanism in England (39–54); OTTAVIO DI C AMILLO: Humanism in Spain (55–108); EUGENE F. RICE JR.: Humanism in France (109–122); NOEL L. BRANN: Humanism in Germany (123–155); J OZEF IJSEWIJN : Humanism in the Low Countries (156–215); ALBERT RABIL JR.: Desiderius Erasmus (216–264); DRAZEN B UDISA: Humanism in Croatia (265–292); MARIANNA D. B IRNBAUM: Humanism in Hungary (293–334); RADO L. LENCEK: Humanism in the Slavic Cultural Tradition with Special reference to the Czech lands (335–375). – [Vgl. auch Studi Francesi 153 (2007), mit mehreren Beiträgen zu nationalen Humanismen, darunter Nr. II des vorliegenden Bandes.] 23 ROY P ORTER/MIKULAS T EICH (Hg.): The Renaissance in National Context, Cambridge 1992. (Nach dem gleichen ‘nationalen’ Prinzip bereits zuvor DIES. (Hg.): The Enlightenment in National Context, Cambridge 1981.) Inhalt: PETER B URKE: The Uses of Italy (1–20); ROBERT B LACK: Florence (21–41); NICHOLAS DAVIDSON: Rome (42–52); R ICHARD MACKENNEY: Venice (53–67); ELSA STRIETMAN: The Low Countries (68–91); J AMES OVERFIELD: Germany (93–122); DONALD R. KELLEY: France (123–145); DAVID STARKEY: England (146–163); T IBOR KLANICZAY: Hungary (164–179); ANTONI MACZAK: Poland (180–196); JOSEF MACEK: Bohemia and Moravia (197–220).

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Kauffmann herausgegebene Band der Wolfenbütteler Tagung 1987 ,Die Renaissance im Blick der Nationen Europas‘, das einzige Projekt, welches, wenn auch unsystematisch, die Renaissance-Kunst parallel mit Humanisten und Humanismus in den Blick nahm.24 Weitere Überblicke folgten, so der mit Quellentexten angereicherte Band von Barbara Sasse, Davide Canfora und anderen ,Umanesimo e culture nazionali europee‘ (1999)25 sowie zuletzt der von Luisa Rotondi Secchi Tarugi herausgegebene, bunt gemischte Sammelband, dessen Titel ,Rapporti e scambi tra umanesimo italiano ed umanesimo europeo‘ (2001) zwar den Austauschaspekt hervorhebt, der aber sonst ohne die geringste theoretische Bemühung bleibt.26 Diese Bände, denen man noch zahlreiche Einzelstudien an die Seite stellen kann,27 bilden insgesamt einen exzellenten Fundus. Aber letztlich bleiben sie doch nur additiv. Es fehlen eine systematische Analyse der Träger, Medien und Austauschprozesse und ein nuancierender Nationenvergleich. Genau hier wird es spannend, eröffnet sich ein Forschungsfeld. Zur Begrifflichkeit: Fragt man nach einem zeitgenössischen Modell von Diffusion oder Kulturtransfer, bietet sich einzig die Vorstellung der translatio in ihrer antiken und mittelalterlichen Tradition an, die im Gedanken der remeatio zur glanzvollen römischen Kultur bei Petrarca gleichsam ihre Umkehrung fand. Die Kultur der Renaissance in Europa ist – schematisch gesehen – das Produkt einer dreifachen translatio, ist also zwiefaches Derivat: der antiken translatio von Griechenland nach Rom (Horaz: Graecia capta ferum victorem cepit), der translatio von der römischen Antike 24

GEORG KAUFFMANN (Hg.): Die Renaissance im Blick der Nationen Europas (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung 9), Wiesbaden 1991, behandelt vor allem Kunst und Literatur, ohne Frankreich; zur Diffusion: PETER B URKE: The Courtier Abroad: or, the Uses of Italy (1–16); A LFRED A. STRNAD: Die Rezeption der italienischen Renaissance in den österreichischen Erbländern der Habsburger (135–226); ECKHARD KESSLER: Von der Philosophie zur Literatur. Zur Rezeption des italienischen Humanismus außerhalb Italiens: Historischer Befund und einige Thesen über dessen Hintergründe (227–246). – Der Beitrag von Burke modifiziert auch in: DERS.: Die Renaissance, Berlin 1990 (engl. 1987); wieder als Taschenbuch, Frankfurt 1996, hier 51–82: Die Renaissance im Ausland oder: Vom Nutzen und Nachteil Italiens. 25 B ARBARA SASSE/DAVIDE CANFORA/ERIC HAYWOOD (Hg.): Umanesimo e culture nazionali europee. Testimonianze letterarie dei secoli XV–XVI, mit einem Vorwort versehen von FRANCESCO TATEO (Bibliotheca 17), Palermo 1999, mit Überblicksartikeln und Quellentexten (ital. Übersetzungen und lateinische Texte) über Deutschland, die Niederlande, England, Frankreich, Spanien; zum Beispiel: B ARBARA SASSE: L’area germanica (23–89); DOMENICO DEFILIPPIS: L’area francese (193–248). 26 LUISA R. S. T ARUGI (Hg.): Rapporti e scambi tra umanesimo italiano ed umanesimo europeo: L’Europa e uno stato d’animo (Mentis itinerarium/Caleidoscopio 10), Mailand 2001. 27 Aus einer nicht präsentierbaren Fülle sei genannt CHARLES G. NAUERT JR.: Humanism and the culture of Renaissance Europe, Cambridge 1995, hier 95–123: ,Crossing the Alps‘. Zum deutschen Humanismus siehe in diesem Band Nr. II.

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auf Italien, die eigentlich keine Wanderung, sondern nur eine Wiederentdeckung lokaler Kontinuität bedeutet, und schließlich der translatio von Italien auf die anderen europäischen Länder. 28 Spätestens in der zweiten Humanisten-Generation, in Frankreich eigentlich von Anfang an, wurde vor allem diese letzte translatio in Frage gestellt, ging man von der imitatio der Italiener agonal zur aemulatio über. Konrad Celtis suchte der translatio imperii auf die Germanen/Deutschen auch eine translatio studii anzuschließen, indem er unter Ausschluß der Römer und Italiener zwei translationes gleichsam nach rückwärts übersprang – unter direktem Anschluß der Germanen an die Griechen.29 Das Denken über geistigen Transport arbeitet metaphorisch, bedient sich epidemisch-contagiöser (wie ein Virus), missionarischer (durch Apostel), vor allem aber hydrologischer Metaphern: Strömungen, Einflüsse etc. Zu letzteren gehört, im physikalischen Sinne eines Durchsickerns durch permeable Materie, auch unser Begriff Diffusion.30 Im Englischen wie in den romanischen Sprachen ist der Begriff ‘diffusion’ beziehungsweise ‘diffusione’ ohnehin etablierter und weniger artifiziell als im Deutschen. So wendete den Begriff auf den Humanismus, wie erwähnt, bereits Paul Oskar Kristeller 1962 an;31 ebenso spricht Agostino Sottili in seinen zahlreichen Studien zur migratio academica und ihren geistesgeschichtichen Konsequenzen von „diffusione dell’umanesimo in Germania“.32 28 Zuletzt, begrifflich differenzierend HERBERT J AUMANN: Das dreistellige ‘Translatio’-Schema und einige Schwierigkeiten mit der Renaissance in Deutschland. Konrad Celtis’ ,Ode ad Apollinem‘ (1486), in: GREGOR VOGT-SPIRA/B ETTINA ROMMEL (Hg.): Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma. Stuttgart 1999, 335–349; unter Bezugnahme auf FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: ‘Translatio artium’. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), 1–22. 29 W ORSTBROCK: ‘Translatio artium’ (wie Anm. 28); DERS.: Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus, in: WOLFGANG MÜLLER-SEIDEL (Hg.): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte des Stuttgarter Germanistentags 1972, München 1974, 499–519; zuletzt GERNOT M. MÜLLER: Die ,Germania generalis‘ des Konrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar (Frühe Neuzeit 67), Tübingen 2001, 213–216. 30 Vgl. die breite begriffliche Palette bei BURKE, dem hier manche Anregung verdankt wird: Europäische Renaissance (wie Anm. 2), 18–22; DERS.: Kultureller Austausch (Edition Suhrkamp 2170), Frankfurt 2000, 11–42. 31 KRISTELLER: Diffusion (wie Anm. 20). 32 AGOSTINO SOTTILI: L’università italiana e la diffusione dell’umanesimo nei paesi tedeschi, jetzt in: DERS.: Università e cultura. Studi sui rapporti italo–tedeschi nell’età dell’Umanesimo (Bibliotheca Eruditorum 5), Goldbach 1993, 81*–98*, hier weitere einschlägige Studien; DERS.: Giacomo Publicio ‘Hispanus’ e la diffusione dell’Umanesimo in Germania (Publicaciones del Seminario de Literatura medieval y humanistica), Barcelona 1985; DERS.: Studenti tedeschi dell’università di Padova e diffusione dell’umanesimo in Germania: Ulrich Gossembrot, in: FRANCESCO P IOVAN/LUCIANO P ITRAN REA (Hg.): Studenti, università, città nella storia padovana. Atti del convegno, Padova 6–8

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Gustav Bauch (1903), einer der um die Jahrhundertwende maßgebenden deutschen Humanismusforscher, aber zum Beispiel auch Denys Hay (1960) hatten indes den Begriff Rezeption/reception verwendet, während Roberto Weiss (1964) schlichter die Ausbreitungs-Metapher „Spread of humanism“ benutzte.33 Der Begriff der ‘Diffusion’ stehe also auf dem Prüfstand. Eine komplexe neue Theorie wird mit ihm nicht postuliert. Zwischen den Begriffen Transfer, der stärker den aktiven, und Rezeption, der stärker den empfangenden Aspekt der Vorgänge betont, ist Diffusion der neutralere Begriff, er läßt besser die Vorstellung eines in seiner Gesamtheit nicht mehr allein intentional zu begreifenden Prozesses zu; eines Prozesses, der im Rückblick fast autonom verlaufen zu sein schien und sowohl Widerstände wie auch Nivellierungsverluste vergessen ließ. So läßt sich etwa die Standardisierung historiographischer Gattungen oder der Briefmuster unter humanistischen Vorzeichen als Symptom wie als Folge eines fortlaufenden ‘Diffundierens’ verstehen. Der Begriff ‘Diffusion’ erweist sich auch insofern als integrierend und dabei multiperspektivisch, als er Phänomene wie den ‘Apostel’ des Humanismus ebenso subsumierbar macht wie den Vorgang der Rezeption. Daß der Gesamtprozeß einer Ausbreitung des Humanismus und seiner Etablierung als übliches Bildungsparadigma der europäischen Eliten sich aus einer Fülle einzelner, personaler, gruppengeprägter, regionaler oder nationaler Transfervorgänge konstituiert, ist eine unbestrittene Tatsache. Dem neutralen Finalbild eines anonymen Prozesses steht sie aber gerade nicht entgegen. Dezidiert ist an einer Vorstellung festzuhalten, die auch die ältere Rezeptionsforschung schon vertrat: das Ergebnis von Transfer und Diffusion ist produktive Transformation, ist ‘bricolage’.34 Alles, was übermittelt febbraio 1998, Triest 2001, 177–240. Zur Verwendung des Begriffs ‘diffusion’ in der französischen Wissenschaftssprache vgl. etwa FRANCIS H IGMAN: La diffusion de la reforme en France: 1520–1656 (Publications de la Faculté de Theologie de l’Université de Genève 17), Genf 1992. Vgl. auch W INFRIED MÜLLER: Die Aufklärung (Enzyklopädie deutscher Geschichte 61), München 2002, 25–36 = Kap. I.3: ,Diffusion‘. 33 GUSTAV B AUCH: Die Reception des Humanismus in Wien. Eine litterarische Studie zur deutschen Universitätsgeschichte, Breslau 1903 (Reprint Aalen 1986); DENYS HAY: The Italian Renaissance and its Historical Background, Cambridge 1961, 150–178: The Reception of the Renaissance in Italy, 179–203: The Reception of the Renaissance in the North; deutsche Ausgabe: DENYS HAY: Geschichte Italiens in der Renaissance (Urban– Bücher 62), Stuttgart 1962, 129–170: Die Aufnahme der Renaissance in Italien. – ROBERTO WEISS: The Spread of Italian Humanism, London 1964, verdient seinen Titel allenfalls wegen des 7. Kapitels: ,Italian humanism in Western Europe‘ (86–97). 34 Dazu deutlich ANTHONY GRAFTON: Introduction. Notes from Underground on Cultural Transmission, in: DERS./ANN B LAIR (Hg.): The Transmission of Culture in Early Modern Europe. Philadelphia 1990, 1–7; B URKE: Europäische Renaissance (wie Anm, 2), 13–33, bes. 18–22. Die „Rezeptionstheoretiker“ (B URKE nennt zuvorderst ROBERT J AUSS und MICHEL DE CERTEAU) „stellen ... die Rezeption oder den Konsum selbst als eine

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wird, verändert sich im neuen Kontext, wird zunächst de- und dann rekontextualisiert, wenn auch die Art und Weise dieser Veränderung nicht immer leicht zu definieren ist. Das gilt am deutlichsten für die Übersetzung, gilt aber ebenso für den Fertigkeitserwerb, etwa des ciceronischen Briefstils oder der humanistischen Kursivschrift, auch wenn es sich subjektiv zunächst im hohen Maße um bewundernde imitatio handeln mochte. Es gibt in der Regel keine En-bloc- oder Eins-zu-eins-Übernahme. Wie sehr Lesen, der Umgang mit den Medien durch lesende Aneignung der betreffenden Texte, transformative Bedeutung besitzt, hat exemplarisch Anthony Grafton am Beispiel der Klassikerlektüre europäischer Humanisten gezeigt.35 Sabine Vogel gelang dies für den Transfer des italienischen Humanismus nach Frankreich im 16. Jahrhundert, indem sie die Vorreden in einigen Hundert Lyoner Drucken analysierte, deren Produzenten sich ganz am genuin französischen Käufer- und Marktbedarf (Beamte, Kaufleute) orientierten.36 Zu den personellen und materiellen Trägern der Diffusion: Früh hat sich die Forschung Einzelner von ihnen angenommen, die man geradezu als Stifterfiguren für Humanismusdiffusion ansah: im Ausland tätige Italiener, eine Diaspora im doppelten Sinn. Zu ihnen gehört ein Enea Silvio Piccolomini für Deutschland, ein Tito Livio Frulovisi in England, ein Pier Paolo Vergerio in Ungarn. Sie stießen jeweils auf lokale Bildungstraditionen und -einrichtungen (Schulen, Universitäten), stellten Kontakte zu einheimischen Eliten, zu Politikern und Gelehrten, her, sozialisierten sich in Gruppen. Die informelle, mit institutionalisierten Gruppen interferierende Kleingruppe wurde als zentraler Gegenstand der Humanismusforschung er-

Form von Produktion dar, beschreiben die kreativen Aspekte von Akten der Aneignung, der Assimilation, der Adaptation, der Reaktion, der Erwiderung und sogar der Zurückweisung“ (20). 35 ANTHONY GRAFTON: Commerce with the Classics: Ancient Books and Renaissance Readers (Jerome Lectures 20), Ann Arbor 1997. 36 SABINE VOGEL: Kulturtransfer in der frühen Neuzeit. Die Vorworte der Lyoner Drucke des 16. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 12), Tübingen 1999. Vgl. für den Austausch Frankreich/Italien in der Renaissance: La circulation des hommes et des oeuvres entre la France et l’Italie à l’époque de la Renaissance. Actes du colloque international 22–24 novembre 1990 (Centre interuniversitaire de recherche sur la Renaissance italienne 20), Paris 1992; zu beachten: M ICHAEL ROHLMANN/GÖTZRÜDIGER TEWES (Hg.): Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich: Politik, Kultur und Familiengeschichte in der europäischen Renaissance (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 19), Tübingen 2002, darin grundlegend GÖTZ-RÜDIGER TEWES: Die Medici und Frankreich im Pontifikat Leos X.: Ursachen, Formen und Folgen einer Europa polarisierenden Allianz (11–116). – Zum deutsch-französischen Kulturtransfer im 18. Jahrhundert siehe unten Anm. 53 f.

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kannt.37 „Die Wege der Verbreitung des Humanismus von Italien aus entsprechen der persönlichkeitsbezogenen Intellektualität, dem Individualismus und dem Elitencharakter dieser Bildungsbewegung“ (W. Eberhard).38 Als sensible Membranzonen, die zunächst einem Eindringen des Humanismus in die Curricula durchaus widerständig waren, fanden seit jeher die Universitäten das Augenmerk der Forschung.39 Die Zahl italienischer Gelehrter, die an Universitäten des Nordens, meist Jurisprudenz oder Theologie, unterrichteten, war breiter und auch mobiler als landläufig angenommen.40 Die sogenannten ‘Apostelfiguren’ bildeten in der Regel nur die prominenten Spitzen einer Gruppe von Auslandsitalienern, zu denen neben Gelehrten und Künstlern traditionell auch Kaufleute und Bankiers etc. gehörten. Die zweite Trägergruppe, welche die Forschung in ihrer Bedeutung für Humanismusdiffusion erkannte, steht komplementär für die umgekehrte Bewegung, vom Norden nach Italien, und zwar als Teil der seit dem Hochmittelalter üblichen migratio academica. Junge Gelehrte aus ganz Europa erhielten nun, im 15. Jahrhundert, als Zugabe zu ihren scholastischen Studien an italienischen Universitäten die Möglichkeit, auch die studia humanitatis, die akademische Freundschafts- und Redenkultur in ungewohnter Latinität kennenzulernen und Handschriften zu erwerben, die dann per Lastesel den Weg zurück über die Alpen nahmen, um in Deutschland weiter multiplikatorisch zu wirken.41 Beide Male geht es also auch um Phäno37

Dazu, bislang wenig rezipiert: W ALTER RÜEGG: Humanistische Elitenbildung in der Eidgenossenschaft zur Zeit der Renaissance, in: KAUFFMANN (Hg.): Die Renaissance (wie Anm. 24), 95–134, bes. 117–120. 38 W INFRIED EBERHARD: Grundzüge von Humanismus und Renaissance. Ihre historischen Voraussetzungen im östlichen Mitteleuropa, in: DERS./STRNAD (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa (wie Anm. 19), 1–28, hier 17. 39 W ALTER RÜEGG: Humanismus, in: DERS. (Hg.): Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, 387–410; AUGUST B UCK: Der italienische Humanismus, in: NOTKER HAMMERSTEIN/AUGUST B UCK (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert, München 1996, 1–56. 40 Siehe etwa RINALDO R INALDI: Gli umanisti fuori d’Italia, in: GIORGIO B ARBERI SQUAROTTI (Hg.): Storia della civiltà letteraria italiana, Bd. 2: Umanesimo e Rinascimento, Teil 2. Turin 1993, 1056–1089. Als Einzelbeispiel: SOTTILI: Giacomo Publicio (wie Anm. 32). 41 Zu den – im Hinblick auf das Thema Humanismusdiffusion einzig in nennenswerter Weise erschlossenen – deutschen Studenten sind grundlegend die Studien von AGOSTINO SOTTILI: Ehemalige Studenten italienischer Renaissance-Universitäten: ihre Karrieren und ihre soziale Rolle, in: RAINER C. SCHWINGES (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozialund Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 18), Berlin 1996, 41–74, hier 48: „Ausländische Studenten (sc. an ital. Universitäten), die diesen Reden zuhörten, mußten entdecken, daß man sich in Italien inzwischen eines Lateins bediente, das von demjenigen, mit dem sie in ihrem Herkunftsland vertraut geworden waren, sehr verschieden war: das Latein des Humanismus. Es war zwar noch nicht die Sprache der Universitätsvorlesungen, hatte

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mene des Exils und der Migration beziehungsweise Emigration. Sie stehen freilich in einer langen historischen Tradition des Austauschs zwischen Italien und dem Norden. Er war in der deutschen mediävistischen Forschung stets eine feste Größe. Könige und Scholaren, Pilger und Kuriale wie Handwerker, Kaufleute und Künstler, nicht zu vergessen die bekannten ‘Ritter und Edelknechte’ erlebten ebenso wie Humanisten in beiden Richtungen jeweils bei Alpenübergang buchstäblich ihre ‘rites of passage’.42 Dazu kamen, als deutscher Export und Inbegriff nationalen Stolzes, die deutschen Buchdrucker in Italien; Sweynheim und Pannartz in Subiaco 1462 sind die ersten in einer langen Reihe.43 Die Handels- und Reisewege sind immer auch Wege der Diffusion von Kulturgütern gewesen.44 In jüngerer Zeit hat man weitere soziale Phänomene als ‘Diffusionsfaktoren’, auch von Humanismus und Renaissance, namhaft gemacht, so zum Beispiel die Heiraten italienischer Fürstinnen an Höfe nördlich der Alpen, einer Beatrix von Neapel-Aragon 1476 an den ungarischen, einer

aber bei allen anderen Äußerungen des akademischen Lebens Geltung erlangt, war in die beim Briefwechsel gebrauchte Alltagssprache eingedrungen.“; DERS.: Nürnberger Studenten an italienischen Renaissance-Universitäten mit besonderer Berücksichtigung der Universität Pavia, in: VOLKER KNAPP/FRANK-RUTGER HAUSMANN (Hg.): Nürnberg und Italien. Begegnung, Einflüsse und Ideen. Tübingen 1991, 49–103. Siehe weitere Titel in Anm. 32. 42 Es seien, lediglich um Assoziationen zu wecken, die beiden klassischen Werke genannt: KARL H. SCHÄFER: Deutsche Ritter und Edelknechte in Italien während des 14. Jahrhunderts, Paderborn 1911 (ND als Taschenbuch 2009); ALOYS SCHULTE: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluß von Venedig, 2 Bde., Leipzig 1900, darin über Deutsche in Italien Bd. 1, 529– 601, über Italienhandel deutscher Städte im Spätmittelalter Bd. 1, 357–510, 602–667. – Aus jüngerer Zeit: GERALD DÖRNER (Hg.): Reuchlin und Italien (Pforzheimer Reuchlinschriften 7), Sigmaringen 1999; STEPHAN FÜSSEL/K LAUS A. VOGEL (Hg.): Deutsche Handwerker, Künstler und Gelehrte im Rom der Renaissance (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance– und Humanismusforschung 15/16), Nürnberg 2001; REINHARD STAUBER: Nürnberg und Italien in der Renaissance, in: HELMUT NEUHAUS (Hg.): Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit (Nürnberger Forschungen 29), Nürnberg 2000, 123–149 (Literatur); Bayern und Italien. Politik, Kultur, Kommunikation (8.–15. Jahrhundert) (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft 18, Reihe B), München 2002. 43 ARNOLD ESCH: Ein Sonderfall deutscher Präsenz in Rom: die erste Generation deutscher Buchdrucker nach vatikanischen Quellen, in: KNUT SCHULZ (Hg.): Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 41), München 2001, 27–32 (Literatur). 44 Vgl. oben BRAUDEL: Modell Italien (wie Anm. 15). Unter dem Begriff ‘Kommunikation’: MARKUS A. DENZEL: ‘Wissensmanagement’ und ‘Wissensnetzwerk’ der Kaufleute: Aspekte kaufmännischer Kommunikation im Mittelalter, in: Das Mittelalter 6 (2001), 73–90.

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Bianca Maria Sforza 1493 an den habsburgischen, einer Bona Sforza 1518 an den polnischen Königshof.45 Dies gilt auch für den dritten Komplex, den man traditionell untersucht hat und der nur kurz angesprochen sei, den materiellen: er umfaßt die ‘Medien’, die Handschrift und das gedruckte Buch.46 Bekanntlich ist die Wirkung Luthers ist ohne den Buchdruck undenkbar; und das gilt genauso für diejenige des Europahumanisten Erasmus.47 Kristellers monumentales ‚Iter Italicum‘48 stellt selbst eine großartige Bestandsaufnahme des – heute weltweit gestreuten – Ergebnisses dieser Humanismusdiffusion qua Handschriften dar. Natürlich bleiben diese ‘Medien’ der Kommunikation und Diffusion weiterhin wesentlicher Forschungsgegenstand, wobei es den Warenwert vom wahren Wert zu unterscheiden gilt. Der Begriff cultural transfer/Kulturtransfer, der nun schon mehrfach sehr bewußt anklang, hat methodische Tradition in der Ur- und Frühgeschichte (‘Diffusion’ der Bandkeramik), wird aber ebenso in der modernen Geographie und Zivilisationssoziologie intensiv verwendet.49 Deutlich hin45

KARL-HEINZ SPIEß : Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: IRENE ERFEN/KARL-HEINZ SPIEß (Hg.): Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, 17–36, hier 35 Hinweis auf Bedeutung der Fürstenehen für die Humanismusdiffusion. 46 Zu diesem Komplex: FRITZ KRAFFT/D IETER WUTTKE (Hg.): Das Verhältnis der Humanisten zum Buch (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 4), Boppard 1977; J EAN F. MAILLARD: Les humanistes transmetteurs des textes anciens (XIVe– XVIIe siècles). Perspectives de cooperation internationale, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 55 (1993), 339–344; DAVIES: Humanism in Script and Print (wie Anm. 7), 53–60; STEPHAN FÜSSEL/VOLKER HONEMANN (Hg.): Humanismus und früher Buchdruck (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 11), Nürnberg 1996; STEPHAN FÜSSEL: Die Bedeutung des Buchdrucks für die Verbreitung der Ideen des Renaissance-Humanismus, in: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert, 2. Halbbd., hg. vom Vorstand der Maximilian-Gesellschaft und B ARBARA T IEMANN, Hamburg 1999, 121–162; 379–400: Bibliographie. – Allgemein M ICHAEL G IESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991; dazu kritisch UWE NEDDERMEYER: Wann begann das Buchzeitalter?, in: Zeitschrift für historische Forschung 20 (1993), 205–216. Methodisch reflektiert, auf breiter statistischer Basis, mit Tabellen auch zu den Auflagen klassischer Autoren und Werke (leider ohne Humanisten): UWE NEDDERMEYER: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte, 2 Bde. (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München 61), Wiesbaden 1999. 47 LISA J ARDINE: Man of Letters. The Construction of Charisma in Print, Princeton 1993. 48 P AUL O. KRISTELLER: Iter Italicum. A Finding List of Incatalogued or Incompletely Catalogued Humanistic Manuscripts of the Renaissance in Italian and other Libraries, 6 Bde., Leiden 1965–1992. 49 T ORE HÄGERSTRAND: Innovation Diffusion as a Spatial Process. Chicago 1967; PETER J. HUGILL/D. BRUCE D ICKSON (Hg.): The Transfer and Transformation of Ideas

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zuweisen ist auf die jüngere Kolonialismusforschung.50 Die Entdeckung der Neuen Welt erschütterte nicht nur das klassikersanktionierte Welt-Bild und forderte es heraus – America war weder in der Bibel noch bei Ptolemaios vorgesehen –, sondern brachte auch neue, prekäre Dimensionen von Kulturtransfer (Synkretismus, Kreolismus), wobei das Phänomen des Humanisten und Historikers Garcilaso de la Vega (1539–1616), Sohn einer Inkaprinzessin und eines Conquistadors, besonders fasziniert und irritiert.51 Enge Berührungen ergeben sich also mit neueren Forschungsprojekten, die um die Thematik des Kulturtransfers kreisen.52 Wesentliche Anstöße gibt seit 1985 ein Projekt des C.N.R.S. in Paris über deutsch-französischen Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert, geleitet von Michel Espagne und Michael Werner, dem sich in den neunziger Jahren eine Leipziger Forschergruppe um Matthias Middell beziehungsweise. 1996 das Leipziger Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas angeschlossen hat. Forschungsgegenstand waren und sind vor allem die französisch-deutschen und, in einem regionalen Vergleichsfeld, die französisch-sächsischen Kulturbeziehungen des 18. Jahrhunderts, insbesondere der ersten Revolutionsjahre. Im Zentrum des Interesses standen die betreffenden Transfermedien wie der Buchdruck und das Flugblatt, Rezipientenkreise und das Problem der wechselseitigen Generierung einer Vorstellung von Nation. ‘Transfer culturel’ war ursprünglich ein Modell der französischen Germanistik, das nun auch die deutsche Mediävistik erreicht hat.53 and Material Culture. Texas 1988, mit den Teilen I: Diffusion in Prehistory, II: Diffusion in History, III: The History and Theory of Diffusion, IV: Methods and Models in Diffusion Studies, siehe bes.: Introduction (XI–XXII), W ILLIAM H. MCNEILLY: Diffusion in History (75–90), Summation: Contemporary Diffusion research (263–272); SANFORD B UDICK/W OLFGANG ISER (Hg.): The Translatability of Cultures. Figurations of the Space Between, Stanford 1996. Vgl. SCHMALE: Geschichte Europas (wie Anm. 15), 159 f. 50 Genannt sei nur: URS B ITTERLI: Alte Welt – Neue Welt. Formen des europäischüberseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, darin: Grundformen des Kulturkontakts. Kulturberührung, Kulturzusammenstoß, Kulturbeziehung (17–54); B URKE: Kultureller Austausch (wie Anm. 30), passim. 51 B URKE: Europäische Renaissance (wie Anm. 2), 142 f. 52 J ÖRN STEIGERWALD: Art. ,Kulturtransfer‘, in: ANSGAR NÜNNING (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 22001, 353. 53 Aus den verschiedenen programmatischen Publikationen und Sammelbänden: M ICHEL ESPAGNE/M ICHEL W ERNER: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand, in: DIES. (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIII e et XIXe siècle), Paris 1988, 11–34; MICHEL ESPAGNE/ MATTHIAS M IDDELL (Hg.): Von der Elbe bis an die Seine: Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1993; konzis KATHARINA und MATTHIAS M IDDELL: Forschungen zum Kulturtransfer. Frankreich und Deutschland, in: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 1 (1994), 107–122; MICHEL ESPAGNE/MATTHIAS M IDDELL (Hg.): Transferts culturels et region. L’exemple de la Saxe/Region und interkultureller Transfer am Beispiel Sachsen, Marseille 1995; HANSJ ÜRGEN LÜSEBRINK/ROLF R EICHARDT (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frank-

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In dem Sammelband ,Metropolen und Kulturtransfer im 15./ 16. Jahrhundert‘54 begann man ansatzweise, die Begrifflichkeit des Modells ‘Kulturtransfer’ auch auf frühere Epochen, darunter auch das Phänomen der Ausbreitung des Humanismus, auszuweiten. Zum Teil bediente man sich der Begriffstrias Rezeption – Transformation – Multiplikation, deren Elemente zugleich die Phasen eines Gesamtprozesses nachvollziehen.55 Die Aussichten, dieses Modell sinnvoll mit dem oben erläuterten Leitbegriff ‘Diffusion’ zu korrelieren, sind gut. Die Fragestellung hat in der Forschung also Konjunktur, nicht zuletzt für die Deutung der kulturellen Integration Europas.56 Inwieweit es sich um neue tragfähige Interpretamente oder nur um Umetikettierungen älterer handelt, wird man sehen. Es fällt auf, daß einige Autoren Einwände gegen die traditionelle komparatistische Forschung wie gegen die Transferforschung formulieren. Die Argumente lassen zum Teil ältere Kontroversen anklingen und könnten, auf das Problem der Diffusion des Humanismus übertragen, in der Lage sein, auch hier ein allzu glattes Bild aufzurauhen: 1. Man fordert – letztlich auf Spuren Marc Blochs – die Kompatibilität von Methoden des Kulturvergleichs, die wesentlich statische, oft national umschriebene Entitäten voraussetzten, mit den Methoden des Kulturtrans-

reich-Deutschland 1770–1815 (Deutsch-Französische Kulturbibliothek 9/1–2), Leipzig 1997, darin besonders DIES.: Kulturtransfer und Epochenumbruch. Fragestellungen, methodische Konzepte, Forschungsperspektiven (9–28); MICHEL W ERNER: Dissymmetrien und symmetrische Modellbildungen in der Forschung zum Kulturtransfer (87–102). 54 ANDREA LANGER/GEORG MICHELS (Hg.): Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag/Krakau u.a. (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 12), Stuttgart 2001, hier besonders M ATTHIAS M IDDELL: Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch: Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontroversen (15–52). 55 Unter den Beiträgern des Bandes ‚Metropolen und Kulturtransfer‘ (wie Anm. 54) arbeitet mit dieser Begriffstrias konsequent ARNO STROHMEYER: Geschichtsbilder im Kulturtransfer. Die Hofhistoriographie in Wien im Zeitalter des Humanismus als Rezipient und Multiplikator (65–84). 56 Dies mögen auch die folgenden Titel andeuten: W OLFGANG SCHMALE: Historische Komparatistik und Kulturtransfer. Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte. Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Landesgeschichte (Herausforderungen 6), Bochum 1998, v.a. 101–111: ,Das Konzept Kulturtransfer‘; ebenso DERS.: Geschichte Europas (wie Anm. 15), 159–172. GUNNAR SORELIUSL/ M ICHAEL SRIGLEY (Hg.): Cultural exchange between European Nations during the Renaissance (Acta Universitatis Uppsaliensis - Studia Anglistica Uppsaliensia 86), Uppsala 1994; INGRID KASTEN/W ERNER P ARAVICINI/RENÉ PERENNEC (Hg.): Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter/Transferts culturels et histoire littéraire au Moyen Age (Francia. Beiheft 43), Sigmaringen 1998; B ODO GUTHMÜLLER (Hg.): Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 19), Wiesbaden 2000.

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fers, die statt dessen von dynamischer Interaktion ausgehen.57 Daß eine solche Kompatibilität möglich sei, eben dies wurde bisweilen bestritten. Auf unser Thema angewendet, könnte dies kombinierend heißen: Es gilt, Formen des Transfers ihrerseits zu vergleichen, nach den dafür geeigneten Parametern (textgattungsspezifischen, nationalen, gruppensoziologischen etc.) zu suchen und daraufhin den Gesamtprozeß der (Humanismus-) Diffusion in Europa zu strukturieren. 2. Man kritisiert den Transferbegriff: Er gehe latent von der unakzeptablen Vorstellung eines Kulturgefälles aus, welches dann durch Export bestimmter Inhalte von einer gebenden zu einer nehmenden Nationalkultur sozusagen nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren – mehr oder weniger – ausgeglichen worden sei. 3. Man stärkt stattdessen den Aspekt einer Konjunktur von Rezeptionsbedürfnissen in der Aufnahmekultur. „Nicht der Wille zum Export (Mission), sondern die Bereitschaft zum Import steuert hauptsächlich die Kulturtransfer-Prozesse“,58 eine Maxime, die anhand der Selbstwahrnehmung wechselseitig am Kulturtransfer beteiligter Humanisten des 15./16. Jahrhunderts kritisch zu prüfen ist.59 4. Die Nationenklammer unterstelle auch in der Humanismusforschung a priori nationale Entitäten (in Studien vom Typus Humanismus in Polen, Humanismus in Schottland etc.) und werde dabei den Kommunikationswegen des Humanismus nicht hinreichend gerecht, die international, polyzentrisch und an durch Interesse konstituierte Gruppen gebunden sei. Andererseits zeigt sich – nur auf den allerersten Blick als Paradox –, wie gerade die Humanismusdiffusion durch Italiener Empfindlichkeiten und Komplexe berührte, Abwehrreaktionen und Rivalitäten auslöste, die den nationalen (das heißt: kulturellen und agonalen) Diskurs erst entfachen und für die Art, wie der Humanismus verbreitet und amalgamiert wurde, geradezu konstitutiv wirken.

57 [Klassisch bereits MARC B LOCH: Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Ders., Melanges historiques 1, parism1963, 16–40 (zuerst 1928).] Vgl. M IDDELL: Wechselseitigkeit der Kulturen (wie Anm. 54), 28–35, mit knapper Erörterung der aktuellen Diskussionen; J OHANNES P AULMANN: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), 449–485. Vgl. auch M ICHAEL B ORGOLTE (Hg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. 20 internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 1), Berlin 2002. 58 MIDDELL: Wechelseitigkeit der Kulturen (wie Anm. 54), 18. 59 Vgl. zum Problem des ‘missionarischen’ Humanismusexports HELMRATH: ‘Aeneae vestigia imitari’, in: DERS./MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 5), 132–136.

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Vor diesem Hintergrund ist das Themenspektrum des Bandes ‚Diffusion des Humanismus‘ (2002) zu verstehen, zu dessen Einführung diese Bemerkungen verfaßt wurden60: Es behält, fokussiert auf Geschichtsschreibung, grob den nationalen Raster bei, wobei leider Spanien, Böhmen, die Niederlande und Skandinavien nicht durch eigene Beiträge vertreten sind.61 Dafür werden Italien und Deutschland differenzierter erschlossen: Italien, hier als Exemplum vorhumanistischer Geschichtsschreibung, durch die Laienchroniken der oberitalienischen Kommunen (Jörg W. Busch), durch die Schlüsselfigur humanistischer Historiographie Flavio Biondo (Ottavio Clavuot) und durch ein regionales Beispiel italienischer Binnendiffusion, das seinerseits international ausstrahlt: Neapel (Bruno Figliuolo). Deutschland erhält Profil durch Einbezug der Schweiz (Thomas Maissen)62 sowie einzelner Fokusfiguren wie Enea Silvio Piccolomini (Johannes Helmrath), Hartmann Schedel (Reinhard Stauber), Beatus Rhenanus (James Hirstein) und Projekte wie der ,Germania illustrata‘ (Ulrich Muhlack). Frühe Phasen nationaler Humanismusrezeption sind für Frankreich (Heribert Müller) und England (Susanne Saygin) präsent. Mehrere Beiträge sind auf zentrale Figuren des Transfers und der nationalen Historiographien konzentriert. [Gerade die Humanisten waren es ja, die im Wettstreit den europäischen Nationendiskurs begründeten.63 Ein besonders faszinierendes Feld bilden hier die neuen nationalen Historiographien. Bezeichnenderweise waren es oft wiederum Italiener, die an den Höfen europäischer Monarchen als professionelle Geschichtsschreiber mit dem Verfasser neuer, humanistisch antikisierender, Nationalgeschichten, also zum Schreiben fremder Geschichte 60 HELMRATH/MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 5). Die Autoren der Einzelbeiträge sind im Folgenden in Klammern genannt. 61 Zur ersten Orientierung über die genannten nationalen Humanismuskulturen, so Spanien: OTTAVIO DI C AMILLO: Humanism (wie Anm. 22); LAWRANCE: Humanism (wie Anm. 22); ANGEL G. MORENO: España y la Italia de los humanistas. Primeros ecos (Biblioteca Románica Hispánica II/382), Madrid 1994; DOMINGO YNDURÁIN: Humanismo y Renascimiento en España, Madrid 1994. – Böhmen: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa (wie Anm. 19), Literatur; HANSB ERND HARDER/HANS ROTHE (Hg.): Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der slawischen Studien 11), Köln/Wien 1988; dasselbe, Ergänzungsheft 1987 (Schriften des Komitees ... 13), Köln/Wien 1991; dasselbe, Teil 3. (Schriften des Komitees ... 17), Köln/Wien 1993. – Niederlande: J OZEF IJSEWIJN: The Coming of Humanism to the Low Countries, in: ‘Itinerarium Italicum’ (wie Anm. 21), 193–304; FOKKE AKKERMAN/ARJO VANDERJAGT/ADRIE H. VAN DER LAAN (Hg.): Northern Humanism in European Context, 1469– 1625 (Brill’s Studies in Intellectual History 94), Leiden 1999. 62 Siehe zudem, auch für die allgemeine Humanismusforschung instruktiv: T HOMAS MAISSEN: Literaturbericht Schweizer Humanismus, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 50 (2000), 515–544. 63 [Dazu jetzt CASPAR H IRSCHI: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005.]

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beauftragt wurden.] Es ist ein Phänomen, das bereits beobachtet wurde,64 das aber der nötigen vergleichenden Untersuchung entscheidend entbehrt. Es geht um Figuren wie eben Enea Silvio in Deutschland und Böhmen, einen Antonio Bonfini in Ungarn (László Havas), einen Polidoro Virgilio in England (Frank Rexroth), einen Paulo Emilio in Frankreich (Franck Collard), einen Filippo Buonaccorsi, genannt Callimachos Experiens, in Polen (Jan PirozyĔski), wenn dieser auch keine komplette Nationalgeschichte vorlegte. [Polen und Ungarn sind überdies als früheste Importeure der Renaissancearchitektur und -kunst außerhalb Italiens vertreten (Horst Bredekamp)]. Für Spanien ließen sich den genannten Italienern Figuren wie Petrus Martyr von Anghiera und Lucius Marinaeus Siculus mit ihren Werken zur spanischen Geschichte an die Seite stellen. Was waren ihre Motive oder politischen Aufträge, ins Ausland zu gehen? In welchen einheimischen Kreisen waren sie dann sozialisiert, welche Position bei Hofe und zum Monarchen nahmen sie ein? Wie gestalteten sich die Kontakte zu Italien? Sind die ‘causae scribendi’ und Produktionsumstände ihrer Opera bestimmbar? Wie integrierten (und antikisierten) sie jeweils die nationale Geschichte der Böhmen, Ungarn, Engländer, Franzosen – etwa Frankreichs ‘schönes Mittelalter’? Wie standen sie zur Destruktion beziehungsweise Neukonstruktion nationaler Mythen, etwa solchen einer protorömischen Autochthonie? Wie wurde diese Aktivitäten in der einheimischen Erinnerungskultur aufgenommen? Wo so viele Fragen offen stehen, kann mit Elan geforscht werden.

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So etwa bei KRISTELLER: Verbreitung (wie Anm. 20), 89; RINALDI: Umanisti fuori d’Italia (wie Anm. 40); ERIC COCHRANE: Historians and Historiography in the Italian Renaissance, Chicago/London 1981, hier 315–359: Italians abroad and Foreigners in Italy. [Im besonderen MARKUS VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere. Italienische Humanisten als Geschichtsschreiber der europäischen Nationen. Eine Skizze, in: Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard, hg. von PETER B URSCHEL u.a., Berlin 2002, 339–362, sowie J OHANNES HELMRATH: Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellung und ihre kritische Aufbereitung, hg. von J OHANNES LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln/Weimar/Wien 2003, 323–352, bes. 342–352; in diesem Band Nr. VII.]

IV.

Vestigia Aeneae imitari. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel’ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion* Ehe der Kongreß von Mantua 1459 begann, nutzten Gesandte aus ganz Europa die Zeit, vor dem neuen Papst Pius II. (1458–1464) Obödienzreden zu halten, dem Genre gemäß panegyrisch. Zwei Dicta seien einleitend gegenübergestellt: Der Franzose Jean Jouffroy sprach für den Herzog von Burgund, der Hesse Johannes Hinderbach für Kaiser Friedrich III. Beide rühmten die Leistungen des Papstes Enea Silvio Piccolomini1 in seiner deutschen Zeit, die erst wenige Jahre zurücklag. Jouffroy: * Zuerst in: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von J OHANNES HELMRATH/U LRICH MUHLACK/GERRIT W ALTHER, Göttingen 2002, S. 99–141. 1 Zu Enea Silvio Piccolomini/Pius II.: FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Piccolomini, Aeneas Silvius (Papst Pius II.), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserexikon 7 (1989), 634–669 (grundlegend); ARNOLD ESCH: Art. Pius II., in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), 2190–2192; ERICH MEUTHEN: Art. Pius II., Papst (1458–1464), in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 649–652; JOHANNES HELMRATH: Art. Pius II., in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 492–494. – Noch unersetzt G EORG VOIGT: Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius der Zweite und sein Zeitalter, 3 Bde., Berlin 1856– 1863 (Reprint Berlin 1967); KLAUS VOIGT: Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de’ Franceschi (1333–1492) (Kieler Historische Studien 17), Stuttgart 1973, 77–155; G IOACCHINO P APARELLI: Enea Silvio Piccolomini (Pio II). L’umanesimo sul soglio di Pietro (Pleiadi. Collana di ricerche monografiche e antologiche 5), Bari 21978 (11950); J AN P IEPER: Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht. Stuttgart/London 1997 (opulent); sowie die Sammelbände DOMENICO MAFFEI (Hg.): Enea Silvio Piccolomini Papa Pio II. Atti del Convegno per il quinto Centenario della morte e altri scritti. Siena 1968; LUISA R. S. T ARUGI (Hg.): Pio II e la cultura del suo tempo. Atti del primo convegno internazionale 1989 (Istituto di Studi Umanistici F. Petrarca. Mentis Itinerarium), Mailand 1991; C LAUDIA M ÄRTL: Liberalitas baioarica. Enea Silvio Piccolomini und Bayern, in: Bayern und Italien. Politik, Kultur, Kommunikation (8.–15. Jahrhundert) (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft 18, Reihe B), München 2002, 237–260. – T HOMAS CRAMER: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter (Deutsche Literatur im Mittelalter 3), München 1990, ebd. 358–361 zu Enea Silvio, 369–431 regional gruppierte Übersicht über den deutschen Humanismus, aber mit Ausnahme Wiens ohne die Zentren des östlichen Mitteleuropa. – RUDOLF W OLKAN (Hg.): Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini. Abt.I.: Briefe aus der Laienzeit (1431–1445). Bd. 1: Privatbriefe. (Fontes rerum Austriacarum 61), Wien 1909 (künftig: W OLKAN I/1); Bd. 2.: Amtliche Briefe (Fontes rerum Austriacarum 62), Wien 1909 (künftig: W OLKAN I/2); Abt. II.:

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IV. Vestigia Aeneae imitari Wer bewunderte es nicht, daß Du, pietate insignis, die so starken Stämme der Deutschen unter die Botmäßigkeit des römischen Stuhls zurückgeführt hast. Sicherlich war es höchst gefährlich für Dich, als Italiener zu den Völkern zu gehen, die sich gegen das Haupt Italiens vereint hatten. Aber Du gingst. Es war wahrlich eines gottähnlichen Menschen oder Gottes Werk, bei diesem Volk, welches, wie schon Tacitus sagt, Fremde überhaupt nicht duldet, in hoher Ehre zu stehen.2

Hinderbach zu seinem alten Mentor und Kollegen aus Wiener Tagen: Von Deinen Schriften sind die Gymnasien der Italiener wie der Deutschen voll. Daher blühen durch Dich allerorts bei unserem Volk die studia humanitatis, daß alle sich zu Dir wie zu einem Vater und Lehrer, ... ja wie zum Wiederbegründer der alten lateinischen litterae (instauratorem priscarum Latinarum litterarum) bekennen wie die Italiener den Chrysoloras als Wiedernegründer der griechischen. Daher schuldet Dir die deutsche Nation viel, die durch Deine Ratschläge und Vorbilder zur alten Zierde römischer Beredsamkeit und zu den studia humanitatis zurückgerufen ist und täglich mehr darin reift.3

Ein sehr unterschiedliches Zeitgenossenlob der gleichen Sache, zwei Bilder einer ambivalenten Figur: Jouffroys ultramontane Perspektive stilisiert Briefe als Priester und als Bischof von Triest (1447–1450) (Fontes rerum Austriacarum 67), Wien 1912 (künftig: WOLKAN II); Abt. III.: Briefe als Bischof von Siena. Bd. 1.: Briefe von seiner Erhebung zum Bischof von Siena bis zum Ausgang des Regensburger Reichstages (23. September 1450–1. Juni 1454) (Fontes rerum Austriacarum 68), Wien 1918 (künftig: W OLKAN: III/1) [mehr nicht erschienen]. 2 Quis igitur non admiretur te pietate insigni (lies: insignem; Vergil: Aeneis I.10) fortissimas Alamanorum gentes et tantum gregem, qui neutrabilitatis [!] obtentu sine pastore vagabatur deformis, in dicionem romanae sedis potestatemque redigisse? Erat certe periculosissimum te, Italum hominem, ad concitatas contra caput Italie gentes ire. Ivisti. Erat divini hominis aut dei opus cum ea gente, que, ut Cornelius Tacitus asserit, alienigenas minime patitur, honoribus florere; zitiert nach CLAUDIA M ÄRTL: Kardinal Jean Jouffroy († 1473). Leben und Werk (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 18), Sigmaringen 1996, 102 A. 322, nach Salzburg Stiftsbibliothek St. Peter B VIII 15 fol. 153 v; zur Rede ferner ebd. 343 Nr. 16. Sachlich wird wohl auf Tacitus: Germania 2.1 angespielt; der Begriff alienigenus nur in Germania 43.1. 3 Quorum ibi operibus plena sunt omnium tam Latinorum quam Germanorum gymnasia. Qua ex re te auctore ita humanitatis studia ubivis locorum gentis nostre pullulare[n]t, ut iam omnes Sanctitatem tuam veluti parentem et magistram omnium virtutum et studiorum, quin ymmo et instauratorem priscarum Latinarum, quemadmodum Itali Crisaloram apud se Grecarum litterarum profiteantur. Idcirco multum Sanctitati tue debet Germanica natio, que tuis institutis et exemplis ad veterem illum Romane facundie decorem et humanitatis studia est revocata et in dies magis magisque adaugetur ac recepit incrementa, in: ALFRED A. STRNAD (Hg.): Johannes Hinderbachs Obödienz-Ansprache vor Papst Pius II. Päpstliche und kaiserliche Politik in der Mitte des Quattrocento, in: Römische Historische Mitteilungen 10 (1966/67), 43–182, hier 169. Zu dieser Textpassage ebenso ALFRED A. STRNAD: Wie Johannes Hinderbach zum Bistum Trient kam. Persönlichkeit, Herkunft und geistliche Laufbahn eines landesfürstlichen Protegés, in: DERS.: Dynast und Kirche. Studien zum Verhältnis von Kirche und Staat im späteren Mittelalter und in der Neuzeit, hg. von J OSEF GELMI/HELMUT GRITSCH, Innsbruck 1997, 381–432, hier 381–385.

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Eneas Deutschland-Aufenthalt als die mutige Mission des italienischen Papstkämpfers gegen das Basler Rumpfkonzil im gefahrvollen Terrain der ‘neutral’ vagierenden, hier in früher Tacitusrezeption als xenophob charakterisierten gentes Alamanorum. In der Sicht seines deutschen Schülers erscheint er hingegen unter Anwendung gängiger Wiedergeburtsmetaphern als väterlicher Neuseminator der antiken Kulturtechniken in einer dankbaren Nation. Der alte Gedanke der translatio studii, von den Griechen auf die Römer (und von dort auf die Franzosen), erweist sich als das zeitgenössische Deutungsmodell des Phänomens, welches in diesem Band als Diffusion problematisiert wird.4 Die nun analog gedachte translatio der studia humanitatis wird zugleich auf zwei Lehrer- und Stifterfiguren fokussiert: auf den Griechen Manuel Chrysoloras († 1415), der die Humaniora zu den Italienern, und auf den Italiener Enea Silvio, der sie zu allen anderen, vorzüglich aber zu den Deutschen brachte. Die Personalisierung der Diffusion auf einen bewunderten Träger findet sich also schon hier. Wie bei Jouffroy (Italus homo) spielt auch bei Hinderbach bereits eine nationale Kontrapunktik mit, die gerade im deutschen Humanismus Zukunft haben sollte; hier allerdings mit dem Versuch, den Papst als universale humanistische Lehrautorität nicht nur für das empfangende Deutschland, sondern auch für die sich traditionell in der Geberrolle gerierende Romania herauszustellen: quorum operibus plena sunt omnium Latinorum quam Germanorum gymnasia. Hinderbachs anlaßgebunden panegyrische Sichtweise sollte später auch eine wesentliche Linie der modernen Eneaforschung prägen. Deren Begründer Georg Voigt (1856 ff.) war es, der ihm den emphatischen Titel des „Apostels“ verlieh,5 ungeachtet seines sonst überkritischen Bildes einer 4 HERBERT J AUMANN: Das dreistellige ‘Translatio’-Schema und einige Schwierigkeiten mit der Renaissance in Deutschland. Konrad Celtis’ ,Ode ad Apollinem‘ (1486), in: GREGOR VOGT-SPIRA/B ETTINA ROMMEL (Hg.): Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, 335–349; dazu schon FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), 1–22. 5 VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 1), Bd. 2, Cap. 12: Enea Silvio als Apostel des Humanismus in Deutschland. Vgl. bereits das für die Humanismusforschung bahnbrechende frühere Werk von VOIGT: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 2 Bde. dritte Auflage besorgt durch MAX LEHNERDT, Berlin 1893 ( 11859; Reprint Berlin 1960), hier Bd. 2, 377, 392. Weitere Beispiele bei ALFRED A. STRNAD: Die Rezeption von Humanismus und Renaissance in Wien, in: W INFRIED E BERHARD/DERS. (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Österreichs 28), Köln/Weimar/Wien 1996, 71–135, hier 76 Anm. 20. Vgl. „ambassadeur de l’humanisme en Allemagne“ bei JACQUES RIDE: L’image du Germain dans la pensée et la littérature allemandes de la redécouverte de Tacite à la fin du XVIème siècle (Contribution à l’étude de la genèse d'un mythe), 3 Bde., Lille/Paris 1977, Bd. 1, 165.

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primär vom Karrierismus beherrschten Persönlichkeit. Anton Weiss (1897), dessen Enea-Buch den Untertitel „Sein Leben und Einfluß auf die literarische Cultur Deutschlands“ trägt,6 verfestigte die Tendenz, die sich in Studien von Newald (1926), Großmann (1929), Rupprich (1938), Lhotsky (1965), Zippel (1981) bis hin zu Strnad (1991/ 96), hier allerdings deutlich relativiert, fortsetzte.7 Nach Petrarca und der sensationellen Verbreitung seiner Opera8 war Enea Silvio Piccolomini unbestritten die zweite wichtige Brückenfigur zwischen Italien und dem Norden, noch dazu die am besten dokumentierbare Person des Jahrhunderts. Ohne ihn ist die Diffusion des Humanismus nördlich der Alpen kaum vorstellbar. Dennoch wird man sich selbst vor einer Überpersonalisierung des Phänomens warnen müssen. Im Folgenden wird versucht, seine deutsche Karriere (bis Sommer 1455) exemplarisch auf Umfeld, Formen und Transferwege der Humanismusdiffusion zu untersuchen. Der Geschichtsschreiber Enea Silvio als besessener Autor ‘fremder Geschichte’ und die Überlieferung seiner ‚Opera‘, der konventionelle Weg, Medien des Kulturtransfers zu untersuchen, können nur mehr als Schlußausblicke Raum erhalten.9 6

ANTON W EISS: Aeneas Silvius Piccolomini als Papst Pius II. Sein Leben und Einfluß auf die literarische Cultur Deutschlands, Graz 1897 [Reprint 2009]. 7 Siehe Anm. 11, 36 und 44. 8 FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Petrarca, in: Verfasserlexikon 7 (1989), 471–490; ALFRED KARNEIN: Petrarca in Deutschland. Zur Rezeption seiner lateinischen Werke im 15. und 16. Jahrhundert, in: Idee, Gestalt, Geschichte. Festschrif für Klaus von See, hg. von GERD W. WEBER, Odense 1988, 159–186, spricht von 330 Handschriften, fast alle des 15. Jahrhunderts, darunter oft humanistische Sammelhandschriften, die auch Opera des Enea Silvio enthalten, dabei ,De curialium miseriis‘ (7x) und die Novelle ,De duobus amantibus‘ (8x); AGOSTINO SOTTILI: Il Petrarca e l’umanesimo tedesco, in: Il Petrarca latino e le origini dell’umanesimo (Quaderni Petrarcheschi 9/10), Florenz 1992/93, 239– 291; DERS.: Il Petrarca nella cultura tedesca del Quattrocento, in: Dynamique d’une expansion culturelle. Pétrarque en Europe XIVe–XXe siècle. Actes du XXVI e congrès internat. du CEFI, Turin et Chambéry, 11–15 décembre 1995. Études réunies par P IERRE B LANC, Paris 2001, 595–622. 9 Zur humanistischen Geschichtsschreibung: VOIGT: Wiederbelebung (wie Anm. 5), Bd. 2, 488–504; grundlegend P AUL J OACHIMSEN: Geschichtsauffassung und Geschichts schreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (Beiträge zur Kultur des Mittelalters und der Renaissance 6), Leipzig/Berlin 1910 (Reprint Aalen 1968). Leider noch nicht ersetzt: EDUARD FUETER: Geschichte der neueren Historiographie (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte. Abt. 1), München/Berlin 31935 (Reprint mit einem Nachwort von Hans Conrad Peyer, Zürich 1985), 1–306; ERIC COCHRANE: Historians and Historiography in the Italian Renaissance. Chicago 1981, unübertroffen breites Spektrum von Autoren, aber im Urteil über die Werke mit Ausnahme weniger ‘Spitzenautoren’ latent abqualifizierend; ULRICH MUHLACK: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, bes. 202–214, 458 s.v.; ERICH MEUTHEN: Humanismus und Geschichtsunterricht, in: AUGUST B UCK (Hg.): Humanismus und Historiographie, Weinheim 1991, 5–50; DONALD R. KELLEY: Humanism and History, in: ALBERT RABIL JR. (Hg.): Renaissance Humanism,

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I. Am Anfang war Basel. Der noch junge, in den Humaniora glänzend geschulte, aber stellungslose Humanist aus Corsignano zögerte nicht, als Kardinal Capranica ihm 1432 eine Sekretärsstelle mit Reise über die Alpen anbot. Die beiden Konzilien in Konstanz (1414–18) und Basel (1431–49) bewirkten – als Novum – eine Art Verlagerung der Kirche nach Deutschland, mit beträchtlichem nationalen Prestige. Enea ließ sich später in seinem Dialog ,Somnium‘ selbst sagen: „Es reut mich nicht, daß ich auf der Basler Synode war, wo die glänzendsten Leuchten unserer Zeit tagten (lumina nostri orbis excellentiora); viel habe ich dort gelernt, an das ich mich noch heute [1454] gern erinnere.“10 Die beiden Konzilien waren Dauerkongresse, Foren der Intellektuellen Europas, in ihren Sekundärfunktionen auch Büchermärkte. Daß sie auch für die Diffusion ‘des Humanismus’ bedeutend gewesen sein sollen, versichert die Literatur.11 Für Braudel Philadelphia 1988, Bd. 3., 236–271; FRANCESCO T ATEO: I miti della storiografia umanistica (Humanistica 9), Rom 1990; ANITA D I STEFANO/G IOVANNI F ARAONE u.a. (Hg.): La storiografia umanistica. Convegno internazionale di studi Messina 22–25 Ottobre 1987, 2 Bde., Messina 1992; FRANZ BRENDLE/D IETER MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeitalter des Humanismus (Contubernium 56), Stuttgart 2001. Zur unabdingbaren Rückbindung an die ‘mittelalterliche’ Historiographie: NORBERT KERSKEN: Geschichtsschreibung im Europa der ‘nationes’. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter (Münstersche Historische Forschungen 8), Köln/Weimar 1995. 10 Non me paenitet in synodo Basiliensi fuisse, in qua lumina nostri orbis excellentiora fuerunt, multa illic didici, que adhuc meminisse iuvat; J OSEPHUS CUGNONI: Aeneae Silvii Piccolomini Senensis qui postea fuit Pius II Pont. Max. Opera inedita descripsit J. C., in: Atti della Romana Accademia dei Lincei. Memoria della Classe di scienze morali, storiche e filologiche, Reihe 3, Bd. 8, Rom 1882/83 (Reprint Farnborough 1968), 319– 686, hier 578; separat mit eigener Seitenzählung: 259. 11 VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 1), Bd. 1, bes. 186–244; G IANNI ZIPPEL: Gli inizi dell’Umanesimo tedesco e l’Umanesimo italiano nel XV secolo, in: Bollettino dell’ Istituto storico Italiano per il medio evo 75 (1963), 345–389, bes. 352; DERS.: Enea Silvio Piccolomini e il mondo germanico, in: La Cultura. Rivista di Filosofia, Letteratura e Storia 19 (1981), 267–350, hier 329–350, tituliert mit „La missione culturale e cristiana in Germania“; J OHANNES HELMRATH: Das Basler Konzil 1431–1449. Forschungsstand und Probleme (Kölner Historische Abhandlungen 32), Köln 1987, 166–174; DERS.: Die italienischen Humanisten und das Basler Konzil, in: H ANS-J OACHIM HOFFMANNNOWOTNY/ANNELIESE SENGER (Hg.): Vita Activa. Festschrift Johannes Zilkens, Köln 1987, 55–72; ALFRED A. STRNAD/KATHERINE W ALSH: Basel als Katalysator. Persönliche und geistige Kontakte der habsburgischen Erbländer im Umfeld des Konzils, in: P ETER RÜCK (Hg.): Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, Marburg 1991, 131–191, zu Enea Silvio 179–191; ALEXANDER P ATSCHOVSKY: Der italienische Humanismus auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) (Konstanzer Universitätsreden 198), Konstanz 1999; J OHANNES HELMRATH: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, hg. von LUDGER GRENZ-

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reichten die beiden Konzile auf Reichsboden gar aus, daß Deutschland kulturelle Parität mit Italien erreichte.12 Aber wie ist das nachweisbar? Wer nahm im Umfeld der Konzilien Humanistisches wahr und in welcher Form begegnete dieses? Statistisch kann man wohl einen kurzfristigen Anstieg der Handschriftenproduktion und -acquisition bemerken.13 Humanisten wie Poggio und Aurispa nutzten die Gelegenheit zu befreiender Entdeckungsjagd nach Handschriften (Stichwort ‚Plautus im Nonnenkloster‘),14 die dann freilich ihren Transfer nach Italien erlebten. Der sensible Hörer konnte auf dem Konzil bei einigen Italienern Aristien der neuen antikischen Oratorik erleben. Auch Enea durfte dreimal vor dem Basler Plenum sprechen und die ersten seiner vielen Reden halten, die nicht zuletzt ihn berühmt machen sollten.15 Aber derjenige, der etwa in Bischof Gerardo Landriani hymnisch einen Cicero in Bischofsmitra pries und, Ciceros ‚Pro Archia‘ zitierend, dessen Weihnachtspredigt wegen ihres stilus novus et MANN/KLAUS

GRUBMÜLLER u.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse 3/263), Göttingen 2004, 9–54; in diesem Band Nr. V. 12 FERNAND BRAUDEL: Modell Italien. 1450–1650, Stuttgart 1991, 44–51. 13 UWE NEDDERMEYER: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte, 2 Bde. (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München 61), Wiesbaden 1999, hier Bd. 1, 280–282; Bd. 2, 654 f. Diagramm 36 a–d. 14 Treffendes sowohl über das Konzil wie über die Selbststilisierung der Handschriftenentdecker im Brief Guarinos an Francesco Pizolpasso in Basel [aus Ferrara ca. 1432 – 1434] Mai 27: Cum ex diverso mundi tractibus istic Basilee tot nobilissimorum doctissimorum ac sapientissimorum hominum synodus quidam quasi christianae reipublicae senatus cogeretur. Die Hoffnung auf Reform werde jedoch enttäuscht. Das einzig Gute daran: una quedam mitigat animos consolacio, quod vel unus fructus colligi valeat, quo Latinorum studiis et bonis artibus subveniatur. Nam in istis Germanie Gallieque latebris infinita quedam librorum copia iacet, superiorum etatum spolia Ytalie civitatibus, ut certis signis et testimoniis adducor, abacta, qui iam innocentes sunt damnati in vinculis rei capitalis, quos tua reliquorumque primatum diligencia et humanitas ex tenebris in lucem, ab exilio in patriam revocare possit. Ea res vobis gloriam et inopie iuventutis Ytalice remedia comparabit; zitiert nach AGOSTINO SOTTILI: Wege des Humanismus. Lateinischer Petrarchismus und deutsche Studentenschaften italienischer Renaissance-Universitäten, in: DENNIS H. GREEN/L.P. J OHNSON/DIETER W UTTKE (Hg.): From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in honour of Leonard Forster (Saecula Spiritalia 5), Baden-Baden 1982, 125–149, ebd. 136 f. (nach Tübingen UB Mc 137 fol. 285 rv), zur schwierigen Datierung 147 Anm. 95. 15 Texte: IOANNES DOMINICUS MANSI (Hg.): Pii II P.M. olim Aenae Sylvii Piccolominei Senensis orationes politicae et ecclesiasticae, Bd. 1. Lucca 1755, 5–34, 39–52 Nr. 1– 2; auch in: DERS.: Collectio Conciliorum amplissima, Bd. 30, 1094–1114, 1207B–1216B; J OHANNES HALLER (Hg.): Eine Rede des Enea Silvio von dem Concil zu Basel, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 3 (1900), 82–102; vgl. dazu VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 1), Bd. 1, 116–120, 224–228; HELMRATH: Humanisten (wie Anm. 11), 63 f.; DERS.: Locus concilii. Die Ortswahl für Generalkonzilien vom IV. Lateranum bis Trient (Mit einem Votum des Johannes de Segovia), in: Annuarium Historiae Conciliorum 27/28 (1995/96), 593–662, hier 632–635; DERS.: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption (wie Anm. 11), 38–43.

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inusitatus feierte, war ein ‘Insider’, Francesco Pizolpasso, damals Bischof von Pavia, und selbst Humanist.16 Über einem konziliaren ‘Humanistenkreis’ um Enea läßt sich außer ein paar Namen (Petrus de Noxeto, Giovanni Campisio, Scipione Mainenti, Cinzio Romano) wenig Genaues sagen. Wichtiger – gerade für Eneas Beziehungsnetz – war der von Erich Meuthen beobachtete informelle „‘deutsche’ Freundeskreis“ aus prominenten Konzilsteilnehmern,17 die sich über lange Zeit, oft nolens volens mit (Kirchen-)Fragen des Nordens und mit Reform beschäftigen mußten. Institutionen wie Konzil und Kurie – nie mehr war die römische Kurie deutschlandnäher als in diesen Jahrzehnten bis 1464 – bildeten dabei nur einen gewissen Rahmen. Zu diesem Personenkreis gehörten neben Enea selbst die Kardinäle Giuliano Cesarini, Domenico Capranica, Juan de Carvajal und Nikolaus von Kues, der als deutsche Brückenfigur zwischen Norden und Süden eine zu Enea Silvio komplementäre Rolle spielte. Nach Abbau der Konzilsbühne blieb Enea als Person gewissermaßen die nachhaltigste Diffusionsfolge des Konzils; er lebte mit Unterbrechungen 23 Jahre im Norden, der beste nichtdeutsche Deutschlandkenner seiner Zeit. Sein humanistisches Kompetenz- und Karrierefeld waren Kanzleien, wie bei den Bruni und Poggio auch. Kanzleien zählen zu den wichtigsten Kontakträumen der Diffusion und verdienten daher eine vergleichende Untersuchung.18 Zunächst diente Enea als Sekretär verschiedener Prälaten, als Scriptor des Konzils, schließlich 1440 als Sekretär beim Konzilspapst Felix V.19 Nach der päpstlichen Kanzlei fehlte nur mehr die kaiserliche. 16 J OHANNES HELMRATH: ,Non modo Cyceronianus, sed etiam Iheronymianus‘. Gherardo Landriani, Bischof von Lodi und Como, Humanist und Konzilsvater, in: FRANZ J. FELTEN/N IKOLAS J ASPERT/STEFANIE H AARLÄNDER (Hg.): Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag (Berliner Historische Studien 31 = Ordensstudien 13), Berlin 1999, 933–960, mit Handschriften-Verzeichnis der Reden. 17 Zum Basler ‘Humanistenkreis’: VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 1), Bd. 1, 212–224. Einige der Personen zählten zu den späteren Briefpartnern des Piccolomini. Zum deutschen Freundeskreis an der Kurie: ERICH MEUTHEN: Ein ‘deutscher’ Freundeskreis an der römischen Kurie, in: Annuarium Historiae Conciliorum 27/28 (1995/96), 487–542, zu Enea Silvio 498 f., 508–514. 18 Vgl. HELMRATH/MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie *), hier mit Hinweisen auf die Kanzleitätigkeit, die Beiträge zum französischen und englischen Humanismus (HERIBERT MÜLLER; SUSANNE SAYGIN), zu Paulus Aemilius (FRANCK COLLARD), Antonio Bonfini (LÁSZLÓ HAVAS) und Polydor Vergil (FRANK REXROTH). Vgl. auch Anm. 19. [M ARCELLO SIMONETTA: Rinascimento segreto: Il mondo del segretario da Petrarca a Machiavelli, Mailand 2004, zu Enea Silvio 65–93.] 19 J OSEPH DEPHOFF: Zum Urkunden- und Kanzleiwesen des Konzils von Basel. (Geschichtliche Darstellungen und Quellen 12), Hildesheim 1930, 81 f.; E LISA MONGIANO: La cancelleria di un antipapa. Il bollario di Felice V (Amedeo VIII di Savoia) (Deputazione subalpina di storia patria. Biblioteca subalpina 204), Turin 1988, 113–115, 206 f., 222.

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Wohl durch Vermittlung Silvester Pfliegers, des Bischofs von Chiemsee, und des kurzfristig als Kanzler amtierenden Trierer Erzbischofs Jacob von Sierck, für die seine Fama offenbar schon hinreichend prominent war, kam er Ende 1442 nach Österreich an den Hof des Habsburgers Friedrich III. (1440–1493). Vorausgegangen war zu Frankfurt am 27. Juli 1442 die Dichterkrönung.20 Bisher auf kaiserlichen Romzügen in Italien praktiziert, wurde sie vom neuen König hier auf der eigenen Krönungsreise im Binnenreich erstmals nördlich der Alpen vollzogen – in dem seit Petrarca üblichen Stil. Enea verhalf sie zu beträchtlichem Prestigegewinn und zu der Erlaubnis legendi, disputandi, interpretandi et componendi poemata ubique,21 was zugleich so etwas wie eine ‘Diffusionserlaubnis’ bedeutete. Obwohl die näheren Umstände der Koronation unklar sind, darf man darin einen ersten Ansatz politischer Indienstnahme des poeta laureatus sehen, wie er in der aetas maximilianea dann prägend wurde. Ob die Frankfurter Krönung bereits „zu dem Zweck“ diente, „den Renaissancehumanismus ... im Reich nördlich der Alpen zu etablieren“,22 bleibe offen.

II. Die neuen Rahmenbedingungen setzte der im wesentlichen zwischen den Zentren Wien, Wiener Neustadt und Graz ambulante Hof Friedrichs III., dessen Personal Paul Joachim Heinig breit erschlossen hat.23 Enea, einer 20 VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 1), Bd. 1, 268 f.; DIETER MERTENS: Bebelius... patriam Sueviam... restituit. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), 145–173, hier 154 f.; DERS.: Zur Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I., in: RAINER CHRISTOPH SCHWINGES (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten im Reich des 14. bis 16. Jahrhunderts (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 18), Berlin 1996, 327–348, hier 329 f.; [ALBERT SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien. Neue Folge 4), Köln/Weimar/Wien 2003.] 21 Zit. nach dem Abdruck in: Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP II Carmina, hg. von ADRIANUS VAN HECK (Studi e testi 16), Vatikanstadt 1994, 216 (nach J OSEPH CHMEL: Regesta chronologico-diplomatica Friderici IV, Wien 1838 [Reprint 1962], Anhang XXIX Nr. 17). Als Formular diente die Urkunde Petrarcas von 1341 beziehungsweise das von Kaiser Siegmund zuletzt für Antonio Beccadelli Panormita 1432 verwendete Formular; MERTENS: Bebelius (wie Anm. 20), 154 Anm. 28. Bisher sind mir 9 Handschriften der Erhebungsurkunde bekannt. Weitere Drucke der Urkunde: VALENTIN F. GUDEN: Sylloge I variorum diplomatariorum, Frankfurt 1728, 679–81 Nr. XXXVIII; GUIDO KISCH: Enea Silvio und die Jurisprudenz, Basel 1967, 110–112. 22 MERTENS: Sozialgeschichte (wie Anm. 20), 329. 23 P AUL-J OACHIM HEINIG: Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik, 3 Bde. (Beihefte zu J.F. Böhmer. Regesta Imperii 17), Köln/Wien 1997, zu Enea

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der unter Friedrich III. am Hof selten gewordenen Italiener,24 machte dort als Protégé eine Aufstiegskarriere, die in enger Relation zur leitenden Frage nach den Bedingungen von Diffusion des Humanismus zu sehen ist.25 Hier die Karrierestufen des poeta laureatus und Klerikers in zeitlicher Folge:26 a) Sekretär an der römischen Kanzlei 1443; b) Protonotar; c) Rat 1450; d) Beisitzer am Kammergericht 1450–54. Parallel dazu geht die geistlich-kuriale Karriere weiter:27 1446 wird er Priester, Teil jener Lebenswende, die aus amores mores machte; am 8. Juli 1446 päpstlicher Sekretär;28 1447 Bischof von Triest; 1450, dank königlicher Fürsprache, Bischof von Siena, wobei die Lage der Bischofssitze die deutsch-italienische Brückenfunktion geradezu unterstreicht; 1451 päpstlicher Legat für Österreich und Böhmen. Dies war zusammengenommen nicht wenig für einen Ausländer, der außer ein wenig Jura nichts gelernt hatte als gut und schön lateinisch zu reden und zu schreiben. Bald wurde der Italiener für besondere diplomatische Missionen eingesetzt, für die Abwicklung des Basler Konzils und die Versöhnung mit

Silvio Bd. 1, 296–299; Bd. 2, 527–533, 737–740 und passim. Zu gelegentlicher Ergänzung: P HILIPP KREJS: Aeneas Silvius Piccolomini am Hofe Friedrichs III. und die Anfänge des österreichischen Humanismus, Phil. Diss. (masch.), Wien 1937; THEA BUYKEN: Enea Silvio Piccolomini. Sein Leben und Werden bis zum Episkopat, Bonn/ Köln 1931, 42–54. 24 GISELA B EINHOFF: Die Italiener am Hof Kaiser Sigmunds, 1410–1437 (Europäische Hochschulschriften 3/620), Frankfurt am Main u.a. 1995. Italiener unter Friedrich III.: HEINIG (wie Anm. 23), Bd. 1, 530–538, Bd. 3, 1416. Der einzig prominente war zur damaligen Zeit der Mag. art. und Dr. med. Giovanni Jacopo del Castelbarco (Castro Romano), der Leibarzt der Kaiserin [vgl. zu ihm ENEA S ILVIO: ,Pentalogus‘ 1443, in: LORENZ WEINRICH (Hg.): Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter (Freiherr vom Stein-Gedächtnis-Ausgabe 39), Darmstadt 2001, 272 f.]; sonst handelt es sich nur um Titularräte, die auf Italienreisen ernannt wurden. 25 Hauptförderer war zunächst der Kanzler Kaspar Schlick († 1449): P ETER SCHMID: in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 9 (1995), 277–280; HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 2, 638–648; Bd. 3, 1757 s.v. Zum Verhältnis Schlick-Enea Silvio auch B UYKEN: Enea Silvio (wie Anm. 23), 42–54. 26 Siehe jeweils die Belege bei HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 3, zu a) 1425; zu b) 1424; zu c) 1398, 1420 (rund 400 Räte sind aus Friedrichs endloser Regierungszeit namhaft zu machen, meist nicht kanzleigebundene Räte oder Titularräte); zu d) 1445. 27 Die Pfründenkarriere ist hier nicht zu thematisieren. Enea war in den Erwerb von 37 Pfründen verwickelt, die meisten im Norden gelegen, hat aber mindestens 22 von ihnen gar nicht erlangt. Siehe D IETER BROSIUS: Die Pfründen des Enea Silvio Piccolomini, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 54 (1974), 271–327. 28 W ALTHER VON HOFMANN: Forschungen zur Geschichte der kurialen Behörden vom Schisma bis zur Reformation (Bibliothek des Kgl. Preussischen Historischen Instituts in Rom 12–13), 2 Bde., Rom 1914 (Reprint 1971), hier Bd. 2, 112.

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der Kurie,29 überhaupt für Italiensachen. Enea war es, der 1451/52 den Romzug und die Hochzeit Friedrichs III. mit Eleonore von Portugal vorbereitete. Er vertrat den Kaiser auf Reichsversammlungen (1444, 1446, 1454/55), wuchs immer mehr zum führenden ‘Außenpolitiker’ heran. Diese politische Stellung am höchsten Hof des Gastlandes muß man mit der im Folgenden zu erörternden literarischen Position verbunden sehen, einer Position, wie sie vergleichbar von allen Exilhumanisten nur ein Philippus Callimachus (Buonacorsi) in Polen erreichen sollte. Die jüngere Forschung sieht den Hof erstens als Medium königlichkaiserlicher Selbstdarstellung, zweitens als höchste Gerichts- und Legitimationsinstanz, drittens als Sozialverband und viertens als Kommunikations- und Nachrichtenzentrum an.30 Unter Friedrich III. kam es zur Bildung eines engeren Rats, der täglich mit dem Kaiser tagte,31 eines Zirkels aus zum Teil indigenem steirischen Adel, personifiziert in den „drei Wetterherren“ (so der Nürnberger Hans Pirckheimer), die unter anderem – angeblich launisch wie das Wetter – für Hofbesucher den Zugang zum Kaiser regelten: den österreichischen Kanzler Bischof Ulrich Sonnenberger, gebürtig im schwäbischen Öhringen, den steirischen Kammermeister Johann Ungnad sowie den Rat und Jurist bei Hofe Dr. Ulrich Riederer.32 Musenhof hingegen war der Hof unter dem austeren Habsburger Friedrich III. (1440– 1493) zu keiner Zeit, im Gegenteil. Berichte schildern ihn in seiner Außendarstellung als kärglich: „la più trista corte“, befand der Mailänder Gesandte Sceva da Curte 1452 und hielt den Lebensstil des Kaisers für „la più povera d’un tanto Sire“.33 Man wird daher Eneas eigene Hofsatire von 1444, den handschriftlich und im Frühdruck (zuerst Rom 1473) europaweit, auch in Übersetzungen, verbreiteten Brieftraktat ‚De curialium miseriis‘ nicht als rein literarische Karikatur betrachten dürfen.34

29 VOIGT: Enea Silvio (wie Anm.1), Bd. 1, 324–430; B UYKEN: Enea Silvio (wie Anm. 23), 55–76. 30 KARL F. KRIEGER: Der Hof Friedrichs III. – von außen gesehen, in: PETER MORAW (Hg.): Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter (Vorträge und Forschungen 48), Stuttgart 2002, 163–190, hier 167. 31 HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 1, 152 f., 161 f. 32 KRIEGER: Hof Friedrichs III. (wie Anm. 30), 180 f., 185 f. mit zahlreichen neuen Details. 33 CARLO A. V IANELLO: Gli Sforza e l’Impero, in: Atti e memorie del primo congresso storico lombardo, Mailand 1937, 193–269, hier 228; zitiert nach: KRIEGER: Hof Friedrichs III. (wie Anm. 30), 168. 34 Als Brief an Johann von Eych 1444 November 30, in: W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 453–487 Nr. 166. Seine Hauptvorlagen: Petrus von Blois’ 14. Epistula und Poggio Bracciolini: ,De infelicitate principum‘. Dazu BERTHE W IDMER: Zur Arbeitsmethode Enea Silvios im Traktat über das Elend der Hofleute, in: GUY CAMBIER (Hg.): Lettres latines du Moyen Age et de la Renaissance (Collection Latomus 158), Brüssel 1978, 183–206.

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Vom Herrscher ging damals weder persönliches Interesse oder gestaltendes Mäzenatentum aus35 noch eine spätere höfische Indienstnahme von Humanisten (mit Ausnahme vielleicht der Dichterkrönung von 1442) für Zeremoniell, dynastische Pflege der Memoria oder politische Propaganda, wie sie dann unter Maximilian üblich wurde.36 Humanismusferne darf offenbar auch für die (mit dem Hof wenig interaktiven) städtischen Eliten von Wien, Wiener Neustadt und Graz konstatiert werden, sowie anfangs vor der Ankunft Eneas noch cum grano salis für das Bildungsumfeld beziehungsweise die bildungsträchtigen Zentren, insbesondere Stifte und Klöster. Humanismusferne bedeutet aber nicht Bildungsferne! Schon die ältere Forschung wies auf die Bedeutung der Bibliotheken hin, sozusagen als lokaler Infrastruktur eines potentiellen Kulturaustauschs, deren sich die Humanisten dann als Nehmende bedienten. Im Falle Österreichs und des Enea Silvio werden vor allem das Stift Klosterneuburg,37 die Klöster Heiligenkreuz,38 Melk, Göttweig, Kremsmünster, das Wiener Schottenkloster etc. genannt. Am Rande des Lehrbetriebs der florierenden, üblicherweise ‘scholastisch’ geprägten Universität Wien fanden immerhin seit 1451 Vorlesungen über antike Klassiker (durch Peuerbach, Traversagni, Mendel) statt.39 Enea selbst redete 1444/45 lediglich zweimal vor der Universi35 Musam ... scrinia regis ... delitescere, quia non sapit hec seges nec scit toga barbara versus, schrieb, selbst mit einem Hexameter endend, Enea 1443 November 15 dem Grafen Galeazzo von Arco, dessen Bruder Francesco dem König Gedichte geschickt hatte; W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 218 Nr. 96. 36 Für das Folgende wichtig die beiden (sich teils überschneidenden) Arbeiten von ALFRED A. STRNAD, der sich zu Recht um eine gewisse Relativierung der ‘Apostel’Stellung des Enea Silvio bemüht und die Breite renaissancehafter Ansätze auch ohne, neben und nach Enea bis in das 16. Jahrhundert heraushebt: a) ALFRED A. STRNAD: Die Rezeption der italienischen Renaissance in den österreichischen Erblanden der Habsburger, in: GEORG KAUFFMANN (Hg.): Die Renaissance im Blick der Nationen Europas (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung 9), Wiesbaden 1991, 135–226, zu Enea Silvio hier 144–154; b) DERS.: Rezeption (wie Anm. 5), 71–135, zu Enea Silvio und dem Kreis seiner Anhänger hier 76, 80–102. Ferner S TRNAD/ W ALSH: Basel (wie Anm. 11), zu Enea Silvio 179–191. 37 Dort tätig Johannes Swarcz († 1453) und Wolfgang Winthager († 1467); vgl. STRNAD: Rezeption (wie Anm. 36), 145. 38 Vgl. Eneas Lob auf dessen Bibliothek und die Annehmlichkeiten des monastischen gegenüber dem höfischen Leben im Brief an den Abt Johann von Abzehn; W OLKAN II (wie Anm. 1), 78 f. Nr. 24. Zu den Bibliotheken und ihrer Bedeutung für Enea Silvio auch ALFRED A. STRNAD: Studia piccolominea. Vorarbeiten zu einer Geschichte der Bibliothek der Päpste Pius II. und III., in: M AFFEI (Hg.): Enea Silvio Piccolomini (wie Anm. 1), 295–390, hier 309–311. 39 Seit 1452 lehrte etwa der Franziskaner Francesco Traversagni von Savona (1425– 1503) lateinische Klassiker. Strnad stilisiert ihn zum zweiten „Apostel“ des Humanismus neben Enea Silvio [STRNAD: Rezeption (wie Anm. 36), 144–146]. Von 1455 bis 1458 hielt Johannes Mendel (Mandl; † 1484), wie Johannes Tröster aus Amberg stammend, seit 1458 Kanzler der Bischöfe von Eichstätt, an der Wiener Universität Vorlesungen

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tät, bei einer Eröffnungsfeier der Juristen und auf einem quodlibet in Anwesenheit des Hofs mit einer Werbung für die Dichtkunst als neuer „Zentralwissenschaft“;40 sein Verhältnis zur Universität blieb aber antischolastisch distanziert. Doch muß die Analyse des Hofs als Diffusionszentrum zuerst den Personen gelten. Die bei Hofe tätigen und, von einem kleinen Personalkern abgesehen, häufig fluktuierenden Funktionseliten rekrutierten sich aus diversen Regionen Südwestdeutschlands, Hessens, Böhmens und der Erblande, wohin sie Kontakte öffnen konnten, und waren zumeist bürgerlicher oder niederadliger Herkunft. Diesen Personenkreis und die von ihm getragenen Institutionen (römische und erbländische Kanzlei,41 Rat, Kammergericht) darf man bei Eneas Ankunft als neutral, ohne kollektiven, am Hof selbst identitätsstiftenden Bildungscode – und insofern als humanismusoffen bezeichnen. Der Italiener Enea war dort zwar eine Ausnahmeerscheinung,42 aber keineswegs selbstverständlicher Mittelpunkt eines Kreises von über Cicero‚ Cato maior, Terenz und Lucan. Auch er gilt als „eine Figur des süddeutschen Frühhumanismus“; F RANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Mendel, Johannes, in: Verfasserlexikon 6 (1987), 386 f., Zitat 386; STRNAD: Rezeption (wie Anm. 36), 155. 40 Druck der – bisher unterschätzten – Reden bereits Köln [Dictys-Drucker] 1470; siehe dazu ERNST VOULLIÈME: Der Kölner Buchdruck bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 24), Bonn 1903 [Reprint Düsseldorf 1978], 964; die Reden gedruckt auch bei ALPHONS LHOTSKY: Die Wiener Artistenfakultät 1365–1497 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historisch Klasse 247/2), Wien 1965, 263–273. Zum Text: HANS RUPPRICH (Hg.): Die Frühzeit des Humanismus und der Renaissance in Deutschland (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Humanismus und Renaissance 1), Leipzig 1938, 26 f. (Zitat); ähnlich CRAMER: Geschichte (wie Anm. 1), 31: die Poesie als „krönender Überbau, eine Art ästhetisch-philosophisch-historische Zentralwissenschaft.“ ALFRED A. STRNAD: Francesco TodeschiniPiccolomini. Politik und Mäzenatentum im Quattrocento, in: Römische Historische Mitteilungen 8/9 (1964/65) und (1965/66), 101–425, hier 122–124; DERS.: Rezeption (wie Anm. 5), 81 f. (Literatur); der Text läßt sich freilich nicht nur „zweimal“, sondern bisher nicht weniger als 19 mal handschriftlich nachweisen. [Jetzt weiterführend und die bisher behauptete Distanz Eneas zur Wiener Universität relativierend M ARTIN W AGENDORFER : Eneas Silvius Piccolomini und die Wiener Universität – ein Beitrag zum Frühhumanismus in Österreich, in: Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance– und Humanismusforschung 22 (2008), 21–52. Vgl. auch unten Anm. 129.] 41 Sed habet cesar duas cancellarias, imperialem et Australem; qui Australem regunt, ad unum omnes mihi benivoli sunt, ibi ego omnia expedio. Illic est magister Johannes Inderbachius, decretorum doctor, singulari benivolentia mihi conjunctus; W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 257 Nr.138. Zur prosopographischen Analyse des Hofpersonals HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), passim. 42 P AUL J OACHIMSOHN: Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland, Heft 1: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin, in: PAUL J OACHIMSEN: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken, hg. von NOTKER HAMMERSTEIN, Aalen 1983, Bd. 2, 121–461, hier 145: „glänzende(s) Gestirn“.

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Adepten. Hier stellen sich zahlreiche Fragen: Wie formieren sich Adepten, Gruppen in der Gruppe? Wie lassen sich Disposition, Aufgeschlossenheit, Bildungsinteresse, Bedarf bei potentiellen Rezipienten definieren, beziehungsweise motivieren? Seit wann konnte jemand – sieht man von Enea selbst ab – mit Humanismus etwas werden? Seit wann gab es für Karrieren oder Sozialprestige förderliche oder gar geforderte literarische Standards? Weitere Probleme stellen die Gruppen, ihre inneren und äußeren Kohärenzkräfte, die Rolle einer Leitfigur, gemeinsame Attitüden, Rituale, Arten der Kontaktpflege etc. dar. Die in diesem Nahraum ablaufenden Kontakte und „informellen Austauschprozesse“ sind, zumal wenn sie in mündlicher Form erfolgten, natürlich kaum zu rekonstruieren.43 Weder Freundschaft noch dienstlicher Umgang mußte unter den Beteiligten auch humanistische Gleichgesinntheit erzeugen. Von einem sichtbar und im Habitus abgrenzbar sozialisierten ‘Humanistenkreis’ am königlichen Hof, etwa im Stil der späteren Sodalitäten, wird man daher auch, nachdem Enea hier etabliert war, kaum sprechen können. Es gab einzelne Adepten in einem dienstlich vorgeprägten Gruppenambiente, die dann den Briefkontakt pflegten, wenn sie nicht zusammen bei Hofe weilten, und es gab Briefkontakte durch Interessierte von außen, die nicht selbst zum Hof gehörten, aber den Kreis virtuell erweiterten.

III. Eine hier eigentlich gebotene prosopographische Rekonstruktion des Personen-Netzwerkes würde nicht nur den gegebenen Rahmen sprengen, sondern auch viel Bekanntes wiederholen. Mehrere materialreiche Studien,44 43 Vgl. PETER B URKE: Die europäische Renaissance (Europa bauen), München 1998, 25. Vgl. unter dem Gesichtspunkt der Gruppensozialisation: CHRISTINE TREML: Humanistische Gemeinschaftsbildung. Sozio-kulturelle Untersuchung zur Entstehung eines neuen Gelehrtenstandes in der frühen Neuzeit. (Historische Texte und Studien 12), Hildesheim/Zürich/New York 1989, bes. 17–20. [Jetzt HARALD MÜLLER: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation. Neue Folge 32), Tübingen 2006.] 44 R ICHARD NEWALD: Beiträge zur Geschichte des Humanismus in Oberösterreich, in: Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereins 81 (1926), 153–223; wichtig KARL GROßMANN: Die Frühzeit des Humanismus in Wien bis zu Celtis’ Berufung 1497, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 22 (1929), 150–325, zu Enea Silvio 186–221; RUPPRICH (Hg.): Frühzeit (wie Anm. 40), bes. 25–32 über Enea Silvios „weitverzweigte Werbetätigkeit in Reden und Schriften“ (26); P AUL B ÄNZIGER: Beiträge zur Geschichte der Spätscholastik und des Frühhumanismus in der Schweiz (Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft. Neue Folge 4), Zürich 1945; ALPHONS LHOTSKY: Aeneas Silvius und Österreich (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel 5), Basel 1965; wieder in: DERS.: Aufsätze und Vorträge, Wien/München 1972, Bd. 3, 26–71; STRNAD: Rezeption (wie Anm. 5 und 36). Siehe auch Anm. 14. Ferner W ILLHELM

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denen auch dieser Beitrag verpflichtet ist, widmeten sich dem frühen Renaissance-Humanismus in Österreich und der Rolle des Enea Silvio. Es gilt daher, sich auf einige Schlüsselfiguren,45 vor allem aber auf charakteristische ‘Diffusionsleistungen’ des Enea und ihre Problematik zu konzentrieren, die in der älteren Literatur nur angedeutet wurden. Michael Rentz von Pfullendorf aus Rottweil († 1451 in Siena mit 26 Jahren)46 war seit 1442 Kanzleisekretär und darf als einer der frühesten humanismusbegeisterten Deutschen gelten. Mit ihm sah sich Enea, der ihn als alter ego bezeichnete, als wohl einzigem in einer persönlichen Freundschaft verbunden, die über humanistischen Kult der amicitia hinausging. Pfullendorf vermittelte Enea – oder vice versa – Kontakt zu den Südwestdeutschen Jakob von Waldenburg in Zürich und Niklas Wyle in Esslingen, erzählte ihm von der Bibliothek des Grafen von Lupfen.47 Sein Brief an Jakob von Waldenburg von 1445 gehört zu den frühesten Zeugnissen humanistischer Korrespondenz in Deutschland.48 – Der Protonotar Dr. Ulrich Riederer, Chefjurist bei Hofe, dem Enea am 9. Juli 1454 ein kurzes Schreiben über den idealen Rat bei Hofe schickte,49 hat ebenso wenig etwas Literarisches produziert wie der Sekretär Wolfgang Forchtenauer, der 1453 an den Hof kam. Johannes Tröster hingegen, Dr. decr. aus Amberg, Domherr B AUM: Frühe Wanderhumanisten und gelehrte Räte an süddeutschen Fürstenhöfen, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 7 (1992/93), 379–403; DERS.: Enea Silvio Piccolomini und Österreich, in: DERS. u.a. (Hg.): Konziliarismus und Humanismus. Kirchliche Demokratisierungsbestrebungen im spätmittelalterlichen Österreich, Wien 1996, 69–111. 45 Literatur zu den Einzelpersonen folgt nur in Auswahl; grundsätzlich sei auf die einschlägigen Artikel des Verfasserlexikons, auf HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), sowie die in Anm. 3, 5, 36 und 44 genannten Arbeiten, insbesondere diejenigen von STRNAD verwiesen. 46 P AUL J OACHIMSEN: Frühhumanismus in Schwaben, in: DERS.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken, hg. von N OTKER HAMMERSTEIN, Aalen 1970, Bd. 1, 149–247; KREJS: Aeneas Silvius (wie Anm. 23), 142–147; B ÄNZIGER: Beiträge (wie Anm. 44), 21, 68, 73–75; HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 1, 740–742. [Jetzt auch C LAUDIA VILLA: ‘Immo alter ego’: Michele di Pfullendorf ed Enea Silvio Piccolomini, in: Enea Silvio Piccolomini: Uomo di lettere e mediatore di culture. Gelehrter und Vermittler der Kulturen. Atti del Convegno Internaz. di Studi Basilea, 21.–23. aprile 2005, hg. v. MARIA A. TERZOLI, Basel 2006, 239–252.] 47 Siehe unten bei Anm. 86. 48 1445 Januar 10; in: B ÄNZIGER: Beiträge (wie Anm. 44), 127–129; zu Waldenburg ebd. 81–85. 49 W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 296 f. Nr. 209; dazu CHRISTINE REINLE: Ulrich Riederer (ca. 1406–1462): Gelehrter Rat im Dienste Kaiser Friedrichs III. (Mannheimer Historische Forschungen 2), Mannheim 1993, hier 492–496 berechtigterweise skeptisch: „mit humanistischer Bildung hat dies nichts zu tun“ (495). „Aus allem ergibt sich, daß man kaum ein aktiv dilettierendes, sondern allenfalls ein rezeptives Interesse Riederers am Humanismus annehmen darf“ (496).

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von Regensburg, bis 1453 am Hof, wurde mit dem Dialog ‚De remedio amoris‘ selbst literarisch tätig und gilt als „der erste eigentliche Schüler“ (Großmann) des Enea Silvio.50 – Kein Humanist hingegen war Nikolaus Kreul aus Wartenberg in Schlesien († 1461), obwohl er Piccolomini und dessen Familie als Kaplan und Familiare nahestand und später selbst in Italien weilte. 1451 wurde er Erzieher von Eneas Neffen Francesco Todeschini-Piccolomini. Für zwei Jahre holte er den Vierzehnjährigen zu sich nach Wien, ließ ihn Deutsch lernen und – als seltenes Exemplar eines italienischen Studenten – die Wiener Universität besuchen, bevor er 1453 mit seinem Schützling nach Ferrara ging.51 – Ludwig Rad aus Vorarlberg († 1492), Sohn des freien kaiserlichen Landrichters Hans Rad von Rankweil, wirkte zwischen 1451 und 1458 an der kaiserlichen Kanzlei.52 Als Pfarrer in Feldkirch, Kanoniker in Chur, Zürich und Rheinfelden dürfte er erheblich dazu beigetragen haben, Eneas Ruf im Südwesten Deutschlands zu verbreiten. – Zum Nachahmer seines Kanzleikollegen wurde der eingangs schon aufgetretene Johannes Hinderbach aus Hessen, Dr. decr., seit 1465 Bischof von Trient. So verfaßte er einen Erziehungstraktat für Maximilian und sammelte, offenbar in Anlehnung an Enea Silvios ‚Historia Australis‘, Material zu einer Geschichte der habsburgischen Erblande.53 Wichtig für Eneas Außenkontakte waren Niklas Wyle, der Esslinger Stadtschreiber, der eifrig mit ihm korrespondierte und ihm 1453/54 sogar 50 FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Tröster, Johannes, in: Verfasserlexikon 9 (1995), 1078–1083; GROßMANN: Frühzeit (wie Anm. 44), 210–214, Zitat 212; STRNAD: Rezeption (wie Anm. 5), 98 (Literatur). Zur Korrespondenz um den Dialog ‚De remedio amoris‘ siehe unten bei Anm. 96 ff. 51 STRNAD: Todeschini (wie Anm. 40), 120–127; DERS.: Der Mann, der einen späteren Papst die deutsche Sprache lehrte. Aus dem Leben des schlesischen Dekretisten Nikolaus Kreul von Wartenberg, in: W INFRIED IRGANG/HUBERT UNVERRICHT (Hg.): Opuscula Silesiaca. Festschrift für Josef Joachim Menzel zum 65. Geburtstag (Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 38/39 [1997/98]), Stuttgart 1998, 255 –288. 52 B ÄNZIGER: Beiträge (wie Anm. 44), 81–85; LUDWIG W ELTI: Auf den Spuren des vorarlbergischen Frühhumanismus (zu Alphons Lhothskys Aeneas Silvius und Österreich), in: Montfort 18 (1966), 436–453; KARL H. B URMEISTER: Der Vorarlberger Humanist Ludwig Rad (1420–1492), in: Innsbrucker historische Studien 5 (1982), 7–26 (Literatur), zum Kanzleidienst 13–15, ältester Beleg: Brief des Enea Silvio an Niklas Wyle (ca. Juni 1452, ältere Fassung) in: WOLKAN III 1 (wie Anm. 1), 99 Nr. 47 Anm. a. 53 STRNAD: Rezeption (wie Anm. 36), 153 f. (Zitat); DERS.: Art. Hinderbach, Johannes, in: Verfasserlexikon 4 (1983), 41–44; GEORG KREUZER: in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 3 (1992), 392–394; Zentral STRNAD: Obödienzansprache (wie Anm. 3); DERS.: Hinderbach (wie Anm. 3), materialreichst ältere Urteile korrigierend, über Familie und Karriere, über die zeitweise durchaus ambivalenten Beziehungen zu Enea Silvio/Pius II.: 381–385, 407–411; für Strnad war Hinderbach „in der Tat kein Humanist (humanista) im Sinne der aus dem oberitalienischen Universitätsmilieu stammenden Wortprägung für den berufsmäßigen Lehrer der ‘studia humanitatis’“ (382 f.).

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ein eigenes Gemälde mit dem Hl. Christophorus schickte,54 ferner der Sekretär der Stadt Prag, Johann Tuschek aus Patzow,55 die Brüder von Rabenstein, Prokop († 1457) und Johann († 1473), jener Kanzler des böhmischen Königs, dieser Propst von Wysegrad und Kanzler,56 sowie schließlich Wenzel von Bochow († 1460), der bis 1453 an der königlichen Kanzlei wirkte und dann Dekan von Prag wurde.57 Die meisten, ja fast alle der genannten Männer, die brieflich oder persönlich bei Hofe Eneas Kontakt suchten, hatten wie zahlreiche andere Deutsche in Italien studiert oder sich zumindest länger dort aufgehalten. Das gilt zum Beispiel für Johannes Hinderbach (Jurastudium 1441–1447 in Padua; Doktorat erst 1452 in Gegenwart des Kaisers58), das gilt für Nikolaus Kreul, der, offensichtlich durch Enea angeregt, zwischen 1453 und 1457 nach Italien ging und in Bologna Jura studierte.59 Das gilt im hohen Maß für Johannes Roth,60 den späteren Bischof von Breslau und Doyen des 54 B ÄNZIGER: Beiträge (wie Anm. 44), 65–67; FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Wyle, Niklas, in: Verfasserlexikon 6 (1987), 1016–1035; RUDOLF W OLKAN: Neue Briefe von und an Niklas Wyle, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 39 (1914), 524–548; HEINRICH B UTZ: Niklaus von Wile. Zu den Anfängen des Humanismus in Deutschland und in der Schweiz, in: Jahrbuch für Geschichte der oberdeutschen Reichsstädte, Esslinger Studien 16 (1970), 21–105, ebd. 77–81 über Enea Silvio als Lehrer und Vorbild; J OACHIMSEN: Frühhumanismus (wie Anm. 46), 258 f. (Nr. 4). 55 Enea Silvio an Tuschek 1444 Mai 1: Notum in Bohemiam Eneam non invitus audio; in: W OLKAN I 1 (wie Anm.1), 317 Nr. 316 STRNAD: Rezeption (wie Anm. 5), 86 mit Anm. 50. 56 FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Rabenstein, Johann von, in: Verfasserlexikon 4 (1983), 712–715; HANS-J OSEF O LSZEWSKY: in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 3 (1992), 534–538; STRNAD: Rezeption (wie Anm. 5), 84–86 (Literatur); HEINRICH W ALTZER : Beziehungen des böhmischen Humanisten Johann von Rabenstein zu Bayern, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 24 (1903), 630–645. Vermutete Kontinuitäten zum Prager ‘Frühhumanismus’ unter Karl IV. sind schwer zu belegen. Rabensteins ‚Dialogus‘, 1469, fünfzehn Jahre nach demjenigen Trösters entstanden, gilt als „das erste Werk des Humanismus in Böhmen“; H ANS-B ERND HARDER: Zentren des Humanismus in Böhmen und Mähren, in: DERS./HANS ROTHE (Hg.): Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern (Schriften des Kommittees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der slawischen Studien 11), Köln/Wien 1988, 21–39, hier 24. 57 Siehe unten Anm. 76. 58 STRNAD: Hinderbach (wie Anm. 3), 403–406. Zu den von Enea unabhängigen Italienkontakten bayerischer und Wiener Kreise auch MÄRTL: Liberalitas baioarica (wie Anm. 1), 246f .; erwägt zurecht neben dem „deutschen Freundeskreis“ an der Kurie (MEUTHEN: Freundeskreis [wie Anm. 17]) auch von einem „italienischen Freundeskreis am Hof Friedrichs III.“ zu sprechen. 59 STRNAD: Kreul (wie Anm. 51), 269–271. 60 FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Roth, Johannes, in: Verfasserlexikon 8 (1993), 269–275; HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 1, 473 f.; ZIPPEL: Inizi (wie Anm. 11), 384–389; zuletzt, mit wichtigen Bemerkungen zur Humanismusadaptation in Deutschland und bei Deutschen in Italien: AGOSTINO SOTTILI: La formazione umanistica di Johannes Roth, vescovo principe di Breslavia, in: SANTE GRACCHIOTTI (Hg.): Italia e

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Humanismus in Schlesien. Er studierte von etwa 1445 bis 1456 in Padua und Bologna, hörte in Rom neben seinem Kuriendienst bei keinem Geringeren als Lorenzo Valla und kam erst 1456, also nach Eneas Weggang, an die königliche Kanzlei. Von Italien aus, ganz unabhängig von einem „Apostel“ in Deutschland, pflegte er Kontakte nach Norden – zu Johannes Tröster, Ludwig Rad, Albrecht von Eyb und eben zu Enea selbst.61 Auch Johannes Tröster hielt sich zwischen 1452 und 1479 – wohl ohne Studium, aber zumindest regelmäßig auf Reisen und zum Zweck von Handschriftenkäufen – in Italien auf. Nur Niklas Wyle scheint als einziger prominenter deutscher Frühhumanist weder in Italien studiert zu haben noch, mit Ausnahme eines Auftritts 1459 auf dem Kongreß von Mantua, viel gereist zu sein. Hinsichtlich der Erfahrungen der deutschen Zeitgenossen mit dem Humanismus wird man also von einem Kumulationseffekt sprechen dürfen, den Mentorfiguren wie Enea Silvio in der Heimat einerseits, das Auslandsstudium in Italien andererseits bewirkten. Wie freilich schon Sottili herausstellte, gilt es dabei wenigstens vier Punkte zu beachten: Erstens wurde nicht jeder Italienstudent Humanist. Zweitens war die Erfahrung des Humanismus (also die seiner Texte, seiner Rede- und Freundschaftskultur, seines Lebensstils) in der Regel nur eine sekundäre während des Studiums von Jura oder Medizin, auf Gesandtschaften etc. Drittens war damals in Italien beileibe nicht jeder Bildungsbereich humanistisch, und viertens erhielten nur wenige als Schüler berühmter, genuin humanistischer Lehrer wie Guarino Guarini, Vittorino da Feltre oder Lorenzo Valla tatsächlich die höheren Weihen in den Humaniora: Johannes Roth immerhin, auch der Ungar Janus Pannonius, der Franzose Jean Jouffroy, die Engländer William Grey und John Flee.

Boemia nella cronica del Rinascimento europeo, Firenze 1999, 211–226; DERS.: Der Bericht des Johannes Roth über die Kaiserkrönung von Friedrich III., in: STEPHAN FÜSSEL/ KLAUS A. VOGEL (Hg.): Deutsche Handwerker, Künstler und Gelehrte im Rom der Renaissance = Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 15/16 (2000/01), 46–100, Edition: 68–99. Für die Beurteilung des deutschen Frühhumanismus zentral der Briefwechsel des Johannes Roth mit Gregor Heimburg, etwa Roth an Heimburg 1453 Dezember 20; Edition in: SOTTILI: L’università italiana e la diffusione dell’umanesimo nei paesi tedeschi, in: Humanistica Lovaniensia 20 (1971), 5–19, hier 17–19; wieder in: DERS.: Università (wie Anm. 14), 81*–97*, hier 93*–95*. 61 „Roth e il rappresentante del primo Umanesimo tedesco, che a avuto i rapporti più cospicui col mondo umanistico italiano“; SOTTILI: Formazione (wie Anm. 60), 220. Daß man Roth nach König Ladislaus’ Tod († 1457) zurück nach Italien gehen ließ, wertet SOTTILI als Indiz für noch fehlenden Bedarf an humanistisch Gebildeten im Hofdienst; ebd. 219.

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IV. Im Folgenden sollen sechs literarische Aktionskomplexe angesprochen werden, in denen Humanisten, so auch Enea Silvio, charakteristisch zu wirken pflegten. Zumindest einige von ihnen versetzen in die Lage, die ‘diffusive’ Wirkung des Enea Silvio unmittelbar, gleichsam als mikrohistorischen Prozeß prüfend unter die Lupe zu nehmen. Der in der Summe anonyme Gesamtprozeß der Diffusion setzt sich eben aus zahlreichen einzelnen personellen Transferleistungen unterschiedlicher Form und Intensität zusammen. Enea, die zunächst gebende Seite des Vorgangs, wird im Folgenden untersucht: 1. als Briefschreiber, 2. als Redner, (3.) als Handschriftenjäger und Editor, 4. als Prinzenerzieher, 5. als Lehrer und arbiter des Lateinischen, 6. als Förderer der humanistischen Schrift und 7. – als Deutschsprecher. 1. Der Briefschreiber und sein Medium, der umfangreichste Komplex: Zuerst die Kanzleikorrespondenz: Enea formulierte einen Großteil des politischen, vor allem des internationalen Briefwechsels König (beziehungsweise Kaiser) Friedrichs und von dessen Kanzler Kaspar Schlick. Allein indem er seinen Dienst tat, wirkte er – wie andere Humanisten in dieser Stellung auch – als Multiplikator von Latinität. Dies geschah hier wie in den privateren Briefen in einem zwar klassisch geprägten, aber nicht klassizistischen Latein. Wie Poggio war Enea kein Ciceronianer, seine Latinität bewahrte individuelle Stilelemente.62 Dann das ‘private’ Epistular: Zwar wird es in der Literatur als Zitatreservoir geschätzt – wie sämtliche Enea-Schriften –, doch liegt die Analyse seiner Überlieferung,63 seiner Brieftechnik und seiner kommunikativen Bedeutung noch brach. Nicht zufällig schrieb kein Geringerer als Erasmus an Beatus Rhenanus, für das Genus ‘Brief’, welches mores, fortunam, affectus sowie publicum simul et privatum temporis statum velut in tabula representat, stünden Autoren wie Cicero und Plinius – und unter den Jüngeren:

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Eine genauere Analyse steht freilich aus. Bei einem Puristen wie Heinrich Bebel jedenfalls sollte Eneas Latein auf Mißbilligung stoßen; K LAUS GRAF: Heinrich Bebel (1472–1518). Wider ein barbarisches Latein, in: P AUL G. SCHMIDT (Hg.): Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, Sigmaringen 1993, 179–194, ebd. 185. 63 Der Stagnation bei der Überlieferungserschließung, wo sich seit der Studie von HANS A. GENZSCH: Die Anlage der ältesten Sammlung von Briefen Enea Silvio Piccolominis, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 46 (1932), 372–480, wenig getan hat, sei nur am Rande erwähnt. Zu Recht hält freilich KENNETH M. SETTON diese Briefe für „the most fascinating literary productions of a century rich in the variety of its life and letters“; The Papacy and the Levant (1204–1571), Bd. 2.: The Fifteenth Century, Philadelphia 1978, 152.

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Aeneas Pius.64 Beim Inhalt von dessen Briefen ist in der Tat Amtliches und Privates kaum trennbar; das liegt nicht nur am Genre, sondern auch daran, daß Enea, anders als ein Petrarca oder Erasmus, als Politiker mit Hofamt tätig war.65 So kommen in seinen Briefen Literarisches und Freundschaftskultur (so etwa eine Einladung zum Essen), der Witz des familiariter scribere ebenso zur Sprache wie Pfründenpatronage und Sequenzen politischer Lageberichte, die bereits an die ‘neuen Zeitungen’ gemahnen.66 Im Folgenden sei erstmals der Versuch eines quantitativen Gesamtüberblicks gegeben, der den Netzwerkradius der Korrespondenz und die damit verbundene potentielle Diffusionsfähigkeit andeutet. Überliefert sind zwischen Ende 1431 und Mitte 1455, als mit Eneas endgültiger Rückkehr nach Italien eine längere Lücke in der bisher bekannten Überlieferung einsetzt, rund 670 Stücke mit 192 Korrespondenzpartnern,67 wobei die an Enea gerichteten Schreiben offensichtlich viel weniger systematisch gesammelt wurden als die von ihm versandten. Über die Hälfte der Partner waren Italiener. Enea pflegte von Norden (auch von Basel) die Nabelschnur nach Italien, hielt sich stetig in Erinnerung, verschickte regelrechte Serienbriefe, die im Kern den gleichen In64 Cuius generis fere sunt Epistolae Ciceronis ac Plinii, et inter recentiores Aeneae Pii (1521 Mai 7 aus Löwen); P. S. ALLEN/ H. M. ALLEN (Hg.): Opus Epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, Bd. 4: 1519–1521, London 1922, 501 Z. 96–100. 65 Bezeichnenderweise wurden Eneas amtlich verfaßte ‘Staatsbriefe’ in den gleichen Codices (etwa München StB clm 12725 oder Rom Biblioteca apostolica Vaticana Chigi I VI 208; siehe unten Anm. 57) gesammelt wie die ‘privaten’; getrennt ediert jedoch bei W OLKAN (wie Anm. 1). Zum Problem ‘öffentlich’ und ‘privat’ in der humanistischen Epistolographie HELENE HARDT: Überlegungen zur Öffentlichkeit des humanistischen Briefs am Beispiel der Poggio-Korrespondenz, in: HEINZ-D IETER HEIMANN/IVAN HLAVÁýEK (Hg.): Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, Paderborn u. a. 1997, 127–137. Vgl. ROLF KÖHN: Dimensionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelalterlichen Korrespondenz, in: GERT MELVILLE/ PETER VON MOOS (Hg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln/Weimar/Wien 1998, 309–358. 66 Zu seinen Traktaten in Briefform siehe die Beispiele unten bei Anm. 90 ff. 67 Die Angaben beruhen erstens auf der Auswertung der bei W OLKAN (wie Anm. 1) gedruckten Stücke (also bis Juni 1454), soweit sie unter dem Namen des Enea Silvio firmieren, beziehungsweise unmittelbar an ihn gerichtet sind, also unter Auslassung der von ihm verfaßten amtlichen Schreiben im Namen des Kaisers oder Kanzlers (die sieben noch in Italien 1431/32 verfaßten Briefe wurden mitaufgenommen), sowie zweitens der Anschlußüberlieferung bis Juni 1455 aus den weitestgehend textidentischen Sammelhandschriften Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana Ottob. Lat. 347, Vat. Lat. 1787 und Urb. lat. 401 sowie Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana Plut. 54. 19, partiell gedruckt bei CUGNONI: Aeneae Silvii Opera (wie Anm. 10). Wesentliche Teile davon werden in Bd. 19.2 und 19.3 der Deutschen Reichstagsakten ediert werden. Die bisher nie näher untersuchten Briefe ab Sommer 1455 und aus der Kardinalszeit 1456–1458 (,Epistulae in cardinalatu etditae‘) werden derzeit von Fabio Forner neu erfaßt. Ein Gesamtüberblick über die Epistularüberlieferung ist in Planung.

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halt hatten, aber partiell doch dem jeweiligen Empfänger angepaßt wurden.68 In Italien hatte er an den wichtigen Orten seine Verbindungsleute, Freunde und Zuträger:69 In Mailand etwa waren dies Gasparo da Caccia, Sceva da Curte und der Erzbischof Francesco Pizolpasso, in Venedig Guiniforte Barzizza und der Sieneser Gesandte Leonardo Benvoglienti. Von Anfang an amtierte er als Mandant seiner Heimatkommune Siena (33 Briefe, 19 Briefe an Siena/ 14 von Siena; 4. Stelle).70 Dies war, kaum überraschend, einer seiner Hauptkontakte, der durch Korrespondenz mit fast einem Dutzend weiterer Sieneser, Freunden und Familiaren wie Francesco Tolomei, Goro Lolli und Bartolomeo da Massa verbreitert wurde. Der zweite Hauptstrang seiner Briefbeziehungen spannte sich zur römischen Kurie, beziehungsweise, solange sich noch Freunde dort befanden, zum Konzil von Basel. An der Kurie, mit der Internationalität ihrer Bürokraten und Diplomaten, steht an der Spitze der Kontakte der amtierende Papst selbst, der Humanist Tommaso Parentucelli als Nikolaus V., mit 44 Stücken (15 Briefe von, 29 an Enea, 10. Stelle). Unter den kurialen Empfängern, wenngleich sie nicht immer in Rom weilten, finden sich einige Kardinäle: mit Abstand an der Spitze der Spanier Juan Carvajal (44 Briefe), der übrigens neben Enea einer der besten Deutschlandkenner seiner Zeit war, gefolgt von dem deutschen Kardinal Nikolaus von Kues (17 Briefe; 7. Stelle). Häufig schreibt Enea ferner an die Italiener Petrus de Noxeto, einen Freund seit den Tagen des Konzils (22 Briefe; 3. Stelle), an seinen eigenen Verwandten Goro Lolli (19 Briefe; 5. Stelle) und an den deutschen Kurialen Heinrich Senftleben (18 Briefe; 6. Stelle).71 Für die deutlich geringeren Kontakte zu England steht der Protonotar Adam de

68 Als Beispiel die Briefe WOLKAN III 1(wie Anm. 1), 138–142 Nr. 68–71: gleiche Nachrichten an vier verschiedene Adressaten. 69 Aber im Briefnetz der großen italienischen Humanisten ist Enea vor seiner Rückkehr nach Italien Sommer 1455 nur spärlich präsent: Pizolpasso erhält 4, Panormita 2 Briefe; von Filelfo stammen 3, von Valla, Aurispa und Dati je 1 Brief. 70 Der erste der Briefe an Siena aus Basel schon von 1432 November 1: Dedi sepe litteras ... rerum, que hic agerentur plenissimas; W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 12 Nr. 8. 71 Die zwanzig häufigsten Briefempfänger in Reihenfolge: (Kardinal) Juan Carvajal, Kurie (44), Kommune Siena (28), Giovanni Campisio (22), Pietro da Noxeto, Basler Konzil/Kurie (22), Goro Lolli Piccolomini, Kurie (19), Heinrich Senftleben, Kurie (18), Kardinal Nikolaus von Kues, Brixen/Kurie (17), Kaspar Schlick, Kanzler (16), Prokop von Rabenstein, Prag (15), Papst Nikolaus V., Kurie (15), Nicolaus Liscius, Prag (10), Dr. Johannes Vrunt, Köln (9), Johannes Vitéz, Prag und Ungarn (9), Johannes Capistran OFM (8), Francesco Tolomei, Siena (8), Dr. utr. iur. Stefano Caccia di Fara, Rom (8), Kardinal Zbigniew Olesnicki, Krakau (8), Jakob von Sierck, Ebf. von Trier (8), Dr. Giacomo Tolomei, Siena (7), Johannes Hinderbach, kgl. Kanzlei (7), Kardinal Domenico Capranica, Kurie (7), Bartolomeo de Massa, Siena (6), Johann Tuschek, Prag (6), Leonardo Benvoglienti, Venedig (6), Giovanni Peregallo, Kurie (5), König/Kaiser Friedrich III. (4).

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Moleyns (3 Briefe).72 Fast völlige Fehlanzeige sind Briefkontakte nach Frankreich.73 Die engen Verbindungen zum Prager Hof repräsentiert die Korrespondenz mit Kanzler Prokop von Rabenstein (15 Briefe) und dem Juristen Johannes Liscius (10 Briefe), die Verbindungen nach Ungarn zum Hof des Königs Ladislaus, repräsentiert diejenige mit dem Bischof von Großwardein, Johannes (János) Vitéz, dem ‘Vater’ des ungarischen Humanismus (9 Briefe). Der Kontakt zu Polen konzentriert sich auf den königlichen Kanzler, Erzbischof Zbigniew Olesnicki, als mächtigen Multiplikator (8 Briefe).74 Die Stadt Köln beherbergte mit ihrem Sekretär Johannes Vrunt einen Konzilsfreund des Enea, der mit 9 Briefen hinter Heinrich Senftleben (18 Briefe), Nikolaus von Kues (17) und Kanzler Schlick (16 Briefe) an vierter Stelle der deutschen Partner steht. Von einer Korrespondenz mit deutschen Frühhumanisten sind dagegen relativ wenige Stücke dokumentiert: Hinderbach, aus dem Kanzleimilieu selbst, steht mit 7 an der Spitze. Vom Kontakt mit Niklas Wyle, von dem noch die Rede sein wird, sind drei Briefe erhalten (zwei an, einer von Enea), aus der Verbindung mit Johannes Tröster fünf (zwei an, drei von Enea). Die Tätigkeit der Rezipientenseite des Transfers war eine zweifache: Man sammelte Briefe, und/oder man ahmte sie aktiv schreibend nach. Für den Nimbus des Enea spricht, daß es schon 1443 Leute gab, die seine Briefe sammelten, so den Kammergerichtsschreiber Ludwig Scheitrer († 1495), auf den der berühmte Münchener Codex clm 12725 aus Kloster Ranshofen 72

1438 Gesandter König Heinrichs VI. in Aachen, 1441 Archidiakon von Taunton und Dekan von Salisbury, [1444 Lord Keeper of the Privy Seal], 1446 Bischof von Chichester; Kammerkleriker; stirbt 1450 durch Lynchmord. Vgl. W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 156 Anm. b, Nr. 58; PETER P ARTNER: The Pope’s Men. The Papal Civil Service in the Renaissance, Oxford 1990, 241. 73 Nur die Zweite Beschreibung Basels von 1438 war mit einem Brief an den konziliaristischen Erzbischof von Tours, Philippe de Coëtquis, gerichtet; WOLKAN I 1 (wie Anm. 1), 84–95 Nr. 28. Über das gestörte Verhältnis des Aeneas/Pius zu Frankreich: P ATRICK G ILLI: Les éléments pour une histoire de gallophobie italienne à la Renaissance: Pie II et la nation française, in: Melanges de l’École Française de Rome. Moyen Age/ Temps Modernes 106/1 (1994), 275–311; DERS.: Au miroir du humanisme. Les représentations de la France dans la culture savante italienne à la fin du Moyen-Age (ca. 1360–1490) (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 296), Rom 1997, bes. 202–209, 239–251. 74 MARIA KOCZERSKA: Art. Olesnicki, Zbigniew, in: Polski Slownik Biograficzny 23 (1978), 776–784; W. IWANCZAK: Art. Olesnicki, Zbigniew, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 6 (1993), 1195–1197 (Literatur); S TRNAD: Rezeption (wie Anm. 5), 88 mit Anm. 55. – Zur Enea-Rezeption in Ungarn jetzt KLÁRA P AJORIN: Enea Silvio Piccolomini ed i primi umanisti ungheresi, und AMEDEO DI FRANCESCO: La riscrittura ungherese della ,Historia de duobus amantibus‘, in: Rapporti e scambi tra umanesimo italiano ed umanesimo europeo: L’Europa e uno stato d’animo, a cura di LUISA R. S. T ARUGI (Mentis itinerarium/Caleidoscopio 10), Mailand 2001, 649–656 und 657–664.

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zurückgeht,75 oder den Prager Kleriker Wenzel von Bochow (Buchau), seit 1442 Sekretär bei Hofe.76 Als der Prager Stadtschreiber Johann Tuschek Enea 1444 bat, ihm alles zu schicken, was er neu geschrieben habe, antwortete ihm dieser, Briefe nunc ad istum nunc ad illum verfaßt zu haben, und verwies ihn dann an Wenzel, der ihm die Texte mitteilen könne: Copias omnium Venceslaus noster habet ... Nihil novi ex mea manat officina, quod ipse non antea exemplatum retineat.77 1453 erhielt der Krakauer Erzbischof Zbigniew Olesnicki auf seinen Wunsch schon einen ganzen Band (volumen) des Briefcorpus, welches, obgleich nach Bekunden des Autors unzureichend, in bereits revidiertem Zustand vorgelegen haben muß.78 Die Tatsache, daß die Briefe mit Publikationsabsicht abgeschrieben und gesammelt wurden, hatte eine wesentliche Konsequenz: Jeder ‘private’ Brief war zugleich für eine Öffentlichkeit bestimmt. Es entstand jene für Humanistenkorrespondenzen typische ‘private Öffentlichkeit’. Jedes Lob und jeder Tadel erhielt Mustercharakter.79 Neben das Sammeln trat die imitatio: Es läßt sich eindrucksvoll beobachten, wie bei deutschen Adepten des Enea Silvio eine ‘moderne’ lateinische, sprich: ciceronisch geprägte, Briefkunst im wahrsten Sinne durch imitatio entsteht. Die frühesten der ab 1449 verfaßten Briefe des Niklas Wyle stützen sich geradezu auf ein Korsett wörtlicher Zitate aus EneaBriefen; erst langsam gewinnen sie stilistische wie materielle Eigenständigkeit.80 Die Vorbildhaftigkeit der Enea-Briefe war dem Verfasser dabei 75

GENZSCH: Anlage (wie Anm. 63) mit Liste der gegenüber W OLKAN (wie Anm. 1) neu datierten Stücke (427–448), sowie von 11 bei Wolkan nicht edierten Stücken (460– 464). Zur Biographie Scheitrers ebd. 449, 455; zu seinem Schriftwerk ebd. 456–459. Über Scheitrer und die frühen Briefsammlungen seither substantiell keine neuen Forschungen. Zur Anlage von Kopien abgesandter Briefe durch Humanisten siehe u.a. S ILVIA R IZZO: Il lessico filologico degli umanisti (Sussidi eruditi 26), Rom 1973, 339 f. (Literatur). 76 Zu Bochow: GENZSCH: Anlage (wie Anm. 63), 375 f. Anm. 3; HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 2, 739–741; Bd. 3, 1448 s.v. 77 1444 Mai 1, W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 317 Nr. 138. 78 An Olesnicki aus Wiener-Neustadt, 23. Februar 1450: Epistolarum mearum volumen, quod expostulas, minus libenter tradam, quia non est tersum neque ad tuum morem limatum. Quia tamen dignationi tue negare non possum, scriptori commissum est, ut redeunti Johanni tradi et ad te deferri possit. Videbis ineptias meas, opinionem de me majorem esse quam rem miraberis; W OLKAN Abt. II (wie Anm. 1), 159 Nr. 41. Zu Olesnicki siehe Anm. 74. 79 Siehe unten Anm. 96 ff. zum Brief an Johannes Tröster. 80 J OACHIMSEN: Frühhumanismus (wie Anm. 46), 257–262 Nr. 1–7, mit Nachweisen. Eine weitere Gruppe von Wyle-Briefen: RUDOLF W OLKAN (Hg.): Neue Briefe von und an Niklas Wyle, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 39 (1914), 524–548. – Auch die etwas später entstandenen Briefe des Hermann Schedel verwenden, vermutlich öfter als von J OACHIMSOHN ausgewiesen, Enea-Briefe als Zitatreservoir: P AUL J OACHIMSOHN (Hg.): Hermann Schedels Briefwechsel (1452–1478) (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 196), Tübingen 1893, 100 Nr. 47 (1463 Januar 2 an

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voll bewußt: So mußte man es machen! Wyles Kommentar im Vorwort seiner Edition der Enea-Briefe, der ersten gedruckten überhaupt, ist an rührender Eindeutigkeit kaum zu überbieten: He tamen epistule Enee in stili claritate et latini familiaritate videntur antecellere. Quare illas duxi amplectenda, et hominibus huius artis studiosis communicandas fore, ut ipsi his insudantes, ex earundem frequenti lectione habitum in se ipsis huiusmodi latinitatis et ornatus adipisci queant et vestigia Enee imitari.81

Eneas Briefe ragen in Stil und Sprache aus allen anderen heraus. Jeder, der das Verfassen von Briefen lernen wolle, müsse über ihnen schwitzen, sich durch häufige Lektüre ihren Habitus, ihre Latinität, ihren Stil aneignen, mit anderen Worten, – und es klingt wie ein Motto: den Spuren des Enea folgen, Aeneae vestigia imitari. Damit war der Weg der Enea-Briefe zur Schulklassikerlektüre vorgezeichnet.82 2. Der Redner: Als erster nutzte Enea Silvio die deutschen Reichsversammlungen als Forum für die neue, in Italien seit Pier Paolo Vergerio 1394 wieder als Spezialkönnen öffentlich etablierte ciceronische Oratorik. Hartmann Schedel), 161 Nr. 69 (1466 August 16 an Heinrich Lur). Vgl. FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 129 (2000), 187–201, bes. 188–194 zur Imitatio von Enea-Briefen bei Hermann Schedel. 81 ENEAE S ILVII: Epistolae familiares, De duobus amantibus, Descriptio urbis Basiliensis, hg. von NIKLAS W YLE, Straßburg [Adolf Rusch] o. J. [nicht nach 1478; von Teilen der Forschung, so B UTZ: Wile (wie Anm. 54), 58 auf 1464 frühdatiert]. Das Zitat wurde überprüft nach dem auch von BUTZ: Wile 79 benutzten Exemplar Aarau, Aargauische Kantonsbibliothek rar. F 43. Werner Dönni (Aarau) sei für rasche Hilfe gedankt. Zu Wyles Briefen siehe auch WORSTBROCK: Art. Wyle (wie Anm. 54), 1020–1022. 82 Ein Beispiel: Berlin StB PK Lat. qu. 625 fol. 27–46 [1488]: Epistolarum formulae ... per d. Karolum Meniken studio Bononiensis magistrum ... ex epistolis familiaribus M. T. Ciceronis ... et Enee Silvii ... extractae. – Ein weiteres Beispiel: Paul Wann aus Straubing, Domherr von Passau, errichtete 1484 Januar 30 an der Universität Wien eine Burse mit Bücherstiftung (darunter Petrarcas ,De remediis utriusque fortunae‘): Item ut stipendiati diebus festivis precipue statim post prandium vel sero post cenam ad promovendum latinitatis usum conveniant et unus eorum legat ceteris audientibus in Bohecio de consolacione Philosophie aut in Vallerio Maximo aut in Tullio, Vegecio vel epistulis Enee Silvii aut aliquo alio huiusmodi librorum et quilibet interrogatus respondeat alteri, quod novit vel se excuset modeste de nescientia in quiete et caritate; Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz Bd. 4.1: Bistümer Passau und Regensburg, bearb. von CHRISTINE E. INEICHEN-EDER, München 1977, 43 f. (freundlicher Hinweis von Harald Müller, Berlin). – Auf die Bedeutung von Wyles eigenen ‘Translatzen’ für die freilich ganz neu kontextualisierte Verbreitung bestimmter Werke des Enea kann hier nicht eingegangen werden; siehe W ORSTBROCK: Art. Wyle (wie Anm. 54), 1023–1030; J. H. T ISCH: Enea Silvio Piccolominis ,De duobus amantibus historia‘ und Niklas von Wyle, in: Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis, hg. von P IERRE TUYNMAN (Humanistische Bibliothek I/26), München 1979, 983–996. Vgl. B ARBARA SASSE: La letteratura di traduzione del primo umanesimo tedesco. Tendenze della più recente ricerca e sue prospettive, in: La parola del testo 2 (1998), 213–252.

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Auf den ‘Türkenreichstagen’ zu Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt 1454/55, nach dem Fall Konstantinopels, vertrat er den Kaiser. Mit seinen an Ciceros ‚De lege Manilia‘ orientierten Deliberativreden führte er unter Beimischung von Zügen der ,Lamentatio urbis‘ und der Kreuzzugspredigt eine neue und bis weit in die Neuzeit lebendige Form politischer Oratorik ein, die Türkenreden.83 Deren oft imitierter Prototyp blieben für ein Jahrhundert die Reden des Enea. Der kaiserliche Italiener war es bekanntlich auch, der in eben diesen Reden wohl als erster in das „Büffelhorn des Germanenlobs“ (Alexander Demandt) stieß und unter dem Zuruf Vos Germani den für die Zukunft des deutschen Humanismus kaum zu überschätzenden Germanendiskurs eröffnete.84 3. Handschriftenjagd und -austausch: diese einschlägig bekannte Leidenschaft der Humanisten betrieb der Vielbeschäftige in allenfalls durchschnittlicher Intensität. Seine wirklichen Entdeckungen bestanden in der Gotengeschichte (,Getica‘) des Jordanes im Benediktinerkloster Göttweig und im Werk des mittelalterlichen Historikers Otto von Freising, den er dann in eigenen Werken wie die antiken Klassiker viel rezipierte.85 Mit der Wertschätzung Ottos und seines Geschichtswerks als Beispiel früher, eben auch literarisch autogener Größe Deutschlands stieß Enea einmal mehr jenen nationalen ‘Mittelalterdiskurs’ an, wie er dann in der zweiten deutschen Humanistengeneration um 1500, etwa bei Trithemius, zentral geführt wurde. 83 Diese Zusammenhänge sind anderweitig aufgearbeitet: J OHANNES HELMRATH: Reden auf Reichsversammlungen im 15. und 16. Jahrhundert, in: LOTTE KÉRY/ DIETRICH LOHRMANN/ HARALD MÜLLER (Hg.): Licet preter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag, Aachen 1998, 266–286, bes. 272–274; DERS.: Pius II. und die Türken, in: B ODO GUTHMÜLLER/W ILHELM KÜHLMANN (Hg.): Europa und die Türken in der Renaissance (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, 79–137, bes. 84–97, in diesem Band Nr. IX. Zu den Konzilsreden vgl. oben Anm. 15. 84 Auch diese Zusammenhänge sind mittlerweile wohlbekannt. Genannt seien hier nur R IDÉ: L’image du Germain (wie Anm. 5); HERFRIED MÜNKLER/HANS GRÜNBERGER/ KATHRIN MAYER: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen 8), Berlin 1998, 163– 234. Siehe auch die Beiträge von ULRICH MUHLACK, REINHARD STAUBER, J AMES H IRSTEIN und T HOMAS M AISSEN in: HELMRATH/M UHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie *). 85 J OACHIMSOHN: Meisterlin (wie Anm. 42), 186 f.; STRNAD: Studia (wie Anm. 38), 305 f.: aus Eneas frühem Buchbesitz stammt die Handschrift Biblioteca Apostolica Vaticana Vat. Lat. 9437 mit den ,Gesta Friderici‘ [dazu: R INO AVESANI: Un codice di Ottone di Frisinga appartenuto a Pio II e ai suoi nipoti Giacomo e Andrea, in: Bullettino Senese di Storia Patria 71 (1964), 161–166]; STRNAD: Studia, 310 f.: als das von Enea entdeckte Exemplar der ,Getica‘ wird der heutige Codex Wien ÖNB CVP 203 aus dem 11. Jahrhundert vermutet. Vgl. auch B RIGITTE SCHÜRMANN: Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert (Historische Forschungen 12), Stuttgart 1986, 23 f.; W ORSTBROCK: Art. Piccolomini (wie Anm. 1), 663.

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Handschriftenwünsche und -versand waren bevorzugte Gegenstände interhumanistischen Austauschs. Aus Eneas Briefwerk der Jahre 1442 bis 1455 lassen sich diesbezüglich folgende Texte ermitteln: Aristoteles’ ,Politik‘, der Kommentar des Antonio Loschi zu Ciceros Reden, dann die ,Tristien‘, ,Ars amatoria‘ und ,De remedio amoris‘ des Ovid, Terenz’ Komödien und Hieronymus’ Briefe, die er aus der reichen Bibliothek des Hegauer Grafen Johann von Lupfen auszuleihen suchte, und eine Bibel, die er in Böhmen kaufen lassen wollte.86 Die Arrian-Übersetzung Vergerios schrieb er sich selbst ab.87 Viel ist das nicht. Vor allem arbeitete Enea nicht im engeren Sinne dienend philologisch wie andere Humanisten; er übersetzte und edierte nicht, was in vergleichbarer Situation etwa ein Antonio Bonfini am ungarischen Hof tat, wenn er aus dem Griechischen Philostrat, Herodian, Hermogenes, aus dem Italienischen Filarete ins Lateinische übersetzte, oder auch ein Polydor Vergil in England.88 Vielmehr war Enea eben selbst der produktive Schriftsteller, der Texte Dritter verarbeitete.89 86 Beispiele für den Handschriftenaustausch des Enea: Fordert bei Giovanni Campisio eine ,Politik‘ des Aristoteles in Brunis lateinischer Übersetzung an (Politicorum libros ex Aretini traductione conscriptos); 1443 Oktober 14; WOLKAN I 1 (wie Anm. 1), 201 Nr. 85; 1444 Februar 8 an Campisio; ebd., 296 Nr. 126; 1444 November 20, ebd. 450 f. Nr. 164; hat sie 1445 Mai 21 immer noch nicht erhalten; ebd., 499 Nr. 170, jeweils an Campisio. – Dankt für den Kommentar Antonio Loschis zu den Reden Ciceros, der ihm versprochen wird und den er selbst in Basel schon abschreiben wollte (quem etiam manu mea transcribere statueram); an Francesco da Fusce 1443 Juli 1, ebd., 162 Nr. 62). Am 6. Juni 1444 ist der Codex, von Fusce geschickt, in Eneas Besitz; an Johann von Segovia, ebd., 337 Nr. 147. – Bitte an den Hegauer Grafen Johann von Lupfen 1444 April 9; ebd., 311 Nr. 135; dazu WELTI: Frühhumanismus (wie Anm. 52), 438. – Bittet um Kauf einer Bibel in Böhmen: 1444 Oktober 31 an Johann Tuschek in Prag; W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 443 Nr. 159: Audio enim apud Bohemos hunc librum venalem frequenter inveniri propterea, quod illa regio multis olim collegiis habundavit multisque bibliotecis propter universitatem Pragensem; viele arme Priester verkaufen ihre Bücher dort billig: [plures presbiterculos, ui libros venales habent, et sicut paupertas facit, non multum eris exigatur.] Ähnlich 1445 August 23 an Tuschek; ebd., 526 Nr. 178: ein Papierexemplar kostet 8 fl., ein Pergamentcodex 15 fl. 87 Eine Handschrift der 1434–1437 entstandenen Arrian-Übersetzung des Pier Paolo Vergerio wird von Wien 1454 an König Alfons V. von Neapel-Aragón geschickt; 1454 Januar 26 an Antonio Panormita, WOLKAN III 1 (wie Anm. 1), 433 Nr. 245; 1454 Januar 27 an König Alfons; W OLKAN ebd., 435–437 Nr. 249, hier 436: Poteram, fateor, opus huiuscemodi trasscribere. 88 Siehe die Beiträge von LÁSZLÓ HAVAS und FRANK REXROTH in HELMRATH/MUHLACK/W ALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie *). 89 Das relativ gesehen am wenigsten ‘selbständige’ Werk war sein letztes, eine Epitomierung der ‚Decades‘ des Flavio Biondo, entstanden 1463; W ORSTBROCK: Art. Piccolomini (wie Anm. 1), 659; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 9), 202 f.; UTA GOERLITZ: Humanismus und Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Das ‚Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis‘ des Hermannus Piscator OSB [† 1526] (Frühe Neuzeit 47), Tübingen 1999, 237–241, 323 (Eneas ‚Epitome‘ als Quelle Piscators). [Zu Eneas Historiographie siehe unten Kap. 6].

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4. Prinzenerzieher per Brief: Die Tätigkeit des Lehrers darf sicherlich als Transferfunktion par excellence angesehen werden. Die beiden Erziehungstraktate des Enea für die jungen Habsburger Prinzen Sigismund von Tirol und Ladislaus von Böhmen-Ungarn90 standen bereits in einer pädagogischen Traktattradition des Humanismus (Pier Paolo Vergerio, Leonardo Bruni etc.). Den jungen Fürsten wird darin weltliche Bildung als Lebenshilfe und institutio mentis empfohlen. Die Klassiker der Antike und des italienischen Humanismus werden in langen Listen als omnis bene vivendi norma geradezu eins zu eins für die praktische Anwendung empfohlen: Si ... armis opera danda, Vegetius modum ostendet …, quomodo regenda sit uxor scripsit Franciscus Barbarus Venetus.91 Die Traktate bilden ein Kompendium humanistischer Bildungsinhalte und gelehrter Ratschläge, darunter auch Hinweise zur Sprachgeschichte, etwa zur nationalen Herkunft der Lehnworte im Lateinischen.92 Es blieb im Fall der beiden Habsburger weitgehend bei dieser allenfalls indirekten Erziehung per Brief. Johannes Hinderbach, der eigentliche Erzieher des Ladislaus, intendierte später immerhin eine praktische Anwendung des Brieftraktats am Habsburgerhof, als er 1466 der Kaiserin Eleonore eine Prachthandschrift für die Erziehung des Prinzen Maximilian (* 1458) anfertigte.93 Die literarische Wirkung beider Erziehungstraktate, die Diffusion durch Handschrift und Druck, 90

,De institutione principum‘ an Herzog Siegmund v. Tirol, 1443 Dezember 5; W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 22–236 Nr. 99 2; ,De liberorum educatione‘ an König Ladislaus, Februar 1450; WOLKAN II (wie Anm. 1), 103–158 Nr. 40 und XIII f. Über beide Briefe W ORSTBROCK: Art. Piccolomini (wie Anm. 1), 641–643. 91 W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 229 Nr. 99. Gemeint ist Francesco Barbaros ,De re uxoria‘. – Kurze Charakteristik bei STRNAD: Rezeption (wie Anm. 36), 149 f. (Literatur); UBALDO P IZZANI: Discipline letterarie e discipline scientifiche nel ,De liberorum educatione‘ di Enea Silvio Piccolomini, in: SECCHI T ARUGI (Hg.): Pio II (wie Anm. 1), 313– 327; DERS.: La sezione ortografica del ,De liberorum educatione‘ di Enea Silvio Piccolomini, in: LUISA ROTONDI SECCHI T ARUGI (Hg.): L’educazione e la formazione intellettuale nell’età dell’umanesimo, Mailand 1992, 177–186. 92 Si ergo grammatice recteque loqui volumus, noscendus est verborum usus, quorum aliqua nostra sunt, aliqua peregrina, aliqua simplicia, aliqua propria, aliqua translata, aliqua usitata, aliqua ficta, atque in his tota vis recte loquendi consistit, ut his apte compositeque utamur. nostra dicuntur omnia, que ab Italicis inventa sunt, ut amor, lectio, scriptio. peregrina ex omnibus prope gentibus recepta reperiuntur, ut a Gallis ‚reda‘, ab Hispanis ‚gurdi‘, qui vulgo stolidi reputantur, ex Theutonicis ‚marchio‘, infinita vero ex Grecis, unde Romanus sermo ut plurimum versus est. Et in verbis quidem Grecis utendum est declinatione latina, quousque patitur decor, ut ‚Plato‘, ‚Palemo‘, non ‚Platon‘ ‚Palemonque‘ dicatur, quia rectus latinus in ‚on‘ exire non consuevit; WOLKAN II (wie Anm. 1), 125 f. Nr. 40. 93 Wien ÖNB ser. nova 4643; ALFRED A. STRNAD: Auf der Suche nach dem verschollenen ,Codex Brisacensis‘. Johann Hinderbachs Widmungsexemplar von Enea Silvios ,Historia Austrialis‘ für den jungen Maximilian, in: P AUL-J OACHIM HEINIG (Hg.): Kaiser Friedrich III. (1440–1493) in seiner Zeit (Beihefte zu J. F. Böhmer. Regesta Imperii 12), Köln/Weimar/Wien 1993, 467–502, ebd. 484 f.

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sollte allerdings überragend sein. Sie gehören zu den meistüberlieferten Texten des Enea überhaupt; nicht nur als Teile des Corpus der Laienbriefe, die allein schon durch die drei Koberger-Drucke (Nürnberg 1481, 1486, 1496) weiteste Verbreitung fanden, sondern auch jeweils durch Einzelüberlieferung.94 5. Korrektor und arbiter litterarum: Das vorangegangene Beispiel konventionellen Kulturtransfers qua Belehrung, durch persönlichen Unterricht und/oder per Brief, läßt sich vertiefen. Es geht um Spracherziehung und die imitatio des Lehrenden und seines Stils selbst oder der von ihm vermittelten Vorbilder durch den Lernenden. Eine geschätzte fremde Persönlichkeit, aber auch Freunde und Kollegen um kritische Lektüre eigener Texte zu bitten, hatte sicherlich topische Züge eines Höflichkeitsrituals.95 Das Beispiel des Johannes Tröster gewährt allerdings weit darüber hinaus sehr ernsthafte und genaue, ja intime Einblicke in einen Transferprozeß, der durch lateinische Sprachkritik konstituiert wird. Tröster schickte Enea Silvio am 2. Juli 1454 seinen an Ovid sowie an einem – später gleich titulierten – Brieftraktat Eneas angelehnten Dialog ‚De remedio amoris‘, in den auch die Freunde bei Hof satirisch eingebaut waren. Es war einer „der frühesten literarischen Versuche des deutschen Humanismus“ überhaupt.96 Die Antwort, schon eine Woche später,97 lobte zunächst das Werk; Dialogus tuus est tersus et limatus aptis compositus verbis. Dann folgte sofort 94 Genaueres wird künftig in einem Überlieferungszensus der Opera des Enea Silvio geboten werden. Wichtig KONRAD HÄBLER: Die Drucke der Briefsammlungen des Aeneas Silvius, in: Gutenberg Jahrbuch 14 (1939), 138–152; FRANK FÜRBETH: Aeneas Silvius Piccolomini in Deutschland. Aspekte der Überlieferung in Handschriften und Drucken, in: STEPHAN FÜSSEL/VOLKER HONEMANN (Hg.): Humanismus und früher Buchdruck. (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 11), Nürnberg 1996, 83–114; P AUL J. W EINIG: ‘Aeneam suscipite, Pium recipite’. Aeneas Silvius Piccolomini. Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts (Gratia 33), Wiesbaden 1998, mit Systematisierung der handschriftlichen Überlieferungskontexte. Zur Rezeption der Opera allgemeiner siehe ALFRED NOE: Der Einfluß des italienischen Humanismus auf die deutsche Literatur vor 1600. Ergebnisse jüngerer Forschung und ihre Perspektiven (Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 5), Tübingen 1993, zu Enea Silvio 430 s.v. passim. 95 Nicht nur Einheimische, selbst der Sieneser Humanist Agostino Dati bittet Enea [kaum ohne Ironie], ut me a volgarium errore eripiens de epistulari arte aliqua velis conscribere; [1442? November 11] W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 112 Nr. 36. 96 FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Tröster, Johannes, in: Verfasserlexikon 9 (1995), 1079, zum ,Dialogus‘ ebd. 1079–1082; ebd. 1081 f. zur Überlieferung, in zwei Fassungen A und B mit jeweils drei Handschriften; STRNAD: Rezeption (wie Anm. 5), 97 f.; HEINIG: Friedrich III. (wie Anm. 23), Bd. 1, 113, 606. Druck: RUPPRICH: Frühzeit (wie Anm. 44), 182–197. Zu Eneas Brieftraktat von 1445 siehe unten Anm. 103. 97 Der Brief wird statt des nicht fehlerfreien Drucks in: Aeneae Sylvii Piccolominei ... opera quae extant omnia, Basel 1551, 950f. Nr. CCCCVI zitiert nach Biblioteca Apostolica Vaticana Ottob. Lat. 347 fol. 98 r–99 v, einer der vier Sammelhandschriften, welche die Enea-Briefe von Oktober 1453 bis Juni 1455 enthalten; vgl. oben Anm. 67.

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die nationale Komponente: Wenn der Verfasser so weitermache, ornabis tuam patriam nomenque tibi efficies, quod non Teuthones solum, sed Galli quoque atque Itali celebrent.98 Aber dann ging es los: „Im Widmungsbrief, der dem Dialog vorausgeht, verbindest Du folgende Worte: de amore, quid sentirem scriberem; eleganter hättest Du gesagt: quid sentirem de amore, scriberem.99 Oder: Statt eam accersam müßte man ausgefeilter (limacius) sagen: eam accurram.“ Gründe für die Liebe einfach hintereinander zu ordnen, gleiche der Methode der dyalectici. Manche Worte könne man zwar im Lateinischen verwenden, aber es seien nicht die vorbildhaften der oratores und historici.100 Und so weiter. Die Kritik traf also Syntax und Wortwahl, vor allem die Wortstellung, unschöne gleichlautende Endungen, Kasushäufungen (nimis multi genitivi), aber auch falsche Klassikerzitate (non recte locutus es, .... ut Maroni [sc. Vergil] placet) sowie inhaltliche Kritik: Hunnen und Ungarn (Huni und Hungari) dürften begrifflich und historisch nicht gleichgesetzt werden; die Türken – dies ein besonderes Anliegen des Piccolomini – dürften nicht mit dem edlen Namen der Teucrer (Troianer) belegt werden, nur weil sie jetzt deren Gebiet mitbeherrschten.101 Das war nicht nur literarisches Theater. Die beiden erhaltenen Fassungen von ‚De remedio amoris‘ enthalten nicht die Enea vorgelegte, sondern eine spätere Textstufe. Diese offenbart faszinierenderweise, daß Tröster folgsam die vom Zensor Enea vorgeschlagenen Korrekturen in beiden Textfassungen tatsächlich „großenteils, aber nicht immer gleichartig“ eingearbeitet hat.102 Trösters ‚Dialogus‘ steht stellvertretend für die vorherrschenden inhaltlichen Interessen des angesprochenen lockeren Hofkreises. Die Prioritäten sind eindeutig: Poetik, nicht Geschichte, Ovid statt Tacitus, amor statt arma. Enea selbst schrieb ja 1445 den ovidgetränkten Brief ‚De remedio amoris‘, an einen Ypolitus Mediolanensis (= Nikolaus Kreul),103 und den 98

Ottob. Lat. 347 fol. 98 r. Ebd. 100 Ebd., fol. 98 v–99 r. 101 Ebd., fol. 98 v. Dazu siehe HELMRATH: Pius II. (wie Anm. 83), 109–111. 102 W ORSTBROCK: Art. Tröster (wie Anm. 50), 1081. – Ein noch exzessiveres stilkritisches Exemplum bot Enea in seinem langen, noch genauer zu untersuchenden Brief an den Kanzler der Königinwitwe Sophie von Polen; es streift offenbar die Grenze zur Satire. Die Kritik an den passagenweise inserierten Teilen eines Vorlagebriefs der Königin wird zur verkappten Politikkritik: Wien, Ende Juni 1445, WOLKAN I 1 (wie Anm. 1), 508–522 Nr. 175. Als Kanzler, der das Schreiben dann angeblich formuliert habe, wird ein gewisser Pleban „Stephanus Schpick“ angenommen; das inserierte Vorlageschreiben ist in dieser Form anderweitig nicht überliefert; vgl. ebd. 508f. Anm. 103 Wien 1445 Dezember 31, datiert nach GENZSCH: Anlage (wie Anm. 63), 441: statt des falschen Datums im Druck bei WOLKAN II (wie Anm. 1), 33–39 Nr. 7 „März 1446“; dazu auch STRNAD: Kreul (wie Anm. 51), 260. Der Brief wurde handschriftlich und be99

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künftigen Welterfolg, die Briefnovelle ‚De duobus amantibus‘. Hier diente nicht mehr Minneethik oder christliche Askese der formalen, psychologischen und satirischen Bewältigung libertinen Hoflebens, sondern, als neue Semantik, die Transformation antiker Texte. 6. Humanistenschrift: Ein weiteres wesentliches, in der Forschung m. E. unterschätztes Element der Diffusion stellte die neue Humanistica dar. Relativ frühe Spuren der Aneignung dieser Schrift in Deutschland läßt wiederum ein Brief Eneas verfolgen, gerichtet an Niklas Wyle: Er antwortet auf einen Brief Wyles, lobt diesen für seine Handschrift und seinen Stil: sed attulisti et jocunditatem tuis scriptis mihi, quia vidi epistolam tuam duabus perstare partibus, quas convenit habere omnem scripturam. nam caracteres rotundi sunt et bene connexi et apta oblectare legentem sunt tota.104

Die Buchstaben sind rund (rotundi), gut miteinander verbunden, gut lesbar. Auch wenn diese Kriterien nicht eindeutig auf einen bestimmten Schrifttyp rückschließen lassen, liegt doch die Deutung nahe: Wyle übte sich in humanistischer oder zumindest italianisierender Schrift, Minuskel oder Kursive (bene connexi), und lieferte dem Meister eine briefliche Probe.105 Ob er sich dabei unmittelbar von Autographa des Enea Silvio, der eine individuell aufgeladene humanistische Kursive schrieb,106 oder anderweitig anregen ließ, scheint nicht bekannt. Auch das Lob der Lesbarkeit bedeutete jedenfalls in der privaten Öffentlichkeit der Humanistenkorrespondenz eines Enea so etwas wie einen Ritterschlag.107

reits sehr früh (ab 1475?) als Einzeldruck weit verbreitet sowie zusätzlich in den Sammlungen der ‚Epistulae familiares‘ ab 1478 aufgenommen. 104 Wien, ca. Juli 1452; W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 100 Nr. 47. Folgebrief Wyles (1453/ 54) in: JOACHIMSEN: Frühhumanismus (wie Anm. 46), 258f. Nr. 4; sowie W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 116 f. Nr. 58. Wenn man die Missivenbücher der Stadt Esslingen aus dieser Zeit aufschlägt, sieht man, wie gotische Kanzleischrift mit einem Schlag einer klaren Humanistica Platz macht: es ist die Hand des Stadtschreibers Wyle. 105 Zum Kriterium der Lesbarkeit in der humanistischen Terminologie: RIZZO: Lessico (wie Anm. 75), 141–144, zum griechischen Wort character = Buchstabe ebd. 348 s.v. Eine Untersuchung von Autographa im Umfeld des Wiener Hofs steht noch aus. 106 Eine systematische Analyse seiner Schriftentwicklung, von der Vorlesungsmitschrift der Sieneser Studienjahre bis zur gichtigen Schrift des früh gealterten Papstes, steht aus. [Siehe jetzt grundlegend MARTIN W AGENDORFER: Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini (Studi e testi 441), Vatikanstadt 2008.] 107 Geradezu zum Gegenbild stummer Illegibilität stilisiert wirkt ein Brief des Adligen Ambrogio Spannocchi aus Rom mit Eneas Antwort von 1454 Mai 3: tuas litteras ... , quas rectius dixerim lituras [im Sinne von ‘Schmutz’]; Nescio grece an hebraice scripsisti. Latine quidem minime. Non intellexi unicum verbum neque penes me quisquam fuit, qui tuos characteres cognosceret. Perinde est igitur ac si nihil ad me scripsisses. Spannocchis Schrift wird als hakiges (uncinus) Kaufmannsgekrakel abqualifiziert: scias me deinceps Latinas litteras, non uncinos mercatorios didicisse; W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 475 Nr. 279; zitiert auch bei RIZZO: Lessico (wie Anm. 75), 142 f.

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Die Humanistica, um 1400 oder kurz zuvor von Salutati und Poggio als Minuskel entwickelt, spätestens 1423 von Niccolò Niccoli um die Kursive erweitert, war diejenige Novität des Humanismus, deren Ausbreitung sich am ehesten empirisch nachweisen läßt.108 Sie brachte in bestimmten Anwendungsfeldern eine Transformation der alten Schreibformen nach vorgotischen Vorbildern, zuerst in Florenz.109 Wer aber seine Handschrift änderte, mochte eine Mode imitieren, zugleich aber prägte er sich damit ein „ostensives Kennzeichen“ (Mertens) auf, mit dem er sich als Gleichgesinnter zu erkennen gab. Insofern konnte die Adaptation der Humanistica einem persönlichen Bekenntnis zur neuen Bildungsbewegung und ihrem ästhetischen Geschmack gleichkommen110 und so die Schwelle zwischen ‘Gotik’ und ‘Renaissance’ geradezu manifestieren. Die Humanistica ist daher ein Diffusionskriterium erster Ordnung.111 Wie unangebracht jedoch 108

BERNHARD B ISCHOFF: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24), Berlin 21986, 195–201, 305–309 (Literatur); RIZZO: Lessico (wie Anm. 75), 93–168. Grundlegend zur Entstehung der Humanistica in Florenz um 1400 und zu ihrer frühen Diffusion – bisher am frühesten 1412/13 in Venedig nachgewiesen –, wenngleich seither in mancher Hinsicht modifiziert: B ERTRAND L. ULLMAN: The Origins and Early Development of Humanistic Script (Storia e letteratura 79), Rom 1970; konzise in die Probleme einführend: ALBINIA C. DE LA MARE: Humanistic script: the first ten years, in: FRITZ KRAFFT/ D IETER W UTTKE (Hg.): Das Verhältnis der Humanisten zum Buch (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 4), Boppard 1977, 89–110; HORST ZIMMERHACKL: Die Entwicklung der humanistischen Dokumentarschrift. Ergebnisse eines Würzburger Forschungsprojekts, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 79 (1999), 319–331. 109 Vgl. neben der in Anm. 108 genannten Literatur E RNST H. GOMBRICH: Antike Regeln und objektive Kriterien. Von der Schrift- und Sprachreform zur Kunst der Renaissance: Niccolò Niccoli und Filippo Brunelleschi, in: DERS.: Die Entdeckung des Sichtbaren. Zur Kunst der Renaissance, Bd. 3, Stuttgart 1987, 114–135, bes. 124–127 [zuerst 1967]. – Den unzureichenden Stand der epigraphischen Renaissance-Forschung und ihre mangelnde Koordination mit der Paläographie betonte schon 1960 zu Recht MILLARD MEISS: Towards a more comprehensive Renaissance Paleography, in: The Art Bulletin 42 (1960), 97–112. 110 Vgl. AUGUSTO C AMPANA: Scritture di umanisti, in: Rinascimento 1 (1950), 227– 256, hier 233 f. 111 Zur binnenitalienischen Diffusion der Humanistica: T HOMAS FRENZ: Das Eindringen humanistischer Schriftformen in die Urkunden und Akten der päpstlichen Kurie im XV. Jahrhundert, in: Archiv für Diplomatik 19 (1973), 247–419; 20 (1974), 384–506; HORST ZIMMERHACKL: Das Eindringen humanistischer Schriftformen in die Dokumentenschrift der kommunalen Behörden der Emilia Romagna im 15. Jahrhundert, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), 119–333. – Für die Ausbreitung auch nördlich der Alpen grundlegend: J OHANNE AUTENRIETH (Hg.): Renaissance- und Humanistenhandschriften. (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 13), München 1988. Am Beispiel der Stadt Basel, vom Basler Konzil bis Reuchlin, arbeitet MARTIN S TEINMANN: Die humanistische Schrift und die Anfänge des Humanismus in Basel, in: Archiv für Diplomatik 22 (1976), 376–437; vgl. DERS.: Die lateinische Schrift zwischen Mittelalter und Humanismus, in: GABRIEL S ILAGI (Hg.): Paläographie 1981 (Münchener Beiträge zur Mediävistik

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einsträngige Gleichsetzungen sind (wer Humanist ist, schreibt auch Humanistica; wer humanistische Schriftelemente adaptiert, ist auch Humanist etc.), hat die paläographische Forschung deutlich gezeigt. Die äußerst verschiedenen Mischformen, die gerade im Norden als Assimilierung an autochthone Schrifttraditionen statt einer recht seltenen ‘reinen’ Humanistica vorkommen, bilden ein besonders faszinierendes Feld von Transformationsvorgängen. Eine systematische Analyse der Autographe deutscher und anderer nichtitalienischer Humanisten im Hinblick auf Zeit und Ort der Aneignung (etwa beim Studium in Italien) sowie des Gebrauchs der Humanistica und ihrer gotischen Mischformen scheint dringend geboten. Die Betreffenden verfügten in manchen Fällen tatsächlich über mindestens zwei Handschriftenformen, die alte und die neuerworbene. Dies galt schon für Poggio Bracciolini, den Erstgestalter, der in aufschlußreicher Gegenstandsbezogenheit die Humanistica für sorgfältige Kopien von Klassikertexten, eine stärker gotisierende Kursive aber weiterhin für Schnellkopien, Briefe und Breven benutzte.112 Doch eher selten lagen diese Schriften um Welten auseinander, oft divergierten sie nur in Buchstabendetails. Andere Zeitgenossen, vor allem außerhalb Italiens, schrieben, obwohl humanistisch aktiv, ohne italienischen Einfluß weiter ihre Gotica.113 Fassen wir zusammen: Humanismus-Rezeption bestand eben auch, ja zuallererst, in der Aneignung neuer Fertigkeiten, wie der klassischen Latinität, Rede- und Briefkunst, die zusammen mit der Schrift hochgradig und Renaissance-Forschung 32), München 1982, 193–199 mit Tf. XXV–XXVII; DERS.: Von der Übernahme fremder Schriften im 15. Jahrhundert, in: AUTENRIETH (Hg.): Renaissance- und Humanistenhandschriften (wie oben), 51–62; DERS.: Von der Handschrift zur Druckschrift der Renaissance, in: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert, 1. Halbbd., hg. vom Vorstand der Maximilian-Gesellschaft und B ARBARA T IEMANN, Hamburg 1995, 203–264, bes. 213–216 (Humanistica), 222–228 (Antiqua). Das Basler Konzil hatte nach STEINMANN für die Verbreitung eher geringen Einfluß, ebenso – während seiner Konzilszeit – Enea Silvio selbst; STEINMANN: Humanistische Schrift (wie oben), 385–393; anders dagegen M IRELLA FERRARI: La ‘littera antiqua’ à Milan, 1417– 1439, in: AUTENRIETH (Hg.): Renaissance- und Humanistenhandschriften (wie oben), 13–29, hier 21–24: Bedeutung des Konzilsbesuchs von Mailänder Prälaten für den Import der Humanistica in Mailand. 112 DE LA MARE: Humanistic script (wie Anm. 108), 110. 113 So etwa der Augsburger Sigismund Gossembrot; HERRAD SPILLING: Handschriften des Augsburger Humanistenkreises, in: AUTENRIETH (Hg.): Renaissance- und Humanistenhandschriften (wie Anm. 111), 71–84, hier 75 f. mit Abb. 34. Vgl. etwa die Hand des Nikolaus Kreul in Klagenfurt UB Pap.-Hs. 91, die nur sehr zurückhaltend als ‘Humanisten-Minuskel’ bezeichnet werden kann; STRNAD: Kreul (wie Anm. 51), 267 f. mit Abb. 28. Reichhaltig das Material bei STEINMANN: Humanistische Schrift (wie Anm. 111), 411–427 etwa zu Heynlin von Stein; vgl. H ENRI-J EAN MARTIN: A propos de Guillaume Fichet et Johann Heynlin, in: Gutenberg-Jahrbuch 75 (2000), 82–87, ebd. 85 Schriftproben Heynlins in einer Vergil-Handschrift, unter Berufung auf Steinmann: „il ne cesse de faire évoluer son écriture afin de trouver un compromis entre les écritures gothiques et humanistiques.“

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performative Signale darstellten. Es zeigt sich dabei die ästhetische Seite des Humanismus, hier im Kult der wohlgeformten Handschrift, des schön gestalteten Manuskripts, die seinem Ideal von Reinheit und Klarheit entsprachen. 7. Schließlich, als Transformationsmedium par excellence: die Muttersprache des Gastlandes. Konnte Enea Deutsch? Hier könnte man den ‘Apostel’ wohl als Ausfall bezeichnen. Verwunderlich ist das nicht. In seinem Tätigkeitsfeld und Personenkreis konnte er sich entweder im bildungselitären Raum der Latinität bewegen oder sich einheimischer Dolmetscher bedienen.114 Gutes Latein war es, was man von ihm erwartete, an ihm bewunderte. Was das Deutsche betrifft, lassen die wenigen aussagekräftigen Belege folgenden Schluß zu: Er hat wohl, interpretiert man einen Gedichtvers großzügig, etwas Deutsch verstanden (barbariem docuit me Basilea prius),115 aber wohl nie wirklich Deutsch sprechen gelernt. Dies erschwerte selbst das Flirten: Mihi si esset Teutonicus sermo, adirem feminam, solarer et blandis verbis recrearem. Sed nichil mihi cum viris Alamanis preter tactum est. 116

V. Humanismus im unmittelbaren Transfer hatte sich in unseren sieben Aktionsfeldern nicht zuletzt als Arbeit auf beiden Seiten, der des Gebenden und der des Lernenden, erwiesen; es findet Austausch, Wechselwir114 Seine lateinischen Reden auf Reichstagen wurden, wie dort üblich, in zwei Sprachen vorgetragen: am 8./9. Oktober 1454 auf dem Frankfurter Tag, berichtet der bayerische Gesandte Konrad Rottenauer: „in des bischofs von Trier herberg ward der Römisch kaiser durch den pischof von Senis [sc. Enea Silvio] in latenischer und den pischof von Gurch [sc. Ulrich Sonnenberger, Bischof von Gurk] in teustzer sprach in seinem ausbeleiben zu dem tag entschuldigt“; Augsburg UB Fürstl. Oettingen-Wallersteinsche Bibl. I. 3. 2° 18 fol. 20 r, künftig in Deutsche Reichstagsakten Bd. 19.2 Nr. 11 [1]. Die von Enea in der ‚Historia Austrialis‘ wegen ihrer Geschichtsfabeln harsch kritisierte ,Chronik von den 95 Herrschaften‘ mußte ihm Hinderbach zuerst ins Lateinische übersetzen; STRNAD: Wie Johannes Hinderbach (wie Anm. 3), 409, ebd. 408 zur Deutschkompetenz des Enea Silvio. 115 Die Stelle im Kontext: tum ‚mea nympha, precor‘ germana voce locutus/barbariem docuit me Basilea prius; VAN HECK (Hg.): Enee Silvii Carmina (wie Anm. 21), Vers 19 f. Nr.10, ebd. weitere Belege. Vgl. MEUTHEN: Freundeskreis (wie Anm. 17), 512; MÄRTL: Liberalitas baioarica (wie Anm. 1), 247 f., jeweils mit Belegen. 116 1444 Mai 27 an Johann Vrunt; W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 323 Nr. 141. – In einem Brief an Johann Lauterbach freut er sich, am Hof eine italienischkundige Witwe kennengelernt zu haben: Apud viduam quandam sermonis gnaram Itali, nam et in domo illorum de Scala serviverat; 1444 November 13, ebd., 447 Nr. 161. – Ein deutscher Begriff: accesserunt me hodie burgermayster, id est pretor sive preses huius inclite urbis Viennensis; W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 20 Nr. 9, an Johannes Capistran 1451 Juli 5.

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kung statt. Im Laufe seiner deutschen Jahre glaubt man beim ‘Apostel’ Enea Silvio Piccolomini einen langsamen Prozeß der Identifikation feststellen zu können. Die Tätigkeit am Kaiserhof veranlaßte ihn als einzigen italienischen Humanisten seiner Generation, „Imperialist“ zu werden, sprich: Kaisertheorien auf den Spuren Dantes zu vertreten (,De ortu et auctoritate imperii Romani‘).117 Er wies damit ebenso in die mittelalterliche Vergangenheit wie in die Zukunft, nämlich auf den humanistischen Diskurs über Reich und Nation um 1500. Doch auch für die eigene Person finden sich Identifikationen, die mehr zu sein scheinen als Koketterie: Er wolle mehr ein deutscher als ein italienischer Kardinal sein (Conabor, ... meque Theutonicum magis quam Italicum cardinalem esse), schreibt er dem Kaiser, und im Kardinalskolleg sage man ohnehin nos magis Germanum quam Italum esse.118 Sein langer Einsatz in Deutschland habe dazu geführt, so der Kardinal in seiner ‚Germania‘, daß er Theutoniam ipsam … veluti patriam schätze.119 Hat sich Enea selbst als ‘Apostel des Humanismus’ empfunden beziehungsweise dargestellt? Hat er ein missionarisches Selbstverständnis zelebriert, „die Völker nördlich der Alpen … neu zu latinisieren“?120 Ehe die klassischen Belege noch einmal geprüft werden, sei an zwei markante Primus, qui – Stilisierungen von deutschen Zeitgenossen Eneas erinnert. Ein Jahr, nachdem der Piccolomini Deutschland verlassen hatte, sagte Peter Luder in seiner Heidelberger Rede vom 15. Juli 1456, die man lange als den „Beginn des deutschen Humanismus“ betrachtet hat, von sich: Primus ego in patriam deduxi vertice Musas/Italico mecum.121 Doch schon vorher, etwa 1453/54, hatte sich Johannes Roth in einem bemerkenswerten Brief an Albrecht von Eyb aus Rom als ersten Deutschen (Germanorum primum) 117 Drucke: W OLKAN II (wie Anm. 1), 6–24 Nr. 3; GERHARD KALLEN: Aeneas Silvius Piccolomini als Publizist in der ,Epistola de ortu et auctoritate imperii Romani‘ (Veröffentlichungen des Petrarca-Hauses Köln 14), Stuttgart 1939, 52–97. 118 Zitate; An Friedrich III. 1457 Dezember 21; Aeneae Sylvii Opera omnia, Basel 1551, 863 Nr. 369; an Rudolf von Rüdesheim 1457 Juli 22; ebd. 831 f. Nr. 356; nach MEUTHEN: Freundeskreis (wie Anm. 17), 512 Anm. 153, 155. 119 Aeneas Silvius: Germania, hg. von ADOLF SCHMIDT, Köln/Graz 1962, 36 (I c. 38); siehe auch Meuthen, Freundeskreis (wie Anm. 17), 512 f. 120 KONRAD B. VOLLMANN: Latinitas im Denken Enea Silvio Piccolominis, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 31 (1999), 45–53, ebd. 51; vgl. zugespitzt ebd. 52: „Enea Silvio schrieb kein ‘Europäisches Manifest’, aber aus allen[!] seinen Schriften geht die Überzeugung hervor, daß die Wiedergeburt, die in Italien stattgefunden hatte, nicht auf dieses Land beschränkt sein dürfe. Alle Länder Europas sollten für die studia humanitatis gewonnen werden, die selbstverständlich auch die Nationalsprachen und -literaturen miteinschlossen.“ 121 Vgl. SOTTILI: Formazione (wie Anm. 60), 223 Anm. 49: „che segnerebbe l’inizio dell’Umanesimo tedesco“, nach RUDOLF KETTEMANN: Peter Luder (um 1415–1472). Die Anfänge der humanistischen Studien in Deutschland, in: S CHMIDT (Hg.): Humanismus (wie Anm. 62), 13–34, hier 21.

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bezeichnet, der sich den studia humanitatis zugewendet habe, ja als deren Patronus.122 Die Selbstdarstellung Eneas in seinen Briefen bedient sich neben mancher Bescheidenheitstopoi reichlich der Reinheits- und Quellenmetaphern. An den polnischen Erzbischof Olesnicki schrieb er am 27. Oktober 1453: „Ich teilte denen, die zu mir kamen, soweit ich konnte, vom Lichte mit und wenn ich auch keine Quellen von Milch [sc. das gelobte Land] eröffnen konnte, stillte ich doch den Durst der Freunde mit reinem Wasser.“123 Weiter an Olesnicki 1453: „Wo ich erhabene Geister fand, die ich für geeignet hielt, von den edelsten Brunnen zu schöpfen, zeigte ich ihnen, damit sie davon tränken, lebendige Springquellen, lehrte ich sie, den Strömen des Quintilian, Cicero und der anderen nachzuspüren, denen Italien [bereits] folgt.“124 Seine Komplimente zur erstaunlichen Akkulturation macht er durchaus verschiedenen Nationen: „Nie hätte ich geglaubt“, schreibt er dem gelehrten Polen, „daß Nordlichter den Reizen der litterae folgen könnten; ... aber die Polen schreiben so elegant wie die Italiener.“ Ihre Nation ist zu loben, weil sie noch früher als Deutsche und Ungarn (prius tamen quam illi) den Glanz der neuen Redekultur aus Italien heimholten.125 Gegenüber dem 122 MAX HERMANN: Ein Brief an Albrecht von Eyb, in: Germania 33. Neue Folge 21 (1888), 499–506. Der Brief ist nur aus der kritischen Replik des Andreas Baier bekannt, dem Eyb den Brief zu lesen gegeben hatte: Se fore Germanorum primum, qui artes, que humanitate intitulantur, amplexus sit seque quodammodo patronum earundem profiteatur (502); beziehungsweise solumque ipsum in Romana curia inter Germanos illam [sc. artem humanitatis] sequi (504); dazu P AUL J OACHIMSOHN: Gregor Heimburg. (Historische Abhandlungen aus dem Münchener Seminar 1), Bamberg 1891 [Reprint mit Verfasserangabe Paul Joachimsen Aalen 1983], 107; SOTTILI: Formazione (wie Anm. 60), 221–225. Zu Roth siehe oben bei Anm. 50–51. – Wie vorsichtig man sein muß, die Anfänge des Humanismus in Deutschland einzig auf Enea Silvio und dann 1456 auf Peter Luder zu reduzieren, zeigt in einem erstaunlichen Beispiel, einem alle humanistischen Topoi aufweisenden Lobbrief des Engelbert Schut von Leiden von ca. 1441 (!) an seinen Lehrer, den Kölner Theologen Johannes Tinctoris, GÖTZ-RÜDIGER TEWES: Frühhumanismus in Köln. Neue Beobachtungen zu dem thomistischen Theologen Johannes Tinctoris von Tournai, in: JOHANNES HELMRATH/HERIBERT MÜLLER (Hg.): Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen zum 65. Geburtstag, München 1994, Bd.2, 667–696. 123 Impartiebar his, qui ad me veniebant, quantum poteram luminis, et si lactis aperire fontes non poteram, amicorum tamen sitim pura linfa sedabam. Si non magna dabam, mala non ministrabam; W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 320 Nr. 177. 124 Cumque ingenia invenissem sublimia, que haustus captare nobilissimos apta viderentur, his unde biberent scaturigines vivas ostendi, Quintiliani, Ciceronis et aliorum, quos Italia sequitur, vestiganda flumina docens; ebd., 320 f. 125 Non existimabam, aquilonares homines litterarum sequi delitias. Deceptus sum ... Polonorum sunt quam Italorum munditie. Commendanda natio et in celum laudibus efferenda Polonorum, qui quamvis ad Italiam, ubi nunc est facundiae saturigo, medios habent vel Theutones vel Hungaros, prius tamen quam illi fontem adierunt limpidissimisque

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Engländer Adam von Moleyns, dem päpstlichen Protonotar, streift sein Kompliment vom 29. Mai 1444 die Spottgrenze: „Ich wundere mich, daß römische Beredsamkeit überhaupt bis Britannien gelangt ist.“126 Aber die profundesten Dicta werden den Deutschen gesagt. Deutschland sei dabei, wieder den Anschluß zu gewinnen, den es auch im Mittelalter keineswegs immer verloren hatte, so lautet der Tenor eines Briefs an Niklas Wyle: Gaudeo, quod Almaniam reverti ad eloquentiam video. Spero brevi futurum, ut littere in hoc climate reviviscant. Nam et olim multi Theutonici docti fuerunt litterisque ornatissimis scripserunt. Perge tu, oro, et suade aliis hanc viam sequi, que patriam possit illustrare.127

Schließlich der berühmte Brief vom 31. Januar 1449 an den gebildeten wie galligen Juristen Gregor Heimburg, seinen späteren Feind, der zwar die Klassiker kannte, aber in einer Attitüde der Selbstbehauptung des ‘harten’ Fachs Jurisprudenz Skepsis gegen die ‘weichen’ Fächer der Humaniora und vor allem gegen deren humanistische Schönredner wahrte. Die eindrucksvolle Passage lebt vom Modell der migratio artium, welches in anderer Form bereits im Eingangszitat bei Hinderbach begegnete. Die migratio der Artes von Griechenland nach Rom wird parallel zu derjenigen von Italien nach Deutschland betrachtet, zunächst aus griechischer Perspektive: Grecorum artes in Latinum migrarunt, unica nobis et familiaris et carissima remanserat eloquentia. Sed hanc etiam Cicero nobis aufert atque in Italiam secum ducit. Numquid justa est causa lacrimarum?

