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German Pages 386 [388] Year 2010
Boris Rähme Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität Ein Beitrag zur Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen
EPISTEMISCHE STUDIEN Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von / Edited by Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Albert Newen Band 18 / Volume 18
Boris Rähme
Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität Ein Beitrag zur Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen
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Für Valentina, Ute und Gerd
Inhalt Vorwort ........................................................................................................7 Einleitung .....................................................................................................9 I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe ............................17 I.1 Behauptungshandlungen und Gültigkeitsansprüche ..........................23 I.2 Einige Normen für Behauptungshandlungen .....................................36 I.3 Deflationistische Abwiegelung? ........................................................46 I.3.1 Deflationistische Thesen .............................................................48 I.3.2 Ein Argument gegen den wahrheitstheoretischen Deflationismus ............................................................................66 I.4 Fallibilismus ohne Wahrheit? ............................................................73 I.5 Gründe haben, geben, zuschreiben und bewerten ..............................82 II. Fallibilität und Fallibilismus ..................................................................95 II.1 Das Problem der Formulierung des Fallibilismus...........................100 II.1.1 Fallibilismus und möglicher Irrtum ..........................................107 II.1.2 Fallibilismus und logische Folgebeziehung ..............................117 II.1.3 Fallibilismus und epistemische Gewissheit ..............................124 II.1.4 Fallibilismus und epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung ...............................................................................134 II.2 Ist die ‚Selbstanwendung‘ des Fallibilismus widersprüchlich? Zu Apels Kritik des uneingeschränkten Fallibilismus ...........................140 III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen am Beispiel der Konsenstheorie von Peirce .......................................................................147 III.1 Zur Standarddeutung der Peirceschen Konsenstheorie .................148 III.2 Peirces epistemische Wahrheitsäquivalenz ...................................156 III.3 Idealisierungen und kontrafaktische Annahmen ...........................168 III.4 Faktische Erkennbarkeit ................................................................184
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen? ....... 199 IV.1 Wahrheit, Verifikation und Erkennbarkeit ................................... 200 IV.2 Wahrheit und Kohärenz ................................................................ 202 IV.3 Wahrheit und Begründbarkeit unter idealen epistemischen Bedingungen ......................................................................................... 212 IV.4 Wahrheit und Konsens.................................................................. 221 IV.4.1 Konsens der Forschergemeinschaft – Peirce .......................... 222 IV.4.2 Konsens und ideale Sprechsituation – Habermas ................... 225 IV.4.3 Konsens und ideale Argumentationsgemeinschaft – Apel ..... 233 V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen ............................. 247 V.1 Regulative ...................................................................................... 253 V.2 Transzendenzthesen ....................................................................... 263 V.3 Fitchs Argument und das ‚Paradox of Knowability‘...................... 276 V.4 Was zeigt Fitchs Argument? .......................................................... 288 V.5 Begründete Behauptbarkeit, Behauptbarkeit und Verstehbarkeit .. 295 V.6 Lassen sich epistemische Transzendenzthesen begründen? ........... 308 VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee? Zwei Einwände gegen die transzendentalpragmatische Konsenstheorie ........................................... 319 VI.1 Zum Begriff der regulativen Idee in der „Kritik der reinen Vernunft“ .............................................................................................. 322 VI.2 Apels Rekurs auf regulative Ideen und Wellmers Kritik .............. 327 VI.3 Wahrheit ist keine regulative Idee ................................................ 337 VI.4 Apels Postulat der Selbstanwendbarkeit der Konsenstheorie und das Problem des konditionalen Fehlschlusses................................ 344 VII. Resümee ........................................................................................... 357 VII. Literatur............................................................................................ 367
Vorwort Ursprünglich hatte ich mit dieser Arbeit das theoretische Ziel, die hinter epistemischen Wahrheitskonzeptionen stehenden Grundgedanken zu verteidigen und zu entfalten. Vor allem wollte ich die These, dass manche wahren Aussagen prinzipiell nicht als wahr erkannt werden können, als falsch oder sogar als sinnlos erweisen. Im Laufe des Nachdenkens über diese Dinge aber haben die Einwände gegen das Projekt epistemischer Wahrheitstheorien die Überhand gewonnen. Die meisten dieser Einwände laufen auf den folgenden, für sich betrachtet recht unspektakulären, Punkt hinaus: Man kann mit guten Gründen die These vertreten, dass es Aussagen gibt, für die zwar niemand auf konsistente Weise einen Wahrheitsanspruch erheben kann, die aber trotzdem wahr sein mögen, und – dies ist ein wichtiger Zusatz – dabei die Frage nach konkreten Beispielen für solche Aussagen auf ganz und gar legitime Weise unbeantwortet lassen. So ist mir dieser Text, der doch eigentlich eine Verteidigung und Entfaltung der Grundgedanken epistemischer Wahrheitskonzeptionen werden sollte, in weiten Teilen unter der Hand zu einer Kritik geraten. Mein besonderer Dank gilt Holm Tetens und Gregor Betz, den beiden Gutachtern dieser Arbeit. Auch bei Jens Peter Brune, Sven Rosenkranz, Albrecht Wellmer und Micha H. Werner bedanke ich mich für kontroverse Diskussionen und konstruktive Kritik. Last but not least, danke ich Michael Esfeld, Stephan Hartmann und Albert Newen dafür, dass sie diesen Text in die Reihe „Epistemische Studien“ aufgenommen haben.
Trento, im Juli 2010
Einleitung Im Zentrum dieser Arbeit steht eine Auseinandersetzung mit epistemischen Wahrheitskonzeptionen. Proponenten solcher Ansätze der Wahrheitstheorie – etwa C. S. Peirce, M. Dummett, C. Wright, K.-O. Apel, J. Habermas und H. Putnam1 – erheben den Anspruch, die Frage nach der Bedeutung von ‚Wahrheit‘ im Rekurs auf epistemische, also das Erkennen, Begründen und rationale Überzeugtsein betreffende Konzepte wie ‚Verifizierbarkeit‘, ‚Kohärenz‘, ‚Begründbarkeit‘ oder auch ‚argumentative Konsenswürdigkeit‘ beantworten zu können. Ferner behaupten sie, dass die Annahme, es könne schlechthin unerkennbare und unbegründbare Wahrheiten geben, also wahre Aussagen, die nicht allein de facto, sondern prinzipiell nicht als wahr erkannt oder doch zumindest mit Gründen behauptet werden können, falsch oder sogar sinnlos ist. Im Hintergrund der damit vorläufig charakterisierten Kernthesen epistemischer Wahrheitskonzeptionen steht ein spezifisches Verständnis der Frage nach einer angemessenen philosophischen Erläuterung des Wahrheitsbegriffs. Dieses Verständnis lässt sich ausgehend von der Tatsache erläutern, dass wir den Wahrheitsbegriff als normatives Konzept in der Bewertung von Überzeugungen und Behauptungen verwenden. Ob wir eine Aussage zu Recht behaupten oder sie uns zu Recht als Gehalt einer Meinung zueigen machen, das hängt unter anderem davon ab, ob diese Aussage wahr ist. Epistemischen Wahrheitskonzeptionen liegt nun – zwar nicht immer explizit, aber doch der Sache nach – die folgende Überlegung zugrunde: Wenn es zutrifft, dass der Wahrheitsbegriff in die Bestimmung der normativen Korrektheitsbedingungen von Behauptungen und Überzeugungen eingeht, dann muss er mit einer Erläuterung versehen werden, die es erlaubt, den Umstand, dass wir die Einschätzung des Berechtigungsstatus einer gegebenen Behauptung oder Überzeugung B unter anderem von unserer Einschätzung des Wahrheitswerts des propositionalen Gehalts von B abhängig machen, als einen rationalen Zug unserer diskursiven und epistemischen Praxis auszuzeichnen. Akteure können sich in ihren Handlun1
Sowohl Putnam als auch Habermas haben sich von ihren ehemaligen epistemischwahrheitstheoretischen Ansätzen distanziert. Darauf komme ich zurück.
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Einleitung
gen um die Erfüllung einer Norm N aber nur dann rationalerweise bemühen – und sie können die Handlungen anderer für die Erfüllung oder Nichterfüllung von N nur dann rationalerweise würdigen oder kritisieren –, wenn es ihnen möglich ist, festzustellen beziehungsweise zu erkennen, ob N erfüllt ist oder nicht. Wäre Wahrheit unerkennbar, dann wäre ein wesentlicher Aspekt unserer diskursiven und epistemischen Praxis nicht mehr als rational explizierbar und verstehbar: das Bewerten von Überzeugungen und Behauptungen entlang der Frage, ob ihre jeweiligen propositionalen Gehalte wahr oder falsch sind. Insofern liefert der Hinweis darauf, dass wir den Wahrheitsbegriff normativ verwenden, prima facie einen Grund für die von Proponenten epistemischer Ansätze vertretene These, dass Wahrheit als erkennbar gedacht werden muss. Im Rekurs auf das diskurspragmatische Konzept des Gültigkeitsanspruchs wird in Kapitel I zunächst die für epistemische Wahrheitskonzeptionen grundlegende Annahme der normativen Relevanz des Wahrheitsbegriffs für die epistemische und diskursive Praxis expliziert. Sodann diskutiere ich die von Proponenten des wahrheitstheoretischen Deflationismus und – aus anderen Gründen – von Richard Rorty aufgestellte Behauptung, dass dem Wahrheitsbegriff keine normative Relevanz zukommt. Der Deflationismus kann sich dabei auf eine einleuchtende These stützen: Die in der Diskussion epistemischer Wahrheitstheorien übliche Rede von der Erkennbarkeit oder Nichterkennbarkeit der Wahrheit darf nicht verdecken, dass zum Beispiel die Frage ‚Ist es wahr, dass Caesar eine Erkältung hatte, während er den Rubikon überquerte?‘ und die Frage ‚Hatte Caesar eine Erkältung, während er den Rubikon überquerte?‘ nicht zwei verschiedene Fragen sind, sondern ein und dieselbe. Sie unterscheiden sich allenfalls hinsichtlich ihrer konversationellen Implikaturen2: Ein Sprecher, der die erste Frage in einem gegebenen Gesprächskontext stellt, legt damit normalerweise nahe, dass die Aussage, dass Caesar eine Erkältung hatte, während er den Rubikon überquerte, zuvor bereits in das Gespräch eingebracht worden ist. Mit der Äußerung der zweiten Frage ist dagegen keine solche Implikatur verbunden. Dieser konversationelle Unterschied ändert aber nichts daran, dass für diese beiden Fragen und jedes nach ihrem Muster 2
Zum Konzept der conversational implicature, auf das der Deflationismus in diesem Zusammenhang zurückgreifen kann, vgl. Grice 1989, S. 22-57.
Einleitung
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formulierbare Fragenpaar gilt: Die erste ist genau dann beantwortet, wenn die zweite beantwortet ist. In diesem Sinn handelt es sich, darauf weisen Deflationisten zu Recht hin, bei den beiden ihrem Wortlaut nach verschiedenen Fragen um ein und dieselbe Frage. Nach der Erkennbarkeit oder Unerkennbarkeit der Wahrheit von Aussagen zu fragen, ist dasselbe wie nach der Erkennbarkeit oder Unerkennbarkeit dessen zu fragen, worüber wir mit diesen Aussagen sprechen. So betrachtet, scheint die Diskussion über die These der Erkennbarkeit der Wahrheit gleichsam durch den Wahrheitsbegriff gekürzt werden zu können. Deflationisten behaupten nun, dass dasselbe auch für prima facie normative Verwendungen des Wahrheitsbegriffs in der Bewertung des Berechtigungsstatus von Überzeugungen und Behauptungshandlungen gilt. Diese Behauptung ist aber, wie sich in der Diskussion des Deflationismus zeigen wird, ungerechtfertigt. Rorty bietet eine andere Begründung für die These an, dass man Wahrheit nicht als eine für den Berechtigungsstatus von Behauptungen und Überzeugungen normativ relevante Eigenschaft von Aussagen ansehen sollte. In einigen seiner späten Texte behauptet er, dass wahre Aussagen nicht als wahr erkannt werden können, und schließt dann von dieser Behauptung aus konsequenterweise auf die normative Irrelevanz des Wahrheitswerts einer gegebenen Aussage p für den Berechtigungsstatus einer jeden Behauptung von p.3 Was zähle, sei hier allein die Antwort auf die Frage, ob p begründet ist oder nicht, und der Begründungsstatus einer gegebenen Aussage p lasse sich – im Gegensatz zu dem Wahrheitswert von p – sehr einfach daran ablesen, ob p die Zustimmung aller oder doch der meisten derer findet, an die eine Behauptung von p jeweils de facto adressiert ist. Diese allein auf faktische Konsensfähigkeit in einem Redekontext bezogene, also strikt kontextrelative Erläuterung der Bedingungen, unter denen Behauptungen berechtigt sind, lässt aber keinen Raum für eine Erklärung der Tatsache, dass wir eine Behauptung B selbst dann noch als möglicherweise unberechtigt und korrekturbedürftig behandeln, wenn wir selbst und auch alle anderen, an die B de facto adressiert ist, B auf der Basis geteilter Gründe als berechtigt anerkennen. Mit anderen Worten: Sie ist unvereinbar mit einem fallibilistischen Verständnis von Behauptungshandlungen und Überzeugungen. Um gegenüber Behauptungen von Aussagen 3
Vgl. etwa Rorty 1998a.
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Einleitung
selbst dann noch einen Fallibilitätsvorbehalt aufrecht erhalten zu können, wenn sie in dem jeweiligen Kontext, in dem sie aufgestellt werden, allgemeine Zustimmung finden, ist die Bezugnahme auf einen kontexttranszendierenden Gültigkeitssinn von Aussagen notwendig, und Wahrheit liefert genau diesen normativen Bezugspunkt. Die Wahrheit oder Falschheit einer gegebenen Aussage p ist in den weitaus meisten Fällen unabhängig davon, ob p de facto von irgendjemandem (mit Gründen) für wahr oder für falsch gehalten wird. Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen und solche nicht-epistemischer Ansätze – etwa Proponenten von Korrespondenztheorien der Wahrheit – stimmen darin überein, dass diese These ein Element unseres vortheoretischen Verständnisses des Wahrheitsbegriffs zum Ausdruck bringt, dem eine akzeptable philosophische Erläuterung von ‚Wahrheit‘ Rechnung tragen muss. Um dieser Adäquatheitsbedingung gerecht zu werden, bringen epistemische Wahrheitstheorien bestimmte Idealisierungen ins Spiel. Sie erläutern den Sinn der Rede von Wahrheit in Begriffen idealer Verifizierbarkeit, Kohärenz, Begründbarkeit oder Konsenswürdigkeit. Die Frage nun, wie die Idealisierungen genau zu verstehen sind, auf die in epistemischen Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs jeweils zurückgegriffen wird, markiert eines der zentralen Deutungsprobleme in Bezug auf Konsens-, Kohärenz- und Verifizierbarkeitstheorien. Einerseits soll mit solchen Theorien ein interner Zusammenhang zwischen Wahrheit und Begründbarkeit aufgedeckt werden, der es dann erlaubt, ‚Wahrheit‘ sinnvollerweise als einen für unsere tatsächliche und nicht-ideale epistemische Praxis normativ relevanten Gültigkeitsbegriff anzusehen, andererseits verwenden diese Theorien dabei aber Konzepte idealer Begründbarkeit, Konsenswürdigkeit oder Kohärenz, bei denen fraglich ist, ob sie mit unserer realen Begründungspraxis überhaupt noch in Verbindung gebracht werden können. Donald Davidson vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass epistemische Wahrheitskonzeptionen mit einem Dilemma konfrontiert sind: „[I]f the conditions under which someone is ideally justified in asserting something were spelled out, it would be apparent either that those conditions allow the possibility of error or that they are so ideal as to make no use of the intended connection with human abilities.“4 4
Davidson 1990, S. 307. Vgl. auch Alston 1996, S. 228, und Williams 1996, S. 236.
Einleitung
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Davidson bezieht sich hier auf die von Hilary Putnam in den 1980er Jahren bevorzugte Erläuterung von ‚Wahrheit‘ im Rekurs auf einen Begriff begründeter Behauptbarkeit unter idealen epistemischen Bedingungen5, die Pointe seiner Kritik lässt sich aber im Blick auf epistemische Wahrheitskonzeptionen insgesamt generalisieren: Entweder ist der von einer epistemischen Wahrheitstheorie verwendete Begriff idealer Begründung vereinbar mit der These, dass auch noch eine ideal begründete Aussage falsch sein könnte, und eignet sich daher nicht zur Explikation von ‚Wahrheit‘; oder er schließt die Möglichkeit, dass auch noch eine ideal begründete Aussage falsch sein könnte, aus, muss dann aber mit derart starken Idealisierungen verbunden sein, dass er jeglichen Zusammenhang mit unserer tatsächlichen Begründungspraxis einbüßt. Im letzteren Fall wird aber zugleich fraglich, ob wir ein solches Konzept idealer Begründung überhaupt hinreichend verstehen, um ihm wahrheitstheoretische Explikationsleistungen zumuten zu können.6 Die Stichhaltigkeit von Davidsons Einwand steht allerdings unter der Voraussetzung, dass allein ein Konzept infallibler Begründung hinreichend anspruchsvoll wäre, um in einer epistemischen Erläuterung des Wahrheitsbegriffs theoretische Explikationsarbeit zu leisten. In Kapitel II schlage ich eine Deutung des Prädikats ‚fallibel‘ zum einen und des erkenntnistheoretischen Fallibilismus zum anderen vor, die es erlaubt, die für epistemische Wahrheitskonzeptionen zentrale These, dass eine Aussage, die unter idealen epistemischen Bedingungen begründbar wäre, nicht falsch sein kann, begrifflich von der These zu entkoppeln, dass Begründungen unter idealen epistemischen Bedingungen infallibel wären. Nach den die Diskussion epistemischer Wahrheitstheorien selbst vorbereitenden Kapiteln I und II werden in Kapitel III sodann am Beispiel von Peirces Konsenstheorie zentrale Elemente und Thesen rekonstruiert, die sich, verschieden variiert, in den epistemischen Wahrheitskonzeptionen von Putnam, Habermas, Apel und – mit Einschränkungen – Wright sowie Dummett wiederfinden lassen: der Rekurs auf epistemische Idealisierungen, die Verwendung von kontrafaktischen Konditionalen sowie die Differenzierung zwischen faktischem Erkanntsein und prinzipieller Erkennbar5 6
Vgl. etwa Putnam 1981, S. 49 und S. 55. Vgl. in diesem Zusammenhang Williams 1996, S. 236: „[T]he main problem with epistemic accounts of truth is to understand them.“
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Einleitung
keit. Peirce behauptet ferner, dass alle wahren Aussagen im Prinzip auch als wahr erkannt werden können. Dem entsprechen bei den anderen genannten Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen Behauptungen von Aussagen der folgenden Art: Alle wahren Propositionen können im Prinzip Gehalt von Wissen sein; jede wahre Aussage ist prinzipiell begründbar; wenn eine Aussage wahr ist, dann ist es möglich, sie rein argumentativ als konsenswürdig zu erweisen. Ich nenne Thesen dieser Art, in denen jeweils die Möglichkeit eines bestimmten epistemischen Status als notwendige Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ins Spiel gebracht wird, epistemische Regulative.7 Darüber hinaus wird der Wahrheitsbegriff in nahezu allen epistemischen Ansätzen mit Hilfe von Äquivalenzaussagen erläutert, die sich zwar von Theorie zu Theorie inhaltlich voneinander unterscheiden, aber eine gemeinsame Struktur aufweisen8: Die Aussage p ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn bestimmte epistemisch relevante Bedingungen gegeben wären und wir unter diesen Bedingungen prüfen würden, ob es der Fall ist, dass p, dann würden wir zu dem Ergebnis gelangen, dass p. Äquivalenzaussagen dieser Art, in denen die Rede von ‚bestimmten‘ epistemisch relevanten Bedingungen durch spezifische Formulierungen konkretisiert wird, bezeichne ich als epistemische Wahrheitsäquivalenzen. Epistemische Wahrheitskonzeptionen werden oftmals unter der Fragestellung diskutiert, ob sie Definitionen oder doch zumindest zirkelfreie begriffliche Erläuterungen von ‚Wahrheit‘ zu liefern imstande sind. Auch scheinen manche ihrer Proponenten jedenfalls implizit genau diesen Anspruch mit den von ihnen angebotenen Wahrheitsäquivalenzen zu verbinden. Wenn sich Proponenten und Opponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen aber erst einmal darin einig sind, der philosophische Anspruch dieser Ansätze bestehe darin, den Wahrheitsbegriff im Rekurs 7
8
In der englischsprachigen Diskussion ist in diesem Zusammenhang der von Crispin Wright eingeführte Ausdruck ‚epistemic constraint‘ gebräuchlich. Vgl. etwa Wright 1992, S. 41 und passim. Wrights Überlegungen zur Frage, ob das Prädikat ‚superassertible‘ als ein Wahrheitsprädikat verstanden werden kann, und die von Dummett vertretene These, dass eine Aussage genau dann wahr ist, wenn es möglich ist, sie als wahr zu erkennen, stellen hier Ausnahmen dar (vgl. dazu die Abschnitte III.4 und IV.1).
Einleitung
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auf epistemische Konzepte zu definieren, dann ist der argumentative Streit schon zu Gunsten der Kritiker entschieden. Letztere können dann nämlich schlicht darauf hinweisen, dass jeder Versuch einer solchen Definition von ‚Wahrheit‘ nur zu zirkulären Definitionsangeboten führen kann, weil die jeweils ins Spiel gebrachten epistemischen Konzepte selbst wiederum nur im Rekurs auf den Wahrheitsbegriff erläutert werden können. In Kapitel IV wird dargestellt, inwiefern epistemische Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs zirkulär sind – im Blick auf eine Reihe von Thesen, in denen der Wahrheitsbegriff mit jeweils mehr oder weniger stark idealisierten epistemischen Konzepten von Kohärenz, Begründbarkeit, Verifizierbarkeit, begründeter Behauptbarkeit (‚warranted assertibility‘) und argumentativer Konsenswürdigkeit in Zusammenhang gebracht wird. Dies gibt mir zugleich die Gelegenheit, einige epistemische Wahrheitsäquivalenzen einzuführen, die sich ihrer Sache nach in Texten von Bradley, Joachim und Blanshard sowie Putnam, Habermas und Apel finden und ihre Struktur mit Peirces konsenstheoretischer Wahrheitsäquivalenz teilen. In Kapitel V rekonstruiere ich zunächst eine Reihe von unterschiedlich anspruchsvollen epistemischen Regulativen, um diese sodann ausgehend von einem Argument Frederic B. Fitchs zu diskutieren. Fitchs Argument wird von vielen Kritikern epistemischer Wahrheitskonzeptionen als konklusiver Einwand gegen die These der prinzipiellen Erkennbarkeit jeder wahren Aussage als wahr bewertet. In der Diskussion wird sich zeigen, dass jedenfalls pauschale epistemische Regulative, also vollkommen generelle Thesen, mit denen die Erkennbarkeit oder auch die Begründbarkeit schlechthin aller wahren Proposition behauptet wird, nicht haltbar sind. Nach einer Kritik der von Karl-Otto Apel vertretenen These, Wahrheit sei eine regulative Idee, mit der in Kapitel VI die Diskussion der Frage nach dem angemessenen Verständnis der mit epistemischen Wahrheitstheorien ins Spiel gebrachten Idealisierungen wieder aufgenommen wird, argumentiere ich abschließend dafür, dass epistemische Regulative nicht als generelle wahrheitstheoretische Thesen formuliert, sondern als Explikationen von Rationalitätspräsuppositionen der Behauptungs- und Begründungspraxis aufgefasst werden sollten.
I.
‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Die These, dass ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ normative Konzepte sind, mag als unstrittig und daher der Diskussion kaum wert erscheinen. Schließlich verwenden wir beide Begriffe in der alltäglichen Kommunikation regelmäßig im Kontext normativer Stellungnahmen zu Behauptungen und Überzeugungen.1 So wird das Wahrheitsprädikat in Aussagen wie ‚Was du behauptet hast, ist nicht wahr.‘ gebraucht, um die jeweils thematische Behauptung zu kritisieren, und manchmal – wenn wir meinen, dass der Behauptende es hätte besser wissen müssen – auch dazu, an der Person Kritik zu üben, welche sie aufgestellt hat. Dabei muss die kritisierte Behauptung keineswegs die eines anderen sein. Im Zusammenhang der Kritik, Revision und Korrektur eigener Behauptungen und Überzeugungen bringen retrospektive Selbstzuschreibungen von Irrtümern denselben normativen Sinn des Wahrheitsbegriffs ins Spiel, der in der Kritik von Meinungen und Behauptungen einer dritten oder zweiten Person zum Zuge kommt: ‚Was ich damals behauptet habe, ist nicht wahr; ich habe mich damals geirrt.‘ Wir verwenden ferner das Wahrheitsprädikat in Aussagen wie ‚Was sie behauptet hat, ist wahr.‘ nicht allein dazu, unsere persönliche Zustimmung und Anerkenntnis anzuzeigen oder, wie von manchen Vertretern deflationistischer Ansätze der Wahrheitstheorie behauptet wird, um unser Lob und unsere Billigung kundzutun.2 Das Prädikat ‚ist wahr‘ wird 1
2
Ich mache hier und im Folgenden keinen Unterschied zwischen Behauptungen und Überzeugungen. Genauer gesagt, ich behandle Überzeugungen und Meinungen als potentielle Behauptungen. Was die Relevanz von Wahrheit und Begründung für den normativen Berechtigungsstatus von Überzeugungen und Behauptungen angeht, so unterscheiden sich die Ersteren nicht wesentlich von den Letzteren. Für die These, dass Wahrheitszuschreibungen Zustimmungshandlungen sind, vgl. zum Beispiel die von Strawson in seinen beiden mit „Truth“ betitelten Aufsätzen formulierte und später revidierte ‚performative Wahrheitstheorie‘ (Strawson 1949, bes. S. 95-97, und Strawson 1950). Für die These, dass man mit Wahrheitszuschreibungen bloß ein subjektives Lob oder eine persönliche Empfehlung zum Ausdruck bringt – eine These, welche den aus nonkognitivistischen Ansätzen der Metaethik bekannten Emotivismus auf die Wahrheitstheorie überträgt –, vgl. Rorty
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
hier vielmehr gebraucht, um die Einschätzung zum Ausdruck zu bringen, dass die betreffende Behauptung, dass p, in einer bestimmten normativen Hinsicht korrekt und in dieser selben Hinsicht intersubjektiv anerkennungswürdig ist – intersubjektiv anerkennungswürdig nicht in dem Sinn, dass de facto jeder die Überzeugung annehmen oder glauben sollte, dass p, sondern in dem folgenden Sinn: Jeder, der sich die Frage stellt, ob p, sollte anerkennen, dass p. Die Behauptung einer wahren Aussage erfüllt eine Norm, die – neben anderen Normen – den Sinn der sprachlichen Handlung des Etwas-Behauptens mitbestimmt. Die Behauptung einer falschen Aussage dagegen bleibt hinter der Erfüllung dieser Norm zurück. Wer eine falsche Aussage behauptet oder die Behauptung einer falschen Aussage als berechtigt anerkennt, begeht einen (epistemischen) Fehler. Ähnliches kann über den Gebrauch der Ausdrücke ‚Grund‘, ‚Begründung‘ und ‚ist begründet‘ in alltäglichen Kommunikationskontexten gesagt werden. Wir verwenden sie in Aussagen wie ‚Was du behauptet hast, ist unbegründet.‘ oder ‚Was du als Begründung deiner Behauptung anführst, ist gar keine Begründung.‘, um die Einschätzung zum Ausdruck zu bringen, dass mit der jeweils thematischen Behauptungshandlung in normativer Hinsicht etwas nicht in Ordnung ist. Auch die Behauptung einer unbegründeten oder auf offensichtliche Weise unzulänglich begründeten Aussage verletzt eine Norm des Behauptens. Entsprechend werden die Ausdrücke ‚Grund‘ und ‚Begründung‘ in Aussagen wie ‚Die Gründe, die S für ihre Behauptung gegeben hat, sind überzeugend.‘ oder ‚S hat eine stichhaltige Begründung für ihre Behauptung geliefert.‘ dazu verwendet, die normative Stellungnahme zum Ausdruck zu bringen, dass die jeweils von S behauptete Aussage p auf der Basis der von S gegebenen Gründe intersubjektiv anerkennungswürdig ist – wieder: intersubjektiv anerkennungswürdig nicht in dem Sinn, dass de facto jeder die Überzeugung haben oder glauben sollte, dass p, sondern in dem folgenden Sinn: Jeder, der sich 1988, S. 15-18. Der Ausdruck ‚wahr‘, so Rorty dort, sei „lediglich ein der Empfehlung dienender Ausdruck“ (S. 15), und „nach Ansicht des Pragmatisten“, damit meint Rorty in erster Linie sich selbst, „ist ‚Wissen‘ oder ‚Erkenntnis‘ – ebenso wie ‚Wahrheit‘ – schlicht ein Lob, das man den Überzeugungen spendet, die man für derart gerechtgefertigt erachtet, daß eine weitere Rechtfertigung zur Zeit nicht vonnöten sei.“ (S. 17.) Diese These hat Rorty später zwar qualifiziert, aber der Sache nach beibehalten.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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die Frage stellt, ob p, und dem S’ Gründe bekannt sind, sollte auf der Basis dieser Gründe anerkennen, dass p. Die attributiven Bestimmungen ‚überzeugend‘ und ‚stichhaltig‘ in den letzten beiden Beispielaussagen verweisen allerdings bereits auf einen wichtigen Unterschied in der normativen Funktionsweise der Prädikate ‚ist wahr‘ und ‚ist begründet‘. Wahrheit kann einer Aussage nur vollständig zugesprochen oder vollständig abgesprochen werden, das heißt, das Wahrheitsprädikat hat keine sinnvolle Verwendung im Komparativ.3 Das Begründetsein von Aussagen ist dagegen eine graduelle Angelegenheit, und es ist durchaus sinnvoll, von Aussagen als mehr oder weniger, besser oder schlechter, überzeugender oder weniger überzeugend begründet zu sprechen. Darüber hinaus ist die Begründbarkeit einer Aussage kontextrelativ in dem Sinn, dass es – zum Beispiel je nach Informations- und Wissensstand der jeweils an Begründung Interessierten – in einem Kontext gelingen, in einem anderen dagegen misslingen kann, eine gegebene Aussage p zu begründen. Zeitlich interpretiert: Aussagen können ihren Begründungsstatus verlieren oder wechseln. Wahrheit dagegen ist, mit Putnam gesprochen, unverlierbar oder stabil: Der Wahrheitswert einer gegebenen 3
Das gilt zumindest dann, wenn man seine Anwendung auf einzelne Aussagen betrachtet, wobei freilich auch eine beliebig komplexe logische Verknüpfung von Aussagen wieder eine Aussage – eben eine komplexe Aussage – darstellt. Hier gilt: „Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder.“ (Frege 1993, S. 32.) Entweder ist die (logisch beliebig komplexe) Aussage p wahr oder nicht. Gunnar Skirbekk hat darauf hingewiesen, dass Sprecher das Wahrheitsprädikat de facto manchmal im Komparativ verwenden, und dass diese Verwendungen durchaus nicht sinnlos oder unverständlich sind (vgl. Skirbekk 2003, S. 237 f.). Seine Beispiele beziehen sich aber nicht auf einzelne Aussage, sondern auf Erzählungen, Berichte und Geschichten. So könne man etwa auf verständliche Weise sagen, „daß einige Erzählungen eine bessere und insofern ‚wahrere‘ Schilderung menschlicher Beziehungen geben als andere Erzählungen.“ (Skirbekk 2003, S. 238.) Ich will nicht bestreiten, dass manche Sprecher das Wahrheitsprädikat in Bezug auf verschiedene Berichte desselben Ereignisses oder auch im Blick auf verschiedene Beschreibungen desselben Gegenstandes im Komparativ verwenden und dass solche Verwendungen auch irgendwie verstehbar sind, obwohl diese Sprecher meines Erachtens besser daran täten, hier die Komparative von ‚gut‘, ‚angemessen‘ oder ‚informativ‘ zu verwenden. Bestreiten will ich aber, dass man in Bezug auf zwei Aussagen auf verständliche Weise sagen kann, die eine sei wahrer als die andere.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Aussage p bleibt über die verschiedenen Kontexte hinweg, in denen p behauptet, bestritten oder begründet wird, konstant.4 Auf diesen Differenzen in der normativen Grammatik der Prädikate ‚ist wahr‘ und ‚ist begründet‘ beruht unter anderem die Verständlichkeit der Rede von de facto begründeten, aber falschen Aussagen, und insofern auch diejenige von fallibilistischen Vorbehalten der folgenden Art: ‚Wir haben die Aussage p zwar auf der Basis der Gründe g1,..., gn überzeugend begründet, aber g1,..., gn liefern uns keine epistemische Garantie für die Wahrheit von p.‘ Auch das Bewusstsein der Fallibilität von begründeten Meinungen und Behauptungen ist Bestandteil unseres normativen Selbstverständnisses im diskursiven Handeln. Darauf komme ich zurück. An dieser Stelle geht es mir einzig um den Hinweis, dass wir die Prädikäte ‚ist wahr‘ und ‚ist begründet‘ in der alltäglichen Kommunikation offenbar normativ verwenden. In diesen normativen Verwendungsweisen bringt sich zumindest ein Teil des impliziten und praktischen Bedeutungswissens zum Ausdruck, das wir als kompetente Teilnehmer an intersubjektiven Verständigungs- und Begründungspraktiken sowohl in Bezug auf ‚Wahrheit‘ als auch in Bezug auf ‚Begründung‘ immer schon haben. Eine philosophische Explikation der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ hat nun zunächst keinen anderen Anhalts- und Ansatzpunkt als den Gebrauch, den kompetente Sprecher von den Ausdrücken ‚ist wahr‘ und ‚ist begründet‘ machen. Wo sollte sie auch sonst ansetzen? In Abschnitt I.1 erläutere ich die normative Relevanz der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ für die Behauptungspraxis im Rekurs auf das diskurspragmatische Konzept des Gültigkeitsanspruchs, wie es von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel eingeführt worden ist. Ausgehend von den verschiedenen Gültigkeitsansprüchen, die mit Behauptungen verbunden sind, werden in Abschnitt I.2 einige Normen expliziert, deren Erfüllung – so meine These – jeweils eine notwendige Bedingung für das Berechtigtsein beziehungsweise die normative Korrektheit einer gegebenen Behauptungshandlung darstellt. In Abschnitt I.3 verteidige ich die hier vertretene Deutung der Normativität des Wahrheitsbegriffs dann gegen einen 4
Vgl. Putnam 1983, S. 84: „[T]ruth is supposed to be a property of a statement that cannot be lost, whereas justification can be lost [...], justification is a matter of degree whereas truth is not“. Vgl. auch Putnam 1981, S. 55.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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Einwand, der von Proponenten deflationistischer Ansätze der Wahrheitstheorie geltend gemacht werden könnte. Dieser Einwand richtet sich keineswegs gegen die These, dass der Wahrheitsbegriff in philosophischen Rekonstruktionen der Bedingungen berechtigter Behauptbarkeit verwendet werden darf und sogar verwendet werden muss. Er soll vielmehr nachweisen, dass man die systematische Rolle, die der Wahrheitsbegriff in solchen Rekonstruktionen spielt, missversteht, wenn man meint, ‚Wahrheit‘ werde hier als ein substantielles normatives Konzept ins Spiel gebracht. Das Wahrheitsprädikat habe in der Formulierung von Normen des Behauptens vielmehr eine bloß logische Funktion. Unter anderen Vorzeichen als der Deflationismus behauptet auch Donald Davidson, dass es sich bei ‚Wahrheit‘ nicht um ein normativ gehaltvolles Konzept handelt: „Truth is not, in my opinion, a norm.“5 An einer anderen Stelle erläutert er diese Einschätzung im Blick auf die JamesDewey-Linie des Pragmatismus und erweitert sie zu der These, dass Wahrheit nichts sei, was man sinnvollerweise anstreben oder um das man sich im Behaupten und Argumentieren bemühen könne: „From the fact that we will never be able to tell which of our beliefs are true, pragmatists conclude that we may as well identify our best researched, most successful, beliefs with the true ones, and give up the idea of objectivity. (Truth is objective if the truth of a belief or sentence is independent of whether it is justified by all our evidence, believed by our neighbors, or is good to steer by.) But here we have a choice. Instead of giving up the traditional view that truth is objective, we can give up the equally traditional view (to which the pragmatists adhere) that truth is a norm, something for which to strive. I agree with the pragmatists that we can’t consistently take truth to be both objective and something to be pursued. But I think they would have done better to cleave to a view that counts truth as objective, but pointless as a goal.“6 5 6
Davidson 1999a, S. 461. Davidson 2000, S. 67. Davidsons Behauptung, dass wir niemals in der Lage sein werden, festzustellen, welche unserer Meinungen wahr sind, klingt (zweifellos ungewollt) skeptizistisch. Dies lässt sich im Rekurs auf den Hinweis Freges verdeutlichen, „daß wir an keinem Dinge eine Eigenschaft erkennen können, ohne damit zugleich den Gedanken, daß dieses Ding diese Eigenschaft habe, wahr zu finden. So ist mit jeder Eigenschaft eines Dinges eine Eigenschaft eines Gedankens verknüpft, nämlich die der Wahrheit.“ (Frege 1993, S. 34; vgl. dazu Schantz 1996, S. 5-7.) Jede Wissenszuschreibung der Form ‚S weiß, dass p.‘ ist äquivalent mit einer
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Während Davidson bestreitet, dass ‚Wahrheit‘ ein normatives Konzept ist, will er andererseits an der Normativität des Begründungsbegriffs festhalten: „We do not aim at truth but at honest justification.“7 In diesen Punkten stimmt er mit Richard Rorty überein, der ebenfalls der Ansicht ist, dass man dem Konzept der Begründung normative Relevanz für unsere diskursive Praxis zusprechen kann, ohne dieselbe Relevanz auch dem Wahrheitsbegriff zuzuschreiben. Davidsons und Rortys Behauptung, dass Wahrheit keine Norm ist, gibt mir die Gelegenheit, die Charakterisierung von ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe zu präzisieren. Denn in einem gewissen Sinn ist die Behauptung, dass Wahrheit keine Norm ist, vollkommen berechtigt – allerdings in einem Sinn, den Davidson und Rorty mit ihrer These nicht intendieren: In dem Satz ‚Wahrheit ist eine Norm.‘ steckt, mit Ryle gesprochen, ein Kategorienfehler oder, mit Carnap gesprochen, eine Sphärenvermengung. Normen sind präskriptive Aussagen, nämlich Handlungspräskriptionen der Form ‚Es ist geboten, X zu tun/zu unterlassen.‘ oder auch der Form ‚Du sollst X tun/unterlassen.‘. Wahrheit dagegen ist offenbar keine Aussage, sondern ein Gültigkeitsstatus, der Aussagen zukommen und der ihnen fehlen kann.8 Ähnliches gilt im Blick auf den Satz ‚Begründung ist eine Norm.‘. Auch Begründung ist keine präskriptive Aussage, sondern zunächst das Resultat von Handlungen epistemischer Subjekte, die für eine gegebene Aussage p Gründe geben. Sodann ist Begründetsein ein für die Beantwortung der Frage, ob man glauben sollte, dass p, relevanter Status, den eine Aussage genau dann hat, wenn sie begründet worden ist, und der ihr fehlt, wenn sie nicht begründet worden ist. Diese Hinweise sprechen keineswegs gegen die These, dass ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ normative Konzepte sind. Sie zeigen nur, dass es sprachlich unangemessen ist, Wahrheit und Begründung als Normen zu bezeichnen. Angemessener ist es, sie als epistemische und argumentative
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Wissenszuschreibung der Form ‚S weiß, dass es wahr ist, dass p.‘. Davidsons Behauptung ist insofern äquivalent mit der These, dass wir niemals in der Lage sein werden, festzustellen, ob manche Berge höher als andere, Fische Tiere und Menschen sterblich sind usw. Davidson 1999a, S. 461. Vgl. auch Davidson 1999b, S. 17. Für ein weiteres Beispiel der insofern missverständlichen Rede von Wahrheit als Norm vgl. Pascal Engels Aufsatz „Is Truth a Norm?“ (Engel 2001).