Ausgerechnet Heimburg wird ihm dann zum deutschen Cicero, der den Juristen (bei Enea auf einer Ebene mit dem Theuto!) abgelegt, also gerade das getan habe, was Heimburg in Wirklichkeit demonstrativ nicht tun wollte: Sic mihi hodie de te visum est, cum in regia de studiis, que vocant humanitatis, dissertares. Nam et legistam et Theutonem superabas et Italicam redolebas oratoriam facundiamque.

Im Folgenden wird ganz deutlich mit der Metapher des Lichttragens und seiner Weitergabe gearbeitet: Sed quod fuit merori Greco, mihi letitiam prebuit. Neque enim, si Theutonia litteris claret, quas ille tradidit, Italia minus habet litterarum. Sunt scientie sicut et lumina; qui de suo lumine lumen accendit, sed sibi retinet lucem et accipienti tenebras auffert.

potati limphis splendorem eloquentie domum retulerunt; W OLKAN II (wie Anm. 1), 159 Nr. 41 (23. Februar 1450). 126 Miratusque sum Romanam facundiam in Brittanniam usque profectuam esse; W OLKAN I 1 (wie Anm. 1), 325 Nr. 143. 127 W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 100 Nr. 47.

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In der Sankt Gallener Bibliothek, aus der Poggio einst den Quintilian ans Licht geholt hatte, fand nun Enea schön geschriebene Bücher, deren Autoren – Deutsche waren; den Deutschen wird damit rhetorisch ihr Mittelalter zurückgegeben: Inveni apud sanctum Gallum, quod Suevorum est opidum, in veteri monasterio bibliothecam pervetustam, ubi et libros reperi ornatissime conscriptos, quorum auctores fuerunt Theutones.

Wie es zu dem angeblichen Bildungsabstieg, der auch Scholastisierung hieß, kam, wird nicht erklärt, aber Enea erinnert auch an Dekadenzphasen der Kultur im Italien der Zeit vor Petrarca und Giotto: Mirabar, cur hodie nihil eloquentie hic in regionibus eluceret, sed venit in mentem, apud Italos quoque tempus fuisse, quo sepulta dicendi facultate barbarorum inscitia dominabatur. Ante centum ferme annos et antea trecentis quadringentisque non invenisses, qui per Italiam sermonem habuerit tersum et lucidum, sic pingendi sculpendique accidit arti.128

Das Verhältnis zwischen Italien und Deutschland ist durch Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet, wie das Verhältnis der deutschen Zeitgenossen zu ihrem „Apostel“ Enea Silvio, der zugleich der Renegat war, der den Deutschen ‘ihr’ Basler Konzil zerstörte, der gleichwohl im Reich Pfründen sammelte, der als Papst die Konzilsappellation verbot und in der schweren politischen Triple-Krise der Jahre 1460/61 in Mainz, Böhmen und Tirol mit Bann und Interdikt regierte. Ohne den Begriff Ambivalenz kommt man nicht aus. Die exotisch-kulturkritische Wahrnehmung der ‘Barbaren’ und eigene Gefühle des Exils (wozu auch die antischolastische Topik gehört)129 stehen neben singulärem Interesse am Fremden, neben Akkulturationslob und pädagogischem Bemühen.130 128 W OLKAN II (wie Anm. 1), 79–81 Nr. 25, Zitate 79 f.; dazu J OACHIMSOHN: Heimburg (wie Anm. 122), 103 f.; über das ambivalente Verhältnis des Juristen Heimburg zum Humanismus ebd. 99–112. 129 Den Franziskaner Francesco Traversagni, der freiwillig von Padua an die Universität Wien kam (siehe oben Anm. 39), vergleicht er mit einem, der nach Äthopien geht, um die Gymnosophisten zu sehen; wiederum im Brief an Zbigniew Olesnicki 1453 Okt. 27: Is Patavi (in Padua) studens, cum accepisset egregios in Austria magistros esse, qui oratoriam docerent, cupidus ejus artis ad summum ediscende, cuius prima elementa teneret, insalutatis amicis festinus in Austriam migravit, non minus avidus peregrinas hauriendi doctrinas, quam ille, qui Ethiopiam adiit, ut gynnosophistas et famosissimam solis mensam videret in sabulo. At cum Viennam ingressus gimnasia philosophorum percurrisset, tanti eam scolam fecit, ut qui venerat auditurus, mox cathedram ascenderet audiendus, et quos queritabat magistros, hos discipulos informaret. Simile mihi evenit. Expectavi contemptum, existimationem sum consecutus; W OLKAN III 1 (wie Anm. 1), 321 f. Nr. 177. Vgl. auch oben Anm. 40. 130 Beim Fall Gregor Heimburg – Frühhumanist oder deutscher Recke, der das Urtümliche gegen welsche Überfremdung verteidigt? – wird auch ein GEORG VOIGT markig: „Die eitle Nachahmungssucht der Italiener erfasst ihn nicht, den Sprung von der nüch-

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Ziehen wir eine vorläufige Bilanz: Der Ansatz war personal; mit Enea Silvio Piccolomini stand exemplarisch eine der prominenten Einzelfiguren im Blickfeld, deren langjährigem Wirken im Ausland ein apostelgleicher Einfluß auf die Diffusion des Humanismus nördlich der Alpen zugeschrieben wird. Es zeigte sich, daß dieser Einfluß, sei es durch unmittelbar persönlichen Kontakt bei Hofe, den der Historiker kaum dokumentieren kann, sei es durch den brieflich-literarischen Niederschlag, nur Einzelpersonen erfaßte, teils unmittelbar bei Hofe, teils mittelbar, als interessierte Leser seiner schnell multiplizierten Schriften weit über die Hofkreise hinaus. Die regionale Streuung der Außenkontakte konzentriert sich besonders auf Bayern und Südwestdeutschland, Böhmen und eine Verbindung nach Polen. In der Regel waren es Personen, die über die Begegnung mit Enea beziehungsweise über sie hinaus auch Kontakte nach Italien unterhielten. Die oben ausführlich zitierten brieflichen Äußerungen lassen erkennen, daß Enea Silvio sich, eingebettet in die Topik humanistischer Freundschaft, durchaus in der Apostelrolle stilisiert hat beziehungsweis von seinen Adepten stilisiert sieht. Er führt dabei eine Haltung vor, die man mit Castiglione Sprezzatura nennen möchte, die Sprezzatura des Apostels, der fast unwillkürlich wirkt und von dieser Wirkung selbst überrascht ist. Die anschaulichste Demonstration humanistischen Kulturtransfers in nuce, als Lernen und Üben, wurde in Eneas Rolle als Stilkritiker und in den Bemühungen einzelner Adepten um humanistischen Briefstil und Schreibduktus sehr deutlich. Das Gesamtmilieu am Hof, dies ist hervorzuheben, wurde hingegen durch Enea, seine Kontakte, seine singuläre Aura als Politiker und innovativer Literat, noch nicht humanistisch geprägt. Zur Bildung eines programmatischen Kreises, der den späteren Celtisschen Sodalitäten vergleichbar gewesen wäre, scheint es nicht gekommen zu sein. Untrennbar verbinden sich bei diesen Analysen prosopographische Studien mit Fragen zur Kommunikation, zur transferträchtigen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von Texten. Dazu gehören, um zum abschließenden Thema zu kommen, auch die historiographischen Werke des Enea Silvio.

ternen Wirklichkeit zum blendenden Scheine kann er nicht über sich bringen. Seine kräftige Originalnatur sondert das Ungesunde von sich aus. Das ist es, was den Italienern als Unbeholfenheit erschien, während es gerade die Naturwahrheit, die Richtigkeit des Herzens war, auf welcher die Zukunft des deutschen Geistes ruhte“; Wiederbelebung (wie Anm. 5), Bd. 2, 286. „Das ist die Opposition des gesunden deutschen Geistes gegen die Kunst des Redens und Schreibens, die in Italien zu einem unnatürlichen Ansehen gekommen war“; ebd. 290.

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VI. Das letzte Wort soll Enea, dem Geschichtsschreiber, gelten: Literarisch wirkte er in Deutschland, das haben die obigen Skizzen gezeigt, zunächst weniger als Historiograph, sondern vor allem als Briefautor, Redner und Poet. Er inaugurierte damit, zumindest in Deutschland, zugleich eine neue Form von Literatentum und Literaturbetrieb. Die große historiographische Schaffensexplosion setzte bei ihm ohnehin erst in den fünfziger Jahren ein. Die vor der Rückkehr nach Italien 1455 entstandenen Historica (,Commentarii de gestis concilii Basiliensis‘ [1440/1450] und ,De viris illustribus‘ [1445/47]) hingegen waren kaum verbreitet. Und im historiographischen Genre folgte ihm zunächst nur Johann Hinderbach mit seiner ‘Fortsetzung’ der ‚Historia Austrialis‘ nach, und dies auf bescheidenem Niveau.131 Von einem Identifikationsprozeß war schon die Rede. Der beruflich bedingte habsburgische Blickwinkel rückte dem Kanzlisten Piccolomini die Länder Österreich, Böhmen und Ungarn, aber auch Polen und Preußen immer näher. Libudže Hrabová spricht daher von einer „Entdeckung Mitteleuropas“ durch Enea Silvio.132 Seine Erfahrungen als Politiker bildeten den Fundus für seine drei historischen Hauptwerke, die insofern immer einen Zug von Ego-Dokumenten tragen. Dazu kam profunde Gelehrsamkeit, breite Kenntnis der Klassiker und schließlich die curiositas, der neugierige, der satirische Blick. Omnis historiae unice curiosus nannte ihn gegen Ende des Jahrhunderts treffend der böhmische Humanist Bohuslav Hassenstein in seinen Briefen ‚De re publica‘.133 Auch wenn der Begriff keine analytische Tiefe hat: Interesse, curiositas für das ihn umgebende Fremde, die produktive Mobilisierung beziehungsweise Resemantisierung gelehrten, sprich: antiken Wissens (Plinius, Ptolemaeus, Strabo etc.) und dessen Fermentierung mit eigener Politikerfahrung und Autopsie sind in der Tat ein Zug von Enea Silvio, der gemessen an seinen Zeitgenossen singulär wirkt. Er war weniger „Spiegel“ (wie Burckhardt sagte) als vielmehr Transformator. Dies gilt für die 1453 bis 1458 in drei Redaktionen entstandene ‚Historia Austrialis‘ (auch: ,Historia Fride131 Von Sigismund Meisterlin und seiner Chronographia Augustensium sei hier einmal abgesehen; siehe J OACHIMSOHN: Meisterlin (wie Anm. 42); JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 9), 42–44. Zu Hinderbachs Materialsammlung für eine mögliche „Fortsetzung“ der ,Historia Austrialis‘: STRNAD: Hinderbach (wie Anm. 3), 410 f. 132 LIBUDžE HRABOVÁ: Geschichte der Elbslawen und Preußen im Bilde der humanistischen Historiographie, Prag 1991, 29; ebd. 33: Enea als „der erste Ethnologe Mitteleuropas“. 133 I. MARTÍNEK/D. MARTÍNKOVÁ (Hg.): Bohuslai Hassensteinii a Lobkowicz Epistulae. Bd. 1.: Epistulae de re publica scriptae, Leipzig 1969, 3,23. Pius II. nannte sich selbst einmal Silvarum amator et varia videndi cupidus; Pii II Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt, hg. von ADRIAN V AN HECK, 2 Bde. (Studi e Testi 313), Vatikanstadt 1984, hier Bd. 2, 519 (IX,1).

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rici‘),134 für die ,Historia Bohemica‘,135 die ersten fremden National- und Landesgeschichten des Humanismus, und ebenso für die ,Europa‘, verbunden mit der ,Asia‘.136 Die ,Historia Bohemica‘, von der Geschichte

134 W ORSTBROCK: Art. Piccolomini (wie Anm. 1), 656 f. – Die Geschichte Kaiser Friedrichs III von Aeneas Silvius übersetzt von T HEODOR ILGEN, 2 Bde. (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 88), Leipzig [1899], Einleitung; A LPHONS LHOTSKY: Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichte. Ergänzungsband 19), Graz/Köln 1963, 398–401; H ANS KRAMER : Untersuchungen zur ‚Österreichischen Geschichte‘ des Aeneas Silvius, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichte 45 (1931), 23–69; LHOTSKY: Enea Silvio und Österreich (wie Anm. 44), 34–43; VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 1), 110–122; SCHÜRMANN: Rezeption (wie Anm. 85), 23–25, 129–131; STRNAD: Auf der Suche (wie Anm. 93), passim (Literatur). MARTIN W AGENDORFER: Studien zur ‚Historia Australis‘ des Aeneas Silvius de Piccolominibus (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte. Ergänzungsband 42), Wien/München 2002. [Die kritische Ausgabe liegt nunmehr vor: Pius II. Historia Australis, hg. von MARTIN W AGENDORFER/ J ULIA KNÖDLER (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum 6), Hannover 2009.] 135 W ORSTBROCK: Art. Piccolomini (wie Anm. 1), 657 f. – Neue kritische Edition, ohne Sachkommentar: Aeneae Silvii Historia Bohemica/Enea Silvio Historie Ceská, hg. von DANA MARTÍNKOVÁ/E LENA HADRAVOVÁ/J IěI MATL (Clavis Monumentorum litterarum. Regnum Bohemiae 4 = Fontes Regni Bohemiae 1), Prag 1998; gute Einleitung v. FRANTIŠEK ŠMAHEL: LIV–XCVII (engl. Fassung). Literatur in Auswahl: JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 9), 28–32; HANS ROTHE: Enea Silvio de’ Piccolomini über die Böhmen, in: HANS-B ERND HARDER/H. ROTHE (Hg.): Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern, Bd. 1. Köln/Wien 1988, 141–156; DERS.: Über die kritische Ausgabe der ,Historia Bohemica‘ des Enea Silvio de’ Piccolomini, in: HANS-B ERND HARDER/H. ROTHE (Hg.): Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern. Ergänzungsheft 1987, Köln/ Wien 1991, 29–48 [Diese Ausgabe ist erschienen: Aeneas Silvius Piccolomini, Historia Bohemica, hg. von JOSEPH HEJNIC/HANS ROTHE (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge B/20/1), Köln/Weimar/Wien 2005]; ILONA OPPELT: Studi sull’,Historia Bohemica‘ di Enea Silvio Piccolomini, in: SECCHI T ARUGI (Hg.): Pio II (wie Anm. 1), 293–299. 136 W ORSTBROCK: Art. Piccolomini (wie Anm. 1), 658 f. Die alten Ausgaben der ,Europa‘ und ,Asia‘ sind hoffnungslos fehlerhaft. [Siehe aber jetzt: Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP. II De Europa, hg. von ADRIANUS VAN HECK (Studi e Testi 398), Vatikanstadt 2001.] Von der ,Asia‘, deren Neuedition Desiderat ist, liegen nur eine Faksimile-Ausgabe und eine spanische Übersetzung vor: Historia rerum ubique gestarum cum locorum descriptione non finita Asia Minor incipit. [Faksimile der Ausgabe Venedig (Johannes de Colonia) 1478] Madrid 1991; dass. in span. Übersetzung von ANTONIO R. VERGER (Tabula Americae, Bd. 15 = Testimonio), Madrid 1991; vgl. Piccolomini Eneas Silvio (!), Descripción de Asia, hg. von FRANCISCO SOCAS (Biblioteca de Colón 3), Madrid 1992. – Literatur in Auswahl: HERMANN MÜLLER: Enea Silvio de’Piccolomini’s literarische Tätigkeit auf dem Gebiete der Erdkunde und dessen Einfluß auf die Geographen der Folgezeit, Erlangen 1904, 12–60; FRANCESCO GUIDA: Enea Silvio e l’Europa Orientale: Il ,De Europa‘ (1458), in: Clio 15 (1979), 35–77; NICOLA C ASELLA: Pio II tra geografia e storia: la ,Cosmographia‘, in: Archivio della Società Romana di storia patria 3/26 (1971), 35–112, zu den Handschriften: 103–112; VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 1), 149–153 (zur ,Europa‘); MUHLACK: Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), 298.

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ihrer origines über die erstaunlichen mutationes rerum bis zur Gegenwart des Jahres 1458, wurde sein am weitesten verbreitetes Geschichtswerk: 51 Handschriften ließen sich bisher ermitteln; die editio princeps erschien bereits 1475 in Rom (Schurener/Hanheimer), es folgten weitere 29 Drucke bis 1800 (davon fünf vor 1500) sowie deutsche (1464), tschechische (1487, 1510, 1585) und italienische (1545) Übersetzungen.137 Das Werk des italienischen Papstes sollte dem Europäer weit über hundert Jahre sein kanonisches Bild von Böhmen vermitteln. Es sollte auch die böhmische Geschichtsschreibung selbst beeinflussen, und zwar mit charakteristischen Unterschieden zwischen hussitischen und katholischen Autoren.138 Ebenfalls im überfruchtbaren Jahr der Papstwahl 1458 veröffentlichte er die ,Europa‘, eine geographisch-ethnographische Deskription im Stil Flavio Biondos mit zahlreichen zeithistorischen und anekdotischen Fenstern, die in ihrem letzten Teil ganz den chorographischen Ansatz verläßt und zum Werk über Zeitgeschichte wird. Die ,Europa‘ sollte dann wie die ,Asia‘ Teil einer großen ,Cosmographia‘ (,Historia rerum ubique gestarum‘) werden, die er als Papst, nun ganz Universalist, begann: ein mundus illustratus, sozusagen Biondo im Weltmaßstab, in dem alle ethnischen, geographischen und geschichtlichen Entitäten gewürdigt – soweit möglich unter Anwendung historischer Kritik – und doch durch den ‘globalen’ Blick des Pontifex Maximus zum Ganzen aufgehoben würden. Die Türken bedrohen eine christianitas afflicta, aber der (ptolemäische) Kosmos, mit den fernen Serern und Indern, ist gut. Vollendet wurde nur ein Teil der ‚Asia‘, sein gelehrtestes Opus, getränkt von Strabon und von griechischer Kultur wie wohl kein anderes Werk seiner Zeit. Piccolomini verarbeitete vor allem drei prägende Erfahrungen, die er mit vielen Zeitgenossen teilte. Zuerst das Konzil – von begeisterter Zuwendung bis zur traumatischen Abkehr. Zweitens die Hussitenketzer mit KONRAD VOLLMANN sei für Überlassung eines unveröffentlichten Vortragsmanuskripts über die ,Asia‘ herzlich gedankt. 137 ROTHE: Enea Silvio (wie Anm. 135), 144 mit Anm. 9. 138 Etwa das Werk des Bohuslav von Lobkowicz (Hassenstein): Aeneas Silvius, qui primus externorum aliqua de nobis diligentius prodidit … multa tamen illustria, dum brevitati voluminis consuluit, praetermisit; MARTÍNEK/MARTÍNKOVÁ (Hg.): Hassensteinii Epistulae (wie Anm. 133), Bd. 1, 11,24–12,1. Vgl. J AN MARTÍNEK: Das Bild von Aeneas Silvius Piccolomini im Prosawerk des Bohuslav von Lobkowicz, in: HARDER/ROTHE (Hg.): Studien (wie Anm. 135), 7–18, mit Konkordanzen der Paralleltexte. Die Humanismusforschung – und damit automatisch die Forschung zur Enea-Silvio-Rezeption – erlebt derzeit gerade in Ostmitteleuropa großen Aufschwung. Stellvertretend sei genannt: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus (wie Anm. 5), 336 s.v.; KLÁRA P AJORIN: Enea Silvio Piccolomini ed i primi umanisti ungheresi, in: SECCHI T ARUGI (Hg.): Rapporti e scambi (wie Anm. 74), 649–656. – Siehe ferner die Literatur bei HELMRATH: Diffusion des Humanismus, in: DERS./MUHLACK/W ALTHER, Diffusion (wie *), 1–19; diesem Band Nr. III.

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ihren monströsen Anführern wie Ziska und Prokop – viri illustres dennoch, aber ex negativo – und ihre paradoxe, letztlich nur als Spiel der Fortuna deutbare Resistenz. Drittens die Türken und ihren die Christenheit bedrohenden Siegeszug. Aber causa scribendi ist wesentlich er selbst, sein Interesse, natürlich auch sein Ruhm. Er schreibt keine Auftragswerke wie später andere Italiener als Hofhistoriographen, wie Antonio Bonfini, wie Paulus Aemilius, wie Polydor Vergil. Friedrich III. wird in der zweiten Redaktion der ‚Historia Austrialis‘ in die Rolle des Auftraggebers geradezu gedrängt. Zu einem festen Bestandteil der höfischen Kultur wurde kaiserlichdynastische Hofhistoriographie, die sich dem „Glanz des Ruhmes“ zu widmen hatte, erst unter Maximilian.139 Für Aeneas/Pius gerät Geschichtsschreibung zur Existenzweise bis zur Besessenheit, als unmittelbare schriftstellerische Lebensbewältigung. Seine verzweigte Gelehrsamkeit scheint stets abrufbar, auch wenn er als Papst nachts und gichtgeplagt bei Kerzenschein arbeitet, sie verschmilzt mit seiner singulären curiositas, dem Interesse für die Dinge. Schon in der praefatio zu ‚De gestis concilii Basiliensis‘ von 1440, seinem ersten historiographischen Werk, legte er ein Bekenntnis ab: Ich weiß nicht, welches mein Unglück ist, von welchem Schicksal ich gedrängt werde, daß ich mich von der Geschichte nicht wegstehlen und meine Zeit nützlicher verbringen kann.“ Alles hat er versucht: „Ich warf die Rhetorikbücher, ich warf die Geschichtswerke beiseite ... Ich verbannte alle diese Interessen wie Feinde meines Seelenheils. Aber wie manche Falter das Licht der Kerze nicht lassen können und darin, bevor sie fliehen, verbrennen, so kehre ich zu meinem Laster zurück, und nichts anderes wird mir diese Leidenschaft nehmen als der Tod.140

Bekenntnis eines Historikers!

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ARNO STROHMEYER: Geschichtsbilder im Kulturtransfer. Die Hofhistoriographie in Wien im Zeitalter des Humanismus als Rezipient und Multiplikator, in: ANDREA LANGER /GEORG MICHELS (Hg.): Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 12), Stuttgart 2001, 65–84, hier 67. 140 Nescio quae mea calamitas est quibusve urgeor fatis, ne me historiae furari sciam tempusque meum utilius consumere … Abieci oratorios codices, abieci historias omneisque huiusmodi literas, ut mei salutis inimicas pepuli. At sicut aviculae, quaedam ignem candelae nequeunt dimittere, in eoque, priusquam fugiant, aduruntur, sic ego ad meum malum et ubi mihi pereundum est, redeo; nec aliud mihi (ut video) hoc studium quam mors adimet; DENYS HAY/W.K. SMITH (Hg.): Aeneas Sylvivs Piccolominvs (Pivs II), De gestis concilii Basiliensis Commentariorum Libri II. (Oxford Medieval Texts), Oxford 2 1993, 2.

V.

Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz* An einem 27. Mai, wohl des Jahres 1434, geht ein Brief von Ferrara nach Basel: Guarino Guarini schreibt dem Humanistenfreund und Bischof von Pavia, Francesco Pizolpasso1, zur Zeit Konzilsvater in Basel: Cum ex diversis mundi tractibus istic Basilee tot nobilissimorum doctissimorum ac sapientissimorum hominum synodus quidam quasi christianae rei publicae senatus cogeretur, spes ingens invaserat genus humanum ecclesie corpus et membra parvo tempore … restitutum iri. Diese Chance werde jedoch vertan. Das einzig Gute daran: In hoc tanto merrore una quedam mitigat animos consolacio, quod vel unus fructus colligi valeat, quo Latinorum studiis et bonis artibus subveniatur. Nam in istis Germanie Gallieque latebris infinita quedam librorum copia iacet, superiorum etatum spolia Ytalie civitatibus, ut certis signis et testimoniis adducor, abacta, qui innocentes sunt damnati in vinculis rei capitalis, quos tua reliquorumque primatum diligencia et humanitas ex tenebris in lucem, ab exilio in patriam revocare possit. Ea res vobis gloriam et inopie iuventutis Ytalice remedia comparabit.2 * Zuerst in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Berichte über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters (1999 bis 2002), hg. von LUDGER GRENZMANN/KLAUS GRUBMÜLLER u.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philosophisch–historische Klasse 3/263), Göttingen 2004, 9–54. 1 MIRELLA FERRARI: Pizolpasso, Francesco (1370–1443), in: Dizionario della Chiesa Ambrosiana 5 (1992), 2891–2893; PETER PARTNER: The Popes Men. The Papal Civil Service in the Renaissance, Oxford 1991, 67, 84, 120, 135, 244 f. (Literatur). Briefedition von ANGELO PAREDI (Hg.): La biblioteca del Pizolpasso (Istituto nazionale di studi sul Rinascimento. Sezione lombarda), Mailand 1961, 171–237; dazu, über eine Rezension weit hinausführend, mit Edition neuer Briefe: RICCARDO FUBINI: Tra umanesimo e concili. Note e giunte a una pubblicazione recente su Francesco Pizolpasso (1370c.–1443), in: Studi Medievali 7. ser. III/1 (1966), 323–370, wieder in: DERS.: Umanesimo e secolarizzazione da Petrarca a Valla (Humanistica 7), Rom 1990, 77–136; siehe auch Anm. 25. 2 Ferrara (ca. 1432 –1434?) Mai 27, ediert von AGOSTINO SOTTILI: Wege des Humanismus, Lateinischer Petrarchismus und deutsche Studentenschaften italienischer RenaissanceUniversitäten, in: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in Honour of Leonard Forster, hg. von DENNIS H. GREEN/LESLIE P. JOHNSON/DIETER WUTTKE (Saecula Spiritalia 5), Baden-Baden 1982, 125–149, hier 136 f., zur schwierigen Datierung: 147 Anm. 95. Allenfalls das späte Datum 1434, wenn nicht ein noch späteres, erscheint vom Inhalt, der die Kirchenreform schon für gescheitert erklärt, einleuchtend. Ähnliche Äußerungen Guarinos bereits aus der Zeit des Constantiense: Epistolario di Guarino Veronese, hg. von REMIGIO SABBADINI (Miscellanea di storia della Reale Deputazione Veneta di Storia patria 1/1), Venedig 1915 (ND Turin 1959), 152, 157 f.

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V. Antikerezeption auf den Konzilien

Da sich aus allen Teilen der Welt dort in Basel eine Synode so vieler hochedler, -gelehrter und -weiser Männer gleichsam wie ein Senat der respublica christiana versammelt, erfüllte die ungeheure Hoffnung das Menschengeschlecht, die Kirche könne an Haupt und Gliedern in kurzer Zeit wiederhergestellt werden (Diese Hoffnung aber scheitert). In dieser großen Trauer besänftigt ein einziger Trost die Seelen, daß wenigstens eine Frucht geerntet werden kann, durch die (nämlich) das Studium der lateinischen Autoren und der guten Künste gefördert wird: Denn in diesem Dunkel Germaniens und Galliens liegt eine unendlich große Zahl von Büchern, die – wie ich sicheren Zeichen und Beweisen entnehme – als Beutestücke früherer Zeiten aus den Städten Italiens entführt, unschuldig verurteilt wie Verbrecher in Fesseln (liegen). Deine und der übrigen Prälaten Sorgfalt und Humanität aber kann sie aus der Finsternis ins Licht, aus dem Exil ins Vaterland zurückführen. Dies wird euch Ruhm und dem Mangel der Jugend Italiens Heilung verschaffen!

Eines von vielen Bildern vom Konzil, die Sicht eines Humanisten; der hebt hervor: die internationale Attraktivität des Konzils, hier antikisierend Senat der respublica christiana genannt, das Konzil als Träger von Reformhoffnungen und als Zentrum kultureller Kommunikation, dann aber die Kernaussage: wenn nicht Reformen zu erlangen sind, dann doch Handschriften. Es folgt in einer besonders plastischen Variante die Selbststilisierung des Humanisten als Befreier der Klassiker, deren Rücktransfer nach Italien nun anstehe. Darauf ist zurückzukommen. Zuvor einige Überlegungen zu den zentralen Begriffen Diffusion und Transfer: Die Diffusion des Renaissance-Humanismus3 von Italien aus in das übrige Europa gehört zu den fundamentalen geistes- und bildungsgeschichtlichen Prozessen. Auch wenn man eine missionarisch-providentielle Sicht ausschaltet, wie sie in der Literatur oft genug latent war, so ist die Diffusion doch als eine ‘Erfolgsgeschichte’ zu betrachten: denn am Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich durchgesetzt, daß die europäischen Führungseliten zwischen Edinburgh, Barcelona und Krakau nach Curriculum und Menschenbild der Humaniora erzogen wurden. Daß dieser Vorgang einem eminenten Bedarf entsprochen haben muß, dürfte unstrittig sein; nach einem Wort von Robert Black: „Humanism succeeded because it persuaded Italian and ultimatively

3 Zur Problematik, mit Literatur: JOHANNES HELMRATH: Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: DERS./ULRICH MUHLACK/GERRITT WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 9–29, in diesem Band Nr. III; GERRITT WALTHER: Nationalgeschichte als Exportgut? Mögliche Antworten auf die Frage: Was heißt ‘Diffusion’ des Humanismus?, in: ebd. 436–446. Verschiedene Verbreitungsmodelle spielt in seinem zum Thema anregend facettenreichen Buch PETER BURKE: Die europäische Renaissance, München 1998, 16–22, durch. Immer noch grundlegend: PAUL O. KRISTELLER: The European Diffusion of Italian Humanism, in: Italica 39 (1962), 1–20; wieder in: DERS.: Studies in Renaissance Thought and Letters (Storia e letteratura 166), Bd. 2, Rom 1985, 147–165; deutsch: Die Verbreitung des italienischen Humanismus in Europa, in: DERS.: Humanismus und Renaissance (Humanistische Bibliothek I/22), Bd. 2, Stuttgart 1975, 85–100 (ND als UTB 915).

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European society, that without its lessons no one was fit to rule or lead.“4 Es bietet sich an, den Vorgang als komplexen Prozeß einer zwar gesamthaft ungelenkten, aber doch fortschreitenden Diffusion beziehungsweise eines aus zahlreichen Einzelvorgängen bestehenden und durch Medien getragenen, zunächst binnenitalienischen Kulturtransfers zu begreifen, von Texten, Techniken zunächst, die allmählich Haltungen, schließlich vor Ort ein Denkklima generieren. Für Fernand Braudel zählt der Humanismus zu den „Kulturgütern“, die das „Modell Italien“ anhaltend exportierte,5 oder, um mit Peter Burke zu reden, zu den „uses of Italy“. Daß der Begriff ‘Diffusion’ hierbei nicht auf seine engste physikalische Bedeutung reduziert werden darf, daß der transportierte ‘Stoff’ mithin nach der Diffusion durch permeable Filter dann nicht am Ausgangsort (hier: Italien) fehlt, versteht sich von selbst. Die Forschung ist sich weitgehend einig, daß Kulturtransfer nicht als eine Einbahnstraße vom Geber zum Empfänger verstanden werden kann (ebensowenig ist ‘Rezeption’ rein ‘rezeptiv’). Transfer bedeutet vielmehr produktive und ggf. filternde Transformation, der sowohl das Transportierte (zunächst antike Stoffe selbst) wie auch – unter Einfluß der neu vermittelten Antike – der Empfänger unterzogen wird. Dies ist auch der Fall, wenn es sich zunächst nur um eine Imitatio von Techniken (humanistische Schrift, klassische Latinität in Brief und Rede) zu handeln scheint. Humanismus wurde in gewisser Weise zur elitären Mode von Könnern und Kennern, die ein entsprechendes Überlegenheitsbewußtsein, Signum jeder neuen Bewegung, verband, Kennern, deren Zahl zunächst stetig wuchs. Wenngleich jeweils eine gefilterte Amalgamierung mit den bestehenden individuellen, regionalen oder nationalen Wissenskulturen stattfand, stellte der Humanismus als europäisches Bildungsprinzip auch eine neue Uniformierung dar.6 Es war ein Prozeß, in welchem auch ‘die Antike’ selbst – als eine emphatisch, aber eben auch historisch, das heißt epochal abgeschlossen, wahrgenommene Leitkultur – transformiert, zur Altertumskunde hin verwissen-

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ROBERT BLACK: Humanism, in: The New Cambridge Medieval History, Bd. 7: c. 1415– c. 1500, hg. von CHRISTOPHER ALLMAND, Cambridge 1998, 243–277, hier 276, zum Diffusionsproblem 269–277. Das Problem einer stringenten Definition des Humanismus ist hier nicht erörterbar. 5 FERNAND BRAUDEL: Modell Italien, 1450–1650, Stuttgart 1991 (frz. 1989), 44–51; dazu siehe WOLFGANG SCHMALE: Geschichte Europas, Wien/Weimar/Köln 2001, 163 f. 6 KRISTELLER: Verbreitung (wie Anm. 3), 100 spricht von Angleichung. „Im allgemeinen scheint mehr eine Angleichung als eine reine Nachahmung stattgefunden zu haben, und dies würde erklären, weshalb der Humanismus in jedem Land eine etwas anders geartete Form annahm“. Zum Überlegenheitsbewußtsein: ERNST H. GOMBRICH: Antike Regeln und objektive Kriterien. Von der Schrift- und Sprachreform zur Kunst der Renaissance: Niccolò Niccoli und Filippo Brunelleschi, in: DERS.: Die Entdeckung des Sichtbaren. Zur Kunst der Renaissance, Stuttgart 1987 (zuerst 1967), 114–135, hier 114.

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schaftlicht wurde.7 „Vom Standpunkt der Rezeptionshistoriker betrachtet“, den wir hier einnehmen ,,schuf die Renaissance genausosehr die Antike wie die Antike die Renaissance hervorbrachte.“8 Ist das Ergebnis jener Summe von Transfervorgängen auch unbestreitbar, so stellt sich doch die Frage, wie derartige Vorgänge im einzelnen abgelaufen sind und wie ihre Summierung beziehungsweise ihre summative Wirkung gedacht werden kann. Traditionell sah man in der Migration und Mobilität von Personen und Handschriften (beziehungsweise Drucken) entscheidende mediale und kommunikative Faktoren des Transfers. Dieser geht in beide Richtungen: Der Migration mehrerer Generationen italienischer ‘Apostelfiguren’ in Länder Ostmittel-, Mittel- und Westeuropas9 – Muster sind Enea Silvio Piccolomini für Deutschland, noch früher ein Pier Paolo Vergerio für Ungarn, später ein Polydore Vergil für England –, steht die große Zahl von ausländischen Studenten in Italien gegenüber – die Deutschen erschließt uns das Lebenswerk Agostino Sottilis10 –, die dort Milieuerfahrungen mit dem Humanismus machten und auf dem Lastesel Handschriften nach Norden brachten. Die großen Generalkonzilien der ersten Jahrhunderthälfte in Konstanz (1414–1418), Basel (1431–1449) sowie parallel in Ferrara/Florenz (1438– 1443), denen die kürzeren von Pisa (1409/10) und Pavia/Siena (1423/24) einzufügen sind, tagten in dichter Folge. In einer Zeit, die für die Diffusion des Humanismus eine noch frühe Phase darstellt, fanden erstmals in der Kirchengeschichte mit ‘Konstanz’ und ‘Basel’ Generalkonzile im Norden, in Deutschland, statt. Als ‘long-scale-events’ banden sie über beträchtliche Dauer (Konstanz vier, Basel nicht weniger als achtzehn Jahre) einen großen fluktuierenden internationalen Personenkreis (für Basel sind ca. 3.500 inkorporierte Konzilsväter nachweisbar, mit schätzungsweise zehnmal so großer Entourage). Es waren bedeutende Kongresse, deren Geschäftsordnung und 7 Vgl. WILFRIED NIPPEL: Forschungen zur Alten Geschichte zwischen Humanismus und Aufklärung, in: LUDGER GRENZMANN/KLAUS GRABMÜLLER u.a. (Hg.): Die Präsenz der Antike (wie *), 161–176. 8 BURKE: Europäische Renaissance (wie Anm. 3), 20. 9 Dazu zuletzt die Beiträge in HELMRATH/MUHLACK/WALTHER: Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3). 10 In Auswahl: SOTTILI: Wege (wie Anm. 2); DERS.: Università e cultura. Studi sui rapporti italo-tedeschi nell’età dell’Umanesimo (Bibliotheca Eruditorum 5), Goldbach 1993 (Aufsatzsammlung); seither DERS.: Ehemalige Studenten italienischer Renaissance-Universitäten: ihre Karrieren und ihre soziale Rolle, in: Gelehrte im Reich, hg. von PETER MORAW (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 18), Berlin 1996, 41–74; DERS.: Studenti tedeschi dell’università di Padova e diffusione dell’umanesimo in Germania: Ulrich Gossembrot, in: Studenti, università, città nella storia padovana. Atti del convegno, Padova 6–8 febbraio 1998, hg. von FRANCESCO PIOVAN/LUCIANO P. REA, Triest 2001, 177–240; DERS.: Die humanistische Ausbildung deutscher Studenten an den italienischen Universitäten im 15. Jahrhundert. Johannes Löffelholz und Rudolf Agricola in Padua, Pavia und Ferrara, in: Die Welt im Augenspiegel. Johannes Reuchlin und seine Zeit, hg. von DANIEL HACKE/ BERND ROECK (Pforzheimer Reuchlinschriften 8), Stuttgart 2002, 67–132.

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Behördenapparat in einer bis dahin singulären Weise organisiert war. Trotz der langen Dauer, die sie in zahllose Einzelereignisse zerfallen ließ, wurden die Konzile von Zeitgenossen als Kontinuum wahrgenommen. Den ‘Ereignischarakter’ des Ganzen durch das perspektivenreiche Ensemble von Schriftproduktion als „gigantische Zirkulation von Texten“ konstituiert zu sehen und mit Thomas Rathmann einer diskursanalytischen Betrachtung aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu unterziehen,11 ist insofern recht fruchtbar, auch für unsere Fragestellung. Viele prominente italienische Humanisten lassen sich sozusagen beruflich als Kuriale, Sekretäre, Gesandte nachweisen, die nach dem ‘rite of passage’ des Alpenübergangs in den Konzilsstädten tätig wurden und teilweise von dort ihr Korrespondenznetz weiterspannen. In Konstanz Bruni, Poggio, Pier Paolo Vergerio, Gasparino Barzizza, Benedetto da Pileo, Sozomeno da Pistoia, etc.; in Basel Giovanni Aurispa, Stefano da Caccia, Ambrogio Traversari, Francesco Pizolpasso, Pietro Donato, Enea Silvio Piccolomini, Petrus de Noceto, Ugolino Pisani, Gregorio Corraro, Ludovico da Pirano etc.; eine systematische Erfassung fehlt freilich. Schon der barocke Erforscher des Konstanzer Konzils, Hermann von der Hardt, sah 1700, noch selbst ganz in humanistischer Tradition, die Krise der mittelalterlichen Kirche in der Unbildung ihrer humaniorafernen Leiter, im Konstanzer Konzil aber geradezu den Durchbruch zur Kultur.12 Auch die frühe Humanismusforschung hat die ‘diffusive’ Funktion der Konzile, insbesondere diejenige des jüngeren Basiliense, hoch, allzuhoch, eingeschätzt. Ihr Begründer Georg Voigt (1859) sah, ganz im Sinne seines missionarisch gefärbten Bildes einer “Propaganda des Humanismus jenseits der Alpen“13, wie auf dem Basler Konzil der Humanismus, der „in Italien seit dem Anfange des Jahrhunderts sich reißend ausbreitete ... zuerst in den Weltverkehr zu treten, sich anderen Nationen mitzutheilen und in das öffentliche Leben einzudringen begann“. Diese Sichtweise wurde fast zum Stereotyp. Ludwig von Pastor, Ernst Walser, Heinz Otto Burger und 11

THOMAS RATHMANN: Geschehen und Geschichten des Konstanzer Konzils. Chroniken, Lieder und Sprüche als Konstituenten eines Ereignisses (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 20), München 2000, theoriegeschichtliche Grundlegung 11–58. 12 Ecclesiam et rempublicam a viris imperitis, impolitis, rudibus, imprudentibus, inexpertis artium et literarum expertibus ... fuisse corruptam, turbatam, pessundatam et perversam … Proinde universus orbis literatus Constantiae Germanorum plurimum debet: Quippe quae literis lucem reddidit, eruditioni decorem restituit; HERMANN VON DER HARDT: Magnum Oecumenicum Constantiense Concilium, Bd. VI, Frankfurt am Main/Leipzig 1700, 22 und 24 (Prolegomena). 13 So der Titel des 6. Buchs im Werk von GEORG VOIGT: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 2 Bde., Dritte Auflage besorgt durch MAX LEHNERDT, Berlin 1893 (11859; ND Berlin 1960), Bd. 2, 246–359, Zitat 244. Der Begriff „Propaganda“ dürfte hier noch wörtlich im Sinne von ‘intensiver Verbreitung’ zu verstehen sein, er trägt noch nicht die Bedeutung politisch organisierter Manipulation.

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zahlreiche andere sind ihr gefolgt.14 Gianni Zippel sah geradezu „l’atto di nascità del umanesimo tedesco-renano ... coincidere con gli eventi del consilio di Basilea“.15 Allerdings scheinen sich die Konzile als Untersuchungsfeld in doppelter Fragestellung anzubieten: zuerst als attraktive Foren für Humanismusdiffusion von Italien aus, dann aber auch ihrerseits als Vermittler und ‘Diffusoren’ des Humanismus in Regionen außerhalb Italiens. Anders als Konstanz und Basel stellte das Unionskonzil von Ferrara/Florenz (1438/43) zunächst mehr ein italienisches Kulturereignis dar, das auch zahlreiche Humanisten beteiligte. Seine unbestreitbare Schubkraft für Graecitas und Platonismus in Europa war erst wieder Folge einer italienisch vermittelten Diffusion. Humanisten auf den Konzilien als präsent zu konstatieren genügt freilich nicht. Es geht um die Frage: Inwiefern boten die Konzilien überhaupt Bedingungen, ein Milieu, das der Antikerezeption allgemein, der Performanz des italienischen Humanismus, dem Transfer seiner Techniken und Denkweisen auf Teilnehmer und Milieugruppen am Konzil und in dessen Umland, aber auch der intrinsisch (theologisch) verändernden Indienstnahme humanistischen Antikewissens generell förderlich war? Die Forschung hat durchaus 14 GEORG VOIGT: Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius der Zweite und sein Zeitalter, 3 Bde., Berlin 1856–1863 (ND Berlin 1967), Bd. 1, 212; ähnlich DERS.: Wiederbelebung (wie Anm. 13), Bd. 2, 244: „betrat der Humanismus ... zuerst die Weltbühne“. LUDWIG VON PASTOR: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1, Freiburg im Breisgau 8–91926, vor allem 269; ERNST WALSER: Die Konzilien von Konstanz und Basel. Zwei Etappen der Kirchenreform und des Humanismus, in: Wissen und Leben 9 (1913), 424–443; wieder in: DERS.: Gesammelte Studien zur Geistesgeschichte der Renaissance, Basel 1932, 1–21, hier 20: „Der Humanismus geht mit stillem Tritt neben den geräuschvollen Konzilsdebatten. Doch auch für ihn wurde diese Zeit der Synode von der mächtigsten Bedeutung ...: Hier wurde der Humanismus auf die deutsche Nation übertragen.“ HEINZ O. BURGER: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 7), Berlin/Zürich 1969, 66–74; LEWIS W. SPITZ: The course of German Humanism, in: Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations, hg. von HEIKO A. OBERMAN/THOMAS A. BRADY JR., Leiden 1975, 371–436, hier 392, siehe Zitat unten Anm. 65. 15 GIANNI ZIPPEL: Gli inizi dell’Umanesimo tedesco e l’Umanesimo italiano nel XV secolo, in: Bollettino dell’Istituto storico Italiano per il medio evo 75 (1963), 345–389, hier 352, ebenso 353, 365, 368. Vgl. ferner JOHANNES HOLLNSTEINER: Die Kirche im Ringen um die christliche Gemeinschaft, vom Anfang des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts (Kirchengeschichte 2), Freiburg im Breisgau 1940, 411: Konstanz als „Weltkongreß des Humanismus“; SVEN STELLING-MICHAUD: Quelques remarques sur l’histoire des universités à l’époque de la Renaissance, in: Les universités européennes du XIVe au XVIIIe siècle, Genf 1967, 69–83, hier 73: „Au concile de Bâle, ce premier concile d’humanistes.“ Weitere Belege bei JOHANNES HELMRATH: Das Basler Konzil 1431–1449. Forschungsstand und Probleme (Kölner Historische Abhandlungen 32), Köln 1987, 166 f. Anm. 361–364; recht heterogenen Inhalts: Conciliarismo, stati nazionali, inizi dell’umanesimo. Atti del XXV convegno storico internazionale Todi, 9–12 ott. 1988 (Atti dei convegni dell’Accademia Tudertina e del Centro di studi sulla spiritualità medievale NS 2), Spoleto 1990.

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auf den Konzilien von Konstanz16, Basel17 und von Ferrara/Florenz18 als ‘Kulturfaktoren’ eine Fülle von Aktivitäten festgestellt, die im weiteren Sinne als humanistisch qualifizierbar sind. Unmittelbare Transfervorgänge, also Vorgänge der Übernahme und Transformation, mithin akut wirkende und bleibende Wirkungen am Ort, bei anderen Konzilsteilnehmern, im ‘Norden’ überhaupt, wurden oft eher behauptet als nachgewiesen und in empirischen Studien vorsichtig beurteilt. Den dafür entscheidenden Schub sieht man vielmehr, weitgehend konzilsunabhängig, im Wirken von ‘Apostel’-Figuren wie Enea Silvio Piccolomini und der dichten Manuskript- und Druckverbreitung seiner Opera beziehungswiese erst in den nachkonzilearen Generationen der Luder und Celtis wirksam.19 Kamen die Konzile also trotz ihrer großen Diffu16 Schon HEINRICH FINKE, der Editor der Acta Concilii Constantiensis, drängte das Phänomen auf einen kulturellen Nebenschauplatz des Konzilsgeschehens ab: Bilder vom Konstanzer Konzil (Neujahrsblätter der badischen Historischen Kommission. Neue Folge 5), Heidelberg 1903, hier 62–69; DERS.: Das badische Land und das Konstanzer Konzil, in: Festgabe der Badischen Historischen Kommission zum 9. Juli 1917, Karlsruhe 1917, 19–70, hier 28– 33, 47–51. Anschaulicher Überblick bei ALEXANDER PATSCHOVSKY: Der italienische Humanismus auf dem Konstanzer Konzil 1414–1418 (Konstanzer Universitätsreden 198), Konstanz 1999, konzentriert auf die lokalen Bezüge, daher ohne Blick auf Analogien in Basel; zu nennen auch KLAUS VOIGT: Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de’ Franceschi (1333–1492) (Kieler Historische Studien 17), Stuttgart 1973, zu Konstanz 48–63. Zum Pisanum: DIETER GIRGENSOHN: Antonio Loschi und Baldassarre Cossa vor dem Pisaner Konzil von 1409 (mit der ‚Oratio pro unione ecclesiae‘), in: Italia medioevale e umanistica 30 (1987), 1–94, Edition 73–94. 17 Es sei erlaubt, hier eigene Arbeiten zu nennen: Überblick mit Literatur bis 1987 bei HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 166–175; DERS.: Die italienischen Humanisten und das Basler Konzil, in: Vita activa. Festschrift Johannes Zilkens, hg. von HANS-JOACHIM HOFFMANN-NOWOTNY/ANNELIESE SENGER, Köln 1987, 55–72; DERS.: Kommunikation (wie Anm. 22), 141 f., 160 f.; DERS.: ‘Non modo Cyceronianus, sed etiam Iheronymianus’. Gherardo Landriani, Bischof von Lodi und Como, Humanist und Konzilsvater, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von FRANZ J. FELTEN/NIKOLAS JASPERT (Berliner Historische Studien 31 = Ordensstudien 13), Berlin 1999, 933–960; DIEGO BOTTONI: Umanisti e prelati lombardi tra i concili di Costanza (1414–17) e di Basilea (1432–39), Tesi di Laurea, Università cattolica del Sacro Cuore, Mailand 1958/59; FUBINI: Tra umanesimo e concili (wie Anm. 1); PAUL O. KRISTELLER: Der italienische Humanismus und seine Bedeutung, in: DERS.: Humanismus und Renaissance (wie Anm. 3) Bd. 2 (zuerst 1969), 244–264, hier 244: „Das Basler Konzil hat als Treffpunkt italienischer und nördlicher Gelehrter ... neben seiner kirchlichen auch eine geistesgeschichtliche Bedeutung“; VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 16), über Traversari 70–76, über Enea Silvio 77–152 in Basel; RATHMANN: Geschehen und Geschichten (wie Anm. 11), 52 f., 105, sowie unten vor allem Anm. 66. Überblick bei BERTHE WIDMER: Kulturelles Leben in Basel unter dem Einfluß des hier tagenden Konzils (1431–1449), in: Unsere Kunstdenkmäler 41 (1990), 139–152. 18 Siehe unten bei Anm. 107 ff. 19 So schon FINKE: Badisches Land (wie Anm. 16), 33; LEHMANN: Büchermärkte (wie Anm. 23), 269; DERS.: Grundzüge des Humanismus deutscher Lande zumal im Spiegel deutscher Bibliotheken des 15. und 16. Jahrhunderts, in: DERS.: Erforschung des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart 1962, 481–496, hier 485 f.; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 167 f. mit weiteren Belegen. Siehe auch unten bei Anm. 49. Zur ‘Apostelfunktion’ des Enea Silvio

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sionsmöglichkeiten letztlich für den Humanismus im Norden eine Generation zu früh? Bei Untersuchung der Rahmenbedingungen bietet es sich an, zwischen Primärfunktionen und Sekundärfunktionen von Versammlungen allenfalls heuristisch zu unterscheiden, denn tatsächlich gehen beide ineinander über. Die Primärfunktionen der großen Konzilien lagen in der behördlichen, legislativen und theologisch-spirituellen Bewältigung der drei kirchlichen Aufgaben, für die sie versammelt waren, Glaube, Friede und Reform. Sekundärfunktionen ergaben sich schon durch den dauerhaften Versammlungscharakter selbst. Dieser machte die Konzile zu bedeutenden Zentren öffentlicher Kommunikation, zu einem „Forum der öffentlichen Meinung“ (Miethke), zu Drehscheiben und Arenen von Diplomatie und Oratorik, Treffpunkten der europäischen Bildungselite. Es darf zmindest vermutet werden, daß sie zu Schaltstellen von Diffusions- und Transferprozessen vielfacher Art wurden, aber auch von Antizipationen künftiger kultureller Trends, unter Umständen noch unabhängig von einer nachhaltigen Verbreitung vor Ort. Das Phänomen der Sekundärfunktionen gilt in kleinerem Maßstab auch für weltliche Versammlungen: Gutenberg bot seinen Bibeldruck erstmals nachweisbar im Umfeld des Frankfurter Reichstags vom Oktober 1454 öffentlich an.20 Der Forumscharakter entspricht auch der zeitgenössischen Wahrnehmung, die das eingangs gebrachte Guarino-Zitat ebenso zeigte wie ein Dictum, das Enea Silvio Piccolomini in seinem Unterweltdialog ,Somnium‘ (1454) dem kurialen Humanistenkollegen aus Basler Zeiten, Petrus de Noxeto, in den Mund legte: Non me penitet in synodo Basiliensi fuisse, in qua lumina nostri orbis excellentiora fuerunt, multa illic didici, que adhuc meminisse iuvat.21 Diese kommunikativen Bedingungen sind für unser Thema relevant, wurden

JOHANNES HELMRATH: ‚Vestigia Aeneae imitari‘. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel des Humanismus’. Formen und Wege seiner Diffusion, in: DERS./MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3), 99–141; in diesem Band Nr. IV. Umfangreiche Studien zur Diffusion via Handschriften bei PAUL WENIG: ‘Aeneam suscipite, Pium recipite’. Aeneas Silvio Piccolomini. Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts (Gratia 33), Wiesbaden 1998, und THOMAS J. MAURO: Praeceptor Austriae. Aeneas Sylvius Piccolomini (Pius II) and the Transalpine Diffusion of Italian Humanism before Erasmus, 2. Bde., Chicago 2003. 20 ERICH MEUTHEN: Ein neues frühes Quellenzeugnis (zu Oktober 1454?) für den ältesten Bibeldruck. Enea Silvio Piccolomini am 12. März 1455 aus Wiener Neustadt an Kardinal Juan de Carvajal, in: Gutenberg-Jahrbuch 57 (1982), 108–118. 21 JOSEPHUS CUGNONI: Aeneae Silvii Piccolomini Senensis qui postea fuit Pius II Pont. Max. Opera inedita, in: Atti della Romana Accademia dei Lincei. Memoria della Classe di scienze morali, storiche e filologiche III/8, Rom 1882/83 (ND Farnborough 1968), 319–686, hier 578; separat mit eigener Seitenzählung hier 259.

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in der Forschung auch deutlich gesehen,22 hinreichend bewertet erscheinen sie hingegen noch nicht. Unmittelbar ideologische Affinitäten zwischen Humanismus und Konziliarismus gab es nicht. Aus Karrieregründen, vielleicht auch aus nationalitalienischen Motiven standen viele Humanisten, allen voran Poggio, der kurialen Position näher. Die Diffusion des Humanismus im Umfeld von Konzilien kann mit Blick auf die Forschung unter folgenden Aspekten untersucht werden: 1. Konzilien als Basis für Handschriften-‘Scoperte’ der Humanisten (die spontanste und zugleich traditionellste Assoziation), über den Mediencharakter der Handschriften engst verknüpft mit dem Komplex 2. Konzilien als „Büchermärkte“ und Publikationssysteme, wie schon vor langer Zeit Paul Lehmann, dann Jürgen Miethke hervorhoben.23 3. Konzilien als Foren der Performanz einer in Italien neubelebten antikischen Oratorik. 4. Konzilien als Begegnungsstätten mit Griechen und ‘Graecitas’; die Union zwingt Philologie und Dogma zusammen. Von dort öffnet sich das Fragefeld zu 5. Konzilien als Orten geistiger Transformationsprozesse auch in ihren Primärfunktionen, d.h. ‘Antikisierung’ von Form und Inhalt der theologischen Arbeit, etwa durch verstärkte Einschmelzung der Kirchenväter.

1. Befreier im Barbarenland: Konzilien und ‘Scoperte dei codici’ Handschriftenjagd, book-hunting, scoperta dei codici – humanistische Aristie par excellence – ging in höchst bekannter Weise auch von den deutschen 22 JÜRGEN MIETHKE: Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert, in: Deutsche Archiv für Erforschung des Mittelalters 37 (1981), 736–773; JOHANNES HELMRATH: Kommunikation auf den spätmittelalterlichen Konzilien, in: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von HANS POHL (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 87), Stuttgart 1989, 116–172; RATHMANN: Geschehen und Geschichten (wie Anm. 11). Prosopographisch ALFRED A. STRNAD/KATHERINE WALSH: Basel als Katalysator. Persönliche und geistige Kontakte der habsburgischen Erbländer im Umfeld des Konzils, in: Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, hg. von PETER RÜCK, Marburg 1991, 131–191. 23 PAUL LEHMANN: Konstanz und Basel als Büchermärkte während der großen Kirchenversammlungen, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Bücherwesen und Schrifttum 4 (1921), 6–11, 17–27; wieder in: DERS.: Erforschung des Mittelalters, Bd. 1, Stuttgart 1941 (ND 1959), 253–280. Hier wären auch mit einem Seitenblick Künstler- und Musikerwanderungen (Konrad Witz, Johannes Brassart) und Bankfilialen (Medici-Bank in Basel) einzubeziehen; vgl. als ersten Überblick HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 167–172.

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Konzilien, als einer Art ‘Basislager’, aus. Poggios und seiner Freunde Funde gehören zum emphatischen Grundbestand der Kulturgeschichte. Dieser in der älteren Forschung (Voigt, Sabbadini) fast allein dominierende, darum aber nicht unwichtig gewordene, mittlerweile relativ gut aufgearbeitete Komplex,24 muß und kann hier nicht erneut in extenso entfaltet werden.25 Ein Seitenblick 24

VOIGT: Wiederbelebung (wie Anm. 13) Bd. 1, 232–286: ,Die literarischen Entdeckungen‘, zu Konstanz 234–243. Poggio ist der „Bücher–Missionar auf deutschem Boden“ (235). Grundlegend bleiben die Arbeiten von REMIGIO SABBADINI: Le scoperte dei codici latini e greci ne’ secoli XIV e XV (Biblioteca storica del Rinascimento, dir. da F. P. LUISO), Florenz 1905; ND con nuove aggiunte e correzioni (Biblioteca storica del Rinascimento NS IV/1), Florenz 1967; DERS.: Nuove ricerche col riassunto filologico dei due volumi, Florenz 1914, ND (wie oben ... IV/2), Florenz 1967; DERS.: Niccolò da Cusa e i conciliari di Basilea alla scoperta dei codici, in: Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei, Classe di scienze morali, storiche e filologiche V/20, Rom 1911, 3–40; verkürzt wieder in: DERS.: Nuove ricerche, 16–27; DERS.: Storia e critica di testi latini (Cicerone, Donato, Tacito ...) (Biblioteca di filologia classica dir. da C. PASCAL), Catania 1914, 2. Aufl., hg. von EUGENIO und MYRIAM BILLANOVICH (Medioevo e umanesimo 11), Padua 1971. Ferner (in Auswahl): Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, München 1975 (zuerst Zürich 1961), 540–543 (HORST RÜDIGER); TINO FOFFANO: Niccoli, Cosimo e le ricerche di Poggio nelle biblioteche francesi, in: Italia medioevale e umanistica 12 (1969), 113–128; SILVIA RIZZO: Il lessico filologico degli umanisti (Sussidi eruditi 26), Rom 1973 (grundlegend), zu Poggio 361 f., 382 s.v.; LEIGHTON D. REYNOLDS /NIGEL G. WILSON: Scribes & Scholars. A Guide to the Transmission of Greek & Latin Literature, Oxford 31991, 122–163; PAOLA S. PIACENTINI: Note storicopaleografiche in margine all’Accademia Romana, in: Le chiavi della memoria, Miscellanea in occasione del I Centenario della Scuola vaticana di paleografia diplomatica e archivistica, Vatikanstadt 1984, 491–541, zu Poggio 499–512; MICHAEL D. REEVE: The Rediscovery of Classical Texts in the Renaissance, in: Itinerari dei testi antichi, hg. von ORONZO PECERE, Rom 1991, 115–157; wichtig, mit der Literatur zu der durch Humanisten-‘Scoperte’ geprägten Überlieferung einzelner Klassiker besonders SILVIA RIZZO: Per una tipologia delle tradizioni manoscritte di classici latini in età umanistica, in: ORONZO PECERE/MICHAEL D. REEVE (Hg.): Formative Stages of Classical Traditions. Latin Texts from Antiquity to the Renaissance (Centro italiano di studi sull’alto medioevo), Spoleto 1995, 371–407, zu Poggio vor allem 376–383; für Konstanz zusammenfassend PATSCHOVSKY: Humanisten (wie Anm. 16), 11–15. 25 Die schwer übersehbaren Forschungen seit SABBADINI zur ‘Entdeckung’ und weiteren Überlieferung einzelner Klassiker verdienten über die in Anm. 24 genannten Studien hinaus einen neue systematische Synthese. Jüngere Studien, soweit sie Material zu ‘Basler-Scoperte’ bringen, hier in strikter Auswahl (siehe auch Anm. 27 und 33): VITTORIO ZACCARIA: Pier Candido Decembrio, Michele Pizolpasso e Ugolino Pisani (Nuove notizie dall’epistolario di Pier Candido Decembrio, con appendice di lettere e testi inediti), in: Atti del Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti. Classe di Scienze Morali, Lettere ed Arti 133 (1974/75), 187–212; AGOSTINO SOTTILI: Ambrogio Traversari, Francesco Pizolpasso, Giovanni Aurispa. Traduzioni e letture, in: Romanische Forschungen 78 (1966), 42–63; DERS.: Una corrispondenza epistolare tra Ambrogio Traversari e l’arcivescovo Pizolpasso, in: Ambrogio Traversari nel VI Centenario della Nascita, hg. von GIAN C. GANFAGNINI, Florenz 1988, 287–328; DERS.: Pellegrini italiani in Rhenania: Giovanni Aurispa pellegrino ad Aquisgrana (a Kornelimünster e Colonia?). Convegno di Studi, in: Umanesimo storico latino e realtà economiche sociali– culturali contemporanee, Università di Colonia 2–4 nov. 2001 (Fondazione Cassamarca), Treviso 2001, 15–30. Ferner: CONCETTA BIANCA: Dopo Costanza: classici e umanisti, in: Alle origini della Nuova Roma: Martino V. Atti del Convegno, Roma 2–5 marzo 1992, hg. von M.

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daher auf die Sprache: Die bis ins Skurrile übersteigerte Kontrast-Metaphorik von staubigem Dunkel und strahlendem Licht, von Kerker und Freiheit, Barbarei und Kultur gehört ins Zentrum humanistischer Selbststilisierung als Lichtbringer. Die Handschrift, von Staub befreit, der Text in restaurierter Latinität steht auf als auratische Epiphanie der Antike selbst, welche dann ihrerseits die Gegenwart – und den Ruhm ihrer Befreier – illuminiert. Guarino hatte es gültig formuliert, andere sagten es ähnlich, so die berühmte Suchliste, die Niccolò Niccoli und Ambrogio Traversari 1431 den Kardinälen Cesarini und Albergati und ihren Familiaren Tommaso Parentucelli und Lucio von Spoleto auf die Nordreise mitgaben: Es sei wachsam dafür zu sorgen, ut illa praeclara volumina in lucem prodeant relinquantque illam imperitam incultam barbariem. Excitanda sunt ab inferis M. Varronis clarissima opera usw.26 In Florenz verfolgten die Verfasser der Liste mit Spannung die Berichte der Sucher.27 CHIABÓ u.a. (Nuovi studi storici 20), Rom 1992, 85–110; LIDIA CACCIOLLI: Codici di Giovanni Aurispa e di Ambrogio Traversari negli anni del concilio di Firenze, in: Firenze e il Concilio del 1439 (wie Anm. 108), Bd. 2, 599–647, bes. 610–615 (behandelt nur die Jahre vor dem Florentinum); CARLA M. MONTI: Giovanni Capitani Crespi. Vicende e libri di un prelato lombardo tra Milano e Basilea, in: Italia Medioevale e Umanistica 43 (2002), 147–199, bes. 158 f., 175–196. 26 RODNEY P. ROBINSON (Hg.): The Inventory of Niccolò Niccoli, in: Classical Philology 16 (1921), 251–255, hier 255; übrigens der einzige Eigentext von Niccolis Hand. Berühmt sind die Worte von Poggios Mitbefreier Cincius Romanus (Rustici) 1416: In einem Turm der St. Gallener Klosterkirche, in qua innumerabiles pene libri utpote captivi detinentur, diligentius vidimus bibliothecamque illam pulvere tineis fuligine ... ad obliterationem librorum ... obsoletam pollutamque, vehementer collacrimavimus, per hunc modum putantes linguam latinam maximum ornatum maximamque dignitatem perdidisse. Der Humanist ruft aus: O barbariem latine lingue inimicam, o perditissimam hominum colluvionem. (Der zweite Teil des Briefes zählt dann freilich auch eigene Sünden der Italiener auf, wie die Zerstörung römischer Bibliotheken im Lauf der Geschichte); hg. von LUDWIG BERTALOT: Cincius Romanus und seine Briefe, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 21 (1929/30), 209–255, hier Zitat 223 f.; wieder in: DERS.: Studien zum italienischen und deutschen Humanismus, hg. von PAUL O. KRISTELLER (Storia e letteratura 130), Rom 1975, Bd. 2, 131–180, hier 145; deutscher Text bei NICOLE MOUT (Hg.): Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München 1998, 96–99. 27 Brief Ambrogio Traversaris nach Basel an Kardinal Giuliano Cesarini über die von Nikolaus von Kues avisierten Handschriftenschätze (1433) Januar 19; Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, hg. von ERICH MEUTHEN/HERMANN HALLAUER, Bd. I, Lief. 1–2, Hamburg 1976 – 1983, Bd. I.1, Nr. 157, Z. 15–17: Te oro ..., quoniam magna expectatione ille (sc. Nikolaus von Kues) suspendit animos nostros, qui, quantum hisce studiis sint dediti, minime ignoras, indicem omnium librorum, qui in duobus illis voluminibus habentur, diligentissime confectum mittas ad nos. Nosti aviditatem omnium et Nicolai (sc. Niccolò) presertim nostri. Es handelte sich um eine Sammelhandschrift des 12. Jahrhunderts, heute Brüssel, Bibl. Royale Cod. 10615–729 (eine dann am Konzilsort Basel hergestellte und nach Italien weitergeleitete Abschrift ist Venedig, Bibl. Marc. XII 69) und um eine Cicero-Sammelhandschrift.

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Was dann ein Poggio und andere wiederfanden – wenn auch keinen Plautus und nichts „im Nonnenkloster“, sondern vorwiegend in St. Gallen und Cluny – war sensationell,28 eben doch „ein beträchtlicher Teil des uns bekannten antiken Bildungskanons“ (Patschovsky): ein vollständiger Quintilian, der bisher nur partiell bekannte Ammianus Marcellinus, verlorene Teile von Valerius Flaccus’ ,Argonautica‘, die kaum bekannten oder vergessenen Manilius, Statius und Lukrez29, unbekannte Cicero-Reden, Asconius Pedianus, der Grammatiker Probus, etc. Von Basel aus gelangen nurmehr deutlich weniger spektakuläre Sucherfolge: Scipione de Mainenti, Bf. von Modena, brachte 1434 Salvians ,De gubernatione die‘ heim;30 Giovanni Aurispa, berühmter Sammler auch griechischer Handschriften, als Begleiter des Meliaduse d’Este in Basel, fand 1433 auf einer Rheinreise den Terenz-Kommentar des Aelius Donatus in Mainz, dazu eine Handschrift der ,Panegyrici Latini‘ und den ,Phoinix‘ des Laktanz31. Nach Basel holte die Donat-Handschrift aber erst – über Nikolaus von Kues – Francesco Pizolpasso, wahrlich eine Figur „tra umanesimo e concili“ (Fubini), Pfeiler der italienischen Humanistenkorrespondenz sowie wichtiger Vermittler von Handschriften am Konzilsort,32 um

28

Zum Hintergrund der Novelle Conrad Ferdinand Meyers ‚Plautus im Nonnenkloster‘ beziehungsweise mit dem Ersttitel ‚Das Brigittchen von Trogen‘ siehe MIETHKE: Konzilien als Forum (wie Anm. 22), 757 f.; RATHMANN: Geschehen und Geschichten (wie Anm. 11) 11–14. 29 ENRICO FLORES: Le scoperte di Poggio e il testo di Lucrezio, Napoli 1980, hier 11–44. Vgl. die Literatur in Anm. 24. 30 SABBADINI: Scoperte (wie Anm. 24), 114 f., 118 f. 31 Vgl. SABBADINI: Storia e critica, sowie seine weiteren Studien (wie Anm. 24), passim; SOTTILI: Traversari (wie Anm. 25); DERS.: Corrispondenza (wie Anm. 25). Zu den ,Panegyrici latini‘, heute Vat. Lat. 1775, zuletzt ANTONIO MANFREDI: Un ‘editio’ umanistica dei ,Panegirici latini minores‘: il codice Vaticano Lat. 1775 (W) e il suo correttore, in: Studia classica Iohanni Tarditi oblata, hg. von LUIGI BELLONI-GUIDO/MILANESE-ANTONIETTA PORRO (Biblioteca di Aevum Latinum 7), Mailand 1995, Bd. 2, 1313–1325, hier 1321–1325. Zu Aurispas Reise jetzt SOTTILI: Pellegrini italiani (wie Anm. 25) mit Literatur, hier 15–17 mit Anm. auch zu Guiniforte Barzizza und Stefano Caccia. Vgl. PETER SCHREINER: Giovanni Aurispa in Konstantinopel. Schicksale griechischer Handschriften im 15. Jahrhundert, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift. Erich Meuthen zum 65. Geburtstag, 2. Bde., hg. von JOHANNES HELMRATH/HERIBERT MÜLLER, München 1994, Bd. 2, 623–634. 32 Etwa von Übersetzungen und anderen Handschriften des Pier Candido Decembrio nach England. Siehe jetzt mit der einschlägigen Literatur SUSANNE SAYGIN: Humphrey, Duke of Gloucester (1390–1447) and the Italian Humanists (Brill’s Studies in Intellectual History 105), Leiden 2001, 222, 226 f., 300 s.v. ‘Decembrio’. Siehe auch T INO FOFFANO: Tra Costanza e Basilea. Rapporti col mondo d’oltralpe del Cardinale Branda Castiglioni, legato pontificio e mecenade della cultura, in: The Late Middle Ages and the Dawn of Humanism Outside Italy (Mediaevalia Lovaniensia I/1), hg. von GÉRARD VERBEKE/JOZEF IJSEWIJN, Löwen 1972, 19–30.

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sie von dort nach Italien an Guarino und Decembrio zum Abschreiben weiterzuleiten.33 Die ‘Scoperte’, namentlich die Konziliaren, wurden also Teil der Selbstmythisierung der Humanisten. Relativierend ist zu bemerken: 1. Handschriften, auch von Klassikern, wurden als strukturell knappe Güter des Manuskriptzeitalters im gesamten Mittelalter gesucht, getauscht, kopiert. Auf dem Basler Konzil unternahmen selbst die Gesandten der Hussiten jeweils nach dem Mittagessen ‘Scoperta’ – Streifzüge in Basler Bettelordensbibliotheken.34 2. Die mit Konzilsbesuchen verbundenen und besonders gefeierten Textfunde waren nur Teil einer europaweiten Suche, die lange vorher begann, auch unabhängig von den Konzilien verlief und noch lange nach ihnen anhielt, in Italien wie ‘im Norden’. 1430 lieh und kaufte Cosimo Medici einen illustrierten Plinius-Codex – in Lübeck.35 3. Als Pfadfinder betätigten sich nicht selten Deutsche: Der Ruhm des jungen Cusanus bei den Italienern geht nicht zuletzt darauf zurück, daß er ihnen, wohl wissend um die Wertschätzung gerade dieser Findigkeit, originalia, Klassiker-Handschriften, auch ein eigenes inventarium librorum, vermittelt hatte. Seine große Zeit als Entdecker, etwa der zwölf Plautuskomödien 1429 in der Kölner Dombibliothek (heute Vat. Lat. 3870), die er nach Rom in den Besitz des Kardinals Giordano Orsini brachte, war aber vornehmlich auf die Zeit der späten zwanziger Jahre und der Anfänge des Basiliense sowie seine Reise nach Konstantinopel 1437 begrenzt.36 4. Die Transferrichtung kehrte sich mit den ‘Scoperte’ zunächst ein33

Zu Aurispa, Pizolpasso und der Donat-Handschrift: SABBADINI: Storia e critica (wie Anm. 24), 213–245; Acta Cusana (wie Anm. 27), Bd. I/1, Nr. 292, Z. 11f; Bd. I/2, Nr. 297, Z. 9 f. mit Anm. 7: Nicolaus noster de Cusa, ad quem spectabat codex Donati Terentiani; weiterführend, mit neu entdeckten Pizolpasso-Briefen (Madrid, Bibl. Univ. 129 [118–2°–20] fol. 64v–67r) zur komplizierten Geschichte des Donattexts und seiner Abschriften: SOTTILI: Corrispondenza (wie Anm. 25), 310–315, 318 f., 323, 326 f. (Pizolpasso an Traversari 1436 September 2: De Nicholao nostro Cusa per exemplum epistole sue ad me his repositum, agnosces quid habeam; künftig Nachtrag zu Acta Cusana Bd. I/1, Nr. 278). Vgl. CACIOLLI: Codici di Aurispa (wie Anm. 25), 641 f. (ohne Kenntnis SOTTILIS und der Acta Cusana) zu einem Donat aus Chartres, von dem Aurispa 1451 eine Kopie erhielt. 34 Post prandium, so Peter von Žatec zu 1433 Jan. 26, cum Procopio et Marcoldo ivi ad Minores conspiciendo eorum librariam, in qua pauca valentia volumina invenimus, dempta biblia, concordantiis eiusdem mediocribus, et expositionem super quosdam libros bibliae; Monumenta conciliorum generalium seculi decimi quinti, Bd. 1–4, Wien 1857–Basel 1932, Bd. 1, 296, Z. 15–17. Die am nächsten Tag besuchte Bibliothek der Dominikaner war bene solemnior ... et pretiosior... In eodem … invenimus mysticationem ludi scacorum [wohl Jacobus Cessolis, ,Libellus de ludo scaccorum‘] et plures alios libros bonos, seorsum etiam in secunda camera habuerunt volumina multa in jure canonico et civili cum doctoribus eorundem; ebd. 296, Z. 22–24; vgl. auch 307, Z. 22–30. 35 ARNO BORST: Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments (Abhandlung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse 2), Heidelberg 21995, 313. 36 Siehe bereits Anm. 27 und 33. Die einschlägigen Stellen in Acta Cusana (wie Anm. 27), Bd. I/1, Nr. 27, 34, 35, 48, 62, 65–67, 73, 146, 154, 157, 244, 292; Bd. I/2, Nr. 297, 333, 349

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mal um, vom Norden nach Italien. Die alten Handschriften selbst oder wenigstens eine Textkopie von ihnen nahmen ihren Weg in den Süden. Ohnehin als entführtes Raubgut (spolia) deklariert und keineswegs als Zeugnisse einst eigenständig romanisierter Bildung des Nordens angesehen, wurden sie gleichsam repatriiert. Daß diese Fontes dann weiter abgeschrieben, dabei philologisch emendiert, also gleichsam therapeutisch restauriert wurden, bedeutete dann ihre eigentliche ‘Wiedergeburt’. Gerade die von Poggio, zum Teil in Konstanz selbst, angefertigten Apographa und Emendationen nahmen für die künftige Geschichte der einzelnen antiken Texte (etwa Quintilian, Plautus, Valerius Flaccus, Cicero ‚De legibus‘ etc.)37 eine ähnlich prominente Nukleusrolle ein wie die vor allem von Giuseppe Billanovich erschlossenen Petrarcas für Livius und andere. Die weiteren binnen- und außeritalischen Verbreitungswege und Bearbeitungsstufen dieser Handschriften sowie ihre sehr unterschiedlichen Verbreitungsgeschwindigkeiten stellten Kerntatsachen europäischer Philologie- und Bildungsgeschichte dar.38 Das anfängliche Befreiungsszenario erhält freilich eine merkwürdige Note, wenn man sieht, daß die befreiten alten Codices von Humanisten wie auch von vielen Buchdruckern, eben nicht als Zimelien, sondern oft genug als bloßes Medien behandelt wurden, die zur quantité negligéable wurden, sobald ihr Text abgeschrieben beziehungsweise gedruckt war. Der reine Text hatte die Aura, nicht das alte Manuskript. Ein gutes Beispiel bietet der berühmte ‚Codex Laudensis‘ mit Ciceros rhetorischen Schriften: 1422 von Landriani entdeckt, rapide von vielen namhaften Humanisten kopiert, und schon zehn Jahre später verschollen. Versucht man, die ‘Scoperte’ in eine allgemeinere Beurteilung der Leistungen der Humanisten einzuordnen, sind vor allem vier Punkte herauszuZ 89–91, 372. Das inventarium des Cusanus findet sich im Brief Poggios an Niccoli 1429 Februar 26; Acta Cusana (wie Anm. 27), Bd. I/1, Nr. 66. Ergänzungen bei SOTTILI: Corrispondenza (wie Anm. 25), 309–314. Siehe auch ERICH MEUTHEN: Ein ‘deutscher’ Freundeskreis an der römischen Kurie in der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Annuarium Historiae Conciliorum 27/28 (1995/96), 487–542. Zuletzt zusammenfassend HERMANN SCHNARR: Frühe Beziehungen des Nikolaus von Kues zu italienischen Humanisten, in: Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Beiträge eines deutsch–italienischen Symposiums in der Villa Vigoni, hg. von MARTIN THURNER (Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts 48), Berlin 2002, 187–214, Erwähnungen des Cusanus bei Poggio 202–212. 37 In Konstanz 1415–1417 entstanden zum Beispiel: Madrid, Bibl. Nacional 8514 (Vorlage aus St. Gallen: Exzerpte aus Asconius Pedianus, Valerius Flaccus ,Argonautica‘); Vat. Lat. 3215 (Vorlage aus Straßburg (?); Cicero: ,Academica‘ I.2 und ,De legibus‘); Vat. Lat. 11458 (Vorlage Frankreich, Cluny (?); Cicero: Reden); das Apographon der Quintilian-Handschrift ist verschollen, eine Abschrift stellt Urb. Lat. 327 dar; siehe ALBINIA C. DE LA MARE: The Handwritings of Italian Humanists Bd. 1, Oxford 1973, 78 f., Nr. 14–16. 38 Gerade ein Teil der von Poggio angefertigten oder erworbenen Manuskripte kam erst spät, nach Poggios Rückkehr von Rom nach Florenz 1453 beziehungsweise nach seinem Tod 1459, in Zirkulation; RIZZO: Tipologia (wie Anm. 24), 380–383 mit Literatur. Zum ‚Codex Laudensis‘ siehe Hinweise bei HELMRATH: Cyceronianus (wie Anm. 17), 939–942.

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heben, die dann auch auf weitere konzilsrelevante Aktzivitäten verweisen: Als Voraussetzung einer produktiven Aneignung und Transformation erweiterten die Humanisten erstens durchaus quantitativ die antike Textbasis durch Auffinden vergessener lateinischer Texte; sie erschlossen darüber hinaus die dem Mittelalter mit wenigen Ausnahmen (Aristoteles!) unbekannt gewesenen griechischen Autoren, zunächst durch lateinische Übersetzungen. Sie trugen zweitens qualitativ zumindest proto-textkritische, die künftige Überlieferung der Texte stark bestimmende Emendationen bei. Sie kanonisierten zum Dritten die ästhetisch-normative wie praxisorientierte Bedeutung der antiken Autoren zu höherer Verbindlichkeit als ‘Klassiker’. Dabei wurde viertens der Prestigerang des – klassischen – Lateins in den Bildungseliten aufgewertet, der des Griechischen langsam hinzugewonnen. Und hier trafen sich ihre Intentionen teilweise mit der diffusiven Funktion der Konzilien. Zwar ohne humanistischen Impetus, doch indirekt tendenzstärkend bewirkten die internationalen Langzeitkonzilien selbst einen neuen Schub für das Lateinische als europäische Verkehrssprache, sei es ‘scholastisch’ oder klassisch. Der Beitrag von Humanisten, die etwa als Sekretäre prominenter Konzilsprälaten, seltener, wie Enea Silvio oder Petrus de Noxeto, in der Konzilskanzlei selbst arbeiteten, trugen in Rede und Schrift zumindest marginal dazu bei. Griechischkompetenz, die damals selbst unter den Humanisten nur wenige besaßen, erhielt jetzt eminente praktische Bedeutung; griechischkundige Humanisten wurden wie andere bilinguale Personen, etwa Zyprioten, für Dolmetsch- oder Übersetzeraufgaben eingesetzt.39 Da man in Basel zunächst auch das große Unionskonzil im Norden erwartete, hatte man weitsichtig schon die hochkarätige kleine Gräzistenelite aus Italien fast komplett eingeladen, Aurispa und Traversari, Filelfo und Antonio da Rho, Guarino und Vittorino da Feltre!40 Konkret wurde nichts daraus – gingen die Griechen (und ein Teil der von ihnen enthusiasmierten Humanisten) doch zum päpstlichen Gegenkonzil nach Ferrara, wo das Übersetzungsproblem dann achtbar gelöst wurde.41 Diffusion des Humanismus erfolgte nicht nur indirekt durch Finden, Kopieren, Versenden von Handschriften, sondern auch durch Lehre vor Ort. Hier findet man neben der öffentlichen Rede, die im folgenden Kapitel behandelt wird, vor allem einige Lekturen häufiger genannt, gehalten freilich nur in einem „ghettoartig geschlossenen Zirkel“ interessierter Konzilsväter. In Konstanz waren es die Vorlesungen des Benedictus de Pileo über Valerius Maximus, Lukan und Seneca und die auf seiner neuen lateinischen Prosaüberset39

HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 137 f. mit weiteren Belegen; zu den Unionsvorverhandlungen in Basel DERS.: Basler Konzil (wie Anm. 15), 372–383 (Literatur) sowie unten Kap. 5. 40 Monumenta Conciliorum (wie Anm. 34), Bd. 2, 895, Z. 20–25; HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 138. 41 Siehe unten Kap. 5 bei Anm. 115.

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zung der ‚Comedia‘ fußenden Dante-Rezitationen durch Giovanni da Serravalle OFM, Bischof von Fermo, im Jahre 1416/17.42 In Basel erteilte ein gewisser Demetrios von Konstantinopel, der von einer griechischen Gesandtschaft in Basel zurückgeblieben war, auf eigenen Wunsch im Rahmen der Basler Konzilsuniversität Unterricht in griechischer Grammatik, sicherlich ein recht ephemäres Ereignis.43

2. Verschmelzende Öffentlichkeiten: Konzilien als Bücher- und Kopiermärkte44 Die ‘Scoperte’, die Abschrift und Transmission der entdeckten Texte profitierten ebenso wie die Latinität vom Forums- und Marktcharakter der Konzilien. Blickt man allgemein auf die tendenziell ohnehin steil ansteigende Buchproduktion im Reich des 15. Jahrhunderts, so bewirkte das Konstanzer Konzil nach Neddermeyer einen merklichen, die erste Phase des Basler Konzils bis ca. 1438 sogar einen „gewaltigen Aufschwung“ der Handschriftenherstellung (in den Gebieten der Schweiz 1430–1432: Steigerung um 400%), ebenso wie der Buchakquisitionen in Basler und anderen Bibliotheken. Entsprechend stieg die lokale Papierproduktion, die auch den gewaltigen Bedarf der Konzilsbürokratie zu decken hatte. Die Pest 1439 und schwindender Besuch der Synode ließen die Kurve dann abflachen.45 Das Angebot war durch die besondere Kommunikationssituation der Konzilien so breit wie nie, für 42

PATSCHOVSKY: Humanismus (wie Anm. 16), 16 f. (Zitat 17). Zu Pileo: LUDWIG BERTALOT: Benedictus de Pileo in Konstanz, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 29 (1938/39), 308–312, mit Textbeginn der Lucan-Vorlesung; wieder in: DERS.: Studien 2 (wie Anm. 26), 305–310. Zu Serravalle: GIOVANNI FERRAÙ, in: Enciclopedia Dantesca 1 (1970), 608b–609b; T. LOMBARDI: Vita e opere di Giovanni Bertoldi OFM Conv. da Serravalle di S. Marino (1355–1445), Bologna 1976, (nicht gesehen); AUGUST BUCK (Hg.): Italienische Literatur im Zeitalter Dantes, 2. Teil (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 10), Heidelberg 1989, 255. 43 HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 159 und 174 mit Belegen; KERSTIN HAJDÚ: Eine Rede an die Basler Konzilsväter und ihr unbekannter Autor, Demetrios von Konstantinopel, in: Byzantinische Zeitschrift 93/1 (2000), 125–132; vom Text ist neben der griechischen Fassung eine lateinische Interlinearübersetzung erhalten. Demetrios ging vermutlich 1440 nach Krakau. 44 LEHMANN: Büchermärkte (wie Anm. 23); MIETHKE: Konzilien als Forum (wie Anm. 22), 757–767; vgl. auch PATSCHOVSKY: Humanismus (wie Anm. 15), 17–20; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 173–175; DERS.: Kommunikation (wie Anm. 22), 145–166. 45 UWE NEDDERMEYER: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München 61), 2 Bde., Wiesbaden 1999, Bd. 1, 61 f., 174, 181, 280–282, Bd. 2, 654 f. Diagramm 36, a–d. Zur Papierproduktion: HANS KÄLIN: Papier in Basel, Basel 1974, 138 ff.; HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 169 f. (Literatur); NEDDERMEYER: Handschrift, 260 Tabelle 23a.

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viele Teilnehmer die einmalige Chance, sich lang ersehnte, sonst gar nicht erhältliche Texte zu beschaffen. Man hat daher auf dem Konzilsmarkt eine einmalige „Verschmelzung“ zuvor parallel laufender „geschlossener Öffentlichkeiten“ (Miethke), etwa der Orden, in denen bestimmte Texte kursierten, für Handschriften zustande kommen sehen. Eine Diffusion dieser Medien fand also in großem Stile statt. Die klassische Handschriftenforschung bleibt die wichtige Grundlage für Aussagen über Kulturtransfer. Es finden sich mit dem Colophon ,scriptum Constantie‘ oder ,scriptum Basilee‘ Handschriften auch in Schweden, Polen, Norddeutschland in beachtlicher Zahl.46 Den Inhalt bilden aber zum Großteil kanonistische oder spirituelle Standardwerke, nur sehr selten antike Texte (und auch diese sind nicht automatisch Indikator genuin humanistischen Interesses). Singulär allerdings Kardinal Guillaume Fillastre d. Ä.: er brachte schon von Konstanz griechische Texte in brandneuen lateinischen Übersetzungen italienischer Humanisten mit nach Reims, Platon in Brunis, Ptolemaios in Scarperias Übersetzung von 1410, dazu einen Pomponius Mela mit ,Mappa mundi‘. Der erstaunliche Johann III. Abeczier, Bischof von Ermland, transferierte Florus, Eutrop, Hegesipp, Boccaccio ,De claris mulieribus‘ etc. nach Ostpreußen. Beide waren damals ebenso deutliche Ausnahmen47 wie die Sammlung des kroatischen Theologen und Kämpfers für Konzil und Griechenunion, Johann von Ragusa († 1443), die mit sechzig griechischen Handschriften testamentarisch dem Basler Dominikanerkloster zukam.48

46 Die größte Übersicht immer noch bei LEHMANN: Büchermärkte (wie Anm. 23), 256– 269 (Konstanz), 270–280 (Basel); Lehmanns Handschriften-Liste wurde vor allem von MIETHKE: Konzilien als Forum (wie Anm.22), 759–762 substantiell erweitert; eine systematische Übersicht über die in Konstanz und Basel nachweislich kopierten Handschriften existiert jedoch nicht; weitere Hinweise: HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 174, Anm. 388. 47 LEHMANN: Büchermärkte (wie Anm. 23), 261 f. (Abeczier), 266–269 (Fillastre); PATSCHOVSKY: Humanisten (wie Anm. 16), 17–20. Vgl. PETER L. SCHMIDT: Eine CiceroHandschrift des ermländischen Bischofs Johannes Abeczier, in: Rheinisches Museum. Neue Folge 109 (1966), 170–184. Zu Fillastre ferner B. MERLETTE: Guillaume Philastre, ami de Pierre d’Ailly et l’humanisme au concile de Constance, in: Bulletin de la Société historique de Compiègne 33 (1993), 137–146; DIDIER MARCOTTE (Hg.): Humanisme et culture géographique à l’époque du Concile de Constance. Autour de Guillaume Fillastre. Actes du Colloque de l’Université de Reims, 18–19 nov. 1999, Leiden 2003. Zu ‘Konstanzer’ Handschriften in Schweden: BEATA LOSMAN: Norden och Reformkonsilierna 1408–1449 (Studia Historica Gothoburgensia 11), Göteborg 1970, 39–49. 48 PHILIPP SCHMIDT: Die Bibliothek des ehemaligen Dominikanerklosters in Basel, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 18 (1919), 160–254; ALOYSIUS KRCHĕÁK: De vita et operibus Joannis de Ragusio (Lateranum NS 26/3–4), Rom 1960, 96 f.; MARTIN STEINMANN: Ältere theologische Literatur am Basler Konzil, in: Xenia Medii Aevi historiam illustrantia oblata THOMAE KAEPPELI OP, hg. von RAYMOND CREYTENS/PAUL KÜNZLE (Storia e letteratura. Raccolti di Studi e Testi 141/42), Rom 1978, 471–482 passim.

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Der Befund gilt auch für die sog. scriptura antiqua, die um 1400 von Poggio kreierte Humanistica. Diese Schrift ist insofern einer der wichtigen Indikatoren für Humanismustransfer, als sie, Zeichen eines bewußten Bekenntnisses, eigens gelernt werden mußte.49 In Konstanz 1415 sind früheste Übernahmen einer schlaufenlosen Hybrida festzustellen, einer ‘italienischen’ Schrift, aber nicht der eigentlichen Humanistica. Martin Steinmann findet in Basler Handschriften der dreißiger bis fünfziger Jahre nur geringe Spuren der Humanistica. Der konzilsbedingte Transfer war in diesem Punkt also marginal; mehr bewegte sich hier durch Aufenthalte in Italien.50 Hoher Buchbedarf ergab sich freilich auch aus der internen Konzilsarbeit. Konzilien waren traditionell textintensiv. Die fides, um die seit dem I. Nicaenum stets gerungen wurde, manifestiert sich nachprüfbar nur in Texten; rechte Texte, gute originalia zu haben – das Florentinum wird es noch schlagend zeigen –, wurde relevant für das Seelenheil. Texte in Buchform, allen voran das Evangelium, lagen bereit, um zu zitieren, sein Bekenntnis zu beweisen.51 Bei den großen Debatten mit den Hussiten auf dem Basler Konzil 1433 hatte sich Johann von Ragusa einen ganzen Tisch voller Texte aufgebaut, um gegen Vorwürfe, er zitiere nicht korrekt, aus den doctores selbst vorlesen zu 49 JOHANN P. GUMBERT: Italienische Schrift – humanistische Schrift – Humanistenschrift, in: Renaissance- und Humanistenhandschriften, hg. von JOHANNE AUTENRIETH (Schriften des historischen Kollegs. Kolloquien 13), München 1988, 63–70, hier 64 f.; MARTIN STEINMANN: Von der Übernahme fremder Schriften im 15. Jahrhundert, in: ebd. 51–62. Als vielleicht frühestes Specimen einer Humanistica in Deutschland gilt eine Schriftprobe des ReformBenediktiners Petrus von Rosenheim († 1433) im Text seiner Melker Annalen nach seiner Rückkehr 1418 aus Subiaco; BERNHARD BISCHOFF: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24), Berlin 21986, 199 f.; STEINMANN: Übernahme (wie oben), 58. Wohl noch auf dem Konstanzer Konzil entstand auf Anregung des Kardinals Branda da Castiglione Rosenheims ,Roseum Memoriale Divinarum Eloquiorum‘ (Druck Bologna 1489), eine Art versifizierter Bibel, dessen Distichen den Verfasser als humanismusnah ausweisen; META BRUCK: Das Profeßbuch des Klosters Melk 1.Teil 1418–1452, in: Stift Melk in Geschichte und Gegenwart 4 (1985), 88, 90 f. – Zur Vorbildfunktion des Enea Silvio JOHANNES HELMRATH: ‚Vestigia Aeneae imitari‘ (wie Anm. 19), hier 128–131 mit weiterer Literatur zur Diffusion der Humanistica; in diesem Band Nr. IV. 50 MARTIN STEINMANN: Die humanistische Schrift und die Anfänge des Humanismus in Basel, in: Archiv für Diplomatik 22 (1976), 376–437; hier 393: „Die humanistische Schrift hat während des Konzils in Basel nicht Fuß fassen können“; DERS.: Übernahme (wie Anm. 49), 60, 62: „Trotz den beiden großen Konzilien“ fiel die Übernahme der Humanistica über Italien hinaus „erst in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts“. Ähnlich zurückhaltender Befund bei LEHMANN: Büchermärkte (wie Anm. 23), 280: „Meine büchergeschichtlichen Mitteilungen lassen freilich das allmähliche Vordringen des Humanismus über die Alpen nur schwach erkennen.“ 51 Schön belegt für das Konzil von Aquileia 381; dem angeklagten Palladius wird gesagt: Evangelium presens est et Apostolus, omnes scripturae praesto sunt. Unde vis astruere [im Sinne von: bekennen], si putas non esse Dei Filium sempiternum; Gesta concilii Aquilegiensis, Patrologia Latina 15, Sp. 918, zitiert bei HERMANN-JOSEF SIEBEN: Die Konzilsidee der Alten Kirche (Konziliengeschichte. Reihe B), Paderborn u.a. 1979, 486, Anm. 105.

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können.52 Was voraussetzt: die Texte mußten vorhanden sein beziehungsweise beschafft werden. Die lokalen Bibliotheken reichten da oft nicht. Besonders frequentierte Augustinus-Texte, aber auch solche von Ambrosius, Fulgentius und Anselm ließ man Weihnachten 1434 sogar aus Cluny nach Basel schaffen. Die Konzilsgesandten in Griechenland sollen auf dem Berg Athos nach originalia tam Grecorum quam Latinorum suchen, nicht um antike Texte aus dem Staub zu befreien, sondern aus praktischen Gründen, um nämlich die errores orientalium modernorum (sc. der Griechen!) zu widerlegen.53 Nicht nur als Büchermärkte, auch als Motiv und Stätte eigener literarischer Produktion von Humanisten sind die Konzilien beachtenswert. Neben Briefen und der noch zu erörternden Reden entstanden neue Textformen als transformierte Antike: Die Forschung hat gerade an den Äußerungen konzilsbesuchender Humanisten italienische Fremdheitserfahrungen festgemacht, von den Unbilden (von Wein und Wetter) bis zur Unbildung.54 Auch die ‘Scoperte’ waren, wie gesagt, ein latenter Barbarendiskurs. Die Alterität der Fremde wurde Anlaß einer autoptischen Entdeckung der Welt, die sich textuell als neuartige laus urbium niederschlug. Die enkomiastischen descriptiones der beiden Konzilsstädte durch Benedictus de Pileo, der Konstanz,55 und Enea Silvio Piccolomini, der – in konzilspolitischer Werbeabsicht – gleich zweimal 1434 und 1438 Basel beschrieb,56 gelten als die ersten ausführlichen ihrer Art. 52

Johann von Ragusa: Tractatus de reductione Bohemorum, zu 1433 Februar 7: Ordinavit, ut mensa librorum erigeretur, et fecit apportari originalia doctorum omnium, quos ibidem eadem die allegavit, et omnium dicta in ipsorum libris originalibus legit; Monumenta Conciliorum (wie Anm. 34), Bd. 1, 279, Z. 41–43; vgl. die gesamte Passage 279, Z. 38–280, Z. 13 sowie 244, Z. 27–37. Vgl. HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 163 f. mit weiteren Beispielen. 53 LEHMANN: Büchermärkte (wie Anm. 23), 270 (Cluny); EDMUNDI MARTENE/URSINI DURAND (Hg.): Veterum scriptorum et monumentorum historicorum, dogmaticorum, moralium amplissima collectio, Bd. 8, Paris 1724 (ND New York 1968), Sp. 901CD (Athos). 54 Grave est, schrieb Gherardo Landriani, Bischof von Lodi, aus Basel, inter barbaros vivere ubi intelligendo nihil intelligas, ubi nihil videris quod te oblectet; Florenz, Bibl. Riccardiana 779 fol. 235rv; erwähnt bei REMIGIO SABBADINI: Ottanta lettere inedite del Panormita tratte dai codici milanesi (Biblioteca della Società di Storia Patria per la Sicilia orientale 1), Catania 1910, 91. 55 VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 16), 52–55; PATSCHOVSKY: Humanisten (wie Anm. 16), 20–23. 56 1. Descriptio (Juli 1434), Druck: Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, 8. Bde., hg. von JOHANNES HALLER u.a., Basel 1896–1936 (ND Nendeln 1971), Bd. 5, 365–373, vgl. ebd. XXVII–XXXI. – 2. Descriptio (1438), Druck: Concilium Basiliense (wie oben), Bd. 8, 191–204. Dazu BERTHE WIDMER: Enea Silvios Lob der Stadt Basel und seine Vorlagen, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 58/59 (1959) 111–138; VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 16), 100–110, 240 f.; HARTMUT KUGLER: Die Vorstellung der Stadt in der europäischen Literatur des deutschen Mittelalters (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 88),

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Dem Norden eine eigene römische beziehungsweise latinisierte Vergangenheit und Kultur zubilligen zu müssen, bedeutete einen Lernprozeß.57 Die Fremde wird aber auch Projektionsfläche für eine Verbindung eigener Autopsie mit antikegespeisten ethnographischen und rhetorischen Idealkonstrukten: von der edlen Nacktheit eines Naturvolks, so in Poggios weitverbreitetem Brief von den Bädern in Baden,58 bis zu quasi römisch-stoischem Oratorenund Heroentum, so wiederum Poggio, tief beeindruckt, in seinem ebenso einflußreichen Briefbericht über den Feuertod des Hieronymus von Prag.59

3. Performative Antike: Humanistische Konzilsreden60 Die Konzile boten Bühnen der öffentlichen Rede. Wegen ihres Kongreßcharakters und ihrer stark auf Partizipation ausgerichteten Geschäftsordnung wurde hier beinahe pausenlos öffentlich und halböffentlich geredet. Als Redeforen nahmen Humanisten sie auch vornehmlich wahr. Enea Silvios ‚Commentarii de gestis Concilii Basiliensis‘ von 1440, die ihrerseits ein eigenes literarisches Genre darstellen, präsentiert die Versammlung vornehmlich als eine Sequenz großer Reden.61 München 1986, 196–210, 238 f.; ebd. 208 f. zum Konkurrieren mit dem Florenz in Brunis ,Laudatio Florentinae urbis‘. Zu Eneas Konzilsgeschichte siehe unten bei Anm. 86. 57 Aufschlußreich und von PATSCHOVSKY: Humanisten (wie Anm. 16), 9 f. mit Recht hervorgehoben, ist die Suche Leonardo Brunis nach dem lokalen Altertum, als er 1415 im Gefolge Papst Johannes’ XXIII. kurz in Konstanz weilte und seine Irritation über die echt römische, von den Einwohnern magisch verehrte Constantius-Inschrift am Münster zum Ausdruck brachte. 58 Poggio 1416 Mai 18 an Niccolò Niccoli, in: Poggio Bracciolini: Lettere, hg. von HELENE HARDT, Florenz 1984, Bd. 1, 128–135, Nr. 46; VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 16), 55–63. 59 Poggio 1416 Mai 13 an Leonardo Bruni, Lettere, hg. von HARDT (wie Anm. 58), Bd. 2, 157–163 Nr. IV.6; dazu FRANTIŠEK ŠMAHEL: Poggio und Hieronymus von Prag: Zur Frage des hussitischen Humanismus, in: Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern, hg. von HANS B. HARDER/HANS ROTHE (Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slaven 29), Köln/Wien 1988, 75–91; PATSCHOVSKY: Humanismus (wie Anm. 16), 24–27; HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 146–148. 60 Zur humanistischen Konzilsrhetorik knapper Überblick bei HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 171 f., 256 mit Literatur; DERS.: Humanisten (wie Anm. 17), 61–65; DERS.: Kommunikation (wie Anm. 22), 140–146; DERS.: ‘Cyceroniamus’ (wie Anm. 17) 942–951; GIRGENSOHN: Loschi (wie Anm. 16), sowie Anm. 53 f. und 57. Zur Typologie DIETER MERTENS: Die Rede als institutionalisierte Kommunikation im Zeitalter des Humanismus, in: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation im Mittelalter, hg. von HEINZ DUCHHARDT/GERT MELVILLE (Norm und Struktur 2), Köln/Weimar/Wien 1997, 401–421. 61 Aeneas Sylvius Piccolominvs (Pivs II): De gestis concilii Basiliensis Commentariorum Libri II, hg. mit einer engl. Übers. von DENIS HAY/W. K. SMITH, Oxford 21993. Das Gesagte gilt besonders für das I. Buch. – Umgekehrt interessant, daß sich später der Deutsche Heinrich Lur, 1437 Rektor der Universität Leipzig, von den Humaniora überhaupt distanziert, in-

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Unsere These: Italienische Humanisten nutzten die Gelegenheit für performative Auftritte im Medium der soeben erst neuerstandenen ciceronischen Oratorik. Die Gründe dürfen nicht nur in missionarischem Eifer oder bloßer Imponiersucht gesehen werden, oder darin, daß sie eben nur diesen ‘Stil’ beherrscht hätten; sondern auch, weil ein Publikum unterstellt wurde, daß diese Art goutieren und auch für die Karriere des Redners zu honorieren wüßte. Um überhaupt reden zu dürfen, brauchte ein Nichtprominenter – Enea Silvio ist das beste Beispiel – in den Konzilsgremien Protektoren und Gönner, die sich ihrerseits etwas von dem Auftritt ‘ihres Mannes’ erhofften. Offen ist ferner die Frage, ob es bei diesen Auftritten als solchen blieb oder ob sie auf ihr Publikum vorbildlich und zur Imitation reizend wirkten. Nur dann könnte ja von Diffusion und Transfer gesprochen werden. Die Forschung hält die Totenrede des Pier Paolo Vergerio auf Francesco Carrara von 1394 für die am frühesten nachweisbare Aktualisierung reantikisierter öffentlicher Oratorik.62 Poggio Bracciolini, keineswegs nur als Handschriftenjäger tätig, inszenierte die neue Oratorik im Norden mit seiner Konstanzer Leichenrede vom 1. Oktober 1417 auf den humanistennahen Juristen, Kardinal und engagierten Konzilsvater Francesco Zabarella († 26. September), seinerseits ein berühmter Redner. John McManamon dient diese Rede auf Zabarella als idealen Prälaten, zusammen mit der aus gleichem Anlaß von Pietro Donato in Padua gehaltenen, exemplarisch zum Aufweis des Wesensunterschieds zwischen neuer humanistischer und traditioneller scholastischer Predigt, der Wende vom Sermo zur Oratio. Den ‘scholastischen’ Typ sieht er in der aus gleichem Anlaß gehaltenen Thema-Predigt des Oxforder Theologen Richard Flemmyng vom 2. Oktober repräsentiert.63 Als ebenso innovativ wird dem er sich auf angebliche Erfahrungen mit pervertierter Rhetorik auf dem Basler Konzil und auf geistlichen Fürstenhöfen beruft; Lur 1465 Febr. 1 an Leonhard Gessel: Post hec (sc. nach seinem Jurastudium) veni ad curiam spiritualis principis (wohl an die bischöfliche Kurie von Trient) et ad Basiliense concilium. Reperi in eisdem et in Romana curia homines divinos et ‚Ulixes‘, id est viros Tulianice eloquencie et vulpine astucie, inter quos comparui uti vespertilio inter aves rapaces; Hermann Schedels Briefwechsel (1452–1478), hg. von PAUL JOACHIMSEN (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 196), Tübingen 1893, 116, Nr. 59. 62 JOHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory and the Cultural Ideals of Italian Humanism, Chapel Hill/London 1989, 10 f., 92, 291; vgl. DERS.: Innovation in Early Humanistic Rhetoric. The Oratory of Pier Paolo Vergerio the Elder, in: Rinascimento 22 (1982), 3–32, und DERS.: Pierpaolo Vergerio the Elder: the Humanist as Orator (Medieval and Renaissance Texts and Studies 163), Tempe 1996, 43–49, 149–152, 173–174. 63 Oratio in funere domini Francisci cardinalis Florentini, in: POGGIO BRACCIOLINI: Opera omnia, hg. von RICCARDO FUBINI (Monumenta politica et philosophica rariora 2/4–5), Turin 1964, Bd. 1, 252–261, Incipit: ,Etsi plurimo luctu‘; Acta Concilii Constanciensis, hg. von HEINRICH FINKE, Bd. 2, Münster 1923 (ND 1981), 516; MCMANAMON: Innovation (wie Anm. 62), 22; DERS.: Funeral Oratory (wie Anm. 62), 11–16 (Vergleich Poggio-Flemmyng), 66–68 (Poggio, Donato), 258 (Poggio), 260 (Donato, gegen die irrtümliche Zuschreibung an Gasparino Barzizza), 270 (Flemmyng). Zu Flemmyng THOMAS E. MORRISSEY: ‘Surge,

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Poggios in Genre und Inhalt anders gelagerte kleruskritische Rede vor den Konzilsvätern angesehen, die, ständig aus Seneca schöpfend, humanistische Moralphilosophie in den Dienst der Kirchenreform stellt.64 Über ihr Echo scheint, falls sie denn tatsächlich gehalten wurde, nichts bekannt. Die Frage ist, inwiefern Oratorik, die ja nur als ephemäres Ereignis erlebt wird, Element des Kulturtransfers sein kann. Neben dem einmaligen Erlebnis steht die Iteration, das Erleben vieler Reden, wie auf den Konzilien üblich, und die Verschriftlichung, die vom Redner zu erwerben beim Hörer natürlich besonderes Interesse am Inhalt (vielleicht auch der Form) voraussetzt.65 Die kanonistisch und theologisch fundierten Konzilsdebatten blieben nach heutigem Urteilsstand ebenso wie die zahllosen Traktate in Form und Thematik naturgemäß weiterhin ‘scholastisch’ geprägt. Die Normen guten Lateins nahmen in der humanistischen Invektivliteratur als Thema prominentesten Rang ein. Die sog. ,Controversia Alphonsiana‘, der Streit Leonardo Brunis, Pier illuminare’. A Lost Address by Richard Fleming at the Council of Constance (Clm 28433), in: Annuarium Historiae Conciliorum 22 (1990), 86–130, mit Edition einer Epiphaniaspredigt vom 6. Januar 1417 ebd. 98–130. Zu Zabarella und seinen Kontakten, modellhaft zum Grundsatzproblem, welche Kriterien eine Person als ‘Humanisten’ qualifizierbar machen: DIETER GIRGENSOHN: Francesco Zabarella aus Padua. Gelehrsamkeit und politisches Wirken eines Rechtsprofessors während des großen abendländischen Schismas, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 79 (1993), 231–277 (Literatur), zu Zabarella als Redner 259 f.; DERS.: Die Stellung Francesco Zabarellas im Humanismus, in: Prusy – Polska – Europa. Studia z dziejów srednowieczna ... , hg. von ANDRZEJ RADZIMINSKI/JANUSZ TANDECKI, Torun 1999, 52–72; DERS.: Studenti e tradizione delle opere di Francesco Zabarella nell’Europa centrale, in: Studenti, Università, Città nella storia padovana, hg. von FRANCESCO PIOVAN/LUCIANA SITRAN-REA (Contributi alla storia dell’Università di Padova 34), Triest 2001, 127–176, bes. 160–176, ebd. 152–160 zu Zabarellas Reden, 165–167 zu den auf ihn gehaltenen Totenreden. 64 RICCARDO FUBINI: Un’ orazione di Poggio Bracciolini sui vizi del clero, scritta al tempo del Concilio di Costanza, in: Giornale storico di letteratura italiana 142 (1965), 24–33; wieder mit leicht verändertem Titel in: DERS.: Umanesimo e secolarizzazione da Petrarca a Valla, Rom 1990, 303–339, Edition 315–338; vgl. DERS.: Il teatro del mondo nelle prospettive morali e storico-politiche di Poggio Bracciolini, in: Poggio Bracciolini 1380–1980 nel VI Centenario della Nascita (Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Studi e Testi 8), Florenz 1982, 1–135; dasselbe wieder in: DERS.: Umanesimo e secolarizzazione (wie oben), 221–302. Eine weitere Idealrede komponierte Poggio in Gestalt der fiktiven ‘catonischen’ Rede, die er dem Hussiten Hieronymus von Prag in den Mund legte; siehe oben bei Anm. 58 f. – In der Nachfolge der erstgenannten humanistischen ‘Moralpredigt’ Poggios darf Enea Silvios wenig bekannte dritte Rede auf dem Basler Konzil von 1438 gesehen werden, überliefert ausschließlich in Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 603 fol. 199a–204b; Edition von JOHANNES HALLER: Eine Rede des Enea Silvio von dem Concil zu Basel, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 3 (1900), 82–102. 65 Vgl. MIETHKE: Forum (wie Anm. 22), 753–767; HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 140–166. SPITZ: Course (wie Anm. 14), 392: „The councils of Constance and Basel gave the german churchmen an opportunity to see the rhetorically schooled Italians in action.“ – Zu der im Folgenden erwähnten ,Controversia Alphonsiana‘, in welcher Pizolpasso eine Art Schiedsrichterrolle zuwuchs, siehe vor allem FUBINI: Tra umanesimo e concili (wie Anm. 1), 337–349.

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Candido Decembrios und Alonso Garcia de Cartagenas um die Qualität scholastischer und humanistischer Übersetzungen des Aristoteles ins Lateinische, ist besonders signifikant und wurde im übrigen auch im Umfeld des Basler Konzils weitergeführt. Was der heutigen Forschung unseres Erachtens fehlt, sind genauere Kriterien, die eine nuancierte Klassifizierung und Qualifizierung der Latinität(en) humanistischer wie – dann erst definierbarer – ‘nicht- oder semihumanistischer’ Texte zulassen. Die Historiker bewegen sich hier ohne Kooperation mit der – freilich erst in jüngerer Zeit an dieser Thematik interessierten – mittellateinischen und Altphilologie auf schwammigem Grund. Zwanzig Jahre nach Konstanz, auf dem Basler Konzil, sollten es jedenfalls bereits sehr viel mehr Oratoren sein, die jenen Akt der Bühnenbesetzung vornahmen, doch auch ihre Auftritte blieben Ausnahme und nicht Durchschnitt: Bischof Gherardo Landriani, der junge Enea Silvio Piccolomini, Ambrogio Traversari als fast weltfremd wirkender, beflissen papalistischer Orator im Jahre 1435,66 der Venezianer Gregorio Corraro (Correr), bekannter als Autor des frühen Humanistendramas ,Progne‘ (1429), redete in Basel vor Kaiser Sigismund am 11. Oktober 1433 über kirchliche Mißstände und Tiefstand der Klerusbildung gegenüber den rühmlichen Zeiten der prisca religio, der Franziskanerhumanist Ludovico da Pirano predigte 1434 zum Gründonnerstag, Ugolino Pisani am 24. Mai 1441 als Gesandter Mailands vor dem Konzilspapst Felix V. mit der Einladung nach Italien zu ziehen; der humanismusoffene, brilliante Kardinal und Konzilspräsident der Jahre 1431 bis 1437, Giuliano Cesarini, war ständig oratorisch präsent: allesamt Italiener also, und dies war kein Zufall.67 66

Text seiner Rede von 1435 Oktober 7: MANSI: Collectio Conciliorum 29, Sp. 1250– 1275. Über Traversari in Basel VOIGT: Italienische Berichte (wie Anm. 16), 70–75; CHARLES L. STINGER: Humanism and the Church Fathers. Ambrogio Traversari (1386–1439) and Christian Antiquity in the Italian Renaissance, Albany 1977, 186–197; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 172, 630 s. v.; DERS.: Humanisten (wie Anm. 17), 62 f.; SOTTILI: Corrispondenza (wie Anm. 25), 294–299; DERS.: Epistolografia fiorentina. Ambrogio Traversari e Kaspar Schlick, in: JUSTUS MÜLLER HOFSTEDE (Hg.): Florenz in der Frührenaissance. Kunst Literatur Epistolographie in der Sphäre des Humanismus. Gedenkschrift für Paul Oskar Kristeller (1905–1999), Rheinbach 2002, 181–216; CACCIOLLI: Codici (wie Anm. 25), 614–616. 67 Übersicht über humanistische Redner in Basel: HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 170–172; DERS.: Humanisten (wie Anm. 17), 61–65. – Corraros Rede vor Kaiser Siegmund 1433 Okt. 11: MANSI: Collectio Conciliorum 29, Sp. 1208B–1219E, sowie in: Történelmi Tár (Budapest 1899), 18–33; dazu VOIGT: Wiederbelebung (wie Anm. 13), Bd. 2, 33: „Rede im blühenden Stil der Humanisten“. Corraro klagte: Omnis fere ecclesiastica disciplina a clero defluxit priscaque religio iampridem in nobis desideratur. Ubi enim antiqua sanctimonia? Ubi sacrorum litterarum studia? Quis mihi nunc Hieronymos, quis Ambrosios, ubi ubi terrarum reperiet? (MANSI: Collectio Conciliorum 29, Sp. 1211E–1212°). Zur Verbreitung der Rede vgl. WINFRIED MÜLLER: Die Anfänge der Humanismusrezeption im Kloster Tegernsee, in: Studien und Mitteilungen aus dem Benediktinerorden 92 (1981), 28–

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Näher untersucht werden sollen hier zunächst a) Festpredigten am Beispiel des Gherardo Landriani 1432/33 zu Advent und Weihnachten und des Enea Silvio zum Ambrosiusfest 1438; b) die humanistisch epideiktische Rede; als Beispiel dient erneut Enea Silvio, hier im Bewerbungskampf um den Ort des künftigen Unionskonzils.68 a) Gherardo Landriani als Redner Predigten an Hoch- und Heiligenfesten gehörten im Konzilsbetrieb zu den oratorischen Fixpunkten.69 Man versetze sich in das riesige Holzgerüst der Sitzarena im Basler Münster. Dort predigte vor den feierlich versammelten Vätern zum Weihnachtsfest des Jahres 1433 im vollen Ornat der Italiener 90, hier 75 f. – Zu Ugolino Pisani PAOLO VITI: L’orazione di Ugolino Pisani per Felice V, in: Esperienze letterarie 6 (1981), 78–108, mit Edition 92–108; ZACCARIA: Decembrio (wie Anm. 25), 204 f. (Teildruck); HELMRATH: Humanisten (wie Anm. 17), 64. Über Johannes Keck OSB gelangte der Text unter anderem nach Tegernsee, jetzt München, Staatsbibl. clm 18298 fol. 117–120; HERIBERT ROSSMANN: Der Tegernseer Benediktiner Johannes Keck über die mystische Theologie, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 13 (1978), 330–352, hier 330, Anm. 41. – Zu Cesarini und seinen Reden: VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 14), Bd. 1, 222 f.; GERALD CHRISTIANSON: Cesarini. The conciliar cardinal. The Basel years, 1431–1438 (Kirchengeschichtliche Quellen und Studien 10), St. Ottilien 1979, bes. 186–188 („in brief, the president was a humanist“; 186); MEUTHEN: Freundeskreis (wie Anm. 36), 490–495; DERS.: Cesarini-Studien II. Der ‘Tractatus Juliani apostate magis perniciosus et plus furiosus’, in: Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, hg. von HAGEN KELLER/WERNER PARAVICINI/WOLFGANG SCHIEDER, Tübingen 2001, 209–224. – Die Predigt ,In coena domini‘ des Ludovico da Pirano scheint verloren; vgl. FRANCIS YATES: Ludovico da Pirano’s Memory Treatise, in: Cultural Aspects of the Italian Renaissance. Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller, hg. von CECIL H. CLOUGH, Manchester/New York 1976, 111–122, hier 113 zur Predigt: “highlight of his career”; LUIGI PESCE: Ludovico Barbo (1437–1443), vescovo di Treviso (Italia Sacra 9), Padua 1969, Bd. 1, 467–469, bes. 468. – Zu den Reden des päpstlichen Orators in Englnad, Pietro da Monte, jetzt DAVID RUNDLE: Carneades’ Legacy. the Morality of Eloquence in the Humanist and Papalist Writings of Pietro da Monte, in: English Historical Review 117 (2002), 284–305. 68 Lediglich hingewiesen sei auf das faszinierende, an sich allerdings kaum als humanistisch etikettierbare Feld der Präzedenz- und Rangstreitsreden. Noch nie waren in dieser Anzahl und Dauer Monarchengesandte aufeinander getroffen, so daß die Frage einer europäischen Ranghierarchie, sinnenfällig in der Plazierung, brisant wurde. Es kam in verschiedenen Gruppierungen zum oratorischen Kampf um den Honor, besonders anschaulich zu verfolgen zwischen England und Kastilien, letzteres vertreten durch den frühen Humanisten Alonso Garcia de Santa Maria (de Cartagena), Bischof von Burgos; siehe JOHANNES HELMRATH: Rangstreite auf Generalkonzilien des 15. Jahrhunderts als Verfahren, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. von BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 25), Berlin 2001, 139–174 (Literatur), zur Rede Alonsos 167–171; eine Edition ist geplant. 69 Zum wenig erschlossenen Predigtwesen des Basiliense THOMAS PRÜGL: Die Predigten am Fest des Hl. Thomas von Aquin auf dem Basler Konzil – mit einer Edition des ,Sermo de sancto Thoma‘ des Johannes de Turrecremata OP (1435), in: Archivum Fratrum Praedicatorum 64 (1994), 145–199, Edition 177–199; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 16 und 67.

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Gherardo Landriani, Bischof von Lodi, Gesandter des Visconti von Mailand.70 Landriani war einer von vielen Predigern, die in achtzehn Jahren vor dem Konzil sprachen.71 Niemandes Auftritt aber erhielt eine ähnlich hymnische Würdigung wie die seine. Francesco Pizolpasso schrieb darüber in einem Brief vom 3. Januar 1433 an den gemeinsamen Freund Antonio da Cremona,72 ein seltenes Bespiel, daß der Text einer Rede und die eingehende Schilderung ihrer Resonanz bekannt sind. Ein Exempel antikisch zumindest aufgeladener Predigt lieferte Landriani bereits zum ersten Advent am 30. November 1432 (Incipit ‚Poteram ego ipse‘)73. Es ist die mit Abstand literarischste seiner acht Reden, mit der er offenbar den Eingangsbeweis seiner Idoneität liefern wollte. Allein schon das Spektrum der zitierten Quellen versetzt in Erstaunen. Systematisch werden nacheinander und in qualitativer Steigerung antike Schriftsteller, Altes und Neues Testament, Kirchenväter und mittelalterliche Autoren herangezogen, teils nur mit Namen genannt, oft mit wörtlichen Zitaten. Es finden sich gleich zu Anfang Cicero, ‚De natura deorum‘ und ‚De divinatione‘, gefolgt wie noch öfter von Vergil, hier sinnigerweise mit der IV. Ekloge, Boethius, Horaz Ep. II 1, dann ,De coniunctionibus‘ des seit der Übersetzung durch Johannes Hispanus 1133 wohlbekannten arabischen Astrologen Abumasar (Abu Ma’shar) aus dem 9. Jahrhundert, um das Erscheinen Christi mit der 10. revolutio des Saturn zu synchronisieren; ferner der Brief eines Didymos an Alexander, der durch Poggio in St. Gallen 1416 gerade erst wiederentdeckte Lucrez, Orosius, Hieronymus’ ,Epistula ad Heliodorum‘, Hermes (Mercurius) Trismegistos, Sextus Empiricus (Pitagoricus), Seneca, Quintilian, schließlich Thomas von Aquin, ,Contra gentiles IV‘, Augustinus, Cassiodor ep. 38, Aristoteles Eth. Nic. VI, Bernhard von Clairvaux, Ps.70 Dazu ausführlicher HELMRATH: ‘Cyceronianus’ (wie Anm. 17), 942–951 und 953–959 (Handschriftenüberlieferung der Landriani-Reden). 71 Wichtig seine zweimalige Mission nach England, wo er nach Poggio (1418–1422) und vor Pietro da Monte (1435–1440), auch mit seinen beiden Reden vor König Heinrich VI., zumindest kurz eine Rolle als Anreger des Humanismus hätte spielen können; HELMRATH: ‘Cyceronianus’ (wie Anm. 17) 936 f., 965 f., Nr. 3–4; 958 f., Nr. 7–8. – Zu Personennetzen der frühen Humanismusdiffusion in England jetzt SAYGIN: Humphrey (wie Anm. 32), zu Poggio 298 s.v., zu Pietro da Monte 181–199 und 304 s.v. passim. 72 PAREDI (Hg.): Biblioteca (wie Anm. 1), 204 f. Literatur zu Pizolpasso siehe oben Anm. 1, 17 und 25. 73 HELMRATH: ‘Cyceronianus’ (wie Anm. 17), Anhang Nr. 5. Die Datierung der Predigt ,Poteram ego ipse‘ ist nicht völlig sicher, doch liegt das Jahr 1432 nahe, weil Landriani 1433 zur Adventszeit noch in England weilte. Das Konzilsprotokoll nennt als offiziellen Prediger am 1. Adventssonntag 1432 allerdings den Prokurator des Abts von Cluny (sc. Johannes de Montenoison): Et fecit sermonem procurator abbatis Cluniacensis, sumens pro theumate: „vias tuas, Domine, demonstra michi“, ut in psalmo etc.; Concilium Basiliense (wie Anm. 56), Bd. 2, 283, Z. 3–6. Das schließt nicht aus, daß, eventuell an einem anderen Adventssonntag (?), auch Landriani gepredigt hat. Theoretisch besteht die Möglichkeit, daß die Predigt zwar konzipiert, aber nicht gehalten wurde.

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Dionysius, Hugo von St. Victor, Ambrosius’ Lukaskommentar, Gregor von Nazianz, wieder Vergil (Aen. VI 625–628) und, gleichsam Alpha und Omega, zum Ende wiederum Cicero, hier mit dem ,Somnium Scipionis’. Diese Liste dürfte Interesse für die Bildungskonfiguration des Autors wecken. Die rhetorische Analyse hängt freilich ohne systematischen Vergleich mit anderen Basler Konzilspredigten in der Luft. Ziel des Zitatensembles ist deutlich die gestufte Harmonisierung von antiker Literatur und Artes einerseits, Bibel und Theologie andererseits, angesichts der heilsbringenden Erscheinung Christi auf Erden; der Aufweis ihrer misericordia und veritas bildet auch die beiden Hauptgliederungspunkte. An der höheren Wahrheit und Dignität der heiligen Schriften wird dabei keinerlei Zweifel gelassen. Pizolpasso griff mit seinem Hymnus auf Landrianis Weihnachtspredigt von 1433 (Incipit: ,Nisi ita nunc‘) genau diesen Aspekt auf: Landriani sei eben nicht nur ein Meister wie Cicero (Cyceronianus), womit die rhetorische Perfektion der Form gemeint ist, sondern auch ein Jheronimianus, Gefolgsmann des Hieronymus, der neben Laktanz als Muster christlicher Gelehrsamkeit und Redekunst galt.74 Landriani vereinige also antik-heidnische und christliche Beredsamkeit. Das Gewissensproblem, das den Kirchenvater im berühmten Prügeltraum (Ciceronianus es, non Christianus) quälte – hier soll es als überwunden erscheinen!75 In diesem Sinne sei der Bischof mit Papst Leo I. zu vergleichen, durch seine Redekraft ebenso wie durch das solide theologische Fundament (tantam sententiarum, tantam et scripture, ut decet, sacratissime basim)76. Diese Art zu reden ist nach Ansicht Pizolpassos, der hier sehr gezielt Ciceros ‚Pro Archia‘ (I 3) zitiert, ein dicendi genus novum et 74 Enea Silvio nennt Pizolpasso einmal selbst einen Hieronymianus et illius facundissimi doctoris imitator; De gestis concilii Basiliensis, hg. von HAY/SMITH (wie Anm. 61), 104. 75 Hieron., ep. 22,30; siehe KLAUS SCHREINER: ‘Von dem lieben Herrn sant Jheronimo: wie er geschlagen ward von dem Engel’. Frömmigkeit und Bildung im Spiegel der Auslegungsgeschichte eines Exempels, in: HELMRATH/MÜLLER (Hg.): Studien zum 15. Jahrhundert (wie Anm. 31), Bd. 1, 415–444. Lorenzo Valla setzte sich im Prooemium zum IV. Buch seiner ‚Elegantiae‘ intensiv mit dem ‘Traum’ des Hieronymus auseinander. 76 Maximum quoque nuper additum est (sc. nach seinen erfolgreichen Reden vor dem König von England) ei decus; ita enim die sacratissima domini nostri Jhesu Christi coram patribus omnique ordine flamendiali (!) orationem habuit in misse celebritate apud primariam et cathedralem ecclesiam Basiliensem, sanctam et luculentam omnique substantia refertam gravitate sententiis ac facilitate, ut omnium iuditio, qui intellegant, excelluerit omnes, qui usque in hanc diem id loci conscendissent ad eiusmodi provintias exorandi; adduxitque cunctos in admirationem, cum non solum Cyceronianus videretur, quod unicum ex eo prestolabantur, sed et profecto Jheronimianus et omni sacra scientia preditus. Nec indigne huiusmodi sermo suus sermonibus comparabitur sancti pape Leonis illius elegantissimi cicni (em. Paredi; Vorl.: siculi): tantam vim in se habet eloquentie, tantam sententiarum, tantam et scripture, ut decet, sacratissime basim; PAREDI (Hg.): Biblioteca (wie Anm. 1), 205. Mit den Sententiae ist möglicherweise konkret das scholastisch-theologische Grundlagenwerk des Petrus Lombardus gemeint. – Eine eigene Rede Pizolpassos vor König Johann II. von Kastilien bei PAREDI (Hg.): ebd. 193–198.

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inusitatum!77 Landriani: ein Cicero in Bischofsmitra. Denn fast noch höher fällt das Lob des Performativen, der Actio, der Memoria, des Einsatzes der Physis von Stimme und Körper aus.78 Sie befähigt ihn, volltönend den Kirchraum zu füllen (resonabat ... illo dicente omnis ecclesia), ohne Stimmzittern, ohne Stocken, ohne Erbleichen (irritatione, titubatione... pallore aut voce tremula), Formen physischen Redeversagens, welche, laut Pizolpasso, gerade hochgelehrten Männern (doctissimis et tritis viris) unterkommen.79 Dies sei staunenswert und erst nun, nachdem er diesen Mann gleichsam ringend in der palestra erlebt habe, vermöge er ihn vollends zu schätzen. Wohlgemerkt: dieses emphatische Erlebnis berichtet kein von antiker Rhetorik erstmals Beeindruckter. Es ist das Echo des solidarischen Kenners, der sich vor Insidern an den gemeinsamen Redner-Idealen berauscht. Denn das Auratische spüren und preisen können, steht auf der Gefühlsskala des Humanisten obenan. Pizolpasso dürfte aber auch den Kontrasttyp zum stilus novus, den scholastischen Themensermo, aus pastoraler Praxis hinlänglich gekannt haben. Der Emphase folgt die Lern- beziehungsweise die Transferempfehlung: Die Briefempfänger mögen selbst den – offenbar als Kopie dem Schreiben beigefügten – Text lesen, weiterbearbeiten und auch selbst mündlich vortragen (ore predicare).80 Was weiß man über die tatsächliche Verbreitung? Zumindest zum Text von Landrianis erster Basler Rede ‚Tandem hodie‘ aus dem Frühjahr 1432 gibt es Hinweise: Antonio Panormita in Italien war sehr schnell (über den Redner selbst?) daran gelangt und sandte ihn sofort weiter an Antonio von Cremona, den engen gemeinsamen Freund und Empfänger des oben zitierten Pizolpasso-Briefs. Dieser teilte Panormita mit, er habe die Rede summa cum 77

Cic.: Arch. I 3: Uti prope novo quodam et inusitato genere dicendi. Sed in hoc dicendi genere novo inusitatoque sibi, quod mirabilius est, accedit: ita enim clare, ita graviter, ita seriose pronuntiando edisseruit, nulla uel minima cum respiratione, titubatione uel pallore aut voce tremula, ut persepe assolet doctissimis et tritis viris accidere, ut stupor cunctis audientibus sit coniectus. Resonabat quidem illo dicente omnis ecclesia, stupebat omnis contio, mirabatur et omnis multitudo tantam eloquii et scientie vim atque splendorem. Stupebam et ego facundiam hominis fecunditatemque sacrorum, etsi etiam antea communicasset mecum amice: neque enim tanti extimare poteram virum, nisi post huiusmodi luctam hac in tanta palestra; PAREDI (Hg.): Biblioteca (wie Anm. 1), 205. 79 Beispiele bei HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 148 f. 80 Vestrum autem erit cum perlegeritis eam orationem ampliare scriptionibus et ore predicare, dignis efficere laudibus, qui et ingenio habundatis et stilo tarditateque caretis magis quam otio; PAREDI (Hg.): Biblioteca (wie Anm. 1), 205. Zur Textverbreitung qua Kopiennahme MIETHKE: Konzilien als Forum (Anm 22), 753–760; HELMRATH: Kommunikation (wie Anm. 22), 159–163. – Auch ohne Erlebnis der auratischen Actio soll sich die Qualität der Rede den beiden Kennern aus der Schriftfassung mitteilen: Dabo autem operam, ut quandoque perlegere possis atque agnoscas me non yperbole uti sed veritate, qui parcus serusque sum in laudibus et iudicio semper. Ipse enim cum videris et laureatus noster (sc. Pier Candido Decembrio) iudicio vestro comprobabitis et augmento nichil addubito; PAREDI (Hg.): Biblioteca (wie Anm. 1), 205. 78

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voluptate gelesen, schreibe sie sich, wie es üblich war, ab und schicke das Manuskript dem Panormita zurück – zusammen mit einem Plautus als Zugabe.81 Wenn man hier von Humanismusdiffusion sprechen will, dann war es wiederum eine von Norden nach Süden, innerhalb der vertrauten Netze tauschte man Basler Konzilspredigten des neuen Stils aus. Die handschriftliche Überlieferung der insgesamt acht aus den Basler Jahren 1432–1434 erhaltenen Landriani-Reden (maximal in acht, minimal in zwei Exemplaren) ergibt ein etwas anderes Bild: Die Codices sind – nach dem relativen Befund ihrer heutigen Bibliotheksorte – deutlich stärker in der nördlichen Aufenthaltsregion verbreitet als in Italien: in Krakau, Melk, Wien, Oxford, Brixen, München, Augsburg, Colmar, dazu kommen Casale Monferrato und die Vaticana.82 Sie zerfallen in zwei charakteristische Typen: überwiegend sind es Sammlungen mit Basler Konzilspredigten,83 wie sie in den ersten Konzilsjahren zahlreich angelegt und verbreitet wurden, und zu einem geringeren Teil humanistische Sammelhandschriften. Versuchen wir eine rhetorikgeschichtliche Einordnung: Die Bemühungen in Italien, der ciceronischen Oratorik auch praktisch wieder einen Sitz im Leben zu verschaffen, erfaßten auch die Predigt. Landriani bietet ein Beispiel, daß auch der scholastische Sermo entsprechend zur Oratio transformiert wurde. Es handelt sich dabei nicht um eine Gemmensammlung schmückender Klassikerzitate, sondern Ciceros Reden werden gleichsam zum neuen ‘modus praedicandi’. Er stellte tatsächlich eine neue Form, eben einen ‘modus inusitatus’ dar, der ‘Cicero’ und ‘Hieronymus’ mischte und so dem Ideal einer humanistischen theologia rhetorica entsprach.84

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Litteras tandem a te hodie accepi simul et orationem humanissimi nostri Laudensis antistitis elegantem quidem et dignam ingenio tanti viri. Legi igitur illam summa cum voluptate allectusque sum et prope impulsus orationem non modo legere sed transcribere etiam reponendam in deliciis meis. Itaque cum absoluta fuerit, remittetur ad te una cum Plauto meo; Florenz, Bibl. Riccardiana ms. 779 (vgl. Anm. 54), fol. 231v, hg. von REMIGIO SABBADINI: Ottanta lettere inedite del Panormita tratte dai codici milanesi (Biblioteca della Società di Storia Patria per la Sicilia orientale 1), Catania 1910, 7. Es scheint sich um Cremonas Antwort auf den gleichfalls bei SABBADINI: Ottanta lettere 19, aufgeführten Brief Panormitas zu handeln (Riccardianus 779 fol. 230r; Incipit: ‚Mitto tibi oratiunculam‘). 82 Vgl. HELMRATH: Cyceronianus (wie Anm. 17), 953–959. Tendenziell, aber keineswegs durchgängig, gilt dieses Überlieferungsprofil auch für die Reden und Schriften des Enea Silvio: Entstehungskonforme Überlieferung; was er im Norden verfaßte, ist auch dort mehr überliefert, was er als Kardinal und Papst in Italien schrieb – dort. Auffallend daher die gegenläufige Überlieferungstendenz für Eneas erste Basler Konzilsrede; siehe unten Anm. 86 f. 83 Sie sind ebenso zahlreich wie unzureichend erschlossen; vgl. die Literatur in Anm. 62– 64 und 69. 84 Vgl. für die weitere Entwicklung MCMANAMON: Funeral oratory (wie Anm. 62); JOHN O’MALLEY: Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine, and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 3), Durham 1979.

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b) Enea Silvio Piccolomini als Redner zum Ambrosiusfest und für den Ort des Unionskonzils Schon Jacob Burckhardt stellte die Auftritte seines „Lieblings“ „vor den außeritalienischen Basler Konzilsherren“ heraus, die ihm, meint Burckhardt mit den Worten des Pius der ‘Commentarii’, „trotz dem Murren der Theologen“, in deren Domäne der prestigelose Nichttheologe eindrang, .... „mit größter Begierde“ zugehört hätten.85 Der Piccolomini, dereinst als Papst der berühmteste Redner Europas, begann diese Karriere mit zwei Auftritten auf dem Basler Konzilsforum: einem Plädoyer für das lombardische Pavia als Konzilsort 1436 – davon wird noch die Rede sein – und einer, hier im Anschluß an Landriani zuerst zu besprechenden Predigt zum Fest des Mailänder Stadtheiligen Ambrosius am 4. April 1438.86 Die Bezüge zu Mailand und seinem Signore Filippo Maria Visconti verbanden die beiden Reden. Noch konsequenter als Landriani besetzte Enea, damals noch Laie, nach eigenen Worten protegiert vom neuen Nachfolger des Ambrosius in Mailand, Francesco Pizolpasso, die Konzilsbühne mit einem Probestück der neuen Oratorik.87 Ambrosius wird als vir illuster in einer kurzen Vita vorgestellt: als Feind der Ketzer, guter Seelsorger, dem die Seelen wichtiger sind als Geld. Dies leitet zu einer an Poggio gemahnenden Polemik gegen die avaritia über, wobei Enea einen fast bizarr wirkenden antiquarischen Absatz über das Münzwesen der frühen römischen Republik einschiebt, vom Aes grave bis zu den ersten kurz vor dem 1. Punischen Krieg geprägten Silberstücken, den Quadriga-Biga-Denaren.88 Ambrosius, so der Prediger weiter, hatte keine Berüh85

JACOB BURCKHARDT: Die Kultur der Renaissance in Italien, durchges. von WALTER GOEZ (Kröners Taschenausgabe 53), Stuttgart 101976, 213; vgl. Pii II Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt, hg. von ADRIANUS VAN HECK (Studi e Testi 313), Vatikanstadt 1984, 52, Z. 10–13 (c. I 8): ubi, cum solemnitas ageretur divi Ambrosii Mediolanensis invitante archiepiscopo [Francesco Pizolpasso] sermonem de laudibus sancti patris ad synodum habuit, quamvis theologi restitissent, qui sibi id muneris expetebant; sed prelatus cunctis Eneas incredibili attentione ab omnibus auditus est. 86 Texte: MANSI: Collectio Conciliorum 30, Sp. 1094–1114, 1207B–1216B; Pii II P.M. olim Aenae Sylvii Piccolominei Senensis orationes politicae et ecclesiasticae, hg. von IOANNES D. MANSI, 3. Bde., Lucca 1755, Bd. 1, 5–34, 39–52, Nr. 1–2; zu einer dritten Rede siehe Anm. 64. Vgl. VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 14), Bd. 1, 116–120, 224–228; HELMRATH: Humanisten (wie Anm. 17), 63 f.; DERS.: ‘Locus concilii’. Die Ortswahl für Generalkonzilien vom IV. Lateranum bis Trient (Mit einem Votum des Johannes de Segovia), in: Synodus. Festschrift für Walter Brandmüller, hg. von REMIGIUS BÄUMER/EVANGELOS CHRYSOS u.a., Paderborn 1997; dasselbe in: Annuarium Historiae Conciliorum 27/28 (1995/96), 593– 662, ebd. 632–635. Genaue Gattungs- und Stilanalysen stehen aus. Zu Enea und seinen deutschen Verbindungen via Konzil MEUTHEN: Freundeskreis (wie Anm. 36), 498 f., 508–514 (Literatur). 87 Zur Protektion durch Pizolpasso siehe die eigene Aussage Eneas (wie Anm. 85); danach auch BURCKHARDT: Kultur (wie Anm. 85), 213. 88 Bigarum quadrigarum nota; MANSI: Conciliorum collectio 30, Sp. 1211C–E, Zitat 1211C.

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rungsängste mit heidnischen Autoren, eine Aussage, die zugleich zur Invektive gegen echte oder imaginierte Verächter der eloquentia saecularis und der saeculares autores, sprich: der Humaniora überhaupt, umgemünzt wird.89 Der Text ist bisher in acht Handschriften mit Übergewicht deutscher, sozusagen konzilsnaher Überlieferung (dreimal Basel selbst) bekannt, während er nur in eine einzige der vatikanischen Sammelhandschriften von Enea-Reden Eingang gefunden hat.90 2. Der Kampf um den Ort des Unionskonzils mit den Griechen91 hatte fast unweigerlich auch Humanisten involviert. Man kann von einem Agon des Städtelobs sprechen. Neben einigen französischen Städten waren auch diverse Stadtstaaten Italiens in den Wettkampf eingetreten. Florenz und Siena, Mailand unter den Visconti, auch das bislang zurückhaltende Venedig verhandelten und ließen Reden halten. Zwischen August und November 1436 hatten die vor Ort prüfenden Kommissare des Konzils einerseits, die Gesandten der sich bewerbenden Städte andererseits ihre Auftritte vor dem Plenum.92 Leider sind die Texte dieser Orationen nicht im Wortlaut bekannt, so daß eine vergleichende Analyse entfallen muß. Die einzige Ausnahme ist, kaum zufällig, die Basler Jungfernrede (18. November 1436) des Enea Silvio Piccolomini. In einer einzigen Nacht (conscripta per noctem oratione) will er sie improvisiert haben, als er nach Versagen des mailändischen Orators Isidor von Rosate ohne Zögern eine Einspringchance nutzte, schon damals kaum ohne Fürsprache Pizolpassos, des Humanisten und maßgeblichen Politikers der Visconti in Basel.93 89 Videtur et ille mihi et ante episcopatum et postea oratorios codices lectitasse, nec enim verborum delicias omisit, nec flosculos eloquentiae saecularis. Cuius exemplum valde eos refellit, qui poetas et oratores eclesiastico viro interdicunt; MANSI: Conciliorum collectio 30 30, 1213DE. Legebat igitur, sicut mihi videtur, etiam saeculares authores noster Ambrosius; ebd. 1213E. 90 Basel (3), Einsiedeln, Trier, Lucca, Vatikan (2). Zur Überlieferung der Enea-Orationes JOHANNES HELMRATH: Reichstag und Rhetorik. Studien zu den Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1454/55, Habilitationsschrift (masch.), Köln 1994, 138–159. Zur KontextÜberlieferung der Werke des Enea Silvio anhand 682 geprüfter Handschriften PAUL WEINIG: ‘Aeneam suscipite, Pium recipite’ (wie Anm. 19). 91 Ausführlicher dazu HELMRATH: ‘Locus concilii’ (wie Anm. 86), 626–640. 92 Gaspar de Perusio berichtete als Kommissar über Florenz und Siena, Raymond Talon sprach für Avignon, Simon de Valle für Venedig (Konzilsort: Udine), Isidoro de Rosate und Cristoforo de Velate für Mailand (Konzilsort: Pavia), Battista Bellanti für Siena. Vgl. Monumenta Conciliorum (wie Anm. 34), Bd. 2, 905 f., 909–917, und die entsprechenden Passagen im Konzilsprotokoll; Concilium Basiliense (wie Anm. 56), Bd. 4. 93 Incipit: ,Magne sepe res... Audivi, patres....‘ Drucke: MANSI: Conciliorum collectio 30, Sp. 1094–1114; MANSI (Hg.): Pii II ... orationes politicae et ecclesiasticae (wie Anm. 86), Bd. 1, 5–34; CUGNONI (Hg.): Opera inedita (wie Anm. 21) 471 f. bringt den bei Mansi fehlenden Anfang der Rede nach Biblioteca Apostolica Vaticana Chis. J VII 251 fol. 137rv; hier auch das Datum Oktober 18); Auszug in: Enea Silvio Piccolomini Papst Pius II. Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, hg., übersetzt und biographisch eingeleitet von BERTHE WIDMER, Basel/ Stuttgart 1960, 107–109. Vgl. VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 14), Bd. 1, 117–120, 225 f.;

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Und gleich offendierte der junge Einspringer den Geschmack des Mehrheitspublikums ganz im elitären Lagerdenken der Humanisten, als banausisch (zumindest im überlieferten Text; ob tatsächlich, wissen wir nicht): Et quoniam iam vos video paratos et promptos ad audiendum – wünsche er sich die vis dicendi eines Demosthenes in dessen Rede ,Pro Ctesiphonte‘: Neque enim ego dicendi artem facundiamque contemno, quemadmodum plerosque in hac congregatione perspexi, qui eam magnopere detestantes nullam omnino se habere aut habere se velle eloquentiam.94

Die Rede ist vom Inhalt her ungewöhnlich und verdiente noch genauere Untersuchung: Enea verband darin epideiktisches Städtelob für die commoditates Pavias und seines Umlandes mit Herrscherlob für dessen Signore Filippo Maria Visconti.95 Er ordnete die Sache in die Gesamtperspektive von Griechenunion und Türkenkrieg, diskutierte scheinbar pragmatisch und ohne Polemik Für und Wider auch der italienischen Konkurrenzstädte, die alle eligibiles seien,96 um dann auf Pavia als beste Lösung zu pochen, dabei regelmäßig Klassikerzitate aus Ennius, Varro, Livius, Juvenal und immer wieder Cicero emblemhaft einflechtend. Der günstige Zugang von Süden, für Griechen und Papst, erhält breiten Raum.97 Die siebentägige Anreise aus dem Norden je-

THEA BUYKEN: Enea Silvio Piccolomini. Sein Leben und Werden bis zum Episkopat, Bonn/ Köln 1931, 34 f.; ROBERT BLACK: Benedetto Accolti and the Florentine Renaissance, Cambridge 1985, 228 f.; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 172 f., Anm. 383; DERS: Humanisten (wie Anm. 17), 63 f.; VITI: Bruni e il concilio (wie Anm. 105), 516 Anm. 25. 94 MANSI: Conciliorum collectio 30, Sp. 1095C. 95 Reflexe der Rede beim Konzilsnotar Petrus Bruneti, in der Konzilsgeschichte des Johann von Segovia und den ‘Commentarii’ des Piccolominipapstes, jeweils mit anderer Angabe der Rededauer. Bruneti: Dominus Eneas de Senis in scriptis narravit fere per horam cum dimidia commoditates civitatis Papiensis in futuro concilio Grecorum, raciones et motiva aperiendo; Concilium Basiliense (wie Anm. 56), Bd. 4, 334, Z. 14–16). Segovia: Eneas Silvius Senensis oracione studiosa allocucione composita, in eius expressione moratus fere trium horarum spacio, cum laudes et commendaciones fecisset de loco Papiensi ad celebracionem oblato per ducem Mediolani, huius magnificencia velut supra cunctos principes abundancius exaltata; Monumenta conciliorum (wie Anm. 34), Bd. 2, 915, Z. 32–35. – Pius II. begründete seinen damaligen Auftritt damit, er habe eine stümperhafte Darbietung des offiziellen Orators für Mailand, Isidors von Rosate, ausbügeln müssen, Isidor, der sinnigerweise zugleich Rivale Eneas um Herzogsgunst und Pfründen in Mailand war: quod Isydorus Rosatensis ... inepte atque insulse verba faciens quiescere iussus erat, motus Eneas et urbis egregie et principis eius contemptu, conscripta per noctem oratione, sequenti die ad conventum veniens ... orationem duabus horis cum omnium singulari attentione et admiratione recitavit, cuius exemplar omnes qui aderant edi postmodum sibi curaverunt; Pii II Commentarii, hg. von VAN HECK (wie Anm. 85), Bd. 1, 50, Z. 11–18 (c. I 8). Zu Isidor von Rosate und Enea Silvio: GIOACCHINO PAPARELLI: Enea Silvio Piccolomini (Pio II). L’umanesimo sul soglio di Pietro (Pleiadi. Collana di ricerche monografiche e antologiche 5), Ravenna 21978, 51–54. 96 MANSI: Collectio conciliorum 30, Sp. 1098B. 97 Ex Bononia [wo sich Eugen IV. aufhielt] usque Papiam parum itineris interjacet, via tuta et plana, sive terra, sive aqua aptissimum iter. Neque locus est aliquis eligibilis [em.;

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doch evoziert der Redner vor seinem Basler Konzilspublikum geradezu filmisch: die Alpen als „Gefilde der Schweizer“ (Svitensium campi), den St. Bernhard-Paß, die Grenzburgen des Herzogtums Mailand, dessen geographische Brückenlage am Fuß der Alpen, in faucibus Galliarum et Alamanniae constitutum, ut quam primum intretis Italiam, ducales arces occurrant, nec procul ab Alpibus Papiam invenietis iacentem.98 Zu den auszeichnenden Eigenschaften Pavias gehört auch die natura ihrer Bürger: Enea stellt eine Relation zwischen der von der natura abhängigen Verfassung und der Sicherheit für das dort zu erwartende Konzil her, ganz so, wie es zur gleichen Zeit Leonardo Bruni für Florenz tat.99 Das Volk von Mailand und Pavia ist ruhig, dem Aufruhr abgeneigt, sonnt sich nicht – wie die Florentiner? – im eitlen Namen der Freiheit (vano nomine libertatis).100 Und die Luft ist – stadtlobtopisch – gut, der Fluß Ticino ist sumpf-, die Stadt seuchenfrei, imponierend die Bauten und (Tier-)Gärten.101 Pavia würde mithin alles, was die Konzilsstadt Basel den Vätern bisher sechs Jahre lang bot, Freiheit und Sicherheit gewähren. Garant dafür sei zu Basel nichts anderes gewesen als die constantia Germanorum, haec fides, haec gravitas Alamanniae, – mit anderen Worten, die germanische Treue, die hier zu frühen Ehren kommend, später in Eneas humanistischen Türkenreden ab 1452 eine große Rolle spielen wird.102 Wirkung und Rezeption? In jedem Fall war der Auftritt förderlich für Ansehen und Karriere, sowohl in der Gunst des Herzogs von Mailand wie, sichtbar an höheren Ämtern, innerhalb des Konzils. Enea selbst berichtet von der bei solchen Gelegenheiten häufigen Abschriftennahme durch Interessenten unmittelbar nach der Actio (exemplar omnes qui aderant

eligibiles Mansi], ad quem papae facilior sit accessus; MANSI: Conciliorum collectio 30, Sp. 1102CD. 98 MANSI: Conciliorum collectio 30, Sp. 1107D. 99 Siehe unten bei Anm. 104. 100 Civium modo naturam examinemus, quae pro vestra securitate non est parum considerare. Plenum namque periculi est inter cives vivere, qui ipsi inter se divisi discordiosique sint ... Talibus enim in civitatibus necesse est saepe immutari regimina... Sed nihil horum in urbe Papiensium trepidabitur. Est enim populus [sc. in Pavia] placidus, quieti et otio deditus, cives perurbani, non belli aut intestinarum avidi discordiarum, sed suis occupati possessionibus... Nec vano libertatis nomine gloriantur, quemadmodum aliqui, qui tum se liberos vocant cum maxime serviunt et subesse quampluribus liberum fore dicunt. Ego vero quietiorem populo Papiensi nullum adhuc reperi, qui et suo semper principi obedivit; ebd. Sp. 1108B–D. 101 Illic palatium est, quod castellum appellant, ingenti fossa circumdatum ... illinc ducali viridario supereminet, operi omnium maximo atque excellentissimo, cui parco est nomen, ... ubi feras innumerabiles viginti milia passuum complexus murus observat; ebd. Sp. 1106B. – Aeris nunc salubritas pernoscatur, quem purissimum esse apud Ticinum reperietis. Nullae ibi foedae paludes exhalant, non maritima stagna putredinem suggerunt, non crebrae pestes invadunt, non aestus immensi; ebd. Sp. 1108D. 102 MANSI: Conciliorum collectio 30, Sp. 1109A. Zur ‘germanischen Treue’ bei Enea Silvio siehe HELMRATH: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 90), 236 f.

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edi postmodum sibi curaverunt).103 Überlieferung? Merkwürdigerweise ist diese erste überhaupt erhaltene Rede des Enea mit einer einzigen Ausnahme nur in italienischen und vor allem vatikanischen Specimina, den aus der Familia Pius’ II. stammenden Handschriften der Sammlung Chigi, überliefert.104 Obwohl viele sich bewarben, hatte die besten Karten wohl doch die Republik Florenz. Ihre wirksamsten Waffen waren die guten Beziehungen zum Papst, ihre Finanzkraft und, einmal mehr, die geschliffenen Episteln des Kanzlers Leonardo Bruni. Sechsmal wurde das Basler Konzil in den Jahren 1436 und 1437 zum Empfänger seiner gerühmten Staatsbriefe. Paolo Viti konnte zeigen, wie weitgehend der Humanist dabei Grundelemente seiner zuerst um 1403, dann erneut 1434 publizierten Propagandaschrift, der ‚Laudatio Florentinae urbis‘, und seiner Totenrede für Giovanni Strozzi von 1428 wieder verwertete. Es waren mithin Elemente seines von Hans Baron so titulierten ‘civic humanism’, die Bruni, funktional verändert, wieder benutzte.105 Wir haben uns mit performativen Funktionen und Wirkungen humanistischer Oratorik und mit der Besetzung von internationalen Bühnen befaßt. Nach den Konzilien geschah dies auch auf weltlichen Versammlungen des Nordens. Hatten die deutschen Reichstage in den Konzilsjahren 1438 bis 1445 noch monströse Präsentationen der scholastischen Traktatrede durch päpstliche und konziliare Juristen und Theologen erlebt, führten die Türkenreden des Enea Silvio, beginnend in Regensburg und Frankfurt 1454, das Genre der klassischen Beratungsrede auch in diesem Forum dauerhaft ein.106

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Siehe den Text der ‚Commentarii‘ in Anm. 95. Zur Konzilskarriere Eneas nach dem „successo“ seiner Rede PAPARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 95), 53–65. 104 11 Belege: Lucca, Mailand (2), Vatikan (5), Venedig, und die nördliche Ausnahme Speyer Landesbibl. Hs. 8, fol. 421r–435r. – Zur wenig engagierten Bewerbung von Eneas Heimatstadt Siena: HELMRATH: ‘Locus concilii’ (wie Anm. 86), 635 f. 105 PAOLO VITI: Leonardo Bruni e il concilio del 1439, in: DERS. (Hg.): Firenze e il concilio. Convegno di Studi, Firenze 29 novembre – 2 dicembre 1989, 2 Bde. (Biblioteca storica toscana 28/1–2), Florenz, Bd. 2, 509–575; dasselbe schon in: DERS.: Leonardo Bruni e Firenze. Studi sulle lettere publiche e private (Humanistica 12), Rom 1992, 137–196. Kritik und Korrekturen zu Viti (und Hans Baron) bei JAMES HANKINS: The Baron-Thesis After Forty Years, in: Journal of the History of Ideas 56 (1995), 310–338, ebd. 323–338 (“anachronistic approach to Bruni”; 325 f.). Vgl. zu den betreffenden Bruni-Briefen schon HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 171 f., 256; DERS.: Humanisten (wie Anm. 17), 60 f.; DERS.: Locus concilii (wie Anm. 86), 636–638 zur Topik. Zu den Entstehungsumständen jener Neuauflage der ,Laudatio‘ WIDMER: Enea Silvios Lob (wie Anm. 56), 125–129; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 15), 171 mit Anm. 380 (Literatur); VITI: Bruni e il concilio (wie oben), 512 f. (139–142). Zur Leichenrede auf Strozzi MCMANAMON: Funeral Oratory (wie Anm. 62), 23 f., 95–97, 259. 106 Dazu JOHANNES HELMRATH: Reden auf Reichsversammlungen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Licet praeter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag, hg. von LOTTE KÉRY/DIETRICH LOHRMANN/HARALD MÜLLER, Aachen 1998, 266–286; DERS.: Art. Parlamentsrede. Mittelalter, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), Sp. 589–597.

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Das Rennen um das Unionskonzil machte zunächst, etwas überraschend, das Ferrara der Este. Doch schon nach einem Jahr zwangen Pest und Geldnot den Papst und sein Konzil, nach Florenz zu gehen. Die Arnostadt, 1434 bis 1436 ohnehin schon Papstresidenz gewesen, war pestfrei und offerierte dem Papst Geld, mit welchem er den Aufenthalt der Griechen vertragsgemäß finanzieren könnte. Eugen IV. wiederum brauchte den Erfolg der Griechenunion auch, um sich als Garant der Einheit gegenüber dem ‘schismatischen’ Basler Konzil zu beweisen. Für die politische Elite von Florenz und seinen 1434 aus dem Exil zurückgekehrten ‘ersten Bürger’ Cosimo de’ Medici schließlich versprach die Aussicht, ein Generalkonzil zu beherbergen nach außen und innen, Prestigekapital erster Güte.107

4. Kampf um den Glauben/Kampf um den Text: Das Florentinum108 Was oben über den Forumscharakter der Konzilien, über Chancen der Humanismus-Diffusion, gesagt wurde, gilt in besonderem Maß für das Florentinum. Der kulturelle Boden war hier in einem der Frühzentren des Humanismus aber schon viel weiter bestellt als in den beiden Reichsstädten Konstanz und Basel. In Florenz hatte Manuel Chrysoloras schon seit 1397 die Keime der Graecitas und des neuen Platoninteresses im Westen gesät.109 Die Tatsache, daß der von 107 Zur historischen Verortung siehe ERICH MEUTHEN: Eugen IV., Ferrara-Florenz und der lateinische Westen, in: Annuarium Historiae Conciliorum 22 (1990), 219–233. Zur Ortswahl von Ferrara 1438 und Florenz 1439 HELMRATH: Locus concilii (wie Anm. 86), 640–644. 108 Nach wie vor unverzichtbar JOSEPH GILL: The Council of Florence, Cambridge 1961. Vgl. UMBERTO PROCH: Das Konzil von Ferrara-Florenz-Rom (1438–1445), in: Geschichte der Konzilien, hg. von GIUSEPPE ALBERIGO, Düsseldorf 1993, 308–329. Wichtige Weiterungen bieten folgende Sammelbände: a) PAOLO VITI (wie Anm. 105), 2 Bde.; darin allgemein RICCARDO FUBINI: Problemi di politica fiorentina all’epoca del Concilio (27–58); (zum Gesamtwerk vgl. JOHANNES HELMRATH: Florenz und sein Konzil. Forschungen zum Jubiläum des Konzils von Ferrara-Florenz 1438/39–1989, in: Annuarium Historiae Conciliorum 29 [1997], 202–216); b) Ferrara e il concilio 1438–1439. Atti del Convegno di Studi nel 550 anniversario del concilio dell’unione … (Ferrara, 23. –24. Novembre 1989), hg. von PATRIZIA CASTELLI, Ferrara 1992; c) Christian Unity. The Council of Ferrara-Florence 1438/39– 1989 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 97), hg. von GIUSEPPE ALBERIGO, Löwen 1991, sowie d) die Aufsätze in Annuarium Historiae Conciliorum 21 (1989), 267–407 und 22 (1990), 131–241. Zur Prosopographie JOHANNES HELMRATH: Die lateinischen Teilnehmer des Konzils von Ferrara/Florenz, in: Annuarium Historiae Conciliorum 22 (1990), 146–198, zu den Humanisten 186–194. Zum Procedere zuletzt HERMANN J. SIEBEN: Vom Apostelkonzil zum Ersten Vatikanum. Studien zur Geschichte der Konzilsidee (Konziliengeschichte. Reihe B), Paderborn u.a. 1996, 280–289, 356–391. 109 Die Bedeutung des Chrysoloras sah bereits VOIGT: Wiederbelebung (wie Anm. 13), 222–231; ferner GIUSEPPE CAMELLI: I dotti bizantini e le origine dell’umanesimo I: Manuele Crisolora, Florenz 1941, 161–185 zu Tod und Verehrung post mortem; Graecogermania.

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seinen italienischen Schülern apostelgleich verehrte Lehrer und Kulturtranslator als Gesandter seines Kaisers ausgerechnet auf einem Konzil (April 1415 in Konstanz) gestorben war, erhielt rückwirkend Symbolcharakter,110 sie verstärkte gleichsam die ohnehin stark ‘konziliare’ Atmosphäre, die der Kontakt mit den Griechen haben mußte. Aber, um Mißverständnissen vorzubeugen: auch Ferrara/Florenz war weder seitens der Griechen noch der Lateiner ein ‘Humanistenkonzil’; auch in Italien behauptete die scholastische Tradition noch prägend das Feld der Theologie. Seit Februar 1438 befand sich die Gesandtschaft der Griechen, mit Kaiser und Patriarch, in Italien. Kein Konzil hat ohne Zweifel so viele Humanisten involviert wie das Florentinum:111 ortsansässige Florentiner, Mitglieder der in Florenz residierenden Kurie, Humanisten, die eigens anreisten, um die Griechen, um Gemisthos Plethon, die Sonne Platons, die nach Chrysoloras zweite mythische Griechengestalt zu bestaunen.112 Auch hier die Frage des Milieus. Griechischstudien deutscher Humanisten, hg. von DIETER HARLFINGER, bearb. von REINHARD BARM (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 59), Weinheim 1989, 3– 10; PATSCHOVSKY: Humanismus (wie Anm. 16), 7–9; JAMES HANKINS: Plato in the Italian Renaissance (Columbia Studies in the Classical Tradition 17), Leiden 31994, 105–109, 835 s.v.; weitere Literatur bei SOTTILI: Löffelholz (wie Anm. 10), 90 f., Anm. 97; Manuele Crisolora e il ritorno del Greco in Occidente. Atti del Convegno … Napoli 1997, hg. von RICCARDO MARISANO/ANTONIO BOLLO, Neapel 2002. – Das Konzil von Ferrara/Florenz ist Gegenstand der weiten Frage nach der Bedeutung der Griechen für die Renaissancekultur. Siehe Dotti bizantini e libri greci nell’Italia del secolo XV. hg. von MARIAROSA CORTESI/ ENRICO V. MALTESE, Neapel 1992; Bessarione e l’umanesimo. Catalogo della mostra. Venezia, Biblioteca nazionale Marciana, hg. von GIANFRANCO FIACCADORI, Neapel 1994; JOHN MONFASANI: Byzantine Scholars in Renaissance Italy. Cardinal Bessarion and other Emigrés (Collected Studies 485), Aldershot 1995. 110 Programmatisch die Gedenkrede des von Guarino angeregten Venezianers Andrea Giuliano auf einer Gedenkfeier in Venedig; CAMMELLI: Dotti bizantini (wie Anm. 109), 170 f.; MCMANAMON: Funeral Oratory (wie Anm. 62), 123–127. Zu seinem erhaltenen Epitaph in Konstanz, von Vergerio verfaßt: CAMELLI: Dotti bizantini (wie Anm. 109), 167 f.; PATSCHOVSKY: Humanismus (wie Anm. 16), 8 f. 111 Versuch einer ersten, lückenhaften Übersicht bei HELMRATH: Teilnehmer (wie Anm. 108), 186–194 (Literatur). Als Beispiel ihrer mehrheitlich papstfreundlichen Haltung Francesco Barbaro 1437 Februar 13 an Ludovico Trevisan: Quare tecum opto, ut hoc concilium ferrariense sibi felix faustum fortunatum sit, ut non solum greci sed latini etiam errores e medio tolluntur, ut sicut sua sanctitas eius pie pacem et concordiam dare vult ecclesie, ut ecclesia laudem ac gloriam et auctoritatem suam defendat et tueatur. Danda igitur esset opera, ne dissentiret grex cum pastore; FRANCESCO BARBARO: Epistolario, Bd. 2, hg. von CLAUDIO GRIGGIO, Florenz 1999, 217 Nr. 94. 112 Über Plethon in Ferrara/Florenz und die Folgen für den Renaissance-Platonismus hier nur: GILL: Council (wie Anm. 108), 447 s.v. ‘Gemistus’; C. M. WOODHOUSE: George Gemisthos Plethon. The Last of the Hellenes, Oxford 1986, 147–170; CHARLES B. LOHR: Metaphysics, in: The Cambridge History of Renaissance philosophy, hg. von CHARLES B. SCHMITT u.a., Cambridge 1988, 537–538, hier 559–563, 569 f., 943 s.v. ‘Pletho’, ebd. s.v. ‘Plato’, sowie grundlegend HANKINS: Plato in the Italian Renaissance (wie Anm. 109), 193– 217, 837 s.v. ‘Gemistus’; SEBASTIANO GENTILE: Giorgio Gemisto Pletone e la sua influenza sull’Umanesimo fiorentino, in: Firenze e il concilio (wie Anm. 108), 813–832; JOHN MONFA-

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Man weiß – wenn auch nur Spärliches – darüber, daß neben dem Konzilsbetrieb ‘private’ Symposia von griechischen und lateinischen Humanisten und Philosophen stattgefunden haben sollen. Hier wurde, wie es scheint, nicht nur getafelt, sondern auch über Platon diskutiert.113 Die unmittelbaren DiffusionsFolgen mochten ein Lieblingsobjekt emphatischer Überschätzung in der Literatur gewesen sein, die Bedeutung des Florentinums für den Platondiskurs im Westen bleibt, gerade nach der monumentalen Studie von James Hankins (1990), unbezweifelbar. Vor dem Florentiner Unionsdekret ‚Laetentur caeli‘114 vom 6. Juli 1439 lagen fast eineinhalb Jahre Verhandlungen, die an Dauer wie theologischer (und dialogischer) Intensität nichts Vergleichbares kennen. Neben vergleichsweise marginalen Kontroversthemen wie dem Purgatorium und den Azymen (Hostienbrot) ging es um die trinitarische processio spiritus (sprich: um das filioque), für die Griechen die alles überragende Zentralfrage, sowie zuletzt, auch für die Westkirche und ihren Monarchen mit Blick auf die internen Gegner entscheidend: um die Stellung des Papstes. Das elementare Kommunikationsproblem, die Sprachbarriere, wurde allem Anschein nach trotz der geringen Zahl von Zweisprachlern erstaunlich gut gelöst. Während der agonal strukturierten Sitzungen war es vor allem der Grieche Nikolaos Sagundinos, der als genialer Simultandolmetscher auch subtilste Texte über Kreuz in beide Sprachen übersetzte.115 Zwei Dinge zeichneten sich schnell ab. Erstens: Die oben angesprochene strukturelle Textintensität von Konzilsdebatten, um Dogmata autoritativ zu beSANI: Pletone, Bessarione e la processione dello Spirito Santo: un testo inedito e un falso, in: ebd. 833–859, mit Edition. 113 Gastgeber waren laut Überlieferung z. B. Kardinal Giuliano Cesarini oder der Arzt Ugo Benzi; siehe DEAN P. LOCKWOOD: Ugo Benzi, Medieval Philosopher and Physician, 1376– 1439, Chicago 1951, 2 f. und 31; Dizionario Biografico degli Italiani 8 (1966), 720–723. Über den Empfang Cesarinis berichtet Syropoulos: Les ‚Memoires‘ du Grand Ecclésiarche de l’Église de Constantinople Sylvestre Syropoulos sur le concile de Florence (1438–1439) (Concilium Florentinum B/IX), hg. von VICTOR LAURENT, Rom 1971, c. V/3, 258 f. Vgl. MARCO BERTOZZI: Il convito di Ferrara. Giorgio Gemisto Pletone e il mito del paganesimo antico ai tempi del concilio, in: Ferrara e il concilio (wie Anm. 105), 133–141. 114 Text: ed. GILL: Council (wie Anm. 108), 412–415; Dekrete der ökumenischen Konzilien/Conciliorum Oecumenicorum Decreta (hg. von GIUSEPPE ALBERIGO), ins Deutsche übertragen und hg. von JOSEF WOHLMUTH, Paderborn 2000, Bd. 2, 523–528. 115 Zur Tätigkeit des Sagundinos: Acta Latina concilii Florentini, hg. von GIORGIO HOFMANN (Concilium Florentinum B/VI), Rom 1955, 39, Z. 11–26, 284 s.v.; Syropoulos (wie Anm. 112), 701 s.v. ‘Sékoundinos’; GILL: Council (wie Anm. 108), 454 s.v.; FRANZ BABINGER: Johannes Darius (1414–1494), Sachwalter Venedigs im Morgenland und sein griechischer Umkreis (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosphisch–historische Klasse. Sitzungsberichte 5), München 1961, 9–52, zum Florentinum 12–14; nicht zugänglich war FRANZ BABINGER: Nikolaos Sagundinos, ein griechisch-venetischer Humanist des 15. Jahrhunderts, 3 Bde., Athen 1964, und P. MASTRODIMITRIS: Nikolaos Sagundinos, 1402–1464 (in griech. Sprache), Athen 1970.

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legen, sollte extreme Formen annehmen. Es mußte unvermeidlich um antike Texte gehen. Ein Zwang, sich den Patres, und damit eben zugleich zur – christlichen – Antike zuzuwenden, ergab sich also allein schon deshalb, weil jene historisch die einzige gemeinsame Basis der beiden entfremdeten Kirchen darstellten. Daraus resultierte zweitens: Theologie und Glaube bedurften mehr denn je der Philologie. Stimmen die Kirchenväterzitate überhaupt, und was verschafft Sicherheit, daß die einen stimmen, andere aber nicht? Hier setzt unsere Leitfrage, die Frage nach Funktionen und transformierenden Wirkungen des Humanismus, verstärkt wieder an. Gerade das Florentinum öffnet diese allgemeine Perspektive: Welche Impulse gaben der Humanismus und seine Rezeption patristischer Texte beziehungsweise seine Transformationen ihrer Lehre der zeitgenössischen Theologie und ihrer unverkennbaren, auch in der Forschung immer stärker verfolgten Kirchenväter ‘Renaissance’?116 Beziehungsweise bedingt auch der von dort wirkende Bedarf umgekehrt den Erfolg des Humanismus selbst? In Ferrara und Florenz schlug die Stunde des Kamaldulensers Ambrogio Traversari, eben weil er als patristische Kapazität im Westen galt, auch und gerade als Übersetzer aus dem Griechischen.117 Ihn flankierten Humanisten wie 116

Zu erinnern ist an den schon früh sensiblen Aufsatz von AUGUST BUCK: Der Rückgriff des Renaissance-Humanismus auf die Patristik, in Festschrift Walther von Wartburg zum 80. Geburtstag, hg. von KURT BALDINGER, Tübingen 1968, 153–175, sowie die Tagungsbände a) Auctoritas Patrum. Beiträge zur Rezeption der Kirchenväter im XV. und XVI. Jahrhundert, hg. von LEIF GRANE/ALFRED SCHINDLER/MARKUS WRIEDT (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 37 und 44), 2 Bde., Mainz 1993–1998; b) The Reception of the Church Fathers in the West, hg. von IRENA BACKUS, 2 Bde., Leiden 1997, und c) den superben Katalog Umanesimo e Padri della Chiesa. Manoscritti e incunaboli di testi patristici da Francesco Petrarca al primo Cinquecento, hg. von SEBASTIANO GENTILE, Biblioteca Medicea Laurenziana 5 febbraio – 9 agosto 1997, Florenz 1997, hierin vor allem die Beiträge von CESARE VASOLI: I fondamenti umanistici della ripresa dei padri (25–31); SEBASTIANO GENTILE: Umanesimo fiorentino e scoperta dei Padri (45–63), zum Florentinum 69–72); MARIAROSA CORTESI: Umanisti alle ricerca dei padri greci (73–76); CONCETTA BIANCA: Il pontificato di Niccolò V e i Padri della Chiesa (85–92); d) Tradizioni patristiche nell’Umanesimo, hg. von MARIAROSA CORTESI/CLAUDIO LEONARDI, Florenz 2000. – Einzelstudien z.B. RICCARDO FUBINI: Intendimenti umanistici e riferimenti patristici dal Petrarca al Valla, in: Giornale Storico della letteratura italiana 151 (1974), 520–578; EUGENE F. RICE: St. Jerôme in the Renaissance, Baltimore/London 1985; IRÉNA BACKUS: Lectures Humanistes de Basile de Césarée. Traductions latins (1439.1618) (Collection des Études Augustiniennes. Sér. Antiquité 125), Paris 1990. Vgl. auch STEINMANN: Ältere theologische Literatur am Basler Konzil (wie Anm. 48). 117 Acta Latina (wie Anm. 114), 169.17–22, 173.10 (vgl. Acta Graeca concilii Florentini [Concilium Florentinum Bd. V.1–2], hg. von JOSEPH GILL, Rom 1953, Bd. 2, 327b, 15–23); 137, 36 (Acta Graeca 256b, 11–13); 180.6 (Acta Graeca 354, 31 f.); 216, 6 f.; Syropoulos (wie Anm. 112), 670 s. v. ‘Ambroise’. Aus der umfangreichen Literatur zu Traversari in Ferrara/ Florenz GILL: Council (wie Anm. 108), 452 s.v.; STINGER: Humanism and the Church Fathers (wie Anm. 66), 203–222; AGOSTINO SOTTILI: Griechische Kirchenväter im System der humanistischen Ethik. Agostino Traversaris Beitrag zur Rezeption der patristischen Literatur, in: Ethik im Humanismus, hg. von WALTER RÜEGG/DIETER WUTTKE (Beiträge zur Humanismus-

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Tommaso Parentucelli (später Papst Nikolaus V.), Giovanni Tortelli und andere.118 Die technischen Spezialkompetenzen der Humanisten, Sprach- und Handschriftenkenntnis, waren nun existentiell gefragt. Und Traversari war fleißig, beim Übersetzen und beim Suchen. Persönlich durchforstete er zusammen mit Parentucelli die Abtei Pomposa nach Ambrosius-Texten.119 Und wenn die ‘Scoperte’ der Humanisten je l’art pour l’art gewesen wären, hier waren sie es nicht. Traversari übersetzte Tag und Nacht, um die Kontrahenten mit lateinischen Arbeitstexten auszustatten: unter anderem des Basilius ‚Contra Eunomium‘ und Homelie über den Hl. Geist, dann Epiphanios; die Vorlage, eine alte Handschrift, hatte kein Geringerer als Leonardo Bruni besorgt.120 Das Netzwerk der Humanisten funktionierte. Das ominöse filioque war zum einen inhaltlich umstritten (ging der göttliche Geist aus dem Vater oder aus Vater und Sohn hervor?), zum anderen formal, weil es im Westen dem Symbolum beigefügt worden sei, obwohl eine Bestimmung des Ephesinums von 431 eine ‘hetera pistis’, einen ‘anderen Glauben’, verboten habe. An den Kerndebatten über das filioque und den päpstlichen Primat trafen seitens der Griechen Markus Eugenikos, ihr überragender Kopf, und Bessarion, auf Lateinerseite Kardinal Cesarini und der Dominikanertheologe Giovanni Montenero aufeinander. Fünf Sessionen lang ging es zum Beispiel um die Exegese von Passagen eben jener Schrift, ‚Contra Eunomium‘ des griechischen Kirchenvaters Basilius.121 Jede Seite brachte die maximale Zahl an Handschriften vor, die man mitgebracht hatte oder vor Ort auftreiben konnte. Theologie hieß hier zunächst: Kollationieren. Eine Taktik der Lateiner bestand offenbar darin, die Griechen mit besonders alten beziehungsweise für besonders alt gehaltenen Texten zu konfronforschung 5), Boppard 1979, 63–86 (Literatur); UMBERTO PROCH: Ambrogio Traversari e il decreto di unione. Una rilettura della ‘Laetentur coeli’ (6 luglio 1439), in: Traversari nel VI centenario (wie Anm. 25), 147–164; ANTONIO MANFREDI: Traversari, Parentucelli e Pomposa. Ricerche di codici al servizio del Concilio di Firenze, in: ebd. 165–188; PAULO VITI: Ambrogio Traversari al Concilio di Ferrara, in: CASTELLI (Hg.): Ferrara e il Concilio (wie Anm. 108), 95– 121; IDA G. RAO: Ambrogio Traversari al Concilio di Firenze, in: VITI (Hg.): Firenze e il concilio (wie Anm. 105), Bd. 2, 577–597; 118 Literatur in Auswahl: ANTONIO MANFREDI: La biblioteca personale di un giovane prelato negli anni del Concilio fiorentino: Tommaso Parentucelli da Sarzana, in: VITI (Hg.): Firenze e il concilio (wie Anm. 105), Bd. 2, 649–712; MASSIMO MIGLIO: Niccolò V. umanista di Cristo, in: Umanesimo e padri della chiesa (wie Anm. 116), 77–84, 432 s.v.; MARIANGELA REGOLIOSI: Nuove ricerche intorno a Giovanni Tortelli. La Vita di Giovanni Tortelli, in: Italia medioevale e umanistica 12 (1969), 129–196; zum Florentinum: 143–145, 158–166; DIES.: in ebd. 22 (1979), 451 f.; Umanesimo e padri della chiesa (wie Anm. 116), 433 s.v. Siehe auch die Literatur in Anm. 116 und 132. 119 MANFREDI: Traversari e Pomposa (wie Anm. 117), passim. Eine Abschrift der Pomposa-Handschrift 17 ist – zum Beispiel – Vat. Lat. 314. 120 Acta Latina (wie Anm. 114), 169, Z. 17–22; Acta Graeca (wie Anm. 117), Bd. II, 327b, Z. 15–23); GILL: Council (wie Anm. 108), 195–200, 204–206. 121 GILL: Council (wie Anm. 108), 195–199, 204–206, 211.