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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Werte zu kennzeichnen. Werte können über Wertkonzepte in die Formulierung von Handlungspräskriptionen, also Normen, eingehen. Und in diesem Sinn kann auch die hier vertretene These von der Normativität des Wahrheits- und des Begründungsbegriffs vorläufig expliziert werden: ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ sind normative Konzepte der epistemischen und argumentativen Praxis, insofern Wahrheit und Begründung Werte dieser Praxis sind, deren Sinn sich in Form von Normen für Behauptungshandlungen explizieren lässt. In Abschnitt I.4 rekonstruiere und kritisiere ich Richard Rortys Variante der These, dass der Wahrheitsbegriff für die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen eine Behauptung in normativer Hinsicht berechtigt ist, keine Relevanz hat. Dabei wird sein Versuch im Vordergrund stehen, die Idee der Fallibilität und Korrigierbarkeit von Behauptungen und Überzeugungen ohne Rekurs auf ‚Wahrheit‘ zu explizieren. Im Anschluss an Überlegungen Albrecht Wellmers skizziere ich dann in Abschnitt I.5 eine Unterscheidung zwischen drei Verwendungsweisen des Begründungsbegriffs im Kontext von Zuschreibungen begründeter Überzeugungen, die sich in ihren normativen Implikationen unterscheiden.
I.1
Behauptungshandlungen und Gültigkeitsansprüche
In der Einleitung zu „Mind and World“ schlägt John McDowell vor, die normative Relevanz des Wahrheitsbegriffs für die epistemische Praxis im Rekurs auf das Konzept der ‚answerability to the world‘ zu explizieren: „[T]hinking that aims at judgement, or at the fixation of belief, is answerable to 9 the world–to how things are–for whether or not it is correctly executed.“
McDowell versteht dabei die Relation zwischen epistemischen Subjekten einerseits und den Gegenständen ihrer Erkenntnisbemühungen andererseits selbst als ein normatives Verhältnis: „[The] relation between mind and world is normative“10. In einem späteren Aufsatz führt er diesen Gedanken folgendermaßen aus:
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McDowell 1996, S. xii. McDowell 1996, S. xii.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe „An utterance of ‘Cold fusion has not been achieved, so far, in the laboratory’ has (if I am right about the physics) a warrant, a justifiedness, that does not consist in one’s being able to get away with it among certain conversational partners, but in […] cold fusion’s not having been achieved, so far, in the laboratory. Here the terms ‘warranted,’ ‘rationally acceptable,’ etc. have collected an obvious answer, not to the question ‘to whom?,’ but to the question ‘in the light of what?,’ and the question ‘to whom?’ need not be in the offing at all.“11
Einige Seiten weiter pointiert McDowell seine Thesen: „[I]n claiming we make ourselves answerable not just to the verdicts of our fellows but to the facts themselves.“ „[T]ruth [...] is a mode of justifiedness that is not relative to some particular audience; the question that this mode of justifiedness raises is not ‚to whom?’ but ‚in the light of what?’.“12
McDowells Charakterisierung von Wahrheit als Modus des Begründetseins von Behauptungen ist eigentümlich, weil die Wahrheit einer Aussage für sich genommen keinen Einfluss auf den epistemischen Begründungsstatus dieser Aussage hat. Aus der Wahrheit einer gegebenen Aussage p selbst beziehen Behauptungen (‚claimings‘) der Aussage p normalerweise keinerlei Rechtfertigung.13 Zumal in Verbindung mit seinem Konzept der ‚answerability to the world‘ legt McDowells Charakterisierung von Wahrheit als ‚mode of justifiedness‘ die Annahme eines epistemisch normativ aufgeladenen Verantwortungsverhältnisses zwischen Sprechern und den Objekten ihrer Beschreibungen nahe. Sind wir aber den Objekten unserer Beschreibungen gegenüber – zum Beispiel Bergen, Erdbeben, Fischen und Planeten – für ihre korrekte Beschreibung verantwortlich? Ein solches normatives Verhältnis mag zu bestimmten Objekten von Beschreibungen durchaus bestehen, nämlich zu Personen qua Subjekt-Objekten. Hier würde dann auch der Ausdruck ‚answerability‘ im Sinne von ‚Verantwortlichkeit‘ seinen guten Sinn haben: Eine beschriebene Person A kann unter Umständen selbst Adressatin und kompetente Beurteilerin von Behauptungen sein, mit denen der Anspruch verbunden ist, A zu beschreiben. Der Beschreibende hat sich dann vor A in dem Sinn zu verantworten, dass er seine Be11 12 13
McDowell 2000, S. 117. McDowell 2000, S. 119. Die Einschränkung ‚normalerweise‘ habe ich eingefügt, weil bestimmte ‚selbstverifizierende‘ Aussagen in dieser Hinsicht möglicherweise eine Ausnahme darstellen. Vgl. Hintikka 1974, bes. S. 108.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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schreibung prinzipiell auch ihr gegenüber durch gute Gründe muss rechtfertigen können, solange er rationalerweise an ihr festhalten will. Aber McDowell denkt, wie sein Beispielsatz ‚Cold fusion has not been achieved, so far, in the laboratory.‘ deutlich macht, offensichtlich nicht an Aussagen über Personen, sondern paradigmatisch an Aussagen über Dinge und Ereignisse der nichtmenschlichen Natur. In diesem Zusammenhang ist die Idee einer spezifisch epistemischen Verantwortung gegenüber den Gegenständen unserer Rede aber schwer nachvollziehbar.14 Der Anspruch, die Welt oder doch bestimmte ihrer Aspekte korrekt zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen, kurz: zu erkennen, ist ein Anspruch, den wir uns als epistemische Subjekte selbst auferlegen. Er wird nicht, wie McDowells Wendung ‚answerability to the world‘ suggeriert, von der Welt oder den Tatsachen an uns gestellt. Den Ausgangspunkt für eine überzeugendere Erläuterung der normativen Relevanz des Wahrheitsbegriffs für die epistemische Praxis liefert das von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel eingeführte diskurspragmatische Konzept des Gültigkeits- oder Geltungsanspruchs. Habermas unterscheidet drei Gültigkeitsansprüche: die Ansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit.15 Karl-Otto Apel fügt dieser Trias den Anspruch auf Verständlichkeit oder Sinnhaftigkeit hinzu.16 Sowohl Habermas als 14
15
16
Selbstverständlich können wir zum Beispiel für den Schutz und Erhalt der nichtmenschlichen Natur oder doch bestimmter ihrer Teile Verantwortung übernehmen und zu einer solchen Verantwortungsübernahme sogar moralisch verpflichtet sein. Die Verantwortung dafür, die nichtmenschliche Natur – in ihren relevanten Aspekten – korrekt zu beschreiben, ergibt sich daraus dann als Folge-Verantwortung. In diesem Sinn könnte dann auch gesagt werden, dass wir den Objekten unserer Beschreibungen gegenüber für ihre korrekte Beschreibung verantwortlich sind. Dieser moralisch vermittelte Verantwortungssinn ist aber evidentermaßen nicht das, worauf McDowell mit seinem Konzept der answerability to the world hinauswill. Vgl. Habermas 1984a, S. 137-149, bes. S.138-140; Habermas 1983, S. 147 f.; Habermas 1999a, S. 112. Vgl. Apel 1998a, S. 124 f. Diese Darstellung vereinfacht die Differenzen, die zwischen Habermas und Apel im Blick auf die Frage bestehen, ob Verständlichkeit respektive Sinnhaftigkeit ein Gültigkeitsanspruch ist, da auch Habermas Verständlichkeit an manchen Stellen als Gültigkeitsanspruch auszeichnet. So etwa in Habermas 1984a, S. 137 f. – freilich nur, um auf der folgenden Seite wieder zu bestreiten, dass Verständlichkeit ein Gültigkeitsanspruch ist: „Daher möchte ich
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auch Apel vertreten die These, dass alle drei respektive vier Gültigkeitsansprüche von Sprechern mit ausnahmslos jeder ihrer Sprechhandlungen erhoben werden. Ich beschränke die Diskussion hier auf Behauptungshandlungen – und darüber hinaus auf Behauptungen deskriptiver Aussagen –, denn es ist dieser Typus von Sprechakten, durch den Sprecher sich explizit auf die Wahrheit von Propositionen festlegen und sich dadurch Begründungsverpflichtungen auferlegen.17 Mit dem Ausdruck ‚Behauptung‘ kann einerseits auf vollständige Sprechakte Bezug genommen werden – auf individuelle, datier- und lokalisierbare Handlungen, durch die Sprecher etwas behaupten –, und andererseits auf das, was Sprecher jeweils behaupten, indem sie solche Sprechakte ausführen. Im Folgenden verwende ich ‚Behauptung‘ in dem zuerst angegebenen Sinn. Dasjenige, was durch Behauptungshandlungen jeweils behauptet wird, bezeichne ich mit Habermas und Apel als den propositionalen Gehalt einer Behauptung oder auch als behauptete Aussage. Behauptungen können dementsprechend als performativ-propositional ausdifferenzierte – oder doch ausdifferenzierbare – Sprechhandlungen verstanden werden, deren „charakteristische Doppelstruktur“18 sich in der Form ‚Ich behaupte hiermit, dass p.‘ darstellen lässt. Der implizite oder explizite Gebrauch der performativen Wendung ‚ich behaupte hiermit‘ konstituiert dabei den assertorischen Sinn der nachfolgenden Satznominalisierung. Durch ihn zeigt der jeweilige Sprecher an beziehungsweise kann er gegebenenfalls anzeigen, dass er seine Äußerung als Behauptung und den von ihm zum Ausdruck gebrachten propositionalen Gehalt p im Sinne der Aussage, dass es der der Fall ist, dass p, verstanden wissen will. Wahr oder falsch sind dieser Unterscheidung zwischen dem performativen Teil
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‚Verständlichkeit‘ zu den Bedingungen der Kommunikation rechnen und nicht zu den in der Kommunikation erhobenen [...] Geltungsansprüchen.“ (Habermas 1984a, S. 139.) Das soll nicht heißen, dass nur mit Behauptungshandlungen Wahrheitsansprüche erhoben und Begründungsverpflichtungen eingegangen werden. Habermas 1984b, S. 404 (Hervorhebung getilgt). Zum Konzept der performativpropositionalen Doppelstruktur der Rede vgl. Habermas 1984b, S. 404-409, sowie Audun Øfstis Überlegungen zu einer „doppelte[n] Doppelstruktur der Sprache und Rede“ (Øfsti 1994a, S. 179) in Øfsti 1994a, S. 178-192, und Øfsti 1994b.
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und dem propositionalen Gehalt von Sprechhandlungen gemäß nicht Behauptungen im Ganzen, sondern ihre jeweiligen propositionalen Gehalte.19 Die Frage nach der normativen Rolle, die der Wahrheitsbegriff in der Behauptungspraxis spielt, kann nun präzisiert werden durch die Frage nach der Relevanz des Wahrheitswerts einer gegebenen Aussage p für den Berechtigungsstatus von Sprechhandlungen, durch welche die Aussage p behauptet wird. Warum ist der Wahrheitswert von Aussagen relevant für Behauptungshandlungen? Der Grundgedanke der diskurspragmatischen Antwort, die ich hier zumindest skizzieren will, ist folgender20: Der Wahrheitswert einer gegebenen Aussage p ist normativ relevant für den Berechtigungsstatus jeder Behauptung von p, weil Behauptungshandlungen intern mit dem Erheben von Wahrheitsansprüchen verwoben sind. Indem ich21 behaupte, dass p, erhebe ich den Anspruch, etwas Wahres – eine wahre Aussage – zu behaupten. Das kann weder ich selbst bestreiten, ohne damit anderen und auch mir selbst die Möglichkeit zu nehmen, meine jeweilige Äußerung als Behauptungshandlung zu verstehen, noch kann ein anderer es bestreiten, ohne damit zugleich in Abrede zu stellen, dass es sich bei meiner Äußerung um eine Behauptung handelt. Das bedeutet nicht, dass meine Äußerung unter den beschriebenen Bedingungen überhaupt nicht verstanden werden könnte – etwa weil sie purer Unsinn oder bloßes Geräusch wäre –, sondern eben nur, dass sie nicht als Behauptung verstanden werden könnte. In diesem Sinn ist der Wahrheitsanspruch konstitutiv für jede Behauptungshandlung, wobei ‚konstitutiv‘ hier heißen soll: Wenn mit einer gegebenen Sprechhandlung H kein Wahrheitsanspruch erhoben wird, dann handelt es sich bei H nicht um eine Behauptung. Der Wahrheitsanspruch wird dabei nicht durch die behaupteten propositionalen Gehalte er19
20
21
Vgl. zu diesem keineswegs spezifisch diskurspragmatischen Punkt auch Alston 1996, S. 13-17; Habermas 1984a, S. 128; Habermas 1992, S. 24-30; Künne 2003, S. 250; Searle 1969, S. 29-33; Soames 1999, S. 13 f.; Strawson 1950, S. 129 f. Eine der diskurspragmatischen zumindest oberflächlich betrachtet ähnliche Rekonstruktion der normativen Struktur von Behauptungshandlungen in Begriffen von ‚commitments‘ (Festlegungen) und ‚entitlements‘ (Berechtigungen) wird von Robert Brandom vertreten. Vgl. zum Beispiel Brandom 1994, S. 172-180, und Brandom 2000, Kap. 3, S. 219 ff. Das Personalpromen ‚ich‘ wird hier und im Folgenden im Sinne von ‚ein beliebiger Sprecher‘ verwendet.
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hoben, und auch nicht durch die Sätze, die jeweils verwendet werden, um diese Gehalte zum Ausdruck zu bringen, sondern durch die Sprecher, welche die Behauptungshandlungen ausführen. Er ist Teil der Performanz, nicht des Gehalts von Behauptungen. In dem Aufsatz „Wahrheitstheorien“ schreibt Habermas: „Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten. [...] Indem ich etwas behaupte, erhebe ich den Anspruch, daß die Aussage, die ich behaupte, wahr ist. Diesen Anspruch kann ich zu Recht oder zu Unrecht erheben.“22
Bevor ich auf die von Habermas angesprochene Frage nach den Bedingungen des berechtigten Erhebens von Wahrheitsansprüchen eingehe, will ich auf eine sprachliche Eigentümlichkeit in der Wendung ‚ich erhebe den Anspruch, dass die von mir behauptete Aussage wahr ist‘ hinweisen. Eigentümlich ist diese Wendung, weil Sprecher ebenso wenig beanspruchen können, dass zum Beispiel die Aussage, dass der Montblanc 4807 Meter hoch ist, wahr ist, wie sie beanspruchen können, dass der Montblanc 4807 Meter hoch ist. Wahrheit ist, so scheint es jedenfalls, genauso wenig wie etwa die Höhe von Bergen ein geeignetes Objekt von Ansprüchen. Eine andere Erläuterung des Wahrheitsanspruchs, nämlich als ‚Anspruch auf...‘, findet sich bei Habermas in der Einleitung zu seinem Buch „Faktizität und Geltung“: „Mit dem assertorischen Sinn seiner Behauptung erhebt ein Sprecher den kritisierbaren Anspruch auf die Gültigkeit der behaupteten Aussage“23. Diese Erläuterung steht der alltagssprachlichen Rede von Ansprüchen näher. Ansprüche werden von Personen in der Regel auf etwas erhoben, zum Beispiel auf Schmerzensgeld, auf diplomatische Immunität, auf Anerkennung als asylberechtigt. Ob sie diese Ansprüche auf etwas zu Recht erheben oder nicht, das hängt davon ab, ob sie dasjenige, worauf sie jeweils Anspruch erheben, legitimerweise einfordern dürfen – sei es moralisch, rechtlich oder auch konventionell. Aber auch hier liegt ein Einwand nahe: Wenn ich eine Aussage behaupte, dann fordere ich ihre Wahrheit nicht ein, und insofern kann ich auch keinen Anspruch auf die Wahrheit dessen geltend machen, was ich behaupte. Die Kennzeichnung des Wahrheitsanspruchs als ‚Anspruch auf...‘ ist daher nicht weniger problematisch 22 23
Habermas 1984a, S. 129. Habermas 1992, S. 29.
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als seine Kennzeichnung als ‚Anspruch, dass...‘. Die Wahrheit von behaupteten Aussagen ist nichts, das Sprechern moralisch, rechtlich oder konventionell zusteht oder nicht zusteht, und daher auch nichts, das Sprecher durch Behauptungshandlungen zu Recht oder zu Unrecht einfordern könnten. Sowohl bei Habermas als auch bei Apel findet sich eine dritte Variante, derzufolge Sprecher für Aussagen Wahrheit beanspruchen.24 Das aber haben Aussagen, so sollte man meinen, gar nicht nötig. Entweder sie sind wahr oder sie sind es nicht. Wie ist die Rede vom Erheben von Wahrheitsansprüchen also zu verstehen? Insofern ich das Konzept des Wahrheitsanspruchs hier selbst im Rahmen des Versuchs einer Klärung der normativen Relevanz des Wahrheitswerts von Aussagen für den Berechtigungsstatus von Behauptungshandlungen verwende, geht es mir mit den soeben gegebenen Erinnerungen an sprachliche Intuitionen in Bezug auf den Gebrauch der Worte ‚Anspruch‘ und ‚beanspruchen‘ nicht um eine grundsätzliche Kritik des diskurspragmatischen Konzepts des Wahrheitsanspruchs, sondern darum, den Sinn der Rede von Wahrheitsansprüchen möglichst genau herauszustellen. Dieser scheint mir am besten durch die folgende – oben bereits gebrauchte – Wendung zum Ausdruck zu kommen: Sprecher behaupten Aussagen mit dem Anspruch, etwas Wahres (eine wahre Aussage) zu behaupten, das heißt, sie äußern den jeweils von ihnen verwendeten deklarativen Satz mit dem Anspruch, durch ihre Äußerung etwas Wahres zum Ausdruck zu bringen.25 Behauptungen sind, darin unterscheiden sie sich nicht von anderen Handlungen, intersubjektiv anschlussfähig und können im Blick auf verschiedene normative Dimensionen kritisiert und gerechtfertigt werden. Man kann sie, wie Wolfgang Kuhlmann sagt, „[...] bezweifeln, bestreiten, verteidigen, begründen. Dies sind reguläre, von der Struktur dieser Sprechhandlungen her vorgesehene Reaktionen, und daher muß diesen Reaktionen etwas in der Struktur von Behauptungen entsprechen.“26 24
25
26
Vgl. etwa Apel 1998a, S. 124, wo von dem „Wahrheits-Anspruch für behauptete Aussagen“ die Rede ist. Um sperrige Formulierungen zu vermeiden, gebrauche ich im Folgenden manchmal weiterhin Wendungen der Form ‚S erhebt einen Wahrheitsanspruch für die Aussage p‘ oder ‚S erhebt den Anspruch, dass die Aussage p wahr ist‘. Gemeint ist dabei immer die soeben angedeutete Lesart. Kuhlmann 1985a, S. 57.