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tieren, die das filioque bereits enthielten beziehungsweise die processio spiritus im Verständnis des Westens als theologisch begründbar erwiesen. Die Subtilität und existentielle Tiefe des Trinitätsgeheimnisses ließ nicht darüber hinwegsehen, daß es beim filioque um ein einziges Wort ging. Dieses Wort konnte in den Handschriften ebenso leicht später hinzugeschrieben (so der Vorwurf der Griechen) oder aber wegrasiert worden sein (so der Vorwurf der Lateiner). Markus Eugenikos erklärte stereotyp die von den Lateinern benutzten Handschriften, so auch den Basilius-Text, für verfälscht oder interpoliert, in Konstantinopel gebe es tausende Texte mit der filioquefreien Version der Griechen.122 Da erinnerte sich Cesarini, daß in einem – übrigens von Nikolaus von Kues erworbenen – Codex, der die Texte der VI. bis VIII. Ökumenischen Konzile enthielt, das filioque zwar wegrasiert, aber doch noch deutlich zu erkennen gewesen sei!123 Er hätte 100 Dukaten gegeben, wenn er in der Konzilssitzung diese Handschrift mit der Rasur zur Hand gehabt hätte.124 Mehrfach legte man, selber wie die westliche Tradition wohl von der Echtheit überzeugt, den Griechen Texte aus Pseudoisidor vor.125 Zur Sitzung vom 18. November 1438 zitierte Cesarini zum Verbot einer hetera pistis drei echte Texte, einen Brief Cyrills von Alexandria, einen Brief Papst Coelestins an Nestorius und eine Passage des II. Nicaenums von 787. Zurückgehalten hatte er eine weitere Stelle, die er schlagend, im Sinne einer ‘one-upmanship’, in der nächsten Sitzung aus dem Ärmel ziehen wollte: einen Brief des Papstes Liberius, der noch die – verlorenen – Akten des I. Nicaenums betreffend der 122 GILL: Council (wie Anm. 108), 199–201, 223 f., 226, 231, 235. Die bis heute nachhallende Erregung über die nach ihrer Ansicht unfairen und verfehlten Debatten in Florenz bestimmen noch heute die Publikationen einiger griechisch-orthodoxer Gelehrter; z. B. GREGORIUS LARENTZAKIS: Ferrara-Florenz im Urteil der heutigen Orthodoxie, in: Annuarium Historiae Conciliorum 22 (1990), 199–218. 123 Cesarini an Traversari (1438) Oktober 17: Scio me audisse ab ipso domino Nicolao et vidisse propriis oculis, quod in illo libro, ut mihi videtur, erat ista adiectio ‚filioque‘ abrasa, sed non tam subtiliter, quin viderentur vestigia huius dictionis in Graeco. Te credo etiam vidisse; Acta Cusana (wie Anm. 27), Bd. I/2, Nr. 372, Z. 13–15; hier 142 f., mit Kommentar. 124 Dasselbe: Solvissem centum ducatos, si heri in publico conventu potuissem cum libro nostro Latino VII concilii ostendere librum Graecum eiusdem concilii cum dicta dictione evidenter et ad oculum abrasa; Acta Cusana ebd. Z. 15–17; siehe auch ebd. Nr. 385 über eine ebenfalls in Florenz benutzte Cusanus-Handschrift von Basilius’ ,Contra Eunomium‘. Vgl. zur gesamten Episode GILL: Council (wie Anm. 108), 148 f., 199 f., 256, zu Cesarinis Auftritt ebd. 157–161; STINGER: Humanism (wie Anm. 66), 212 f. Zu den Handschriften OTTO KRESTEN: Eine Sammlung von Konzilsakten aus dem Besitz des Kardinals Isidor von Kiew (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-histororische Klasse, Denkschriften 123), Wien 1976, 19–21, 82–85. 125 HERMANN J. SIEBEN: Pseudo–Isidor auf dem Florentinum, in: DERS.: Apostelkonzil (wie Anm. 108), 338–355; hier 351–355 („Zur Redlichkeit der lateinischen Seite“) auch zur Frage, ob die im Rahmen der Entlarvung des ,Constitutum Constantini‘ (Concordantia catholica III/2) auch an Pseudo-Isidor geäußerte Kritik des Nikolaus von Kues Cesarini nicht hätte bekannt sein können beziehungsweise müssen.

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hetera pistis zu kennen schien, die das Ephesinum folglich nur wiederholt habe. Sie stand in einer ‘sehr alten’ Handschrift eines ‚Decretum Romanorum Pontificum‘, das eigens aus Verona herangeschafft worden war: Pseudoisidor.126 Konnte man gegen ein so hohes, sogar vornikänisches Alter noch etwas einwenden? Die Griechen kannten diese ‘alten’ Texte selbstverständlich nicht. Sie ignorierten sie daraufhin, wie Eugenikos, oder aber wurden durch das Alter der Texte verunsichert; denn Alter als Autoritätsgarant akzeptierten auch sie. Bessarion, Erzbischof von Nikaia und gelehrter Plethonschüler, wollte von Herzen die Union; er brachte eine erstaunliche Erklärung des Textproblems: die Erhaltung der uralten Papstbriefe ist dem überlegenen Archivwesen der Lateiner, ihrem Konservierungsdrang zu verdanken: „nichts von früheren Taten und Schriften (de priscis gestis vel scriptis) bleibe ihnen verborgen“, meinte er, also auch nicht der Liberiusbrief.127 Bessarion wollte die Union, und er war Philologe, Liebhaber, wie es scheint, der alten Bücher selbst, nicht ‘nur’ ihrer Inhalte. Und man gewinnt den Eindruck, daß es nicht zuletzt diese alten Bände waren, die Bessarion überzeugten, Bände, die er selbst in der Hand gehabt, gleichsam berochen hatte, die er lange nach Abschluß der Union noch in Manuskripten zu Konstantinopel kollationierte, zumal die deutliche Mehrzahl von ihnen, und überdies die als ‘älter’ eingeschätzten, die Version der Lateiner stützte. Der Kampf um den rechten Glaubenstext reduzierte sich nun tatsächlich auf die materiellen Textträger, auf ihr mehr oder weniger ohne genauere historische Kriterien erfühltes Alter, ihren Beschreibstoff, ihre Schrift. Die Kompetenz der Humanisten im Paläographisch-Kodikologischen war aber noch kaum entwickelt. Die Historische Hilfswissenschaft wurde hier zwar fast zum Theologieersatz, aber es fehlte sozusagen ein Sickel, ein Bischoff, ein Kristeller. Das Geschilderte zeigt eher ein verzweifeltes denn ein borniertes Ringen um die ersehnte Evidenz, die alle Streitigkeiten und Ressentiments aufheben würde. Ein Ringen, welches die Philologie weit über den Status einer Ancilla heraushob. Dabei gab es eine gute Chance, das filioque ohne ein sacrificium mentis der Griechen auch theologisch zu integrieren, und sie wurde genutzt. Bei Maximos dem Bekenner und anderen fand sich die akzeptable Kompro126

Ego misi Veronam et venit decretum Romanorum pontificum valde authenticum et vere quaerens aliud improviso hoc inveni. Hic sunt epistulae, quae scribit Athanasius ad papam Marcum et Liberium; Acta latina (wie Anm. 114), 112 Z. 29; zitiert SIEBEN: Pseudoisidor (wie Anm. 125), 341 Anm. 19. 127 Ita studiosi et diligentes in omnibus actis suis sunt Latini, ..., ut non solum in divinis, verum etiam in humanis et civilibus rebus, nihil eos de priscis gestis vel scriptis lateat; quare in unaquaque etiam civitate reperies in eorum archivis multa de antiquissimis gestis eorum conscripta ... Produxerunt igitur nobis in antiquissimo libro membrano epistulam Liberii papae ad beatum Athanasium ... Haec nunc quidem, actis primi concilii [sc. Nikaia 325] deperditis, ignota nobis sunt, tunc vero, cum adhuc exstarent, sciebant et papa Liberius et sanctus Athanasius; ebd. 32, Z. 17, zitiert SIEBEN: Pseudoisidor (wie Anm. 125), 345, Anm. 44.

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mißformel, der Geist gehe aus „vom Vater durch den Sohn“. Sie erhielt Eingang in die griechische Fassung von ‚Laetentur caeli‘.128 Natürlich ging es letztlich nicht um Rasuren und alte Bücher. Der philologische Streit verdeckte nur die tiefe Kluft zwischen den exegetischen und theologischen Methoden selbst. Die Entfremdung bestand im Denkstil. Immer wieder zeigte sich, daß die Griechen mit der scholastisch-dialektischen Disputierweise der Lateiner nicht nur nicht zurechtkamen, sondern sie auch als Irrweg ablehnten. Die scholastisch-dialektische Deduktion (vom Subtanzbegriff, vom Begriff der vis generativa etc. her), und vor allem der gepanzerte Syllogismus erwiesen sich als nicht kommunizierbar. Hierin waren die Griechen, wenn auch aus anderer Wurzel, wiederum Teilen der Humanisten, aber auch der Frömmigkeitstheologen des späten Mittelalters und ihren existentiellen Scholastikkritiken nahe.129 Aus dieser Perspektive erscheinen auch unsere Humanistentreffen in einem existentielleren Licht.130 Man kann, neueren Darlegungen Hankins’ folgend, sagen, daß die berühmte Platon/Aristoteles-Kontroverse, die wesentlich Gemisthos Plethon 1439 in Florenz mit seiner Schrift ,De differentiis Platonis et Aristotilis‘ entfesselt hatte, in entscheidendem Maße durch die Erfahrung der differenten Denkwelten gespeist worden war. Die Folge war freilich, daß die beiden antiken Stammväter der Philosophie in ihrer Comparatio sozusagen auch ‘konfessionell’ polarisiert wurden: Platon, den auch Augustin und viele Humanisten für einen Protochristen hielten, auf Seiten der Griechen, Aristoteles, als vielleicht unfreiwilliger, aber doch genetisch nachweisbarer Vater der Scholastik, auf Seiten der Lateiner.131 Die Scholastikkritik, ein Phänomen, das bekanntlich weit über die humanistische Bewegung hinausgeht und etwa auch in der mystischen Theologie und der ‘devotio moderna’ etc. anzutreffen ist, richtete sich nicht nur gegen schlechtes Latein, verderbte Texte und weltfremde Spitzfindigkeiten. Für Lorenzo Valla, durch seine Korrespondenz mit Giovanni Tortelli gut über die

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Conciliorum Oecumenicorum Decreta (wie Anm. 114), 524, Z. 8. Zu den Differenzen der Methode auch HANKINS: Plato (wie Anm. 109), 220–227, sowie, zugespitzt: JAN L. VAN DIETEN: Nikolaus von Kues, Markos Eugenikos und die NichtKoinzidenz von Gegensätzen, in: HELMRATH/MÜLLER (Hg.): Studien zum 15. Jahrhundert (wie Anm. 31), Bd. 1, 355–379. 130 SYROPULOS: Mémoires (wie Anm. 112), 366–368 (VII 17 f.), zitiert HANKINS: Plato (wie Anm. 109), 202. 131 Siehe die zugespitzte Konsequenz bei HANKINS: Plato (wie Anm. 109), 205–208. Zur Plato-Aristoteles-Kontroverse und zum Streit zwischen Georg von Trapezunt und Theodor Gaza über die ,Comparatio Aristotelis et Platonis‘ hier nur LOHR: Metaphysics (wie Anm. 112), 561– 563; JOHN MONFASANI: George of Trebizond. A biography and a study of his rhetoric and logic (Columbia Studies in the Classical Tradition 1), Leiden 1976, 210–219; EUGENIO GARIN: Platonismo e Aristotelismo. Della comparatio alla concordia, in: DERS.: Il ritorno dei filosofi antichi (Istoria Italiana per gli studi filosofici 1), Neapel 1983, 79–95. 129

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Vorgänge auf dem Konzil informiert,132 war die Debatte über die processio spiritus sancti der entscheidende Beweis dafür, daß die traditionelle Theologie, und das war die scholastische, in eine Sackgasse geraten war und einer Reform bedurfte. Christentum und Theologie brauchten stattdessen professionelle biblische Textkritik, neue, ebenso exakte wie spirituelle Methoden der Schriftexegese und jene neue Fundierung in den alten, den patristischen Fontes, in der auctoritas patrum. Valla beschritt selbst diesen Weg und wies dem Humanismus neue, über die Latinität denktransformierende Funktionen zu.133 Erasmus sollte bekanntlich Vallas Ansatz aufgreifen, zumindest den sprachlichen Aspekt. Damit wäre der Bogen spätmittelalterlicher Theologieentwicklung vom Florentinum geradewegs bis in die Reformationszeit gespannt.

5. Bilanz Die Untersuchung war von der Frage ausgegangen, in welcher Weise die großen Konzilien des 15. Jahrhunderts ihre immer wieder behauptete Rolle in den subtilen Prozessen geistigen Transfers ihrer Zeit tatsächlich spielten, insbesondere bei der Diffusion des Humanismus von Italien in das übrige Europa. Es wurden sehr verschiedene Phänomene, Medien und Ebenen beleuchtet: Suche, Kopieren und Versand von Handschriften – als der bekanntesten und einzig qualifizierbaren Ebene, Oratorik als in besonderem Maß ‘wirkungsgerichtete’ Kommunikation, am Rande auch Lehre über Klassiker vor Ort, schließlich im Ausblick die Theologie als traditionsgeprägtes, kontroverses und nur begrenzt transformationsoffenes Feld. Techniken, Denk- und Lebensformen, die sich als humanistisch qualifizieren lassen, gehören einem breiten Spektrum intellektueller Kontakte und Transformationsprozesse an, die durch den Forumscharakter der Konzile allererst in dieser Qualität, Intensität und Dauer ermöglicht wurden. Bei den beiden großen Konzilien in Deutschland wird man von Humanismusdiffusion vor allem im Sinne von Antizipationen künftiger kultureller Trends in Schrift und Rede sprechen, die noch nicht eine nachhaltige Verbreitung vor Ort nach sich zogen. Weder in Konstanz oder Basel oder in Süddeutschland war etwa die Bildungselite nach Ende der Kon132

Vgl. Vor allem REGOLIOSI: Nuove ricerche (wie Anm. 118), 143–145, 158–166. Statt der kaum übersehbaren Valla-Literatur hier nur MARIO FOIS: Il pensiero cristiano di Lorenzo Valla (Analecta Gregoriana 174), Rom 1969, bes. 300–324; SALVATORE I. CAMPOREALE: Lorenzo Valla. Umanesimo e teologia, Florenz 1972, 211–276, vor allem 211–228; RICCARDO FUBINI: Lorenzo Valla tra il Concilio di Basilea e quello di Firenze, e il processo dell’Inquisizione, in: Conciliarismo, stati nazionali (wie Anm. 15), 287–318; Überblick von HEINZ LIEBING: Reformanspruch und Reformangebot im italienischen Renaissance-Humanismus (Lorenzo Valla), in: Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit, hg. von HANNS KERNER (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 8), Nürnberg 1993, 41–56. 133

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zilsepoche schon humanistisch geprägt. Über das Maß einer indirekten, sozusagen subkutanen Übernahme ist ein Urteil schwer möglich. Das eigentliche Arkanum der Konzilsdebatten, die Theologie, wurde nicht am Beispiel von Konstanz und Basel, sondern für Ferrara/Florenz angesprochen. Auch dieses Konzil, das in den schon länger humanismusnahen italienischen Städten Ferrara und Florenz tagte, war trotz hoher Partizipation von Humanisten und enorm aufgewerteter Bedeutung humanistischer Philologenkompetenz nur sekundär ‘humanistisch’, weil die Theologie eo ipso nicht in Humanismus aufgehen konnte, – und insofern nur graduell verschieden von den beiden Konzilien im Norden. Es gehört zu den faszinierenden Aufgaben der Sozial- und Geistesgeschichte als Transferforschung, der Frage nachzuspüren, ob und wie weit die Theologie und Kanonistik in den folgenden Jahrzehnten bis zur Reformation und während der drei Reformationen des 16. Jahrhunderts durch Antikerezeption transformiert wurde beziehungsweise überhaupt transformierbar war.

6. Appendix Ein weiter ausgreifender, hier nicht mehr zu verfolgender Ansatz müßte das Ziel haben, auf breiter Linie Traktate der konziliaren Epoche auf Klassikerbeziehungsweise Patres-Rezeption zu untersuchen. Wachsende Patres-Rezeption wird auch bei Autoren konstatiert, die mit dem Humanismus im engerern Sinne nicht in Verbindung zu bringen sind. Es stellen sich folgende Fragen: Hat sich das argumentative Arsenal durch neu aufgefundene oder neu mobilisierte Texte und Textstellen verbreitert? Haben die Humanisten, ihre Textfunde beziehungsweise die von ihnen ja wenigstens ansatzweise entwickelte Textkritik und Exegetik hier Einfluß gehabt? Hat sich der Anteil biblisch und durch Kirchenväter fundierter Argumente, hat sich nur das Zitatrepertoire oder auch der theologische Horizont oder zumindest der Stil insgesamt in antikisierender Weise verschoben? Nikolaus von Kues, Handschriftensammler und Platoniker, aber nicht im engsten Sinne Humanist, nähme hier einen wichtigen Platz ein. Seine Bibliothek war nicht die eines durchschnittlichen Humanisten, es war eine thematisch breit angelegte Weltsammlung, welche die scholastischen Basiswerke ebenso wie lateinische und griechische Klassiker umfaßte. Der Begriff ‘Renaissancebibliothek’ wäre wohl für sie nicht abwegig. – Den Wunsch nach einem „rinnovato fervore di studio dei padri della Chiesa, greci e latini“ zur Stärkung der allgemeinen „aspirazioni eticoreligiose“ sieht Riccardo Fubini auch bei einem zumindest humanismusnah, aber nicht im Griechischen Gebildeten wie Francesco Pizolpasso vorhanden. Von den 85 identifizierbaren Bänden seiner Bibliothek umfassen allein 52 Kir-

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V. Antikerezeption auf den Konzilien

chenvätertexte.134 Ein anderes Beispiel: Wie ist es einzuschätzen, wenn der Theologe und führende Konstanzer Konzilsvater Johannes Gerson († 1429) seine Reden mit Zitaten aus Vergil, Terenz, Horaz, Statius, Cicero, Seneca, Caesar, Sallust, Sueton, Valerius Maximus versieht? Übersteigt es das Maß der auch in ‘scholastischer’ Predigt üblichen Klassikerzitierung? Führt jenes schon von Augustinus nach Exod. 3,22 angewendete spoliare Aegyptum nun zu einer neuen Qualität des Ganzen, wenn ein Gerson heidnische Literatur und Weisheit zu Zwecken christlicher Homiletik und politischer Fürstenparänese heranzog?135 Wie ist es einzuschätzen, wenn ein Theologieprofessor wie Heinrich Kalteisen OP, Konzilsteilnehmer von Basel, den Thomas Prügl in seiner Wandlung zum Vertreter eines zusehends starrer werdenden Papalismus erschlossen hat, in seinen Predigten Zitate aus Ciceros Tusculanen, aus Seneca-Briefen, Ovids ,Metamorphosen‘, Platons ,Timaios‘, aus dem ,Hermes Trismegistos‘, Fulgentius sowie aus dem kontroverstheologischen Werk des Dominikaners Manuel Calecas († 1410) ,Contra errores Graecorum‘ einfügte, das Traversari erst 1424 aus dem Griechischen übersetzt hatte, aber auch aus Petrarca, von dessen freilich über Humanistenkreise hinaus sehr weit verbreiteten Traktat ,De remediis utriusque fortunae‘ er eine Handschrift besaß?136 War das gängige Normalrezeption antiker Autoren? Spielen diese eine verändernde, fermentierende Rolle für die Theologie? Ähnlich wie Cusanus, Gerson und Kalteisen könnten auch zahlreiche weitere Theoretiker der konziliaren Epoche und ihrer Traktatkriege für die Frage herangezogen werden.

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FUBINI: Tra umanesimo e concili (wie Anm. 1), 333 (Zitat); zu Pizolpassos Griechischkenntnissen 334 f. 135 Zum Problem um Gerson als französischen ‘Frühhumanisten’: HERIBERT MÜLLER: Der französische Frühhumanismus um 1400, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER: Diffusion des Humanismus (wie Anm. 3), 319–376, hier 327–332, 339–341 mit Literatur. 136 THOMAS PRÜGL: Die Ekklesiologie Heinrich Kalteisens O.P. in der Auseinandersetzung mit dem Basler Konziliarismus (Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts 40), München 1994, 40 mit Anm. 13 und passim.

VI.

Der europäische Humanismus und die Funktionen der Rhetorik* Rhetorik ist zweckhaft. Von Anfang an war sie in ihrem Selbstverständnis intentional auf Persuasion eines Publikums gerichtet und von ihrer Wirkung überzeugt, der argumentativen wie der affektiven, der polarisierenden wie der konsenserzeugenden Wirkung.1 Von Rhetorik zu sprechen heißt daher per se von ‘Funktion’ zu sprechen. Von Anfang an, seit Platons Streit mit den Sophisten, lag aber auch ihre Ambivalenz am Tage: die strukturelle Fähigkeit zur Manipulation. Selbst Cicero, der wie kein anderer bemüht war, sie ethisch einzuhegen, sprach von einer machinatio, ein Begriff, den man hier mit ‘geregelter Machenschaft’ übersetzen könnte. Damit werde etwa ein Richter zu Strenge oder Milde gebracht, oder – stärker: hingedreht (contorquendus).2 Eben diese Eigenschaft war es, welche die Rhetorik einem Kant „gar keiner Achtung würdig“ mehr erscheinen ließ, als die selbstverständliche kulturelle Dominanz ihrer Kunstlehre Ende des 18. Jahrhunderts erschüttert wurde. Die überragende Bedeutung der Rhetorik und ihres antiken Ideals des vir bonus dicendi peritus als „Leitwissenschaft“ (Ueding) in Curriculum und Praktik der Humanisten ist allgemein vertraut. In mancher Hinsicht scheinen Humanismus und Rhetorik geradezu zusammenzufallen. So * Zuerst in: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von T HOMAS MAISSEN/GERRIT W ALTHER, Göttingen 2006, 18–48. 1 Anregend MICHAEL C AHN: Kunst der Überlistung. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 76. Neue Folge A/2.), München 1986; ebenso P ETER P TASSEK: Rhetorische Rationalität. Stationen einer Verdrängungsgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit, München 1993. 2 Aut tamquam machinatione aliqua tum ad severitatem, tum ad laetitiam est contorquendus (CICERO: De oratore II.72). Omnis vis ratioque dicendi in eorum, qui audiunt, mentibus aut sedandis aut excitandis expromenda est (ebd. I.17). Die einschlägigen Klassikerzitate sind hier nicht aufzuführen. In origineller Weise tut dies, bisher von der Rhetorik-Forschung wenig wahrgenommen, QUENTIN SKINNER: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge 1996, hier 1–214 „Classical Eloquence in Renaissance England.“ Skinner bringt eine Einführung in die Grundlagen des antiken und humanistischen Rhetorikcurriculums mit seinen Adaptationen in England am Beispiel der intellektuellen Sozialisation von Thomas Hobbes sowie seiner sich wandelnden Haltung zur Rhetorik im Rahmen einer scientia civilis.

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VI. Der europäische Humanismus

nimmt Heinrich F. Plett zurecht gerade in der Rhetorik „trotz regionaler und nationaler Unterschiede eine einheitsstiftende kulturelle Kraft“ wahr, „die sich in der Renaissance supranational und interdisziplinär entfaltet.“3 Der folgende Beitrag sieht seine Aufgabe zunächst darin, ausgewählte Aspekte aus dem Feld der Rhetorik einstimmend zu erinnern. In einem zweiten Schritt soll ein Projekt vorgestellt werden, das oratorische Praxisfunktionen erforscht und sich dabei auf den Ort der politischen Versammlungsrede konzentriert.

1. Einige Probleme der Rhetorik und ihrer Erforschung Vieles, was folgt, wird als Gemeinplatz erscheinen. Eben dieses Wort führt zugleich mitten in unser Thema. Es hat eine Bedeutungsverschiebung erfahren, im Sinne von: etwas trivial Selbstverständliches. Der lateinische Ausdruck, locus communis, entstammt dem System der Rhetorik/ Dialektik. Die loci (gr. topoi) sind seit Aristoteles’ Wissenschaft der Topik die Auffindungsorte für Argumente, Ordnungssignale der Memoria. Denn die Rhetorik ist auch ein Ordnungssystem, eine Methode zur Herstellung von gesprochenem persuasivem Redetext. Ein klassisches Organon von operativen Einteilungen gehört seit Aristoteles, seit dem ,Auctor ad Herennium‘, Cicero und Quintilian zum ehernen Bestand intellektueller und poietischer Schulung bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die drei wichtigsten Schemata seien kurz genannt: A) die drei genera dicendi:4 1. Das genus demonstrativum (griech. epideiktikón), die Festrede, mit dem breitesten Anwendungsspektrum und mit der Funktion des Lobs und Tadels. Sie beruht wesentlich auf der amplificatio und ist nicht, wie die beiden anderen genera, diskursiv, agonal, in utramque partem gerichtet, 2. das genus deliberativum (symbouleutikón), die Beratungsrede, als im eigentlichen Sinne politische Rede vor einer entscheidungskompetenten Versammlung, mit der Funktion des Zu- oder Abratens, und 3. das genus iudiciale (dikanikón), die Gerichtsrede, mit der Funktion der Anklage oder Verteidigung.

3 HEINRICH F. P LETT: Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik, in: DERS. (Hg.): Renaissance-Rhetorik/Renaissance Rhetoric, Berlin/New York 1993, 1–20, hier 13. 4 JOHANNES ENGELS: Art. Genera causarum, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3 (1996), 701–721 (siehe auch Anm. 32).

VI. Der europäische Humanismus

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Dieser Trias zugeordnet sind weitere Triaden: z. B. die der affektiven Wirkungen des delectare, probare und flectere/movere (Cic, or. 21,69) und die der Stilebenen, des sublime, des medium und des humile. B) die fünf Arbeitsschritte beim Herstellen einer Rede: 1. Die Findungslehre (inventio), 2. die Anordnungslehre (dispositio), 3. die Stillehre (elocutio), die Lehre vom sprachlichen Ausdruck, vom übertragenen Wortgebrauch (Tropik), von den Figuren etc. Zusammen bilden sie eine Art diskursiv-sprachliches Trivium, dem sich die mehr praxisrelevanten Teile anschließen: 4. die Gedächtnislehre (memoria) zum Memorieren der Rede und5. die Lehre vom physischen Vortrag (actio oder pronuntiatio) hinsichtlich Stimme, Mimik und Gestik etc.; Schließlich: C) Die, von den Theoretikern in unterschiedlicher Anzahl angegebenen, Teile der Rede selbst: prooemium, narratio, confirmatio/ partitio, refutatio und exordium. Das Mittelalter hat mehr rednerische Praxis gepflegt als die ihm landläufig attestierten, gegenüber den antiken Zentralfunktionen verlagerten Genres der Predigt und des Briefs. Thomas Haye machte daneben auch die Synodal-, die Gesandtschafts-, die Gerichts- und die akademische Festrede als mittelalterliche „Aufführungsorte“ aus.5 „Im Übergang zur Renaissance wird die Kunst der lateinischen Rede also nicht neu entdeckt.“6 Dennoch dürfte kaum strittig sein, daß die „Rhetorik der Renaissance auch eine Renaissance der Rhetorik“ bewirkt hat (Plett), und zwar in der Theorie wie in der Praxis. Rhetorik ist im Curriculum nur eines der fünf Humaniora, jenes Ensembles von Disziplinen, auf welches sich das Interesse der Humanisten zunächst konzentrierte, und zwar ist es neben Grammatik das einzige aus dem alten Kanon der Artes übernommene Fach. Sie weist in ihrer Bedeutung jedoch weit in andere Disziplinen hinein. Mit ihren Übergängen vor allem zu Philosophie und Dialektik einerseits, zu 5 T HOMAS HAYE: Art. Rede III. Lateinisches Mittelalter, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7 (2005), 713–718; DERS.: Oratio. Mittelalterliche Redekunst in lateinischer Sprache (Mittellateinische Studien und Texte 27), Leiden 1999; DERS.: Rhetorische Lehrbücher und oratorische Praxis. Einige Bemerkungen zu den lateinischen Reden des hohen Mittelalters, in: Das Mittelalter 3/1 (1998), 45–54; DERS.: Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin 2005. Zur politischen Rede im Mittelalter siehe J OHANNES HELMRATH: Art. Parlamentsrede, b: Mittelalter, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), 589–597. 6 HAYE: Art. Rede III. (wie Anm. 5) 717. Vgl. auch J OHANNES FRIED (Hg.): Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 27), München 1997.

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Grammatik und Poetik7 andererseits, metaphorisch dann auch zu Kunst und Musik ist sie per se multidisziplinär. Im weiten Sinne könnte man ‘Rhetorik’ einer jeglichen literarisch-ästhetischen Konstruktion zuschreiben. Da sich die Rhetorik immer anwendungsbezogen gezeigt hat, ist es nur begrenzt sinnvoll, zwischen ‘Theorie’, sprich rhetorisch-poetischen Traktaten und Rhetoriken einerseits und einer ‘Praxis’ andererseits zu unterscheiden, also den politisch-sozialen Orten und Anlässen ihrer konkreten Anwendung. Doch möchte ich für den praktischen Bereich, in Analogie zum schönen englischen Wort ‘Oratory’, klärend von ‘Oratorik’ sprechen. Antikes, so die These, wurde in der Renaissance nicht nur idealistischzweckfrei und integral rezipiert, weil es antik war, sondern auch, weil ein ‘Bedarf an Antike’ bestand, weil man sie zur Lösung von spezifischen Problemen der Gegenwart brauchte und gebrauchte. Die von Monfasani konstatierte Spannung „between classical integralism and contemporary pragmatism“ war sicher auch ein Leitmotiv der Renaissance-Rhetorik,8 gilt aber wohl für alle Felder der Antikerezeption. Ein berühmtes oratorisches Beispiel bildet die ‚Laudatio Florentine urbis‘, in der Leonardo Bruni im Jahre 1402 die bis dahin unbekannte Panathinaikos-Rede des Aelius Aristides auf das republikanische Florenz applizierte. Es war die Keimzelle auch für Hans Barons These vom „civic humanism“. Wozu brauchte man in rhetoricis gerade wiederbelebte, zitierte, adaptierte, transformierte, travestierte Antike?9 Von ‘Funktion’ der Oratorik läßt sich unter diesen Voraussetzungen zumindest auf drei Bedeutungsebenen sprechen: 1. Im Sinne von actio: jede tatsächlich zu bestimmten Anlässen gehaltene Rede mit ihrem genuinen Persuasionsanspruch erfüllte qua Zustandekommen eine, jeweils zu eruierende, Funktion. Es ist dies die weiteste Bedeutung. 7

Wichtig: P ERRINE GALAND -HALLYN/FERNAND HALLYN (Hg.): Poetiques de la Renaissance. Le modèle Italien, le monde franco-bourguignon et leur héritage en France au XVle siècle (Travaux d’humanisme et Rénaissance 348), Genf 2001. 8 J OHN MONFASANI: Humanism and Rhetoric, in: ALBERT RABIL J R. (Hg.): Humanism and the disciplines (Renaissance Humanism: Foundations, Forms, and Legacy 3), Philadelphia 1988, 171–235, hier 172. 9 Verwiesen sei ausdrücklich auf die Beiträge, in: Funktionen des Humanismus: Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von THOMAS MAISS EN/ GERRIT W ALTHER, Göttingen 2006, insbesondere GERRIT W ALTHER: Funktionen des Humanismus. Fragen und Themen (9–18), CASPAR H IRSCHI: Vorwärts in die Vergangenheit. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland (362–395), T HOMAS MAISSEN: Schlußwort. Überlegungen zu Funktionen und Inhalt des Humanismus (296– 402). Zur Terminologie im Folgenden siehe LAUSBERG: Elemente (wie Anm. 17), 16 f. Zur Baron-These: J AMES HANKINS: Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections (Ideas in Context 57), Cambridge 2000.

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2. Im Sinne von applicatio (Anwendung): die Applikation antiker Reden (im weiteren Sinne auch antiker Rhetoriken) auf aktuelle Anlässe, als Transformationen von Antike. Sei es – nach der Terminologie von Lausberg – im Sinne der im aktuellen Vollzug sich erfüllenden „Gebrauchsrede“, sei es in der schriftlich tradierten und Normrang gewinnenden „Wiedergebrauchsrede“. Denn Funktion bedeutet im engeren Sinne immer etwas Vermittelndes, eine Funktion für etwas. 3. Im Sinne von servitus, von Indienstnahme der Humanisten als – auch und besonders – oratorische Kompetenzeliten. Diese sind, wie viele Humanisten am Oberrhein nach dem bestechenden Konzept von Sven Lemke und Markus Müller „neue Gelehrte im Dienst alter Herren“, von Fürsten wie – prototypisch erforscht – Kaiser Maximilian I. aus dem Hause Habsburg, ebenso wie für Städte und Stände. Insofern erfüllen sie für denjenigen, in dessen Dienst sie stehen, beziehungsweise den sie in der Rede repräsentieren, sehr konkret eine Funktion.10 Nutzt man ein funktionales Erklärungsmodell für den Renaissance-Humanismus allgemein, wird man ihn somit als Erfüllung eines neuen Bedarfs gesellschaftlicher und politischer Eliten angesichts tiefgreifenden Wandels verstehen. Antikewissen diente der Problemlösung. Neu wahrgenommene antike Phänomene, zu denen Poesie und Oratorik, ebenso aber Kunstwerke, Inschriften und Münzbilder gehörten; ihre Adaptation, ihre Präsentation und Systematisierung, etwa in Sammlungen, funktionierten als neue Szenarien der Legitimation und Statusdemonstration.11 Zu warnen ist nur vor einem rein mechanistischen oder materialistischen Verständnis, wonach im Sinne eines Basis-Überbau-Modells auf Seiten der Humanisten 10

SVEN LEMBKE/MARKUS MÜLLER (Hg.): Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 37), Leinfelden/ Echterdingen 2004, hier 1–8, 303–313. Bemerkenswert auch A LBERT SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien. Neue Folge 4), Köln/Weimar/Wien 2003, unter Anwendung der Feldtheorie B OURDIEUS. Grundlegend waren bereits die Studien von J AN DIRK MÜLLER und D IETER MERTENS: J AN D. MÜLLER: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 2), München 1982; DIETER MERTENS: Zur Sozialgeschichte und Funktion des ‚poeta laureatus‘ im Zeitalter Maximilians I., in: RAINER C. SCHWINGES (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten im Reich des 14. bis 16. Jahrhunderts (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 18), Berlin 1996, 327–348; DERS.: Die Rede als institutionalisierte Kommunikation im Zeitalter des Humanismus, in: HEINZ DUCHHARDT/G ERT MELVILLE (Hg.): Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation im Mittelalter (Norm und Struktur 2), Köln/Weimar/Wien 1997, 401–421, sowie D IETER MERTENS: Der Preis der Patronage. Humanismus und Höfe, in: MAISSEN/WALTHER (Hg.): Funktionen des Humanismus (wie Anm. 9), 125–154. 11 Hierzu erhellend: GERRIT W ALTHER: Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 359–385.

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ausschließlich Karriereinteressen und Gewinnstreben als Movens anzunehmen wären. Tatsächlich wahrten die Antike und die artes, die zu ihr führen, doch etwas vom Charakter des an sich Erstrebenswerten und erhielten die Bedeutung eines avantgardistischen Kommunikations- und Konkurrenzraums unter Gleichgesinnten. McManamon beobachtete zum Beispiel, daß humanistische Grabreden in der Würdigung des Toten meistens den Kontrast dunkle Zeit/Wiedergeburt ausmalen. Der Verstorbene wird als Anhänger der litterae, als Gleichgesinnter, als Humanist, dargestellt und damit zum homo famosus.12 In diesem Sinne könnte auch die Rede als performativer Raum und prestigiöses Medium der Selbstdarstellung verstanden werden; sie ist Aristie pro domo, für die eigene Corona. Eine etwas andere Nuance spricht Paul Oskar Kristeller, offenbar angelehnt an Äußerungen Burckhardts, an, indem er den Unterhaltungscharakter öffentlicher Reden im Italien des 15. Jahrhundert betont. Sie seien „der Rolle vergleichbar, die zur gleichen oder zu anderen Zeiten musikalische oder theatralische Aufführungen oder der Vortrag von Gedichten spielten.“13 Werfen wir hier ein Streiflicht auf die deutsche Rhetorikforschung: Die ‘Neue Rhetorik’ kam seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts phasenverschoben nach Deutschland, drang in die Philologien (Literaturtheorie), in Linguistik und Philosophie ein. In der Altphilologie hatte man die Rhetorik stets als antiquarisches Residuum bewahrt. Ob sie die (deutsche) Geschichtswissenschaft je erreicht hat, beziehungsweise ob diese zuläßt, erreicht zu werden, darf man bis heute bezweifeln.14 Die umfassendsten jüngeren Studien zur Rhetorik des Renaissancehumanismus sind kaum der deutschen Forschung entsprungen, aber es gibt hier wichtige ältere Marksteine.15 Bedeutenden Impuls hatte bereits Frie12 J OHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory and the Cultural Ideals of Italian Humanism, Chapel Hill 1989, 154. 13 P AUL O. KRISTELLER: Der Gelehrte und sein Publikum im späten Mittelalter und in der Renaissance, in: Humanismus und Renaissance (Humanistische Bibliothek. Reihe I/22), München 1976, Bd. 2, 231 (auch UTB 915). 14 Siehe aber den zeithistorisch orientierten, quellentypologischen Versuch von U LRICH B AUMGÄRTNER : Reden als historische Quellen. Anmerkungen zu neueren Publikationen zur politischen Rede und zum historiographischen Umgang mit rhetorischen Texten, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 559–596. (Zur ‘neuen Rhetorik’ etwa JOSEF KOPPERSCHMIDT (Hg.): Die neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman, München 2006.) 15 Gute Übersicht über die Traktate und disziplinären Verknüpfungen: MONFASANI: Humanism and Rhetoric, in: RABIL (Hg.): Humanism and the disciplines (wie Anm. 8), 171–235; ferner die Aufsatzbände: J AMES J. MURPHY (Hg.): Renaissance Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Renaissance Rhetoric, Berkeley/Los Angeles 1983, hierin bes. P AUL O. KRISTELLER: Rhetoric in Medieval and Renaissance Culture (1–19); HEINRICH F. P LETT (Hg.): Renaissance-Rhetorik (wie Anm. 3), darin v.a. die Einleitung DESS.: Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik, 1–20; P ETER M ACK (Hg.): Renaissance Rhetoric, New York 1994; DERS.: Humanist Rhetoric and Dialectic, in: JILL KRAYE (Hg.): The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Cambridge 1996,

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drich Nietzsche, der einstige Basler Graezist, gegeben, der mit seinem Postulat der Rhetorizität jeglicher Sprache als Vater des Dekonstruktivismus eines Paul De Man oder Jacques Derrida reklamiert werden kann.16 Ganz anders Ernst Robert Curtius’ Hauptwerk „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ (1948): ein dichtes intertextuelles Metaphernnetz beschwört ein Bild höchster Kohärenz der europäischen Literatur, die als topischer Arsenalbestand für poetisch-rhetorische Interpretation bereitsteht. Auch Heinrich Lausbergs „Handbuch der literarischen Rhetorik“ von 1960,17 ein transhistorisch-idealtypisches und hochdifferenziertes System der rhetorischen Techne, markierte eine Rehabilitierung der elocutio gegenüber der dispositio der Rede, die das literaturwissenschaftliche Interesse dominierte. Josef Kopperschmidt betrieb als einer der führenden systematischen Rhetorikforscher auch die Analyse politischer Gegenwarts-Rhetorik. Hier besteht von Seiten der Historiker zweifellos Nachholbedarf.18 Wichtige Impulse gingen von den Anglisten Klaus Dockhorn, der die Kunde von einer „Rhetorik der Affekte“ wiederbelebte, und, wie gesehen, Heinrich F. Plett aus. Die Zahl der Einführungen in die Rhetorik, meist durch Philologen oder Linguisten, teils stärker historisch, teils systematisch angelegt, stieg in den letzten Jahren stark an.19 Rhetorik wurde aber, was im Grunde ihrer funktionalen Natur angemessen ist, nicht wieder ein eigenes Fach – der Tübinger Rhetoriklehrstuhl blieb ein Unikum –, sondern dockte gleichsam bei verschiedenen Disziplinen an. Tübingen verdankt man aber das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“, herausgegeben 82–99; MARC FUMAROLI (Hg.): Histoire de la rhétorique dans l’Europe moderne, Paris 1999. Siehe auch BRIAN V ICKERS: On the Practicabilities of Renaissance Rhetoric, in: DERS.: Rhetoric Revalued (Medieval and Renaissance Texts and Studies 19), Birmingham/New York 1982, 133–141; W INIFRED E. HOMER (Hg.): The Present State of Scholarship in Historical and Contemporary Rhetoric, Revised edition, Columbia 1990, 45–83. 16 So in der Vorlesung des Sommersemesters 1874: FRIEDRICH NIETZSCHE: Rhetorik (Darstellung der antiken Rhetorik), in: O TTO CRUSIUS (Hg.): Philologica, Bd. 2: Unveröffentlichtes zur Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik (Nietzsche’s Werke 18, 3. Abt., Bd. 2), Leipzig 1912, 237–268. 17 HEINRICH LAUSBERG: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Aufl. mit einem Vorwort von ARNOLD ARENS, Stuttgart 1990 (1. Aufl. 1960); DERS.: Elemente der literarischen Rhetorik, München 11963 ( 51976). 18 Siehe die bei B AUMGÄRTNER: Reden (wie Anm. 14), aufgeführte Literatur sowie die Aufsatzsammlungen J OSEF KOPPERSCHMIDT (Hg.): Rhetorik, 2 Bde. (I: Rhetorik als Texttheorie; II: Wirkungsgeschichte der Rhetorik), Darmstadt 1990–91; DERS. (Hg.): Politik und Rhetorik. Funktionsmodelle politischer Rede, Opladen 1995; [ DERS. (Hg.): Die neue Rhetorik (wie Anm. 14).] 19 In Auswahl: KARL-HEINZ GÖTTERT: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, München 1994; HEINRICH F. P LETT: Systematische Rhetorik, München 2000. Aus der Tübinger Schule: CLEMENS OTTMERS: Rhetorik, Stuttgart/Weimar 1996; J OACHIM KNAPE: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000, zu Basistexten von Aristoteles bis Perelman.

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vom derzeitigen Inhaber des Lehrstuhls, Gerd Ueding.20 Seit 1992 sind neun Bände erschienen; ein einzigartiges Instrument, das permanent kreuz und quer zitiert werden könnte.21 Die konzeptionellen Schwächen sind freilich ebenso unverkennbar und haben zum Teil harsche Kritik erfahren: eine gewisse Redundanz vieler Artikel, vor allem die starke sachliche Überlappung der Lemmata22 bei heterogenen Akzentsetzungen sowie unterschiedlicher Fachherkunft und -kompetenz der Autoren. Die Forschung hat sich lange Zeit ungleich intensiver der Rhetorik als Theorie denn der Rhetorik als Praxis, den Redetexten selbst, gewidmet. Die meisten Autoren – als repräsentativ gelten darf der magistrale Überblick von John Monfasani – beschäftigten sich mit Rhetoriktheoretikern und deren Lehrbüchern, mit jenen „one thousand neglected authors“ von geschätzten 2.500 Traktaten also, die Murphy für die Renaissance ausgemacht zu haben glaubte.23 Die Zentralfigur ist hier – natürlich – Cicero: Schon Petrarca hatte offenbar ein Corpus von Reden Ciceros zusammengestellt. Seine Nachfolger lebten sich noch intensiver in sie ein, entdeckten bis Poggio Bracciolini rund dreißig neue Reden. Große Bedeutung kam den Kommentaren zu. In ihnen offenbart sich das Interessenspektrum einer gelehrten Elite. Im Kommentieren von Ciceros Reden wurde die antike Oratorik gleichsam für ihre theoretische und dann auch praktische Transformation vorbereitet. Im Mittelalter gab es offenbar keine Kommentare zu Cicero-Reden, obwohl die Hälfte der 58 heute bekannten, darunter fast alle berühmten, bereits im an20

GERT UEDING (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1–9, Tübingen 1992– 2009; [Siehe DERS. (Hg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des ‘Historischen Wörterbuchs der Rhetorik’ (Rhetorik-Forschungen 1), Tübingen 1991; DERS.: Das Historische Wörterbuch der Rhetorik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), 7–20.] 21 Ein breites Spektrum mit Literatur bringen, wenn auch in den Länderkapiteln recht uneinheitlich, die jeweils von mehreren Autoren verfaßten Großartikel: ‚Rede‘ in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7 (2005), 698–790, und ‚Rhetorik‘, in: ebd. 1423–1739; die beiden Artikel auch separat in Buchform: GERT UEDING (Hg.): Rhetorik, Darmstadt 2005; ferner E.-H. ROHLING: Art. ‚Beredsamkeit‘, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), 1455–1485. 22 Allein zum genus iudiciale findet man die langen Artikel: Forensische Rhetorik, Gerichtsrede, Juristenrede, Juristische Rhetorik, Rhetorische Rechtstheorie! 23 J AMES J. MURPHY: One thousand Neglected Authors. The Scope and Importance of Renaissance Rhetoric, in: DERS. (Hg.): Renaissance Eloquence (wie Anm. 15), 20–36; FRANZ J OSEF W ORSTBROCK/MONIKA K LAES/J UTTA LÜTTEN (Hg.): Von den Anfängen bis um 1200 (Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters 1), München 1992; MICHAEL D. REEVE: The Circulation of Classical Works on Rhetoric from the 12th to the 14th Century, in: C LAUDIO LEONARDI/ENRICO MENESTÒ (Hg.): Retorica e poetica tra i secoli XII e XIV, Perugia 1988, 109–124. Zu Monfasani siehe Anm. 8. – [Exzellent P ETER VON MOOS: La retorica, in: Lo spazio letterario del Medio evo I/2: La riproduzione del libro, hg. von GIORGIO C AVALLA, Rom 1993, 231–271.]

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geblichen tempo buio bekannt waren. So schuf erst Antonio Loschi in den Jahren 1392–1396 am Viscontihof in Mailand mit seiner ‚Inquisitio super XI orationes Ciceronis‘ eine Art Prototyp. Das Werk entstand just zu jener Zeit, als Pier Paolo Vergerio auch die erste (?) ciceronisch aufgeladene Rede hielt. Loschi erschien oft zusammen mit den antiken Kommentaren des Asconius Pedianus zu fünf Cicero-Reden. Sein Werk wurde bald durch ein ähnliches des Sicco Polentone imitiert (‚Argumenta super aliquot orationibus et invectivis Ciceronis‘; 1413).24 Der Typ hatte Zukunft, z. B. in den Scholien zur Rede ‚De lege Manilia‘ – ‘der’ klassischen Beratungsrede par excellence –, die Rudolf Agricola 1484 herausbrachte; ihr erster Teil ist der Grammatik, ihr zweiter aber bereits der Dialektik gewidmet.25 Die Humanisten verfaßten zunächst selbst keine neuen Rhetoriken, hatte man doch, ähnlich wie in der Geschichtsschreibung, die Texte der antiken Leitkultur selbst zu Verfügung. Die Herennius-Rhetorik, Ciceros ‚De inventione‘, Priscian etc. waren auch im Mittelalter verbreitet. Überhaupt kannte das Mittelalter mehr antike Texte als landläufig unter dem Bann der Humanisten-‘Scoperte’ angenommen wird: so auch Aristoteles’ Rhetorik, Ciceros Topik und ‚Partitiones oratoriae‘ sowie, jeweils unvollständig, dessen ‚De orator‘ und Quintilians ‚Institutio oratoria‘. Nicht die Anzahl der verfügbaren antiken Texte machte den Unterschied. Doch setzte die Entdeckung des Codex Laudensis (Lodi) 1422 durch Gherardo Landriani sicherlich einen Markstein, enthielt er doch den vollständigen Text von ‚De oratore‘ den ‚Orator‘ und den bis dahin gänzlich unbekannten ‚Brutus‘. Erst phasenverschoben wie die griechische Literatur überhaupt wurden die griechisch- byzantinischen Rhetoriktheoretiker und die klassischen Oratoren wie Demosthenes, Aischines, Libanios etc. adaptiert. So sollte es der griechische Italienemigrant Georg von Trapezunt sein, der 1433/34 die erste neue Rhetorik der Renaissance verfaßte. In seine

24

MONFASANI: Humanism and Rhetoric (wie Anm. 8), 188 f.; DERS.: (Hg.): Collectanea Trapezuntiana: Texts, Documents, and Bibliographies of George of Trebizond (Medieval and Renaissance Texts and Studies 25 = Renaissance Text series 8), Binghampton (NY) 1984, 463 f.; P ETER MACK: Renaissance Argument. Valla and Agricola in the Traditions of Rhetoric and Dialectic (Brill’s Studies in Intellectual History 43), Leiden 1993, 16 f.; PETER L. SCHMIDT: Die Rezeption von Ciceros politischer Rhetorik im frühen Humanismus, in: P LETT (Hg.): Renaissance-Rhetorik (wie Anm. 3), 23–42, hier 34 f. Loschi benutzte auch ausgiebig den – vor Poggios Wiederentdeckung 1416 unvollständigen – Quintilian, siehe JOACHIM C. CLASSEN: Quintilian and the Revival of Learning in Italy, in: Humanistica Lovaniensia 43 (1994), 77–98, hier 85–89. [DERS.: Antike Rhetorik im Zeitalter des Humanismus (Beiträge zur Altertumskunde 182), Leipzig 2003.] 25 LUTZ C IAREN/J OACHIM HUBER: Rudolf Agricolas Scholien zu Ciceros Rede De lege Manilia. Zu Typologie und Verfahren des humanistischen Autorenkommentars, in: W ILLHELM KÜHLMANN (Hg.): Rudolf Agricola 1444–1485. Protagonist des nordeuropäischen Humanismus zum 500. Geburtstag, Bern/Berlin 1994, 147–180.

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‚Rhetoricorum libri quinque‘26 integrierte er auch griechische Theoretiker, vor allem Hermogenes, und baute zukunftsträchtig die Brücke von der Rhetorik zur Dialektik. Auf Trapezunt und Lorenzo Valla baute das monumentale Opus des Rudolf Agricola, ‚De inventione dialectica‘ (1480), auf, des ersten deutschen Humanisten mit europäischem Ruf, und erlebte zahlreiche Auflagen.27 Die erste deutschsprachige Rhetorik erschien wenig später: Friedrich Riederers ‚Spiegel der waren Rhetoric‘ von 1493.28 Die große Zeit der Rhetorikhandbücher sollte dann das 16. Jahrhundert sein, mit Melanchthons Rhetoriken ab 1519/22 oder den besonders zahlreich in England verfaßten Texten.29 Besonders intensiv beschäftigte sich die historische wie die systematische Rhetorikforschung mit jenem Verhältnis von Rhetorik und Philosophie/sc. Dialektik, das bereits anklang. In den Anfängen des Humanismus schien noch viel auf Unvereinbarkeit hinzudeuten. Lorenzo Valla vergleicht die Philosophie mit einem „gemeinen Soldaten“, der unter der Rhetorik als General dient. Die Redner wüßten viel besser als die Dialektiker, wie man ein Problem diskutierte, denn die Rhetorik sei „Königin der Dinge“.30 Die Gemeinsamkeit liegt jedoch auf der Hand: Interesse an 26

MONFASANI: Humanism and rhetoric (wie Anm. 8) 189–192; DERS.: George of Trebizond. A Biography and a Study of his Rhetoric and Logic (Columbia Studies in the Classical Tradition 1), Leiden 1976; MONFASANI: Collectanea (wie Anm. 24). 27 RUDOLF AGRICOLA: De inventione dialectica, hg. von LOTHAR MUNDT, Tübingen 1992. Literatur zu Agricola: JOHN MONFASANI: Lorenzo Valla and Rudolph Agricola, in: Journal of the History of Philosophy 28 (1990), 181–200; MACK: Renaissance Argument (wie Anm. 24) 117–279. Hingewiesen sei auf die Personen- und Bildungsgeschichte verschmelzenden Studien des unvergessenen AGOSTINO SOTTILI: Notizie per il soggiorno in Italia di Rodolfo Agricola, in: FOKKE AKKERMAN/ARJO J. VANDERJAGT (Hg.): Rodolphus Agricola Phrisius 1444–1485 (Brill’s Studies in Intellectual History 6), Leiden u. a. 1988, 79–95; DERS.: Die humanistische Ausbildung deutscher Studenten an den italienischen Universitäten im 15. Jahrhundert: Johannes Löffelholz und Rudolf Agricola in Padua, Pavia und Ferrara, in: DANIELA HACKE/B ERND ROECK (Hg.): Die Welt im Augenspiegel. Johannes Reuchlin und seine Zeit (Pforzheimer Reuchlinschriften 8), Stuttgart 2002, 67–132; wieder in DERS.: Humanismus und Universitätsbesuch/Renaissance Humanism and University Studies (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 26), Leiden/Bosten 2006, 211–297. 28 FRIEDRICH R IEDERER: Spiegel der waren Rhetoric uß M. Tulio C. und andern getütscht. Freiburg im Breisgau 1493; dazu Überblick bei KNAPE: Allgemeine Rhetorik (wie Anm. 19) 207–238; Textsammlung: Rhetorica deutsch. Rhetorikschriften des 15. Jahrhunderts, hg. von JOACHIM KNAPE/BERNHARD ROLL (Gratia 40), Wiesbaden 2002. [Jetzt J OACHIM KNAPE/STEFANIE LUPPOLD (Hg.): Friedrich Riederer: Spiegel der wahren Rhetorik 1493 (Gratia 45), Wiesbaden 2009.] 29 Zu Melanchthon: J OACHIM KNAPE (Hg.): Philipp Melanchthons ‚Rhetorik‘ (Rhetorik-Forschungen 6), Tübingen 1993; dazu kritisch: LOTHAR MUNDT in: Daphnis 25 (1994), 494–505. Vgl. zu England statt breiter Angaben SKINNER: Reason (wie Anm. 2); sowie unten Anm. 78. 30 Zitate: LORENZO VALLA: De voluptate, in: Opera omnia, hg. von E UGENIO GARIN (Monumenta politica et philosophica rariora. Ser. I/5), Turin 1962 (ND der Ausgabe

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gutem Argumentieren! Valla zielte auf eine Reform der aristotelisch-spätscholastischen Logik ab (und als Fernziel auf eine Reform der Theologie auf der Basis eines philologisch gereinigten Bibeltexts); er versuchte, „sie auf den Gebrauch des klassischen Lateins zu begrenzen und sie mit der Disziplin der Rhetorik zu verbinden, wenn nicht gar sie auf diesen professionellen Kern [...] zu reduzieren.“31 Es ging um eine Rhetorisierung der Dialektik. Die Frage, was dies eigentlich in praxi bedeute, kann aus Überlegungen über die ‘Funktion’ von Rhetorik nicht ausgeklammert werden. Petrus Ramus († 1572) schloß dann konsequent inventio und dispositio aus der Rhetorik aus und wies sie der Dialektik zu. Eine solcherart amputierte, auf die elocutio beschränkte Rhetorik schien nicht mehr als eine reine Stillehre zu sein. Tatsächlich war es nach Valla und Agricola gerade Ramus, der Rhetorik und Dialektik in Richtung auf ein genuines, topisches Philosophieren zusammenzuführen suchte. Die Trennung von Dialektik und Rhetorik hat etwas Künstliches und dennoch Grundsätzliches. Es ist zu fragen, ob sie mit dem – vermeintlichen – Gegensatz von diskursiver und zeremonialer Oratorik übereingeht, wie er im Folgenden mehrfach begegnen wird.

2. Politische Oratorik: Renaissance-Rhetorik in Funktion Es geht zunächst um die Orte, also um Topik im weitesten Sinne. Topik ist hier zum einen im klassischen Sinn als Kunde von den Auffindungsorten der Argumente zu verstehen, zum anderen aber im funktionalen Sinn als Kunde von den Orten der Rede, davon also, in welchem Raum und Rahmen und zu welchem Anlaß geredet wird. Diese ‘Topik’ war implizit durch die drei klassischen genera dicendi schon vorgegeben, die freilich idealtypisch sind und Überlappungen nie ausschließen. Naheliegenderweise wird man hier zunächst dem ‘politischen’ genus deliberativum die meiste Aufmerksamkeit schenken.32 Zu fragen ist: An welchen Orten haben HumanisBasel 1540), Bd. 1, 907 und 960. Zum Verhältnis Rhetorik/Dialektik siehe die Literatur zu Georg von Trapezunt und Rudolf Agricola in Anm. 27 sowie grundlegend: CESARE VASOLI: La dialettica e la retorica dell’Umanesimo. ‘Invenzione’ e ‘Metodo’ nella cultura del XV e XVI secolo (I fatti e le idee. Saggi e Biografie 174), Mailand 1968, und MACK: Renaissance Argument (wie Anm. 24); DERS.: Humanist Rhetoric and Dialectic (wie Anm. 15), passim. 31 P AUL O. KRISTELLER: Acht Philosophen der italienischen Renaissance, Weinheim 1986 (engl. 1964) 30. 32 HANS J. SCHILD: Art. Beratungsrede, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992) 1441–1454; ENGELS: Genera causarum (wie Anm. 4); INGO B ECK: Untersuchungen zur Theorie des Genos symbuleutikon, Hamburg 1970; J OSEF KOPPERSCHMIDT: Rhetorik als Medium der politischen Deliberation: z. B. Aristoteles, in: DERS. (Hg.): Politik (wie Anm. 18), 74–101; VIRGINIA COX: Machiavelli and the ,Rhetorica ad Herennium‘.

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ten politisch geredet? Haben Humanisten dabei orts- und anlaßbezogen auch neue Redeformen geschaffen oder angeregt? Inwieweit sind traditionelle, zeremoniell eingebundene Reden durch humanistische elocutio neu gefaßt, verändert oder fermentiert worden und sind dabei auch ‘poietisch’ neue Formen entstanden? Zur Topik hat zum Beispiel Dieter Mertens ein Spektrum von Orten der „Rede als institutionalisierte Kommunikation“ in erhellender Weise entwickelt.33 Es fehlt aber durchweg noch an Übersichten, an reiner Materialerschließung großer Textmengen: Eine Durchsicht von Kristellers sechsbändigem ‚Iter italicum‘ (den man wie ein spannendes Buch lesen kann) zeigt, wie abundant Briefe (epistulae) und Reden (orationes) als die auch prozentual gesehen hauptsächlichen Gattungen der meisten Humanisten handschriftlich überliefert sind. Es fehlt aber auch an Konzepten. Vielversprechend, bis hin zum Titel in unsere Überlegung treffend, war seinerzeit Hans-Ulrich Gumbrechts Studie über Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der französischen Revolution (1978). Er versuchte die damals aktuelle (und heute keineswegs obsolete) Rezeptionsästhetik und Textpragmatik für die Analyse politischer Versammlungsoratorik fruchtbar zu machen. Leider wurde dieser Ansatz weder von Gumbrecht selbst weiter ausgebaut noch, soweit ich sehe, von anderen aufgegriffen. Den zweiten aus meiner Sicht sehr wichtigen Ansatz brachte Thomas Bisson in seinem Aufsatz ‚Celebration and Persuasion‘. Er stellt die grundsätzliche Frage nach dem Ort (Rahmen) von Reden, nach dem Verhältnis und den Überlappungen, sowohl funktional wie typologisch, von zeremonialer und persuasiver Versammlungsrede. In der aktuellen, immer weiter expandierenden Forschung zu Ritual und Zeremoniell, etwa im Münsteraner Sonderforschungsbereich Nr. 496, spielt Oratorik im hier skizzierten Sinne jedoch eine relativ geringe Rolle. Die Funktion der Oratorik würde sich auch sinnvoll in die weiterführenden Überlegungen zum politischen Verfahren als Konsensgarantie, unter anderem auf Ständeversammlungen, und den Bedingungen seiner legitimationssichernden Autonomie einfügen.34 – Eine Rede dauert. Vielleicht sollDeliberative Rhetoric in ‘The Prince’, in: The Sixteenth-Century Journal 28 (1997), 1109–1141. 33 MERTENS: Rede als institutionalisierte Kommunikation (wie Anm. 10). 34 HANS-U LRICH GUMBRECHT: Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer historischen Textpragmatik, München 1978; THOMAS N. B ISSON: Celebration and Persuasion. Reflections on the Cultural Evolution of a Medieval Consultation, in: Legislative Studies Quarterly 7 (1982), 181–209. Die Beiträge von B ARBARA STOLLBERG-R ILINGER: Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: JOHANNES KUNISCH (Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 21), Berlin 1998, 91–132; DIES.: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunika-

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te man noch stärker beachten, daß Reden als durative Elemente zum Ritual öffentlicher politischer wie höfischer Kommunikation gehören, ja, als actio von einer gewissen Dauer, selbst per se Ritual, „ceremonial oratory“, sind.35 Die Forschung scheint sich hingegen weitgehend darin einig, daß die kommunale Politik der italienischen Stadtstaaten besonders früh, seit dem 13. Jahrhundert, einen neuen Bedarf an contionaler Redepraxis herausbildete. Er schlug sich in Lehr- und Mustersammlungen (artes arengandi), dann auch in genuin politisch generierter Schriftproduktion wie den Protokollen kommunaler Versammlungen, z. B. den florentinischen consulte e pratiche, nieder.36 Zur epideiktischen Rede37 liegen immerhin zwei wichtige Studien vor; wenigstens hier wurde das Textmaterial systematisch erfaßt. John O’Malley untersuchte 160 geistliche Reden in sollemniis missae coram papa am

tion in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), 384–413 (Literatur); sowie besonders DIES.: Einleitung, in: DIES.: (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 25), Berlin 2001, 9–25. Vgl. auch unten bei Anm. 53–55. 35 Aus uferloser Literatur seien hier nur Beispiele zu Hofzeremoniell und -rhetorik genannt: FRIEDMANN HARZER/GEORG BRAUNGART: Art. Höfische Rhetorik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3 (1996), 1454–1476; GEORG BRAUNGART: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus (Studien zur deutschen Literatur 96), Tübingen 1988, hier 124–136 zum Typus der ‘Landtagsrede’; HEDDA RAGOTZKY/HORST W ENZEL (Hg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990; WERNER P ARAVICINI (Hg.): Zeremoniell und Raum (Residenzenforschung 6), Sigmaringen 1997. – Ein anregender Versuch zur höfischen Standesrede der ‘cortesia’ beim Adel des Languedoc: J AN RÜDIGER: Aristokraten und Poeten. Die Grammatik einer Mentalität im tolosanischen Hochmittelalter (Europa im Mittelalter 4), Berlin 2001, bes. 191–222. 36 Aus der reichen Literatur nur die Angaben bei PETER KOCH: Art. Ars arengandi, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), 1033–1040, SABINE GREINER: Art. Rede IV. Neuzeit, Italien, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7 (2005), 718–724; HELMRATH: Art. Parlamentsrede (wie Anm. 5), 593 f. (Literatur); E NRICO ARTIFONI: Sull’eloquenza politica nel Duegento italiano, in: Quaderni Medievali 35 (1993), 57–78; [P ETER VON M OOS: Die italienische ‘ars arengandi’ des 13. Jahrhunderts als Schule der Kommunikation, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühenneuzeit (Wissensliteratur im Mittelalter 13), Wiesbaden 1993, 67–90]; ferner aus einer Serie wichtiger Aufsätze von ULRICH MEIER: „Nichts wollen sie tun ohne die Zustimmung ihrer Bürger.“ Symbolische und technische Formen politischer Verfahren im spätmittelalterlichen Florenz, in: B ARBARA STOLLBERG-R ILINGER (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (wie Anm. 34), 175–207. 37 MERTENS: Rede als institutionalisierte Kommunikation (wie Anm. 10), 412: „Die epideiktische Rede hat die größtmögliche Nähe zum Ritual. Hier schreibt die Gesellschaft nicht nur das Ritual der Anlässe, das Ritual ist nicht nur das Formalprinzip öffentlicher Rede, bei der epideiktischen Rede ist es auch das Materialprinzip.“

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Hof der Renaissancepäpste, sein Schüler John McManamon ca. 370 Grabreden, die bereits angesprochen wurden.38 Eine wichtige politische Funktion übernahm die epideiktische Rede – durchaus traditionell, auch schon in den artes arengandi – als Teil des Adventus-Zeremoniells, beim solennen städtischen Empfang von Herrschern. Die Rede ist hier in besonderer Weise ortsgebunden. Gerrit Jasper Schenk unterscheidet dabei zwei Typen: a) die oft sehr kurze Begrüßungsrede (am Stadtrand oder in der Stadt unter freiem Himmel), b) die ausladendere, rhetorisch elaborierte Fest- und Prunkrede.39 Diese grobe Differenzierung gilt keineswegs nur für Adventus-Reden, sondern, wie zu sehen sein wird, auch für politisch-‘parlamentarische’ Reden. Ein Beispiel für den ersten Typ bildet die Serie von (Humanisten-) Reden, die während der Romzüge der Kaiser Sigismund 1432/3340 und Friedrich III. 1451/52 und 1468 gehalten wurden. Zusammenhängend analysiert wurden sie bislang nicht.41 In der Regel handelt es sich um recht kurze Empfangsreden. Friedrichs III. Städte-Itinerar auf der Reise von Venedig nach Rom ist zugleich ein Itinerar der Reden. Ich zähle bisher unsystematisch 13 Humanisten, die im Dienst der Städte, wo sie tätig waren, als Redner oder als Verkünder von Grußadressen auftraten, darunter so prominente Persönlichkeiten wie

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J OHN O’MALLEY: Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine, and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 3), Durham 1979; JOHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory (wie Anm. 12). Siehe auch STEFAN MATUSCHEK: Art. Epideiktische Beredsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), 1258–1267. 39 GERRIT J. SCHENK: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich (Beihefte zu Johann F. Böhmer. Regesta imperii 21), Köln/Weimar 2003, hier 403–447, bes. 403. Vgl. ALBERT B REMERICH-VOS: Art. Begrüßungsrede, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), 1422–1430, sonst für die Renaissance wenig ergiebig: hier 1426; ROLF EIGENWALD: Art. Festrede, in: ebd. 3 (1996), 257–259. Zum Genre der Festrede, mit antiken und zeitgeschichtlichen Beispielen: JOSEF KOPPERSCHMIDT/M ICHAEL SCHANZE (Hg.): Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, München 1999. 40 Das erstaunliche Beispiel einer griechischen Rede auf einer Ulmer Reichsversammlung: HERBERT HUNGER/HERBERT WURM: Isidoros von Kiew. Begrüßungsansprache an Kaiser Sigismund (Ulm, 24. Juni 1434), in: Römische Historische Mitteilungen 38 (1996), 143–180, mit Edition und deutscher Übersetzung. 41 MARIE-LOUISE FAVREAU-LILIE: Vom Kriegsgeschrei zur Tanzmusik. Anmerkungen zu den Italienzügen des späteren Mittelalters, in: BENJAMIN Z. KEDAR/ J ONATHAN R ILEYSMITH/RUDOLF H IESTAND (Hg.): Montjoie. Studies in Crusade History in Honor of Hans Eberhard Mayer, Aldershot 1997, 213–233; zu den Romzugsreden 1432/33 und 1451/52: 223–225. Zu 1451/52 reiches Material bei AGOSTINO SOTTILI: Der Bericht des Johannes Roth über die Kaiserkrönung von Friedrich III., in: STEPHAN FÜSSEL/KLAUS A. VOGEL (Hg.): Deutsche Handwerker, Künstler und Gelehrte im Rom der Renaissance. (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 15/16), Wiesbaden 2001, 46–100.

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Pietro Barbo in Padua, Guarino Guarini in Ferrara,42 Niccolò Perotti, Bischof von Siponto, in Bologna, ferner Francesco Filelfo, Taddeo Quirini, Bernardo Giustiniani, zuletzt Juni 1452 in Rom Poggio Bracciolini, der päpstliche Sekretär. Für den versammlungsgeschichtlich wichtigen Bereich der Hofrhetorik, insbesondere der Herrscherrede, sind bislang nur vereinzelt Untersuchungsansätze zu sehen, so zu den gelehrten Reden und Predigten König Roberts von Neapel († 1343), der nicht ohne Grund Petrarca vor seiner Dichterkrönung prüfte.43 Zeremonialreden von Herrschern finden sich in singulärer Dichte in Eröffnungsreden aragonesischer Könige vor den Corts, den katalanischen Ständen, französischer Könige vor den États généraux und vor dem Pariser Parlement.44 Überhaupt kann man sagen: die Eröffnungsrede ist in der Regel Sache der Regierung, des Monarchen. Robert von Anjou als redender Fürst war dennoch eine große Ausnahme. Denn es entsprach eigentlich nicht der Regel, daß der Herrscher selbst persuasive Reden hielt, er ließ vielmehr andere für sich reden. Redefreudige Herrscher wie Friedrich I. Barbarossa († 1190), der Luxemburger Sigismund († 1437), Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg († 1486) wird man eher als Naturtalente bezeichnen. Die Rhetorisierung des Politischen in der Renaissance und die verstärkte Funktionalisierung der Antike für die monarchische Legitimation und Performanz führten freilich auch zu einem neuen Herrscherbild, dem princeps eloquens. Ein frühes Beispiel findet sich im 1443 entstandenen Dialog ‚Pentalogus‘ des Enea Silvio Piccolomini; er stand in der Tradition der Fürstenspiegel, vermittelt aber gerade was die Oratorik betrifft eine neue Programmatik. Der Humanist ermahnt den wortkargen Kaiser Friedrich III. eindringlich, selbst öffentlich zu reden. Die Rede tue seiner Majestät keinen Abbruch. Vielmehr verleihe der Autoritätsvorsprung des Monarchen auch seiner Rede per se eine viel stärkere Aura und Überzeugungskraft.45 Auf einer 42

Die ‚Oratio Guarini ad Federicum imperatorem‘ von 1459 umfaßt ganze 8 Zeilen; Venedig, Museo civico Correr, doc. Cicogna 183 (3341) fol 44 v. 43 DARLEEN PRYDS: ‘Rex praedicans’: Robert d’Anjou and the politics of preaching, in: J ACQUELINE HAMESSE (Hg.): De l’homélie au sermon. Histoire de la predication médiévale, Louvain 1993, 239–262; DIES.: The King Embodies the Word: Robert d’Anjou and the Politics of Preaching (Studies in the History of Christian Thought 93), Leiden 2000. 44 Siehe dazu unten bei Anm. 66–79. Vgl. auch GABOR ALMÁSI: Humanisten bei Hof. Öffentliche Selbstdarstellung und Karrieremuster, in: M AISSEN/W ALTHER (Hg.): Funktionen des Humanismus (wie Anm. 9), 155–165; HARRIET RUDOLPH: Humanistische Feste? Habsburgische Festkultur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: ebd. 166–190. 45 Nec te in maiestatis throno sedentem loqui dedeceret, quin potius ad magnum splendorem summamque laudem tibi cederet [...]. Nam etsi dici hec omnia per alium possint, plus tamen momenti habet oratio principis maioremque venustatem. Summissus quicumque personam principis orando induit, nunquam in tantum disertus videbitur, quin

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Reichsversammlung solle er versuchen, die Fürsten redend für seine Ziele, etwa die Italienpolitik, zu gewinnen.46 Friedrich III. († 1493) wurde trotzdem nie ein Imperator eloquens. Sein Sohn Maximilian I. († 1519) hingegen war dann schon selbst rhetorisch gebildet und sollte dem Ideal tatsächlich in verschiedenen Reden vor Reichsversammlungen nahe kommen.47 Man wird diesen Trend auch in den grundsätzlichen Wandel der Hofkultur vom ritterlichen Ideal der curialitas zum Ideal des rundum, auch humanistisch, gebildeten, elegant konversierenden und komplimentierenden Höflings einzuordnen wissen: des Cortegiano, wie er in Baldassare Castigliones gleichnamigem Werk (gedruckt 1528) seine gültige Gestaltung gefunden hat. Zum Unterricht an den Universitäten und den Humanistenschulen, wo Rhetorik eine für die Diffusion des Humanismus besonders wichtige Funktion besaß, förderte Robert Black48 jüngst nach genauester Analyse der calunniis subiaceat. Sermo autem principis nunquam ita tenuis est, quin laudetur. Nec, cum loquitur princeps, reddere habet docilem vel attentum auditorem; nunquam defatigat eius oratio, nunquam longior est. Unum si verbum sententiosum ab eo sit dictum, totum per annum in ore vulgi est. Quidquid rex dicit, quasi oraculum dei magni excipitur; [Eneas Silvius Piccolomini: Pentalogus, hg. von CHRISTOPH SCHINGNITZ (Monumenta Germaniae Historica. Staatsschriften des späteren Mittelalters 8), Hannover 2009, 68 und 92]; Aeneae Sylvii postea Pii II. pont. max. Pentalogus de rebus ecclesiae et imperii, in: Thesaurus anecdotorum novissimus, hg. von B ERNARDUS PEZIUS, Bd. IV.3, Augustae Vindelicorum et Graecii 1723, 637–744, hier 647A. 46 Enea bringt dann gleich den Text einer Musterrede, wie sie der Kaiser zu diesem Anlaß halten könnte und läßt den Bischof von Freising, Nicodemus della Scala, sagen: Orationem hanc, si tute, rex, habueris, longe magis proficies, quam si alter nomine tuo peroraverit. Miras enim vires vox principis habet et nescio quid latentis energie. Animi omnium, qui te audient, in spem miram erigentur teque Germani omnes Alexandrum alium extimabunt; [Eneas Silvius Pentalogus, hg. von SCHINGNITZ (wie Anm. 45), 262; Text der Musterrede: 250–262.] Aeneae Sylvii Pentalogus, hg. von PEZ (wie Anm. 45) 718A; siehe auch Teiledition des Pentalogus, in: Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter, hg. von LORENZ W EINRICH (Freiherr vom Stein-Gedächtnis-Ausgabe 39), Darmstadt 2001, hier 254–267. Vgl. dazu JOHANNES HELMRATH: Studien zu Reichstag und Rhetorik. Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1454/55, Habil. Schrift Köln 1995, Bd. 1, 135–141; zuletzt anregend: W OLF ERIC W AGNER: Princeps litteratus aut illiteratus? Sprachfertigkeiten regierender Fürsten um 1400 zwischen realen Anforderungssituationen und pädagogischem Humanismus, in: FRITZ P. KNAPP/J ÜRGEN MIETHKE /M ANUELA N IESNER (Hg.): Schriften im Umkreis europäischer Universitäten um 1400. Lateinische und volkssprachige Texte aus Prag, Wien und Heidelberg (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 20), Leiden/Boston 2004, 141–177, hier 164–166. 47 Vgl. J OHANNES HELMRATH: Reden auf Reichsversammlungen im 15. und 16. Jahrhunderts, in: LOTTE KERY/D IETRICH LOHRMANN/HARALD MÜLLER (Hg.): Licet praeter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag, Aachen 1998, 266–286, hier 281 f. 48 ROBERT B LACK: Humanism and Education in Medieval and Renaissance Italy. Tradition and Innovation in Latin Schools from the Twelfth to the Fifteenth Century, Cambridge 2001. Zum Rhetorikunterricht an Universitäten siehe etwa A GOSTINO SOTTILI: Der Rhetorikunterricht an der Universität Pavia in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun-

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Lehrbuchhandschriften geradezu Ernüchterndes zutage. Hier wurde viel mehr ‘Mittelalter’ traktiert als man annehmen mochte. Kein anderer als der humanistische Spitzenlehrer Guarino führte das Doctrinale wieder ein, jene berüchtigte Versgrammatik des Alexander de Villa Dei aus dem 13. Jahrhundert. Im übrigen benutzten Humanisten viele antike Lehrbücher, die man auch zuvor im Mittelalter verwendet hatte. Blacks eigenes Humanismusbild gerät hier freilich in eben jenem engsten Sinne ‘funktional’, nämlich materialistisch: sieht er doch als Movens des Handelns geradezu ausschließlich die Konkurrenz um Posten und Pfründen.

3. Parlamentsrhetorik: ein Forschungsprojekt Ein parlamentum ist ein Ort, an dem parliert, an dem geredet wird. Es ist ein lohnendes Ziel künftiger Forschungen, Ort und Funktion von politischer Rede und Kommunikation auf europäischen Reichs- und Ständeversammlungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit vergleichend zu untersuchen. Dabei können drei Forschungsfelder und -methoden zusammengeführt werden, die bisher isoliert arbeiteten: 1. komparatistisch verfassungstypologische Ansätze, wie sie etwa die 1934 gegründete International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions (ICHRPI) bis heute vertritt,49 2. die Rhetorikforschung, 3. die Ritual- und Zeremonialforschung. Zu untersuchen sind zunächst, unter Berücksichtigung ihrer sehr unterschiedlichen Genese und Konfiguration, die deutschen Reichstage, das englische Parliament, die französischen États generaux, die spanischen Corts und Cortes sowie der polnische Sejm, aber auch die französischen Parlements als redeträchtige Justizkörperschaften.50 Inwiefern liegen längere geformte Wortbeiträge, liegen Reden überhaupt vor? Welche Form der Verschriftlichung überliefert uns Reden und Mündlichkeiten? Welcher Ort kommt der politischen derts, in: UTE ECKER/CLEMENS ZINTZEN (Hg.): Saeculum tamquam aureum. Internationales Symposium zur italienischen Renaissance des 14. bis 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1997, 357–378; wieder in: DERS.: Humanismus und Universitätsbesuch (wie Anm. 27), 119–142. 49 Siehe den letzten Forschungsüberblick im Publikationsorgan der Commission von LLUIS M. DE P UIG: International Parliamentarism. An Introduction to his History, in: Parliaments, Estates & Representations 24 (2004), 13–62. Der komparatistische Elan tritt freilich in jüngerer Zeit deutlich zurück. Grundlegend bleibt hier: W IM P. B LOCKMANS: A Typology of Representative Institutions in Late Medieval Europe, in: Journal of Medieval History 4 (1978), 189–215. 50 Eine gründliche Gesamtdarstellung fehlt bis heute. Verdienstvoll immer noch ANTONIO M ARONGIU: Medieval Parliaments, a Comparative Study. Translated and adapted by S. J. W OOLF (Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions 32), London 1968 (zuerst ital. 1949).

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Rede in den verschiedenen Versammlungstypen jeweils im Rahmen eines mehr oder weniger entwickelten oder autonomen Tagungsprocederes zu? Vermag die Oratorik hier als Indikator für den Stand der Versammlungsgenese dienen? Welchen Stellenwert hat sie im Rahmen mündlicher Kommunikationsformen im weiteren Sinne (Umfrage, Debatten, Meinungsäußerungen als mündliche Formen der Akklamation oder des Mißfallens, d.h. Zwischenrufe etc.)? Welche Rolle spielt die Rede bei der Repräsentation konsens- und sinnstiftender politiktheoretischer Konzepte?51 Anregen ließ sich das Projekt nicht zuletzt von jenem antiken Theorem, welches besonders deutlich in Tacitus’ ‚Dialogus de oratoribus‘ formuliert ist. Es besagt, daß das Gedeihen der Rhetorik jeweils an die politische Verfassung nach dem Grad der herrschenden Freiheit gebunden sei, daß zumindest die politische Oratorik Streit und Konfliktforen (oratorum campus) geradezu benötigt, wie sie angeblich nur in einer unvollkommenen Gesellschaft – und nicht im herrschenden Prinzipat! – existieren (quae in bene constitutis civitatibus non oritur).52 Auf den Kerngedanken reduziert, bedeutet dies für unsere Überlegungen lediglich, daß Art und Zustand der Oratorik und Zustand von Verfassung und Regime sich gegenseitig bedingen. Hüten wird man sich, diese durchweg vormodern aristokratisch geprägten Versammlungen durch die anachronistische Brille moderner Parlamente mit geregelten Beratungs-, Legislativ- und Abstimmungsverfahren, geregeltem Rederecht oder gar der Vorstellung von einer institutionalisierten ‘Opposition’ zu verzerren. Insofern überwog die ‘zeremonielle’ Oratorik nach außen hin vielleicht die diskursive, und doch stehen beide untrennbar 51 Das Projekt wird jetzt an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 640 ‚Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Interkulturelle und intertemporäre Vergleiche‘ betrieben. Vgl. auch HELMRATH: Art. Parlamentsrede Mittelalter (wie Anm. 5), mit Literatur. [Siehe jetzt: JOHANNES HELMRATH/ J ÖRG FEUCHTER: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Politische Redekultur in der Vormoderne (Eigene und fremde Welten 9), Frankfurt am Main u.a. 2008, 9–22.] 52 Tac, dial. 40.2. Vgl. ebd. 39.2: Nam quo modo nobiles equos cursus et spatia probant, sie est aliquis oratorum campus, per quem nisi liberi et soluti ferantur, delibitatur ac frangitur eloquentia. Vgl. allgemein KONRAD HELDMANN: Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst. (Zetemata 77), München 1982. – Man höre noch HERDER mit Blick auf die deutsche Befindlichkeit sprechen: „Die Beredsamkeit wohnte nur da, wo Republik war, wo Freiheit herrschte, wo öffentliche Beratschlagung die Triebfeder aller Geschäfte war. [...] Da wir außer der Kanzel, auf der die Beredsamkeit in so kalter Luft ist, fast gar keine Gelegenheit zu öffentlichem Reden haben [...], da von jeher Deutschland das Vaterland des Ceremoniels und einer höheren Knechtschaft gewesen ist, so ist’s ja Torheit, Regeln einer Kunst zu suchen, wo die Kunst selbst fehlet.“; J OHANN G. HERDER: 42. Brief, das Studium der Theologie betreffend (1780/81), in: DERS.: Werke, hg. von BERNHARD SUPHAN, Bd. 11, Berlin 1879, 36. Mit ähnlich nationallamoryantem Tenor folgten ihm sowohl ADAM MÜLLER und W ALTER JENS.

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in einer subtilen Interdependenz. Diese abzuwägen hatte, von der Forschung bisher zuwenig wahrgenommen, Thomas N. Bisson versucht. Sein Ansatz ist weiterzuentwickeln. Er geht partiell mit demjenigen von Barbara Stollberg-Rilinger überein, den vermeintlichen, aber forschungsparadigmatisch wirksamen Gegensatz von „technisch-instrumentellen“ und „symbolisch-zeremonialen“ Implikationen von Geschäftsordnungen und politischen Verfahren aufzulösen.53 So darf man hoffen, daß die angestrebten Studien des Berliner Sonderforschungsbereichs auch die Verbindung zur immer noch expandierenden Forschung über politisches Zeremoniell, Ritual und Verfahren in Mittelalter und Früher Neuzeit herstellen. Bei der Erforschung von Rede und Kommunikation muß es also nicht nur um deren literarische, also inhaltliche Analyse gehen sowie um die Bewertung der individuellen Leistung der Redenden, sondern auch und besonders um die Situierung der Reden in den Kontext politischer Verfahren und Entscheidungsprozesse.54 Dies setzt eine Analyse des Versammlungsorts (Raumsituation, Position des Redners, Sitzordnung etc.), des oratorischen Orts im Procedere, des agierenden Gremiums und seiner Zusammensetzung (Plenum, Ausschuß, beratendes Council etc.), der Kommunikationsformen (Einzelrede, Debatte, Beratung etc.) voraus. Benutzt man den facettenreichen Begriff der Repräsentation, so könnte man von einer doppelten Repräsentation, und damit auch von einer doppelten Funktion sprechen: Erstens von der Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen durch Vertreter in den Versammlungen, zweitens von der Repräsentation ihrer Vorstellungen und Ordnungen in elaborierten Reden daselbst. Diese Repräsentationen konnten dabei, wie gesagt, auch persuasive, ja agonale Funktion erhalten (der Fürst hatte seine Steuerforderungen plausibel zu machen; der Sprecher der Stände konnte diese akzeptieren oder ablehnen; der Türkenredner setzte das Für und Wider des Krieges in einer Deliberativrede auseinander). Sie besaßen, davon nicht trennbar, ebenso zeremonielle Funktion, und diese Funktion ist schon wesentlich darin erfüllt, daß geredet wird, daß mithin, um auf Luhmann anzuspielen, Legitimität durch das Verfahren selbst erzeugt wird. Konsensuale Atmosphäre zwischen König und Ständen einerseits sowie der Stände untereinander andererseits zu erzeugen, – und sei es als rhetorische Fiktion –, war eine Hauptfunktion der parlamentarischen Sprechakte. Sie repräsentierten damit einen sinnstiftenden korporativen Synergismus von ‘König und Reich’ oder des ‘King in Parliament’ etc. Denn auch das englische Parlament war, 53 B ISSON: Celebration and Persuasion (wie Anm. 34); BARBARA STOLLBERGR ILINGER: Einleitung, in: DIES.: Vormoderne politische Verfahren (wie Anm. 34), 9–25, hier 9 und passim, sowie weiterführend MICHAEL S IKORA: Der Sinn des Verfahrens. Soziologische Deutungsangebote, in: ebd. 25–52. 54 Siehe Anm. 34–35.

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als Repräsentation, mehr „Erweiterung der königlichen Ratsregierung als eine Antithese“ zu ihr.55 3 a. Die Reichstage als Foren politischer Oratorik: Enea Silvio Piccolomini und die Türkenreden Die oratorische Forumsfunktion der Reichsversammlungen läßt sich, seit im frühen 15. Jahrhundert Redetexte überhaupt überliefert sind, in der folgenden Formel zusammenfassen: Von der scholastischen Traktatrede der Konzilszeit über die humanistische Aktionsrede (Türkenrede) zum verschriftlichten Verfahren des 16. Jahrhunderts, welches der Oratorik nur mehr die standardisierten „Basisakte“ (Braungart) zugestand. Zu ihnen gehören üblicherweise die Eröffnungs- und Schlußrede, die Gesandtenrede – hier betritt man im übrigen das weite Feld Rhetorik und Diplomatie56 – und die, wie zu zeigen ist, fast obligat gewordene Türkenrede.57 Funktion und Typik der Reden laufen also parallel mit der wachsenden prozessualen Formierung des Reichstags. Freilich war in Gestalt der schier endlosen Traktatrede, wie sie ein Nicolaus Panormitanus oder Johann von Segovia für die konziliare, ein Nikolaus von Kues für die römische Seite auf Reichsversammlungen 1439 bis 1446 hielten, die scholastische Disputation und ihr agonales Prinzip von Rede und Gegenrede in einer neuen Weise öffentlich performativ geworden. So ist denn auch generell zu sagen: politische Versammlungsrede war auch in der Renaissance keineswegs nur Humanistenrede! Die Konzilien von Konstanz (1414–18) und Basel (1431–49) waren Diffusionszentren (für Handschriften und Ideen), Podien ‘scholastischer’ Rede wie in gewissem Sinne Experimentierbühnen für die neue ciceronianische Oratorik. In Basel erprobte der Humanist Gherardo Landriani, Bischof von Lodi, der Entdecker des ‚Codex Laudensis‘, seinen stilus novus et inusitatus (wie ein humanistischer Beobachter mit Begriffen aus Ciceros Rede ‚Pro Archia‘ 55

J AMES C. HOLT: The Prehistory of Parliament, in: RICHARD G. DAVIES/J EFFREY H. DENTON (Hg.): The English Parliaments in the Middle Ages, Manchester 1981, 22. 56 Beispiel: THOMAS HAYE: Die lateinische Sprache als Medium mündlicher Diplomatie, in: RAINER C. SCHWINGES/KLAUS W RIEDT (Hg.): Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen 60), Ostfildern 2003, 15–32; J OYCELYNE G. RUSSELL: Diplomats at Work. Three Renaissance Studies, Phoenix Mill 1992. 57 Vgl. die Versuche bei HELMRATH: Reichstagsreden des Enea Silvio (wie Anm. 46); DERS.: Rhetorik und ‘Akademisierung’ auf den deutschen Reichstagen im 15. und 16. Jahrhundert, in: DURCHHARDT/MELVILLE (Hg.): Spannungsfeld (wie Anm. 10), 423–445; DERS.: Reden auf Reichsversammlungen (wie Anm. 47), sowie oben Anm. 51. Erste Anregungen, die Reichstage auch als oratorisches Phänomen unter Einschluß des Humanismus zu würdigen bereits bei FRIEDRICH H. SCHUBERT: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 7), Göttingen 1966.

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feststellte).58 Hier, nicht erst in den von O’Malley untersuchten Meßpredigten am Hof der Renaissancepäpste, ist der wesentliche, auch poietisch neue, Wechsel von der Themen-Predigt zu einer epideiktischen Predigt von Lob und Tadel zu sehen. Der zweite Humanist auf der Basler Bühne war Enea Silvio Piccolomini († 1464), der hier in seinen drei frühesten bekannten Reden in den Jahren 1436 und 1438 den Weg zum bedeutendsten Redner seiner Zeit aufnahm.59 Dieser Weg gipfelte auf dem Türkenzugskongreß von Mantua 1459, wo er als Papst Pius II. vor dem Plenum und einzelnen europäischen Fürstengesandtschaften mehr als 25 Reden halten sollte, die textuell überliefert sind. Was die Reichstage betrifft, können wir den Einzug humanistischer Oratorik also recht genau bestimmen: Am Anfang war Enea Silvio. Am 16. Mai 1454 in Regensburg, dann wieder am 15. Oktober in Frankfurt, jeweils als Gesandter Kaiser Friedrichs III., rief er zum Türkenkrieg. Er war damit zugleich Exponent des okzidentalen Türkenschocks nach dem Fall Konstantinopels 1453, der vor allem rhetorisch ausagiert wurde. Die Reden des Enea Silvio/Pius’ II. sind – nicht zuletzt infolge des Papstnimbus – die mit Abstand am häufigsten überlieferten ihrer Zeit.60 Die Frankfurter Rede ‚Constantinopolitana clades‘ darf als ciceronische Modellrede par excellence verstanden werden.61 Vorbild war Ciceros Rede ‚De lege Manilia‘, bekannter als ‚De imperio Cn. Pompei‘, aus dem Jahr 58 J OHANNES HELMRATH: ‘Non modo Cyceronianus, sed etiam Iheronymianus’. Gherardo Landriani, Bischof von Lodi und Como, Humanist und Konzilsvater, in: FRANZ J. FELTEN/NIKOLAS J ASPERT (Hg.): Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag (Berliner Historische Studien 31 = Ordensstudien 13), Berlin 1999, 933–960, hier 942–951; DERS.: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz, in: LUDGER GRENZMANN/ KLAUS GRUBMÜLLER u.a. (Hg.): Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 3/263), Göttingen 2004, 9–54, hier 29–43. 59 Zu den Basler Reden HELMRATH: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption (wie Anm. 58) 38–43. 60 Die Mantuaner Rede ‚Cum bellum hodie‘ von 26. September 1459 läßt sich, in den letzten Zügen des Handschriftenzeitalters, in bisher rund 120 Manuskripten nachweisen (dazu kommen zahlreiche Drucke ab 1478), die Frankfurter Rede vom 15. Oktober 1454 rund 50 Mal. 61 J ÜRGEN B LUSCH: Enea Silvio Piccolomini und Giannantonio Campano. Die unterschiedlichen Darstellungsprinzipien in ihren Türkenreden, in: Humanistica Lovaniensia 28/29 (1979/80) 78–138; DIETER MERTENS: ‘Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra’. Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert, in: FRANZ-R AINER ERKENS (Hg.): Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 20), Berlin 1997, 39–58; HELMRATH: Reichstagsreden des Enea Silvio (wie Anm. 46) 190–280; DERS.: Pius II. und die Türken, in: BODO GUTHMÜLLER/W ILHELM KÜHLMANN (Hg.): Europa und die Türken in der Renaissance (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, 79–137, bes. 92–95. Siehe in diesem Band Nr. IX.

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66 v. Chr.62 Der Aufbau der beiden Reden ist in weiten Teilen analog. Man könnte sagen, es handelt sich dabei um Adaptation von Antike wie sie deutlicher kaum denkbar ist. Aber: Welches Interesse, welche Funktion konnte die Übernahme des Musters für Enea oder den Kaiser haben, den er als Orator vertrat? Was beabsichtigte er damit? Von einer Absprache, genau dieses ciceronische Modell zu wählen, kann sicherlich keine Rede sein. Es ist ja eine selbständige Transformation, ähnlich der in Brunis Laudatio Florentinae urbis, eine Art Neukontextualisierung einer politischen Situation, hier des alten Roms. Die causa orandi war 1454 in erster Linie der Türkenkrieg und nachrangig die Wahl eines Feldherrn, wie es parallel in De lege Manilia um den Krieg gegen die Piraten und die Betrauung des Pompeius mit dem Oberbefehl gegangen war. Und hier liegt, um eine oben gestellte Frage aufzugreifen, etwas auch poietisch Neues: es werden anläßlich einer brisanten Situation Hybridformen der Rede gebildet. In der sog. Türkenrede verbanden sich antike Elemente mit der alten scholastisch gliedernden Themenpredigt, die römische Beratungsrede im Stile Ciceros mit der mittelalterlichen Kreuzzugspredigt. Es ist gerade die hybride Verbindung zweier wiederbelebter Textsorten, die das Neue produziert. Im übrigen hatte Enea sich selbst als Redner und Humanist inszeniert, hatte Leistung gezeigt, auch dies eine der ‘Funktionen’ einer Rede. War aber an diesem Ort das aptum, waren Horizont und Erwartung des Publikums berücksichtigt, und das heißt: einiger lateinunkundiger deutscher Fürsten mit ihren – sehr lateinkundigen – gelehrten Räten und einer Handvoll Städtevertreter? Bestand da Bedarf? Seitens der zuhörenden deutschen Fürsten mit Sicherheit nicht. Für sie hätte Enea besser gleich Deutsch geredet, statt zwei Stunden auf Latein vor der Versammlung zu agieren und sich danach durch den gelehrten Bischof Ulrich Sonnenberger auf Deutsch paraphrasieren zu lassen. Das unmittelbare persuasive Ziel sollte die Rede verfehlen: die Fürsten zogen nicht gegen die Türken. Ob der von Enea genau hier eröffnete Germanendiskurs (Vos Germani) überhaupt schon verstanden wurde, wissen wir nicht. Neu war der Anspruch, überhaupt antikische oratio als oris ratio in der Tagespolitik des Reiches zu präsentieren, mithin den an sich selbst erhobenen (oder prätendierten) Anspruch der antiken Rhetorik ernst zu nehmen, durch deliberative Argumente zu überzeugen und im Zugriff auf die Affekte zu überreden. Und dies zeigte tatsächlich Wirkung, hier war Enea Pionier. Die Türkenrede als Deliberativrede auf Reichsversammlungen sollte sich künftig als Basisakt etablieren. Besonders – auch qualitativ – herausragend durch kaiserliche Indienstnahme humanistischer Oratoren und ebenso mediengeschichtlich interes62

RATH

[Edition künftig in: Deutsche Reichstagsakten, Bd. 19.2, hg. von J OHANNES HELM(im Druck) Nr. 16.]; Vgl. auch oben Anm. 25.

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sant ist der Augsburger Reichstag von 1518, Maximilians letzter. Er verdient genauere Untersuchung.63 Es finden sich bei den Zeitgenossen durchaus Reflexionen über die Funktion und Funktionalisierung der humanistisch fermentierten Versammlungsrede. Enea Silvios ‘parlamentarischem’ Enthusiasmus, der sich durch zahlreiche Reden mehr praktisch als in theoretischen Schriften äußerte, läßt sich zwei Generationen später die ironische Kritik des Erasmus, der selbst kein Redner war, gegenüberstellen. Im Ciceronianus von 1528 behandelt er im Rahmen einer satirischen ‘querelle’ das Problem der Imitatio, die Kanonisierung des ciceronischen Stils, dabei eben auch dessen Funktion (utilitas) in der Gegenwart und damit die Funktion von Antike bei öffentlichen Versammlungsreden überhaupt. Die Stelle verdient daher im Rahmen des Themas besondere Aufmerksamkeit. Erasmus spielt die möglichen Redeformen und -anlässe durch und kommt zu dem Schluß, daß Reden nach Art Ciceros in keinem Versammlungstyp, weder vor den Gerichten (iudicia) noch in Beratungsgremien (concilia), weder vor Volksversammlungen (contiones) noch in Synoden, sinnvoll oder möglich seien. Warum? Entweder die Beteiligten sind zu ungebildet, oder es mangelt schlicht an der nötigen Öffentlichkeit. Es gibt kein wirkliches theatrum! Das wirkt wie ein Abgesang nicht nur auf die Ciceromanie, sondern auf die Funktionalität humanistischer Rede überhaupt, die als anachronistisch und unangemessen abgetan wird: Doch so nützlich ciceronianische Beredsamkeit in früheren Zeiten war, wo hat sie heute noch einen praktischen Wert? Bei Gericht vielleicht? Dort werden die Verhandlungen nach Paragraphen und Formeln geführt, von Prokuratoren und Advokaten, die alles eher sind als Ciceronianer, und vor Richtern, in deren Augen Cicero ein Barbar wäre. Nicht viel größer ist ihre Brauchbarkeit bei Konferenzen, wo die einzelnen ihre Meinung in ein paar Worten sagen, und das auf französisch oder auf deutsch. [...] Welche Ratsversammlung brächte so viel Zeit und Geduld auf, Reden über sich ergehen zu lassen, wie er sie gegen Antonius hielt, obwohl in diesen sein rhetorischer Stil ohnehin reifer, einfacher und zuchtvoller ist? Zu welchem pragmatischen Zweck sollen wir uns also in so saurer Arbeit die ciceronianische Beredsamkeit erwerben? Für Volksreden vielleicht? Das gewöhnliche Volk versteht die Sprache Ciceros nicht, und es hat auch keinen Einfluß auf die Politik. Und für Synoden [sc. Synodalpredigten?] ist dieser Stil erst recht nicht geeignet. Wo bietet sich also noch eine Gelegenheit, ihn praktisch zu verwenden, außer vielleicht bei Gesandtschaften, deren Empfang sich in Rom vorzugsweise in lateinischer Sprache abspielt, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung und mehr aus Repräsentationsgründen als aus Gründen der Zweckmäßigkeit.

63

Vgl. zur Rede Pius’ II. HELMRATH: Reichstagsreden (wie Anm. 46), 281–284. [Zum Augsburger Reichstag 1518 siehe LUCAS RUEGER: Der Augsburger Reichstag von 1518 – ein Höhepunkt politischer Oratorik?, in: Politische Redekultur in der Vormoderne, hg. von FEUCHTER/HELMRATH (wie Anm. 51), 65–84.]

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Welches Publikum bleibt, laut Erasmus, übrig? „An welches Publikum soll sich also unser Ciceronianer wenden? Er wird im Stile Ciceros Briefe schreiben. An wen? An gebildete Leute.“ Was bleibt, ist also allenfalls die indirekte Kommunikation per Brief innerhalb der humanistischen Eliten-Corona, und selbst hier kommen, so Erasmus, nur wenige Unentwegte in Frage: ein paar cicerostigmatisierte Italiener (quattuor Italos, qui se nuper iactare coeperunt Ciceronianos).64 Hätte Erasmus die Redepraxis der politischen Gremien Frankreichs und Englands gekannt, der sich nun die letzten Kapitel zuwenden, hätte er seine Skepsis, wenn Satire dies könnte, mildern müssen. 3 b. Frankreich: États généraux und Parlements Frankreich besaß im 16. Jahrhundert eine elaborierte Kultur der politischen Rede. Will man die États als Orte politischer Oratorik in Mittelalter und früher Neuzeit untersuchen, steht man jedoch vor zwei Problemen. Das eine stellt sich bei fast allen europäischen Versammlungen: die dünne Dokumentation, insbesondere die geringe Zahl überlieferter Volltexte vor Ende des 15. Jahrhunderts. Das zweite Problem ist ein genuin französisches: die relative Seltenheit der États généraux nach 1450. Nur 1468 und 1484 fanden noch Versammlungen der États statt. Erst die Krise der Religionskriege führte ab 1560 wieder zu häufigerem Tagen, aber von 1614 bis 1788 wurden überhaupt keine États mehr einberufen. Eine systematische Analyse der États als Redeorte, als Foren politischen Zeremoniells und Verfahrens steht daher noch in den Anfängen.65 Zumindest für die zweite 64 Verum ut olim fuerit utilis eloquentia Ciceronis, hodie quis est illius usus?An in iudiciis? Ibi res agitur articulis et formulis per procuratores et advocatos quidvis potius quam Ciceronianos, apud iudices, apud quos barbarus esset Cicero. Neque multo maior esset usus in conciliis, ubi singuli paucis aperiunt, quod videtur idque Gallice aut Germanice. [...] Quis senatus tam otiosus, tam patiens, ut perpessurus sit orationes, quas dixit (sc. Cicero) in Antonium, cum in his tamen senilior sit, minus redundans, minus exultans eloquentia? Itaque cui tandem usui paramus hanc operosam Ciceronis eloquentiam? Num contionibus? Vulgus Ciceronis linguam non intelligit et apud populum nihil agitur de re publica. Sacris vero contionibus minime congruit hoc dicendi genus. Quis superest usus, nisi forte in legationibus, quae Romae praesertim Latine peraguntur ex more magis quam ex animo et magnificentiae causa quam utilitatis gratia. Quod igitur theatrum petet noster Ciceronianus? Scribet epistulas Ciceronianas. Ad quos? Ad eruditos; ERASMUS VON ROTTERDAM: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere, übersetzt und eingeleitet von THERESIA P AYR (Ausgewählte Schriften 7, hg. von W ERNER WELZIG), Darmstadt 1972, hier 205–209; siehe auch die Einleitung XXXIII–LIL. 65 J OCHEN HAFNER: Art. Parlamentsrede im romanischen Sprachraum, a: Frankreich, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), 617–623 (Literatur); methodisch avanciert, auch die Redeorte einbeziehend GERRIT W ALTHER: Der andere Körper des Königs. Zum politischen Verfahren der französischen Generalstände, in: STOLLBERGR ILINGER (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (wie Anm. 34), 417–447, hier 418 f.

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Hälfte des 16. Jahrhunderts scheint immerhin die Zahl erhaltener „Harangues“ (kunstvoller Reden, von lat. Arenga abgeleitet) so groß, daß systematische Untersuchungen möglich sind. Schon seit dem 14. Jahrhundert ragen insbesondere Reden der französischen Kanzler heraus, zum Beispiel die des Philippe Pot 1484 und die Serie der jüngst von Loris Petris neu edierten und interpretierten Reden des Michel de l’Hopital vor den États der Jahre 1560 bis 1562.66 So bieten sich methodisch zwei Erweiterungen des Spektrums der Redeorte an: a) um die États provinciaux, die Provinzialstände, die für sieben Regionen nachweisbar sind. Auch hier bestehen große Desiderate, ein Gesamtüberblick fehlt, wie für die États généraux, gänzlich;67 b) um die Parlements – in Frankreich eben nicht die ‘Parlamente’, sondern die im 13. Jahrhundert entstandenen königlichen Gerichtshöfe. Vielleicht noch mehr als die États waren die Parlements die Repräsentations- und Oratorikzentren der Monarchie. Als grundlegend gelten darf hier Marc Fumarolis Werk ‚L’Age de l’éloquence‘ (1980), eingeleitet übrigens mit fulminanter Polemik gegen den damals vorherrschenden Strukturalismus.68 Fumaroli macht generell zwei gegensätzliche Sprachräume aus: einerseits die Sprache des königlichen Hofs, der ‘Cour’, andererseits die Sprache des Parlement, des Palais, vor allem des dort gepflegten genus iudiciazur unbefriedigenden Forschungslage, zu den Reden bes. 440–442. Grundlegend: JOHN R. MAJOR: French Representative Assemblies. Research Opportunities and Research Published, in: The Monarchy, the Estates and the Aristocracy in Renaissance France (Collected Studies series 279), London 1988 (erstmals 1964). Noch unersetzt: GEORGES P ICOT: Histoire des États généraux considerés au point de vue de leur influence sur le gouvernement de la France de 1355 à 1614, 5 Bde., Paris 1872 (21888; ND Genf 1979) [Zuletzt J ÖRG FEUCHTER: Zur Oratorik der französischen Generalstände im späten Mittelalter und zu Beginn der frühen Neuzeit (1302–1561), in: FEUCHTER/HELMRATH (Hg.): Politische Redekultur (wie Anm. 51), 189–218] . 66 HELENE BOUCHARD: Philippe Pot et la democratie aux États généraux de 1484, in: Annales de Bourgogne 22 (1950), 33–40; Michel de l’Hopital, Oeuvres complètes, hg. von P IERRE J. S. DUFEY, Bd. 1, Paris 1824–1826, 375–411, 418–434, 441–458; Bd. 2, Paris 1824–1825, 9–10, 85–97. Zur Oratorik Hopitals jetzt exzellent LORIS PETRIS: La plume et la tribune. Michel de l’Hopital et ses discours (1559–1562); suivi de l’édition du ,De initiatione sermo‘ (1559) et des discours de Michel de l’Hopital (1560–62) (Travaux d’humanisme et Renaissance 301), Genf 2002. 67 Vgl. MICHEL HEBERT: Le theâtre de l’état: rites et discours dans les assemblées provençales de la fin du Moyen Age, in: Historical Reflections 19 (1993), 267–278. 68 MARC FUMAROLI: L’Age de l’éloquence. Rhétorique et ‘res litteraria’ de la Renaissance au seuil de l’époque classique (Centre de recherches d’histoire et de philologie 5 = Hautes Etudes médiévales et modernes 43), Genf 1980 (ND Paris 2002), bes. 427–584. Vgl. DERS.: Aulae Arcana. Rhétorique et Politique à la Cour de France sous Henri III et Henri IV, in: Journal des Savants (1981), 137–187. Fumaroli wertet eine breite Anzahl alter Drucke aus, ist aber rein literaturgeschichtlich, kaum an der parlamentarischen Praxis interessiert; zu diesem zentralen Aspekt siehe indessen W ALTHER: Der andere Körper (wie Anm. 65).

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le. Redeträchtig – neben den eigentlichen Plädoyers – waren in den Parlements wie in anderen Versammlungen zumeist die Eröffnungssitzungen, hier die hochzeremoniellen sogenannten Lits de justice, meist mit einer Rede des Königs oder des Kanzlers.69 Beherrscht wurden die Parlements von einer weitgehend bürgerlichen Juristenklasse (noblesse de robe). Sie bildeten eine sozial und intellektuell homogene Funktionselite, wie es sie sonst in Europa nicht gab, und die für entsprechende Indienstnahme, auch für den Humanismus, offenstand. „C’est cette élite de magistrats“, so Fumaroli, „intellectuelle par son appartenance à la Republique des lettres, sociale et politique par les hautes charges, qu’ elle occupe au Palais et eventuellement à la Cour, qui est pour ainsi dire la colonne vertebrale (!) de l’humanisme français.“70 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, vor allem zur Zeit Heinrichs III. († 1589), selbst eines exzellenten Redners, und der Bürgerkriege, bemühte man sich um eine Reform der Rhetorik des Parlement nach antiken Mustern, jedoch in französischer Sprache mit dem Pathos eines römischen ‘civisme’. Frankreich hatte die Tradition einer genuinen Oratorik des Parlement, eines eigenen stilus, ja sogar – auch das dürfte singulär in Europa gewesen sein – einer eigenen Theorie, einer Textpoietik, dafür. Als deren normative Verschriftlichung wird die schon im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts durch den Legisten Guillaume de Brueil († 1344/45) verfaßte Sammlung in lateinischer Sprache angesehen: der Stilus Curiae Parlamenti.71 Der Stilus du Brueils, der auch ein „chapitre contenant des preceptes proprement oratoires“ enthält, hat über dreihundert Jahre die ‘forma 69 Vgl. HAFNER: Parlamentsrede im romanischen Sprachraum (wie Anm. 65); SARAH HANLEY: The Lit de justice of the Kings of France. Constitutional Ideology in Legend, Ritual, and Discourse (Studies Presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions 65), Princeton 1983, bes. 53–55. Zu den Begrüßungsreden des Präsidenten für den König: ebd. 50 f.; zur programmatischen Rede des Präsidenten Charles Guillart 1527 vor Franz I. und Reden des Königs: ebd. 64–67. Ferner ELIZABETH A. R. B ROWN/R ICHARD C. FAMIGLIETTI: The Lit de Justice: Semantics, Ceremonial, and the Parlement of Paris 1300–1600 (Beihefte der Francia 31), Sigmaringen 1994. Für 1565 vgl. SYLVIE DAUBRESSE: Un discours de Christophe de Thou premier président du Parlement de Paris (11 Mai 1565), in: Bibliothèque de l’École des Chartes 153, 1995, 373–389. Vgl. Reden Karls IX. vor dem Parlement 1570/71: Paris Bibl. Nat. LD33.467, 467A: Harangue du roy Charles IX; Paris Bibl. Nat. LD33.299; nach ELIZABETH A. R. BROWN/R ICHARD C. FAMIGLIETTI: Lit de justice: Semantics, Ceremonial, and the Parlement of Paris, 1300–1600 (Francia. Beiheft 31), 94 und 133. 70 FUMAROLI: L’Age de l’éloquence (wie Anm. 68), 432. 71 Guillaume de Brueil: Stilus Curiae Parlamenti. Kritische Edition hg. von FELIX D’AUBERT, Paris 1909; CHARLES DU M OULIN: Stilus Supremae Curiae Parlamenti Parisiensis nuper e suo prototypo et antiquis Regestis ejusdem Curiae de verbo ad verbum transsumptus. Paris 1551. Vgl. dazu ALEXIS FRANGOIS: Origine et déclin du ‘bel usage’ parlementaire, in: Revue d’histoire littéraire de la France 25 (1918), 201–210; FUMAROLI: L’Age (wie Anm. 68), 436–439.

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mentis’ der Parlamentsadvokaten bestimmt und hielt sich als „vieux style du parlement“ bis in das 16. Jahrhundert. Einen Teil gab programmatisch Charles du Moulin 1551 unter dem Titel Stilus Supremae Curiae Parlamenti Parisiensis wieder heraus; er wurde auch in die am klassischen Latein veredelte Volkssprache übersetzt. Die eigentlichen Plädoyers vor dem Parlement fanden schon längst auf Französisch statt. Ihre Untersuchung steht noch aus.72 Diese strenge Magistraten-Rhetorik mit ihrer „ethique de la parole“ verstand sich durchaus in Opposition zur legeren Sprache des Hofs. Ende des 16. Jahrhunderts tauchte im Zuge neuer Reformbemühungen um die Sprache des Parlements als Schlüsselfigur Guillaume du Vair auf, selbst durchaus ein „porphyrogenete de la Grande Robe parisienne.“73 Du Vair proklamierte, basierend auf einer Rehabilitierung Ciceros, eine neue Kultur der Beratungsrede und war deutlich gegen den Tacitismus eines Lipsius oder Montaigne gerichtet.74 1595 erschien sein Traktat ,De l’eloquence francoise et des raisons, pourquoi elle est demeuree si basse‘, der wiederum das Ziel einer „grande éloquence civique“ verfolgte. Zur praktischen Anwendung aber blieb wohl wenig Gelegenheit, denn Heinrich IV. beschnitt alsbald den Einfluß des Pariser Parlements. Guillaume du Vair ging in die Provinz und wurde Präsident des Parlement von Aix-enProvence. 3 c. Oratorik des englischen Parliaments in elisabethanischer Zeit Ein frühes Beispiel: 1430 eröffnete der Dr. utr. iur. William von Lyndwood, Professor der Theologie in Oxford, später Bischof von St. Davids, das englische Parliament für den König durch „die übliche Grundsatzerklärung“ in Predigtform. Er legte dabei die organische Einheit des Reiches durch die Corpusmetapher dar, vergleicht diese mit dem menschlichen Körper und seinen Gliedern im Hinblick auf ihre Einmütigkeit und wechselseitige Liebe mit einem corpus mysticum. Lyndwood entwickelte vor

72

FUMAROLI: L’Age (wie Anm. 68), 436. „II est assez émouvant que l’humanisme de l’époque classique n’ait fait que porter à la maturité et à la pleine conscience de soi une éthique de la forme née au Parlement de Paris dès la Renaissance du Xllle siècle.“; ebd. 437. 73 Zu den Bemühungen des Guillaume Du Vair: FUMAROLI: L’Age (wie Anm. 68), 503–511, Zitat 480; HANLEY: Lit de justice (wie Anm. 69), 220–222. Guillaume du Vairs Redensammlung von 1586: Actions et traictez oratoires, hg. von RENE RADOUANT, Paris 1911. Vgl. die Sammlung von Reden und Remonstrances unter Heinrich III.: Harangues de Actions publiques des plus rares esprits de nostre temps, Paris 1609. 74 GUILLAUME DU VAIR: Recueil des harangues et traictez du Sr. Du Vair, Paris 1606 (ND 1610), 500.

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dem Plenum also eine Art organologische Staatsdoktrin zur Parlamentseröffnung.75 Das englische Parliament, „the highest public arena of debate in Elisabethan England“, besaß jedoch, stärker als Reichstag und États, auch eine gewisse agonale Struktur schon deshalb, weil es eine ‘Regierung’ gab, die öffentlich sprach.76 Es kommt zu Reden Pro und Contra, prominent zum Beispiel 1572 in der Frage, ob man Maria Stuart, die Königin von Schottland, hinrichten solle oder nicht. Aus dem House of Commons der elisabethanischen Zeit sind dann in den von Hartley edierten Protokollen eine große Anzahl von Reden faßbar. Aber auch im Privy Council wurden offensichtlich diskursive Reden gehalten. Als grundlegend dürfen die Studien von Peter Mack gelten. Er bemüht sich um eine Typologie und unterscheidet, ähnlich wie sie oben bereits begegneten, zumindest zwei Typen von Reden: erstens „the long formal speech, usually delivered by a government Speaker, often on a ceremonial occasion“, und zweitens „the shorter argumentative intervention in reply to a proposal or to a previous Speaker“. Die Texte wiederum sind in zwei literarischen Formen überliefert: in Redensammlungen einzelner Redner wie Nicolas Bacon, – seine Eröffnungsrede von 1571 wird bei Mack exemplarisch untersucht –, die ihre Reden überarbeiteten und dann publizierten, viel häufiger aber in „Journals summarizing daily proceedings“, die von Mitgliedern des Parlaments mit bestimmten Interessen geschrieben wurden, also in Form einer Paraphrase vorliegen.77 Vor dieser Situation, mit den entsprechenden heuristischen Konsequenzen, steht derjenige, der sich mit politischen Reden beschäftigt, häufig genug. Wertvoller sind Macks inhaltliche Analysen ausgewählter Reden, die gerade auf die Funktion der Antike abheben. Er zeigt, wie intensiv in einer Zeit eingewurzelter humanistischer Elitenbildung antike Literatur, antike Sentenzen und historische Exempla als Arsenal für parlamentarische Reden genutzt wurden. Es geht ja durchaus um entscheidungsoffene Sachfragen, die agonal und deliberativ mit dem Ziel der Konsensfindung und 75

Dazu vgl. ERNST KANTOROWICZ: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 21994, 234. Kantorowicz war die Bedeutung der Eröffnungspredigten im englischen Parlament aufgefallen: In seiner Predigt von 1483 sprach John Russel, Bischof von Lincoln und Kanzler von England, vom corpus politicum Englands, das aus drei Ständen zusammengesetzt sei, mit dem „obersten Herrn, dem König, als Haupt“ und zitierte dabei 1. Kor. 12.12. 76 HANS J. SCHILD: Art. Parlamentsrede im englischen Sprachbereich, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), 597–617 (Literatur); RONALD G. ASCH: Zeremoniell und Verfahren des englischen Parlaments zwischen Normierung und Innovation, ca. 1558–1642, in: STOLLBERG-R ILINGER (Hg.): Vormoderne politische Verfahren (wie Anm. 34), 493–520, mit wichtiger Differenzierung des Procedere von Ober- und Unterhaus. 77 PETER MACK: Elisabethan Rhetoric. Theory and Practice, Cambridge 2002, 215 f.

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-sicherung angegangen wurden: Steuerforderungen der Königin, Krieg und Frieden, die Hinrichtung der Maria Stuart. Das Klassikerzitat dient dabei als Nucleus politischer Grundüberzeugungen, worin man altes autoritatives Erfahrungswissen gespeichert sah; es war zugleich sorgsam eingesetzte Bildungspointe. Seine Kommunizierbarkeit, mithin die Kennerschaft des Publikums, das dergleichen zu goutieren wußte, konnte man, wie in Frankreich, offenbar voraussetzen.78 Es wird aber auch der Pluralismus der Stile deutlich, in welchen die Redner, darin sicher repräsentativ für die politische Elite, geschult waren. Die Gliederungen der klassischen Rhetorik, wie wir sie eingangs aufgeführt haben, begegnen so selbstverständlich wie antikegespeiste amplificatio und ciceronische elocutio. Aber eben auch die Elemente scholastisch-disputativer Ausbildung kommen in diesen Reden zum Tragen; sie scheinen erneut die vermeintliche Dichotomie und tatsächliche Harmonie diskursiver und zeremonieller Oratorik zu erweisen. Wir brechen den Überblick an dieser Stelle ab. Nur mehr als Ausblick, aber nichtsdestoweniger nachdrücklich ist auf die Forschungsperspektiven zu verweisen, welche die Ständeversammlungen Spaniens und Polens noch bieten. So fallen in Spanien bisher besonders die Zeremonialreden ins Auge, die Könige – und nicht selten auch Königinnen – zur Eröffnung der aragonesischen Corts hielten. Sie scheinen breit überliefert zu sein. Im übrigen sind Kommunikation und Oratorik in den spanischen Ständeversammlungen weitgehend terra incognita.79 Der polnische Sejm, das große Konsens- und Mitbestimmungsorgan des Königs und der beiden Kammern, gebildet aus Magnaten und Adel (Landbotenstube), hat ab ca. 1560 ganz unübersehbar eine reiche Oratorik über-

78 MACK: Elisabethan Rhetoric (wie Anm. 77), 176–214: Political Argument, 215– 253: Parliamentary oratory; zu den Reden im Privy Council: 203–206, zu Nicholas Bacons Eröffnungsrede von 1571: 217–224, zur Debatte um die Hinrichtung von Mary Queen of Scots: 224–226. Die Textbasis: T ERENCE E. HARTLEY (Hg.): Proceedings in the Parliaments of Elizabeth I., 3 Bde., Leicester 1981–1996. Dazu auch DERS.: Elizabeth’s Parliaments. Queens, Lords and Commons 1559–1601, Manchester/New York 1992; J OHN GUY: The Rhetoric of Counsel in Early Modern England, in: DALE HOAK (Hg.): Tudor Political Culture, Cambridge 1995, 292–310 [Siehe jetzt P ETER MACK: Rhetoric and Politics in Elisabethan Parliament, in: FEUCHTER/HELMRATH (Hg.): Politische Redekultur (wie Anm. 51), 173–187.] 79 Texte: ENRICO PRAT DE LA R IBA: Corts catalanes. Proposicions i respostes, Barcelona 1906; R ICARD ALBERT/J OAN GASSIOT (Hg.): Parlaments a les corts catalanes. Text, introducciò, notes i glossari (Eis Nostres Classics 19–20), Barcelona 1928 (Herrscher-Reden vor den Corts 1355–1519). Vgl. MARK D. JOHNSTON: Parliamentary Oratory in Medieval Aragon, in: Rhetorica 10/2 (1992), 99–117; SUZANNE F. CAWSEY: Royal Eloquence, Royal Propaganda and the Use of the Sermon in the Medieval Crown of Aragon, c. 1200–1410, in: Journal of Ecclesiastic History 50 (1999), 442–463; DIES.: Kingship and Propaganda. Royal Eloquence and the Crown of Aragon, c. 1200–1450, Oxford 2002. Siehe auch Anm. 43.

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liefert.80 Sowohl eine Analyse der Texte wie ihre Einbettung in die politischen Verfahren und Kommunikationsformen sind Desiderat. Cortes und Sejm in das oben skizzierte Forschungskonzept einzubeziehen, erscheint daher vielversprechend.

4. Schluß Funktionen und Funktionieren von Oratorik im Humanismus erwiesen sich für die Kernfrage nach den ‘Funktionen’ des Humanismus als zentral und vielschichtig. Die Arbeit mit drei neugeschaffenen Kategorien: der actio, des Redeakts selbst, der applicatio, des Anwendens von antiken Modellen, und der servitus, der Indienstnahme, ist ein Versuch. Im Feld der politischen Versammlungen entsprach Oratorik diesen drei Funktionen, konsensual wie agonal, besonders nachhaltig. Ihr Wert im heutigen Bundestag wird notorisch unterschätzt.81

80 SYBILLA HOLDYS: Sejm polski i parlament angielski w XVI – XVII wieku: porównanie procedury (Der polnische Sejm und das englische Parlament im 16. und 17. Jahrhundert: ein Prozedurenvergleich), in: Przegląd historyczny 71/3 (1980), 497–514; DIES.: Praktyka parlamentarna za panowania Władysława IV Wazy (Parlamentarische Praxis unter der Herrschaft Wladyslaws IV. Wasa), Wrocław 1991; HENRYK OLSZEWSKI: Reflections on the Theory and Practice of Sejm Debate in Poland from the 16th to the 18th Century, in: Acta Poloniae Historica 48 (1982), 57–75. [Siehe jetzt: K OLJA LICHY: Reden als Aushandeln. Rhetorik und Zeremoniell auf dem polnisch-litauischen Sejm zu Beginn der Wasa-Zeit, in: FEUCHTER/HELMRATH: Redekultur (wie Anm. 51), 149–172. Lichy bereitet eine Dissertation zum Thema vor.] 81 GUSTAV SEIBT (Hg.): Demokratisch reden. Parlament, Medien und kritische Öffentlichkeit in Deutschland (Valerio 2), Göttingen 2005.

VII.

Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus* Konrad Celtis, den man im 19. Jahrhundert den deutschen ‘Erzhumanisten’ nannte, Celtis, der Vielgereiste, Lebensheftige, publizierte 1502 Landesbeschreibungen in Form von Liebesgedichten. ‚Quattuor libri amorum secundum quatuor latera Germaniae‘,1 „nach den vier Enden Deutschlands“; auf dem Titelblatt sieht man als Eckpunkte die Städte Krakau, Mainz, Regensburg und Lübeck. Es sind Gedichte auf Frauen, die er zielstrebig in jeder Himmelsrichtung kennengelernt haben will, wie die feine Hasilina im unwirtlichen, dem Skythien Vergils nachgedichteten Osten (Sarmatia), Frauen, die fast zu Allegorien ihrer Landschaft werden, eine ,Germania illustrata‘ des Weiblichen. Celtis stehe hier für beide Phänomene, um die es im Folgenden gehen soll: die Bildung nationaler Identitäten und die dabei wirksamen Prägungen und Umprägungen durch den europäischen Humanismus. Die Sektorierung von räumlichen Einheiten, die Generierung von national wie regional umrissenen Identifikationsrahmen nimmt in der Historiographie – wohl analog zum fortschreitenden Territorialisierungsprozeß – gegen Ende des 15. Jahrhundert zu. Dies schlug sich in einer wachsenden Anzahl neuartiger Spezialgeschichten, in Nations- und Landesgeschichten, nieder. Jacob Wimpfeling verfaßte 1505 * Zuerst in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. von JOHANNES LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln/Weimar/Wien 2003, 323–352. 1 Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, hg. von HEDWIG HEGER (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 2/2), München 1978, 22–28, 872 f.; vgl. STEFAN ZABLOCKI: Beschreibung des Ostens in den Elegien von Conrad Celtis, in: Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 17. Jahrhundert, hg. von HANS-BERND HARDER (Schriftenreihe des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien 5), Köln/ Weimar/Wien 1983, 141–164; HAROLD L. SEGEL: The Humanist a-Touring: Celtis among the Sarmatians, in: Renaissance Culture in Poland. The Rise of Humanism, 1470–1543, hg. von DEMS., Ithaca/London 1989, 83–106; grundlegend zu Celtis’ Germania-Projekten MUHLACK (wie Anm. 11), 199–215 und GERNOT M. MÜLLER: Die ,Germania generalis‘ des Konrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar (Frühe Neuzeit 67), Tübingen 2001, 41–44 und 187–204 (forschungsgeschichtliche Verortung), 531 s. v. passim. Nach Abschluß des Manuskripts erschien, mit wichtigen Erkenntnissen zum Thema: MARKUS VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere. Italienische Humanisten als Geschichtsschreiber der europäischen Nationen. Eine Skizze, in: Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag, hg. von PETER BURSCHEL/MARK HÄBERLEIN, Berlin 2002, 339–362.

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mit seiner ,Epitome rerum Germancarum‘ die erste ‘deutsche Geschichte’, der Ulmer Dominikaner Felix Fabri um 1500 eine ,Historia Svevorum‘, eine Geschichte der Schwaben,2 der Hamburger Domherr Albert Krantz 1505/09 eine ,Saxonia‘ – im Rahmen einer geplanten ,Germania magna‘.3 Die Forschung wendet sich derartigen Texten verstärkt zu. Sie fragt nach den causae scribendi, nach Identitätsbildungsprozessen, den Kristallisationsmechanismen von prätendierten, gewünschten oder tatsächlich empfundenen Gemeinsamkeiten in Richtung auf einen regionalen, beziehungsweise gentilen Patriotismus, nach der Rolle der Ursprungsmythen und deren Legitimierungsfunktionen, nach Zusammenhängen von Reichs- und Landesdiskurs, nach der Rolle der Dynasten auf der einen, der Gelehrten auf der anderen Seite in diesen Diskursen.4 Unstrittig und hinreichend bekannt ist die bedeutende Rolle der Humanisten bei der Identitätsgenerierung. „Die Nationendiskurse in Deutschland, Italien etc.“ – so Münkler und Grünberger – „sind durch genuin humanistische Problem- und Fragestellungen angestoßen und intensiviert worden“.5 Karl Ferdinand Werner hatte in diesem Zusammenhang vom „Humanismusschub eines germanisch-deutschen Nationalgefühls, der ersten Deutschtümelei 2

Zum Thema regionale Identität und Landesdiskurs am Beispiel Schwabens siehe die Arbeiten von KLAUS GRAF: Das ‘Land’ Schwaben im späten Mittelalter, in: Regionale Identität und soziale Gruppe im deutschen Mittelalter, hg. von PETER MORAW (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 14), Berlin 1992, 127–164; DERS.: Geschichtsschreibung und Landesdiskurs im Umkreis Graf Eberhards im Bart von Württemberg 1459–1496, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), 165–193; DERS.: Die ‘Schwäbische Nation’ in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 68 (2000), 57–69; ebenso DIETER MERTENS: ‘Bebelius… patriam Sueviam… restituit.’ Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), 145–173. 3 ULRICH ANDERMANN: Albert Kranz. Wissenschaft und Historiographie um 1500, Weimar 1999. 4 Hier, neben den in Anm. 1–3 genannten Titeln, nur einige wichtige Sammelwerke: HARDER: Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1); Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen-âge à l’époque moderne, hg. von RAINER BABEL/JEAN-MARIE MOEGLIN (Beihefte der Francia 39), Sigmaringen 1997; Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeitalter des Humanismus, hg. von FRANZ BRENDLE/DIETER MERTENS u.a. (Contubernium 56), Stuttgart 2001; Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von JOHANNES HELMRATH/ ULRICH MUHLACK/GERRIT WALTHER, Göttingen 2002. – Zum nationalen Diskurs: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 1, hg. von BERNHARD GIESEN, Frankfurt am Main ³1996; Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 2, hg. von HELMUT BERDING, Frankfurt am Main 1994; Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins der Neuzeit, Bd. 3, hg. von DEMS., Frankfurt am Main 1996. 5 HERFRIED MÜNKLER/HANS GRÜNBERGER/KATHRIN MAYER: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen 8), Berlin 1998, 25.

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unserer Geschichte“ gesprochen.6 Eric Hobsbawms bekannte Prägung der „invention of tradition“ im Sinne von „nationbuilding“ wäre auch im Zusammenhang mit humanistischer Historiographie leicht zu akzeptieren.7 Ungefähr in diesem Sinne hatte ein Zeitgenosse, Nikolaus Basellius, 1515 über den schwäbischen Humanisten Heinrich Bebel gesagt: patriam Sueviam quasi thesea fide laudibus avitis ingenii beneficio restituit.8 „Er hat gleichsam mit der Glaubensstärke eines Theseus durch Lob der Vorfahren Schwaben als Vaterland geistig wiederhergestellt.“ Skepsis stellt sich jedoch zunehmend darüber ein, ob es sinnvoll ist, eine genuin ‘humanistische’ Landesgeschichtsschreibung sauber von einer (dann vor- oder nichthumanistisch zu nennenden) Geschichtschreibung abgrenzen zu wollen.9 Die Übergänge in den zeitgenössischen Texten sind hier fließend; zumal im Mittelalter bereits eine Historiographie mit gentilem beziehungswiese protonationalem Horizont existierte.10 Andererseits wird man daran festhalten, daß es eigene humanistische Akzente und Innovationen in der Geschichtsschreibung gab. Der Begriff der ‘Umprägung’ bietet hier nicht nur metaphorische Möglichkeiten. Münzen zum Beispiel wurden umgeprägt als damnatio memoriae des alten Münzherrn, als Zeichen einer Veränderung des Münzwerts (durch Beischläge) oder bei gänzlicher Ersetzung des alten Geldes. Es geht hier um das Verhältnis der Humanisten zu den Geschichtsbildern der Vergangenheit. Als Umprägung können dann sowohl partielle Neuakzentuierungen wie auch grundsätzlichere Perspektivänderungen gelten, die man als Paradigmenwechsel zu bezeichnen sich angewöhnt hat. 6 KARL F. WERNER: Art. Volk, Nation III–V: Mittelalter, in: Geschichtliche Grundbegriffe 7 (1992), 171–280, ebd. 235. 7 BERNARD GUENÉE: L’occident aux XIVe et XVe siècles. Les États (Nouvelle Clio 22), Berlin 41991, 123–132, ebd. 123: „C’est sont les historiens, qui créent les nations.“ Ebenso der damaligen Forschung voraus, mit vielen Beispielen: FRANTISEK GRAUS: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln 1975; DERS.: Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter, hg. von HANS PATZE (Vorträge und Forschungen 31), Stuttgart 1987, 11–55, ebd. 44–47. – Frühe Sensibilität zeigt in unvergleichlich breiter Doxographie: ARNO BORST: Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Bde., München 1957–1963, bes. Bd. 3.1, 955–1156. 8 MERTENS: Bebelius (wie Anm. 2), 149, 170 f. 9 NOTKER HAMMERSTEIN: Universitäten und Landeschronistik im Zeichen des Humanismus, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 4), 33–47; DIETER MERTENS: Landeschronistik im Zeitalter des Humanismus und ihre spätmittelalterlichen Wurzeln, in: ebd. 19–31. 10 NORBERT KERSKEN: Geschichtsschreibung im Europa der ‘nationes’. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter (Münstersche Historische Forschungen 8), Köln/Weimar/Wien 1995 mit Materialüberblick für Spanien, Normandie (nicht Frankreich), England, Schottland, Norwegen, Dänemark, Polen, Böhmen und Ungarn.

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Die Geschichte gehört bekanntlich neben Poetik und Moralphilosophie zu den neuen Disziplinen im Kanon der fünf Humaniora. Der folgende Versuch, einige Merkmale humanistischer Geschichtsschreibung seit Petrarca zu skizzieren, greift vornehmlich Gedanken von Ulrich Muhlack auf.11 Muhlack sieht in Humanismus und Aufklärung die beiden aufeinander aufbauenden Vorstufen des Historismus, mithin der modernen Geschichtswissenschaft. Die Vorstellung eines Fortschritts ist dabei unverkennbar. Es stellt sich die Frage, ob es in der (Geschichts-) Wissenschaft einen Fortschritt überhaupt gibt und wie er aussieht.12 Zur humanistischen Geschichtsschreibung: 1. Geschichte wird aus dem Kontext der gottgeleiteten Heilsgeschichte gelöst, wird säkular und als von Menschen gemacht verstanden; sie ist daher wie Petrarcas Caesar aus den Motiven der Handelnden zu erklären.13 2. Historie entdeckt die Darstellung als produktive schriftstellerische Aufgabe. Sie konkretisiert sich wesentlich als sprachlich-rhetorisches Kunstwerk, folgt dabei in der Regel stilistischen Vorbildern der antiken Leitkultur. Schon in diesem engeren Sinne war die Geschichtsschreibung des Humanismus ‘Konstrukt’. Dabei wurde das Erkenntnisproblem zunächst konsequent literarisiert und erst allmählich theoretisch durchleuchtet.14 3. Humanistische Historie hat eine Tendenz zum nationalen Gegenstand. Hier war sie auch gattungsmäßig innovativ: etwa in der Kombination aus 11 Immer noch unentbehrlich: PAUL JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (Beiträge zur Kultur des Mittelalters und der Renaissance 6), Leipzig 1910; ERIC COCHRANE: Historians and Historiography in the Italian Renaissance, Chicago 1981; DONALD R. KELLEY: Humanism and History, in: Renaissance Humanism, Bd. 3, hg. von ALBERT RABIL JR., Philadelphia 1988, 236– 270; ULRICH MUHLACK: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; prägnant DERS.: Die humanistische Historiographie, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 4), 3–18; La storiografia umanistica. Convegno internazionale di studi Messina 22–25 Ottobre 1987, 2 Bde., hg. von ANITA DI STEFANO, Messina 1992; [Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. von JOHANNES HELMRATH/ALBERT SCHIRRMEISTER/ STEFAN SCHLELEIN (Transformation der Antike 11), Berlin/New York 2009]. 12 Ich wage zu behaupten, daß unserer Wissenschaft ein energischer Schritt in die weitgehend ignorierte Wissenschaftsphilosophie hinein mindestens ebenso gut täte wie der aktuell geforderte in die Hirnforschung. Siehe etwa ULRICH CHARPA: Philologischer Fortschritt, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 17 (1986), 229–255; DERS.: Philosophische Wissenschaftstheorie. Grundsatzfragen, Verlaufsmodelle (Wissenschaftstheorie. Wissenschaft und Philosophie 42), Braunschweig 1995; DERS.: Wissen und Handeln. Grundzüge einer Forschungstheorie, Stuttgart 2001 (Literatur). 13 Consilia, causae, dicta, facta, casus et exitus, wie Polydor Vergil sagt; Anglica Historia (wie Anm. 81), liber 26, 49. 14 ECKHARD KEßLER: Die Ausbildung der Theorie der Geschichtsschreibung im Humanismus und in der Renaissance unter dem Einfluß der wiederentdeckten Antike, in: Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance, hg. von AUGUST BUCK/ KLAUS HEITMANN (Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 10), Boppard 1983, 29–49.

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lokaler Geschichte, Geo- und Ethno-, ja Hydrographie. Man denke an Flavio Biondo, der die Gewässer Italiens als Orientierungsadern seiner ,Italia illustrata‘ benutzt,15 oder an die Geschichtswerke des Enea Silvio Piccolomini. 4. Die Historie sieht sich zwar dem Wahrheitspostulat verpflichtet, sie bleibt aber auch Legitimationswissenschaft. Sie hat eine didaktisch – praktische Funktion, sie liefert exempla, ist magistra vitae (Cic. de or. II 3,6 und de leg. I 3,8). Freilich wäre dies an sich kein Unterschied zur mittelalterlichen Historiographie gewesen, denn nur Art und Ziel der Didaxe verschoben sich.16 5. Nicht zu vergessen ist ferner der schon bei Biondo erwähnte Schub antiquarischen Interesses, der nach und nach in fast allen europäischen Ländern die Historiographie flankierte und schließlich ihre Basis hilfswissenschaftlich verbreiterte. Zu denken ist an das Sammeln und Edieren von Inschriften und Münzen,17 das Erfassen von Gräbern und Baudenkmälern, die, wie die antiken Texte, zu Rekonstruktion und Imitation anregten. Zugleich ist das rasch wachsende technische Wissen zu betonen, etwa in der Kartographie,18 das mit dem wachsenden Weltgewinn durch Entdeckungen korrespondierte. 6. Die Humanisten verbreiterten mehr nur die Quellenbasis fast sämtlicher Wissenschaften durch ihre ‘Scoperte’ bisher vergessener antiker Texte, sondern sie entwickelten nach und nach auch die philologischen Instrumentarien für deren (Text-)Kritik. Dabei wuchs die Sensibilität für Text-Anachronismen, d.h. man begann, die Quellen selbst (sprach-) historisch zu relativieren. Die humanistae gewannen Einsicht in geschichtliche Wandlungsprozesse auch aus dem Grundgefühl der eigenen Distanz zur unmittelbaren Vergangenheit, dem sich damit überhaupt erst epochal konstituierenden Mittelalter, aber auch zur Antike, der Leitkultur, selbst. Es war, um einen Begriff Schillers auf15 OTTAVIO CLAVUOT: Biondos ,Italia Illustrata‘ – Summa oder Neuschöpfung? Über die Arbeitsmethoden eines Humanisten (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 69), Tübingen 1990; DERS.: Flavio Biondos ,Italia Illustrata‘. Portrait und historischgeographische Legitimation der humanistischen Elite Italiens, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 55–76. 16 GRAUS: Funktionen (wie Anm. 7), 26. 17 FRANZ J. WORSTBROCK: Hartmann Schedels ‚Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus‘. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hg. von DIETMAR PEIL/MICHAEL SCHILLING/PETER STROHSCHNEIDER in Verbindung mit WOLFGANG FRÜHWALD, Tübingen 1998, 215–243; MARTIN OTT: Römische Inschriften und die humanistische Erschließung der antiken Landschaft: Bayern und Schwaben, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 4), 213–226. – HENNING WREDE: Die Entstehung der Archäologie und das Einsetzen der neuzeitlichen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens, hg. von WOLFGANG KÜTTLER/JÖRN RÜSEN/ERNST SCHULIN, Frankfurt am Main 1994, 95–119. 18 FRANZ MACHILEK: Kartographie, Welt- und Landesbeschreibung in Nürnberg um 1500, in: HARDER: Landesbeschreibungen (wie Anm. 4), 1–12; [David Woodward (Hg.): A History of Cartography, Bd. III.1, Chicago/London 2007.]

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zugreifen, eine ‘sentimentalische’ Aneignung der Antike, die bei aller Verehrung um die unaufhebbare Differenz weiß. Führt man sich die sechs genannten Punkte noch einmal vor Augen, so waren Humanisten als Historiker tendenziell quellenkritisch und mythenkritisch, also dekonstruktivistisch, auf dem Wege zur Verwissenschaftlichung der Historie. Andererseits machte sie der rhetorische und literarische Anspruch der Geschichtsschreibung, das erzieherische und legitimatorische Engagement des Humanismus komplementär zu Mythenbildnern und Konstrukteuren von Geschichte; kein Paradox, sondern die beiden Seiten einer Medaille, jene besondere Ambivalenz, die nicht nur die Historie der Humanisten, sondern jegliche Historie konstituiert.19 In den Handbüchern kam die humanistische Historiographie freilich lange Zeit nicht gut weg. Wissenschaftlichkeit im Sinne des Historismus (als methodisch eruierte, rational nachprüfbare Objektivität) war der Maßstab, und nach ihm wurde hemmungslos abgeurteilt, was als bloße Rhetorik und Restwuchern von Legenden erschien, die man doch säuberlich bis auf den harten Faktenkern hätte ausbrennen müssen. Nicht Paul Joachimsen – ihm ist das nach wie vor wichtigste Ausgangswerk für den deutschen Humanismus zu verdanken –, aber Eduard Fueters leider noch nicht ersetzte ,Geschichte der neueren Historiographie‘ ist von diesem Hang zum Notengeben für ein Mehr oder Weniger an ‘Objektivität’ erfüllt, und selbst das weiträumig Autoren und Texte bis in das 17. Jahrhundert erschließende Basiswerk von Eric Cochrane ist davon nicht frei.20 Wendet man sich nun den Texten zu, bemerkt man bald: Die origo gentis als „Urform des Weltverstehens“,21 als „Faszination der Anfänge“, als Reputationsgrund der eigenen, dynastischen oder gentilen Herkunft bleibt auch bei den Humanisten, oft trotz harscher Kritik an den Vorgängern, in veränderter Weise wichtig, ja eine wesentliche Funktion ihrer historiographischen Bemühung.22 19

TILMANS: Historiography (wie Anm. 37), 209: „It would be entirely false to say that in the early sixteenth century humanist critical historiography suddenly triumphed over myth, popular fables and whimsical etymology. The major difference was, that Aurelius and his contemporaries had in their possession manuscripts and printed volumes of classical historians such as Caesar, Pliny and Tacitus, whom they considered absolute authorities.“ Zum Problemfeld ‘Mythen’ statt abundanter Angaben: Mythenmächte. Mythen als Argument, hg. von ANNETTE VÖLKER-RASOR/WOLFGANG SCHMALE (Innovationen 5), Berlin 1998. 20 EDUARD FUETER: Geschichte der neueren Historiographie (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte. Abt. I), München 1911, ³1935 (ND 1985 mit einem Nachwort von HANS CONRAD PEYER), 1–306; COCHRANE: Historians (wie Anm. 11). Gute Noten erhalten hier allenfalls ein Bruni, Biondo, Guicciardini und Beatus Rhenanus. 21 ARNOLD ANGENENDT: Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der ‘origo gentis’ im Mittelalter, in: Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, hg. von PETER WUNDERLI, Sigmaringen 1994, 27–52. 22 GRAUS: Funktionen (wie Anm. 7), 43; siehe auch die in Anm. 7 genannte Literatur.

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Der Drang, inveterierte Geschichtsbilder umzuprägen, äußert sich am nacktesten und doch kunstvoll verschleiert in der Fälschung. Die Fälschung ist Fiktion, die Faktum sein möchte, Konstrukt, das Konstruktionen erleichtert und legitimiert. Die Renaissance bietet dafür ein atemberaubendes Beispiel, dem in der vorliegenden Thematik wichtiger Raum gebührt: Annius von Viterbo. Der Dominikaner Johannes Annius (Nanni) von Viterbo (* 1437 in Genua, † 1502 in Rom), 1493 magister palatii Alexanders VI., verband profundes philologisch-archäologisches Interesse mit Zügen einer veritablen Manie des Traditionssuchens. Nanni fand und erfand neue Quellen, er verfertigte etruskische Inschriften und grub sie in Gegenwart des Papstes dann aus. Vor allem aber trat er mit siebzehn bisher unbekannten Geschichtstexten an die Öffentlichkeit, die ihm angeblich zwei Dominikaner aus Armenien überbracht hatten. Zu den Autoren zählen der Chaldäer Berossos/Berosus (4. Jh. v. Chr.), dessen Existenz und Werktitel durchaus aus Josephus bekannt waren, der Ägypter Manetho, der Perser Metasthenes, aber auch römische Frühhistoriker wie Cato und Fabius Pictor sowie Xenophon und andere; zusammen publiziert und ausführlich glossiert in Annius’ ,Commentaria […] super opera diversorum auctorum de Antiquitatibus loquentium‘ von 1498.23 Ein dickes Pfund neuen Wachses in der Hand der Historiker. Das Werk, ohne literarischen Anspruch verfaßt, sondern sakral simplistisch gehalten, enthält vor allem lakonische Regentenfolgen (zum Beispiel 18 Könige der Assyrer) mit bis dato unbekannten Namen. Und zwar aus buchstäblich vorsintflutlicher Zeit! Der Anfang des Berosus: Ante aquarum cladem famosam, qua universus periit orbis, multa praeterierunt saecula: quae a nostris Caldaeis fideliter fuerunt servata.24 Konsequent wird ein Netz von Identifikationen biblischer Patriarchen und antiker Götter gespannt: Noah = Janus ist die Schlüsselfigur, sie verschafft Altitalien die Priorität vor allen, be23 Rom 1498 (Eucharius Sieber). Wichtige Passagen (Berosus, Manetho) des seltenen Frühdrucks jetzt mit englischer Übersetzung bei: RON E. ASHER: National Myths in Renaissance France. Francus, Samothes and the Druids, Edinburgh 1993, 191–233; Annio da Viterbo. Documenti e ricerche, hg. von GIOVANNI BAFFIONI/PAOLA MATTIANGELI, Rom 1981; BORST: Turmbau (wie Anm. 7), Bd. 3.1, 975–977; Bd. 4, 2151 s. v. passim; ANTHONY GRAFTON: Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450– 1899, Cambridge 1991, 76–103; DERS.: Fälscher und Kritiker: Der Betrug in der Wissenschaft, Berlin 1991, 30 f., 42 f., 102–117 zu Rezeption und Kritik; WALTER STEPHENS: Giants in Those Days, Lincoln/Nebraska 1989, bes. 101 ff.; ROBERTO BIZZOCCHI: Genealogie incredibili. Scritti di storia nell’Europa moderna (Annali dell’Istituto storico italo-germanico 22), Bologna 1995, 26–49. Zur Rezeption in Frankreich: ASHER: National Myths, 44–87; in Deutschland: MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER: Nationenbildung (wie Anm. 5), 242–262; MÜLLER: ,Germania generalis‘ (wie Anm. 1), 344–348, 516 s. v. 24 Annius von Viterbo: Commentaria … super opera diversorum auctorum de Antiquitatibus loquentium [Berosus], hg. von RON E. ASHER, in: DERS.: National Myths (wie Anm. 23), 194.

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sonders auch vor Asien und Griechenland. Einer der adoptierten Söhne Noahs ist kein anderer als Tuyscon, der Gott und Urvater der Germanen bei Tacitus. Hercules ist hier der Gründerkönig von Iberien, ein gewisser Driyius der Vater der anglo-keltischen Druiden. Chaldäer, Ägypter und Perser – es dringt etwas vom neuen Exotismus der Ficino und Pico mit ihrem Interesse an Hermes Trismegistos und Zoroaster durch. Sie sind älter und glaubhafter als die Graecia mendax, die lügnerischen griechischen Klassiker. Obwohl es reizt, sei hier keine Fälscherpsychologie betrieben, sondern nur auf brillante Arbeiten von Anthony Grafton verwiesen: „Fälscher und Kritiker“, und auf die Kriterien von Hans-Werner Goetz: „Fiktion, wenn sie der ureigensten Überzeugung des Autors entspringt, also nicht wider besseres Wissen geschieht, ist Wahrheit.“25 Fragt man nach Annius’ Motiven, ergeben sich folgende Aspekte: 1. Aufwertung seiner Heimatstadt Viterbo, dank Noah die älteste Stadt der Welt und Zentrum der ehrwürdigen Etrusker. 2. Karriere an der Kurie – vielleicht sogar ein Auftrag des Borgia-Papstes Alexanders VI., dessen Familie sich nun auf Osiris zurückführen ließ (und von dessen finsterem Sohn Cesare Nanni möglicherweise vergiftet wurde), 3. Hauptmotiv: Als besorgter Theologe die nuda veritas, die schmerzliche Kargheit des Überlieferungszufalls, emphatisch zu korrigieren, sein Ziel, die Lücke zwischen Altem Testament und seinen Völkerkatalogen (Frühmigration der Noah-Söhne) und der bekannten antiken Migrationsgeschichte (Trojanersage etc.) zu schließen. Alles soll dann zusammenstimmen zu einem lückenlosen, aber eben durch Quellen belegbaren, synoptischen Stammbaum- und Vernetzungssystem nach Art des Eusebius: assyrische, ägyptische Herrscher mit gleichzeitigen Regenten in Italien, Gallien und Spanien. Dies konnte nur ein humanistisch-antiquarisch Gebildeter, der Entdecker und Poietés zugleich war und der vor allem wußte, was seine gelehrten Kollegen an Standard erwarteten und was ihnen zuzumuten war. Man mußte sehr viel von der Antike verstehen, um so zu fälschen. Ein klassischer Kunstgriff bestand darin, durch Mixtur mit echten Belegen antiker Autoritäten (tam Beroso quam […] Tacito testibus) ein seriöses, ja quellenkritisch-methodisches Klima zu erzeugen. Dies führte zu einem Paradox: Das wohl profundeste humanistische Credo zur sonst nur karg thematisierten historischen Methode findet sich 1510 bei dem darum in der Forschung gepriesenen deutschen Chronisten Johannes Nauclerus. Es ist fast wörtlich aus Nanni übernommen! „Man muß aus den authentischen Quellen, in Archiven schöpfen, in Archiven freilich, die Priester – sc. wie Metasthenes – geführt haben.“ Quellen, so eine weitere vertraut klingende

25 Vgl. HANS-WERNER GOETZ: ‘Konstruktion der Vergangenheit’. Geschichtsbewusstsein und ‘Fiktionalität’ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: LAUDAGE (Hg.):Von Fakten und Fiktionen (wie *), 225–257.

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Maxime, sind nach der Nähe zum Gegenstand zu werten.26 Hier wird nicht nur eine Anleitung zum Verständnis der eigenen Texte, respektive Pseudoepigrapha gegeben, sondern der Historismus selbst sakral sanktioniert. Frappant, aber nicht überraschend war der atemberaubende Erfolg. Die ‚Antiquitates‘ erlebten bis 1612 sechsunddreißig Auflagen und wurden „eine der erfolgreichsten und folgenschwersten Fälschungen der Weltliteratur“.27 Wollte man wissend getäuscht werden? War die moria des Antiplatonikers Erasmus da im Spiel, die keinen Unterschied zwischen Realität und dem Reich der Schatten mit zufriedenen Getäuschten mehr kennt? Der Bedarf war offensichtlich groß; man wollte Berosus als Reservoir für Autochthonien aller Art. Es gab nur wenige (und wirkungslose) Kritiker wie den Venezianer Marcus Antonius Sabellicus und den Deutschen Beatus Rhenanus 1531.28 Um so rasanter findet man die Texte europaweit rezipiert, in Deutschland bei Heinrich Bebel schon 1500, ebenso bei Johannes Nauclerus, Johannes Aventinus oder auch Franciscus Irenicus, in Frankreich 1512 bei Jean Lemaire de Belges, bei Antonio de Nebrija und Lucius Marinaeus Siculus in Spanien; in Schweden wurde er noch 1727 affirmativ benutzt. Für Spaniens Frühgeschichte hatte Annius allein 24 Könige generiert – Spanien, die Heimat seines Papstes Alexander VI. Borgia. Der ‘Berosus’ gliederte sich blitzschnell und langwierig wie eine mutierte Gensequenz in die DNS der europäischen Geschichtsschreibung ein. Man kann keinen Autor nach 1498 ohne einen NanniTest benutzen. Seine Bedeutung darf allein wegen dieser Rezeption schon als ‘umprägend’ bezeichnet werden. Das Problem, das sich hinter dem Phänomen Nanni verbirgt, hat Grafton treffend dialektisch formuliert: „Forgery and philology fell and rose together […]. The recovery of the classical tradition in the Renaissance was as much an act of imagination as of criticism, as much an ‘invention’ as a rediscovery.“29 Dies gilt umgekehrt auch für die Entlarvung Nannis, wobei vor allem französische Historiker des späteren 16. Jahrhunderts, aber auch ein geradezu amüsierter Justus Scaliger, wiederum ihre textkritischen Methoden schärften. Der subtile Scaliger kam über Nanni und alle vergleichbaren Konstrukte zu der Einsicht, wie sie auch Werner Goez formulierte: gefälscht zwar, aber doch wahr.30 26 WERNER GOEZ: Die Anfänge der historischen Methoden-Reflexion in der italienischen Renaissance und ihre Aufnahme in der Geschichtsschreibung des deutschen Humanismus, in: Archiv für Kulturgeschichte 56 (1974), 25–48, ebd. 36. 27 BORST: Turmbau (wie Anm. 7), Bd. 3.1, 975. 28 FRANZ STAAB: Quellenkritik im deutschen Humanismus am Beispiel des Beatus Rhenanus und Wilhelm Eisengrein, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von KURT ANDERMANN (Oberrheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, 155–164, bes. 157–160. 29 GRAFTON: Defenders (wie Anm. 23), 103. 30 Vgl. GOEZ: Anfänge (wie Anm. 26).

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Der Exkurs über Nanni leitet zu dem zentralen Gegenstand über, der sich in der Historiographie des Humanismus als umprägungsrelevant erweist: Autochthonie und Indigenat. Die Kontinuitätsprämisse zwischen antiken Autoren und den Verhältnissen der Gegenwart wurde kaum angezweifelt.31 Der „taciteische Paradigmenwechsel“ (Dieter Mertens), den es neben und zum Teil vernetzt zum ‘berosischen’ auch noch gab, brachte eine Ablösung oder auch eine Entwertung der verbreiteten Migrationstheorien.32 Diese waren vor allem in den zahllosen dynastischen und regionalen Spielarten der elitistischen, aber doch die „Überzeugung von der Gleichursprünglichkeit der Menschen“ (Hartmut Kugler) bewahrenden Trojanersage aufgehoben.33 An deren Stelle tritt die Vision eines nicht mehr romvermittelten oder – wie es die Trojaner taten – mit Rom/Hellas verbindenden Indigenats, einer auszeichnenden stabilitas loci, einer Art Protoautochthonie, die sich eben auf Völker vor der römischen Eroberung beruft. Hier spielen auch Komplexe von (prätendierter) kultureller Überlegenheit oder (perzipierter) Minderwertigkeit eine entscheidende Rolle. Die gallische Autochthonie war zugleich eine Emanzipation, ja Dekolonisation von der als Makel empfundenen oder sogar bestrittenen italienischen Kulturüberlegenheit und von ‘Rom’ in Gestalt der Kurie. Den größten Nachholbedarf haben wegen der universalistisch-übernationalen Reichsidentität die Deutschen. Soli Germani, darf nun der Tübinger Humanist Heinrich Bebel gestützt auf die berühmte Tacitussstelle Germ. 2 erkennen, a nullis nationibus pulsi patria, nullis cedentes sunt indigenae.34 Völker-Wanderungen (populorum istorum emigrationes […], quas nos demigrationes vocamus), wie sie Enea Silvio und Rhenanus unter Ablehnung der Trojanermythen doch sehr richtig gesehen hatten, werden nun bei Bebel als Defekt denunziert, es sei denn, sie gehen bis in Noahs Zeiten zurück. Würdiger, autarker sind eigentlich diejenigen, die 31

GRAF: ‘Land’ Schwaben (wie Anm. 2), 152. BORST: Turmbau (wie Anm. 7), Bd. 4, 2298 s. v.; KARL BERTAU: Kulturelle Verspätung und ‘translatio imperii’. Zu einer Semantik historischer Wanderungsbewegungen auf der eurasischen Halbinsel Europas, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hg. von HARTMUT KUGLER, Stuttgart 1995, 81–106. 33 Aus der breiten Literatur nur: BORST: Turmbau (wie Anm. 7), Bd. 4, 2298 s. v.; GRAUS: Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 7), 81–89; DERS.: Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, hg. von WILLI ERZGRÄBER, Sigmaringen 1989, 25–43; ASHER: National Myths (wie Anm. 23), 9–43; BRUNO LUISELLI: Il mito dell’origine troiana dei Galli, dei Franchi e degli Scandinavi, in: Romano-Barbarica 3 (1978), 89–121; JÖRN GARBER: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ‘Nationale’ Abstammungstheorien im Vorfelde der Nationalstaatsbildung, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von KLAUS GARBER, Tübingen 1989, 108– 163; RICHARD WASWO: Our ancestors the Trojans: inventing cultural identity in the middle ages, in: Exemplaria 7 (1995), 269–290; für die fränkische Zeit: EUGEN EWIG: Troja und die Franken, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), 1–16. 34 Heinrich Bebel, zitiert bei MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER: Nationenbildung (wie Anm. 5), 240, Anm. 17. 32

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nicht gewandert sind. Der schwedische Bischof Ragvaldsson war es, der schon auf dem europäischen Theater des Basler Konzils 1435 verkündet hatte: die Wandergoten waren zwar überall das heldenhafteste Volk, in Schweden sitzen sie aber noch immer am alten Ort.35 Daher gebühre dem König von Schweden die Präzedenz vor allen europäischen Monarchen. Im Folgenden werden also jeweils protorömisch begegnen; 1. Die Etrusker in Italien; 2. die Germanen in Deutschland; 3. die Gallier in Frankreich; 4. die Briten in England; 5. die Goten in Spanien. Die Hunnen in Ungarn könnten den Reigen vergrößern.36 Wesentlich erst im 16. Jahrhundert würden die Goten im neuformierten Schweden der Wasa erneut als staatstragender Mythos begegnen, in analoger Funktion, aber hier ebenso wenig thematisierbar die Sarmaten im neuformierten Adelsstaat Polen-Litauen; als ähnliches Phänomen begegnen die Bataver in den Niederlanden, die sich überhaupt damals als Staat erst herausbildeten.37 Nur über die ersten fünf können wir kurz sprechen. Dabei bietet sich die Chance, drei zentrale Fragekomplexe versuchsweise zu koppeln: Erstens Humanismus – nationale Identität – Autochthonie, zweitens die uneigentliche Dialektik von Fakten und Fiktionen und drittens das Phänomen der Diffusion. Der Humanismus, zweifellos eine Geburt von Oberitalien und Florenz, erlebte zugleich eine binnenitalienische und eine europäische Diffusion – sicher eines der nachhaltigsten Phänomene von Kulturtransfer in der europäischen Geschichte.38 Es gab durchaus das zeitgenössische Bewußtsein einer neuen translatio artium von Italien her, ja, infolge der italischen Kriege seit 1494,

35 Viget [sc. nostrum regnum] quidem hodie ut ab initio in propria patria, licet apud exteras acquisitas naciones…; hg. von JOSEPH SVENNUNG, in: DERS. (Hg.): Zur Geschichte des Goticismus (Skrifter utgivna av K. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Uppsala/Acta Societatis Litterarum Humaniorum Regiae Upsaliensis 44/2B), Uppsala 1967, 40; vgl. HARALD EHRHARDT: Goticismus, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), 1273–1275, ebd. 1275. 36 Vgl. unten Anm. 88. 37 KURT JOHANNESSON: The Renaissance of the Goths in Sixteenth-Century Sweden. Johannes and Olaus Magnus as Politicians and Historians, Berkeley 1991; KARIN TILMANS: Historiography and Humanism in Holland in the Age of Erasmus. Aurelius and the ,Divisiekroniek‘ of 1517 (Bibliotheca Humanistica & Reformatorica 51), Nieuwkoop 1992; OLAF MÖRKE: Bataver, Eidgenossen und Goten. Gründungs- und Begründungsmythen in den Niederlanden, der Schweiz und Schweden in der frühen Neuzeit, in: BERDING (Hg.): Mythos und Nation (wie Anm. 4), 104–132, bes. 117–122; THOMAS MAISSEN: Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer ‘natio’, in: HELMRATH/MUHLACK/ WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 210–249. 38 Zu Begrifflichkeit und Problematik: JOHANNES HELMRATH: Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 9– 29; sowie in diesem Band Nr. 3; GERRIT WALTHER: Nationalgeschichte als Exportgut. Mögliche Antworten auf die Frage: Was heißt „Diffusion des Humanismus“, in: ebd. 436–446.

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einer Emigration.39 Der Transfer lief natürlich nicht zwischen missionarischen Gebern hie und demütigen quasikolonialen Empfängern dort ab. Es handelt sich immer auch um Transformationsprozesse, jeweils in den intellektuellen Milieus und Traditionen vor Ort. An Reaktionen aus den Empfängerländern gegenüber den Italienern läßt sich, besonders bei Franzosen und Deutschen, beobachten, daß es hier um ‘nationale’ Identität beziehungsweise Inferiorität ging. Das Problem der Diffusion des Humanismus ist also mit demjenigen des nationalen Paragone stets verbunden. Dies ist auch zu beachten, wenn von Stifterfiguren wie Pier Paolo Vergerio in Ungarn, Enea Silvio Piccolomini, dem „Apostel des Humanismus in Deutschland“ (Georg Voigt), oder Filippo Buonaccorsi, genannt Callimachos, in Polen die Rede ist.40 Von den Italienern im Ausland waren nicht wenige als Historiker ‘fremder Geschichte’ tätig. Gerd Tellenbach hatte sie in einem feinsinnigen Aufsatz als Ensemble vorgestellt, das zwischen Auto- und Heterostereotypen driftete.41 Sie schrieben als Gründerautoren einer humanistischen Historiographie den Gastnationen ihre Nationalgeschichten: ein Paulo Emilio in Frankreich, ein Polidoro Vergilio in England, ein Lucio Marineo Siculo in Spanien, ein Antonio Bonfini in Ungarn. Sie gerieten in den Konflikt zwischen der nationalen Aufgabe einer vorbildhaften Ruhmesgeschichte und einer Dekonstruktion kanonisierter Mythen, zu der sie ihre philologische Schulung und das neue Wahrheitspostulat drängten, eine Spannung, die dem Humanismus selbst durchaus immanent war. Zu beginnen ist beim Gang durch die Länder aber mit Italien selbst; es begegnet dort eine sehr frühe, sehr eigentümliche, sehr politische Autochthonie-Konstruktion, als erste regionale Umprägung eines Geschichtsbildes:

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His temporibus perfectae litterae similiter latinae atque graecae ex Italia bellis nefariis exclusae, exterminatae, expulsae, sese trans alpes, per omnem Germaniam, Galliam, Angliam Scotiamque effuderunt; Polydor Vergil: Anglica historia (wie Anm. 81), liber 25, 609. 40 Vgl. JOHANNES HELMRATH: ‚Vestigia Aeneae imitari‘. Enea Silvio Piccolomini als Apostel des Humanismus, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 99–141; in diesem Band Nr. IV. 41 GERD TELLENBACH: Eigene und fremde Geschichte. Eine Studie zur Geschichte der europäischen Historiographie, vorzüglich im 15. und 16. Jahrhundert, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von KASPAR ELM/ EBERHARD GÖNNER/EUGEN HILLENBRAND, Stuttgart 1977, 296–317; siehe auch COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 314–359, darin Kapitel 12: „Italians abroad and Foreigners in Italy“; GUENÉE: L’Occident (wie Anm. 7), 125. Speziell: PATRICK GILLI: L’histoire de France, vue par les Italiens, à la fin du Quattrocento, in: Histoires de France, Historiens de la France, hg. von YVES-MARIE BERCE/PHILIPPE CONTAMINE, Paris 1994; VÖLKEL: Rhetoren (wie Anm. 1).

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1. Toscana und Etrusker 1. Im Zentrum steht als sinngebender Historiograph eigener Geschichte der Florentiner Humanist und Staatskanzler Leonardo Bruni.42 Noch in den Volgare-Chroniken etwa der Villani Mitte des 14. Jahrhunderts erscheint Florenz als römische Gründung Caesars, die durch den Goten Totila zerstört, durch Karl den Großen neugegründet worden sei.43 Leonardo Bruni griff dann auf der Suche nach politischer und kultureller origo seiner streitbaren Heimatstadt von Werk zu Werk weiter in die Vergangenheit zurück.44 In der berühmten ‚Laudatio Florentinae urbis‘ entstanden um 1403 nach dem zum Existenzkampf stilisierten Krieg gegen Mailand, dem Kerntext des Baronschen ‘Bürgerhumanismus’,45 stimmt Bruni einen Lobpreis auf Florenz an. Modell war der griechische ‚Panathinaikos‘, der Panegyricus des Aelius Aristides auf Athen. Die geniale Benutzung einer vorher unbekannten Vorlage öffnet der politischen Literatur Europas neue Wege. Florenz ist buchstäblich „wohl situiert“ in den konzentrischen Landschaftsgürteln seines Contado, es ist schön und sauber, mit freiheitsliebenden, die Tyrannis hassenden Bürgern, mit einer Verfassung, die Tugenden in egalitärer Kompetition freisetzt. Ein Staat als Kunstwerk. Damit liegt die Stadt in einer weit bis an die Anfänge zurückreichenden Kontinuität republikanischer, niemals monarchischer Tradition. Ge42

GIOVANNI CIPRIANI: Il mito etrusco nella Firenze repubblicana e medicea nei secoli XV et XVI, in: Ricerche storiche 2 (1975), 257–309; DERS.: Il mito nel Rinascimento fiorentino (Biblioteca di Storia toscana moderna e contemporanea. Studi e documenti 22), Florenz 1980. Künftig dazu: GÖTZ-RÜDIGER TEWES. Zur zweiten Phase der italienischen Etruskerforschung: MAURO CRISTOFANI: La scoperta degli etruschi. Archeologia e antiquaria nel’700 (Consiglio nazionale delle ricerche. Contributi alla storia degli studi etruschi e italici 2), Rom 1983; DERS.: Der ‘etruskische Mythos’ zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, in: Die Etrusker und Europa, hg. von MASSIMO PALLOTTINO (Ausstellungskatalog Altes Museum Berlin), Berlin 1992, 266–291; GABRIELE BICKENDORF: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert (Berliner Schriften zur Kunst 11), Berlin 1998, 225– 273. Zum Etruskismus bereits FREDERICK MASCIOLI: Anti-Roman and Pro-Italic Sentiment in Italian Historiography, in: The Romanic Review 33 (1942), 366–384. 43 Karl der Große wurde als Figur ambivalent gesehen; er konnte mit den deutschen Kaisern (dem ghibellinischen Universalismus), aber auch mit Frankreich identifiziert werden. THOMAS MAISSEN hat nachgewiesen, wie Florenz sich die Karlslegende gleichsam warmhielt, je nachdem, ob man mit Frankreich ging oder nicht. Salutati pflegte das gute Verhältnis zu Frankreich, auch und gerade im Kampf gegen die Mailänder Visconti, die er als Tyrannen stilisierte, gegen welche ganz Italien, geführt von Florenz, seine libertas verteidigen müsse; THOMAS MAISSEN: Von der Legende zum Modell. Das Interesse an Frankreichs Vergangenheit in der italienischen Renaissance (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 166), Basel 1994, 11–120. 44 In wesentlichen Zügen schon dargelegt bei CIPRIANI: Mito etrusco (wie Anm. 42), 8– 11; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), 98; DERS.: Humanistische Historiographie (wie Anm. 11), 15 f. 45 Zu Hans Baron und dem ‘civic humanism’: Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and reflections, hg. von JAMES HANKINS, Cambridge 2000 (Literatur).