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Einen Angriffspunkt in der Struktur von Behauptungshandlungen haben die Kritik und das Verlangen von Gründen, weil mit Behauptungen Wahrheits- und andere Gültigkeitsansprüche erhoben werden. Albrecht Wellmer, der zumindest in diesen Punkten mit Apel, Habermas und Kuhlmann übereinstimmt, pointiert den Zusammenhang zwischen den Konzepten ‚Behauptung‘, ‚Überzeugung‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ so: „Die Antwort auf die Frage ‚warum glaubst du das?‘ oder ‚mit welchem Recht behauptest du das?‘ ist die Angabe von Gründen oder Evidenzen. Das zeigt, daß ‚behaupten‘ und ‚glauben‘ intern auf Gründe – auf Rechtfertigungen – angelegt sind. Und eine Behauptung – eine Überzeugung – als begründet auszuweisen heißt, sie als wahr auszuweisen.“27
Ihrem pragmatischen Sinn nach sind Gründe als Lizenzen für das Erheben und für die Anerkennung von Wahrheitsansprüchen verstehbar. Die Funktion solcher Lizenzen können nur epistemische Gründe erfüllen, Gründe also, die geeignet sind, das Für-wahr-Halten – im Gegensatz zum Beispiel zum Für-schön-Halten oder Für-interessant-Halten – von Aussagen zu rechtfertigen.28 Die Rede von dem berechtigten oder unberechtigten Erheben von Wahrheitsansprüchen ist klärungsbedürftig. Indem ich einen Wahrheitsanspruch erhebe, dessen Einlösung von mir verlangt werden kann, verpflichte ich mich dazu, Gründe zu liefern, sowie dazu, meinen Anspruch als unberechtigt zurückzunehmen, wenn meine Gründe der argumentativen Prüfung nicht standhalten und auch nicht durch andere Gründe ersetzt werden können. Als berechtigt, einen Wahrheitsanspruch zu erheben, erweise ich mich demnach hier und jetzt, wenn ich gute Gründe anführen kann. Andererseits aber, nämlich als Anspruch auf Wahrheit, erhebe ich einen Wahrheitsanspruch zu Recht nur dann, wenn die Aussage, auf die er sich bezieht, auch tatsächlich wahr ist. Insgesamt hängt der Berechtigungsstatus eines Wahrheitsanspruchs für eine Aussage p dementsprechend von zweierlei ab: davon, ob derjenige, der ihn erhebt, überzeugende Gründe für p anführen kann, und davon, ob die Aussage p wahr ist. An dieser Stelle unterscheide ich zwischen dem rationalen oder vernünftigen Behaupten und dem normativ korrekten Behaupten einer Aus27 28
Wellmer 2003, S. 159. Vgl. BonJour 1985, S. 5-8.
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sage. Es ist nicht der Fall, dass eine Behauptungshandlung nur dann rational ist, wenn ihr propositionaler Gehalt, also die jeweils behauptete Aussage, wahr ist. Manche Behauptungen von falschen Aussagen sind vernünftig. Sie sind es dann, wenn der jeweilige Sprecher die von ihm jeweils behauptete falsche Aussage auf vernünftige Art und Weise für wahr hält. Habermas bringt diesen Punkt folgendermaßen zum Ausdruck: Die „Rationalität eines Urteils [impliziert] nicht dessen Wahrheit, sondern nur seine begründete Akzeptabilität in einem gegebenen Kontext.“29 Das heißt, ein Urteil oder eine Behauptung B kann als Handlung rational sein, obwohl der propositionale Gehalt von B falsch ist. Wenn aber die Wahrheit einer Aussage keine notwendige Bedingung für ihre rationale Behauptbarkeit in einem gegebenen Kontext darstellt, dann kann – sofern Sprecher nichts behaupten können, ohne Wahrheitsansprüche zu erheben – der Rationalitätsstatus einer Behauptung ihren normativen Korrektheitsstatus nicht erschöpfend bestimmen.30 Für eine Aussage, die nicht wahr ist, kann auf normativ korrekte Weise kein Wahrheitsanspruch erhoben werden. Normativ korrekte Behauptbarkeit umfasst demnach mehr als rationale Behauptbarkeit im Sinne begründeter Akzeptabilität in einem gegebenen Kontext. Ein Sprecher behauptet die Aussage p nur dann auf normativ korrekte Weise, wenn er sie begründen kann und es wahr ist, dass p. Die damit eingeführte Unterscheidung zwischen dem rationalen und dem normativ korrekten Behaupten einer Aussage mag auf den ersten Blick erzwungen und künstlich erscheinen. Sie ist es aber nicht, denn letztlich wird mit ihr nur die unstrittige Aussage reformuliert, dass wir uns manchmal auf rationale Weise irren, das heißt, dass wir manchmal auf rationale Weise etwas für wahr halten, das nicht wahr ist. Die Möglichkeit, sich auf rationale Weise zu irren, ist letztlich identisch mit der Möglichkeit, eine rationale aber dennoch normativ inkorrekte Behauptung aufzustellen. Der hiermit versuchten Bestimmung einiger notwendiger Bedingungen des normativ korrekten Behauptens von Aussagen liegt eine gewisse Abstraktion von der Vielfalt der normativen Bewertungsdimensionen von 29 30
Habermas 1999a, S. 108. Vgl. aber oben, Anm. 13. In manchen Fällen mag die Wahrheit einer Aussage eine notwendige Bedingung für ihre rationale Behauptbarkeit darstellen.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Behauptungshandlungen zugrunde. Denn der Wahrheitsanspruch ist nur einer der möglichen Ansatzpunkte für die Kritik von Behauptungen. Als Handlungen in intersubjektiven Kommunikationskontexten sind Behauptungen nicht nur im Blick auf die epistemische Frage problematisierbar, ob ihr propositionaler Gehalt wahr ist. Sie können unter Umständen auch als moralisch unverantwortlich, als strategisch unklug, als irrefürend oder als insgesamt überflüssig und irrelevant kritisiert werden. In all diesen Fällen steht die Wahrheit der behaupteten Aussagen nicht unbedingt zur Debatte.31 Die Möglichkeit einer Kritik von Behauptungen, die nicht auf den Gültigkeitsstatus von propositionalen Gehalten bezogen ist, macht deutlich, dass sich die Rechtfertigungsbedürftigkeit von assertorischen Sprechhandlungen nicht immer in der Begründungsbedürftigkeit der jeweils behaupteten Aussagen erschöpft. Terminologisch kann an dieser Stelle zwischen ‚Rechtfertigung‘ und ‚Begründung‘ differenziert werden: Rechtfertigungen beziehen sich auf Handlungen, Begründungen beziehen sich auf Aussagen. Aussagen oder propositionale Gehalte sind dieser Festlegung zufolge nicht gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, sondern begründet oder unbegründet, Behauptungen nicht begründet oder unbegründet, sondern gerechtfertigt oder ungerechtfertigt. Der normative Zusammenhang zwischen Aussagenbegründung und Behauptungsrechtfertigung lässt sich als Implikationsverhältnis erläutern: Erstere ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Letztere, das heißt, ein Mangel an propositionaler Begründung schlägt auf den performativen Rechtfertigungsstatus von Behauptungen zurück. Dass andererseits das Begründetsein einer behaupteten Aussage keine hinreichende Bedingung für das Gerechtfertigtsein ihrer Behauptung darstellt, wird an Fällen deutlich, in denen eine durch den jeweiligen Sprecher gut und überzeugend begründbare Aussage behauptet wird, die Behauptungs31
Vgl. dazu Wright 1999, S. 41 f.; Williamson 2000, S. 238, und den Hinweis von Habermas 1981, Bd. I, S. 418, dass „Mitteilungen manchmal ‚unangebracht‘ [sind], Berichte ‚fehl am Platz‘, Geständnisse ‚peinlich‘, Enthüllungen ‚verletzend‘.“ Unangebracht, fehl am Platz, peinlich oder verletzend können solche Äußerungen trotz der Wahrheit ihrer propositionalen Gehalte sein, und manchmal sind sie es, gerade weil ihre Inhalte von ihren Adressaten als wahr eingeschätzt werden.
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handlung selbst aber in dem gegebenen Kontext ungerechtfertigt ist.32 Der Mangel an performativer Rechtfertigung schlägt in solchen Fällen nicht auf den Begründungsstatus der behaupteten Aussage zurück. Die behauptete Aussage bleibt gut begründbar. Behandelt man die Begründung von Aussagen in dieser Weise als Teil der Legitimation von Behauptungen, also als Bestandteil der Rechtfertigung von Aktualisierungen eines bestimmten Typs von Handlungen, dann entgeht man zum einen der Festlegung auf die offensichtlich falsche These, dass das Verfügen über gute Gründe für eine Aussage einen Sprecher immer und überall zu der Behauptung dieser Aussage berechtigt, und zum anderen wird der pragmatische Sinn deutlich, den wir mit Gründen verbinden, indem wir sie als Lizenzen für das rationale Für-wahr-Halten von Aussagen, für die ‚Festlegung von Überzeugungen‘, für die Anerkennung oder die Kritik von Wahrheitsansprüchen anderer und für das je eigene Erheben von Wahrheitsansprüchen behandeln. Insoweit wir Gründe für Aussagen als Lizenzen für bestimmte Handlungen bewerten und ihnen damit Rechtfertigungsleistungen zumuten, sind auch epistemische Gründe als Handlungsgründe verstehbar. In der Bestimmung des normativen Korrektheitsstatus von Behauptungen verbindet sich eine Bedingung, deren Erfüllung in den Händen der jeweiligen Sprecher liegt (Begründung), mit einer davon unabhängigen Bedingung, zu deren Erfüllung Sprecher – wenn wir einmal von bestimmten Aussagen über Zukünftiges absehen – nichts beitragen können (Wahrheit). Daher ist es auch möglich und oftmals der Fall, dass die erste Bedingung erfüllt ist, ohne dass die zweite erfüllt ist und vice versa.33 Weil beide Bedingungen erfüllt sein müssen, ist es für die normative Korrektheit der Be32
33
Ein plakatives Beispiel: In einer Argumentation über die moralische Legitimität der Präimplantationsdiagnostik behauptet jemand, dass die Erde größer als der Mond und die Sonne größer als die Erde ist. Diese Behauptung ist als Handlung im gegebenen Kontext fehl am Platz, obwohl sich ihr propositionaler Gehalt gut begründen lässt. Ferner ist es möglich, etwas Wahres auf der Basis von Gründen für wahr zu halten und zu behaupten, die im Licht der verfügbaren Argumente und Informationen zwar de facto überzeugend, aber dennoch unrichtig sind. Hier ist eine genauere Erläuterung des normativen Sinns erforderlich, den die Rede von Begründung und Begründbarkeit in diesem Zusammenhang haben kann. Den Ansatz zu einer solchen Erläuterung skizziere ich in Abschnitt I.5.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
hauptung, dass p, nicht hinreichend, dass es wahr ist, dass p. Wie oben in den kursorischen Bemerkungen zu McDowells Konzept der ‚answerability to the world‘ bereits angedeutet, kann die Wahrheit einer Aussage selbst normalerweise keine Begründungs- oder Rechtfertigungsarbeit leisten, denn „truths do not come with a ‘mark’“34. Die Behauptung einer wahren Aussage kann daher normativ inkorrekt sein, weil diese Aussage der Begründung entbehrt. Die Behauptung einer falschen Aussage p dagegen ist als Behauptung immer normativ inkorrekt, gleichviel, ob p de facto begründet ist oder nicht. In solchen Bemerkungen, welche die extensionale Divergenz der Prädikate ‚ist wahr‘ und ‚ist faktisch begründet/begründbar‘ verdeutlichen, wird das Wahrheitsprädikat in einem Sinn verwendet, der von dem aktuellen Begründungsstatus der jeweils in Frage stehenden Aussagen unabhängig ist. Crispin Wright charakterisiert diesen Sinn von ‚Wahrheit‘, der unter anderem die Formulierung von abstrakten Fallibilitätsvorbehalten ermöglicht, folgendermaßen: „The concept of truth is a concept of a way a proposition may or may not be in good standing which precisely contrasts with its justificatory status at any particular time.“35
Die Differenz zwischen Wahrheit und Begründung zeigt sich also darin, dass eine Aussage sowohl gut begründet und falsch wie auch unbegründet und wahr sein kann. Als Argumentierende wissen wir um diese beiden Aspekte, und deshalb besteht das Resultat der argumentativen Prüfung einer Behauptung in nichts anderem als einer weiteren Behauptung, deren propositionaler Gehalt selbst wiederum im Blick auf die epistemische Frage problematisiert werden kann, ob der Wahrheitsanspruch für ihn zu Recht erhoben wird. Der Hinweis auf unser Fallibilitätsbewusstsein, also auf unser Wissen um die Tatsache, dass Wahrheit und aktuelle Begründbarkeit nicht notwendigerweise zusammenfallen, beschreibt unser Selbstverständnis im Argumentieren aber nur unvollständig. Er betont zumal einen Aspekt dieses Selbstverständnisses, der in der performativen Einstellung des Vollzugs 34 35
Davidson 2000, S. 67. Wright 1999, S. 45. Wright hätte freilich schreiben müssen: „...which possibly contrasts/may contrast with its justificatory status at any particular time.“
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von Argumentationen über bestimmte Fragen oder problematisierte Behauptungen zugunsten eines anderen Aspekts in den Hintergrund tritt. Als Argumentierende lassen wir uns durch abstrakte fallibilistische Vorbehalte zumeist nicht beunruhigen. Einen Hinweis auf die bloße Möglichkeit, dass wir mit unserer begründeten Einschätzung des Wahrheitswertes der Aussage p falsch liegen, zählen wir normalerweise ebenso wenig als einen guten Einwand gegen die Behauptung, dass p, oder die Behauptung, dass non-p, wie wir den Hinweis auf die bloße Möglichkeit, dass wir mit unserer Einschätzung richtig liegen, als triftige Begründung der Aussage p respektive ihrer Negation zählen.36 Derjenige Aspekt unseres performativen Selbstverständnisses, der abstrakte Fallibilitätsvorbehalte im aktualen Argumentieren verdrängt, kann so beschrieben werden: Als Argumentierende unterstellen wir nicht nur, dass unsere Argumentationspraxis geeignet ist, zu Resultaten zu gelangen, die begründet und wahr sind. Wir unterstellen darüber hinaus, dass das angestrebte Zusammenfallen von Wahrheit und Begründung kein bloß zufälliges ist. Performativ gehen wir davon aus, dass die für uns überzeugenden Gründe uns berechtigen, Wahrheitsansprüche zu erheben, und auf der Basis dieser Gründe bewerten wir manche Behauptungshandlungen nicht allein als rational, sondern als normativ korrekt in dem oben charakterisierten Sinn.
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Auf diesen Punkt weist Peirce mit seiner Unterscheidung zwischen ‚real doubt‘ und ‚paper doubt‘ hin. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.265, 7.445. Mit dem Hinweis darauf, dass eine Erinnerung an die Fallibilität einer gegebenen Behauptung normalerweise noch kein Argument gegen diese Behauptung darstellt, soll nicht behauptet werden, dass fallibilistische Vorbehalte für sich genommen niemals die Relevanz guter Argumente haben können. Es mag zum Beispiel sein, dass in einer bestimmten Situation, in der es um die Entscheidung zwischen dem Durchführen und dem Unterlassen einer bestimmten Handlung H geht, der bloße Hinweis auf die Möglichkeit, dass wir uns in unserer Situationsbeschreibung und insofern auch in Bezug auf die zu erwartenden Folgen von H täuschen, ein gutes Argument gegen die Durchführung von H darstellt.
36 I.2
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Einige Normen für Behauptungshandlungen
Die Frage, warum der Wahrheitswert von Propositionen für den normativen Korrektheitsstatus von Behauptungen relevant ist, wurde im letzten Abschnitt folgendermaßen beantwortet: Weil Sprecher mit Behauptungshandlungen den Anspruch erheben, etwas Wahres zu behaupten. Wie aber lässt sich die Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen angemessen zum Ausdruck bringen? Klar ist, dass man in der Formulierung dieser Norm Vorsicht walten lassen muss, um sich nicht auf absurde Konsequenzen festzulegen. Eine offensichtlich absurde Formulierung wäre: (1) Wenn es wahr ist, dass p, dann ist es geboten, p zu behaupten. Die Wahrheit einer gegebenen Proposition p verpflichtet niemanden dazu, zu behaupten, dass p. Nehmen wir an, die Aussage, dass Takeshi am Morgen des 21.01.2010 weniger als 70 Kilogramm gewogen hat, sei wahr. Daraus allein ergäbe sich offenbar weder für Takeshi selbst noch für sonst jemanden die Verpflichtung, zu behaupten, dass Takeshi am Morgen des 21.01.2010 weniger als 70 Kilogramm gewogen hat. Es existiert weder eine individuelle noch eine kollektiv verteilte epistemische Verpflichtung, jede beliebige wahre Proposition, unabhängig davon, ob ihr Wahrheitswert für uns von Interesse ist oder nicht, zum Inhalt einer unserer Überzeugungen zu machen oder zu behaupten. Deshalb ist (1) falsch. Karl Popper formuliert den hier relevanten Punkt so: „Mere truth is not enough; what we look for are answers to our problems. [...] [W]e are not interested in mere truth but in interesting and relevant truth“37. Zwar kann in Bezug auf keine Aussage a priori ausgeschlossen werden, dass ihr Wahrheitswert irgendwann einmal in einem Frage- und Handlungszusammenhang relevant wird, aber ebenso wenig kann davon in Bezug auf jede Aussage a priori ausgegangen werden. Eine nur wenig bessere Formulierung der normativen Relevanz des Wahrheitswerts von Propositionen für Behauptungen liefert Pascal Engel: (2) „Truth is the aim or norm of assertion, in the sense that an assertion is correct if and only if it is true“.38 37
38
Popper 1963a, S. 311 f. Auf diesen Punkt komme ich im Zusammenhang mit der Frage, ob Wahrheit eine regulative Idee ist, in Abschnitt VI.3 zurück. Engel 2007, S. 14.
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Engels Formulierung reduziert die normative Korrektheit von Behauptungshandlungen auf die Wahrheit ihres jeweiligen propositionalen Gehalts: (2*) Die Behauptung, dass p, ist normativ korrekt genau dann, wenn die Aussage p wahr ist. Die Wahrheit einer gegebenen Aussage p wäre demnach eine sowohl notwendige wie auch hinreichende Bedingung für die normative Korrektheit jeder Behauptung von p. Diese These ist aber, wie das folgende Beispiel zeigt, unhaltbar: Takeshi behauptet, dass sich in diesem Moment eine ungerade Anzahl von Büchern in seinem Arbeitszimmer befindet. Der propositionale Gehalt seiner Behauptungshandlung ist wahr, aber die einzige Begründung, die Takeshi für die von ihm behauptete Aussage anführen kann, besteht aus der folgenden, von ihm zwar für wahr gehaltenen, aber de facto falschen idée fixe: ‚Ich habe Kopfschmerzen, und immer dann, wenn ich Kopfschmerzen habe, befindet sich eine ungerade Anzahl von Büchern in meinem Arbeitszimmer.‘ Träfe Engels Charakterisierung der normativen Signifikanz von Wahrheit für Behauptungshandlungen zu, dann wäre Takeshis Behauptungshandlung unter den beschriebenen Umständen als ganze normativ korrekt. Sie ist es aber ganz offensichtlich nicht. Darüber, ob eine gegebene Behauptungshandlung in normativer Hinsicht korrekt ist oder nicht, entscheidet eben nicht allein der Wahrheitswert der jeweils behaupteten Aussage, sondern auch die Qualität der Gründe, die der Behauptende anführen kann. Der von Takeshi angeführte Grund ist absurd. Daher ist seine Behauptung normativ inkorrekt, obwohl ihr propositionaler Gehalt ex hypothesi wahr ist. Auch (2) und (2*) sind falsch. Das zuletzt angeführte Beispiel macht noch einmal deutlich, dass die Wahrheit einer gegeben Aussage p keine hinreichende Bedingung für die normative Korrektheit von Behauptungen darstellt, die p zum propositionalen Gehalt haben. Wenn aber die im letzten Abschnitt gegebene Erläuterung von Behauptungen mit Hilfe des Konzepts des Wahrheitsanspruchs zutrifft, dann wird man allemal einräumen müssen, dass die Wahrheit der Aussage p eine notwendige Bedingung für die normative Korrektheit jeder
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Behauptung von p darstellt. Dieser Punkt lässt sich nun explizit in die Form der folgenden Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen bringen: (WNB) Behaupte nur dann, dass p, wenn die Aussage p wahr ist! Wenn die Handlungspräskription (WNB) eine gültige Norm für Behauptungshandlungen ist, dann bringt der folgende Satz (WNB’), den man als deklaratives Äquivalent von (WNB) auffassen kann, eine wahre Aussage über die normativen Korrektheitsbedingungen von Behauptungshandlungen zum Ausdruck: (WNB’) Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass p, wenn die Aussage p wahr ist. (WNB) und (WNB’) formulieren nur eine Norm der Praxis des EtwasBehauptens neben anderen. Weil Wahrheitsansprüche allein durch das Liefern von Gründen und Argumenten legitimiert werden können, gilt für Behauptungen auch die folgende Begründungsnorm: (BNB) Behaupte nur dann, dass p, wenn du die Aussage p begründen kannst! Auch (BNB) hat ein deklaratives Äquivalent: (BNB’) Die Behauptung, dass p, eines beliebigen Sprechers S ist nur dann normativ korrekt, wenn S die Aussage p begründen kann. (WNB) und (BNB) beziehungsweise ihre deklarativen Äquivalente machen Normen des Behauptens explizit, auf deren Anerkennung sich Sprecher festlegen, indem sie Aussagen behaupten und dadurch bestimmte Gültigkeitsansprüche erheben. Im Bezugsrahmen von Habermas’ und Apels diskurspragmatischer Differenzierung zwischen den Gültigkeitsansprüchen auf Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit müssten nun sowohl (WNB) als auch (BNB) letztlich auf den Wahrheitsanspruch zurückgeführt werden, der mit Behauptungen erhoben wird. Dass Habermas und Apel über die von ihnen unterschiedenen Gültigkeitsansprüche hinaus nicht noch einen weiteren auf Begründung oder Begründbarkeit einführen, ist aber bereits Ausdruck ihrer diskurspragmatischen Wahrheitskonzeption, derzufolge eine Aussage genau dann wahr ist, wenn sie sich unter bestimmten idealen Argumentationsbedingungen als intersubjektiv anerkennungswürdig be-
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gründen ließe. Die Erläuterung des Sinns eines Gültigkeitsanspruchs ist für Apel – und war bis Mitte der 1990er Jahre auch für Habermas – gleichbedeutend mit der Explikation von Bedingungen, unter denen ein solcher Anspruch definitiv eingelöst und insofern definitiv als berechtigt erhoben erwiesen wäre.39 Nun können Wahrheitsansprüche Apel und Habermas zufolge aber nur durch die Angabe von Gründen eingelöst werden. Der diskurspragmatischen Wahrheitskonzeption entsprechend sind insofern die Bedingungen, unter denen ein Begründbarkeitsanspruch zu Recht erhoben wird, und die Bedingungen, unter denen ein Wahrheitsanspruch zu Recht erhoben wird, letztlich dieselben. Das heißt, Apel und – mit den oben genannten Einschränkungen – Habermas verstehen Wahrheitsansprüche als Begründbarkeitsansprüche. Da ich diese substantielle wahrheitstheoretische These erst später diskutieren werde, möchte ich hier zumindest die Möglichkeit offen lassen, dass die Norm (BNB) mit einem eigenständigen Gültigkeitsanspruch der Begründbarkeit korreliert, der sich jedenfalls analytisch von demjenigen auf Wahrheit unterscheiden lässt. Dass wir Behauptungen mit dem Anspruch aufstellen, über gute Gründe für die von uns jeweils behaupteten propositionalen Gehalte zu verfügen, können wir ebenso wenig sinnvoll bestreiten wie die Aussage, dass wir mit Behauptungshandlungen Wahrheitsansprüche erheben. Die These, dass wir weder das eine noch das andere sinnvoll bestreiten können, soll hier nur besagen, dass sowohl die Konjunktion der folgenden Aussagen (a) und (b) wie auch die Konjunktion der Aussagen (a) und (c) begrifflich inkonsistent sind: (a) S’ Sprechhandlung H ist eine Behauptung. (b) S erhebt mit seiner Sprechhandlung H nicht den Anspruch, den propositionalen Gehalt von H begründen zu können. (c) S erhebt mit seiner Sprechhandlung H keinen Wahrheitsanspruch für den propositionalen Gehalt von H. Mit der These, dass sowohl die Konjunktion aus (a) und (b) begrifflich inkonsistent ist wie auch die Konjunktion aus (a) und (c), behaupte ich nur noch einmal auf andere Weise, dass das Erheben von Wahrheits- und Be39
Habermas hat sich spätestens seit dem Aufsatz „Rortys pragmatische Wende“ von 1996, wieder veröffentlicht als Habermas 1999b, zunehmend von der diskurspragmatischen Explikation des Wahrheitsbegriffs distanziert.
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gründungsansprüchen für Behauptungshandlungen konstitutiv ist. Wenn dies zutrifft, dann sind die folgenden beiden Aussagen über den Zusammenhang zwischen Behauptungshandlungen und Wahrheits- sowie Begründungsansprüchen gültige Rekonstruktionen von notwendigen Bedingungen, die eine gegebene Sprechhandlung H erfüllen muss, wenn sie zu Recht als Behauptung soll charakterisiert werden können: (BAB) Eine gegebene Sprechhandlung H eines Sprechers S ist nur dann eine Behauptungshandlung, wenn S im performativen Teil von H einen Begründungsanspruch für den propositionalen Gehalt von H erhebt. (WAB) Eine gegebene Sprechhandlung H eines Sprechers S ist nur dann eine Behauptungshandlung, wenn S im performativen Teil von H einen Wahrheitsanspruch für den propositionalen Gehalt von H erhebt. (BAB) und (WAB) können in lockerer Anknüpfung an Searles Unterscheidung zwischen regulativen und konstitutiven Regeln einer Praxis40 als konstitutive Normen des Etwas-Behauptens gekennzeichnet werden, (WNB) und (BNB) als regulative Normen. Die Differenzen, die zwischen den regulativen Normen (WNB) und (BNB) auf der einen und den konstitutiven Normen (WAB) und (BAB) auf der anderen Seite bestehen, werden deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Sprecher zwar die regulativen, nicht aber die konstitutiven Normen verletzen und dennoch eine Behauptungshandlung ausführen kann. Ihr Zusammenhang dagegen kann so beschrieben werden: (WNB) und (BNB) sind gültige regulative Normen des Etwas-Behauptens, weil (WAB) und (BAB) notwendige Bedingungen für das Fallen eines Sprechakts unter den Begriff der Behauptung rekonstruieren. Die Relevanz des Wahrheitswerts und des Begründungsstatus von Aussagen für die normative Korrektheit von Behauptungshandlungen muss insofern nicht von außen an die Praxis des Behauptens herangetragen werden, sondern entsteht aus dem sprachpragmatisch rekonstruierbaren Sinn dieser Praxis selbst: Jeder Sprecher, der eine falsche Aussage behauptet, sei es auch auf der rationalen Basis von Gründen, die im jeweils gegebenen Kontext de facto überzeugend sind, verfehlt seinen eigenen Anspruch, etwas 40
Vgl. Searle 1969, S. 33-42.
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Wahres und daher intersubjektiv Anerkennungswürdiges41 zu behaupten. Und jeder Sprecher, der eine Aussage behauptet, die er nicht begründen kann, verfehlt seinen eigenen Anspruch, etwas zu behaupten, das er als wahr und daher intersubjektiv anerkennungswürdig erweisen kann. Wie steht es nun im Blick auf die anderen von Habermas und Apel unterschiedenen Gültigkeitsansprüche? Lassen sich auch in Bezug auf den Richtigkeits-, den Wahrhaftigkeits- und den Verständlichkeitsanspruch regulative und konstitutive Normen des Behauptens explizit machen? Zunächst zu Wahrhaftigkeits- und Sinnansprüchen. Mit Blick auf diese können meines Erachtens nur konstitutive Normen rekonstruiert werden. Gültigkeit für eine die Behauptungspraxis regulierende Wahrhaftigkeitsnorm oder eine entsprechende Verständlichkeitsnorm nach dem Muster von (WNB) und (BNB) zu beanspruchen, wäre jedenfalls schief. Denn durch Normen wie ‚Behaupte nur dann, dass p, wenn du glaubst, dass p!‘ oder ‚Behaupte nur dann, dass p, wenn der entsprechende Sprechakt ‚ich behaupte hiermit, dass p‘ sinnvoll und verstehbar ist!‘ würde suggeriert werden, dass eine gegebene Sprechhandlung H auch dann eine Behauptungshandlung sein kann, wenn der Sprecher, der sie ausführt, nicht glaubt, dass der propositionale Gehalt von H wahr ist, und auch dann, wenn seine entsprechende Äußerung des Satzes ‚Ich behaupte hiermit, dass p.‘ keinen sinnvollen und verstehbaren Sprechakt (des Typs ‚Aufstellen einer Behauptung‘) darstellt. Der hier relevante Unterschied zu Wahrheits- und Begründungsansprüchen wird daran deutlich, dass zwar gilt, dass eine gegebene sprachliche Äußerung H nur dann eine Behauptungshandlung ist, wenn ihr Sprecher für den von ihm zum Ausdruck gebrachten propositionalen Gehalt einen Wahrheits- und einen Begründungsanspruch erhebt, dass aber andererseits nicht gilt, dass H nur dann eine Behauptungshandlung ist, wenn der propositionale Gehalt von H wahr ist und der Sprecher seinen Begründungsanspruch auch tatsächlich einlösen kann. Das Erheben von Wahrheits- und Begründungsansprüchen gehört konstitutiv zum Ausführen von Behauptungshandlungen, das Erfülltsein dieses Anspruchs, also die Wahrheit der jeweils behaupteten Aussage und die tatsächliche Fähigkeit des Sprechers, diese Aussage zu begründen, dagegen nicht.
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‚Intersubjektiv anerkennungswürdig‘ in dem oben, S. 18 f., erläuterten Sinn.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Im Fall von Wahrhaftigkeits- und Sinnansprüchen liegen die Dinge anders. Zwar gilt auch hier, dass eine gegebene sprachliche Äußerung H nur dann eine Behauptungshandlung ist, wenn der Sprecher sowohl den Anspruch erhebt, etwas zu äußern, von dem er selbst überzeugt ist (Wahrhaftigkeit), als auch den Anspruch, etwas Sinnvolles und Verstehbares vorzubringen.42 Insofern gehören das Erheben eines Wahrhaftigkeits- und eines Verständlichkeitsanspruchs ebenfalls konstitutiv zum Ausführen einer Behauptungshandlung. Darüber hinaus gilt hier aber im Unterschied zu Wahrheits- und Begründungsansprüchen auch, dass H nur dann eine Behauptungshandlung ist, wenn sowohl der Wahrhaftigkeits- als auch der Sinnanspruch erfüllt sind, H also tatsächlich eine wahrhaftige und verstehbare sprachliche Äußerung ist. Daher gelten hier nur die beiden folgenden konstitutiven Normen43: (SAB) Eine gegebene Sprechhandlung H eines Sprechers S ist nur dann eine Behauptungshandlung, wenn S den propositionalen Gehalt von H für wahr hält. (VAB) Eine gegebene Sprechhandlung H ist nur dann eine Behauptungshandlung, wenn H ein sinnvoller und verstehbarer Sprechakt ist. Gegen die Behauptung, dass (SAB) eine konstitutive Bedingung für Behauptungen rekonstruiert, könnte man einwenden, dass ja auch Lügen in Form von Behauptungshandlungen vorgebracht werden und der Wahrhaftigkeitsanspruch in Lügen gerade fehlt. Dass aber dieser Einwand nicht triftig ist, zeigt das folgende Szenario, welches an ein bekanntes Beispiel aus Kants Aufsatz „Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ 44 angelehnt ist: 42
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Die konstitutive Bedeutung des Wahrhaftigkeitsanspruchs für Behauptungen ist ein zentraler Grund dafür, dass Äußerungen von sogenannten Moore-Paradoxien (‚Es regnet, aber ich glaube nicht, dass es regnet.‘) nicht als Behauptungen verstanden werden können, obwohl ihr propositionaler Gehalt semantisch konsistent ist und wahr sein kann. Vgl. Moore 1942, S. 543. Da der Buchstabe ‚W’ bereits in der Abkürzung für ‚Wahrheit‘ verwendet wird, benutze ich hier ‚S‘ als Abkürzung für ‚Wahrhaftigkeit‘ (‚S‘ für ‚sincerity‘). ‚V‘ steht für ‚Verstehbarkeit‘. Kant 1983.
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K hält sich mit J’s Wissen in J’s Wohnung auf. Als nun I, von dem J mit guten Gründen vermutet, dass er K ermorden will, an J’s Tür klopft und sie fragt, ob K in ihrer Wohnung sei, antwortet sie mit der Äußerung des folgenden Satzes: ‚K ist nicht bei mir.‘ Ist J’s Äußerung dieses Satzes in dem skizzierten Kontext eine Behauptungshandlung? Nein. J versucht, I glauben zu machen, dass K nicht in ihrer Wohnung ist, und dazu gehört in der angenommenen Situation vor allem, I glauben zu machen, dass sie tatsächlich behauptet und nicht bloß vorgibt, dass K sich nicht in ihrer Wohnung aufhält. Das bedeutet, dass J schon im performativen Vollzug der Äußerung weiß beziehungsweise wissen kann, dass sie keine Behauptungshandlung ausführt. Wenn J aber weiß oder doch wissen kann, dass ihre Sprechhandlung keine Behauptung ist, dann ist ihre Sprechhandlung auch keine Behauptung. Das spricht für die These, dass der Wahrhaftigkeitsanspruch nichts ist, was mit Behauptungen einhergehen, ihnen aber auch fehlen könnte, sondern etwas, das konstitutiv zum pragmatischen Sinn von Behauptungshandlungen gehört. Mit dieser Voraussetzung arbeiten wir tagtäglich, indem wir die Behauptungen anderer als Ausdruck ihrer Meinungen oder Überzeugungen interpretieren. Man kann ebenso wenig etwas behaupten, von dessen Falschheit man überzeugt ist, wie man von etwas überzeugt sein kann, das man für falsch hält. Beides kann man anderen und möglicherweise auch sich selbst nur vortäuschen. Für die These, dass es sich bei prima facie behauptungsförmigen aber unwahrhaftigen Äußerungen nicht wirklich um Behauptungen handelt, spricht auch die folgende Überlegung: Wenn eine gegebene, prima facie behauptungsförmige Äußerung eines Sprechers S einmal als unwahrhaftig identifiziert ist, dann ist es absurd, von S Gründe für den propositionalen Gehalt seiner unwahrhaftigen Äußerung zu verlangen. Das Verlangen solcher Gründe ist in Bezug auf die propositionalen Gehalte von Behauptungshandlungen aber per se sinnvoll. Man darf S dann wohl noch legitimerweise dazu auffordern, eine Rechtfertigung für seine unwahrhaftige Äußerung qua Handlung zu liefern. Aber selbst dann, wenn S dieser Aufforderung nachkommt, wird normalerweise nichts von dem, was er zur Rechtfertigung seiner unwahrhaftigen Sprechhandlung H anführt, zu einer epistemischen Begründung des propositionalen Gehalts von H beitragen. Der Legitimitätsstatus unwahrhaftiger Äußerungen qua Handlungen ist
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
vollkommen unabhängig von dem Wahrheitswert ihrer propositionalen Gehalte.45 Diese Überlegungen lassen sich so zusammenfassen: Manche unwahrhaftigen Äußerungen mögen im Blick auf ihre jeweiligen Kontexte gerechtfertigt, legitim, zweckrational klug und sogar moralisch geboten sein, aber keine unwahrhaftige Äußerung ist eine Behauptungshandlung. Es ist etwas schwieriger, den von Apel und Habermas herausgestellten Anspruch auf normative Richtigkeit in der hier rekonstruierten Konstellation von Gültigkeitsansprüchen, regulativen und konstitutiven Normen des Behauptens zu situieren. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Rede von normativen Richtigkeitsansprüchen sowohl bei Habermas als auch bei Apel systematisch zweideutig ist. Einerseits verwenden sie den Ausdruck ‚Richtigkeit‘ zur Kennzeichnung des Gültigkeitssinns von Normen und stellen ihn dem Ausdruck ‚Wahrheit‘ als der Kennzeichnung des Gültigkeitssinns deskriptiver Aussagen gegenüber. Ein Richtigkeitsanspruch in diesem Sinn kann insofern nur für präskriptive Aussagen beziehungsweise Normen sinnvollerweise erhoben werden, für deskriptive Aussagen dagegen nicht. Letztere sind nicht richtig oder unrichtig, sondern wahr oder falsch. Andererseits werde aber, in einem davon verschiedenen Sinn, auch durch Behauptungen deskriptiver Aussagen immer ein normativer Richtigkeitsanspruch erhoben. In diesen Fällen bezieht sich der Richtigkeitsanspruch nicht auf den propositionalen Gehalt, sondern als sprechaktreflexiver auf den normativen Status der Behauptung als Handlung in einem intersubjektiven Kommunikations- und Handlungskontext.46 Diesen zweiten Sinn der Rede von Richtigkeitsansprüchen möchte ich hier aufnehmen und vorschlagen, den Anspruch auf normative Richtigkeit in unserem Zusammenhang als einen höherstufigen und sprechaktreflexiven Gül45
46
Der propositionale Gehalt einer prima facie behauptungsförmigen, aber de facto unwahrhaftigen Äußerung kann durchaus wahr sein. Vgl. zum Beispiel Habermas 1984a, S. 138 f., und Habermas 1984b, S. 354 f., wo Richtigkeit als eine Eigenschaft von Sprechakten insgesamt thematisiert wird, und dagegen Habermas 1991, wo von dem „wahrheitsanaloge[n] Anspruch auf normative Richtigkeit“ (S. 130) die Rede ist, der sich als solcher auf behauptete Normen beziehe und in praktischen Diskursen „über die Richtigkeit [...] normativer Aussagen“ (S. 134) geprüft werden müsse. Dieselbe systematische Zweideutigkeit findet sich zum Beispiel in Apel 1998b, S. 315 f., Apel 1998c, S. 455 f., und Apel 1998d, S. 691, Anm. 56.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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tigkeitsanspruch zu verstehen. Er bezieht sich auf die Behauptungshandlung insgesamt, die das Erheben der übrigen Gültigkeitsansprüche als konstitutive Teilhandlungen umfasst. Zu Recht wird dieser Meta-Gültigkeitsanspruch für eine Behauptungshandlung B nur dann erhoben, wenn B allen oben formulierten Normen gerecht wird. Die oben rekonstruierten regulativen und konstitutiven Normen legen es nahe, das durch sie erläuterte Konzept der normativen Korrektheit von Behauptungen mit dem Wissensbegriff in Verbindung zu bringen. Denn es drängt sich die Frage auf, ob sie nicht durch eine übergreifende epistemische Norm beziehungsweise eine Wissensnorm für Behauptungen zusammengefasst werden können47: (KNB) Behaupte nur dann, dass p, wenn du weißt, dass p! Auch (KNB) hat ein deklaratives Äquivalent: (KNB’) Die Behauptung, dass p, eines beliebigen Sprechers S ist nur dann normativ korrekt, wenn S weiß, dass p. Die Bezugnahme auf den Wissensbegriff in der Erläuterung der Bedingungen, unter denen Behauptungen normativ korrekt sind, ist in der Literatur sehr verbreitet. So vertritt zum Beispiel Timothy Williamson die These, dass Behauptungshandlungen durch die folgende Wissensnorm reguliert sind: „One must: assert that p only if one knows that p.“48 Auch Robert Brandom vertritt die These, „[t]hat assertions have the default status and significance of implicit knowledge claims [...]. Making an assertion [...] is making a knowledge claim“49. Und er behauptet weiter: „So the aspiration not only to truth but to knowledge is built right into the normative structure of assertional practice.“50 Freilich geben diese Autoren sehr unterschiedliche Erläuterungen des Wissensbegriffs, und insofern variiert auch der normative Sinn der von ihnen formulierten Wissensnormen für Behauptungen. Eine Auseinandersetzung auch nur mit den wichtigsten philosophischen Erläuterungen des Wissensbegriffs würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Tritt man aber 47 48 49 50
‚K‘ steht für ‚Wissen‘. Williamson 2000, S. 243, vgl. auch S. 238-269. Brandom 1994, S. 201. Brandom 1994, S. 204. Weitere Proponenten der Wissensnorm für Behauptungen sind: Adler 2002; Knell 1998 u. 1999.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
einmal einen Schritt von der epistemologischen Theorienvielfalt zurück und liest (KNB) und (KNB’) allein vor dem Hintergrund des Verständnisses, das wir als kompetente Sprecher sowohl in Bezug auf ‚Wissen‘ als auch in Bezug auf ‚Behauptung‘ zweifellos besitzen, dann wird man kaum bestreiten können, dass die Wissensnorm für Behauptungen einige Plausibilität besitzt. Orientiert man sich an der These, dass propositionales Wissen zumindest wahre und begründete Meinung erfordert51, dann lassen sich die oben rekonstruierten Normen den damit angenommenen Wissensbedingungen mehr oder weniger direkt zuordnen. Die Norm (WNB) hat ihre Entsprechung in der Wahrheitsbedingung für propositionales Wissen, die Norm (BNB) entspricht der Begründungsbedingung, und (SAB) korreliert mit der Meinungskomponente. Auch die auf Verständlichkeit oder Sinnhaftigkeit bezogene Norm (VAB) lässt sich zuordnen, wobei es hier mehrere Möglichkeiten gibt. Wenn man die These vertritt, dass nur sinnvolle und verstehbare Aussagen wahr sein können, dann korreliert sie mit der Wahrheitsbedingung für Wissen. Vertritt man die These, dass niemand eine Meinung oder Überzeugung haben kann, deren propositionalen Gehalt er nicht versteht, kann sie mit der Meinungskomponente von Wissen in Verbindung gebracht werden. Und wenn man die These vertritt, dass niemand eine Aussage begründen kann, die er selbst nicht versteht, dann gibt es auch eine Verbindung zwischen (VAB) und der Begründungsbedingung für Wissen. Schließlich wird der sprechaktreflexive Gültigkeitsanspruch auf die normative Korrektheit einer Behauptung, dass p, insgesamt von einem Sprecher S nur dann zu Recht erhoben, wenn S glaubt, dass p, S die Aussage p begründen kann, und es wahr ist, dass p. Diese zugegebenermaßen holzschnittartige Skizze zeigt meines Erachtens zumindest, dass (KNB) sich als übergreifende epistemische Norm für Behauptungshandlungen plausibilisieren lässt.