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gründet zwar von den Römern, also durchaus von außen, aber eben nicht von Caesar, dem Tyrannen (nicht von den Caesares, Tiberii Nerones – pestes atque exitia rei publicae, die per summum scelus rem publicam adorti sunt), sondern in den Zeiten der römischen Republik, unter Sulla. Es war die Zeit, in der populi Romani imperium maxime florebat, Rom mithin bereits sein auch die florentinische Herrschaft motivierendes Weltreich besaß, in der aber dennoch die libertas sancta und inconcussa bestand.46 2. Erst in der ‚Historia populi Florentini‘ (1415/16ff.) verband Bruni die Aufwertung der römischen Republik als Ursprung der sullanischen Stadtgründung47 mit einer republikanischen Freiheitstradition der Stadt einerseits, mit protorömischen, also autochthonen Wurzeln andererseits. Diese entdeckte Bruni im Etruskertum. Villani und Salutati waren ihm vorangegangen, wie er stark unter livianischem Einfluß.48 Schon die alten Etrusker hatten ein mächtiges Reich, dabei eine Tradition kommunaler Städtefreiheit und eine blühende Kultur und Priesterreligion – ehe die Römer kamen: Ante romanum quidem imperium (wenngleich einst selbst in Italien eingewandert) longe maximas totius Italiae opes maximamque potentiam ac prae ceteris vel bello vel pace inclitum nomen Etruscorum fuisse inter omnes antiquissimos rerum scriptores haud ambigue constat.49 Die Etrusker kämpften gegen die Römer eher kavaliersmäßig, gegen die barbarischen Gallier aus dem Norden – hier spielt das aktuelle, politisch bedingte Franzosenbild hinein – hingegen erbittert.50 Für

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Laudatio Florentinae urbis (Opere letterarie e politiche di Leonardo Bruni), hg. von PAOLO VITI, Turin 1996, 600. Ein Vergleich mit der vorhumanistischen kommunalen Geschichtsschreibung der Villani usw. bietet sich an; siehe JÖRG W. BUSCH: Die vorhumanistischen Laiengeschichtsschreiber in den oberitalienischen Kommunen und ihre Vorstellungen vom Ursprung der eigenen Heimat, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 35–54. Vgl. HARALD TERSCH: Die Darstellung der römischen Frühgeschichte in deutschsprachigen Chroniken des Spätmittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 99 (1991), 23–68, bes. 59–66. 47 Sein Geschichtswerk beginnt mit dem Satz: Florentiam urbem Romani condidere a Lucio Sylla Faesulas deducti; LEONARDO BRUNI: History of the Florentine People. Bd. 1: Books I–IV (The I Tatti Renaissance Library), hg. und übersetzt von JAMES HANKINS, Cambridge 2001, 8. 48 CIPRIANI: Mito etrusco (wie Anm. 42), 2 f.; COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 8 wäre insofern geringfügig zu modifizieren: Bruni „was the first to evaluate positively the ancient Etruscans“ und zugleich „the first – at last since Tacitus – to evaluate the Roman empire negatively, […] to portray the principate as the death blow […] of the republic.“ Vgl. GARY IANZITI: Leonardo Bruni, first modern historian?, in: Parergon 14 (1997), 85–99. 49 BRUNI: Historia (wie Anm. 47), Bd. I, 13, 18 f. 50 BRUNI: Historia (wie Anm. 47), Bd. I, 13–49, beschreibt ausführlich die Geschichte der Etrusker und ihrer Kämpfe gegen Rom. PATRICK GILLI und THOMAS MAISSEN haben die Frankreichbilder in der gelehrten Kultur Italiens und die bedeutende Rolle von Gallophobie und Gallophilie für die lokalen Traditionen (Florenz, Siena, Mailand etc.) und ihre politischen Umprägungen aufgewiesen. Zu Brunis Bild der Etruskerkriege vgl. MAISSEN: Legende (wie Anm. 43), 47; PATRICK GILLI: Au miroir du humanisme. Les représentations de la France

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die Römer werden sie dann zu Kulturbringern, ein Modell, das der Römersicht des Livius nicht widersprach, der etruskische Elemente vor allem in der römischen Religion und Verfassung deutlich herausgestellt hatte.51 3. Den letzten Schritt vollzog Bruni noch expliziter in seiner Totenrede auf den Feldherrn Nanni Strozzi (1428), die sich an den Epitaphios des Perikles bei Thukydides anlehnte, im Modell der Stammes- und Kulturfusion:52 Zur Gründung von Florenz „kamen also die beiden vornehmsten Stämme Altitaliens zusammen“: Ad cuius originem civitatis due nobilissime ac praestantissime totius Italie gentes coierunt: Tusci veteres Italiae dominatores, et Romani, qui terrarum omnium virtute sibi et armis imperium pepererunt. Est enim civitas nostra Romanorum colonia veteribus Tuscorum habitatoribus permixta.53

Damit erschien Florenz, als Produkt dieser Stammes- und Kulturverbindung, als kulturelle und politische (Freiheits-)Vormacht auch des aktuellen Italiens legitimiert. Die Etrusker blieben seither präsent, etwa in der ‚Italia illustrata‘ des Flavio Biondo. Nicht nur die Geschichtsschreibung, auch das antiquarisch archäologische Interesse wandte sich ihnen zu. Auch hier bewirkte Annius von Viterbo am Papsthof einen wesentlichen Schub, indem er ‘Überreste’ zutage förderte, Genealogien auch der Etruskerkönige lieferte, vor allem aber Noe mit Janus, dem mythischen Gott Italiens, gleichsetzte und auch für das biblische Kittim eine neue Bedeutung prägte: quam nunc Italiam nominant.54 Die Glorifizierung der Etrusker fand sogar Eingang in die Renaissancearchitektur. Leon Battista Alberti konstruierte, Vitruv weiterführend, im Trakdans la culture savante italienne à la fin du Moyen-Age (ca. 1360–1490) (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 296), Rom 1997. 51 Nec imperii tantum insignia ceterumque augustiorem habitum sumpserunt ab Etruscis, verum etiam litteras disciplinamque. Auctores habere se Livius scribit, ut postea Romanos pueros graecis, ita prius etruscis litteris vulgo erudiri solitos; Bruni: Historia (wie Anm. 47), Bd. I, 26. Vgl. Liv.: Ab urbe condita, 1.2.5: Tanta opibus Etruria erat ut iam non terras solum, sed mare etiam per totam Staliae longitudinem ab Alpibus ad fretum Siculum fama nominis sui implesset; ebd. 5.33.7: Tuscorum ante Romanorum imperium late terra marique opes patuere. Eine Geschichte der Livius-Rezeption in der vorhumanistischen Stadt-Chronistik und in der humanistischen Historiographie seit Petrarca steht noch aus. 52 Zum Text: HANS BARON: The Crisis of the Early Renaissance. Civic humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny, Princeton ²1966, 412–439, bes. 415 f.; JOHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory and the Cultural Ideals of Italian Humanism, Chapel Hill 1989, 23 f., 41, 95–97; CLEMENS ZINTZEN: Leonardo Bruni und Thukydides. Bemerkungen zur Leichenrede des Leonardo Bruni auf Johannes Strozzi, in: Come l’uom s’etterna. Festschrift Erich Loos zum 80. Geburtstag, hg. von GIULIANO STACCIOLI/ERICH LOOS, Berlin 1994, 313–326; SUSANNE DAUB: Leonardo Brunis Rede auf Nanni Strozzi (Beiträge zur Altertumskunde 84), Stuttgart 1996, bes. 143–149; hier auch die jüngste, reich kommentierte Edition (281–302). 53 Oratio in funere Nanni Strozzae, hg. von PAOLO VITI (wie Anm. 46), 714; DAUB: Rede (wie Anm. 52), 283 f. 54 Annius von Viterbo [Berosus] (wie Anm. 24), 198.

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tat ‚De re aedificatoria‘ (VIII.4) einen ‘etruskischen’ Tempel.55 Um 1470, bei Planung und Bau seines Spätwerks Sant’Andrea in Mantua setzte er dessen Prinzipien zum Teil auch um, wobei er unter anderem auf die lokale Etruskertradition der Stadt Mantua rekurrierte.56 Die Großherzöge der Medici des 16. Jahrhunderts pflegten ein regionaldynastisches Toscana-Bewußtsein, indem sie immer wieder an die Etrusker erinnerten. Der Etruscismo des 18. Jahrhunderts bestand aus einer wissenschaftlicharchäologischen (1723/24 wurde das Tafelwerk des Schotten Thomas Dempster († 1625) ,De Etruria regali libri VII‘ postum veröffentlicht), und einer gesamtitalisch-romantischen Komponente;57 er leitete unmittelbar in das Risorgimento hinüber. Die Etrusker, darf man resümieren, dienten als politisch-antiquarische Frühprojektion auf unterschiedlichen Identitäts-Ebenen: der Stadt (das Florenz Brunis, das Viterbo des Annius), geweitet in Gestalt ihres Contado zur ‘Region’ Toscana, schließlich einer protonationalen italienischen Gesamtheit. Unter Mobilisierung neuentdeckter (Aelius Aristides) oder Remobilisierung altbekannter Texte (Livius) werden Traditionen kommunaler Geschichtsschreibung teils fortgesetzt (Römergründung), teils umgeprägt im Sinne protorömischer, sowohl politischer wie kultureller Autochthonie.

2. Deutschland und die Germanen58 Die ‚Germania‘ des Tacitus, die einzig erhaltene ethnographische Monographie der Antike, war um 1455 nach spannender Vorgeschichte von Kloster Hersfeld nach Italien gelangt. Wenn es eines Belegs bedürfte, daß Handschrif55 Vgl. VITRUV: De architectura III 3.5. Dazu GEORGE W. HERSEY: Alberti e il tempio etrusco. Postille a Richard Krautheimer, in: Leon Battista Alberti, hg. von JOSEPH RYKWERT/ ANNE ENGEL, Mantua 1994, 216–223, bes. 221 f. (mit Spezialliteratur zu Sant’ Andrea). Vgl. RICHARD KRAUTHEIMER: Albertis Templum Etruscum, in: Kunstchronik 13 (1960), 364–368. 56 Herzog Ludovico Gonzaga kündigte das Projekt als etruscum sacrum im Oktober 1470 an; HERSEY: Alberti e il tempio etrusco (wie Anm. 55), 221 f. mit Anm. 27. Erwähnt schon bei RUDOLF WITTKOWER: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, München 1969, 144, Anm. 24. Zu Sant’ Andrea (statt einer Fülle von Literatur): UDO KULTERMANN: Alberti’s S. Andrea in Mantua. The Prototype of a Renaissance Church, in: Pantheon 42 (1984), 107–113, bes. 108 f. zum etruskischen Planungselement und zur Etruskertradition des Orts. Weitere ‘Etruscica’ in Kunst und Architektur, etwa die Porticus der Medici-Villa in Poggio da Caiano, wären systematisch zu sichten. 57 CIPRIANI: Mito etrusco (wie Anm. 42); FRIEDRICH WOLFZETTEL/PETER IHERING: Der föderale Traum: Nationale Ursprungsmythen in Italien zwischen Aufklärung und Romantik, in: BERDING (Hg.): Nationales Bewußtsein (wie Anm. 4), 443–483, zum politischantiquarischen ‚revival etrusco‘ des 18. und 19. Jahrhunderts bes. 444–468. 58 Zur Tacitus-Rezeption (Auswahl): JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 11), passim; ULRICH MUHLACK: Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Bd. 1, hg. von HERBERT

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tenströme∗ Geistesströme bewirken können, dann wäre er hier am schlagendsten geliefert. Der erste, der diesen Klassiker beziehungsweise die von ihm eröffnete Perspektive auf eine germanische Frühzeit argumentativ verwendete, war 1457/58 Kardinal Enea Silvio Piccolomini. Erstmals in seinen großen Türkenkreuzzugsreden auf den Reichsversammlungen von Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt 1454/5559 hatte er, wie Demandt hübsch sagt, „ins Büffelhorn des Teutonenlobs gestoßen.“60 Er, der Italiener, ruft als erster überhaupt die deutschen Fürsten an: Vos Germani, gens bellicosa („Ihr Germanen, kriegerisches Geschlecht!“), er preist wohl als erster ihren Sieg über die Römer in der Varusschlacht. Eneas erst fünfzig Jahre später als ‚Germania‘ titulierter kirchenpolitischer Brieftraktat von 1457/58 führte dies weiter aus, instrumentiert mit einer stilbildenden Serie kurzer Städtebeschreibungen. Über die Germanen brachte er nichts, was nicht bei Caesar, Strabon oder eben Tacitus belegbar war.61 Wie Germanien zur Zeit des Romulus oder Alexander ausgesehen habe? Non liquet: incompertum est, qualis fuerit Germaniae facies.62 Das Modell, den Kontrast eines germanischen olim und eines gegenwärtigen nunc argumentativ gegenüberzustellen, findet sich bei Enea Silvio vorgeprägt: Parum quidem ea tempestate a feritate brutorum maiorum tuorum vita distabat63 – sagte der Kardinal und zählt die krassen Defizite der alten Germanen an religiöser Zivilisation (Götzendienst, Menschenopfer) und Bildung (natürlich keine Spur von litterae) auf, um freilich das Fehlen von Metall und Geld im Sinne des Tacitus als moralisches prae zu loben: Laudanda hec et nostris anteferenda moribus. Der Wandel kam durch die Römer (Germanica natio in po-

JANKUHN/DIETER TIMPE, Göttingen 1989, 128–154; AGOSTINO SOTTILI: Appunti sulla storiografia dell’umanesimo tedesco, in: DI STEFANO (Hg.): La storiografia humanistica, (wie Anm. 11), Bd. I.2, 793–823; DONALD R. KELLEY: Tacitus noster. The Germania in the Renaissance and Reformation, in: Tacitus and the Tacitean Tradition, hg. von TORREY J. LUCE/ANTHONY J. WOODMAN, Princeton 1993, 152–167; MÜNKLER/ GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 5), 163–168, 350 f.; [jetzt grundlegend DIETER MERTENS: Die Instrumentalisierung der ,Germania‘ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: HEINRICH BECK/DIETER GEUENICH u.a. (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch-deutsch‘. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 34), Berlin/New York 2004, 37–101.] 59 JOHANNES HELMRATH: Pius II. und die Türken, in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von BODO GUTHMÜLLER/WILHELM KÜHLMANN (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, 79–137, hier: 91–97, 104–117, in diesem Band Nr. IX. 60 ALEXANDER DEMANDT: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1984, 104, 106 f. 61 His [sc. den Worten des Strabo] sororia de Germania scribit Cornelius Tacitus; Aeneas Silvius ,Germania‘ und Jakob Wimpfeling: ,Responsa et replicae ad Eneam Silvium‘, hg. von ADOLF SCHMIDT, Köln 1962, II 4.47. 62 Ebd. II 2.46. 63 Ebd. II 4.47.

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testatem Romanorum facta est64), vor allem durch die Römerin par excellence: die römische Kirche. Das nunc zeigt daher blühende Städtelandschaften und materiellen Reichtum, kurzum – und das ist ja die eigentliche Schlußfolgerung – die Deutschen können spielend zahlen. Aber auch eine territoriale Expansion (amplitudo) der zeitgenössischen ‘Germanen’ gegenüber der Zeit Caesars und Tacitus’ wird konstatiert (c. 6). Das aktuelle Deutschland ist größer als das alte Germanien. Ein Teil der regio Belgica, Raetien und Noricum, Helvetien, die Alpen, Kärnten, Krain ja sogar jenseits von Oder und Weichsel im Osten Gebiete der Sarmaten, seien nun germanischen Rechts beziehungsweise germanisch besiedelt. Fazit: amplior est vestra natio quam unquam fuerit.65 In Deutschland wurde seither, aber mit einer signifikanten Zeitverzögerung von einer Generation nach Enea Silvio, die Tacituslektüre zum Maßstab für eine Beurteilung des nicht abgeschlossenen ‘Prozesses der Zivilisation’. Die Interpretation des Enea Silvio nahmen die deutschen Humanisten freilich nur kritisch in ihren Germanen-Diskurs auf. Dieser hatte folgende Möglichkeiten: a) Die ,Germania‘ als Beleg für einstige Barbarei und im Kontrast dazu für den seither erfolgten Fortschritt (durch die Kirche) – die Argumentation des Enea Silvio; b) die ,Germania‘ als Beleg für die fortbestehende oder wieder durchbrechende Barbarei – die Argumentation der Italiener; c) die ,Germania‘ als Beleg für schon dereinst bestehende Größe (Entbarbarisierung); ‘barbarische’ Eigenschaften der Germanen werden positiv umgewertet, insbesondere die germanische Treue, die als in der Gegenwart immer noch vorhandene neu zu erringende Tugend propagiert wird – die Argumentation der deutschen Humanisten (mit Ulrich von Hutten als Höhepunkt).66

3. Frankreich. Franzosen und Gallier Die gallische Vergangenheit der Druiden und des Vercingetorix spielte im französischen Mittelalter vor 1480 so gut wie keine Rolle, sie war „totalement oublié“.67 Zwar hätte mit Caesar seit jeher eine höchste Autorität zur Verfügung gestanden, aber diesem Werk haftete das Stigma der Gallier als Verlierer an. So waren es die Italiener, und zwar zunächst ausschließlich sie, wie Patrick Gilli nachweist,68 die den Franzosen ihre gallische Protoautochthonie (ein Vos Galli) vorstellten, wie es Enea Silvio und Giannantonio Campano 64

Ebd. II 5.48. Ebd. II 6.49. 66 Vgl. HANS GRÜNBERGER: Frühneuzeitliche Argumentationsmuster der Entbarbarisierung Europas, in: Paideuma 46 (2000), 161–187; MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 5), 210–234, 263–304. 67 GILLI: L’Histoire de France (wie Anm. 41), 77 f. 68 „Seul les Italiens“; GILLI: L’Histoire de France (wie Anm. 41), 78, Anm. 19. 65

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(Vos Germani) für die Deutschen getan hatten. Den materiellen Impuls setzten auch hier neue, sprich neu gelesene Texte: Diodor und Strabo. Paulo Emilio69 aus Verona nimmt nicht nur unter den Italienern,70 sondern überhaupt unter den Geschichtsschreibern Frankreichs eine hervorragende Stellung ein. Émile, Kleriker, wirkte seit 1488 in Paris als hochbesoldeter königlicher Hofhistoriograph, als angesehenes Mitglied des humanistischen Kreises um Jacques Lefebvre d’ Étaples. Er machte 1494 sogar die Expedition Karls VIII. in sein Heimatland an der Seite des Königs mit, arbeitete dabei zeitweilig als Steuereinnehmer in Lecce. In seinem ungedruckten Frühwerk, der ,Gallica antiquitas a primae gentis origine repetita‘ (1488), nahm Émile konsequent nicht Trojaner und Franken, sondern die alten Gallier in den Blick, und zwar in ihrer vorcaesarischen Expansionsphase.71 Heros ist der schon Johann von Salisbury (freilich für England als Brennus/Brito) geläufige Gallier Brennus, der Rom erobert, gleichsam als Folie für Karl VIII. Eine zweite Gabe, die Emilio dem Franzosen präsentierte und die schon zeigt, wie ambivalent humanistische Quellenerforschung (hier geht es um Diodor) sein konnte, war Herkules, der Gallier, ein homo perfectus, womit natürlich eine Assimilation von Galliern und Griechen (nicht Römern) intendiert ist. Herkules heiratet die Tochter eines Gallierkönigs, Galathea (davon die Galater/ Gallier). Es dauerte bis in die Mitte des Jahrhunderts, bis die Trojanersage unter Historikern weitgehend abgelehnt wurde und man die Gallier ganz als Vorfahren der Franzosen akzeptierte und erforschte. Förderlich wirkte allerdings auch hierbei Berosus/Nanni. Einen Meilenstein setzte 1510 Jean Lemaire de Belges (‚Illustrations de Gaule et singularités de Troie‘) den Höhepunkt dann wohl Guillaume Postel mit seiner ‚Apologie de la Gaule‘ von 1552.

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Zu Paulo Emilio (Emile): RAFFAELA ZACCARIA: Art. Emili, Paolo, in: Dizionario Biografico degli Italiani 42 (1993), 593–596 (unzureichende Deutung des Geschichtswerks); CORRADO VIVANTI: Paulus Aemilius Gallis Condidit Historias?, in: Annales 19 (1964), 1117–1125; COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 345–348; TELLENBACH: Eigene und fremde Geschichte (wie Anm. 41), 297, 305; MAISSEN: Legende (wie Anm. 43), 176–210, 461 s. v. und passim; FRANCK COLLARD: Paulus Aemilius’ ,De rebus gestis Francorum‘. Diffusion und Rezeption eines humanistischen Geschichtswerks in Frankreich, in: HELMRATH/ MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 377–397. 70 Allgemein: ZACHARY S. SCHIFFMAN: Art. French Historiography, in: Encyclopedia of the Renaissance 3 (1999), 168–172; PASCALE BOURGAIN: L’historiographie humaniste en France, in: DI STEFANO (Hg.): La storiografia umanistica 1/2 (wie Anm. 11), 761–792; DONALD R. KELLEY: Foundations of Modern Historical Scholarship. Language, Law, and History in the French Renaissance, New York/London 1970; PHILIPPE DESAN: Nationalism and History in France during the Renaissance, in: Rinascimento 24 (1984), 261–288; wichtig: ASHER: National Myths in Renaissance France (wie Anm. 23). 71 Eine ,Franciae antiquitas‘ (1491/92) als Grundlage des späteren Hauptwerks folgte erst danach. Zu Brennus auch MAISSEN: Legende (wie Anm. 43), 180 f., 321 f.

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VII. Die Umprägung von Geschichtsbildern

Émiles Hauptwerk ‚De rebus gestis Francorum libri VII‘ (von 1516 an sukzessive, komplettiert dann nach Émiles Tod 1539 erschienen)72 beginnt mit den Franken und erfaßt das französische Mittelalter bis in die Zeitgeschichte Karls VIII. (1488). Émile brach mit der Leitquelle, den seit dem 13. Jahrhundert in Saint-Denis, dann am Königshof selbst fortgeschriebenen, 1477 durch Pasquier Bonhomme zum Druck gebrachten, offiziösen ‚Grandes Chroniques de France‘. Er tat dies wesentlich konsequenter als seine französischen Kollegen, etwa 1495 der Konkurrent Robert Gaguin mit seinem ‚Compendium de origine et gestis Francorum‘,73 und dies obwohl die ‚Chroniques‘ neben dem humanistischen Dekadenwerk des Flavio Biondo notgedrungen seine wichtigste Quelle bleiben müssen.74 Er dekonstruiert weitere Kern-Legenden der französischen Königsnation: die Taube von Reims, die Schlacht von Roncevalles, spart nicht an Kritik, etwa an den Albigenserkriegen des 13. Jahrhunderts. Anfeindungen gegen den respektlosen Ausländer blieben nicht aus, unter anderem durch Jean Bodin. Émiles Opus magnum, an dem er skrupulös über alle politischen Unbilden hinweg vierzig Jahre hindurch immer neu feilte, stellt letztlich eine Heldengalerie von viri illustres in Gestalt der französischen Könige dar, Karl der Große obenan.75 Es ist ein besonderes Beispiel für säkularisierte innerweltliche Geschichte, in der – hierin an Machiavelli gemahnend – unberechenbar Fortuna herrscht und virtus sich bewähren kann. Kurzum: Émile bescherte den Franzosen in Umfang, Qualität und Stil ein sorgfältigst komponiertes Meisterprodukt humanistischer Nationalgeschichtsschreibung.

4. England: Engländer und Kelten/Angelsachsen76 In Polidoro Virgilio (Polydor Vergil) aus Urbino (1470–1555) hatte Émile geradezu einen Zwillingsbruder.77 Auch Polydor war 1505 wirklich nicht als

72 Pauli Aemilii Veronensis de rebus gestis Francorum Libri VII, Paris (I. Badius Ascensius), o. J. 73 Zu Gaguin, seiner Quellenbenutzung und Methode: FRANCK COLLARD: Un historien au travail à la fin du XVe siècle: Robert Gaguin (Travaux d’humanisme et Renaissance 301), Genf 1996; ebd. s. v. passim auch zu Paul Emile. 74 „Emili began only with those of the Franks who were specifically mentioned in reliable late-Roman authorities“; COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 348. 75 Zur Karlsfigur vgl. oben Anm. 43. 76 DANIEL R. WOOLF: Art. British Historiography, in: Encyclopedia of the Renaissance 3 (1999), 172–178; FRED J. LEVY: Tudor Historical Thought, San Marino (Calif.) 1967, 53–77; ARTHUR B. FERGUSSON: Clio Unbound. Perception of the Social and Cultural Past in Renaissance England, Durham (North Carolina) 1979; HUGH A. MACDOUGALL: Racial Myth in English History. Trojans, Teutons and Anglosaxons, Montreal 1982; The Celts and the Renaissance. Tradition and Innovation, hg. von GLANMOR WILLIAMS, Cardiff 1990.

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Apostel des Humanismus78 in das England des Tudorkönigs Heinrichs VII. gekommen, sondern als Begleiter des päpstlichen Kollektors für den Peterspfennig. Wie Émile wurde er an den königlichen Hof gerufen, wo er eng in die intellektuellen Kreise um Thomas More eingebunden war. Der König selbst erteilte den Auftrag, die ‚Historia Anglica‘ zu verfassen, das aus heutiger Sicht zusammen mit Thomas Mores ‚Vita Heinrici VII‘ einzig vollhumanistische Werk der englischen Historiographie. Was zeichnete Polydor aus? Wie stand er zu den nationalen Mythen? Die Engländer bedurften durchaus weniger als die Deutschen oder Franzosen eines weckenden Zurufs im Stile eines Vos Britones. Hier hatte man bereits sein autochthones, britisches Geschichtsbild. Seine Palladien waren als europäisches Gemeingut die Trojaner (Brutus/Brito, Urenkel des Aeneas, landet mit Trojanern auf der Insel Albion) und, als insulare Spezialität, die Artussage.79 Wie Émile bricht auch Polydor mit einer Leitquelle, mit Geoffrey von Monmouth, und den aniles fabulae seiner ‚Chronica regum Britanniae‘ (1138) und ,Vita Merlini‘ (ca. 1150).80 Polydor hingegen setzt auf die antiken Texte, vor allem auf die einzige ereignisnahe Quelle der Völkerwanderungszeit, den ,Gildas‘ (vor 547), den er als erster edierte, ferner auf Beda. Er ist sich bewußt, daß nach der Sichtung und Prüfung der Quellen eine nova historia entsteht.81 Seine Skepsis nicht verhehlend, referiert er dann gegen den Strich als „on dit“ aber doch die Trojanermythen um Brito/Brutus als Vater Britanniens, während dann Artus provokant lakonisch auf wenigen Zeilen abgehandelt wird, eine historische Fußnote, kein Supermann. 77

The Anglica Historia of Polydore Vergil, A. D. 1485–1537 (Camden Series LCXXIV), hg. von DENYS HAY London 1950 (Edition des letzten Buchs). Über Polydor Vergil: ebd. IX–XL; DERS.: Polydor Vergil. Renaissance Historian and Man of Letters, Oxford 1952; COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 345–348; LEVY: Tudor Historical Thought (wie Anm. 76), 53–73; ANTONIA GRANSDEN: Historical Writing in England, Bd. 2: c. 1307 to the Early Sixteenth Century, London 1982 (²1996), 425–443; FRANK REXROTH: Polydor Vergil als Geschichtsschreiber und der englische Beitrag zum europäischen Humanismus, in: HELMRATH/ MUHLACK/WALTHER (Hg): Diffusion (wie Anm. 4), 415–435. 78 Nach dem ephemeren Gastspiel des Poggio Bracciolini, nach Legationen der Humanisten Gherardo Landriani und Piero da Monte setzte das historiographische Vorspiel Tito Livio Frulovisi, der im Auftrag Herzog Humphreys von Gloucester eine Vita Heinrichs V. schrieb; GUIDO ARBIZZONI: Art. Frulovisi, Tito Livio de, in: Dizionario Biografico degli Italiani 50 (1998), 646–650; SUSANNE SAYGIN: Humphrey, Duke of Gloucester (1390–1447) and the Italian Humanists (Brill’s Studies in Intellectual History 105), Leiden 2001, 72–80. 79 DAVID A. SUMMERS: Refashioning Arthur in the Tudor Era, in: Exemplaria 9 (1997), 371–392. 80 HERBERT PILCH: Art. Geoffrey von Monmouth, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), 1263 f.; KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 10), 170–184, 962 s. v. passim. 81 Ego, qui me iam pridem ad investigandas veterum res dederam, coepi illas ipsas Anglorum ac aliarum gentium annales accuratius evolvere, legere, haurire et exscribere, que ad confectionem novae historiae pertinerent; Polydori Vergilii Urbinatis Anglicae Historiae libri XXVI, Basel 1534, 17.

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Polydor schreibt, wie Émile, letztlich Königsgeschichte, tastet sich an den Viten der Könige langsam und vorsichtig in die eigene Zeitgeschichte vor, zum providentiellen Aufstieg des Hauses Tudor. Dieses brauchte aber, als junge Dynastie, die unter Heinrich VIII. zudem im Begriff war, sich durch die Reformation dem traditionssichernden Mantel des Papsttums zu entziehen, gerade die mythisch-unanfechtbare Verankerung, mit anderen Worten: die Trojaner – und noch mehr den König Artus.82 Hier wie im Valois-Frankreich brauchte Herrschaft Herkunft. Kritik an Polydor, dem Dekonstruktor und Beschmutzer des fremden Nests blieb nicht aus: „The most raskal knave dogge of the worlde“, tönte es aus dem Mund des Papistenjägers John Foxe.83 John Leland verfaßt in diesem Konflikt seine ‚Verteidigung des ruhmreichen Königs Artus‘. Es war auch ein paradoxer Streit der Methoden. Leland führte – neben Berosus – als moderne Waffe zur Verteidigung seiner Geschichte nichttextuelle Quellen ins Feld, bediente sich eines Kindes des Humanismus, der Archäologie, die nun eben nicht römische Statuen, sondern Relikte und Reliquien des Königs Artus ans Licht bringen sollte. Das zweite Quellenfundament, auf welches die ‘nationale’ Verteidigung sich stützte, war die volkssprachige englische Literatur. Sie diente als Munition gegen die skeptische Geschichtsschreibung des Polydor, die sich freilich an rein historiographischen Quellen orientierte.

5. Spanien: Goten (und Iberer?) Hier wirkte mit Lucius Marinaeus Siculus († 1536) aus Vizzini (Sizilien) ebenfalls ein markanter italienischer Historiograph.84 Er lehrte 1484–1496 in Salamanca Poetik und Rhetorik, wie sein Rivale Antonio de Nebrija, der 82

SUMMERS: Refashioning Arthur (wie Anm. 79), 373. Zitiert nach COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 349, und SUMMERS: Refashioning Arthur (wie Anm. 79), 377. Zum Folgenden erhellend REXROTH: Polydor (wie Anm. 77). 84 Guter Überblick zum spanischen Humanismus: OTTAVIO DI CAMILLO: Humanism in Spain, in: Renaissance Humanism, Bd. 2: Humanism beyond Italy, hg. von ALFRED RABIL JR., Philadelphia 1988, 55–108. Zur humanistischen Historiographie Spaniens ROBERT B. TATE: Ensayos sobre la historiografia peninsular del siglo XV (Biblioteca Románica Hispánica 2), Madrid 1970; DERS.: The Rewriting of Historical Past in Historical Literature of Medieval Iberia, in: Historical Literature in Medieval Iberia, hg. von ALAN D. DEYERMOND, London 1996, 85–104. – Zu Lucius Marinaeus Siculus vgl. COCHRANE: Historians (wie Anm. 11), 345–347; ROBERT B. TATE: Lucio Marineo Siculo y Gonzalo García de Santa Maria, in: DERS.: Ensayos sobre la historiografia (siehe oben), 249–262; ERIKA RUMMEL: Marineo Sículo: A Protagonist of Humanism in Spain, in: Renaissance Quarterly 50 (1997), 701–722 (nur über die Epistulae). [Zur spanischen Historiographie jetzt grundlegend: STEFAN SCHLELEIN: Chronisten, Räte, Professoren. Zum Einfluss des italienischen Humanismus in Kastilien am Vorabend der spanischen Hegemonie (ca. 1450–1527) (Geschichte und Kultur der iberischen Welt 6), Berlin 2010, darin u.a. zu Marinaeus passim.] 83

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führende spanische Humanist seiner Zeit, der seinerseits in Italien die Weihen der studia humanitatis empfangen hatte. 1499 wurde Marinaeus Hofkaplan und Historiograph am Hofe der Katholischen Könige, dann Karls V. Erst 1530 erschien in Alcalà das bislang wenig erforschte nationale Geschichtswerk ‚Opus de rebus Hispaniae memorabilibus‘. Es ist Kaiser Karl V. gewidmet. Bei Nebrija wie bei Marinaeus Siculus beobachtet man eine jener geradezu blitzschnellen Rezeptionen des Annius, der ja aus Berosus eine Urgeschichte Spaniens mit 24 Königen ableitete. Ein gewisser Goticismus, die Vorstellung einer seit den Westgoten bestehenden dynastischen, weniger ethnischen Kontinuität, hatte in Spanien das ganze Mittelalter über Tradition. Hier bedurfte es insofern kaum einer indigenen Umprägung des Geschichtsbilds.85 Allerdings war es keine eigentlich protorömische Autochthonie.86 Die Herkunft der Goten aus Skandinavien kannte bereits 1247 der Chronist Jiménez de Rada87 (und vor ihm schon Frechulf von Lisieux). Bilanz: Die vier hier vorgestellten italienischen Humanisten und Historiker Enea Silvio, Emilio, Polidoro, Marinaeus – man sollte ihnen noch Antonio Bonfini aus Ascoli hinzufügen, den 1484 König Matthias von Ungarn als Hof-Geschichtsschreiber engagierte88 – weisen ein partiell ähnliches Schicksal auf: Es waren Ausländer, umworbene und verdächtigte Söhne der Renaissancevormacht Italien. Sie waren als Spezialisten engagiert worden, lebten höfisch integriert, aber ohne dem engen Machtzirkel anzugehören, und bewahrten so viel von der Distanz des Außenseiters. Das schwächere Wallen des patriotischen Herzbluts – führte es zu kühlerer Quellenkritik? Oder wurde die natürliche Distanz durch höfische Zwänge und Schutzbedürftigkeit aufgezehrt? Emilio, Polidoro, Bonfini waren Hofhistoriker, insofern der regierenden Dynastie panegyrisch verpflichtet, im zeitgeschichtlichen Urteil daher vorsichtig, aber doch keine Knechte oder Eiferer an einer der Fiktion elementar bedürftigen dynastisch-nationalen Identitätsfront. Unsere Italiener konnten sich der Dialektik von Fakten und Fiktionen nicht entziehen – wie sollte es anders 85

KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 10), 13–77. Antiquarisches Interesse für prä-römische Geschichte unter Einfluß Brunis, Biondos und Enea Silvios ist bei dem Humanisten Juan Margarit y Pau (1421–1484) zu beobachten; KELLEY: Humanism and History (wie Anm. 11), 249. Sein ‚Paralipomenon‘, eine Frühgeschichte der iberischen Halbinsel, wurde erst 1543 gedruckt; LUIS C. BATTLE: Art. Margarit i Pau, Joan, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1993), 242. Ob im 15./16. Jahrhundert bereits ein Interesse für die autochthonen Iberer (analog zu Galliern und Briten) festzustellen ist, muß als Frage offen bleiben. 87 KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 10), 34–40, 75–77. Aber erst der Humanist Alonso Garcia de Cartagena (de Santa Maria) präzisierte etymologisch das Wortfeld Gothia/ Götland etc. 88 Zu Bonfini und seiner ungarischen Nationalgeschichte, den ,Rerum Hungaricarum decades‘: LÁSZLÓ HAVAS/SEBESTYÉN KISS: Die Geschichtskonzeption Antonio Bonfinis, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 4), 281–307. 86

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sein. Sie blieben, soweit Zeitgenossen, mit Ausnahme des Marinaeus Siculus berosusresistent; sie zerstörten als Historiker einheimische Mythen (Troianer, Artus) und klaubten doch deren Trümmer zitierend wieder zusammen; wurden, wie Emilio und Polidoro, deshalb angefeindet. Sie konstruierten – wiederum als Historiker – zum Teil andere Mythen wie Hercules den Gallier. In beiden Fällen prägten sie Geschichtsbilder um. In ihren Texten schwingt sowohl Skepsis – eine Skepsis, die wir für den Historiker als angemessen anzusehen geneigt sind – als auch nationale, dynastische Affirmation. Was für sie wirklich zur ‘eigenen’ geworden, was ‘fremde Geschichte’ geblieben war – eine Frage, die sich nicht beantworten läßt. Ihre gelehrten Geschichtswerke jedenfalls, Kunstwerke, in makelloses Latein von funkelnder Kühle gefeilt, waren am Ende in ihren Gastländern und darüber hinaus Erfolge. Das Opus eines Paul Émile, eines Polydor Vergil avancierte jeweils zu dem prägenden nationalen Geschichtsbuch für die Gebildeten. Aus Polydor, in der Übersetzung Holinshed’s, pflegte auch Shakespeare den Stoff seiner Königsdramen zu schöpfen. Zugleich Dokumente und Motoren eines Nationendiskurses,89 wurden sie das, was bisher nur die verehrten antiken Autoren gewesen waren: Klassiker.

89 „Nations are created by states, and historiography is both the record and the instrument of this process.“ – JOHN G. A. POCOCK: The Limits and Divisions of British History. In Search of the Unknown Subject, in: Historical Review 87 (1982), 311–336, hier 321.

VIII.

Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500*1 Zwei Expositionen. Die erste: Um 1459 gab ein gewisser Pantaleone Confienza aus Piemont einen Überblick über die Regionen Europas. Das charakterisierende Kriterium waren die dort produzierten Käsespezialitäten. Die Passage beginnt mit zehn italienischen Regionen. Florenz, Pflanzmutter des Hu manismus, steht auch hier obenan (de caseo Florentino); auf Italien folgt Frankreich (de caseo Galico continens multas provincias). Pantaleones ‚Summa lacticiniorum‘, als Handbuch der Käseherstellung ein bemerkenswertes Beispiel mittelalterlicher Fachliteratur, bediente sich mit dem neutralen Be* Zuerst in: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, hg. von MATTHIAS WERNER (Vorträge und Forschungen 61), Ostfildern 2005, 333–392. 1 Der Beitrag stellt die erweiterte Fassung meines Tagungsvortrags ‚Landesbeschreibung und Landesbewußtsein im europäischen Frühhumanismus‘ vom April 2000 dar. Vgl. mit manchem parallel im vorliegenden Band Nr. VII. – Im vorliegenden Kontext pionierhaft: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeitalter des Humanismus, hg. von FRANZ BRENDLE/DIETER MERTENS u.a. (Contubernium 56), Stuttgart 2001; vgl. dazu zusammenfassend GERRIT WALTHER, in: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 26 (2002), 88–91; Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von JOHANNES HELMRATH/ULRICH MUHLACK/GERRIT WALTHER sowie bereits: Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 17. Jahrhundert, hg. von HANS-BERND HARDER (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien 5), Köln/Wien 1983. Desweiteren die Freiburger Dissertation von GÜNTER WERNER: Ahnen und Autoren. Landeschroniken und kollektive Identitäten um 1500 in Sachsen, Oldenburg und Mecklenburg (Historische Studien 467), Husum 2002; sowie: Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Europa, hg. von JOACHIM BAHLCKE/ ARNO STROHMEYER (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 29), Berlin 2002, hierin vor allem MATTHIAS WEBER: Zur Konzeption protonationaler Geschichtsbilder. Pommern und Schlesien in Geschichtlichen Darstellungen des 16. Jahrhunderts (55–79). Unverzichtbar: JACQUES RIDÉ: L’image du Germain dans pensée et la litérature allemandes de la redécouverte de Tacite à la fin du XVIe siècle. Contribution à l’étude de la genèse d’un mythe, 3 Bde., Paris 1977. Den Studenten meines Hauptseminars „Humanismus und regionale Identität“ (Humboldt-Universität Berlin Wintersemester 2000/01) danke ich für manche Anregungen. – Zur Historiographie des Humanismus: PAUL JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (Beiträge zur Kultur des Mittelalters und der Renaissance 6), Leipzig 1910 (ND Aalen 1968). Leider noch nicht ersetzt: EDUARD FUETER: Geschichte der neueren

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VIII. Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie

griff∗ provincia eines pragmatischen Regionalismus zur Orientierung.2 Auf diese Art problemloser Circumcision, die es selbstverständlich gab, ist eingangs hinzuweisen, als weiter nicht mehr befragten Hintergrund des Folgenden. Zweite Exposition: Konrad Celtis kerygmatischer Archeget des deutschen Humanismus wie einer deutschen Nationalliteratur, schuf mit seinen ‚Quatuor libri amorum secundum quatuor latera Germanie‘ (1502),3 wie schon im Historiographie (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte Abt. I), München 3 1935 (ND mit einem Nachwort von HANS CONRAD PEYER Zürich 1985), 1–306; ERIC COCHRANE: Historians and Historiography in the Italian Renaissance, Chicago1981 mit einem unübertroffen breiten Autorenspektrum, aber im Urteil über die Werke oft hemdsärmlig und abqualifizierend; ECKHARD KESSLER: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Humanistische Bibliothek, Reihe 1/25), München 1978 (²2002); ERICH MEUTHEN: Humanismus und Geschichtsunterricht, in: Humanismus und Historiographie, hg. von AUGUST BUCK, Weinheim 1991, 5–50 (Literatur), sowie grundlegend ULRICH MUHLACK: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, für das Folgende vor allem 199–219; DIETER HARTH: Art. Geschichtsschreibung. IV: Renaissance, Barock, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998), Sp. 850–856. 2 Formaggi del Medioevo. La ‚Summa lacticiniorum‘ di Pantaleone da Confienza, hg. von IRMA NASO, Turin 1990, mit umfassender Einleitung, Edition: 85–145. Der regionale Überblick umfaßt den mittleren Teil des dreiteiligen Traktats. Nach Italien und Frankreich, offenbar schon damals dem Käseland par excellence – der Text beginnt mit den Worten: Istud solum capitulum exigeret unum tractatum, ita est magna et maxima provincia –, folgen England, Flandern und (sehr knapp) Deutschland. 3 Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, lateinisch und deutsch, hg. von WILHELM KÜHLMANN/ROBERT SEIDEL/HERMANN WIEGAND, Frankfurt am Main 1997, 72–137. Auszüge in: Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, hg. von HEDWIG HEGER (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse II/2), München 1978, 22–28 und 872 f.; Die rasanten Fortschritte der Celtisforschung zeigen die beiden ausgezeichneten, für das gesamte Themenfeld und den deutschen Humanismus grundlegenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten von: GERNOT M. MÜLLER: Die ‚Germania generalis‘ des Konrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar (Frühe Neuzeit 67), Tübingen 2001, zu den Landesdiskursen der ‚Quatuor libri amorum‘ 41–44, 187–204, 531 s. v., und JÖRG ROBERT: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich (Frühe Neuzeit 76), Tübingen 2003, mit der Literatur, siehe besonders 85–92, 174–184, 345–439 sowie das Kapitel ‚Amores‘ und ‚Germania illustrata‘: ‚Nationaler Diskurs und elegisches Deutschlandbild‘: „Die ‚Amores‘ sind nichts anderes als die eine vollständige Einlösung der bis dahin zusammengetragenen Daten einer ‚Germania illustrata‘ und ermöglichen immer wieder in Text und Bild deren methodische und diskursive Rekonstruktion.“ (516). Weiterführend auch WILHELM KÜHLMANN/WERNER STRAUBE: Zur Historie und Pragmatik humanistischer Lyrik im alten Preußen. Von Konrad Celtis über Eobanus Hessus zu Georg Sabinus, in: Kulturgeschichte Ostpreußens in der frühen Neuzeit, hg. von KLAUS GARBER/AXEL KOMOROWSKI/AXEL E. WALTER (Frühe Neuzeit 56), Tübingen 2001, 657– 736, zu Celtis 663–669; Zu Celtis vgl. ferner RIDÉ: L’image (wie Anm. 1), 198–260; STEFAN ZABLOCKI: Beschreibung des Ostens in den Elegien von Conrad Celtis, in: HARDER (Hg.): Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1), 141–164; HAROLD B. SEGEL: The

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hexametrischen Lehrgedicht der ‚Germania generalis‘, ein hochkomplexes Stück humanistischer Modelliteratur. Amor wird hier zum Topographen. Landesbeschreibungen kleiden sich in die Form von Liebesgedichten an Frauen, die der Vielgereiste auf seiner Wanderung (decennalis peregrinatio) durch die Germania magna an deren vier Ecken kennengelernt haben will; so Hasilina zu Krakau an der Weichsel im Osten (Sarmatia) oder Ursula zu Mainz am Rhein im Westen. Celtis überblendet hier verschiedene Referenzräume in einzigartiger Pluralität. Vor allem Jörg Robert hat sie nun erschlossen: neuplatonisch unterlegte Liebeselegie und Topographie, poetische Idealbiographie und nationales Enkomion. Es ist eine ‘Germania illustrata’ des Weiblichen. Denn vielfache Tetradik läßt die Frauen zu Personifikationen ihrer Landschaften und deren Raumzentren werden. Sie werden zu Gewässern und Städten (auch auf dem Titelbild: um Böhmen als Mitte sind es Krakau, Regensburg, Mainz und Lübeck), aber auch der vier Temperamente und Lebensalter. Ein Bezug zu Pantaleones Käselandschaften stellt sich insofern her, als Celtis in seinem Lobpreis der Regionen Deutschlands auch deren kulinarische Köstlichkeiten aufführt.4 Die Schlüsselrolle des Celtis und seines großen Projekts einer ‚Germania illustrata‘ nach Vorbild von Flavio Biondos ‚Italia illustrata‘ (Druck: 1474)5 als Impulsgeber für den nationalen, aber eben auch für den regionalen Diskurs einer ganzen Generation deutscher Humanisten darf als communis opinio

Humanist a-Touring: Celtis among the Sarmatians, in: Renaissance Culture in Poland. The Rise of Humanism 1470–1543, hg. von DEMS., Ithaca 1989, 83–106; Amor als Topograph. 500 Jahre ‚Amores‘ des Konrad Celtis. Ein Manifest des Humanismus. Ausstellungskatalog, hg. URSULA HESS/GÜNTER HESS/JÖRG ROBERT, Schweinfurt 2002. 4 Amores II, 6, 31 ff., siehe ROBERT: Celtis (wie Anm. 3), 279, Anm. 99. Zu den berühmten Holzschnitten der ,Amores‘ und dem platonisierenden Ansatz des Werks: DIETER WUTTKE: Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen Erzhumanisten Conradus Celtis. Eine ikonologische Studie zur programmatischen Graphik Dürers und Burgkmairs, in: DERS.: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, Bd. 1, BadenBaden 1996, 389–454, bes. 402–443; LARRY SILVER, German Patriotism in the Age of Dürer, in: Dürer and his Culture, hg. von DAGMAR EICHBERGER/CHARLES ZIKA, Cambridge 1998, 38–68, bes. 43–45; mit breit angelegtem Material PETER LUH: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollständige Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte (Europäische Hochschulschriften. Reihe 28/390), Frankfurt am Main 2001. 5 OTTAVIO CLAVUOT: Flavio Biondo, in: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hg. von VOLKER REINHARDT, Stuttgart 1997, 49–52; DERS.: Biondos ,Italia Illustrata‘ – Summa oder Neuschöpfung? Über die Arbeitsmethoden eines Humanisten (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 69), Tübingen 1990; RICCARDO FUBINI: La geografia storica dell’,Italia illustrata‘ di Biondo Flavio e le tradizioni dell’etnografia, in: La cultura umanistica a Forlì fra Biondo e Melozzo (Istituto per i beni artistici culturali e naturali della regione Emilia-Romana), hg. von LUISA AVELINI/LARA MICHELACCI, Bologna 1997, 89–112; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 199–202, 456 s. v.

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gelten.6 Schon in seiner Ingolstädter Antrittsrede des Jahres 1492 beklagte Celtis, eingekleidet in den nationalen Appell an einen politischen und kulturellen Wiederaufstieg Germaniens/Deutschlands, das Fehlen einer nationalen Geschichtsschreibung. Zu diesem „Bildungsvakuum“ (Meuthen) gehöre auch das Fehlen geographischer Kenntnis der regio nostra: Eine große Schande sei es, so Celtis, die antiken Klassiker zu ignorieren (Graecorum et Latinorum nescire historias), eine noch größere aber, das eigene Land nicht zu kennen, regionis nostrae et terrae ... situm, sidera, flumina, montes, antiquitates, nationes; es erscheine ihm wie ein Wunder, wie Griechen und Römer tam exacta diligentia et exquisita doctrina das – einst noch wilde und rohe (asperam et crudam) – Land Germanien (terram nostram, maximam Europae partem) ebenso wie mores(que) nostros, affectus et animos durchstreift und durchforscht (perlustraverint) und in Wort und Bild (verbis tanquam picturis et lineamentis corporum) beschrieben hätten.7 Zweierlei kommt hier zusam6 Grundlegend: JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 155–195; DIETER MERTENS: Konrad Celtis ‚Germania illustrata‘, in: REINHARDT (Hg.): Hauptwerke (wie Anm. 5), 97–100; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 199–215; DERS.: Das Projekt der ‚Germania illustrata‘. Ein Paradigma der Diffusion des Humanismus?, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion (wie Anm. 1), 142–158; REINHARD STAUBER: Hartmann Schedel, der Nürnberger Humanistenkreis und die „Erweiterung der deutschen Nation“, in: ebd.: 159–185; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 441–483, 523 s. v. passim zu Biondo als Vorbild. Überblick bei NINE MIEDEMA: Die Nürnberger Humanisten und die ‚Germania illustrata‘. Tradition und Innovation im Bereich der Geographie um 1500, in: RUDOLF SUNTRUP/JAN R. FEENSTRA: Tradition and Innovation in an Era of Change/Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit (Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 1), Frankfurt am Main 2001, 51–74; zuletzt, weiterführend, ROBERT: Celtis (wie Anm. 3), 346–439 und passim. 7 Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten, hg. von HANS RUPPRICH (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Humanismus und Renaissance 2), Leipzig 1935, 229, Z. 24–33; dasselbe bei HEGER (Hg.): Spätmittelalter, Humanismus und Reformation (wie Anm. 3), 5 f. Zur Interpretation: MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 217–223, bes. 220, 229–232, 258–263, zur Kritik am Fehlen geographischer Texte über Deutschland bereits bei Enea Silvio s.v.; zuletzt ULRICH MUHLACK: Kosmopolitismus und Nationalismus im deutschen Humanismus, in: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zum 65. Geburtstag, hg. von HELMUT NEUHAUS/BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Historische Forschungen 73), Berlin 2002, 19–36, hier 31–34. – Hinzuweisen ist bereits auf die Aufzählung in Rudolf Agricolas älterer ,Epistola ad Iacobum Barbirianum‘ von 1484: Nicht auf einen Zugang nach Art der Schule (quae nunc vulgo in scholis fieri videmus) komme es an, sed res ipsas attingendas censuerim, tam terrarum, marium, montium fluviorum situs, naturas gentiumque in his mores terminos conditionem, imperia vel accepta vel prolata, tam arborum herbarumque vires ... iam animantium historiam, generationem, partes, quas Aristoteles literis mandavit perquirendum; De formando studio Rodolphi Agricolae, Erasmi Roterodami et Philippi Melanchthonis rationes, Köln 1555, fol. 4v; siehe GEORG IHM: Der Humanist Rudolf Agricola, sein Leben und seine Schriften (Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit

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men: der alte Fundus der antiken Erfahrungs-Texte und neue, eigene durch Reisen zu gewinnende Autopsie. Die Werke der italienischen Humanisten, die sich als Nachfolger der antiken Autoren und Erben ihrer Prestige spendenden Deutungshoheit fühlten, schätzten Celtis und seine Anhänger zwar weiter als Vorbilder, die im Sinne einer ‘translatio artium’ zunächst weiterhin zu imitieren waren.8 Man empfand aber zunehmend die Übermacht der Romanen und ihre Kulturkritik als deklassierend und suchte kompetitiv, durch eigene Werke, autark zu werden und dabei den übermassiv wahrgenommenen Barbarenvorwurf abzuweisen oder gar umzukehren.9 Das Celtis-Zitat macht innerhalb des neuen, nationalen, Orientierungsrahmens den charakteristischen Appell zur empirischen Deskription der „Ordnungen und Gegebenheiten des Naturraumes“ und seiner Bewohner als Umwelt einer vom Menschen gestalteten Geschichte, wie sie die Humanisten empfanden, deutlich. Auch wenn die beiden Singulare regio und terra sich hier auf ganz Germanien – als Teil Europas – beziehen, so wird doch das entscheidende Stufenprinzip eines neuen Typs humanistisch geprägter Landeskunde klar: vom wachen Wahrnehmen kulturgeographischer Einheiten über die binnendifferenzierenden Geschichten einzelner Teil-nationes und -regiones summativ zur Ruhmesgeschichte ‘der’ ganzen Nation zu gelangen. Diese funktionale und ideologische Verflechtung von nationalistischen und regionalistischen Modellen darf für den humanistischen Nationalismus als typisch gelten. Wie aber konnten 15), Paderborn 1893, 56. Zur Landesbeschreibung als Aufgabe des Redners vgl. Quintilian: Institutio oratoria, 9.2.44 (hypotyposis/locorum dilucida et significans descriptio); ROBERT: Celtis (wie Anm. 3), 180, Anm. 134. 8 FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte des Stuttgarter Germanistentags 1972, hg. von WALTER MÜLLER-SEIDEL, München 1974, 499– 519; hier vor allem 513–518; DERS.: Imitatio in Augsburg. Zur Physiognomie des deutschen Frühhumanismus, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 129 (2000), 187–201; ERICH MEUTHEN: Charakter und Tendenzen des deutschen Humanismus, in: Säkulare Aspekte der Reformationszeit, hg. von HEINZ ANGERMEIER (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 5), München 1984, 217–276, bes. 222 f. 9 Dazu sehr klar MUHLACK: Kosmopolitismus (wie Anm. 7), bes. 29–33; mit vielen neuen Einsichten ROBERT: Celtis (wie Anm. 3), 378–439. Zum Antibarbarismus zuletzt CASPAR HIRSCHI: Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 355–396, hier 370–377; HANS GRÜNBERGER: Wir und die Anderen oder: Barbaren unter sich. Zur Xenographie im deutschen Humanismus des späten 15. und 16. Jahrhunderts, in: Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, hg. von BRIGITTE FELDERER/THOMAS MACHO, München 2002, 40–69 (Literatur); DERS.: Die Exklusion der Barbaren aus Nation und Konfession im Diskurs der deutschen Humanisten – eine Rhetorik der Intoleranz, in: Im Spannungsfeld von Staat und Kirche. „Minderheiten“ und „Erziehung“ im deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich 16. – 18. Jahrhundert, hg. von HEINZ SCHILLING/MARIE-ANTOINETTE GROSS (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 31), Berlin 2003, 29–52, bes. 31–38. – Siehe auch unter Kapitel IV.

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Deutschland und seine Grenzen, wie die einzelnen nationes und ihre regionalen Siedlungsräume historisch fundiert, wie ihre Entwicklung bis in die Gegenwart beschrieben werden?10 Man darf mit Blick auf Celtis von einem rapide steigenden Bedarf an ‘Situierung’, an historischer Orientierung sprechen, der mit Hilfe neuen antikegespeisten und empirisch ergänzten Wissens auf dem Gebiet der Geo- und Ethnographie sowie der Historie zu decken war: Viele der regionalhistorischen ‘descriptiones’, die zu Lebzeiten Celtis’ wie nach seinem Tode erschienen, waren also durch das geistige Band der Germania-illustrata-Idee, zum Teil auch durch Kontakt der Autoren untereinander zusammengeschlossen, ohne daß diese Zusammenhänge immer gänzlich erhellt wären.11 In einem weiteren Kontext geht es im Folgenden um die Neukonstitution erfahrener und vorgestellter Gemeinschaften regionaler und nationaler Dimension in Deutschland und Europa an der Schwelle der Neuzeit und deren teils überkommene, teils umgeprägte historisch-mythische Identifikationsfiguren. Vor allem aber stehen Funktion und Selbstverständnis der Humanisten und ihre genuine Leistung in diesen Diskursen in Frage. Regionale Diskurse – der Begriff hat sich vor allem dank der Arbeiten von Klaus Graf wohl durchgesetzt – lassen sich vor allem durch Analyse von deren sehr verschiedenen Trägergruppen rekonstruieren,12 wobei die Humanisten als standes- und re10

Schon Enea Silvio hatte die Frage in seinem Brieftraktat ‚Germania‘ 1457/58 gültig formuliert: Ostendendum imprimis est, quenam fuit olim Germania et que sit hodie (c. II, 1). Aeneas Silvius ‚Germania‘ und Jakob Wimpfeling: ‚Responsa et replicae ad Eneam Silvium‘, hg. von ADOLF SCHMIDT, Köln 1962, 46. Zum Vorangegangenen vgl. HIRSCHI: Nationskonstrukt (wie Anm. 9), 394. – Bemerkenswert die Bestimmung der ‘Defizite’ deutscher Regionalgeschichtsschreibung schon bei Gobelinus Person († 1421), Cosmidromius I 5: Germania multas habet provincias, de quibus scriptores antiqui, qui circa descriptiones terrarum magnam fecerunt diligentiam, nihil omnino scripserunt, quia temporibus eorum forte Latinis, seu etiam Graecis incognitae fuerunt; et non est facile invenire causas seu origines nominum earum, vel etiam urbium contentarum in iisdem, cum priusquam Germania fidem Christi suscepit, non fuerunt aliqui, ut videtur, qui in partibus illis studium litteris adhibuerunt; in: Scriptores rerum Germanicarum, Bd. 1, hg. von HEINRICH MEIBOM, Helmstedt 1688, 66; zit. RÜDIGER SCHNELL: Deutsche Literatur und deutsches Nationalbewußtsein in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hg. von JOACHIM EHLERS (Nationes 8), Sigmaringen 1989, 247–319, hier 318 f. 11 Vgl. MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 218 mit Nennung der Werke des Franciscus Irenicus (1518), Willibald Pirckheimer (1530), Sebastian Münster (1530) und Johannes Aventinus (1541). Zu diesen Werken, die im Folgenden, mit Ausnahme Münsters und Aventins, nicht thematisiert werden, siehe u.a. MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER: Nationenbildung (wie Anm. 16), s. v. 12 Modellhaft für den Oberrhein, im westlichen Schwaben und Elsaß anhand von fünf unterschiedlichen kontextualisierten Geschichtswerken: DIETER MERTENS: Landesbewußtsein am Oberrhein zur Zeit des Humanismus, in: Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs, hg. von FRANZ QUARTHAL/GERHARD FAIX, Stuttgart 2000, 199–216, bes. 202 f., auch zum Diskursbegriff. Impulsgebend, wenn auch die

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gionübergreifende Bildungselite Übergänge besonders gut herzustellen vermochte.13 Hier konnten sich – dann gruppenübergreifend – neue Ideen beziehungsweise, wie der ethnozentrische Germanendiskurs zeigt, regelrechte Paradigmenwechsel kristallisieren, aber oft waren es „bereits im Mittelalter artikulierte Wir-Gefühle, ‘Patriotismen’ von Gemeinschaften auf der Ebene von Stadt, Stamm, Land und Nation“, welche die Humanisten dann aufnahmen.14 Das aktuelle Forschungsinteresse an diesen Fragestellungen ist hoch; die Erschließung der Texte hingegen steht teilweise – auch editorisch – noch in den Anfängen.15 Systematischere Aufmerksamkeit widmete man bisher der nationalen Thematik: „Die Nationendiskurse“, so jüngst Herfried Münkler, „in Deutschland, Italien etc. ... sind durch genuin humanistische Problem- und Fragestellungen angestoßen und intensiviert worden“.16 Karl Ferdinand Werner hatte gar vom Hermetik der Einzeldiskurse etwas übertreibend: KLAUS GRAF: Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers ‚Schwäbische Chronik‘ und die ‚Gmünder Kaiserchronik‘ (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 7), München 1987, bes. 16–24, 99–115, 225–231; DERS.: Das ‘Land’ Schwaben im späten Mittelalter, in: Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 14), hg. von PETER MORAW, Berlin 1992, 127–164, hier 128 f. 13 GRAF: Thomas Lirer (wie Anm. 12), 114. – Zur Rolle der Höfe siehe unten bei Anm. 40–50. 14 So zu Recht KLAUS GRAF: Gmünder Chroniken im 16. Jahrhundert, Schwäbisch Gmünd 1984, 66. 15 Vgl. unten Kapitel II. Zu den Ursachen editorischer Abstinenz, etwa bei den national orientierten Reihen der ‚Monumenta Germaniae Historica‘ und der ‚Chroniken der deutschen Städte‘ vgl. WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1), 11–14. 16 HERFRIED MÜNKLER: Einleitung, in: Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland (Politische Ideen 8), hg. von DEMS./HANS GRÜNBERGER/KATRIN MAYER, Berlin 1998, 25; JEAN-MARIE MOEGLIN: Die historiographische Konstruktion der Nation – ‚französische Nation‘ und ‚deutsche Nation‘ im Vergleich, in: Deutschland und der Westen Europas, hg. von JOACHIM EHLERS (Vorträge und Forschungen 56), Stuttgart 2002, 353–377. Mit dem Bemühen um begriffliche Durchdringung anregend HIRSCHI: Nationskonstrukt (wie Anm. 9). Beispielhaft aus der breiten Literatur: FRANK L. BORCHARDT: German Antiquity in Renaissance Myth, Baltimore 1971 (ein zu wenig rezipiertes Werk); Nationale und kulturelle Identität, hg. von BERNHARD GIESEN (Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 1), Frankfurt am Main 1991 (³1996); Bd. 2: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, hg. von HELMUT BERDING, Frankfurt am Main 1994; Bd. 3: Mythos und Nation, hg. von DEMS., Frankfurt am Main 1996; JÖRN GARBER: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ‘Nationale’ Abstammungstheorien im Vorfelde der Nationalstaatsbildung, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von KLAUS GARBER, Tübingen 1989, 108–163; PATRICK J. GEARY: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen (Fischer Europäische Geschichte 60111), Frankfurt am Main 2002, 25–52 – Frühe Sensibilität für dieses Feld intentionaler Geschichte in unvergleichlich breiter Doxographie bei ARNO BORST: Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 4 Bde., Stuttgart 1957–1963 (ND 1995), bes. 3.1, 955–1156. Viele Elemente auch

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„Humanismusschub eines germanisch-deutschen Nationalgefühls, der ersten Deutschtümelei unserer Geschichte“ gesprochen.17 Des Konstruktionscharakters dieser Bemühungen, gleichsam als „invention of tradition“ (Hobsbawm) von „imagined communities“ (Anderson) war man sich offenbar bewußt18. Genau dies hatte Nikolaus Basellius 1515 mit seinem vielzitierten Wort über den schwäbischen Humanisten Heinrich Bebel gemeint: patriam Sueviam … laudibus avitis ... ingenii beneficio restituit.19 Paulo Emilio, Historiograph am französischen Hof im frühen 16. Jahrhundert, sagte es noch lapidarer: Gallis condimus historias.20 Das Thema wirft eine Fülle grundsätzlicher Fragen auf: Was zeichnet eine genuin humanistische Geschichtsschreibung überhaupt aus? Bricht sie tatsächlich mit der historiographischen Tradition beziehungsweise transformiert diese? Wie läßt sie sich in die seit längerem problematisierte Typologie einer Landeshistoriographie beziehungsweise, um den neutraleren Begriff zu verwenden: einer „regionalen Geschichtsschreibung“ (Johanek) im späten Mittelalter einordnen?21 Die Forschung tut sich mit der Typisierung humanistischer schon bei FRANTIŠEK GRAUS: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln 1975. 17 KARL-FERDINAND WERNER: Art. Volk, Nation III–V: Mittelalter, in: Geschichtliche Grundbegriffe 7 (1992), 171–280, hier 235. 18 Siehe auch FRANTIŠEK GRAUS: Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späteren Mittelalter, hg. von HANS PATZE (Vorträge und Forschungen 31), Stuttgart 1987, 11–55, bes. 44–47. 19 DIETER MERTENS: ‚Bebelius... patriam Sueviam... restituit‘. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), 145–173, hier 149 und 170 f. Daß diese Restitution mit Hilfe der Fälschungen des Annius von Viterbo geschafft wurde, verdient einen Vermerk; vgl. THOMAS MAISSEN: Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer ‘natio’, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 210–249, hier 247 f. 20 Paulus Aemilius, De Antiquitate Galliarum, Paris BN, ms. Lat. 5934, fol. 31v; zitiert nach FRANCK COLLARD: Paulus Aemilius ‚De rebus gestis Francorum‘. Diffusion und Rezeption eines humanistischen Geschichtswerks in Frankreich, in: HELMRATH/MUHLACK/ WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 376–397, hier 376. 21 Vgl. zum Problem der Typologie PETER JOHANEK: Weltchronistik und regionale Geschichtsschreibung im Spätmittelalter, in: PATZE: Geschichtsschreibung (wie Anm. 18), 287– 330, bes. 295–303. Er führt mit guten Gründen den Terminus „regionale Geschichtsschreibung“ ein; ebd. 301: ein „grundsätzlicher Zug zur Regionalisierung ... historiographischer Texte ... wird gegen Ende des Mittelalters zunehmend stärker“. Ferner GERHARD THEUERKAUF: ‚Accipe Germanam pingentia carmina terram‘. Stadt- und Landesbeschreibungen des Mittelalters und der Renaissance als Quellen der Sozialgeschichte, in Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983), 89–116, sowie HANS-BERND HARDER: Die Entwicklung der Landesbeschreibung in Böhmen und Mähren, in: Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern, Bd. 3, hg. v. DEMS., Köln u. a. 1993, 3–15; RAINER LENG: Landesgeschichtliche Sammelhandschriften, in: Die Geschichtsschreibung in Mitteleuropa. Projekte und Forschungsprobleme, hg. von JAROSLAW WENTA (Subsidia historiographica 1), Torún 1999,

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Texte, ja bereits mit deren Identifizierung schwer,22 oft bleibt sie dabei im Vagen. Das Fehlen zureichender Analysekriterien macht sich negativ bemerkbar und läßt die eigentlich notwendige Rundumsicht und systematisch vergleichende Textanalyse derzeit nur annäherungsweise zu. Das Risiko terminologischer Unschärfen gehen auch die vorliegenden Überlegungen ein. Sie versuchen I. die Problemfelder ‘humanistischer’ (Landes-)Geschichtsschreibung zu umreißen; II. als Basis des künftig nötigen Vergleichs einen knappen Überblick über humanistisch geprägte Autoren und Texte zu geben, die in der Generation vor und nach 1500 deutsche Regionen thematisierten; III. einen Ausgriff in die europäische Ebene mit Beispielen von Autochthoniekonstruktionen italienischer Humanisten, die wie Leonardo Bruni für ihre Heimatstadt oder wie Polidoro Virgilio für fremde Nationen Geschichte schrieben.

I. Problemfelder 1. Unumstritten dürfte sein: die Wahrnehmung von räumlichen Einheiten, die Generierung von national wie regional umrissenen Identifikationsmustern nimmt in der Literatur des 15. Jahrhundert zu. Dies schlägt sich in einem Differenzierungsprozeß nieder, der mehr Spezialgeschichte(n), Nations-, Landes- und Ortsgeschichten entstehen läßt als je zuvor. Diese Literatur unter einer „Perspektive regionaler Kulturraumforschung“ zu betrachten,23 gibt es 149–166, ebd. 155: „Erst über dynastische Geschichtsschreibung hinausgehende Werke, die eine Vielzahl von territorial zusammenhängenden Geschichtsträgern und deren Historiographie vereinigen, mag man als Landesgeschichte ansprechen.“ Frühe Ansätze bietet ihm dafür Johannes Rothes ‚Thüringische Weltchronik‘. Die (ebd. 151) als eigener Typ genannten „humanistisch orientierten Landesbeschreibungen“ werden aber nicht näher charakterisiert. Zum Typologieproblem zuletzt WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1), 18–20, 34–56, WEBER: Konzeption (wie Anm. 1), 55–58; MONTECALVO: The New ‘Landesgeschichte’ (wie Anm. 114), 65–68. [Jetzt weiterführend: ALBERT SCHIRRMEISTER: Was sind humanistische Landesbeschreibungen? Korpusfragen und Textsorten, in: JOHANNES HELMRATH/STEFAN SCHLELEIN/ALBERT SCHIRRMEISTER (Hg.): Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung (Transformation der Antike 11), Berlin 2009, 5–46.] 22 Wichtige Ansätze hat DIETER MERTENS vorgelegt: Landeschronistik im Zeitalter des Humanismus und ihre spätmittelalterlichen Wurzeln, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 19–32, hier 19–23 auch zur typologischen Diskussion; wobei sich die Frage stellt, wie der engere Begriff ‘Landeschronistik’ typologische Schärfe gewinnen kann. – Regional gruppierte Übersicht über Zentren des deutschen Humanismus, aber mit Ausnahme Wiens ohne das östliche Mitteleuropa: THOMAS CRAMER: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter (Deutsche Literatur im Mittelalter 3), München 1990, 369–431. 23 Instruktiv von germanistischer Seite die Arbeiten von WILHELM KÜHLMANN: Westfälischer Gelehrtenhumanismus und städtisches Patriziat. Die Gedichte des Osnabrücker Poeten

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von germanistischer wie historischer Seite verstärkte Bemühungen. Im traditionellen Bild der Historiographieentwicklung scheint diese sich dem politischen Territorialisierungsprozeß und seinem Bedarf anzupassen, indem sie ihren Gegenstand von einer universalen Welt- oder Reichsgeschichte gleichsam auf eine obere Ebene von Nations-, eine mittlere von Landesgeschichten und eine untere Ebene von Stadtgeschichten verengt und ihn dabei zugleich konzentrierter ‘unter die Lupe nimmt’. Eine analoge Hierarchie von a) Räumen und naturräumlichen oder politischen Entitäten (Kosmos, Nation, Land/ Region, Stadt), b) ebenso zugeschnittenen Literaturgattungen und c) entsprechenden Ebenen von Identitätsbewußtsein aufzustellen, wäre aber nur als überzogene Systematisierung zu haben.24 Vor allem existiert weder als zeitgenössischer noch als Forschungsterminus ein Begriff des Landes, der eine hinreichend exakte räumliche Umschreibung beziehungsweise daraus abgeleitet eine Typologie der Texte zuließe.25 Vielmehr bestehen bekanntlich fließende Verbindungen zwischen Gattungen und Berichtshorizonten. Regionaler und germanisch-deutscher Gentilpatriotismus, Reichs- und Landesdiskurs wurden in enger Wechselwirkung gesehen.26 Man pries im ‘Schwabendiskurs’ die Henricus Sibaeus (Heinrich Sibbe) in der Perspektive regionaler Kulturraumforschung, in: Daphnis 22 (1993), 443–472; DERS.: Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535–1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund – mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der laus urbis, in: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region, hg. von DEMS./HORST LANGER (Frühe Neuzeit 19), Tübingen 1994, 101–123, hier 102–104; KÜHLMANN/STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3). Siehe auch PETER WÖRSTER: Humanismus in Olmütz. Landesbeschreibung, Stadtlob und Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien 5), Marburg 1994, passim. – Auf der anderen Seite ergeben sich die Verbindungen zur modernen Regionalismusforschung. Siehe etwa WOLFGANG FACH u.a.: Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel ‘Sachsen’ – Konturen eines Forschungsprogramms, in: Region und Identifikation, hg. von HEINZ-WERNER WOLLERSHEIM/SABINE TSCHASCHE/MATTHIAS MIDDELL (Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen 1), Leipzig 1998, 1–32. 24 Vgl. aber MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 23, zu den Einteilungsversuchen des Johannes Trithemius. 25 Siehe Anm. 12 und 21, sowie in WERNER (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *), die Einleitung von DEMS. (7–16), sowie die Beiträge von ENNO BÜNZ: Das Land als Bezugsrahmen von Herrschaft, Rechtsordnung und Identitätsbildung: Überlegungen zum spätmittelalterlichen Landesbegriff (53–92), der die Diskussion um OTTO BRUNNER berücksichtigt, und DIETER MERTENS: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (93–156); ferner GRAF: Land Schwaben (wie Anm. 12), 157–164 (über BRUNNER); DERS.: Thomas Lirer (wie Anm. 12), 104–111; DIETER MERTENS: Schlußbemerkungen, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 279 f. 26 KLAUS GRAF: Heinrich Bebel (1472–1518). Wider ein barbarisches Latein, in: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hg. von PAUL G. SCHMIDT, Stuttgart 1993, 179–194, hier 191; DERS.: Reich und Land in der südwestdeutschen Historiographie um 1500, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 201–211, bes. 211. Siehe auch das Urteil von JOHANEK: Weltchronistik (wie Anm. 21), 328:

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Staufer – das ‘deutsche Mittelalter’ ist eine patriotische Entdeckung der Humanisten! –, weil sie Weltreichspläne der Germanen/Deutschen fortgesetzt hätten und zugleich schwäbische Stammestugenden (Treue, Tapferkeit usw.) repräsentierten.27 2. Vertraut sind die Verflechtungen zwischen regionaler und städtischer Geschichtsschreibung,28 die sich allein schon über die zentralörtliche Funktion der Städte einstellten, unabhängig davon, ob diese selbst ein Territorium „daß Universal- und Reichsgeschichte ein wichtiges Korrelat für die regionale Geschichtsschreibung gebildet hat.“; ROLF SPRANDEL: Geschichtsschreiber in Deutschland 1347–1517, in: Mentalitäten im Mittelalter, hg. von FRANTIŠEK GRAUS (Vortäge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987, 284–313, hier 304–307; ULRICH ANDERMANN: Historiographie und Interesse. Rezeptionsverhalten, Quellenkritik und Patriotismus im Zeitalter des Humanismus, in: Das Mittelalter 5 (2000), 87–104, hier 96, 98, 100; MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 20 f. („Faktum der engen Verflechtung“). 27 GRAF: Reich und Land (wie Anm. 26), passim; DERS.: Heinrich Bebel (wie Anm. 26), 191 f.; DERS.: Gmünder Chroniken (wie Anm. 14), 103–122; DERS.: Thomas Lirer (wie Anm. 12), 111–113 und öfter MERTENS: Bebelius (wie Anm. 19), 169 f.; DERS.: Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (wie Anm. 25), 93–156, hier 150. Schon die Karolinger Pippin und Karl der Große seien autochthon, auss unserm franken land gewesen purtig; zitiert nach PAUL JOACHIMSEN: Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland. Bd. I, Die Anfänge. Sigismund Meisterlin (1895), in: Paul Joachimsen. Gesammelte Aufsätze, hg. von NOTKER HAMMERSTEIN, Bd. 2, Aalen 1983, 128–461, hier 458. Für den Hamburger Albert Krantz waren die sächsischen Ottonen das vorbildliche ‘deutsche’ Herrschergeschlecht; ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 99. Siehe auch Anm. 153. 28 Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von PETER JOHANEK (Städteforschung A/47), Köln 2000, 247–268, zur Typologie DERS.: ebd. VII–XIX; zur Beurteilung ‘humanistischer Literatur’ ansatzweise: VOLKER HONEMANN, Humanistische und spätmittelalterliche Zeitgeschichtsschreibung in Braunschweig um 1500. Die ‚Descriptio belli‘ des Telomonius Ornatomontanus (Tilman Rasche aus Zierenberg) und die deutschsprachigen Darstellungen der ‘Großen Braunschweiger Stiftsfehde’ von 1492–1494, ebd. 111–156 (139–156 Faksimilia des Drucks); JOACHIM SCHNEIDER: Typologie der Nürnberger Stadtchronistik um 1500, ebd. 181–203, unter anderem mit dem Versuch, eine „Trennungslinie zwischen offiziöser und autonomer Chronistik“ zu ziehen; KLAUS ARNOLD: Städtelob und Stadtbeschreibung im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, ebd. 247–268, bes. 248–252 zu der auch für die humanistische Regionalhistoriographie problematischen Verbindung „zwischen dem Enkomiastischen und dem Deskriptiven“ (250), hinter dem sich allerdings auch für ARNOLD die Frage nach Realitätsbezug und „Quellenwert“ der betreffenden Texte verbirgt. – Aus der weiten Literatur hier nur: Spätmittelalterliche Geschichtsschreibung in Köln und im Reich. Die ‚Koelhoffsche Chronik‘ und ihr historisches Umfeld, hg. von GEORG MÖLICH/UWE NEDDERMEYER/WOLFGANG SCHMITZ (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 43), Köln 2001, darin vor allem UWE NEDDERMEYER: Einleitung: Städtische Geschichtsschreibung im Blickfeld von Stadthistorie, Inkunabelkunde, Literatur- und Historiographiegeschichte, 1–28 (Literatur); zur Typologie vor allem 7–17, stellt „Übergangsformen“ (12) heraus. Zur Historiographie der Schweizer Städte: REGULA SCHMID: Die Chronik im Archiv. Amtliche Geschichtsschreibung und ihr Gebrauchspotential im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Das Mittelalter 5/2 (2000), 115–138.

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beherrschten. Dabei bediente man sich auch des aus der Antike revitalisierten epideiktischen Genres des Stadtlobs, der laudatio urbis in Prosa oder Versen. Typologisch bringt das neue Schwierigkeiten.29 In der Forschung, etwa zu Sigismund Meisterlin als „Begründer der Gattung der humanistischen Stadtgeschichte“ (Joachimsen), möchte man in derartigen Texten einen Fortschritt, einen „quantitativ und qualitativ ... entscheidenden Sprung“ beobachten; er werde sichtbar in der konzeptionellen „Einbindung der Stadtgeschichte in die Weltgeschichte“.30 Dies ist aber kaum die hier relevante Ebene. Die Städte spielten etwa für Celtis die Rolle von Nuklei der nationalen Akkulturation; Stadtgeschichten bilden daher – als Ensemble – wesentliche Partien einer ‚Germania illustrata‘. Enea Silvio Piccolomini hatte die Prototypen mit seinen Beschreibungen Basels (1434/38) und mit den Deskriptionen im zweiten Teil des später ‚Germania‘ titulierten Briefpamphlets von 1457/58 geliefert:31 Celtis wiederum hatte nicht nur seine Deutschland-Amores um vier Städte zentriert; seine einzige in Prosa ausgeführte Kostprobe (praelibamentum) der ‚Germania illustrata‘ war das deskriptive Stadtlob ‚De situ et moribus Norimbergae‘ von 1493/1502.32 Sowohl Felix Fabri wie Barthel Stein widmeten 29

Zur Typologie des humanistischen Stadtlobs instruktiv: KÜHLMANN: Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern (wie Anm. 23), 109–113; KÜHLMANN/STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3); ARNOLD: Städtelob (wie Anm. 28); SUSANNE RAU: Stadthistoriographie und Erinnerungskultur in Hamburg, Köln und Breslau, in: BRENDLE/ MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 213–227; wichtig auch HARTMUT KUGLER: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters (Mittelalterliche Texte und Untersuchungen 88), München/Zürich 1986. Vgl. PETER WOLF: Bilder und Vorstellungen vom Mittelalter. Regensburger Stadtchroniken in der frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit 49), Tübingen 1999, bes. 143–145, 151. Zum Lob Leonardo Brunis auf Florenz siehe unten bei Anm. 206 ff. 30 SCHNEIDER: Typologie (wie Anm. 28), Zitat 202; vgl. JOACHIMSEN: Meisterlin (wie Anm. 27). Ähnlich ARNOLD: Städtelob (wie Anm. 28), 197: (Meisterlin) „hob die Nürnberger Stadtgeschichtsschreibung auf eine ganz neue Ebene“. Aber wie sieht diese Ebene aus? Vgl. dagegen GRAF: Gmünder Chroniken (wie Anm. 14), 71: „Der Humanismus schließt an den mittelalterlichen Stadtpatriotismus nahtlos an“. Das stimmt, aber bleiben deshalb auch Episteme und Lexik gleich? 31 „Das Land [Germanien/Deutschland], das Enea ... vorstellt, konstituiert sich als Ansammlung von Städten. Die dazwischenliegenden Landschaften in ihrer geographischen Struktur sind von geringem Belang“; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 256. Vgl. HELMUT KUGLER: Stadt und Land im humanistischen Denken, in: Humanismus und Ökonomie, hg. von HEINRICH LUTZ (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 8), Weinheim 1983, 159–182; MIEDEMA: Nürnberger Humanisten (wie Anm. 5), 54–57. 32 Editionen: Conradus Celtis quae Vindobonae prelo subicienda curavit obscula, hg. von KURT ADEL (Bibliotheca Teubneriana), Leipzig 1966, 65–72. Vgl. auch INGRID KECK: Die ‚Norimberga illustrata‘ des Helius Eobanus Hessus. Kommentar (Europäische Hochschulschriften. Reihe 15/78), Frankfurt am Main 1999; dazu GERLINDE HUBER-REBENICH in: Wolfenbüttler Renaissance-Mitteilungen 26 (2002), 50–55. – ALBERT WERMINGHOFF: Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg, o.O. 1921; Konrad Celtis’ ‚Norimberga‘. Ein Büchlein über Ursprung, Lage, Einrichtungen und Gesittung Nürnbergs, vollendet um das Jahr 1500,

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aber auch in ihren regionalen descriptiones Schwabens und Schlesiens jeweils das zweite und letzte Buch der zentralen Stadt, Ulm beziehungsweise Breslau.33 Selbst die enzyklopädisch angelegte Schedelsche Weltchronik, in deren Entstehung Celtis eingebunden war, ist bekanntermaßen wesentlich durch ihre Städtebilder strukturiert.34 Besonders eindrucksvoll repräsentiert Sebastian Münsters ‚Cosmographey‘ (1544) die Interferenzen des nationalen und regionalen mit dem kosmopolitischen Interesse des Humanismus. Auf den Spuren Celtis’ bildet die ‘Beschreibung deutscher Nation’ einen wichtigen Teil der Kosmographie, und dieser soll anhand seiner städtischen Kerne erfaßt werden: 18 Jahre will Münster dafür Beschreibungen gesammelt haben. Kein Geringerer als Konrad Peutinger sollte den Umkreis Augsburgs, Johannes Aventinus denjenigen Regensburgs und Landshuts übernehmen.35 3. (Landes-)Geschichte als diachron erzählende historia und als synchron inventarisierende descriptio entstammen zwei unterschiedlichen Genres der antiken Literatur, der Historiographie und der Geographie. Eine Historia geht von den Anfängen an vor, als politisch (etwa Schlachten und Dynastenhandeln) erzählendes Geschichtswerk. Die descriptio, als Ekphrasis, unterliegt hingegen nicht beziehungsweise in anderer Weise den Gesetzen historischen Erzählens, sie besitzt eine andere epideiktische Rhetorik. Stilbildend wirkten jeweils die beiden Prototypen humanistischer Historiographie, Flavio Biondo mit seiner Antike und Gegenwart, in Kontrast wie Kontinuität, auf der Basis antiker Circumscriptionen inventarisierenden und zugleich patriotisch preisenden ‚Italia illustrata‘ (1453, gedruckt 1474) und Leonardo Bruni mit seiner an Livius orientierten ‚Historia Florentini populi‘ (1416–1444; italie-

gedruckt vorgelegt 1502, übersetzt und erläutert von GERHARD FINK, Nürnberg 2000. Dazu MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 208 f., 212 f.; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 294–302, 364 f., 462–465, 529 s.v. passim; MIEDEMA: Nürnberger Humanisten (wie Anm. 5), 58–66. Celtis folgt wesentlich dem 4. Kap. von Cochlaeus’ ‚Brevis Germaniae descriptio‘ (1512). Der dritte Teil der ‚Norimberga‘, der Exkurs ‚De Hercyniae silvae magnitudine‘ stellt freilich den Nucleus einer Chorographie des alten Germaniens dar; MÜLLER ebd. 519 s.v. 33 GRAF: Reich und Land (wie Anm. 26), 206 f. Vgl. unten bei Anm. 141 und 163. 34 MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 208–210; HELMUT KUGLER: Nürnberg auf Blatt 100. Das verstädterte Geschichtsbild der Schedelschen Weltchronik, in: StadtAnsichten, hg. von JÜRGEN LEHMANN/ECKART LIEBAU (Bibliotheca Academica 1), Würzburg 2000, 103–123; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 403–406; STAUBER: Hartmann Schedel (wie Anm. 6), 174 f. und passim. 35 Sebastian Münster: Cosmographey…, Basel 1544, fol. Av, zitiert nach ARNOLD: Städtelob (wie Anm. 28), 247 f. Vorausgegangen war 1530 eine ,Germaniae descriptio‘. – Schon Vinzenz von Beauvais († 1264), Ordensbruder des ehemaligen Franziskaners Münster, organisierte seine ‘Specula’ u.a. durch Beiträge anderer Franziskaner. Die historische Gemeinschaftsarbeit – eine franziskanische Tradition? (Freundlicher Hinweis von DIETER MERTENS).

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nische Übersetzung 1476), als politische Freiheits-, Konflikt- und Siegesgeschichte einer vorbildlichen Gemeinschaft.36 Reine descriptiones finden sich in der zu untersuchenden Textgruppe eher selten (Albrecht von Bonstetten, Felix Fabri); meist sind sie erzählenden Teilen untergemischt. Geographisch-topographisches Wissen aus antiken Texten, ergänzt durch Autopsie und Empirie – beides in seiner Bedeutung bei den einzelnen Autoren noch genau zu eruieren – werden zu neuen Formen komponiert, dabei oft dem Vorbild antiker Autoren wie Pomponius Mela und Strabon folgend. Charakteristisch ist dabei die auf Caesar und Tacitus zurückweisende duale Kategorie von situs und mores. Als Monographie darf die descriptio wohl tatsächlich als neue (humanistische?) Form angesehen werden. En miniature kamen descriptiones terrae freilich auch in vorhumanistischen National- und Landesgeschichten vor, zumeist in den Anfangskapiteln oder in den Textverlauf eingestreut. Die Grenze der descriptio zur panegyrischen Versdichtung ist fließend, so in Celtis’ ‚Germania magna‘, in Heinrich Glareans ‚Helvetiae descriptio‘ von 151437 und zahlreichen Stadtlaudationes. Die Mehrzahl der Texte stellt Mischungen aus topo- beziehungsweise chorographischen und politischen (stammes- und dynastiegeschichtlichen) Elementen dar, wie Enea Silvios vorbildhafte ‚Historia Bohemica‘ und ‚Historia Austrialis‘ (= ‚Historia Friderici III‘), aber auch Bugenhagens ‚Pomerania‘ zeigen38. Am häufigsten findet sich der topographische Exkurs im ersten Teil der Werke. Jedenfalls ist das konzeptionelle und darstellerische Problem nicht zu verkennen, zum einen überhaupt synchrone Zustände und diachrone Abläufe verbunden darzustellen, zum anderen dabei den, gerade für Humanisten sich stellenden, Ansprüchen an philologisch-historische Kritik nachzukommen.39 4. Unter den causae scribendi sind zeitgenössisch politische Intentionen unbestreitbar. Die Rolle der Landesherren als Auftraggeber regionaler Historiographie und komplementär der spätere intentionale, „herrschaftsorientierte Gebrauch“40 gewinnen im Untersuchungszeitraum eher noch an Bedeutung 36

Siehe die Literatur in Anm. 201 bis 206. Auszüge bei HEGER: Spätmittelalter, Humanismus und Reformation (wie Anm. 3), 137– 140, 891. 38 Siehe unten bei Anm. 115 und 133. 39 Nach MERTENS: Celtis (wie Anm. 6), 100 zuerst in der deutschen Geschichte des Beatus Rhenanus 1533 gelöst. 40 KLAUS ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens, in: HARDER (Hg.): Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1), 79–124; MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22); SYLVIA WEIGELT: Die Rezeption der ‚Thüringischen Landeschronik‘ des Johannes Rothe in differenten Bedarfskonstellationen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Das Mittelalter 5/2 (2000), 71–85; LENG: Sammelhandschriften (wie Anm. 21), 154 f.; WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1), passim. Vgl. als Modellstudie BIRGIT STUDT: Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung (Norm und Struktur 2), Köln 1992 sowie unten Anm. 166. 37

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und sind natürlich nicht auf humanistisch fundierte Opera begrenzbar. Zunehmende Konzentration auf Dynastien als kontinuitäts- und identitätsstiftende Loyalitätszentren der Länder mit historischer Tiefendimension darf vielmehr als allgemeine Zeittendenz gelten.41 Selbst wenn man mit Kühlmann den von Celtis mitgeformten Germanenmythos als „eine ostentative Abkehr von dynastischen Machtverhältnissen zugunsten einer antikisierenden Rückprojektion nationaler Identität“42 verstehen kann, so würde doch die Funktionalität humanistischer Landesbeschreibungen verkannt, wenn man wie Arnold nur die ältere Chronistik mit ihren Landnahmeschilderungen auf Nachvollzug von „Herrschaftsansprüchen“ festlegte (so Peter von Dusburg für die Herrschaft des Deutschen Ordens) und den „Humanismus gänzlich davon abrücken“ sähe.43 Auch ein Bugenhagen schrieb im politischen Auftrag des pommerschen Herzogs, Marschalk im Auftrag des mecklenburgischen, Erasmus Stella im Dienste des preußischen Hochmeisters, ein Ulrich Füetrer ebenso wie der Humanist Johannes Aventinus auf Weisung der bayerischen Herzöge. Territoriale Herrschaftsansprüche, die geschichtlich legitimiert werden sollten, spielten als Schreibmotive weiter eine Rolle. Die alte Tradition der Höfe, neben den Macht- auch die Deutungseliten an sich zu binden, setzte sich in verstärktem fürstlichen Mäzenateninteresse fort, das sich auch auf die Pflege dynastischer Memoria durch neue antikelegitimierte Historiographie erstreckte. Beispiele humanistischer Autoren ohne öffentlichen Auftrag finden sich freilich auch: Bei Enea Silvio als weitgehend autonomer Portalfigur des humanistischen Literaten bestand er nicht, aber auch bei dem Hamburger Humanisten Albert Krantz ist er nicht nachweisbar. An der nationalpatriotischen Intention seiner Opera änderte das nichts.44 Doch wie stark auch immer man die Indienstnahme von Historiographie durch Dynasten und die Fokussierung der Diskurse auf einen regional repräsentativen Hof (für Schwaben vor allem den der Grafen/Herzöge von Württemberg) ansetzen wird, eine bloß funktionalistische Sicht würde die Offenheit dieser Diskurse über Land und Region Allgemein vgl. BERNARD GUENÉE: Histoire et culture historique en occident médiéval, Paris 1980, 332–356. 41 MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 23. 42 KÜHLMANN/STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3), 664. 43 ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 96 f. Die folgende Charakterisierung der humanistischen Landesgeschichtsschreibung ist dennoch zutreffend: „Hier geht es um die Erklärung der Vergangenheit eines gegenwärtigen Gebiets mit der Intention, historisch bedeutende Vorgänge des Altertums mit ihm zu verbinden und gleichzeitig eine Entwicklungslinie bis zum jüngeren historischen Ereignis oder gar bis zur eigenen Gegenwart zu zeigen. Dieser Ansatz führte fast zwangsläufig zum historiographischen Konstrukt.“ 44 Zu Enea Silvio vgl. JOHANNES HELMRATH: ‚Vestigia Aeneae imitari‘. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel’ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion, in: DERS./ MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 99–142 (Literatur). In diesem Band Nr. IV. Zu Krantz siehe unten bei Anm. 153 f.

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verkennen. „Regionen“, meint daher Graf, „sind ... Traditionstatbestände, deren historisch begründete Bedeutung und Geltung nicht zur Disposition von Machthabern steht.“45 5. Der „Rekurs auf die Antike“ gewinnt bei humanistischen Autoren besondere Qualität. Das ist trivial. Was aber bedeutet es im einzelnen?46 Die Neulektüre der antiken Historiker, Geo-, Ethno- und Chorographen revitalisierte antike Textgattungen und Erzählstrukturen ebenso wie deren massive Stereotypen, Klassifizierungen und Erfindungen. Sie kam zunächst durchaus einer Wissensexplosion gleich, die allein schon quantitativ den Quellen- und Deutungsfundus für die nach wie vor unverzichtbaren Origines und Herkommen als legitimierende ideale Ursprünge, für Orts- und Gentilnamen, Etymologien und Genealogien vergrößerte. Sich diesen onomastischen Autoritätsfundus zu erschließen und ihn auszuschöpfen, stellte allein schon eine bemerkenswerte Leistung der Autoren dar. Sie hatten sich zu bemühen, ihre gentilen und topographischen Gegenstände in der antiken Namenslandschaft zu verorten, und eben dann beispielsweise die Schwaben mit den Sueben Caesars zu identifizieren. Wenige Autoren wie Biondo für Italien oder später Aegidius Tschudi für die ‚Helvetia‘ übernahmen als feste Gliederungsraster tatsächlich antike Modelle, wie die römische Provinzeinteilung.47 Das bisherige Wissen um die gentile Herkunft von Stämmen (Ethnogenese) und Dynastien konnte aber auch auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls, was oft genug vorkam, grundstürzend revidiert und schließlich als Teil einer sich damit epochal erst konstituierenden ‘älteren’ deutschen Geschichte kanonisiert werden.48 Die kanonische Nutzung der Antike, sozusagen die ‘Antikisierung’ des Quellenblicks, bot sehr verschiedene Chancen. Sie wurde zum Prokrustesbett, wenn gerade erst erworbenes antikes Textwissen mit der neuen Empirie kollidierte, wie vor allem im Fall der ‘Großen Entdeckungen’. Die prinzipiell nicht 45

GRAF: Land Schwaben (wie Anm. 12), 163 dort auch über die Offenheit der Diskurse. Zum Problem siehe vertieft den Beitrag von MERTENS: Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (wie Anm. 25), sowie DERS.: Die Württembergischen Höfe in den Krisen von Dynastie und Land im 15. und 16. Jahrhundert, in: Fürstenhöfe und ihre Außenwelt, hg. von THOMAS ZOTZ (Identitäten und Alteritäten 16), Würzburg 2004, 85–113. 46 So sieht ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 103 ein „besonderes Rezeptionsverhalten ... des Humanisten“, dessen „Spezificum“ gewesen sei, „bestimmte Zeugnisse anderen nur deshalb vorzuziehen, weil sie – ungeachtet der Qualität – griechischen oder römischen Ursprungs waren.“ Man fragt sich, ist das alles? Vgl. BENEDIKT KONRAD VOLLMANN/VLATKA CIZMIC: Boni auctores. Qualität als Autoritätskriterium im Frühhumanismus, in: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, hg. von WOLF OESTERREICHER/GERHARD REGN/WINFRIED SCHULZE (Pluralisierung und Autorität 1), Münster 2003, 105–118. Zur „Erfindung der Völker in der Antike“ zuletzt PATRICK J. GEARY: Europäische Völker (wie Anm. 16), 53–76. 47 MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 26. 48 MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 26.

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angezweifelte Kontinuitätsprämisse zwischen antiken Autoren und Verhältnissen der Gegenwart49 wurde prekär auch dann, wenn der Deskriptionsraum, etwa Preußen, in den antiken Texten nur spärlichst oder partout nicht vorkam, also dem nunc gar kein evidentes olim entsprach. Die Autoren konnten dies mit dem Ethos eines tapferen non liquet anerkennen, sie konnten umgekehrt dazu übergehen, das Vorhandene durch kühne etymologische Identifikationen zu antikisieren oder aber Fehlendes durch Erfindung zu ersetzen. Der olimnunc-Vergleich setzte vor allem bei Grenzen, Orts- und Stammesidentifikationen an, Wandlungsprozesse wie Kontinuitäten wahrnehmend, etwa Stämme, die damals „nur einen anderen Namen“ trugen;50 so identifizierte Albert Krantz seine (Nieder-)Sachsen mit den taciteischen Chatten. Der olim-nuncVergleich konnte ebenso sehr aktuelle politische Herrschaftsansprüche bedienen,51 aber auch die Frage nach Fortschritt oder Rückschritt der nationalen Akkulturation. 6. Sprache und Stil, anknüpfend an die Problematik des literarischen Genres, stellen ein immer noch zu wenig beachtetes Kriterium dar. Qui sim, ex stilo cognoscis, sagte einmal Enea Silvio. Es ist naheliegend, angesichts des hohen Identifikations-, aber auch Kastigationswertes von Sprache und Stil im Selbstverständnis der Humanisten, auch die Latinität der Texte zu einem Kriterium der Unterscheidung überhaupt zu machen,52 wenn nicht der Versuch 49

GRAF: Land Schwaben (wie Anm. 12), 152. ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 95. Zur „passion de l’étymologie“ siehe GUENÉE: Histoire et culture historique (wie Anm. 40), 184–192. Vgl. das Gobelinus-Zitat in Anm. 10. Zur mutatio als Grundkategorie humanistischer Landesdeskription, aber auch bereits der antiken Rhetorik (metabolé bei Menander Rhetor) ROBERT: Celtis (wie Anm. 3), 415–422. Zur Kontinuitätsprämisse GRAF: Land Schwaben (wie Anm. 12), 152. 51 Albert Krantz etwa wurde von polnischen Autoren kritisiert, weil er mit dem überdimensionierten Raum einer Germania vetus Ansprüche der Germania recentior, des gegenwärtigen Deutschlands, in Ostmitteleuropa begründete; ULRICH ANDERMANN: Albert Kranz. Wissenschaft und Historiographie um 1500 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 38), Weimar 1999, 271 f. Siehe auch unten Anm. 153. 52 Beispiel: Die eindeutig nichtklassische Latinität des Nikolaus von Kues, deren er sich selbst als Manko bewußt war, darf zu dem berechtigten Urteil führen, daß er kein Humanist war. Allgemein zur Sprache der Geschichtsschreiber und zur ‘Relatinisierung’ des Textgenres im Humanismus („retour de l’historien au latin“): GUENÉE: Histoire et culture historique (wie Anm. 40), 214–226, bes. 224–226. THEUERKAUF: Accipe Germanam (wie Anm. 21) hebt am Beispiel von Stadtbeschreibungen mit guten Gründen als „das spezifisch Humanistische“ (112) heraus: „neben der rhetorischen oder poetischen Gestaltung“ verfolgten sie „ein integrierendes Auswahlprinzip: Ruhm und Schönheit“. Die Stadt werde als „ästhetische Einheit“ (113), als „städtischer ‘locus amoenus’“ (115) von zweckfreier Schönheit komponiert. Aufzugreifen ist der Versuch von DIETER GIRGENSOHN, das Wesentliche eines Humanisten zu umschreiben: Die Stellung Francesco Zabarellas im Humanismus, in: Prusy – Polska – Europa. Studia z dziejów Ğredniowiecza i czasów wczesnonowoĪytnych, hg. von ANDRZEJ RADZIMINSKI/JANUSZ TANDECKI, ToruĔ 1999, 52–72, bes. 53–72; DERS.: Studenti e tradizione delle 50

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ohnehin zum Scheitern verurteilt sein sollte, zwischen humanistischen und nichthumanistischen Autoren und Texten zu differenzieren. Sprache, stilistischer Formwille in sehr bewußt gepflegtem Latein, der ‘nobilissima lingua’, stellte im humanistischen Ideal weit über die Funktion des ‘ornatus’ hinaus, Mittel und Indikator literarischer wie charakterlicher Bildung. Sprache und Stil werden damit sowohl Inbegriff der Unterscheidung zum Mittelalter, das gerade in diesem zentralen Punkt, nämlich ob seiner „scholastisch“ deformierten Latinität, abqualifiziert wurde, als auch unabdingbare Zeichen der Zugehörigkeit zur informellen Elitegruppe der Humanisten. Diese prüfte in ständiger interner Selbstkontrolle „ihresgleichen“ sozusagen auf Stallgeruch, im Stilistischen und machten, allen voran Lorenzo Valla, gerade die Latinität zum Gegenstand ihrer Invektivserien. Sicheren Boden betritt man aber auch hier nicht. Anders etwa als in der Paläographie fehlt es an anerkannnten Kriterien einer Klassifizierung von Sprachebenen (was ist ‘klassisch’?), von gattungsgebundenen Fachsprachen, etwa der Typen von Historiographie, gemäß der „Normen der zeitgleichen Präzeptistik“ (wenn diese bestand) „und dem Instrumentarium der zeitgenössischen Rhetorik- und Poetiklehren“.53 Die Normen waren schon unter den Humanisten, die um die Historizität der Sprache sehr wohl wußten, umstritten. Biondo, aber auch Poggio wurde von Kollegen mindere Klassizität vorgeworfen. Die dominierenden Kriterien unterlagen überdies Moden (Ciceronianismus, Tacitismus), was die bewußte Selbstbehauptung eines im Rahmen der klassischen Muster individuelleren lateinischen Stils nicht ausschloß, wie ihn die frühe Humanistengeneration, allen voran Petrarca, fast sämtlich pflegte. Es mangelt in der Forschung derzeit an Kompetenz der beteiligten Historiker und am Interesse der – zuwenig beteiligten – Philologen und Sprachwissenschaftler. So gibt es unseres Wissens keine systematischen oder vergleichenden Analysen der ‘Latinitäten’, der Formen ihrer Klassizität, möglicher ‘nationaler’ Formungen und sozialsprachlicher Codes, oft nicht einmal des rhetorischen Duktus.54 Daß Enea Silvio ein ‘besseres’, klassischeres – wenn auch keineswegs ein klassizistisches! – Laopere di Francesco Zabarella nell’Europa centrale, in: Studenti, Università, Città nella storia padovana, hg. von FRANCESCO PIOVAN/LUCIANA SITRAN-REA (Contributi alla Storia dell’ Università di Padova 34), Triest 2001, 127–176, hier 160–176. 53 MARKUS VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere. Italienische Humanisten als Geschichtsschreiber der europäischen Nationen. Eine Skizze, in: Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard, hg. von PETER BURSCHEL u.a., Berlin 2002, 339–362, hier 340 Anm. 5, 354–362, weiterführende Überlegungen zur historiographischen „Funktionsutopie des Latein“ (362). 54 MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 27–29 behandelt in dem Kapitel „Form“ nur die Problematik von Struktur, Aufbau und Gattung humanistischer regionalhistorischer Werke. Für die Geschichtsschreibung siehe künftig die Forschungen von MARKUS VÖLKEL. Auch die moderne Wissenschaftsgeschichte und -philosophie steht in der Frage von Sprache und Stil von Wissenschaftsprosa noch in den Anfängen.

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tein geschrieben habe als ein Bugenhagen oder Fabri, bleibt deshalb als Urteil leer. Außerdem sind wieder die gattungsbedingten Grenzen zu berücksichtigen. Eine descriptio läßt allein schon wegen der fachspezifischen Terminologie der geo-, topo- und hydrographischen Wortfelder weniger Spielraum zu als eine historia, die ohnehin mehr in der klassischen rhetorischen Formtradition wurzelte. Die Frage, welche Wissenschaftssprachen sich in der Renaissance in besonderer Weise der Klassisierung öffneten und welche weniger, führt über unser Thema hinaus, unter anderem zu der seltener gestellten Frage nach den ‘Kosten’ des Humanismus. So konnte die Kanonisierung der Klassiker durchaus zum „Hemmnis empirischer Wissenschaftszweige“55 werden. Zu den ‘Kosten’ zählte man früher mit Eduard Norden auch die angeblich erstarrende, elitenzentrierte lateinische „Kunstprosa“; dafür sei eine lebendige, sich auch oral organisch entwickelnde (mittelalterliche) Latinität auf dem Altar des Klassizismus geopfert worden.56 Diese Sicht ist verengt, vor allem was das Vordringen der Volkssprachen betrifft. Es kam im 15. Jahrhundert noch einmal zum Vordringen des Lateinischen, auch über humanistisch geprägte Textsorten hinaus. Die Hochstilisierung des Lateinischen als Leitsprache jeder Bildung und eloquentia,57 das Vorbild der antiken Autoren und ihr zwingendes semantisches Repertoire, die Ansprüche an rhetorische ‘elegantia’ ließen im Prinzip keine anderen Geschichtswerke als lateinische zu. Über die schöpferische ornatus-Funktion und das Prae ihrer universalen Verstehbarkeit hinaus ‘romanisierte’ und universalisierte die Form der Latinität aber auch in gewissem Sinne inhaltlich die nationalen Geschichtsbilder. Hier machte vorerst auch der nationale Zug des Humanismus Halt – Celtis schrieb ungeachtet seines deutschen Patriotismus Lateinisch, aber auch die unten erörterten Autoren von Beschreibungen deutscher Regionen taten es –, ehe sich das Volgare auch als Sprache der hohen Historiographie wieder etablierte. Latei55

Die Frage sollte durchaus wieder diskutiert werden. EDUARD NORDEN: Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahrhundert vor Christus bis in die Renaissance, Bd. 2, Darmstadt 51958 (11898), 732–807. 57 Vgl. HANNA-BARBARA GERL: Rhetorik als Philosophie. Lorenzo Valla (Humanistische Bibliothek I/13), München 1974, 234–250, bes. 246–248: Latein als Ursprung der Geschichte. – RICCARDO FUBINI: La coscienza del Latino negli umanisti. ‘A latina lingua Romanorum esset peculiare idioma’, in: DERS.: Umanesimo e secolarizzazione da Petrarca a Valla (Humanistica 7), Rom 1990 (11961), 1–53; DERS.: La coscienza del Latino. A Postscriptum, in: ebd. 55–76; JOZEF IJSEWIJN: Mittelalterliches Latein und Humanistenlatein, in: Die Rezeption der Antike, hg. von AUGUST BUCK (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 1), Hamburg 1981, 71–83; DARIO CECCHETTI: L’evoluzione del latino umanistico Francia (Rubricae: histoire du livre et des textes 3), Paris 1986; anregend: JOHN F. D’AMICO: Renaissance Humanism in Papal Rome (The Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science 101/1), Baltimore 1983 (ND 1991), 123–142: ,The Idiom of Roman Humanism‘. In Deutschland bisher kaum rezipiert: FRANÇOISE WAQUET: Le latin ou l’empire d’un signe, XVIe–XXe siècle (L’évolution de l’humanité), Paris 1998. 56

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nische Geschichtswerke mit regionalem Berichtshorizont interferierten in besonderer Weise mit volkssprachlichen, sie wurden bearbeitet, übersetzt beziehungsweise sofort oder in kurzer Abfolge in beiden Sprachen veröffentlicht. Beispiele sind etwa Albrecht von Bonstetten, später vor allem Johannes Aventinus, dessen deutsche Version der ‚Bayerischen Geschichte‘ ein bedeutendes, die idiomatischen Möglichkeiten der Mundart subtil nutzendes Sprachkunstwerk darstellt.58 Die ‚Schedelsche Weltchronik‘ in ihrem eigentümlichen universalistisch-regionalen Konzept war vorausgegangen. Maßgebend wirkte der marktorientierte Blick auf den Bedarf unterschiedlich gebildeter Leserkreise an gedruckten Texten. Die in jüngster Zeit angestellten Vergleiche der lateinischen und volkssprachlichen Versionen laufen häufig, aber keineswegs zwingend, auf einen Vergleich humanistisch geprägter und nichthumanistischer Textsorten hinaus. So wird in deutschen Fassungen eine Tendenz zur Vereinfachung, zur Komplexitätsreduktion festgestellt, wie umgekehrt das ausgeprägtere Autorbewußtsein, die stärkere Kohärenz, literarische Durchformung und thematische Fokussierung in den lateinischen Werken.59 7. Läßt sich also eine genuin humanistische Landesgeschichte (-beschreibung, -chronistik) überhaupt definieren? Eine Antwort müßte klären, welches ihre unverwechselbaren Unterscheidungsmerkmale im Vergleich zu älteren, aber auch zeitgenössisch prähumanistischen beziehungsweise vom Humanismus nicht spürbar berührten ‘Landesdiskursen’ sind. Die Zäsuren aufzuzeigen ohne die Kontinuitäten zu leugnen, darin besteht das definitorische Grund58

MARKUS MÜLLER: Johannes Turmair gen. Aventin, in: REINHARDT (Hg.): Hauptwerke (wie Anm. 5), 39–42, hier 41. Vgl. UTA GOERLITZ: Karl der Große, lateinisch und deutsch. Lateinische Karls-Rezeption und ihre Umsetzung in den volkssprachlichen Diskurs bei Johannes Aventinus, Johannes Cuspinianus und Caspar Hedio, in: Das Mittelalter 4/2 (1999), 39–54. 59 Beispiele VÁCLAV BOK: Zu Eschenloers deutscher Übertragung der ‚Historia Bohemica‘ des Eneas Silvius Piccolomini, in: Brücken: Germanistisches Jahrbuch Tschechien-Slowakei. Neue Folge 2 (1994), 141–151; siehe auch unten Anm. 147; ferner HERBERT BLUME: Thomas Kantzows Hochdeutsch. Zum Sprachstand der ersten hochdeutschen Fassung einer ‚Pommerschen Chronik‘, in: KÜHLMANN/LANGER: Pommern (wie Anm. 23), 171–186. – Latein und Nationalsprachen in der Renaissance, hg. von BODO GUTHMÜLLER (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 17), Wiesbaden 1998, hier vor allem ULRICH ANDERMANN: Albert Krantz (1448–1517). Bemerkungen zum Verhältnis von lateinischer und volkssprachlicher Gelehrsamkeit am Beispiel eines norddeutschen Humanisten (315–343). Ein Beispiel (Braunschweig 1492–1494) bringt HONEMANN: Humanistische Zeitgeschichtsschreibung (wie Anm. 28), bes. 136. Wichtig: Zweisprachige Geschichtsschreibung im spätmittelalterlichen Deutschland, hg. von ROLF SPRANDEL (Wissensliteratur im Mittelalter 14), Wiesbaden 1993, darin: JOACHIM SCHNEIDER: Humanistischer Anspruch und städtische Realität. Die Nürnberger Chronik des Sigismund Meisterlin (271–316; auch zu Andreas von Regensburg und Veit Arnpeck); vgl. schon Meisterlins Frühwerk, die ‚Chronographia Augustensium‘ (lat. 1455, deutsch 1457); DERS.: Zweisprachigkeit als Chance des Chronisten im Spätmittelalter, in: WENTA: Geschichtsschreibung in Mitteleuropa (wie Anm. 21), 249–276, bes. 263–270.

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problem, mit dem sich die Humanismusforschung generell konfrontiert sieht. So ist kaum zu bestreiten, daß der Humanismus auch historiographisch etwas Neues brachte oder, wie man stetig liest, einen ‘Sprung’ markierte.60 Hier ist vor allem das immer noch in seiner Bedeutung unterschätzte, vor allem von Eckhard Keßler rekonstruierte rhetorische Wissenschaftsmodell mit seinen nur mehr relativen Wahrheiten hervorzuheben.61 Nach den Ergebnissen einer Wolfenbütteler Tagung von 1999 zum Thema ‚Humanistische Landeschronistik in Deutschland‘ gibt es zwar Belege dafür, daß „überall ähnliche Veränderungen der Art und Weise, in der zeitgenössische Intellektuelle über die Vergangenheit ihrer Stadt, Ordensniederlassung, Heimat, Herrschaft oder Dynastie reflektierten und ihnen einen ruhmvollen Platz in der Geschichte des Reiches oder gar der Welt zu sichern suchten“,62 über die Definierbarkeit einer genuin humanistischen Landeshistoriographie beziehungsweise der noch enger gefaßten Landeschronistik herrschte jedoch im Resümee von Dieter Mertens Skepsis vor. Am ehesten sah man in jenen ‘Landesbeschreibungen’, die vornehmlich Gegenstand dieser Studie sind, „eine neue Gattung“.63 Eine säurescharfe Trennung humanistischer, humanistisch beeinflußter und nichtbeziehungsweise vorhumanistischer Literatur bleibt in vielen Fällen unmöglich und sollte auch im Folgenden nicht erwartet werden. Ohne eine vorhumanistische Tradition (um das Wort ‘mittelalterlich’ zu meiden) ist freilich die gesamte Bewegung und die von ihr geprägte Geschichtsschreibung nicht denkbar, sei es als Folie der Distanzierung, sei es als unvermeidlich zu verarbeitendes Material beziehungsweise fortzusetzende Erzählung. So sieht man also einerseits den Sprung, andererseits aber zunehmend die Tatsache, daß „der humanistische Gentilpatriotismus stärker auf älteren und zeitgenössi-

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Siehe etwa oben bei Anm. 30 und 54. – Man vergleiche auch die Ansicht von Graus, die Humanisten hätten eine schärfere Grenze zwischen gelehrter Historiographie und Unterhaltungsliteratur gezogen, eine Grenze, die im Mittelalter fließend gewesen sei. Mit dieser Verbindung von Klassizität und Verwissenschaftlichung hätten sie „ungewollt auch jene Tradition begründet, die in der gelehrten Historiographie die Langeweile gewissermaßen zur Pflicht machte“; GRAUS: Funktionen (wie Anm. 18), 47. 61 Grundlegend KEßLER: Petrarca (wie Anm. 1), bes. 182–205; DERS.: Das rhetorische Modell der Historiographie, in: Formen der Geschichtsschreibung: Tradition der Geschichtsschreibung und ihrer Reflexion, hg. von REINHART KOSELLECK/HEINRICH LUTZ/JÖRN RÜSEN (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 4), München 1982, 37–85. 62 GERRIT WALTHER: (Bericht über: Deutsche Landesbeschreibungen [wie Anm. 1]), in Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 26 (2002), 89. 63 DIETER MERTENS: Schlußbemerkungen, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 279–281; tendenziell so auch DERS.: Landeschronistik (wie Anm. 22), bes. 27, 31; DERS.: Landesbewußtsein (wie Anm. 12). Vgl. als älteres Projekt FRITZ EHEIM: Historische Landesforschung im Zeitalter des Humanismus, in: Berichte vom Österreichischen Historikertag 1953, Graz 1954, 102–105. [Siehe auch: SCHIRRMEISTER: Was sind humanistische Landesbeschreibungen (wie Anm. 21).]

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schen Landesmodellen fußte, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist“.64 Tendenziell folgte die Humanismusforschung oft zu bereitwillig der epochal ‘modernen’ Selbstprätension der Humanisten selbst. Um mit der nationalen Geschichtsschreibung zu beginnen: Norbert Kersken hat ein Spektrum von 74 vorhumanistischen Autoren im Europa der nationes bis in das 14. Jahrhundert vorgestellt: zum Beispiel Kosmas von Prag (11. Jh.), den Saxo Grammaticus († nach 1208) mit seiner ‚Historia Danica‘, Jiménez de Rada († 1247) in Spanien wie Simon von Keza († nach 1285) in Ungarn als jeweils „frühen Ausdruck ‘nationalen’ Geschichtsdenkens“. Hinzu treten Historiker, die zeitgenössisch bereits mit Humanisten konkurrierten, wie in Ungarn János Thuróczy († 1488), in Polen Jan Długosz († 1480).65 Man wird der These im ganzen darin folgen, daß bereits „in zwei literarischen Verdichtungsschüben“ im ersten Viertel des 12. und in den ersten drei Vierteln des 13. Jahrhunderts in den meisten europäischen Ländern mit durchgehender dynastischer und politischer Entität eine Nationalgeschichtsschreibung entstanden war. Deutschland und Italien, die in das supranationale Reich eingespannt waren, fielen dabei aus, ebenso wie die Randländer Schweden und Irland sowie die Eidgenossenschaft, die sich erst im 15 Jahrhundert als nationale Entität formierte.66 Den Rückstand in den genannten Ländern holte erst die neue Diskurse schaffende humanistische Historiographie im 15. und 16. Jahrhundert auf,67 ohne vor dem 19. Jahrhundert mit den älteren west-, nordund osteuropäischen ‘Nationen’ gleichzuziehen. Bei Kersken rückt die humanistische Historiographie als „Neuansatz“ mit „methodisch neue(n) Akzente(n)“ zwar noch in den Blick; worin dieser Neuansatz aber über „quellenkritische Hinterfragungen“ und eine gewisse „Internationalisierung“, sprich: verstärkte Darstellung fremder Geschichte durch italienische Humanisten, präzise bestand, bleibt bei ihm wie bei anderen offen.68 Auch für die regionale Historiographie und ihren graduell engeren Berichtshorizont gilt: es gab vereinzelt ältere Traditionen (etwa Peter von Dus64

GRAF: Land Schwaben (wie Anm. 12), 152. NORBERT KERSKEN: Geschichtsschreibung im Europa der ‘nationes’. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter (Münstersche Historische Forschungen 8), Köln 1995, Zitat 730. Kersken behandelt Spanien, Normandie (nicht Frankreich), England, Schottland, Norwegen, Dänemark, Polen, Böhmen und Ungarn. Vgl. DERS.: Mittelalterliche Nationalgeschichtsschreibung im östlichen Mitteleuropa, in: Mediaevalia Historica Bohemica 4 (1995), 147–170; DERS.: Mittelalterliche Geschichtsentwürfe in Alt- und Neueuropa, in: WENTA (Hg.): Geschichtsschreibung in Mitteleuropa (wie Anm. 21), 111–134. – Für Deutschland siehe den mutigen Zugriff von SPRANDEL: Geschichtsschreiber (wie Anm. 26) und auch URSULA MORAW: Die Gegenwartschronistik in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, Heidelberg 1966, bes. 113–127, 176–205. 66 Siehe unten bei Anm. 174 ff. 67 KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 65), 844–847. 68 KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 65), 828–833, 854. Zur Internationalisierung siehe unten bei Anm. 195 ff. 65

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burg für Preußen), aber erst im 15. Jahrhundert kam es unter dynastischen Vorzeichen zu geographisch-historiographischen Synthesen, wie etwa in Johannes Rothes noch humanismusferner ‘Thüringischer Landeschronik’ (1418/19).69 „Es entsprach dem veränderten Bildungshabitus der ... Autoren“, so Kühlmann, „daß Schreibmuster der mittelalterlichen Kosmographie und Chronistik zwar nicht umstandslos außer Kraft gesetzt wurden“, ja weiterhin als Leitquellen für das neue Genre dienten, „jedoch mit literarischen Anregungen des Altertums und der italienischen Renaissance verschmolzen“.70 8. Eine weitere, selten beantwortete beziehungsweise beantwortbare Frage zielt dahin, welche gesellschaftlichen und intellektuellen Sozialisationsprozesse bei den humanistischen Historiographen selbst abliefen. Waren sie hofnah integriert, welchen Klientelen und Kreisen gehörten sie an? Waren die Humanisten als Autoren persönlich „unbewegte Beweger“ (Mertens), ihre Werke Reflexe und Seismographen eines traditionell gewachsenen oder sich erst neu formenden ‘Landesbewußtseins’ oder mehr dessen gelehrte Motoren?71 Hier ist der gängig gewordene Begriff des (gentilen) Patriotismus noch genauer zu schärfen. Aber auch die Reichweite der Landesdiskurse ist jeweils zu untersuchen. Der durchaus polemisch geführte Schwaben-Diskurs etwa umfaßte neben den um Württemberg zentrierten Schwaben im engsten Sinne auch Elsässer und Schweizer, die sich ebenfalls als Germanen und Alemannen fühlten, aber eben nicht als Schwaben und die von letzteren, was ihre Charaktereigenheiten betraf, deutlich abgegrenzt und ausgeschlossen wurden.72 Auf das Ganze gesehen manifestierten diese regionalen humanistischen Gruppen mit ihrer (sodalen?) Kommunikation und Textproduktion im Sinne des von Celtis geforderten nationalen Paragones prestigeträchtig selbst zivilisatorischen Anspruch, ja Fortschritt. Dieser ließ „die distinktive, mäzenatische (vor allem vom Landesherrn) geförderte Teilhabe einer Region am nationalen und übernationalen literarischen Verkehr genau in dem Maße sichtbar werden, wie sie sich möglichst fraglos als gelehrtes und variables Medium des gelehrten Miteinanders und der intellektuellen Verständigung etablierte“ (Kühlmann). So bilden die in einer Vielzahl von Regionen entstehenden, stark fluktuierenden humanistischen Gruppen jeweils Facetten, „geographisch-soziale Teil-‘system(e)’ der überregionalen humanistischen Bildungskultur in

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WEIGELT: Rezeption (wie Anm. 40). Vgl. HARALD TERSCH: Die Darstellung der römischen Frühgeschichte in deutschsprachigen Chroniken des Spätmittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 99 (1991), 22–68 (zu Hans Rothe, Jans Enikel und Jakob Twinger von Königshofen). 70 KÜHLMANN/STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3), 659. 71 Zu diesem Leitbegriff vgl. die Einleitung von MATTHIAS WERNER in: DERS. (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *). 72 GRAF: Land Schwaben (wie Anm. 12), 151–157. Vgl. Anm. 12, 72 und 111, sowie MERTENS: Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (wie Anm. 25).

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Deutschland“.73 Ein Landes- beziehungsweise ein aus antiken Quellen neu konstituiertes Stammesbewußtsein als Zugehörigkeitsgefühl zu einer antik legitimierten, kontinuierlich gedachten gentilen Einheit (Schwaben, Franken, Bayern etc.) diente dann auch gruppensoziologisch als – noch kaum übergreifend untersuchtes – „Mittel zur Orientierung und Selbstverständigung im Netzwerk der humanistischen Gelehrtenzirkel.“74 Auch nach Erörterung dieser acht Problemfelder ist die Frage nach einem humanistischen Proprium der regionalen Historiographie um 1500 offen. Es erscheint daher sinnvoll, nach einem Proprium humanistischer Geschichtsschreibung überhaupt zu fragen. Die Geschichte zählte bekanntlich zum neu formierten Fächerkanon der fünf Humaniora.75 Aufbauend auf klassischen Positionen Joachimsens – die „mittelalterliche Geschichtsschreibung“ wurde durch eine neue „Auffassung von dem“ überwunden, „was der Inhalt der Geschichte sein soll“76 – hat Ulrich Muhlack klar und idealtypisch Kriterien formuliert, die humanistische Geschichtsschreibung als „Potenz sui generis“ zu identifizieren:77 1) löst sich die Historie aus dem Kontext der gottgeleiteten Heilsgeschichte, sie wird als kontingent und profan, als von Menschen gemacht verstanden und ist daher ebenso kontingent aus den Motiven der handelnden Individuen (wie Petrarcas Caesar) und Politien (wie Brunis Florenz) deutbar;78 2) bevorzugt die Historie den ‘nationalen’ und räumlich-geographischen Gegenstand (davon geht unser Beitrag aus); 3) entdeckt Historie die Darstellung als produktive schriftstellerische Aufgabe, als ars historica. Diese konkretisiert sich als ein nach dem Vorbild antiker Autoren exzellierendes rhetorisch-sprachliches Kunstwerk, und zumindest insofern als ‘Konstruktion’. Dazu gehört auch die monographische Geschlossenheit der Komposition. Die Frage, inwieweit auch Landeschroniken und -beschreibungen deut73

KÜHLMANN/STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3), 662. KLAUS GRAF: Aspekte zum Regionalismus in Schwaben und am Oberrhein im Spätmittelalter, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von KURT ANDERMANN (Oberrheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, 165–192, bes. 191. Zur Bedeutung der dynastischen, landesherrlichen Impulse als causae scribendi vor allem HANS PATZE: Mäzene der Landesgeschichtsschreibung im späten Mittelalter, in: DERS.: Geschichtsschreibung (wie Anm. 18), 331–370; MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 19– 25; WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1), 36–47. 75 MEUTHEN: Humanismus und Geschichtsunterricht (wie Anm. 1), bes. 14–16, sowie die in Anm. 1 genannte Literatur; KEßLER: Petrarca (wie Anm. 1), 182–205 und passim. 76 JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 13. 77 Besonders prägnant ULRICH MUHLACK: Humanistische Historiographie, in: BRENDLE/ MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 3–18; DERS.: Humanistische Historiographie, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 30–34. Im übrigen vgl. Anm. 1. 78 Vgl. programmatisch KEßLER: Petrarca (wie Anm. 1), 198–205. – Nach Polydor Vergil sind consilia, causae, dictae, factae, casus et exitus, die Gegenstände der Geschichtsschreibung; Historia Anglica Libri XXVI, Basel 1534, 49 (Praefatio). 74

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scher Humanisten solchen Formansprüchen folgten und in welcher Hinsicht sie ihnen gerecht wurden, ist noch offen;79 4) hat Geschichte eine didaktischpraktische, eine paränetische Funktion; sie liefert exempla, ist magistra vitae (Cic. de or. II 3,6 und De leg. I 3,8). Dies galt freilich im Prinzip auch in der ‘mittelalterlichen’ Historiographie; verschoben hatten sich Art und Ziel der Didaxe im oben genannten Sinne.80 Diese Kriterien bilden die Voraussetzung, zum Abschluß der Prolegomena noch zwei weitere zentrale Problemkomplexe zu erörtern: Das neue antiquarische wie geographische Sachinteresse und das Problem der historischen Kritik: Erster Komplex: Das neue Sachinteresse. Man darf von einem wissenschaftsgeschichtlich folgenreichen Interessenschub unter dem Einfluß des Renaissance-Humanismus sprechen. Er betraf vor allem das antiquarisch-archäologische und eben das geo- und chorographische Interesse. Beide Felder erforderten über die Lektüre antiker Texte hinaus eine Entdeckung der Welt durch Arbeit ‘im Gelände’, durch Autopsie; sei es astronomisch-mathematisch durch Sternbeobachtung, sei es chorographisch durch erkundendes Reisen praktiziert – dies eine spezielle Bedeutung des ‘Wanderhumanismus’, wie ihn Celtis selbst stets betont hatte. Die bekannte ‘scoperta’-Reise durch Bibliotheken öffnete sich, zunehmend im 16. Jahrhundert, zur universalen, auch archäologisch-geographisch registrierenden Kultur- und Naturbereisung, ‘ferne Welten’ und Reiche gerieten ebenso in den Blick wie die eigene Region. Regional setzten die Reisen eines Johannes Aventin oder eines John Leland und der englischen ‚Antiquarians‘ wie William Camden (‚Britannia‘ 1586; engl. Übersetzung 1610) zwar an, sahen aber, wie Celtis, in einer nationalen Perspektive ihr Telos.81 Der Einfluß der Reise- und Pilgerliteratur, der ‘Hodoeporica’ etc., wie sie im 16. Jahrhundert gesammelt wurden, auf die Historiographie ist aber noch nicht hinreichend ausgelotet. Als sprechendes Indiz darf gelten, daß der Dominikaner Felix Fabri seine ‚Descriptio Sueviae‘ 79

MERTENS: Schlußbemerkungen, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 279. Vgl. oben bei Anm. 52 zum Stilproblem. 80 MUHLACK: Humanistische Historiographie (wie Anm. 77), 10 f.; GRAUS: Funktionen (wie Anm. 18), 26; MEUTHEN: Humanismus und Geschichtsunterricht (wie Anm. 1), 15–18. Grundlegend RÜDIGER LANDFESTER: Historia Magistra Vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts (Travaux d’Humanisme et Renaissance 123), Genf 1972. 81 Das Problem der Autopsie bedürfte eigener Untersuchung. Zum Verhältnis von Traditionstexten und (Raum-)Erfahrung bereits GUENÉE: Histoire et culture historique (wie Anm. 40), 166–178; zu Albert Krantz ANDERMANN: Krantz. Wissenschaft (wie Anm. 51), 204–207, mit dem Zitat: Quod oculos inspexi, hac scriptura contestor. Zur Bedeutung der peregrinatio für das Selbstverständnis des Humanismus WORSTBROCK: Selbstverständnis (wie Anm. 8), 505; zu Celtis MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 211 f. – Über Leland JOHN CHANDLER (Hg.): John Leland’s Itinerary. Travels in Tudor England, Sutton 1993.

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als kontrastierenden Abschluß (12. Traktat) seines umfangreichen JerusalemPilgerbuchs ‚Evagatorium‘ vorgesehen hatte, daß er ‘Landesbewußtsein’ also vor einer exotischen Matrix positionierte.82 Doch erste Grundlage des Wissens blieben die (antiken) Texte. Die Humanisten verbreiterten zunächst durch neue Textfunde quantitativ die Basis der traditionellen Lehrmeister, bereiteten sie wie die bereits bekannten Texte aber dann auch qualitativ auf, durch philologisch-textkritische Editionen mit emendatio und correctio. Das Quellenspektrum wurde aber auch um die ‘Überreste’ erweitert. Humanisten begannen als erste, Inschriften, Münzen, Statuen auszugraben, zu sammeln, zu publizieren: Niccolò Niccoli, Poggio Bracciolini und Ciriaco Pizzicolli (d’Ancona) machten in Italien den Anfang; ähnliche Gestalten finden sich mit der raschen Diffusion des Humanismus in den meisten europäischen Ländern, Juan Margarit in Spanien, Nikolaus Marschalk, Hartmann Schedel und Konrad Peutinger in Deutschland, der besagte John Leland in England etc. Schedels monumentale Inschriften-Sammlung, der ‚Liber antiquitatum‘ (1504), sollte den Grundstock römischer Realien für den „Aufbau einer universellen säkularen Memorialkultur“ im celtisschen Horizont bilden.83 An den Fürstenhöfen begannen die großen Sammlungen zu entstehen. Disziplinengeschichtlich kann man von der Geburt der sich später verselbständigenden historischen (Hilfs-)Wissenschaften wie Numismatik, Epigraphik, Archäologie sprechen.84 82 Siehe auch unten bei Anm. 162 ff. Die kaum mehr zu übersehende Reiseliteratur ist hier nicht aufzuführen. Vgl. HERMANN WIEGAND: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraumes im 16. Jahrhundert (Saecula Spiritalia 12), BadenBaden 1984. Zu den Sammlungen des Nathan Chytraeus (1575) und Nikolaus Reusner (1580) ebd. 1319; MIEDEMA: Nürnberger Humanisten (wie Anm. 5), 67. 83 FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Hartmann Schedels ‚Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus‘. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Wolfgang Harms zum 60. Geb., hg. von DIETMAR PEIL/MICHAEL SCHILLING/PETER STROHSCHNEIDER, Tübingen 1998, 215–243, hier 243. Noch zwei Jahre früher publizierte Nikolaus Marschalk seine ‚Epitaphia‘ 1502 als erste Inschriftensammlung in Deutschland überhaupt; Archäologie der Antike 1500–1700. Aus den Beständen der Herzog-August-Bibliothek, Wiesbaden 1994, 84. Zur Philologie: SILVIA RIZZO: Il Lessico filologico degli umanisti (Sussidi eruditi 26), Rom 1973. 84 FRANCIS HASKELL: Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995, bes. 23–142. Zur Epigraphik JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 115–122; MARTIN OTT: Römische Inschriften und die humanistische Erschließung der antiken Landschaft: Bayern und Schwaben, in: BRENDLE/ MERTNES u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 213–226; UTA GOERLITZ: Mainzer Antiquitas und deutsche Nation. Der Briefwechsel der Benediktiner-Humanisten Hermannus Piscator und Petrus Sorbillo aus dem Jahr 1517, in: JOHANEK: Städtische Geschichtsschreibung (wie Anm. 28), 157–180, hier 167 f. (Literatur). Zu Archäologie und Sammlungen hier nur: Archäologie der Antike (wie Anm. 83); HENNING WREDE: Die Entstehung der Archäologie und das Einsetzen der neuzeitlichen Geschichtsbetrachtung, in: Geschichtsdiskurs, Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens (Fischer Wissenschaft 11476), hg. von

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Über die kaum zu überschätzende Bedeutung der neuen Tacitusrezeption, insbesondere die ‚Germania‘, das „Danaergeschenk des Überlieferungszufalls an die Deutschen“85 als einzig erhaltene ethnographische Monographie der Antike (ed. pr. Bologna 1472), sind hier nicht viel Worte zu verlieren. Mit ihr wurde die „Vorstellung eines unabhängigen germanischen Altertums“ überhaupt erst möglich.86 Die ‚Germania‘ lieferte aber auch Material für das Interesse an ‘Realien.’ Andere, auch dem Mittelalter bekannte Texte nutzte man nun geo- und ethnographisch ungleich systematischer, etwa die betreffenden Exkurse im VI. Buch von Caesars ‚Bellum Gallicum‘ (ed. pr. 1469) und bei Plinius d. Ä., ebenso die Länderkunde des Pomponius Mela (‚De situ orbis libri tres‘). Dieser stand, da ihn Petrarca schon 1335 benutzte, am Anfang humanistischer Beschäftigung mit den antiken Geographen überhaupt (ed. pr. 1471; Editionen auch von Johannes Cochlaeus 1512 und Joachim Vadianus 1518). Als bedeutendsten Zugewinn geographischen Wissens speisten Humanisten in lateinischen Übersetzungen die griechischen Autoren Strabon (‚Geographicá‘, lat. Ed. pr. Venedig 1471) und Claudius Ptolemaios (‚Geographiké Hyphegesis‘, lat. Übersetzung um 1410; mindestens sechs lat. Drucke 1475 bis 1500, weitere zehn bis 1530) ein.87 Auf Ptolemaios gehen auch die nach WOLFGANG KÜTTLER/JÖRN RÜSEN/ERNST SCHULIN, Frankfurt am Main 1994, 95–119; DERS.: ‘Cunctorum splendor ab uno’. Archäologie, Antikensammlungen und antikisierende Ausstattungen in Nepotismus und Absolutismus (Schriften der Winckelmann-Gesellschaft 18), Stendal 2000; JAMES J. SHEEHAN: Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer bis zur modernen Sammlung, München 2002. – Hier wiederum der Vorbehalt, daß auch ‘das Mittelalter’ ein ‘Verhältnis’ zu antiken Ruinen und Überresten hatte: MICHAEL GREENHALGH: The Survival of Roman Antiquities in the Middle Ages, London 1989; dazu ARNOLD ESCH: Nachleben der Antike und Bevölkerungsvermehrung, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 70 (1990), 656–672; sowie die Mainzer Habil.schrift von LUKAS CLEMENS: Tempore Romanorum constructa – Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste während des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 50), Stuttgart 2003. [Siehe jetzt die Aufsätze in: HELMRATH/SCHLELEIN/ SCHIRRMEISTER (Hg.): Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung (wie Anm. 25).] 85 VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere (wie Anm. 53), 358. 86 WORSTBROCK: Selbstverständnis (wie Anm. 8), 518. Zur Tacitus-Rezeption hier nur: ULRICH MUHLACK: Die ‚Germania‘ im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Beiträge zum Verständnis der ‚Germania‘ des Tacitus, hg. von HERBERT JANKUHN/ DIETER TIMPE (Abhandlungen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philosophischhistorische Klasse 3/175), Göttingen 1986, Bd. 1, 128–154; DERS.: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 479 s.v.; DONALD R. KELLEY: ‘Tacitus noster’. The ‚Germania‘ in the Renaissance and Reformation, in: Tacitus and the Tacitean Tradition, hg. von TORREY J. LUCE/ ANTHONY J. WOODMAN, Princeton 1993, 152–167; GOERLITZ: Mainzer Antiquitas (wie Anm. 83), 173, Anm. 60, sowie ROBERT: Celtis (wie Anm. 3), 350–352, 373–378, 425–438, 557, s.v. Zum Autochthoniediskurs siehe Kap. III. 87 Zur Verarbeitung der antiken Geographen Mela, Plinius, Ptolemaios, Strabo etc. ausführlich jeweils MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), s.v., 384 Abb. des Ulmer Drucks

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Reichweite gestuften (oft synonym verwendeten) Disziplinen Kosmographie, Geographie, Chorographie (als Beschreibung einer Region) und Topographie (Ortsbeschreibung) zurück.88 Nahezu parallel differenzierten sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts Geschichte und Geographie auch disziplinengeschichtlich aus, als Universitäts- und Schulfächer.89 Man wird die im weiten Sinne geographischen Opera deutscher Autoren aufgliedern a) in eine mehr auf Ptolemaios und dann auf Regiomontan († 1476) fußende mathematisch-astronomische Richtung, mit den Autoren der sog. Nürnberger Geographenschule (Bernhard Walther † 1504, Johannes Werner † 1528, Johannes Schöner † 1547), mit dem ab 1511 in Tübingen lehrenden Johannes Stöffler († 1531), mit Martin Waldseemüller (Hylocomylus † 1522) und seiner ‚Cosmographiae introductio‘ (St. Dié 1507) oder des Johannes Apianus († 1552) ‚Cosmographia‘ von 1524; b) in die hier mehr interessierende, mehr auf Strabon und Mela gestützte, durch Celtis und seine Anhänger exemplifizierte, eng mit regionaler Historiographie gekoppelte deskriptive Geographie. Dieser Gruppe entstammen unsere Beispiele. Eng mit der Geographie verbunden – aber in der Forschung noch zu wenig integriert – trat die neue, auf der mathematisch-astronomischen Geographie fußende Technik der Kartographie hinzu, als Form vermessener, abstrahierter Entdeckung der Welt zur optischen Unterstützung der deskriptiven Texte.90 der ‚Cosmographia‘ aus Celtis’ Besitz. Zur Geographie in der Renaissance allgemein: LESLEY B. CORMACK: Geography, in: Encyclopedia of the Renaissance 3 (1999), 31–34. Zur Plinius-Rezeption magistral ARNO BORST: Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1), Heidelberg 1994, bes. 300–333. 88 Claudii Ptolemaei: Geographia, hg. von CAROLUS MÜLLERUS, Paris 1883, I.1 3: Atque differt illa (sc. geographia) a chorographia, siquidem haec per partes loca resecans seorsim singula et per se exponit, adeo ut omnia fere vel minutissima, quae iis continentur, descriptione complectantur, veluti portus et vicos et pagos et fluviorum a principali alveo deverticula et quae his sunt similia; geographiae autem est unam et continuam ostendere terram cognitam. 89 MEUTHEN: Humanismus und Geschichtsunterricht (wie Anm. 1), sowie die Literatur in Anm. 90 zur Kartographie. 90 Ob man wie ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 90: die „Verbindung von chorographischer Darstellung in Wort und Karte“ für genuin „humanistisch“ halten darf, sei dahingestellt. – Ein systematischer Überblick zur Kartographie fehlt. GERALD STRAUSS: Sixteenth Century Germany. Its Topography and Topographers, Madison 1959; NUMA BROC: La géographie de la Renaissance 1420–1620 (C.T.H.S. Format 1), Paris 1986, 99–136 („géographie, cartographie régionale“); FRANZ MACHILEK: Kartographie, Welt- und Landesbeschreibung in Nürnberg um 1500, in: HARDER (Hg.): Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1), 1–12; BERNDT HAMM: Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Nürnbergs 76 (1989), 65–147, hier 88–91; CLAUDIUS SIEBER-LEHMANN: Albrecht von Bonstettens geographische Darstellung der Schweiz von 1479, in: Cartographica Helvetica 16 (1997), 39–46; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 318–322, 467 f., 472–483 und passim; REINHARD

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Gerade in frühen humanistischen Regionalhistoriographien wurden auch die ältesten regional terminierten Landkarten gedruckt, zuerst offenbar im Südwesten des Reiches: im Werk der Eidgenossen Albrecht von Bonstetten (1479) und Konrad Türst (1495), dann in der sog. ‚Bodenseekarte des Meisters PW‘. Für Preußen sind die (verlorenen) Karten von Kopernikus, Bernard Wapowski, Georg Joachim Rheticus und die erhaltene des Heinrich Zell (1542)91 zu nennen, für Pommern die Karte des Thomas Kantzow92. Kartographisch reich ausgestattete Großwerke neuen Typs wie die ‚Cosmographey‘ (1544) des Sebastian Münster entstanden bereits parallel. Zweiter Komplex: Die neue historische Kritik. Die Humanisten lebten in einem doppelten Grundgefühl der Distanz, kritischer Distanz zur unmittelbaren ‘mittelalterlichen’ Vergangenheit einerseits, sentimentalischer Distanz zur fernen antiken Leitkultur andererseits. Verbunden mit ihren geschärften philologischen Methoden verlieh ihnen dieses Bewußtsein zweifellos höhere Sensibilität für geschichtliche Wandlungsprozesse (mutationes) und Anachronismen, mithin für Historizität überhaupt. Wie schon die Diskussion um die Latinität zeigte, wurde die Sprache als historisches Phänomen erkannt, das heißt, man begann, die antiken Quellen selbst historisch einzuordnen, sie zu relativieren. Insofern profitierte die Historie vielleicht noch mehr als andere

STAUBER: Nürnberg und Italien in der Renaissance, in: Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hg. von HELMUT NEUHAUS (Nürnberger Forschungen 29), Nürnberg 2000, 123–149, ebd. 142–146 zur Kartographie; DERS.: Hartmann Schedel (wie Anm. 6), 169 f., 177; MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 29 (Literatur); NINE MIEDEMA: Erhard Etzlaubs Karten. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Kartographie und des Einblattdrucks, in: Gutenberg-Jahrbuch 1996, 99–125; DIES.: Nürnberger Humanisten (wie Anm. 5), 70 f. Überblick über die Karten jetzt bei PETER H. MEURER: Corpus der älteren Germania-Karten. Ein annotierter Katalog der Gesamtkarten des deutschen Raumes von den Anfängen bis um 1650, Alphen an den Rijn 2001; siehe auch DERS.: Der Maler und Kartograph Johann Ruysch († 1533). Zur abenteuerlichen Biographie eines Kölner Benediktiners an der Schwelle der Neuzeit, in: Geschichte in Köln 49 (2002), 85–104. Zur Deutschlandkarte am Ende der ,Schedelschen Weltchronik‘ (1493) zuletzt KUGLER: Nürnberg auf Blatt 100 (wie Anm. 34); STAUBER: Hartmann Schedel (wie Anm. 6), 177 f. Zur frühen Verbreitung geographischen Antikewissens auch: Humanisme et culture géographique à l’époque du concile de Constance. Autour de Guillaume Fillastre, hg. von DIDIER MARCOTTE (Terrarum Orbis 3), Turnhout 2001. 91 ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 89–91, 116 f. mit Anm. 45 (Literatur); BÖMELBURG: Landesbewußtsein (wie Anm. 123), 650 f.; ECKHARD JÄGER: Prussia-Karten 1542–1810. Geschichte der kartographischen Darstellung Ostpreußens vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Schriften des Nordostdeutschen Kulturwerks Lüneburg), Weißenhorn 1982, bes. 44–58; MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 226 (zu Türst). 92 RODERICH SCHMIDT: Die ,Pomerania‘ als Typ territorialer Geschichtsdarstellung und Landesbeschreibung des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts (Bugenhagen – Kantzow – Lubinus), in: HARDER (Hg.): Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1), 49–78, hier 67–71; BLUME: Kantzows Hochdeutsch (wie Anm. 59).

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Fächer von dieser (R)Evolution der Texte.93 Als Historiker waren Humanisten also tendenziell quellenkritisch und mythenskeptisch, beziehungsweise, um das Modewort zu verwenden: dekonstruktivistisch. Eben die Entzauberung tradierter Gründungssagen als anilia deliramenta und damit die Offenheit für neue Deutungen dürfe geradezu als „Proprium der humanistischen Historiographie“ (Maissen) bezeichnet werden.94 Mit den antiken Texten glaubten sie über eine Phalanx untrüglicher Meßlatten zu verfügen. Die Aristie der Kritik am Fremden sollte nicht zuletzt das eigene Werk und gegebenenfalls seine neuen Konstruktionen um so glaubwürdiger machen. Quellenkritik fand unbestritten statt. Fraglich ist nur, ob dies als Ausweis eines kompromißlosen Drangs zur Objektivität interpretiert werden kann. Die Historiographieforschung hat sich stark unter das allgemeine Fortschritts- beziehungsweise Modernisierungsparadigma gestellt. Telos und Kriterium ihrer Entwicklungsgeschichte bleibt die im 18./19. Jahrhundert formierte „moderne“, d.h. methodisch reflektierte, empirische, rational nachprüfbare Geschichtswissenschaft. Der humanistischen Historiographie wurde dabei einesteils die Rolle einer wichtigen Fortschrittsetappe (Fähigkeit zur Historisierung überhaupt, Quellenkritik) zugesprochen, die über die Aufklärung zur modernen Wissenschaft führt; andernteils wurde jedoch ein widersprüchlicher Rückschritt in neue Mythenanfälligkeit kritisiert und die rhetorische Grundanlage, wenn sie denn erkannt wurde, häufig als Unernst oder Schwulst denunziert.95 Zwei Gegenargumente sind vorzubringen, das erste aus dem alten Köcher der ‘Revolte der Mediävisten’: 1) Anders als verbreitete Klischees zulassen, hatte auch ‘das Mittelalter’ einen gewissen Sensus für historische Plausibilität, das discrimen veri et falsi und die diversitas temporum, sprich: für historische Veränderungen und Anachronismen. Sie verfügte auch, wie Jörg W. Busch an Fallstudien vor allem aus der italienischen Stadtchronistik des 12. bis 14. Jahrhunderts nachweist, über juristisch-diplomatische Instrumentarien

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Bisher zu wenig rezipiert: WOLFGANG SPEYER: Italienische Humanisten als Kritiker der Echtheit antiker und christlicher Literatur (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 3), Stuttgart 1993. Vgl. auch RIZZO: Lessico filologico (wie Anm. 83). 94 MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 219; GRAF: Thomas Lirer (wie Anm. 12), 49; MONTECALVO: The new ‘Landesgeschichte’ (wie Anm. 114), 61–65. Zum Thema bereits PETER BURKE: The Renaissance Sense of the Past, London 1969, der dem Mittelalter im Gegensatz zum Humanismus kritischen Sinn abspricht. 95 Für die erste Ansicht steht – mit guten Gründen – auch das magistrale Werk von MUHLACK: Geschichtswissenschaft im Humanismus (wie Anm. 1), v.a. 350–356; DERS.: Empirisch-rationaler Humanismus, in: Historische Zeitschrift 232 (1981), 605–616; für die letztere Auffassung noch das Werk von COCHRANE: Historians (wie Anm.1), der sich hier auf den Spuren von FUETER: Geschichte (wie Anm.1) befindet. Vgl. dagegen kritisch GARY IANZITI: Leonardo Bruni, first modern Historian?, in: Parergon 14 (1997), 85–99, hier 89 f.

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einer Quellenkritik.96 Die ‚Chronik von den 95 Herrschaften‘, die (um 1400) mit den österreichischen „Fabelfürsten“ uralte lokale und altgläubige Kontinuität der – gegenwärtig habsburgischen – Dynasten des Landes manifestieren wollte, wurde nicht nur von dem Humanisten Enea Silvio in seiner ‚Historia Austrialis‘ (1453–1458) durch antike Quellen und Plausibilitätsüberlegungen als anachronistisch und widersprüchlich destruiert, „die barbarische Germania folglich noch abhängiger von römisch-kirchlicher Akkulturation“ gemacht!97 Auch der bayerische – d. h. nicht indigene – Adlige Hans Ebran von Wildenberg († 1502/03), der, nicht lateinisch gebildet, für ein Adelspublikum schrieb, vermochte um 1480 in seiner ‘Chronik’ die „Fabelfürsten“ durch Vergleich rein mittelalterlicher Quellen zurückzuweisen.98 Das Fortschrittsmodell bleibt hier lebendig. Busch und andere schwächen mit diesen Beispielen lediglich die methodische „Diskontinuität zwischen Mittelalter und Humanismus“ ab und verlegen den Beginn des Fortschritts nach hinten. In einer allgemeinen „allmähliche(n) Entwicklung zwischen dem hohen und dem späten Mittelalter ..., die zu einer immer deutlicheren Erkenntnis von der Eigenständigkeit der Vergangenheit führte“99 stellt die historisierende Quellenkritik 96

JÖRG W. BUSCH: ‘Certi et veri cupidus’. Die Behandlung geschichtlicher Zweifelsfälle und verdächtiger Dokumente um 1100, um 1300 und um 1475. Drei Fallstudien (Münstersche Mittelalter Schriften 80), München 2001; DERS.: Die vorhumanistischen Laiengeschichtsschreiber in den oberitalienischen Kommunen und ihre Vorstellungen vom Ursprung der eigenen Heimat, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 35–54. Vgl. auch DONALD R. KELLEY: Clio and the Lawyers. Forms of Historical Consciousness in Medieval Iurisprudence, in: DERS.: History, Law and the Human Sciences, Medieval and Renaissance Perspectives (Variorum Collected Studies 205), London 1984, 25– 49, sowie KLAUS SCHREINER: ‘Discrimen veri et falsi’. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von REINHART HERZOG/REINHART KOSELLECK (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987, 381–428; FRANZ STAAB: Quellenkritik im deutschen Humanismus am Beispiel des Beatus Rhenanus und Willhelm Eisengrein, in: ANDERMANN (Hg.): Historiographie am Oberrhein (wie Anm. 74), 155– 164. 97 Dazu detailliert BUSCH: Certi et veri cupidus (wie Anm. 96), 238–244, 255. Zuletzt MARTIN WAGENDORFER: Horaz, die Chronik von den 95 Herrschaften und Friedrich III. Überlegungen zum Widmungsbrief der ‚Historia Austrialis‘ des Aeneas Silvius Piccolomini, in: Handschriften, Historiographie und Recht. Winfried Stelzer zum 60. Geburtstag, hg. von GUSTAV PFEIFFER (Mitteilungen des Instituts für Österreichischen Geschichtsforschung. Ergänzungsband 42), Wien/München 2002, 109–127 (Literatur). 98 BUSCH: Certi et veri cupidus (wie Anm. 96), 245–248. 99 BUSCH: Certi et veri cupidus (wie Anm. 96), 259. Vgl. SCHREINER: Discrimen (wie Anm. 96). Vgl. auch KLAUS GRAF: Retrospektive Tendenzen in der bildenden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kritische Überlegungen aus der Perspektive des Historikers, in: Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter, Festgabe für Klaus Schreiner, hg. von ANDREA LÖTHER/ULRICH MEIER u.a., München 1996, 389–420, hier 409: „Die im Spätmittelalter wachsende Einsicht in die qualitative Andersartigkeit vergangener Zeiten ... [gibt] kein Kriterium ab, mit dem man Mittelalter und Renaissance auseinanderdividieren könnte.“

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der Humanisten nicht die erste, sondern lediglich die bislang stärkste Ausprägung dar. 2) Eng damit verknüpft ist das zweite Argument: Mythenkritik schloß neue Mythenkonstruktionen gerade nicht aus. Letztere können nicht einfach als ‘Rückfall’ gewertet werden, sondern entsprechen dem rhetorischen Impetus und der legitimatorischen Funktion der Historiographie. So sprechen einige Autoren ganz in diesem Sinne von der utilitas der Historie.100 Die Spannung zwischen quellenkritischer Mythenkritik und fiktionaler Mythengenerierung, zwischen Wahrheitspostulat und Legitimationsbedarf, unter der jede Historiographie als „interessengeleitete Rekonstruktion der Vergangenheit“ (Peter Burke) steht, hat die Forschung, auch die jüngste, zwar immer wieder irritiert, aber sie erweist sich zumindest für die humanistische Historiographie als Scheinproblem und Mißverständnis.101 Gerade die Entlarvung alter Mythen als fabulae inanes etc. zeigt vielmehr schlagend: Es gab keinen linearen Fortschritt an ‘Objektivität’ in der Quellenkritik. Die Destruktionen der „Fabelfürsten“ durch eine Autorität wie Papst Pius II. wurde keineswegs allgemein rezipiert, sie hinderte spätere Autoren nicht, die alten Inhalte weiter zu referieren, wenn ihre Auftraggeber, wenn die causae scribendi dies erforderten. Dies geschah bei dem Vorderösterreicher Heinrich Gundelfingen und dem – durchaus humanistischen – Schweizer Albrecht von Bonstetten ebenso wie bei dem Bayern Veit Arnpeck. Ausgerechnet der Stab der Geschichtskonstrukteure Kaiser Maximilians I., ein Ladislaus Sunthaym, Jakob Mennel, Johannes Stabius etc., ließen hingegen die Fabelfürsten fallen; nicht weil man sie als wissenschaftlich unhaltbar ansah, sondern weil der Aufstieg des Hauses Habsburg zur europäischen Großdynastie einer regional-österreichischen Rückbindung nicht mehr bedurfte. Hier waren vielmehr die Merowinger und damit die von anderer Seite schon als fabelhaft verworfenen, aber eben übernationalen Trojaner als Vorfahren gefragt.102 Weitere Beispiele: Sigismund Meisterlin, der Benediktiner, erschließt in seiner Nürnberger Chronik (1485/88) einerseits neue Quellen für die Ge100

Beispiele etwa bei ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 96. „It would be entirely false to say that in the early sixteenth century humanist critical historiography suddenly triumphed over myth, popular fables and whimsical etymology“; KARIN TILMANS: Historiography and Humanism in Holland in the Age of Erasmus. Aurelius and the ,Divisiekroniek‘ of 1517 (Biblioteca Humanistica & Reformatorica 51), Nieuwkoop 1992, 209. Zum Problem auch ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26) und HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 12). Zur Stützung der oben formulierten Position wichtig: GRAF: Thomas Lirer (wie Anm. 12), 113–115, 155 f. und IANZITI: Bruni first modern Historian? (wie Anm. 95). 102 BUSCH: Certi et veri cupidus (wie Anm. 96), 248–253 mit Literatur. Vgl. MARIE TANNER: The Last Descendant of Aeneas. The Habspurgs and the Mythic Image of the Emperor, New Haven u.a. 1993, bes. 67–118. 101

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schichte Nürnbergs und nutzt sie andererseits zum Ausgleich geschichtlicher Defizite, nämlich zur Konstruktion einer antiken Gründung durch Tiberius und damit der Ansippung an die alten Römerstädte Regensburg, Köln und Trier, was den Anspruch untermauerte, „von Anfang an beim Reich“ gewesen zu sein.103 Die Grenze zur Fälschung, jenem wenig glücklichen, da moralisch abwertenden Forschungsbegriff, verwischt hier. Mehr als die Fälschungen des Abts Trithemius (Wasthaldus und Hunibald als Historiker der Franken), der schon bald als fabulator ins Zwielicht geriet,104 scheint den Mythenbedarf nichts besser zu erhellen als der atemberaubende Erfolg des Annius (Nanni) von Viterbo († 1502). Seine ‚Antiquitates‘ (1498) und ihre in archaischer Manier fingierten Texte (Ps.-Berosus, Ps.-Metasthenes etc.) erlaubten für Origines-Filiationen nahezu jede bislang schmerzlich klaffende Lücke zwischen der Urväterzeit des Alten Testaments, antiker Welt und Gegenwart harmonisch zu schließen. Sie nisteten sich gleichsam binnen Jahresfrist dauerhaft in die europäischen Historiographien ein.105 Dies geschah auch bei einem 103

Schlagend trifft hier das Wort von GUENÉE: Histoire et culture historique (wie Anm. 40), 354: „Ainsi l’érudition forgeait-elle un passé de plus en plus vrai.“ Zu Meisterlin JOACHIM SCHNEIDER, in: REINHARDT (Hg.): Hauptwerke (wie Anm. 5), 424–427; DERS.: Typologie (wie Anm. 28), 197 f.; sowie nach wie vor JOACHIMSEN: Meisterlin (wie Anm. 27), 307–313 (179–185); DIETER MERTENS: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (wie Anm. 25), in: WERNER (Hg.): Spättmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *). Vgl. auch DIETER WEBER: Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mülich und die reichsstädtische Chronistik des Spätmittelalters (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30), Augsburg 1984. 104 Obwohl die wissenschaftliche Überführung zum Teil erst im 19. Jahrhundert erfolgte. BORCHARDT: German Antiquity (wie Anm. 15), 127–136, 144 f., 354 s.v.; Zum Problem jetzt HARALD MÜLLER: Graecus et fabulator. Johannes Trithemius als Leitfigur und Zerrbild des spätmittelalterlichen ‘Klosterhumanisten’, in: Inquirens subtilia diversa. Dietrich Lohrmann zum 65. Geburtstag, hg. von HORST KRANZ/LUDWIG FALKENSTEIN, Aachen 2002, 201–226, bes. 209–211 (Literatur); zum Fälschungsproblem siehe auch ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 95–97. 105 Johannes Annius: Commentaria super opera diversorum auctorum de antiquitatibus, Rom [Eucharius Sieber] 1498. Wichtige Passagen (Berosus, Manetho) des seltenen Frühdrucks jetzt mit englischer Übersetzung bei: RON E. ASHER: National Myths in Renaissance France. Francus, Samothes and the Druids, Edinburgh 1993, 191–233. Eine umfassende Analyse zu Annius und seiner Rezeption fehlt, siehe künftig die Frankfurter Dissertation von THOMAS LEHR. Vgl. bisher: Annio da Viterbo. Documenti e ricerche, hg. von GIOVANNI BAFFIONI (Contributi alla storia degli studi etruschi ed italici 1), Rom 1981; BORST: Turmbau (wie Anm. 16), Bd. 3.1, 975–977, Bd. 4, 2151 s.v. passim; BORCHARDT: German Antiquity (wie Anm. 15), 89–91, 338 s.v.; ANTHONY GRAFTON: Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450–1899, Cambridge 1991, 76–103; DERS.: Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1995 (engl. 1990), 30 f., 42 f., 102–117 zu Rezeption und Kritik; WALTER STEPHENS: Giants in those Days. Folklore, Ancient History, and Nationalism, Nebraska 1989, 99–138, 339–344, 368–381; SPEYER: Humanisten als Kritiker (wie Anm. 93), 44 f.; ROBERTO BIZZOCCHI: Genealogie incredibili. Scritti di storia nell’Europa moderna (Annali dell’Istituto storico italo-germanico 22), Bologna 1995, 26–49. Zur Rezeption in Frankreich: ASHER: National Myths (wie oben), 44–87;

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quellenkritischen humanistischen Landeshistoriker wie Johannes Aventinus. Auch bei ihm erscheint die Abstammungslinie: Noah, Tuisco/Teutsch – Hercules – als Stammvater der Boier, auf welche seit Veit Arnpeck († 1495) die Baiuwaren zurückgeführt wurden.106 Um es mit Grafton zu sagen: „Forgery and philology fell and rose together. ... The recovery of the classical tradition in the Renaissance was as much an act of imagination as of criticism, as much an invention as a rediscovery“.107

II. Regionale Deskriptionen und Historien deutscher Humanisten. Ein Überblick Die Aufgabe der Zukunft besteht darin, einen Conspectus der humanistisch geprägten und regional ausgerichteten Geschichtswerke zu erstellen und diese dann zu vergleichen.108 Schulmäßige Kriterien sind: Aufbau, Stil (rhetorischliterarische Analyse, Vergleich mit genrebedingten Normen), Analyse der Quellen (antike, nachantike) beziehungsweise der intertextuellen Bezüge, die Art von deren stilistischer und argumentativer Nutzung oder Kritik, Auftraggeber (causa scribendi) beziehungsweise Entstehungsumstände und -milieus, die Einflechtung der Autoren in regionale, städtische und/oder höfische Gruppen und deren Landes-Diskurse, schließlich Rezeption und Überlieferung der Texte als deren rekonstruierte Gebrauchsgeschichte. Nach einem in Deutschland MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 16), 242–262; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 344–348, 516 s.v.; HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 12), 330–334. 106 MÜLLER: Johannes Turmair (wie Anm. 58), 39–42; RIDÉ: L’image 1 (wie Anm. 1), 371–397, bes. 389–395; ALOIS SCHMID: Die historische Methode des Johannes Aventinus, Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977), 338–395, hier 351–361; DERS.: Die kleinen Annalen des Johannes Aventinus aus dem Jahre 1511, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 69–95, hier 80 f. Zur Kritik des Beatus Rhenanus an Berosus: STAAB: Quellenkritik (wie Anm. 96), 158 f. 107 GRAFTON: Defenders of the Text (wie Anm. 105), 103. – ROLF SPRANDELS Versuch, im Anschluß an germanistische Hypothesen aus einem allgemeinen „Streben nach Kurzweil“ auch bei den Historiographen ein „lockeres Verhältnis zur Wahrheit abzuleiten“ wirkt in dieser Form wenig überzeugend, SPRANDEL: Geschichtsschreiber (wie Anm. 26), 308 f., DERS.: Kurzweil durch Geschichte. Studien zur spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung in Deutschland, in: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 14), hg. von ERNSTPETER RUHE/RUDOLF BEHRENS, München 1985, 344–363. 108 Im Folgenden ist keinerlei Vollständigkeit beabsichtigt. Die frühen nationalgeschichtlichen Werke seit Jakob Wimpfeling (1505), insbesondere die ,Germaniae descriptiones‘ werden nicht behandelt; vgl. oben bei Anm. 11. Erste Überblicke: a) SPRANDEL: Geschichtsschreiber (wie Anm. 26), 310–314 Liste, worin in sieben recht schematischen „literarischen Gattungen“, darunter auch „Landesgeschichte“, auf eine Spezifizierung humanistischer Geschichtsschreiber nicht ohne Grund verzichtet wird; b) CRAMER: Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 22), 139–164, 369–431.

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Landesbewußtsein, das die Autoren referierten, verkörperten oder beförderten, kann eigentlich nur nach einem solchen noch ausstehenden breiten Feldvergleich zureichend gefragt werden. Die Arbeiten müssen überdies in die Forschung zum mittelalterlich/frühneuzeitlichen Regionalismus in Europa integriert werden. Hier stehen vergleichende Ansätze noch in den Anfängen.109 Freilich ist die Heterogenität der regionalen Bezugsgrößen bei einem europäischen Vergleich groß: Kann man Historiographien etwa über das Berry, die Bretagne, Wales, Katalonien oder die florentinisch beherrschte Toskana untereinander sowie mit denen über Schwaben, Franken oder Schlesien überhaupt vergleichen?110 Im Folgenden werden einzelne wichtige Werke unsystematisch vorgestellt: Typologisch ist nur der enge Kern der ‘descriptiones’ (Bugenhagen, Stella, Stein, Fabri, Bonstetten) als relativ homogen zu bezeichnen, doch waren hier auch typologisch nicht eindeutig festlegbare Opera mit einzubeziehen. Als Untersuchungskriterien werden der Werkaufbau und die Frage nach der Frühgeschichte, der ‘origo gentis’, etwas schärfer ins Auge gefaßt. Die Entstehungszeiten der Texte zeigen eine relativ knappe Phasenverschiebung von Westen (Bonstetten, Fabri) nach Osten (Stella, Stein, Bugenhagen etc.). Sie sind selbst Indiz einer Diffusion des Humanismus und seines erweiterten Verständigungsraums unter den lokalen Eliten im Reich. Die Bündelung der Produktivität in die Jahrzehnte vor und nach 1500, also die Hochphase des deutschen Humanismus allgemein, verwundert nicht. Doch müßte der Zeitrahmen für Mittel- und Ostdeutschland noch sehr viel weiter in das 16. Jahrhundert gezogen werden. Schwerpunkte der Forschung finden sich zum südwestdeutschen Raum, einem Ballungszentrum des deutschen Humanismus überhaupt, insbesondere zu Schwaben,111 seit jüngerer Zeit für (Ost-) Mitteleuropa112 und 109

Zu nennen sind bisher die Sammelbände: MORAW (Hg.): Regionale Identität und soziale Gruppen (wie Anm. 12); Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen-âge à l’époque moderne, hg. von RAINER BABEL/JEAN-MARIE MOEGLIN (Beihefte der Francia 39), Sigmaringen 1997, bes. 207–441. Die einzig thematisierte nichtdeutsche ‘Region’ ist die Bretagne! Vgl. auch: Ständische und religiöse Identitäten in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von STEFAN KWIATKOWSKI/JANUSZ MALLET (Uniwersytet Mikolaja Kopernika), Torún 1998. 110 Vgl. die Fragen von BERND SCHNEIDMÜLLER: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein – deutsche Sonderentwicklung oder europäische Forschungslücke? Eine Zusammenfassung, in: WERNER (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *), 393–409, sowie zur protorömischen Geschichtskonstitution in Florenz/Toskana unten bei Kap. V. 111 Überblick bei HELMUT BINDER: Descriptio Sueviae. Die älteste Landesbeschreibung Schwabens, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 45 (1986), 179–196, bes. 183–194. Grundlegend v.a. die Studien von DIETER MERTENS und KLAUS GRAF: MERTENS: Bebelius (wie Anm. 19); DERS.: Landesbewußtsein (wie Anm. 12), sowie DERS.: Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (wie Anm. 25): GRAF: Aspekte zum Regionalismus (wie Anm. 74), 190 f. zu den Humanisten als Träger gelehrten ‘Stammesbewußtseins’ – ein Begriff, der noch Klärungsbedarf hat; DERS.: Land Schwaben (wie Anm. 12), 127–164,

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zuletzt auch für den Norden Deutschlands, kaum hingegen für das thüringisch-sächsische Humanistenzentrum oder das Rheinland.113 Thüringen besaß bes. 151–157; DERS.: Geschichtsschreibung und Landesdiskurs im Umkreis Graf Eberhards im Bart von Württemberg 1459–1496, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), 165–193, sowie jeweils zusammenfassend DERS.: Souabe, identité régionale à la fin du moyen âge et à l’époque moderne, in: BABEL/MOEGLIN (Hg.): Identité régionale (wie Anm. 109), 293–303; DERS.: Die ‘Schwäbische Nation’ in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 59 (2000), 57–69. – Schöner Überblick von Hermann dem Lahmen bis in das 20. Jahrhundert: KLAUS SCHREINER: Alemannisch-schwäbische Stammesgeschichte als Faktor regionaler Traditionsbildung, in: Die historische Landschaft zwischen Lech und Vogesen. Forschungen und Fragen zur gesamtalemannischen Geschichte, hg. von PANKRAZ FRIED/WOLF-DIETER SICK, Augsburg 1988, 15–38, bes. 18–23. Siehe auch Anm. 72 und 74. 112 Stellvertretend sei genannt HARDER: Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1), sowie: Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation, hg. von WINFRIED EBERHARD/ALFRED A. STRNAD (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 28), Köln 1996. Siehe auch die in Anm. 1, 113, 126 und 141 genannte Literatur. 113 Zum Norden Deutschlands siehe die Literatur zu ALBERT KRANTZ unten Anm. 153. Der – späte – Humanismus im deutschen Norden erfreut sich jüngst regen Interesses: Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee, hg. von THOMAS HAYE (Chloe. Beiheft zum Daphnis 32), Amsterdam u.a. 2000; GERHARD DIEHL: Exempla für eine sich wandelnde Welt. Studien zur norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 38), Göttingen 2000, hier 268–272 zum Problem regionalen Geschichtsbewußtseins. THOMAS HAYE: Humanismus in Schleswig und Holstein. Eine Anthologie lateinischer Gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Kiel 2001. Beispiel einer späteren Landesbeschreibung: Heinrich Rantzau (1526–1598). Königlicher Statthalter in Schleswig und Holstein. Ein Humanist beschreibt sein Land. Ausstellungskatalog, hg. von MARION BEJSCHOWETZ-ISERHOHT (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 63), Schleswig 1999. – Zur Historiographie am Mittelrhein grundlegend: UTA GOERLITZ: Humanismus und Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Das ‚Chronicon urbis et ecclesiae Maguntinensis‘ des Hermannus Piscator OSB († 1526) (Frühe Neuzeit 47), Tübingen 1999. Eine humanistische Landesbeschreibung i.e.S. scheint für das Rheinland und für Westfalen offenbar ebenso wenig wie für Thüringen nachweisbar; vgl. für das Rheinland und Westfalen FRANK G. HIRSCHMANN: Landesbewußtsein im Westen des Reiches? Die Niederlande, die Rheinlande und Lothringen im hohen und späten Mittelalter, in: WERNER (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *), 223–264 und PETER JOHANEK: Landesbewußtsein in Westfalen im Mittelalter, in: ebd. 265–292; zu Thüringen WEIGELT: Rezeption (wie Anm. 40); MATTHIAS WERNER: Die Anfänge eines Landesbewusstseins in Thüringen, in: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, hg. von MICHAEL GOCKEL, Marburg 1992, 81 –137, bes. 136; DERS.: „Ich bin ein Durenc“. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen, in: Identität und Geschichte, hg. von DEMS. (Jenaer Beiträge zur Geschichte 1), Weimar 1997, 79–104. Noch genauer zu untersuchen ist in diesem Zusammenhang das Werk Wigand Gerstenbergs und Johannes Nuhns; vgl. WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1) s.v.; zu Nuhn auch ULRIKE STEIN: Die Überlieferungsgeschichte der Chroniken des Johannes Nuhn von Hersfeld. Ein Beitrag zur hessischen Historiographie (Europäische Hochschulschriften Reihe 3/596), Frankfurt am Main 1994.

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allerdings seit dem 13. Jahrhundert eine hochentwickelte Landesgeschichtsschreibung. Es scheint sich zu zeigen, daß auch spärlich überlieferte und lange ungedruckt gebliebene Texte (wie Bugenhagen und Fabri) im engen regionalen Kontext durchaus Wirkung entfalten konnten. Zuerst aber ein Wort zu Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der mit seinen geo-historiographischen Werken als Stifter und Prototyp in Deutschland und Ostmitteleuropa prägend wirkte.114 Vor allem mit seiner ‚Historia Bohemica‘ (1458), der jetzt von Wagendorfer neu erschlossenen ‚Historia Austrialis‘ (1453/1455/1458) und seiner ‚Europa‘ (1458) begründete er, angeregt durch Flavio Biondo, das Genre einer humanistischen Landesgeschichte.115 Dabei schöpfte er sogleich die Palette der Möglichkeiten aus, indem er zahlreiche historiographische Gattungen innovativ kombinierte, gelehrte descriptio und erzählende historia, biographische und panegyrische Elemente, dazu oft mit facetienhaften anekdotischen Einschüben. Sein primäres Interesse war allerdings zeitgeschichtlich. Ohne fürstlichen Auftrag schreibend, bewahrte er sich eine bemerkenswert autonome Außenwahrnehmung. Die drei Anfangskapitel der ‚Historia Bohemica‘ schlagen Grundakkorde an: erstens die descriptio terrae, zweitens die origo gentis, drittens Herkommen und Geschichte der Dynastie.116 So behandelt das erste und längste Kapitel situs, flumina, civitates Böhmens (Germaniae portio est) und die mores der Böhmen, ihre Städte, ihre Sprache, zweitens die – mit ironischer Reserve gegen das Genre vor-

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Vgl. MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 202–214, 217 f., 458 s.v. sowie, mit Literatur, HELMRATH: Aeneae vestigia imitari (wie Anm. 44), bes. 137–141; DERS.: Pius II., in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 492–494; WAGENDORFER: Horaz (wie Anm. 97). Zur handschriftlichen Überlieferung: PAUL J. WEINIG: Aeneam suscipite, Pium recipite. Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts (Gratia 33), Wiesbaden 1998. 115 Diese Werke wurden erst allerjüngst textkritisch ediert: Aeneae Silvii Historia Bohemica/Enea Silvio Historie Ceská, ed. et in linguam Bohemicam verterunt DANA MARTÍNKOVÁ/ALENA HADRAVOVÁ/JIěI MATL, praefatus est FRANTIŠEK SMAHEL (Clavis Monumentorum litterarum 4 = Fontes rerum Regni Bohemiae 1), Prag 1998, Einleitung von ŠMAHEL LIV– XCVII (engl. Fassung). [Jüngste Edition: Aeneas Silvius Piccolomini, Historia Bohemica, hg. von JOSEPH HEJNIC/HANS ROTHE (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge B/20,1–3), 3. Bde., Köln/Weimar/Wien 2005, Bd. 1: Historisch kritische Ausgabe des lateinischen Textes, besorgt von JOSEPH HEJNIC, mit einer deutschen Übersetzung von EUGEN UDOLPH.] Vgl. HANS ROTHE: Enea Silvio de’ Piccolomini über Böhmen, in: Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern 1, hg. von BERND HARDER/HANS ROTHE (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien 11), Köln/Wien 1988, 141–156. [Jetzt die moderne Edition: Eneas Silvius Piccolomini, Historia Austrialis (1.–3. Redaktion), hg. von JULIA KNÖDLER/MARTIN WAGENDORFER (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum NS 24), Hannover 2009.] Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP. II De Europa (Studi e testi 398), ed. commentarioque instruxit ADRIANUS VAN HECK, Vatikanstadt 2001. 116 Aeneae Silvii Historia Bohemica, hg. von MARTÍNKOVÁ u.a. (wie Anm. 115), 8–16.

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getragene117 – Herkunfts- und Migrationsgeschichte der Böhmen: sie stammen wie die anderen slawischen Stämme in Osteuropa von den alten Sclovani ab, die eine vetustissima origo noch aus der babylonischen Sprachverwirrung für sich reklamieren, nach der sie von Asien nach Europa auswanderten; drittens die politisch-dynastische Geschichte, beginnend mit Zechius, dem legendären ersten Herzog der Böhmen. Ihm folgen durchgezählt die 20 Herzöge und 14 Könige Böhmens, um ab Kap. II 35 bis zum Ende des IV. Buchs in eine breite Geschichte der Hussiten eingebettet zu werden, deren Resistenz gegen alle Gegner dem Autor als paradoxes Mirakel erscheint. Damals, zu Zeiten des Zechius, sei die regio, cui nunc Bohemiae nomen est, als terra inculta vorgefunden worden, nachdem die prisci Germani, qui ea loca tenuerunt – die Böhmen waren eben nicht die Urbewohner Böhmens – more Nomadum weggewandert waren (quocumque sors tulit et opinio, suis cum armentis convertebantur)118. Mit dieser Historia (Erstdruck 1473) wurde Enea für über hundert Jahre Europas Informant über Böhmen. Seine ‚Europa‘ ist eine Mischung von frisch verarbeiteter antiker Ethnographie (Strabo, Ptolemaios), historischer Geographie und klassischer politisch-dynastischer Historie – ein wesentlicher Referenzpunkt beim „Paradigmawechsel von einer chronographisch zu einer chorographisch akzentuierten Weltdarstellung“.119 Seine ‚Germania‘ von 1457/58 enthält, wie schon gesagt, im Kern jenen bekannten geographischen tour d’horizon aus knappen, emblemhaften Beschreibungen der deutschen Bistümer, Fürstentümer und vor allem der Städte. Als „beinahe maliziös wohlmeinende“120 Beratungsrede an die Fürsten der ‚Gravamina nationis Germanicae‘ aufgemacht, begründete die Schrift bekanntlich, um eine Generation verschoben, den Germanen117 Aeneae Silvii Historia Bohemica, hg. von MARTÍNKOVÁ u.a. (wie Anm. 115), 12 f.: Bohemi, sicut ceteri mortalium, originem suam quam vetustissimam ostendere cupientes Sclavorum se prolem asserunt. Sclavos autem inter eos fuisse, qui post universale diluvium condendae famosissimae turris Babel auctores habentur (V. 170–174). Nondum ego quenpiam legi auctorem, cui fides adhibenda sit, qui tam alte suae gentis initium redderet (V. 176–178). Nach einem Blick auf die Origo-Sagen anderer Stämme: At Bohemi longe altius orsi ab ipsa confusionis turre se missos iactitant (V. 182 f.). Dies die freilich eine Vana laus et ridenda (V. 187). Man könnte sich ja dann gleich auf Adam und Eva zurückführen, jedenfalls: Nos ista tanquam anilia deliramenta praetermittimus (V. 190 f.). 118 Aeneae Silvii Historia Bohemica, hg. von MARTÍNKOVÁ u.a. (wie Anm. 115), 14–16, Z. 198–207 Zitate. 119 FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Hartmann Schedels ‚Index Librorum‘. Wissenschaftssystem und Humanismus um 1500, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift Erich Meuthen, hg. von JOHANNES HELMRATH/HERIBERT MÜLLER, Bd. 2, München 1994, 697–715, hier 104. Zur Rezeption der ‚Europa‘ zuletzt STAUBER: Hartmann Schedel (wie Anm. 6), 176–180. 120 DIETER MERTENS: Mittelalterbilder in der Frühen Neuzeit, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter, hg. von GERD ALTHOFF/OTTO G. OEXLE (Ausblicke. Essays und Analysen zu Geschichte und Politik), Darmstadt 1991, 33.

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diskurs der deutschen Humanisten. Sie wirkte mit ihren Deskriptionen auf Celtis’ Konzept einer ‚Germania illustrata‘121 und bildete unmittelbar das Modell für die ausführlichere ‚Descriptio Germaniae‘ des Johannes Cochläus von 1512.122 Kaum ein Autor eines regional- oder nationalgeschichtlichen Werks nördlich der Alpen bis weit in das 16. Jahrhundert hinein – bis hin zu Niklas Ohlahs ‚Hungaria‘ (1536) – der Eneas historische Opera nicht benutzt hätte. Das systematische Studium seiner Rezeption, ihrer Dauer und Reichweite steht aber noch aus. Es könnte künftig geradezu als Einstieg in eine vergleichende Untersuchung humanistischer Landesbeschreibungen dienen. Beginnen wir, gegenläufig zu der oben angedeuteten Phasenverschiebung, den Regionen-Durchgang im Osten. Verstärktes Interesse der Forschung findet Preußen123: Hier gab es mit Peter von Dusburgs ‚Chronicon terrae Prussiae‘ (1326) eine ältere Tradition der Grenzbeschreibung, welche die politische Herrschaft des Deutschen Ordens terminierte. Einen zweiten Archetypus für Preußen und Livland hatte Enea Silvio mit den deskriptiven Texten ‚De situ et ritu Pruthenorum‘ und ‚De Livonia‘ geliefert, die 1470 als sein frühestes nichtpoetisches Werk und zugleich als wohl früheste humanistische Landesbeschreibungen gedruckt wurden.124 Ein knappes Schlaglicht: Nach 121

Siehe Anm. 3. Zu Enea Silvios ‚Germania‘ RIDÉ: L’image 1 (wie Anm. 1), 169–182 und zuletzt MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 202–206; MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 16), 163–170; GOERLITZ: Mainzer Antiquitas (wie Anm. 83), 174–176; HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 12), 342–344. 122 Siehe unten bei Anm. 183. 123 ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40); LIBUŠE HRABOVÁ: Geschichte der Elbslawen und Preußen im Bilde der humanistischen Historiographie, Prag 1991; zuletzt ARNO MENTZEL-REUTERS: Von der Ordenschronistik zur Landesgeschichte – Die Herausbildung der altpreußischen Landeshistoriographie im 16. Jahrhundert, in: GARBER/ KOMOROWSKI/WALTER (Hg.): Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 3), 581–637 (ohne Benutzung ARNOLDS); vgl. HANS-JÜRGEN BÖMELBURG: Das preußische Landesbewußtsein im 16. und 17. Jahrhundert, in: ebd. 639–656, sowie KÜHLMANN/STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3), hier 669–683 über Eobanus Hessus. Zur Geschichtsschreibung bis Mitte 15. Jahrhundert: JAROSLAW WENTA: Studien über die Ordensgeschichtsschreibung am Beispiel Preußens (Subsidia historiographica 2), Torún 2000. Isoliert blieben die Aufsätze von WALTER URBAN: The European Context of Sixteenth-Century Prussian Humanism, in: Journal of Baltic Studies 22 (1991), 5–28; Early Humanism in Prussia (33–72); Renaissance Humanism in Prussia: The Court of the Grandmaster (95–122) usw. 124 Scriptores rerum Prussicarum 4, hg. von THEODOR HIRSCH/Max TOEPPEN, o.O. 1870, 218–231 (Inc.: Prussia regio est supra mare Balteum; 218); zunächst in seinem Bericht vom Regensburger Reichstag 1454 (‚De dieta Ratisponensi‘), später modifiziert auch als Kapitel der ‚Historia Austrialis‘ des Enea Silvio (vgl. oben Anm. 97). Druck: Köln [Therhoernen] ca.1470 24 fol. in 4, ebd. fol. 1–14; ERNST VOULLIÈME: Der Kölner Buchdruck bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 24), Bonn 1903 (ND 1978), 426, Nr. 968. Nur geringe handschriftliche Überlieferung, etwa London, British Library Arundel 93 fol. 114–120 (118v–120r: ‚Liber de Livonia‘), 15. Jahrhundert; Uppsala UB C 700, fol. 27r–35r, 15. Jahrhundert misc. (cop. 1476), PAUL O.

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den Ulmerugern, laut Jordanes den Ureinwohnern des Weichselgebiets, folgten aus dem Völkerschoß Skandinavien die Goten; sie wanderten weiter, ein degenerierter Teil kehrte aber an die Weichsel zurück, die gens Brutenica, die Prussen. Laurentius Blumenau, humanistisch interessierter Rat des Ordenshochmeisters und Verfasser der ‚Hochmeisterchronik‘ sowie der polnische Historiograph Johannes Długosz vertraten hingegen eine schlichtere antikenmythische Wanderungsvariante und führten die Prussen, auch etymologisch, auf König Prusias von Bithynien zurück.125 Nach diesen Autoren ‘fremder Geschichte’ verfaßte mit Erasmus Stella (1460–1521) ein Einheimischer ein Preußenwerk, ‚De Borussiae antiquitatibus‘ (Basel 1518),126 worin erstmals „die prußische Vorzeit zum Gegenstand einer geschlossenen Darstellung erhoben wurde“.127 Stella schrieb im Auftrag des Herzogs Friedrichs von Sachsen, Hochmeisters des Deutschen Ordens, und Förderers von Humanisten. Nach Arnolds Verständnis handelte es sich „um eine eindeutig humanistische Kompilation, eine Geschichtskonstruktion“. Sie beabsichtige eben nicht eine Beschreibung (und Legitimation) des landesherrschaftlichen Istzustands, wie der mittelalterliche Autor Peter von Dusburg, sondern spüre der origo terrae nach, füge mithin der „Zustandsschilderung“ eine dynamische „Entwicklungsdarstellung hinzu“ und führe insofern Topographie und Biographie, wir dürfen sagen descriptio und historia, zusammen.128 Im Sinne maximaler, selbst noch hinter die Goten zurückreiKRISTELLER: Iter Italicum V, London/Leiden 1993, 22a. – Zur Interpretation ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 94–96, 118; MENTZEL-REUTERS: Ordenschronik (wie Anm. 123), 598–600. 125 Zu Blumenau als „Randerscheinung des Humanismus“ siehe HARTMUT BOOCKMANN: Laurentius Blumenau. Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415–1484) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37), Göttingen u.a. 1967, bes. 208–236, wo er als Figur des deutschen frühhumanistischen Netzwerks, vor allem in Augsburg, situiert wird; ebd. 233–236 zur Nuancierung des Humanistischen. 126 Scriptores rerum Prussicarum 4 (wie Anm. 124), 275–298 mit Einleitung von THEODOR HIRSCH, die sich sogleich auf die „Geschichtsfälschung“ und „Leichtgläubigkeit“ des „eitlen Prahlers“ Stella einschießt und fassungslos feststellt, daß „unser großer Lessing“ es im Jahre 1773 für nötig befand, die Schrift erneut herauszugeben (275 f.); ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 97–105, 118 f.; BÖMELBURG: Landesbewußtsein (wie Anm. 123), 649 f.; MENTZEL-REUTERS: Ordenschronik (wie Anm. 123), 600–609, hier 582 zur Qualifizierung der frühen Preußen-Historiographie als „Lügenchroniken“ in der Forschung des 19. Jahrhunderts. 127 ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 98. Ähnlich bereits H IRSCH (wie Anm. 124), 276 in der Einleitung. 128 ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 99. Aus einem Brief an Andreas Althamer (1519 Dez. 15) geht hervor, daß Stella im Anschluß an die ‚Antiquitates‘ (descriptio) in zwei Büchern, eine politische Geschichte Preußens (historia) von weiteren 6 Büchern Umfang verfaßt hatte, diese aber angeblich nicht zum Druck bringen ließ: Terrae itaque situm, colles, flumina, silvas ipsasque populi vetustates et quoties inde migratum sit conscripsi Latinisque hominibus legendas exhibui; dann folgt der Plan: deinde cum bella, foe-

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chender Autochthonie wertet Stella bereits die Urbewohner, die Ulmeruger (Hulmigerii), als Germanen. Im Kulmerland (Culmigeria = Hulmigeria) hätten sich diese ungeachtet der Einwanderung von Goten aus Skandinavien und dann der (nichtgermanischen) Prussen auch ethnisch gehalten. Somit war – und darauf kam es Stella gentilpatriotisch an – die uralte Kontinuität deutscher Siedlung nachgewiesen.129 Aber erst die neue ‘germanische’ Kolonisation, also die später so genannte Ostsiedlung, die Stella hier für Preußen, wie dann von Bartholomäus Stein für Schlesien, als rezentes Ereignis thematisiert, habe dem Land wirkliche Akkulturation gebracht: nulli provinciae Europae civilitate, moribus ac elegantia cedere videatur:130 Stella war im doppelten Sinne „‘Schöpfer’ der später kanonisch gewordenen Fassung der preußischen Frühgeschichte“ und ihrer „gattungsstiftenden Erzählung“. Eine Reihe weiterer Autoren, darunter noch zu Lebzeiten Stellas Simon Grunau, setzte sie fort.131 Mecklenburg ist in unserer Reihe der humanistischen Landesbeschreibungen durch die jüngst durch Haye und Werner näher untersuchten ‚Annales Herulorum ac Vandalorum‘ (Druck 1521) des Rostocker Humanisten Nikolaus Marschalk (ca. 1470–1525) repräsentiert. Er stand im Dienst der Herzöge von Mecklenburg.132 Schon der Titel macht die Orientierung an antiker Stammesgeschichte deutlich. Marschalk folgt hier dem – unten noch zu erörternden – Werken des Albert Krantz. Der Hauptakzent liegt aber auf der Familiengeschichte des Herzogshauses und seiner antiken Verwurzelung, auf Siedlungskontinuität und Autochthonie; nur Buch I Kap. 4 enthält eine ‘dedera, publicarum privatarumque rerum status explorassem Germanorumque in orbis parte belligerantium egregia facinora didicissem, quanto ardore a nostratibus pro pietate illic sudatum sit, quantum sanguinis effusum, qua rigiditate disciplinam militarem egerint, quoad provincia e manibus barbarorum fuerit erepta; ... octo perpetuis libris conscripsi, ... ab eorum tamen editione hactenus abstinui; Scriptores rerum Prussicarum 4 (wie Anm. 124), 281 Anm. 3; fehlerhaft zitiert auch bei MENTZEL-REUTERS: Ordenschronik (wie Anm. 123), 603 f. 129 HIRSCH: Einleitung, in: Scriptores rerum Prussicarum 4 (wie Anm. 124), 278. Vgl. ARNOLD: Landesbeschreibungen Preußens (wie Anm. 40), 98. 130 Brief an Andreas Althamer; in: Scriptores rerum Prussicarum 4 (wie Anm. 124), 481 Anm. 3. Zu Althamer vgl. JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 146–148. 131 MENTZEL-REUTERS: Ordenschronik (wie Anm. 132), 610–632, 607 (Zitat). 132 Rostock 1521 und in: Monumenta inedita rerum Germanicarum praecipue Cimbricarum et Megapolensium 1, hg. von: ERNST JOACHIM VON WESTPHALEN, Leipzig 1739, Sp. 165–322. Siehe: THOMAS HAYE: Art. Nikolaus Marschalk, in: Lexikon für Theologie und Kirche 6 (³1997), Sp. 1415; DERS.: Notizen zu Thomas Marschalk, in: Daphnis 23 (1994), 205–236 und jetzt WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1), 166–205 (Literatur), bes. 189–198 zur Origo. Die „humanistisch-philologische Prägung“ (172) Marschalks wird zwar als entscheidend angesehen, ihr Proprium vermag aber auch Werner nur in der hohen Wertigkeit der Antike und ihrer Quellen sowie der etymologischen Technik zu sehen; ebd. 172 f., 180, 192, 200, 202. Zu Kap. I.4 (descriptio) ebd. 198–200.

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scriptio terrae’ im engen Sinne. Marschalk findet die Origo von Stamm und Herrscherhaus in zwei antikebelegten Stämmen, den Herulern, die vor allem Prokop (Gotenkrieg VI, 14) ausführlich geschildert hatte, und den Wandalen, die auch anderweitig, etwa bei Bugenhagen, gern mit den Wenden/Slaven gleichgesetzt wurden. Die alte sächsische Stammes- und Wandersage wird dabei aber integriert (Anthyrius mit seinen Obodriten im Heer Alexanders des Großen als Stammvater) und mit dem Autochthoniepostulat (die Heruler als Ureinwohner und Rückwanderer) harmonisiert. Pommern, wie Mecklenburg von einer alten slavischen Dynastie regiert und zu einem ‘deutschen Neustamm’ herausgebildet, erscheint historiographisch als Entität tatsächlich zuerst 1517/18, in der ‚Pomerania‘ (Druck 1728!) des Leiters der Schule von Treptow und späteren Reformators Johannes Bugenhagen (1485–1558).133 Georg Spalatin hatte für den sächsischen Kurfürsten nach pommerschen Quellen zur Sachsengeschichte bei Herzog Bogislaw X. (1474–1523) von Pommern angefragt. Bogislaw war es gelungen, nach langer Zeit erstmals wieder die Teile Pommerns dynastisch zu vereinigen und die Anerkennung als Herzog zu erlangen. Und hier dürfte das legitimatorische Motiv des humanismusoffenen Fürsten gelegen haben, Bugenhagen, der in engem Kontakt mit dem Münsteraner „Schul- und Bibelhumanismus“ (Leder) stand, mit dem Werk zu beauftragen.134 Es wurde nach ausgedehnter Quellensuchreise komponiert, als eines der umfangreichsten unter den hier vorgestellten. Die wichtigste Leitquelle für die Frühzeit war der mittelalterliche Prototyp, hier die ‚Cronica Slavorum‘ des Helmold von Bosau, die wiederum Adam von Bremen rezipiert hatte, aber auch Inschriften 133

Johannes Bugenhagens ,Pomerania‘, hg. von OTTO HEINEMANN (Quellen zur pommerschen Geschichte und Altertumskunde 4), Stettin 1900, ND besorgt von RODERICH SCHMIDT (Mitteldeutsche Forschungen. Sonderreihe Quellen und Darstellungen in Nachdrucken 7), Köln/Wien 1986. Dazu SCHMIDT: Pomerania (wie Anm. 92), 49–56; HANS-G. LEDER: Johannes Bugenhagens ,Pomerania‘ – Humanistische Einflüsse und die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern, in: KÜHLMANN/LANGER (Hg.): Pommern in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 23), 77–101. Zur Rezeption: KLAUS GUTH: Daniel Cramers ‘Pommerische Chronica’ von 1602, Berichte des Historischen Vereins Bamberg 120 (1994), 111–120; v.a. Buch I c. 6– 9 enthalten „eine frühe Landes- und Volkskunde Pommerns“ (117). – Zur mittelalterlichen Historiographie und ihren dynastischen Konstruktionen (Integration Attilas in die Herkunftslegende des Greifenhauses etc.): MICHAELA SCHEIBE, Formen pommerschen Geschichtsbewußtseins im 14. Jahrhundert, in: Tausend Jahre pommersche Geschichte, hg. von RODERICH SCHMIDT (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V/31), Köln 1999, 85–124, bes. 98–108, auf der Basis des ca. 1342–47 entstandenen ‘Protocollum’ des Augustinus von Stargard OESA, hier 86 f. zum Problem der „Herausbildung eines deutschen Neustamms“. [RONNY KAISER: Caesar in Pommern – Transformation der Antike in Bugenhagens ,Pomerania‘, in: Retrospektivität und Retroaktivität. Erzählen – Geschichte – Wahrheit, hg. von MARCUS BORN, Würzburg 2009, 47–68.] 134 Zu den Umständen des Auftrags und zur Rolle des gelehrten pommerschen Rats Valentin von Stojentin: LEDER: Bugenhagens Pomerania (wie Anm. 133), 79–82.

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und orale Tradition. Bugenhagen jedoch hat offensichtlich als erster die Quellen speziell für ‘Pommern’ gesammelt und systematisiert, die Dynastiedaten etc. zusammengestellt. Buch I thematisiert die antiquitas des namengebenden Stammes der slavischen Pomoranen; ihnen gingen jedoch die Wandalen/ Vineter, also Wenden als Ureinwohner voraus (c. 3–5). Bugenhagen trennt zwar in der Gegenwart deutlich Pommern und Polen, betreibt aber keine Retro-Germanisierung der Slaven wie Stella. Ungewöhnlich dicht sind die Ketten etymologischer Überlegungen. Quellenkritik findet als Kritik der Sprache statt, deren Wandlungen partiell wahrgenommen werden. Buch I enthält auch die obligate, gegenüber Helmold bedeutend erweiterte, geographische descriptio (c. 2, 6–8 über die civitates). Buch II bringt vor allem eine Bekehrungsgeschichte Rügens zum Christentum, Buch III dann ebenso wie das bald abbrechende Buch IV (Varia) chronologisch die Geschichte der regierenden Dynastie. Auch hier verbinden sich wie bei anderen der vorgestellten Werke „Landesbeschreibung und Hofhistoriographie im Sinne einer nationaloder auch territorial-patriotischen Aufarbeitung von Geschichte“.135 Den Ruhm Pommerns gewährt das legendäre Vineta als einstmals nobilissima civitas Europae (c. 6 nach Helmold I 2). Bugenhagen sucht diesen Ruhm durch Antikisierung zu erhöhen, durch etymologische Ansippung an die Römer in Form von Gründungen Caesars: Tribsee = tributum Caesaris; Wolgast = Iulia castra.136 Eingestreut finden sich didaktisch zeitkritische Anspielungen, in denen man die „erasmianische Grundprägung“ des Verfassers erkennen will.137 Schlesien, deutsch-slavisches Zwischenland zwischen Polen und Böhmen, der alten und der neuen Hegemonialmacht, dürfte ein sprechendes Beispiel dafür sein, wie sich erst im 15. Jahrhundert ein Land als patria konstituierte, ungeachtet einer schon bestehenden Serie von Fürstentümern; daß es sich als eigene Entität wahrnahm und sich bei Fortbestand alter Bindungen von Polen abschichtete. Man glaubt in der Forschung, diesen Prozeß verzögert in einer dichten Sequenz von Geschichtswerken verfolgen zu können, in Gestalt einer ‘Silesiographie’, die um 1500 in ebenso dichter Folge auch humanistische Deskriptionsversuche aufweist.138 Die Panegyrik ist hier besonders ausgeprägt. 135

LEDER: Bugenhagens Pomerania (wie Anm. 133), 99. Vgl. aber die skeptische Bemerkung in ,Pomerania‘, hg. von HEINEMANN (wie Anm. 133), 13, c. 4 (Suspecta chronesis): Verum non mirari non possum, si usquam inter res Romanas tam diligenter talia de nostris conscripta reperiantur, cum ipsi Romani vel nostra ignoraverint vel haud illibenter oppresserint. 137 LEDER: Bugenhagens Pomerania (wie Anm. 133), 92–97. 138 Grundsätzlich sei auf den facettenreichen Beitrag von ANDREAS RÜTHER: Landesbewußtsein im spätmittelalterlichen Schlesien: Formen, Inhalte, Trägergruppen, in: WERNER (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *), 293–332 hingewiesen. Ferner HANSBERND HARDER: Landesbeschreibungen in der Literatur des schlesischen Frühhumanismus, 136

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Die älteste descriptio Schlesiens verfaßte offenbar Laurentius Corvinus (Rabe) aus Neumarkt (ca. 1470–1527) mit seiner ‚Cosmographia‘ von 1496, die auch eine ‚Silesiae descriptio compendiosa‘ in Gedichtform enthält. Corvinus, Schüler des Celtis aus dessen Breslauer Zeit in der Sodalitas litteraria Vistulana, Lehrer von Heinrich Bebel und Nikolaus Kopernikus an der Universität Krakau, Stadtschreiber in Breslau, tat aber, so Harder, den eigentlichen „Schritt zu einer humanistischen Landesbeschreibung nicht“,139 ebensowenig der Dichter Sigismund Buchwald († 1508). Erneut wurde Celtis’ Einfluß entscheidend, diesmal von Wien aus, wo zu seinem Kreis auch der Schlesier Pancratius Vulturinus (Geyer) aus Hirschberg gehörte, sein 1506 – in Padua! – verfaßter ‚Panegyricus Slesiacus‘ enthält die „erste gültige Beschreibung Schlesiens“,140 sie erfaßt das Gesamtland und ergeht sich dabei vor allem in einer Kette von Stadtbeschreibungen. Auf Vulturinus folgte Bartholomaeus Stein (Stenus) aus Brieg, der 1505 ebenfalls Celtis in Wien kennenlernte, mit seiner 1512/13 entstandenen ‚Descriptio totius Silesiae et civitatis Regiae Vratislaviensis‘, die in charakterisin: DERS. (Hg.): Landesbeschreibungen Mitteleuropas (wie Anm. 1), 29–48; MANFRED P. FLEISCHER: ‚Silesiographia‘: Die Geburt einer Landesgeschichtsschreibung, in: DERS.: Späthumanismus in Schlesien. Ausgewählte Aufsätze (Silesia 32), München 1984, 49–91; TERESA BOGACZ: Wiedza geograficzna o Slasku w dobie odrodzenia (Das geographische Wissen über Schlesien zur Zeit der Renaissance), Warschau 1990. Zu den Wechselwirkungen von territorialer Stabilisierung, Landesbewußtsein und Historiographie TOMASZ JUREK: Die Entwicklung eines schlesischen Regionalbewußtseins im Mittelalter, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 47 (1998), 21–48, ebd. 37–45 zur Historiographie, und zum politischen Hintergrund ANDREAS RÜTHER: Die schlesischen Fürsten und das spätmittelalterliche Reich, in: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter, hg. von CORDULA NOLTE/KARLHEINZ SPIESS u.a. (Residenzenforschung 14), Stuttgart 2002, 33–62 (Literatur). Überblick über die gesamte schlesische Historiographie WOJCIECH MROZOWICZ: Die mittelalterliche Geschichtsschreibung in Schlesien. Stand und Bedürfnisse im Bereich der Quelleneditionen, in: WENTA (Hg.): Geschichtsschreibung in Mitteleuropa (wie Anm. 21), 203–227, Übersicht über die Editionen: 216–227. – Ausblick: ROBERT SEIDEL: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk (Frühe Neuzeit 20), Tübingen 1994. 139 Zu Corvinus: GUSTAV BAUCH: Laurentius Corvinus, der Breslauer Stadtschreiber und Humanist. Sein Leben und seine Schriften, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883), 230–302; HARDER: Landesbeschreibungen des schlesischen Frühhumanismus (wie Anm. 138), 36 f. (Zitat 37), 47 Anm. 22 (Literatur); BOGACZ: Wiedza geograficzna (wie Anm. 138), 37–39; RAINER A. MÜLLER: Humanismus und Universitäten im östlichen Mitteleuropa, in: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus in Ostmitteleuropa (wie Anm. 112), 245–272, hier 259 Anm. 36; GÜNTER DIPPOLD: Humanismus im städtischen Schulwesen Schlesiens, in: ebd. 229–244, hier 234 f.; Die Anfänge des Schrifttums in Oberschlesien bis zum Frühhumanismus, hg. von GERHARD KOSELLEK (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 7), Frankfurt am Main 1997. Zur Bedeutung der Gedichte vor allem KÜHLMANN/SEIDEL/WIEGAND (Hg.): Humanistische Lyrik (wie Anm. 3) und KÜHLMANN/ STRAUBE: Historie und Pragmatik (wie Anm. 3). 140 HARDER: Landesbeschreibungen des schlesischen Frühhumanismus (wie Anm. 138), 40.

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tischer Weise eine Landesbeschreibung (Buch I) in einer Stadtbeschreibung (von Breslau) kulminieren läßt (Buch II).141 In der Grundstruktur an Pomponius Mela orientiert, Klassiker nur sehr sparsam zitierend (Ptolemaios, Tacitus), aber dazu autopsiegespeist, arbeitet Stein knapp nacheinander Schlesien als Ganzes ab: Name, Grenzen, Relief, Hydrographie, Landwirtschaft, Bevölkerung. Schärfer als in allen anderen hier untersuchten Descriptionen werden bei Stein slavische und deutsche Bewohner Schlesiens nicht nur nach Siedlungsgebieten, sondern auch nach einem ungleichen Maß vorgestellter Akkulturation kontrastiert: Due naciones, ut moribus ita loco separate, hanc inhabitant: culciorem, que ad occasum et meridiem spectat, Alemanni, silvestriorem et incultam malignamque ad ortum septentrionem Poloni tenent ... nostri contra, tanquam ab occasu serpat humanitas, culciores vita, moribus industrii... .142

Die Abqualifikation der ‘Anderen’ wird offenbar zwanghaft zur Stärkung des Eigenprofils benötigt, schließt aber hier die Polen gerade nicht aus ‘Schlesien’ aus. Historisch ist Stein die nachvölker-wanderungszeitliche Immigration der Slaven ebenso bewußt wie die erst rezente Einwanderung der Deutschen. Über eine indigene, vorslavische Siedlung von Germanen spielt er hingegen nur Hypothesen durch.143 Er geht vielmehr zum Politischen über. Die schlesischen Herzöge (bewußt ohne eine Herrscherreihe, da diese dem literarischen

141

Bartholomeus Stenus: Descripcio totius Silesiae et civitatis Regiae Vratislaviensis, hg. von HERMANN MARKGRAF (Scriptores rerum Silesiacarum 17), Breslau 1902, IV f.; das zweite Buch separat ediert: Bartlomieija Steina renesansowe opisanie Wrocławia/Die Beschreibung der Stadt Breslau der Renaissancezeit durch Bartholomäus Stein, red. ROSCISLAW ŽERELIK, Breslau 1995; weitere Editionen und Übersetzungen bei MROZOWICZ: Geschichtsschreibung in Schlesien (wie Anm. 138), 224 f. Dazu HANNO BECK: Große Geographen. Pioniere – Außenseiter – Gelehrte, Berlin 1982, 22–44; HARDER: Landesbeschreibungen des schlesischen Frühhumanismus (wie Anm. 138), 41 f.; PETER WÖRSTER: Breslau und Olmütz als humanistische Zentren vor der Reformation, in: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus in Ostmitteleuropa (wie Anm. 112), 215–228, ebd. 226; JUREK: Schlesisches Regionalbewußtsein (wie Anm. 138), 44 f. Harders Bezeichnung als „eigentlich gültige Landesbeschreibung“ (41) für Stenus leistet wenig Schärfendes. 142 Silesitanae terrae descriptio, hg. von MARKGRAF (wie Anm. 141), 8. 143 Ebd. 10: Gentem ergo nostram, quam lingwa diximus uti Teutona, … advenam credimus et huius partis occupatorem. Polonos autem totam olim Silesiam habuisse, praeter argumentum lingwe… ostendunt principes, … declarant oppidorum vetera nomina……num quoque Germani priores hic habuerint expulsique paulatim redierint, argumento, quod ad Oderam et ultra Germaniam Ptolomeus extendit, eciam quod plerique Marcomanos eos fuisse, qui nunc Moravi dicuntur, existimant juxtaque Quados addunt historici… Nostros eam ob rem Quados dicere placuit; eine weitere Möglichkeit, die Abkunft von den bei Tacitus erwähnten Marsignern und Buriern bleibt in skeptischer Schwebe, während er eine Abkunft von den Gotinen und Osen, que peregrina lingwa Gallica videlicet usa est, ablehnt (neque credo).

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Genre unangemessen sei144), der Mongolensturm von 1241, die Hilfe der Schlesier bei den Italienzügen der deutschen Kaiser, also die Reichsverbundenheit, werden knapp behandelt, darauf sehr viel ausgiebiger die Lage der einzelnen Herzogtümer, die Siedlungen (Dörfer, Städte, Klöster) und schließlich den Charakter der Schlesier.145 Für Böhmen, das wegen seiner alten staatlich-dynastischen und eigensprachlichen Kontinuität eine gefestigtere regionale Entität als etwa Schwaben darstellte,146 deckte für lange Zeit die ‚Historia Bohemica‘ des Enea Silvio, obwohl innerböhmisch umstritten, das Feld ab. 1464 wurde sie bereits durch Peter Eschenloer, Stadtschreiber des schlesischen Breslau, ins Deutsche, 1487 erstmals ins Tschechische übersetzt .147 Erst 1543 erschien mit der ‚Ceská Cronika‘ des Vacláv Hajek von Libocany ein für die tschechische Identitätsbildung wirkmächtiges indigenes Werk. Es gehört aber nur im allerweitesten Sinne der humanistischen Historiographie an und bildet wiederum ein Beispiel, wie schwer hier Grenzen zu ziehen sind.148 Zu konstatieren ist eine umfassendere Akkumulation von Quellen als bisherige tschechische Chroniken geleistet hatten, das Bemühen um genauere Datierung der Frühzeit, überhaupt der Versuch, die (vortschechisch germanisch-‘bajuwarische’) gentile Geschichte Böhmens zu erhellen, womit die Anbindung an die antike Welt geleistet ist. Dabei erklingt der Lobpreis der Markomannen und ihres Königs Marbod als vorbildliche Vorläufer. Hajek entfaltet auch den Mythos der Libussa, die hier erstmals ausgeprägt als Fürstin und dynastische Begründerin der böhmischen Monarchie verortet wird.149 144

Ebd. 10: Duces autem qui fuerint, vel quo profuerint ordine, tametsi foret utile memoratu, tamen a proposito quo tendimus fine nimis nostram narracionem abducerent. 145 Silesitanae terrae descriptio, hg. von MARKGRAF (wie Anm. 141), 20–28. 146 Zuletzt FRANTIŠEK ŠMAHEL: Die Anfänge des Humanismus in Böhmen, in: EBERHARD/STRNAD (Hg.): Humanismus in Ostmitteleuropa (wie Anm. 112), 189–215, mit umfassender Bibliographie 205–214, zur Enea-Rezeption 192. [Siehe jetzt die Edition: Aeneas Silvius Piccolomini, Historica Bohemica, hg. von JOSEPH HEJNIC/HANS ROTHE (wie Anm. 115); Bd. 2: Die frühneuhochdeutsche Übersetzung (1463) des Breslauer Stadtschreibers Peter Eschenloer, hg. von VÁCLAV BOK; Bd. 3: Die erste alttschechische Übersetzung (1487) des katholischen Priesters Jan Húska, hg. von JAROSLAV KOLÁR, Köln/Weimar/Wien 2005] 147 Vgl. oben bei Anm. 115; BOK: Eschenloers Übertragung (wie Anm. 59); VOLKER HONEMANN: Lateinische und volkssprachliche Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. Zur Arbeitsweise des Chronisten Peter Eschenloër aus Breslau, Deutsches Archiv 52 (1996), 617–627. 148 Zuletzt ZDENEK BENES: Der mittelalterliche Baustoff der böhmischen humanistischen Geschichtsschreibung, in: WENTA (Hg.): Geschichtsschreibung in Mitteleuropa (wie Anm. 21), 7–19, wesentlich über Hajek. An genuin humanistischen Ansätzen möchte BENES – kaum trennscharf – sehen: a) die „konsequente, auf Chronologie beruhende Datierung“, die aber doch „traditionell, mittelalterlich“ sei, b) die „Auffassung der Geschichte als Lehrmeisterin“ im Sinne Ciceros (16). 149 Gerade an diesem Punkt wäre, wie überhaupt unumgänglich, eine genaue Prüfung der Rezeption der damals bereits 80 Jahre alten ‚Historia Bohemica‘ des Enea Silvio nötig; vgl.

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Für Mähren, dessen Humanismusgeschichte vergleichsweise gut aufgearbeitet ist,150 scheint die früheste, offenbar sehr celtisnahe Landesbeschreibung und Stammesorigo Konrad Altheimers (1431–1509) ‚De origine, moribus et vestitu Hannatarum‘ erneut verschollen, nachdem sie im 18. Jahrhundert wieder aufgetaucht war.151 Die erhaltenen Texte kreisen mehr denn anderswo als laudatio urbis in Prosa oder Vers im Celtisschen Geist um den städtischen Kristallisationspunkt Mährens, die Bischofsstadt Olmütz, so die ‚Illustratio in Olomuncz‘ des Poeta laureatus Georgius Sibutus von 1528.152 Albert Krantz aus Hamburg (1448–1517),153 ältestes und prototypisches‚ ‘Nordlicht’ in der Runde, ist erst in allerjüngster Zeit durch Andermann sinnvoll erschlossen worden. Krantz präsentiert in seiner posthum (Köln 1519/20) gedruckten – bis 1585 dann von David Chytraeus fortgesetzten – ‚Wandalia‘ und ‚Saxonia‘ – das von antiker Stammesgeschichte ausgehende Programm einer Germania magna. Sie erstreckt sich über norddeutsches, weit nach Osten reichendes, Teile der einst nicht römisch gewordenen Germania libera umfassendes Gebiet. Diese Großregion entspricht keinem ‘Land’ und keinem zeitgenössischen dynastischen Territorium, sie kommt eher dem EinzugsbeAnm. 115. Zum Libussa-Mythos siehe GRAUS: Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 16), 93–106. 150 WÖRSTER: Humanismus in Olmütz (wie Anm. 23); DERS.: Breslau und Olmütz (wie Anm. 141). 151 WÖRSTER: Breslau und Olmütz (wie Anm. 141), 223; zu Altheimer DERS.: Humanismus in Olmütz (wie Anm. 23), 73–98, bes. 92–98. 152 WÖRSTER: Humanismus in Olmütz (wie Anm. 23), 103–118; DERS.: Breslau und Olmütz (wie Anm. 141), 225 f.; FRANZ MACHILEK: Georgius Sibutus Daripinus und seine Bedeutung für den Humanismus in Mähren, in: HARDER/ROTHE (Hg.): Studien zum Humanismus in den böhmischen Ländern 1 (wie Anm. 115), 207–241, bes. 208 f., 235–239. 153 Grundlegend die Arbeiten von ULRICH ANDERMANN: Albert Krantz. Wissenschaft und Historiographie um 1500 (wie Anm. 51), bes. 199–230, zur Methode 335–348: Werk- und Quellenverzeichnis zu Krantz; DERS.: Albert Krantz. Bemerkungen zum Verhältnis von lateinischer und volkssprachlicher Gelehrsamkeit, in: GUTHMÜLLER (Hg.): Latein und Nationalsprachen (wie Anm. 59); DERS.: Albert Krantz. Landesgeschichtliche Bezüge eines frühen Werkes der deutschen Nationalgeschichtsschreibung, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 51–67; DERS.: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 93 f.; DERS.: Geographisches Wissen und humanistische Geschichtsschreibung, dargestellt am Beispiel des Hamburger Gelehrten Albert Krantz, in: Raumerfassung und Raumbewußtsein im späteren Mittelalter (12.–15. Jh.), hg. von PETER MORAW (Vorträge und Forschungen 49), Stuttgart 2002, 275–301; GERD TELLENBACH: Eigene und fremde Geschichte. Eine Studie zur Geschichte der europäischen Historiographie, vorzüglich im 15. und 16. Jahrhundert, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von KASPAR ELM/EBERHARD GÖNNER/EUGEN HILLENBRAND, Stuttgart 1977, 296–317, hier 308 f.; RIDÉ: L’image 1 (wie Anm. 1), 397–401; HRABOVÁ: Elbslawen (wie Anm. 123), 35–44; MÜLLER: Germania generalis (wie Anm. 3), 355–358. Krantz benutzte Tacitus via Biondo und Enea Silvio; ANDERMANN: Krantz. Landesgeschichtliche Bezüge (wie oben), 57 f.

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reich der Hanse erstaunlich nahe.154 Es handelt sich nach heutigem Kenntnisstand um ein solitäres Unternehmen des Hamburgers, denn Kontakte zum Celtiskreis und anderen süd- und mitteldeutschen Humanisten waren bisher nicht nachzuweisen, aber als Leser Biondos und Enea Silvios und als Kenner Gaguins hatte er offenbar sehr genaue Vorstellungen, worum es bei regionaler Geschichtsschreibung zu gehen habe. Einleitend reitet Krantz eine fulminante Destruktion der alten Wanderorigines der Sachsen (aus dem Heer Alexanders des Großen) und Franken (trojanische Herkunft), geradezu ein „historiographisches libellum repudii, das er dem Mittelalter zustellt“.155 Zu Beginn des ersten Buchs folgt dann der für das Genre wichtige geoethnographische Exkurs. Die Grundstruktur ist aber nicht durch topographische, sondern historisch-chronologische Zusammenhänge gegliedert.156 Kern ist die Saxonia. Aus dem Spektrum antiker Gentes ordnet Krantz die Saxones den Chatten zu (nach Tac., Germ. 30,1– 31,3), diese seien nicht gewandert, sondern indigenae im Sinne der berühmten Tacitusstelle (Germ. 2,1). Caesar hingegen sei nie nach Norden gekommen.157 Das Bemühen um Quellenkritik nach dem Wahrheitspostulat, aber auch um Autopsie ist unverkennbar.158 Seine Bistumsgeschichte (Metropolis) etwa beginnt er aus Mangel an Quellen für frühere Origines einer sächsischen Kirche konsequent mit Karl dem Großen. Nur Gerüchte sine certo authore besagten, schon zu Neros Zeiten sei ein Missionar nach Bardowiek gekommen und liege dort begraben. In den ohnehin seltenen Geschichtswerken aus dieser Zeit stehe aber davon nichts:

154

ANDERMANN: Krantz. Wissenschaft (wie Anm. 153), 183–187; MANFRED EICKDie Wandalia des Albert Krantz – eine aktuelle Hansegeschichte um 1600? Zur hansepolitischen Bedeutung der deutschen Ausgabe des Lübecker Verlegers Laurentz Albrecht, in: Niedergang oder Übergang? Zur Spätzeit der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von ANTJEKATHRIN GRASSMANN (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. Neue Folge 44), Köln/Weimar u.a. 1998, 139–169. – DAVID CHYTRAEUS: Vandaliae et Saxoniae Alberti Cranzii Continuatio, Wittenberg 1585. 155 MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 26, hier auch das Zitat: Gentis Saxonum primordia et originem, et quas putant antiquitates, apud nostros relegentem, pudor occupat et confusio faciei: ita puerilibus fabulis et anilibus deliramentis omnia scatent, ut nihil in his sibi constet, nihil quadret; ALBERTUS KRANZ: Saxonia (1520), fol. aijr. – Das Wahrheitspostulat und das Bild der Histoire geradezu im Sinne einer konjekturalen, approximativen Historie im Satz von Albert Krantz: Vera quaerimus, verisimillima narramus; zitiert nach ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 93. 156 ANDERMANN: Krantz. Landesgeschichtliche Bezüge (wie Anm. 153), 61. 157 ANDERMANN: Krantz. Landesgeschichtliche Bezüge (wie Anm. 153), 62 f., 67 f. 158 ANDERMANN: Krantz. Wissenschaft (wie Anm. 153), 199–230, bes. 204–207. HÖLTER:

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Hae fama feruntur, sed non leguntur in annalibus, qui ab istis antiquis temporibus pene nulli existant. Sed nobis initium narrandi nascitur ab annis Caroli Magni.159

Wechsel in den Süden: Der Südwesten mit Schwaben gehört zu den deutschen Regionen, die in der alteuropäischen Zeit am häufigsten und besten beschrieben wurden.160 Zeitgenössisch ähnlich wie Franken oder Westfalen schon lange ohne die Klammer einer staatlich-dynastischen Entität, wurde Schwaben von Mertens und Graf als Modell regionaler humanistischer Diskurse bereits auf hohem methodischem Niveau behandelt.161 Eine genaue Untersuchung der ‚Descriptio Sueviae‘ des aus der Schweiz gebürtigen, dann in Ulm ansässigen Dominikaners Felix Fabri († 1502)162 bleibt aber weiter ein Desiderat. An das Ende seines Pilgerbuchs angeschlossen, bildet seine ‘descriptio’ doch wieder die typische Mischung aus einführenden deskriptiven (c. 1–10) und dynastisch-chronologischen Teilen (c. 11–20); der Landesbeschreibung schließt sich ebenso typisch eine Beschreibung Ulms, der ‘Hauptstadt’ Schwabens, als 2. Buch an. Fabri beginnt die ‘descriptio’ mit der Etymologie verschiedener Bezeichnungen für Germanien (Alemannia, Germania, Theutonia, Cimbria), schließt eine topo- und hydrographische Beschreibung (c. 1–6) an, legt dann ausführlich die origo gentis (c.7–9) und die Herkunft des Schwabennamens dar (Suevia, pars magna Germanie, sic nominata a Suevis populis, de Suevo monte in eam regionem, quae nunc Suevia dicitur, progressis.163 Wanderorigo wird also den Schwaben attestiert, in diesem Punkt ganz traditionell, tacitusfrei, nach Isidor von Sevilla ausgehend von 159

Metropolis sive historia ecclesiastica Saxoniae Alberti Crantzii, Köln 1574, 4. – In Beziehung zu bringen wäre die ‚Saxonia‘ Krantz’ u.a. mit dem Werk des Wilhelmus Frederici von Groningen: ‚De Frisiae situ gentisque origine‘ (1498/99). 160 Überblick bei BINDER: Descriptio Sueviae (wie Anm. 111); siehe die Literatur in Anm. 111. 161 Für Franken ist mir keine Landesbeschreibung im engeren Sinne aus der Zeit um 1500 bekannt. Im weiteren Sinne tritt dafür die Würzburger Bistumsgeschichte des Lorenz Fries (1491–1550) ein; siehe CHRISTOPH BAUER: Lorenz Fries. Sekretär und Historiograph der Bischöfe von Würzburg, in: BRENDLE/MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung (wie Anm. 1), 97–113. Vgl. auch den Überblick von FRIEDRICH MERZBACHER: Franconiae Historiographia. Konturen der Geschichtsschreibung in Franken, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 40 (1977), 515–552. 162 Historia Suevica, hg. von MELCHIOR GOLDAST VON HAIMINSFELD, in: Suevicarum rerum scriptores aliquot veteres, Frankfurt am Main 1605, 46–314 (²1727, 13–113); vor allem die Schweiz betreffenden Passagen: Fratris Felicis Fabri Descriptio Sueviae, hg. von HERMANN ESCHER (Quellen zur Schweizer Geschichte 6), Basel 1884, 109–204, mit wichtigem Nachwort 205–229. – KURT HANNEMANN: Art. Felix Fabri, in: Verfasserlexikon 2 (²1980), Sp. 682–689, die ‘descriptio’ ist nur zweimal handschriftlich überliefert (688); BORST: Turmbau (wie Anm. 16), Bd. 3.1, 1034 f.; RIDÉ: L’image 1 (wie Anm. 1), 281–283; BINDER: Descriptio Sueviae (wie Anm. 111), 179–196; GRAF: Reich und Land (wie Anm. 26), 206–208. Zuletzt zu einem weiteren Pilgerwerk: Felix Fabri, Die Sionpilger, hg. von WIELAND CARLS (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 39), Berlin 1999. 163 Fabri: Descriptio Sueviae (wie Anm. 162), fol. 23v.

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einem Berg Svevus, der im Osten, in Skythien, an der äußersten Grenze des alten Germaniens stehe (mons quidam in Scithia Sueuus, ab ortu solis germaniae intium faciens)164. Fabri streift dann die obligate gentile Kulturpassage der Christianisierung und die Geschichte der deutschen Kaiser bis zum Interregnum (c. 11–12). Die Dynastie, deren Herkommen und Geschichte mit Schwabenbezug er dann, gestützt auf die Autoren Heinrich von Diessenhofen und Felix Hemmerlin, bis in die Gegenwart darlegt (c. 13–19), sind nicht etwa die Württemberger, sondern die nur im Süden Schwabens mächtigen Habsburger (c. 13: origo comitum de Habspurg; c. 19 über Kaiser Maximilian). Schwieriger erweist sich die Darstellung der Bewohner des beschriebenen Landes, der Schwaben, welche aber für die Einschätzung von Trägern eines Landesbewußtseins gerade wichtig ist. Fabri jedenfalls nimmt als Bewohner Schwabens nur Adlige wahr, ein kollektiv selbstinszenierbarer Begriff wie Volk fehlt hier noch, ebenso wie in den anderen Landesbeschreibungen. Wie eine vorhumanistisch chronikalische in eine graduell weiterentwickelte, humanistisch geprägte Landesgeschichtsschreibung einmündet, zeigt gut das Beispiel Bayerns: vorhumanistisch chronikalisch setzt sie mit Andreas von Regensburg (ca. 1380–ca. 1438; Chronik 1425) ein, gefolgt von dem schon erwähnten Ritter Hans Ebran von Wildenberg (1425/35–1501/03), von Ulrich Füetrer (ca. 1430–1496)165 und vor allem Veit Arnpeck (1435/40– 1495) mit seiner breit kompilierenden ‚Chronica Baioariorum‘ von 1493/95.166 Mit Johannes Aventinus (1477–1535) dringt paradigmenwechselnd die humanistische Geschichtsschreibung durch; ihre Evolution ist gegenüber Vorgängern, aber auch in der Entwicklung der eigenen Opera, von den ‘Kleinen Annalen’ (1511) bis zur monumentalen Bayerischen Chronik 164

Fabri: Descriptio Sueviae (wie Anm. 162), fol. 24r; Isidor: Etym. IX 2, 98 Dicti autem Suevi putantur a monte Suevo, qui ab ortu initium Germaniae facit... Zu dieser Stelle und zur schwäbischen Stammessage siehe DIETER MERTENS: Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben, in: WERNER (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein (wie *), 139 f. 165 PATZE: Mäzene (wie Anm. 74), 365–370; PETER JOHANEK: Art. Ebran von Wildenberg, Hans, in: Verfasserlexikon 2 (²1980), Sp. 307–312; BERNHARD HAGEL: Art. Ebran von Wildenberg, Hans, bayerischer Chronist (1425/35–1501/03), in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1531. – Zur Gesamtproblematik v.a. JEAN-MARIE MOEGLIN: Les Ancêtres du prince – propagande politique et naissance d’une histoire nationale en Bavière au Moyen Âge (1180–1500) (Ecole Pratique des Hautes Etudes. IVe Section, Sciences Historiques et Philologiques 5/54), Genf 1985; DERS.: Das Reich und die bayerischen Fürsten in einer ersten(?) Fassung der Bayerischen Chronik von Ulrich Füetrer, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. von PAUL-JOACHIM HEINIG u.a. (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, 675–699. Kritik an der Begrifflichkeit MOEGLINS bei WERNER: Ahnen und Autoren (wie Anm. 1), 52–56. 166 VEIT ARNPECK: Sämtliche Chroniken, hg. von GEORG LEIDINGER (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte. Neue Folge 3), München 1915; HANS W. LIEBHART: Art. Arnpeck, Veit, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 1011.

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(1522–1533; Druck 1566), zu verfolgen.167 Die Anlage und Dimension dieses singulären Werks sprengen die der bisher erörterten Opuscula völlig. Auch hier begegnet die (scheinbare) Ambivalenz zwischen kritischer Quellenforschung und legitimatorisch-pädagogischer Mythisierung. Aventinus, der erste deutsche Berufslandeshistoriker, verarbeitete ein breiteres Quellenmaterial als jeder andere humanistische Geschichtsschreiber vor ihm, einschließlich dokumentarischer und Überrestquellen, Urkunden, Inschriften, Münzen, Monumente etc. Er betrieb aber zugleich eine panegyrische Germanen- und Reichsnostalgie, in welche die bayerische Landesgeschichte in bekannter Verknüpfung hineingewirkt ist, und benutzt dabei, wie gesagt, exzessiv den PseudoBerosus des Annius.168 Österreich: Nach der ‚Historia Austrialis‘ des Enea Silvio (1453/1455/ 1458) müßte vor allem Johannes Cuspinianus (1473–1529) als Hofhistoriograph Maximilians I. mit einem dynastisch-regionalen Werk, der ‚Austria‘ (1528), einer Geschichte Österreichs von den Babenbergern bis auf den regierenden Kaiser, in den Blick rücken.169 Immer besser aufgearbeitet sind die produktiven Gedächtniswerkstätten der Habsburger, allen voran Ladislaus Sunthaim († 1513), dessen Material Cuspinian benutzte,170 Jakob Mennel († 1525)171 und Johannes Stabius († 1522) sowie die dort engagierten Künstler, Poeten und Historiographen.172 Da die Opera der Genannten über origo, 167

MARKUS MÜLLER: Johann Turmair, gen. Aventin, in: REINHARDT (Hg.): Hauptwerke (wie Anm. 5), 39–42: „das repräsentativste Geschichtswerk des deutschen Humanismus“ (41). Siehe ferner die Literatur in Anm. 106. [Hinzuweisen ist auf die russische Dissertation von ANDREJ W. DORONIN: Istorik i ego miph. Iogann Aventin (1477–1534) [Aventinus und sein Mythos (1477–1534)], Moskau 2007.] 168 SCHMID: Kleine Annalen (wie Anm. 106), zum erweiterten Quellenspektrum und Quellenbegriff; DERS.: Historische Methode (wie Anm. 106), 47–50, darin auch zu Aventins Exzerptsammlungen, sog. ,Adversarien‘, von 1517 Stücken (München STB clm 1204). 169 Austria Joannis Cuspiniani cum omnibus marchionibus... Basel 1533, Frankfurt am Main 1601. Siehe Hans ANKWICZ VON KLEEHOVEN: Johannes Cuspinian. Gelehrter und Diplomat zur Zeit Kaiser Maximilians I., Graz u.a. 1959, 245–250, 323–332; MÜLLER: Gedechtnus (wie Anm. 172), 413 s.v. 170 FRITZ EHEIM: Ladislaus Suntheim. Ein Historiker aus dem Gelehrtenkreis um Maximilian I., in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 67 (1959), 53– 91, mit Handschriftenbeschreibung (78–89) der – zum Teil von Cuspinian benutzten – genealogischen Sammelwerke und Kollektaneen Wien ÖNB CVP 7692; ebd. fol. 162r: Reste topographischer und genealogischer Vorarbeiten für eine Geschichte der Steiermark und Kärntens als Teil einer ‚Austria‘; Wien HHStA Hs. Blau 4 (72–75), Stuttgart LB Hist. fol. 249 und 250 (Abschrift Konrad Peutingers); siehe auch EHEIM: Historische Landesforschung (wie Anm. 63), 102 f. 171 DIETER MERTENS: Geschichte und Dynastie – Zu Methode und Ziel der ‘Fürstlichen Chronik’ Jakob Mennels, in: ANDERMANN (Hg.): Historiographie am Oberrhein (wie Anm. 74), 121–155; MÜLLER: Gedechtnus (wie Anm. 172), 414 s.v. 172 Nach JOACHIMSEN: Geschichtsauffassung (wie Anm. 1), 195–219 grundlegend JANDIRK MÜLLER: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (Forschungen

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Stammsitze und Herrschaftsbereich der Dynastie handelten, besaßen sie natürlich auch einen räumlich-regionalistischen Aspekt und gehören daher zumindest im weiteren Sinne zum Kreis der zu untersuchenden Schriften. Dagegen wird die Frage, ob ihnen humanistische Elemente innewohnen, in der Literatur mehrheitlich verneint.173 Eidgenossenschaft174: Movens für die Entstehung von Landesdescriptionen und Geschichten war das sprunghaft gestiegene An- und Aufsehen, das die ‘Schweizer’ als politische Aufsteiger mit ihren Siegen über Karl den Kühnen 1475–77 in der öffentlichen Wahrnehmung Europas erreicht hatten. Als erfolgreich handelnde Entität nahm man sich auch selbst stärker wahr, als autochthone altverwurzelte gentile Gemeinschaft, und zwar in einem umgrenzbaren historischen Territorium. Die relativ frühe Generierung der Nation „aus einem rein politischen, herrschaftlichen Gebilde“ steht in Wechselwirkung mit der Verleihung einer antiken und zwar protorömischen Identität.175 Die Reihe der Autoren, die das Motiv der ‚Descriptio Helvetiae‘ dann in auffallend breiter Folge entfalteten, führt von Albrecht von Bonstetten über den Mailänder Balcus (Domitius Calciatus, 1504) als Autor fremder Geschichte zu Heinrich Glarean (1514). Ausgestaltet wurde das Ganze dann – hier nicht mehr zu erörtern – im 16. Jahrhundert, insbesondere durch Heinrich Brennwalds Schweizerchronik (1506–1516), durch Johannes Stumpf und, wiederum

zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), München 1982; DERS.: Sprecher-Ich und Schreiber-Ich. Zu Peter Luders Panegyricus auf Friedrich den Siegreichen, der Chronik des Matthias von Kemnat und der Pfälzer Reimchronik des Michel Beheim, in: Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftungsprozeß am Beispiel Heidelbergs im 15. Jahrhundert, hg. von DEMS. (Münstersche Mittelalter-Schriften 67), München 1994, 289–322. – FRANZ und ELISABETH KLECKER: Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache. Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek als Grundlage eines Forschungsprojekts, in: Biblos 43 (1994), 183–198; JEAN-MARIE MOEGLIN: Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung. Zum Selbstverständnis der Wittelsbacher, Habsburger und Hohenzollern im Spätmittelalter (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 34), München 1993; MARIANNE TANNER: The Last Descendant of Aeneas. The Hapsburgs and the Mythic Image of the Emperor, New Haven/Conn. u.a. 1993, bes. 11–118. Zu den Italienern als Nationalhistoriographen der europäischen Höfe siehe unten Kap. IV. 173 EHEIM: Suntheim (wie Anm. 170), 90 f.: Es sei „verfehlt, die Hofgelehrten Maximilians, und insbesondere Sunthaym, als Humanisten zu bezeichnen“ (90), stattdessen wollte EHEIM, ohne dies zu klären, von „Parahumanismus“ (91) sprechen, wozu er dann auch Thomas Ebendorfer zählt. 174 Dazu stringent mit umfassender Literatur MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), zu den Helvetiern 225–232, siehe auch nützlich DENS.: Literaturbericht Schweizer Humanismus, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 50 (2000), 515–545. Älterer Überblick bei FUETER: Historiographie (wie Anm. 1), 206–222. 175 MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 217 f., 247 (Zitat).

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selbst in hohem Maße mythengenerierend, durch Aegidius Tschudi (‚Alpisch Rhätia‘ 1536).176 Kaum in einer anderen Region lagen Aufkommen einer Gründungslegende, deren Destruktion im aktuellen gentilpatriotischen Streit und ihre Ersetzung durch eine autochthone Neuformierung, die auf antiken Quellen beruhte, näher zusammen als hier. Im ‘Weißen Buch’ von Sarnen war die Herkunft der ‘Schwyzer und Oberhasler’ als traditionelle Wanderabstammung (aus Schweden) aufgetaucht. Heinrich von Gundelfingen, Nikolaus Schradin und Petermann Etterlin in „der ersten umfassenden Geschichte der Eidgenossenschaft“ hatten sie weiter kolportiert, bis sie, u.a. nach massiver Kritik von Humanisten aus Schwaben und dem Elsaß (Bebel, Wimpfeling) im Gefolge des Schweizerkriegs Maximilians I. (1499), durch die Helvetier-These ersetzt wurde: die Schweizer sind von der Herkunft germanische Sueben, die im alten, von Caesar sanktionierten Territorium der besiegten Helvetier diesen nachfolgten und mit ihrer eigenen Freiheitsgeschichte deren Ruhm erneuern. Zugleich stieg gerade in der Eidgenossenschaft intensiv das Interesse an Choro- und Kartographie, mit deren Hilfe die neue Identität gleichsam zirkumskribiert werden konnte.177 Einzig vorgestellt sei hier der Einsiedeler Benediktiner Albrecht von Bonstetten (1442/43–1504). Er verfaßte mit seiner ‚Superioris Germaniae confoederationis descriptio‘ (Druck 1479; 1480 deutsche Übersetzung ‘Obertütscheit Eidgnosschaft stett und lender gelägenheit’),178 die dem Dogen von Venedig, dem Papst und König Ludwig XI. von Frankreich gewidmet war, „den Städte- und Länderbund, ein Produkt der Landfriedensbewegung, erstmals als Territorium“ und legte damit zugleich gattungsmäßig „als erster in Deutschland eine wirkliche Landesbeschreibung“ vor.179 Bonstetten situiert die Eidgenossenschaft zuerst im weiten Bezug des Kosmos (Bild des Atlas), und zwar genau in der Mitte Europas, nämlich am Berg Rigi. Es folgten die Deskription der einzelnen Kantone beziehungsweise ihrer Vororte, die Gründungsge176

MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 232–236, 242–246. Auch hier sind die Texte verbunden mit frühen Beispielen einer Kartographie (Conrad Türst, Landtafeln des Johannes Stumpf). Vgl. ebd. 235 f. und oben bei Anm. 90. 177 Erstmals als Territorialbegriff verwendete Helvetia aber wohl 1458 Enea Silvio, freilich für das Elsaß: Alsacia, cui quondam Helvecia nomen fuit; Cosmographia in Asiae et Europae eleganti descriptione, Paris 1509; zitiert MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 227. 178 Text-Edition: Beschreibung der Schweiz, in: Albrecht von Bonstetten. Briefe und Ausgewählte Schriften, hg. von ALBERT BÜCHI (Quellen zur Schweizer Geschichte 13), Frauenfeld 1893, 226–250 (lateinischer Text), 250–267 (deutsche Teilübersetzung). Zu Bonstetten: HANS FUEGLISTER, in: Verfasserlexikon 1 (²1978), Sp. 176–179; BINDER: Descriptio Sueviae (wie Anm. 111), 184 f.; SIEBER-LEHMANN: Albrecht von Bonstettens geographische Darstellung (wie Anm. 90); weiterführend MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 213 f., 220–229. 179 MAISSEN: Eidgenossen (wie Anm. 19), 234 (Zitat); BINDER: Descriptio Sueviae (wie Anm. 111), 184 (Zitat).

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schichte der Eidgenossen bis hin zur Niederen Vereinigung 1473 und ihren Kriegen, dann eine Beschreibung von mores und Kleidung, schließlich eine Aufzählung von Städten und Bürgerfamilien, um in einer finalen Lobrede (c. 20) zu enden. Bei Bonstetten wie den nachfolgenden Landesdescriptoren der dann mit dem alten Helvetierland als Helvetia identifizierten Schweiz zeigte sich eine der typischen Schwierigkeiten des olim-nunc-Vergleichs besonders deutlich: wenn mutationes durch migrationes zustandekommen. Der Rhein, in der antiken Literatur als Grenze zwischen Galliern/Romanen und Germanen kanonisiert, erfüllte diese Funktion auf eidgenössischem Boden nicht mehr, weil sich schon in der Völkerwanderung die germanische Siedlung nach Westen bis an die Saane geschoben hatte. Allein schon deshalb bedeutet die Adaptation der antiken Texte hier ein empirisches Problem, das zur Modifikation und Konstruktion geradezu zwang.

III. Blick auf Europa. Die ‘Autochthonie’ der nationalen Origo Das letzte Kapitel weitet den Blick in die europäische Nationalhistoriographie des Humanismus. An das Vorausgegangene knüpfen sie mit einem Element der Origo-Diskussion an, das sich als besonders dominant erweist, der Autochthonie.180 Der „taciteische Paradigmenwechsel“ (Mertens) brachte eine partielle Entwertung der alten weitverbreiteten Migrationssagen mit sich;181 er vernetzte sich freilich ab 1498 zum Teil schnell mit dem ‘annianischen’, der die Anbindung an die alttestamentalische Frühzeit zu leisten schien. Die Wandermythen waren vor allem in den vielen Spielarten der elitistischen Trojanersage aufgehoben gewesen, die heroes eponymoi voller Autorität garantierte und zugleich doch die „Gleichursprünglichkeit“ (Kugler) und mythologische Einheit der Völker zu bewahren schien“.182 Wiesen schon die Trojaner- und 180

Vgl. MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 16), 236–242 (über Albert Krantz und Heinrich Bebel). 181 BORST: Turmbau (wie Anm. 16), Bd. 4, 2298 s.v. passim; KARL BERTAU: Kulturelle Verspätung und ‘translatio imperii’. Zu einer Semantik historischer Wanderungsbewegungen auf der eurasischen Halbinsel Europas, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hg. von HARTMUT KUGLER, Berlin 1995, 81–106. 182 Aus der breiten Literatur: PHILIPPE CONTAMINE: Art. Trojanerabstammung, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1999), Sp. 1041; BORST: Turmbau (wie Anm. 16), Bd. 4, 2298 s.v.; BORCHARDT: German Antiquity (wie Anm.15), 85, 220 ff.; GRAUS: Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 16), 81–89; DERS.: Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, hg. von WILLI ERZGRÄBER, Sigmaringen 1989, 25–43; ASHER: National Myths (wie Anm. 105), 9–43; GARBER: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche (wie Anm. 16); TANNER: Last Descendant (wie Anm. 102), 11–22, 67– 118 passim; PETER BIETENHOLZ: Historia and Fabula. Myths and Legends in Historical Thought from Antiquity to the Modern Age (Brills Studies in Intellectual History 59), Leiden u.a. 1994, 189–195; RICHARD WASWO: Our Ancestors the Trojans: Inventing Cultural Iden-

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andere Wandersagen (Noahsöhne, Heer Alexanders etc.), etwa die schon im Annolied formulierten origines der vier deutschen Hauptstämme, ins Vorrömische zurück, zum Teil mit latent antirömischen Akzent, so trat nun an ihre Stelle – ohne sie gänzlich zu ersetzen – die Vision eines ethnischen Indigenats nach Tac. Germ. 2,1: ipsos Germanos indigenas crediderim, einer Art Protoautochthonie, die sich auf kontinuierlich ansässige Völker vor der römischen Eroberung und ihre archaische Kultur berief. Was sie besonders auszeichnete war vor allem ihre stabilitas loci. Sie bedeutete nicht nur eine Rekonstruktion, sondern auch eine Retro-Konstruktion der nationalen (beziehungsweise regionalen) Vergangenheit. Einige Beispiele wurden bereits in Teil III gezeigt. Des Johannes Cochläus ‚Brevis Germaniae Descriptio‘ (1512) beginnt geradezu programmatisch mit einem ausführlichen Zitat aus Tacitus’ ‚Germania‘ c. 2.183 Die nationale Kompetition der Humanisten, aber auch die antiken Quellen selbst förderten jene zunehmende Ethnisierung des historiographischen Blicks, die sich in den Indigenatspostulaten nur besonders deutlich ausdrückte.184 Besonderes Augenmerk ist jetzt auf die ‘großen’, zusehends mit Staaten und starken Dynastien kongruenten europäischen Nationen zu richten. Minderwertigkeitskomplexe kultureller Unterlegenheit gegenüber den Italienern, wie sie bereits anklangen, spielten eine wichtige Rolle. Die gallische Autochthonie etwa war zugleich eine Dekolonisation, eine Emanzipation von der einst römischen, in der Gegenwart italienischen Dominanz, und – oft mitgedacht – von der ‘römischen’ Kurie. Den größten Nachhol- und zugleich tity in the Middle Ages, in: Exemplaria 7 (1995), 269–290; MICHAEL BORGOLTE: Europas Geschichten und Troja. Der Mythos im Mittelalter, in: Troja. Traum und Wirklichkeit (Begleitband zur Ausstellung), Braunschweig 2001, 190–203, bes. 202 f.: „Die neue Geschichtswissenschaft zerbricht die mythologische Einheit der Völker“; in diesem Band auch weitere Aufsätze zur Rezeption des Trojastoffs in Mittelalter und Renaissance. Für die fränkische Zeit: EUGEN EWIG: Troja und die Franken, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), 1–16. Zu den deutschen Stammesorigines im Mittelalter HEINZ THOMAS: Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Die Salier und das Reich 3, hg. von STEFAN WEINFURTER, Sigmaringen 1991, 235–277, ebenso DIETER MERTENS: Landesbewußtsein im Gebiet des alten Schwaben (wie Anm. 25), 138–141, auch zum Annolied. [Dazu wichtig: UTA GOERLITZ: Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Idendität seit dem ‘Annolied’. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.–16. Jahrhundert) (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kunstgeschichte 45), Berlin/New York 2007.] 183 JOHANNES COCHLAEUS: Brevis Germaniae Descriptio, hg. von KARL LANGOSCH (Freiherr von Stein-Gedächtnis-Ausgabe 1), Darmstadt 1960, 41 f. Cochläus beginnt mit einer historia (c. 1–2), verweilt in der Gegenwart (nunc; c. 3), und schließt dann die descriptio (c. 4–8) an. Siehe RIDÉ: L’image 1 (wie Anm. 1), 360–366; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 216–218. 184 „Das ‘ethnos’, den ‘populus’, nicht den ‘heros epomymos’ oder sonstige Anführer betrachteten sie, wenn nicht als geschichtliche Akteure, so doch als ihre historiographischen Objekte“; MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 26.

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Umorientierungsbedarf hatten die Deutschen, deren nationale Identität, wenn überhaupt, paradoxerweise in der universalistisch-übernationalen Reichsidee gepflegt worden war. Soli Germani, darf nun der Tübinger Humanist Heinrich Bebel gestützt auf die oben zitierte Tacitusstelle erkennen, a nullis nationibus pulsi patria, nullis cedentes. Das unleugbare, von Enea Silvio und anderen hervorgehobene, Kulturdefizit der ‚taciteischen‘ Germanen versuchte man zu kompensieren, bei Celtis durch das Konstrukt einer kulturellen Fermentierung der Germanen durch griechisch sprechende keltische Druiden.185 Wanderungen ließen sich nun geradezu als Defekt denunzieren. Andererseits konstatierte man bisher unerschlossene historische Völkerwanderungen (populorum istorum emigrationes..., quas nos demigrationes vocamus) anhand antiker Quellen, etwa bei Enea Silvio, Albert Krantz und Beatus Rhenanus unter Ablehnung der Troianermythen. Würdiger, autarker seien letztlich diejenigen gewesen, die nicht gewandert waren. Verallgemeinerungen des Trends sind freilich nicht zulässig. Dies zeigt die gezielte Wiederbelebung der Trojanersage am Hof Maximilians I., aber auch gerade bei einigen der oben vorgestellten Texte deutscher Humanisten die absichtsvolle Harmonisierung jener mythischen Wanderungen mit den aus antiken Quellen belegbaren ‘historischen’ Wanderungen und daraus abgeleiteten Autochthoniepostulaten. Nur wenige gelangten dabei auf ein Reflexionsniveau wie Beatus Rhenanus, der „über die Ablehnung der uralten Wanderungen der Stämme hinaus ein umfassendes und begründetes Bild der historischen spätantik-frühmittelalterlichen Völkerwanderungen“ zu rekonstruieren versuchte.186 Der schwedische Bischof Nikolaus Ragvaldsson hatte schon 1435 auf dem europäischen Theater des Basler Konzils, spätere Argumentationen vorwegnehmend, verkündet, die Wandergoten seien zwar überall das heldenhafteste Volk, in Schweden säßen Goten aber noch immer am alten Ort – ohne je gewandert zu sein!187 Und daher gebühre dem König von Schweden die Präzedenz vor allen europäischen Monarchen. 185

Heinrich Bebel zitiert nach MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 16), 240 Anm. 17. Zu den ,Dividen‘ bei Celtis siehe MÜLLER: Germania Generalis (wie Anm. 3), 166 f., 180 f., 417–424, 521 s.v. 186 MERTENS: Landeschronistik (wie Anm. 22), 26. Zu Beatus Rhenanus sei verwiesen auf MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 102–104, 388–391, 459 s.v.; JAMES HIRSTEIN: Tacitus’ ,Germania‘ und Beatus Rhenanus (1485–1547) (Studien zur klassischen Philologie 91), Frankfurt am Main 1995; DIETER MERTENS: Beatus Rhenanus, in: REINHARDT (Hg.): Hauptwerke (wie Anm. 5), 520–523; ANDERMANN: Historiographie und Interesse (wie Anm. 26), 99–101. 187 Viget (sc. nostrum regnum) quidem hodie ut ab initio in propria patria, licet apud exteras acquisitas naciones...; hg. von JOSEPH SVENNUNG: Zur Geschichte des Goticismus, in: Skrifter utgivna av K. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Uppsala (Acta Societatis Litterarum Humaniorum regiae Upsaliensis 44/2B), Uppsala 1967, 40. Vgl. HARALD EHRHARDT: Art. Goticismus, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), Sp. 1273–1275, ebd. 1275.

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Als protorömisch (wenn auch nicht sämtlich als wanderungslos indigen) begegnen in den nationalen Historiographien: 1. die Etrusker in Florenz; 2. die Germanen in Deutschland; 3. die Gallier in Frankreich; 4. die Briten in England; 5. die Goten in Spanien, eigentlich eine erst spätantike Tradition, die schon im Früh- und Hochmittelalter (Isidor von Sevilla, Rodrigo Jiménez de Rada) gepflegt und in den Jahrzehnten um 1500 historiographisch neu konstituiert wurde; man bemühte sich aber auch um die Galliern, Germanen etc. eigentlich analogen Iberer;188 6. die Hunnen und Skythen in Ungarn könnten den Reigen vergrößern.189 Wesentlich erst im 16. Jahrhundert sollten die Goten im neuformierten Staat Schweden der Wasa-Dynastie erneut als staatstragender Mythos begegnen, in analoger Funktion die Sarmaten im neuformierten Adelsstaat Polen-Litauen;190 ebenso rezent ‘wiederentdeckt’ wurden, wie oben gezeigt, die Helvetier für die Eidgenossenschaft/Schweiz und die Bataver für die – von der fremden Großdynastie Habsburg regierten – Niederlande. Beide bildeten sich gegen Ende des 15. beziehungsweise im 16. Jahrhundert als (Bundes-)Staaten überhaupt erst heraus.191

IV. Italienische Humanisten als Geschichtsschreiber europäischer Nationen Zweifellos ein Kind von Oberitalien und Florenz, erlebte der RenaissanceHumanismus zugleich eine binnenitalienische und eine europäische Diffusion,

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Zur mittelalterlichen Tradition vgl. KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 65), 13–77, 756, 832. Die Rolle der Iberer in der spanischen Historiographie verdient genauere Untersuchung. 189 Vgl. HAVAS/KISS: Bonfinis Geschichtskonzeption (wie Anm. 196), 288–293. 190 KURT JOHANNESSON: The Renaissance of the Goths in Sixteenth-Century Sweden. Johannes and Olaus Magnus as Politicians and Historians, Berkeley 1991; OLAF MÖRKE: Bataver, Eidgenossen und Goten. Gründungs- und Begründungsmythen in den Niederlanden, der Schweiz und Schweden in der frühen Neuzeit, in: BERDING (Hg.): Mythos und Nation (wie Anm. 16), 104–132, bes. 117–122. .– Zum Sarmatismus in Polen NORBERT KERSKEN: Entwicklungslinien (wie Anm. 65), 20 f., 24 f.; DERS.: Geschichtsbild und Adelsrepublik. Zur Sarmatentheorie der polnischen Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 52 (2004), 235–260. 191 Den Grafen von Holland wurden nichtsdestoweniger trojanische Vorfahren zugeschrieben. Als frühe Autoren zu nennen: Cornelius Aurelius mit dem ‚Defensorium gloriae Batavinae‘ (1509) sowie mit seiner ‚Divisiecronik‘ von 1517 und Gerardus Geldenhouwer, ‚Lucubraciuncula de Batavorum insula‘ (1520), ‚Historia Batavica‘ (1530). Siehe T ILMANS: Historiography and Humanism (wie Anm. 101), 199–287: ‘The myth of Batavia’ (Literatur); DIES.: Holländisches Nationalbewußtsein in der frühhumanistischen Historiographie, in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 13/2 (1989), 61–68; KERSKEN: Geschichtsschreibung (wie Anm. 65), 831.

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eines der nachhaltigsten Phänomene von Kulturtransfer in der Geschichte.192 Es gab durchaus das zeitgenössische Bewußtsein einer neuen translatio artium von Italien her, ja, infolge der italischen Kriege seit 1494 geradezu von deren Emigration.193 Der Transfer verlief natürlich nicht zwischen missionarischen Gebern hier und demütigen Empfängern dort. Es handelte sich immer um Transformationsprozesse, die jeweils in den intellektuellen Milieus und Traditionen vor Ort abliefen. Die Diffusion des Humanismus ist von daher, wie anfangs schon gesagt, stets verbunden mit dem nationalen Paragone. Dies ist auch zu beachten, wenn von Stifterfiguren wie Pier Paolo Vergerio in Ungarn, Enea Silvio Piccolomini, dem „Apostel des Humanismus in Deutschland“ (Georg Voigt),194 oder Filippo Buonaccorsi, genannt Callimachos, in Polen die Rede ist. Unter den Italienern im Ausland waren nicht wenige als Historiker fremder Geschichte tätig. Gerd Tellenbach hatte sie als Gruppe in einem feinsinnigen Aufsatz vorgestellt, Autoren, die spürbar zwischen Auto- und Heterostereotypen drifteten.195 Als virtuose Fachleute klassischer Latinität und Rhetorik galten sie gegenüber Vertretern der einheimischen Eliten, falls es sie gab, entweder immer noch als überlegen oder als professionelle Kontraposte. Als Gründerautoren einer humanistischen Historiographie an die Herrscherhöfe geladen und in dortigen Zirkeln mehr oder weniger integriert, schreiben sie den Gastnationen und deren regierenden Dynastien ihre Nationalgeschichten. Die wichtigsten, konzentriert in West- und Ostmitteleuropa: schon früh Pietro Ranzano aus Palermo (1428–1492) und vor allem Antonio Bonfini aus Ascoli (1427–1502) in Ungarn, Paulo Emilio aus Verona (ca. 1460–1529) in Frankreich, Polidoro Vergilio (Polydor Vergil) aus Urbino (1470–1555) in England, Lucio Marineo Siculo aus Catania (ca. 1445–ca. 1533) und Pietro Martire (Martyr) von Anghiera (1459–1536) für das mit der Vereinigung von Kasti-

192

Zu Begrifflichkeit und Problematik HELMRATH: Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: DERS./MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 9– 29 (Literatur); GERRIT WALTHER: Nationalgeschichte als Exportgut. Mögliche Antworten auf die Frage: Was heißt ‘Diffusion des Humanismus’?, in: ebd. 436–446. 193 His temporibus perfectae similiter latinae atque graecae ex Italia bellis nefariis exclusae, exterminatae, expulsae, sese trans alpes, per omnem Germaniam, Galliam, Angliam Scotiamque effuderunt; Polydori Vergilii Urbinatis Anglicae Historiarum libri XXVI, Basel 1534, liber 25, 609. 194 Vgl. HELMRATH: ‚Vestigia Aeneae imitari‘ (wie Anm. 44), bes. 133–137. 195 TELLENBACH: Eigene und fremde Geschichte (wie Anm. 153); COCHRANE: Historians (wie Anm. 1), 314–359; HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 12); zuletzt mit vergleichendem Ansatz weiterführend VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere (wie Anm. 53). Überblick über die nationalen Historiographien Frankreichs, Englands, Spaniens bei FUETER: Historiographie (wie Anm. 1), 139–179, 224–241.

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lien und Aragón seit 1469 sich zentralisierende Spanien.196 Für Deutschland und das Reich, an dem so ‘gedechtnus’-aktiven Kaiserhof Maximilians, wurde kein vergleichbarer Nationalhistoriograph aus Italien engagiert!197 Die ersten und wichtigsten ‘deutschen’ Frühgeschichten in lateinischer Sprache schreiben vor allem Jakob Wimpfeling 1501 und 1505 (‚Epitome rerum Germanicarum‘ – mit einem geographischen Exkurs über den Südwesten) – sowie Beatus Rhenanus 1525–1531 (‚Rerum Germanicarum libri tres‘), beide indigene Humanisten und überdies ohne sehr enge Hofnähe.198 Ging dies auf Kosten einer internationalen Rezeption ihrer Werke? Die genannten Italiener machten während ihrer langen Aufenthalte, vielfältig protegiert, im Land Karriere als Kleriker und Diplomaten, meist auf mittlerer Ebene. Sämtlich erhielten sie Konkurrenz durch einheimische Humanisten-Historiker, Karrierekonkurrenz bei Hofe, aber auch Deutungskonkurrenz. Und sie gerieten in jenen Konflikt zwischen der nationalen Aufgabe einer vorbildhaften Ruhmesgeschichte und – deren philologisch-kritischer Begründung geschuldet – einer Dekonstruktion althergebrachter Mythen. Sie brachen zum Teil mit den nationalen Leitquellen, die in den Geschichtskul196

Vgl. TELLENABCH: Eigene und fremde Geschichte (wie Anm. 153). Zu Emilio: THOMAS MAISSEN: Von der Legende zum Modell. Das Interesse an Frankreichs Vergangenheit in der italienischen Renaissance (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 166), Basel 1994, 176–210, 461 s.v; insgesamt die Beiträge in HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), bes. FRANCK COLLARD: Paulus Aemilius’ ‚De rebus gestis Francorum‘, Diffusion und Rezeption eines humanistischen Geschichtswerks in Frankreich (377–397, siehe oben Anm. 20); LÁSZLÓ HAVAS/SEBESTYÉN KISS: Die Geschichtskonzeption Antonio Bonfinis (281–307); FRANK REXROTH: Polydor Vergil als Geschichtsschreiber und der englische Beitrag zum europäischen Humanismus (415–435); GERRIT WALTHER: Humanismus als Exportgut (436–446), sowie im problemorientierten Überblick auch zu den spanischen Autoren VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere (wie Anm. 53), 342–349; HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 12), 345–350. Zu Marineo Siculo nennenswert nur: CARO LYNN: A College Professor of the Renaissance: Lucio Marineo Siculo, among the Spanish Humanists, Chicago 1937. [Jetzt grundlegend: STEFAN SCHLELEIN: Chronisten, Räte, Professoren: zum Einfluß des italienischen Humanismus in Kastilien am Vorabend der spanischen Hegemonie (ca. 1450 bis 1527) (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 6), Freiburg 2010.] – Moderne Editionen liegen lediglich für Bonfini und den zeitgeschichtlichen Teil Polydor Virgils vor: Antonius de Bonfini, Rerum Ungaricarum Decades, 4 Bde., hg. von JOSZEF FÓGEL/BELA IVÁNY u.a. (Bibliotheca scriptorum medii recentisque aevorum, Saeculum XV), Leipzig u.a. 1936–1941, 1978; The Anglica Historia of Polydore Vergil, A.D. 1485–1537, hg. und ins Engl. übersetzt von DENYS HAY (Camden third series 74), London 1950. 197 VÖLKEL: Rhetoren und Pioniere (wie Anm. 53), 346 f. Genauerer Untersuchung bedarf das Werk des Giovanni Garzoni (1419–1505), Arztes und Humanisten an der Universität Bologna. Er schrieb für deutsche Fürsten landesgeschichtliche Abrisse; dabei ist unklar, ob der Text nicht ohnehin von seinem Schüler Erasmus Stella stammt. Vgl. ROBERTO RIDOLFI: Garzoni, Giovanni, in: Dizionario Biografico degli Italiani 52 (1999), 438–440. 198 Siehe die Artikel von DIETER MERTENS, in: REINHARDT (Hg.): Hauptwerke (wie Anm. 5), 520–523 (Beatus Rhenanus) und 732–735 (Jakob Wimpfeling).

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turen der Gastländer tief eingewurzelt waren: Paulo Emilio mit den ‚Grandes chroniques‘, Polydor Vergil mit Geoffrey von Monmouth und der Artussage. Er wurde deswegen massiv von einheimischen Konkurrenten wie John Leland, etwa mit dessen ‚Assertio inclytissimi Arturii regis‘ (1544), angefeindet und löste somit eine große nationale Debatte aus.199 In der Bilanz schufen diese Italiener, oft in jahrzehntelanger Arbeit, monumentale Werke der nationalen Historiographie, antikelegitimiert, autochthoniegeadelt, von kühl funkelnder Latinität und langanhaltender Bedeutung im Geschichtshaushalt dieser Nationen. Sie wurden zu dem, was nur die bewunderten antiken Autoren gewesen waren: Klassiker.

V. Das Beispiel Florenz und Toscana Vorgestellt werden soll nur ein einziges frühes Beispiel von AutochthonieKonstruktion, freilich aus Italien selbst. Es geht um Florenz und seine Politie, seinen Contado, die künftige ‘Toscana’, und die Etrusker.200 Im Zentrum steht als sinngebender Historiograph eigener Geschichte der Florentiner Humanist und Staatskanzler Leonardo Bruni.201 Er prägte das Geschichtsbild seiner Stadt um. In den Volgare-Chroniken des 14. Jahrhunderts erscheint Florenz als römische Gründung Caesars, die durch den Goten Totila zerstört, und – wohl nach einer Erfindung Giovanni Villanis um 1326 – durch Karl den 199

REXROTH: Polydor Vergil (wie Anm. 196), 423–432. Polydor fand auch Verteidiger, etwa in Arthur Kelton, ,A Chronycle with a Genealogie declaryng that the Britons and Welshman are Lienalye Dyscended from Brute‘, London 1547. 200 GIOVANNI CIPRIANI: Il mito etrusco nella Firenze repubblicana e medicea nei secoli XV e XVI, Ricerche storiche 2 (1975), 257–309; DERS.: Il mito etrusco nel Rinascimento fiorentino (Biblioteca di Storia toscana moderna e contemporanea. Studi e documenti 22), Florenz 1980; HELMRATH: Umprägung (wie Anm. 12), 337–342; sowie künftig GÖTZRÜDIGER TEWES zur Etruskerrezeption. Zur zweiten Phase der italienischen Etruskerforschung: MAURO CRISTOFANI: La scoperta degli etruschi. Archeologia e antiquaria nel ‘700 (Consiglio nazionale delle ricerche. Contributi alla storia degli studi etruschi e italici 2), Rom 1983; DERS.: Der ‘etruskische Mythos’ zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, in: Die Etrusker und Europa, hg. von MASSIMO PALLOTTINO (Ausstellungskatalog Berlin, Altes Museum), Berlin 1992, 266–291; GABRIELE BICKENDORF: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert (Berliner Schriften zur Kunst 11), Berlin 1998, 225– 273. Zum Etruskismus bereits FREDERICK MASCIOLI: Anti-Roman and Pro-Italic Sentiment in Italian Historiography, in: The Romanic Review 33 (1942), 366–384. 201 DONALD J. WILCOX: The Development of Florentine Humanist Historiography in the Fifteenth Century (1969), 67–98; IANZITI: Bruni, first modern Historian? (wie Anm. 95) mit Kritik am traditionellen Urteil der Forschung seit SALVEMINI (1899), in Bruni den ersten modernen Historiker zu sehen; DERS.: Bruni in Writing History, in: Renaissance Quarterly 51 (1998), 367–391; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 219–221; DERS.: Humanistische Historiographie (wie Anm. 76), 6 f. Siehe auch Anm. 204.

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Großen neugegründet worden sei. Bruni relativiert diese Legende stark, in der Florentiner Historiographie wird sie aber bis in das 16. Jahrhundert gepflegt.202 Stattdessen griff Bruni, angeregt bereits von Coluccio Salutati, auf der Suche nach politischer und kultureller Origo seiner Heimatstadt von Werk zu Werk weiter in die Vergangenheit zurück.203 Und wenn man ihn weiterhin den ‘ersten modernen Historiker’ nennen mag,204 dann wegen dieser rhetorisch-politischen, staatszentrierten Konstruktion und seines klassischen Stils, weniger wegen seiner avancierten Quellenkritik. Die ‚Laudatio Florentinae urbis‘ entstand um 1403 nach Ende des zum Existenzkampf stilisierten Kriegs gegen Mailand; sie wurde daher zum Kerntext für den ‘Bürgerhumanismus’ Hans Barons.205 Modell war der griechische ‚Panathinaikos‘, der Panegyricus des Aelius Aristides auf Athen. Indem er diese bislang unbekannte Vorlage auf geniale Weise nutzte, öffnete Bruni der politischen Literatur Europas neue Wege. Auch hier steht eine ausführliche epideiktische ‘Landesbeschreibung’ am Anfang: Florenz ist buchstäblich wohl situiert in den konzentrisch angeordneten Landschaftsgürteln seines Contado; die Stadt ist schön und sauber, mit Bürgern, welche die Libertas lieben, die Tyrannis hassen; mit einer 202

Karl der Große konnte als Figur ghibellinisch mit den deutschen Kaisern, und guelfisch, wie es der Florentiner Tradition durchweg entsprach, mit Frankreich identifiziert werden. MAISSEN hat nachgewiesen, wie Florenz sich die Karlslegende als politisches Traditionsargument warm hielt, je nachdem, ob die Stadt, wie meistens, mit Frankreich ging oder aber nicht. Coluccio Salutati etwa pflegte das gute Verhältnis zu Frankreich auch im Kampf gegen die Mailänder Visconti, die schon er als Tyrannen stilisierte, gegen welche ganz Italien, geführt von Florenz, seine libertas verteidigen müsse; MAISSEN: Von der Legende zum Modell (wie Anm. 196), 11–120; GILLI: Au Miroir (wie Anm. 210), 275–343, zuletzt THOMAS MAISSEN: Ein Mythos wird Realität. Die Bedeutung der französischen Geschichte für das Florenz der Medici, in: Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich, hg. von GÖTZ-RÜDIGER TEWES/MICHAEL ROHLMANN (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 19), Berlin 2002, 117–136, zu Bruni 121 f. Zur Karlsrezeption im Norden auch GOERLITZ: Karl der Große (wie Anm. 167). 203 In wesentlichen Zügen schon dargelegt bei HANS BARON: The Crisis of the Early Renaissance. Civic humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny (21966), 74 f., 267 f., 424–429; CIPRIANI: Mito etrusco (wie Anm. 200), 8–11; MUHLACK: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 98 f.; DERS.: Humanistische Historiographie (wie Anm. 76), 15 f., sowie besonders IANZITI: Bruni first modern Historian? (wie Anm. 95), 95–97. Vgl. in breiterem Kontext KATRIN MAYER/HERFRIED MÜNKLER: Die Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten, in: MÜNKLER/GRÜNBERGER/MAYER (Hg.): Nationenbildung (wie Anm. 16), 75–162, bes. 116–129 zu Salutati und Loschi. 204 Zur Geschichte und Kritik dieser Etikettierung siehe IANZITI: Bruni first modern Historian? (wie Anm. 95). Sein Ergebnis: Bruni ist weder der erste moderne noch der letzte mittelalterliche Historiker, sondern genuin „a Renaissance historian whose innovations reflect the context of political and social transformations that characterized early Quattrocento Florence“; ebd. 98. 205 Aus der regen Forschung über HANS BARON und dem ‘civic humanism’ zuletzt: Renaissance Civic Humanism. Reappraisals and Reflections, hg. von JAMES HANKINS, Cambridge u.a. 2000, mit Literatur.

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Mischverfassung, die Tugenden der Bürger in egalitärer Kompetition freisetzt und damit immer wieder einen „Gleichgewichtszustand“ (Muhlack) erzielt. Ein Staat als Kunstwerk. Bruni stellt die Stadt damit in eine weit, bis an die Anfänge, zurückreichende Kontinuität republikanischer, niemals monarchischer Tradition. Edel gegründet von den Römern, also durchaus von außen, aber nicht von Caesar, dem Tyrannen, nicht von den Caesares, Tiberii, Nerones – pestes atque exitia rei publicae, die per summum scelus rem publicam adorti (sunt), sondern – hier folgte er Salutati – in den Zeiten der römischen Republik, unter Sulla, derjenigen Zeit, in der populi Romani imperium maxime florebat. Damals besaß Rom bereits sein Weltreich, lebte aber zugleich noch in einer libertas sancta und inconcussa.206 Römische Tradition und Freiheitspathos legitimieren nicht nur den eigenen Herrschaftsanspruch der Stadt über ihr toscanisches dominium und darüber hinaus, sondern erheben sie auch zum Vorkämpfer der Freiheit ganz Italiens. Dessen Einwohner, so Brunis berühmtes Dictum, besitzen zwei patriae: ihr eigenes und Florenz.207 Erst in der ‚Historia populi Florentini‘ (1416–1444) verband Bruni die Aufwertung der römischen Republik als Ursprung der sullanischen Stadtgründung208 und einer ‘republikanischen’ Freiheitstradition der Stadt einerseits, mit protorömischen, also autochthonen Wurzeln andererseits. Diese entdeckte Bruni im Etruskertum. Villani und Salutati waren ihm hier nur vorsichtig vorangegangen, wie er stark unter livianischem Einfluß.209 Die neue Botschaft des Florentiner Historikers lautete: Schon die alten Etrusker hatten ein mäch206

Laudatio Florentinae urbis, in: Opere letterarie e politiche di Leonardo Bruni, hg. von PAOLO VITI (Classici Latini Utet), Turin 1996, 600. Ein Vergleich mit der älteren kommunalen Geschichtsschreibung der Villani usw. ist unabdingbar; siehe zuletzt JÖRG W. BUSCH: Die vorhumanistischen Laiengeschichtsschreiber in den oberitalienischen Kommunen und ihre Vorstellungen vom Ursprung der eigenen Heimat, in: HELMRATH/MUHLACK/WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus (wie Anm. 1), 35–54. Zur imperialen Herrschaftsterminologie von Florenz im 15. Jahrhunderts ALISON BROWN: The Language of Empire, in: Florentine Tuscany. Structures and Practices of Power, hg. von WILLIAM J. CONNELL/ANDREA ZORZI, Cambridge 2000, 32–47. 207 Nec ullus est etiam in universa Italia, qui non duplicem patriam se habere arbitratur: privatim propriam unusquisque suam, publice autem florentinam urbem. Es quo quidam fit, ut hec communis quedem sit patria et totius Italiane certissimus asilum; Bruni: Laudatio, hg. von VITI (wie Anm. 206), 616. 208 Sein Geschichtswerk beginnt mit dem Satz: Florentinam urbem Romani condidere a Lucio Sylla Faesulas deducti; Leonardo Bruni: History of the Florentine People, Vol. 1: Books I–IV, hg. und ins Engl. übersetzt von JAMES HANKINS (The I Tatti Renaissance Library), London 2001, 8. Zum Werk URSULA JAITNER-HAHNER, in: REINHARDT (Hg.), Hauptwerke (wie Anm. 5), 65–68, sowie die Literatur in Anm. 201 und 203. 209 CIPRIANI: Mito etrusco (wie Anm. 200), 2 f.; COCHRANE: Historians (wie Anm. 1), 8 wäre insofern geringfügig zu modifizieren: Bruni „was the first to evaluate positively the ancient Etruscans“ und zugleich „the first – at least since Tacitus – to evaluate the Roman Empire negatively, ... to portray the principate as the death blow ... of the republic.“

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tiges Reich, dabei eine Tradition kommunaler Städtefreiheit und eine blühende Kultur und Priesterreligion – ehe die Römer kamen, die dann ihre Entfaltung lähmten: priusquam Romani rerum potirentur beziehungsweise wenig später: ante Romanum quidem imperium longe maximas totius Italiae opes maximamque potentiam ac prae ceteris vel bello vel pace inclitum nomen Etruscorum fuisse, inter omnes antiquissimos rerum scriptores haud ambigue constat.210

Bruni schildert dann die Siege der Etrusker gegen die Römer, die sich nicht selten unlauterer Mittel bedienen mußten, doch wirken die Römerkriege etruskischerseits letztlich eher wie Kavalierskämpfe. Gegen die barbarischen Gallier aus dem Norden hingegen – hier spielt das von aktueller Politik bedingte Franzosenbild hinein – kämpften sie erbitterter.211 Für die am Ende doch siegreichen Römer werden die Etrusker dann auf vielfältigste Weise zu überlegenen Kulturbringern. Das Modell war von Livius angeregt, der die Imitatio etruskischer Elemente in Religion und Verfassung Roms durchaus herausgestellt hatte .212 Dessen Römerperspektive wird bei Bruni in die Etrusker-, sprich: Florentiner Perspektive umgedreht und insofern – obwohl Livius die Leitquelle und der antike Modellautor bleibt – dekonstruiert.213 Diese Per210

BRUNI: Historia I.11 und 13, hg. von HANKINS (wie Anm. 207), Bd. 1, 18, Z. 2, 15–18. BRUNI: Historia I.19, hg. von HANKINS (wie Anm. 207), Bd. 1, 24: Enim vero longe alia ratione cum Romanis, quam cum Gallis agebatur. Nam adversus barbaras illas et efferatas gentes implacabile bellum fuit Etruscis. Cum Romanis vero non odio neque acerbitate unquam pugnatum, plus etiam amicitiae quam belli interdum fuit. Siehe MAISSEN: Von der Legende zum Modell (wie Anm. 196), 47. – Bruni beschreibt ausführlich die Geschichte der Etrusker und ihrer Kämpfe gegen Rom; Historia I.13–37, hg. von HANKINS (wie Anm. 207), Bd. 1, 18–49. – MAISSEN und GILLI haben die Frankreichbilder in der gelehrten Kultur Italiens und die bedeutende Rolle von Gallophobie und Gallophilie für die lokalen Traditionen italienischer Stadtstaaten (Florenz, Siena, Mailand etc.) und ihre politischen Umprägungen aufgewiesen. MAISSEN: Von der Legende zum Modell (wie Anm. 196); PATRICK GILLI: Au miroir du humanisme. Les représentations de la France dans la culture savante italienne à la fin du Moyen-Âge (ca. 1360–1490) (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 296), Rom 1997, hier 36–54 zu Salutati und Bruni. 212 Nec imperii tantum insignia, ceterumque augustiorem habitum sumpserunt ab Etruscis, verum etiam litteras disciplinamque. Auctores habere se Livius scribit, ut postea Romanos pueros graecis, ita prius etruscis litteris vulgo erudiri solitos … Haec et huiusmodi inde sumpta probare mihi videntur, Romanos etruscam gentem cum observantia quadam admiratos, a qua et ornamenta imperii et deorum cultum ac disciplinam litterarum, tria maxima et praestantissima, sibi publice privatimque imitanda receperint; Bruni: Historia I.20, hg. von HANKINS (wie Anm. 207), Bd. 1, 26. Vgl. Livius: Ab urbe condita 1.2: Tanta opibus Etruria erat et iam non terras solum, sed mare etiam per totam longitudinem ab Alpibus ad fretum Siculum fama nominis sui impleret; ebd. 5,33: Tuscorum ante Romanorum imperium late terra marique opes patuere. Eine Geschichte der Livius-Rezeption in der vorhumanistischen Stadtchronistik und in der humanistischen Historiographie seit Petrarca steht noch aus. 213 Insofern kann mit IANZITI von „Bruni’s deconstruction of Livy’s narrative“ gesprochen werden, doch wird das Argument dort überzogen. 211

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spektive diente vor allem der autonomen Letztbegründung des modernen, zu einer italischen Vormacht aufsteigenden florentinischen Staates und seiner Politie. Den letzten Schritt vollzog Bruni in seiner Totenrede auf den Florentiner Feldherrn Nanni Strozzi (1428), die sich an den Epitaphios des Perikles bei Thukydides anlehnt: er entfaltet das Modell einer Stammes- und Kulturfusion:214 Zur Gründung von Florenz kamen die beiden vornehmsten Stämme Altitaliens, Etrusker und Römer, in einer produktiven Mischung zusammen: Ad cuius civitatis due nobilissime ac prestantissime totius Italie gentes coierunt, nämlich die Tusci veteres Italiae dominatores, et Romani, qui terrarum omnium virtute sibi et armis imperium pepererunt. Est enim civitas nostra Romanorum colonia veteribus Tuscorum habitatoribus permixta.215

Damit erschien Florenz, als Produkt dieser Stammes- und Kulturverbindung, als kulturelle und politische (Freiheits-)Vormacht auch des aktuellen Italiens legitimiert. Die Etrusker blieben seither präsent, etwa in der ‚Italia illustrata‘ des Flavio Biondo. Nicht nur die Geschichtsschreibung, auch das antiquarischarchäologische Interesse wandte sich ihnen zu. Selbst hier bewirkte Annius von Viterbo am Papsthof einen wesentlichen Schub, indem er für seine Heimatstadt Viterbo prestigefördernd gefälschte ‘Überreste’ zutage förderte, Genealogien auch der Etruskerkönige lieferte, Noe mit Janus, dem mythischen Gott Italiens, gleichsetzte und sogar für das biblische Kittim eine neue Bedeutung suggerierte: quam nunc Italiam vocamus.216 Die Glorifizierung der Etrusker fand sogar Eingang in die Renaissancearchitektur: Leon Battista Alberti, der zunächst auf die etruskischen Inschriften in der Toscana aufmerksam wurde, konstruierte, Vitruv weiterführend, im Traktat ‚De re aedificatoria‘ (VIII.4) einen „etruskischen“ Tempel.217 Um 214

Zum Text: BARON: Crisis (wie Anm. 203), 412–439, bes. 415 f.; JOHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory and the Cultural Ideals of Italian Humanism, Chapel Hill/ London 1989, 23 f, 41, 95–97; SUSANNE DAUB: Leonardo Brunis Rede auf Nanni Strozzi (Beiträge zur Altertumskunde 84), Stuttgart 1996, bes. 143–149, hier auch die jüngste, reich kommentierte Edition (241–350). Vgl. auch CLEMENS ZINTZEN: Leonardo Bruni und Thukydides. Bemerkungen zur Leichenrede des Leonardo Bruni auf Johannes Strozzi, in: Come l’uomo s’eterna. Beiträge zur Literatur-, Sprach-, und Kunstgeschichte Italiens und der Romania. Festschrift Ernst Loos zum 80. Geburtstag, hg. von GIULIANO STACCIOLI u.a., Berlin 1994, 313–326. 215 Oratio in funere Nanni Strozzae, in: Opere Bruni, hg. von VITI (wie Anm. 206), 714; Brunis Rede, hg. von DAUB (wie Anm. 214), 283f., hier kann von einer LiviusDekonstruktion keineswegs mehr gesprochen werden. IANZITI: Bruni first modern Historian? (wie Anm. 94), berücksichtigt Brunis Rede auf Strozzi nicht. 216 Annius: Commentaria … de antiquitatibus (wie Anm. 105), liber III, 112. 217 Vgl. Vitruv: De architectura III 3.5. Dazu GEORGE W. HERSEY: Alberti e il tempio etrusco. Postille a Richard Krautheimer, in: Leon Battista Alberti (Citta di Mantova, Centro

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1470, bei Planung und Bau seines Spätwerks, der Kirche Sant’ Andrea in Mantua, setzte er dessen Prinzipien zum Teil um, wobei er auch auf die lokale Etruskertradition der Stadt Mantua rekurrierte.218 In der Toscana selbst bauten die Großherzöge der Medici im 16. und 17. Jahrhundert auf der Tradition eines Bruni auf und pflegten gezielt ein regionaldynastisches Toscana-Bewußtsein, indem sie immer wieder an die Etrusker erinnern ließen. Der Etruscismo des 18. Jahrhunderts bestand aus einer wissenschaftlich-archäologischen – 1723/24 wurde in Florenz das schon 1616– 1619 im Auftrag Cosimos II. de’ Medici entstandene Tafelwerk des Schotten Thomas Dempster († 1625) ‚De Etruria regali libri VII‘ veröffentlicht – und einer gesamtitalisch – romantischen Komponente; er leitete unmittelbar in das Risorgimento hinüber.219 Die Etrusker, so darf man resümieren, dienten als politische wie antiquarische Frühprojektion auf unterschiedlichen Identitäts-Ebenen: der Stadt (das Florenz Brunis), geweitet in Gestalt ihres Contado zur Region Toscana, schließlich einer protonationalen italienischen Gesamtheit. Unter Mobilisierung neu entdeckter (Aelius Aristides) und bekannter (Livius) antiker Texte wurden Traditionen kommunaler Geschichtsschreibung umgeprägt im Sinne einer protorömischen politischen wie kulturellen Autochthonie, die den neuen Herrschaftsanspruch der Stadt mitbegründete.

VI. Resümee Ausgehend von Käse- und Liebeslandschaften versuchte dieser tour d’horizon – mehr konnte es nicht sein – einen Problemaufriß, der sich über die Landesbeschreibung zu Grundfragen des Humanismus weitete (Teil I–II). Internazionale D’Arte e di Cultura Di Palazzo Te), hg. von JOSEPH RYKWERT/ANNE ENGEL, Mantua 1994, 216–223, bes. 221 f.; ANTHONY GRAFTON: Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin 2002, 338–343, 419–421, 465 f. 218 Herzog Ludovico Gonzaga kündigte er das Projekt als etruscum sacrum im Oktober 1470 an; HERSEY: Alberti e il tempio etrusco (wie Anm. 217), 221 f. mit Anm. 27 (Literatur); erwähnt schon bei RUDOLF WITTKOWER: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, München 1969, 144, Anm. 24 (auch als dtv 4412, 1983; zuerst engl. 1949). Zu Sant’ Andrea statt einer Fülle von Literatur: UDO KULTERMANN: Alberti’s S. Andrea in Mantua. The Prototype of a Renaissance Church, in: Pantheon 42 (1984), 107–113, bes. 108 f. zum etruskischen Planungselement und zur Etruskertradition des Orts. Weitere Etruscica in Kunst und Architektur, etwa die Porticus der Medici-Villa in Poggio a Caiano, wären systematisch zu sichten. 219 CIPRIANI: Mito etrusco (wie Anm. 200); FRIEDRICH WOLFZETTEL/PETER IHERING: Der föderale Traum: Nationale Ursprungsmythen in Italien zwischen Aufklärung und Romantik, in: BERDING (Hg.): Nationales Bewußtsein (wie Anm. 16), 443–483, zum politisch-antiquarischen ‘revival etrusco’ des 18. und 19. Jahrhunderts bes. 444–468, zu Dempster ebd. 444 f.; Archäologie der Antike (wie Anm. 83), 56.

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Amor als Topograph, wie er bei Celtis begegnete, war zugleich Zeichen wachsender Liebe der Autoren zur Topographie und ihrer ekphrastischen wie enkomiastischen Nutzung in Diskursen der Gegenwart. Die teils eingebunden in den Plan einer ‘Germania illustrata’, teils unabhängig davon entstandenen Landesbeschreibungen deutscher Humanisten wurden in einer vorläufigen Bestandsaufnahme vorgestellt (Teil III). Diese descriptiones arbeiten aus der breiten thematischen und gattungsreferenziellen Oszillationsskala der Celtisschen ‚Amores‘ vor allem einen Aspekt, den landeskundlichen, besonders heraus. Zu beobachten war die sowohl inventarisierende wie rhetorische Anwendung steigenden geographischen Antikewissens, Enkomiastik in der Melangezone von regionalem und nationalem Patriotismus, persönliche Autopsie, landesherlich-dynastisches Interesse. Als eine der Grundfragen dieser Texte wie der zeitgenössischen Kulturierungsdiskussion überhaupt erwies sich die Frage nach der Origo, verbunden mit dem Postulat proto- oder nichtrömischer Autochthonie, als Konstruktion nationaler Kultur (Teil IV). Sie durchzieht ebenso die nationalen Geschichtswerke jener Italiener, die im Auftrag der europäischen Höfe neue, klassische Nationalgeschichten schrieben (Teil V) wie in Gestalt Leonardo Brunis prototypisch regionaler Geschichtsschreibung von Florenz/Toscana (Teil VI). Die nächste Aufgabe ist die schwierigere: eine systematische und vergleichende Analyse der Texte.220

220

Sie sollen künftig im Rahmen des Berliner SFB 644 „Transformationen der Antike“ bearbeitet werden.

IX.

Pius II. und die Türken* Enea Silvio Piccolomini/Pius II. (1405–1464) und die Türken: Man sieht die Lebensbilder in der Libreria Piccolomini des Doms von Siena vor sich, wo Pinturicchio acht Höhepunkte der Karriere wie farbleuchtende Wachträume gemalt hat.1 Zwei von ihnen haben zentral mit den Türken zu tun, das sechste, der Kongreß von Mantua 1459 als Großereignis des Pontifikats, und das letzte, der Einzug in Ancona 1464, wo Pius II. – eine Zypresse deutet es an –, angesichts der hier im Bildhintergrund schon ansegelnden Kreuzzugsflotte starb. Auf beiden Bildern sehen den Betrachter im Vordergrund auch ein beziehungsweise zwei malerische Turbanträger an, vermutlich Gesandte verbündeter Turkstaaten aus Kleinasien, die der Papst gegen den gemeinsamen Feind, die Osmanen unter Mehmed II. mobilisieren wollte. Die Türken, der Kreuzzug – ein Lebensthema, das Todesthema des Enea Silvio. James Hankins nennt ihn noch jüngst in seiner wichtigen Studie ‚Renaissance crusaders‘ „the greatest crusader pope of the fifteenth century“.2 Der Ruf des einzigartigen Kämpfers gegen die * Zuerst in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von: B ODO GUTHMÜLLER/ W ILLHELM KÜHLMANN (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, 79–137. 1 SALVATORE SETTIS/DONATELLA T ORACCA (Hg.): La Libreria Piccolomini nel Duomo di Siena. The Piccolomini Library at Siena Cathedral, with texts by Alessandro Angelini et al. (Mirabilia Italiae 7), Modena 1998. Nicht gesehen habe ich GYDE V. SHEPERD: A Monument to Pope Pius II. Pinturicchio and Raphael in the Piccolomini Library in Siena, 1494–1509, Phil. Diss., Harvard-University 1993. Für einen breiteren Leserkreis verfaßt: ELSE HOCKS: Pius II. und der Halbmond, Freiburg im Breisgau 1941, zu den Fresken 2–12. Für den gesamten Beitrag grundlegend: KENNETH M. SETTON: The Papacy and the Levant (1204–1571), 2 Bde., Philadelphia 1976–1978, zitiert: SETTON. Die wichtigsten Sammelbände zu Pius II.: Enea Silvio Piccolomini. Papa Pio II. Atti del Convegno per il quinto Centenario della morte e altri scritti raccolti da DOMENICO MAFFEI, Siena 1968; Pio II e la cultura del suo tempo. Atti del primo convegno internazionale 1989 (Istituto di Studi Umanistici F. Petrarca. Mentis Itinerarium), hg. von LUISA R. S. T ARUGI, Mailand 1991. 2 J AMES HANKINS: Renaissance Crusaders. Humanist Crusade Literature in the Age of Mehmed II., in: Dumbarton Oaks Papers 49 (1995), 111–207, mit Edition von elf Texten, Zitat 129 f.; im Folgenden zitiert: Hankins. Daß ‘Germanica non leguntur’ bestätigt leider auch HANKINS; es fehlen v.a. die Arbeiten von M EUTHEN (s.u. Anm. 35), MÜLLER und MERTENS, wie unten. – Besonders plastisch ARNOLD ESCH: Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II. Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von H ARTMUT B OOCKMANN/BERND MOELLER/KARL STACKMANN (Abhandlungen der Akadademie der Wissenschaften in

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türkische Expansion prägte bereits sein Bild in der älteren Literatur. Fuit nemo omnium, schrieb 1541 Nikolaus Wimann, cui ea tum res (sc. der Fall Konstantinopels) magis esset cordi, cuius animum vehementius pungerent Graecorum calamitates, quam huius Pontificis.3 Warum galt dies gerade für ihn, den 1406 in Corsignano bei Siena Geborenen, der ab 1432 auf dem Basler Konzil europäisches Parkett erreichte, zwanzig Jahre in Deutschland als Politiker und Literat („Vater des Humanismus“) wirkte, 1455 nach Italien zurückkehrte, dort in atemberaubendem Tempo Kardinal und Papst wurde? Spielte die adlige Familientradition der Piccolomini motivierend mit? Man kann es allenfalls vermuten. Das Familienwappen mit den fünf goldenen Halbmonden war angeblich Vorfahren verliehen worden, die 1218 auf dem 5. Kreuzzug am Sturm auf Damiette teilgenommen haben sollen.4

Göttingen. Philolosophisch-historische Klasse 3/179), Göttingen 1989, 112–140, bes. 118–125. – Zum Thema Humanismus und Türken vor HANKINS grundlegend ROBERT SCHWOEBEL: The Shadow of the Crescent. The Renaissance Image of the Turk (1453– 1517), Nieuwkoop 1967, zu Pius II. 57–81 mit klarsichtigen Urteilen. Ferner ANNA M. CAVALLARIN: L’umanesimo e i Turchi, in: Lettere Italiane 32 (1980), 54–74, zu Pius II. 58–60; LUDWIG SCHMUGGE: Die Kreuzzüge aus der Sicht humanistischer Geschichtsschreiber (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel 21), Basel/ Frankfurt am Main 1987, zu Enea Silvio 24; ROBERT B LACK: Benedetto Accolti and the Florentine Renaissance, Cambridge u.a. 1985, zu Enea Silvio 232–239; J ERRY H. BENTLEY: Politics and culture in Renaissance Naples, Princeton 1987, 161–182 und s.v.; D IETER MERTENS: Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von HEINZ DUCHHARDT, Köln/Wien 1991, 45–90; HERIBERT MÜLLER: Kreuzzugspläne und Kreuzzugspolitik des Herzogs Philipp des Guten von Burgund (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 51), Göttingen 1993; P ATRICK G ILLI: Au miroir du humanisme. Les représentations de la France dans la culture savante italienne à la fin du Moyen-Age (ca. 1360–1490) (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome fasc. 296), Rom 1997, zu Pius II. passim. Zum Türkenbild mit Einbezug neuer Texte DANIELA R ANDO: Fra Vienna e Roma. Johannes Hinderbach testimone della questione turca, in: RR. Roma nel Rinascimento. Bibliografia e note 1997, Rom 1997, 293–317. [Siehe auch Anm. 25. Aus der breiten, seit 2000 erschienenen Literatur sei genannt: MARGARET MESERVE: Empires of Islam in Renaissance Historical Thought (Harvard Historical Studies 158), Cambridge/Mass. 2008.] 3 Syncretismus sive conspiratio nobilis Germaniae [...] contra impiam atque efferam immanissimi Turcae tyrannidem, Köln 1541, 112. Das Thema stieß seit den Anfängen einer Piccolomini-Forschung auf Interesse: OTTO VON HEINEMANN: Aeneas Sylvius als Prediger eines allgemeinen Kreuzzuges gegen die Türken, Schulprogramm Bernburg 1855. 4 So ALFRED A. STRNAD: Piccolomini, in: Die großen Familien Italiens, hg. von VOLKER REINHARDT, Stuttgart 1992, 422–426, ebd. 422. Vgl. LAETO M. V EIT: Pensiero e vita religiosa di Enea Silvio Piccolomini prima della sua consecrazione episcopale (Analecta Gregoriana 139B/23), Rom 1964, 12–22; CURZIO U. DELLA B ERARDENGA: Pio II Piccolo-

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Dem Interesse an der reichen Persönlichkeit des Piccolomini kann man sich kaum entziehen, die Personalisierung soll aber allgemeine Grundfragen nicht überlagern, zu denen hier einige Beobachtungen mitgeteilt werden. ‘Der Kreuzzug’ hatte im christlichen Westen bekanntlich nach 1291 weder militärisch, noch als stetig reaktivierte Idee aufgehört zu bestehen, die eingebettet war in die Tradition mittelalterlicher Islam-Wahrnehmungen des Westens.5 Die Initiative und Führung lag im Prinzip bei den Universalgewalten Papst und Kaiser; wegen der wesentlich ‘fränkisch’-französisch geprägten Ägide der klassischen ‘croisades’ kam auch dem König von Frankreich eine Sonderstellung zu. Mehr und mehr fielen mit Fortschreiten der osmanischen Expansion ‘Kreuzzug’ und ‘Türkenkrieg’ begrifflich und sachlich zusammen. Die einzigen Feldzüge größeren Stils, als kollektive europäische Adelsunternehmen, hatten freilich in den Katastrophen von Nikopolis 13966 und Varna 14447 geendet. Nur auf den ersten Blick könnte es verwundern, daß ein Humanistenpapst wie Aeneas/Pius den Kreuzzug, etwas scheinbar genuin ‘Mittelalterliches’, kultivierte. Stattdessen stellt man rasch fest, daß gerade Kreuzzug und Türkenkrieg sehr viele Humanisten intensiv beschäftigt haben. Dabei weist ‘Humanismus’ als gezielte Pflege der fünf Humaniora – hier ist Hankins zuzustimmen – prinzipiell ebensowenig zwingend auf Affinität zum Kreuzzugsideal, wie es umgekehrt der Fall ist.

mini con notizie su Pio III e altri membri della famiglia (Biblioteca dell’ Archivio storico italiano 18), Florenz 1973, 1–29, kein Hinweis auf das Wappen. 5 R ICHARD W. SOUTHERN: Das Islambild des Mittelalters, Stuttgart u.a. 1981 (engl. 1962); zuletzt J OHN V. TOLAN (Hg.): Medieval Christian Perceptions of Islam. A Book of Essays (Garland medieval Casebooks 10), New York/London 1996, mit reicher Bibliographie. Nicht gesehen habe ich: Chrétiens et Musulmans à la Renaissance, hg. von B ARTHOLOME B ENNASAR/ROBERT SAUZET (Le savoir de Mantice 3), Paris 1998. 6 SETTON (wie Anm. 1), Bd. 1, 327–369; für die gesamte Thematik wichtig: NORMAN HOUSLEY: The Later Crusades 1274–1580. From Lyons to Alcazar 1274–1580, Oxford 1992, 76–81, 520 s.v. Speziell: Nicopolis, 1396–1996. Colloque international Dijon 1996 (Annales du Bourgogne 68), Dijon 1997. 7 FRANZ B ABINGER: Mehmed der Eroberer und seine Zeit, München 1953 ( 21959, ND als Taschenbuch München 1987), 33–42; Engl. Übersetzung, gegenüber der deutschen Ausgabe mit Anmerkungen: Mehmed the Conqueror and his time. Übers. von RALPH MANHEIM, hg. und mit einem Vorwort versehen von WILLIAM C. HICKMAN, Princeton 1978 (Bollingen Series 96), 29–40; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 82–107; MARTIN CHASIN: The Crusade of Varna, in: A History of the Crusades, hg. von KENNETH M. SETTON, Bd. 6: The Impact of the Crusades on Europe, hg. von HARRY W. H AZARD/ N OR MAN P. ZACOUR , Madison 1989, 276–310; H OUSLEY: Later Crusades (wie Anm. 6), 88– 90, 527 s.v. Vgl. R INO AVESANI: Sulla battaglia di Varna nel ,De Europa‘ di Pio II: Battista Franchii e il cardinale Francesco Piccolomini, in: Convegno storico Piccolominiano (Ancona, 9 maggio 1965) (Deputazione di storia patria per le marche. Atti e memorie serie VIII, vol. 4, fasc. 2/1964–1965), Ancona 1966, 85–103.

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Pius’ II. vereinigte allerdings – und das hebt ihn aus den meisten seiner ‘conhumanistae’ heraus –, in einzigartiger Weise den Humanismus mit dem Papsttum. Mochte er in seinen reiferen Jahren den amores ihr ‘a’ abgebüßt und sie zu mores gewandelt haben, Humanist blieb er über die stilisierte Lebenswende vom Aeneas zum Pius hinaus, auch als Bischof und Papst. Als Papst kam das Problem Türken-Kreuzzug ex officio auf ihn zu, und er machte ihn wirklich noch am Tag seiner Wahl zum Programm.8 Als Pius II. spielte er in bewußter Lebensgestaltung zugleich die Rolle der kreuzzugsführenden Universalgewalt, des Monarchen einer italienischen Mittelmacht, des professionellen Politikers sowie des weiterhin stetig produktiven Autors und – schon lange vor Pontifikatsantritt – des berühmten Rhetors. Es ist diese Synthese, die ihn gerade nicht im Sinne Burckhardts zum „Normalmenschen“ der Renaissance machte, die ihn auch vom ersten Humanistenpapst Tommaso Parentucelli/Nikolaus V. (1447–55) unterscheidet, und die jede einsträngige Deutung von Person, Politik und Opera ausschließt.

8 Zu Pius II. als Kreuzzugsorganisator, soweit nicht in Anm. 2 bis 5: GEORG VOIGT: Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius der Zweite und sein Zeitalter, 3 Bde., Berlin 1856–1862–1863 (ND Berlin 1967), Bd. 3, 30–109, 640–724; LUDWIG VON P ASTOR: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 8-91925, 39–81, 220–289; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 196–270; HOUSLEY: Later Crusades (wie Anm. 6), 522 s.v. Nicht gesehen habe ich CHRISTOPHER G IDLOW: The Papal Call for a Crusade against the Ottoman after the Fall of Constantinopel in 1453, Phil. Diss., Oxford (o.J.); RIGOMERA EYSSER: Papst Pius II. und der Kreuzzug gegen die Türken, in: Mélanges d’Histoire Générale, hg. von CONSTANTIN M ARINESCO (Université de Cluj. Publications de l’Institut d’histoire générale de l’Université de Cluj 2), Cluj/Klausenburg 1938, 1–134; HOCKS: Pius II. und der Halbmond (wie Anm. 1), passim; G IOACCHINO P APARELLI: Enea Silvio Piccolomini (Pio II). L’umanesimo sul soglio di Pietro (Pleiadi. Collana di ricerche monografiche e antologiche 5), Bari 1950 (21978), gute Biographie; J OHN B. MORRALL: Pius II. Humanist and Crusader, in: History Today 8 (1958), 27–37; ATANASIO MATANIC: L’idea e l’attività per la crociata anti-turca del papa Pio II (1458– 64), in: Studi Francescani 61 (1964), 362–394 (besonders Bosnien im Blick); GERHARD P FEIFFER: Studien zur Frühphase des europäischen Philhellenismus (1453–1750), Phil. Diss., Erlangen/Nürnberg 1968, 56–59; B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 232–239, 249– 259; P IA P ALLADINO: Pio II e la crociata nella cattedrale di Pienza, in: La Val d’Orcia nel medioevo e nei primo secoli dell’età moderna. Atti del Convegno internaz. di studi storici Pienza, 15–18 sett. 1988, hg. von ALFIO CORTONESI, Rom 1990, 333–348; NICOLA CASELLA: Pio II, leader dell’occidente cristiano, in: Umanesimo a Siena. Letteratura, arti figurative, musica, hg. von E LISABETTA C IONI/D ANIELA FAUSTI, Siena 1994, 219–227; HANKINS (wie Anm. 2), 128–130 und passim.

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Fragestellungen Im Folgenden sollen der literarische und der politische Aspekt des Themas untersucht werden, und zwar ohne strikte Trennung, die von der Sache nicht möglich ist. Der „publizistisch-literarische Bereich“ war, wie vor allem Dieter Mertens gezeigt hat, bedeutsam zwar als „eine Größe sui generis“, ... die aber die Politik nicht ignorieren konnte“:9 1) Der literarische Aspekt: Mit welchen genuinen Mitteln befaßte sich Pius II. als Humanist mit dem europäischen Thema Türken und Kreuzzug? Seine Ausführungen sind hier eingebettet in gängige Ansichten, topische Kontinuitäten, die auch von anderen Humanisten und nicht nur von ihnen gepflegt, reaktiviert oder – mit säkularisierender Gesamttendenz? – fortentwickelt wurden. Auch wenn ein Überblick über das gesamte Œuvre Eneas hier nicht möglich ist,10 darf mit Blick auf die jüngere Forschung wohl vorweg gesagt werden, daß kein Autor in einer so prägenden Intensität wie Aeneas/Pius für Bündelung und Verbreitung der Kreuzzugs- als Türkenkriegsthematik und ihrer Elemente verantwortlich war. Dies betraf nicht nur das Türken(feind)bild und seine Facetten, sondern auch die argumentative Kriegslegitimation, die Verdeutlichung der Interdependenz von europäischem Frieden und Türkenkrieg, die Mobilisierung von altem Kreuzzugsnimbus und von ‘nationalen’ Ruhmestraditionen der einzelnen Dynastien und Völkern. Es geht dabei im weiteren Rahmen auch um die Genese einer Feindbildsemantik des Europäers, von Fremdwahrnehmung,11 und damit um ein kleines Stück Arbeit an jener „archéologie du savoir humaniste“ (Gilli), an der noch viel zu tun ist. 2) Der politische Aspekt: Die politisch-rhetorische Praxis des Piccolomini als kaiserlicher Gesandter und als Papst ist zu betrachten. Welche ‘Wirkung’ besaß politische Oratorik? Dabei steht die Frage im Hintergrund, wie die zugleich triviale und irritierende Tatsache zu erklären ist, daß alle Kreuzzugs- und Türkenkriegsbemühungen der Zeitgenossen, allen voran Pius’ II., nicht zu den erwünschten Aktionen führten. Sind dafür Kriterien und Motive von auswärtiger Politik beziehungsweise von deren Wahrnehmung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auszumachen? Eine Frage, die sich gerade mit Blick auf die Persönlichkeit Pius’ II. zur 9

MERTENS: Friede (wie Anm. 2), 54 und passim; s. ferner die Titel in Anm. 2. Den kompetentesten Überblick bietet FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. Piccolomini, Aeneas Silvius (Papst Pius II.), in: Verfasserlexikon 7 (21989), 634–669. 11 Ich nenne nur: HERFRIED MÜNKLER/W ERNER RÖCKE: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde im Mittelalter. Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Die Herausforderung durch das Fremde (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen 5), hg. von HERFRIED MÜNKLER unter Mitarbeit von KARIN MEßLINGER/ B ERND LUDWIG, Berlin 1998, 701–767, reiche Literaturangaben 759–766. 10

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Frage nach dem Verhältnis von ‘Vision’ und ‘Realismus’ zuspitzen müßte. Immerhin hatte er in den Illusionsraum des Traums, des ‘somnium’, zeitüblich zwei seiner Werke gestellt.12 Schon Remo Ceserani hatte in einer trefflichen biographischen Skizze eine doppelte Neigung Pius’ als „unione dialettica e feconda ... di realismo e idealismo“ charakterisiert, die begleitet sei vom ebenso klarsichtigen wie melancholischen Bewußtsein „di un sempre possibile delusione“, und ein Wort Eneas aus der Zeit der Türkenreichstage geradezu zum Motto erklärt: non spero quod opto.13 Damit sollte wohl gesagt sein, daß er politische Wunschziele (als Inhalt des opto) nicht zum Inhalt seiner inneren Emotion (des spero) zu machen pflege. Ein wesentliches Bindeglied zwischen literarischem und politischem Komplex ist die Rhetorik. Bekanntlich bewirkten die Humanisten vielfach eine Neubelebung der öffentlichen Rede, bewirkte die Rhetorik der Renaissance auch eine Renaissance der (politischen) Rhetorik.14 Der Piccolo12 Den verbreiteten Brieftraktat ,Somnium de fortuna‘ an Prokop von Rabenstein (1444 Juni 26); hg. von W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. I, Bd. 1, Nr. 151, 343–353 und das Traktatfragment ,Dialogus de somnio‘ beziehungsweise ,De donatione Constantini‘ (1454, nach Mai); s. unten bei Anm. 38. Zum Traum bei Enea Silvio vgl. auch Enea Silvio Piccolomini. Texte, hg. von WIDMER (wie Anm. 13), 416–423. – Somnium war ein durchaus geläufiger Begriff für politische Fehleinschätzungen: Pius hatte zum Beispiel Gesandte an den französischen König (qui veluti somnia dicta nostra contempsit) geschickt, um ihn an sein Kreuzzugsversprechen zu erinnern, quamvis maiora eius fuere somnia, qui se uno anno victurum Angliam atque hispanicas contentiones pacaturum iactitavit; Commentarii XII 31, hg. von VAN HECK Bd. 2 (wie Anm. 62), 773; zitiert GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 206. Vgl. FRITZ SCHALK: Somnium und verwandte Wörter in den romanischen Sprachen, (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW. Geisteswiss. 32), Köln/Opladen 1955. 13 REMO CESERANI: Pio II (I Protagonisti della Storia universale 25), Bologna 1965, 186. Es ist der bekannte Brief an Leonardo Benvoglienti vom 5. Juli 1454. Der Kontext: Erwartungen, die Enea vom kommenden Frankfurter Reichstag hinsichtlich einer Türkenkriegsbereitschaft der deutschen Fürsten hege: Mallem tacere; mallem opinionem meam esse falsissimam ac mendacis quam veri prophete nomen. dicam tamen, quod meus presagit animus. non spero quod opto; nihil boni menti mee persuadere possum. ‘quare’ inquis? ‘quare’, inquam, ‘ego bene sperem?’ Christianitas nullum habet caput, cui parere omnes velint, neque summo sacerdoti neque imperatori, que sua sunt, dantur. Nulla reverentia, nulla obedientia est. tanquam ficta nomina picta capita sint, ita papam imperatoremque respicimus. suum queque civitas regem habet; Opera omnia (wie Anm. 19), 654– 658, Nr. 127, sowie in dem schönen Band von B ERTHE WIDMER: Enea Silvio Piccolomini Papst Pius II. Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, hg., übersetzt und biographisch eingeleitet von BERTHE W IDMER, Basel/Stuttgart 1960, 454–457, hier 454; künftig in Deutsche Reichstagsakten 19.2 Nr. 1,13. Vgl. dazu auch E YSSER: Pius II. (wie Anm. 8), 18 f.; GÖLLNER: Turcica (wie Anm. 25), Bd. 3, 39; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 152 f.; MÜLLER: Kreuzzugspläne (wie Anm. 2), 70 und 72. 14 Genannt seien hier nur HEINRICH F. P LETT: Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik, in: DERS. (Hg.): Renaissance-Rhetorik/Renaissance Rhetoric, Berlin/New York 1993, 1–20; J OHN MONFASANI: Humanism and Rhetoric, in: Renaissance Huma-

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minipapst darf als der bedeutendste und bekannteste Redner seiner Zeit, gewissermaßen als oratorische Existenz gelten, wobei er seine Redekunst als Mittel und Verkörperung der Politik stetig nutzte und auch seine Karriere nicht zum geringsten ihr verdankte. Daß sich um das Katastrophenjahr 1453 die ‘Türkenrede’ als besonderes oratorisches Genre herauszubilden begann,15 geht zu einem Teil auf ihn zurück. So darf man seinen und seiner humanistischen Mitstreiter weitverbreiteten Reden, Bullen und Traktaten wenigstens intentional Öffentlichkeitscharakter zumessen und jene Kriterien verwenden, die Winfried Schulze treffend für die Türkendiskussion des 16. Jahrhunderts angelegt hat: Sie habe erstens eine „informative“, zweitens eine „diskursive“ (gerade auf Reichstagen), drittens eine „propagandistische Funktion“ gehabt.16 nism. Foundations, Forms, and Legacy, hg. von ALBERT RABIL JR., Philadelphia 1988, Bd. 3, 171–235. Wichtig ist J OHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory and the Cultural Ideals of Italian Humanism, Chapel Hill/London 1989; sowie zuletzt DIETER MERTENS: Die Rede als institutionalisierte Kommunikation im Zeitalter des Humanismus, in: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation im Mittelalter, hg. von HEINZ DUCHHARDT/GERT MELVILLE (Norm und Struktur 2), Köln u.a. 1997, 401–421, – Ich greife für das Folgende u.a. auf Materialien aus meiner ungedruckten Kölner Habil.schrift (1994) zurück: J OHANNES HELMRATH: Reichstag und Rhetorik. Die Reden des Enea Silvio Piccolomini auf den Reichstagen 1454/55, 2 Bde.; sie wird für den Druck vorbereitet. Einige Aspekte sind weitergeführt in: Rhetorik und ‘Akademisierung’ auf den deutschen Reichstagen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, in: Im Spannungsfeld (wie oben), 423–445, sowie: Reden auf Reichsversammlungen im 15. und 16. Jahrhunderts, in: Licet preter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag, hg. von LOTTE KÉRY/DIETRICH LOHRMANN/HARALD MÜLLER, Aachen 1998, 266–286. 15 Dazu maßgeblich, mit Bedacht ein bekanntes Enea-Zitat als Titel wählend, DIETER MERTENS: ‘Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra...’. Zu Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert, in: Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, hg. von FRANZ R. ERKENS (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 20), Berlin 1997, 39–58 (wichtiger Sammelband); ebenso MERTENS: Rede (wie Anm. 14), 418–420; ferner HELMRATH: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 14), 17–27. Einen entscheidenden Fortschritt in der Jahrzehnte stagnierenden Forschung zu Überlieferung und Rezeption des Piccolomini leistete jüngst die germanistische Dissertation von P AUL J. W EINIG: Aeneam suscipite, Pium recipite. Aeneas Silvius Piccolomini. Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts (Gratia 33), Wiesbaden 1998. W EINIG geht den einzig sinnvollen Weg und untersucht systematisch Typ und inhaltliche Zusammensetzung der verfügbaren Miszellanhandschriften, mithin die Kontexte, in denen einzelne oder gesammelte Opera des Piccolomini überliefert sind. Eines der wichtigen Ergebnisse: ein durchbruchsartiger Anstieg der Rezeption hängt entscheidend mit dem als sensationell empfundenen und autoritätsverleihenden Antritt des Pontifikats (1458) zusammen. 16 W INFRIED SCHULZE: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978, 21–46. Zur Bedeutung des Türkenkriegs und des von ihm ausgehenden „Befriedungszwangs“ auch E BERHARD ISENMANN: Integrations- und Konsolidierungsprobleme

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Politische Oratorik will zunächst einmal mehr sein als Literatur. Das genus deliberativum/symbouleutikón – klassisch: die Rede vor einer politischen Versammlung – will ein Publikum in einer Entscheidungssituation zu einem bestimmten Handeln überreden, es aber zugleich mit Argumenten überzeugen. Diese Rationalität, untrennbar gemischt mit dem Affektiven, prägt auch die Türkenrede. Ihr wohnt zugleich viel vom genus demonstrativum, der Lob- und Werberede, inne.17 Denn es ging ja eigentlich nicht prinzipiell um ein Für oder Wider. Natürlich war jedermann ‘im Prinzip’ öffentlich für den Türkenkrieg. Eine andere Haltung ließ die political correctness des 15. Jahrhunderts kaum zu. Aber darüber, wann, von wem, wo, mit welcher Taktik der Krieg geführt und und vor allem wie er finanziert werden sollte, konnte man lange haranguieren und debattieren; auch ohne daß tatsächlich etwas geschah. Ein überregionaler Türkenzug fand bekanntlich nach 1444 nicht mehr statt. Dieses scheinbar schlagend evidente Mißverhältnis zwischen großem idealischem Redeaufwand und magerer politischer Folgeaktion wird in der Literatur jeglichen Datums unermüdlich konstatiert, ‘entlarvt’, kritisiert; ein weiterer Grund, die Frage nach Realismus und Illusion in der Politik zu stellen. Auszugehen ist in diesem Beitrag primär von den ‘Orationes’ des Aeneas/Pius, nur mäßig flankiert von den unschätzbaren Briefen.18 Fast alle Reden erstmals gesammelt ediert, hatte Mitte des 18. Jahrhunderts beder Reichsordnung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Europa 1500, hg. von FERDINAND SEIBT/W INFRIED EBERHARD, Stuttgart 1987, 115–149, ebd. 121–123; MERTENS: Friede (wie Anm. 2), passim; DERS.: Maximilian gekrönte Dichter über Krieg und Frieden, in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, hg. von FRANZJ OSEF W ORSTBROCK (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 13), Weinheim 1986, 105–124. 17 MERTENS: ‘Europa, id est patria’ (wie Anm. 15); DERS.: Rede (wie Anm. 14), 412. Vgl. HANKINS (WIE ANM. 2), 116: „imitation of classical deliberative oratory“. 18 Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, hg. von RUDOLF W OLKAN. I. Abt.: Briefe aus der Laienzeit (1431–1445) (Fontes rerum Austriacarum 61–62), 2 Bde., Wien 1909 (zitiert als W OLKAN Abt. I, Bd. 1 o. 2); II. Abt.: Briefe als Priester und als Bischof von Triest (1447–1450) (Fontes rerum Austriacarum 67), Wien 1912 (zitiert als W OLKAN Abt. II); III. Abt.: Briefe als Bischof von Siena, 1. Bd.: 23. Sept. 1450 – 1. Juni 1454, (Fontes rerum Austriacarum 68), Wien 1918 (mehr nicht erschienen) (zitiert als W OLKAN Abt. III, Bd. 1); Ergänzungen 1435–1464 hg. von CUGNONI (wie Anm. 38), 369–470 (63– 154); eine Fortsetzung der Edition WOLKANS in Berlin ist geplant; zahlreiche unedierte Briefe aus den Jahren 1454/55 demnächst in Deutsche Reichstagsakten 19.2 und 19.3. Die immer noch unzureichend ausgewerteten und auch in diesem Beitrag nur randhaft einbezogenen Kardinals- und Papstbriefe am geschlossensten in: Opera omnia (wie Anm. 19), 500–962, und in: CAESARIS CARD. B ARONII, Od. Raynaldi et Jac. Laderchii Annales ecclesiastici denuo excusi..., Bar-le Duc, 1876, Bd. 29, 139–416, sowie bei LUDWIG P ASTOR (Hg.): Ungedruckte Akten zur Geschichte der Päpste, vornehmlich im XV., XVI. und XVII. Jahrhundert, Bd. 1: 1376–1464, Freiburg im Breisgau 1904 (mehr nicht erschienen), Nr. 99–205.

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reits der Luccheser Bischof und Konzilscollector Giovanni Domenico Mansi,19 genau untersucht sind hingegen wenige. Ein grundsätzliches Quellenproblem von Reden überhaupt liegt darin, daß ihre Authentizität, die Frage, in welcher sprachlich-rhetorischen Form sie tatsächlich zum angegebenen Zeitpunkt und Anlaß in der Actio einem Publikum vorgetragen wurden, nicht immer eindeutig beantwortet werden kann.20 Das Corpus der Reden Pius’ II. liegt zum großen Teil in den noch von ihm selbst inaugurierten Orationessammlungen, aber auch nicht selten massenhaft, in Einzelüberlieferung vor.21 Zum Teil lassen sich mehrere Fassungen beziehungsweise Überarbeitungen der Texte nachweisen. Viele seiner Reden hat er in seine ‚Commentarii‘ ‘wörtlich’ inseriert. Andere, wie die berühmte Rede ‚Responsuri‘ an die Franzosen (1459), nahm er mit Verweis auf das angesprochene separate volumen orationum ausdrücklich nicht auf.22 Von den ‚Commentarii‘-Reden sind also nur wenige in separater Einzel- oder Sammelüberlieferung gleichlautend nachweisbar. Sie in diesem Falle mit höherer Authentizitätsvermutung hinsichtlich der konkreten Actio zu interpretieren, liegt nahe. Das ändert nichts an der Tatsache, daß auch die ausschließlich aus den ‚Commentarii‘ bekannten Reden ‘authentische’ Texte zumindest aus der Feder Pius’ II. darstellen. 19 Pii II P. M. olim Aenae Sylvii Piccolominei Senensis orationes politicae et ecclesiasticae, hg. von IOANNES D. MANSI, Bd. 1–3, Lucca 1755–1757–1759; zitiert MANSI: Pii II Orationes. Textvorlage ist meistenteils der Codex Lucca Biblioteca Capitolare 544. Einen Teil der Reden druckte MANSI auch in seinem Konzilswerk. Einige Reden hatten bereits in die verbreiteten Koberger-Frühdrucke der ‚Epistulae‘, von dort in die maßgebende Basler Ausgabe der ‚Opera omnia‘ Eingang gefunden. Epistulae familiares, Nürnberg (Koberger) 1481, 1486 und 1496; Aeneae Sylvii Piccolomini ... opera quae extant omnia ... in unum corpus redacta cur. C. Hoppeler, Basel 1551 und 1571 (ND Frankfurt am Main 1967). Die zahlreichen sonstigen Einzel- und Sammeldrucke sowie divergente Textfassungen werden im Folgenden nicht aufgeführt. 20 Als bisher singulärer Glücksfall liegt für Enea Silvios Eröffnungsrede des Reichstags von Wiener Neustadt vom 25. Februar 1455 (‚In hoc frequentissimo conventu‘) eine ausführliche deutsche Paraphrase durch den humanistisch gebildeten Nürnberger Gesandten Hans Pirckheimer in seinem Bericht an den Rat (1455 zwischen Februar 27 und März 4) vor; Nürnberg Staatsarchiv, Reichsstadt Nürnberg A-Laden-Akten S I L 79, Nr. 26a, Prod. 6. Teildruck bei NICOLAE J ORGA: Notes et extraits pour servir à l’histoire des croisades au XVe siècle, Bd. 4, Paris 1915, Nr. 38, 113–116 (mit vielen Lesefehlern); künftig in Deutsche Reichstagsakten 19.3, Nr. 28d, hg. von GABRIELE ANNAS. Dazu HELMRATH: Reichstag (wie Anm. 14), 283–289. 21 Dazu HELMRATH: Reichstag (wie Anm. 14), 138–159; W EINIG: ‘Aeneam suscipite’ (wie Anm. 15), 86. 22 Extat oratio inter alias scripta; non est cur singulas eius partes huic loco inseramus; in volumine orationum querenda est; Commentarii III 38, hg.von VAN HECK Bd. 1 (wie Anm. 62), 229, Z. 15–17. Von ,Responsuri‘ sind bisher über 60 Handschriften und diverse Drucke nachweisbar, etwa M ANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 2, 40–72; MANSI: Collectio Conciliorum (ND Paris 1902), Bd. 32, Sp. 230D–258E.

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Mustert man die Reden und Briefe sowie weitere Opera der Laien- (bis 1447), Bischofs- (1447–56) und Kardinalszeit (1456–58) sowie des Pontifikats (1458–64) nacheinander auf Türken- und Kreuzzugsmaterie durch, wird eine Kette inhaltlicher und sprachlicher Motive erkennbar, von denen manche variiert in fast obsessiver Weise wiederkehren.23 Eneas Reden haben – auf höchstem Niveau – die Eigenschaft, die er selbst ihrem wichtigsten Forum, den Reichsversammlungen, nachsagte, daß nämlich die eine die nächste erzeugte. Einige dieser Bausteine sollen unten genauer untersucht werden, andere schon vorher bei einem chronologischen Durchgang durch ausgewählte Opera angesprochen werden. Natürlich kann es der Historiker nicht beim Aufweis von Motivkatalogen und Rezeptionsketten im Sinne Ernst Robert Curtius’ belassen. Er muß darüber hinaus die aktuelle politische Funktion und Wirkung von Oratorik und die Mechanismen von Politik in den Blick nehmen. Gegenüber dem ubiquitär anzutreffenden Argument der ‘Wirkungslosigkeit’ von Oratorik – gerade im Hinblick auf die Türkenreden – ist immer wieder die Trivialität zu betonen, daß literarisches Fortleben selbst eine eminente ‘Wirkung’ darstellt; besonders im Fall des Türkenthemas mit seiner „enormen und langfristigen Präsenz“, seiner „medialen und politisch-funktionalen Vielfalt“,24 ist dies der Fall. Genau darin manifestierte sich nämlich der prägende Beitrag von Pius’ Gedanken- und Motivreservoir für die Formierung des Türkenbilds als apotropäischer Identitätsstiftung in der (Türken-)Literatur und über sie hinaus, nur vermutbar, im kollektiven Bewußtsein des Europäers.25 23

Aufgewiesen bei FRANCO GAETA: Sulla ‘Lettera a Maometto’ di Pio II, in: Bollettino dell’Istituto storico italiano per il medioevo 77 (1965), 127–227, ebd. 146– 161. 24 MERTENS: ‘Europa id est patria’ (wie Anm. 15), 56. 25 Hierzu fehlt es noch an systematischen Studien, u.a. an einer für das 15. Jahrhundert maßgebenden Bibliographie handschriftlicher und gedruckter Texte, vergleichbar derjenigen von CARL GÖLLNER: Turcica, Bd. 1–2: Die europäischen Türkendrucke des 16. Jahrhunderts (Bibliographie); Bd. 3: Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 70), Bukarest/BadenBaden 1961–1978; zu konsultieren ist das wichtige Buch von S CHWOEBEL: Shadow of the Crescent (wie Anm. 2); weiterführend jetzt der Sammelband: Europa und die osmanische Expansion (wie Anm. 15), hierin insbesondere die Arbeiten von CLAUDIUS S IE BER -LEHMANN: Der türkische Sultan Mehmed II. und Karl der Kühne, der ‘Türk im Occident’ (13–38); MATTHIAS THUMSER: Türkenfrage und öffentliche Meinung. Zeitgenössische Zeugnisse nach dem Fall von Konstantinopel (1453) (59–78); GERT MELVILLE: Die Wahrheit des Eigenen und die Wirklichkeit des Fremden. Über frühe Augenzeugen des osmanischen Reiches (79–102), und THOMAS VOGTHERR: „Wenn hinten, weit, in der Türkei...“. Die Türken in der spätmittelalterlichen Stadtchronistik Norddeutschlands (103–126). Weiterführend auch CLAUDIUS S IEBER-LEHMANN: ‘Teutsche Nation’ und Eidgenossenschaft. Der Zusammenhang zwischen Türken- und Burgunderkriegen, in: Historische Zeitschrift 253 (1993), 561–602, betont zu Recht die „stetige Präsenz von ‘Turcica’ in der damaligen Lebenswelt“ (580), ebd. 587–591 zur Ikonographie des ‘Tür-

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Die Türken in Opera des Enea Silvio 1. Schon die erste Rede, die von dem jungen Enea Silvio erhalten ist, die im November 1436 vor dem Basler Konzil in Sachen der Griechenunion vorgetragene Rede ,Audivi‘, spricht von der Macht der Türken in Europa und, faktisch das Programm des zukünftigen Papstes formulierend, vom Türkenkrieg als Aufgabe der gesamten Christianitas:26 Magnum est imperium Turcorum, ingentes Asiaticorum vires et opes ipsae florentissimae, qui ex Asia in Europam imperium prorogarunt totamque Graeciam occuparunt tanquam Troianae cultores ruinae, quos Graecia pellere non unius civitatis aut domini, sed totius esset Christianitatis opus.

ken’, 591–599 zur kaiserlichen Türkenpropaganda; DERS.: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 116), Göttingen 1991, 251–281. – Zu nennen ist ferner eine Serie mehr oder weniger nützlicher, sämtlich nur maschienenschriftlich vorhandener Dissertationen: EMIL KNAPPE: Die Geschichte der Türkenpredigt in Wien (1529). Ein Beitrag zur Kulturgeschichte einer Stadt während der Türkenzeit, Phil. Diss., Wien 1949, zu Enea Silvio 1454/55: 9–13, ebd. 214–216: chronologische Übersicht über die Wiener Türkenpredigten; HASSO PFEILER: Das Türkenbild in den deutschen Chroniken des 15. Jahrhunderts, Phil. Diss., Frankfurt am Main 1956; E HRENFRIED H ERRMANN: Türke und Osmanenreich in der Vorstellung der Zeitgenossen Luthers. Ein Beitrag zur Untersuchung des deutschen Türkenschrifttums, Phil. Diss., Freiburg im Breisgau 1961; MAXIMILIAN GROTHAUS: Studien zum Türken-Feindbild in der Kultur der Habsburgermonarchie zwischen 16. und 18. Jahrhundert, Phil. Diss., Graz 1986 (1050 S.!), blendet allerdings die Frage der mittelalterlichen und humanistischen Quellen fast ganz aus. Ferner DORIS GEBEL: Nikolaus von Kues und Enea Silvio Piccolomini. Bilder der aussereuropäischen Welt als Spiegelung europäischer Sozialverhältnisse im 15. Jahrhundert, Phil. Diss., Hamburg 1977; M AXIMILIAN GROTHAUS: Zum Türkenbild in der Kultur der Habsburgermonarchie zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, in: ANDREAS T IETZE (Hg.): Habsburgisch-osmanische Beziehungen/Relations Habsbourg-ottomanes. Wien 26.–30. September 1983 (Beihefte der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 13), Wien 1985, 67–89; CORNELIA K LEINLOGEL: Exotik, Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der Frühen Neuzeit (1453–1800) (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 8), Frankfurt am Main u.a. 1989; MICHAEL HERKENHOFF: Die Darstellung außereuropäischer Welten in Drucken deutscher Offizinen des 15. Jahrhunderts, Berlin 1996, zu Türken und Osmanenreich 213–240, u.a. zum ,Tractatus de moribus ... Turcorum‘ des Georg von Ungarn (1480/81), 214–28, und zur ‘Geschicht von der Türkey’ Jörgs von Nürnberg 228–240. Zu Georg von Ungarn s. auch T HUMSER: Türkenfrage (wie oben), 68–73, MELVILLE: Wahrheit (wie oben), 97–101, sowie WOLFGANG NEUBER: Grade der Fremdheit. Alteritätskonstruktion und experientia-Argumentation in deutschen Turcica der Renaissance, in: Europa und die Türken in der Renaissance (wie *), 249–266. 26 MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 11.; MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 30, Sp. 1098; Hinweis auf diese Rede schon bei EYSSER: Pius II. (wie Anm. 8), 14– 16, und VEIT: Pensiero e vita (wie Anm. 4), 119 f.

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2. Es folgen Briefsequenzen aus dem Umkreis des Kreuzzugs von 1443/44, der in der Katastrophe von Varna endete, wo auch der von Enea als Vorbild verehrte Legat Giuliano Cesarini fiel, und aus dem Umfeld der Niederlage des ungarischen Gubernators Johannes Hunyadi auf dem Amselfeld 1448.27 3. Der eigentliche Kreis der Türkenreden des Piccolomini beginnt am 25. April 1452 mit ‚Moyses vir die‘, gehalten vor Papst Nikolaus V. und Kaiser Friedrich III. während dessen Krönungsaufenthalts in Rom, ein Jahr bevor die türkische Belagerung Konstantinopels tatsächlich einsetzte.28 Der Text kleidet sich noch in das traditionelle Gewand des passagium, des bewaffneten Pilgerzugs über das Meer ins Heilige Land,29 ist noch nicht auf Konstantinopel umgeprägt. Aber von den Türken spricht der Bischof von Siena sehr wohl und bringt dabei wie in nuce typische Motive und Argumente seiner (und anderer) humanistischer Türkenreden: nach antikem Vorbild die Gründe für einen gerechten Krieg (hier: commiseratio, utilitas atque honestas rei),30 eine rudimentäre Expansionsgeschichte des Islams wie speziell der Türken, das ‘angulus-Syndrom’, die Schau der europäischen Völker, die den Krieg (nach außen) tragen sollen, die Leichtigkeit des Sieges.31 Die Kreuzzüge des Hochmittelalters, insbesondere der erfolgreiche erste, so deutet sich auch hier an, werden im 15. Jahrhundert wieder zum Gegenstand der Rückbesinnung in Historiographie (Accolti, Biondo, Crivelli, Platina etc.)32 und politischer Rhetorik. Sie werden zum histo27

Zusammenstellung der Briefe u.a. bei LUIGI T OTARO: Pio II nei suoi Commentarii (Il mondo medievale 5), Bologna 1978, 171 Anm. 351; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 80 f. Für das Türkenbild wichtig der Brief an Papst Nikolaus V. von 1448 November 25; W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. II, 72–77, Nr. 23. Zu Varna s. oben Anm. 7. 28 Text: MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 163–172. Mindestens 17 Handschriften und 14 Drucke sind bisher ermittelt. 29 Passagii vocabulo nihil aliud designamus, quam expeditionem militarem numerosam adversus infideles per Christianos indictam; MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 164. 30 Ebd. 164. 31 Cultus Christi, qui totum fere orbem oppleverat, in angulum Europae redactus est (ebd. 166); vgl. unten bei Anm. 57. Nationen: Iam pacem ergo ut habeant Christiani, bellum in exteros est transferendum, ad quam rem neque Germanorum illustris animus, neque cor nobile Gallicae gentis, neque mens sublimis Hispanorum, neque honesti cupidus Italorum deerit spiritus (169). 32 Siehe DIETER MERTENS: Claromontani passagii exemplum. Papst Urban II. und der erste Kreuzzug in der Türkenkriegspropaganda des Renaissance-Humanismus, in: Europa und die Türken in der Renaissance (wie *), 65–78. Einen guten Überblick gewährt SCHMUGGE: Kreuzzüge (wie Anm. 2). Ferner ROBERT B LACK: La Storia della Prima Crociata di Benedetto Accolti e la diplomazia fiorentina rispetto all’Oriente, in: Archivio storico italiano 131 (1973), 3–25; DERS.: Accolti (wie Anm. 2), 224–285; T OTARO: Pio II nei suoi ,Commentarii‘ (wie Anm. 27), 158: „tuffo nostalgico nel medioevo di Urbano e Goffredo di Buglione“; MERTENS: Friede (wie Anm. 2), 54–57 sowie 57–72 zur Kreuzzugsbezie-

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risch-appellativen Argument. Nicht nur hier, sondern vielfach in Texten Pius’ II. und zeitgenössischer wie späteren Türkenliteratur wird der Geist von Clermont und der modellhaften Helden des 1. Kreuzzugs als „Apperzeptionsmuster“ (Mertens) beschworen, an Urban II. und Gottfried von Bouillon erinnert, beziehungsweise das Fehlen vergleichbarer Heroen in der Gegenwart beklagt: Unde adhuc Urbani qui convocavit passagium, Gottifridi qui conduxit illustre nomen habetur.33 Auch die Kritik der Skeptiker kommt in ‚Moyses‘ als Selbsteinwand zur Sprache, sich des ominösen Begriffs ‘somnium’ bedienend: Passagium? Ecce vetus somnium, inquiunt, vetus deliramentum, inanes fabulas. Bereits in dieser frühen Rede enthüllt Piccolomini, daß er die Problematik von Vision und Realismus sehr genau verstand. Eine Schlüsselpassage für die Struktur künftiger Türkenreden, ist die folgende: Sed pensemus, si hodie spes bona sit habituri passagii, quoniam nemo sciens impossibilia tentat, neque aggreditur quisquam, quod assequi desperat. Magnum facinus spes nutrit. Quid hic respondemus? Duo consideranda sunt: unum an Christiani facile possint in passagium trahi; alterum an inchoato passagio spes sit magna vincendi. Nam quamvis omnium bellorum dubius sit exitus, nunquam tamen committendum est bellum sine spe quadam et argumento victoriae.34

hungsweise Friedensthematik bis 1453. Siehe auch: PETER ORTH: Papst Urbans II. Kreuzzugsrede in Clermont bei lateinischen Schriftstellern des 15. und 16. Jahrhunderts, in: D IETER B AUER/KLAUS HERBERS/NIKOLAS J ASPERT (Hg.): Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung – Vorstellung und Vergegenwärtigung, Frankfurt am Main/New York 2000, 367–405. 33 MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 168, schon unter Berufung auf Otto von Freising. Weitere Beispiele: O si adessent nunc Gotfridus, Baldevinus ... Boemundus, Tancredus et alii viri fortes ... ; non sinerent profecto tot nos verba facere, sed assurgentes ut olim coram Urbano secundo praedecessore nostro ‘Deus vult’, ‘Deus vult’ alacri voce clamarent; Rede ,Cum bellum hodie‘ 1450 September 23, hg. von MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 32, Sp. 220AB; MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 2, 28. Dann in den ,Commentarii‘: Neque iam hoc tempore sperandum vel Francos vel Theutonicos aut alios collectis copiis expeditionem in Turcos ducere, qualem aut Gotfridus aut Corradus [König Konrad II.] aut alii complures in hostes fidei duxere, quando nemo regum inueniatur, qui non vicinum et relinquere vacuam domum timeat; Commentarii III 13, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 191, Z. 2–5. Paraphrase einer Äußerung Bessarions: Petrum Heremitam, vilem et abiectum hominem, idem factitasse quo tempore Gotifridus exercitum traiecit in Asiam. Cur nequeant ea prestare tempora nostra, que prestitere superiora? Cur non fiet iterum quod semel est factum? (ebd. Bd. 2, XII 13, 737 Z. 12–16). Im gleichen Sinne äußerte sich noch E DWARD GIBBON: „In the eleventh century a fanatic monk could precipitate Europe on Asia for the recovery of the Holy Sepulchre; but in the fifteenth the most pressing motives of religion and policy were insufficient to unite the Latins in the defense of Christendom“; zitiert HANKINS (wie Anm. 2), 144, vgl. ebd. 123 f. 34 MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 168.

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In diese Fragen kleidete der Redner den skeptischen Realismus, den der als Substrat fürstlicher Politik unterstellt. In allen seinen Türkenreden versuchte er ihm durch eine rationale, immer etwas angestrengt wirkende Argumentation der Chancenabwägung entgegen zu kommen. 4. Der Fall des Zweiten Roms am 29. Mai 1453 ergab dann den dramatischen Anlaß für intensivere Textproduktion. Die furchtbare Nachricht von der Constantinopoleopersis löste im Abendland geradezu einen Kulturschock aus, der sich als Welle ausbreitete.35 Bei Enea Silvio beginnt die Verarbeitung des Ereignisses in drei Briefen, unmittelbar nach Eintreffen der ersten Greuelmeldungen: (1) an Papst Nikolaus V.36 vom 12. Juli 1453; (2) an Kardinal Nikolaus von Kues vom 23. Juli 1453 und, schon mit grö-

35 Ich nenne nur die wichtigste Literatur, sofern nicht in Anm. 2 und 6–8: ERICH MEUTHEN: Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), 1–35 (hiernach zitiert); leicht verändert in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 16 (1984), 35–60; SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 1–29; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 108–137; HELMRATH: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 14), 107–118, 206–273. Zuletzt THUMSER: Türkenfrage und öffentliche Meinung (wie Anm. 25); MARIOS P HILIPPIDES: The Fall of Constantinople 1453: Bishop Leonardo Giustiniani and His Italian Followers, in: Viator 29 (1998), 189–225, zu Pius II. 206 und 211. Zur sehr frühen Volgare-Verarbeitung der ‘Caduta’ in Italien siehe B ODO GUTHMÜLLER: „Se tu non piangi, di che pianger suoli?“ Der ‘Lamento di Costantinopoli’ in ‘ottava rima’, in: Europa und die Türken in der Renaissance (wie *), 317–332. Zur Rezeption im 16. und 18. Jahrhundert: DIETMAR FRICKE: L’écho de la chute de Constantinople dans la fortune européenne de l’histoire tragique d’Irène, in: Le banquet du Faisan (wie Anm. 80), 163–171. – Zu den Ereignissen auch STEVEN RUNCIMAN: Die Eroberung von Konstantinopel 1453, München 1977 (engl. Erstausg. 1966) – Texte: Bei SETTON, GILLI (wie Anm. 1 und 2), P ERTUSI u. a. gänzlich ignoriert: HENNY GRÜNEISEN/H ELMUT W EIGEL (Hg.): Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. Fünfte Abt., erste Hälfte, Bd. 19.1, Göttingen 1969, bes. Nr. 1–7, 4–46 (Fall Konstantinopels und sein Echo); Nr. 40, 325–338 (Sendschreiben des Kardinal Isidor von Kiew 1453 Juli 8); ebd. Nr. 10.1, 56–64 Edition der Kreuzzugsbulle Nikolaus’ V. (1453 September 30); AGOSTINO PERTUSI (Hg.): La caduta di Costantinopoli. (Bd. 1): Le testimonianze dei contemporanei; (Bd. 2): L’eco nel mondo, (Verona) 1976; AGOSTINO PERTUSI (Hg.): Testi inediti e poco noti sulla caduta di Costantinopoli, edizione postuma a cura di A. CARILE (Il mondo medievale, sezione di storia bizantina e slava 4), Bologna 1983. Vgl auch LUCIA G. ROSA u.a. (Hg.): Gli umanisti e la guerra otrantina. Testi dei secoli XV e XVI. Introduzione di FRANCESCO T ATEO, Bari 1982. 36 Gegen den Vorwurf zu geringer Aktivität beziehungsweise den Vorwurf, Hilfe für die Griechen von deren Ratifizierung der Union von 1439 abhängig gemacht zu machen, verteidigt ihn W ALTER BRANDMÜLLER: Die Reaktion Nikolaus’ V. auf den Fall von Konstantinopel, in: Römische Quartalschrift 90 (1995), 1–23; darin (19 f.) benutzt er wichtige Brief des Enea Silvio an Kardinal Carvajal 1454 Dezember (23/31), der – vollständig zitiert – die Vorwürfe freilich gerade bestätigen würde; siehe künftig Deutsche Reichstagsakten 19.2, Nr. 26.8.

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ßerem Abstand, (3) an den Senesen Leonardo de Benvoglienti vom 23. September 1453.37 5. Nach Mai 1454, also nach Ende des Regensburger Reichstags, entstand ein unvollendet gebliebener, nach Art der Lucianschen Totengespräche konstruierter und einige Reminiszenzen an Dante aufweisende Unterweltsdialog ‘Somnium’;38 auch er ist partiell dem aktuellen Türkenthema gewidmet. Enea läßt darin neben sich selbst den – 1444 verstorbenen – von ihm bewunderten Bernardino von Siena und seinen Freund aus Basler Konzilstagen, den Kurialen Petrus de Noxeto auftreten. 6. Die Hauptforen der Türkenoratorik des Piccolomini stellten die von ihm als Vertreter des Kaisers maßgeblich geprägten Reichstage von Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt der Jahre 1454/55 (‘Türkenreichstage’),39 wo es um eine militärische Reaktion des Reichs auf den Fall Konstantinopels ging, und der Kongreß von Mantua 1459 dar. Oratorisch eingeschmolzen finden sich viele Elemente der oben angesprochenen Briefe und Opera in diesen Reichstagsreden, beginnend mit der Regensburger Rede ,Quamvis omnibus‘ vom 16. Mai 1454.40 Reden auf Reichsta37 (1) W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. III, Bd. 1, Nr. 109, 189–202, bes. 199–202; in Auswahl P ERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 2, 44–49, 434; Deutsche Reichstagsakten 19.1 (wie Anm. 35), Nr. 2.6, 21–23; (2) W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. III, Bd. 1, Nr. 112, 204–215; Enea Silvio Piccolomini. Texte, hg. von W IDMER (wie Anm. 13), 446–455. In Auswahl: Deutsche Reichstagsakten 19.1, Nr. 2.7, 23–26; PERTUSI: Caduta, Bd. 2, 50– 61, 434–436; (3) W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. III, Bd. 1, Nr. 153, 280–285; Deutsche Reichstagsakten 19.1, Nr. 4.20, 38–41; in Auswahl: P ERTUSI: Caduta, Bd. 2, 61–67, 436 f. Literatur und Handschriften u.a. bei PERTUSI: Caduta, Bd. 2, 40–43 (ohne Deutsche Reichstagsakten 19.1). 38 Erstdruck Rom 1475 (Hain-Copinger Add. *193), ferner in: Aeneae Silvii Piccolomini Senensis ... Opera inedita descripsit ex Codicibus Chisianis vulgavit notisque illustravit J OSEPHUS CUGNONI, in: Atti della Reale Accademia dei lincei. Memorie della Classe di scienze morali, storiche e filologiche III/8, Rom (Anno CCLXXX 1882/83), 319–686 (ND Farnborough 1968); (auch separat mit Seitenzählung 1–371; hier zitiert: CUGNONI), 550 (234)–615 (299). Für das Thema jetzt herangezogen durch HANKINS (wie Anm. 2), 130 f. mit Zitat. [Jetzt die Edition Eneas Silvius Piccolomini: Dialogus, hg. von DUANE R. HENDERSON (Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geschichte des Mittelalters 27), Hannover 2011.] 39 Deutsche Reichstagsakten 19.1 (wie Anm. 35), künftig Deutsche Reichstagsakten 19.2 und 19.3. – MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 16–18 (Literaur); MÜLLER: Kreuzzugspläne (wie Anm. 2), 64–80 (Literatur); HELMRATH: Reichstag (wie Anm. 14), 119– 121, 161–205; DERS.: Rhetorik (wie Anm. 14), 433–437; DERS.: Reden (wie Anm. 14), 272–277. Zu Wiener Neustadt besonders quellennah CHRISTINE REINLE: Ulrich Riederer (ca.1406–1462). Gelehrter Rat im Dienste Kaiser Friedrichs III. (Mannheimer Historische Forschungen 2), Mannheim 1993, 498–518. 40 Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 35), Bd. 19,1, Nr. 34.1; in Auswahl P ERTUSI: Testi inediti (wie Anm. 35), 181–187, Nr. 20. P ERTUSIS Urteil „forse la piu interessante“ (sc. aller Türkenreden Eneas) kann ich nicht teilen.

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gen waren sowohl Gelegenheit, die eigene humanistisch-literarische Idoneität in Szene zu setzen, als auch das Anliegen ‘Türkenkrieg’ vor einem politischen Entscheidungspublikum vorzubringen. Enea fand vor allem auf den Tagen von Frankfurt und Wiener Neustadt Gleichgesinnte. Man erlebte ein einzigartiges Zusammentreffen von drei humanistisch ambitionierten Bischöfen, eines Dreigestirns besonderer Art: Giovanni da Castiglione, Bischof von Pavia, als päpstlicher Legat; Johannes Vitéz, Bischof von Großwardein, als Gesandter des Königs Ladislaus von Böhmen-Ungarn, drittens Piccolomini selbst, Bischof von Siena, als Vertreter des Kaisers. Einen vierten Rhetor hatte der letztere eigens zur Unterstützung nach Frankfurt gerufen, den berühmten Franziskaner Johannes Capistran. Mit ihm war auch die Volkspredigt gleichsam reichstagsflankierend präsent, dasjenige Redegenre, das traditionell mit dem Kreuzzug befaßt war, und über dessen vulgäre Vertreter (nicht aber über einen Capistran oder Bernardino!) die professionellen Humanistenoratoren in der Regel die Nase rümpften.41 Unter dem Publikum des Mönchs sah man auch die Reichstagsbesucher gebannt auf der hölzernen Tribüne sitzen, wenn der ‘heilig man’ lateinisch, also von den meisten nicht einmal wörtlich verstanden, auf dem Marktplatz gegen die Luxuria und für den Kreuzzug predigte.42 Nicht nur die Zahl der gehaltenen Reden, auch ihr Erhaltungsgrad ist, von Capistran abgesehen, erstaunlich hoch. Allein fünf Reden des Enea Silvio, drei (mit den Reden im Vorfeld: sieben) des Castiglione und fünf des Vitéz43 sind im Volltext überliefert. Nie zuvor hielten offenbar die Redner selbst, aber auch das Publikum so viele Reden für aufzeichnenswert wie jetzt diese neuartigen ‘Türkenreden’. Den Höhepunkt bildete die auf einem Plenum des Frankfurter Tags am 15. Oktober 1454 gehaltene Eröffnungsrede ‚Constantinopolitana Clades‘. Das Incipit ist Programm! Die Rede dauerte zwei Stunden, bei gebannter Stille, wie Enea sagt. Nach dem Vorbild von Ciceros bekanntester Deliberativrede ,De imperio Cn. Pompei‘ soll dem Entscheidungspublikum, den anwesenden Fürsten und ihren gelehrten Räten, in dreischrittig rationaler Argumentation 1. iustitia, der gerechte Grund (die Türkengreuel haben hier emotionserregende Funktion), 2. facilitas – Leichtigkeit, sprich: die realistischen Chancen eines erfolgreichen Feldzugs, bei guter Ausnutzung 41

Mertens: ‘Europa id est patria’ (wie Anm. 15), 55; HANKINS (wie Anm. 2), 127. Kein Predigttext hat sich bisher gefunden. Vgl. J OHANNES HOFER: Johannes Kapistran. Ein Leben im Kampf um die Reform der Kirche (Bibliotheca Franciscana 2), Neue, bearb. Ausgabe (von Ottokar Bonmann), 2 Bde., Rom/Heidelberg 1964–65, Bd. 2, 307–312, 330–334; HELMRATH: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 14), 170–176; künftig Deutsche Reichstagsakten 19.2, Nr. 15 v.a. mit Edition der Kapistran-Korrespondenz. 43 Die betreffenden Reden des Vitéz in: Iohannes Vitéz de Zredna opera quae supersunt, hg. von I VAN B ORONKAI (Bibliotheca Scriptorum medii recentisque aevorum, ser. nova 3), Budapest 1980, 252–282, Nr.7–11 . 42

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der europäischen Ressourcen, 3. das utile, die Nützlichkeit eines Türkenfeldzugs aufgewiesen werden.44 Die Rede kann bislang über fünfzigmal handschriftlich nachgewiesen werden, neben den Sammelcorpora der PiusReden zum großen Teil in Einzelüberlieferung.45 Schon nach Ende der Rede, berichtet Enea, gab es viele, die sich eine Kopie machen ließen: multi transscripsere.46 Er selbst versandte den Text an Korrespondenzpartner. Die ‚Clades‘ wurde in der Rezeption zum Schulklassiker einer Türkenrede; sogar Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ verwendete Motive aus ihr. 7. Zwei große Reden auf dem Tag in Wiener Neustadt – keine Reichsversammlung vor Augsburg 1517 ist oratorisch breiter überliefert – schlossen sich an: Die Reden ,In hoc frequentissimo conventu‘ vom Februar 1455 und ,Si mihi‘ vom 25. März, wozu das kurze offizielle Statement für den Kaiser (,Optasset‘) kommt47 – sie sind sehr viel mehr als Varianten der Frankfurter ,Clades‘. Sie passen sich der Aufgabe des Reichstags, der detaillierte Aufstellung und Organisation des Kreuzheers für einen Sommerfeldzug an, indem sie das Thema ‘Feldherr und Soldaten’ in den Mittelpunkt stellen. Er wolle, so Enea Silvio, nicht vor Fachleuten reden, gestandenen Militärs, wie es die deutschen Fürsten waren, tut es dann aber

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Zur Interpretation J ÜRGEN B LUSCH: Enea Silvio Piccolomini und Giannantonio Campano. Die unterschiedlichen Darstellungsprinzipien in ihren Türkenreden, in: Humanistica Lovaniensia 28/29 (1979/80), 78–138; HELMRATH: Reden auf Reichsversammlungen (wie Anm. 14), 275–277, sowie ausführlich DERS.: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 14), 177–273. Eine kritsche und kommentierte Edition der ‚Clades‘ wird in Deutsche Reichstagsakten 19.2, Nr. 16 erscheinen. Einige Textveränderungen wurden bereits in den folgenden ‚Clades‘-Zitaten anstelle des Textes bei MANSI: Pii II Orationes, Bd. 1, übernommen. 45 HELMRATH: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 14), 177–191, 350–358. 46 Oravit ille duabus ferme horis, ita intentis animis auditus, ut nemo unquam screaverit, nemo ab orantis vultu oculos suos averterit, ... nemo finem non invitus acceperit; Commentarii I 26, hg. von VAN HECK Bd. 1 (wie Anm. 62), ebd. 83, Z. 33–36; Orationem Enee ab omnibus laudatam multi transcripsere; ebd. 84, Z. 5. Briefliche Äußerungen Eneas unmittelbar nach der Rede sind zurückhaltender, so an Kardinal Carvajal (1454 Oktober 16): Heri cepimus rem defensionis fidei agitare. Ego nomine cesaris orationem habui quasi ad horas duas; an placuerit, nescio. multi, ut puto per adulationem, eam petunt. Fui tamen auditus, screante nemine. Sunt qui dicant illam profuisse; quod si verum erit, deo agam gratias et semper ago; Opera inedita, hg. von CUGNONI (wie Anm. 38), 419 (103), Nr. 41; künftig Deutsche Reichstagsakten 19.2, Nr. 13.1. 47 MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 288–306, Nr. XIV (307–314, Nr. XV ist keine eigene Rede, sondern eine unvollendete Überarbeitung von ,In hoc frequentissimo‘!), 315–329 ,Si mihi‘ und 330–333 ,Optasset‘ Nr. XVI. Zur relativ begrenzten Überlieferung HELMRATH: Reichstag (wie Anm. 14), 275–280, 426 f., künftig Deutsche Reichstagsakten 19.3, Nr. 33.

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doch.48 Interessant und bisher kaum wahrgenommen, ist sein Versuch, in diesen Reden rhetorisch ein Ethos des Krieges zu vermitteln. Der christliche Türkenkrieg ist nicht nur gerecht, er ist geradezu tugendhaft in seinen Mitteln (anders als bei den Türken): schonende Behandlung der Zivilbevölkerung, Disziplin und Mäßigung im Heer, kein Saufen, kein Plündern also; eine Art christlicher Landkriegs- und Felddienstordung wird dargelegt,49 zukunftsträchtig für die Türkenliteratur! So wie der unfaßbare Erfolg der barbarischen Türken zunächst nur durch christliche Verfehlungen und Defizite erklärt werden konnte, ist christlicher Erfolg konsequenterweise nur durch strikte Moralisierung möglich. Je mehr sich das Bild vom ‘Türken’ differenzierte und ihm schließlich seinerseits nicht nur militärische, sondern auch sittliche Tugenden, vor allem asketische Genügsamkeit zugebilligt wurden, wurde er in doppelter Hinsicht, als Monstrum wie als Gottesfürchtiger, zur Projektionswand christlicher Selbstkritik. Die Türkenpredigten des 16. und 17. Jahrhunderts sollten immer auch Predigten zur Heeres- und Alltagsmoral sein.50 8. Nach der ,Clades‘ und den Wiener Neustädter Reden markierte Pius mit der Mantuaner Kreuzzugsrede ,Cum bellum hodie‘ vom 26. September 1459 einen weiteren oratorischen Gipfel51 und zog dabei eine Summe seiner Türkenreden. Die Mantuaner Rede wird lediglich in der Stringenz des Aufbaus von der älteren Rede ‚Clades‘ übertroffen. 117mal (Stand 2011) konnte sie in handschriftlicher Überlieferung ermittelt werden. Damit könnte ‚Cum bellum hodie‘ die am häufigsten verbreitete Rede des europäischen Humanismus sein, vor allem weil sie öfter als die ‚Clades‘ auch in Italien und Frankreich kopiert wurde. Ein wesentlicher Multiplikations48 Seine Hauptquelle für die eingestreuten Realien und Fachbegriffe ist, kaum überraschend, der im gesamten Mittelalter benutzte Vegetius. 49 Vorbild und vorsichtig benutzte Quelle ist unter anderem Ambrosius ‚De officiis ministrorum‘. Die Rede blieb bisher kaum beachtet, erste Hinweise bei KNAPPE: Türkenpredigt (wie Anm. 25), 10 f., wo Enea Silvio mit Capistran und Johannes Vitéz bereits richtig als Vorbild beziehungsweise Motivlieferant späterer Türkenprediger angedeutet ist. 50 KNAPPE: Türkenpredigt (wie Anm. 25), passim, besonders ausgeprägt etwa bei Abraham a Santa Clara, ebd. 87–102. Zur züchtigen Moral der Türken als Selbsterlebnis bei Georg von Ungarn siehe T HUMSER: Türkenfrage (wie Anm. 15), 71–73; vgl. aber MELVILLE: Wahrheit (wie Anm. 15), 99 f.: „jede noch so positive Lebensführung der Türken“ deute Georg als „Betrug“. 51 MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 32, Sp. 207F–221; M ANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 2, 9–30, Nr. 2. Auch ‚Cum bellum‘ bedarf noch genauerer Analyse. JOHN O’MALLEY konstatierte anhand ihrer divisio die Zugehörigkeit zum genus deliberativum, sie sei „an indisputable example of a classical genus self-consciously used by a pope“; Praise and Blame in Renaissance Rome. Rhetoric, Doctrine, and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450–1521 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 3), Durham 1979, 81. Vgl. oben bei Anm. 17.