I.3
Deflationistische Abwiegelung?
In den letzten beiden Abschnitten wurde die normative Signifikanz der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ für die Behauptungspraxis mit Hilfe 51
Vgl. dazu zum Beispiel Brandom 2000, S. 97-122; Williams 2001a, S. 13-27.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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des diskurspragmatischen Konzepts des Gültigkeitsanspruchs erläutert. Das Faktum, dass wir als Sprecher und Dialogpartner nicht umhinkommen, Wahrheitsansprüche zu erheben, wirft zusammen mit der Tatsache, dass wir uns allein durch das Geben von Gründen als berechtigt erweisen können, Ansprüche dieser Art zu erheben, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Begründung und Wahrheit allererst als Problem auf. Es ist nun unumgänglich, den wahrheitstheoretischen Deflationismus zu Wort kommen zu lassen, der heute, wie Davidson zu Recht sagt, zum „mainstream of philosophical thought about the concept of truth“52 gehört. Deflationisten vertreten die These, dass es über den Wahrheitsbegriff letztlich nur wenig philosophisch Interessantes zu sagen gibt. Das Wenige, was sich hier sagen lasse, genüge aber zugleich für den Nachweis, dass die Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wahrheit und Begründung gar kein ernsthaftes philosophisches Problem darstellt. Denn dieser Zusammenhang sei insofern trivial, als er allein schon durch die sprachliche Funktionsweise des prima facie prädikativen Ausdrucks ‚ist wahr‘ und seiner Entsprechungen in anderen natürlichen Sprachen gewährleistet sei.53 Deflationisten vertreten ferner die These, dass die oben formulierte Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen (WNB) nicht so interpretiert werden sollte, als brächte sie den Wahrheitsbegriff qua Konzept einer Gültigkeitseigenschaft ins Spiel, die eine gegebene Aussage p haben oder exemplifizieren muss, wenn Behauptungen von p in normativer Hinsicht korrekt sein sollen. Sie bestreiten freilich keineswegs die Gültigkeit von (WNB), sondern geben dieser Norm nur eine trivialisierende Deutung: Als schematische Generalisierung fasse (WNB) bloß die Konjunktion von sehr vielen – potentiell unendlich vielen – Einzelnormen zusammen, die sich auf Behauptungen individueller Aussagen beziehen und in deren Formulierung jeder Rekurs auf den Wahrheitsbegriff verzichtbar sei. Das Wahrheitsprädikat fungiere in (WNB) insofern nur als ein probates sprachliches Hilfsmittel, Normen der folgenden Art auf grammatisch wohlgeformte 52 53
Davidson 2000, S. 67. Manche Deflationisten behaupten, dass es sich bei ‚ist wahr‘ nur auf den ersten Blick um einen Prädikatausdruck handelt.Vgl. zum Beispiel Grover, Camp u. Belnap 1975, S. 73; Brandom 1994, S. 302 f., S. 325 f., u. S. 515, sowie Brandom 2002, S. 115 f.
48
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Weise zu generalisieren: ‚Behaupte nur dann, dass Pinguine Vögel sind, wenn Pinguine Vögel sind!‘, ‚Behaupte nur dann, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, wenn Paris die Hauptstadt von Frankreich ist!‘. In diesem Abschnitt argumentiere ich für die These, dass die damit angedeutete deflationistische Abwiegelung der Frage nach der normativen Bedeutung des Wahrheitsbegriffs für die Behauptungspraxis nicht gelingt. Sie gelingt deshalb nicht, weil sie voraussetzt, dass die Praxis des EtwasBehauptens selbst ohne Rekurs auf den Wahrheitsbegriff verständlich gemacht werden kann: Der wahrheitstheoretische Deflationismus unterstellt, dass sich erläutern lässt, was Sprecher tun, indem sie Aussagen behaupten, ohne dabei den Wahrheitsbegriff als explanatorisches Konzept ins Spiel zu bringen. Diese Unterstellung ist aber falsch. Um mein Argument vorzubereiten, ist es zunächst notwendig, die Kernthesen des wahrheitstheoretischen Deflationismus zu rekonstruieren.
I.3.1
Deflationistische Thesen
Der Ausdruck ‚Deflationismus‘ wird in der gegenwärtigen wahrheitstheoretischen Diskussion als Sammelbezeichnung für eine Reihe von philosophischen Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs gebraucht, die sich in ihren theoretischen Details erheblich voneinander unterscheiden.54 Zu den deflationistischen Ansätzen werden für gewöhnlich Ramseys und Ayers Redundanztheorie55, Strawsons performative Wahrheitstheorie56, Grovers, Camps und Belnaps prosententiale Theorie sowie Brandoms Modifikation derselben57, Quines und Fields Disquotations- oder Zitattilgungstheorie58 und die von Horwich, Soames und Williams vertretene minimalistische Theorie59 54
55 56 57 58 59
Zur Charakterisierung bestimmter wahrheitstheoretischer Ansätze wurde ‚deflationism‘ wohl erstmals in Horwich 1982, S. 192 u. S. 195, verwendet. Vgl. Ramsey 1927, bes. S. 157 f.; Ayer 1935, Ayer 1936, Kap. 5, und Ayer 1963. Vgl. Strawson 1949 und Strawson 1950. Vgl. Grover, Camp u. Belnap 1975; Brandom 1994, S. 299-305, Brandom 2002. Vgl. Quine 1970, Kap. 1, Quine 1992, Kap. V; Field 2001a und Field 2001b. Vgl. Horwich 1998; Soames 1999; Williams 1999 und Williams 2002. Der Ausdruck ‚minimal theory‘ wird von Horwich als Name seiner in Horwich 1998 entworfenen Erläuterung des Wahrheitsbegriffs verwendet. Soames und Williams
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gezählt. Angesichts dieser Theorienvielfalt weist Scott Soames zu Recht darauf hin, dass „[...] deflationism about truth is not itself an analysis of truth nor a specific thesis about truth; rather, it is a general approach encompassing a variety of more specific proposals.“60
Wolfgang Künne gelangt mit Blick auf die von Soames angesprochene ‚variety of more specific proposals‘ zu der Einschätzung, dass die Unterschiede zwischen diesen spezifischen Ansätzen zu groß sind, als dass ihre Zusammenfassung unter dem Namen ‚Deflationismus‘ mehr als Verwirrung stiften könnte.61 Es lassen sich aber durchaus, wie ich im Folgenden zeigen will, einige Thesen und Grundgedanken rekonstruieren, welche zumindest den minimalistischen, disquotationalistischen und prosententialistischen Varianten des Deflationismus gemeinsam sind.62 Was zunächst die Unterschiede zwischen den verschiedenen deflationistischen Ansätzen anbelangt, so betreffen sie nicht zuletzt die Antworten, die ihre jeweiligen Proponenten auf die folgenden Fragen geben: Ist ‚wahr‘ ein Prädikat? Ist Wahrheit eine Eigenschaft? Wenn ja, welche Entitäten sind die primären Träger dieser Eigenschaft? Scott Soames beantwortet die ersten beiden Fragen mit ‚ja‘: „’[T]rue’ is a logical as well as a grammatical predicate used to describe or characterize entities as having a certain property–truth.“63 Den spezifisch deflationistischen Grundgedanken seiner Wahrheitskonzeption formuliert er sodann unter der Annahme, dass die Eigenschaft der Wahrheit primär durch Propositionen exemplifiziert wird: „[I]n order to know what truth is, it seems to be enough to know that the proposition that snow is white is true iff snow is white, that the proposition that the earth is round is true iff the earth is round, and so on for propositions generally.“64
60 61 62
63 64
verwenden diesen Ausdruck zwar nicht als Namen ihrer wahrheitstheoretischen Ansätze, letztere sind demjenigen von Horwich aber in wesentlichen Punkten sehr ähnlich. Daher zähle ich sie zur minimalistischen Variante des Deflationismus. Soames 1999, S. 231. Vgl. auch Field 2001a, S. 112. Vgl. Künne 2003, S. 19 f. Für einen detaillierteren Überblick über die verschiedenen deflationistischen Ansätze vgl. etwa Brendel 1999, S. 95-119; Künne 2003, S. 33-92 und S. 225-248; Schantz 1996, S. 5-29; Soames 1999, S. 232-251. Soames 1999, S. 13. Soames 1999, S. 231.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Auf ähnliche Weise charakterisiert Paul Horwich den Kerngedanken seiner „minimal theory“65 des Wahrheitsbegriffs: „Our understanding of ‘is true’ – our knowledge of its meaning – consists in the fact that the explanatorily basic regularity in our use of it is the inclination to accept instantiations of the schema (E) ‘The proposition that p is true if and only if p’, by declarative sentences of English“.66
Horwich und Soames behaupten hier, dass alles Wesentliche, was es in Bezug auf den Wahrheitsbegriff zu verstehen gibt, durch die sogenannte Äquivalenzthese67 beziehungsweise durch das folgende Äquivalenzschema zum Ausdruck gebracht wird: (ÄS) Die Proposition, dass p, ist wahr genau dann, wenn p. Der Buchstabe ‚p‘ übernimmt in (ÄS) die Funktion eines Platzhalters für deklarative Sätze, und Instanzen dieses Schemas werden gewonnen, indem man beide seiner Vorkommnisse uniform durch solche Sätze ersetzt. Ob ein Sprecher des Deutschen den Wahrheitsbegriff versteht, das zeigt sich Horwich zufolge nicht nur daran, ob er alle ihm vorgelegten (nicht paradoxen) Aussagen der Form ‚Es ist wahr, dass p, genau dann, wenn p‘ akzeptiert, sondern darüber hinaus besteht (‚consists‘) das Verständnis des Wahrheitsbegriff nach Horwich auch aus nichts anderem als der Disposition oder Neigung (‚inclination‘), alle (nicht paradoxen) Instanzen von (ÄS) anzuerkennen.68 Auf der Grundlage dieses minimalistischen Verständnisses des Wahrheitsbegriffs sei leicht einsehbar, dass Verwendungen des Ausdrucks ‚wahr‘ in Sätzen, in denen das Wahrheitsprädikat einer explizit zum Ausdruck gebrachten Proposition zugesprochen wird, keinen besonderen Wert haben: Wir könnten leicht auf sie verzichten.69 Ein Beispiel: Die Behauptung der Aussage, dass es wahr ist, dass in Trient viele Kirchen ste65 66 67
68
69
Horwich 1998, passim. Horwich 1998, S. 35. Der Ausdruck ‚Äquivalenzthese‘ geht auf Dummett zurück. Vgl. Dummett 1978, Vorwort, S. XX. Per Festlegung schränkt Horwich den Bereich der zulässigen Einsetzungen in (ÄS) auf Aussagen ein, die keine Lügnerparadoxie generieren: „[O]nly certain instances of the equivalence schema are correct.“ (Horwich 1998, S. 41, vgl. S. 40-43.) Horwich 1998, S. 39: „[S]uch uses of truth [in which the truth predicate is attached to an explicitly articulated proposition] have no great value: we could easily do without them.“
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hen, läuft auf dasselbe hinaus wie die Behauptung der Aussage, dass in Trient viele Kirchen stehen.70 Dasjenige, was mit Hilfe des Wahrheitsprädikats zum Ausdruck gebracht und behauptet wird, kann hier ebenso gut auch ohne dieses Prädikat zum Ausdruck gebracht und behauptet werden. In sprachlichen Kontexten dieser Art ist die Verwendung des Wahrheitsprädikats nach Horwich also prinzipiell verzichtbar71: (Redundanzminimal) Anstatt mit Hilfe einer Nominalphrase der Form ‚die Proposition, dass...‘ auf eine Proposition zu referieren und dieser dann Wahrheit zuzuschreiben, kann man ebenso gut einen Satz verwenden, der die betreffende Proposition selbst zum Ausdruck bringt. Das Äquivalenzschema (ÄS) ist auf Vorkommnisse von ‚ist wahr‘ in sprachlichen Kontexten zugeschnitten, in denen Wahrheit von Propositionen oder Aussagen prädiziert wird. Im Gegensatz zu Horwich und Soames betrachten manche Deflationisten dagegen nicht Propositionen, sondern Sätze oder auch kontextuell situierte Satzäußerungen als primäre Wahrheitswertträger und formulieren den Grundgedanken des Deflationismus dementsprechend im Rekurs auf das sententiale Zitattilgungs- oder Disquotationsschema: (DS) Der Satz ‚p‘ ist wahr genau dann, wenn p.72 70
71
72
Ich behandle ‚es ist wahr, ...‘ hier im Anschluss an Horwich als einen prädikativen Ausdruck: „We can construe ‘It is true that p’ […] as an application of the truth predicate to the thing to which the initial ‘It’ refers, which is supplied by the subsequent noun phrase, ‘that p’.“ (Horwich 1998, S. 16, Anm. 1.) Vgl. auch Künne 2003, S. 247-258. Aussagen der Form ,Es ist wahr, dass p‘ haben dieser Rekonstruktion zufolge dieselbe logische Struktur wie Aussagen der Form ‚Die Proposition, dass p, ist wahr‘. Soames’ Variante dieser These findet sich zum Beispiel in Soames 1999, S. 230: „[I]f we never wished to say of a proposition that it is true without displaying it, as we do with It is true that S or The proposition that S is true, then we could get along reasonably well without a truth predicate by just saying S instead.“ Vgl. Field 2001a und Field 2001b sowie Quine 1970, S. 10-13, und Quine 1992, S. 77-82. Quine steht der schematischen Generalisierung des disquotationalistischen Grundgedankens durch (DS) freilich skeptisch gegenüber. Er weist mit Tarski darauf hin, dass „[...] quoting the schematic sentence letter ‘p’ produces a name only of the sixteenth letter of the alphabet, and no generality over sentences.“ (Quine
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Disquotationalisten, die Proponenten der sogenannten Zitattilgungstheorie der Wahrheit, versehen (DS) mit einer Interpretation, die der oben dargestellen minimalistischen Deutung des Äquivalenzschemas (ÄS) vollkommen analog ist: Anstatt zum Beispiel auf den Satz ‚In Trient stehen mehr als zwanzig Kirchen.‘ mit Hilfe seines Zitatnamens zu referieren und ihm dann Wahrheit zuzusprechen, kann man ihn ebenso gut selbst dazu verwenden, um direkt die Behauptung aufzustellen, dass in Trient mehr als zwanzig Kirchen stehen. Der semantische Aufstieg („semantic ascent“73) auf die Ebene der metasprachlichen Rede über den Satz ist hier also überflüssig – und mit ihm die Verwendung des metasprachlichen Wahrheitsprädikats. Quine formuliert diesen Punkt im Blick auf den notorischen Beispielsatz ‚Schnee ist weiß.‘: „Attribution of truth to ‘Snow is white’ just cancels the quotation marks and says that snow is white. Truth is disquotation.“74 In jedem sprachlichen Kontext dieser Art sei das Wahrheitsprädikat insofern prinzipiell verzichtbar: „So the truth predicate is superfluous when ascribed to a given sentence; you could just utter the sentence.“75 Hieraus ergibt sich die disquotationalistische Variante der oben dargestellten minimalistischen Redundanzthese: (Redundanzdisquotational) Anstatt einen Satz S zu zitieren und diesem dann Wahrheit zuzusprechen, kann man ebenso gut S selbst äußern.76 Den Schemata (ÄS) und (DS) ist gemeinsam, dass der Ausdruck ‚ist wahr‘ in ihnen prädikativ gebraucht wird – in (ÄS) als ein Prädikat von Proposi-
73 74 75 76
1970, S. 13.) Vgl. dazu Tarski 1983, S. 159 f. Das damit von Quine aufgeworfene Problem einer Generalisierung des disquotationalistisch gedeuteten deflationistischen Grundgedankens vernachlässige ich hier. Vgl. dazu David 1994. Vgl. Quine 1970, S.10-13, und Quine 1992, S. 81. Quine 1987, S. 213. Vgl. auch Quine 1992, S. 80. Quine 1992, S. 80. Vgl. auch Quine 1970, S. 10 f. Im Gegensatz zu (Redundanzminimal) bedarf diese Formulierung einer Qualifizierung. Sie muss im Blick auf Sätze qualifiziert werden, die indexikalisches Vokabular enthalten. Vgl. dazu Quine 1970, S. 13 f., Quine 1992, S. 78 f. und S. 82. Dieses Problem vernachlässige ich hier. Hartry Field formuliert seine Variante der These (Redundanzdisquotational) mit Hilfe eines Konzepts kognitiver Äquivalenz: „[F]or any utterance u that a person X understands, the claim that u is true is cognitively equivalent for X to u itself.“ (Field 2001b, S. 222.)
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tionen respektive Aussagen, in (DS) als eines von Sätzen. Robert Brandom behauptet demgegenüber im Rahmen seiner prosententialistischen Variante des Deflationismus, dass ‚ist wahr‘ nicht als Prädikatausdruck, sondern als ein prosatzbildender Operator („prosentence-forming operator“) aufgefasst werden sollte, „which applies to a noun phrase specifying an anaphoric antecedent, and yields a prosentence anaphorically dependent on that specified antecedent.“77 Prosätze werden von Brandom in Analogie zu Pronomen gedacht: „In the simplest case, ‘That is true,’ is a prosentence, which relates to, and inherits its content from, an anaphoric antecedent – for instance someone else’s tokening of ‘Snow is white,’ – in the same way that a pronoun such as ‘he’ relates to and inherits its content from an anaphoric antecedent – for instance, someone else’s tokening of ‘Tarski’.“78
Eine Pointe dieser Erläuterung des Ausdrucks ‚ist wahr‘ wird deutlich, wenn man Brandoms prosententiale Analyse von Sätzen wie ‚Das ist wahr.‘ oder auch ‚Was du gerade gesagt hast, ist wahr.‘ mit ihrer grammatikalisch näherliegenden Subjekt-Prädikat-Analyse vergleicht. Takeshi: Es ist kalt. Akane: Das ist wahr. Prima facie handelt es sich bei Akanes Äußerung um einen einfachen Subjekt-Prädikat-Satz: Der Subjektausdruck ‚das‘ wird von ihr dazu verwendet, auf Takeshis Aussage zu referieren, und der Prädikatausdruck ‚ist wahr‘ dazu, dieser Aussage die Eigenschaft der Wahrheit zuzuschreiben. So verstanden spricht Akane in ihrer Äußerung also über die Aussage Takeshis. Nach Brandom trifft nur das erste Element dieser Erläuterung von Akanes Äußerung zu: Zwar verwende Akane das Demonstrativpronomen ‚das‘ tatsächlich dazu, um auf Takeshis Aussage zu referieren79, aber der Ausdruck ‚ist wahr‘ habe nicht die Funktion, dem Referenten von ‚das‘ eine Eigenschaft zuzuschreiben, sondern ergänze diesen singulären Terminus vielmehr zu einem vollständigen Satz, der exakt denselben semantischen 77
78 79
Brandom 2002, S. 105 f. Vgl. Brandom 1994, S. 303 und S. 305; Brandom 2002, S. 103-110. Brandoms prosententiale bzw. anaphorische Erläuterung des Wahrheitsbegriffs greift zurück auf Grover, Camp u. Belnap 1975, modifiziert den dort entworfenen Ansatz allerdings in einigen Punkten. Brandom 2002, S. 103 f. Vgl. dazu Brandom 1994, S. 305.
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Gehalt zum Ausdruck bringe wie Takeshis Äußerung.80 Wenn Brandoms Erläuterung zutrifft, dann spricht Akane also nicht über die von Takeshi behauptete Aussage, sondern wiederholt deren Behauptung. Ihre Äußerung ist, in Brandoms Terminologie gesprochen, ein paradigmatischer Fall der Verwendung eines einsparenden (‚lazy‘) Prosatzes. Einsparende Prosätze sind nach Brandom aber gehaltredundant (‚content redundant‘) in Bezug auf ihre anaphorischen Antezedens-Sätze.81 Daraus ergibt sich die prosententialistische Variante der Redundanzthese: (Redundanzprosentential) Anstatt einen einsparenden Prosatz der Form ‚X ist wahr.‘ zu verwenden, dessen semantischer Gehalt identisch ist mit demjenigen des Antezedens-Satzes A, auf den sich der referierende Ausdruck ‚X‘ bezieht, kann man ebenso gut den Satz A selbst äußern.82 Aus der Verzichtbarkeit der Verwendung des Wahrheitsprädikats in sprachlichen Kontexten, in denen zitierten Sätzen (Disquotationalismus) oder explizit zum Ausdruck gebrachten Propositionen (Minimalismus) Wahrheit zugesprochen wird, beziehungsweise in denen ‚einsparende‘ Prosätze verwendet werden, deren anaphorische Antezedens-Sätze zugänglich und verfügbar sind (Prosententialismus), ziehen Proponenten des Deflationismus allerdings keineswegs den Schluss, dass der Ausdruck ‚ist wahr‘ insgesamt redundant und verzichtbar ist. Sie behaupten vielmehr, dass er aus dem Vokabular einer Sprache nur um den Preis eines massiven 80
81
82
Im Unterschied zu Grover, Camp und Belnap 1975 behandelt Brandom also weder den Ausdruck ‚das‘ noch den Ausdruck ‚ist wahr‘ als synkategorematische Bestandteile des Prosatzes ‚Das ist wahr.‘. Zu einsparenden Prosätzen vgl. Brandom 1994, S. 301 f., zu deren Gehaltredundanz S. 299 f. und S. 302. Diese Formulierung bedarf einer Qualifizierung im Blick auf Antezedens-Sätze, die indexikalisches Vokabular enthalten. Dieses Problem vernachlässige ich hier. Vgl. Brandom 1994, S. 303, und die Unterscheidung zwischen im engeren Sinn und im weiteren Sinn einsparenden Prosätzen in Brandom 2002, S. 107. Brandom weist auf einige Fälle von einsparenden Prosätzen hin, die ihren Gehalt anaphorisch aus nicht wiederholbaren Antezedens-Sätzen beziehen. Solche Prosätze fallen zwar nicht in den Gültigkeitsbereich von (Redundanzprosentential), aber auch für sie gilt nach Brandom, dass sie in Bezug auf ihre Antezedens-Sätze gehaltredundant sind. Vgl. Brandom 1994, S. 449-468, und Brandom 2002, S. 111-114.
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Verlusts an Ausdruckskraft ersatzlos gestrichen werden könnte.83 Unverzichtbar und keinesfalls redundant sei das Wahrheitsprädikat nämlich in solchen sprachlichen Kontexten, in denen Sprecher die Sätze, auf die sie sich beziehen wollen, nicht zitieren, oder die Propositionen, auf die sie Bezug nehmen möchten, nicht explizit zum Ausdruck bringen können – sei es, weil sie sie nicht kennen, oder aber, weil es schlicht zu viele sind. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Sprecher wolle allem, was der Zeuge S gestern vor Gericht behauptet hat, zustimmen, ohne zu wissen, was genau S behauptet hat, etwa weil er S sowohl für zuverlässig und kompetent in der Sache wie auch für vollkommen vertrauenswürdig hält. Mit Hilfe des Wahrheitsprädikats kann er diese Zustimmung so zum Ausdruck bringen: ‚Alles, was S gestern vor Gericht behauptet hat, ist wahr.‘ Diese generelle Aussage fasst auf kurze und bündige Weise die folgende offene Konjunktion von Konditionalen zusammen: ‚Wenn S behauptet hat, dass er den Gärtner im Dorf getroffen hat, dann hat er den Gärtner im Dorf getroffen, und wenn er behauptet hat, dass das Auto in der Garage stand, dann stand das Auto in der Garage, usw.‘ Dieselbe „utility of truth as a device of generalization“84 erweist sich, wenn wir die Einschätzung zum Ausdruck bringen wollen, dass zwar vielleicht nicht alles, aber doch zumindest einiges von dem zutrifft, was S gestern vor Gericht behauptet hat, ohne dabei auch nur eine einzige bestimmte Aussage von S im Blick zu haben – etwa weil wir gute Gründe für die Annahme haben, dass S immer dann, wenn er vor Gericht aussagt, sowohl Wahres als auch Falsches zum Besten gibt. Mit Hilfe des Wahrheitsprädikats können wir diese Einschätzung so zum Ausdruck bringen: ‚Manches von dem, was S gestern vor Gericht behauptet hat, ist wahr.‘85 Diese Existenzquantifikation bringt eine Proposition zum Ausdruck, die mit der folgenden offenen Disjunktion von Konjunktionen äquivalent ist: ‚S hat behauptet, dass er den Gärtner im Dorf getroffen hat, und er hat den Gärtner im Dorf getroffen, oder S hat behauptet, dass das Auto in der Garage stand, und das Auto stand in der Garage, usw.‘ 83
84 85
Vgl. dazu zum Beispiel Williams 2002 sowie die in Brandom 2002 vorgeschlagene Differenzierung zwischen explanatorischem und expressivem Deflationismus. Brandom hält den Ersteren für korrekt und lehnt den Letzteren ab. Horwich 1998, S. 42, Anm. 21. Vgl. zu dieser Verwendung des Wahrheitsprädikats die erhellende Kritik an Strawson 1949 und Strawson 1950 in Soames 1999, S. 235 f.
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Die Deflationisten weisen nun darauf hin, dass wir Generalisierungen dieser Art ohne das Wahrheitsprädikat oder ein funktionales Äquivalent beziehungsweise ohne den prosatzbildenden Operator ‚ist wahr‘ nicht formulieren könnten. An diesem Punkt zeige sich die Nützlichkeit und die Existenzberechtigung des Ausdrucks ‚ist wahr‘ in der Sprache. Gegen diese Unverzichtbarkeitsthese könnte der Einwand erhoben werden, dass man eine offene Konjunktion wie ‚Wenn S behauptet hat, dass er den Gärtner im Dorf getroffen hat, dann hat er den Gärtner im Dorf getroffen, und wenn er behauptet hat, dass das Auto in der Garage stand, dann stand das Auto in der Garage, usw.‘ auch durch substitutionale Quantifikation in Bezug auf die Substitutionsklasse deklarativer Sätze zusammenfassen könne anstatt durch objektuale (referentielle) Quantifikation über Aussagen oder Sätze als Wertebereich der Variablen.86 Das Wahrheitsprädikat komme in der substitutionalen Quantifikation ‚Πα(Wenn S behauptet hat, dass α, dann α)‘ nicht vor, sie bringe die hier relevante Generalisierung aber ebenso gut zum Ausdruck wie die objektual quantifizierende Aussage ‚∀α(Wenn S α behauptet hat, dann ist α wahr)‘. Insofern sei das Wahrheitsprädikat hier eben keineswegs unverzichtbar. Diesem Einwand ist aber entgegenzuhalten, dass sich der Sinn des substitutionalen Allquantors ‚Πα‘ (sowie des entsprechenden Existenzquantors ‚α‘) letztlich wieder nur im Rekurs auf den Wahrheitsbegriff verdeutlichen lässt. Die substitutional quantifizierende Aussage ‚Πα(Wenn S behauptet hat, dass α, dann α)‘ besagt soviel wie: Jede Einsetzungsinstanz, die durch uniforme Ersetzung von ‚α‘ in dem offenen Satz ‚Wenn S behauptet hat, dass α, dann α‘ durch einen deklarativen Satz gewonnen werden kann, ist wahr. Um den Sinn substitutional quantifizierender Aussagen zu verdeutlichen, kommt man nicht umhin, wiederum objektual zu quantifizieren, nämlich über Einsetzungsinstanzen von substitutional quantifizierenden Aussagen – und dabei ist die Verwendung des Wahrheitsprädikats unerlässlich.
86
Zu substitutionaler Quantifikation und Deflationismus vgl. Horwich 1998, S. 4, Anm. 1, und S. 25; Field 2001a, S. 120, Anm. 17; Schantz 1996, S. 13 f.; Soames 1999, S. 41 f.
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Horwich formuliert seine Version der These, dass das Wahrheitsprädikat unverzichtbar ist – er spricht in diesem Zusammenhang von der „raison d’être“87 dieses Prädikats –, in den folgenden Worten: „On occasion we wish to adopt some attitude towards a proposition–for example, believing it, assuming it for the sake of argument, or desiring that it be the case– but find ourselves thwarted by ignorance of what exactly the proposition is. We might know it only as ‘what Oscar thinks’ or ‘Einsteins’s principle’; […] or–and this is especially common in logical and philosophical contexts–we may wish to cover infinitely many propositions (in the course of generalizing) and simply can’t have all of them in mind. In such situations the concept of truth is invaluable. For it enables the construction of another proposition, intimately related to the one we can’t identify, which is perfectly appropriate as the alternative object of our attitude.“88
Betrachten wir zur Illustration von Horwichs Thesen die folgenden beiden Sätze89: (i) Entweder ist der Himmel blau oder der Himmel ist nicht blau. (ii) Entweder können Pinguine tauchen oder Pinguine können nicht tauchen. Gemäß dem Äquivalenzschema (ÄS) sind (i) und (ii) logisch äquivalent mit (i’) Die Aussage, dass der Himmel blau ist oder nicht blau ist, ist wahr. (ii’) Die Aussage, dass Pinguine tauchen können oder nicht tauchen können, ist wahr. In (i’) und (ii’) wird dieselbe Eigenschaft, nämlich Wahrheit, verschiedenen Entitäten einer bestimmten Art, nämlich Aussagen der Form ‚p∨¬p‘, zugeschrieben; (i’) und (ii’) lassen sich nun generalisieren zu (iii) Jede Aussage der Form ‚p∨¬p‘ ist wahr. Im Wesentlichen dieselbe Pointierung der These von der Nützlichkeit des Wahrheitsprädikats in Kontexten des Generalisierens über Aussagen findet sich bei Williams. Williams zufolge ermöglicht uns das Wahrheitsprädikat,
87 88
89
Horwich 1998, S. 3. Horwich 1998, S. 2 f. Vgl. auch Horwich 1999, S. 20. Soames’ Version dieser These findet sich zum Beispiel in Soames 1999, S. 22 und S. 230 f. Vgl. das Beispiel in Horwich 2002, S. 137 f.
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Horwich und Williams stimmen also in der Anerkennung der folgenden Aussage überein: (Generalisierungminimal) Das Wahrheitsprädikat ermöglicht die Formulierung von Generalisierungen über Propositionen, und solche Generalisierungen wären ohne das Wahrheitsprädikat nicht formulierbar. Die disquotationale Variante der Generalisierungsthese findet sich zum Beispiel bei Quine. Direkt im Anschluss an die oben zitierte Stelle, an der er seine Version der Redundanzhese formuliert, schreibt Quine: „But it [the truth predicate] is needed for sentences that are not given. Thus we may want to say that everything someone said on some occasion was true, or that all consequences of true theories are true. Such contexts [...] exhibit the truth predicate in application not to a quotation but to a pronoun, or bound variable. / The truth predicate proves invaluable when we want to generalize along a dimension that cannot be swept out by a general term.“91
Der semantische Aufstieg auf die Ebene der metasprachlichen Rede über Sätze ist nach Quine in bestimmten Generalisierungskontexten also ebenso wenig verzichtbar wie der Gebrauch des Wahrheitsprädikats. Die disquotationalistische Variante der Generalisierungsthese unterscheidet sich von der minimalistischen ausschließlich dadurch, dass sie auf Sätze und nicht auf Propositionen bezogen ist: (Generalisierungdisquotational) Das Wahrheitsprädikat ermöglicht die Formulierung von Generalisierungen über Sätze, und solche Generalisierungen wären ohne das Wahrheitsprädikat nicht formulierbar. 90 91
Williams 2002, S. 147 f. Quine 1992, S. 80 f. Field formuliert seine Variante der Generalisierungsthese u.a. in Field 2001a, S. 120: „[T]he word ‚true‘ has an important logical role: it allows us to formulate certain infinite conjunctions and disjunctions that can’t be formulated otherwise.“
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
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Auch Brandom betont die wichtige Rolle, die der Ausdruck ‚ist wahr‘ in der Formulierung von Generalisierungen über Sätze spielt. Er erläutert solche Generalisierungen nur anders als Quine. So lasse sich zum Beispiel der generelle Satz (i) Jeder Satz, den die Zeugin geäußert hat, ist wahr. am besten dadurch erläutern, dass man ihn in die Form des Konditionals (ii) bringe und den Nachsatz von (ii) als quantifizierte Prosentenz interpretiere92: (ii) Für jeden Satz gilt: Wenn die Zeugin ihn geäußert hat, dann ist er wahr. Das unmittelbare anaphorische Antezedens der Prosentenz ‚er ist wahr‘ im Nachsatz von (ii) wird durch das Pronomen ‚er‘ bestimmt. Es bezieht sich zurück auf das Pronomen ‚ihn‘ im Vordersatz von (ii), also auf das Pronomen in ‚die Zeugin hat ihn geäußert‘. Dieser anaphorische Rückbezug bestimmt nun Brandom zufolge die Instanzen von (ii), also etwa: (ii’) Wenn die Zeugin den Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘ geäußert hat, dann ist er wahr. Der Satz (ii’) enthält nun – wenn Brandoms Erläuterungen zutreffen – im Nachsatz wiederum eine Prosentenz, nämlich den diesmal einsparenden Prosatz ‚er ist wahr‘. Hier bezieht sich das Pronomen ‚er‘ zurück auf den singulären Terminus ‚der Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘‘. Ersetzt man es durch diesen Ausdruck, so erhält man ein Konditional, dessen Nachsatz eine weitere einsparende Prosentenz darstellt: (ii’’) Wenn die Zeugin den Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘ geäußert hat, dann ist der Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘ wahr. Der letzte Schritt der prosententialen Erläuterung von (i) ist nur verstehbar, wenn man Brandoms These berücksichtigt, dass einsparende Prosätze die anaphorischen Antezedens-Sätze, in Bezug auf die sie semantisch redundant sind, enthalten können.93 Im Nachsatz von (ii’’) werde nämlich der
92 93
Vgl. dazu Brandom 1994, S. 301-305, und Brandom 2002, S. 107-114. Vgl. Brandom 1994, S. 302: „So ‘Snow is white is true’ is read as a prosentence of laziness, having the same semantic content as its anaphoric antecedent, perhaps the
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Ausdruck ‚der Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘‘ dazu gebraucht, auf den im Nachsatz von (ii’’) selbst enthaltenen Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘ zu referieren. Die einsparende Prosentenz könne demnach insgesamt durch ‚Das Auto stand in der Garage.‘ ersetzt werden: (ii’’’) Wenn die Zeugin den Satz ‚Das Auto stand in der Garage.‘ geäußert hat, dann stand das Auto in der Garage. Wer also behauptet, dass jeder Satz, den die Zeugin geäußert hat, wahr ist, legt sich damit auf die Anerkennung jedes Elements der folgenden potentiell unendlichen Liste von Sätzen fest: (iii) Wenn die Zeugin den Satz ‚das Auto stand in der Garage.‘ geäußert hat, dann stand das Auto in der Garage. Wenn die Zeugin den Satz ‚Der Gärtner war’s.‘ geäußert hat, dann war’s der Gärtner. usw. Es ist die potentiell infinite Konjunktion aller Elemente der Liste (iii), die Brandom zufolge durch (i) zusammengefasst wird.94 Dies ist ein komplizierter Weg zu einer wenig überraschenden Schlussfolgerung. Auch ist Brandoms Behauptung, dass einsparende Prosätze ihre eigenen anaphorischen Antezedens-Sätze enthalten können, nur schwer nachvollziehbar.95 Allein unter der Voraussetzung, dass sie es können, gelangt man aber von (ii’’) zu (ii’’’). Diese Ansätze für eine Detailkritik vernachlässige ich hier. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang nur, dass auch Brandom eine Version der Generalisierungsthese vertritt: (Generalisierungprosentential) Der prosatzbildende Operator ‚ist wahr‘ ermöglicht die Formulierung von quantifizierten Prosätzen, mit deren Hilfe Generalisierungen über Sätze zum Ausdruck gebracht werden können, die ohne ‚ist wahr‘ nicht formulierbar wären. Die These, dass der Ausdruck ‚ist wahr‘ die von Horwich, Williams, Quine und Brandom herausgestellte Generalisierungsfunktion erfüllt, ist für sich
94 95
token of ‘Snow is white’ that it contains.“ In Brandoms Beispiel fehlen die Anführungszeichen um ‚Snow is white‘. Vgl. Brandom 1994, S. 302, und Brandom 2002, S. 107. Vgl. dazu Künne 2003, S. 84.