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faktor lag darin, daß die berühmtesten Reden, wie die ,Clades‘ und ,Cum bellum‘, auch in verschiedene der sehr weitverbreiteten ,Epistulae familiares‘-Drucke aufgenommen wurden, sodann auch zum Teil in die großen Konzils- und Reichstagssammlungen (Labbe und Mansi; Müllers ‘Reichstagstheatrum’), in die ,Annales ecclesiastici‘ des Baronius und seiner Fortsetzer, natürlich in Reusners Sammlung von Türkenreden52 inseriert wurden sowie in Einzelwerke wie die burgundische Chronik des Adrien de But.53 Die bisherigen Reden hatte Enea als kaiserlicher Gesandter und Bischof gehalten. Nun sprach er als Papst. Das bewirkte zum einen eine Zunahme pastoraler Predigtelemente, gebethafter Anrufe Gottes einerseits, die freilich auch zuvor nicht gefehlt hatten, zum anderen einen noch mehr orbisumspannenden gesamtchristlichen Ausgriff. Es lohnt in unserem Zusammenhang den Duktus der Rede ,Cum bellum hodie‘ kurz nachzuskizzieren: Sie beginnt mit einem Gebet, folgt aber dann wie die ,Clades‘-Rede dem Dreischritt der a) iustae causae, b) facultates belli gerendi, c) sinngemäß anstelle des utile magna praemia des Kriegs für die Sieger (209A). Die Gerechtigkeit des Krieges erschließt sich aus einem historischen Rückblick (revolvite historias; 211A) auf die Größe des christlichen Imperium Romanum (haec fuit olim; 209D) im Kontrast zu seinen sukzessiven Verlusten an den Islam bis in die Gegenwart der türkischen Expansion. So versucht Pius die unmittelbare Bedrohung (aperta est Turcis Italia; 212C) und die daraus resultierende Legitimität der Gegenwehr dramatisch einzuhämmern. Die berüchtigten Greultaten der Türken – über sie ist gesondert zu reden – werden emotionsweckend und in prägender Topik geschildert. Zur Erläuterung der ‘facilitas’ des Kriegs evoziert der Redner die – vermeintliche – Schwäche und Verweichlichung der Türken, historische Siege aus Altem Testament und Antike, in denen die Wenigen über die Massen siegten, jüngere Siege über die Türken wie den von Belgrad 1456, sowie einen kurzen Abriß de Sarracenorum lege (214E), der ,Cum bellum‘ mehr als frühere Reden an die traditionelle Islamkritik anschließt. Hier findet sich die Substanz der späteren ‚Epistula ad Mahometem‘ wie in einer Epi52

Zu den Drucken der ,Epistulae‘ vgl. oben Anm. 18; KONRAD HÄBLER: Die Drucke der Briefsammlungen des Aeneas Silvius, in: Gutenberg-Jahrbuch 14 (1939), 138–152; N ICOLAUS L. REUSNER (Hg.): Selectissimarum Orationum et Consultationum de bello Turcico ... ad reges et principes christianos, 3 Bde. in 4 Teilen, Leipzig 1595; zu REUSNER : M ERTENS: ‘Europa id est patria’ (wie Anm. 15), 42–45. Insgesamt zähle ich für ,Cum bellum hodie‘ bislang 16 Drucke. 53 Chronique d’Adrien de But (1488), complété par les additions du meme auteur, hg. von KERVYN DE LETTENHOVE (Chroniques relatives à l’histoire de la Belgique. Textes latins 1), Brüssel 1870, 367–394 (Rede ‚Responsuri‘ an die französische Gesandtschaft in Mantua, Dez. 1459), 398–414 (‚Cum bellum hodie‘), 414–419 (Bulle ,Vocavit nos pius‘ vom 13. November 1958).

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tome vorweggenommen, indem Pius die Differenzen von Christentum und Islam in der veritas fidei schildert.54 Es folgt eine Aufruf zum Glauben an die Zeugen der fides: Die Griechen, so Pius, glaubten ihren Historikern Herodot und Thukydides, die Römer Livius, Sallust und Tacitus. Cur nos non credimus nostris?, nämlich den Märtyrern, den griechischen und lateinischen Kirchenvätern sowie proximi aevo nostro, dem Thomas Aquinas und Albertus magnus (217A)? Über die Antitypen der AT-Propheten und Sibyllen kommt der Papst dann auf die lex Christi, ihre Botschaft, das für die Menschheit heilbringende Leiden Christi, mündend in den Appell: O reges, o duces, o viri potentes, surgite iam tandem et Christi dei vestri religionem ac honorem defendite (218D). Bei Erörterung des dritten Punkts, den zu erreichenden praemia (sc. der utilitas), wird nur kurz die materielle Beute, in extenso dagegen der geistliche Gewinn, durch Ablaß (plenissima venia; 219A), die vera vita, das himmlische Jerusalem evoziert – all das sei durch das Turcense bellum zu gewinnen (219C). Die Peroratio enthält das Angebot, der Senilität zum Trotz den ‘Leib des Papstes’ im Kreuzzug einzusetzen: Et nunc, si censetis, non recusabimus aegrotum corpus fessamque animam in hanc felicem expeditionem Christo devovere. Per castra, per acies, per medios hostes … lectica vehi generosum putabimus (220D). Am Ende des Pontifikats sollte er damit ernst machen. 9. Als hochrhetorische Produkte in die Reihe der Reden zu stellen, sind stilistisch wie motivisch die beiden großen Türkenbullen Pius’ II. ,Vocavit nos pius‘ vom 13. Nov. 1458, die Ladung zum Kongreß von Mantua, machte den Anfang. Sie nahm der Dichter Lodrisio Crivelli wörtlich in sein unvollendetes Prosawerk ‚De expeditione Pii Papae II contra Turcos‘ auf.55 Die Bulle ‚Ezechielis‘ vom 23. Oktober 1463, noch weiter als die Rede ‚Cum bellum‘ verbreitet, setzte den Schlußpunkt.56 10. Ein Seitenblick auf die geographischen Werke: Sein Großprojekt einer ‚Cosmographia‘, die innovativ Geschichtsschreibung mit Geo- und 54

MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 32, Sp. 214E–216D. Ediert von GIULIO C. ZIMOLO, in: Rerum Italicarum Scriptores 23/5, Bologna 1950, 91–96 (,Vocavit nos pius’). Zu Crivelli s. FRANCESCO PETRUCCI: Crivelli, Lodrisio, in: Dizionario Biografico degli Italiani 31 (1985), 146–152. Zu seinen Gedichten: LESLIE F. SMITH: Lodrisio Crivelli of Milan and Aeneas Sylvius, 1457–1464, in: Studies in the Renaissance 9 (1962), 31–63 [ND sperat 2011], mit Edition von 6 Gedichten auf Pius II. (41–63); ROSSELLA B IANCHI: Intorno a Pio II. Un mercante e tre poeti (Università degli Studi di Messina. Centro di studi umanistici. Studi e testi 4), Messina 1988, 161–193; P AOLO GARBINI (Hg.): Poeti e astrologi tra Callisto III e Pio II: un nuovo carmine di Lodrisio Crivelli (Studi umanistici 2), Messina 1991 151–170. 56 Späte Drucke u.a.: Opera omnia (wie Anm. 19), 914–923, Nr. 419; REUSNER: Orationes de bello Turcico (wie Anm. 52), Bd. 1, 40–59; Baronii Annales ecclesiastici (wie Anm. 19), ad. a. 1463, 356–361; AMADEO VIGNA (Hg.): Codice diplomatico delle Colonie Tauro – Liguri durante la Signoria dell’Ufficio di S. Giorgio, Bd. II/1: 1435–1475 (Atti della Società Ligure di storia patria 7), Genua 1869, 189–204. Vgl. S ETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 261. 55

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Ethnographie verbindet, ist wesentlich von der türkischen Expansion, der drohenden Weltherrschaft des Islam angestoßen. In historischer Kontinuität zu früheren Ausbreitungswellen des Islam seit dem 7. Jahrhundert wahrgenommen, bildet diese bei Pius das neue Bewußtsein eines Raumes heraus, der sich für die Christen immer mehr verengt; sie werden in die Ecke gedrängt. Mertens sprach im Hinblick auf diesen Kernbegriff Biondos und Enea Silvios treffend vom angulus-Syndrom.57 Aus einer bisher nie dagewesene Dichte benutzter Quellen von Strabo und Ptolemaeus über Plinius, Justin und Solin geschöpft, erscheinen als Teile der Kosmographie nur ca. 1458 die ,Europa‘, 1461 die ,Asia‘.58 Asia meint hier an die antike Provinzbezeichnung anknüpfend vor allem Kleinasien, eben den Herrschafts- und Siedlungskern der Türken seit dem späten 11. Jahrhundert. Geographie und Länderkunde, zu deren humanistischen Wiederbegründern Pius zusammen mit Flavio Biondo gehörte, dienten auch der kognitiven Vorbereitung der erträumten großen Aktion, des finalen Kreuzzugs, der die Türken nicht nur aus Europa, sondern auch aus dem Heiligen Land vertriebe.59 11. Wenig untersucht sind bislang die Türkengedichte Pius’ II., allen voran das vielüberlieferte, in Distichen abgefaßte ,Turce, paras alte subvertere moenia Romae‘ und das hexametrische Kleinepos ,Hactenus ethereas claves‘, in dem die Expansion des Islam, die Kreuzzüge, Greueltaten der Türken etc., bis zum Kongeß von Mantua thematisiert sind.60 57

MERTENS: Friede (wie Anm. 2), 52 f. mit Belegen. In der ältesten deutschen Türkengeschichte des Jörg von Nürnberg taucht der ‘Winkel’ auf: die Christen von den ungelaubigen umbgeben in ainen winckel der erden gedrungen; zitiert HERMANN: Türke und Osmanenreich (wie Anm. 25), 109. 58 Opera omnia (wie Anm. 19), 144–481. Eine neue Edition wird von KONRAD B. VOLLMANN vorbereitet. Unzugänglich waren mir das Faksimile der Ausgabe Venedig (Johannes de Colonia) 1478 (Testimonio), Madrid 1991, und die span. Übersetzung von ANTONIO R. VERGER (Tabula Americae 15), Madrid 1991. Grundlegend NICOLA C ASELLA: Pio II tra geografia e storia: la ,Cosmographia‘, in: Archivio della società Romana di storia patria 3/26 (1971), 35–112, zu den Handschriften 103–112. 59 Treffend zuletzt CASELLA: Pio II (wie Anm. 8), 222: „Pio II avesse voluta ... rendere accessibili al lettore le conoscenze finora acquisite, per permettere in seguito di passare all’azione, alla realizazzione del suo sogno, la disfatta della potenza maomettana. Fu insomma il primo passo, quasi esclusivamente cognitivo, di una lunga marcia che condusse ... al fallimento della crociata prevista per il 1464“. 60 Pii PP II Carmina, hg. von ADRIANUS VAN HECK (Studi e Testi 364), Vatikanstadt 1994, Nr. 101 und 102, 157–159 und 160–168. Vom erstgenannten offenbar viel überlieferten Gedicht können ohne systematische Suche 17 Handschriften genannt werden. Zu Carmen Nr. 101 siehe auch unten Anm. 100. Aus Carmen Nr. 102: Die Hilfe aus allen Regionen Italiens wird lyrisch beschworen, worauf his Pius auxiliis, hoc fidens ordine rerum/in Turchos parat ire; sacer parat ire senatus/cardineus longa precedens agmina pompa; hg. von VAN HECK, 168 V. 196–198. Dazu RINO AVESANI: Epaeneticorum ad

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Aber auch zahlreiche andere versifizierte ‚Exhortationes in Turcos‘ von Dichtern um Pius II. harren systematischer Analyse.61 12. Im singulären Werk seiner ,Commentarii‘62 schließlich, dem urteilsscharfen, von seiner Person getränkten und sicher für die Nachwelt komponierten Rechenschaftsbericht, den er sich in den Nächten seiner Pontifikatszeit lustvoll abrang, bilden die Türken und die Sorge um den Bestand der Christenheit einen roten Faden. Buch II eröffnet gleichsam das Programm des Pontifikats: Atque inter omnes curas, que animum eius invasere, nulla maior fuit, quam ut in Turcos excitare Christianos posset atque his bellum inferre. Diesen Worten schließt sich ein knapper polemischer Abriß der Geschichte des Islam mit einer ‘origo Turcorum’ an.63 Teile des Werks haben den Charakter einer Monographie ‚De bello Turconico‘.64 Pium II Pont. Max. libri V, in: Enea Silvio Piccolomini. Papa Pio (wie Anm. 1), 15–97, ebd. 85–88. 61 AVESANI: Epaeneticorum ad Pium II (wie Anm. 60), passim; B IANCHI: Intorno (wie Anm. 55), 139–147: Edition von N ICCOLÒ DELLA VALLE: ,Ad Pium pontificem maximum contra Teucros exhortatio‘. 62 Nachdem man seit 1584 vierhundert Jahre auf eine vollständige und zuverlässige Edition hatte warten müssen, erschienen jetzt in grotesker Überfülle innerhalb von zehn Jahren vier moderne Editionen: a) Pii II Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt, ad codicum fidem nunc primum editi ab ADRIANO VAN HECK (Studi e Testi 313) 2 Bde., Vatikanstadt 1984; b) (lat.-ital.): Papa Pio II (Enea Silvio Piccolomini), I commentari. Edizione ... a cura di LUIGI T OTARO (Classici 47), 2 Bde., Mailand 1984; c) Pii Secundi Pontificis Maximi Commentarii. Textum recensuerunt atque explicationibus, apparatu critico indiceque nominum ornaverunt I NOLYA B ELLUS/IVÁN B ORONKAI, 2 Bde., Budapest 1993–94; Bd. 2 (Apparatus ad Pii secundi Commentarios) enthält einen wichtigen Variantenapparat, wie er bei TOTARO und VAN HECK fehlt. Als viertes kommt hinzu d) Pius II Commentaries, bisher 2 Bde., hg. von MARGARET MESERVE /M ARCELLO S IMONETTA (The I Tatti Renaissance Library), Cambridge 2003–2007; zitiert wird hier nach der Ausgabe van Hecks. Wichtige Monographie: T OTARO: Pio II nei suoi Commentarii (wie Anm. 27); ferner GERHART B ÜRCK: Selbstdarstellung und Personenbildnis bei Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 56), Basel/Stuttgart 1956; ESCH: Pius II. als Papst (wie Anm. 2), 138–140; zuletzt JEAN LACROIX: I ,Commentarii‘ di Pio II fra storia e diaristica, in: Pio II e la cultura (wie Anm. 1), 133–149, und MARIO P OZZI: Struttura epica dei ,Commentarii‘, ebd. 151–162. 63 Commentarii II 1, hg. von VAN HECK Bd. 1, 113, Z. 1–12; 113, Z. 12–25: zur origo Turcorum. Das erste Mal geht Pius auf die Türkengefahr ein, als er von seiner Regensburger Reichstagsrede (Mai 1454) berichtet; ebd. I, c. 26, 82, Z. 6–13. Vgl. B ÜRCK: Selbstdarstellung (wie Anm. 62), 57 f. 64 Das Register der Ausgabe VAN HECKS vermerkt hinter ‘Turci’ ein „passim“. Vgl. TOTARO: Pio II nei suoi ‚Commentarii‘ (wie Anm. 27), 155–164; B ÜRCK: Selbstdarstellung (wie Anm. 62), 53–65: ‘Ruhmesgedanke’ und ‘Türkenkrieg’ als Hauptthemata. Ein Werk ‚De bello Turconico‘ als Keimzelle der ‚Commentarii‘ nehmen an: Bürck 63 f., mit Hinweis auf die Einleitung zum unvollendeten Buch XIII; I VAN B ORONKAI/IBOLYA B ELLUS: Pii II pontificis maximi ,De bello Turconico‘ liber imperfectus (egy humanista mühelyéböl), in: Aetas 1 (1993), 106–127.

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Bei genauem Hinsehen dominiert die Türkenthematik der tatsächlichen Politik entsprechend nur 1458/59 im Vor- und Umfeld des Kongresses von Mantua (Buch III) und 1463/64 im letzten, vom Kreuzzug überhöhten Pontifikatsjahr (Buch XII–XIII). Tatsächlich stellen die ,Commentarii‘ unter anderem einen nur grob chronologisch sequenzierten tour d’horizon durch die europäische Zeitgeschichte der einzelnen regna dar, oft durch historische Exkurse unterfangen, gewürzt mit Anekdoten, durchwirkt mit den Ereignissen der päpstlichen Regierungs-, Reise- und Redepraxis, deren unausgesprochenes Motto der „Pontifikat als Kunstwerk“ zu sein schien. Dessen Suggestion ist – auch in diesem Beitrag – schwerlich zu entgehen; aber die ‚Commentarii‘ dürfen deshalb nicht zu ausschließlich unsere Quelle sein.65

Frühe Türkenschriften anderer Autoren Enea Silvio als Türkenredner war auch der älteren Forschung nicht ganz unbekannt. Das breite Umfeld zeitgenössischer Türkenliteratur ist erst in jüngerer Zeit schrittweise erschlossen worden: Ich nenne nur die Arbeiten von Schwoebel, Göllner, Setton, Meuthen, Bentley, Robert Black, Housley, Mertens, die Editionen von Pertusi und Hankins.66 Die Reden, Briefe und Schriften des Enea sind nicht isoliert, sondern in Beziehung zu einem Komplex früher westlicher Berichte über die Türken zu betrachten, immer vor dem Hintergrund der älteren Tradition von Kreuzzugs- und ‘Outremer’-Literatur.67 Es handelt sich a) um Kriegsappelle an die europäischen Fürsten, eine „vaste littérature parénetique“ (Gilli), schon vor 1453, b) um Beschreibungen und Lamenti über den Fall Konstantinopels, c) um Denkschriftversuche und fachliche Analysen über Aufbau, Stärke und Ressourcen der türkischen Armee, als Hilfe für die westliche Kriegsplanung, und d) um erste Versuche, die Türkenfrage ‘wissenschaftlich’-ethnographisch anzugehen, meist in Form von Reiseliteratur. Hier einige signifikante Beispiele: 65

ERICH MEUTHEN: Art. ‘Pius II.’, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), 649–652, ebd. 652: er „verstand seinen Pontifikat zugleich als eine Art Kunstwerk“. Vgl. zu den Quellen Anm. 171 und 183. 66 Siehe Anm. 2, 9, 25 und 35. 67 Nach wie vor grundlegend AGOSTINO P ERTUSI: I primi studi sull’origine e la potenza dei Turchi, in: Studi Veneziani 12 (1970), 465–552; ähnlich DERS.: Premières études en occident sur l’origine de la puissance des Turcs, in: Bulletin de l’Association internat. d’études du sud-est européen 10/1 (1972), 49–94. Ferner: SCHMUGGE: Kreuzzüge (wie Anm. 2), 6–14 (guter Überblick); B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 226–241; GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 171–201, 190 (Zitat); HELMRATH: Reichstag und Rhetorik (wie Anm. 14), 111–115.

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1. Schon in den Jahren vor 1435, entstanden der ‚Tractatus de detrimento fidei orientis sive de origine Turcarum‘, eine Art Kreuzzugsgeschichte des gelehrten Augustinereremiten Andrea Biglia,68 den Enea Silvio als Student in Siena hörte. 2. Ebenfalls früh – 1438 – entstand ein Bericht des Franziskanervikars Bartholomaeus de Jano an einen Ordensbruder; überliefert als ‚Epistola de crudelitate Turcorum‘, schildert sie das harte Joch der Christen in den islamisch-türkisch beherrschten Gebieten.69 3. Aus dem Vorfeld der Schlacht von Varna stammt eine erste Aufforderung der europäischen Fürsten zum Türkenkrieg durch den Rhetoriklehrer Stephanus Fliscus (Fieschi) Soncinus vom 1. Mai 1443 aus Ragusa.70 4. Schon in das Vorfeld der ‚Clades‘ zu stellen ist ein Brief des Humanisten Francesco Filelfo an König Karl VII. von Frankreich von 1451,71 dem ein weiterer an Ludwig XI. 1461 und ein Traktatfragment ‚De origine Turcorum‘ folgten. 5. Eine Türkenrede, die Enea Silvio als kaiserlicher Diplomat persönlich anhörte, hielt der Kuriale und Historiker Flavio Biondo im April 1452 in Neapel vor Kaiser Friedrich III. und König Alfons V. Bedeutsam in unserem Ensemble wurde die länder- und türkenkundliche Ausweitung des Textes in der wiederum Alfons V. gewidmeten Schrift ,De expeditione in Turchos‘.72 Die Briefe des Venezianers Lauro Quirini an Papst Nikolaus V.

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ANNA MORISI: Art. ‘Biglia’, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983), 141 f.; D IANA M. WEBB: The Decline and Fall of Eastern Christianity: a Fifteenthcentury View, in: Bulletin of the Institute for Historical Research 49/50 (1976/77), 198–216. Biglias Werk ist wesentlich auf die verbreitete Schrift des Armeniers Hethum/Hayton ,Flos Historiarum terre orientis‘ aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts gestützt. 69 PERTUSI: Primi studi (wie Anm. 67), 467; MELVILLE: Wahrheit des Eigenen (wie Anm. 15), 84–87. 70 Trier, Stadtbibl. Cod. 1872 fol. 126r–130r; vgl. LUDWIG B ERTALOT: Eine humanistische Anthologie. Die Handschrift 4768 der Universitätsbibliothek München (Diss. Berlin 1908), in: DERS.: Studien zum italienischen und deutschen Humanismus, hg. von P AUL O. KRISTELLER (Storia e letteratura 129), Bd. 2, Rom 1975, 1–82, ebd. 81. 71 LUCIA G. ROSA: Il Filelfo e i Turchi. Un inedito storico dell’Archivio Vaticano, in: Annali della Facoltà di lettere e Filosofia dell’Università di Napoli 11 (1964–68), 109– 165; HANKINS (wie Anm 2), 127, 130; GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 176–190. Ebenso noch kurz vor dem Fall der Stadt entstanden sind die Reden des Georg von Trapezunt 1442/52 an Alfons V. und Ende 1452 an Nikolaus V.; JOHN MONFASSANI (Hg.): Collectanea Trapezuntiana. Texts, Documents and Bibliographies of George of Trebizond (Medieval and Renaissance Texts and Studies 25; Renaissance Texts series 8), Binghamton/New York 1984, 422–444, Nr. CXXIX–CXXXI. 72 Druck: Flavio Biondo: Scritti inediti e rari, con introduzione di BARTOLOMEO NOGARA (Studi e testi 48), Rom 1927, 107–114 und 31–58; dazu NOGARA ebd. CXXXII, Anm. 167; SCHMUGGE: Kreuzzüge (wie Anm. 2), 9, und die modellhafte Studie von OTTAVIO C LAVUOT: Biondos ,Italia Illustrata‘ – Summa oder Neuschöpfung? Über die

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(1453 Juli 15 aus Kreta)73 wurden Enea Silvio möglicherweise bekannt; bemerkenswerte Parallelen fallen immerhin auf. Von Benedetto Accolti als Begründer der jüngeren Kreuzfahrtshistoriographie war schon die Rede.74 6. Einen Typ kollektiver Türkenkriegsadhortation, der an Stefano Fieschi erinnert, repräsentiert die 1453 in Bologna von dem Guarinoschüler Timoteo Maffei aus Verona verfaßte ,Oratio ad principes Italiae de pace facienda et bello adversus Turcos movendo‘. Sie richtet sich an nicht weniger als elf namentlich genannte Fürsten, Republiken und Condottieri Italiens, von Alfons V. bis Sigismondo Malatesta.75 Vermutlich wurde die ‘Oratio’ nicht mündlich vorgetragen, sondern schriftlich versandt. 7. Als sehr wichtige Quelle für Enea Silvio erweist sich die Rede des Griechen Nikolaus Sagundinos vor Alfons V. vom 25. Januar 1454,76 die Arbeitsmethoden eines Humanisten (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 69), Tübingen 1990, 27 f. 73 Drucke: AGOSTINO P ERTUSI (Hg.): Le epistole storiche di Lauro Quirini sulla caduta di Costantinopoli e la potenza dei Turchi, in: Lauro Quirini umanista (Civiltà veneziana. Saggi 23), hg. von KONRAD KRAUTTER/P AUL O. KRISTELLER u.a., Florenz 1977, 163– 259, bes. 223–233; ebd. 213–220 zur Überlieferung; PERTUSI: Testi inediti (wie Anm. 35), 64–91; vgl. B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 231. Über Quirini ferner FRANZ B ABINGER : Johannes Darius (1414–1494), Sachwalter Venedigs im Morgenland, und sein griechischer Umkreis (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 5), München 1961, 53–56; MARGARET L. K ING: Venetian Humanism in an Age of Patrician Dominance, Princeton 1986, 419–421; HANKINS (wie Anm. 2), 122, sowie unten Anm. 85 und 120. Eine Leserede des Guarino-Sohnes Girolamo (,Contra Magni Turchi … impetum adhortatio ad Nicolaum V‘ vom 1. August 1454) macht HANKINS (wie Anm. 2), 187–192, bekannt. 74 Vgl. Anm. 32. 75 Druck: BERNARDUS PEZ/PHILIBERTUS HUEBER: Thesaurus anecdotorum novissimus seu Veterum monumentorum ... collectio, Bd. 6: Codex diplomatico- historico epistolaris, Augsburg 1729, 367–378, Nr. CXLVI; JORGA: Notes (wie Anm. 20), Bd. 4, 74 f. (Teildruck). Dazu: P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 1, 558 f.; SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 31 f., 50; PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 2, 500; B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 233; DIETRICH KURZE: Zeitgenossen über Krieg und Frieden anläßlich der Pax Paolina (röm. Frieden) von 1468, in: Krieg und Frieden (wie Anm. 16), 69–103, ebd. 71; wieder in: DERS.: Klerus, Ketzer, Kriege und Prophetien. Gesammelte Aufsätze, hg. von JÜRGEN SARNOWSKY/MARIE-LUISE HECKMANN u.a., Warendorf 1996, 393–433, ebd. 395. Zu Maffei allgemein: HEINRICH RUBEN: Der Humanist und Regularkanoniker Timoteo Maffei aus Verona (1415–1470), Phil. Diss., Köln 1975 (Aachen 1975), bes. 16 und 46 f. Eine ähnliche Funktion, nur zeitlich von 1454 bis 1459 gestreckt, erfüllen Briefe Antonio Panormitas an europäische Fürsten; hg. von H ANKINS (wie Anm. 2), 179–186. 76 Drucke: VINCENTIO MAKUSCEV: Monumenta Historica Slavorum meridionalium vicinorumque populorum deprompta e tabulariis et bibliothecis Italicis, Bd. I/1, Warschau 1874, 295–306 (fehlerreich); J ORGA: Notes (wie Anm. 75), Bd. 3 (1903), 315–323 (Teildruck); P ANAGIOTIS D. MASTRODIMITRIS: Nikolaos Sekoundinos (1402–1464). Bios kai Ergon, Athen 1970 (griech.), 124–128 (18 Handschriften); PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 2, 128–141 (mit Handschriften). Dazu siehe B ABINGER: Darius (wie Anm.

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Enea vielleicht schon 1454 über seine neapolitanischen Kontakte erhielt, ferner mit Sicherheit die ihm selbst 1456 gewidmete, auf der Rede aufbauende Schrift des Sagundinos ,De familia Authumanorum et origine Turcorum‘, die für die abendländische Kenntnis von türkischer Geschichte und Kultur einen Meilenstein darstellte.77 Mehrfach findet sich also in dieser Literatur eine genetische Kombination: eine Rede oder ein Brief vor einem beziehungsweise an einen Fürsten wurde nachträglich vom gleichen Autor zum türken- und türkeikundlichen ‘Fachtraktat’ oft militärischen Schwerpunkts ausgeweitet. Die gegenseitige Kenntnis und Benutzung durch die humanistischen Verfasser dieser Texte, so auch durch Enea Silvio, ist in einigen Fällen evident, in anderen wahrscheinlich. Genauere philologische Untersuchung des ganzen Breitenspektrums ist zu wünschen.

Spezialisten und Romantiker: Burgund Eine Sonderstellung nehmen die Texte des burgundischen Hofs ein, die in ihrer Parallelität von Pragmatismus und Romantik der Forschung gut bekannt sind: etwa die Reiseberichte, Studien und Feldzugspläne, die von jener Personengruppe am Hof Philipps des Guten von Burgund gesammelt wurden, die man als „qualifizierten Generalstab in Sachen Kreuzzug“ (Müller) beziehungsweise als „seminary for turkish studies“ (Schwoebel) bezeichnet hat:78 die Reiseschriften eines Gilbert de Lannoy, eines Bertrandon de la Broquière, oder den schon auf dem Konzil von Ferrara/Florenz 1439 vorgelegten Feldzugsplan (Advis) gegen die Türken von der Hand eines ‘Messir de Torzelo’. Praktische Bedeutung für Pius II. erhielten sie zur Zeit seines letzten Kreuzzugsplans 1463/64, als die türkeierfahrenen 73), 19 f.; DERS.: Nikolaos Sagundinos, ein griechisch-venedischer Humanist des 15. Jahrhunderts, in: DERS.: Aufsätze und Abhandlungen zur Geschichte Südosteuropas und der Levante, Bd. 3, München 1976 (zuerst 1965), 242–256, ebd. 203 f.; B ENTLEY: Politics (wie Anm. 2), 163 f. mit Anm. 49 (Handschriften); PERTUSI: Primi Studi (wie Anm. 67), 472–475; KING: Venetian Humanism (wie Anm. 73), 427–429 (biographische Übersicht). 77 Druck Wien 1551. Dazu: MASTRODIMITRIS: Sekoundinos (wie Anm. 76), 168–183; B ABINGER: Darius (wie Anm. 73), 23 f.; PERTUSI: Primi Studi (wie Anm. 67), 475–477, auch über Wirkungen auf Enea Silvio; PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 2, 126 f., 500; SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 148; HANKINS (wie Anm. 2), 137. 78 MÜLLER: Kreuzzugspläne (wie Anm. 2), 24–31, Zitat 24; SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 82–115, Zitat 92; J ACQUES P AVIOT: ‘Croisade’ bourguignonne et intérêts génois en mère Noire au milieu du XVe siècle, in: Studi di Storia medioevale e di diplomatica 12–13 (1992), 135–162, betrifft die Flottenexpedition von Geoffroy de Thoisy und Waleran de Wavrin 1444–45; umfassend J ACQUES PAVIOT: La politique navale des ducs de Bourgogne 1384–1482, Lille 1995.

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Experten Geoffroy de Thoisy und Walerand de Wavrin an der Planung des burgundisch-päpstlichen Flottenunternehmens beteiligt waren.79 An die ritterethische Komponente höfischer Kreuzzugsromantik und ihre reiche literarische Bearbeitung, gipfelnd im Hoffest des sogennanten Fasanenschwurs von Lille (April 1454),80 sei nur am Rande erinnert. Wie für die Herrschaft Aragons in Neapel mag besonders prononciertes Kreuzzugspathos auch bei den Burgunderherzögen, als Aufsteigern im Mächtesystem, dem Erwerb höheren Ruhms als Kompensierung prekärer Herrschaftslegitimation gedient haben.81 Im Traum waren sich Philipp der Gute und Pius II. von allen europäischen Politikern am nächsten.82 Der Papst, wie bereits der kaiserliche Diplomat 1454/55, versäumte denn keine Gelegenheit, den Kreuzzugseifer des alten Herzogs zu loben. Dies geschah nicht ohne massiv politische Implikation, einer doppelten Spitze gegen Frankreich; einmal gegen das gallikanische Frankreich der ,Pragmatique Sanction‘ von Bourges’ (1438), jener der Kurie zutiefst suspekten Errungenschaft aus Konzilszeiten, zum anderen gegen Anjou-Frankreich mit seinen unermüdlich vorgebrachten Ansprüchen auf Neapel, seiner stets latenten und nach Ende des 100jährigen Krieges wieder wachsenden Bereitschaft, in Italien zu intervenieren. Diese Distanz zu Frankreich in Politik und Opera Pius’ II. und ihre italienische Tradition hat Patrick Gilli ausführlich dargelegt. Die „perspective dépréciative“ einer „dévalorisation“, ja eines „extrèmisme“ des Piccolomini gegenüber Frankreich und seinen Monarchen scheinen ebenso etwas überzeichnet, wie Gillis geradezu indig-

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SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 99 f., 106 f.; zu Bertrandon de la Brocquière jetzt MELVILLE: Wahrheit (wie Anm. 15), 92–94. Vgl. Anm. 80. 80 MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 21–24; MÜLLER: Kreuzzugspläne (wie Anm. 2), 60–64 und passim; zuletzt MARIE T. CARON: 17 février 1454. Le Banquet du Voeu du Faisan, fête de cour et stratégies de pouvoir, in: Revue du Nord 78 (1996), 269–288, und der Sammelband: Le banquet du Faisan 1454: L’occident face au défi de l’Empire ottoman. Textes réunis par M ARIE-T HERESE CARON/DENIS C LAUZEL, Arras 1997, darin besonders JEAN R ICHARD: La Bourgogne des Valois, l’idée de croisade et la defense de l’Europe (15–27); ferner MALTE PRIETZEL: Guillaume Fillastre der Jüngere (1404/07– 1473). Kirchenfürst und herzoglich-burgundischer Rat (Beihefte der Francia 51), Stuttgart 2001, zur Kreuzzugspolitik 151–196, 285–306. 81 Vgl. GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 212 Anm. 143: „S’engager en croisade est un précieux moyen de reconnaissance internationale“. Ähnlich bereits JOHAN HUIZINGA: Herbst des Mittelalters (Kröners Taschenausgabe 204), hg. von KURT KÖSTER, Stuttgart 11 1975, 129 f. 82 ADRIAAN G. J ONGKEES: Pie II et Philippe le Bon, deux protagonistes de l’union chrétienne, in: DERS.: Burgundica et varia, Hilversum 1990, 172–190 (zuerst 1980); MÜLLER: Kreuzzugspläne (wie Anm. 2), 105–126.

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niertes Gewahrwerden von Pius’ Tendenz zu einer „germanisation“ der Franken und damit der europäischen Geschichte.83 Im Folgenden sind einige der typischen Motive im Bild von den Türken vorzustellen, die, maßgeblich mitübermittelt durch Enea Silvios, stilbildend geworden sind:

Motive des Türkenbildes 1. Turcorum rabies – effeminati Turcae Beschreibungen der ‘Türkengreuel’, kürzlich als „the fifteenth century equivalent of the CNN camera“ bezeichnet – gehören zur Grundausstattung der über 30 Berichte von der Eroberung Konstantinopels im Mai 1453 und ihrer Kolportation quer durch Europa. Diese und spätere Greueltaten und -berichte trugen wesentlich dazu bei, die Türken für lange Zeit zum festen Element der „peur en occident“ (Delumeau) zu machen. Gewisse Stereotypa finden sich fast durchgehend:84 Abschlachten des Adels, geschändete Nonnen, Verspottung des Kreuzes, Hostien seien Hunden und Säuen zum Fraß vorgeworfen worden etc. Konkrete Erfahrung von Massaker und Blasphemie durch Augenzeugen wird in Topoi des antiken literarischen Motivs der ‘urbs capta’ rhetorisch verarbeitet und sollte künftig das Feindbild vom grausamen Türken mitprägen.85 Die Frankfurter Rede 83

G ILLI: Au miroir (wie Anm. 2), Zitate 79, 85, 10, 132, bes. 202–211 und 243–251 zu Pius’ II. Versuch einer Imagestärkung Burgunds gegen Frankreich durch die Kreuzzugsidee und zur Interventionsangst; vgl. DERS.: Les éléments pour une histoire de gallophobie italienne à la Renaissance: Pie II et la nation française, in: Mélanges de l’École Française de Rome. Moyen Age/Temps modernes 106/1 (1994), 275–311. – Zum Feindbild ‘Burgund’ im 15. Jahrhundert instruktiv: SIEBER-LEHMANN: Mehmed II. und Karl der Kühne (wie Anm. 25). 84 Siehe die Literatur in Anm. 35, bes. MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 4–11; MERTENS: Friede (wie Anm. 2), 51 f.; LESLIE F. SMITH: Pope Pius II’s Use of Turkish Atrocities, in: Southwestern Social Science Quarterly 46 (1965), 407–415; HANKINS (wie Anm. 2), 135 (Zitat). Zum Topos: HERMANN: Türke und Osmanenreich (wie Anm. 25), 56–62; GROTHAUS: Türken-Feindbild (wie Anm. 25), 297–340; SIEBER-LEHMANN: Mehmed II. (wie Anm. 25), 17–21; RANDO: Fra Vienna e Roma (wie Anm. 2), 300–308. 85 G. M. P AUL: ‘Urbs capta’. Sketch of an Ancient Literary Motif, in: Phoenix. The Journal of the Classical Association of Canada 36 (1982), 144–55. Die ‘urbs capta’ war offenbar früh Gegenstand rhetorischer Übung, und zwar besonders der erhabenen Stilart (genus grave) der Elocutio. Als Nucleus anzusehen ist etwa Rhet. ad. Herennium IV, 12: quo modo deum templis spoliatis, optimatibus trucidatis, aliis abreptis in servitutem, matribusfamilias et ingenuis sub hostilem libidinem subiectis urbs … concidat; vgl. dann ausgeweitet Quint., Inst. or. VIII 3, 67–70 im Kontext des rhetorischen ornatus. Vgl. stellvertretend Lauro Quirini, Brief an Nikolaus V. vom Fall Konstantinopels 1454 Juli 15: Mihi enim animo consideranti vetus Troiae excidium, Carthaginis infelicem eversio-

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des Enea Silvio mündet nach Schilderung der Türkengreuel über eine dreifache anaphorisch gebaute exclamatio (o miseram...) in den bekannten Vergilvers Quis talia fando temperet a lacrimis (Verg., Aen. II 6). Dann folgt ein Schwenk zur Person, zu Machometus-Mehmed, womit die Klimax der Greuel erreicht ist. Der Sultan wird, wiederum mit vergilischen Epitheta, als Bestie präsentiert: terribili facie, tetris oculis, horribili voce, Eigenschaften, welche die dem wütigen Neoptolemos in der Iliupersis (Aen. II 495–502) zugemessenen an Drastik übertreffen. Die Passage befindet sich innerhalb der Rede im Kapitel der den Krieg rechtfertigenden feindlichen iniuriae. Die Tatsache, daß der Monarch persönlich mit mörderischer Willkür (nunc istum nunc illum ad cedem poscit) an den Massakern beteiligt ist, es sich mithin nicht um bloße Übergriffe handelt, erhöht offenbar die Legitimation des geforderten militärischen Eingreifens.86 Scheinbar paradox und die Schwierigkeit der motivischen Bewältigung anzeigend, erscheinen die Türken fast zugleich im Kontrast als schwächlich und ‘verweichlicht’ (effeminati Turcae); darin übrigens dem Perserbild der Griechen ähnlich. Das Ziel: die gefürchtete Armee der Türken im Argumentieren für die facilitas belli schwach zu reden, sowohl charakterlich, in der Kampfmoral, wie technisch, in ihrer primitiveren Bewaffnung. Stark sind sie, wie einst Perser oder Midianiter, nur in ihrer Masse und dennoch beziehungsweise gerade deshalb, wie Alexander und Gideon gezeigt haben, leicht zu besiegen. Altes Testament und Antike liefern die Exempla. Enea münzt die Rede des Italikers Numanus gegen die Trojaner in Aen. IX auf die Türken um. Erneut dient Vergil als die literarische auctoritas dieses Vergleichs zwischen Islam = Asien und Christentum = Europa.87 nem, miseram Ierusalem captivitatem, Saguntinam cladem multarumque praeterea nobilissimarum urbium eversionem, nulla videtur neque foedior, neque crudelior, neque miserior fuisse. Quanto enim Urbs nobilior ceteris erat, tanto infelicior casus. Unter den Greueltaten die für den Humanisten fast schlimmste: Ultra centum viginti milia librorum volumina ... devastata; P ERTUSI: Epistole di Quirini (wie Anm. 73), 226, Z. 86–91; 227, Z. 95–97. Eine Fülle Materials zum Topos der ‘urbs capta’ in den in Anm. 35 genannten Ausgaben. 86 Zur Stilisierung Mehmeds II. s. unten bei Anm. 110–112. 87 Eine charakteristische Passage der ,Clades‘-Rede sei stellvertretend zitiert: Conferamus nunc Turcos ac vos invicem et, quid sperandum sit, si cum illis pugnetis, examinemus. Vos nati ad arma, illi tracti; vos armati, illi inermes; vos gladios versatis, illi cultris utuntur; vos balistas tenditis, illi arcus trahunt; vos loricae thoracesque protegunt, illos culcitra (sc. eine Art Stoff-Polsterung) tegit; vos equos regitis, illi ab equis reguntur; vos nobiles in bellum ducitis, illi servos aut artifices cogunt. ... Vobis ‘flectere ludus equos et tendere spicula cornu’ (Aen. IX v. 606, 609). Vos ‘omne aevum ferore terretis’, vestra iuventus torneamentis intenta est aut ‘quatit oppida bello’ (Aen. IX, aus v. 609 und 608) ... ‘Illis pictae croco et fulgenti murice vestes/desidiae que cordi’ sunt summa voluptas ‘indulgere choreis’ (Montage aus Verselementen von Aen. IX 614–616

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2. De origine Turcorum:88 Ethnographische Innovation als Polemik In der ,Clades‘ hatte Enea Silvio emphatisch die Bedeutung Konstantinopels als edle Mutter der Literatur und Kultur geschildert. Dem wird als Kontrast das Niedrige und Verächtliche der Zerstörer und neuen Herren gegenübergestellt. Genau dies ist der argumentative Ort eines Exkurses über die origo Turcorum. Sie liefert eine Art negatives „historisches Hintergrundverständnis“,89 nicht nur der Türken, sondern – dies ist bei allen diesen Figuren zu beachten – auch der eigenen, positiven, Identität. Das argumentative Ziel besteht darin, mit gelehrt-wissenschaftlichen, vor allem antike auctoritates heranziehenden „commonplaces“ die unedle Herkunft der Türken und ihre daher unberechtigte Herrschaft zu demonstrieren. Die gesamte Passage sei zitiert:90 Neque enim, ut plerique arbitrantur, Asiani sunt ab origine Turci, quos vocant Teucros, ex quibus est Romanorum origo, quibus littere non essent odio: Scytharum genus est ex media Barbaria profectum, quod ultra Euxinum Pyrrichiosque montes, ut Aethico philosopho placet, ad septemtrionalem Oceanum sedes habuit, gens immunda et ignominiosa, fornicaria in cunctis stuprorum generibus, quae, ut tradit Otto Frisingensis episcopus, non futilis auctor,91 regnante apud Francos Pipino montes Caspios

unter leichter Veränderung). Solus Mahometus et, quos dixi, quindecim millia expediti sunt (sc. die Janitscharen), quos sonus delectat armorum (vgl. Verg., Georg. 3, 83) et animus in bella paratus exhibet audaces. Caeteros inexpertos timidos effeminatos (!) nullius pretii iudicetis. Quod si manus cum illis conferatis, nihil est, quod de victoria dubitetis; MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 278. Ähnlich in der Rede ,Cum bellum hodie‘; hg. von MANSI: Collectio Conciliorum 32, 213AB, und in der Bulle ‚Ezechielis‘ (1463): pudet semiviros (!) Asiaticos Grecorum gentem (quod nunquam antea fecerunt) subegisse; hg. von REUSNER: Orationes de bello Turcico (wie Anm. 52), Bd. 2, 51. 88 MARGARET MESERVE: Medieval Sources for Renaissance Theories on the Origins of the Ottoman Turks, in: BODO GUTHMÜLLER/W ILHELM KÜHLMANN (Hg.): Europa und die Türken (wie *), 409–436. 89 B LUSCH: Enea Silvio und Campano (wie Anm. 44), 111. – Zur antiquarischen Seite der europäischen Türkenliteratur, in der die origo Turcorum (v.a. die Skythen-Theorie) und ihres Namens einen andauernden Platz fand, siehe HERMANN: Türke und Osmanenreich (wie Anm. 25), 129–135, 175–181, 291–298; GÖLLNER: Turcica (wie Anm. 25), Bd. 3, 229–250 und speziell M ICHAEL J. HEATH: Renaissance Scholars and the Origins of the Turcs, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 41 (1979), 453–471, bes. 455, 464 f., der die fortdauernde Wirkung der Aethicus-Zitate bei Enea Silvio eindrücklich aufzeigt; zuletzt wichtig HANKINS (wie Anm. 2), 135–144. Zur späteren Rezeption der origo-Theorien: GROTHAUS: Türken-Feindbild (wie Anm. 25), 178–212. 90 MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 269. Die steil markieren Stellen sind Zitate aus Aethicus Ister (s. unten Anm. 97). 91 Enea Silvio ist dabei wohl der erste Renaissanceautor, der für sein eigenes Werk Otto von Freising wieder rezipiert. Vgl. BRIGITTE SCHÜRMANN: Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert (Historische Forschungen 12),

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exivit, ac longo itinere in Asiam se recepit ibique posthac morata est. Et quamvis sub miti coelo et mundiori terra per tot saecula parumper excultam se praebuerit, sapit tamen adhuc multum pristinae deformitatis neque omnem barbariem detersit. Carnes adhuc equorum, vesontium vulturumque comedit, libidini servit, crudelitati succumbit, literas odit, humanitatis studia persequitur.

Nicht vom Ursprung her, wie viele glaubten, seien die Türken ‘Kleinasiaten’ (Asiani nach der römischen Provinz Asia), geschweige denn – darauf ist zurückzukommen – wegen einer Abkunft von den Trojanern (Teucri); vielmehr stammten sie von den Skythen ab, jenem „schmutzigen und schimpflichen Stamm, verhurt in allen Sorten der Unzucht“. Erste Intention der Passage ist, die Abstammung der Türken vom antiken Randvolk der Skythen zu kanonisieren. Die Skythen in ihrem vagen Siedlungsgebiet im Nordosten der Oikumene waren der einzige aus der Antike und mit deren auctoritas zitierbare Volksname, der die historisch so schwierig nachweisbare Herkunft der Türken abzudecken schien.92 Ihr Image war seit Herodot pejorativ besetzt als das von Barbaren par excellence;93 es hatte zwar Züge der ‘monströsen Volker des Erdrandes’,94 schien aber dennoch mehr der überprüften historischen Tatsachenerfahrung der Antike zu entsprechen. ‘Der Skythe’ ließ sich in dieser origo-Theorie, die ebenso antiquarisch gespeist wie polemisch war und ungleich weniger differenziert als einst Herodot, als Antityp der Zivilisation auf ‘den Türken’ übertragen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts, bei Sagundinos und Enea Silvio, und noch bis in das spätere 18. Jahrhundert war dies offenbar auch die modernste

Stuttgart 1986, 22 f. Genauer zu klären ist die Benutzung von Flavio Biondo, von dessen ,Decades‘ Pius II. 1463 bekanntlich eine ,Epitome‘ verfaßte. 92 Vermeintlich antike Belege für die ‘Turcae’ (Plin., nat. hist. VI 19 und Pomp. Mela I 116) gelten nach heutiger Forschung als Verschreibungen der bei Herodot IV, 22 genannten Iurkai. Vgl. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2. R. VII A2, Art. ‘Turcae’ (A. HERMANN), 1377, und ebd. X,1 Art. ‘Iurkai’ (A. HERMANN), 1386–1390, ebd. 1386: Die bei Herodot belegten Iurkai sind „nicht die Stammväter der Türken“. Vgl. NORBERT WAGNER: Die Turci bei Fredegar, in: Beiträge zur Namensforschung. Neue folge 19 (1984), 402–410. Zu den Grundlagen der antiken Ethnographie: W ILLFRIED N IPPEL: Ethnographie und Anthropologie bei Herodot, in: DERS.: Griechen, Barbaren und Wilde. Alte Geschichte und Sozialanthropologie (Fischer-Taschenbuch 4429), Frankfurt am Main 1990, 11–29. 93 Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2. R. II A1, Art. ‘Skythe’ (K. KRETSCHMER), 923–946. Vgl. GEBEL: Nikolaus von Kues (wie Anm. 25), 71 zum Skythenbild der ,Cosmographia‘. Nicht übersehen werden darf, daß der durchaus germanophile Pius für den Stamm der Franken während der Völkerwanderung einen Aufenthalt in Skythien annimmt: Hoc ergo Francorum genus, cum e Scythia in Germaniam venisset ibique diu consedisset germanicum effectum est; Europa, in: Opera omnia (wie Anm. 19), 434; zitiert GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 127, Anm. 77. 94 Vgl. MÜNKLER/RÖCKE: Ordo-Gedanke (wie Anm. 11); J OHN B. FRIEDMAN: The Monstruous Races in Medieval Art and Thought, Cambridge/London 1981.

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wissenschaftliche Hypothese, die man hatte.95 Die Skythen seien zur Zeit Pippins des Jüngeren über den Kaukasus, wo sie durch Alexander hinter ehernen Pforten eingeschlossen worden waren, sc. nach Kleinasien eingewandert. Dort seien sie unter heiterem Himmel und auf gesegneter Erde (sub miti celo et mundiori terra) im Lauf der Jahrhunderte ein wenig kultivierter (parumper excultum)96 geworden – eine Facette aus der antiken Klimatheorie. Hinter den Worten parumper excultum verbirgt sich für den Humanisten offenbar unterschwellig eine Chance für die Kultivierbarkeit der Türken und damit ihre Anpassung an die abendländischen Werte. Das bleibend Barbarische wird hingegen anhand einer geradezu ethnographischen Aufzählung ekelhafter Speisen als Indikatoren von Kultur beziehungsweise Unkultur demonstriert. Es sind sämtlich unreine oder tabuisierte Tierarten (Pferde, Wisente, Geier). Die elf abhominabilia bei Aethicus Ister,97 der Quelle, reduziert Enea auf drei, unter Weglassen der widerlichsten (etwa der Föten von Frühgeburten), was als klassische Mäßigung gedeutet werden mag. Wie auch immer, der Türke, so wird weiter impliziert, frönt der Lust und der Grausamkeit, haßt die litterae und verfolgt die studia humanitatis. Daß in diese Hände jetzt das gelehrte und redekundige Griechenland, die Mutter der Wissenschaften und Künste, falle, wer könnte darüber nicht genug weinen?98 Das Verdikt des litteras odit, mochte es auch auf Mehmed II. persönlich kaum zutreffen, war die tödlichste Disqualifikation in den Augen des Humanisten; und nur er konnte daher die Katastrophe wirklich nachfühlen, welche die clades Constantinopolitana für Kunst und Wissenschaft bedeutete. Enea zitiert explizit zwei Quellen, und zwar, soweit ich sehe, als einziger zeitgenössischer Autor, den Aethicus Ister („eines der größten Rätsel der mittellateinischen Philologie“; Michael W. Herren) und – für die Wanderung der Türken – Otto von Freising. Die Kosmographie des sogenannten ‘Aethicus aus Istrien’, von Enea wohl wegen der vermeintlichen Bedeutung Ethicus in Reminiszenz an Aristoteles Ethicus philosophus genannt – wird bei umstrittener Verfasserfrage, von der Forschung in das 4. 95

HANKINS (wie Anm. 2), 144. MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 25 Anm.79, wies bereits auf die Stelle hin. 97 Die Kosmographie des Aethicus (Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 14), hg. von O TTO PRINZ, München 1993, c. 4, 120, Z. 6–10: Comedent enim universa abominabilia et abortiva hominum, iuvenum carnes iumentorumque et ursorum, vulturum et choradrium ac milvorum, bubonum atque visontium, canum et simiarum. Vgl. mit Hinweis auf Enea Silvio (aber nicht auf Aethicus): ARNO BORST: Barbaren. Geschichte eines europäischen Schlagworts, in: DERS.: Barbaren, Ketzer und Artisten, München 1988 (zuerst 1972), 25. Siehe jetzt auch HANKINS (wie Anm. 2), 121. 98 Ähnlich, leicht erweitert, dann in Pius’ II. ‚Cosmographia‘, in: Opera omnia (wie Anm. 19), 383 f. 96

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beziehungsweise 8. Jahrhundert datiert und als Kompilation antiken und nachantiken Materials angesehen.99 Sie beschert dem Benutzer immerhin ein geographisches Hapax legomenon wie die ‘Birrichii (Pyrrichii) montes’, die, falls überhaupt real, bis heute nicht identifiziert werden konnten.100 Die beiden Passagen aus Ister, angereichert durch Kenntnisse aus Nikolaus Sagundinos’ ,De familia Authumanorum‘ (1456), drangen über die ,Europa‘ (1459) und ,Asia‘ (1461) des Piccolomini in die europäische Türkenliteratur und in die Historiographie ein.101 Die Bemühungen um die ‘origo Turcorum’ dürfen als anschauliches Beispiel dafür gelten, wie im Humanismus neues Erfahrungswissen integrierende historische und ethnographische Interessen wissenschaftliche Aufklärung anstrebten und erreichten, zugleich aber zu neuer Mythenbildung führen konnten. Die Skythen-Hypothese schloß definitiv eine andere, romantischere origo aus: die Abstammung der Türken von den Trojanern: 3. Turci – Teucri: Die Türken – (keine) Nachfahren der Trojaner Unermüdlich und mit Ingrimm bringt der Enea in verschiedensten Texten seine Kritik an der falschen Gleichsetzung von Türken und Trojanern vor, von Turci und Teucri,102 wie sie sich mehr oder weniger unreflektiert ein99

GÜNTHER BERNT: Aethicus Ister, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), 192; und die Einleitung der Edition von Prinz: Kosmographie (wie Anm. 97), 1–84. Daß Ister „in der Humanistenzeit“ keineswegs „in Vergessenheit geraten“ ist, wie P RINZ (70) meint, dürfte das Zitat bei Enea Silvio und die von ihm ausgelöste Zitatenflut hinreichend belegen. Vgl. Belege des 16. Jahrhunderts zur skythischen Herkunft der Türken bei HERMANN: Türke und Osmanenreich (wie Anm. 25), 292 f., Anm. 5; HEATH: Renaissance scholars (wie Anm. 89), passim. 100 HEATH: Renaissance scholars (wie Anm. 89), 457, Anm. 21: „do not figure in any respectable ancient cosmography“. Sie gerinnen nichtsdestoweniger zu Hexametern in Pius’ Gedicht ‚Turce paras‘: Pyrrhicheos montes et ‘inhospita saxa’ (Verg., Aen. V 627) colebat; Carmina, hg. von VAN HECK (wie Anm. 60), Nr. 101, 158, Z. 13. 101 Beispiele: AGOSTINO P ERTUSI: La descrizione della caduta di Costantinopoli (1453) nelle ,Historiae polonicae‘ (Liber XII) di Jan Długosz e le sue fonti, in: Italia Venezia e Polonia tra medio evo e età moderna, hg. von V ITTORE B. S. GRACIOTTI (Civiltà Veneziana. Saggi 35), Firenze 1980, 497–514, bes. 504–513; MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 4, Anm. 8; MICHAEL J. HEATH: Crusading Commonplaces: La Noue, Lucinge and Rhetoric against the Turks (Travaux d’Humanisme et Renaissance 209), Genf 1986, bes. 26 f. 102 Dazu ohne die ältere Literatur: GÖLLNER: Turcica Bd. 3 (wie Anm. 25), 232–236; MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 13 f. Anm. 37; PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 1, 371 (Literatur); SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 70f., 148–152, 204–206; HEATH: Renaissance Scholars (wie Anm. 89), 455 f.; B IANCHI: Intorno a Pio II (wie Anm. 55), 132–136; HANKINS (wie Anm. 2), 137 Anm. 83: „This theme is so frequent in Pius’ letters and sermons as to amount to an obsession“, ebd. 135–144 wichtig zur origo Turcorum und zur Frage Turci-Teucri (136 f.) bei den Humanisten; MELVILLE: Wahrheit (wie

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gebürgert hatte. Der Name ‘Teucri’ aber war dem Kenner als Synonym für ‘Troianer’, nach dem sagenhaften Stammvater Teukros, zumindest aus Vergil bestens bekannt. Die Diskussion bildet erneut ein gutes Beispiel des Einsatzes antiquarisch-philologischen Wissens der Humanisten für ein propagandistisches Ziel. Die Positionen waren zwiespältig. Einerseits kam die Gleichsetzung der im Westen verbreiteten Ansicht nun auch ethnologisch entgegen, die Türken seien als Beherrscher Kleinasiens die Rächer Trojas an den Nachfahren der alten Danaer, den zeitgenössischen – schismatischen und unionsunwilligen – Griechen.103 Andererseits wurde die Vorstellung unerträglich, das berühmte Sagengeschlecht der Gründer Roms, dessen Aeneas überdies der Namenspatron des Piccolomini war, sei mit den jetzigen Vernichtern eben dieses (ost-)römischen Reiches gleichzusetzen. Täter und Opfer – hier spielt die stets latente Analogie der beiden ‘urbes captae’ Troja und Konstantinopel mit – konnten und durften auch onomastisch nicht gleicher Wurzel sein. Diese Position zog die Wissenschaft langsam auf ihre Seite. Schon Poggio hatte den Fehler der anderen, noch zögernd, gesehen.104 Enea Silvio, der zunächst auch ganz selbstverständlich von Teucri sprach, machte spätestens 1447 in Form einer Sprachreinigung Ernst.105 Pedantisch wurden seine Briefe und Reden purgiert,106 oft mit rhetorischer correctio: Turci, ne dicam Theucri.107 Damit war die Anm. 15), 81: Francus und Turcus als Enkel des Priamos und Stammväter von Franken und Türken noch bei Felix Fabri (1483). 103 Vgl. W EBB: Decline and Fall (wie Anm. 68), 209 f.; M. J. MCGANN: ‘Haeresis castigata, Troia vindicata’. The Fall of Constantinople in Quattrocento Latin Poetry, in: Res Publica Litterarum 7 (1984), 137–145 (u.a. zur ,Constantinopolis‘ des Ubertino Pusculo). 104 Quod queritis Teucros ne an Turci dici debeant ... potius vero eos dixerim Turcos novo nomine ...; ep. VI. 23 (TONELLI XII, 3), in: P OGGIO B RACCIOLINI: Lettere, hg. von HELENE HARTH, Bd 3, Florenz 1987, 286, Z. 22 und 28. In ,De varietate fortunae‘ hatte er noch konsequent von Teucri gesprochen, ebenso wie zuvor recht dezidiert Salutati: Videtis Teucros; sic enim appellare potius libet quam Turchos, postquam Teucriam dominantur (!); Epistolario di Coluccio Salutati (Fonti per la storia d’Italia 13/3), hg. von FRANCESCO NOVATI, Bd. 3, Rom 1927, 208 mit Anm. 1 (weitere Belege). 105 Erste Redaktion der Laienbriefe in der Handschrift Rom, Bibl. Vat. Chis. J VI 208; schon von RUDOLF W OLKAN: Die Briefe des Eneas Silvius vor seiner Erhebung auf den päpstlichen Stuhl. Ein Reisebericht, in: Archiv für österreichische Geschichte 93 (1905), 351–369, ebd. 357 auf Kenntnis Ottos von Freising (Chron. I 58, III 58 u.ö.) zurückgeführt. 1448 November 25 an Nikolaus V. über die Amselfeldschlacht schreibt er schon konsequent Turci; W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. II, Nr. 23, 72–77. 106 Wolkan (wie Anm. 18) weist passim ebenso pedantisch alle Änderungen im Apparat aus. Manchmal hat Enea auch ein paar Teucri übersehen; etwa W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. I, Bd. 1, 566, Anm. 4. Die Korrekturen gehen freilich mit einer allgemeinen Bearbeitung einher, zum Beispiel wird dieta (für Reichstag) durch conventus ersetzt. 107 Zwei Beispiele von vielen: Brief an Nikolaus von Kues 1453 Juli 21; W OLKAN (wie Anm. 18), Abt. III, Bd. 1, Nr. 112, 209 f.; zitiert MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 44,

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kulturelle Exklusion der Türken vollends sanktioniert. Andere, sich turkophil gebende Humanisten wie Filelfos Sohn Gian Maria in seinem ca. 1471/76 entstandenen Epos ,Amyris‘108 setzten hingegen weiter Türken und Trojaner gleich, deklamierten mit einem gewissen Snobismus die clades Constantinopolitana als Rache für die clades Troiana. Exzentrische Turkophilie mischte sich mit traditioneller Griechenfeindschaft und dem Versuch, das Türkentrauma des Westens dergestalt zu domestizieren, daß man die Türken in klassische Traditionen integrierte.109 Man mag darin Ansätze eines kulturellen Pluralismus sehen, wie er etwa unter Intellektuellen des untergegangenen griechischen Ostens begegnet, wo man sich ein geschmäcklerisches Liebäugeln mit dem Sultan leisten konnte, zugleich aber angesichts einer Rebarbarisierung des Islams durch ‘den Türken’ von der eigenen kulturellen Überlegenheit tief durchdrungen war. 4. Das Bild Mehmeds II., der Charakter des Feindes Als Schlächter war der Sultan im ersten Teil der ,Clades‘ kurz erschienen, erneut tritt er, verändert, im letzten Teile der Rede auf. Der vierte der selbsterhobenen Einwände gegen Eneas Appell zum Krieg hatte gelautet: Mehmed II. werde künftig ohnehin Ruhe geben (quieturum existimant), man brauche daher momentan keinen Krieg zu übereilen. Für Enea bietet die Widerlegung dieser Meinung den Anlaß, eine descriptio personae Mehmeds zu zeichnen, ein Charakterbild, das in der zeitgenössischen Litratur seinesgleichen sucht und von Blusch zu Recht als „kleines Meisterstück“ bezeichnet wurde.110 Als ein Entschlüsseln (reserabo) bezeichnet der Redner sein Unterfangen, etwas de consuetudine et natura huius hominis mitzuteilen. Das Ziel ist im Kleinen, wie für die ganze Rede im GroAnm. 37: Non enim, ut quidam rentur, Teucri sunt neque Perse, qui nunc Turchi dicuntur. Die auf dem Reichstag von Wiener Neustadt im Februar 1454 gehaltene Rede ,Frequentissimus‘: Eligenda belli sedes, qua Turcos aggredi expediat. Non dicam ‘Teucros’ nunquam enim foedissimae conditionis gentem tam claro nomine honestabo. Neque Asianos dicam Romani populi patres, qui ex barbarica Scytharum faece originem ducunt; MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 308. Vgl. oben Anm. 47. – Interessanterweise hat die Kopie Wien, Dominikanerbibliothek 235, auf die ‚Clades‘ folgend, auf fol. 73 v–75 v die von Enea vorformulierte Regensburger Proposition vom Mai 1454; wo noch stereotyp von Thurci alias Theucri geredet wird; Deutsche Reichstagsakten 19.1, Nr. 38.1. 108 G IAN MARIA F ILELFO: Amyris, hg. von Aldo Manetti, Bologna 1978. Vgl. P ERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 2, XIV f., 501, 509 f.; CAVALLARIN: L’umanesimo e i Turchi (wie Anm. 2), 62–74. 109 Vgl. HANKINS (wie Anm. 2), 140–142, mit weiteren Beispielen. 110 B LUSCH: Enea Silvio und Campano (wie Anm. 44), 117. Die ganze Passage der ‚Clades‘: MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 281; dasselbe verknappt in der Rede ‚Cum bellum hodie‘; MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 32, 212AB.

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ßen, deliberativ: ut, quid sperandum quidque timendum sit, ... certius habeatis. Mehmed ist ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren (iuvenis est adversarius noster aetate florida), von heftigem, ruhmsüchtigem Wesen, aber sonst mit austeren, asketischen Eigenschaften versehen; Eigenschaften, die zum Teil genau das Gegenteil derjenigen sind, die Enea zuvor, unter anderem anhand der Numanusrede aus ,Aeneis‘ IX, den Türken zugedichtet hatte und die das ambivalente Türkenbild des Westens ‘Zwischen Venus und Mars’ wesentlich mitprägten: ‘Verweichlichung’, Luxus und vor allem – Anlaß für neidvollen Abscheu – sexuelle Exzesse.111 Stattdessen aber erhält der Sultan eine Reihe von erstaunlichen ‘Non-Eigenschaften’ bezüglich Essen, Trinken (Alkohol), Frauen (zumindest angeblich), Musik, Jagd etc. zugeschrieben. Sie erinnern geradezu an den Stil von Heiligenviten (‘der heilige N. ging nicht..., tat nicht..., redete nicht’) und gehören überdies in den Kontext des ‘puer-senex’-Topos.112 Dabei sind negierte Verben (neque vino ... indulget; non canes alit) mit transitiv nichtnegierten (choreas fugitat, unguenta devitat) gemischt. Mäßigkeit, das ist doch auch im christlichen Sinne positiv, geradezu monastisch. Es handelt sich also um eine geradezu provokante Askese des Sultans, der gegenüber ein geheimer mißtrauischer Respekt kaum verhehlt werden kann. Im Echo des bayerischen Rats und Klerikers Konrad Rottenauer, der Enea Silvio in Frankfurt gehört hat und seinem Fürsten, Herzog Ludwig von Niederbayern, vom Reichstag berichtet, zeigt sich, daß er bei der Rede besonders auf ‘Turcica’, auf exotische Neuigkeiten, geachtet hat: si gaben auch des Turgken siten und naigung zu erkennen, das im weder turnieren singen tanz frawen und ichtz anders bekumer.113 Diese Passage ließe geradezu als Denunziation unhöfischen Verhaltens und damit eben doch – für ein adliges Publikum – kritisch interpretieren: wer sich nicht für Turniere,

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Dazu HERMANN: Türke und Osmanenreich (wie Anm. 25), 63–66; GROTHAUS: Türken-Feindbild (wie Anm. 25), 265–276; dieser Ansatz durchgängig bei KLEINLOGEL: Exotik, Erotik (wie Anm. 143); HANKINS: Renaissance crusaders (wie Anm. 2), 143; S IEBER -LEHMANN: Mehmed II. (wie Anm. 25), 16, u.a. zur Homosexualität als Teil des Feindbildes. 112 Zur traditionellen Islamkritik gehörte die Auffassung, das – offenbar irritierende – Alkoholverbot für die Muslime werde durch größere Libertinage vor allem sexueller Art kompensiert. Vgl. Pius II. in der Rede ,Cum bellum hodie‘ (1459): Vini tantum consuetudinem prohibens, ceteras voluptates indulget; stupra et adulteria ... admittit, uxores plurimas et cum his divortia passim concedit (sc. Mahomethea lex); hg. von MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 32, 215B. Zum ‘puer-senex-Topos’ ERNST R. CURTIUS: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 31961,108–112. 113 Augsburg Staatsbibl. Öttingen-Wallersteinsche Bibl. I,3 Fol. 18, fol. 20v; künftig Deutsche Reichstagsakten 19.2, Nr. 11.2 (mit der weiteren Überlieferung).

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nicht für Gesang und Tanz, nicht für Frauern interessiert, deklassiert sich, ist nicht hoffähig. Der Reihe der Nichtbegierden steht in der Sittenskizze des Sultans eine tatsächliche voluptas gegenüber: arma tractare. Sie wird erläutert durch den Chiasmus honorat milites, equos amat und die asyndetische Reihe naves, currus, machinas bellicas, also der Dinge welche Mehmed angeblich den Frauen vorziehe. Und dann die Bildung – mit einem Detail, das den Humanisten ebenso fasziniert wie irritiert: Obwohl von Natur ein Barbar, der die litterae verabscheut, höre er dennoch begierig die Heldentaten der maiores, ziehe dabei Julius Caesar und Alexander den Großen allen anderen vor mit dem Ziel, sie zu übertreffen (quorum illustria facta superare posse confidit atque contendit). Er sei nicht weniger fähig zur Eroberung der Welt (ad subigendum orbem) als sie. Die ‘imitatio Alexandri’114 gehört bezeichnenderweise ebenso zu jenen Punkten der ,Clades‘Rede Eneas, die der Ohrenzeuge Rottenauer in seinen Bericht aufnahm: dan allein ze streiten und sein gewalt ze praiten stee sein sin und, als der große Allexander tat, die welt unter seinen gewalt zu benotigen.115 Hic est vester hostis, proceres, schließt Enea seine Beschreibung und fordert auf zu überlegen, ob von einer solchen Persönlichkeit jemals Ruhe zu erwarten sei. Die Antwort steht schon fest. Es wird zwangsläufig keinen status quo geben, keinen modus vivendi. Der unveränderliche Tyrannenhabitus bedingt die Politik. Die Expansion der Türken sei auch nach dem Fall Konstantinopels unvermindert weitergegangen, noch im laufenden Jahr seien die Türken in Serbien eingefallen. Fazit: Es gibt keinen Aufschub für massiven Widerstand. Die Geschichte schien Eneas psychologische Deu-

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Über Mehmed II. äußert sich in diesem – evident topisch werdenden – Sinne wohl am frühesten nach dem Fall Konstantinopels der Brief des Johanniter-Großmeisters Jean de Lastre an Markgraf Friedrich von Brandenburg (1453 Juni 29 Rhodos): Magnus Teucer ... gloriatur se magni Allexandri Macedonis gesta equiparaturum vel superaturum; Deutsche Reichstagsakten 19.1, Nr. 1.11, 18, Z. 17 f.; hg. PERTUSI: Testi inediti (wie Anm. 35), 54, Z. 2 und 11 f. – Natürlich wird Vertrautheit mit Alexander und Caesar auch von anderen Feldherrn, etwa Braccio de Montone, kolportiert: Commentaria Caesaris et Alexandri Historias ... sibi continuo legi curabat; Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP II. De viris illustribus (Studi e testi 341), hg. v. ADRIANUS VAN HECK, Vatikanstadt 1991, 13, Z. 18 f. 115 Augsburg I,3 Fol. 18 (wie Anm. 113), fol. 20 v; künftig Deutsche Reichstagsakten 19.2, Nr. 11 [2]. Vgl. ,Clades‘, MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 281. Nicht einzugehen ist hier auf die apokalyptischen Dimensionen der Turkophobie, die allerdings bei Pius II. gering ausfallen. Dazu jetzt KENNETH M. SETTON: Western Hostility to Islam and Prophecies of turkish doom (Memoirs of the American Philosophical Society 201), Philadelphia 1992; AGOSTINO PERTUSI: Fine di Bisanzio e fine del mondo. Significato e ruolo storico delle profezie sulla caduta di Costantinopoli (Istituto storico italiano per il medio evo. Nuovi studi storici 3), postum hg. von E NRICO MAROSI, Rom 1988.

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tung zu bestätigen: erst mit dem Tod Mehmeds II. 1481 kam der Vormarsch der Türken vorläufig zum Halten. Das Bild vom gebildeten Antikenkenner Mehmed, wie es sich in seiner Alexanderbegeisterung anzudeuten schien, wird in der Forschung stark relativiert.116 Vorstellungen vom Sultan als „Halbhumanisten“ sind für die oft als Charakterlosigkeit ausgelegte Kontaktsuche einiger ‘philotürkischer’ Humanisten vorauszusetzen.117 Sie bilden aber ebenso den Ansatz für die Vision einer christlich-osmanischen Konvergenz durch Übertritt des Sultans zum Christentum in Pius’ II. enigmatischer ‚Epistola ad Mahometem‘ (1461). Die Frage nach den Quellen des Persönlichkeitsbilds von Mehmed II. beantwortet Enea selbst: es seien Leute gewesen, die mit dem Sultan einige Zeit Umgang hatten (qui secum aliquamdiu conversati fuere). Der wahrscheinlichste Gewährsmann dürfte wieder Nikolaos Sagundinos gewesen sein. Er wurde im Sommer 1453, kurz nach dem Fall der Stadt, durch die Serenissima nach Konstantinopel geschickt und konnte dort über Monate Eindrücke sammeln, vermutlich auch von der Person des Sultans selbst.118 Seine am 31. Januar 1454 vor König Alfons V. gehaltene ‚Adhortatio‘ enthält bereits ein detailliertes Persönlichkeitsbild des jungen Mehmed. Über seine Kontakte zu Neapel könnte Enea diese Rede bald zugegangen sein. Inhaltlich weist sie jedenfalls enge Parallelen zu seinem Mehmed-Exkurs auf, vor allem in den ‘Non-Formeln’:119 Non luxu neque lascivia ... dilectari videtur, non ventri deditus, non venandi, aucupandi, saltandi cantandique studio occupatur, non scurrilitatem ridiculaque adamat; 116 EMIL J ACOBS: Mehmed II., der Eroberer, seine Beziehungen zur Renaissance und seine Büchersammlung, in: Oriens 2 (1949), 6–30; BABINGER: Mehmed der Eroberer (wie Anm. 7), 539–557 (engl. Ausgabe 494–508); DERS.: Maometto il Conquistadore e gli umanisti d’Italia, in: Venezia e l’Oriente fra il tardo medioevo e Rinascimento, Florenz 1966, 433–49; wieder in: DERS.: Aufsätze III, 291–307, mit den älteren Arbeiten des Autors zum Thema; CHRISTOS G. P ATRINELIS: Mehmed II the Conqueror and his presumed knowledge of Greek and Latin, in: Viator 2 (1971), 349–354; ERNST WERNER: Die Geburt einer Großmacht – Die Osmanen (1300–1481). Ein Beitrag zur Genesis des türkischen Feudalismus, Wien/Köln/Graz 41985, 395; PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 1, 381 f.; DERS.: Epistole di Quirini (wie Anm. 73), 186–90; J ULIAN RABY: A Sultan of Paradox: Mehmed the Conqueror as a Patron of the Arts, in: Oxford Art Journal 5 (1982), 3–8 (Literatur). Eine Handschrift von Arrians ,Anabasis‘ ist immerhin in der Bibliothek Mehmeds nachzuweisen; B ABINGER: Mehmed der Eroberer (wie Anm. 7), 546; RABY: Sultan, 6. 117 B ABINGER: Maometto e gli umanisti (wie Anm. 116); HANKINS (wie Anm. 2), 125 f., 130 f. 118 B ABINGER: Darius (wie Anm. 73), 17–19; DERS.: Sagundinos (wie Anm. 76), 203. 119 Sagundinos: Oratio ad Alphonsum, hg. von MAKUSCEV (wie Anm. 77), 296. Vgl. Eneas Brief vom 30. Juni 1454 an Antonio Panormita; Opera omnia (wie Anm. 19), 951 f., Nr. 407. Zu den Kontakten nach Neapel siehe BENTLEY: Politics (wie Anm. 2), 163 f.

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non epulis et ebrietati pro more gentis indulget, non otio non segnitie marcescit et crapulis; semper aliquid agit ... semper in negotio est.

Allerdings ist bei Enea so gut wie kein Wort identisch, ein für ihn typisches Verfahren. Er variierte seine Vorlagen nicht nur, sondern transponierte sie geradezu systematisch. Die ‘imitatio Alexandri’ des Sultans wäre eine der vielen Motive, deren Kettenrezeption man exemplarisch verfolgen kann. Von ihr spricht sogar Kardinal Isidor von Kiew in seinem Erlebnisbericht vom Fall Konstantinopels an die Prioren von Florenz (7. Juli 1453), der einer der wichtigsten Multiplikatoren über den Fall Konstantinopels überhaupt war:120 120

Exemplarische Belege: hg. von G IORGIO HOFMANN, in: Analecta Christiana Periodica 18 (1952), 147; hg. von P ERTUSI: Epistole di Quirini (wie Anm. 73), 186 f. Vgl. ebenso im Brief an Kardinal Bessarion 1454 Juli 6: Alexandri siquidem vitam quotidie audit arabice, grece et latine; Deutsche Reichstagsakten 19.1, Nr. 40b, 335, Z. 30 f.; Hg. von PERTUSI: Epistole di Quirini, 187; PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 1, 78 mit 381 f., Anm. 26 (Literatur). – Ähnlich Lauro Quirini an Nikolaus V. 1453 Juli 15: sese principem orbis terrarum gentiumque omnium, id est alterum Alexandrum, et esse et dici vult. Unde et Arrianum, qui res gestas Alexandri diligentissime scripsit, quotidie ferme legere consuevit; hg. von PERTUSI: Epistole di Quirini 229, Z. 165–168; PERTUSI: Testi inediti (wie Anm. 35), 80, Z. 154–157. – Sagundinos: Oratio ad Alphonsum, hg. von Makuscev: Monumenta (wie Anm. 76), 297; hg. von PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 2, 130–132: Neque visus est Lacedaemoniorum, Atheniensium, Romanorum, Carthaginensium aliorumque regum et principum rebus gestis accomodasse animum, Alexandrum Macedonem et C. Caesarem praecipue sibi imitandos delegit. Vgl. die Rede des Georg von Trapezunt an König Alfons V. und Kaiser Friedrich III, 1452, hg. von J OHN MONFASANI: Collectanea Trapezuntiana. Texts, Documents, and Bibliographies of George of Trebizond (Medieval and Renaissance Texts and Studies 25 = Renaissance Texts series 8), Binghamton/New York 1984, 428 f. Niccolò Tignosi da Foligno, Brief an einen Unbekannten 1453 November: Quasi novus Caligula [!] ... dicitur antiquorum studere historiis et illorum facinora cum admiratur, se Alexandrum Macedonem superaturum aestimat, et Caesarem Octaviumque imitaturus firmissime credit se posse toto orbe potiri; hg. von PERTUSI: Testi inediti (wie Anm. 35), 108, Z. 41–45. – G IACOMO LANGUSCHI: Excidio e presa di Costantinopoli (nach April 1454): Aspirante a gloria quanto Alexandro Macedonico, ogni dì se fa lezer historie romane, et de altri da uno compagno d’Chiriaco d’Ancona, et da uno altro Italo, da questi se far lezer Laertio, Herodoto, Livio, Quinto Curtio, Cronice de i papi, de imperatori, de re di Franza, de Longobardi; usa tre lengue turcho, greco e schiavo; hg. von P ERTUSI: Testi inediti, 172 f. – Wenig bekannt, auch bei PERTUSI fehlend, ist der unter dem Namen Franco de Twayr überlieferte ,Tractatus de expugnatione urbis Constantinopolitanae‘, darin c. 23: triumphos modis omnibus amans, principatum totius orbis affectuosissime diligens, immo plusquam Alexander magnus, Julius vel Augustus, vel alii quique potentes imperatores huius mundi; hg. von EDMUNDUS MARTÈNE-URSINUS DURAND: Veterum scriptorum Amplissima Collectio... Bd. 5, Paris 1724 (ND 1968), 798B. – Weitere Belege: B ABINGER: Mehmed der Eroberer (wie Anm. 7), 193, 561 s.v. ‘Alexander d. Große’; Deutsche Reichstagsakten 19.1 (wie Anm. 35), 17, Anm. 4; W ERNER: Geburt einer Großmacht (wie Anm. 116), 295; PERTUSI: Caduta (wie Anm. 35), Bd. 1, 381 f. Anm. 26;

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Regem Alexandrum admirandum Macedonem cum minore potentia subiugasse totum orbem, et hunc (sc. Mehmed II.), qui iam imperiale regnum Constantinopolis obtinuit et habet innumerabilem exercitum, non posse totum orbem submittere?

Was ist nun, so sei am Ende dieses Abschnitts mit Hankins, aber auch in Auseinandersetzung mit ihm gefragt, das Typische, das genuin Humanistische? Hankins sieht als Ergebnis des genuin humanistischen Beitrags zum Thema Kreuzzug eine gewisse Säkularisierung.121 Unserer Ansicht nach trifft dies gerade für Aeneas/Pius, den Hankins ausgiebig zitiert, nicht zu. Nach Analyse einer Anzahl humanistischer Texte kann man zu der Ansicht kommen, daß sich die alte Kontroverse von Christenheit und Islam zu der ebenfalls identitätsformenden Kontroverse zwischen (europäischer) Humanitas gegen (türkische) Barbaries zu säkularisieren begann. Für den Humanistenpapst Aeneas/Pius, der Seelenhirt und Adept der Humaniora zugleich ist und sein will, fallen hingegen Christenheit und Europa, profaner, geopolitisch motivierter ‘Türkenkrieg’ und christlicher ‘Kreuzzug’ nach wie vor zusammen. Unterschiede zwischen traditioneller Kreuzzugspredigt und humanistischer Türkenrede liegen kaum bestreitbar in Sprache und Stil. Die inhaltlichen Unterschiede treffen hingegen, bei einem ohnehin zu konstatierenden Maß an topischer Kontinuität, auf Pius II. – und auch andere Humanisten – nur zum Teil zu. Wenn Hankins beispielsweise meint, „few humanists bothered to argue the justice of crusade“122 – so ist ihm an allererster Stelle Enea Silvio entgegenzuhalten, der in der Frankfurter wie der Mantuaner Türkenrede den ‘gerechten Krieg’, die iustitia des Krieges (neben facilitas und utilitas), erstens nach antiken, christlich-scholastisch überformten Ethikmaximen rational zu begründen sucht, dies zweitens aber nicht zuletzt deshalb tut, weil er sich, wie gesagt als beflissener Humanist eng am Aufbau des antiken Vorbilds, Ciceros Rede ,De imperio Cn. Pompei‘ (= ,De lege Manilia‘), orientiert. Die Verbindung von antikisch-säkularer Argumentation und christlicher Pastoral- beziehungsweise traditioneller Kreuzzugspredigt zeigt sich besonders eindrucksvoll in den Exclamationen am Schluß der Frankfurter ,Clades‘-Rede: Selbst die heidnischen (sprich: germanischen) Vorfahren der heutigen Fürsten (ex quibus vobis origo est, principes, cum essent adhuc gentiles) starben gern für das Vaterland. Auf dem Kreuzzug sterben heißt hier ‘pro patria mori’, für Vaterland und res publica – und dies ist die respublica christiana! Dem, der sich um diese patria verdient gemacht hat, winken – ganz traditionell und keineswegs säkularisiert – GnadenPERTUSI: Testi inediti (wie Anm. 35), 83, Anm. 30; BLUSCH: Enea Silvio und Campano (wie Anm. 44), 117. 121 HANKINS (wie Anm. 2), 118–123. 122 HANKINS (wie Anm. 2), 119.

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schatz und himmlischer Lohn, die der Papst (der Enea selbst damals noch nicht war) gewährt.123 Auch die Maxime des pro patria mori hat selbstverständlich eine antike und, wie Kantorowicz gezeigt hat,124 eine im französischen Spätmittelalter remobilisierte Tradition. Sie ist keine humanistische Neuadaptation. Enea Silvio verwendete sie bereits in ‚De ortu et auctoritate imperii Romani‘ (1444),125 seiner wohl am stärksten traditionsverpflichteten Schrift überhaupt.

Rhetorik und Realismus: der Kongreß von Mantua 1459126 Die drei Türkenreichstage hatte Enea Silvio für den Kaiser mitorganisiert; jetzt, als Pontifex maximus, der sich als berufener Führer der Christenheit sah, konnte er selbst Ort, Themen, Ladungen und Procedere bestimmen. Gleich nach seiner Wahl im September 1458 versammelte er die zur Gratulation in Rom erschienenen Gesandten der italienischen Mächte, berief er

123 Veteribus illis, ex quibus vobis origo est, Principes, cum essent adhuc gentiles, nullum fuit grave bellum, quod pro patria suscepissent, nullam illi mortem miseram putavere, quae pro republica subiretur. Sed quae respublica maior aut melior quam nostra Christiana? Quae patria dulcior aut nobilior quam nostra caelestis, ad quam cuncti aspiramus, formosa Hierusalem? Illi, cum pro patria morerentur, tamen maxime exultabant. Nos, cum morimur, tum finimus exilium, tum patriam ingredimur. O felix mors, quae vitam perimit temporalem, concedit aeternam! O faustum ac desiderabile bellum, in quo si vincis, in terra ‹honoraris›, si vinceris, in celo triumphas! Quidni ergo ardenti pugnemus animo, quibus tanta promittuntur emolumenta? – Ecce dominus noster sanctissimus, Christianorum summus pater Nicolaus papa quintus, ovium Christi pastor, Romanorum pontifex, successor beati Petri, Christi dei nostri vicarius, omnibus, qui hanc expeditionem sequentur, delicta remittit, culpas abluit, veniam prebet, celum promittit. Nec de promisso est dubium, ‹quoniam hic› est, qui potestatem habet ligandi ac solvendi, qui locum illius tenet, cui date sunt ‘claves regni celorum’ (Mt. 16.19). Ecce, nunc ‘celi aperti sunt’ (Ez. 1.1). Ecce nunc iter in patriam! Opera omnia (wie Anm. 19), 689; MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 1, 284 f. (mit Varianten). Künftig: Reichstagsakten 19.2 Nr. 16. – In den wie Türkenreden aufgebauten Kreuzzugsbullen (vgl. oben bei Anm. 56) wird der Raum, der dem Ablaß etc. zukommt, natürlich noch umfangreicher, etwa in ,Ezechielis‘ (1463), hg. von REUSNER: Orationes de bello Turcico (wie Anm. 52), Bd. 2, 40–59, davon 52–59 zu Ablaß und Anathema. Zu relativierend: HANKINS (wie Anm. 2), 119: „the humanists in general did not speak oft he spiritual benefits oft the crusade“. 124 ERNST KANTOROWICZ: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur Theologie des Mittelalters, München 1990 (engl. Princeton 21966), 241–278. 125 KANTOROWICZ: Körper (wie Anm. 124), 267 f. Zum patria-Begriff in der ,Clades‘Rede auch MERTENS: ‘Europa id est patria’ (wie Anm. 15), 54 f. 126 Keineswegs hinreichend in der Forschung rezipiert: GIOVANNI B. P ICOTTI: La dieta di Mantova e la politica de Veneziani (Reperti 3), Venedig 1912 (ND Trient 1996), aus

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das Konsistorium∗ ein und wiederholte in seiner Wahlkapitulation den Eid seines Vorgängers Calixt III., Konstantinopel wiederzugewinnen, und koste es das Leben.127 Die probate Vorbereitung zunächst: ein Kongreß. Eine Flut von Ladungen und Briefen, unter anderem die Kreuzzugsbulle ,Vocavit nos pius‘ vom 6. Oktober 1458,128 ergoß sich flächendeckend an die europäischen Fürsten, ohne die – das weiß er besser als jeder andere – nichts geht. Mantuas Lage, in der oberitalienischen Kontaktzone für Konzilien und Entscheidungsschlachten, schien ihm anders als Rom für Kongreßbesucher aus allen Richtungen Europas zentral, wobei er die Ortswahl, wie es sich für Konzilien bereits häufiger fand, ausführlich begündete.129 Die Kardinäle murrten freilich; statt in Mantua am Ende vergeblich zu warten, sei es besser, gleich ins Ultramontane über die Alpen gehen und die Fürsten zuhause aufzusuchen. Sie schienen zunächst recht zu behalten. In Mantua tat sich lange nichts; man wartete monatelang auf Gesandte. Langeweile macht aber produktiv: Pius selbst, wenn er nicht die Kanzlei auf Trab hielt, dichtete, unter anderem wohl das schon genannte Türkengedicht ,Turce, paras‘,130 Flavio Biondo beendete sein Alterswerk ,Roma triumphans‘ mit einer Widmung an Pius II., welche die Römertugenden als Vorbild für den Kreuzzug anruft. Nur wenige Fürsten und Stadtstaaten, von immer neuen Mahnschreiben des Papstes bearbeitet,131 kamen persönlich: Francesco Sforza, die Markgrafen von Ferrara und Modena, Lodovico Gonzaga als Hausherr, aus Deutschland ganz am Ende noch Markgraf Archivalien geschöpft, mit Quellenanhang; P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 39–81 sowie 716–726, Nr. 5–36 Texte; ebenso Quellen bei P ASTOR (Hg.): Ungedruckte Akten (wie Anm. 18), passim; HOCKS: Pius II. (wie Anm. 1), 101–130; P APARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 8), 157–171; Enea Silvio Piccolomini. Texte, hg. von W IDMER (wie Anm. 13), 102–108, 234–259 (Texte); SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 196–230. Erstmals die Oratorik herausgehoben bei J OYCELINE G. RUSSELL: The Humanist Converge. The Congress of Mantua (1459), in: DIES.: Diplomats at Work. Three Renaissance Studies, Phoenix Mill 1992, 51–93; FRANCO CARDINI: La repubblica di Firenze e la crociata di Pio II, in: DERS.: Studi sulla storia e sull’idea di crociata (Storia 29), Roma 1993, 142–149; CLAUDIA MÄRTL: Kardinal Jean Jouffroy († 1473). Leben und Werk (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 18), Sigmaringen 1996, 100–113. 127 Commentarii II 1–2, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 113–116; Crivelli: De expeditione, hg. von Zimolo (wie Anm. 47), 80, 85–91. 128 Druck: Crivelli: De expeditione, hg. von ZIMOLO (wie Anm. 47), 91–96. Dazu siehe P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 18 f. mit Anm.; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 210, Anm. 13; RUSSELL: Humanists Converge (wie Anm. 126), 82, Anm. 1. 129 Dazu J OHANNES HELMRATH: Locus concilii. Die Ortswahl für Generalkonzilien vom IV. Lateranum bis Trient (Mit einem Votum des Johannes de Segovia), in: Synodus. Festschrift für Walter Brandmüller, hg. von REMIGIUS B ÄUMER/EVANGELOS CHRYSOS u.a., Paderborn 1997; identisch in: Annuarium Historiae Conciliorum 27/28 (1995/96), 593–661, zu Enea Silvio 632–635, 640 f., 648–652. 130 Siehe oben bei Anm. 60 f., 101. 131 Eine Auswahl bei P ASTOR: Ungedruckte Akten (wie Anm. 18), Nr. 72, 75–82, 87.

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Albrecht von Brandenburg. Aber Gesandte italienischer wie auswärtiger Mächte trafen immerhin nach und nach in größerer Zahl ein. In jedem Fall wurde Mantua, von Joycelyne G. Russell erstmals unter diesem Gesichtspunkt angemessen gewürdigt, ein diplomatiegeschichtlichoratorisches Ereignis; der Kongreß selbst wie bereits die lange Anreise des Papstes, auf der Pius II. umrittähnlich zahlreiche Städte, allen voran seine Heimatstadt Siena besuchte und dabei öffentlich redete.132 Trotz langer Unterbrechungen dürften auf keiner Veranstaltung im 15. Jahrhundert, von den großen Konzilien abgesehen, so viele Reden gehalten worden sein wie in Mantua. Hauptorator war Pius II. selbst; auf ‘seinem’ Kongreß mußte man ihn wenigstens anhören. Der Papst ließ es sich nicht nehmen, jeder Gesandtschaft in der Audienz, einem Basisakt politischer Rhetorik, persönlich und quasi simultan aus dem Stegreif zu respondieren.133 Er tat dies immer elegant in der Form, im Inhalt das eine Mal verbindlich, das andere Mal scheltend. Selbst zum Monarchen geworden, war er hier freier als viele Humanistenkollegen, die die Winkelzüge der fürstlichen Tagespolitik nachvollziehen hatten. Die Rede ‚Cum bellum hodie‘ – sie kam bereits zu Sprache – war der Höhepunkt. Leidenschaftlicher, existenzieller hatte Pius nie geredet. Wie er schmerzverkrümmt und bleich auf dem Sessel Platz nimmt, zunächst kaum sprechen kann, wie ihm langsam beim Reden die Lebensgeister zurückkehren und sich die Worte auch physisch zu einer dreistündigen Rede steigern, gehört zu den eindrucksvollsten Beschreibungen einer Actio.134 Neben Pius sprachen viele andere, zum Beispiel Kardinal Bessarion, der Humanist Filelfo, Niklas Wyle, Jean Jouffroy, Johannes Hinderbach, Gregor Heimburg, selbst die kleine Tochter des Herzogs von Mailand, Hippolyta Sforza.135 132 RUSSELL: Humanists converge (wie Anm. 126), 55: „par excellence, a meeting of Latinists“; B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 235: „a great forum for humanist crusader rhetoric“. Zur Anreise, die dank der Beschreibung in den ,Commentarii‘ als eine Art ‘Italia permigrata’ immer schon stark wahrgenommen wurde: Commentarii II 10–44, hg. von VAN H ECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 125–170; G IOVANNI B. M ANNUCCI: Il viaggio di Pio II da Roma a Mantova (22 gennaio–27 maggio 1459), Siena 1941; P APARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 8), 142–156. 133 Ich zähle insgesamt vier große und 27 Kurzreden Pius’ II., deren Überlieferung, wie die aller seiner Reden, bisher kaum untersucht ist; hg. von M ANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 2, die Reihe der kurzen Gesandtschaftsresponsionen ebd. 182–236. 134 Cum frequentes convenissent, pontifex languidus et ingenti dolore oppressus cubiculum exiit et in aula sublimi sedens solio, indicto silentio, pallidus et admodum anxius vix fari poterat. At ubi calor invaluit, ardens dicendi vi, dolore superato, affluentibus verbis sine ullo labore locutus trium horarum habuit orationem; Commentarii III 38, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), 229, Z. 4–8. 135 Zu Hinderbach jetzt RANDO: Fra Vienna e Roma (wie Anm. 2), passim; vgl. ALFRED A. STRNAD: Johannes Hinterbachs Obedienz-Ansprache vor Papst Pius II. Päpstli-

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Zum Politischen: In gewisser Hinsicht fand in Mantua unter dem Programm eines europäischen Kreuzzugskongresses ein Kongreß des Italien der ‘Lega’ von 1454/55 statt.136 Die Verhandlungen der italienischen Mächte erzielten als Resultat das Kreuzzugs- und Friedensversprechen mit detaillierten Rekrutierungs- und Finanzierungsplänen vom 1. Oktober, das 17 Staaten unterschrieben, darunter die Herzöge von Mailand, Ferrara und Mantua persönlich.137 Der Kreuzzug und die Gewinnung der europäischen Fürsten waren zwar die Hauptanliegen. Doch hatte Pius als Papst und Herr des Kirchenstaats vielfältigere Politik zu machen als ein bloßer „papa della crociata“. Es ging in Mantua zugleich um die Verteidigung der päpstlichen Territorialmacht in Italien, deren prekäre Stellung nach Pius’ Grundentscheidung für Aragon und gegen Frankreich in der Neapelfrage in wechselnden Koalitionen sichtbar wurde. Zuletzt ging es um nichts Geringeres als um die Verteidigung des päpstlichen Primats. Pius II. ringt im rhetorischen Agon mit den Franzosen um die Abschaffung der ‘Pragmatique’, mit den Deutschen (Gregor Heimburg) im Konflikt des Nikolaus von Kues mit Herzog Sigmund von Tirol und in der Mainzer Stiftsfehde.138 Es ist kein Zufall, daß Pius die umstrittene Bulle ‚Execrabilis‘, die ein rigides Verbot jeder Appellation an ein Konzil aussprach und mit der Türkenfrage nur sehr indirekt zu tun hatte, am Ende seines Mantuaner Kongresses (14. Januar 1460) publizierte, fast als ob sie dessen Hauptergebnis sei.139 Mit anderen Worten: der ‘Realpolitiker’ war zunächst einmal Pius II. selbst.

che und kaiserliche Politik in der Mitte des Quattrocento, in: Römische Historische Mitteilungen 10 (1966/67), 43–182, darin (165–177) die Rede Hinderbachs vom März 1459. Zu Hippolyta als Oratorin bereits J ACOB BURCKHARDT: Die Kultur der Renaissance in Italien (Kröners Taschenausgabe 53), Stuttgart 101976, 214. Vgl. MARGARET KING: Frauen in der Renaissance, München 1993, s.v. 136 N ICOLAI RUBINSTEIN: Das politische System Italiens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: ‘Bündnissysteme’ und ‘Außenpolitik’ im späteren Mittelalter, hg. von PETER MORAW (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 5), Berlin 1988, 105–119; P AOLO MARGAROLI: L’Italia come percezione di un spazio unitario negli anni cinquanta del XV secolo, in: Nuova rivista storica 74 (1990), 517–536; RICCARDO FUBINI: Lega italica e ‘politica dell’equilibrio’ all’avvento di Lorenzo de Medici al potere, in: Rivista storica italiana 105 (1993), 373–410. 137 Es wird in der Forschung m. E. zu wenig beachtet. Edition des handschriftlich oft überlieferten ,Instrumentum‘ des 1. Oktober bei P ICOTTI: Dieta di Mantova (wie Anm. 126), 436–444, Nr. XXI; dazu ebd. 197–200; CARDINI: Firenze e la crociata (wie Anm. 126), 146 f.; Vgl. auch: FERDINANDO GABOTTO: Genova e Venezia al tempo della dieta si Mantova, Vendig 1912. 138 Unter diesem Gesichtspunkt war Mantua der erste Reichstag in Reichsitalien seit Ludwig dem Bayern und zugleich der letzte. 139 Vgl. ESCH: Enea Silvio als Papst (wie Anm. 2), 122.

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Schon Christian Lucius, nicht umsonst Schüler Johannes Hallers, des großen Entlarvers ‘doppelbödiger’ Diplomatie, gab zu bedenken,140 daß Pius II. in Mantua zwar primär, als Initiator eines allgemeinen Türkenzugs, gescheitert war. Er habe aber, sekundär, nicht wenig erreicht: das Prestige des Papsttums durch den Nimbus des tragischen Türkenkriegers zu steigern und ihm wieder eine ideelle Führungsposition in Europa zu verschaffen, – auch wenn nicht ein einziger Söldner in Marsch gesetzt wurde. Erreicht hatte er dies ganz wesentlich durch ‘Propaganda’, durch die Flut seiner Briefe und Bullen, die massenhaft verbreitete Rede ‚Cum bellum hodie‘ etc. In der Politik gegenüber Frankreich, gegen die Opposition im Reich, gegen die Malatesta und andere Gegner in Italien usw. konnte dieses Prestige in die Wagschale geworfen werden. Man kann noch weiter gehen: So unbestritten der tiefe Ernst seiner Absichten nach heutiger communis opinio ist, der Kreuzzug konnte auch als politisches Instrument dienen; der moralische Kothurn, auf den er sich als päpstlicher Kreuzfahrer stellte, machte ihn schwerer angreifbar, setzte Gegner ins Unrecht, konnte andere Interessen verschleiern.141 Zum Kreuzzug kam es nicht, weder sofort noch mittelfristig. Der als Abschlußrede überlieferte, mit einem langen Gebet endende Text ,Septimo iam exacto mense‘ (14. Januar 1460) gab sich noch gemessen optimistisch, was die Hilfsversprechen der in extenso aufgezählten europäischen Fürsten angeht und tritt ‘Miesmachern’ ausdrücklich entgegen: Nunc quoque non desunt malevoli et iniqui homines, qui nihil hic actum esse laudabile dicunt et omnia depravant, contemnunt, irrident: ... Frustra hic dies plurimos consumpsisse, quoniam nihil actum sit, de quo bene sperare fideles populi queant.

Er, Pius, besitze nicht die Seelenstärke seiner drei Vorgänger Eugen (IV.), Nikolaus (V.) und Calixt (III.), die per sese den Türken den Krieg erklärt und Truppen ausgerüstet hätten. Er habe nie daran geglaubt, daß die römische Kirche die Kriegslast allein tragen könne, sondern auf breit einbeziehende Beratung gesetzt:

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CHRISTIAN LUCIUS: Pius II. und Ludwig XI. von Frankreich 1461–1462 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 41), Heidelberg 1913, 8 f. Treffende Charakterisierung HALLERS bei HERIBERT MÜLLER: Johannes Haller, Frankreich und das französische Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), 265–317. – Zur Frankreichpolitik Pius’ II. jetzt GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 202–209, 243–248 und oben bei Anm. 83. 141 Vgl. CARDINI: Firenze e la crociata di Pio II (wie Anm. 126), 136: „la crociata ... costituì un preciso strumento politico e diplomatico del quale egli si servi per tentar di rimovere la resistenza degli stati italiani ed europei alla sua volontà“.

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Sed conventu Christianorum indicto, res communes communi concilio gerendas censuimus. Die Bilanz:142 Fatemur, non sunt facta omnia, quae putavimus. Sed neque omnia praetermissa, neque maxima neque minima sunt ... et longe plus factum est, quam multi iudicarint.

Erst spätere Äußerungen Pius’ II. lassen Mantua rückblickend als eine Krise der Rhetorik und ihrer prätendierten Wirkung143 wie auch des von Pius favorisierten Tagungsprinzips erscheinen, besonders als die beiden Folgereichstage mit dem Legaten Bessarion 1460 in Nürnberg und Wien ergebnislos und in Verstimmung endeten. Bessarion selbst meinte 1461 leidgeprüft eben dies zu einer deutschen Gesandtschaft in Rom und hatte dabei auch die drei ‘Türkenreichstage’ der Jahre 1454/55 im Blick:144 Indicti sunt iam plurimi conventus: Ratisponenses, Francofordienses, Neostatenses, Nurimbergenses, Viennenses. Ex omnibus nihil praeter bona verba et magniloquentiam reportatum est, ac hostis noster continue vigilat, serpit, grassatur.

Oder wie es Arnold Esch, Pius’ Stil noch überbietend, im Hinblick auf ‘Mantua’ formulierte:145 „Nur er rotierte, sonst nichts. Und als sie dann endlich ... seiner Rhetorik aussetzten, da mußte er erfahren, daß auch seine persönliche Ausstrahlung wenig ausrichtete; daß die Kaskaden seiner Argumentationen von den mit Instruktionen imprägnierten Gesandten abtropften und die partikulären Interessen der Mächte nicht auf ein Ziel zu richten waren. Kardinal Trevisan, selbst türkenkriegserfahren und hartnäckiger Gegner des Mantua-Projekts, hatte es ihm brüsk vorausgesagt: Kindisch, d.h. grob unrealistisch seien seine beiden Ideen, a) man könne 142 MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 2, 78 f. (auch Zitat oben); Aufzählung der Fürsten von Portugal bis Polen ebd. 80–83. 143 So wurde ‘Mantua’ bereits von CECILIA M. ADY gesehen: „Sad, weary, and disappointed, he realised, perhaps for the first time, the limitations of that ‘goddess of persuasion’ in whom he put his trust. Eloquence had failed to kindle the imagination of Europe, to counteract the weakness of the Imperial power“; Pius II (Aeneas Silvius Piccolomini) the Humanist Pope, London 1913, 130 f. 144 Replicatio ,Multa quidem et antehac‘, hg. von LUDWIG MOHLER: Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann, Bd. 3, Paderborn 1942 (ND Aalen 1967) 393, Z. 7–10. Vgl. Pius II. selbst in der Rede ,Existimatis‘ März 1462: Si celebrare conventum venit in mentem, docet Mantua vanam esse cogitationem; Commentarii VII 16, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), 461, Z. 9 f. 145 ESCH: Enea Silvio als Papst (wie Anm. 2), 121. Man höre die Bulle ,Ezechielis‘ von 1463, das Nichtfassenkönnen der Tatsache, daß seine Reden letztlich nicht gewirkt hatten: Non fuerunt auditae sanctorum pastorum voces et utiles admonitiones; surda pertransivit aure Christianus populus. ... Clamavimus, quasi tuba exaltavimus vocem nostram, audivit omnis Ecclesia, sed non exaudivit verba nostra; non fuit plus ponderis nostris quam predecessoribus vocibus; frustra conati sumus; incassum abiere labores. Interea creverunt Turchorum vires; hg. von REUSNER: Orationes de bello Turcico (wie Anm. 52), Bd. 2, 41 und 42. Vgl. P APARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 8), 163 über die Fürsten: „ascoltatori piuttosto ammirati della sua eloquenza che partecipi del suo entusiasmo“.

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Fürsten durch Mahnreden zum Krieg bewegen, b) man könne die Türken einfach vernichten; die seien unbesiegbar: Pueriles fuisse cogitationes presulis affirmabat, ... qui ... crederet suis hortatibus reges in bella trahere atque Turcos delere, quorum insuperabiles vires esse.146 Pius II. selbst, der Pius der ,Commentarii‘, beschwor jene „Atmosphäre tiefer Verzagtheit“ noch nicht auf dem Mantuaner Kongreß, wo er sich als spiritus rector in oratorischem Zweckoptimismus geben mußte, auch noch nicht danach, als er mittelfristig noch Erfolg erhoffen wollte, sondern zwei Jahre später im März 1462 vor sechs vertrauten Kardinälen. Es ist die in einer pessimistische Mischung von Larmoyanz und Sarkasmus komponierte Rede ,Existimatis‘,147 die zugleich etwas Einblick in Pius’ Perzeption der Motive von Politik zwischen Illusion und Realismus bietet und offenbar auch bieten soll. Der Papst analysiert in resignativem Pathos die bisher gescheiterten Methoden, die Fürsten gegen die türkische Expansion zu mobilisieren, und die Gründe, die weit über den Anlaß hinausgehen: insbesondere das negative Bild der Kurie in der Christenheit:148 Nos Turco multo inferiores sumus, nisi christiani reges arma coniungant. Querimus hoc efficere, investigamus vias; nulla occurrit idonea. Si celebrare conventum venit in mentem, docet Mantua vanam esse cogitationem; si legatos mittimus, qui regum auxilia petant, deridentur; si decimas imponimus clero, appellatur futurum concilium; si promulgamus indulgentias, ... avaritia coarguitur; corrodendi auri causa cuncta fieri creduntur. Nemo fidem habet verbis nostris. Quasi negotiatores, qui respondere creditoribus desierunt, sine fide sumus. Quecunque agimus in partem deteriorem acci146 Commentarii III 2, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 175, Z. 11 f. Gerade den hier vorgebrachten Eindruck von der Unbesiegbarkeit der Türken suchte Pius II. in seinen Reden unter der Rubrik des facile (s. oben bei Anm. 44) zu widerlegen. 147 Sie ist (Inc.: ,Existimatis ... fortasse, fratres‘) Bestandteil der ,Commentarii‘ (VII 16), mit den bekannten Kautelen gegenüber einer oratorischen Authentizität; hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 460–463; vgl. B ÜRCK: Selbstdarstellung (wie Anm. 62), 61; ESCH: Enea Silvio als Papst (wie Anm. 2), 121. Predigthafter, weniger auf Politikanalyse orientiert ist ein anderer, in Rom, Bibl. Vat. Chis. J VII 251; hg. von CUGNONI (wie Anm. 38), 474–477 (158–161) autographisch überlieferter Redetext (Inc.: ,Existimavimus, viri fratres‘), den Pius für den gleichen oder einen sehr ähnlichen Anlaß konzipiert haben dürfte. Authentischer ist der lange Bericht des mailändischen Gesandten Otto de Caretto über eine Privataudienz bei Pius II. und dessen pessimistischen Rundblick über die Kurien-Politik und ihre Gegner, P ASTOR (Hg.): Ungedruckte Akten (wie Anm. 18), 150–160, Nr. 125; treffende Auswertung bei ESCH: Enea Silvio als Papst (wie Anm. 2), 123–125. 148 Commentarii VII 16, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 461, Z 7–18. Text mit Kommentar auch bei GIUSEPPE BERNETTI: Propositi e decisioni di Pio II per la salvezza dei popoli cristiani, in: ders.: Saggi e studi sugli scritti di Enea Silvio Piccolomini Papa Pio II (1405–1464), Florenz 1971, 88–98. Vgl. VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 8), Bd. 2, 676 f.; P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 241 f.; ESCH: Enea Silvio als Papst (wie Anm. 2), 123–125.

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piunt et quoniam sunt omnes reges avarissimi, omnes ecclesiarum prelati pecunie servi, de suo ingenio metiuntur nostrum.

Wie ein Kaufmann den Gläubigern stehe der Papst den Gläubigen gegenüber: ohne Kredit, so, frei übersetzt, das auf das städtische Italien zugeschnittene Bild. Alle seine lauteren Bemühungen, per Kongreß, per Gesandtschaften, per Erhebung von Zehnten und Ablässen den Kreuzzug in Gang zu bringen, würden konterkariert (letztere gar durch die seit Basler Zeiten an der Kurie traumatisch gefürchtete Konzilsappellation), negativ ausgelegt und antikurialen, geradezu ‘vorreformatorisch’ anmutenden Klischees zugeschlagen, obenan dem Vorwurf der Geldgier, wobei die Fürsten offenbar nur ihre eigenen Motive zum Maßstab machten.149 Die Erfahrungen Bessarions in Deutschland lassen die Passage nicht übertrieben erscheinen. Der Papst benennt auch eigene Fehleinschätzungen (numquam labores nostros huc casuros putavimus; alium rerum exitum expectavimus), sieht diese nicht als Folge mangelnder politischer Urteilskraft, sondern in moralischen defekten Dritter, im Egoismus und Partikularismus der Fürsten, ihrem Mangel an christlichem Gemeinsinn:150 Aliud pondus habere promissa hominum censuimus, quam modo inveniamus. Erat opinio nostra, cum in minoribus ageremus, christianorum reges huius belli contra Turchos gerendi cupidos esse; solum rebus agendis ordinem deesse ... Nunc falsam fuisse opinionem nostram manifestum est. Negligentiores sunt principes communis boni quam credidimus. Ad privatas se quisque curas redigit. Alius delitias, alius pecunias sequitur ... Christianam rem omnes negligunt. Magna sane e spe cecidimus: sed decepti sumus, non defatigati.

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Das Material wird sprachlich zugespitzt in der Rede ‚Sextus igitur annus‘ vom 23. September 1463 wiederholt: Indiximus Mantue conventum: quis inde fructus emersit? misimus in provincias legatos: spreti atque irrisi fuere. Imposuimus clero decimas: appellatum est pernitioso exemplo ad futurum concilium. Iussimus indulgentias predicari: aucupium id esse ad extorquendas pecunias dixere et inventum curialis avaritie. Omnia quecunque agimus in partem deteriorem populus accipit. Ea conditio nostra est que mensariorum perdita fide: nihil creditur nobis; despectui sacerdotium est et infame nomen cleri; Commentarii XII 31, hg. von VAN HECK Bd. 2 (wie Anm. 62), 770, Z. 29–771, Z. 2, die ganze Rede 764–775. Sie ist aber nicht nur in den ‘Commentarii’, sondern auch in einem der Orationes-Corpora: Rom Bibl. Vat. Chis. J VI 211 fol. 198v–204 v (Nr. 26) dokumentiert; Druck auch bei MANSI: Pii II Orationes (wie Anm. 19), Bd. 2, 168–179 (wohl nach Lucca, Biblioteca Capitolare 544). Inhaltlich begegnen ähnliche Lamenti schon vor dem Pontifikat in der sog. ,Germania‘ (ca. 1458), etwa III 35: Nam quis clamantem pontificem et auxilia regum implorantem audit? Vociferat, plorat, obtestatur, rogat, ut Turchis in nos ruentibus obex opponatur, et nemo audit, omnes obaudiunt; Aeneas Silvius, Germania, hg. von ADOLF SCHMIDT, Köln/Graz 1962, 104. 150 Fassung ,Existimavimus‘ (s. Anm. 147), hg. von CUGNONI (wie Anm. 38), 476 f. (160 f.).

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Und dennoch: in den beiden Jahren nach Mantua nahm auch das eigene Engagement des Papstes in Sachen Türkenkrieg eindeutig ab. Krieg beschäftigte ihn allerdings weiter, aber in Italien. Der Papst führte ihn als Mittelmacht der sog. Pentarchie im stets prekären und seismographisch schwankenden Gleichgewicht der ‘Italia bilanciata’.151 Er tat insofern genau das, was er den Fürsten vorzuwerfen pflegte: Sie nutzten die Kräfte der Christenheit durch innerer Konflikte ab, statt sie gegen deren äußere Feinde zu lenken. Pius II. führte Krieg im Königreich Neapel an der Seite der Aragonesen unter Ferrante gegen die Anjou und Frankreich, das von Italien fernzuhalten eines der Axiome seiner Politik war. Er führte mit großer Härte Krieg gegen Sigismondo Malatesta von Rimini. Der Türkenkrieg trat demgegenüber nicht nur zurück, sondern in dieser Zeit vollzog Pius experimental eine überraschende Metamorphose, hin zu einem Versuch der Kommunikation mit dem Sultan.

Intermezzo: Die ,Epistula ad Mahometem‘ (Oktober/Dezember 1461) Man kann nicht umhin, jenes Werk wenigstens kurz anzusprechen, das etwa Pierre Margolin älteren Urteilen folgend als „un des textes les plus énigmatiques“ bezeichnet hat. Bei dem ,Brief an Mohammed/Sultan Mehmed II.‘ handelt es sich um eine hochrhetorische littera exhortatoria, eine Suasorie, zugleich um einen kontroverstheologischen Traktat.152 Er 151

Siehe die Literatur in Anm. 136. P IERRE MARGOLIN: Place et fonction de la rhétorique dans la lettre de Pie II à Mahomet II, in: Pio II e la cultura (wie Anm. 1), 243–261, ebd. 243 Zitat; im gleichen Bd. P AOLO B REZZI: La lettera di Pio II a Maometto II, 263–281. Als Edition, Interpretation sowie zur Überlieferung ist nach wie vor zu benutzen GAETA: Sulla ,Lettera a Maometto‘ di Pio II (wie Anm. 23), Edition 195–224 nach Vat. lat. 7082. [Jetzt REINHOLD F. GLEI/MARKUS KÖHLER: Pius II. Papa Epistula ad Mahumetem. Einleitung, kritische Edition, Übersetzung (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 50), Trier 2001.] Die Edition Aeneas Silvius Piccolomini, Epistola Ad Mahomatem II (Epistle to Mohammed II), ed. with Translation and Notes by ALBERT R. B ACA (American university Studies. Ser. II, 127), New York/Bern 1990, stellt dagegen ein eher ärgerliches Produkt dar, das zwei alte Drucke ‘textkritisch’ als Anhang einer englischer Übersetzung zu ‘edieren’ versucht, ohne die Existenz von Handschriften, vor allem die grasse Textdifferenz zum Vat. Lat. 7082, auch nur zu erwähnen. Aus der verzweigten Literatur: SOUTHERN: Islambild des Mittelalters (wie Anm. 5), 98–103; Franz Babinger: Pio II e l’oriente maomettano, in: Enea Silvio Piccolomini Papa Pio (wie Anm. 1), 4–12; P APARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 8), 232–236; FRANCO GAETA: Alcune osservazioni sulla prima redazione della ,lettera a Maometto‘, in: Enea Slivio Piccolomini. Papa Pio (wie Anm. 1), 177–186; GÖLLNER: Turcica (wie Anm. 25), Bd. 3, 46–48, 216 u.ö. Zur Rezeption in Deutschland: ERIC B. MORRALL: Der Islam und Muhammad im späten 152

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stellt bekanntlich einen Versuch dar, den Sultan selbst – schriftlich – zu bekehren. Dabei ließ Pius wie in keinem anderen Werk seinen oft unterschätzten oder übersehenen theologischen Neigungen freien Lauf und stellt die Rhetorik ganz in ihren Dienst. Er erörtert naheliegenderweise Themen, die zwischen Islam und Christentum strittig zu sein schienen, vor allem die Göttlichkeit Christi. Der politische Clou: Der Papst avisiert dem Sultan als Lohn für Taufe und Bekehrung eine neue translatio imperii, die Kaiserkrone, mit dem sicheren Ergebnis: Erit tuum regnum super omnia, quae sunt in orbe, et nomen tuum nulla aetas silebit.153 Das Christentum wird unabhängig von seinen überlegenen Glaubensinhalten, als Vehikel der Einheit angepriesen, und zwar nicht bloß Europas, sondern der ganzen Oikumene; einer Einheit, die in einer Art kalter Reconquista früher christliche, dann an den Islam verlorene Gebiete wiedergewonnen hätte: Ägypten, Syrien, Africa etc.154 Die naheliegende und immer wieder gestellte Frage: War die ‚Epistula‘, die immerhin in einer längeren missionarischen Tradition stünde,155 amtlich ernst gemeint? Oder war sie ein literarisches Musterstück des geistlichen Humanisten? Pius II. selbst erwähnt den Brief nirgendwo sonst, auch in den ‚Commentarii‘ nicht!156 Immerhin machte eine vorläufige Prüfung der Überlieferung deutlich, daß der Papst eine erste Version überarbeitete, feilte und erweiterte. Aber daß der Text tatsächlich an den Sultanshof abgeschickt wurde, muß wohl verneint werden.157 Ob versandt oder Mittelalter. Beobachtungen zu Michael Velsers Mandeville-Übersetzung und Michael Christans Version der ‚Epistola ad Mahumetem‘ des Papst [sic!] Pius II., in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von CHRISTOPH GERHARDT u.a., Tübingen 1985, 147–161. Cristans 1474 auf Initiative u.a. Herzog Eberhards im Bart von Württemberg entstandene Übersetzung sieht das Werk bezeichnenderweise nicht als „Dokument päpstlicher Diplomatie“ an, sondern „als eine vorbildliche neue Unterweisung im christlichen Glauben“; FRANZ-J OSEF W ORSTBROCK: Art. ‘Christan, Michael’, in: Verfasserlexikon 1 (21978), 1210. 153 GAETA: Lettera (wie Anm. 152), 198. 154 Impossibile est sub lege Mahumetea unionem fieri; sub Christiana facile fieri potest. Et id magna ex parte in tua voluntate consistit. Tu unus si annuas, Turcae omnes annuent; nec Syri aut Egyptii aut Arabes aut Libyes adversabuntur; Epistula ad Mahomatem, hg. von B ACA: (wie Anm. 152), c. 20, 124. 155 HANKINS (wie Anm. 2), 129. 156 Siehe aber P LATINA: Vita Pii II, hg. von GIULIO ZIMOLO (Rerum Italicarum Scriptores 3,3), Bologna 1964, 119, Z. 8 f.: Extat eius epistola ad Thurcum, qua hominem adhortatur ut, posthabita mahomehtana perfidia, veram Christi Yesu religionem sequatur; ebd. 75, Z. 1 mit Anm. ist die Schrift mit dem Titel ,De veritate Christiana ad Maumethem Turcam‘ unter den Opera des Papstes aufgeführt. – Wichtig wäre ein Nachweis, ob man die ,Epistula‘ tatsächlich, wie schon angenommen wurde, in die Vatikanischen Register aufgenommen hat. 157 Die als Antwortschreiben des Sultans (,Epistula Morbisani‘) zirkulierenden kurzen Texte haben mit dem Inhalt der ,Epistula‘ nichts zu tun und sind mit Sicherheit fiktiv.

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nicht, daß der Brief kein Soliloquium für die Schublade war, beziehungsweise daß er dies zumindest nicht lange blieb, bezeugt seine rasante Verbreitung im Westen. Recht oft separat als Opus Pius’ II. abgeschreiben, wurde der Text auch im Ensemble der ‚Epistulae pontificales‘, also der offiziellen Staatsbriefe, überliefert. Bisher waren nach unsystematischer Suche 94 Handschriften, mindestens 20 Druckausgaben bis 2001, davon acht vor 1482, sowie zeitgenössische Übersetzungen ins Italienische und Deutsche zu ermitteln.158 Diese große Verbreitung des Texts im Westen – ob noch von Pius II. selbst befördert oder, wahrscheinlicher, erst nach seinem Tod, ist unklar – macht zumindest deutlich, daß es beträchtlichen Bedarf auch an theologisch-rhetorischer Türkenliteratur gab, zumal wenn ein Papst als Autor ihr unvergleichliche Autorität gab. In der ‚Epistula‘ war der bei Pius sonst nie in Frage gestellte Krieg vorläufig aufgegeben. Stattdessen versucht sie es via Annäherung und Dialog. Bekanntlich war sie angeregt von Kardinal Nikolaus von Kues’ kurz zuvor an der Kurie verfaßter Schrift ,De pace fidei‘, was die harmonistischen, ebenso aber, was die kontroverstheologischen Teile angeht, von Kardinal Juan de Torquemadas teilweise nahezu wörtlich übernommener Schrift ,Tractatus contra principales errores perfidi Mahometi‘.159 Die ‚Epistula‘ würde somit, zwischen das Ende des Kongresses von Mantua (Januar 1460) und die neue Idee des persönlichen Kreuzzugs seit März 1462 datiert, einen deutlichen Taktikwechsel,160 ein Intermezzo unkonventionellen Nachdenkens repräsentieren. Paolo Brezzi hat sie in diesem Sinne unter die ‘Spunti del irenismo’ des Jahrhunderts, also zu den entsprechenden Schriften eines Nikolaus von Kues und Johann von Segovia gezählt. In jeDazu vgl. HANKINS (wie Anm.2), 124, 126 Anm. 38 (Literatur), 140 mit Anm. 97 (ein Beispiel in Gedichtform ebd. 206 f.) und den Beitrag von W OLFGANG FRIEDRICHS: Das Türkenbild in Lodovico Dolces Übersetzung der ‚Epistolae magni Turci‘ des italienischen Humanisten Laudivio Vezzanense, in: Europa und die Türken (wie *), 333–344. 158 Bisher nicht systematisch erfaßt; vgl. bislang P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 231– 233 mit Anm. 2. 159 Zu den Quellen bereits GAETA: Lettera (wie Anm. 152), 148–162; MORRALL: Islam (wie Anm. 152), 156, Anm. 28; P AOLO B REZZI: Spunti di irenismo e di ecumenismo dopo la caduta di Costantinopoli, in: DERS.: Saggi di storia medievale, Rom 1979 (zuerst 1978); DERS.: La lettera (wie Anm. 152); LOUIS VALCKE: Il ,De Pace Fidei‘. Niccolò da Cusa ed Enea Silvio Piccolomini, in: Pio II e la cultura (wie Anm. 1), 301–312, bes. 306–312; VICENTE CANTARINO: Juan de Torquemada’s Crusade against Islam, in: Religionsgespräche im Mittelalter, hg. von B ERNHARD LEWIS/FRIEDRICH N IEWÖHNER (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 4), Wiesbaden 1992, 237–250, bes. 247 f. Wenig Neues bei ALBERT R. B ACA: On the Sources of Pius II’s ,Epistola ad Mahometam II‘, in: Paradigms in the Medieval Thought. Applications in Medieval Disciplines. A Symposium, hg. von NANCY VAN DEUSEN/ALVIN E. FORD (Mediaeval Studies 3), Levinston 1990, 27–36. 160 MATANIC: L’idea (wie Anm. 8), 389; „nel 1461 il papa cambia radicalmente“. GAETA: Lettera (wie Anm. 8), 189: „salto morale“(!).

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dem Fall darf man die ,Epistula‘ als Zeichen einer erstaunlichen Flexibilität des Denkens ansehen.161

Illusion und Realismus: der Papst als Anführer eines Kreuzzugs und die Politik der Staaten Etwa zur gleichen Zeit, an der Pius II. die deprimierte Rede ,Existimatis‘ hielt,162 am Palmsonntag des Jahres 1461, vernahm man in Rom andere Töne. Pius feierte mit großer Ergriffenheit, in feierlicher Prozession die Heimholung des Andreashaupts aus dem bedrohten Patras nach Rom. Es war nach den Worten Pastors ein bisher nicht dagewesenes „Fest der christlichen Renaissance“, der zeremonielle Höhepunkt des Pontifikats. Die Wiedervereinigung des Apostels Andreas mit seinem Bruder Petrus, so der Tenor der vielüberlieferten gebethaften Predigt des Papstes, mit der er sich apostrophisch an das Apostelhaupt selbst wandte (,Advenisti tandem‘), symbolisierte vor allem eines: die Stärkung der Christenheit und des Bischofs von Rom für den Türkenkrieg.163 Es war wie eine Initiation. Nach der Ernüchterung von Mantua und dem nichtöffentlichen Experiment der ,Epistula ad Mahometem‘, nach Beilegung der inneritalienischen Kriege der Kurie, nach Abflauen der Mainzer und Brixener Stiftsfehde, des Konflikts mit Georg Podiebrad von Böhmen, dem Ringen mit Frankreich um die Abschaffung der ‘Pragmatique’ eröffnete Pius eine neue Phase des Türkenkriegs, alarmiert von jüngsten osmanischen Eroberungen. Die neue Parole verkündete er, so zumindest sagen es seine ‚Commentarii‘, schon früh in jener Rede vor sechs vertrauten Kardinälen im März 1462: alia aggrediemur via; ... cogitemus alia.164 Die Kreuzzugsbulle ‚Ezechielis‘ im nächsten Jahre (23. September 1463) verkündete es in alle Welt, unter Anspielung an den Beginn von 161

Von einem Urban II., Innozenz III. oder auch Eugen IV. sei Vergleichbares kaum vorstellbar gewesen: HANKINS (wie Anm. 2), 129 f. 162 Siehe oben bei Anm. 147 f. 163 Ausführliche Beschreibung der Zeremonien und Predigten: Commentarii VIII 1–2, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 2, 467–488; ‚Advenisti tamen‘ wurde in die Sammlung der Piusreden aufgenommen und kursierte ebenso wie die Gesamtbeschreibung durch den Papst (,Andreis‘), ein Nucleus der ,Commentarii‘, in Einzelüberlieferung. Dazu bisher: P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 233–236; SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 68–70; RUTH O. RUBINSTEIN : Pius II’s Piazza. S. Pietro and St. Andrew’s Head, in: Enea Silvio Piccolomini Papa Pio (wie Anm. 1), 221–244. Zu den Kreuzzugsaktivitäten 1463/64 siehe die Angaben in Anm. 8, speziell: P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 241–289; HOCKS: Pius II. (wie Anm. 1), 202–222; P APARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 8), 243–254; SETTON (wie Anm. 1), B D. 2, 231–270. 164 Zitate: Opera inedita, hg. von CUGNONI (wie Anm. 38), 477 (161).

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Vergils 4. Ecloge: Nunc maiora promittemus. Nachdem alle Bemühungen, die Fürsten zu mobilisieren fruchtlos gewesen seien und der Türke weiter vorrücke, bleibe als neuer und letzter Weg das noch nie Dagewesene: Der Papst zieht selbst, obwohl alt und krank, als Vorbild in persona an der Spitze eines europäischen Heeres in den Türkenkrieg: Quando aliter excitare Christianorum torpentia corda non valemus, nos ipsos periculis obiectabimus nostrumque caput adversus Turcos offeremus in bellum. Er wird kämpfen, oratione selbstverständlich nur, non ferro, ... precibus ... non bracchiis, wie er möglichen Einwänden (quid ages in bello senex, aegrotus, sacerdos?) entgegnet.165

Für diese Botschaft wird auch die Macht der runden Kleinbilder eingesetzt, auf Papst-Medaillen nämlich.166 Das Heer sollte sich aber jetzt um einen Kern von wirklich zuverlässigen Kreuzfahrern formieren. Dies waren, wie er meinte, Herzog Philipp der Gute von Burgund, selbst schon ein alter Mann, aber von Pius immer noch als Muster eines echten Kreuzfahrers gepriesen,167 dann die ohnehin logistisch unentbehrliche Seerepublik Venedig, drittens der ‘Frontstaat’ Ungarn unter König Matthias Corvinus,168 schließlich Skanderbeg und 165 Baronii Annales ecclesiastici (wie Anm. 19), Bd. 29, ad. a. 1463, 357b und 358a; Orationes de bello Turcico, hg. von REUSNER (wie Anm. 52), Bd. 2, 45 f. – Divergent zwischen Illusionismus und skeptischem Gewährenlassen beurteilt wird Pius’ Haltung zur Kreuzzugsmission des mutmaßlichen Hochstaplers Gerardus de Campo; Commentarii, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 2, 738 f. Kritisch G ILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 206 f.; positiver wertet SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 116–119. Noch zu konsultieren: HEINRICH PRUTZ: Pius’ II. Rüstungen zum Türkenkrieg und die Societas Jesu des Flandrers Gerhard des Champs 1459–1466, in: Bullettino senese di storia patria 19 (1912), 35–55. Zur Person und deutschen (!) Herkunft des Gerardus bisher übersehen: MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 18, Anm. 55. 166 Das Bild zeigt ein Kreuz, flankiert von Petrus und Paulus, und Waffen. Umschrift: Vindica, domine, sanguinem nostrum, qui pro te effusus est; vgl. ALFREDO SILVESTRI: Gli ultimi anni di Pio II, in: Atti e memorie della Società Tiburtina di storia e d’arte 20/21 (Tivoli 1940/41), 186–246 (auch separat Tivoli 1942), ebd. 243–246 zu weiteren Münzen und Medaillen mit Kreuzzugsthematik. Zu beachten ist die Darstellung Pius’ II. auf einem Kreuzfahrerschiff mit einem Kardinal sowie Kelch und Hostie auf einem Doppio ducato papale (nach 1463 Oktober 22). Umschrift: Exurgat Deus et dissipentur inimici eius (Ps. 67.2); Enea Silvio Piccolomini, hg. von W IDMER (wie Anm. 13), Tafel 9, dazu 470; vgl. P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 273, Anm. 4; C ARDINI: Firenze (wie Anm. 126), 165. 167 MÜLLER: Kreuzzugspläne (wie Anm. 2), 115–126; MÄRTL: Jouffroy (wie Anm. 126), 147–165. Zu Burgund siehe auch Anm. 78–82. Zum Image Burgunds im nun kreuzzugsfreundlichen Venedig: GILLI: Au miroir (wie Anm. 2), 209–211. 168 Offensivbündnis zwischen Ungarn und Venedig vom September 1463; P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 248. Zu Venedig siehe Anm. 170. Zu Ungarn vgl. neben der in Anm. 6 und 78 genannten Literatur GYULA R ÁZSÓ: Die Türkenpolitik Matthias’ Corvinus, in: Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 32 (1986), 3–50; M AGDA J ÁSZAY: Contrastes et diplomatie dans les rapports de Mathias Ier Corvin et la République

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seine Albaner. Hektische Gesandtschaftstätigkeit und Korrespondenz herrschte vor allem zwischen Kurie, Burgund und Venedig. Philipp der Gute erschien zunächst willig. Doch dann versagte sich der Burgunder, vom französischen König massiv unter Druck gesetzt. Von Skrupeln geplagt, versprach er zwar, noch im gleichen Jahr ein Heer zu schicken und im nächsten selbst zu kommen. Wer mochte es glauben. Die Vorstellung, die beiden alten Herren würden sich dann im Türkenland treffen, wie sie Pius in seinem enttäuscht-rücksichtsvollen Schreiben an den Herzog formuliert, hat etwa Surreales: Nos hac spe freti in nomine domini precedemus, et in locis hosti vicinis te expectabimus.169 Die wichtigste politische Änderung gegenüber den Vorjahren bedeutete 1463 der Schwenk der Serenissima zum Türkenkrieg.170 Die Rücksicht auf ihr Handelsimperium und die weitgestreuten Stützpunkte in der Levante hatten die Seerepublik immer wieder, oft genug gegenläufig zu Kreuzzugsappellen der Kurie, einen modus vivendi, zum Beispiel Waffenstillstände, mit den Türken suchen lassen. Jetzt, nach dem Fall von Lesbos und angesichts türkischer Angriffe in der Peloponnes, sah man die Notwendigkeit zum dosierten Krieg, und hielt ihn, weitgehend auf sich gestellt, bis 1479 durch. Pius hatte immer wieder an die Venezianer appelliert, nach dem Kriegseintritt den Dogen lobend und mahnend in zahlreichen Briefen angefeuert, bis zu seinem Tod.171 Unter dem Nachfolger Paul II. Barbo (1464–71) ließ der kuriale Kreuzzugseifer vorübergehend, bis zum Fall de Venise, in: ebd. 3–39, bes. 4–13; ferner zu Ungarn mehrere Beiträge in: Europa und die Türken in der Renaissance (wie *). 169 Pius’ II. an Hz. Philipp von Burgund [1464], in: Opera inedita, hg. von CUGNONI (wie Anm. 38), 454 (138), Nr. LXV. 170 ROBERTO LOPEZ: Il principio della guerra veneto-turca nel 1463, in: Archivio Veneto 64, ser. 5, Bd. 15 (1934), 45–131, mit Quellen Nr. 106–131. Zur Vorgeschichte siehe ANTONIO FABRIS: From Adrianople to Constantinople. Venetian-ottoman diplomatic missions, 1360–1453, in: Mediterranian Historical Review 7 (1992), 154–200. Vgl. den chronikalischen Bericht über die Ereignisse in Morea 1463–1469, in: J ORGA (Hg.): Notes (wie Anm. 75), Bd. 4, 200–214, Nr. CXXXVI. Überblick über die venezianische Türkenpolitik und ihre Kriterien bei FRANZ B ABINGER: Le vicende veneziane nella lotta contro i Turci, in: La civiltà veneziana del Quattrocento, Florenz 1967, 49–76; KISSLING: Venedig und der islamische Orient (wie Anm. 175), bes. 374–377 und HALIL INALCIK: An outline of Ottoman-Venetian Relations, in: Venezia. Centro di mediazione tra oriente e occidente (secoli XV e XVI) (Civiltà Veneziana. Saggi 32), hg. von H ANS-GEORG B ECK u.a., Bd. 1, Florenz 1977, 83–95; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2 s.v. Als kulturgeschichtliches Panorama: Venezia e i Tuchi. Scontri e confronti di due civiltà, hg. von CARLO P IEROVANO u.a., Mailand 1985. Zuletzt: Storia di Venezia dalle origini alla Caduta della Serenissima. Bd. 4: Il Rinascimento, hg. von ALBERTO TENENTI/U GO TUCCI, Rom 1996, 13–244. 171 Siehe etwa den Brief vom 25. Oktober 1463 an den Dogen Cristoforo Moro; MANSI: Collectio Conciliorum Bd. 35, 113–119. Die Fürstenbriefe Pius’ II. aus den letzten Pontifikatsjahren bedürfen gesonderter Untersuchung; siehe Anm. 183.

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von Negroponte 1470, nach.172 Ungarn unter Matthias Corvinus († 1490) nahm weiter seine Bollwerksfunktion wahr, mehr defensiv als offensiv, aber erfolgreich. Das sind die Tatsachen. Wie aber sind diese gemäß unserer Leitfrage, ‘Illusion’ und ‘Realismus’ in der Politik, gemessen am rhetorisch-propagandistischen Aufwand eines Pius’ II. zu beurteilen? Die Quintessenz der älteren Literatur formulierte zuletzt Hankins nochmals lapidar: „The humanists failed.“ Eine Ansicht, die wir relativiert zu haben glauben. Pius hatte propagandistisch mehr erreicht als alle Bemühungen seit Nikopolis. Dennoch wurde Mantua zweifellos kein neues Clermont. Anders als im hohen Mittelalter und nach 1396 fand global ein religiöser Kreuzzug ebensowenig statt wie ein profaner Türkenfeldzug.173 Hatte sich an den Grundbedingungen der Politik etwas geändert? Die attentistische Haltung eines ‘mourir pour Smederovo?’, wie sie seitens der nicht unmittelbar betroffenen Staaten jenseits ihrer Publizistik gepflegt wurde, wird man kaum schon als Ausweis einer neuen politischen Rationalität, andererseits auch nicht moralisch als „Heuchelei aus Gewinnsucht“ abwerten. Denn auf der anderen Seite ist die ritterliche Kreuzzugsromantik, das Gefühl, als Fürst und Ritter ‘eigentlich’ zum Kreuzzug verpflichtet zu sein, ein kulturelles Faktum, das zwar militärisch Fiktion blieb, aber in einer „Mischung von ernsthaftem Streben und dem Ehrgeiz, durch diesen ... besonders ritterlichen Plan als Retter der Christenheit einen höheren Ruhm ... zu sichern“, unbestreitbar ist. Sie ließ einen Heinrich V. von England noch auf dem Totenbett bekennen, sein eigentliches Fernziel sei gewesen, Jerusalem zurückzuerobern.174 Es bleibt nur die Möglichkeit, diese Ambivalenzen als solche zu konstatieren. Einen besonders geeigneten Prüfstein für kritische Politikperzeption bildet in diesem Zusammenhang die bereits oft genannte Seerepublik Venedig, bei Pius II. selbst wie in der Literatur. Nach der nicht unrepräsentativen Ansicht Kiesslings überwog schon im 13. Jahrhundert „das realpolitische Denken ... ungewöhnlich stark“ in Venedig, wo von „eiskalte(n) Realpolitiker(n)“ „kalte, von Ideologien unberührte Realpolitik“ betrieben worden sei.175 Die Kommentare Pius’ II. als Zeitgenosse über die „Krämer172 G IUSEPPE VALENTINI: La sospensione della crociata nei primi anni di Paolo II (1464–1468) (dai documenti d’archivio di Venezia), in: Archivum Historiae Pontificiae 14 (1976), 71–101 (Regesten); SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 271–313. 173 HANKINS (wie Anm. 2), 144. Das ältere Urteil Bürcks steht für viele ähnlich gelagerte: „Indifferenz und wohl auch Nüchternheit des Zeitdenkens, das für eine Kreuzzugsbegeisterung im alten Stil sich nicht mehr empfänglich zeigte“; B ÜRCK: Selbstdarstellung (wie Anm. 62), 64. 174 HUIZINGA: Herbst (wie Anm. 81), 129, ebd. Zitat. 175 So HANS-JOACHIM KISSLING: Venedig und der islamische Orient bis 1500, in: Venezia e il Levante fina al secolo XV, hg. von AGOSTINO PERTUSI (Civiltà Veneziana.

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Republik“ (Kissling), gehören zu seinen ätzendesten überhaupt; doch scheinen sie letztlich das verbreitete inneritalische Image der Serenissima zu reflektieren. Der ihr unterstellte Wahlspruch ‚Siamo Venziani, poi Cristiani‘ faßt dies komprimiert. Schon beim Fall Konstantinopels waren sie des Verrats verdächtigt worden, erneut, als sie als erste westliche Macht im April 1454 einen Friedensvertrag mit dem Sultan schlossen. Dazu Pius: Der politische Wertmaßstab dieser mercatores sei nicht auf die cura religionis, sondern allein auf wirtschaftlich – koloniale Herrschaft ausgerichtet. Wenn ‘der Venezianer’ eine Flotte rüstet, dann, um Gold zu gewinnen, und dies von Natur aus (naturam suam secuti). Alle anderen Gründe – so auch der Kreuzzug im Jahre 1463, um den es dem Papst geht – seien vorgeschoben: he vere classis armande cause, alie ficte.176 Schlüsselbegriff politischen Handelns ist die – hier als moralisch defizitär gewertete – ‘utilitas’: Veneti fide barbara seu mercatorum more, quibus innatum est ad ultilitatem omnia pensitare, honestate reiecta. Ein desillusioniertes Urteil, das in der Tat, wie Schwoebel bemerkte, machiavellischer Politikanalyse etwas nahekommt. Stulta eius cogitatio est, qui praeclara persuaderi posse populis arbitratur, nisi palpabilis assit utilitas. Dumm denkt derjenige, der meint, man könne den Völkern edle Ziele aufreden, wenn nicht handgreiflicher Nutzen dazukommt.177 Die Untersuchung müßte jetzt auf die Frage der politischen Selbstwahrnehmung Venedigs und anderer Stadtstaaten im Vergleich hinauslaufen, deren BewertungsSaggi 27), Bd. 1, Florenz 1973, 361–387 (Zitate 361 f., 364 f.), wo durchweg eine rein geostrategische Sicht dominiert. Eine komprimierte Skizze über Venedig und die Kritik an seiner Türkenpolitik bei MEUTHEN: Fall (wie Anm. 35), 31 Anm. 99 (Literatur). Siehe auch ERICH SCHILBACH: Venedigs widersprüchliche Haltung zur türkisch-osmanischen Expansion, in: Venezia centro di mediazione (wie Anm. 170), 77–81. Zum Vergleich J ACQUES P AVIOT: Gênes et les Turcs (1444, 1453). Sa defense contre les accusation d’une entente, in: Storia dei Genovesi. Atti del Convegno di studi di ceti dirigenti nelle istituzioni della Repubblica di Genova. Genova 7–10 giugnio 1988, Bd. 9, Genua 1989, 131–135. 176 Non est mercatoribus cura religionis, nec ultionis causa populus aurum depromit avarus; nihil plebi nocet salvis infamia nummis (Iuv. 1.48); dominandi libido et insatiabilis ardor habendi tot apparatus facere, tot subire sumptus persuasit Venetis; Commentarii XII 3, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 2, 722, Z. 19–22. Und weiter: Incessit cupido prediviti provincie dominandi; aurum dedere ut aurum augerent; naturam suam secuti sunt; ad mercatum et nundinas exivere. ... Emittendam esse coloniam existimabant neque usquam locari posse melius quam in Peloponneso. He vere classis armande cause, alie ficte; ebd. 722, Z. 30–723, Z. 5. Die gesamte Passage war in der Ausgabe von 1584 zensiert. Das angebliche Motto ,Siamo Veneziani, poi Cristiani‘, erwähnt u.a. bei GÖLLNER : Turcica (wie Anm. 25), Bd. 3, 39; seinem Ursprung wäre näher nachzugehen. 177 Zitate: Commentarii XI 16, 686, Z. 22 f. und XII 3, 723, Z. 5–6. SCHWOEBEL: Shadow (wie Anm. 2), 61: „In emphasizing expedience and decisiveness essential to success in political undertakings and in stating his case in maxims of a general nature Pius bears a striking resemblance to Machiavelli.“

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maßstäbe von utilitas, von Bürger- und Adelstugend analysieren und damit ein weites Feld betreten, was leider hier nicht möglich ist.178 Aversion und Mißtrauen seitens der anderen italienischen Staaten gegenüber Venedig bilden überhaupt einen neuralgischen Punkt im Kreuzzugsbemühen der Jahre 1463/64 und späterer Jahrzehnte. Das sensibel austarierte System der Lega stand gerade dem Exponieren einer Einzelmacht, das Machtgewinn versprach, entgegen. Sollten gegen die Prognose der militärischen Skeptiker tatsächlich größere Gebiete aus der Hand der Türken zurückerobert werden, so würde in erster Linie Venedig davon profitieren. Dies war vor allem die Befürchtung in Mailand bei Francesco Sforza und in Florenz unter dem späten Cosimo di’ Medici. Ruhe und Frieden in Italien, das sah der Papst genau, waren die unbedingten Voraussetzungen für seinen Kreuzzug wie für seine Stellung in Italien, und beides mochte er nicht gestört sehen.179 Es ist bemerkenswert, wie der Pius der ‚Commentarii‘ in einer Privataudienz für den florentinischen Gesandten sein soeben zitiertes Verdikt über die venezianische Politik in sehr pragmatischer Weise revidiert, nachdem dieses sich für ‘seinen’ Kreuzzug entscheiden hatte.180 Auf die Einwände des Florentiners, cui suspecta erant omnia, que Venetorum estimationem augere viderentur, und dessen Polemik, die in dem Ausspruch gipfelte, man befürchte von der superbia der Venezianer nicht weniger Gefahr als von den Türken, entgegnete er: man brauche Venedig und seine Flotte eben für den Krieg (vincente Veneto Christus vincit) und dürfe ihren Untergang keinesfalls wünschen (quod si perierint Veneti, frustra de servanda Italia cogitabis); die Türken müßten aus Europa vertrieben werden (ab Europa migrare Turci cogantur); aber nicht alle ehemals türkisch besetzten Gebiete erhielten dann allein die Venezianer, sondern auch die Griechen, Serben und Ungarn hätten Anspuch; Venedig sei außerdem zu Lande nicht stark genug (multo est inferior Turco Venetus), um tatsächlich ein imperium zu errichten und zu halten; die Angst der Florentiner sei daher – so wird paradox formuliert – nicht „kurzsichtig“ (sprich: realistisch) genug: hoc est, quod de imperio veneto vaticinamini. Verum simile monstri est non videre propinqua eos qui 178

Majores nostri studiosi tam publici honoris quam particularis comodi civium; Venedig, Archivio die Stato, Consiglio dei X, Misti 24, fol. 184 (1490); zitiert M ICHEL MOLLAT/P HILIPPE BRAUNSTEIN/J EAN C. HOCQUET: Réflexions sur l’expansion vénitienne en Méditerranée, in: Venezia e il Levante (wie Anm. 175), 515–540, ebd. 529. 179 Pius II. an Fabiano Benci, päpstlichen Gesandten in Genua 1464 Febr. 11: Nec nos illi sumus, qui pacificum Italiae statum turbare velimus. In Turchos nostra fertur intentio... veremurque, ne pacem Italiae ... (sc. ein Konflikt des Ebf. von Genua mit Mailand) interrumpat et nostre contra Turchos expeditioni maximum afferat impedimentum; P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 745, Nr. 61. 180 Wörtlich in den Commentarii XII 30, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 2, 759–764; dazu bereits P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 250 f.

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longinqua prospectant! Am Ende, so Pius mit Genugtuung, sei der Florentiner durch diese kristallklaren Argumente (rationes adamantinae) überzeugt worden.181 Tatsächlich waren Mailand und Florenz, das längst massive wirtschaftliche Eigeninteressen in der Levante verfocht, am wenigsten kreuzzugsinteressiert; hier waren nicht nur Pius’ Kreuzzugssteuern besonders verhaßt, sondern man hielt offenbar sogar sein Versprechen, den Kreuzzug anzuführen, für ein Täuschungsmanöver.182 Ihre „policy of masterly inactivity“183 bekam dadurch einen doppelbödigen Zug; denn dem Papst und der Öffentlichkeit versprach man massive Hilfe. Schließlich gab es ja auch unter den Florentinern passionierte Kreuzfahrer wie Agnolo Acciaiuoli; und die Missiven und Verlautbarungen der Florentiner, verfaßt vom humanistischen Kanzler Benedetto Accolti, machten politisch korrekte Türkenpolemik und Kreuzzugsbereitschaft publik.184 Insgesamt blieb die Politik der italienischen Staaten zum Kreuzzug Pius’ II. ebenso uneindeutig und ambivalent185 wie das Verhalten der Fürsten überhaupt. Ausblick: Die zeitgenössischen Fürsten waren zwar keine eroberungssüchtigen christlichen Abenteurer wie jene Gotfridi und Tancredi des 1. Kreuzzugs, aber dennoch, wenn Staats- und Dynastieinteressen es zu ver181 Zitate aus den ‚Commentarii‘ siehe Anm. 177 und 180 sowie ebd. 759, Z. 18 f. sowie 762, Z. 6, 10, 28 f. und 31 f., 764, Z. 4–6. 182 SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 263–268, bes. 267 mit markanten Quellenbelegen. Zur florentinischen Politik CARDINI: Firenze e la crociata di Pio II (wie Anm. 126), bes. 156–165; wichtig B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 277–286. Zur ambivalenten Rolle Lorenzos de’ Medicis und anderer italienischer Staaten bei der türkischen Besetzung von Otranto 1480/81: SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 336–345, 364–375; FRANZ B ABINGER: Lorenzo de’ Medici e la corte ottomana, in: Archivio storico italiano 70 (1963), 305–361. 183 HANKINS (wie Anm. 2), 125. Vgl. SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 267: „general cynism of the Italian courts“; ebd. 265: „endless variety of petty maneuvers“; SETTON betont zurecht die Bedeutung der diplomatischen Korrespondenz Pius’ II. in den letzten beiden Pontifikatsjahren: „instructive and even entertaining to read“; siehe auch CARDINI: Firenze e la crociata di Pio II (wie Anm. 126), 136. Vgl. oben Anm. 19. 184 Ausgerechnet Accoltis Geschichte des Ersten Kreuzzugs, ‚De bello a christianis contra barbaros gesto‘ (entstanden ca. 1463) hatte FUETER als „einzige Schrift des 15. Jahrhunderts“ bezeichnet, „in der ein historischer Stoff um seiner selbst willen (!) von einem Humanisten behandelt wird“, und dabei völlig die politischen und propagandistischen Intentionen verkannt; EDUARD FUETER: Geschichte der neueren Historiographie, Zürich/Schwäbisch Hall 1985 (ND der Aufl. München/Berlin 31936), 24; vgl. dagegen B LACK: Storia della Prima Crociata (wie Anm. 32), 6 und 20 f.; DERS.: Accolti (wie Anm. 2), 257–285. 185 Das Thema kann hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. B LACK: Accolti (wie Anm. 2), 282: „The attitude of the Florentine elite to Pius’ II crusade was ... anything but unanimous.“ Zu Mailand: GEO P ISTARINO: La politica sforzesca nel Mediterraneo orientale, in: Gli Sforza a Milano … e I loro rapporti con gli stati italiani ed europei (1450– 1535), Mailand 1982, 335–368.

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langen schienen, riskanter Expansion – so 1494 – nicht abhold. Nur: es gab auf dem Balkan derartige Interessen nicht. Das Europa der Fürstenstaaten verhält sich bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im tatsächlichen Handeln gegenüber dem Osmanenreich defensiv, auf Schadensbegrenzung und einen modus vivendi bedacht, nicht auf militärische Reconquista. Die Päpste blieben zwar im Prinzip ein zur Offensive treibendes Element, immer dann vor allem, wenn die Türken etwas Neues erobert hatten, paßten sich aber den diplomatischen Rahmenbedingungen nolens volens an. Schon am Ende des Jahrhunderts wurde zeitweise – bis zum Fall von Modon und Koron 1499 – in den Beziehungen Alexanders VI. und Sultan Bajezids II. sichtbar,186 was im 16. Jahrhundert dann klassisch die Politik Frankreichs, gipfelnd im Vertrag von 1536, demonstrierte:187 der ‘Großtürke’ war vom Mordgespenst zum diplomatischen Vernunft-Partner und möglichen Verbündeten in einem europäischen Mächtesystem geworden.188 Kreuzzugspläne und isolierte Kommandounternehmen gegen islamische Städte, jetzt meist unter spanischer Führung, rissen freilich immer noch nicht ab. Aber man wurde nach außen nur dann militärisch aktiv, wenn diese eigenen Interessen (defensive wie expansive) unmittelbar betroffen waren; dann fanden, unter Mobilisierung gesamtchristlicher Ideale, auch kollektive Bündnisse und Militäreinsätze statt. Gegen die Türken war

186 Zur Zeit Alexanders VI. mit der signifikanten Kapitelüberschrift ,The diplomatic revolution‘: SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 508–542. 187 Dazu K LAUS M ALETTKE: Die Vorstöße der Osmanen im 16. Jahrhundert aus französischer Sicht, in: GRUBMÜLLER/KÜHLMANN (Hg.): Europa und die Türken (wie *), 373–394; sowie MERTENS: Friede (wie Anm. 2), 90 (Literatur). Vgl. HANS J. KISSLING: Rechtsproblematiken in den christlich-muslimischen Beziehungen, vorab im Zeitalter der Türkenkriege, Graz 1974. Tendenziös fixiert auf die Idee einer verschwörerischen Kollaboration der Päpste mit den Türken: HANS P FEFFERMANN: Die Zusammenarbeit der Renaissance – Päpste mit den Türken, Zürich 1946. 188 HANKINS (wie Anm. 2), 145, betont zwar die „new humanistic analysis of foreign policy in terms of concrete material interests and the balance of power“ als Voraussetzungen dafür, daß die Türken im frühmodernen Staatensystem verortet werden konnten; ein Beweis wurde freilich weder für die Existenz einer „new humanistic analysis“, noch weniger für deren politikbestimmende Wirkung, etwa bei Lorenzo Medici, erbracht; die ‘philotürkischen’ Anwandlungen einiger Humanisten können dazu nicht dienen. – Hier sind neue Untersuchungen nötig, die endlich über die üblichen Hinweise auf Machiavelli hinausblicken müßten. Zum Thema sei hier nur verwiesen auf J OSEF ENGEL in dem von ihm herausgegebenen Handbuch der Europäischen Geschichte, Stuttgart 1971, Bd. 3, 274–293, mit freilich eigenwilligen Ansichten. „Das Offensivbündnis des allerchristlichsten Königs“ mit den Türken „sprengte die res publica christiana in weit wirksamerer Form in ein anarchisches Staatenchaos auseinander, als dies der Auseinanderfall Europas in verschiedene Konfessionen vermocht hatte“ (286). Es war auch kaum, wie E NGEL meint, eine „neue Anschauung“ des 16. Jahrhunderts, die „den Kreuzzug zum Glaubenskrieg übersteigerte“.

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das im Kleinen 1480 bei der Rückeroberung von Otranto, im Großen 1571 bei Lepanto, 1683 am Kahlenberg der Fall.

Ein Seitenblick: Der finanzielle Aspekt Nihil difficilius est quam extorquere aurum ab avaro;189 das wußte nicht nur Pius! Schon während des 14. Jahrhunderts stand man vor dem Dilemma, daß Predigt und Ablaß über die legitimen Praktiken der Kommutation hinaus immer mehr zur Finanzierung der zusehends professionelleren und aufwendigeren Kriegsführung, insbesondere der Flotten, benötigt wurden. Dieser unaufhaltsame Trend zur Kommerzialisierung stellte einen Mißbrauch der geistlichen Intentionen dar, der einerseits ‘diskreditierende’ Kritik am Papsttum und seinem Initiativmonopol auslöste, wie Pius resignierend einsah,190 andererseits aber doch, wie etwa Norman Housley nicht ohne Verwunderung hervorhebt, immer noch große Resonanz zuließ.191 Immer noch zogen Menschen bewaffnet los, so etwa 1456, immer noch gingen beträchtliche Kreuzzugsgelder ein; sie verblieben aber meist in den Kassen der für professionelle Durchführung eines Kreuzzugs ideologisch, strategisch und eben auch finanziell noch mehr als früher unverzichtbaren Fürstenstaaten. Doch reichten die Finanzmittel nicht, wollte der Papst selbst militärisch, insbesondere mit einer Flotte,192 initiativ werden. Es galt innovative und unverfängliche Finanzquellen aufzutun. Da mutete es geradezu providentiell an, als im Mai 1462 Giovanni da Castro bei Tolfa für die Kurie große Alaunvorkommen entdeckte.193 Das Glücksalaun von Tolfa schuf nicht nur 189

Commentarii VII 15, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 461, Z. 18 f. Siehe oben bei Anm. 148. 191 HOUSLEY: Later Crusades (wie Anm. 6), 403–408. Vgl. REINHOLD FRANKE: Die päpstlichen Ausschreibungen von Ablässen und Steuern zum Kampfe gegen die Türken von 1453–1464, Phil. Diss., Halle 1925, 102–168. 192 Päpstliche Flotte: ALBERTO P. GUGLIELMOTTI: Storia della marina pontificia, Bd. 2: Storia della marina pontificia nel medio evo, dal 728 al 1499, Florenz 1871; GIOVANNI B. P ICOTTI: Sulle navi papali in Oriente al tempo della caduta di Costantinopoli, in: Nuovo Archivio Veneto, ser. III, 22.1 (1911), 413–453. P IO P ASCHINI: La Flotta di Callisto III, in: Archivi della Reale società Romana di storia patria 53–55 (1930–1932), 177– 245; SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, passim. Vgl. Rom, Archivio Segreto Vaticano Arm. 39. 10 fol. 256 r–257 v: Aufstellung über die Kreuzzugsflotte Pius’ II. mit Ausgaben; Auszüge bei SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 262 f., Anm. 111; Volltext hg. von E NRICO CARUSI: Prevenuti di spese per la spedizione contro il Turco al tempo di Pio II, in: Archivio Muratoriano 13 (1913), 273–279. 193 Commentarii VII, 12, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 1, 451–454. Campano (ebd. 453) und Crivelli besangen sie gleich entsprechend: Haec tibi servantur divinae munera dextrae/Haec venit e Tusco Lydia glaeba solo; hg. von SMITH (wie Anm. 190

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eine regelmäßige Einnahmequelle, sondern brach sinnigerweise zugleich das Monopol der Türken für diesen Rohstoff. Die Erlöse der Gruben, die Pius von den Medici ausbeuten ließ, jährlich ca. 100.000–140.000 fl., wurden ausschließlich für den Kreuzzug, für die Versorgung von Türkenopfern (Hinterbliebenen, Flüchtlingen etc.) verwendet und in einer eigenen Kasse und Registratur verwaltet. Beginnend unter Calixt III., verstärkt unter Pius II., richtete die Kurie eine von der regulären Thesaurarie separate Thesauraria s. cruciatae ein, die seit Paul II. unter einer dreiköpfigen Kardinalskommission von der Datarie verwaltet wurde.194 Sie fand in einer entsprechenden Sonderserie der Kammerregister ihren verwaltungstechnischen Niederschlag.195 Ihre systematische Auswertung steht noch aus und verspricht weitere Aufschlüsse.196

Das Ende Immer öfter stilisierte der leidende Papst im letzten Pontifikatsjahr die Selbstentäußerung, seine Hinfälligkeit (senex, debilis, aegrotus, in expedi-

55), 49 v. 19–28. Zum Alaun von Tolfa: SETTON (wie Anm. 1), Bd. 2, 239 f., 275, Anm. 14; ADOLF GOTTLOB: Aus der Camera apostolica des 15. Jahrhunderts, Innsbruck 1889, 245, 278–305; JEAN DELUMEAU: L’alun de Rome, XVe et XVIe siècle, Paris 1962; Paparelli: Enea Silvio (wie Anm. 8), 240–242. 194 GOTTLOB: Aus der Camera (wie Anm. 193), 41 ff.; EMIL GÖLLER: Untersuchungen über das Inventar des Finanzarchivs der Renaissancepäpste, in: Miscellanea Franz Ehrle (Studi e testi 41), Bd. 5, Rom 1924, 227–272, ebd. 252; siehe auch CARUSI: Prevenuti di spese (wie Anm. 192). 195 Rom, Archivio di stato, Cameralia I, Depositeria della Crociata Nr. 1991–1995 sowie Nr. 1233 (eigentlich ‚Liber introitus et exitus‘ für die Jahre 1463–1464), aufbewahrt in originaler Ledertasche mit Mittelschnalle und Piccolomini-Wappen. Als Name wird genannt Nicolo Piccoluomo Piccogliuomini. Dabei handelt es sich um den Kubikular-Thesaurar secretus de Libro della Crociata, Niccolò Piccolomini, 1464–76 Bischof von Benevent; P LATINA: Vita Pii II (wie Anm. 156), 117, Anm. 3. Zu den Crociata-Registern siehe P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 260 f.; GAETANO RAMACIOTTI: Gli Archivi della reverenda Camera apostolica von inventario analittico-descrittivo dei registri camerali conservati nell’Archivio di Stato di Roma nel fondo camerale primo, Rom 1961, zu Pius II. 70–72 mit einer Abbildung des Registereinbands. 196 Pius II. faßte in einem Breve von 1459 Mai 4 zur Finanzierung des Kreuzzugs auch die Hilfe jüdischer Bankiers ins Auge; inseriert in Lilius Tifernas, Annali 45 fol. 44r–47 v; ARIEL T OAFF: Gli ebrei a Città di Castello dal XIV al XVI secolo, in: Bollettino della Deputazione di Storia Patria per l’Umbria 72 (1975), 1–105, ebd. 11; zitiert URSULA J AITNER-HAHNER: Humanismus in Umbrien und Rom. Lilius Tifernas, Kanzler und Gelehrter des Quattrocento (Saecula spiritalia 25–26), Baden-Baden 1993, 90 und 604, Anm. 118.

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tionem pergit197), Martyrium und Triumph; zugleich beschwor er die Schlichtheit, Askese und religiöse Glut des Urchristentums, die Kirche und Papsttum einst groß gemacht hätten;198 ein Gedanke, der auch als Reflex auf die aktuelle Kurienkritik und als Reformimpuls zu verstehen ist.199 Sein Tod bedeutet das endgültige Scheitern des Kreuzzugs. Jüngste Feststellungen sind daher besonders hervorzuheben, die besagen, daß unter allen päpstlichen Versuchen im 15. Jahrhundert Ablaßkampagne und Kreuzzugsaufruf Pius’ II. 1463/64 ‘draußen’ in der europäischen Christenheit „den umfassendsten Erfolg“ hatten. Selbst in Norddeutschland war, so jüngst Vogtherr, das Echo auf die Bulle ,Ezechielis‘ und den Kreuzzugsprediger Hieronimus von Kreta „auffallend breit“.200 Daß ausgerechnet dieser Zug mit dem Papst an der Spitze dann durch die Hinhaltepolitik der italienischen Staaten und nicht zuletzt durch den Tod von Pius II. in Ancona nicht zustande kam, sei umgekehrt für das fortan rapid sinkende Prestige der Kreuzzugsidee ‘im Volk’ besonders gravierend gewesen.201 Die Ereignisse sind bekannt und vielfach dargestellt: Am 19. Juni bricht Pius II., schwerkrank und weinend, von Rom auf. Der Zug nach Ancona war ein Sterbezug, er diente dem ‘ben morire’ eines Papstes, wie es Pius noch selbst,202 und post mortem seine Biographen Campano und Platina zu zeichnen wußten. In der Stadt hatten sich viele, überraschend viele Kreuzfahrer, auch aus Deutschland, gesammelt, zum Teil aber schon wieder zerstreut, durch Seuchen und das lange Warten entnervt. Der zu Tode Erschöpfte trifft 197

B ARONII: Annales ecclesiastici (wie Anm. 19), Bd. 29, 358b; Orationes de bello Turcico, hg. von REUSNER (wie Anm. 52), Bd. 2, 47. 198 In der Rede ,Sextus igitur annus‘ 1463 September 23: Abstinentia, castitas, innocentia, zelus fidei, religionis fervor, contemptus mortis martyriique cupido romanam ecclesiam toti orbi prefecerunt, primi Petrus et Paulus inclyto martyrio dicaverunt; Commentarii XII 31, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 2, 771, Z. 17–20. 199 Enea Silvio Piccolomini. Texte, hg. von W IDMER (wie Anm. 13), 123 f. Nicht von ungefähr stammt aus der Zeit des neuen Aufbruchs gegen die Türken auch der Plan einer Kurienreform Pius’ II. Siehe P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 747–752, Nr. 62; RUDOLF HAUBST: Der Reformentwurf Pius’ des Zweiten, in: Römische Quartalschrift 49 (1954), 188–242. 200 VOGTHERR: Wenn hinten, weit (wie Anm. 15), 118 f., nach Untersuchung von norddeutschen Städtechroniken. 201 VOGTHERR: Wenn hinten, weit (wie Anm. 15), 118. 202 Commentarii XII 31, hg. von VAN HECK (wie Anm. 62), Bd. 2, 772, Z. 21–25: Scimus rem senio nostro pergrauem esse nosque ad certam quodammodo mortem profecturos. Neque hanc recusamus. cuncta deo committimus. Fiat uoluntas eius. moriendum nobis aliquando est, neque interest quo in loco, dum bene moriamur. Beati qui moriuntur in obsequio domini. Siehe auch Pius’ Kondolenzbrief an Piero de’ Medici noch vom 8. August 1464 aus Ancona; PASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 752 f., Nr. 63. Vgl. P APARELLI: Enea Silvio (wie Anm. 8), 255–264: „La bella morte“; POZZI: Struttura (wie Anm. 63), 162. TOTARO: Pio II nei suoi ,Commentarii‘ (wie Anm. 27) überschreibt vor diesem Hintergrund sein Schlußkapitel: ,Pio martire o trionfatore‘.

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am 18. Juli in der Hafenstadt ein;203 man erinnere sich an Pinturicchios Bild. Er stirbt, wartend bis zuletzt, am 14 August 1464 im Angesicht der venezianischen Schiffe.

203 Zu Pius’ II. Reise und Tod in Ancona: Beschreibung der letzten Reise und des Todes in der Fortsetzung der ‚Commentarii‘ durch J ACOPO AMMANATI P ICCOLOMINI: Jacobii Ammanati Piccolominei Epistolae et commentarii, Mediolani 1506, fol. 337v–343R; G IANNANTONIO C AMPANO: Vita Pii II, hg. von ZIMOLO (wie Anm. 156), 83–87; P LATINA: Vita Pii II (wie Anm. 156), 106–111. Vgl. VOIGT: Enea Silvio (wie Anm. 8), Bd. 3, 715–724; P ASTOR (wie Anm. 8), Bd. 2, 273–289, mit eindrucksvoller Würdigung 289; S ILVESTRI: Ultimi anni (wie Anm. 166), 217–242; H OCKS: Pius II. (wie Anm. 1), 212– 218; Enea Silvio Piccolomini. Texte, hg. von W IDMER (wie Anm. 13), 126–129; MARIO NATALUCCI: Il papa Pio e Ancona, In: Convegno storico Piccolominiano (wie Anm. 7), 109–130.

X.

Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist. Die ,Invectiva in Felicem antipapam‘ (1447)* Die Invektive ist aus den Opera der italienischen Humanisten nicht wegzudenken. Als Schmähschrift ad hominem bildet sie neben ihren Briefen und Reden einen typischen „Literaturzweig“.1 Die Forschung, tendenziell dazu neigend, im ‘Humanisten’ auch die ‘humanitas’ zu finden, hat diesen großen eristischen Komplex wegen seiner unakademischen Drastik und Obszönität nicht gerade hochgeschätzt. Wer aber von der Renaissance rede, gestand Tadeusz Zielinski widerstrebend zu, müsse auch „ihres üppigsten Unkrauts gedenken, der Invektive“.2

I. Das Kapitel „Der moderne Spott und Witz“ ist es, welches Jacob Burckhardt zielsicher den II. Abschnitt der ‚Kultur der Renaissance‘ beschließen lässt: „Die Entwicklung des Individuums“. Die Invektive der Humanisten kristallisiert hier zum Inbegriff für „das ausgebildete Individuum“. Als „Italien eine Lästerschule geworden“ war, dienten Witz und Hohn dem Ruhm sowohl als „Korrektiv“ wie als Weg, ihn zu erwerben.3 Auch Georg Voigt hatte in seiner ‚Wiederbelebung‘ (1859) der Invektive, wenn auch unbehaglich, Rechnung getragen, indem er sie als Produkt des Konkurrenzkampfs im Humanistenmilieu erklärte.4 Alfred von Martin, in Burckhardts Spuren, meinte, * Zuerst in: Margarita amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili, hg. von FABIO FORNER/CARLA MARIA MONTI/P AUL G. SCHMIDT (Bilbiotheca erudita. Studi e documenti di storia e filologia 26), Mailand 2005, Bd. 2, 541–584. 1 ERNST WALSER: Poggius Florentinus. Leben und Werk, Leipzig 1914 (ND Hildesheim/ New York 1974), 267. POGGIO BRACCIOLINI: Lettere, hg. von HELENE HARTH, 3 Bde., Florenz 1984–1987 (künftig zitiert als Lettere, hg. von HARTH). THOMAS HAYE (Göttingen) sei für Hinweise herzlich gedankt. 2 TADEUSZ ZIELIēSKI: Cicero im Wandel der Jahrhunderte, Darmstadt 51967 (ND der Ausgabe Leipzig 41929), 203. 3 JACOB BURCKHARDT: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, durchgesehen von WALTER GOETZ (Kröner Taschenausgabe 53), Stuttgart 101975, 143–157, Zitate 144, 150. Der eigentliche Phänotyp ist für Burckhardt freilich erst Pietro Aretino. 4 GEORG VOIGT: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 2 Bde., hg. von MAX LEHNERDT, Berlin 31893 (11859; ND 41960), Bd.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

„schon in diesem frühesten Studium weltlicher Wissenschaft im Abendlande“ zeige gerade die Humanisten-Invektive, „daß in keinem Stande der Individualismus so sehr das letzte Wort ist wie in dem Stande der professionellen Akademiker“.5 Wer möchte dem nicht zustimmen. Wohl die erste Monographie zur Humanisten-Invektive erschien – im gleichen Jahr wie Burckhardts Werk – aus der Feder des Franzosen Charles Nisard (‚Les gladiateurs de la république des lettres‘); die vorerst letzte legte Felice Vismara vor nunmehr hundertzehn Jahren vor. Sonst sind systematische Studien rar.6 Ein breites Forschungsfeld öffnet sich hier. Methodisch wies vor allem von Martin einen Zugang, der neben dem literaturwissenschaftlichen Aufschluß verspricht, den gruppensoziologischen. Die Humanisten bildeten eine relativ kleine informelle Gruppe – sie sei hier die Corona genannt – mit hohem Elitenbewußtsein und mit subtiler, inkludierender wie exkludierender Beziehungsdynamik. Die verschiedenen Invektivtexte, die fast ständig in der Corona kursierten, spielten gruppenintern eine wichtige Rolle im Kampf um Prestige und Meinungsführerschaft. Ihre letzte Funktion bestand ebenso wie diejenige des brieflichen Freundschaftskults, ja geradezu als dessen negative Kehrseite, in der Stärkung der Gruppenkohärenz – und im Amüsement.7 2, 147–151. „Fast alle in derselben Situation, nämlich als Curialbeamte und Hofgelehrte, ... alle zu den vollen Geldsäckeln und Gnaden des Papstes aufschauend – was natürlicher, als daß Eifersucht, Verleumdung und Schimpf diesen Kreis erfüll(t)en. ... als hätte Papst Nikolaus V. mit den ‘grossen Geistern’ auch allen Schmutz des literarischen Lebens zusammengebracht.“ (147). 5 ALFRED VON MARTIN: Soziologie der Renaissance, München 1974 (11932, 21949), 55. 6 CHARLES NISARD: Les gladiateurs de la république des lettres, 2 Bde., Paris 1860 (ND 1979); FELICE VISMARA: L’invettiva, arma preferita degli umanisti nelle lotte private, nelle polemiche letterarie, politiche e religiose, Mailand 1900; als Materialübersicht noch von Wert. – Nur sehr kurz ist die Skizze von REMIGIO SABBADINI: Polemica umanistica, Catania 1893. Ferner siehe VITTORIO ROSSI: Il Quattrocento, hg. von ALDO VALLONE, Mailand 8 1964, 147–149. Knapper Versuch einer Charakterisierung bei: Bartolomeo Facio: Invective in Laurentium Vallam, hg. von. ENNIO I. RAO, with a presentation by PAUL O. KRISTELLER (Studi e testi di letteratura italiana 15), Neapel 1978, 7–10. Das Mittelalter unter der Frage der Kontinuität schließen ein: PIER G. RICCI: La tradizione dell’invettiva tra il Medioevo e l’Umanesimo, in: Lettere italiane 26 (1974), 405–414; PAUL G. SCHMIDT: Elemente der Invektive im lateinischen Mittelalter (Garnier von Rouen, Gunzo und Anselm), in: HELGA BEHME (Hg.): Angewandte Sprechwissenschaft. Interdisziplinäre Beiträge zur mündlichen Kommunikation (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beiheft 59), Wiesbaden 1988, 193–207; zuletzt MARC LAUREYS: Per una storia dell’invettiva umanistica, in: Studi umanistici piceni 23 (2003), 9–30. [Jetzt JOHANNES HELMRATH: ‘Streitkultur’. Die Invektive bei den italienischen Humanisten, in: Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streitens in historischer Perspektive, hg. von MARC LAUREYS, Göttingen 2010 (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 10), 259–294.] 7 VON MARTIN: Soziologie (wie Anm. 5), 55: die Invektive entlarve die „angebliche ‘Freundschafts’-Organisation ... im Verhältnis der führenden Humanisten“. Gruppensoziologisch bisher die Versuche von CHRISTINE TREML: Humanistische Gemeinschaftsbildung.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Ob man die Invektive als literarische Gattung hinreichend definieren kann, bleibe hier offen. Die zeitgenössische Begrifflichkeit ist recht variabel, man findet zum Beispiel oratio oder oratiuncula (so nennt Poggio eigene Texte), invectiva, oder antidotum für eine Gegenschrift. Johannes von Garlandia unterschied um 1220 deutlich zwischen Invektive und Satire nach ihren Motiven: während die Satire Handlungen causa correctionis, also in moralischer Absicht karikiere, habe die Invektive rein destruktive Ziele: in quo dicuntur turpiloquia causa malignandi.8 Mit dem Mittel der Invektive konnte zugleich auf verschiedenen Ebenen gestritten werden, der persönlichen bis hin zu Obszönitäten, der literarischen und, oft verdeckt, der politischen: so in der Scipio-Caesar-Kontroverse zwischen Poggio und Guarino oder im Streit um Niccolò Niccoli zwischen Poggio und Filelfo, wo es tatsächlich jeweils um die Herrschaft des Cosimo de’ Medici ging. Weiten Raum erhielt das brennendste Anliegen der Humanisten: die Latinität, so im berühmten Invektivstreit zwischen Poggio und Valla. Die Texte bestehen da zu einem erheblichen Teil aus einem inter-kontextuellen Geflecht von Zitaten gegnerischer Schriften, deren Grammatik, Stil und Lexik rüde bis satirisch kastigiert werden. In Eröffnung und Schluß der Kampagnen, in der bilateralen Abfolge der Texte mag man auch einen gewissen Grad an Ritualisierung erblicken. Die Karriere des Poggio Bracciolini ist bekanntlich gesäumt von derartigen Gefechten.9 Vespasiano da Bisticci hebt die polemische Disposition des Soziokulturelle Untersuchungen zur Entstehung eines neuen Gelehrtenstandes in der frühen Neuzeit (Historische Texte und Studien 12), Heidelberg 1989, sowie zu wenig wahrgenommen: LEONID M. BATKIN: Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps, Dresden 1979 (Basel/Frankfurt/M. 1981), 51–264. [Jetzt auch HARALD MÜLLER: Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Reformation und Spätmittelalter. Neue Reihe 32), Tübingen 2006.] 8 JOHANNES VON GARLANDIA: Parisiana Poetria, Buch 5, hg. von TRAUGOTT F. LAWLER (Yale Studies in English 182), New Haven/London 1974, 102, Z. 359–361. Es geht um die Systematisierung der literarischen Gattungen: Item hystoricum aliud inuectiuum, in quo dicuntur turpiloquia causa malignandi; aliud reprehensio siue Satyra, in qua recitantur malafacta causa correctionis. Die Frage der antiken Vorbilder der Invektive ist hier nicht zu erörtern. 9 Die meisten Invektiven sind noch nach der Basler Ausgabe der ,Opera omnia‘ von 1538 und verstreuten Einzeldrucken zu zitieren, die als Nachdrucke in der Ausgabe von RICCARDO FUBINI (Bd. 1 = Opera omnia 1538) versammelt sind: POGGIUS BRACCIOLINI: Opera omnia, hg. von RICCARDO FUBINI, 4 Bde. (Monumenta politica et philosophica rariora. Ser. II, 4–7), Turin 1964–1969. – Allgemein zu Poggios Invektiven: EMILIO BIGI/ARMANDO PETRUCCI: Art. Bracciolini Poggio, in: Dizionario Biografico degli Italiani 13 (1971), 640–646, hier 644 f.; NISARD: Gladiateurs (wie Anm. 6), Bd. I, 117–194; VISMARA: L’invettiva (wie Anm. 6), passim; WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 94–96, 164–180, 266–281, 291 f. Eine Übersicht auch bei LORENZO VALLA: Antidotum primum. La prima apologia contro Poggio Bracciolini, hg. von ARI WESSELING (Respublica Literaria Neerlandica 4), Assen/Amsterdam 1978, 245– 251. Die weitverzweigte Poggio-Literatur ist hier nicht aufzuführen. Siehe BIGI-PETRUCCI (wie oben), sowie Poggio Bracciolini 1380–1980. Nel VI centenario della nascita (Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Studi e testi 8), Florenz 1982; JAMES D. FOLTS JR.: In

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

Messer Poggio und von seinen Werken gerade die Invektiven als charakteristisch hervor, darunter ausdrücklich die „sehr massive“ gegen Felix V.: Era vementissimo nelle sua invetive, in modo che non era ignuno che non avessi paura di lui ... Per essere molto aperto aquistò nimicitia con alcuno di questi literati, et subito meteva mano alla penna a scrivere invetive contro a più literati. Iscrissene una contro a papa Felice, duca di Savoia, molto vemente.10

Poggios Invektiven und die Gegenschriften seiner Kontrahenten sind, wie das gesamte Genre, vereinzelt, nicht aber im Ensemble untersucht worden. Eine kurze Übersicht sei hier in chronologischer Ordnung gegeben: gegen den apostolischen Skriptor Francesco Bianchi da Velate 1428;11 gegen Guarino Guarini 1433/34 in der Scipio-Caesar-Kontroverse);12 1434/35 gegen Francesco Filelfo;13 ferner ca. 1437 gegen Tommaso (Morroni) von Rieti14 und 1450 gegen Jacopo Zeno, Bischof von Feltre,15 dann 1452/53 gegen Lorenzo Valla und dessen Elegantiae,16 daran anschließend gegen Angelo Perotti 1454.17

Search of a ‘Civic Life’. An Intellectual Biography of Poggio Bracciolini (1380–1459), New York 1976. 10 Vespasiano da Bisticci: Le Vite, kritische Edition, hg.von: AULO GRECO, Bd. 1, Florenz 1970, 545. 11 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. III, 224–258; WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 94 f. 12 DAVIDE CANFORA (Hg.): La controversia di Poggio Bracciolini e Guarino Veronese su Cesare e Scipione (Fondazione Luigi Firpo, Studi e testi 15), Florenz 2001. Vgl. WALSER, Poggius (wie Anm. 1), 164–170; GIULIANA CREVATIN: La politica e la retorica: Poggio e la controversia su Cesare e Scipione, in: Poggio Bracciolini (wie Anm. 9), 281–342; Druck ebd. 309–326. 13 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 164–187; dazu auch Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. III, 278,27–54 (VII, 4) und 285,1–16 (VII, 7). Vgl. WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 176–180. Zum Streit um Niccoli und seine Hintergründe vgl. künftig die Studien von SUSANNE SAYGIN. 14 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. II, 737–772; WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 191–194. 15 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. IV, 649–654, Nr. XII; WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 267 f. 16 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 188–251 (Invektiven I–III und V), die IV. Invektive edierte RICCARDO FUBINI, in: ebd. Bd. II, 865–886. Vallas Gegenschriften: Lorenzo Valla: Antidotum primum, hg. von WESSELING (wie Anm. 9); Vallas ‚Apologus‘ nach Autograph Paris BN lat. 8641, hg. von SALVATORE I. CAMPOREALE: Lorenzo Valla. Umanesimo e teologia, Florenz 1972, 479–534. Dazu WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 272–277; CAMPOREALE: Valla (wie oben); 311–403; DERS.: Poggio Bracciolini contro Lorenzo Valla. Le ‘Orationes in L. Vallam, in: Poggio Bracciolini. 13801980 (wie Anm. 9), 137–162. 17 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. II, 785–818; ebd. IV, 186–227 (Perotti gegen Poggio). WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 277–279.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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II. Die Invektive Poggios, die hier zu untersuchen ist, hat insofern eine etwas andere Funktion, als sie nicht den Teil eines wechselseitigen Agons unter Milieugenossen bildete, sondern gegen einen Außenstehenden gerichtet war. Herzog Amadeus VIII. von Savoyen war als Papst Felix V. Rivale von Poggios päpstlichem Herrn, Eugen IV. Diesen hatte das Basler Konzil am 25. Juni 1439, kurz vor seinem Prestigeerfolg der Griechenunion (6. Juli 1439), abgesetzt, jenen am 25. November in einem sehr besonderen Wahlverfahren zum Papst gewählt und am 24. Juli 1440 gekrönt.18 Tatsächlich war es einzigartig, daß kein Kardinal, nicht einmal ein Kleriker, sondern ein weltlicher Fürst Papst wurde. Das Regiment des „pape constitutionnel“ (Stieber) entging aber ebensowenig den Sachzwängen von Bürokratie und Finanzen wie seine römischen Vorgänger und Konkurrenten, – zum Verdruß der Basler Vernunftpapalisten, die ihn nicht zuletzt wegen seines territorialen und finanziellen Rüchhalts gewählt hatten. In Überlappung mit den Behörden des Konzils bildete der neue Papst eine eigene Kurie mit eigener Kanzlei aus.19 Die Kirche erlebte damit eine merkwürdige Quadrupelherrschaft von zwei Konzilien in Basel und Ferrara-Florenz-Rom und zugleich von zwei päpstlichen Kurien. Dem Pontifikat des „duc qui devint pape“ haftete so schon für die Zeitgenossen etwas Doppelgesichtiges an, zwischen Herzog und Papst, Amadeus und Felix, konstitutioneller Kreatur und monarchischem Pontifex. Besonders das ritterliche Semireligiosentum, das Amadeus in 18

Grundlegend, mit Literatur: BERNARD ANDENMATTEN/AGOSTINO P. BAGLIANI (Hg.): Amédée VIII – Felix V premier duc de Savoie et pape (1383–1451). Colloque international, Ripaille-Lausanne, 23–26 octobre 1990 (Bibliothèque Historique Vaudoise 103), Lausanne 1992, darin vor allem: JOACHIM W. STIEBER: Amédée VIII–Felix V et le concile de Bâle, 339–362 (zu den Vorgängen 1439/40) und ELISA MONGIANO: Da Ripaille a Losanna: papa del concilio o duca di Savoia, 363–373. Ferner siehe MARIE JOSE (Reine d’Italie): La Maison de Savoie. Amédée VIII – Le Duc qui devint Pape, Bd. 3, Paris 1962, 146–263; JOHANNES HELMRATH: Art. Felix V., in: Lexikon des Mittelalters 3 (1987), 341; DERS.: Das Basler Konzil 1431–1449. Forschungsstand und Probleme (Kölner Historische Abhandlungen 32), Köln/ Wien 1987, 233–237 (Literatur), 640 s.v.; ELISA MONGIANO: La cancelleria di un antipapa. Il bollario di Felice V (Amedeo VIII di Savoia) (Deputazione subalpina di storia patria, Biblioteca subalpina 204), Turin 1988; DIES.: La cancelleria di un antipapa tra interessi papali e tendenze universali, in: Rivista storica del diritto italiano 55 (1992), 169–180; wieder in: Miscellanea Domenico Maffei dicata. Historia, ius, studium, Bd. 3, Goldbach 1995, 481–492; DERS.: Art. Félix V, in: Dictionnaire historique de la papauté, hg. von PHILIPPE LEVILLAIN, Paris 1994, 673 f. Künftig auch die Berliner Dissertation von URSULA LEHMANN. 19 MONGIANO: Cancelleria (wie Anm. 18), passim. – Das ‚Bollario di Felice V‘, ein Registrum litterarum communium für die Jahre 1440–1449 in acht Bänden, seit 1754 im Archivio di Stato von Turin (Kopie im Archivio Segreto Vaticano), ist durch ELISA MONGIANO prosopographisch verzettelt worden (die Kartei ist im Archiv benutzbar), harrt aber noch einer Regesten-Publikation und systematischen Auswertung. Zur Analyse: MONGIANO: Cancelleria, 5–45 und passim.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

Ripaille nach seinem Rücktritt als Herzog seit 1434 zelebriert hatte, rückte ihn ins Zwielicht zwischen Heiligkeit und Heuchelei.20 Der Propagandakrieg der ‘Eugenianer’ gegen den Schismatiker Amadeus/Felix und seine Wähler entbrannte schon 1439 auf allen Ebenen, von der theologisch-kanonistischen bis zur ikonischen.21 Hier setzt die engere Untersuchung ein: Wie verhält sich dabei Poggio als kirchenpolitischer Agitator, wie läßt sich seine ‚Invectiva in Felicem antipapam‘ hier einordnen? In der Forschung wurden dieser Text und die Umstände seiner Entstehung nur peripher beachtet.22 Eine moderne Edition fehlt; es ist immer noch die Ausgabe von 1538/1513 zu benutzen.23 Ein humanistisches 20

Siehe CATHÉRINE SANTSCHI: L’érémitisme princier, in: ANDENMATTEN (Hg.): Amédée VIII (wie Anm. 18), 71–87. Noch nicht ersetzt: MAX BRUCHET: Le Château de Ripaille, Paris 1907 (ND Marseille 1980). 21 Als Beispiel: EUGENIO MARINO: Il ‘Diluvio’ di Paolo Ucello nel Chiostro Verde di Santa Maria Novella e i suoi (possibili) rapporti con il Concilio di Firenze, in: PAOLO VITI (Hg.): Firenze e il concilio del 1439. Convegno di Studi Firenze, 29 novembre – 2 dicembre 1989, (Biblioteca storica Toscana 29), Florenz 1994, Bd. 1, 317–388. Alternative Interpretation bei VOLKER GEBHARDT: Ein Porträt Cosimo de’ Medicis von Paolo Ucello, in: Bruckmanns Pantheon 48 (1990), 28–35. Vgl. JOHANNES HELMRATH: Florenz und sein Konzil. Forschungen zum Jubiläum des Konzils von Ferrara-Florenz 1438/39–1989, in: Annuarium Historiae Conciliorum 29 (1997), 202–216, hier 208–210. 22 Zur ,Invectiva in Felicem antipapam‘ in der Literatur: Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi, Bd. 2, Rom 1967, 574 f.; JACQUES LENFANT: Poggiana, Bd. 1, Paris 1749 (11720), 55; WILLIAM SHEPERD: Vita di Poggio Bracciolini, übers. von TOMMASO TONELLI, Bd. 2, Florenz 1825, 405–409; GEORG VOIGT: Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius der Zweite und sein Zeitalter, Bd. 1, Berlin 1856 (ND 1967), 192 Anm. 2, 196–198, 219 Anm. 1; DERS.: Wiederbelebung (wie Anm. 4), Bd. I, 336: „Schmähschrift ..., für die er ohne Zweifel bezahlt wurde“, ebd. II, 10, 77; NISARD: Gladiateurs (wie Anm. 6), Bd. I, 165–172; LUDWIG VON PASTOR: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1, Freiburg im Breisgau 8–91926, 176 f.; VISMARA: L’invettiva (wie Anm. 6), 198–201; NOËL VALOIS: Le pape e le concile (1418–1450). La crise religieuse du XVe siècle, 2 Bde., Paris 1909, Bd. 2, 182 Anm. 2: “injures vomies par le Pogge”, 333 Anm. 1; WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 186, 267: „das öde, doch stellenweise kraftvolle und relativ gemäßigte Schriftstück“; PAOLO VITI: L’orazione di Ugolino Pisani per Felice V, in: Esperienze letterarie 6 (1981), 78–108, hier 87, Anm. 14; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 18), 169 f.; DERS.: Die italienischen Humanisten und das Basler Konzil, in: HANS-JOACHIM HOFFMANN-NOWOTNY/ANNELIESE SENGER (Hg.): Vita Activa. Festschrift Johannes Zilkens, Köln 1987, 55–72, hier 66 f. 23 Poggii Florentini oratoris clarissimi Inuectiuarum liber, et prima in Felicem Antipapam, in: Poggii Florentini Oratoris et Philosophi opera, collatione emendatorum exemplarium recognita…, Basel (Henricus Petrus) 1538 = Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 155– 164 (hiernach im Folgenden mit Seiten- und neu eingefügter Zeilenzählung zitiert). Der Band ist weitestgehend identisch mit der Straßburger Ausgabe: Poggii Florentini Oratoris clarissimi Ac Sedis Apostolicae Secretarii Operum. Primae pars contenta…, Straßburg (Johannes Knoblauch) 1513, 155–164. Längere Textexzerpte: CAESARIS S. R. E. CARDINALIS BARONII, ODORICI RAYNALDI et JACOBI LADERCHII: Annales Ecclesiastici, denuo excusi et ad nostra usque tempora perducti ab AUGUSTINO THEINER (= BARONIUS/THEINER), Bd. 28, Bar-le-Duc 1874, 21887, 313ab (= Opera, hg. von FUBINI [Anm. 9], Bd. I, 162,27–163,23), 336b–337a (= Opera, hg. von FUBINI [Anm. 9], Bd. I, 156, 38–157,31; 157, 35–158,9; 158, 30–159,3),

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Meisterwerk wird man die invectiva nicht nennen, aber sie bildet ein spezielles Beispiel von politisch/literarischen Gebrauchstexten, an deren Herstellung sich Humanisten beteiligten. Immerhin scheint sie schon zum frühen Kanon der Poggio-Invektiven gehört zu haben; nicht nur Bisticci nannte sie, sie taucht auch im Nachlassinventar von Poggios Bibliothek auf: geradezu apotropäisch verschrieben als in Felicem antiparti (!).24 Unsere These: Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘ markiert einen Endpunkt. Sie rearrangiert und erweitert Invektiv-Material, das Poggio vor allem in den turbulenten Jahren 1439/40 komponiert und seither sukzessiv ausgeformt hatte, ein Exempel der Montage und Wiederverwertungstechnik, aber auch des Transfers amtlicher Texte in halbprivate Literatur der humanistischen Corona. Damit rücken die Jahre 1440 und 1447 als Krisenjahre zusammen. Im Folgenden soll Poggios Verhältnis zu den Konzilien und dann zum Basler Gegenpapst genetisch verfolgt werden: sein Aufenthalt in Konstanz, seine Briefe an Kardinal Cesarini zu Beginn des Basler Konzils, seine Polemiken in der Krise 1440 und in den Jahren bis zur ‚Invectiva‘, wo sich der Kreis dann schließt. Poggio konnte auf ein traditionelles Arsenal antihäretischer Injurien, eine Matrix von Verfluchungsworten zurückgreifen, die zum Teil aus der Zeit der Alten Kirche stammten und jüngst in der Kampfliteratur der Schismen- und Hussitenzeit wieder immens traktiert worden waren.25 Es geht hier aber nicht um polemisch argumentierende Kontroverstheologie, sondern um die ‘reine’ Invektive ad hominem. Wie in einer Invektive üblich, geht der Autor in der Ich-Form den Gegner tuistisch an. Mit einer doppelten Verneinung eröffnet er den Angriff, und legt dabei als erstes Motiv der ,Invectiva‘ offen, Schmerz zu verbalisieren (Non possum non dolore maximo commoveri turbarique animo, et dolorem conceptum etiam literis exprimere). Der Schmerz über die Wieder486ab (= Opera, hg. von FUBINI [Anm. 9], Bd. I, 159,28 –160,5); und bei NISARD: Gladiateurs (wie Anm. 6), 191–193. 24 Bisticci siehe oben Anm. 10. Unter den inventarisierten Büchern Poggios erscheint die ,Invectiva‘ explizit im ersten Band der eigenen Opera (Nr. 81–91): Opera Pogii invective in Filelfum, in orationem francisci Vallate, in felicem anteparti (sic!) ... in uno vol. in papirio, hg. von WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 422, Nr. 81; siehe auch die Liste der Poggio-Opera bei BISTICCI: Vite, hg. von GRECO (wie Anm. 10), Bd. I, 552: In Felicem antipapam libri uno. Bei Lorenzo Valla: Antidotum primum, hg. von WESSELING (wie Anm. 9), 25, 251 fehlt sie, da Valla nur bilaterale Invektiven Poggios aufzählt. 25 Vgl. zum antik patristischen Stil- und Wortrepertoire etwa ILONA OPELT: Hieronymus’ Streitschriften (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Neue Folge 44), Heidelberg 1973, 165–180; SCHMIDT: Elemente der Invektive (wie Anm. 7). Vgl. Beispiele bei HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 18), 101 f. Die religiöse Invektive bedürfte vertiefter Motivforschung; sie ist hier nicht zu leisten. Pendants antipäpstlicher Polemik: WALTER BRANDMÜLLER: Johannes XXIII. im Urteil der Geschichte – oder die Macht des Klischees, in: Annuarium Historiae Conciliorum 32 (2000), 106–145, zu Poggio 113–115; JESSE D. MANN: The Devilish Pope. Eugenius IV as Lucifer in the Later Works of Juan de Segovia, in: Church History 65 (1996), 184–196.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

kehr eines längst betäubt geglaubten Cerberus aus der Hölle, um die Kirche umzustürzen, zwingt zum Schreiben: cum videam alterum Cerberum, quem iam sopitum arbitrabamur, de novo excitatum ab inferis, ad perturbandam religionem et ecclesiam fidelium penitus evertendam. Die Invektive trägt also den Charakter einer ‘Lamentatio’. Die Polemik dient der moralischen Diskreditierung, um ein neues Erstarken des Schismatikers und Ketzers, dies die Kernvorwürfe, zu verhindern. Sie ist im Text der ,Invectiva‘ auf zwei Ziele verteilt: zum einen auf den Schismatiker Felix V., der als Einzelfigur die Chance der Personalisierung bot, zum anderen auf die Basler Synode und ihre – minderwertigen – Vertreter, die als Kollektiv denunziert werden können und bewußt keinerlei individuelles Profil erhalten. Um die Person zu treffen, variiert Poggio Epitheta der Ketzer- und Heidenpolemik; um das Kollektiv zu diskreditieren, werden pejorative Denominationen kirchlicher Versammlungen, ganz im Gegensatz zu den panegyrischen konziliarer Texte, die beide seit dem Constantiense in großem Stil aufgelebt waren, teils neu aufgeladen, teils in geradezu ‘antiparlamentarische’ Richtung verbreitert. Da Felix V. buchstäblich die Kreatur dieses ‘Pöbels’ ist,26 verschränken sich beide Objekte sachlich wie semantisch. In diesen Zusammenhang fallen auch die zahlreichen Ansätze nationaler Stereotypen.27 Der Schimpftext wird aber immer wieder durchsetzt mit geradezu predigthaft pastoralen, moralisierenden Passagen, Fragen und Imperativen, die dem Gegenpapst ins Gewissen reden. Felix solle vernünftig werden, das Konzil fallen lassen, an sein und seiner Anhänger Seelenheil, nicht zuletzt auch an seinen Nachruhm denken. Wolle er wirklich als Schismatiker im Gedächtnis der Christenheit bleiben?28 Poggio nimmt zum Anlaß der Kampagne, wie zu zeigen ist, die offiziellen Schreiben des Gegenpapstes. Diese waren vom Genre her nicht als Invektiven ad hominem gerichtet, werden aber von Poggio gleichsam als solche genommen, als Referenzfolien der eigenen Texte. So entsteht auch hier zumindest auf Poggios Seite jenes intertextuelle Geflecht aus gegnerischen (und eigenen älteren) Vortexten, das, wie gesagt, nicht zuletzt für humanistische Invektiven typisch ist. Person, Stellung und Absenz des Angegriffenen schlossen im Fall Felix’ V. jedoch aus, daß dieser wie ein Gegner aus der humanistischen Coro-

26 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 162,30 f.: Qui ergo tui solii artifices extiterunt, ut ex eo Felicis nomine fueris expiscatus. 27 Eine vergleichende Zusammenstellung einzelner Motve findet sich unten Kap. VI. 28 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 160,21 f.: Quid enim te movet amplius, ut in tua contumacia reprobanda persistas? Vides omnes orbis reges a te dissentire, et sentire nobiscum; 161, 38 f.: O carnifex defunctorum, num te actorum poenitet, quae tu … in perniciem fidelium collocasti; 163, 38 f.: Redi ad meliorem vitam et incipe tandem sapere in estrema aetate; 164, 14 f.: Consule iam famae tuae, consule honori, consule aetati; der Schlußsatz der ,Invectiva‘ (164,24 f.): Animae iactura est immortalis, quae, nisi te corrigas, cum reliquis heresiarchis aeterno igni erit perpetuo crucianda.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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na, ein Valla oder Guarino, den Agon unmittelbar durch Gegenschriften anheizte. Die ‚Invectiva in Felicem‘ blieb daher ohne Antwort.

III. Zur Datierung der ‚Invectiva‘: Zuerst sind eigene Aussagen Poggios zu prüfen. Nur zwei Bemerkungen von ihm sind bekannt; aus der Retrospektive geschrieben, bilden sie bereits Elemente der Wirkungsgeschichte. Der wichtigste Beleg für die Datierung – und die beginnende private Distribution – des Textes ist ein Brief Poggios vom 11. November 1447 an seinen Freund in Venedig, den Arzt Pietro Tommasi. Dieser hatte bereits bei früheren Invektiven Poggios den Leser und Zwischenträger gespielt. Edidi nuper schreibt ihm Poggio, oratiunculam contra infelicem, quam ad te mittam, cum primum nactus ero fidum aliquem, cui recte committi possit.29 Es ist kaum zweifelhaft, daß es sich bei dem hier oratiuncula genannten Text um die ‚Invectiva‘ handelt. Wir können mit diesem terminus ante quem (11. November 1447) und anhand des nuper zumindest die Publikation (edidi) grob auf Ende Oktober/ Anfang November terminieren, nicht die Niederschrift, die Poggio stets deutlich durch Verben wie scribere oder componere vom edere unterscheidet. Der zweite Beleg: Im Frühjahr 1454 wird Poggio, damals schon Kanzler von Florenz, von Alberto Parisi, einem der beiden Kanzler von Bologna, um eine Kopie gebeten, ein Wunsch, den er erfüllen will: Oratiunculam, quam petitis contra Amedeum scriptam, mittam ad vos cum primum reperero, cui recte credi possit.30 Ein weiterer Brief an Parisi, wohl aus dem Herbst 1454, nimmt erneut Bezug auf dessen offenbar nicht gleich erfüllten Wunsch. Er enthält die differenzierteste Aussage, die Poggio über seine ‚Invectiva in Felicem‘ und seine antikonziliaren Schriften überhaupt hinterlassen hat. Offenbar redete man in Humanistenkreisen noch von der ‚Invectiva‘: Mittam tibi ea que a me audivisti scripta esse adversus concilium Basiliense, tum Eugenii tempore, tum presentis pontificis. Ego dudum, dum Eugenius vixit, multa scripsi ad varios principes contra detestandam Basiliensium perversitatem; sed cum ad rempublicam spectarent, nihil eorum penes me reservavi.

Es handelt sich also um ‘Staatsbriefe’, die er amtlich, als Skriptor der Kurie, verfaßt hatte und die daher nicht in das private Epistular gelangten. Während des Pontifikats Nikolaus’ V. habe er nichts derartiges (Amtliches?) mehr über 29

Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3, 52,5–8 (II, 6). Von Tommasi hatte Poggio seinerseits einen libellum ... in laudem pontificis erhalten, den er konventionell lobt; ebd. 52, 11–13. Zur anschließenden Erwähnung und zur Datierung des Dialogs ‚Contra hypocritas‘ (Nunc adversus ypocritas calamum sumpsi; ebd. 52, 8 f.) und zur gleichzeitigen Publikation von ‚De varietate fortunae‘ siehe unten bei Anm. 86. 30 Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3, 286,20 f. (VI, 23).

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

die Basler verfaßt: Tempore autem summi viri Nicolai pontificis nihil de Basiliensibus scripsi. Daß er zwei Sätze zuvor aber just auch von scripta adversus concilium Basiliense ... tempore ... presentis pontificis, also doch Nikolaus’ V., gesprochen hatte, macht etwas ratlos. Vermutlich meint der Sekretär, er habe unter Nikolaus V. keine offiziellen Polemiken, sc. in Papstbriefen, gegen die Basler verfaßt. Denn die sodann als oratio beziehungsweise oratio maiuscula bezeichnete Schrift gegen den Schismatiker Felix V. und die nequitia der Basler wird deutlich von den erstgenannten ‘dienstlichen’ scripta abgesetzt. Es handelt sich zweifellos um unsere ‚Invectiva‘ aus dem Jahre 1447; ihr Inhalt wird in Poggios Zeilen prägnant zusammengefaßt: Edidi tantummodo orationem quandam contra Amedeum, qui causa scismatis fuerat et alienam sumptis falsis insignibus induerat dignitatem, in qua et Basiliensium nequitiam expressi et pontificatum illius sum detestatus. Oratio maiuscula est. Si eam volueris, ad te mittam.31

Parisis Interesse an Poggios älterer Schrift erklärt sich aus dem Kontext. Poggio war nämlich 1454 in einen neuen Invektivstreit verwickelt. Der junge Niccolò Perotti aus Bologna hatte sich mit ihm angelegt, gleichsam als Trittbrettfahrer des großen Lorenzo Valla, mit dem Poggio nach fünf Invektiven und drei Gegenschriften Vallas 1452/53 einen großen Agon beendet hatte.32 In der neuen Auseinandersetzung mit Perotti spielten Parisi und die Bologneser Signorie die gerade bei Invektiven und ihrer Distribution so wichtige Rolle des Zwischenträgers. Die ganze Stadt, schreibt er an Poggio kurz nach dessen oben genanntem Brief, freue sich über die Gegeninvektive gegen den verhaßten Perotti: universa civitas letata est!33 Man wird also mitten in einen typischen Invektivkampf der humanistischen Corona gestellt. Sicherlich kommt von daher das Interesse, auch andere Invektiven Poggios in die Hand zu bekommen, sich daran zu ergötzen, sie zu sammeln: beste Bedingungen also für eine Diffusion auch der ‚Invectiva in Felicem‘, unabhängig von ihrem ursprünglichen kirchenpolitischen Kontext. Nicht Felix V. interessierte mehr, sondern die Invektive als Invektive. Daß es um das Prinzip Invektive ging, zeigt auch Poggio selbst in einem grimmigen Rückblick auf seinen Kampf mit Valla in einem etwa zeitgleichen Brief an Pietro Tommasi, jenen Tommasi, an

31

Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3, 288,3–12 (VI, 24). Siehe oben Anm. 16 und 17. Der undatierte Brief Parisis an Poggio (Herbst 1454); Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3, 289 f., schildert die angeblichen physischen Wirkungen von Poggios Gegenschrift auf Perotti; Nicolaus Perottus tuus posteaquam orationem contra se editam legit et vulgari sensit, mirabilis et ridendos nobis edidit ludos. Tanquam cicutam Socraticam bibisset, coepit totus animo frigescere … et velut icto capite attonitus fanaticum redolet… (ebd. 289,1– 4 und 7 f.) und die Wirkungen im Publikum: ex hac tua scripcione universa civitas letata est, que fastidium atque insolentiam huius putiduli animalis diutius quam equum erat perpessa est (290, 23–25); vgl. WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 278 f. 32 33

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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den er damals – 1447 – auch die ‚Invectiva in Felicem‘ zur Distribution geschickt hatte!34 Die Invektiva selbst führt also in die Ereignisse des Jahres 1447: Am 23. Februar war Eugen IV., im Kampf gegen das Basler Schisma fast von der gesamten Kirche wieder anerkannt, gestorben. Der Gegenpapst Amadeus/Felix hatte ihn freilich überlebt, er war für knapp zwei Wochen sogar einziger Papst. Auch nach Wahl und Krönung des Humanisten Tommaso Parentucelli als Nikolaus V. am 6. beziehungsweise 19. März 1447 in Rom35 hat er wohl für kurze Zeit den Zipfel einer Chance gesehen, das Blatt doch noch zu wenden und mithilfe von Gesandtschaften und Serienschreiben eine letzte diplomatische Offensive zumindest versucht.36 Bekannt sind vor allem drei Schreiben des Savoyers zwischen April und August 1447, zwei davon an den König von Frankreich, Karl VII., gerichtet.37 Dieser war längst zur Schlüsselfigur des erlöschenden Schismas geworden. Mit dem Nimbus des Verteidigers der Einheit agierte er als Mediator der römischen Kurie. Ziel war es, das Rumpfkonzil von Basel-Lausanne und den Pontifikat Felix’ V. halbwegs ehrenvoll ‘abzuwickeln’, natürlich unter optimaler Wahrung der kirchenpolitischen Interessen Frankreichs. Der Valois erhält in diesen Jahren zahlreiche Briefe Eugens IV. wie Nikolaus’ V., und konkurrierend solche des einstigen Fürstenkollegen Amadeus/Felix, der in unbestreitbar größerer Nähe residierte.38 Die drei Briefe Felix’ V. markieren die 34 Hier wird die Invektivsprache wieder aufgenommen; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3,291–296 (VI, 26); dazu knapp CAMPOREALE: Valla (wie Anm. 16), 401 f. 35 VALOIS: Pape (wie Anm. 22), Bd. 2, 317–321; JOACHIM W. STIEBER: Pope Eugenius IV, the Council of Basel and the Secular and Ecclesiastical Authorities in the Empire. The Conflict over Supreme Authority and Power in the Church (Studies in the History of Christian Thought 13), Leiden 1978, 298–304. Zu Nikolaus V. hier nur: HERIBERT MÜLLER: Nikolaus V., in: Lexikon für Theologie und Kirche 7 (31998), 865 f. (Literatur); FRANCO BONATTI/ANTONIO MANFREDI (Hg.): Niccolò V nel Sesto Centenario della Nascita. Atti del Convegno internazionale di Studi, Sarzana 8–10 Ottobre 1998 (Studi e testi 397), Vatikanstadt 2000. 36 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 155,16: suis oratoribus et literis pervertere ... fidelium principum mentes. 37 1) 1447 April 5 Genf: ,Qui ad tranquillitatem‘; GIOVANNI D. MANSI (Hg.): Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 53 Bde., Florenz/Venedig 1759–1798 (ND Graz 1960–1961), Bd. 31A, 189C–192A; 2) 1447 Juli 8 Genf‚ an Karl VII. ,Novum non est in auribus‘; EDMOND MARTENE/URSINUS DURAND (Hg.): Veterum scriptorum et monumentorum historicorum, dogmaticorum, moralium amplissima collectio, 9 Bde., Paris 1724–1733 (ND New York 1968), Bd. 8, 989D–994D; 3) 1447 August 19 an Karl VII. ,Superioribus diebus‘; Mansi, Bd. 31A, 188C–189C. Vgl. die Texte bei BARONIUS/THEINER (wie Anm. 23), Bd. 28, 514–521. 38 Just gegen diese Annäherungsversuche polemisiert Poggio. Vgl. ,Invectiva‘, Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 156, 33–36: Regis Francie, cuius animus semper firmus atque inconcussus stetit pro servanda unitate, semper haesit vero vicario Christi, semper Eugenium et nunc Nicolaum virum sanctissimum pontifices summa coluit veneratione. Zu den Verhandlungen HERIBERT MÜLLER: Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil (1431–

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

Phasen eines Rückzugsgefechts. Am 5. April hatte er in einem Sendschreiben an alle Gläubigen noch Nikolaus V. (quidam Thomas de Calandrinis de Sarzana) scharf als Usurpator angegriffen (ausus est Petri sedem conscendere), und ihn aufgefordert, zurückzutreten und binnen eines Jahres vor dem Basler Konzil zu erscheinen.39 Im ersten Brief an den französischen König vom 8. Juli bekundete er schon Friedenswillen, verteidigte aber zugleich energisch die Autorität des Basler Konzils und forderte von Karl VII., (nach acht Jahren) wieder Gesandte nach Basel zu schicken.40 Am 19. August – unmittelbar vorausgegangen waren die Verhandlungen mit den Franzosen in Lyon – gelobte er dann schon, um des Friedens willen den Pontifikat zu resignieren, wenn auch der Gegner zurücktrete.41 Nach dem Tod Filippo Maria Viscontis am 13. August 1447 hätten sich dem Savoyer als einem der Aspiranten auf das Mailänder Erbe große Chancen in Italien geboten. Realisiert wurden sie dann nicht. Ob Poggio beim Verfassen seiner ‚Invectiva‘ diese Gefahr schon sah, bleibt jedenfalls unklar. Poggios ‚Invectiva‘ nährt ihre Polemik, indem sie auf Schreiben Felix’ V. reagiert beziehungsweise zu reagieren vorgibt. Ließe sich nachweisen, auf welche dieser Texte Poggio rekurriert und auf welche nicht, ließen sich auch für den terminus post quem der Datierung Anhaltspunkte finden. Poggio zeigt sich im Besitz eines solchen Briefs: Legi nuper oblatam mihi exemplar cuiusdam non epistulae, sed somnii hominis delyrantis (156, 38 f.). Es folgt eine Stilkritik: trotz der notorischen Unbildung des Amadeus klinge sein Text in einer Art stilus heroicus nach Art der großen spätantiken Päpste Leo I. und

1449), 2 Bde. (Konziliengeschichte. Reihe B = Untersuchungen), Paderborn u.a. 1990, Bd. 1, 212–215; Bd. 2, 824 f. (Literatur) 39 Quidam Thomas de Calandrinis de Sarzana ausus est Petri sedem conscendere et insignia papalia sub vocabulo Nicolai Quinti assumere, scienter olim praefato Eugenio succedens, invisum execrabileque schisma damnabiliter continuans (MANSI [Anm. 37], Bd. 31A, 190); monemus, quatenus incontinenti ab huiusmodi sua intrusione abstineat, sanctamque sedem apostolicam per eundem in urbe occupatam ac patrimonium Beati Petri ... realiter et cum effectu dimittat (ebd. 190BC); monemus, quatenus infra unius anni spatium … ad sacrum Basiliense concilium, seu ad illum locum, ad quem continget in posterum ipsum concilium auctoritate sua se transferre, ... accedant (ebd. 190DE). 40 Pro eius (sc. ecclesiae) tamen pace serenitateque contendere primum esse pietatis opus, non modo nobis, qui sanguinetenus auctoritatem sacrorum genrealium conciliorum defensare devovimus, MARTÈNE/DURAND (wie Anm. 37), Bd. 8, 990BC; … non ambitione papatus illecti, sed solius veritatis amore pulsati, ebd. 991C; ut ad sacrum Basiliense concilium praelatos tui regni et alios, qui de iure et consuetudine ad sacra generalia concilia venire tenentur, remittere velis, ebd. 993A. 41 Vovemus, quod in sacro Basiliensi concilio actu sedente … realiter et cum effectu cedemus papatui, Thoma de Calandrinis de Sarzana…, juri quod praetendit in papatu, similiter cedente, MANSI (wie Anm. 37), Bd. 31A, 188D. Nikolaus V. ließ sich auf einen solchen Handel nicht einmal in Gedanken ein; vgl. die scharfe Bulle ‚Quam sit plena‘ (1447 Dez. 12), MANSI (wie Anm. 37), Bd. 32, 47E–49A.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Gregor I.: Gregorium aut Leonem loquentem existimares, non eum qui literas non sciat (157, 6 f.). Um welchen Brief Felix’ V. handelt es sich also? Der Brief ‚Qui ad tranquillitatem‘ vom 5. April 1447 scheidet wohl aus. Poggio hätte die darin enthaltenen Tiraden gegen Nikolaus V. sonst aufgegriffen. Es ist vielmehr am wahrscheinlichsten der Brief ‚Novum non est‘ (1447 Juli 8) an den französischen König, der Poggio – über welche Wege, ist unbekannt – bei Abfassung seiner ‚Invectiva‘ vorlag. Ein Vergleich führt schnell zu einer Lösung. Es geht um die Hochschätzung des Konzils und um das Bekenntnis zu Einheit und Frieden in der Kirche. Als Zitatanklänge an Schreiben Felix’ V. erscheinen folgende Passagen: te dicis habere unionis appetitum (Opera I, 157,12), sowie: tu schisma tibi odio esse dicis, unitatem appetere profiteris (157,21) und Tu scribere audes ..., te quaerere et optare ecclesiae unionem (160,1 f.). Man vergleiche die Formulierung in ,Novum non est‘ Felix’ V.: nos cum sacro Basiliensi concilio semper unitatem quesivisse (MARTÈNE-DURAND [Anm. 37], Bd. 8, 991E). Ferner zu vergleichen Poggio 157,35 f.: plurimum extollit concilium, ut appellat Basiliense, et suam prophanationem a Deo dicit provenisse; sowie te velle sequi conciliorum auctoritatem (160,12), wiederum mit ,Novum non est‘: elaboraverimus, ut sacrorum conciliorum conservaretur auctoritas (MARTÈNE-DURAND [Anm. 37], Bd. 8, 989E) und: nobis, qui sanguinetenus auctoritatem sacrorum conciliorum defensare devovimus (MARTÈNE-DURAND [Anm. 37], Bd. 8, 990BC). Dies möge genügen. Ein Indiz, daß Poggio auch das Rücktrittsangebot Felix’ V., ausgesprochen in ,Superioribus diebus‘ (1447 August 19), kannte, ist der Satz: Non miror te deponere honeste cupis, quod turpiter usurpatum (em. für usitatum) amplius retinere non possis. (160,30 f.). Hält man dies für hinreichend, läge der terminus post quem auf dem 19. August (sicher auf dem 8. Juli), der terminus ante quem, der Brief an Tommasi, auf dem 11. November. Damit ist erhärtet: Poggio hat seine ‚Invectiva‘ im Herbst 1447, wahrscheinlich im September/ Oktober, verfaßt.

IV. An dieser Stelle ist nun zurückzuspringen. Die ‚Invectiva‘ hat nämlich eine lange Vorgeschichte. Wie ist sie genetisch im Werk und in der Lebenserfahrung des Poggio Bracciolini zu situieren? Die Antwort ist ein Stück Geschichte der Polemik.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

Schisma, Papst und Konzil gehörten nicht zu den Feldern, wo Humanisten aus genuinem Interesse Position bezogen.42 Involviert wurden viele von ihnen ‘dienstlich’: vor Ort als Konzilsväter, Gesandte oder Sekretäre von Konzilsteilnehmern, so Bruni, Vergerio und Poggio in Konstanz, so die Bischöfe Francesco Pizolpasso und Gherardo Landriani oder ein Enea Silvio Piccolomini in Basel; in der Heimat ebenfalls durch ihre politischen Ämter als Kanzler von Kommunen (Bruni, Decembrio) oder besonders zahlreich als Sekretäre der römischen Kurie, wie wiederum der Bracciolini selbst. „Eingefleischter Curiale“ (Walser) sicherlich, der sich Nikolaus V. als veteranus in Curia miles empfahl,43 und wie andere in guelfischer Tradition unterschwellig die Kurie mit ‘Italien’ identifizierte, engagierte er sich doch weit mehr als alle übrigen Humanisten der engeren Corona gegen das Basler Konzil. Er tat dies in einer geradezu fundamentalistischen Weise, die wohl über das ‘Dienstliche’ beziehungsweise eine Verteidigung der eigenen Fleischtöpfe, der commoda curiae (nach Art des Castiglionchio Lapo) weit hinausgeht.44 Das Konstanzer Konzil hatte er, mit der Kurie Johannes’ XXIII. an den Bodensee gekommen, selbst erlebt. Die vier von hier ausgegangenen Scoperta-Reisen begründeten seinen legendären Ruhm als ‘Befreier der Klassiker’.45 Hier hatte er aber auch laikale Kleruskritik zu einer antikisch überformten Predigt an die Konzilsväter (patres conscripti) gegossen, die 42

RICCARDO FUBINI: Tra umanesimo e concili. Note e giunte a una pubblicazione recente su Francesco Pizolpasso (1370c.–1443), in: Studi Medievali, Ser. III/7 (1966), 323–370 (mit Edition von 16 Briefen), hier 350 [= Rezension von ANGELO PAREDI: La biblioteca del Pizolpasso, Mailand 1961]; wieder, mit dem Untertitel ,L’epistolario di Francesco Pizolpasso‘, in: DERS.: Umanesimo e secolarizzazione da Petrarca a Valla (Umanistica 7), Rom 1990, 77–135; SIMONA IARIA: Tra Basilea e Vienna. Letture umanistiche di Enea Silvio Piccolomini e la frequentazione della ‘Biblioteca’ di Francesco Pizolpasso, in: Humanistica Lovaniensa. Journal of Neo-Latin Studies 52 (2003), 1–37; HELMRATH: Basler Konzil (wie Anm. 18), 166–175 (Literatur); DERS.: Italienische Humanisten (wie Anm. 22), 55–72; DERS.: ,Non modo Cyceronianus, sed etiam Iheronymianus‘. Gherardo Landriani, Bischof von Lodi und Como, Humanist und Konzilsvater, in: FRANZ J. FELTEN/NIKOLAS JASPERT (Hg.): Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag (Berliner Historische Studien 31 = Ordensstudien 13), Berlin 1999, 933–960, mit Handschriftenspektrum der Konzilsreden. 43 Poggio Bracciolini: Oratio ad summum pontificem Nicolaum V., in: Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 292. Gelegentliche Kritik an kurialer Politik oder einzelnen Päpsten bleibt im Vergleich dazu marginal; siehe Anm. 45. 44 Vgl. Anm. 23–25, besonders WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 151–155, 182, 186; HELMRATH: Italienische Humanisten (wie Anm. 22), 65–67. 45 WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 40–70, bes. 48–61; jetzt mit Literatur JOHANNES HELMRATH: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz, in: LUDGER GRENZMANN/KLAUS GRUBMÜLLER u.a. (Hg.): Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse 3/263), Göttingen 2004, 9–54; in diesem Band Nr. V.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Denkelemente späterer Schriften wie ‚De avaritia‘ und ‚Contra hypocritas‘ vorwegnahm. Das Konzil wird als Motor der Reform also anerkannt, Fundamentalkritik fehlt.46 Die Basler Synode kannte er hingegen nur indirekt durch Berichte von Humanistenfreunden und aus der Praxis der kurialen Kanzlei. Als Sekretär unterfertigte er mit seiner Signatur Poggius unter Eugen IV. und auch Nikolaus V. einen beachtlichen Teil der Papstbriefe,47 an deren Konzeption er zum Teil ebenfalls beteiligt war. Offenbar nachhaltig negativ erlebte er Auftritte von Konzilsgesandten an der Kurie in Florenz. Belegt ist dies für den Aufenthalt von Johannes Bachenstein und Mathieu Ménage im August 1435, als er wohl Bachensteins Rede anhörte und den Gesandten darauf eine von ihm unterfertigte Cedula und die von ihm geschriebene Responsio Eugens IV. überreichte.48 Als Zeugnis des Haltungswandels von vorsichtiger Erwartung zu radikaler Feindschaft läßt sich, wie schon Walser erkannte, seine Korrespondenz mit 46 RICCARDO FUBINI: Un’orazione di Poggio Bracciolini sui vizi del clero, scritta al tempo del Concilio di Costanza, in: Giornale storico di letteratura italiana 142 (1965), 24–33; mit leicht verändertem Titel, in DERS.: Umanesimo e secolarizzazione (wie Anm. 42), 303–339, hier 315–338: Edition; vgl. DERS.: Il teatro del mondo nelle prospettive morali e storicopolitiche di Poggio Bracciolini, in: Poggio Bracciolini 1380–1980 (wie Anm. 9), 1–135; dasselbe in: DERS., Umanesimo e secolarizzazione, 221–302. 47 Beispiele etwa im Schedario Baumgarten. Descrizione diplomatica di bolle e brevi originali da Innocenzo III a Pio IX, riprod. anastatatica, hg. von SERGIO PAGANO, Bd. 4, Vatikanstadt 1986, Nr. 7281, 7284, 7286, 7298, 7301, 7307, 7311, 7313, 7357, 7360, 7362, 7367 (Eugen IV.), 7452–7459, 7468 (Nikolaus V.); hier 7436–7451 auch Urkunden Felix’ V.; VALOIS: Pape (wie Anm. 22), Bd. 1, 171, Anm. 3; ebd. Bd. 2, 314, Anm. 2. Zu Poggio als Kurialer: WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 18–24, 84–87, 219–222; WERNER VON HOFMANN: Forschungen zur Geschichte der kurialen Behörden vom Schisma bis zur Reformation, 2 Bde. (Bibliothek des königlich-preußischen Instituts in Rom 12–13), Rom 1914 (ND Turin 1971), Bd. 2, 110; KARL A. FINK: Poggio-Autographen kurialer Herkunft, in: Miscellanea archivistica Angelo Mercati (Studi e testi 165), Vatikanstadt 1952, 129–133; THOMAS FRENZ: Das Eindringen humanistischer Schriftformen in die Urkunden und Akten der päpstlichen Kurie im 15. Jahrhundert 2. Teil, in: Archiv für Diplomatik 20 (1974), 384–506, hier 434–38; GORDAN, PHYLLIS GOODHART: Poggio at the Curia, in: PAOLO BREZZI/MARISTELLA DE PANIZZA LORCH (Hg.): Umanesimo a Roma nel Quattrocento, Rom/New York 1984, 113–26; PETER PARTNER: The Pope’s Men, The Papal Civil Service in the Renaissance, Oxford 1990, 222 (Literatur), 269 s.v. 48 Die Rede Bachensteins: MANSI (wie Anm. 37), Bd. 29, 554B–559A. Bericht der Konzilsgesandten vor der Generalkongregation in Basel 1435 September 2: Monumenta conciliorum generalium seculi decimi quinti, 4 Bde., Wien/Basel 1857–1936 (= MC), Bd. 2, 814 f. (Ut daretur eis sub bulla, quam presentarunt, et una cum ea responsionem subscriptam per Pogium secretarium suum; 814,26 f.), vgl. MANSI (wie Anm. 37), Bd. 29, 459DE; MC Bd. 2, 815 f.: Text der Cedula und der Responsio Eugens vom 9. August 1435, worin er eine ausführlichere Antwort in Aussicht stellt (Et ego Pogius, domini nostri pape secretarius, suprascriptam responsionem de mandato sue sanctitatis scripsi manu propria; ebd. 816, 12 f.). Verlesung dieser Antwort, in Basel erst 1435 November 3: MANSI (wie Anm. 37), Bd. 29, 459A–463A; MC Bd. 2, 816–819. Vgl. WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 182; GERALD CHRISTIANSON: Cesarini: The Conciliar Cardinal. The Basel Years, 1431–1438 (Kirchengeschichtliche Quellen und Studien 10), St. Ottilien 1979, 155.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

dem Konzilspräsidenten Kardinal Giuliano Cesarini in den Jahren 1431 bis 143649 und mit Francesco Pizolpasso, Erzbischof von Mailand, 1437 und 1439 lesen. Die Briefe an Cesarini artikulieren frühe Ressentiments gegen die Versammlung im Barbarenland und lassen geradezu in Zeitlupe den Einsatz nationaler Antistereotypa verfolgen, wie sie in der Invektiva dann kulminieren sollten. Am 5. Mai 1431 wünscht Poggio dem Kardinal Mut beim bevorstehenden Feldzug gegen die Böhmen, bittet zugleich um Mitteilung von Bücherfunden ex Germanorum ergastulis, also nach dem eigenen Konstanzer Vorbild.50 Der zweite Brief vom 2. November 1431 bedauert die Niederlage bei Taus und ihre schmählichen Umstände (tamquam galeati lepores effugerint). Hier findet sich das erste Spielen mit nationalen Stereotypen: Die einst kriegerische germanica natio kämpfe heutzutage nur mehr dann gut, wenn sie betrunken sei. Offenbar habe es also bei Taus an Wein gefehlt.51 In die von Cesarini zusammengerufenen Konziliaren setze er wegen ihrer integritas und ihres Eifers gegen die Ketzer große Hoffnung.52

49 1) 1431 Mai 7, Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 113–117 (III, 12); 2) 1431 November 2, ebd. 130–132 (III, 15); 3) 1432 Juli 10, ebd. 141–145 (IV, 2); 4) 1432 Dezember 31, ebd. 146–172 (IV, 4), hier 146 zur Datierung; 5) 1433 Januar 28, ebd. 189–191 (V, 2); 6) 1436 Mai 9, ebd. 207–209 (V, 8). Cesarinis Gegenbriefe sind nicht erhalten. Vgl. WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 151–155; CHRISTIANSON: Cesarini (wie Anm. 48), 18, 39 Anm. 60; HELMRATH: Italienische Humanisten (wie Anm. 22), 65 f. – Zu Pizolpasso hier nur: MIRELLA FERRARI: Art. Pizolpasso, Francesco (1370–1443), in: Dizionario della Chiesa Ambrosiana 5 (1992), 2891–2893; FUBINI: Tra umanesimo e concili (wie Anm. 42); AGOSTINO SOTTILI: Una corrispondenza epistolare tra Ambrogio Traversari e l’arcivescovo Pizolpasso, in: Ambrogio Traversari nel VI Centenario della nascita. Convegno internazionale, Camaldoli-Firenze 15–18 sett. 1986, hg. von GIAN CARLO GARFAGNINI (Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Atti di Convegni 17), Florenz 1988, 287–328. 50 Lettere, hg. HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 116,53 f (III, 12). Einen Livius (ebd. 116,35) benötigte er offenbar für die eigene, bereits unter das Mandat der ‘varietas fortunae’ gestellte Historiographie: Scias tamen me, ... tanquam in commentaria coniecisse usque ad hec tempora fortune varietatem (117,40 f.). Die Kopie eines Briefs an Kardinal Angelotto Foschi war beigefügt, angeblich, um Cesarini von ‘Konzilsgedanken’ abzulenken: non propter eloquentiam, que est arida et sicca, sed ut avocem te paulum a cogitatione concilii; Lettere, ehg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 132,58–61 (III, 15). Es handelt sich sicherlich um den langen Brief an Foschi von 1432 Oktober 8, eine Art humanistischer Kardinalsspiegel; ebd. 120–129 (III, 14). 51 Fuit aliquando bellicosa germana natio; nunc pro armis vino pugnant et crapula tantumque habent virium quantum vini possunt capere, quod ubi deficit et animo deficiant necesse est. Itaque existimo potus inopiam, non hostium, quos ne vidistis quidem, formidinem ad tam probrosam fugam eos compulisse; ebd. 131,38–43. Über Stereotypen noch unersetzt PETER AMELUNG: Das Bild des Deutschen in der Literatur der italienischen Renaissance (1400–1559) (Münchener Romanistische Arbeiten 20), München 1964, 45–66. 52 Laudo prudentiam tuam, qui posteaquam arma non successere, confugeris ad concilia sacerdotum, in quibus propter vite integritatem propterque huius extinguende pestis cupiditatem, magna spes habenda est; ebd. 131, 34–38.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Der Kardinal schien wenig amüsiert vom Spott des Kurialen, zumindest kehrte er den Spieß um und kastigierte Poggio, den Kleriker, offenbar recht harsch wegen seiner unehelichen Kinder. Damit war freilich ein ganz anderer Diskurs eröffnet. Und hier zeigte auch Poggios Humor Grenzen; sein dritter Brief vom 10. Juli 1432 verteidigt die betreffende menschliche Schwäche bemerkenswert innerweltlich. Er gesteht seine Vergehen ein; im Gegensatz zu vielen heuchlerischen Klerikern habe er nicht im Geheimen gesündigt. Der Brief gipfelt in einer Recusatio des Priestertums, einer Priamel des Laienstands.53 Besagte Stereotypen fehlen auch hier nicht. Poggio äußert Sorge, Cesarinis Charakter, seine humanitas, könne unter dem dauernden Einfluß der barbaries leiden. Dann das ironische Lob: Auf sexuellem Gebiet freilich seien die Deutschen – wie der austere Kardinal selbst – geradezu ein Ausbund an Keuschheit; Huren und Zuhälter existierten dort nicht einmal. Ihre Züchtigkeit diffundiere geradewegs per universam Europam.54 Der längste Brief ist der vierte zum Jahresende 1432 (31. Dezember), eine Suasorie der Sorge, der Gerüchte und des Verdachts. Das Basler Konzil erscheint unter dem Deckmantel der Reform als eine Art Zeitbombe. Cesarini solle ihm rechtzeitig den Rücken kehren, ehe der Sturm losbreche. Ohne in die eigentliche kanonistisch-theologische Diskussion einzusteigen, macht sich der Humanist zum Verteidiger der plenitudo potestatis. Daß man sich dem Papst, dem Haupt der Kirche, (d.h. dessen Auflösungsbefehl vom November 1431) widersetzt habe, so Poggio in einer Sequenz papalistischer Basissätze, sei reiner Aufruhr. Die historische Parallele: Cesarini drohe die Rolle eines Cicero, der, um die Repubik zu retten, zum Steigbügelhalter der Diktatur wurde. Einige Deutsche (quidam ex Alamannis) machten keinen Hehl daraus, daß sie auf Spaltung der Kirche und einen neuen Papst ausseien; Gerüchte besagten, Cesarini selbst habe Ambitionen.55 53 Fateor infirmitatem meam et cum clericus sim, etiam esse me hominem sentio et peccatis subditum; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 143,72–74 (IV, 3). Der gesamte Brief (ebd. 141–145) ist diesem Thema gewidmet. Vgl. auch den Brief 1432 Dezember 31, ebd. 152, 189–197. Der sechste Brief an Cesarini von 1436 Mai 26 bestätigt nach über drei Jahren, aus denen kein Briefwechsel bekannt ist, diese Aussagen, indem Poggio seine Verheiratung mitteilt: Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 207,7 f., über die Heirat ebd. 208 f.,40–75. 54 Opinor etiam Alamanniam patriam a congressu mulierum abhorrentem, cuius homines continenter, sobrie, caste vitam ducunt, in qua nulla scorta, nulle impudice, nulli lenones versantur, cuius ingens pudicitia per universam Europam diffunditur, excitasse tibi memoriam errati mei; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 143,59–63. 55 Ebd. 148,71–75 (IV, 2): Non est reformatio hec sed deformem fieri. Adversari per contumeliam pontificis mandato non est ponere pacem sed gladium in populo, … dividere membra a capite, armare subditos in superiores; 149,90–92: Non dissimulant ex Alamannis quidam palam proferre scissuram ecclesie et alium pontificem queri; 151,164 f.: … te hanc tantam curam istius concilii suscepisse, ut exinde papa fias; 149,104–106: Itaque debes non tuam sed pontificis sententiam sequi. ... Caput is est; ebd. 150,117–119: Qui autem verior pater quam is qui parentem et auctorem omnium nostrum representat in terris? 149,96 f.: Me

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

Im fünften Brief vom 28. Januar 1433 verstärkt der Kuriale die Kassandrarufe, beschwört aber auch das Wirken der imperatrix Fortuna. Ihn treibe die Sorge um die gemeinsame patria Italien, er sehe den Untergang der eigenen privaten wie beruflichen Existenz kommen. Besser wäre es gewesen, dieses Konzil nie zu versammeln, als durch sein Wirken den Ruin Italiens zu riskieren. Man gebe Neuerern (rerum novarum cupidis, die klassische Formulierung) Waffen in die Hand. Die aber trieben einen Schnupfen mit der Pest aus.56 Mit einem Wort: Konzil ist einfach zu gefährlich, und dies geradezu strukturell. Zwischen Konzil und Papst war der Konflikt 1436/37 wieder aufs heftigste entbrannt. Gegenüber Francesco Pizolpasso, der im Dienste Mailands weiter Akteur der Konzilsbühne zu sein hatte und in Basel die wichtigste Verbindungsfigur zur Corona der Humanisten in Italien blieb, hielt sich Poggio im Brief vom 20. November 1437 nur mühsam zurück, die plebs indignissima in Basel anzugreifen. „Von euch kommt nichts als Verwirrung, Aufruhr und Untergang“, ruft er dem Freund zu.57 Etwas mehr als ein Jahr später, am 5. Februar 1439, das Konzil war mit der Translation nach Ferrara und Florenz schon längst gespalten,58 gibt es für Pizolpasso kaum mehr Schonung: Der tägliche Wirrwarr entspringe wohl der levitas barbarica. Welch ein Wahnsinn sei es zu wollen, alle, ob dumm oder krank, sollten gleich werden; ständig falle man der Welt mit Neuerungen und sprunghaftem Aktionismus auf die Nerven. Nur die Rücksicht auf Vertraute hindere ihn, Poggio, daran, die Feder sola movet publica utilitas; 150,137–151,140: Ille quidem Octavius, quem Tullius adversus Antonium nimis armaverat, arma ad salutem reipublice assumpta contra rempublicam convertit. Consilio igitur viri prudentissimi ad cetera, Ciceronis, cecidit senatus; 151, 143–145: Quod autem certius discrimen videtur quam populum rerum novarum cupidum adversus edicta principis convocari?; ebd. 151, 156–158: Incipies mihi aliquando credere, … procellam futuram ex nubibus, quas perlevi vento dissipasses, antequam imbrem infundere coepissent. 56 Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 190,24–27 (V, 2): … rerum humanarum imperatrix fortuna eventum exitumque diiudicat ac metitur magis ex libidine, ut inquit Salustius (Cat. 8, 1) quam ex ratione; neque enim cum prolabi coeperis iam in tua est potestate ubi velis consistere; ebd. 190,32–34: Ut ad te scriberem sponte mea, nullam aliam ob causam commotus, nisi ob communis patrie caritatem; ebd. 190,46–49: Cum enim duas habeam patrias, alteram civilem, alteram, quam mihi industria comparavit, non potest ruina unius, que iam imminet, semota esse ab alterius calamitate; ebd. 191,59–63: Nimirum diu visum est quibusdam Italiam a bellis quiescere, quorum consilio id actum est, ut rerum novarum cupidis subministrarentur arma. … Levem enim egritudinem pestifero morbo curare voluerunt. 57 Nihil enim a vobis nisi turbulentum, seditiosum et ad interitum rerum publicarum spectans maiori ex parte proficiscitur; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 274,7 f. (VII,3) und 13 f. Pizolpasso persönlich versuchte 1438/39, im Namen der italischen Konzilsnation der Radikalisierung des Konzils entgegenzutreten; FUBINI: Tra umanesimo e concili (wie Anm. 42), 326 mit Zitaten. 58 Im Konzilsgeschehen ist Poggio nur einmal, bei Empfang der Anjou-Gesandtschaft 1438 April 1, als praesens belegt; Concilium Florentinum A 1: Acta camerae apostolicae et civitatum, hg. von GEORG HOFMANN, Rom 1950, 34, 20, Nr. 36. Zu seinen Aktivitäten 1438/39 WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 183–190.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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zu spitzen (ut acuerem calamum) gegen die Unverschämtheit derer, die aus Haß gegen die Italiener alles Recht umstürzten.59 War die ‚Invectiva‘ die späte Einlösung dieses Wunsches? Dann kam tatsächlich das neue Schisma: Der Brief vom 20. Dezember 1439 an den genuesischen Kanzler Gotardo Stella, enthält wohl Poggios früheste Äußerungen über Felix V. Sie fallen schon in die Zeit der Gegenoffensive der Eugenianer. Gleich mit dem Wortspiel Felix quintus = primus infelicissimus wird er eingeführt. Zunächst fehlen dem Humanisten gegenüber diesem vergilischen monstrum horrendum die Worte. Nach einer Serie von anaphorisch durch qui eingeleiteten, gleichsam auslotenden rhetorischen Fragen, klärt sich das Bild: der Gegenpapst ist wegen des von ihm zu verantwortende Schismas ein neuer Herostrat, nicht am Artemistempel von Ephesos, sondern im Weltmaßstab am gesamten Volk Gottes.60 Nach der antikonziliaren beginnt hier auch Poggios ‘antifelicianische’ Invektivalrhetorik und -topik Kontur anzunehmen, sich gleichsam auf ihren Gegner einzuschießen. Sie bedient sich gängiger Stilmittel wie der anaphorischen Satzreihe, der Hyperbel, der Ironie, der meist seriell und anaphorisch geordneten rhetorischen Fragen und Exklamationen, des pointierten Bibelund Klassikerzitats, eines immer wieder variierten Repertoires teils allgemein verwendbarer, teils spezifisch antikonziliar beziehungsweise ‘antifelicianisch’ umgeprägter Schimpfworte, deren Rhythmik sich am besten bei lautem Lesen vermittelt. 59

Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 342 f.,38–42 (VIII, 13): Sentio vos quotidie aliquid stultitie cudere ad ecclesiam perturbandam, quod tamen parvi facimus, a levitate quadam barbarica et mentis vertigine profectum. Que enim amentia est, velle aliquos omnes eque ac si stultos et insanos fieri et decretis nescio quibus studere, rebus novis fatigare orbem …? ebd. 342,44 f. Perverterunt nuper celum et terram, ut concilium transferretur in Galliam; ebd. 342 f.48–55. … Nisi vererer offensionem aliquorum quos diligo, acuerem, mihi crede, calamum adversus impudentiam eorum qui ambitione quadam pestifera et truci adversus Italos odio omnia divina humanaque iura perturbant, ut satisfaciant cupiditatibus suis. Res quippe nefanda est populum christianum nonnullorum barbarorum arbitrio ac temeritate regi debere. Tibi vero doleo, quem scio versari in ea rerum barbarie, in qua nihil adhuc preter scisma et oppressionem romane ecclesie fabricatum videmus. Als Schlußsatz das pathetisch-ernste Bekenntnis zum Glauben der Väter: Ego fidem a patribus nostris acceptam servabo. 60 Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 357 f.,14–28 (IX, 8): De eo quem Felicem quintum appellas, ego autem verius primum infelicissimum omnium iudico, quid dicam aut potissimum clamem aut querar nescio. Non enim flagitia capitalia, ut inquit ille, in civitate fieri videmus, sed que universi orbe pernitiem, pestem et calamitatem videantur afferre. Que enim de eo digne dici possunt, qui se ‘monstrum horrendum, informe, ingens’, ut ait Vergilius (Aen. 3, 658), reddidit, ut dei ecclesiam et fidem conturbaret? Qui omnem humanitatem exuit, ut mores indueret belue immanis? Qui miseram senectutem scelere impiissimo funestavit? Qui ante actam male vitam pessimo flagitio inquinavit? Qui natus in ecclesie scandalum, erit omnibus seculis dedecori sempiterno? Nimirum sicut scelestus olim quidam ad consequendam famam, quod virtute nequibat scelere aggressus, Diane Ephesie inclitum ea tempestate templum incendit, sic iste ignem in dei populum iniecit, quo fides catholica conflagraret.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

V. Kaum waren die Griechen aus Florenz abgereist, öffneten die Kanzlisten Eugens IV. die Schleusen der Polemik mit Schmähbullen von bisher nicht dagewesener Schärfe. Diejenigen des Jahres 1447 wirken im Vergleich dazu wesentlich dezenter. Es handelte sich um die beiden bekannten Stücke ‚Moyses vir Die‘ (1439 September 4), worin die Basler und das Dogma ihrer konziliaristischen ‘tres veritates’ zurückgewiesen werden,61 und ‚Multa sanctorum patrum‘ – auch als ‚Monitorium‘ bezeichnet – vom 23. März 1440, in der IX. Sessio des Florentinums promulgiert:62 Felix V. und die Basler werden hier erneut mit dem Anathem bedroht, wenn sie nicht binnen 40 Tagen einlenkten und in Florenz erschienen. Hinzu kommen jedoch zwei weitere wichtige undatierte Schreiben Eugens IV.: zum einen ‚Rem pestiferam‘ an die Fürsten, bald nach der Wahl des Gegenpapstes, wohl noch auf Ende 1439 zu datieren,63 zum anderen ‚Affligitur summa amaritudine‘, etwas später (aber wohl vor dem Monitorium) zu datieren, wo bereits auf ein Schreiben Felix’ V. rekurriert wird (Scribit, prout litterarum suarum testatur principium, se Fe-

61 Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hg. von GIUSEPPE ALBERIGO, Bologna 31973 (= COD), 529–534; Concilium Florentinum A I, 2 (wie Anm. 58), 101–106, Nr. 210; BARONIUS/THEINER (wie Anm. 23), Bd. 28, 307b–310a; MC (wie Anm. 47), Bd. 3, 382–386. Dazu VALOIS: Pape (wie Anm. 22), Bd. 2, 175 f.; JOSEPH GILL: The Council of Florence, Cambridge 1959, 313–315; STIEBER: Eugenius IV (wie Anm. 35), 192 f. Nikolaus von Kues erwähnt eine deutsche Übersetzung der Bulle ‚Moyses‘, die womöglich zur Verbreitung in Kreisen deutscher Laienfürsten bestimmt war; Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, hg. von ERICH MEUTHEN/HERMANN HALLAUER, Bd. I/2, Hamburg 1986, Nr. 408,79 f. Die Gegenschriften des Basler Konzils ,Beatus Ieronimus‘ (1439 Oktober 9) und ,In Esdra‘ (1439 Oktober 30): MC (wie Anm. 48), Bd. 3, 386–396, 418–421. 62 COD (wie Anm. 61), 559–566; Concilium Florentinum A I, 3 (wie Anm. 58), 4–12, Nr. 238; MANSI (wie Anm. 37), Bd. 35, 33B–42D; MARTÈNE/DURAND (wie Anm. 37), Bd. 8, 462–472. Johannes von Segovia in seiner eisernen Objektivität bringt auch diesen Volltext in seiner Konzilsgeschichte: MC (wie Anm. 48), Bd. 3, 480–488. Die Basler Gegenschrift ,Licet ut sacrorum‘ (1440 Juli 23): MC (wie Anm. 48), Bd. 3, 491–493. Vgl. knapp VALOIS: Pape (wie Anm. 22), Bd. 2, 199, mit wohl irrtümlicher Datierung auf die 8. Sessio des Florentinums (1439 November 22); GILL: Council (wie Anm. 61), 317. Zur weiteren Promulgation von ‚Multa sanctorum‘ siehe die Bulle ,Quoniam iuxta‘ (1440 Mai 27; COD, 567; Concilium Florentinum A I, 3, 12 f., Nr. 239) mit erneuter Inserierung; ein Brief an Bischof Jacobus von Santandrea (1440 Juli 6) befiehlt die erneute Promulgierung (BARONIUS/ THEINER [wie Anm. 23], Bd. 28, 324b–326a, hier die Namen weiterer Promulgatoren). Das endgültige Anathem wurde 1441 April 13 verhängt: ebd. 359b–360b. – BARONIUS bringt das breiteste, bis heute nicht kritisch nachgearbeitete Textspektrum der römischen Seite, u.a. aus den vatikanischen Registern, darunter als einziger ,Rem pestiferam‘ und ,Affligitur summa‘, die er, offensichtlich die enge Verwandtschaft erkennend, jeweils mit ausführlichen Exzerpten aus Poggios ‚Invectiva in Felicem‘ umrahmt (siehe Anm. 71). 63 BARONIUS/THEINER (wie Anm. 23), Bd. 28, 314b–316a.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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licem).64 Um welche(s) Schreiben des Gegenpapstes es sich dabei genau handelte, ist bislang nicht ausgemacht. Am 31. Dezember etwa hatte der neue Papst, sich als Felix electus titulierend, König Alfons V. von Neapel-Aragón seine Wahl ausführlich angezeigt.65 Hier interessieren freilich mehr die intertextuellen Bezüge der eugenianischen Papstbriefe zur ‚Invectiva‘. Besonders die drei letzten der oben aufgezählten Texte sind, wie ein Stil- und Inhaltsvergleich mit früheren und späteren Poggio Texten zeigt, bis in den Wortlaut eng mit der ,Invectiva‘ verwandt, ja partiell fast identisch, so daß man schon hier, 1440, seine Handschrift, sein amtliches Mitwirken bei der polemischen Formulierung annehmen muß.66 Poggio selbst gibt die Bestätigung: Am 24. Februar 1440, genau in der Entstehungszeit der Bullen, beabsichtigt Poggio, dem Empfänger – wieder Francesco Pizolpasso, der Basel 1439 verlassen hatte – die Kopie zweier epistulae mitzuschicken, die er im Namen des Papstes contra Basilienses et idolum illud (sc. Felix V.) geschrieben habe.67 Die superstitiosa religio gewisser Leute habe diese Briefe aber verschlechtert (in deterius mutaverit). Das heißt, Poggios Konzept wurde redigiert, wohl an der Kurie selbst, vielleicht von übereifrigen Eugenianern. Worin die Veränderung bestand, ob sie verschärfte oder entschärfte, ob sie den Stil klerikalisierte und nach Poggios Geschmack seine Latinität verschlechterte, ist unklar. Jedenfalls hatte er selbst vor, seine eigenen Fassungen dieser Briefe (epistulas incorruptas), in Umlauf zu bringen, zumindest innerhalb der humanistischen Corona, zu der Pizolpasso zählte. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß mit den duae epistulae die Papstschreiben ‚Pestiferam‘ und ,Affligitur summa‘ beziehungsweise ihre poggianischen Konzepte, gemeint sind. ‚Multa sanctorum‘ indes wurde später (am 23. März) als das Datum des Briefs an Pizolpasso (24. Februar) promulgiert, kann also nicht zu den duae epistulae gehören. Doch können 64

Ebd. 334a–337a, Zitat 334b. Im ersten Jahresdrittel 1440 publizierte Poggio auch seinen Dialog ‚De infelicitate principum‘, hg. von DAVIDE CANFORA (Edizione nazionale dei testi umanistici 2), Roma 1998, zur Datierung XIX f. 65 ,Cognovit universus‘ (1439 Dez. 31); MC (wie Anm. 48), Bd. 3, 456–460. Ähnliche Schreiben an andere Fürsten sind sicherlich ergangen. Die Basler Konzilsväter ihrerseits hatten die Wahl Amadeus’ VIII. zum Papst sogleich an Könige und Fürsten posaunt: ,Intellexit plenius‘ (1439 November); MC (wie Anm. 48), Bd. 3, 442–444. 66 HOFMANN: Concilium Florentinum A I, 3 (wie Anm. 58), 4 (zu Nr. 238) hält seine Tätigkeit als redactor von ,Multa sanctorum‘ für erwiesen an, wobei ihm der Verweis auf den Brief an Pizolpasso (siehe folgende Anm.) schon genügt. 67 1440 Februar 24: Exemplar duarum epistolarum quas nomine pontificis scripsi contra Basilienses et idolum illud ad te mitto, quanquam illas quorundam superstitiosa religio in deterius mutaverit; sed te accipere volui epistolas incorruptas; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2 (IX, 9), 361,68–71. Am Ende des Briefs aber zieht er die Sendung zurück: Exempla epistolarum, quas dixi, nequeo ad te nunc mittere quoniam sunt penes amicum scribendi gratia; alias habebis; ebd. 361,77 f. Es ist nicht bekannt, ob Pizolpasso die Briefe später erhalten hat.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

diese einzeln oder zusammen dem Text von ‚Multa sanctorum‘ als Material zugrundegelegen haben. Als invektivales Kernstück ist eine Rede (querela) inseriert, die der Fiskaladvokat Justinus de Planta68 gehalten habe. Hierin befinden sich Passagen, die engst an ‚Affligitur summa‘ angelehnt erscheinen und später in Poggios ,Invectiva‘ wiederkehren: der Vorwurf der Hypokrisie gegen Felix V., das Wortspiel mit dem Namen Felix, die Charakterisierung des Basiliense als sceleratissima synagoga, perditissimorum hominum colluvies und christianitatis erubescenda sentina,69 so dass an seiner Mitautorschaft zumindest dieser Passagen kaum zu zweifeln ist. Hier wird allerdings, was in Poggios ‚Invectiva‘ fehlt, Savoyen als Land der Hexen und Ketzer (stregnes vel stregones seu waldenses) dämonisiert.70 Ob und inwieweit die inserierte Rede von Planta selbst stammt, läßt sich nicht sagen. Doch ist, ehe im im letzten Teil dieses Beitrags dann Einzelmotive verglichen werden, zu konstatieren: es gab an der Kanzlei Eugens IV. eine Art Invektivschmiede, in der Poggio eine zentrale Rolle spielte.71 Gleichsam eine Text- und Motivbrücke zwischen den Briefen des Jahres 1440 und der ,Invectiva‘ bildet Poggios Totenrede, gehalten zu Rom am 25. Juli 1445, auf Kardinal Cesarini, eben jenen einstigen Präsidenten des Basiliense, der Ende 1444 bei Varna gegen die Türken gefallen war. In der überlieferten Schriftfassung ist ihr ein Textblock eingefügt, der geradezu geballt 68

COD (wie Anm. 61), 560,24–564, 11. Justinus de Planta: ebd. 560,18–23; er sprach angeblich im Namen des Dr. leg. und Konzilspromotors Johannes de Prato und des Fiskalprokurators und lic. leg. Ventura (Paulucii de Matzis) de Civitate Castello; die invektivale Hauptpassage ebd. 562, 19–46. Siehe VON HOFMANN: Forschungen (wie Anm. 47), zu Ventura II, 96, zu Justinus de Planta II, 94, 96, 149; PARTNER: Pope’s Men (wie Anm. 47), 171. Planta ist außerdem a) auf der IV. Sessio (1438 April 9), b) der VII. Sessio (1439 September 4) des Konzils belegt; zu a) Concilium Florentinum B VI: Acta latina Concilii Florentini, hg. von GEORG HOFMANN, Rom 1955, 12,15; 12,40–13, 38 (rechtfertigt die Translation von Basel nach Ferrara); 45,8; HOFMANN I, 126; zu b) Acta latina, 21,15; HOFMANN I, 133; 1440 März 12 berichtete er über die Basler Papstwahl, Acta Latina, 38,5–9; 1440 Mai 28 muß er pro forma vor der Tür nachsehen, ob der in ‚Multa sanctorum‘ zitierte Gegenpapst tatsächlich zugegen sei; ebd. 39, 10. 69 COD (wie Anm. 61), 562,18–48. Zum Einzelvergleich der Motive siehe unten Kap. VI. 70 COD (wie Anm. 61), 562,22 f.; vgl. ANDREAS BLAUERT: Die Erforschung der Anfänge der europäischen Hexenverfolgung, in: DERS. (Hg.): Ketzer, Zauberer, Hexen. Die Anfänge der europäischen Hexenverfolgungen (Edition Suhrkamp. Neue Folge 577), Frankfurt am Main 1990, 11–42, hier 15–20, betont die Rolle des Basler Konzils als Multiplikationsforum auch „für die Ausbreitung des jungen Hexenglaubens” (20); siehe auch WERNER TSCHACHER: Der Formicarius des Johannes Nider von 1437/38. Studien zu den Anfängen der europäischen Hexenverfolgungen im Spätmittelalter (Berichte aus der Geschichtswissenschaft), Aachen 2000, 329–333. 71 Andere Beteiligte sind zumindest nicht namentlich auszumachen. Die gesamte kuriale Korrespondenz des Jahres 1440 und 1447 wäre anhand der Vatikanischen Register zu prüfen, was hier nicht möglich ist. Vgl. die Serie von Briefen Eugens IV. an europäische Fürsten 1440 bei BARONIUS/THEINER (wie Anm. 23), Bd. 28, 303–344, 359–368, 455 f., 472–478, 486–496 und öfter.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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alle Insultationstopoi gegen das Basler Konzil umfaßt. Im funeralen Kontext – Cesarini soll eigentlich als Martyrer für den Papst und den christlichen Glauben stilisiert werden, – wirkt diese Invektive fast wie eine Diskreditierung des Toten; seine sechsjährige Präsidentschaft in Basel war ja bekannt, sie hatte ihn geradezu zum Exponenten dieses Konzils gemacht. Wenn Poggio hier seine einstigen brieflichen Warnungen publik macht und sich gleichsam posthum bestätigt, wirkt dies wie eine böse Grabrede auch auf das Basler Konzil selbst.72 Denn da sind sie wieder, jene ‘typischen’ Konzilsaktivisten: Homines ventri dediti scelestique ac novarum rerum cupidi, eam quam se quaerere reformationem dicebant, abhorrebant. ... Itaque quam prae se ferebant reformationem, in publicam deformationem calamitatemque converterunt.73

Teilweise wörtlich, teilweise nur variiert, lassen sich als Beispiel folgende Passagen zuerst aus der Totenrede auf Cesarini, dann aus der ‚Invectiva‘ nebeneinanderstellen: Colluvio omnium gentium, scelerum sentina, seminarium scandalorum, quid aliud quam sibi similem fructum producere potuerunt? Homines adulteri, fornicarii, libidini et ventri dediti, sacrilegi et a potestate [lies: apostatae, JH] transfugae, vino ciboque oppressi, ut faex gentium dici possint, in unam voluntatem ad male agendum coacta, odio ducta ac malivolentia, plena seditionibus, plena tumultu... (730).74

72

Text: Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. 2, 719–735, hier 730 f.; dazu JOHN M. MCMANAMON: Funeral Oratory and the Cultural Ideals of Italian Humanism, Chapel Hill/ London 1989, 19, 31, 45, 84 mit 211, 258; CHRISTIANSON: Cesarini (wie Anm. 48), 6, 12 f., 103 Anm. – In diesem Zusammenhang wäre auch Cesarinis merkwürdige Verteidigungsrede für das Basler Konzil gegen Juan de Torquemada September 1439 in Florenz zu nennen, die wie eine vom Papst auferlegte Schaubuße wirkt; vgl. JOHANNES HELMRATH: Die lateinischen Teilnehmer von Ferrara/Florenz, in: Annuarium Historiae Conciliorum 22 (1990), 146–198, hier 194–197. – Sehr viel verhaltener hatte sich Poggio in seiner Totenrede für den 1443 verstorbenen Kardinal Niccolò Albergati geäußert, der nie offen Anhänger des Konzils war, als Legat Eugens IV. aber öfter in Basel geweilt hatte: Sed superante et convalescente in diem stulticia ac nequitia eorum, qui pacem ecclesiae pervertere nitebantur, relicto malignantium conventu, venit Bononiam, quo pontifex ierat, ... in Germaniam legatus mittitur … ad agendos conventus principum Germaniae, ad obviandum schismati, quod postea Basiliensium vesania confecit; (,Oratio in funere cardinalis S. Crucis’), Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. 1, 267. 73 Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. 2, 730 f. Das Folgende: Neque enim aliter potuit accidere. Quae enim reformatio proficisci poterat ab eis, qui deformiores centauris vita et moribus existebant? Qui nihil praeter odia et insanas cupiditates in illam synagogam pestiferam afferebant? … Exposcere videtur hic locus ut querar paucis, de facinorosis Deoque infensis hominibus, qui nomine concilii non solum huic sapientissimo viro laudem debitam abstulerunt, sed perditis consiliis amentiaque incredibili vexarunt universum populum christianum … Nam per Deum immortalem, quem finem non columbae, sed corniculae illae, Spiritus sancti nomine, adversae attulerunt fidelibus Christi? Scandala, odia, divisiones, schisma et interitum animarum. Hic est tantorum annorum fructus, hoc laborum praemium, haec ipsorum operum laus, haec funestae cogitationes. Sed nequaquam mirum est malos fructus malas arbores produxisse. Reddit terra quod accipit semen (vgl. Cic., Phil. II, 5).

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

,Invectiva‘74 (Opera, hg. von FUBINI, Bd. 1, 158,4–9): Quis non novit quales viri, quam nefarii, quam reprobi, quam scelesti in illa sentina nequitiae fuerunt versati apostatae, fornicarii, incesti, raptores, transfugae, turpi convicti crimine, blasphemi deo et suis superioribus rebelles. Faex denique precio et mercede a te corruptore conducta, illa colluvies fuit que Basileam profecta est te duce, ad explendas varias libidines et impunitatem suorum scelerum consequendam.75

VI. Diese Synopse leitet in eine detailliertere Analyse der invektivalen Themenfelder über, die zugleich die durchgehenden Motivstränge der ‘kurialen’, von Poggio oder mit seiner Beteiligung verfaßten Texte von 1440, der Zwischenwerke bis 1445 (der Dialog ‚De varietate fortunae‘, die Totenrede auf Cesarini)76 und der ,Invectiva‘ 1447 in ihrem intertextuellen Zusammenhang aufzeigt. In dieser Textreihe erscheint eine erstaunliche rhetorische Montagewerkstatt, die traditionsgeprägtes Material bausteinhaft zusammensetzt und variiert. Die Leistung Poggios besteht darin, diese Topoi jeweils situativ im kirchenpolitischen Kampf zu bündeln, sie zu erweitern und zu rhetorisieren. In der ,Invectiva‘ wird sozusagen alles in einem einzelnen literarischen Modellkunstwerk der Gattung Invektive zusammengeführt, erweitert und mit einigen neuen Akzenten versehen. a) antikonziliare Topik: Zentral sind Wortreihen, welche die Assoziationen von Verbrechen, Schmutz und Unrat sowie soziale wie moralische Niedrigkeit bedienen. Sie sind einerseits deutlich von der Autorität Ciceros, hier seiner Invektivreden, allen voran den Catilinarien angeregt. Andererseits war das Ensemble zum Teil in der Ketzerpolemik der Alten Kirche und der Alten Konzilien vorgeprägt worden, eine Schimpfwortreihe zur Charakterisierung von Glaubensgruppen und deren Versammlungen als sowohl dogmatisch wie von Stand und Moral niedere, minderwertige Auslese. Zum Beispiel standen neben f(a)ex – Hefe, Bodensatz etc. nämlich colluvies, -ei, beziehungsweise colluvio, -onis in der Bedeutung „Abwasser“, „Ab74 Die Fortsetzung ebd. 731.: Ita pro Spiritu sancto bubonum chorus ad eorum precationes accessit, eoque diabolico spiritu ac fanatica insania repletos effecit, ut nihil ab eis nihil pestiferum sacrilegum perniciosum mortiferumque posset prodire. Miror prudentiam principum quorundam, qui illorum furori ac dementiae favere dicuntur, cum sciant nil bonum, nil simplex, nil sincerum, nil sanctum posse manare ab hominibus sacrilegis, nefariis ac perniciosis. 75 Eine Variante findet sich im weiteren Verlauf (ebd. 162,30–34): Homines certe summae autoritatis, summae prudentiae, summae virtutis, apostatae, perfidi homines, fraudulenti, corde improbi, anime facinorosi, detestandi, sacrilegi, infames, ex turpidine omnium gentium a te collecti. 76 Die unter vermuteter Mitautorschaft Poggios verfaßten Bullen Eugens IV. sind mit Incipit zitiert; siehe die Angaben in Anm. 60–63, 67.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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schaum“ und übertragen für eine ‘zusammengewürfelte, chaotische Masse’ ebenso ciceroerprobt zur Verfügung wie in ähnlicher Bedeutung, bereits gegen die Catilinarier autorisiert, sentina, eigentlich das im Schiffskiel zusammenlaufende Schmutzwasser.77 Dieses Wortfeld, verbunden mit Epitheta der Unbildung und Kriminalität, bildet ein besonders eindrucksvolles Beispiel eines Clusters fast schematisch wiederverwendeter Polemik. Zunächst einige Passagen aus der ,Invectiva‘, welche die oben parallel zum Text der Totenrede ziterte Zentralstelle flankieren: 156,11 f.: ab illa sentina scelerum Basiliensium damnatae synagogae; 164,2–4: non Concilii, sed latrocinii Basiliensis. Respice cogitationes barbaricae fecis, illius nefariae colluvionis spurcissimam factionem, … lenocinium, non concilium appellandum; 163,22: Ex infima eorum fece quidam delecti sunt. – Bulle ,Moyses‘ 1439: clerici infra sacros ordines constituti, ignorantes, inexperti, vagi, discoli, profugi, apostate, de criminibus condemnati, et de carceribus fugientes (COD 529,30–32). – Bulle ,Affligitur summa‘: haec Pharisaeorum sentina, scisma novum in Ecclesia excitavit … in ista nequissima synagoga, … ex tam nafaria hominum colluvione. (BARONIUS/ THEINER Bd. 28, 335b). – Bulle ,Multa sanctorum‘: illa sceleratissima synagoga, perditissimorum omnium colluvies, et totius christianitatis erubescenda sentina (COD 562,33 f.). – Eugen IV. 1440 an Heinrich VI. von England: per nefariam ilam atque abominandam scelerum sentinam Basileae congregatorum (BARONIUS/THEINER Bd. 28, 332b). – Poggio: ,De varietate fortunae‘ (ed. MERISALO 139,310–315): variis ex gentibus colluvie magna pars gule et ventri dedita, … , viros … ex barbarorum fece delectos, nequam, apostate, numquam sobrios, vite perdite, contemptos, sentinam scelerum, plus quam sicarios atque homicidas spe pretioque corruptos.

Der Koch (coquus) als Topos.78 Der Koch ist in der (invektivalen) Literatur die meist kartikaturhafte Personifikation des einfachen, ungebildeten, handarbeitenden Zeitgenossen. Dieser Topos wird in der ‚Invectiva‘ besonders liebevoll ausgeziert: 77

Colluvies, etwa Cic., Att. 9,10,7: in hac colluvie regnare, sowie fünf Belege für Tacitus; colluvio, etwa Cic, Sest. 15: ille nefarius ex omnium scelerum colluvione natus, drei weitere Cicero-, neun Livius-Belege; Thesaurus Linguae Latinae, Bd. 3, Leipzig 1907, 1665 f. sentina: Cic, Cat. 1, 5, 12: Tuorum comitum magna et perniciosa sentina rei publicae; ebd. 2,4,7: O fortunatam rem publicam siquidem hanc sentinam urbis eiecerit. 78 Weitere Beispiele bei HELMRATH, Basler Konzil (wie Anm. 18), 77 Anm. 22 (Literatur); so etwa Piero da Monte 1436 vor König Heinrich VI. von England: In hoc vero concilio capellani ferentes caudas dominorum meorum cardinalium, coqui, et quod deterius est, laici uxorati habuerunt votam; Piero da Monte. Ein gelehrter und päpstlicher Beamter des 15. Jahrhunderts. Seine Briefsammlung (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 19), hg. von JOHANNES HALLER, Rom 1941 (ND Turin 1971), 243. Lorenzo Valla läßt im ‚Apologus‘ seinen Invektivgegner Poggio von einem Koch und einem Stallknecht im Lateinischen düpieren; CAMPOREALE: Valla (wie Anm. 16), 486–501.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

158,9–12: Aderant suis decretis coqui, lanii, sartores, piscatores, stabularii, medici79 et omnis illarum gentium barbaries spurcissima, quae spiritum sanctum veluti dormientem et somnolentum suis vocibus et clamoribus excitarent, illum ex tabernis et coquinis excitatum invocabant. 160,16–18: Sed quae autoritas (sic!) esse potuit in sceleratorum, perditorum, phariseorum synagogula; quae dignitas in tam abiectis hominibus, quos ego (sc. Poggio) qui sum pusillus, nollem domi mee essent coci, ac sartoris loco. Synagoga gehört seit jeher zur konzilsdenunziatorischen Standardausstattung. Hier sei nur zitiert: 155,12 f.: synagoga perniciosissimorum suique similium hominum; neutraler die Deminutiva conventiculum oder conventicula, -ae: 156,13–16: illam perditissimorum hominum conventiculam aliquem nisi monstrosum aedidisse partum, et nedum pontificis, sed vilissimi quidem sacerdotuli creandi potestatem, nisi a diabolo et eius sequacibus permissam; 161,19 f.: nefariam illam scelestissimorum hominum conventiculam; 160,14: illud tantum (Ottob. lat. 1194: tuum) Basiliense non concilium sed discidium.

b) antifelicianische Topik: Das Vexierspiel mit dem Namen, beliebtes Invektivalelement ohnehin, hier mit dem Papstnamen Felix/infelix, drängte sich so sehr auf, daß es in fast allen zu untersuchenden Texten nicht fehlt:80 – Bulle ,Affligitur summa‘: Scribit … se Felicem. Vellemus …, ut esset felix illa felicitate aeterna, quae est felicitas appellanda. ... qui si noverit quanto se scelere ... non dubitamus, quin se iudicet omnium qui vivant infelicissimum (BARONIUS/THEINER Bd. 28, 334b). – Bulle ‚Multa sanctorum‘: litteras suas bulla plumbea Romanorum pontificum more bullatas, in quibus se Felicem, cum sit omnium mortalium infelicissimus, appellat (COD 562,44 f.).

Auch hier holt die ‚Invectiva‘ weiter aus, ordnet den Namen Felix in antike Kontexte, so zum Cognomen des Sulla ‚Felix‘, das hier fast oxymorisch gewendet wird. 162,10–14: Sin vero ut olim Lucius Sylla infelici victoria, cum Urbem incendiis, rapinis, caedibus, civium proscriptionibus replesset, in urbis tanta calamitate se felicem nomina79

Vgl. Variante in Rom, BAV, Ottob. lat. 1196 fol. 157v: mendici sacerdotuli; siehe unten Anhang II. 80 Vgl. oben Anm. 59 den Brief an Gotardo Stella. Einige Handschriften (Holkham Hall, Paris, Vat. lat., Ottob. Lat.) titulieren den Text sogar als ,Invectiva in infelicem antipapam‘; siehe Anhang I. Zum Papstnamen BERND-ULRICH HERGEMÖLLER: Die Geschichte der Papstnamen, Regensburg 1980, 149, vermutet als Vorbild für die Namenswahl ein Mitglied der thebäischen Legion mit Namen Felix, also einen Kollegen des Hl. Mauritius, dem Amadeus VIII. seinen Ritterorden gewidmet hatte. Weitere Möglichkeiten: Eine Anknüpfung an den kraftvollen Papst der Alten Kirche, Felix III. (483–492) und schlicht der [Tagesheilige; vielleicht auch] der Euphemismus des Namens selbst, felix – der Glückliche. Das Begriffsfeld des ‘Teuflischen’ und Apokalyptischen fehlt nicht, hat aber nicht die Bedeutung wie in sonstiger Antipapstpolemik (Sathanas: 156,15 und 29; 157,37 und 49; 158,36; 162,28 und 36; Diabolus 156, 15); vgl. hingegen die posthume Polemik gegen Eugen IV. durch den führenden Theologen des gescheiterten Basler Konzils, Johann von Segovia; MANN: Devilish Pope (wie Anm. 25).

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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vit. Tu item in schismate populi Christiani eversione sanctae matris ecclesiae, in animarum naufragio, te felicem tot malorum causa audes appellare.

Hypokrisie ist allerdings der zentrale Begriff. Um ihn scheinen sich alle anderen polemischen Motive zu ordnen. Das ‘Ripaille-Syndrom’81 spielt eine wichtige Rolle, aber auch das gesamte (Gegen-)papsttum des Amadeus/Felix wird als Blendwerk, als frivole Imitation gezeichnet: 155,6: lupum rapacissimum ... nunc induere vestem agni; 155,9: sub fictae humilitatis specie; 155,15 f.: tantae hypocrisis, tantae nequitie, tanti dedecoris; 155,17–156,4: Haec est illa olim morum simulata sanctitas, seculi abdicatio, ficta religio, solitarium domicilium, in quo se deo deditum fingebat, ut illum postea turpiter abnegaret. In quo religiosum se testabatur sub humili vestimento, ut postea tanquam leo rugiens quaerens quem devoret (1 Petr. 5,8); 156,8 f.: Dei iudicia sint occulta, qui hypocritam propter peccata populi regere permittit; 158,26 f.: cum istac hypocrisi perversa ac fraudulenta, cum istac verborum fallacia; 159,16 f.: tanquam hypocrita solus regnaturus; 161,15–17: sumpto hypocritarum habitu, veste vili secedentem a turba, aliquamdiu inter hypocritas falsos ad religionis ostentationem versatum. – Bulle ‚Rem pestiferam‘ 1439/40: Hic hypocrisis antea ostentatae, hic eremitae habitus, hic sanctuarii aedificati, hic solitudinis quaesitae, hic simulatae religionis est fructus? Quis non hunc lupum, qui tamdiu sub specie agni latuit, detestandum … esse fateatur (BARONIUS/THEINER Bd. 28, 315b). – Bulle ,Affligitur summa‘ 1440: qui iam sex annis continuis sub ficta hypocrisi et agni pelle rapacis lupi animum gessit (ebd. 334b). – Bulle ,Multa sanctorum‘ 1440: eremitae habitum vel potius falsissimi hypocrite assumpsit, ut sub ovina pelle, agni specie, lupi feritatem induceret (COD 562,25 f.).

Das Bild vom Architekten des Bösen. 156,26: architectum scissurae ecclesiae; vgl. Bulle ,Rem pestiferam‘: tanquam architecto omnium malorum (BARONIUS/THEINER Bd. 28, 315b). Bulle ‚Affligitur summa‘: architectum et fabricatorem omnium scandalorum (ebd. 335a).

Die Unbildung Felix’ V. und seine Herkunft aus dem Laienstand: 156,16 f.: An est aliquis adeo mentis inops, ut hunc sathanae alumnum aestimet rudem, indoctum; 157,6: eum qui literas nesciat; 161,4–6: Amedaeum, qui non amator, sed hostis dei fuerit, virum seculi ignarum literarum, indoctum, imperitum. – Bulle ‚Affligitur summa‘: Simplex homo, rudis, indoctus et penitus litteraru ignarus, ut ne ad sacerdoitium quidem digne assumi potest (BARONIUS/THEINER Bd. 28, 335b).

Habgier (avaritia), ein ubiquitär gegen Feinde, namentlich klerikale, gerichteter Vorwurf, wurde von Poggio sowohl hier wie in seiner Mönchskritik stra-

81

Siehe oben bei Anm. 20.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

paziert;82 unter der Hand kam er auch von seiten des Basler Konzils gegen ‘seinen’ Papst auf. 156,17: rapacem et sola avaritia insignem; 158,34: mens coeca cupiditate dominandi, et auri avaritia aestuans ac fervens ambitione.

Ketzer, Schismatiker, Verfolger der Rechtgläubigen, Verderber der Seelen: dabei finden sich oft Metonymien wie alter Cerberus (155,3); alter Mahumetes (156,5); alter Antichristus (160,6); alter Diocletianus (161,23); Quid amplius cuperet Arrius, aut quivis perversus haereticus? (156,28); also ein Kanon mythischer und historischer Monstren, Schismatiker und Verfolger, ein traditionelles Stilmittel, so auch mehrfach das Bild des Moloch: 159,32 f.: ut te velut alteram deo dedicatam statuam Moloth adorarent. – Bulle ‚Rem pestiferam‘: quae rabies has pestiferas belluas atque immanes induxit ad excitandum idolum Moloch (BARONIUS/THEINER Bd. 28, 315a). – Bulle ‚Affligitur summa‘: qui potius statuam Moloch dedicatam, quam nos Christi vicarium... velitin terris colere (ebd. 335b).

Nur in der ‚Invectiva‘ findet sich die Satire auf die Kardinalserhebungen Felix’ V.83 159,17–21: Inde plures cupedenarios (!) pro Cardinalibus effecit, tanquam laeticia gestiens, in derisionem omnium gentium, et illius opprobrium dignitatis, cum ab homine indignissimo nulla queat dignitas proficisci. Auxisti numerum egenorum, laeticiam minuisti. Quid sibi vult haec ampliatio, vel potius dignitatum inquinatio? 159,28 f.: plures alienis vestibus personatos, rubicundo pileo tanmquam mimos ridiculos exornasti.

Seit dem ersten Brief an Cesarini stieß man auch auf latent nationale Stereotypen und Karikaturen, die zunächst eher unspezifiziert gegen die ‘Barbaren im Norden’ gerichtet waren. Sachlichen Anlaß, ‘national’ zu typisieren, gab das bisher in der Papstgeschichte nicht dagewesene Gremium der 32 Papstwähler Felix’ V., die zu je acht aus den vier (Konzils-)Nationen Italia, Gallia, Germania, Hispania genommen waren. Diese werden bei Poggio nicht als repräsentativ für ihre Nation typisiert, sondern im Gegenteil als untypisch, sei 82 Poggio Bracciolini: Dialogus contra avaritiam (De Avaritia). Trascrizione, traduzione e note di GIUSEPPE GERMANO, Livorno 1994. 83 De facto waren es fünfundzwanzig. Sie fanden am 20. Jan., 12. Oktober und 12. November 1440 und am 6. April 1444 statt, nicht aber, wie Poggio hier offenbar unterstellt, auch im Jahr 1447; siehe KONRAD EUBEL: Hierarchia Catholica Medii Aevi, Bd. 2, Münster 2 1914, 9 f.; PAUL M. BAUMGARTEN: Die beiden ersten Kardinalskonsistorien des Gegenpapstes Felix V., in: Römische Quartalschrift 22 (1908), 153–157. Beispiel für Karriere und personelle Vernetzungen eines ‘felicianischen’ Kardinals: HERIBERT MÜLLER: Vom Konzil zur Kurie. Eine kirchliche Karriere im 15. Jahrhundert: Guillaume Hugues d’Étain, Archidiakon von Metz und Kardinal von Santa Sabina, in: Licet preter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag, hg. von LOTTE KÉRY/DIETRICH LOHRMANN/HARALD MÜLLER, Aachen 1998, 219–240.

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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es durch einseitig regionale Rekrutierung, sei es durch qualitative Negativauslese. Hier sind die Parallelen zu den Papstbriefen von 1440 besonders evident. Der satirische Ornatus nationaler (Nicht-)Repräsentativität wächst dabei von Text zu Text an. Fast scheint es, als werde hier Repräsentativität selbst, als zentrales Problem des Konziliarismus, karikiert. Die Bulle ‚Rem pestiferam‘ begnügt sich mit wenigen Strichen: Die Wähler aus Italien und Gallien seien sämtlich auf Savoyer, also Untertanen des Gewählten, beschränkt, sechs der acht Wähler aus Spanien seien Katalanen, also gleichfalls eine einseitig regionale Auswahl, zudem Untertanen des Konzilsanhängers Alfons’ V. von Neapel-Aragón. Die Angehörigen der deutschen Nation (Alamanie) werden als in jeder Hinsicht minderwertig abgetan.84 Die Bulle ‚Affligitur summa‘ geht in Textumfang und Wertung weiter: Die Italiener stammten sämtlich vom Fuß der Alpen (pedemontani) beziehungsweise seien Untertanen des Herzogs von Savoyen. Damit seien aber Italiens nomen et decus verfehlt, denn niemand aus dem Herzogtum Mailand, aus Venedig, Genua, Florenz, dem Königreich Neapel sei dabei. Die dignitas Italiae finde sich in diesen acht niederen Bütteln (lictores) in keiner Spur.85 Auch die Vertreter der gallischen Nation vermögen in ihrer Minderwertigkeit nicht das nomen talis regni zu vertreten. Die Spanier – sind wiederum nur Katalanen, und die Deutschen, einmal mehr mit dem Lieblingsklischee versehen, seien mehr an Saufen und Fressen (vino et epulis) als an eine seriöse Aufgabe gewöhnt. Die sorgsam variierte Klimax bildet dann sieben Jahre später die ,Invectiva‘. Nicht mehr die Nationen werden genannt (Gallica natio), sondern – mit Ausnahme der Hispania – die Personen selbst ‘nationalisiert’: Italici, Gallici, Germani: die Wähler aus dem Gebiet der (antiken) Gallia Cisalpina seien, von ichrer völligen Hörigkeit gegenüber dem Savoyer abgesehen, keine echten Italiener (quibus Italia noverca est). Auch die vier Franzosen (Gallici) sind nicht echt, also non ex vera Gallia, das von hervorragenden Männern voll sei, sondern eben aus jenem minderwertigen Teil, dem Wald- und Felsland 84 BARONIUS/THEINER (wie Anm. 23), Bd. 28, 315ab: Octo Italici dicuntur, dominii Sabaudiensium omnes, tanquam Italia omnis ex Sabaudia constet ..., Gallici octo, quorum quatuor Sabaudienses sunt; Alamani octo, viri empti pretio et pecunia corrupti, ignobiles aut qui nihil saperent, aut qui male sentirent; ex Hispanis Cathelani sex fuere ... quae est igitur aut qualis non electio, sed profanatio ... 85 Ebd. 335ab: Octo ex natione Italica dicuntur fuisse, qui omnes Pedemontani et de dominio dicti ducis, qua in re manifesta perfidia et singularis fraus hanc statuam detestabilem fabricantium fuit; nimis abjectum esset Italicum opem et decus, si ejus auctoritas et dignitas circa octo solum ducis ipsius subditos versaretur. Nullus praelatus dilecti filii nobilis Philippi Mariae Angeli ducis Mediolanensis sunt. ... Nullus dilectorum filiorum Venetorum, Januensium, Florentinorum, aut regni Neapolitani praelatus interfuit ... Sed octo solum satellites tanquam lictores ducis ab eo ad id opus electi, in quibus nullum vestigium inerat Italica vel dignitatis vel auctoritatis. ... Ex Alamania praeter episcopum Basilensem homines contempti, potius vino et epulis, quam ullo bono muneri assueti.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

Savoyen ex illa interclusa sylvis et montibus patria sordida et rusticana, quam Sabaudiam vocant, certe subditam imperio tuo. Die Auswahl der Germani sei zur Gänze zitiert: Totidem Germani ad officinam illius idoli convenerunt. Atqui homines, dii boni, somnolenti, stupidi, stertentes, nunquam sobrii, hominibus odibiles et deo, qui vivi an mortui essent, vino atque epulis obruti non discerneres. Sunt in ea natione plurimi viri egregii, prudentes, docti, sobrii, omni virtute cumulati. At ex his nullus assumpus est, sed quidam animo et corpore perversi, in quibus nulla virtus esset, nulla conscientia, nulla doctrina.86

Während also die Vertreter der italischen, gallischen und spanischen Nation vornehmlich wegen ihrer regionalen Nichtrepräsentativität und nur sekundär wegen ihrer moralischen und intellektuellen Minderwertigkeit denunziert werden, wird auf diejenigen der germanischen Nation kein regionales, sondern nur das moralisch-intellektuelle Kriterium angewandt; obwohl es plurimi egregii gebe, repräsentierten bei der Papstwahl die quidam perversi.

VII. Damit hat unser Rekurs wieder das Jahr 1447 und die ‚Invectiva‘ erreicht. Die Distribution der ‚Invectiva‘ geschah zunächst, wie gezeigt wurde, durch den Autor selbst an Humanistenfreunde.87 Auch für die Rezeption scheint dies zu gelten. Die ,Invectiva‘ entstand in engem Konnex mit anderen Schriften Poggios, vor allem den Dialogen ‚De varietate fortunae‘ und ‚Contra Hypocritas‘, in einer fruchtbaren Schaffensperiode der Jahre 1447/48. Sie bilden zusammen eine vielgestaltige Bilanz des Schismazeitalters in der Erfahrung des Kurienhumanisten. Geradezu gebündelt tauchen die Schemata und Topoi der ‚Invectiva‘ im dritten Buch des Dialogs ‚De varietate Fortunae‘ auf. Dessen mehrfach erweiterte Komposition zog sich über viele Jahre hin. Eine unpublizierte Zwischenstufe in zwei Büchern ist für den 13. September 1443 brieflich zu belegen.88 Von einer Publikation (edidi) in vier Büchern spricht 86

Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. I, 163,13–19. (= BARONIUS/THEINER [Anm. 23], Bd. 28, 312). Vgl. oben Anm. 84. 87 Siehe oben bei Anm. 29 ff. 88 Poggio an Piero da Monte 1443 September 13, Siena: Composui duos libros ‚De varietate fortunae‘, sed nondum edidi, expectabo enim adventum tuum. In illis comprehendi nostri temporis historiam, eorum scilicet, quos fortuna ex alto deiecit; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 2, 427,17 f. (X, 17). Zur Datierung: Poggio Bracciolini: De varietate Fortunae, hg. von OUTI MERISALO (Suomalaisen tiedeakatemian toimituksia/ Annales Academiae Scientiarum Fennicae B 265), Helsinki 1993, 13 f. Vgl. DERS.: Osservazioni sul commercio librario italiano nel Quattrocento alla luce della diffusione del ‚De varietate fortunae‘ di Poggio Bracciolini, in: Produzione e commercio della carta e del libro secc. XIII–XVIII. Atti della ‘Ventitreesima Settimana di Studi’ 15–20 aprile 1991 (Istituto Internazionale di storia economica ‘F. Datini’ Prato, seria II 23), hg. von SIMONETTA CAVACIOCCHI, Prato 1992,

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Poggio aber erst am 28. Februar 1448 in einem Brief an Antonio Panormita,89 also wenige Monate nach Entstehung der ‚Invectiva‘. Als eines der zeitgenössischen Exempla der varietas fortunae, der eben auch ein Papst wie Eugen IV. unterliegt, schildert er dessen turbulente Geschichte mit den Konzilien von Basel und Ferrara-Florenz von der Eröffnung durch Martin V. bis zur Wahl Felix’ V.90 Am Ende dieser Passage spielt Poggio kompakt die Insultationen gegen das Basler Konzil und Felix V. durch: Die ‘Basler’ Kirchenspalter sind versoffen und hassen Italien; die Begriffe colluvies und sentina fehlen nicht. Felix V., wir wissen es längst, ist ungebildet und habgierig, seine Wahl gleicht der Errichtung eines idolum aureum.91 Es lässt sich aber nicht sagen, ob diese Passage aus dem 3. Buch von ‚De varietate‘ nach der ,Invectiva‘ entstand, also am vorläufigen Ende der antifelicianischen Invektivkette steht, oder aber in der Mitte. Denn sie kann durchaus schon in der ersten der vermutlich drei Entstehungsphasen des 3. Buchs92 entstanden sein, die Ereignisse bis 1440 schildert, und damit schon in der erwähnten Zwischenfassung des Traktats von 1443 gestanden haben. Das ist wahrscheinlicher, 913–920; DERS.: Poggio e i principi. Osservazioni su alcuni temi del ,De varietate fortunae‘ di Poggio Bracciolini, in: Medioevo e Rinascimento. Annuario del Dipartimento di Studi sul Medioevo e il Rinascimento dell’Università di Firenze 4/Neue Serie 1 (1990), 203–221. 89 Poggio an Panormita: Edidi quatuor libros ,De varietate fortune‘, in quibus multa sunt cognitione digna. … Mitto ad te illius prohemium, librum vero cum facultas erit; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3, 59,30–33 (II, 9). Das Proömium an Papst Nikolaus V.: Poggio: De varietate Fortunae, hg. von MERISALO (wie Anm. 88), 89 f. 90 Poggio: De varietate Fortunae III, hg. von MERISALO (wie Anm. 88), 137, 225–139, 320; die spätere Italienpolitik, die Schlacht bei Varna und der Tod Eugens IV. (also nach Februar 1447 eingefügt) folgt am Ende: 150, 682–152, 789. Bemerkenswert Poggios Kritik an Eugen IV.: er habe sich von den Venezianern, die Florenz den Konzilsort neideten, zur Wahl Ferraras überreden lassen. Hätte man gleich Florenz gewählt, wäre das gesamte Basler Konzil außer dem ‘Pöbel’ auf Eugens Seite übergegangen: Ex quo (aus der Wahl Ferraras) scissura ecclesie subsecuta est. Nam si Florentie indixisset, … haud dubium erat, quin se omnis eo concilii Basiliensis vires conferrent, relictis paucis cum ignobili vulgo, quod fuisset id ipsum parvo tempore sua sponte dissipatum; ebd. 138,259–263. 91 Ebd. 139,308–320 (die gängigen Topoi sind fett gedruckt): Basilee interim qui reliqui ex concilio erant privatis odiis non pontifici tantum, sed nomini Italo infesti, variis ex gentibus colluvio magna pars gule et ventri dedita Eugenium deiciunt a pontificatu, et Amedeum Subaudie (sic!) ducem, virum sine litteris absque doctrina, nulla virtute preditum, sola avaritia insignem, pontificem creant, rem sane infandam et execratione omnium Christifidelium dignam. Nam quis fidelis equo ferat animo viros quosdam infidelibus deteriores ex barbarorum fece delectos, nequam, apostatas, numquam sobrios, vite perdite, contemptos, sentinam scelerum, plus quam sicarios atque homicidas spe pretioque corruptos, in quibus nulla unquam nisi pernitiosa et ad scandalum Christianorum consilia extiterunt ausos esse per nefarium scelus dividere ecclesiam, fidelium sponsam Christi. Sed hi monstra hominum non sacerdotes appellandi sunt, qui contra Christum domini Sathane statuam erexerunt, idolum aureum colentes. Zuvor bereits über die ‘Basler’: plures eo convenissent partim rerum novarum cupidi, partim ira odioque adversus pontificem, multi invidia, Italis infensi (ebd. 137,229 f.). 92 MERISALO (Hg.): Poggio: De varietate Fortunae (wie Anm. 88), 14, vertritt die Hypothese einer dreiphasigen Entstehung von Buch III.

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X. Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist

zeigt aber auch die Intensität, mit welcher zeitgenössische Geschichtserfahrung – und zu ihr gehören zentral die beiden Päpste – Poggios Werke unmittelbar durchdringt. Dies gilt auch für den anderen Dialog ‚Contra hypocritas‘. Als Poggio Pietro Tommasi am 1. November 1447 die Publikation der ,Invectiva‘ signalisierte, schloß er unmittelbar die Bemerlung an: Nunc adversus ypocritas calamum sumpsi ad agitandam eiusmodi hominum perversitatem.93 Kurz nach Vollendung oder zeitgleich mit ihr habe er adversus hypocritas die Feder gezückt, der einschlägige Beleg für die Datierung der Niederschrift des dann 1448 publizierten Dialogtraktats ‚Contra hypocritas‘. Aber neben der zeitlichen Koinzidenz sind, wenn auch weniger explizit wie in ‚De varietate‘, die inhaltlichen Bezüge der beiden Texte unverkennbar. Der Dialog ist als Gespräch zwischen dem Florentiner Kanzler Carlo Marsuppini, dem Benediktinerabt Girolamo Aliotti und Poggio selbst inszeniert. Der Vorwurf der Hypokrisie wird hier, in Poggios mönchskritischer Tradition, vor allem gegen die Observanten gewendet und als Pathologie einer pervertierten christlichen Tugend erörtert.94 Auch wenn Felix V. in ‚Contra hypocritas‘ nicht selbst vorkommt, es war doch die hypocrisis der zeitgleich auch gegen ihn gerichtete Hauptvorwurf. Von einer Rezeption der ‚Invectiva‘ in ihrer äußeren Intention als kirchenpolitisches Pamphlet, also über die oben geschilderten Distributionen hinaus, ist bisher wenig bekannt. Man muß freilich berücksichtigen, daß die Schrift spät, gleichsam als Stich in einen Halbtoten erschien, als fast jeder die Sache des antipapa für erledigt hielt. Man war kampf- und konzilsmüde und bedurfte keiner neuen Invektivmunition mehr. Die Lage Felix’ V. und des Rumpfkonzils von Basel-Lausanne blieb denn auch unhaltbar, endete aber friedlich. In den Tagen des 5. bis 23. April 1449 löste sich das Konzil auf. Felix trat zurück. Wie die meisten Anhänger der konziliaren Parallelkirche wurde auch der noch kurz zuvor von Poggio als Antichrist gebrandmarkte Konzilspapst in den römischen Ämterbetrieb reintegriert und beschloß 1451 in Savoyen seine Tage im Rang eines Kardinalbischofs von Santa Sabina.95 93

Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), Bd. 3, 52,5–8 (II, 6). Opera, hg. von FUBINI (wie Anm. 9), Bd. 2, 39–80 (= ND der Editio princeps von Hieronymus Sincerus, Lyon 1579); ferner: Poggio Bracciolini: Contra l’ipocrisia (I frati ipocriti), hg. von GIULIO VALLESE, Neapel 1946 (italienische Übersetzung mit lateinischem Textanhang nach dem Druck Lyon 1679). Dazu WALSER: Poggius (wie Anm. 1), 243–248. Die Publikation auf „1449“, die Niederschrift des Schlusses auf „Herbst 1448“ anzusetzen (ebd. 244) und nicht auch früher, erscheint nicht zwingend. Vgl. RICCARDO FUBINI: Introduzione alla lettura del ,Contra Hypocritas‘ di Poggio Bracciolini, Turin 1971 (nicht gesehen). Von Felix V. ist in ‚Contra hypocritas‘ nicht die Rede. Im Vat. Lat. 1785 (siehe Anhang) folgt die ‚Invectiva in Felicem‘ unmittelbar auf ‚De varietate‘ und ‚Contra hypocritas‘. 95 MANSI (wie Anm. 37), Bd. 32, 46–74; Bd. 35, 55–88; MÜLLER: Franzosen (wie Anm. 38), Bd. 1, 212–215 (Literatur); VALOIS: Pape (wie Anm. 22), Bd. 2, 327–358; STIEBER: Eugenius (wie Anm. 35), 322–330; MONGIANO: Da Ripaille à Losana (wie Anm. 18), 369–373; 94

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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Das erlaubt noch einmal, eine Grundsatzfrage zu stellen: War die ‚Invectiva‘, das spät eingelöste acuere calamum, dann überhaupt ‘ernst’ gemeint? Empfand der Humanist das Werk überhaupt noch als Eingriff in den Finalkampf um das Basler Schisma? Daß der Adressat, Felix V., des Pamphlets je ansichtig geworden wäre, ist nicht bekannt, war auch nicht wahrscheinlich. Komponierte Poggio den Text also als eine Art stilistischer Schismabilanz, als rhetorische Fingerübung, die ältere Versatzstücke zur internen Versorgung und zum Pläsir der invektiv-hungrigen humanistischen Corona wiederaufarbeitete? In deren Kreisen wurde sie ja auch in der Folgezeit distribuiert, wie aus Poggios Briefen an Tommasi und Parisi zu sehen war.96 Die Handschriftenüberlieferung jedenfalls, der noch ein kurzer Blick zu widmen ist, widerspräche der These nicht. Die Anzahl der bislang ermittelten vierzehn Specimina (siehe Anhang I) ist gemessen an derjenigen anderer Invektiven des Poggio, allen voran der weitestverbreiteten ersten Invektive gegen Filelfo, eher gering. Die Binnenkontexte, in welchen diese Invektive auftaucht, bilden fast ohne Ausnahme Sammlungen humanistischer Schriften, nicht etwa die für die Zeit der Reformkonzilien typischen Sammlungen von Konzilsmaterien. Fast immer steht sie im Ensemble mit anderen Opera Poggios, und darunter wieder meist mit weiteren seiner Invektiven. Bezeichnend auch, dass fast alle bisher geprüften Manuskripte in humanistischer Kursive geschrieben sind. Eine Ausnahme bildet das Exemplar aus Köln (HAStK W* 168), dem langjährigen Wirkungsort Agostino Sottilis, ein Einzelstück unklarer Provenienz. Die Diffusionswege des Textes nach Deutschland sind vor allem im Augsburger Exemplar aus dem Umfeld des Albrecht von Eyb sichtbar, das in klar humanistischem Kontext steht. Die beiden Berliner Handschriften, wohl in Italien entstanden, gelangten erst im 19. Jahrhundert aus der Sammlung Philipps nach Deutschland. Alle diese noch sehr vorläufigen Anhaltspunkte sprechen für eine weitgehend innerhumanistische beziehungsweise aus Interesse am berühmten Autor motivierte Überlieferung der ‚Invectiva‘. Schon die ursprüngliche Textdistribution und -rezeption zu Lebzeiten Poggios in den Jahren 1447 bis 1454 deutete, wie wir sahen, darauf hin. Es war weniger der antikonziliare Papstdefensor als der wortmächtige Latinist und Polemiker Poggio und seine eigendynamische Autorität, die diesen Text für die Nachwelt interessant machten. Anonym lebte er als päpstlicher Propagandist freilich in den Texten der Papstbullen der Jahre 1439/40, insbesondere dem ‘Monitorium’, fort, deren Art auf kurialer Seite auch künftig zum kontroverstheologischen Arsenal gehörten.

DIES.: Privilegi concessi all’antipapa Felice V (Amadeo VIII di Savoia) in materia di benefici, in: Rivista di storia del diritto italiano 52 (1979), 174–187. 96 Siehe oben Kap. III.

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Nach der Buchdruckschwelle konnte jeder Poggio-Leser spätestens über die Basler Ausgabe der ‚Opera‘ (1538) die ‚Invectiva in Felicem‘ kennen.97 Dies tat im späten 16. Jahrhundert der Basler Christian Wurstisen. Er pflegte eine lokalpatriotische Konzilsnostalgie. Ihm stießen offenbar vornehmlich die ‘nationalen’ Insultationen auf, die mittlerweile im Konfessionsstreit in weit vernichtenderer Weise verbreitet worden waren, als es Poggios ‚Invectiva‘ je konnte. Auch Wurstisen äußert sich in lutherischer Drastik: was ihm für Schmachwort in das ungewaschen Walchengefreß kommen, hat er ausgestoßen.98

Anhänge I. Handschriftenüberlieferung von Poggio Bracciolini, ‚Invectiva in Felicem antipapam‘. Inc. Non possum non dolore. (* = Original vom Verfasser geprüft). Die Textüberschriften erscheinen, soweit dem Verfasser bekannt, im Kursivdruck. – *Augsburg, StB 2° Cod. 220 fol. 70v–78v ch., 3. Viertel 15. Jh. oberital.; Die Handschriften der Staats- und Stadtbibl. Augsburg 2° Cod. 101 – 250, beschr. von HERRAD SPILLING, Wiesbaden 1984, 237–240; KRISTELLER III, 452b; VI, 489a.99 Pogii Florentini in Felicem Antipapam. Wohl zuerst fürstbischöfl. Hofbibl., dann Kreisbibl. Eichstätt (fol. 118r–137v: Hand Albrechts von Eyb). Inhalt: fol. 1–70r: Poggio, ‚Invectiva in Laurentium Vallam‘, I–V, fol. 79r–118v: Poggio, ‚Facetiae‘, fol. 119r–130v: Hugolinus de Pisanis, ‚Repetitio Zanini de maturlibus coqui‘ (burleske Scherzreden und Karnevalskomödien); fol. 131–137v: Fortsetzung der ‚Facetiae‘; fol. 137v– 139r: Andreas Bavarus an Albrecht von Eyb, hg. von MAX HERMANN: Ein Brief an Albrecht von Eyb, in: Germania 33 (1888), 502–506; vgl. ANTONIO STÄUBLE: La commedia umanistica del Quattrocento, Florenz 1968, 39–41, 187, 198, 264 f., 281 (Handschriften, darunter Augsburg 2° Cod. 220). – *Berlin, StB PK lat. qu. 782 (alt: Philipps 9260), Nr. 8, fol. 17r–27v, ch. 15. Jh., humanist. Kursive; Inhalt: Poggio-Briefe; KRISTELLER III, 479a; Lettere, hg. von HARTH (wie Anm. 1), I, LX Nr. 8. Oratio Poggii contra Felicem Antipapam.

97

Siehe oben Anm. 9. Die genaue Drucküberlieferung ist gesondert zu untersuchen. ACHILLES BURCKHARDT: Christian Wurstisen, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte 12. Neue Folge 2 (1888), 357–398, hier 391. 99 PAUL O. KRISTELLER: Iter Italicum. A finding list of incatalogued or incompletely catalogued humanistic manuscripts of the Renaissance in Italian and other libraries, 6 Bde., Leiden 1964–1992. 98

X. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘

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– *Berlin, StB PK lat. fol. 630 (alt: Philipps 4201) fol. 91r–100r, mb., 15. Jh., humanist. Kursive. In Felicem Antipapam. Inhalt: fol. 1–75v: Poggio, ,Invectivae in Vallam‘, I–V, fol. 75v–95v: Poggio, ,Oratio in Thomam Teatinum vilissimum nebulonem‘; SOTHEBY/WILKINSON & HELP: Bibliotheca Philippica Catalogue of a further portion 7 (1903), 122 Nr. 932: aus der Sammlung Celotti; KRISTELLER III, 475b. – *Holkham Hall, Library of the Earl of Leicester ms. 481 unfol., 15. Jh.; aus der Bibl. des Thomas William Coke; SEYMOUR DE RICCI: A Handlist of Manuscripts in the Library of te Earl of Leicester at Holkham Hall, Oxford 1932, 42; KRISTELLER IV, 41a. Poggi Florentini poete eloquentissimi invectiva in Infelicem (!) antipapam. – *Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln W* 168, fol. 1r–4r (4 fol., Einzelstück), um ch. 1455, gotische Kursive; KRISTELLER III, 593b; JOACHIM VENNEBUSCH: Die theologischen Handschriften des Stadtarchivs Köln, Teil 5: Handschriften des Bestandes W* und Fragmente, Köln/Wien 1989, 56. Invectiva Poggii Florentini in Felicem antipapam. – Palermo, Bibl. Comunale 2 Qq D 71, 15. Jh.; LUIGI BOGLINO: I manoscritti della Biblioteca Comunale di Palermo, Bd. 1, Palermo 1884, 128– 133; ENRICO STINCO: I manoscritti della Biblioteca comunale di Palermo, Bd. 2/1, Palermo 1934, 129 ff.; KRISTELLER II, 25. – Paris, Bibl. Nat. Lat. 1766 (Baluze nr. 724) fol. 12v–20v. Inhalt: Texte von Poggio, Bruni, Leonardo Giustiniani; Poggio: De varietate Fortunae, ed. MERISALO (Anm. 87), 39 f. Nr. 19. Pogii Florentini contra papam Infelicem (!) Invectiva vehementissima. – *Rom, BAV Vat. Lat. 1785 fol 81v–91r, vor 1464 (?), Besitz des Kardinals Pietro Barbo. Inhalt: Poggio-Opera. Codices Vaticani Latini tom. III: Codd. 1461–2059, rec. BARTHOLOMEUS NOGARA, Rom 1912 (ND Modena 1980), 241 f.; Poggio, De varietate Fortunae, hg. von MERISALO (wie Anm. 87), 44 f. Nr. 25. Poggi in infelicem antipapam oratio. – *Rom, BAV Ottob. Lat. 1196 fol. 254r–265v, misc. 15.–16. Jh., ch., humanist. Kursive; Inhalt: Valla-Opera, Poggio-Opera; KRISTELLER II, 428b; VI, 378b: Poggii civis florentini in Infelicem (!) Antipapam. – San Daniele del Friuli, Bibl. civica Guarneriana ms. 43, f. 209–213; humanist. Sammelhs. Inhalt: v.a. Briefe, Petrarca, Cicero etc., die ,Invectiva‘ letztes Stück der Hs.; GIUSEPPE MAZZATINTI: Inventari dei manoscritti delle biblioteche d’Italia, Bd. 3, Forlí 1893, 114 f.; KRISTELLER II 566b; VI, 207 (Literatur). – San Daniele del Friuli, Bibl. civica Guarneriana ms. 96, 15. Jh., ch.; humanist. Sammelhs., Inhalt: Gasparino, Barzizza, Cicero, Vergerio; Poggio: Brief an Cosimo de’ Medici, ,An seni sit uxor ducenda‘, ,Invectiva‘, Briefe; Johannes de Spilimbergo, Filelfo, Guarino; MAZZATINTI, Inventari III, 124 f.

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– Toledo, Archivo y Biblioteca Capitolares cod. 100,39, 15. Jh., ch., JOSÉ MARIA OCTAVIO DE TOLEDO: Catálogo de la Librería del Cabildo Toledano, Bd. 1, Madrid 1903, 163 Nr. CCCXXVI; KRISTELLER IV, 645b. – *Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek Cod. Novi 404,7 (alt: Helmstedt I 43.6), fragm., 15. Jh., 1 ungezähltes fol.; HANS BUTZMANN: Die mittelalterlichen Handschriften der Gruppe Extravagantes, Novi und Novissimi (Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Neue Reihe 15), Frankfurt am Maim 1972, 256 f.; KRISTELLER III, 736a. – Auf der Vorderseite Beginn der ,Invectiva‘ bis nunquam litteras didiscit (!), nullam … – (Opera, hg. von FUBINI II, 157,1 f.; vgl. unten II. Textvarianten), auf der Rückseite jedoch von gleicher Hand und übergangslos der Schluß der IV. Invektive Poggios gegen Valla (Inc.: Versus ut barbaros; Expl.: inter ebrios aliquid laudem mereatur; LORENZO VALLA: Opera I, hg. von EUGENIO GARIN (Monumenta politica et philosophica rariora Ser. II/5), Turin 1962, 901 f.; darunter von späteren Händen: ein gantz exemplar und Anno 1552. II. Textvarianten: Der Druck von 1513/1538 (Opera, hg. von FUBINI I, 155– 164)100 weist gegenüber dem Text der hier exemplarisch kollationierten Handschrift BAV Ottob. lat. 1196, fol. 254r–265r, zahlreiche Auslassungen (unten fett gedruckt) und Varianten auf. Nur die drei längeren Auslassungen und zwei besonders sinnentstellende Fehler seien hier aufgeführt. Alles andere sei einer – vom Verfasser geplanten – Neuedition vorbehalten. Opera, hg. von FUBINI I, 157,14: multis schisma detestatur: multis verbis, ut ei fides habeatur, et pluribus quam illius fabricatorem deceat schisma detestatur (fol. 156r). 157,19: Amadeus! Quis pecuniam…: Amedeus! Quis gladium ad eviscerandam matrem ecclesiam subministravit? Idem profecto Amedeus. Quis pecuniam… (fol. 156v). 159,29: exornasti in eversionem ecclesia: exornasti, ut extaret, triumphum, quod excitaveras in eversionem ecclesie (fol. 159v). 157,2: dicit: didicit; 158,9 medici: mendici sacerdotuli; 158,17 leonum: lenonum (!) (f. 157v).

100

Siehe Anm. 9.

XI. Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie*

Wie einst Rom seinen Feldherrn verpflichtet war, so sind alle jene Dir, Busleyden verpflichtet... Denn die alten Münzen, die die Gesichter der Caesaren oder anderer berühmter Männer der damaligen Zeit oder noch früherer Zeiten zeigen, hast du aus Eifer für die früheren Jahrhunderte ausgesucht und zusammengetragen, diese erachtest du als deinen alleinigen Reichtum. Während dichte Asche die Triumphbögen bedeckt, besitzt du die Namen und sogar die Gesichter der Triumphierenden. Die Pyramiden sind nicht solche Denkmäler ihres Adels wie dein Münzschrank, Busleyden!**

Die Münze ist rund. Sie ist geprägtes Metall. Sie ist Zahlungsmittel und Propagandamedium in einem. Vorder- und Rückseite bieten untrennbar zwei Bilder im Kreis. Zusammen mit der Umschrift bildet die Münze die wohl kleinste und engste Bild-Text-Einheit. Das lehrte schon das Evangelium. Die Frage Jesu in Mt. 22,20, wessen imago und superscriptio der ihm präsentierte Denar trage, und die Antwort: Caesaris, wiesen der Kaisermünze als Einheit von Porträt und Schrift einen Ort in der Heilsgeschichte zu.1 * Zuerst in: Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike (Festgabe für Henning Wrede zum 65. Geburtstag), hg. von K ATHRIN SCHADE/ DETLEV RÖßLER/ALFRED SCHÄFER, Münster 2007, 77–97 mit Abb. 1–11. Ähnlich, aber überarbeitet und ohne Teil V: Applikationen etc.: Die Aura der Kaisermünze. Bild-TextStudien zur Historiographie der Renaissance und zur Entstehung der Numismatik als Wissenschaft, in: JOHANNES HELMRATH/ALBERT SCHIRRMEISTER/STEFAN SCHHLELEIN (Hg.): Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung (Transformationen der Antike 11), Berlin 2009, 99–138. Der Beitrag empfing von Diskussionen des SFB 644 ‘Transformation der Antike’ an der Humboldt-Universität zu Berlin reiche Anregung.

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XI. Bildfunktionen der antiken Kaisermünze

Außer Kurs und damit ihres funktionalen Kontexts als Zahlungsmittel ledig, also historisch geworden, war und ist die Münze – anders als die steinerne Inschrift – das häufigste und mobilste Stück authentischer Antike, das man bis heute haben kann, gleichsam ‘Antike pur’ flach auf der Hand. Als Serie der antiken Kaiser und Kaiserinnen von Caesar bis Justinian, oft im Sinne der imperialen Sukzession durch das Mittelalter hindurch aktualisiert bis zu den Habsburgern, repräsentierten die antiken Kaisermünzen ein Ensemble von ‘uomini e donne famosi’, mit der ganzen Suggestion des Seriellen, wie sie einer Herrscherreihe ohnehin stets innewohnte. Sie stellen bis heute das breiteste Porträt- und Motivrepertoir überhaupt dar, „gleichsam eine Bildnisgalerie aus Metall“ (V. Heenes), oder, mit Degenhardt/Schmitt gesprochen: Die Münzen sind „der reichste Vorbilderschatz, den die Antike hinterlassen hat.“2

I. Die Problematik – ‘viri illustres’ Die römische Münze präsentiert das Kaiserbild bis in das 5. Jahrhundert im Profil. Die Reduktion auf die halbplastische Silhouette läßt für die Physiognomien sowohl individuellen ‘Realismus’ wie Typik zu.3 In der Bildnisserie verbindet sich also physiognomisches Interesse an der individuellen ‘wahren effigies’ der Dargestellten mit ihrer paränetisch – vorbildhaften Typisierung zu einem Kernproblem der Kunst wie – dies ist zu betonen – der Historiographie. Kanonisiert war die Kaiserreihe in der antiken Geschichtsschreibung, allen voran bei Sueton mit der Zwölfzahl seiner Kai** Aus einem Epigramm des Thomas Morus auf die Münzsammlung des niederländischen Humanisten Hieronymus Busleyden (1470–1517), zitiert bei NICOLETTE MOUT: Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München 1998, 204 f.; UWE BAUMANN/HUBERTUS SCHULTE-HERBRÜGGEN (Hg./Übers.): Thomas Morus, Werke II, München 1983, 169 f. Busleyden war u.a. Freund des Erasmus und Gründer des Collegium Trilingue an der Universität Löwen. 1 Mt. 22,19–21: Ostendite mihi nomisma census. At illi obtulerunt ei denarium. Et ait illis Jesus: Cuius est imago haec et superscriptio? Dicunt ei: Caesaris. Tunc ait illis: Reddite ergo quae sunt Caesaris Caesari, et quae sunt Dei, Deo. 2 VOLKER HEENES: Antike in Bildern. Illustrationen in antiquarischen Werken des 16. und 17. Jahrhunderts (Stendaler Winckelmann-Forschungen 1), Stendal 2003, 19; BERNHARD D EGENHARDT/ANNEGRET SCHMITT: Die antike Münzkunst im Spiegel neuzeitlicher Bildvorstellung, in: DIES.: Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450, Bd. II/5, Berlin 1990, 214. Siehe unten Kapitel 3. 3 Zur Problematik, die hier nicht vertieft werden kann, siehe nach wie vor J EAN LIP MAN: The Florentine Profile-Portrait in the Quattrocento, in: The Art Bulletin 18 (1936), 54–102, bes. 59 f. sowie die Überlegungen von M ARKUS VÖLKEL: Die Wahrheit zeigt viele Gesichter. Der Historiker, Sammler und Satiriker Paolo Giovio (1486–1552) und sein Porträt Roms in der Hochrenaissance (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel 34), Basel 1999, bes. 32–53.

XI. Bildfunktionen der antiken Kaisermünze

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serviten von Augustus bis Domitian, fortgesetzt in der Historia Augusta.4 Die neue Programmatik profanen Ruhms in Italien, dem vor allem die Antike Legitimation bot, ließ dort seit dem 14. Jahrhundert Gemäldezyklen der ‘uomini famosi’ entstehen. Auf literarischem Feld gab es seit Petrarcas ‚De viris illustribus‘ kaum einen Humanisten, der die Gelegenheit ausließ, aber auch in Plutarchs und Hieronymus’ Gefolge ein ähnlich tituliertes Werk zu verfassen.5 Wie stark Petrarca und sein Antikewissen die Ausstattung der ,Sala dei uomini famosi‘ in Padua prägte, ist bekannt.6 An die Porträtgalerie des Paolo Giovio († 1552) in Como, an die Skulpturenreihe des Antiquariums in der Münchener Residenz, die skulptierten, gemalten und gedruckten Effigies-Serien von Kaisern und Fürsten, Künstlern und Gelehrten sowie an die Bildorgien historiographischer Frühdrucke (Schedel- und Koelhoff-Chronik etc.) sei nur pauschal erinnert.7 Daß man für Porträtzyklen dieser Art folgerichtig auf die ikonischen Arsenale der Münzen zurückgriff, so etwa Altichiero um 1370 im Scaligerpalast zu Verona,

4

Zu entsprechenden Handschriften-Illustrationen durch Münzbilder siehe unten bei Anm. 122–124. 5 ULRICH MUHLACK: Die Deutung Caesars in der politisch-historischen Literatur italienischer und deutscher Humanisten vom 14. bis zum beginnenden 16. Jahrhundert, in: LUDGER GRENZMANN/KLAUS GRUBMÜLLER u.a. (Hg.): Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse 3/263), Göttingen 2004, 54–85. 6 THEODOR E. MOMMSEN: Petrarch and the Decoration of the ,Sala virorum illustrium‘, in: The Art Bulletin 34 (1952), 95–116; ANNEGRET SCHMITT: Der Einfluß des Humanismus auf die Bildprogramme fürstlicher Residenzen, in: AUGUST B UCK (Hg.): Höfischer Humanismus (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 16), Weinheim 1989, 215–258, bes. 220–234; wichtig MARTINA H ANSMANN: Andrea del Castagnos Zyklus der ,uomini famosi‘ und ,donne famose‘. Geschichtsverständnis und Tugendideal im Florentinischen Frühmittelalter (Bonner Studien zur Kunstgeschichte 3), Münster 1994, 26–98 zum Bildtyp mit mittelalterlichen Vorbildern, 44–56 zu Padua und Petrarca. Warum HANSMANN 29 Anm. 8 gerade die Ruhmesgalerien mit „Medaillonporträts“, wegen des Fehlens „beschreibender Allegorien“ nicht zu den ,uomini famosi‘-Zyklen „im engeren Sinne“ zählt und daher wegläßt, vermag nicht einzuleuchten. Ferner ROBERT STUPPERICH: Die zwölf Caesaren Suetons. Zur Verwendung von KaiserporträtGalerien in der Neuzeit, in: DERS. (Hg.): Lebendige Antike. Rezeption der Antike in Politik, Kunst und Wissenschaft der Neuzeit, Kolloquium für Wolfgang Schiering (Mannheimer Historische Forschungen 6), Mannheim 1995, 39–58, hier 50–58 zu Grabmälern; M ILAN P ELC: Illustrium imagines. Das Porträtbuch der Renaissance (Studies in Medieval and Reformation Thought 88), Leiden 2002. Entsprechend auch das Konzept von JOHN CUNNALLY: Images of the Illustrious. The Numismatic Presence in the Renaissance, Princeton 1999. 7 Als Überblick nicht überholt: P AUL O. R AVE: Paulo Giovio und die Bildnisvitenbücher des Humanismus, in: Jahrbuch der Berliner Museen 1 (1959), 119–154, bes. 119– 121; FRANCIS HASKELL: Die Geschichte und ihre Bilder, Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 21995, 55–63 zu Giovio, 48–50 zum Antiquarium; VÖLKEL: Wahrheit (wie Anm. 3); CUNNALLY: Images (wie Anm. 6), 96.

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hatte bereits Annegret Schmitt gültig herausgestellt und damit Pilotstudien zum Thema Applikation von Münzbildern in der Kunst vorgelegt.8 Der Kult des Ruhms als Kult des menschlichen Porträts gehörte auch zentral zu den sozialen Praktiken des Humanismus. Nam qui litteras et virtutes amant, sagt 1499 Jacob Questenberg in der Widmung seines Traktats über antike Münzen, etiam imagines, tum doctorum hominum, tum illustrium virorum apud se habere student, ne vel in hac parte saltem intereat eorum memoria.9 Das Thema ist ferner eng in eine Geschichte der Antikensammlungen und ihrer sukzessiven Aufbereitung durch Inventare und Bildcorpora geknüpft. Auch die Münzen gehören zu den antiquitates. Antonio Beccadelli berichtet über König Alfons V. von Neapel-Aragon († 1458): „Nach Münzen berühmter Kaiser, vor allem nach denen Caesars, ließ er in seinem großen Eifer ganz Italien durchstöbern und bewahrte sie dann in einer elfenbeinernen Schatulle fast wie Heiligtümer auf. Da andere Bilder der Kaiser schon seit Jahrhunderten zugrunde gegangen, pflegte er zu sagen, erfreue sich sein Herz wenigstens an diesen, und oft werde er durch sie wunderbar begeistert zur Tugend und zu ruhmvollen Taten.“10 Und 1522 gab Henry Peacham, ein Mitglied des höfischen Kreises um Thomas Howard, Earl of Arundel, diese Faszination der Münzen wieder: Während Bücher nur vage Abbilder der Antike böten, seien Münzen „the very antiquity themselves.“ Welch ein Vergnügen sei es „to an ingenious eye to contemplate the faces and heads and in them the character of all these famous emperors, captains, and illustrious men whose actions will ever be admired both for themselves and the learning of the pen that writ them.“11 Da kommt fast alles

8 BERNHARD DEGENHART/ANNEGRET SCHMITT: Die antike Münzkunst im Spiegel neuzeitlicher Bildvorstellung, in: DIES.: Corpus der italienischen Zeichnungen 1300– 1450, Bd. II.2, Berlin 1980, 79–86 (Münzbeschreibungen); ebd. Bd. II.3, Berlin 1980, Taf. 17–20; ebd. Bd. II.5 (wie Anm. 2), 214–227 mit Abb.; ANNEGRET SCHMITT: Zur Wiederbelebung der Antike im Trecento. Petrarcas Rom-Idee in ihrer Wirkung auf die Paduaner Malerei. Die methodische Einbeziehung des römischen Münzbildnisses in die Ikonographie ,Berühmter Männer‘, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 18 (1974), 167–218, hier 189–216; DIES.: Der Einfluß des Humanismus auf die Bildprogramme (wie Anm. 6), 220–234. 9 GIOVANNI MERCATI (Hg.): Questenbergiana, in: DERS., Opere minori IV: 1917–1936 (Studi e Testi 79), Vatikanstadt 1937, 453 f. Zum Traktat siehe unten bei Anm. 83. 10 ANTONIO B ECCADELLI: Aus dem Leben König Alfonsos I., übers. von HERMANN HEFELE (Das Zeitalter der Renaissance. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der italienischen Literatur I/4), Jena 1925, 45 (Buch II). Zu den Sammlungen siehe unten bei Anm. 37–39. 11 HENRY PEACHAM: The Complete Gentleman, London 21634, 197 f., zitiert aus GERRIT W ALTHER: Adel und Antike. Zur politischen Bedeutung gelehrter Kultur für die Führungselite der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 359–389, 369, nach: DAVID HOWARTH: Lord Arundel and his Circle, New Haven/London 1985, 80.

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zusammen: (edel)metallene Materialität, künstlerische Leistung und paränetische Evokativität des Münzporträts. Der folgende Beitrag versucht, das Spektrum ikonischer und antiquarischer Funktionen wenigstens anzudeuten, in denen römische Kaisermünzen in der Renaissance erlebt und genutzt werden konnten. Bekannte Texte und Bilder sollen dabei mit bisher wenig bekannten oder isolierten zusammengebracht werden. Dabei kommen zwei Felder in den Blick, die eng aufeinander bezogen sind: Erstens geht es um die Abbildung, Applikation und Transformation von Münzen und Münzbildern. Diese finden sich in gebauter und gemalter Architektur, in Gemälden und Reliefs, als Illustrationen von Klassikerhandschriften und – zum zweiten Feld überleitend – im ikonischen Arrangement antiquarischer Bildtafelwerke selbst. Der Begriff der „Monumentalisierung“, wie ihn Henning Wrede im Zusammenhang mit letzteren genutzt hat, ist dabei auch in einer geweiteten Bedeutung, als vergrößerte und idealisierte Applikation von Münzen, gut verwendbar. Der umgekehrte Vorgang sei nur angedeutet, nämlich die ‘Medaill(on)isierung’ von Porträts, Figuren und ganzen Szenen in der Renaissance. Diese werden in einen runden (pseudomonetarischen?) oder ovalen Rahmen gezwängt,12 der isolierend und zugleich markierend einen performativen Eigenwert besitzt. Hier wie dort läuft natürlich die alte Tradition des Bildes im Kreis, der imago clipeata, des Tondo, der Mandorla weiter. Ein Frageraster, eine Bildgrammatik der Münze, ist dabei noch zu entwickeln. Mögliche Fragen und Unterscheidungen: In welchen thematischen Kontexten und Rahmen, beziehungsweise auch: in welcher Umrahmung (Kreis, Feston, Epitaph etc.) werden Münzbilder gemalt, im Druck präsentiert? Geben die Bilder ‘originale’ Prägungen als Zitate wieder, mithin Münzen, die sich eigentlich im ‚Roman Imperial Coinage‘ (RIC) und anderen Katalogen auffinden lassen müßten? Das kommt vor, häufiger sind verschiedenartigste Hybridformen. So ist weiter zu fragen: Werden Münzporträts integral, auch farblich, ‘als Münzen’ zitiert oder als dekomponierte Teile (Porträt ohne Umschrift, Rückseitenmotiv, Umschrift allein) neu kontextualisiert? Werden sie mit neuen, münzfremden Umschriften kombiniert? Sind Porträts, die auf Münztypen basieren, in anderen Formen, neu kreiert beziehungsweise idealisiert ‘all’antica’ appropriiert worden, tauchen sie dann etwa in der weißen Farbe von Kameen auf? In welcher Weise werden Zeitgenossen, denen z.B. eine Handschrift gewidmet ist, auf der Titelminiatur als antiker Imperator qua Münzbild dargestellt? Bleibt das Münzbild im Profil oder gibt es graduelle Achsverschiebungen hin zum Frontalbild (beides in Mantegnas Medaillonreliefs römischer Kaiser 12

INGRID P REUSSNER: Ellipsen und Ovale in der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts, Weinheim 1987, bes. 71–84.

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in der Camera degli Sposi in Mantua)? Werden Rückseitenmotive komplett oder in Teilmotiven zitiert, werden sie erkennbar als Münzbild zitiert oder neu kontextualisiert (trauernde Judaea eines Vespasian-Sesterzes als Maria unter dem Kreuz bei Ghiberti; s. Abb. 9). Werden Originalmünzen auf Kunstgegenstände appliziert (auf Reliquiare, Prunkgefäße, Münzschränke etc.)? Auf all dies ist im letzten Teil knapp zurückzukommen.13 Ausführlicher als dieses erste Feld soll zweitens der Umgang mit antiken Kaisermünzen als antiken Sachüberresten, als seriellen Gegenständen ästhetischen und antiquarischen Sammlungs- und Systematisierungsinteresses an frühen Beispielen untersucht werden. Es geht also um einen Beitrag zu einer „Wissenschaftsgeschichte der antiquarischen Forschung“, wie sie vor allen Wrede pflegt und einfordert.14 Sie ist insgesamt eine Geschichte disziplinärer Differenzierung, materialer Serialisierung und Ikonisierung sowie methodischer Professionalisierung, aber dies keineswegs einsträngig und linear. Was interessierte Humanisten primär an Münzen? Welchen Stellenwert – als Quellen? als Kunstwerke? – räumte man ihnen ein? Welche Leistungen – beginnend mit dem Entziffern der Abkürzungen – galten als Expertenwissen? Wie verlagerten oder erweiterten sich hier im Lauf der Zeit die Schwerpunkte? Wie und anhand welcher Kriterien definierbar wurde aus Antikensammeln Numismatik, aus einer „embryonic humanist discipline“ eine altertumshistorische (Hilfs-) Wissenschaft?15 Auch dies ist zum Teil wieder ein Problem der bildlichen Darstellung. Entsprach z.B. der Professionalisierung auch eine zweckdienlich versachlichte Präsentation der Münzen in Sammlungen und Corpora antiquitatum? Im folgenden geht es aber nicht um die großen Münzwerke seit Budé 1515 und Fulvio 1517; nicht Vico, Goltzius oder Strada stehen im Vordergrund, sondern einige wenig beachtete frühere Traktate: metrologisch-anikonische einerseits, illustrierte Bildnisviten andererseits. Dabei stellt sich auch die Frage, ob und wie die Autoren mit Münzen praktisch, in Autopsie also, umgingen. 13

Siehe unten Kapitel V. HENNING W REDE: Die ‘Monumentalisierung’ der Antike um 1500 (Stendaler Winckelmann-Forschungen 3), Stendal 2004, 10, zu numismatischen Werken Anm. 19–22, 85–95, 233, Abb. 52. Vgl. DERS. und R ICHARD HARPRATH (Hg.): Antikenzeichnung und Antikenstudium in Renaissance und Frühbarock, Mainz 1989, 141–156; DERS.: Antikenstudium und Antikenaufstellung in der Renaissance, in: Kölner Jahrbuch 26 (1993), 11– 25. Grundsätzlich DERS.: Die Entstehung der Archäologie und das Einsetzen der neuzeitlichen Geschichtsbetrachtung, in: WOLFGANG KÜTTLER u.a. (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. II: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt am Main 1994, 95–119. [Zum Antikenstudium in Rom bereits früh: Arnold Nesselrath: Raphael’s Archeological Method, in: Raffaello a Roma. Il Convegno di 1983, Rom 1986, 357–371.] 15 DONALD R. KELLEY: Humanism and history, in: ALBERT RABIL JR. (Hg.): Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy III, Philadelphia 1988, 245 (unzureichende Literatur). 14

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II. Zur Forschungslage Eine systematische Darstellung fehlt,16 aber das Vorhandene ist beachtlich. Das wegwerfende Ignorieren der antiquarischen Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts gerade bei Theodor Mommsen, dem Gründer des CIL und des römischen Münzwerks,17 ist bekannt. Arnaldo Momiglianos Appell (1950), die Antiquare der Ära vor Niebuhr und Mommsen neu zu würdigen, blieb zunächst ohne Wirkung; er schloß die frühe Numismatik ein, zielte aber eng auf eine Geschichte der Althistorie und konnte damals die enorme Vielfalt der frühneuzeitlichen Drucke kaum überblicken.18 Die Fortschritte in der Wissenschaftsgeschichte der antiquarischen Studien beziehungsweise der sog. Hilfswissenschaften sind seither beachtlich. Vieles ordnet sich auch in den ganz allgemeinen Fragehorizont ‘Antikerezeption’ ein, wobei hier nur das von Salvatore Settis herausgegebene Monumentalwerk genannt sei.19 Gerade in der Numismatik als – für Mittelalter und Neuzeit – stets etwas hermetischer Festung sind Öffnungen zur Archäologie und Buchwissenschaft, zur Kunst- und Kulturwissenschaft sowie Studien zur Geschichte der Numismatik als Wissenschaft zu konstatieren,20 naheliegenderweise zunächst mit bibliographisch orientierten Überblicken; der deutliche Schwerpunkt liegt auf den Münzwerken der Frühen Neuzeit.21 Die Fülle 16 ARNE F. FLATEN: Coins and medals, in: Encyclopedia of the Renaissance 2 (1999), 33–36. 17 Vgl. HANS M. VON KAENEL/MARIA R. ALFÖLDI u.a. (Hg.): Geldgeschichte vs. Numismatik. Theodor Mommsen und die antike Münze, Berlin 2004. Die Bände des CIL registrierten allerdings minutiös frühe Inschriftensammlungen und -sammler. 18 ARNALDO MOMIGLIANO: The Rise of Antiquarian Research, in: DERS.: The Classical Foundation of Modern Historiography, Berkeley/Los Angeles 1990, 54–79. Zu MOMIGLIANO in diesem Zusammenhang M ARTIN O TT: Die Entdeckung des Altertums. Der Umgang mit der römischen Vergangenheit Süddeutschlands im 16. Jahrhundert, Kallmünz 2002. 19 SALVATORE SETTIS (Hg.): Memoria dell’antico nell’arte italiana, 3 Bde., Bd. I: L’ uso dei classici, Turin 1984, Bd. II: I generi e i temi ritrovati, Turin 1985, Bd. III: Della tradizione all’archeologia, Turin 1986. 20 Ältere an ERNEST B ABELON anknüpfende Versuche: ELVIRA E. CLAIN-STEFANELLI: Numismatics – an Ancient Science. A Survey of its History (Contributions from the Museum of History and Technology. Paper 32), Washington 1965, bes. 11–21; eklektisch MARIA R. ALFÖLDI: Einleitung. Die Forschungsmethoden der antiken Numismatik, in: DIES., (Hg.): Methoden der antiken Numismatik (Wege der Forschung 529), Darmstadt 1979, 1–42, bes. 3–12. 21 ISOTTA S. C ICIANI: La letteratura numismatica nei secoli XVI–XVIII, Rom 1980; FERDINANDO B ASSOLI: Monete e medaglie nel libro antico dal XV al XIX secolo (Biblioteconomia e Bibliografia. Saggi e Studi 21), Florenz 1985 (Aufsatzsammlung); A testa o croce. Immagini d’arte nelle monete e nelle medaglie del Rinascimento. Esempi della collezione del Museo Bottacin, Padua 1991; PETER BERGHAUS/CHRISTIAN E. DEKESEL (Hg.): Numismatische Literatur 1500–1864. Die Entwicklung der Methoden

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der Studien zur Geschichte und Druckikonik der antiquarischen Forschung, wie sie Wrede, Heenes oder Cunnally betreiben, setzt eben in der Regel – objektabhängig – erst im 16. Jahrhundert mit Andrea Fulvio (1517) ein.22 Umgekehrt haben die moderne Kultur- und Kunstgeschichte erst ansatzweise das heuristische Feld der Münze entdeckt. Deutlich größere Vorarbeiten bestehen auf dem Feld der eng verbundenen, von Humanisten wie Poggio Bracciolini, Ciriaco d’Ancona, Felice Feliciano begründeten Epigraphik.23 Im einzelnen seien genannt: Eine wertvolle, in vieler Hinsicht nicht überholte Sammlung des Materials für alle Bereiche des Antiquarischen in Italien auch vor 1500, darunter die Münzen, werden dem italo-englischen Forscher Roberto Weiss (1906–1969) verdankt, der letztlich aber noch der traditionellen Vorstellung des methodischen Erkenntnisfortschritts, hier:

einer Wissenschaft (Wolfenbütteler Forschungen 64), Leipzig 1995; CHRISTIAN E. DEKESEL: In Search of the Unknown: Numismatic Publications of the 16th Century, in: B ERND KLUGE/B ERND W EISSER (Hg.): XII. Internationaler numismatischer Kongress Berlin 1997. Akten-Proceedings-Actes I, Berlin 2000, 53–69; CHRISTIAN DEKESEL/ THOMAS STÄCKER (Hg.): Europäische numismatische Literatur im 17. Jahrhundert (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 42), Wiesbaden 2005. Vgl. auch den Tagungsband: RAINER ALBERT/RAINER CUNZ (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Numismatik (Schriftenreihe der Numismatischen Gesellschaft Speyer 36), Speyer 1995. 22 Zu W REDE siehe Anm. 14; MARGARET DALY. D AVIS: Archäologie der Antike. Aus den Beständen der Herzog-August-Bibliothek 1500–1700 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 71), Wiesbaden 1994, hier bes. 97–109; VOLKER HEENES: Numismatik und Archäologie im 16. Jahrhundert, in: KLUGE/W EISSER (wie Anm. 21), 92– 100; DERS.: Antike in Bildern (wie Anm. 2), 19–40 zur Numismatik; siehe auch die folgenden Anm. 23 Zur Epigraphik: ROBERTO W EISS: The Renaissance Discovery of Classical Antiquity, Oxford u.a. 21988, 145–166; MARIA P. B ILLANOVICH: Una minera di epigrafi e di antichità. Il Chiostro Maggiore di S. Giustina a Padova, in: Italia Medioevale e Umanistica 12 (1969), 197–292; D ALY DAVIS: Archäologie (wie Anm. 22), 82–96; PETER A. HEUSER: Jean Matal. Humanistischer Jurist und europäischer Friedensdenker (1517– 1597), Köln/Weimar 2003, 89–129; M ARTIN OTT: Römische Inschriften und die humanistische Erschließung der antiken Landschaft: Bayern und Schwaben, in: FRANZ BRENDLE/D IETER MERTENS u.a. (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus (Contubernium 56), Stuttgart 2001, 213–226; OTT: Entdeckung (wie Anm. 18), 39–82 zu Münzfunden und -forschungen, 83–260 zu Inschriftenfunden und – sammlungen. Vgl. auch die Literatur zu Peutinger unten Anm. 110–113: Zur Glyptik: DALY D AVIS: Archäologie (wie Anm. 22), 110–116; P ETER und HILDE ZAZOFF: Gemmensammler und Gemmenforscher. Von einer noblen Passion zur Wissenschaft, München 1983; DIES.: Vom Gemmensammeln zur Glyptikforschung, in: HERBERT B ECK u.a. (Hg.): Antikensammlungen im 18. Jahrhundert (Frankfurter Forschungen zur Kunst 9), Berlin 1981, 363–378. – Facettenreich skurril: J ÜRGEN HARTEN (Hg.): Das fünfte Element – Geld oder Kunst. Ein fabelhaftes Lexikon zu einer verlorenen Enzyklopädie. (Ausstellung Kunsthalle Düsseldorf), Ostfildern 2000.

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einer zusehends antiquarisch fixierten Avantgarde, verhaftet bleibt.24 Francis Haskells ,Geschichte und ihre Bilder‘ (1993)25 geht es wesentlich um die Rolle der Bilder als Quellen in einer methodisch einseitig philologisch, durch Texte geprägten Historie, die dem Bild in der Regel „eine gänzlich untergeordnete Rolle als mögliche Erkenntnisquelle zugewiesen habe.“ Vor diesem Hintergrund wendet er sich der Geschichte der antiquarischen Forschung zu, beginnend mit den „frühen Numismatikern.“ Ganz auf Münzen und Münzstudien richten sich die grundlegenden Arbeiten des Kunsthistorikers und Numismaten John Cunnally. Die Dissertation ‚The Role of Roman Coins in the Art of the Italian Renaissance‘ (1984) analysiert u.a. erstmals detailliert die Prägungen aus zwei rekonstruierbaren Münzsammlungen der Renaissance, um sich darauf der Applikation von Münzbildern in Werken der Malerei zuzuwenden. Das zweite Buch ‚Images of the illustrious‘ (1999) widmet sich vor allem den Bildnisvitencorpora seit Fulvio, aber auch generell der ikonischen und heuristischen Valenz der antiken Münzen.26 Zu Einzelfiguren sind die biographisch eingebetteten Studien von Lemburg-Ruppelt über Enea Vico,27 Ingo Herklotz über Cassiano da Pozzo28 und Peter Arnold Heuser über den Diplomaten und Antiquar der respublica litteraria Jean Matal (1517–1597) hervorzuheben.29 ‚Die Entdeckung des 24

WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 167–179 zur Numismatik. Vgl. ROBERTO WEISS Vorstudien: Lineamenti per una storia degli studi antiquari in Italia dai dodicesimo secolo al Sacco di Roma del 1527, in: Rinascimento 9 (1958), 141–201, zur Numismatik 187 f.; sowie, ähnlich wie das Buch, DERS.: The Study of Ancient Numismatics during the Renaissance (1313–1517), in: Numismatic Chronicle 17 (1976), 177–187. Würdigungen von W EISS bei ASTRIK G ABRIEL/P AUL O. KRISTELLER/KENNETH M. SETTON: Roberto Weiss, in: Speculum 46 (1971), 574 f.; OTT: Entdeckung (wie Anm. 18), 17–19. 25 HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), hier 23–36 über die frühen Numismatiker, 37– 54 über Münzsammlungen, Bildtransformationen von Münzen; Zitat 24. Zu HASKELL zentral: W OLFGANG HARDTWIG: Der Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis Haskell, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 305–322. 26 CUNNALLY: Images (wie Anm. 6), vgl. die Rezension von MARKUS VÖLKEL, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), 753 f.; wichtig auch J OHN CUNNALLY: Ancient Coins as Gifts and Tokens of Friendship during the Renaissance, in: Journal of the History of Collections 6/2 (1994), 120–143. 27 EDITH LEMBURG-RUPPELT: Enea Vico – ein Künstler-Antiquar des 16. Jahrhunderts. Die Bedeutung seines Werks für die Numismatik als historische Hilfswissenschaft, 3 Bde., Phil. Diss. FU Berlin 1988 (masch.); DIES.: Vera Historia. Numismatik um 1550, in: KLUGE-W EISSER (wie Anm. 21), 114–122. 28 INGO HERKLOTZ: Cassiano dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana 28), München 1999, hier 22, 436 s.v. ‘Numismatik’; dazu die wichtige Rezension von MARKUS VÖLKEL: Das Altertum auf der Suche nach seiner Geschichte, in: Zeitschrift für historische Forschung 28 (2001), 263– 275. 29 HEUSER: Matal (wie Anm. 23), zu den antiquarischen Studien im 16. Jahrhundert bes. 59–130, 249–314.

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Altertums‘ untersucht Martin Ott (2002). Ausgehend von Münz- und Inschriftenfunden lotet er regionale „Assoziationsfelder“ dieser Realien aus, und konstatiert einen – historisierenden – Wandel des Blicks auf die antike Münze „vom heidnischen Pfennig“ zur „antiquitetischen“ antiken „Realie“ – als Quelle.30 Daß das beträchtliche „heuristische Potential einer kulturhistorisch ausgerichteten Numismatik“31 bisher nur ungenügend genutzt wurde, dürfte auch nach dieser Umschau außer Frage stehen. Wer von der Renaissance spricht, spricht automatisch vom ‘Davor’, also vom ‘Mittelalter’. Das breite Feld der Antikerezeption und der Antikenstudien dieser Epoche kann hier nicht Thema sein. Über Wahrnehmung und Verwendung antiker Münzen als ‘Realien’ liegen für das Mittelalter zumindest keine systematische Studien vor.32 Die Breite der Funktionen antiker Münzen in mittelalterlichen Diskursen liegt zwischen Edelmetall in Form von gemünztem Geld im Hort (M. Hardt), dekorativem Wertobjekt, Schatzfund, Gegenstand von Magie, Brauch und Aberglauben sowie Motivträger für Kunstwerke. Lukas Clemens’ Materialsichtung, wie das Mittelalter mit den verbleibenden antiken Monumenten umging, bietet gute Ansätze.33 30 OTT: Entdeckung (wie Anm. 18), 78–82. Das Adjektiv ‘heidnisch’ wurde allgemein im Sinne von vorchristlich verwendet. Vgl. CORNELIA W OLLF: Die Beschreibung ur- und frühgeschichtlicher Funde in gedruckten Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern. Jahrbuch 42 (1994), 191–217. 31 VÖLKEL: Rezension CUNNALLY (wie Anm. 26), 754. 32 M ICHAEL GREENHALGH: The Survival of Roman Antiquities in the Middle Ages, London 1989, dazu: ARNOLD ESCH: Nachleben der Antike und Bevölkerungsvermehrung, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 70 (1990), 656–672; HERMANN MAUE/LUDWIG VEIT (Hg.): Münzen in Brauch und Aberglauben. Schmuck und Dekor – Votiv und Amulett – Politische und religiöse Selbstdarstellung. Katalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Mainz 1982, bes. 196–208, 252–255; HANS-W ERNER NICKLIS: Geldgeschichtliche Probleme des 12. und 13. Jahrhunderts im Spiegel zeitgenössischer Geschichtsschreibung, in: Numismatische Studien 8/1–2 (1983), hier 104–118 über frühe Schatzfunde. [RAINER KASHNITZ: Ein Bildnis der Theophanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillion-Bildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: ANTON VAN EUW/P ETER SCHREINER (Hg.): Kaiserin Theophanu. Begegnungen des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, Bd. 2, Köln 1991, 101–134.] 33 LUCAS C LEMENS: Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 50), Stuttgart 2003, bes. 231 f., 395–398; DERS.: Aspekte der Nutzung und Wahrnehmung von Antike im hochmittelalterlichen Trier, in: RICHARD K IRCHGÄSSNER/HANS-PETER B ECHT (Hg.): Stadt und Archäologie (Stadt in der Geschichte 26), Stuttgart 2000, 61–80; MATTHIAS HARDT: Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend (Europa im Mittelalter 6), Berlin 2004, hier 60–67; VERONIKA W IEGARTZ: Antike Bildwerke im Urteil mittelalterlicher Zeitgenossen (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 7), Marburg 2004.

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Nicht in Betracht gezogen wird hier die eigene Münz- beziehungsweise Medaillenproduktion der Renaissance. Die italienische Münzprägung blieb bis in das spätere 15. Jahrhundert auffallend unscheinbar, schien kaum von der Renaissance berührt und fand denn auch in der Forschung über Münzspezialisten hinaus kaum Interesse.34 Dagegen ist das von der Antike zwar inspirierte, aber doch stark innovative Medaillenschaffen, das 1390/92 in Padua und Venedig, dann erneut 1438/39 mit Pisanello einsetzte und das wie nie zuvor die Zurschaustellung und Mobilität des Porträts ermöglichte, in die allgemeine Forschung – wenn auch noch nicht hinreichend – integriert.35

III. Die Faszination des Humanisten vom Münzbild. Frühe Münzsammler und Sammlungen „Das Sammeln von Münzen hatte ja“, so Paul Joachimsohn, „überhaupt erst der Humanismus aufgebracht.“36 Das ist cum grano salis richtig. Es ist jenes Milieu der ersten Humanistengenerationen, eines Poggio, Niccoli, Traversari, später auch der deutschen Humanisten wie Pirckheimer, Erasmus, Peutinger, deren ‘Scoperte’ zwar vor allem Klassikerhandschriften galten, die aber fast alle auch für antike ‘Realien’, wie Münzen, Gemmen, Inschriften und Baudenkmäler aufgeschlossen waren, und sie – unsystematisch noch –, sammelten, sich untereinander darüber austauschten, oft genug Münzen und Medaillen schenkten und verschickten. Gerade Münzen vermögen Urinstinkte des Sammelns überhaupt zu erregen: Faszination vom Seriellen, Jagd nach dem Raren, Bergen und Genuß eines privaten Schatzes. Die „Nummomania“ (Cunnally) wurde wie das Sammeln anderer Antiken nicht nur Mode, sondern statusrelevant auch bei 34 Vgl. aber HANS NUßBAUM: Fürstenportraits auf italienischen Münzen des Quattrocento, in: Zeitschrift für Numismatik 35 (1925), 145–192. 35 A testa o croce (wie Anm. 21); HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 37–73 mit guten Beispielen künstlerischer Transformationen; STEPHEN SCHER (Hg.): The Currency of Fame. Portrait Medals of the Renaissance, New York 1994; DERS.: The Renaissance Portrait Medal in its art-historical Context, in: KLUGE/W EISSER (wie Anm. 21), 1442– 1457. Eindrucksvoll: LORE B ÖRNER (Hg.): Bestandskataloge des Münzkabinetts Berlin. Die italienischen Medaillen der Renaissance und des Barock (1450 bis 1750), Berlin 1997. [Jetzt: Geschichte der Renaissance. Meisterwerke der italienischen Portraitkunst, hg. von KEITH CHRISTIANSEN/STEFAN W EPPELMANN, Berlin/München 2011.] – Vgl. zu den Siegelbildern T ONI D IEDERICH: Anfänge der Renaissance in der Siegelkunst des Rheinlandes, in: NORBERT NUßBAUM u.a. (Hg.): Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und in den Nachbargebieten um 1500, Köln 2003, 327–341. 36 P AUL J OACHIMSOHN (Hg.): Hans Tuchers Buch von den Kaiserangesichten, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Nürnbergs 11 (1895), 1–86, hier 14.

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Päpsten, darunter der ‘nummomanische’ Paul II., Pietro Barbo (1464–71), bei Kardinälen und Fürsten wie Alfons V., bis hin zu Stadträten.37 Die Sammlung Barbos muß selbst die der Medici und Este an Stückzahl und Wert übertroffen haben. Das erhaltene Verzeichnis des Notars Giovanni Pierti macht sie bis in Einzelheiten rekonstruierbar. Wir wissen zum Beispiel genau, daß er 12 Aurei und 60 Silbermünzen Trajans, auch Rarissima wie einen Aureus des Florianus († 276) besessen hat.38 Münzen in ihrer mobilen Bildträchtigkeit gehören also neben Inschriften, Gemmen und Skulpturen zum festen Bestandteil von Wunderkammern und Antikensammlungen in Italien, besonders früh – und von der Forschung gut aufgearbeitet – in Venedig, dann im übrigen Europa. Das setzte einen entsprechenden Markt voraus. Schon aus dem Jahr 1335 ist eine Kaufliste des Notars Olivero Forzetta aus Vicenza bekannt, nach der er in Venedig Antiken kaufen ließ, darunter Münzen und Medaillen.39 Von den 37 Literatur kann nur ganz selektiv genannt werden: wichtig J OHN CUNNALLY: The Role of Greek and Roman Coins in the Art of the Italian Renaissance, Diss. Univ. of Pennsylvania 1984, 60–101 zu den Sammlungen Petrarcas, 102–212 zu Pietro Barbo/ Paul II.; DERS.: Coins as Gifts (wie Anm. 26), 132–135; DERS.: Images (wie Anm. 6), 40– 52 (zur „Nummomania“); OTT: Entdeckung (wie Anm. 18), 20–25, 72–77. Quellen: G IUSEPPE CAMPORI: Raccolta di cataloghi ed inventarii inedite di quadri, statue, disegni ... dal secolo XV al secolo XIX, Modena 1870 (Neudruck 1975); EUGÈNE MÜNTZ: Les arts à la Cour des Papes pendant le XV e et le XVIe siècles. Recueil de documents inédits tirés des Archives et des Bibliothèques Romaines, Bd. I–III, Paris 1878–82 (Neudruck Hildesheim u.a. 1983), hier Bd. II, 160–180: Berichte über Antikensammlungen. Ferner DERS.: Precursori e propugnatori del Rinascimento, Florenz 1920; WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 180–202; RENATE VON B USCH: Studien zu deutschen Antikensammlungen des 16. Jahrhunderts, Diss. Frankfurt am Main 1973; MAUE/VEIT (Hg.): Münzen in Brauch und Aberglauben (wie Anm. 32), 196–205; M ICHELE ZORZI (Hg.): Collezioni di antichità a Venezia nei secoli della Repubblica. Catalogo, Venedig 1988, bes. 11–24, 52 jeweils Kurzviten und Literatur; WREDE: Antikenstudium (wie Anm. 14); LAURIE FUSCO/GINO CORTI: Lorenzo de’ Medici. Collector and Antiquarian, Cambridge 2006, bes. 83–91. 38 MÜNTZ (Hg.): Les arts (wie Anm. 37), Bd. II, 181–287; danach grundlegende Analyse der Sammlung Pauls II. bei CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 102–212, mit Listen nach Anzahl und Art der Münzen pro Kaiser 180–182, ebd. 150–177 Inventar der Münzen aus der römischen Republik. Ferner ROBERTO W EISS: Un Umanista veneziano: Paulo II (Civiltà Veneziana. Saggi 4), Rom/Venedig 1958, 27–32, 83–90; CLAIN STEFANELLI: Numismatics (wie Anm. 20), 13. Als Beispiel eines Stadtrats siehe unten nach Anm. 95 den Stadtrat von Nürnberg. 39 Umfassend zu Venedig: Z ORZI: Collezioni (wie Anm. 37), und die Kataloge der Venezianer (1997) und Bonner (2002) Ausstellungen: I RENE FAVARETTO/GIOVANNA LUISA RAVAGNAN (Hg.): Lo Statuario Pubblico della Serenissima. Due secoli di collezionismo di antichità 1596–1797, Cittadella 1997, darin G IOVANNI GORINI: Lo Statuario Pubblico: il collezionismo numismatico 132–138. Wichtig G IANDOMENICO ROMANELLI u.a. (Hg.): Venezia. Kunst aus venezianischen Palästen. Sammlungsgeschichte Venedigs vom 13. bis 19. Jahrhundert, Bonn 2002, mit Beiträgen von I RENE FAVARETTO: Antikensammlungen in Venedig: Ein historischer Streifzug vom 14. zum 19. Jahrhundert, 34–42, M ICHELE ZORZI: Büchersammlungen in Venedig, 43–55; M ICHELE ASOLATI: Francesco Petrarca und seine numismatische Sammlung 72–79, bes. 72–74 mit Nr. 20–33; DERS.:

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Paradehumanisten im Reich war bekannt, daß sie Münzen sammelten, Willibald Pirckheimer in Nürnberg, Konrad Peutinger in Augsburg, Johann Fuchsmagen († 1510) in Innsbruck und Wien, in Basel die Amerbachs, die auch des Erasmus kleine, erlesene Sammlung kauften.40 Cuspinian besaß in Wien eine große Bibliothek und bewunderte Münzsammlung, die er bereitwillig öffentlich vorführte, so daß Berichte über sie kursierten. So schwärmte Ulrich Fabri darüber im Stil der Praeteritio. Taceo instrumenta egregie exculpta. Taceo picturas mirae cuiusdam antiquitatis effigiem prae se ferentes non sine magna inspicientium oblectatione. Quid referamne tot diversae formae nomismata atque imagines, quibus hac nostra tempestate nulli secundus existit … Ipse facundissimus universis dat liberum accessum.41

Die Serialität wie die technischen Medien und die Möbel der Präsentation von Antiken (Schaukästen, Bretter mit vorgefertigten Löchern, Münzschränke mit Schubladen42) gingen mit dem Prozeß einer ‘Verwissenschaftlichung’ Hand in Hand. Das dürfte in der florierenden Sammlungsforschung unumstritten sein. Über den Rahmen der Antikestudien hinaus sind historische und sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen des Sammlungswesens weiter auf den Weg zu bringen.43 Die humanistische Brief- und Traktatliteratur, auch die wegen numismatischer oder epigraphischer Exkurse häufig genannten Opera von Poggio Bracciolini, FlaDie Geschichte der venezianischen Münzsammlungen, 220–231 mit Nr. 142–170. – Zu Olivero Forzetta FAVARETTO (wie oben), 36, ZORZI (wie oben), 44 f.; MÜNTZ (Hg.): Les arts (wie Anm. 37), Bd. II, 163 f. Von fürstlichen Sammlungen aus dem Norden, die hier übergangen werden müssen, war besonders die Sammlung des Jean III, Duc de Berry († 1416) bekannt, mit einem Inventar von 1424. 40 VON BUSCH: Studien (wie Anm. 37); SUSANNE GRUNAUER VON H OERSCHELMANN: Basilius Amerbach and his Coin Collections, in: MICHAEL H. CRAWFORD/C. R. LIGOTA/J. B. TRAPP (Hg.): Medals and Coins from Budé to Mommsen (Warburg Institute Surveys and Texts 21), London 1990, 25–52 unter Auswertung unpublizierter Briefe; RICHARD COOPER, Collectors of Coins and Numismatic Scholarship in Early Renaissance France, in: ebd. 5–24. 41 HANS ANKWICZ-K LEEHOVEN (Hg.): Cuspinians Briefwechsel (Humanistenbriefe 2), München 1933, 181–185 Nr. 61, hier 182: Juli 1517 Ulrich Fabri an Cuspinians Sohn Sebastian Felix. Dazu, wie zur Kommunikation der Humanisten überhaupt, auch ALBERT SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters, Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien. Neue Folge 4), Köln/Weimar/Wien 2003, zum Zitat 146 f. 42 Für die Zeit vor dem 16. Jahrhundert scheint darüber wenig bekannt; einige Hinweise in: MAUE/VEIT (Hg.): Münzen in Brauch und Aberglauben (wie Anm. 32), 196– 208. Siehe auch unten bei Anm. 95 und 132. Auch die Literatur zum ‘Studiolo’ ist hier zu prüfen: W OLFGANG LIEBENWEIN: Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600, Berlin 1977. 43 Zum Kunstmarkt M ICHAEL NORTH: Kunst und bürgerliche Repräsentation in der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), 29–56, zu Sammlungen bes. 36– 47; W ALTHER: Adel und Antike (wie Anm. 11); HORST BREDEKAMP: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Frankfurt am Main 22000.

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vio Biondo, Giovanni Tortelli, Angelo Poliziano, Filippo Beroaldo und diversen deutschen Humanisten, sind zu diesem Sektor noch nicht systematisch durchgearbeitet.44 Am Anfang hatte auch hier Petrarca gestanden.45 In den vielzitierten Textstellen kommt bereits vieles später Prägende zur Sprache: die Faszination von Physiognomien, die ihm Münzen vermitteln, die Verbindung von Münzbildern mit anderen Altertümern (Skulpturen), die stark herrscherparänetische Aura der Kaiserporträts. Im Brief an Lelli di Stefano berichtet er von seinen Bemühungen um Kaiser Karl IV. anläßlich einer Begegnung: seine Paränese, es den großen Kaisern und ihren Tugenden nachzutun, wird durch eine Gabe von Kaisermünzen aus seinem eigenen Besitz symbolgestisch unterstützt; darunter habe sich ein Augustus-Bild befunden, das – so realistisch lebensecht ist es – beinahe atmet (paene spirans).46 Die Münzbilder mit ihrer Schrift (aureas argenteasque nostrorum principum effigies minutissimis ac veteribus literis inscriptas) sind Exempla für die Adhortation, zugleich aber Gegenstand antiquarischen Interesses.47 Das Fasziniertsein vom Physiognomisch-Individuellen zeigt sich wieder, als Petrarca ein Bild Kaiser Vespasians identifizierte (simil44

Dazu immer noch W EISS: Discovery (wie Anm. 23), 174–176. Die Petrarca-Literatur ist hier nicht aufzulisten. Speziell zu den numismatischen Interessen: CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 60–101, leider nur mit englischen Quellenzitaten; WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 37 f.; SCHMITT: Einfluß (wie Anm. 6), 218– 234; HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 23f. 32, 37; PELC: Illustrium imagines (wie Anm. 6), 76–84; ASOLATI: Petrarca (wie Anm. 39), hier 72–74 mit Nr. 20–33, und die Literatur in Anm. 6 und 48. Vgl. auch ANGELO MAZZOCCO: The Antiquarianism of Francesco Petrarca, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 7 (1977), 203–224. 46 Ep. fam. XIX 3, 14–15 (1355 Februar 25): Sumpta igitur ex verbis occasione, aliquot sibi aureas argenteasque nostrorum principum effigies minutissimis ac veteribus literis inscriptas, quas in deliciis habebam, dono dedi, in quibus et Augusti Cesaris vultus erat pene spirans. ,Et ecce‘, inquam, ,Cesar, quibus successisti, ecce quos imitari studeas et mirari, ad quorum formulam atque imaginem te componas, horum mores et nomina, horum ego res gestas norim, tuum est non modo nosse sed sequi; tibi itaque debebantur.‘ Sub hec singulorum vite summam multa brevitate perstringens, quos potui ad virtutem atque ad imitandi studium aculeos verbis immiscui. Quibus ille vehementer exhilaratus, nec ullum gratius accepisse munusculum visus est; BERTHE W IDMER (Hg.): Francesco Petrarca: Aufrufe zur Errettung Italiens und des Erdkreises. Ausgewählte Briefe, Basel 2001, 432–434. Dazu WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 37 f.; SCHMITT: Wiederbelebung (wie Anm. 8), 167 f.; DIES.: Einfluß (wie Anm. 6), 220–222; CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 71–73. 47 Die gilt in hohem Maß auch für den Brief des Dichters Niccolò Beccari aus Ferrara, einem Bekannten Petrarcas, der seinerseits 1377 an Karl IV. über einen Denar Caesars (= Augustus) schreibt, Petrarca habe gesagt, dies Münzbild (Gaii Iulii Cesaris effigiies, etate adolescenti, in hoc argenti sculpta numismate deaurato) drücke dessen Wesen und Taten genauestens aus: hanc illius formam seu effigiem proprissimam fore; HANNO HELBLING (Hg.): Le lettere di Nicolaus de Beccariis (Niccolò da Ferrara), in: Bollettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 76 (1964), 241– 289, hier 244–246, 281 f. (Text); dazu CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 84 f. 45

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lima facies) und dabei schriftliche Belege mit den Porträts auf verschiedenen Münzprägungen verglich. Dieser Transfer der Quellenbereiche ist aber auch methodisch richtungweisend: Nitenti enim atque impellenti simillimam faciem habuisse eum (sc. Vespasian) et scriptores rerum tradunt et imago vultus sui, que vulgo adhuc aureis vel argenteis eneisque numismatibus insculpta reperitur, iudicat.48

Petrarca gehörte selbst zu den Sammlern. Wie schnell der Humanist als Experte für klassische Texte in den Ruf geriet, Fachmann für alles Antike zu sein, also auch für Münzen und ihre Bilder, zeigt sich an Ambrogio Traversari. Der Kamaldulenser aus Florenz, eigentlich als Kenner der Kirchenväterhandschriften ausgewiesen, wurde eingeladen, sich auch Münzsammlungen anzusehen und Expertisen abzugeben. In Briefen an Niccolò Niccoli berichtete er von einer solchen Reise nach Venedig von April bis Juni 1433. Im Kloster S. Michele di Murano traf er mit Ciriaco d’Ancona einen Großen der frühen Altertumskunde, der ihm griechische Münzen von Lysimachos, Philipp und Alexander von Makedonien sowie einen Kameo in lapide onychino ... summae elegantiae vorlegte. Traversari lernte in Venedig Francesco Barbaro, Pietro Tommasi, Benedetto Dandolo und andere als Sammler von antiken Münzen kennen.49 Er erhielt selbst einmal eine Münze zum Geschenk, auf die er – Mönch hin, Armut her – so stolz war, daß er sie behielt. Wichtig ist hier das Element der geradezu aufgedrängten Kennerschaft. Niccoli seinerseits, der arbiter elegantiarum latinarum in Florenz, war als Sammler geradezu berüchtigt: „In seinem Haus“, berichtet Vespasiano da Bisticci, „bewahrte er unzählige Medaillen aus Bronze, Silber und Gold 48 Francesco Petrarca: Rerum memorandarum libri, hg. von G IUSEPPE B ILLANOVICH, Florenz 1945, 95 c. 73. Dazu u.a. WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 37 f., „Roman coins show Petrarch as a true antiquarian“ (38); SCHMITT: Wiederbelebung (wie Anm. 8), 189; DIES: Einfluß (wie Anm. 6), 228 mit Anm. 16. Einen ähnlichen Transfer leistete Petrarca beim Porträt Gordians III. († 244), als er mit Blick auf eine Skulptur (oder Münze?) dieses Kaisers die Differenz zwischen der Aussage der Historia Augusta (forma conspicuus) und der von ihm erfaßten Realität formulierte: Si hoc verum fuit, malum habuit sculptorem; zitiert nach W EISS: Discovery (wie Anm. 23), 36. Für HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 23 war dies ein „bedeutender Meilenstein in der Geschichte des historischen Denkens“. – Man beachte, daß auch Vasari den „perfette figure“ im Münz- und Medaillenbild den Vorrang vor dem gemalten Porträt gab; ALFRED A. STRNAD: Die Rezeption der italienischen Renaissance in den österreichischen Erblanden der Habsburger, in: GEORG KAUFMANN (Hg.): Die Renaissance im Blick der Nationen Europas (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung 9), Wiesbaden 1991, 135–226, hier 185. 49 Multa enim id genus numismata Venetiis haberi apud plerosque nobilium, quae videnda mihi attulissent; Ambrosii Traversarii Generalis Camaldulensium... Latinae Epistolae a domno Canneto in libros XXV tributae ... I, Florenz 1759 (Neudruck Bologna 1968), 411–417; ZORZI: Collezioni (wie Anm. 37), 15 f. (Zitat); WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 169.

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auf, dazu viele antike Figuren aus Messing, Büsten aus Marmor und andere bedeutende Dinge mehr.“50 Wieder anders gelagert, und reichlich skurril ist eine Lehrstunde über Münzen, die Enea Silvio Piccolomini, ‘Apostel’ der Diffusion des Humanismus in Mitteleuropa, gab. Während einer Predigt zum Ambrosiusfest auf dem Basler Konzil 1438 flicht er in seine ca. zweistündige Rede eine gelehrte Digression nach Plinius (Nat. hist. 18, 3) über Münzen des republikanischen Roms ein.51 Der Kontext ist freilich ein moraltheologischer: Es ging um die Avaritia, das Laster, das essenziell mit Geld verbunden ist. Enea referiert Plinius über die frühe Zeit, als es nur Bronzewährung (sc. Aes grave) gab, zu den frühen Silberdenaren mit ihren Bigen und Quadrigen auf der Rückseite, der Einführung der Goldmünze, schließlich der Etymologie des Worts pecunia von pecus = Vieh. Was sich, flankiert von längeren Zitaten aus Lucan, Boethius und Vergil, anschließt, ist eine physiognomische, auf den vultus gestützte Psychologie des Geizes.52 Motiviert war der Exkurs wohl einzig als Aristie klassischer Bildung. Mit seiner Mischung aus Kunde der Münznominale, Etymologica und Klassikerbelegen wirkt er zugleich wie ein frühes Vorspiel jener metrologischen Traktate, die im folgenden zu besprechen sind.53 Die Mobilität und Symbolträchtigkeit der antiken Münze oder der neuen Renaissancemedaille machte sie ideal auch als Geschenk, das sowohl in der fürstlichen Gabenkommunikation wie in derjenigen der humanistischen Corona buchstäblich spektakulär war. Man schickte sich nicht nur Nachrichten über Handschriften, sondern auch – materiell – Münzen zu. Die 50 BERND ROECK (Hg.): Vespasiano da Bisticci. Große Männer und Frauen der Renaissance, München 1995, 350; fast wörtlich erneut ebd. 354. 51 Dazu J OHANNES HELMRATH: Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara-Florenz, in: GRENZMANN/GRUBMÜLLER u.a (Hg.): Präsenz der Antike (wie Anm. 6), 9–54, hier 38 f. 52 Lucan, Bell. Civ. VI, 402–405; Boethius: Cons. II, poesie 5, 27–30; Verg.: Aen. 3, 116–118. Fortgang der Rede: Humanus vultus non hominem significat esse avarum, sed monstrum, sub cujus aspectu placido latet truculenta bestia ad omne nefas parata; testanturque virginei vultus cupiditatem avari semper virescere; nunquam enim, ut scitis, satiatur aut expletur cupiditas sitis, semper appetit, semper eget: nam veteri proverbio ‘tam deest avaro quod habet, quam quod non habet’ (Publilius Syrus, Sent. 628); Pii II orationes ..., hg. von IOANNES DOMINICUS MANSI, Bd. I, Lucca 1755, 45 f. 53 Fateor enim antiquitus hanc fuisse consuetudinem, ut quod avidi essent aeris, hi dicerentur avari, cum nondum esset ullus usus aureae monetae vel argenteae, nam solus aes habitum est in pretio apud Romanos usque ad bellum Punicum primum; quinque etenim dumtaxat annis ante id bellum signari argentum tergendum (sic! lies: cudendum?) coepit, bigarum et quadrigarum nota; anno urbis conditae quingentesimo octuagesimo quinto: Attamen anno post secundo et sexagesimo nummus aureus percussus est; aes autem Servius Tullius primus signavit nota pecudum, unde pecunia dicta est; cum antea rudi aere uterentur. Itaque licet variarentur monetae materia, idem tamen avaro nomen mansit; Pii II orationes, hg. von MANSI (wie Anm. 52), Bd. I, 44–46.

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konnte man dann intim bei sich tragen (man erinnere sich an Questenbergs apud se). Von Petrarcas paränetisch-antiquarisch motivierten Münzgaben war die Rede; auch ein Erasmus erhielt immer wieder kostbare Münzen zum Geschenk und verschenkte selbst welche.54 Im Sammlerbild erhielt die Münze eine prominente Funktion. Das berühmteste Bild sei hier angesprochen: Es ist ist Hans Memlings Porträt eines jungen Mannes mit Münze von ca. 1480 in Antwerpen (Abb. 1, S. 420): Der junge Mann mit Hut vor einer baumbestandenen Flußlandschaft schaut wie üblich bei Memling am Betrachter vorbei, er hält ihm aber am rechten unteren Bildrand mit vier Fingern signethaft, wie sein zweites Gesicht, das Porträt des Kaisers Nero auf einem Sesterz entgegen. 55 Das Bild gehört zum Typ ,Person hält kostbaren Gegenstand mit Zeigegestus‘. Die Münze hier ist mit Umschrift vollkommen naturalistisch gemalt und hebt sich vor dem dunklen Gewand prachtvoll farbig ab.56 Die 54 CUNNALLY, Coins (wie Anm. 26), 132–135, der wesentlich auf das Thema aufmerksam machte; das Questenbergzitat siehe oben bei Anm. 9. Vgl. auch P. VOLZ: Conrad Peutinger und die Entstehung der deutschen Medaillensitte zu Augsburg 1518, Diss., Augsburg 1972; HERMANN MAUÉ: Medaillen als Geschenke und fürstliche Gnadenerweise. Aus den Aufzeichnungen des Markgrafen Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg Ansbach (1723–1757), in: RAINER CUNZ (Hg.): Fundamenta Historiae. Geschichte im Spiegel der Numismatik und ihrer Nachbarwissenschaften. Festschrift für Niklot Klüssendorf zum 60. Geburtstag, Hannover 2004, 283–295, hier 284 f. [Wichtig jetzt: ULRICH P FISTERER: Lysippus und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance oder: Das erste Jahrtausend der Medaille, Berlin 2008, hier 109– 202 zur Verwissenschaftlichung der Medaillienkunde.] 55 Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Inv. 5, ca. 1480 oder später. Zum Bild v.a. DIRK DE VOS (Hg.): Hans Memling. Ausstellungskatalog Brugge Groeningemuseum, Brügge 1994, 94 Nr. 19; ebenso DERS. (Hg.): Hans Memling. The Complete Works, London 1994, 190, 368 f. Nr. 42, jeweils mit der gesamten älteren Literatur; MAXIMILIAN P. J. MARTENS: Memling und seine Zeit. Brügge und die Renaissance, Stuttgart 1998, 75, 67 Abb. 5; 286, Abb. 190, 191. Vgl. B ETTINA ERCHE: Die Pose macht die Person: Portraits von Hans Memling in Brügge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. August 2005, u.a. zur Deutung der Person als Bernardo Bembo [Gesichter (wie Anm. 35), 330–332 Nr. 142]. Die ältere Forschung hatte sie u.a. mit dem Medailleur Giovanni di Candida identifizieren wollen; GIUSEPPE FAGGIN: Tutta la Pittura di Memling, Mailand 1969, Nr. 96. Die unverkennbare Parallele zu dem früheren (?) Botticelli-Porträt eines Mannes (Florenz, Uffizien), der in ähnlicher Weise eine plastisch als Relief im Bild applizierte Gipskopie eines 1465 entstandenen Medaillons Cosimo des Älteren Medici hält, wurde – ohne letzte Klärung der Priorität – vielfach bemerkt und als Beispiel italienisch-flämischen Kulturtransfers thematisiert; LIANA C. VEGAS: Italien und Flandern. Die Geburt der Renaissance, Stuttgart/Zürich 1984 (ND 1992, ital. 1982), Abb. 108 (Memling), 127 (Botticelli), 225, 233 mit Anm. 19 f.; dazu auch HANS T RAEGER: Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raffaels, München 1997, 292 mit Abb. 151 (289); CLAIN -STEFANELLI: Numismatics (wie Anm. 20), 16 mit Abb. 8; CUNNALLY: Coins (wie Anm. 26), 133 f. 56 Av.: NERO CLAUD(ius) CAESAR AUG(ustus) GERM(anicus) TR(ibunicia) P(otestate) IMPER(ator). An der Inschrift ist nicht nur die Abkürzung IMPER für imperator unhistorisch – statt IMP P(ater) P(atriae). Die Angabe der TR(ibunicia) P(otestas)

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Profession (Sammler, Medailleur?) und Identität des Mannes sind unbekannt beziehungsweise Gegenstand der Spekulation. Die Botschaft des Münzhaltens heißt freilich: Ich präsentiere mich mit und durch Antike. Warum aber läßt sich der Betreffende gerade mit einem Bild des Nero darstellen, obwohl dieser, als Tyrann, ein notorisch schlechtes ‘Image’ hatte? Hätte auch jede andere Kaisermünze den Zweck erfüllt? An eine ganz zufällige Wahl des Münzbilds mag man kaum glauben. Versuche, mittels des Namens, ‘Nero’, unter Einbezug der möglicherweise wappenemblematisch zu deutenden Bäume (Lorbeer, Palme) ein Namenspictogramm zu enttarnen, sind über Spekulationen (ist es der junge Humanist und Vater des Kardinals, Bernardo Bembo?) nicht hinausgekommen. Allein schon die hohe Wiedererkennbarkeit eben des Nero-Kopfes, des mit seinem dicken Hals vielleicht charakteristischsten und evokativsten aller Kaiserporträts, dürfte ausschlaggebend gewesen sein – war sie doch gerade durch das Münzbild etabliert!57 Auch auf anderen Sammlerporträts wie Tizians berühmtem Wiener Bildnis des Antiquars Jacopo Strada von 1548 oder Parmigianos Londoner Sammlerbildnis von 152358 fehlen Münzen und Kameen als auf den Tisch gestreute Accessoirs ebensowenig wie auf den Stilleben mit Sammlungsgegenständen des Hendrik van der Borcht (1700) im Historischen Museum Frankfurt am Main.59

findet sich nur in Verbindung mit dem P(ontifex) M(aximus)-Titel. Ein Reverstyp läßt sich nicht zwingend zuweisen. Vgl. C. H. V. SUTHERLAND/R. A. G. C ARSON (Hg.): The Roman Imperial Coinage (= RIC), Bd. I (revised edition): 31 B.C. to A.D. 69, London 1984, 155, hier mit den vorgenannten Bedingungen am ehesten passend die Aversinschriften 31 und 36. Bei dem – möglicherweise als Vorlage dienenden? – Exemplar des Königlichen Münzkabinetts (Bibliothèque Royale Brüssel) ist nach DE VOS: Memling (wie Anm. 55), 94 mit Abb. unklar, ob es sich um eine Nachbildung der Renaissance handelt; vgl. DE VOS: Memling (wie Anm. 55), 190 mit Abb. eines antiken Nero-Sesterz aus der Sammlung des Ashmolean Museums in Oxford. 57 Laut HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 73–81 fehlte es bis GIOVANNI B ATTISTA DELLA P ORTA: De humana physiognomia, Vico Equense 1586 (ND 1986), an Versuchen, physiognomischer Charakterdeutung. Dies ist sicher zu relativieren. 58 LUBA FREEDMAN: Titian’s ,Jacopo da Strada‘: a Portrait of an ‘Antiquarian’, in: Renaissance Studies 13 (1999), 15–39; das Bild Parmigianos, London National Gallery, bei BREDEKAMP: Antikensehnsucht (wie Anm. 43), 20. Vgl. GISELA LUTHER: Stilleben als Bilder der Sammelleidenschaft, in: Stilleben in Europa, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Ausstellungskatalog, Münster 1979, 88–128. 59 Frankfurt am Main, Histor. Museum, Inv. Nr. Pr. 352; Abb. in LUTHER: Stilleben (wie Anm. 58), 107 Abb. 66. Erkennbar sind drei Kameos, Silberdrachmen aus Korinth und Olbia, eine ptolemäische Großbronze, ein hellenistisches Tetradrachmon, drei römische Denare etc. Ein ähnliches Bild befindet sich in der Ermitage; LUTHER: Stilleben (wie Anm. 58), 109 Abb. 67.

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IV. Geschichtsschreibung zwischen Münztraktat und Bildnisvita Die großen nationalen Geschichtsdarstellungen des Humanismus, die Nationalgeschichten eines Polydor Vergil, Paul Emile oder Jakob Wimpfeling erschienen vor dem 17. Jahrhundert genregemäß ohne Bilder.60 Bei Darstellungen der römischen Geschichte, wenn sie nach Vorbild Suetons wesentlich als Sequenz von Kaiserviten gestaltet wurde, konnte das anders sein. Das Verhältnis von Bild und Text war oft dergestalt, daß die Sequenz der (Münz)bilder gleichsam den Leitfaden für eine vitenbezogene Darstellung der römischen Kaisergeschichte abgab. Es handelt sich um ein schwer abzugrenzendes Genre, wobei der Begriff der ‘Bildnisvitenbücher’61 in der Forschung unscharf verwendet wird. Als weiterer, aber gänzlich bildloser Typ, treten die metrologischen Münztraktate hinzu. So trifft man auf Versuche,62 drei verschiedene Typen zu differenzieren: 1. die monetarisch beziehungsweise metrologisch-gromatisch orientierten Traktate; sie interessiert die antike Münze als Zahlungsmittel, kaum als Bildträger, weshalb Haskell und andere sie ignorieren. Sie stehen in der wirtschaftstheoretischen Traktattradition eines Nicolas von Oresme (1322– 1382).63 Dazu tritt nun ein ausgeprägt antiquarisches Interesse, das sich aus antiken Klassikertexten speist. Die Münze als ikonisches Einzelstück hingegen tritt kaum in Erscheinung. Beispiele sind Porcellio, Questenberg, Budé. 2. Bildnisvitenbücher sehr verschiedenen Typs: a) ‘Kaiserbücher’ als – von Haskell gleichfalls ignorierte – Geschichtsschreibung mit Bildern (Fridolin, Peutinger), oder b) Tafelwerke, die ästhetisch und technisch aufwendige und den Druck dominierende Münzdarstellungen eng mit mehr oder weniger bescheidenen Kurzvitentexten verbinden. Ihnen gilt das Interesse der Antiquarismus-Forschung. Und ihre Reihe ist lang: Andrea Fulvio, Johannes Huttichius, Onofrio Panvinio, Guillaume Rouille (Rovillius), Jacopo Strada, Adolf Occo III., Antonio Agustín etc. Daß diese letztere Gruppe der Kaiserbücher tatsächlich die ältere Tradition der metrologi60

Die These ist zu prüfen, vgl. HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 83–88. Übersichten bei WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 174–177; für die Traktate auch vor und nach Enea Vico wichtig: LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, bes. 1– 21 und 60 f. Listen; HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 23–174 passim; D ALY D AVIS: Archäologie (wie Anm. 22), passim, zur Numismatik 97–109; CUNNALLY: Images (wie Anm. 6), v.a. 185–214 Biogramme der Autoren nach Fulvio und Bibliographie der Drucke; HEENES: Antike in Bildern (wie Anm. 2), 19–49, 200–295 (Bibliographie); WREDE: ‘Monumentalisierung’ (wie Anm. 14), zu numismatischen Werken des 17. Jahrhunderts: Anm. 19–22, 85–95, 233 Abb. 52 (Münzen bei Graevius). 62 So zum Beispiel bei HEENES: Antike in Bildern (wie Anm. 2), 19. 63 NICOLAS ORESME: Tractatus de origine et jure necnon et de mutationibus monetarum (1355/56), worauf schon WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 175 hinwies. 61

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schen Traktate „unterbrochen“ hätte, wie Lemburg-Ruppelt annimmt,64 kann ich nicht sehen. Sie sind allerdings schwierig abzugrenzen von: 3. den wissenschaftlich klassifizierenden Werken (beginnend mit Enea Vico) gewissermaßen als Kombination der beiden ersten Typen, auf dem Weg zu einer kritischen Numismatik als Teil der Altertumswissenschaft. Es ist aber zu betonen, daß diese Opera, auch Vico mit seinen aufwendig epitaphenhaften Porträt-Inszenierungen, eindeutig die Tradition der Bildnisviten fortsetzen. Als Gipfelleistung und Prototyp der metrologischen Traktate gilt allgemein ,De asse et partibus eius‘ des großen französischen Humanisten Guillaume Budé (1467–1540) von 1515.65 Maximale antiquarische Kenntnis über Münzen, Maße und Gewichte verbindet sich hier mit Vergleichen der kaiserzeitlichen Ökonomie mit der gegenwärtigen beim Thronantritt König Franz’ I., aber auch mit moralischer Paränese gegen Wucher, Habgier und kirchliche Mißstände. Auf Budé folgte alsbald Leonardo da Porto (ca. 1520).66 Der entscheidende Durchbruch des ganz anderen Typs der illustrierten Kaiservitensammlungen (b) als Münzwerke wird in der Literatur den ‚Illustrium Imagines‘ des Andrea Fulvio von 1517 bescheinigt.67 Es enthält 64 LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, 17 Anm. 1. Skeptisch macht schon ein Blick auf ihre eigene Liste (61), mehr noch die bei PETER BERGHAUS: Der deutsche Anteil an der numismatischen Literatur des 16. Jahrhunderts, in: DEKESEL/DERS. (Hg.): Numismatische Literatur 1500–1864 (wie Anm. 21), 11–26, hier 12 f. gebotene Liste metrologischer Traktate. 65 De asse et partibus eius (Paris 1515; Venedig: Aldinus & Aesulani 1522). 16 Ausgaben bis 1550. Hinreichend untersucht ist der Traktat keineswegs. Ob Budé Questenberg kannte, ist unklar. Zu Budé hier nur DEKESEL: Search (wie Anm. 21), 60–62; W EISS: Discovery (wie Anm. 23), 177 f.; EUGENE F. R ICE: Humanism in France, in: RABIL (Hg.): Renaissance Humanism (wie Anm. 15), 116 f.; JEAN-C LAUDE MARGOLIN: Humanism in France, in: ANTHONY GOODMAN/ANGUS MACKAY (Hg.): The Impact of Humanism on Western Europe, London/New York 1990, 176 f.; CLAIN -STEFANELLI: Numismatics (wie Anm. 20), 18; DAVID O GDEN MCNEIL: Guillaume Budé and Humanism in the Reign of Francis I, Genf 1975. 66 LEONARDO DA P ORTO (Porzio): De sestertio, talento, pecuniis, ponderibus, mensuris, stipendiis militaribus antiquis libri duo, o.O., o.D., Vincenza ca. 1520. Vgl. WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 176 f.; COOPER: Collectors (wie Anm. 40), 12 f.; BERGHAUS: Anteil (wie Anm. 64), 12. 67 Illustrium imagines: Imperatorum et illustrium virorum vultus ex antiquis nomismatibus expressi ... per Andream Fulvium (Rom: Jacopo Mazzocchi 1517; Lyon 1524); Riproduzione in facsimile, nota di ROBERTO W EISS, hg. von ROBERTO PELITI, Rom 1967. Dazu LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, 17; COOPER: Collectors (wie Anm. 40), 21; DALY D AVIS: Archäologie (wie Anm. 22), 40–42, 153 s.v.; CUNNALLY: Images (wie Anm. 6), 52–69, 189 f.; HEENES: Antike in Bildern (wie Anm. 2), 19 f. mit Abb. 2; JEAN-LOUIS FERRARY: Onofrio Panvinio (1530–1568) et les antiquités romaines (Collection de l’École Française de Rome 214), Rom 1996, 96 f.; [PELC: Illustrium imagines (wie Anm. 6), 171, 298 s.v.]

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Münzporträts, gehalten von Putten, auf schwarzem Grund, darunter inschriftenähnlich gerahmt je eine Kurzvita des betreffenden Kaisers in Antiquatype auf hellem Grund. Als ein Höhepunkt dieser Literatur darf der schon als „Father of Ancient Numismatics“ (Dekesel) titulierte Hubert Goltzius (1526–1583) und sein Opus ,C. Iulius Caesar sive historiae imperatorum Caesarumque Romanorum ex antiquis numismatibus restitutae‘ (1563 und 1574) gelten, das bis in die Gegenwart des Habsburgers Rudolf II. reicht.68 Getragen waren diese Werke vielfach noch von der Begeisterung des Amateurs, der, mit Cunnally gesprochen, noch das numen im nummus sucht.69 Als erster numismatikwissenschaftlicher Traktat (c) schließlich gilt das Werk des Enea Vico (1523–1567) ,Le imagini con tutti i Riversi trovati et le vite degli Imperatori‘ von 1548, dem 1555 die ,Discorsi sopra le Medaglie degli Antichi‘ folgten.70 Vico, der sich selbst als Pionier sah, bildete angeblich als erster systematisch auch die Rückseiten der Münzen ab, behandelte mithin die Münze stärker als epigraphisch-ikonische Einheit (Abb. 2, S. 421). Zweitens bezog er – so Lemburg-Ruppelts Generalthese – die Münzen als diskursiv interpretierbare Quellen in eine kritische Altertumskunde ein. Mit ihm läßt man daher die „numismatische Wissenschaft“ beginnen.71 Vico war es, der beispielsweise bisher unbekannte ‘Soldatenkaiser’ des 3. Jahrhunderts anhand von raren Münzen buchstäblich ‘ausgrub’. 68 Siehe oben die Literatur in Anm. 14 und 21 f.; CHRISTIAN E. DEKESEL: Hubertus Goltzius, the Father of Ancient Numismatics (Venlo-Weertsburg 30.10.1526 – Bruges 24.10.1583). An annotated and illustrated Bibliography, Gent 1988. 69 CUNNALLY: Images (wie Anm. 6), 145. 70 ENEAS VICUS: Le imagini con tutti i riversi trovati et le vite de gli Imperatori tratte dalle medaglie et dalle historie de gli antichi (Venedig 1548); AENEAS VICUS: Omnium Caesarum verissimae imagines ex antiquis numismatis desumptae (Venedig 1554). Zu Vico und seinem breiten Oeuvre: LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, passim hebt das Innovative gegenüber den älteren Kaiserbüchern heraus wie die Funktion als Prototyp für künftige Münzwerke: 1–22; DIES.: Der systematische Ausbau der Numismatik im Werk Enea Vicos, in: ALBERT/CUNZ (Hg): Wissenschaftsgeschichte der Numismatik (wie Anm. 23), 49–70; DALY DAVIS: Archäologie (wie Anm. 22), 102–104; HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 27, 31 f., 587 s.v.; FEDERICA M. FONTANA: I progetti di studio di un antiquario del Cinquecento: Enea Vico tra Venezia e Ferrara, in: Quaderni Ticinesi di Numismatica e Antichità Classiche 24 (1995), 379–412; FERRARY: Panvinio (wie Anm. 67), 101–107, 250 s.v.; CUNNALLY: Images (wie Anm. 6), 211–214; HEENES: Antike in Bildern (wie Anm. 2), 25 mit Abb. 12; GIULIO BODON: Enea Vico fra memoria e miraggio della classicità (Le rovine circolari 1), Rom 1997, 97–154; [PELC: Illustrium imagines (wie Anm. 6), 283, 302 s.v.]. 71 Quippe cum ego primus, id quod pace aliorum dictum velim, viam ad obscuras veterum nomismatum notas interpretandas ostenderim; Commentarii in vetera Imperatorum Romanorum numismata, Venedig 1560, 256; zitiert nach LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, 2 f., sowie passim zur These, es gebe bereits avancierte Quellenkritik bei Vico.

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Einige Modifikationen sind dennoch angebracht. 1. Schon die deutlichen konfessionellen Implikationen, die man bei Huttichius beobachtet hat,72 mahnen vor hermetisch antiquarischer Betrachtung auch der anderen Traktate. 2. Die Behauptung, Vico habe als erster Vor- und Rückseiten als Ensemble abgebildet, ist in mehrfacher Hinsicht zu relativieren: Zum einen hat Vico selbst mit marginalen Ausnahmen Vorder- und Rückseiten jeweils als getrennte Ensembles publiziert;73 zweitens ist auf den – freilich nicht ausgeführten – Plan einer Vorder- und Rückseitenpublikation in Peutingers Kaiserbuch hinzuweisen;74 3. stellen einige Pariser Blätter des Sieneser Malers Sodoma (1477–1549) explizit Vorder- und Rückseiten untereinander auf einem Blatt dar. Wohl als Einzelblätter eines aufgelösten Codex (?) überliefert, bringen sie exzellente Avers- und Reverszeichnungen von Sesterzen der Kaiser Caligula (2x), Claudius und Vespasian, getrennt jeweils durch Verszeilen, sowie reiches floreales Rankenwerk und punzenähnliche Punktierung.75 4. schließlich hatte schon Weiß auf ‘Vorgänger’ des Budéschen Prototyps im 15. Jahrhundert hingewiesen. Wie Budé selbst sind auch diese kleineren Opuscula,76 obwohl geringen Umfangs, wahrlich hartes Brot. Einige sind nur dem Titel nach bekannt und gelten als verloren: so ein Traktat des päpstlichen Konsistorialadvokaten Andreas de Sanctacruce (1407–1473), Teilnehmers am Konzils von Ferrara-Florenz 1438/39 und Verfassers kirchentheoretischer Streitschriften, mit dem Titel ,De notis publica auctoritate probatis‘. Er befaßte sich offenbar mit Abkürzungen und Zahlen auf Inschriften und Münzen.77 Ebenso als 72 ANNA LANCKORONSKA: Des Johannes Huttichius ,Imperatorum Romanorum libellus‘ als Dokument des Glaubenskampfes, in: Gutenberg-Jahrbuch 40 (1965), 262–270; zur Rolle der Gelehrten im Konfessionalismus siehe auch H EUSER: Matal (wie Anm. 23), 317–414. 73 Das zeigt die eigene Bilddokumentation von LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. III. 74 Siehe den Hinweis bei LEMBURG-RUPPELT selbst: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, 7; zu Peutinger siehe unten bei Anm. 109–115. Man würde sich rückwirkend eine Auseinandersetzung LEMBURG-RUPPELTS mit HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), der seinerseits deren Dissertation nicht kannte, über die Arbeit der Autoren des 16./17. Jahrhunderts mit Texten und Münzen als Quellen wünschen. 75 Paris, Bibl. Nat., Cabinet des Estampes 9171 bisr (Caligula, Rv.: ADLOCUTIO), 9172 bisr (Claudius; Rv.: sitzende ROMA); Paris, Louvre, Cabinet des desseins, Inv. 9172 r (Claudius; Lorbeerkranz OB CIVES SERVATOS), 9173 r (Palme, trauernde Iudaea: IUDAEA CAPTA); Berlin, Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance, Rec.No. 65696, 65700, 65703, 65706 (T ATJANA B ARTSCH sei für Hilfe gedankt). Es ist unklar, ob es sich bei den genannten vier Blättern um die einzig erhaltenen handelt. 76 Knappe Aufzählung derartiger Traktate vor und nach Budé bei CLAIN-STEFFANELLI: Numismatics (wie Anm. 20), 18; WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 176 f.; LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, 61 f.; BERGHAUS: Anteil (wie Anm. 64), 12 f. 77 Zu Andreas de Santacruce vgl. Lexikon für Theologie und Kirche 1 3(1993), 631.

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verschollen gelten der ‚Commentariolus de priscis nummis‘ des Filippo Redditi (1492) wie die drei münzkundlichen Texte des deutschen Humanistenmäzens und Bischofs von Speyer Johann von Dalberg.78 Erhalten, aber bisher kaum näher untersucht, sind die Traktate des Giannantonio Pandoni von 1459 und der – Dalberg gewidmete – Traktat des Deutschen Jacob Aurelius Questenberg von 1499. Dazu käme – in der Forschung kaum bekannt – das dem Tübinger Mathematiker Johannes Stöffler gewidmete, fast zeitgleich mit Budé 1516 erschienene ,Opusculum de potestate et utilitate monetarum‘ des Juristen Johannes Aquila (= Johannes Gentner).79 Im folgenden werden zuerst die Traktate Pandonis und Questenbergs vorgestellt; anschließend zwei frühe historiographisch angelegte Werke, das ,buch von den keiserangesichten‘ des Stephan Fridolin sowie Konrad Peutingers Projekt eines Kaiserbuchs. Drei Exkurse führen also zu Deutschen und nach Deutschland. 1. Giannantonio Pandoni ,Opusculum aureum de talento‘ (1459) 80 Der Poet und Humanist Giannantonio Pandoni, von Filelfo gegeißelt wegen homoerotischer Neigungen und wohl deshalb Porcellio genannt (vor 1409–nach 1485), diente sich an vielen italienischen Höfen an. Er verfaßte 1459 für Cicco Simonetta, Sekretär des Signore von Mailand Francesco Sforza, den ersten bekannten antiquarisch-metrologischen Traktat über an78

Siehe unten bei Anm. 83 f. Joannis Aquile Philosophiae atque Jurium Doctoris consultissimi Opusculum de Potestate et utilitate Monetarum, darunter Wappen mit Helmzier. Umfang 24 fol.; auf dem Schlußblatt: Impressum Oppenheym [Jacob Köbel] anno domini 1516 (= VD 16 G 1307); benutztes Exemplar: Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana (künftig: BAV) R. I V 2105 (2). Widmung: Ad Joannem Stofflerinum facile omnium nostro evo principem mathematicorum Ioannes Aquila utriusque legis interpres. Incipit: ,Tametsi mathematici gentilicio vocabulo erant dicti Chaldei apud Assyrios‘. Der Traktat wird bei W EISS: Discovery (wie Anm. 23), 175 wohl irrtümlich mit dem gleichnamigen des Theologen und Frauterherren Gabriel Biel († 1495) gleichgesetzt. Tatsächlich erschienen die beiden Traktate zugleich 1516 bei Jacob Köbel in Oppenheim. Traktat und Problem sollen andernorts näher untersucht werden. 80 Opusculum aureum de talento a Porcelio poeta … elucubratum (Rom: Eucharius Siber o.D.); LUDWIG HAIN: Repertorium bibliographicum, Bd. II, Stuttgart 1831, 185; vgl. W EISS: Discovery (wie Anm. 23), 176. Von mir benutzes Exemplar: Rom BAV R. I V 2105 (3). Ein weiterer Druck Venetiis 1490; D IETRICH REICHLING: Appendices ad Hainii-Copingeri Repertorium bibliographicum 2, München 1906, Nr. 688 (Exemplar der Biblioteca Nazionale Neapolitana VII. B. 52). Zu Porcellio GEORG VOIGT: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus I, Berlin 31893, 491–495. 584–587 (11859); UGO FRITTELLI: Giannantonio de Pandoni detto ,il Porcellio‘, Florenz 1900. [U LRICH P FISTERER: Ulrich Filaretes Künstlerwissen und der wiederaufgefundene Traktat ‚De arte uxoria‘ des Giannantonio Porcellio de’ Pandoni, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 46 (2002), 121–151.] 79

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tikes Münzwesen. Die kleine, im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts gedruckte Schrift – sie umfaßt gerade 5 Blätter – scheint bisher unerschlossen. Simonetta hatte ihm offenbar den Auftrag gegeben, in diese trockene und vertrackte Materie (dura provincia und res perdifficilis) einzudringen. Am 1. Februar 1459 legte Pandoni, mit dem Gestus des Poeten und numismatischen Amateurs, seinem als Pollio angeredeten Mäzen das Ergebnis in topischer Adulation und Bescheidenheit vor. Die Methode: antike Texte nach Aussagen über Münzen und Gewichte zu durchforsten, quae ne a minimis quidem auctoribus delecta collegimus quaeque a maiorum vetustate comprobantur. Namentlich genannt werden Servius, Priscian (,De numeris‘), Varro, Gellius, Plutarch, die Historia Augusta und Justinus. Dieses antiquarische Antikeninteresse à la Flavio Biondo, hier spezialisiert auf Gewicht und Münze, und mehr text- als ‘realien’orientiert – das scheint das Neue zu sein. Es geht um Maß- und Gewichtseinheiten (talentum, libra, pondus, uncia etc.) und die Umrechnungswerte von antiken Münznominalen in zeitgenössische Dukaten,81 immer wieder auch um die Etymologie, mit einem Überstieg in das Moralische, in traditionelle AvaritiaKritik, die sehr latent in allen diesen Traktaten noch mitschwingt, auch bei Budé.82 Daß Porcellio beim Schreiben auch Originalmünzen betrachtet hätte, ist allenfalls in Ansätzen spürbar. Wissenschaftsgeschichtlich dürfte es kaum irrelevant sein, daß kein Theologe oder Jurist, auch nicht etwa ein Praktiker (Münzmeister, Medailleur) dieses neue Textgenre eröffnete, sondern der Philologe, versatile Poet und Humanist Porcellio. Der ächzte zwar unter der Rechnerei, genoß aber die antiken Texte, die besser als andere zu kennen eben seine besondere Kompetenz ausmachte. 81

Welche Fragmente der antiken Fachprosa tatsächlich bekannt und verfügbar waren, wäre grundsätzlich zu prüfen. Pandoni nennt etwa Priscian, ‚De numeris‘ und Varro ,De sestertio‘ (= ,De numeris‘?), Werke, die, wenn je existent gewesen, verloren sind. Eine typische Passage aus Porcellio: De talento fol. 3r: Nunc ad rem nostram valet argenti libra sex aureos monetae Romanae, quod ducatos dicimus. Deinde fiat multiplicatio per sex, tunc bis et decies millium millia librarum, quae equipollet trecentis millibus talentorum et sestertiis quaterdecies centenis millibus et octingenis millibus conficient duo et septuaginta millium millia ducatorum. Autopsie geht aus einem einzigen Satz hervor, in dem er paradoxerweise behauptet, einen goldenen (= vergoldeten?) Sesterz gesehen zu haben: Hisce enim oculis vidi auream monetam, ubi litterae (!) sestertium appelari confirmabant (fol. 2r). Im Anschluß wird der Humanist Thomas Morroni von Rieti (Thomas Reatinus in utroque dicendi genere facundissimus) als Kenner gepriesen. Vermutlich ist der gleichnamige Doktor und Ritter aus der Entourage des Francesco Sforza gemeint. 82 Ebd. fol. 3 v: Ego vero quantum coniectura percipere possum, ita rem puto signatum aes romanum monetam appellari, quod nos moneat qua ratione vivendum sit. Item nummum a numero, quin etiam denarium a decimis vel a deno numero dictum, ut Varro refert, quod habitum a Siculis denarium confirmat.

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2. Jacob Aurelius Questenberg: ,De talento et sestertio‘ (1499)83 Der Deutsche Jacob Aurel Questenberg, (ca. 1460 – ca. 1527), gebürtig in Wernigerode, Kanonist, Freund Reuchlins und Michael Behaims, lebte seit 1485 in Rom, wo er u.a. Pomponius Laetus hörte, als Scriptor an der Kurie tätig war und wohl 1527 starb. Hier, an der Vatikanischen Bibliothek, schrieb der Humanist den auf den 2. Juni 1499 datierbaren Traktat und widmete ihn seinem numismatisch interessierten Mentor, dem mehrfach genannten Johannes Dalberg. Questenberg suchte für ihn in Rom Münzen und Texte, die er zum Teil aus dem Griechischen übersetzte. Der Bischof beschäftigte sich selbst mit antiken Münzen. Offenbar hatte er sich mit drei – verlorenen – Werken (tribus libellis) auch als Autor in dieser neuen res aetate nostra incognita versucht, die hier als integraler Bestandteil der Humaniora gewertet wird.84 Das Lob auf den Landsmann Dalberg mündet in ein nationales Lob auf das Wiedererblühen der Artes in Deutschland, das mit Italien nun mithalten könne.85 Offenbar war Questenbergs Traktat 83 BAV Vat. Lat 3436 fol. 243 r–252 r (Autograph), mit zahlreichen Ergänzungen am Rand, aber ohne Widmungsbrief und Schluß; Vat. Lat. 3906 fol. 1 r–23 v, komplett mit Brief (1 r–v), Martial-Gedichten, in denen Münzen vorkommen (19 v–22 v) und Schluß (23 r–v); der weitere Inhalt des Codex (239 fol.) ist ein Zibaldone mit weiteren bisher unerschlossenen Materialien und Sudeleien zu Numismatik und Metrologie, wohl von COLOCCI kompiliert; ferner Vat. Lat. 5395 und (nicht bei Mercati; von mir nicht gesehen) Vat. Lat. 3894. Zu Überlieferung und Datierung (439) des Traktats bisher MERCATI: Questenbergiana (wie Anm. 9), 437–461, hier 453–459 Textauszug nach Vat. Lat. 3906 und 3436; 446–453: Spuren Questenbergs in Codices der Vaticana, u.a. als Famulus des Bibliothekars GIOVANNI LORENZI; vgl. D IETER HARLFINGER: Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 59), Weinheim 1989, 218–223; FERRARY: Panvinio (wie Anm. 67), 54, 65 f., 79–81, 131 f.; B ERGHAUS: Anteil (wie Anm. 64), 12 f. Noch ohne Kenntis des Traktats: FRIEDRICH G ÜLDNER : Jakob Questenberg, ein deutscher Humanist in Rom, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 38 (1905), 213–276. 84 BAV Vat. Lat. 3909 fol. 2r–v: Nec solum in omni bonarum artium facultate ac disciplina codices antiquorum utriusque lingue colligis, verum etiam numismata atque monumenta veterum principum, qui aliqua laude floruerunt, singulari studio parique veneratione conquiris. ... Deinde letor, quod auspiciis tuis rem etate nostra aut incognitam aut certe raritate ipsa probandam tuis pulcherrimis tribus libellis video proferri. ... Auguror enim, nec me fallit augurium, commentaciones tuas omnino immortales futuras, quo magis illis, ingenue fatebor, inseri cuperem. Zu Dalbergs numismatischen Studien auch KARL MORNEWEG: Johann von Dalberg, ein deutscher Humanist und Bischof, Heidelberg 1887. 85 Vat. Lat. 3906, fol. 2 r, hg. von MERCATI: Questenbergiana (wie Anm. 9), 454: Postremo gratulor, quod Germania nostra, inclita parens tua, prisce virtutis emula florescit, quam michi et a quocunque erudito excoli iucundum. Ebd. fol. 15 v, hg. von MERCATI 459: Nostre certe antique priscorum virtutis emula tot pulcherrimis rarissimisque vel in una Germania per te procreantem modo inventis et studiis omnium disciplinarum non minus illic quam in Italia terrarum regina excitatis, ut alia prope infinita sileam, adeo mirificis opificibus una elucet ac revirescit, ut in hoc qualicunque temporum curriculo veteres artes omnis revocet in lucem.

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nicht zur Publikation bestimmt, es ist jedenfalls nur in vier Handschriften überliefert, darunter das Autograph Vat. Lat. 3436, die alle über die Bibliothek des gelehrten Antiquars Angelo Colocci 1549 in die Vaticana gelangten.86 Der Traktat ist im Stile wie der des Pandoni aufgebaut, sein Beginn lautet: Talentum Romanum ductore Servio Honorato libris constat septuaginta (Vat. Lat. 3436 f. 243r). Der Porcellio-Traktat wird als lakonischer Nukleus dann gleichsam in die Breite entfaltet; denn daß der Humanist aus Wernigerode diesen kannte, ist wahrscheinlich, wenn es auch nicht gesagt wird. Questenberg ist fünfmal länger, die Auswahl der Klassikerbelege, allen voran Plinius, Livius, Sueton, Varro und Macrobius, aber auch Martial, bedeutend breiter, ebenso das Lob auf zeitgenössische Gelehrte wie Reuchlin, Ermolao Barbaro, Pomponio Leto.87 Es geht darin wieder um Recheneinheiten und Nominale (Sesterz, Dupondius, As, Victoriatus etc.), um Begriffliches (über die Bedeutung des Wortes nummus), um Wertvergleiche mit zeitgenössischen Münzen wie dem ‘carlino’, den auch die Päpste seit Martin V. († 1431) geprägt hätten.88 Münzkunde – für den Humanisten eine reine Textwissenschaft? Beinahe, denn auch Bildbeschreibungen lassen nicht eindeutig den Schluß auf Autopsie der Metallscheiben selbst zu. Die Beschreibung des altrömischen Aes grave (Januskopf/Schiffsschnabel) und weiterer Münzen der Republik sind, wie bei Enea Silvio, ausführliches Pliniuszitat.89 Es scheint schon die Situation vorzuliegen, die Herklotz für die Philologen des 17. Jahrhunderts und Haskell für den Humanismus generell beobachtet haben: daß man sich an die monumenta allenfalls dann wandte, wenn man mit den verba nicht mehr weiterkam.90 Andererseits schickte Questenberg ja neben Texten durchaus reale Münzen an Dalberg, so 24 Goldmünzen, deren inscriptiones er sich notierte. 86 Zu Colocci: MERCATI: Questenbergiana (wie Anm. 9), 441 f.; FERRARY: Panvinio (wie Anm. 67), 132 f., 264 s.v. 87 Vgl. zum Lob Reuchlins: MERCATI ebd. 453 f. nach Vat. Lat. 3436, fol. 247r–v; das Lob auf Barbaro: MERCATI 456 Anm. 14, nach Vat. Lat. 3436, fol. 251 v, s. auch fol. 244 v. 88 Bedeutung des Wortes ‘nummus’: Preterea nummus non est huius vel huius forme nomen, sed generale vocabulum, eque de parvo at magno dictum, ut si nummum talentum, nummum sestercium, nummum bigatum, quadrigatum, ternucium, victoriatumque dicamus, quod facile auctorum usu pervideri; Vat. Lat. 3906, fol. 14v. Zum Carlino: Libram argentei Roma valore argenteos, quos Carlinos vocant, centum …Carolini …, quales superiorum pontificum temporibus, Martini, Eugenii, Callisti, Pii, Pauli (sc. von Martin V. bis Pius II.) cussi sunt; Vat. Lat 3436, fol. 245r. 89 Note aeris fuit, ex altera parte Ianus geminus, ex altera rostrum navis usw.; Vat. Lat. 3906 fol. 15 r, nach Plinius: Nat. hist. 18,46. 90 HERKLOTZ: Cassiano dal Pozzo (wie Anm. 28), 232–234; dazu VÖLKEL: Altertum (wie Anm. 28), 274; HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 24 und öfter.

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Darunter war auch ein byzantinisches Stück, das ihn zu bemerkenswerten Aussagen veranlaßt: Über die Gründung Constantinopels hatte Questenberg in der Vaticana inter vetustos grecos codices einen Text des Astrologen Vettius Valens gefunden und ihn ins Griechische übersetzt. Jetzt – bei Betrachten des ‘Byzantiners’ – war er von der seherischen Potenz des Vettius frappiert. Dieser hatte den Niedergang der Stadt prophezeit. Den Beleg dafür sah Questenberg nun im Kaiserbild primitiver Qualität auf einer Münze Justinians: ymagine signatus rudi admodum et inculta effigie. Die – hier vermutlich frontal dargestellte – effigies ist es, die ihm, geradezu frühgibbonianisch, zum Beleg für die Dekadenz der byzantinischen Kultur wurde, und zum Anlaß, ein Loblied auf das aureum saeculum der klassischen Antike zu singen, das eben auch bessere Bildkünstler und Handwerker gehabt habe.91 Nach dem italienischen Poeten und dem Deutschen in Rom führt der Weg nach Norden, über Verona in die deutschen Reichsstädte Nürnberg und Augsburg. Das wohl früheste bildhistoriographische Beispiel entstand in der Aura des vorpetrarkischen Frühhumanismus der Stadt Verona. 3. Giovanni de Matociis, genannt ‘il Mansionario’ († 1337) Der Notar und Kathedralkleriker (Sakristan) Giovanni de Matociis ist als Geschichtsschreiber einer ‚Historia imperialis‘ (vor 1320) greifbar. Man muß annehmen, daß Matociis eine entsprechende Münzsammlung vorlag. Denn seine Technik besteht darin, die Handschrift am Rand des Texts der Kaiserviten mit 72 Porträtkopien von Kaisermünzen, davon erhalten die Serie von Pertinax († 193) bis zu Ludwig dem Frommen († 840), zu koppeln und wechselseitig illustrieren zu lassen (Abb. 3, S. 422). Sie wurde von Degenhardt/Schmitt im Kontext vergleichbarer Text-Bild-Einheiten (Jacopo Bellini bis hin zu Pirro Ligorio und Enea Vico) erschlossen. Cunnally verglich die Zeichnungen systematisch mit den zugrunde liegenden Münzen. Hier liegen offenbar die Anfänge des antiquarischen ‘Münz91 Rom, BAV Vat. Lat. 3906, fol. 15 v–16r; hg. von MERCATI, Questenbergiana (wie Anm. 9), 458: Cuius urbis (sc. Konstantinopels) natalem insignis illa etate mathematicus Innius (lies: Vettius) Valens litteris mandavit, quem nos in bibliotheca pontificis maximi inter vetustos grecos codices repertum e greco in latinum traduximus, miraculo cognitionis futurorum, quae ille mirum in modum prestitisse visus est, permoti. Ob id etiam quatuor et viginti nummos aureos misi (MERCATI 458 mit Anm 22; Vat.: nisi) diversorum temporum eorumque inscriptiones seorsum adnotavi. Inter eos nummus est unus Constantinopolitanus, nummus etiam Justiniani imagine signatus rudi admodum et inculta effigie. In eo clare perspici licet, quantum etas illa posterior distet ab illo pristino vereque aureo seculo, in quo tot summi oratores, tot excellentissimi poete et clarissimi (fol. 16 v) reges et principes ubique gentium floruere, tot solertissimi singularium artium mechanicarum et fabrilium innotuere. Zur Wahrnehmung eines Niedergangs der Kunst anhand des römischen Münzbilds seit Gallienus († 268), etwa bei Vico und Agustín, siehe HASKELL: Geschichte (wie Anm. 7), 127 f., 136.

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musterbuchs’ als Serie antiker Kaiserbildnisse. „Trotz frühtrecentistischer Zeichenweise und gotisch stilisierter Inschriften beeindruckt an Mansionarios Zeichnungen das hohe Maß an Porträtähnlichkeit, das er erreichte.“92 Man sollte den Veroneser aber nicht nur in den Kontext ikonischer ‘Antikerezeption’, sondern auch der römischen Historiographie einordnen, wozu hier nur animiert werden kann. Die enge Verzahnung von Münzen und Historiographie zeigt sich schlagend 150 Jahre später in den deutschen Reichsstädten Nürnberg und Augsburg, deren patrizische Führungseliten sich früh vom Humanismus anregen ließen. 4. Stephan Fridolin OFM († 1498) Seine Schrift ‚Etlicher keyser angesicht‘ von 1487 zeigt Münzbild und Historiographie in merkwürdiger Symbiose, die für das Thema wichtig und zu wenig bekannt ist.93 Stephan Fridolin, gebürtig im schwäbischen Win92

Rom, BAV, Chis. I VII 259. Komplette Beschreibung sowie Identifikation und Vergleich der Münze mit den Bildern bei CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 85–89, 345– 430, mit allen Abb., sowie – ohne gegenseitige Kenntnis – DEGENHARDT/SCHMITT, Corpus (wie Anm. 8), Bd. II.2, 80–83; DIES.: Corpus (1990), Bd. II.5, 214–216, Zitat 215, jeweils mit Abb. der antiken Münzvorlage; ähnlich bereits SCHMITT: Wiederbelebung (wie Anm. 8), 189–211 passim mit Abb., bes. 190 f.; DIES.: Einfluß (wie Anm. 6), 229 f. mit Abb. 12–13a. Vgl. GIOVANNI GORINI: Le monete greche e romane nell’ Arte Rinascimentale Veneta, in: A testa o croce (wie Anm. 21), 67–86. Zu Matociis im oberitalienischen Frühhumanismus: RONALD G. W ITT: In the Footsteps of the Ancients. The Origins of Humanism from Lovato to Bruni (Studies in Medieval and Reformation Thought 74), Leiden 2000, 166–168, 268, 283 f.; CLAUDIA ADAMI: Per la biografia di Giovanni Mansionario, in: Italia Medioevale e Umanistica 25 (1982), 347–363; G IULIO B ODON: L’interesse numismatico e antiquario nel primo Trecento Veneto. Disegni di monete antiche nei codici delle ,Historiae imperiales‘ di Giovanni Mansionario, in: Xenia Antiqua 2 (1993), 111–125. 93 Zur Pergament-Handschrift Nürnberg Stadtbibl., Cent. IV 90, fol. 1r–42 r: KARIN SCHNEIDER (Hg.): Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. I: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Wiesbaden 1965, 436 f. Edition und erste Analyse: J OACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), Einleitung 1–22, hier 2 f. zur Handschrift. Die Edition wurde bei Zitaten an der Handschrift überprüft. Zu Person und Opera Fridolins: DIETRICH SCHMIDTKE: Art. Fridolin, Stephan, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2 (1980), Sp. 918–922, hier Sp. 919 Nr. 2; M ICHAEL D IE2 FENBACHER /RUDOLF E NDRES (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 2000, 308; MAUE/VEIT (Hg.): Münzen in Brauch und Aberglauben (wie Anm. 32), 196, 198 Nr. 300; B ERNDT HAMM: Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte Nürnbergs 76 (1989), 65–147, hier 122–126 zu den theologischen Zielen Fridolins, sowie besonders PETRA SEEGETS: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt (Spätmittelalter und Reformation 19), Tübingen 1998, 32 f., 143–168 (v.a. die Würdigung 164); hier auch Nachweis von Parallelen zum ‘Schatzbehalter’.

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nenden, amtierte als Lesemeister der Franziskaner und Prediger am Franziskanerinnenkloster St. Clara in Nürnberg.94 Er ist bekannter durch sein frömmigkeitstheologisches Werk, den ‚Schatzbehalter‘. Vom Prior der Kartause Michaelsberg bei Mainz (wohl Johannes Lyse von Schmalkalden) erhielt er eine Sammlung von 32 antiken Silber- und Kupfermünzen geschenkt. Den Ausschlag gab seine ganz offensichtlich ungewöhnliche münzkundliche Kompetenz und Kenntnis der antiken Quellen: Vmb des willen, das er sie kant vnd lesen kunt und vmb geschrifftlicher kuntschafft willlen der kayseren, der sie sint, ain wollust in ynen het.95

Der Mönch ordnete und erläuterte die Münzen und übergab sie seinerseits 1486 dem Nürnberger Rat. Hier nahm sich der Ratsherr Hans Tucher († 1491) der Sache an, der gerade in diesen Jahren die ‘humanistische’ Umrüstung der berühmten Ratsbibliothek vornahm. Tucher ließ nach Auskunft des Nürnberger Rechnungsbuchs die 32 Münzen kupfern keisserangesicht durch Albrecht Dürer d. Ä. vergolden. Beim Nürnberger Goldschmied Barthelmäs Egen kauft er für 1 fl. neun weitere silbern keiserangesicht dazu und läßt sie von diesem vergolden, gibt selbst noch den Abguß eines Denars dazu darumb der herr jesus christus verkauft ist worden, den Tucher von einer Pilgerfahrt ins Hl. Land, einen zu Rodis und den andern zu Bethlehem, gesehen und mitgebracht hatte.96 Damit waren die 42 Münzen beisammen, die der Nürnberger Rat im der Ratsbibliothek in einer grossen taffell hängend97 ausstellen ließ. Dieses Faktum ist bemerkenswert genug für 1487, das Jahr, in dem Kaiser Friedrich III. Konrad Celtis in Nürnberg zum Dichter krönte. Das offenbar übliche und – horribile dictu für den Numismatiker – patinazerstörende Vergolden zeigt, daß man die Münzen mehr als Preziosen denn als ‘Quellen’ ansah. Es ist zwar Tucher, der das ‚Buch von den keyserangesichten‘ durch einen Schreiber in kalligraphisch verschnörkelter Frakturschrift auf Perga-

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Zu Tucher siehe Anm. 93 sowie J OACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 1–11; HELGARD ULMSCHNEIDER: Art. Tucher, Hans VI., in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 9 (1995), Sp. 1127–1137; Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 93), Sp. 1086 f. (Tucher VI.) 95 JOACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 30, Z. 8–10. 96 Auszug aus dem – vom Verfasser nicht am Original überprüften – Rechnungsbuch, J OACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 1 f. u. 86 (Nachschrift Tuchers am Ende des Werks). Tetradrachmen von Rhodos mit dem Bild der Rose galten oft als Judasmünzen. Vgl. F. DE MELY: Les deniers de Judas dans la tradition du Moyen Age, in: Revue numismatique 4 ser. 3 (1899), 500–509. 97 Laut J OACHIMSON: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 2 in einem weiteren Eintrag des Rechnungsbuchs. Über die technischen Details der Präsentation scheint bisher nichts weiteres bekannt.

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ment bringen lässt;98 der Autor aber ist Fridolin. Es ist eben nicht eine Deskription der Münzsammlung (mit ein wenig schriftlicher ercklerung, durch die man sye erkennen mocht),99 sondern der griechischkundige Franziskaner schreibt eine höchst selbständige und frühe römische Geschichte. Sie beginnt in der frühen Republik, in einer bis dato in Deutschland und auf Deutsch singulären Intensität der Liviusaneignung.100 Wichtig ist dem Autor hier wie überhaupt die – antike! – Ursprungsgeschichte seiner Stadt Nürnberg sowie die Frühgeschichte der Deutschen (= Germanen). Es folgt ein Sprung zu Octavian; erst jetzt wird der Text zur Vitenreihe der römischen Kaiser bis Constantin beziehungsweise dessen Sohn Crispus († 326). Bild und Text sind hier getrennt. Die Münzen sollten gleichsam die Imagines (kaiserangesichte) zum Text darstellen beziehungsweise umgekehrt, der Text eine Art historischen „Begleitband“ (Seegets) zur Münzsammlung. Ursprünglich hatten die Münzen (swacz, geprech) wohl im Zentrum stehen sollen: denn mien furnemen ist nit, von dem leben der kaiser ze schreiben, sunder allein die schwäcz oder gebrech, welcher kaiser sie sein, anzaigen und zu erkennen geben, das man in ettlicher maß ein erkanntnus haben muge, zum mynsten der glidmass halben, der antlitczen der allergrosten herren, die in der welt ye gewesen sint.101

De facto geht es dann doch um die Viten der Kaiser als ‘homines famosi’. Das an Petrarca gemahnende Interesse am Bild, an Porträt und Körper der Dargestellten, an der Verbindung von Ruhm und Münzprägung, die hier zur Quelle wird, ist bemerkenswert: Und sey das es ein lust ist, großmechtig person zu sehen, ..., so hat man ir gestalt vnd bild, die so großmechtig in diser werlt vber annder gewesen sind, in gold, in silber und in annder metall oder materi, gepreget, geschlagen, gedruckt oder gegraben, vnd hat ir pild und gepreg in die muncz zu iren geczeiten geschlagen.102

Von den 42 Münzen der Sammlung (die von 38 Münzherren stammen) werden dann aber im Text nur vier überhaupt erwähnt. Die genaue Zusammensetzung der Sammlung läßt sich daraus nicht mehr erschließen, man darf aber annehmen, daß es au fond eine Kaiserserie war.103 Genannt werden Münzen von Octavian/Augustus († 14 n.Chr.), von Germanicus und 98

J OACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 2 Zahlung an den Schreiber Niclas Fincken. 99 So die Einleitung (Tuchers?), in der Fridolin in der dritten Person erscheint; J OACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 30 Z. 14 f. 100 Zur Einordnung vgl. C ARLA W INTER: Humanistische Historiographie in der Volkssprache. Bernhard Schöfferlins ‘Römische Historie’ (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur. Neue Folge 6), Stuttgart 1999. 101 JOACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch (wie Anm. 36), 66, Z. 9–13. 102 Ebd. 29, Z. 31–32, Z. 2. 103 SEEGETS: Passionstheologie (wie Anm. 93), 32 f., 144, 155 (Liste der thematisierten Kaiser).

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Drusus († 19 und 23 n.Chr.), Neffe und Sohn des Tiberius – eine Münze mit Doppelporträt –, ferner von Trajan und dem kundig identifizierten Caesar der zweiten Tetrarchie, Flavius Severus († 307).104 Ein münzkundliches Lehrstück bringt Fridolin allein zu einer Münze des Kaisers Trajan († 117). Professionell, und in Autopsie, löst der Franziskaner im einzelnen die abgekürzte kaiserliche Titulatur auf (diese wort steen nit ganz da, sunder vntterweilen ein silb, vnderweilen ein ayniger buchstab fur ein gancz word).105 Sein Interesse gilt kaum dem Bild, nicht den Nominalen, sondern der Münzinschrift; dabei differenziert er auch deren ort nämlich Vorder- und Rückseite. Der Exklusivität seines Wissens ist er sich bewußt: als man hie auf diesem swacz – wer es lesen kann(!) – sicht. Das besondere Interesse an Trajan liegt zum einen wohl an dessen Ruf als Inbegriff des gerechten Herrschers schon im Mittelalter; schließlich besitzt die Schrift im letzten einen theologisch-paränetischen, „auf eine Art Ethik der Führungspersonen hin ausgerichtete(n) Skopus“.106 Zum zweiten hat Trajan, in Köln zum Kaiser ausgerufen, eng mit ‘Deutschland’ zu tun: mit dem Triumphtitel ‚Germanicus‘ habe sich der Kaiser, so Fridolin, nach den Tewtschen benannt. Sicherlich – die „theologische Zielrichtung“ (Seegets) des gesamten Werks ist unverkennbar, die römischen Kaiser sind Inbegriff der Allmacht des göttlichen Wirkens und zugleich für die Vergänglichkeit irdischer 104 Octavian: Diser swacz oder geprech ist geschlagen worden vor der gepurt Christi und ee dann keiser Octavius oder Octavianus, als wir ine gewonlich nennen, unter dem Christus geboren ist, Augustus genennt ist worden; J OACHIMSOHN: Hans Tuchers Buch [Anm. 36], 55, Z. 11–14. Germanicus und Drusus: ... als sie die Deutschen an sich gezogen und und ... nach den Deutschen, die germani heissen, germanicos nannten, als dann erscheint aus dem, das auff disem schwacz auf einem ort ‘Caesar Augustus Germanicus’ und auff dem andern ort ‘Nero et Drusus Caesares’ geschrieben steet (ebd. 61, 16–21). Es geht um einen Denar des Gaius (Caligula); RIC I (wie Anm. 56), 110 Nr. 34. Zu Severus: Severus, des diess geprech ist, muß der sein, der von dem kaiser Maximino Galerio kaiser ist worden ... (ebd. 85, Z. 1). 105 Trajan: Er hat sich auch nach den teutschen oder von den Tewtschen, die er hie disset des reins uberwunden hat, genennt, als man auf diesem swacz oder geprech – wer es lesen kan – sicht. ... Darum stet hie auf disem swacz oder gebrech: ‘Nerva Traianus germanicus’, oder will man es nach der ordenung wissen ze lesen, so steet es also: ‘Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus Germanicus’. An den anderen ort: ‘tribunicie potestatis consul bis pater patriae’. Aber diese wort steen nit ganz da, sunder vntterweilen ein silb, vnderweilen ein ayniger buchstab fur ein gancz word etc. und auss diser vnderweisung mag man die anderen geprech auch lernen lesen. (ebd. 72, Z. 16– 30). Die Titulatur, auch in der Verteilung auf Vorder- und Rückseite, ist nachweisbar, aber es fehlt – wie auch auf Memlings Nero (vgl. Anm. 56) – der Titel des P(ontifex) M(aximus). Vgl. HAROLD MATTINGLY/E. A. SYDENHAM (Hg.): RIC II 2: Vespasian to Hadrian, London 1926, 245 Nr. 1–9; 246 Nr. 29–31 (Denare); 272 Nr. 389 (Sesterz). Es folgt noch: Ein muster oder abgus von einem der dreyssig pfenningen, darumb Cristus der herre verkauft ist worden (ebd. 86, Z. 5f.), also ein ‘Judasdenar’ (siehe Anm. 96). 106 SEEGETS: Passionstheologie (wie Anm. 93), 164.

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Macht (der antlitczen der allergrosten herren, die in der welt ye gewesen sint, die got der herre darum erhebt hat ... zu solicher grossen macht). Auch wenn vom Zuschnitt kein typischer Humanist, wird der Franziskaner – wie sein Ordensbruder und Konkurrent Sigismund Meisterlin – mit den artikulierten Interessen Teil jenes neuen regionalen Identitätsdiskurses, der Städte und Landschaften der Gegenwart auch als antike Landschaften erschloß.107 Lokale Inschriften- und Münzfunde spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Kaisermünzen, die der Nürnberger Rat ausstellen ließ, sind keine lokalen Funde; aber sie reklamierten doch als solche massiv den Nimbus imperialer Antike für die Pegnitzstadt und ihr Patriziat: arkan in einer Kammer des Rathauses und doch auch öffentlich, für Gäste, die zu zeiten von weyten herkomen (4v). Städtische Antikerezeption und -repräsentation wird später auch monumental, in der Ausstattung der Rathäuser, und wendet sich nach außen, auf die Fassaden: Man denke an das Augsburger Rathaus des Elias Holl von 1615/20 und an die bereits 1569–73 errichtete Kölner Rathausloggia mit ihren Kaisermünzporträts auf dem Architrav.108 Vom Mönchshumanisten Fridolin zu einer Glanzfigur des deutschen Humanismus – auch sie stand im seriellen Bann der Kaisermünzen, als Sammler für ein Bildwerk: 5. Conrad Peutinger (1465–1547) in Augsburg und sein ‚Kaiserbuch‘ Konrad Peutinger, Humanist, Stadtschreiber seit 1497, war Freund Kaiser Maximilians I., dessen Hof eine veritable Geschichtswerkstatt zur Konstruktion von ‘Kaiserbildern’ des Habsburgers und seiner Dynastie beschäftigte.109 107

Vgl. hier nur OTT: Inschriften (wie Anm. 23), und DERS.: Entdeckung (wie Anm. 18), sowie als Überblick JOHANNES HELMRATH: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: MATTHIAS W ERNER (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen 61), Ostfildern 2005, 333–392 (Literatur); siehe Nr. VIII in diesem Band. Zu Kunstmarkt, Städten und bürgerlichen Sammlungen guter Überblick bei NORTH: Kunst und bürgerliche Repräsentation (wie Anm. 43); vgl. den Sammelband Stadt und Archäologie (wie Anm. 33). Zur vermuteten Konkurrenz mit Sigismund Meisterlin, der sich zur gleichen Zeit an einer Geschichte Nürnbergs versuchte, siehe SEEGETS: Passionstheologie (wie Anm. 93), 152–156. Zu Meisterlin jetzt HARALD M ÜLLER : Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32), Tübingen 2006, 137–174, 414 s.v. 108 B ERND ROECK: Elias Holl. Architekt einer europäischen Stadt, Regensburg 1985, hier 172–221. Zur Kölner Rathausloggia: erbaut unter Leitung des Steinmetzen Wilhelm Vernucken († 1607) nach Plänen von 1557, die von dem Flamen Cornelis Floris II. de Vriendt (1514–1575) stammen, siehe HEUSER: Matal (wie Anm. 23), 302 f. (Literatur); [ISABELLE K IRGUS: Die Rathauslaube in Köln 1569–1573. Architektur und Antikerezeption (Sigurd Greven Studien 4), Köln 2003, hier zu den Kaisermedaillons: 211–240.] 109 Aus der angewachsenen Literatur hier lediglich: J AN D. MÜLLER: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (Forschungen zur Geschichte der Älteren

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Peutinger arbeitete spätestens seit 1503 an einem Kaiserbuch von Caesar bis Maximilian, als Kombination aus ‘authentischen’ Münzbildern, Text und Genealogien. Er stand vor zwei Schwierigkeiten: Zum einen mußte er anders als Fridolin erst eine Porträtsammlung aufbauen, dazu eine Inschriftensylloge, von der 23 Augsburger Steine 1505 publiziert wurden,110 sowie Abschriften von Urkunden. Zum andern mußten die Porträts möglichst originalgetreu für den Druck reproduziert werden. Dies stellte, auch technisch, eine neue Aufgabe dar. Das Kaiserbuch war die Geschichte einer Leidenschaft und ihres Scheiterns. Die Intensität seines Sammelns – Celtis schrieb, niemand in Deutschland sei in antiquis conquirendis nomismatibus avarior – belegt Peutingers Korrespondenz.111 Auch der Kaiser selbst wurde um Münzen angegangen. Für die Münzbilder hatte Hans Burgkmair († 1531) bereits hundert Holzschnitt-Porträts angefertigt. Doch das Werk blieb nach Maximilians Tod, als die Glaubensspaltung auch den Glauben in den Universalismus des Reichs erschütterte, unvollendet.112 Siebzehn Holzschnitte mit Kaiserköpfen Burgkmairs wurden in einer Sueton-Ausgabe Philippo Beroaldos (Venedig 1489) aus Peutingers Besitz in der British Library, drei weitere in Paris wiederentdeckt und zusammen als Überbleibsel des geplanten Kaiserbuchs identifiziert. Der Künstler konzentrierte sich bei der Wiedergabe auf das pure Porträt als idealisierte imago clipeata (62 x 96 mm), ließ also die Umschriften weg.113 deutschen Literatur 2), München 1982; FLORENS DEUCHLER: Maximilian I. und die Kaiserviten Suetons. Ein spätmittelalterliches Herrscherprofil in antiken und christlichen Spiegelungen, in: DERS. (Hg.): Von Angesicht zu Angesicht. Porträtstudien. Bern 1983, 129–149; SVEN LÜKEN: Kaiser Maximilian I. und seine Ehrenpforte, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 4 (1998), 449–490. 110 CHRISTOPHER S. W OOD: Early Archeology and the Book Trade, The Case of Peutinger’s ,Romanae vetustatis Fragmenta‘, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 28 (1998), 83–118; OTT: Entdeckung (wie Anm. 18), 100–123, 376 s.v. Vgl. FRANZ FUCHS: Beatus Rhenanus als Inschriftensammler, in: ROBERT STUPPERICH (Hg.): Lebendige Antike. Rezeption der Antike in Politik, Kunst und Wissenschaft der Neuzeit. Kolloquium für Wolfgang Schiering (Mannheimer Historische Forschungen 6), Mannheim 1995, 27–30; FRANZ-J OSEF WORSTBROCK: Hartmann Schedels ‘Liber antiquitatum cum epitaphis et epigrammatibus’. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses des deutschen Humanismus, in: D IETMAR PEIL/M ICHAEL SCHILLING/PETER STROHSCHNEIDER (Hg.): Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 215–243. 111 Konrad Peutingers Briefwechsel, hg. von ERICH KÖNIG (Humanistenbriefe 1), München 1923. 112 HEINRICH LUTZ: Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 9), Augsburg 1958, hier 142 f. Jeweils unter Auswertung der Briefe: VOLZ: Peutinger (wie Anm. 54), 40–48; DEUCHLER: Maximilian (wie Anm. 109), 131–133. 113 CAMPBELL DODGSON: Die Caesarenköpfe, eine unbeschriebene Folge von Holzschnitten H. Burgkmairs d. Ä., in: ERNST B UCHNER/KARL FEUCHTMAYR (Hg.): Beiträge zur Geschichte der deutschen Kunst II: Augsburger Kunst der Spätgotik und der Renaissance, Augsburg 1928, 224–228, 227 f. Liste der Holzschnitte, noch ohne Identifikation

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Peutingers Korrespondenz zeugt davon, wie sehr neben Klassikertexten auch antike ‘Realien’ Gegenstand der humanistischen Kommunikation geworden waren. Sich als Experten zu schätzen und auszutauschen, gehörte zum Stil der Corona. So bat Peutinger den Augsburger Benediktiner Veit Bild über eine zuvor in Ungarn gefundene Silbermünze (nomisma herculis) um Auskunft, die wiederum für Maximilian bestimmt war (quod de eo sentires, ut rescriberem Cesareae majestati). Bilds Antwort vom Januar/ Februar 1514 setzte sich mit der griechischen Umschrift auseinander (Luce namque clarius soteros, non satyros, Hrakleous, non Heraclius, vel Herculis) und bestätigte sie als Stater aus Thasos.114 Fortgeschrittene Kompetenz in numismaticis zeigt ein Brief des Michael Hummelberger (10. Oktober 1512) aus Ravensburg, auf dessen Wunsch er die Umschriften einiger griechischer Kaisermünzen (‘Kolonialbronzen’) seiner Sammlung auflöste. Dabei wurde genaue Autopsie (er benutzt das Verb oculari) der Münzumschriften mit Texten der Klassiker Sueton, Macrobius und Valerius Maximus zur Deutung kombiniert.115 Peutingers Kaiserbuch war nur eines von mehreren vergleichbaren münzikonisch-historiographischen Unternehmen deutscher Humanisten. Johannes Spießheimer, Cuspinian (†1527), der mit seiner bewunderten Münzsammlung schon begegnet war, sollte dann die maßgebliche Kaiserbiographie des deutschen Humanismus vorlegen: ‚De Caesaribus atque imperatoribus Romanis‘; sie erschien freilich erst postum 1540.116 Die Kaimit dem Kaiserbuch; Hans Burgkmair. Das graphische Werk, Stuttgart 1973, Nr. 77 (Literatur) mit Abb. 95, nach einem zweiten Suetonausgabe aus Peutingers Besitz (Paris 1512); Dillingen Studienbibl. V 1462; FERRARY: Panvinio (wie Anm. 67), 96, 110. 114 PEUTINGER: Briefwechsel, hg. von KÖNIG (wie Anm. 111), 239–242 Nr. 143–145. Die Umschrift: Hrakleous soteros Thasion, ebd. 240 Anm.1 (Literatur) weist auf eine eigene, zweifach handschriftlich überlieferte Abhandlung Peutingers (Reinschrift Wien ÖNB CVP 3344) über diese Münze hin. Zur gruppensozialen Bedeutung der Humanistenkorrespondenz SCHIRRMEISTER: Triumph des Dichters (wie Anm. 41); MÜLLER: Habit und Habitus (wie Anm. 107), hier 47–78 und passim, hier 321–324 und 408 s.v. auch weiteres zu Veit Bild. 115 P EUTINGER: Briefwechsel, hg. von KÖNIG (wie Anm. 111), 170–172 Nr. 101. Es geht um die griechischen Titulaturen anhand von Münzen der Kaiser Philippus Arabs (244–249), Volusianus († 253), Salonina, der Gattin des Gallienus (253–268) und Antoninus (wohl Elagabal, 218–222). Das Lesen ist schwierig: Sunt autem nomismata nonnulla ita exoletis et attritis characteribus, ut non adeo oculatus sim, quod ex hiis quidpiam habere queam (170); Ab altera vero parte hoc habet: Démarchos Exousías hýpatos ógdoos Antiochía, quod litteris minusculis perfectius scribitur..., Latine: Tribunitiae potestatis cos. VIII Antiochia (171). Zu Hummelberger vgl. ADALBERT HORAWITZ: Michael Hummelberger. Eine biographische Skizze, Berlin 1875. [ALBERT SCHIRRMEISTER: Art. Hummelberg, Michael, in: Deutscher Humanismus. 1480–1520. Verfasserlexikon 1/4 (2008), 1165–1171]. 116 J OHANNES CUSPINIANUS: De Caesaribus atque imperatoribus Romanis opus insigne (Straßburg 1540; Frankfurt am Main 1601); HANS ANKWICZ-K LEEHOVEN: Der Wiener Humanist Johannes Cuspinian. Gelehrter und Diplomat zur Zeit Maximilians I.,

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ser von Caesar bis Maximilian sind erfaßt, vorgesehen waren auch die byzantinischen und türkischen Herrscher. Das Problem bildeten die Porträts; es fehlte, wie Cuspinian 1526 in einem Brief an Pirckheimer klagte, an Künstlern, obwohl unter anderem Albrecht Dürer als huius artis princeps – sprich: des Holzschnitts – vorgesehen war.117 1527, als alles bereit schien, zog der Nürnberger Drucker Anton Koberger zurück. Das Werk erschien erst 1540 bei Oporinus in Basel mit 125 Kaisermedaillonporträts nach Münzbildern. Sie waren freilich aus dem Werk des Johannes Huttichius, ‚Imperatorum Romanorum libellus‘ von 1525 entlehnt und wurden als rekurrierende Stempel (das Bild des Aelius Pertinax allein 25mal), wie in der Schedelschen Weltchronik, eingesetzt.118 Hat man Münzen methodisch genutzt? Johannes Aventinus zog für Buch II seiner Bayerischen Geschichte, welches die römische Kaiserzeit behandelte, auch antike Münzen heran, aber doch noch eher illustrativ, wie in den Kaiserbüchern, denn als historische Quellen. Doch plante er eine Edition der römischen Kaisermünzen.119

V. Applikationen, Transformationen und Monumentalisierungen von Münzen in Malerei und Skulptur Wie wurden Münzen und Münzmotive ins Bild gesetzt, wenn es nicht im engen Sinne – obwohl das kaum trennbar ist – um münzkundliche Abbildungen geht? Dieses reizvolle und breite Repertoire wäre Thema eines eigenen Buches. Ein Neuansatz ist hier durch einen dichten Analyseraster

Graz/Köln 1959, 239–245, 267–283 (zur Druckgeschichte); LEMBURG-RUPPELT: Vico (wie Anm. 27), Bd. 1, 8 f.; B ERGHAUS: Anteil (wie Anm. 64), 15; FERRARY: Panvinio (wie Anm. 67), 57 f., 67, 97 f., 111–118. 117 Cuspinians Briefwechsel, hg. von. ANKWICZ-K LEEHOVEN (wie Anm. 41), 154–166 Nr. 52 an Willibald Pirckheimer (Wien, 1526 November 25): Imagines Caesarum omnes non sunt excisae hactenus, quia caremus artificibus. Sed hanc partem reliquam excudendum reservavi tibi et tuo Achati Alberto Durer, facile huius artis principi. 118 Zu Huttich siehe v.a. BERGHAUS: Anteil (wie Anm. 64), 14 f.; LANCKORONSKA: Huttichius (wie Anm. 72). 119 Zu Aeventin als prominentestem Beispiel: ALOIS SCHMID: Johannes Aventinus und die Realienkunde, in: FRANK-LOTHAR KROLL (Hg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift Wolfgang Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, 81–101, hier 85, 88, 94–96. 100; DERS.: Die historische Methode des Johannes Aventinus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 113 (1977), 338–395, hier 368; vgl. LEONHARD LANDSHAMER: Aventin und die Erforschung der römischen Antike, in: WOLF-ARNIM VON REITZENSTEIN (Hg.): Bayern und die Antike. 150 Jahre Maximilians-Gymnasium in München, München 1999, 179–197. Vgl. auch BENEDIKT ZÄCH: Vadian und die Numismatik. Eine Spurensuche, in: RUDOLF GAMPER (Hg.): Vadian als Geschichtsschreiber (Vadian-Studien 17), Lenzburg 2006, 129–142.

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möglich, wie er oben als Grammatik rudimentär geliefert wurde.120 Die Münzbilder beziehungsweise ihre Ableitungen lassen sich vorschlagsweise in folgende Applikationsfelder gliedern: 1. Buchmalerei, vor allem auf Titelminiaturen, 2. Tafelbilder (siehe oben das Sammlerbild Abb. 1) und Wandgemälde; 3. Skulptur, Bronzeguß; 4. Architekturen, Fassadenschmuck (hier nicht zu leisten); 5. Sonstige Gegenstände. Im folgenden seien nur einige wenige Beispiele genannt: Es handelt sich immer um Transformationen und Neukontextualisierungen. Transformation findet allein schon in der Größenordnung statt. Das Münzbild selbst ist naturgemäß miniaturhaft, winzig. Nach Münzbildern arbeiten hieß insofern per se: sie vergrößern, sie ‘monumentalisieren’; es sei denn, man schuf wiederum Münzen und Medaillen im gleichen Maßstab. Durch ihr edel patiniertes Metall, aber eben durch die schiere Größe boten am ehesten die bronzenen Sesterze und Medaillons bereits ihrem antiken Stempelschneider die größte künstlerische Entfaltung und wurden nun in der Renaissance aus gleichem Grund besonders häufig Motivvorbilder. Fast immer geht es um die Erzeugung beziehungsweise die signalhafte Manifestation eines antikischen Ambientes, wenn Münzbilder appliziert oder Münzmotive transformiert werden. Das alte Problem der historischen Angemessenheit, der ‘convenevolezza’ (Reiner Haussherr) spielt hier eine zentrale Rolle. Daß etwa Caesar nicht mehr in Ritterrüstung, sondern ‘authentisch’ im antiken Feldherrngewand erscheint, nicht vor gotischen, sondern vor antiken Gebäuden agiert, ist Zeichen eines antiquarischen Realismus, eines Stils ‘all’antica’, dessen Vorgehensweise Gombrich just auf die Begriffe ‘Imitieren’ und ‘Assimilieren’ bringen wollte. Diese ‘convenevolezza’ ist ansatzweise durchaus in früheren Epochen, etwa bei Giotto, zu beobachten und setzte sich verstärkt bei Ghiberti, Filarete und den Bellinis fort; die gänzliche „römische Ambitierung“ eines szenischen Geschehens sollte aber nach allgemeiner Ansicht in der Malerei erst Mantegna leisten.121 120

Siehe oben bei Anm. 12–13. DEGENHARDT/SCHMITT: Corpus (wie Anm. 8), Bd. II.2, 85; SCHMITT: Wiederbelebung (wie Anm. 8); ERNST GOMBRICH: Der Stil ‘all’antica’: Imitieren und Assimilieren, in: DERS.: Norm und Form. Zur Kunst der Renaissance, Bd. 1, Stuttgart 1985, 158–166 (zuerst engl. 1961); REINER HAUSSHERR: Convenevolezza. Historische Angemessenheit in der Darstellung von Kostüm und Schauplatz seit der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert (Abhandlungen der geisteswissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 4), Wiesbaden 1984. Zur antiquarischen Antike bei Mantegna FRITZ SAXL: Jacopo Bellini and Mantegna as Antiquarians, in: DERS.: Lectures, London 1957, 150–160; ANDREW MARTINDALE: Andrea Mantegna. I Trionfi di Cesare nella Collezione delle Regina d’Inghilterra ad Hampton Court, Mailand 1980, bes. 53–77; vgl. ARNOLD ESCH: Mauern bei Mantegna, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte 47 121

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Zu 1: Es nimmt nicht Wunder, daß gerade die sequenziellen Kaiserviten Suetons und der Historia Augusta in Handschriften des 14. bis 16. Jh. durch die entsprechenden Münzbilder illustriert wurden. Über Matociis’ (Mansionarius’) Imagines von 1320 wurde schon gesprochen. In einem Atemzug mit ihm nennt die Literatur die in Venedig entstandene SuetonHandschrift Fermo, Biblioteca Comunale ms. 81, die außerdem Texte der römischen Historiker Livius, Festus, Sallust und Florus enthält. Auch hier werden die Texte von Kaiserbildern als Randskizzen flankiert, nur daß hier sowohl der runde Rahmen wie die Umschrift entfallen, sondern das Profilporträt der Augusti zur Vollfigur ergänzt wird.122 Prachtvolle Beispiele der Miniaturen von Münzporträts römischer Kaiser und Kaiserinnen bietet die Historia-Augusta-Handschrift Rom, Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele cod. 1004 (Abb. 4, S. 423 und 5, S. 424).123 In der Titelminiatur (fol. 4r) bildet die Vorderseite einer Bronzemünze (Sesterz, Medaillon?) Kaiser Hadrians – HADRIANUS AUGUSTUS P(ater) P(atriae) – zugleich die O-Initiale der in Kapitalis beginnenden Vita (ORIGO IMPERATORIS HADRIANI). Die Münze will in Metall, Farbe, Relief, Schrift und Perlrand als Münze authentisch erscheinen. Dennoch erscheint sie idealisiert, entspricht mit dieser Umschrift offenbar keinem tatsächlichen Specimen.124 An anderer Stelle werden die Dreißig Tyrannen Athens (Abb. 5) in einer aufwendigen Sequenz aus drei Bildern auf drei Seiten (fol. 147v–148v) abgebildet, einmal mit sechs, zweimal mit zwölf Köpfen. Die ‘Tyrannen’ sind in dreißig Varianten als Münzbilder römischer Bronzen dargestellt, aber ohne Schrift. Sie erscheinen in einer Art prachtvollem Schaukasten, wie in einer Sammlung präsentiert. Zumindest die unbehelmten Bilder sind zum Teil mit gängigen kaiserlichen Porträttypen (darunter auch Faustina Mater!) des 1. bis 3. Jahrhundert identifizierbar, aber es sind keine originalen Münzen mehr, sondern hybride Transformationen. Der Perlrand und das stark (1984), 293–319. [ALBERTA DI N ICOLO SALMAZZA: Andrea Mantegna, Köln 2004, 286 Anm. 176 (Literatur)]. 122 DEGENHARDT/SCHMITT: Corpus (wie Anm. 8), Bd. II.2, 79–86, Taf. 17–20; DIES.: Corpus (wie Anm. 2), Bd. II.5, 216; ähnlich bereits SCHMITT: Wiederbelebung (wie Anm. 8), 189–211, bes. 191, 194; DIES: Einfluß (wie Anm. 6), 228–232. 123 Dazu ORONZO PECERE, in: MARCO B UONOCORE (Hg.): Vedere i classici. L’illustrazione libraria dei testi antichi dall’età romana al tardo medioevo, Rom 1995, 467–472 Nr. 136 (Literatur) mit Abb. 491–495; WEISS: Discovery (wie Anm. 23), 173 Anm. 6. Eine ähnliche Handschrift ist Turin, Bibl. Nazionale, Ms. E III 19. 124 Vgl. RIC II (wie Anm. 105), Nr. 330–367, 481–528 (Denare); bei Nr. 737 (Sesterz) ist die Inschrift gängig, aber ohne P(ater) P(atriae). Eine andere Miniatur der Handschrift Rom, Biblioteca Nazionale, Ms. 1004 f. 14v (Vedere i classici [wie Anm. 123] Abb. 492), zur Vita des Lucius Aelius († 138) zeigt drei Bronzemünzbilder in einem architravähnlichen Bau über dem Vitentext. In der Mitte ein Porträt mit Schrift, flankiert von zwei Münzen, die Rückseitenmotive (stehende und sitzende Concordia) darstellen.

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reliefierte wie schattierte Porträt geben den Stücken zudem einen schüsselförmig konvexen Charakter. Rückseitenmotive hingegen bringt das Titelbild der Bibel des Matthias Corvinus (Florenz, Biblioteca Medicea-Laurenziana Plut. 15.15), gemalt von den Brüdern del Fora Gherardo (1445–1497) und Monte (1448–1529) (Abb. 6, S. 425). Der Text beginnt mit den Psalmen; das Hauptbild zeigt eine Schlacht gegen die Philister, links ein thronender König David. Auf der unteren Rahmenleiste flankieren zwei Münzbilder den Wappentondo in der Mitte. Sie geben die Rückseiten von Sesterzen des Antoninus Pius (Kaiser opfert vor Tempel) und Hadrians (Adlocutio) wieder,125 ebenfalls als Tondi mit breitem Rand – und ohne Schrift. Die Medaillons der oberen Leiste, die einen Triumphwagen mit Greifen beziehungsweise Löwen zeigen, fußen hingegen nicht auf nachweisbaren Münzbildern. Hybride Formen zeigt auch die Prachthandschrift Vat. Lat. 1682 mit dem Text eines Pro(g)nostichon Hierosolymitanum (um 1507) des Giovanni Michele Nagonio. Die Handschrift ist das Widmungsexemplar für Papst Julius II. (Abb. 7, S. 426). Die Hauptminiatur zeigt (fol. 8r) den Papst in Medaillenform mit Mozetta und Samtmütze sowie seinen Triumphzug vom März 1507 in Rom, nach dem Sieg über Giovanni Bentivoglio von Bologna. In der Mitte des unteren Rahmens in den Seitenrahmen rechts und links sowie im oberen Rahmen sieht man insgesamt elf idealisierte iulisch-claudische Kaisermünzporträts mit neugeschaffenen, auf Julius II. und seine Nepoten bezogenen panegyrisch verketteten Inschriften.126 Zu 2: Tafelbilder, Wandgemälde. Erstere wurden oben bei den Sammlerbildern angesprochen. Von letzteren seien nur zwei Beispiele vorge-

125 RIC II (wie Anm. 105), 426 Nr. 739 (Adlocutio); zum adlocutio-Motiv auch CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 219–222, 233–235. 126 Unten links: CETERIS CLARIOR; links Mitte: QUERCUS HONOR, links oben: IULII GLORIA, oben Mitte: FR. MA. PRE(fectus) UR(bis) NEPOS, oben rechts: AUGUSTI VICTORIA, rechts Mitte: IO. PR. AL. UR(bis) FRATER, unten rechts: LAURO ILLUSTRIOR. Siehe Hochrenaissance im Vatikan. Kunst und Kultur im Rom der Päpste 1503– 1534, o.O. 1999, 88 (Abb.) und 439 Nr. 15 (Literatur). Weitere Handschriften mit Miniaturen antiker und antikisierender Münzen (an einem Inventar, mit den numismatischen Identifizierungen, wird vom Verf. gearbeitet): ANNAROSA GARZELLI (Hg.): Miniatura fiorentina del Rinascimento, 1440–1525. Un primo censimento (Inventari e cataloghi toscani 18–19), 2 Bde., Florenz 1985, Bd. I, 183; Bd. II, 269–271 Abb. 486–89: Ovid, de remedio amoris, London Sotheby 22. Juni 1982, fol. 1 v, 2 r, 66 v, 67 r (Xenophonmeister; Hamilton. Münzbilder); ebd. 282 f. Nr. 507–512: Rom, BAV, Urb. Lat 464., fol. 2r. Ferner die Corvinen Wien, ÖNB, CVP 25, fol. 1 v, Philostrat; Heroica, im Rahmen links Mitte Matthias Corvinus, im oberen und unteren Rahmen Münzen der Kaiser Nero (Aureus), Claudius, Hadrian, Faustina; Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 85, fol. 3: Alexander Cortesius, Laudes bellicae; Matthias Corvinus mit Lorbeerkranz als antikes Münzporträt MATHIAS REX HUNGARAE BOHEMIAE.

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stellt:127 Domenico Ghirlandaio importiert die Adlocutio-Szene von der Rückseite eines Sesterz’ Gordians III. in die Fresken der Sassetti-Kapelle in Sta. Trinitá zu Florenz.128 In der Sala dei Gigli des Palazzo Vecchio,129 einem multimedialen Kunstwerk, bringt er im Fresko der römischen Republikheroen Brutus, Scaevola und Flaminius in den Ecken der oberen Zone Münzporträts von Trajan (r.) und Hadrian (l.) – aber ohne Schrift – an (Abb. 8, S. 427). Zu 3 und 4: Reliefs und Skulpturen. Am prominentesten ist hier sicher die Bronzetür an St. Peter von Filarete (Averlino), ca. 1434–1447. Die Bildtafeln und Schmuckbänder addieren neben zahlreichen anderen antiken Realien auch Münzbilder beziehungsweise imagines clipeatae und entlehnen Reversmotive, so in der ‚Kreuzigung Petri‘ aus einem CongiariumSesterz des Nero.130 Oder nehmen wir das Beispiel Ghiberti: Die in Trauer127

Eine systematische Studie fehlt und müßte aus der Literatur über einzelne Künstler filtriert werden. Überblicke bei DEGENHARDT/SCHMITT: Corpus (wie Anm. 2 und 8), Bd. II.2 und II.5 (zu Bellini und anderen); SCHMITT: Wiederbelebung (wie Anm. 8); DIES.: Einfluß (wie Anm. 6); GORINI: Monete greche e romane (wie Anm. 93); wichtig CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 213–344, hier 213–268 zu Francesco Granaccis ,Geburt Johannes‘ des Täufers (New York, Metropolitan Museum), 269–344 zu Tizians Reiterbild Kaiser Karls V. von 1548 (Madrid, Prado) nach Reversmotiven wie der decursio etc. auf römischen Sesterzen und Medaillen. Vgl. zur Epigraphik DARIO A. COVI: The Inscription in Fifteenth-Century Florentine Painting, New York 1986. [MARCO P ERALE : Le fonti iconografiche di Andrea Bellunello: Monete antiche e medaglie nei decori a Fresco, in: Archivio storico di Belluno Fettre e Cadore 77, Nr. 333 (2006), 119–133.] Motivisch anders gelagert, die Münze als Regen in Largitio-Miniaturen: FRAUKE STEENBOCK: Largesse – Münzen, Blüten und Mannaregen, Eine Motivstudie, in: HARTMUT KROHM/ CHRISTIAN T HEUERKAUF (Hg.): Festschrift für Peter Bloch zum 11. Juli 1990, Mainz 1990, 135–143. 128 J. ALBERT DOBRICK: Ghirlandaio and Roman Coins, in: The Burlington Magazine 123 (1981), 356–361. Zur adlocutio vgl. Anm. 125 [sowie, mit anderen Beispielen monumentaler Transformation von Münzbildern (hier: in Steinreliefs) etwa an Francesco Sassettis Grabmal von Giuliano da Sangallo in Sta. Trinità in Florenz, siehe bereits ABY WARBURG: Francesco Sassettis letztwillige Verfügung, in: DERS., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Reprint der von GERTRUD BING edierten Ausgabe von 1932, neu hg. von HORST BREDEKAMP/ MICHAEL DIERS (Aby Warburg, Gesammelte Schriften, Erste Abt. Bd. I/1), Berlin 1998, 127– 158, hier 157 mit Anm. 1, 146 Abb. 39]; sowie W EISS: Discovery (wie Anm. 23), 172 Anm. 4 und oben Anm. 125. 129 DORIS C ARL: Das Programm der Neugestaltung der Sala die Gigli im Palazzo Vecchio von Florenz. Antikenrezeption und Selbstdarstellung der Florentiner Republik, in: GRENZMANN/GRUBMÜLLER u.a. (Hg.): Präsenz der Antike (wie Anm. 5), 305–349, mit weiteren Hinweisen. 130 URSULA N ILGEN: Formeneklektizismus und Themenvielfalt als Programm in der römischen Frührenaissance – Filaretes Tür von St. Peter, in: KASPAR ELM (Hg.): Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien – Kompilationen – Kollektioen (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), Wiesbaden 2000, 143–208; ANDREAS T HIELEMANN: Altes und neues Rom. Zu Filaretes Bronzetür. Ein Drehbuch, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 63 (2002), 33–70. Vgl. J OHN R. SPENCER: Filarete. The Medaillist of the Roman

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zusammengekauerte Figur der Maria links im Bronzerelief der ‘Kreuzigung’ am Nordtor des Baptisteriums von Florenz ist sicher nach dem Vorbild der verbreiteten Judaea capta-Reverse auf Sesterzen Vespasians und Titus’ gestaltet131 (Abb. 9, S. 428). Was die Plastik betrifft, so kritisierte Cunnally wohl zurecht die „marmorcentric tendency“ zumindest der älteren Kunsthistorie, welche die antiken Vorbilder weitgehend im Bereich der antiken Plastik gesucht, jedoch das am einfachsten verfügbare und bewegliche – freilich auch sehr kleinmotivige – antike Bildmaterial, die Münzen, ignoriert habe. In der Plastik, auch in der Bauornamentik wird bei Verwendung von Münzbildern besonders oft auf die Schrift verzichtet, wodurch Hybridformen entstehen. Das Marmorportal zur Sala dei Gigli des Palazzo Vecchio von Benedetto da Maiano appliziert am Gesims aufgestellte Kandelaber mit Münzbrustbildern römischer Kaiser (Nero, Galba), „die dem Vorbild römischer Sesterzen folgen“ (306). Auch Mantegnas Medaillons römischer Kaiser an der Decke der Camera degli sposi im Palazzo Ducale zu Mantua (1474) sind vollkommen idealisierte, farblich veränderte, auch in der Porträtachse zum Frontalen hin verschobene Neubildungen, die nur entfernt das römische Münzmuster erkennen lassen.132 Zu 5: Enden wir mit Spiel und Sammellust: Der Spielkasten des Hans Kels d.Ä. (1480/85–ca. 1559) für Kaiser Ferdinand I. trägt in der Mitte Medaillons der fünf letzten Habsburger: Albrecht II., Friedrich III., Maximilian, Philipp der Schöne, Karl V. sowie je sechs Wappen. In den vier Ecken des Kastendeckels befinden sich römische ‘Kaisermünzen’, beziehungsweise Porträts nach ihrer Art, mit neu kreierten Umschriften133 (Abb. 10, S. 429). Der Münzschrank des Philipp Hainhofer von 1632, heute in der Universität Uppsala, regt die kaiserliche Sammelleidenschaft an, auch ohne daß man ihn öffnet, ist er doch als eine Art sprechendes Reliquiar gestaltet. Sein Dekor repräsentiert nicht nur den Inhalt, sondern Emperors, in: Art Bulletin 61 (1979), 550–561. Der sitzende Nero in der ‚Kreuzigung Petri‘ ist eindeutig nach der Congiarium-Szene eines bestimmten Sesterz gestaltet; RIC I, rev. edition (wie Anm. 56), 163 f. Nr. 151–162 Abb. 19 Nr. 161. 131 CUNNALLY: Coins (wie Anm. 26), 136 mit Abb. 10–11. 143 Anm. 35. Identifikation nach RIC II (wie Anm. 105), Nr. 91 (Titus). Siehe auch ALFRED FRAZER: A numismatic source for Michelangelos first design for the tomb of pope Julius II, in: Art Bulletin 52 (1975), 52–57, über das Rogus-Motiv auf dem posthumen CONSECRATIOSesterz des Antoninus Pius (ca. 161 n. C.); vgl. CUNNALLY: Role (wie Anm. 37), 15 f. 132 Vgl. statt umfangreicher Angaben die Abb. bei ANDRÉ CHASTEL: Chronik der italienischen Renaissancemalerei. 1280–1580, Würzburg 1984, 107 Abb. 92–93 (OTHO IMPER. C), sowie SCHMITT: Einfluß (wie Anm. 6), 243–246. 133 Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer 3419; dazu HANS HOLLÄNDER: Memoria und Repräsentation in der Frühen Neuzeit, in: KRAMP MARIO (Hg.): Krönungen. Könige in Aachen. Geschichte und Mythos, Mainz 2000, Bd. 2, 583–591, hier 568 f. (Abb. 2).

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ist mit ihm materiell identisch, in Gestalt zahlreicher ins Holz eingelassener antiker Münzen, Gemmen und Kleinbronzen.134 Von einer Trennung antiquarischer und künstlerischer Antikenrezeption, wie sie gelegentlich behauptet wird, kann nach alledem nicht oder nur sehr bedingt die Rede sein. Der Künstler bleibt pictor doctus et antiquarius. Wesentlich aber für die Entstehung von Sammlungen und numismatischer Wissenschaft, für Bewahren und Transformation der Antike, war die Faszination der Serie. Wie in Busleydens Münzschrank.

134

Hainhofers Münzschrank Abb. bei MARTIN KEMP: ‘Wrought by no Artists Hand’. The Natural, the Artificial, the Exotic and the Scientific in Some Artefacts of the Renaissance, in: CLAIRE FARAGO (Hg.): Reframing the Renaissance. Visual Culture in Europe and Latin America, 1450–1650, New Haven/London 1995, 177–196, hier 194.

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Abb. 1: Hans Memling: Bildnis eines Mannes mit Nero-Sesterz um 1480, Öl auf Holz, 31 x 23,3 cm, Antwerpen, Musée Royal des Beaux-Arts

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Abb. 2: Münzreverse aus Enea Vico: Le imagini con tutti i riversi..., Venedig 1548, fol. 31a, Florenz, Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts

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Abb. 3: Antoninian des Kaisers Aurelian (270–275) und Abbildung Aurelians aus Giovanni Mansionario, um 1320, BAV, Chigi I. VII. 259 fol. 24v

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Abb. 4: Scriptores Historiae Augustae, Rom, Biblioteca Nazionale Centrale Vitt. Em. 1004, fol. 4r

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Abb. 5: Scriptores Historiae Augustae, Rom, Biblioteca Nazionale Centrale Vitt. Em. 1004, fol. 149r

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Abb. 6: Gebrüder del Fora: Bibel des Matthias Corvinus, Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 15.15

Abb. 7: Giovanni Michele Nagonio: Prognostichon Hierosolymitanum, BAV, Vat. lat. 1682, Titelblatt um 1507

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Abb.8: Domenico Ghirlandaio: Uomini famosi. Brutus, Scaevola und Camillus, um 1482–1485, Fresko, Florenz, Palazzo Vecchio, Sala dei Gigli

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Abb. 9: Lorenzo Ghiberti: Kreuzigung, Bronze, teilweise vergoldet, 39 x 39 cm, Florenz, Vierpass am Nordportal des Baptisteriums

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Abb.10: Hans Kels nach Entwurf der Werkstatt Jörg Breus d.Ä. (?): Vier Medaillons mit genealogischen Porträts um das Medaillon mit Reiterbildnis Karls V., 1537, Deckel eines Spielbretts, Eichenholz mit Edelholzfurnieren, Wien, Kunsthistorisches Museum

Verzeichnis der Publikationsorte I. = Wege des Humanismus (Erstpublikation) II. = Der Humanismus in Deutschland (erweiterte Publikation) = in der deutschen Fassung erweitert; ursprünglich: L’umanesimo in Germania, in: Studi Francesi 153 (2007), 565–582. III. = Diffusion des Humanismus, in: JOHANNES HELMRATH/ULRICH MUHLACK/GERRIT WALTHER (Hg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 9–29. IV. = ,Vestigia Aeneae imitari‘. Enea Silvio Piccolomini als ‘Apostel’ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion, in: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von JOHANNES HELMRATH/ULRICH MUHLACK/GERRIT WALTHER, Göttingen 2002, 99–141. V. = Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara/Florenz, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Berichte über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002), hg. von LUDGER GRENZMANN/KLAUS GRUBMÜLLER u.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philosophisch-historische Klasse 3/263, Göttingen 2004, 9–54. VI. = Der europäische Humanismus und die Funktionen der Rhetorik, in: Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hg. von THOMAS MAISSEN/GERRIT WALTHER, Göttingen 2006, 18–48. VII. = Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. von JOHANNES LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln/Weimar/Wien 2003, 323–352.

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Verzeichnis der Publikationsorte

VIII. = Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, hg. von MATTHIAS WERNER (Vorträge und Forschungen 61), Ostfildern 2005, 333–392. IX. = Pius II. und die Türken: in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von: BODO GUTHMÜLLER/WILHELM KÜHLMANN (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, 79–137. X. = Poggio Bracciolini als päpstlicher Propagandist. Die ‚Invectiva in Felicem antipapam‘ (1447), in: Margarita amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili, hg. von FABIO FORNER/CARLA MARIA MONTI/PAUL G. SCHMIDT (Bilbliotheca erudita. Studi e documenti di storia e filologia 26), Mailand 2005, Bd. 2, 541–584. XI. = Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie, in: Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike (Festgabe für Henning Wrede zum 65. Geburtstag), hg. von KATHRIN SCHADE/DETLEV RÖßLER/ALFRED SCHÄFER, Münster 2007, 77–97.

Personen- und Werkeregister

Abu Ma’shar 139 Abraham a Santa Clara 296 (A. 50) Abzehn, Johann von 83 (A. 38) Acciaiuoli, Agnolo 336 Accolti, Benedetto 290, 303, 336 Adam von Bremen 254 Aelius, Lucius 415 (A. 124) Aethicus Ister 308, 310 f. Agricola, Georg 35 Agricola, Rudolf 33, 35, 167-169 - De inventione dialectica 168; Epistola ad Iacobum Barbirianum 216 (A. 7); Vita Petrarchae 43 Agustín, Antonio 397, 405 (A. 91) Aischines 167 Alberti, Leon Battista - De re aedificatoria 203 f., 276 f. Albergati, Niccolò, Kardinal 125, 365, 372 (A. 72) Albrecht II. von Habsburg, röm.-dt. Kg. 418 Albrecht ‘Achilles’ von Brandenburg 173, 321 Alexander de Villa Dei 175 Alexander der Große 139, 205, 254, 260, 267, 307, 310, 315-318, 393 Alexander VI. (Rodrigo Borgia), Papst 195-197, 337 Alfons V., Kg. von Neapel-Aragón 97 (A. 87), 302 f. (A. 71), 316, 317 (A. 120), 363, 371, 382, 390 Aliotti, Girolamo 374 Althamer, Andreas 252 (A. 128), 253 (A. 130) Altheimer, Konrad - De origine, moribus et vestitu Hannatarum 259 Ambrosius von Mailand 133, 137 (A. 67), 140, 143, 143 (A. 85), 152, 296 (A. 49)

- Lukas-Kommentar 140 Amerbach (Familie aus Innsbruck/ Wien) 391 Ancona, siehe Ciriaco Andreas de Sanctacruce - De notis publica auctoritate probatis 400 ANDERSON, B ENEDICT 220 Andreas von Regensburg 262 Angeli, Jacopo siehe Scarperia Annius (Nanni) von Viterbo 195-197, 203 f., 207, 276 - Antiquitates 245; Commentaria super opera diversorum autorum 195 Anselm von Canterbury 133 Athanasius 154 (A. 126) Anthyrius 254 Antonio da Cremona 139, 141 f. Antonius Pius, röm. Ks. 416 Apianus, Johannes - Cosmographia 240 Aquila (Gentner), Johannes - Opusculum de potestate et utilitate monetarum 401 Arco, Francesco und Galeazzo von 83 (A. 35) Aretino, Pietro 343 Aristides, Aelius 162, 204, 277 - Panathinaikos 201, 273 Aristoteles 97, 129, 137, 155, 160, 167, 216 (A. 7), 311, 346 - Nikomachische Ethik 139 ARNOLD, KLAUS 223 (A. 28), 227 Arnpeck, Veit 244, 246 - Chronia Baioariorum 262 Arrian 97, 317 (A. 120) - Anabasis 316 (A. 116) Artus, Kg. 209 f.

434

Personen- und Werkeregister

Asconius Pedianus 126, 128 (A. 37), 167 Attila 254 (A. 133) Augustinus, Bf. von Hippo 133, 155, 158 Augustus, röm. Ks., gen. Octavian 317 (A. 120), 360 (A. 55), 381, 392, 408, 409 (A. 104) Aurelius, Cornelius 194 (A. 19) - Defensorium gloriae Batavinae 269 (A. 191); Divisiecronik 269 (A. 191) Aurispa, Giovanni 78, 119, 126, 129 Aventinus, Johannes 45, 197, 218, (A. 11), 225, 227, 232, 237, 246, 413 - Adversarien 263 (A. 168); Kleine Annalen 262 f.; Bayerische Chronik 262 f. Averlino, Antonio siehe Filarete B ABELON, ERNEST 385 Bachenstein, Johannes 357 B ACHTIN, M ICHAIL 2 Bacon, Nicolas 186 Baier, Andreas 106 (A. 122) Bajezid II. (türk. Sultan) 337 Balcus (Domitius Calciatus) 264 Barbaro, Ermolao 404 Barbaro, Francesco 149 (A. 111), 393 - De re uxoria 98 Barbo, Pietro 173 B ARON, HANS 7, 147, 162, 201, 273 Baronius, Caesar 297, 362 (A. 62) Barzizza, Gasparino 119, 135 (A. 63), 377 - , Guiniforte 92, 126 (A. 31), 377 Basellius, Nikolaus 191, 220 B AUCH, GUSTAV 21, 35, 62 B ATKIN, LEONID 2, 14 Bavarus, Andreas 376 Beatrix von Neapel-Aragón, Kg.in 65 Beauvais, Vincenz von 225 (A. 35) Bebel, Heinrich 42, 90 (A. 62), 191, 197 f., 220, 256, 266 (A. 180), 268 Beccadelli, Antonio (Panormita) 382 Beccari, Niccolò 392 (A. 47) Beda Venerabilis 209 Behaim, Michael 403 Beheim, Martin 35 Bellanti, Battista 144 (A. 92) Bellini, Jacobo 405, 414, 416

Benci, Fabiano 335 (A. 179) B ENTLEY, J ERRY H. 301 Benvoglienti, Leonardo 92, 284 (A. 12), 292 Benzi, Ugo 150 (A. 113) Bembo, Bernardo 395 (A. 55), 396 Bernardino von Siena 292, 294 Bernhard von Clairvaux 139 B ERNSTEIN, ECKHARD 20 Beroaldo, Filippo 392, 411 Berosus 195, 197, 207, 210-212, 246 (A. 106), 263, 345 B ERTALOT, LUDWIG 7 Bessarion, Johannes, Kardinal 152-154, 317 (A. 120), 321, 323, 326 Biel, Gabriel 401 (A. 79) Biglia, Andrea - Tractatus de detrimento fidei orientis sive de origine Turcarum 302 Bild, Veit, OSB 40 f., 412 B ILLANOVICH, GIUSEPPE 9, 128 Biondo, Flavio 70, 112, 194 (A. 20), 203, 208, 211 (A. 86), 228, 230, 259 f., 290, 299, 391 f., 402 - Decades 97 (A. 86), 309 (A. 91); De expeditione in Turchos 302; Italia illustrata 46, 193, 203, 215, 225, 276; Roma triumphans 320 B ISSON, THOMAS N. 170, 177 Bisticci, Vespasiano da 345 f., 349, 393 B LACK, ROBERT 24, 54, 116, 174 f., 301 B LOCH, MARC 68 Blumenau, Laurentius - Hochmeisterchronik 252 B LUSCH, J ÜRGEN 313 Boccaccio, Giovanni - De claris mulieribus 131 Bochow, Wenzel von 88, 94 Bodin, Jean 208 Boethius 139, 394 Bogislaw X., Hzg. von Pommern 254 Bonfini, Antonio 71, 97, 113, 200, 270 - Rerum Hungaricarum decades 211 (A. 88) Bonhomme, Pasquier 208 Bonstetten, Albrecht von 30, 226, 232, 240, 244, 247, 264 - Superioris Germaniae confederationis descriptio 265 f.

Personen- und Werkeregister B OURDIEU, P IERRE 25, 37, 163 (A. 10) Borgia, Cesare 196 Botticelli, Sandro 395 (A. 55) Bracciolini, Gianfrancesco Poggio 13, 78 f., 90, 103, 108, 119, 123 f., 126, 128 (A. 36), 132, 134-136, 139 (A. 71), 143, 166 f. (A. 24), 173, 209 (A. 78), 230, 238, 312, 386, 389, 391 - Briefwechsel mit Cesarini 358-360 - Invectiva in Felicem antipapam 343378 - Kontroversen mit Filelfo 345 f.; Jacobo Zeno 346; Tommaso von Rieti 346; Lorenzo Valla 345 f., 378; Scipio-Caesar-Kontroverse 345 f. - Leichenrede für Giuliano Cesarini 364-366; für Niccolò Albergati 365 (A. 72); für Francesco Zabarella 135 - Opera: Contra hypocritas 351 (A. 29), 357, 372, 374; De avaritia 357; De infelicitate principum 82 (A. 35), 363 (A. 64); De varietate fortunae 312 (A. 104), 351 (A. 29), 367, 372-374 Brant, Sebastian - Stultifera navis/Narrenschiff 23, 295 Brassart, Johannes 123 (A. 23) BRAUDEL, FERNAND 57, 117 BRAUNGART, GEORG 178 BREDEKAMP, HORST 71 Bredenbach, Matthias 39 Brennus (Gallier) 207 Brennwald, Heinrich - Schweizer Chronik 264 Broquière, Bertrandon de la 304 Brueil, Guillaume de 184 Brunelleschi, Filippo 56 Bruneti Brunett, Petrus 145 (A. 95) Bruni, Leonardo 79, 97 (A. 86), 98, 119, 131, 134 (A. 59), 146 f., 152, 162, 194 (A. 20), 201-204, 211 (A. 86), 221 (A. 21), 224 (A. 29), 236, 272278, 356, 377 - Controversia Alphonsiana 136; Dialogi in Petrum Histrum 3; Historia Florentini populi 202 f., 225, 274-276; Laudatio Fiorentinae urbis 134 (A. 56), 147, 180, 203 f., 273 f.

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-

Leichenrede für Nanni Strozzi 147, 203, 276 BRUNNER, OTTO 222 (A. 25) Brutus/Brito (Gründer Britanniens) 209 Brutus, Marcus Junius 417 Buchwald, Sigismund 256 B UCK, AUGUST 3, 8 f. Budé, Guillaume 384, 397, 400-402 - De asse et partibus eius 398 Bugenhagen, Konrad 48, 227, 230, 247, 249, 254 f. - Pomerania 226, 254 f. Buonaccorsi, Filippo (gen. Callimachos) 28, 71, 82, 200, 270 B ÜRCK, GERHART 333 (A. 173) B URCKHARDT, J ACOB 2 f., 5, 13, 18, 34 (A. 47), 36, 53, 56 (A. 12), 57, 110, 143, 164, 282, 343 f. B URDACH, KONRAD 7, 26 f., 55 B URGER, HEINZ OTTO 119 Burgkmair, Hans 411 B URKE, P ETER 14, 22, 117, 244 B USCH, J ÖRG W. 70, 242 Busche, Hermann von dem 48 Busleyden, Hieronymus 380, 419 But, Adrian de 297 Butzbach, Johannes 40 Caccia, Gasparo da 92, 119, 126 (A. 31) Caesar, Gaius Iulius 158, 192, 194 (A. 19), 201 f., 205 f., 226, 255, 239, 315, 317 (A. 120), 260, 265, 272, 274, 380, 382, 392 (A. 47), 409, 411, 413 f. Calandrini de Sarzana, Thomas siehe Nikolaus V Calecas, Manuel - Contra errores Graecorum 158 Caligula, röm. Ks. 317 (A. 120), 400, 409 (A. 104) Calixt III. (Alfonso Borgia), Papst 320, 323, 338 Camerarius, Joachim 39, 50 Camden, William - Britannia 237 Campano, Giannantonio 206, 338 (A. 193), 340 Campisio, Giovanni 79, 92 (A. 71), 97 (A. 86), Campo, Gerardus de 330 (A. 165)

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Personen- und Werkeregister

Candida, Giovanni di 395 (A. 55) Cantiuncula, Claudius 34 Capistran, Johannes C. (von Capestrano), OFM 92 (A. 71), 104 (A. 116), 294, 296 (A. 49) Capranica, Domenico, Kardinal 77, 79, 92 (A. 71) Caretto, Otto de 325 (A. 147) Carrara, Francesco 135 Cartagena, Alonso Garcia (de Santa Maria) 138 (A. 68), 211 (A. 87) - Controversia Alphonsiana 136 f. Carvajal, Juan de, Kardinal 79, 92, 292 (A. 36), 295 (A. 46) Cassiano da Pozzo 387 Cassiodor 139 CASSIRER, ERNST 7 Castelbarco, Giovanni Jacopo del (Castro Romano) 81 (A. 25) Castro, Giovanni 338 Castiglione, Baldassare 109 - Il Libro del Cortegiano 174 - , Branda, Kardinal 132 (A. 49) - , Giovanni di 294 Cato (maior) 84 (A. 39), 195, 360 (A. 56) Celtis, Konrad 25 f., 35, 37 (A. 54), 41 f., 45, 59, 121, 189, 214-218, 227, 231, 235, 237, 240, 259 f., 268, 278, 407 - Edition der Germania des Tacitus 44 - Opera: De situ et moribus Norimbergae 224; Germania illustrata 46, 215, 224, 251; Germania generalis 215; Germania magna 226; Quatuor libri amorum secundum quatuor latera Germanie 189, 214 - Sodalität 109, 256 CERTEAU, MICHEL DE 62 (A. 34) Cesarini, Guliano, Kardinal 79, 125, 137, 150 (A. 113), 152 f., 290, 349, 358, 364-366, 370 - Briefwechsel mit Poggio 358-360 CESERANI, REMO 284 Cessoli, Jacobus de 127 (A. 34) Charles du Moulin 185 Christan, Michael 328 (A. 152) Chrysoloras, Manuel 34, 75, 148 f. (A. 109)

Chytraeus, David 50, 259 Cicero, Marcus Tullius 27, 44, 63, 84 (A. 39), 90, 94 f. (A. 82), 106 f., 126, 128, 141 f., 145, 158, 159-161, 166 f., 180 f. (A. 64), 185, 193, 258 (A. 148), 360 (A. 55), 377 - Opera: Brutus 167; De divinatione 139; De inventione 167; De legibus 128; De natura deorum 139, 237; De oratore 23; Epistulae ad Atticum 367 (A. 77); Orator 167; Partitiones oratoriae 167; Somnium Scipionis 14 - Oratorik 29, 95, 135 - Reden: De imperio Cn. Pompei/De lege Manilia 96, 167, 179 f., 294, 318; In Catilinam 366 f.; Pro Archia 78, 140, 178; Pro Publio Sesto 367 (A. 77) Cincinnius, David 50 Ciriaco (Pizzicolli) d’Ancona 238, 386, 393 Clairvaux, Bernhard 139 Claudius (Tiberius Claudius Caesar), röm. Ks. 400 C LAVUOT, OTTAVIO 70 C LEMENS, LUKAS 388 Cochläus, Johannes 48, 239 - Brevis Germaniae descriptio 225 (A. 32), 251, 267 COCHRANE, ERIC 76 (A. 9), 194 Coelestin I., Papst 153 Coëtquis, Philippe de 93 (A. 73) Colet, John 24 COLLARD, FRANCK 71 Colocci, Angelo 404 Confienza, Pantaleone 213 f. Corraro (Correr), Gregorio 119 - Progne 137 Corvinus, Laurentius - Cosmographia/Silesiae descriptio compendiosa 256 Cosmas von Prag 234 Crispus (Sohn Konstantins d. Gr.) 408 Cristoforo de Velate 144 (A. 92) Crivelli, Lodrisio 290, 338 - De expeditione Pii Papae contra Turcos 298 CUNNALLY, J OHN 386 f., 389, 399, 405, 418

Personen- und Werkeregister Curte, Sceva da 82, 92 CURTIUS, ERNST ROBERT 2, 165, 288 Curtius Rufus, Quintus 317 (A. 120) Cuspinianus (Spießheimer), Johannes 35, 391 (A. 41), 413 - Austria 263; De Caesaribus atque imperatoribus Romanis 412 Cyrill von Alexandria 153 Chytraeus, Nathan 238 Dalberg, Johann von 401, 403 f Dante Alighieri 24, 105, 130, 292 Dandolo, Benedetto 393 Dati, Agostino 99 (A. 95) Decembrio, Pier Candido 126 f. (A. 32), 141 (A. 80) - Controversia Alphonsiana 136 f. DEGENHARDT, B ERNHARD 380, 405 DEMANDT, ALEXANDER 205 Demetrios von Konstantinopel 130 Demosthenes 145, 167 Dempster, Thomas - De Etruria regali libri VII 204, 277 DERRIDA, J ACQUES 165 Descartes, René 50 f. Diessenhofen, Heinrich von 262 Didymos (Briefautor?) 139 Diodor 207 Diogenes Laertios 317 (A. 120) D IONISOTTI, CARLO 22 Dionysius Areopagita 139 f. Długosz, Johannes (Jan) 234, 252 DOCKHORN, KLAUS 165 Donato, Pietro 119, 135 Donatus, Aelius 126 Dornau, Caspar 50 Domitian, röm. Ks. 381 DRESDEN, SEM 27 Dringenberg, Ludwig 39 Drusus, Sohn des Tiberius 409 DuFay, Guillaume 57 Dürer, Albrecht 37, 413 Dürer d. Ä., Albrecht 407 Dusburg, Peter von 227, 234, - Chronicon terrae Prussiae 251 f. Eberhard I. im Bart, Gf. von Württemberg 328 (A. 152) Ebran von Wildenberg, Hans 243, 262 Ebendorfer, Thomas 264 (A. 173)

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Eck, Johannes 48 Egen, Barthelmäs 407 Einhard 45 Elagabal (Antoninus), röm. Ks. 412 (A. 115) Eleonore von Portugal, Ks.in 82, 98 Elisabeh I., Kg.in von England Ellenbogen, Nikolaus 40 f. Emilio, Paulo 13, 71, 113, 200, 207212, 220, 270, 272 - De rebus gestis Francorum libri VII 208; Franciae antiquitas 207; Gallica antiquitas a primae gentis origine repetita 207 Enea Silvio Piccolomini siehe Pius II. Enikel, Jans 235 Ennius, Quintus 145 Epiphanios 152 Erasmus von Rotterdam 22-24, 26, 48 f., 64, 90 f., 156, 181 f., 182 (A. 64), 197, 389, 391 - Ciceronianus 181 ESCH, ARNOLD 2 (A. 3), 324 Eschenloer, Peter 258 ESPAGNE, MICHEL 67 Este (ital. Familie) 390 - Borso, Mgf. von Ferrara und Modena 320, 322 - Meliaduse 126 Etterlin, Petermann 265 Eugen IV. (Gabriele Condulmer), Papst 57, 145 (A. 97), 148, 323, 330 (A. 161), 347-349, 351, 353, 357, 362-364, 366 (A. 76), 373 (A. 90 f.) - Bullen: Affligitur summa amaritudine 362-364, 367-371; Moyses vir Dei 362, 367; Multa sanctorum patrum = Monitorium 362-364, 367369, 375; Quoniam iuxta 362 (A. 62); Rem pestiferam 362 f., 369371 Eugenikos, Markos 152-154 Eusebius von Caesarea 196 Eutrop 131 Eyb, Albrecht von 89, 105, 106 (A. 122), 375 f. Eych, Johann von, Bf. 82 (A. 34)

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Personen- und Werkeregister

Fabius Pictor 195 Fabri, Felix 224, 226, 230, 249 - Descriptio Sueviae 237, 259 f.; Evagatorium 238; Historia Svevorum 190 - , Ulrich 391 (A. 41) Faustina d. Ä. Frau d. röm. Ks. Antonius Pius 515 Feliciano, Felice 386 Felix V. (Hzg. Amadeus VIII. von Savoyen), Papst 13, 79, 137, 346349, 352-355, 361-364, 368-370, 373-378 - Bullen: Novum non est 355; Quid ad tranquillitatem 355 Felix, Sebastian 391 (A. 41) Feltre, Vittorino da 89, 129 Ferdinand I., röm.-dt. Ks. 418 Festus, Rufius 415 Ficino, Marsilio 9, 196, Fieschi, Stefano (Stephanus Fliscus) 302 f. F IGLIUOLO, BRUNO 70 Filarete (Antonio Averlino) 97, 414, 417 Filelfo, Francesco 129, 173, 302, 375, 377 - Kontroverse mit Poggio 345 f. - De origine Turcorum (?) 302, 321 Filelfo, Gian Maria - Amyris 313 Fillastre d. Ä., Guillaume, Kardinal 131 F INKE, HEINRICH 121 (A. 16) Flaminius, Gaius 417 FLECK, LUDWIK 4 Flee, John 89 Flemmyng, Richard 135 FLASCH, KURT 48 Florianus, Marcus Annius, röm. Ks. 390 Florus, Publius Annius 131, 415 Fulgentius 133, 158 Foligno, Niccolò Tignosi da 317 (A. 120) Fora, Gerhardo und Monte 416 Forchtenauer, Wolfgang 86 FORNER, FABIO 56 (A. 11) Forzetta, Olivero 390 Foschi, Angeletto 358 (A. 50) Foxe, John 210

Franz I., Kg. von Frankreich 184 (A. 69), 398 Frechulf von Lisieux 211 Freher, Marquard 51 Fridolin, Stephan, OFM 406-411 - Buch von den keiserangesichten/Etlicher keyser angesicht (1487) 401, 406-410 Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Ks 173 Friedrich III., röm.-dt. Ks. 29, 36, 73, 80, 82 f., 90-92 (A. 67, 71), 96, 104 f. (A. 114, 118), 113, 172-174, 179 f., 283, 290, 292, 302, 317 (A. 120), 319, 407, 418 Friedrich II., Mgf. von Brandenburg 315 (A. 114) Fries, Lorenz 261 (A. 161) Frischlin, Nicodemus 50 Frulovisi, Tito Livio 28, 63, 209 (A. 78) FUBINI, R ICCARDO 126, 157 FUCHS, FRANZ 9 (A. 19) Fuchsmagen, Johann 391 FUETER, EDUARD 194, 336 (A. 184) Füetrer, Ulrich 227, 262 Fulvio, Andrea 384, 386 f., 397 f. - Illustrium Imagines 398 FUMAROLI, MARC 183 f. Fusce, Francesco da 97 Galba, röm. Ks. 418 Gaguin, Robert 208 Galilei, Galileo 50 Gallienus, röm. Ks. 405 (A. 91), 412 (A. 115) GARIN, EUGENIO 9 Garzoni, Giovanni 271 (A. 197) Gaspar de Perusio 144 (A. 92) Gaguin, Robert 260 - Compendium de origine et gestis Francorum 208 Gaza, Theodor 155 Gebwyler, Hieronymus 39 GEIGER, LUDWIG 7, 18-20 Geldenhouwer, Gerhardus - Historica Batavica 269 (A. 191); Lucubraciuncula de Batavorum insula 269 (A. 191) Germanicus, Nero Claudius 260, 274, 408 f. Gerson, Johannes 158

Personen- und Werkeregister Gerstenberg, Wigand 248 (A. 113) Gessel, Leonhard 135 (A. 61) GENTILE, G IOVANNI 8 f. Ghiberti, Lorenzo 384, 414, 417 Ghirlandaio, Domenico 416 f. G ILLI, P ATRICK 202 (A. 50), 206, 283, 301, 305 Giotto di Bondone 108, 414 Giovio, Paolo 381 G IRGENSOHN, DIETER 229 (A. 52) Giuliano, Andrea 149 (A. 110) Giustiniani, Bernardo 173 - , Leonardo 377 - , Paolo, OP 24 - , Tommaso, O.Camald. 24 Glarean, Heinrich - Helvetiae descriptio 226, 264 Gobelinus Person 229 (A. 50) GOETZ, HANS-WERNER 196 - , W ALTER 7 GOEZ, WERNER 197 GÖLLNER, CARL 301 Goltzius, Hubert 384 - C. Iulius Caesar sive historiae imperatorum 399 GOMBRICH, ERNST 54, 414 Gonzaga, Lodovico, Mgf. v. Mantua 277 (A. 218), 320 Gordian III. (Marcus Antonius Gordianus), röm. Ks. 393 (A. 48), 417 Gossembrot, Sigismund 103 (A. 113) GOTHEIN, EBERHARD 7 GOTHEIN, PERCY 7 Gottfried von Boullion 291, 336 GRAF, KLAUS 218, 228, 261 GRAFTON, ANTHONY 63, 196 f., 246 GRASSI, ERNESTO 8 f. Gratius, Ortwin 47 Gregor I. der Große, Papst 355 Gregor von Nazianz 140 Grey, William 89 Groningen, Wilhelmus Frederici von - De Frisiae situ gentisque origine 261 (A. 159) GROßMANN, KARL 76 Grunau, Simon 253 GRÜNBERGER, HANS 42, 190 Gruter, Janus 51

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Guarini, Guarino 78 (A. 9), 89, 115, 122, 125, 127, 129, 149 (A. 110), 173, 175, 303, 351, 377 - Scipio-Caesar-Kontroverse 345 f. - , Girolamo 303 (A. 73) Guicciardini, Francesco 194 (A. 20) Guillart, Charles 84 GUMBRECHT, HANS-ULRICH 170 Gundelfingen, Heinrich von 244, 265 Gutenberg, Johannes 122 Habsburger (europ. Dynastie) 380 Hadrian (Publius Aelius Hadrianus), röm. Ks. 415-417 Hainhofer, Philipp 418 Hajek von Libocany, Vacláv - Ceská Cronika 258 HALE, J OHN 14 HALLER, J OHANNES 323 HAMMERSTEIN, NOTKER 9 HAMM, BERNDT 1 HANKINS, J AMES 150, 155, 279, 281, 301, 318, 333 HANSMANN, MARTINA 381 (A. 6) HARDER, HANS-BERND 256 Hardt, Hermann von der 119 HARDT, MATTHIAS 388 HARTFELDER, KARL 21 HARTLEY, DAVID 186 HASKELL, FRANCIS 387, 397, 404 Hassenstein, Bohuslav, siehe Lobkowicz HAUSSHERR, REINER 414 HAVAS, LÁSZLÓ 71 HAY, DENYS 62 HAYE, THOMAS 161, 253 HEENES, VOLKER 380, 386 HEGEL, G. W. FRIEDRICH 53 Hegesipp 131 Hegius, Alexander 39 HEINIG, P AUL J OACHIM 80 Heimburg, Gregor 89 (A. 60), 107, 108 (A. 128, 130), 321 f., Heinrich III., Kg. von Frankreich 184 Heinrich IV., Kg. von Frankreich 185 Heinrich V., Kg. von England 209 (A. 78), 333 Heinrich VI., Kg. von England 93 (A. 72), 139 (A. 71), 367 Heinrich VII., Kg. von England 209

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Personen- und Werkeregister

Heinrich VIII., Kg. von England, 210 HELLER, AGNES 14 Helmold von Bosau - Chronica Slavorum 254 f. Hemmerlin, Felix 262 Hendrik van der Borcht 396 HERDE, P ETER 8 (A. 17) HERDER, JOHANN GOTTFRIED 176 (A. 52) HERDING, OTTO 8, 20 Heresbach, Konrad 50 HERKLOTZ, INGO 387, 404 Hermes Trismegistos 139, 196 Hermogenes 97, 168 Herodian 97 Herodot 298, 309, 317 (A. 120) Hessus, Eobanus 39, 251 (A. 123) Hesdin, Pierre de 43 Hethum (Hayton) - Flores Historiarum terre orientis 302 (A. 68) HEUSER, P ETER ARNOLD 387 Hieronymus 97, 137 (A. 67), 140 (A. 74), 142, 381 - Epistula ad Heliodorum 139 Hieronymus von Kreta 340 Hieronymus von Prag 134, 136 (A. 64) Hinderbach, Johannes 73-75, 84 (A. 41), 87 f., 92 f. (A. 71), 98, 104 (A. 114), 107, 321 - Fortsetzung der Historia Austrialis des Enea Silvio Piccolomini 110 H IRSCHI, CASPAR 42 H IRSTEIN, J AMES 70 Hobbes, Thomas 159 (A. 2) HOBSBAWM, ERIC 191 HOFFMANN, ERNST 9 Holl, Elias 410 Holinshed, Raphael 212 Hopital, Michel de 183 Horaz 44, 60, 139, 158 HOUSLEY, NORMAN 301, 338 Howard, Thomas (Earl of Arnudel) 382 HRABOVÁ, LIBUDžE 110 Hugo von St. Victor 140 HUMBOLDT, W ILHELM VON 6 Hummelberger, Michael 412 Humphrey, Hzg. von Gloucester 209 (A. 78) Hutten, Ulrich von 17, 42, 48, 51, 206

- Epistulae obscurorum virorum 47 Huttichius, Johannes 397, 400 - Imperatorum Romanorum libellus 413 Innozenz III., Papst 330 (A. 161) Irenicus, Franciscus 197, 218 (A. 11) Isidor von Kiew, Kardinal 292 (A. 35), 317 Isidor von Rosate 144 f. (A. 95) Isidor von Sevilla 261, 269 Jano, Bartholomaeus de - Epistola de crudelitate Turcorum 302 J AEGER, WERNER 6 J AUSS, HANS ROBERT 62 (A. 34) Jean III, Duc de Berry 391 (A. 39) JENS, W ALTER 176 (A. 52) J OACHIMSEN (J OACHIMSOHN), P AUL 7, 20 f., 35, 94 (A. 80), 194, 224, 236, 389 J OHANEK, P ETER 220 Johann II., Kg. von Kastilien 140 (A. 76) Johann III. Abeczier, Bf. von Ermland 131 Johann Friedrich I., Hzg. von Sachsen 252 Johann von Neumarkt 27 Johannes XXIII. (Baldassare Cossa), Papst 356 Johannes Hispanus 139 Johannes de Montenoison, Bf. 139 (A. 73) Johannes von Salisbury 207 Jordanes 252 - De origine actibusque Getarum = Getica 96 Josephus, Flavius 195 Jouffroy, Jean 73-75, 89, 321 Juan Margarit y Pau - Paralipomenon 211 (A. 86) Julius II. (Giuliano della Rovere), Papst 416 Justinus, Marcus Iunianus 299 Justinian I., röm. Ks. 380, 405 Juvenal, Decimus Iunius 145 Kalteisen, Heinrich, OP 158

Personen- und Werkeregister KANT, IMMANUEL 159 KANTOROWICZ, ERNST HARTWIG 186 (A. 75), 319 Kantzow, Thomas 241 Karl IV., röm.-dt. Ks. 27, 55, 392 Karl V., Kg. von Spanien, röm.-dt. Ks. 211, 417 f. (A. 127) Karl VII., Kg. von Frankreich 302, 353 f. Karl VIII., Kg. von Frankreich 207 f. Karl IX., Kg. von Frankreich 184 (A. 69) Karl der Große, fränk. Kg., röm. Ks. 201 (A. 43), 208, 223 (A. 27), 260 f., 272 f. Karl der Kühne, Hzg. von Burgund 264 Keck, Johannes, OSB 138 (A. 67) KEIL, GUNDOLF 8 Kels, Hans d. Ä. 418 Kelton, Arthur 272 (A. 199) Kepler, Johannes 51 KERSKEN, NORBERT 234 KEßLER, ECKHARD 8, 233 Keza, Simon von 234 K ISCH, GEORG 8 K ISSLING, HANS JOACHIM 333 f. KLIBANSKY, RAYMOND 7 Köbel, Jacob 401 (A. 79) Koberger, Anton 413 Konrad II., röm.-dt. Ks. 291 Konstantin der Große, röm. Ks. 408 Kopernikus, Nikolaus 240, 256 KOPPERSCHMIDT, J OSEF 165 Krantz, Albert 35, 223 (A. 27), 227, 229, 253, 268 - Wandalia/Saxonia 190, 259 f.; Metropolis 260 f. KREBS, CHRISTOPHER 42 Kreul, Nikolaus (Ypolitus Mediolanensis) 87 f., 100 KRISTELLER, P AUL OSKAR 1, 7, 9, 40, 48, 61, 66, 164, 170 Kues, Nikolaus von 79, 92, 125-127 (A. 27), 153, 157 f., 178, 229 (A. 52), 292, 312 (A. 107), 322, 362 (A. 61) - De pace fidei 329 KUGLER, HARTMUT 198 KÜHLMANN, W ILLHELM 8, 50, 227, 235

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LABBE, P HILIPPE 297 Ladislaus, Kg. von Böhmen-Ungarn 31, 89, 93, 98, 294 LADNER, GERHART B. 7 Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus) 140 - Phoenix 126 Lampert von Hersfeld 45 Landriani, Gherardo, Bf. von Lodi 11 f., 29, 78, 128, 133 (A. 54), 137-143 (A. 73), 167, 178, 209 (A. 78), 356 - Reden: Poteram ego ipse (1432) 139; Tandem hodie (1432) 141 Lange, Heinrich 41 Langen, Rudolf von 39 Languschi, Giacomo - Excidio e presa di Constantinopoli 317 (A. 120) Lannoy, Gilbert de 304 Lapo da Castiglionchio 356 Lastre, Jean de 315 (A. 114) LAUDAGE, J OHANNES 12 LAUSBERG, HEINRICH 163, 165 Lauterbach, Johann 104 (A. 116) Lefèvre d’Étaples, Jacques 24, 207 LEHMANN, P AUL 12, 123 Leiden, Schut von 106 (A. 122) Leland, John 210, 237 f. - Assertio inclytissimi Arturii regis 272 Lelli di Stefano 392 Lemaire de Belges, Jean 197 - Illustrations de Gaule et singularités de Troie 207 LEMBURG-RUPPELT, EDITH 387, 398 f. LEMKE, SVEN 163 Leo I. der Große, Papst 140, 354 f. Leontorius, Leonhard 40 Leto, Pomponio 404 LHOTSKY, ALPHONS 76 Libanios 167 Liberius, Papst 153 f. (A. 126 f.) Ligorio, Pirro 405 Lipsius, Justus 51, 185 Liscius, Nicolaus 92 (A. 71), 93 Livius, Titus 74, 128, 145, 202 f. (A. 51), 276 f. (A. 215), 298, 317 (A. 120), 358 (A. 50), 367 (A 77), 404, 408, 415

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Personen- und Werkeregister

Lobkowicz (Hassenstein), Bohuslav von 112 (A. 138) - De re publica 110 Löffelholz, Johannes 33 Lolli, Goro (Gregorius Lollius) 92 Loschi, Antonio - Inquisitio super XI orationibus Ciceronis 97, 167 Lucan (Markus Annaeus Lucanus) 84 (A. 39), 129 f. (A. 42), 394 LUCIUS, CHRISTIAN 323 Luder, Peter 105, 106 (A. 122), 121 Ludwig XI., Kg. von Frankreich 265, 302, 332 Ludwig der Bayer, röm.-dt. Ks. 322 (A. 138) Ludwig der Fromme, röm.-dt. Ks. 405 Ludwig, Hzg. von Niederbayern 314 LUDWIG, W ALTHER 8, 50 LUHMANN, NIKLAS 177 Lukian 293 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 139 Lupfen, Johann von 86, 97 Lur, Heinrich 134 f. (A. 61) Luther, Martin 41, 47 (A. 83), 48, 64 Lyse von Schmalkalden, Johannes 407 Lysimachos (Diadoche) 393 Machiavelli, Niccolò 208, 337 (A. 188) MACHILEK, FRANZ 40 MACK, P ETER 186 Macrobius, Ambrosius Theodosius 404, 412 Maffei, Timoteo - Oratio ad principes Italiae 303 Maiano, Benedetto 418 Mainenti, Scipione de, Bf. von Modena 79, 126 MAISSEN, THOMAS 70, 201 (A. 43), 202 (A. 50) Malatesta, Sigismondo 303, 323, 327 MAN, P AUL DE 165 Manetho, ägypt. Geschichtsschreiber 195 MANSI, G IOVANNI DOMENICO 287, 297 Mantegna, Andrea 383, 414, 418 Mantuanus, Baptista 41 Marbod, Kg. der Markomannen 258 Marcellinus, Ammianus 126

Marcus, Antonius (Triumvir) 181, 360 (A. 55) MARGOLIN, P IERRE 327 Marschalk, Nikolaus 227, 238 - Annales Herulorum ac Vandalorum 253 f.; Epitaphia 238 (A. 83) Marsili, Luigi, OESA 41 Marsuppini, Carlo 374 Martial (Marcus Valerius Martialis) 403 (A. 83), 404 Martin V. (Oddo Colona), Papst 373 404 MARTIN, ALFRED VON 14, 343 f. MARTINES, LAURO 14 Massa, Bartolomeo da 92 Matal, Jean 50, 387 Matociis, Giovanni de (il Mansionario) 415 - Historia imperialis 405 Matthias Corvinus, Kg. von Ungarn 211, 331, 333, 416 Mauritius (Hl.) 368 (A. 80) Maximilian I., röm.-dt. Ks. 36, 113, 163, 174, 181, 244, 262-265 (A. 173), 268, 271, 410-413, 418 Maximos der Bekenner (Confessor) 154 MCMANAMON, JOHN 135, 164, 172 Medici (ital. Familie) 123 (A. 23), 204 - , Cosimo der Ältere 127, 148, 335, 345, 377, 395 (A. 55) - , Cosimo II. 277 - , Lorenzo 336 (A. 182), 337 (A. 188) - , Piero 340 (A. 202) Mehmed II., türk. Sultan 279, 310, 313318, 327 f. (A. 157), 334 Meister PW - Bodenseekarte 241 Meisterlin, Sigismund 224, 410 - Chronographia Augustensium 110 (A. 131), 232 (A. 59); Nürnberger Chronik 244 Mela, Pomponius 226, 240, 257, 309 (A. 92) - Mappa mundi 131; De situ orbis libri tres 239 Melanchthon, Philipp 24, 48 f., 168 Memling, Hans 395 f., 409 (A. 105) Ménage, Mathieu 357 Mendel, Johannes 83 Mennel, Jakob 244, 263

Personen- und Werkeregister MERTENS, DIETER 8, 10, 20, 32, 42, 50, 102, 170, 198, 225 (A. 35), 233, 235, 261, 266-268, 283, 299, 301 Mercator, Gerhard 35 MESTWERDT, P AUL 26 Metasthenes 195 f., 345 MEUTHEN, ERICH 1, 8, 20, 79, 216, 301 M ICHELET, J ULES 5 M IETHKE, J ÜRGEN 1, 122 f., 131 MOELLER, B ERND 47 Moleyns, Adam de 92 f., 107 MOMMSEN, T HEODOR E. 1, 385 MOMIGLIANO, ARNALDO 385 MONFASANI, J OHN 162, 166 Monmouth, Geoffrey von 209, 272 Montaigne, Michel de 185 Monte, Piero da 138 f. (A. 67, 71), 209 (A. 78), 367 (A. 78), 372 (A. 88) Montenero, Giovanni 152 Montenoison, Johannes de 139 (A. 73) Montone, Braccio de 315 (A. 114) Moro, Cristoforo 332 (A. 171) Morroni, Tommaso aus Rieti (Reatinus) 346, 402 (A. 81) Morus, Thomas 379 f. - Vita Heinrici VII 209 MUHLACK, ULRICH 10, 42, 70, 192, 236 f., 274 MÜLLER, ADAM 176 (A. 52) MÜLLER, HARALD 10, 40 f. MÜLLER, HERIBERT 70, 304 MÜLLER, J OHANN J OACHIM 297 MÜLLER, MARKUS 163 MÜNKLER, HERFRIED 42, 190, 219 Münster, Sebastian 218 (A. 11) - Cosmographey 225, 241 Murmellius, Alexander 39 Murner, Thomas, OFM 48 MURPHY, J AMES J. 166 Mutian, Konrad 41, 48 Nagonio, Giovanni Michele - Pro(g)nostichon Hierosolymitanum 416 Nanni siehe Annius Nauclerus, Johannes 196 f. Nebrija, Antonio de 197, 210 f. NEDDERMEYER, UWE 130 Nero, röm. Ks. 202, 395 f , 409 (A. 105), 416-418 (A. 126)

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Nestorius, Patr. v. Konstantinopel 153 NEWALD, R ICHARD 76 Nicodemus della Scala, Bf. von Freising 174 (A. 46) Niccoli, Niccolò 102, 125 (A. 27), 128 (A. 36), 134 (A. 58), 238, 345, 389, 393 f. N IEBUHR, B ARTHOLD GEORG 385 N IETZSCHE, FRIEDRICH 164f. Nikolaus V. (Tommaso Parentucelli), Papst 92, 125, 152, 282, 290, 292, 302 (A. 71), 306 (A. 85), 312 (A. 105), 317 (A. 120), 319 (A. 123), 323, 344 (A. 4), 351-357, 373 (A. 89) N ISARD, CHARLES 34 Noah 196 NORDEN, EDUARD 231 Noxeto, Petrus de 79, 92, 119, 122, 129, 292 Nuhn, Johannes 248 (A. 113) Nürnberg, Jörg Georg von 299 Occo, Adolf III. 397 O’MALLEY, J OHN 171 f., 179 Ohlah, Niklas - Hungaria 251 Olesnicki, Zbigniew 92-94, 106, 108 (A. 129) Oresme, Nicolas von 397 Orosius, Paulus 139 Orsini, Giordano, Kardinal 127 Osiris 196 Omphalius, David 50 Oporinus, Johannes 413 Otfrid von Weißenburg 45 OTT, MARTIN 388 OTTO, EBERHARD 8 Otto von Freising 45, 96, 308, 310 - Gesta Friderici 96 (A. 85) Ovid (Publius Ovidius Naso) - Tristia 97; Ars amatoria 97; De remedio amoris 97, 99; Metamorphosen 158 Palladius, Bf. von Rathiaria 132 (A. 51) Pandoni, Giannantonio, gen. Procellio 397, 404 - Opusculum aureum de talento 401 f. Pannartz, Arnold (Drucker) 65

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Personen- und Werkeregister

Pannonius, Janus 89 P ANOFSKY, ERWIN 7 Panormita, Antonio Beccadelli 80 (A. 21), 97 (A. 87), 141 f., 316 (A. 119), 373 Panormitanus, Nicolaus 178 Panvinio, Onofrio 397 Parisi, Alberto 351 f., 375 P ASTOR, LUDWIG VON 24, 119, 330 P ATSCHOVSKY, ALEXANDER 126 Pau, Juan Margarit y 211 (A. 86) Paul II. (Pietro Barbaro), Papst 332, 338, 377, 390 Pavia, Filippo 145 Peacham, Henry 382 Peregallo, Giovanni 92 (A. 71) Perikles 203 Perotti, Angelo 346 Perotti, Niccolò 173, 352 Pertinax, Publius Helvius, röm. Ks. 405 PERTUSI, AGOSTINO 301 Petrarca, Francesco 2 f. 13, 24 f., 27 f., 31, 43, 55, 57, 60, 76, 80, 91, 108, 128, 166, 173, 192, 203 (A. 51), 230, 236, 239, 275 (A. 212), 377, 390 (A. 37), 392 f., 395, 408 - De remediis utriusque fortunae 95 (A. 82), 158; De viris illustribus 381 PETRIS, LORIS 183 Petrus von Blois 82 (A. 34) Petrus Lombardus 140 (A. 76) Petrus Martyr (Martire) von Anghiera 71, 270 Peuerbach, Konrad 34, 83, Peutinger (Familie) 37 - , Konrad 41, 48, 225, 238, 389, 391, 397, 400 - Kaiserbuch 401, 410-413 Pflieger, Silvester, Bf. von Chiemsee 80 Pfullendorf, Michael Rentz von 30, 86 Philipp der Gute, Hzg. von Burgund 304 f., 331 f. Philipp der Schöne, Kg. von Spanien 418 Philipp von Makedonien 393 Philippus Arabs, röm. Ks. 412 (A. 115) Piccolomini (ital. Familie) 87 - , Enea Silvio siehe Pius II. - , Jacopo Ammanati 341 (A. 203) - , Niccolò 339 (A. 195) 119

Pico della Mirandola 196 Pietri, Giovanni 390 Pileo, Benedetto da 119, 129, 133 Pinturicchio 279, 341 Pippin der Jüngere, fränk. Kg. 223 (A. 27), 308, 310 Pirano, Ludovico da 119, 137 Pirckheimer, Willibald 17, 33, 37 f., 41, 48, 218 (A. 11), 287 (A. 20), 389, 391, 413 Pirckheimer, Hans 82 Pisani, Ugolino de 119, 137 f., 376 Pisanello, Antonio 389 Piscator, Hermann, OSB 97 (A. 86) Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) 2, 1113, 28, 31, 45, 63, 70 f., 75 f., 85 f., 89, 104, 118 f., 129, 133, 135, 136 f. (A. 64), 142-148 (A. 82), 178-182, 193, 198, 206, 211 (A. 86), 216 (A. 7), 227, 229 f., 244, 259 f. (A. 153), 260, 265, 268, 394, 404 - als ‚Apostel des Humanismus‘ 29, 75, 118, 121, 200, 270 - als Bf. von Triest 81 - als Bf. von Siena 81, 294 - Briefe: Epistula ad Mahometem 297, 316, 327-330; Epistulae familiares 30, 287 (A. 19), 295; Epistolae in pontificatu 329 - als Briefeschreiber 90-95 - Bullen: Execrabilis 322; Ezechielis 298, 308 (A. 87), 319 (A. 123), 330, 340; Vocavit nos pius 297 (A. 53), 298, 320 - Dichterkrönung (1442) 25, 29, 80, 83 - Gedichte 299, 311 (A. 100) - als Geschichtsschreiber 110-113 - als Handschriftensammler 96 f. - humanistische Schrift 101-103 - in der Kanzlei Friedrichs III. 29, 7982, 84, 88, 90 f. - auf dem Kongress in Mantua (1459/60) 179, 301, 319-327 - am kgl. Kammergericht 81, 84 - auf dem Konzil von Basel 77-79, 81, 356, 394 - als Korrektor und arbiter litterarum 30 f., 99-101

Personen- und Werkeregister -

-

Opera: Asia 111 f., 299, 311, 320; Commentarii 3, 29, 143, 287, 300 f., 321 (A. 132), 324 f. (A. 144), 328, 330, 334 f.; Commentarii de gestis concilii/De gestis concilii Basiliensis 110, 113, 134, 140 (A. 74); Cosmographia 298, 309 f. (A. 93, 98); De curialium miseriis 76, 82; De donatione Constantini (Somnium) 77, 122, 284 (A. 12), 292; De duobus amantibus 76, 101; De institutione principum 98; De liberorum educatione 98; De Livonia 251; De ortu et auctoritate imperii Romani 105, 319; De remedio amoris 99 f.; De situ et ritu Pruthenorum 251; De viris illustribus 110; Epitome von Biondos Decades 97 (A. 89), 309 (A. 91); Europa 111 f., 249 f., 299, 309 (A. 93), 311; Germania 44, 105, 205, 218 (A. 10), 224, 250 f., 326 (A. 149; Historia Austrialis=Historia Friderici 87, 98 (A. 93), 104 (A. 114), 110 f., 113, 226, 243, 249, 251 (A. 124), 263; Historia Bohemica 111 f., 226, 249 f., 258; Pentalogus 173 f. (A. 46); Somnium de fortuna 284 (A. 12); Opera omnia 287 (A. 19) Papst-Medaille 331 als päpstlicher Legat 81 als Priester 81 als Prinzenerzieher 98 f. als Redner 95 f., siehe Reden auf dem Reichstag zu Frankfurt (1454) 179, 205 auf dem Reichstag zu Regensburg (1454) 179, 205, 300 (A. 63) als Sekretär Felix V. 79, 81 Reden: Advenisti tandem 330; Constantinopolitana clades 179 f., 294297, 302, 307 (A. 87), 313-319; Cum bellum hodie 179 (A. 60), 296 f., 308 (A. 87), 314 (A. 112), 321-323; Existimatis 324 -326 (A. 144), 330; In hoc frequentissimo conventu 287 (A. 20); Moyses vir dei 290-293, Quamvis omnibus 292; Responsuri 287, 297 (A. 53); Septimo iam exacto mense 323 f.; Sextus igitur

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annus 326 (A. 149), 340 (A. 198); Türkenreden allg. 205 Pizolpasso, Francesco, Ebf. von Mailand 78 f. (A. 14), 92, 115 f., 119, 126 f. (A. 33), 136 (A. 65), 139 f. (A. 74, 76), 141, 143 f., 157, 356, 358, 360, 363 Pizzicolli, siehe Ciriaco d’Ancona Planta, Justinus 364 Platon 131, 149 f., 155, 159 Platina, Bartolomeo 290, 340 Plautus 126-128, 141 Plethon, Gemisthos 149, 154 f. - De differentiis Platonis et Aristotilis 155 P LETT, HEINRICH F. 160 f., 165 Plinius d. Ä. 110, 127, 194 (A. 19), 240, 299, 404 - Naturalis historia 309 (A. 92), 394 Plinius d. J. 90 Plutarch 381, 402 P OCOCK, JOHN G. A. 212 (A. 89) Podiebrad, Georg, Kg. von Böhmen 330 Poggio, siehe Bracciolini Polentone, Sicco - Argumenta super aliquot orationibus et invectivis Ciceronis 167 Poliziano, Angelo 392 Pomponius Laetus 403 Porcellio, siehe Pandoni Porto, Leonardo da 398 Postel, Guillaume - Apologie de la Gaule 207 Pot, Philippe 183 Probus (Grammatiker) 126 Prato, Johannes de 364 (A. 68) Priamos 312 (A. 102) Priscian von Caesarea 167, - De numeris 402 Prokop (Prokopios von Caesarea) 113 - Gotenkrieg 254 PRÜGL, THOMAS 158 Ps.-Berosus, siehe Berosus Ps.-Cicero - Rhetorica ad Herenium 144 Ps.-Dionysius, siehe Dionysius Ps.-Metasthenes, siehe Metasthenes Ps.-Isidor 153 f. Ptolemaios, Claudius 34, 67, 110, 131, 299, 240, 250, 257

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Personen- und Werkeregister

- Geographiké Hyphegesis 239 Pusculo, Ubertino 312 (A. 103) Puteanus, Eurycius 25 Questenberg, Jacob Aurelius 382, 395, 397, 398 (A. 65), 401 - De talento et sestertio 403-405 Quintilianus, Marcus Fabius 106, 108, 128, 139, 160, - Institutio oratoria 167, 217 (A. 7), 306 (A. 85) Quirini, Lauro 302, 306 (A. 85), 317 (A. 120) Quirini, Taddeo 173 Rabenstein, Johann (Prokop) von 93, 284 (A. 12) - Dialogus 88 (A. 56) RABIL, ALBERT JR. 19, 59 Rad, Ludwig 87, 89 Rad von Ranhweil, Hans 87 Rada, Rodrigo Jiménez de 211, 234, 269 Ragusa, Johann von 131 f., - Tractatus de reductione Bohemorum 133 Ragvaldsson (Ragvaldi), Nikolaus, Bf. von Vaxjö 199, 268 Ramus, Petrus 168 Ranzano, Pietro 270 RATHMANN, T HOMAS 119 Redditi, Filippo - Commentariolus de priscis nummis 401 Regiomontanus (Müller), Johannes 34 f. REICHERT, KLAUS 9 Reuchlin, Johannes 23, 41, 48, 102 (A. 111), 403 f. - Reuchlinstreit 39, 47 Reusner, Nicolaus L. 238, 297, REXROTH, FRANK 71 Rhenanus, Beatus 48, 70, 90, 194 (A. 20), 197 f., 226 (A. 39), 246 (A. 106), 268 - Rerum Germanicarum libri tres 46, 270 Rheticus, Georg Joachim 241 Rho, Antonio da 129 R ICKLIN, THOMAS 9 Riederer, Friedrich

- Spiegel der waren Rhetoric 168 Riederer, Ulrich 82, 86 Rinck, Peter 37 Robert, Kg. von Neapel 173 Romanus (Rustici), Cincius 125 (A. 26) Rosenheim, Petrus von 132 (A. 49) - Roseum Memoriale Divinarum Eloquiorum ebd. Roswitha von Gandersheim 45 Roth, Johannes 88 f., 105 f. (A. 122) Rothe, Johannes - Thüringische Weltchronik 221 (A. 21), 235 Rottenauer, Konrad 104 (A. 114), 314 f. Rouille (Rovillius), Guillaume 397 Rubeanus, Crotus - Epistulae obscurorum virorum 47 Rüdesheim, Rudolf von 105 (A. 118) Rudolf II. von Habsburg, röm.-dt. Kg. 399 RUPPRICH, HANS 20, 76 Russel, John, Bf. von Lincoln 186 (A. 75) RUSSEL, J OYCELYNE G. 321 Rustici, siehe Romanus Ruysch, Johann 33 SABBADINI, REMIGIO 9, 124 Sabellicus, Marcus Antonius 197 Sachs, Hans 38 Sagundinos, Nikolaos 150, 303, 309 - De familia Authumanorum 304, 311; Oratio ad Alphonsum 316 f. (A. 120) Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 158, 298, 360 (A. 56), 415 Salonina (Gattin des röm. Ks.’s Gallienus) 412 (A. 115) Salutati, Coluccio 102, 201 f. (A. 43), 273 f., 312 (A. 104) Salvian von Marseille 126 - De gubernatione dei 126 SANCTIS, FRANCESCO DE 22 Sangallo, Giuliano da 417 (A. 128) Sapidus, Johannes 39 Sasseti, Francesco 417 (A.. 128) Saxo Grammaticus - Historia Danica 234 SAYGIN, SUSANNE 70 Scaliger, Joseph Justus 51, 197

Personen- und Werkeregister Scarperia, Jacobus Angelus de (Jacopo Angeli) - lat. Übersetzung der Geographia des Ptolemaios 131 Scaevola, Mucius 417 SCHALK, FRITZ 1, 8, Schedel, Hartmann 33, 70, 94 (A. 80) - Liber Antiquitatum 238; Schedelsche Weltchronik 225, 232, 241 (A. 90), 381, 413 Scheitrer, Ludwig 93 SCHENK, GERRIT J ASPER 172 Scheurl, Christoph 48 Schiller, Friedrich 193 f. SCHINDLING, ANTON 10 Schlick, Kaspar 81 (A. 25), 90, 92 f. (A. 71) SCHMITT, ANNEGRET 380, 382, 405 Schöner, Johannes 240 Schpick, Stephanus 100 (A. 102) Schradin, Nikolaus 265 SCHULZE, W INFRIED 285 SCHWOEBEL, ROBERT 301, 304, 334 SEEGETS, PETRA 408 f. Segovia, Johann von 97 (A. 86), 145 (A. 95), 178, 329, 362 (A. 62), 368 (A. 80) SEIDLMAYER, MICHAEL 8 (A. 17) Seneca, Lucius Annaeus 129, 136, 139, 158 Senftleben, Heinrich 92 f. Serravalle, Giovanni da, OFM 130 Servius (Grammaticus) 402 SETTIS, SALVATORE 385 SETTON, KENNETH M. 90 (A. 63), 301 Severus, Flavius, röm. Ks. 409 Sextus Empiricus (Pitagoricus) 139 Sforza (ital. Familie) - , Bianca Maria 66 - , Bona 66 - , Francesco, Hzg. von Mailand 320, 322, 335, 402 (A. 81) - , Hippolyta 321 Shakespeare, William 212 Sibutus, Georgius - Illustratio in Olomuncz 259 Siculus, Lucius Marineus (Lucio Marineo Sicolo) 71, 197, 200, 210212, 270

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Opus de rebus Hispaniae memorabilibus 211 Sierck, Jacob von, Ebf. von Trier 80, 92 (A. 71) Sigismund, röm.-dt. Ks. 80 (A. 21), 137, 172 f. Sigismund, Hzg. von Tirol 31, 98, 322 Simon de Valle 144 (A. 92) Simonetta, Cicco 401 f. Skanderbeg (Georg Kastriota) 331 Sodoma (sienesischer Maler) 400 Solinus, Gaius Julius 299 Sonnenberger, Ulrich, Bf. von Gurk 82, 104 (A. 114), 180 Sophie, Kg.in von Polen 100 (A. 102) SOTTILI, AGOSTINO 3, 11, 20, 30, 33 f., 56 (A. 11), 61, 89, 118, 375 Sozomeno da Pistoia 119 Spalatin, Georg 254 Spannocchi, Ambrogio 101 (A. 107) Spießhaimer, Johannes siehe Cuspinian Spilimbergo, Johannes de 377 SPITZ, LEWIS W ILLIAM 19 f. Spoleto, Lucio von 125 Stabius, Johannes 244, 263 Statius 158 STAUBER, REINHARD 70 Stella, Gotardo 361, 368 (A. 80) Stella, Erasmus 227, 247 - De Borussiae antiquitatibus 252 f. Stein, Bartholomäus 224, 247, 253 - Descriptio totius Silesiae 256 f. Stein, Heynlin von 103 (A. 113) STEINMANN, MARTIN 132 Stoeffler, Johannes 35, 240 Stojentin, Valentin von 254 (A. 134) STOLLBERG-R ILINGER, B ARBARA 177 Strabo(n) 110 f., 205, 207, 226, 240, 250, 299 - Geographicá 239 Strada, Jacopo 384, 396 Strozzi, Giovanni 147 Strozzi, Nanni 203, 276 STRNAD, ALFRED A. 8, 76, 83 (A. 36, 39) Stuart, Maria, Kg.in von Schottland 186 f. Stumpf, Johannes 264 f. (A. 176) Sueton 158, 380, 397, 404, 411 f., 415 -

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Personen- und Werkeregister

Sulla (Lucius Cornelius Sulla Felix) 202, 274, 368 Sunthaim, Ladislaus 244, 263 Swarcz, Johannes 83 (A. 37) Sweynheim, Konrad (Drucker) 65 Syropoulos Sylvester 150 (A. 113) Tacitus, Publius Cornelius 44, 74 f., 100, 194 (A. 19), 196, 202 (A. 48), 204-206, 226, 230, 257, 259 (A. 153), 261, 298, 367 (A. 77) - Dialogus de oratoribus 176; Germania 43 f., 74 (A. 2), 198, 204, 239, 267 - taciteischer Paradigmenwechsel 198, 266-268 Talon, Raymond 144 (A. 92) Tancred von Lecce 336 T ATEO, FRANCESCO 22 TELLENBACH, GERD 200 Terenz (Publius Terentius Afer) 84 (A. 39), 158 - Komödien 97 Teukros (Stammvater der Troianer) 312 Thoisy, Geoffroy de 304 (A. 78) Thomas von Aquin 139 Thomas von Kempen 26 Thukydides 203, 276, 298 Tiberius, röm. Ks. 202, 245, 274, 409 Tifernas, Lilius 339 (A. 195) Tinctoris, Johannes 106 (A. 122) Titus, röm. Ks. 418 Tizian 396, 417 (A. 127) Todeschini-Piccolomini, Francesco, Kardinal 87 TOFFANIN, G IUSEPPE 24 Tolomei, Francesco 92 Tommasi, Pietro 351-353, 355, 374 f., 393 Torquemada, Juan de, OP 365 (A. 72) - Tractatus contra principales errors Graecorum 329 Tortelli, Giovanni 152, 155 Torzelo, Messir de 304 Totila, Kg. der Ostgoten 201 Tschudi, Aegidius 265 - Helvetia 228 Trajan, röm. Ks. 390, 409, 417 Trapezunt, Georg von 155 (A. 131), 167 f., 302 (A. 71), 317 (A. 120)

- Rhetoricorum libri quinque 168 Traversagni, Francesco 83, 108 (A. 129) Traversari, Ambrogio 41, 119, 125, 129, 137, 151-153 (A. 123), 158, 389, 392 Trevisan, Lodovico, Kardinal 149 (A. 111), 324 Trithemius, Johannes 40 f., 96, 220 (A. 24), 245 Tröster, Johannes 31, 83 (A. 39), 86-89, 93, 99 - Dialogus 100 TROELTSCH, ERNST 7 TRUNZ, ERICH 50 (A. 95) Tucher, Hans 407 Turóczy, János 234 Türst, Conrad 265 (A. 176) Tuschek, Johann 88, 92 (A. 71), 94, 97 (A. 86) Twayr, Franco de - Tractatus de expugnatione urbis Constantinopolitanae 317 (A. 120) Twinger von Königshofen, Jakob 235 (A. 69) UEDING, GERD 159, 166 Ungnad, Johann 82 Urban II., Papst 291, 330 (A. 161) Urban, Heinrich 41 Vadian, Joachim 239 Vair, Guillaume du - De l’eloquence françoise 185 Valens, Vettius 405 Valerius Flaccus 126, 128 Valerius Maximus 95 (A. 82), 129, 158, 412 Valla, Lorenzo 24, 89, 155 f., 168 f., 230, 351, - Kontroverse mit Poggio 345 f., 377 - Opera: Apologus 367 (A. 78); Elegantiae 140 (A. 75) Varro, Marcus Terentius 125, 145, 404 - De sestertio 402 (A. 81) Vasari, Giorgio 393 (A. 48) Vega, Garcilaso de la 67 Vegio, Maffeo 41 Velser, Michael 328 (A. 152) Ventura de Civitate Castello (Paulucio de Matzis) 364 (A. 68)

Personen- und Werkeregister Vercingetorix 206 Vergerio, Pier Paolo 63, 95, 98, 118 f., 135, 167, 200, 270, 356, 377 - Totenrede auf Francesco Carrara 135 - Arrian-Übersetzung 97 Vergil (Publius Vergilius Maro) 100, 103 (A. 113), 139 f., 158, 189, 312, 331, 361, 394 - Aenais 307, 311 (A. 100), 314 Vergil, Polydor (Polidoro Virgilio) 13, 70, 97, 113, 118, 200 (A. 39), 208212 (A. 81), 221, 236, 270, 272, 397 - Historia Anglica 209 Vernucken, Wilhelm 410 (A. 108) Vespasian, röm. Ks. 384, 392 f., 400, 418 Vico, Enea 384, 387, 397 (A. 61), 398400, 405 - Le imagini con tuti i riversi 399; Discorsi sopra le Medaglie degli Antichi 399 Villani, Giovanni 202, 272, 274 Vinea, Petrus de 27 Visconti (ital. Familie) 201 (A. 43) - , Filippo Maria, Hzg. von Mailand 139, 143-145, 354 V ISMARA, FELICE 344 Vitéz, Johannes (Janós) 92 f. (A. 71), 294, 296 (A. 49) V ITI, P AOLO 147 Vitruv 203, 277 f. VOGEL, SABINE 63 VOIGT, GEORG 3, 18-20, 29, 56-58 (A. 12), 75, 119 f. (A. 14), 124, 148 (A. 109), 200, 270, 343 VÖLKEL, MARKUS 230 (A. 54) Volusianus (Gaius Vibius Afinius Gallus), röm. Ks. 412 (A. 115) Vriendt, Cornelis Floris II. 410 (A. 108) Vrunt, Johannes 92 f., 104 (A. 116) Vulturinus (Geyer), Pancratius - Panegyricus Slesiacus 256 Waldenburg, Jakob von 30, 86 Waldseemüller, Martin (Hylocomylus) - Cosmographiae introductio 240 W ALSER, ERNST 119 f. (A. 14) Walther, Bernhard 240 W ALTHER, GERRIT 4, 10 Walther von der Vogelweide 45

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Wann, Paul 95 (A. 82) W ARBURG, ABY 2, 7 W ARNKE, MARTIN 9 Wavrin, Walran de 304 (A. 78) W EINIG, P AUL J OACHIM 285 (A. 15) W EISS, ANTON 76 W EISS, ROBERTO 62, 386 W ERNER, GÜNTER 253 Werner, Johannes 240 W ERNER, KARL FERDINAND 190, 219 W ERNER, MICHAEL 67 Widukind von Corvey 45 Wildenberg,siehe Ebran William von Lyndwood 185 Wimann, Nikolaus 280, Wimpfeling, Jakob 42, 189 f., 246, 265, 397 - Epitome rerum Germanicarum 46, 189 f., 271; Responsa et replicae ad Eneam Silvium 218 (A. 10) W INCKELMANN, J OHANN JOACHIM 45 W IND, EDGAR 7 Winthager, Wolfgang 83 (A. 37) Wittelsbacher, pfälz. Linie 36 W ITTKOWER, RUDOLF 7 Witz, Konrad 123 (A. 23) Wolfram von Eschenbach 45 W ORSTBROCK, FRANZ-J OSEF 8, 20 f., 45 WREDE, HENNING 383 f., 386 Wurstisen, Christian 376 W UTTKE, DIETER 8, 20 Wyle, Niklas 11, 30, 32, 86 f. (A. 52), 89, 93-95 (A. 82), 101, 107, 321 Xenophon 195 Zabarella, Francesco, Kardinal 135 Zasius, Ulrich 34 Žatec (Saar), Peter von 127 (A. 34) Zechius, Hzg. von Böhmen 250 Zell, Heinrich 241 Zeno, Jacobo - Kontroverse mit Poggio 346 ZieliĔski, Tadeusz 343 Zincgref, Julius Wilhelm 50 ZIPPEL, GIANNI 120 Ziska, Jan 113 Zoroaster/Zarathustra 196