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genommen keineswegs exklusives Eigentum der Deflationisten. Denn es gibt keinen Grund, weshalb Nicht-Deflationisten sie bestreiten oder auch nur anzweifeln sollten. Nun begnügen sich die Proponenten des Deflationismus aber nicht mit dem Anspruch, einen wichtigen Aspekt der Verwendung des – jedenfalls grammatischen – Prädikatausdrucks ‚ist wahr‘ rekonstruiert und damit einen interessanten Beitrag zur philosophischen Klärung des Wahrheitsbegriffs geliefert zu haben, sondern sie stellen die sehr viel stärkere Behauptung auf, dass sich die Signifikanz des Ausdrucks ‚ist wahr‘ in seiner Rolle als ‚device of generalization‘ erschöpft – gleichviel, ob sie ‚ist wahr‘ als bloß grammatisches Prädikat, als grammatisches und logisches Prädikat oder aber als einen prosatzbildenden Operator behandeln. In diesem Sinn behauptet Horwich: „[T]he truth-predicate is merely a device of generalization“96. An anderer Stelle bringt er denselben Punkt so zum Ausdruck: „[W]henever we deploy the concept of truth non-trivially– whether in logic, ordinary language, science, or philosophy–it is playing this role: a device of generalization.“97 Nicht-trivial ist die Verwendung des Wahrheitsbegriffs Horwich zufolge also genau dann, wenn sie der Formulierung von Generalisierungen im Sinne der These (Generalisierungminimal) dient. Was Horwich dagegen unter einer trivialen Verwendung des Wahrheitsbegriffs versteht, wird im Zusammenhang des gerade zitierten Satzes nicht völlig deutlich. Es ist aber anzunehmen, dass er hier Kontexte im Blick hat, in denen einer explizit zum Audruck gebrachten Proposition Wahrheit zugesprochen wird und die damit in den Gültigkeitsbereich der These (Redundanzminimal) fallen. Michael Williams gibt dieselbe Charakterisierung der Pointe des Deflationismus, wenn er behauptet: „[T]he function of truth talk is wholly expressive, thus never explanatory. […] What makes deflationary views deflationary is their insistence that the importance of truth talk is exhausted by its expressive function.“98 96 97
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Horwich 1997, S. 139. Vgl. auch Horwich 1998, S. 2 f.; Soames 1999, S. 230 f. Horwich 2002, S. 138. Vgl. auch Horwich 1999, S. 21: „My first deflationary thesis is that wherever we employ the concept of truth – whether it be in philosophy [...], in logic [...], or in everyday life [...] – it is nothing more than a device of generalisation.“ Williams 1999, S. 547. Vgl. auch Williams 1996, S. 111, sowie Brandoms Variante dieser These in Brandom 2002.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Ebenso wenig wie Horwich will Williams bestreiten, dass das Wahrheitsprädikat zum Beispiel in philosophischen Erklärungen und Begriffsrekonstruktionen legitimerweise vorkommen und verwendet werden darf: „This point should not be taken to imply that, for deflationists, truth-talk can never figure importantly in giving explanations.“ Er besteht aber darauf, dass der wohlverstandene Sinn und Zweck seiner Verwendung auch in solchen Kontexten rein expressiv ist und nur darin besteht, die Formulierung bestimmter Generalisierungen zu ermöglichen, die wir ohne das Wahrheitsprädikat nicht zum Ausdruck bringen könnten: „The point is only that, if it does so figure, it must be in its generalising role“99. Die expressive Funktion, die Horwich und Williams dem Wahrheitsprädikat zuerkennen, erschöpft sich somit in seinem logischen Beitrag zur Formulierung bestimmter Generalisierungen. Darin stimmen sie mit den Proponenten des Disquotationalismus überein, und auch Brandom schreibt dem Ausdruck ‚ist wahr‘ durch seinen prosententialen Ansatz eine rein expressive Funktion zu. Er fasst diese nur weiter als die Minimalisten und die Disquotationalisten, indem er auf diverse sprachliche Kontexte hinweist, in denen ‚wahr‘ unverzichtbare expressive Arbeit leistet.100 Bringt man nun die verschiedenen deflationistischen Redundanz- und Generalisierungsthesen mit der Behauptung zusammen, dass die Funktion des Ausdrucks ‚wahr‘ in dem gerade charakterisierten Sinn rein expressiv ist, so ergibt sich eine Aussage, die einiges Recht auf den Titel der Kernthese des wahrheitstheoretischen Deflationismus erheben darf: (Deflationismus) Für jede Verwendung des Ausdrucks ‚ist wahr‘ in Bezug auf Sätze oder Propositionen gilt: Entweder sie ist im Sinn wenigstens einer der Thesen (Redundanzminimal), (Redundanzdisquotational) und (Redundanzprosentential) verzichtbar oder sie dient ausschließlich der Formulierung einer Generalisierung, die ohne den Ausdruck ‚ist wahr‘ (oder ein funktionales Äquivalent) nicht formuliert werden könnte.101 99 100 101
Williams 2002, S. 156. Vgl. Brandom 2002. Im Blick auf Brandoms These, dass manche einsparenden Prosätze ihren semantischen Gehalt anaphorisch aus nicht wiederholbaren Antezedens-Sätzen beziehen, müsste die These (Deflationismus) um das folgende Disjunkt ergänzt werden:
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
63
(Deflationismus) bringt freilich nicht alle wesentlichen Thesen aller hier besprochenen deflationistischen Ansätze der Wahrheitstheorie zum Ausdruck. Aber die These (Deflationismus) folgt logisch aus jeder der hier besprochenen deflationistischen Wahrheitskonzeptionen und stellt insofern einen gemeinsamen Nenner dieser Ansätze dar. Vor dem Hintergrund dieses gemeinsamen Nenners wird auch deutlich, weshalb alle Deflationisten darin übereinstimmen, dass dem Wahrheitsbegriff keinerlei Erklärungs- oder Erläuterungsfunktion in der Philosophie zugemutet werden sollte. Der Beitrag, den er zur Rekonstruktion philosophisch wichtiger Begriffe wie ‚Bedeutung‘, ‚Wissen‘ oder ‚Behauptung‘ leisten könne, sei eben ein rein expressiver, nicht jedoch ein substantiell theoretischer. So folge beispielsweise aus der Tatsache, dass die Wahrheit einer gegebenen Aussage p in allen erkenntnistheoretischen Definitionsversuchen des Konzepts ‚propositionales Wissen‘ als eine notwendige Bedingung dafür angeführt wird, dass ein beliebiges epistemisches Subjekt weiß, dass p, nicht bereits, dass ‚Wahrheit‘ in solchen Definitionsangeboten als ein theoretisch gehaltvoller Begriff verstanden werden müsse. Bei genauerem Hinsehen zeige sich nämlich, dass das grammatische Prädikat ‚ist wahr‘ in schematischen Aussagen wie (a) S weiß, dass p, genau dann, wenn S mit guten Gründen glaubt, dass p, und es wahr ist, dass p. oder auch (b) S weiß, dass p, genau dann, wenn S der Meinung ist, dass p, und S’ Meinung, dass p, durch einen verlässlichen Meinungsbildungsprozess zustande gekommen ist, und es wahr ist, dass p. keinerlei Erklärungs- und Explikationsarbeit leistet, sondern nur eine logische Funktion erfüllt. Die Aussagen (a) und (b) sind dem Deflationismus zufolge paradigmatische Fälle der Verwendung des Ausdrucks ‚wahr‘ in seiner generalisierenden Funktion. So sei (a) nichts anderes als eine sche‚...oder sie dient der Formulierung eines einsparenden Prosatzes, der in Bezug auf einen nicht wiederholbaren Antezedens-Satz gehaltredundant ist‘. Siehe dazu oben S. 54, Anm. 82. Um die Formulierung der These (Deflationismus) halbwegs übersichtlich zu halten, habe ich dieses Disjunkt ausgelassen. Für das Argument gegen den wahrheitstheoretischen Deflationismus, das ich im nächsten Abschnitt vorbringen werde, spielt dies keine Rolle.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
matische Zusammenfassung der potentiell unendlichen Konjunktion aller Aussagen des folgenden Typs: (a1) S weiß, dass Schnee weiß ist, genau dann, wenn S mit guten Gründen glaubt, dass Schnee weiß ist, und Schnee weiß ist. (a2) S weiß, dass Kant ein großer Philosoph war, genau dann, wenn S mit guten Gründen glaubt, dass Kant ein großer Philosoph war, und Kant ein großer Philosoph war. usw. Und dasselbe gelte in Bezug auf die Aussage (b): Sie sei nichts weiter als eine schematische Zusammenfassung der potentiell unendlichen Konjunktion aller Aussagen, die sich ergeben, wenn man ‚p‘ in (b) uniform durch deklarative Sätze ersetzt und die Worte ‚es wahr ist, dass‘ streicht. Ein weiteres Beispiel für eine nur prima facie erklärende Verwendung des Wahrheitsprädikats liefert nach Ansicht der Deflationisten der folgende Satz Wittgensteins aus dem „Tractatus logico-philosophicus“, der als eine Formulierung des Grundgedankens der wahrheitskonditionalen Bedeutungstheorie gelesen werden kann: (c) „Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist.“102 Auch hier komme dem Wahrheitsprädikat keinerlei Explikationsfunktion in Bezug auf die Frage zu, was es heißt, einen Aussagesatz zu verstehen.103 Aussage (c) sei vielmehr wiederum nur ein Beispiel für die generalisierende Verwendung des Wahrheitsprädikats, das heißt, sie sei nichts anderes als eine Zusammenfassung aller Aussagen des folgenden Typs: (c1) Den Satz ‚Der Himmel ist blau‘ zu verstehen, heißt, zu wissen, was der Fall ist, wenn der Himmel blau ist. (c2) Den Satz ‚Marienkäfer sind Insekten‘ zu verstehen, heißt, zu wissen, was der Fall ist, wenn Marienkäfer Insekten sind. usw. Das dritte und letzte Beispiel, das ich hier für diese Argumentationsstrategie anführen will, betrifft die oben bereits angedeutete deflationistische In102 103
Wittgenstein 1984a, S. 28 (Tract., 4.024). Vgl. etwa Michael Williams’ entsprechende These in Bezug auf Davidsons Variante der Wahrheitsbedingungensemantik in Williams 1999, bes. S. 559-564.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
65
terpretation der in Abschnitt I.2 formulierten Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen: (WNB) Behaupte nur dann, dass p, wenn die Aussage p wahr ist! beziehungsweise ihres deklarativen Äquivalents (WNB’) Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass p, wenn die Aussage p wahr ist.104 Aus Sicht der Proponenten des Deflationismus steht der Ausdruck ‚wahr‘ in (WNB) und (WNB’) nicht für eine Gültigkeitseigenschaft, deren Exemplifikation oder Nicht-Exemplifikation durch eine (beliebige) Proposition p mit darüber entscheidet, ob die von einem beliebigen Sprecher aufgestellte Behauptung, dass p, normativ korrekt ist oder nicht. Er erfülle vielmehr auch hier ausschließlich die Funktion eines nützlichen sprachlichen Werkzeugs, mit dessen Hilfe die offene (potentiell infinite) Konjunktion der auf individuelle Aussagen bezogenen Einzelnormen (WNB1), (WNB2) usw. respektive ihrer deklarativen Äquivalente (WNB’1), (WNB’2) usw. durch eine schematische Generalisierung zusammengefasst und auf einen Schlag zum Ausdruck gebracht werden kann: (WNB1) Behaupte nur dann, dass in Trient mehr als zwanzig Kirchen stehen, wenn in Trient mehr als zwanzig Kirchen stehen! (WNB2) Behaupte nur dann, dass Pinguine tauchen können, wenn Pinguine tauchen können! usw. (WNB’1) Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass in Trient mehr als zwanzig Kirchen stehen, wenn in Trient mehr als zwanzig Kirchen stehen. (WNB’2) Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass Pinguine tauchen können, wenn Pinguine tauchen können. usw. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen macht Williams geltend: 104
Weitere Beispiele für die deflationistische Strategie, prima facie explanatorische Verwendungen des Wahrheitsbegriffs als Fälle seiner bloß generalisierenden Verwendung zu enttarnen, finden sich in Horwich 1998, S. 139-141, und Field 2001a, S. 119-123. Eine prosententialistische Variante dieser Argumentationsstrategie verfolgt Grover 2002, bes. S. 124-127.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe „[I]t is easy to underestimate what needs to be done to respond to the deflationist’s challenge to identify an explanatory use for the concept of truth. It is not enough to point to the occurrence of truth-talk [...] in statements of epistemological or methodological goals or norms. When deflationists claim that the function of truth-talk is entirely expressive, they certainly do not mean that such talk never figures in such things. Evidently, in statements of epistemic norms and goals, truth-talk is all over the place. But, if its role proves to be expressive, deflationism is confirmed not refuted.“105
Mit dieser Pointierung deflationistischer Grundgedanken verdeutlicht Williams zugleich auf prägnante Weise eine mögliche Argumentationsstrategie zur Widerlegung der deflationistischen Kernthese (Deflationismus). Für eine solche Widerlegung genügt es nicht, darauf hinzuweisen, dass die Verwendung des Ausdrucks ‚wahr‘ doch offenbar in vielen Kontexten der philosophischen Begriffserläuterung und der Rekonstruktion von Normen der diskursiven Praxis unumgänglich ist. Denn diesen Punkt räumen die Deflationisten bereitwillig ein. Es müsste vielmehr ein Beispiel für eine Verwendung des Wahrheitsprädikats angeführt werden, die nicht bloß in Williams’, Horwichs oder Brandoms Sinn expressiv ist, sondern begrifflich-theoretische Erklärungs- und Explikationsarbeit leistet. Im Rekurs auf die These (Deflationismus) kann dies folgendermaßen präzisiert werden: Um den Deflationismus zu widerlegen, müsste man einen Gebrauch des Wahrheitsprädikats aufdecken, der weder im Sinn der oben rekonstruierten Redundanzthesen als prinzipiell verzichtbar erwiesen werden kann noch der Generalisierung im Sinn der oben rekonstruierten Generalisierungsthesen dient und der darüber hinaus begrifflich-theoretische Explikationsarbeit leistet. Ein Beispiel für einen solchen Gebrauch wird im nächsten Abschnitt geliefert, eines zumal, nach dessen Vorbild zahllose weitere Beispiele formuliert werden können.
I.3.2
Ein Argument gegen den wahrheitstheoretischen Deflationismus
Der einzige Grund, den Deflationisten für ihre Behauptung anführen, dass das Wahrheitsprädikat in den erkenntnistheoretischen Aussagen (a) und 105
Williams 2002, S. 157.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
67
(b), in der bedeutungstheoretischen Aussage (c) und in der sprach- beziehungsweise diskurspragmatischen Norm (WNB) keine explanatorische, sondern ausschließlich eine generalisierende Funktion innehat, besteht in dem Hinweis auf die Tatsache, dass man die singulären Aussagen respektive Normen, die durch (a), (b), (c) und (WNB) zusammengefasst werden, formulieren kann, ohne dabei den Ausdruck ‚wahr‘ oder irgendeines seiner alltagssprachlichen Äquivalente zu gebrauchen. Begründet dieser Hinweis aber wirklich das, was er begründen soll? Den deflationistischen Deutungen von (a), (b) und (c) will ich hier weder widersprechen noch zustimmen. Die folgende Kritik bezieht sich allein auf die deflationistische Interpretation von (WNB) und (WNB’). Um Missverständnissen zuvorzukommen, müssen zunächst einige Aspekte dieser Interpretation herausgestellt werden, die ich nicht problematisieren will: Es trifft zu, dass man (WNB) und (WNB’) als schematische Generalisierungen von singulären Normen auffassen kann, die sich jeweils auf Behauptungen von individuellen Aussagen beziehen, und in denen der Ausdruck ‚wahr‘ nicht vorkommt – eben Normen des folgenden Typs: Behaupte nur dann, dass Pinguine tauchen können, wenn Pinguine tauchen können! Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass Pinguine tauchen können, wenn Pinguine tauchen können.106 Nennen wir singuläre Normen dieses Typs W¯-Normen. Es trifft ebenfalls zu, dass spezifische W¯-Normen denselben normativen Gehalt zum Ausdruck bringen wie ihre jeweiligen Gegenstücke, die mit Hilfe des Wahrheitsprädikats formuliert sind: Behaupte nur dann, dass P.t.k., wenn die Aussage, dass P.t.k., wahr ist! Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass P.t.k., wenn die Aussage, dass P.t.k., wahr ist. Nennen wir Normen dieses Typs W+-Normen. Zu jeder spezifischen W+Norm lässt sich eine äquivalente W¯-Norm formulieren. Insofern haben die Deflationisten Recht, wenn sie behaupten, dass man denselben normativen 106
Im Folgenden kürze ich den Beispielsatz ‚Pinguine können tauchen.‘ an einigen Stellen durch ‚P.k.t.‘ oder ‚P.t.k.‘ ab.
68
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Gehalt, den zum Beispiel die gerade formulierten W+-Normen zum Ausdruck bringen, auch zum Ausdruck bringen kann, ohne das Wort ‚wahr‘ zu verwenden. Ein guter Grund für die These, dass das Wahrheitsprädikat in (WNB) und (WNB’) einzig und allein die Funktion erfüllt, singuläre W¯Normen zu generalisieren, ergibt sich daraus aber nur dann, wenn auch der Sinn der individuellen W¯-Normen ohne Rekurs auf das Wahrheitsprädikat erläutert und verständlich gemacht werden kann. Letzteres ist aber, das zeigen die folgenden Überlegungen, nicht der Fall. Die Deflationisten übersehen, dass auch mit Bezug auf jede individuelle W¯-Norm legitimerweise eine Erläuterung verlangt und so zum Beispiel die folgende Frage gestellt werden kann: Warum soll man nur dann behaupten, dass Pinguine tauchen können, wenn Pinguine tauchen können? Anders gefragt: Warum ist es nur dann normativ korrekt, die Aussage zu behaupten, dass Pinguine tauchen können, wenn Pinguine tauchen können?107 Indem sie das Wahrheitsprädikat respektive den Ausdruck ‚wahr‘ funktional auf ein sprachliches Mittel zur Formulierung bestimmter Generalisierungen reduzieren und ihm dadurch jegliches begrifflich-explanatorische Potential absprechen, begeben die Deflationisten sich der Möglichkeit, auf diese Fragen die folgende, meines Erachtens ebenso einfache wie korrekte Antwort zu geben: (i) Weil die Aussage, dass Pinguine tauchen können, nur dann wahr ist, wenn Pinguine tauchen können. Diese Antwort steht den Deflationisten nicht zur Verfügung, weil der Kern ihrer Wahrheitskonzeption gerade darin bestehen soll, dass alle sinnvollen Verwendungen des Wahrheitsprädikats – genereller: des Ausdrucks ‚wahr‘ – in Bezug auf Aussagen oder Sätze entweder verzichtbar sind oder der Formulierung von Generalisierungen eines bestimmten Typs dienen. In Antwort (i) wird das Wahrheitsprädikat nun aber offensichtlich nicht zur 107
Diese Frage kann selbstverständlich in Bezug auf jede beliebige Aussage gestellt werden. Im Blick auf die disquotationalistische Variante des Deflationismus, die ‚ist wahr‘ als ein Prädikat von Sätzen behandelt, lässt sich die hier mit Bezug auf Aussagen gestellte Frage folgendermaßen reformulieren: Warum ist es nur dann normativ korrekt, den Satz ‚Pinguine können tauchen.‘ behauptungsförmig zu äußern, wenn Pinguine tauchen können? Auch diese Frage kann in Bezug auf jeden beliebigen deklarativen Satz gestellt werden.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
69
Formulierung einer Generalisierung verwendet, denn es ist nur von einer einzigen Aussage die Rede. Ist die Verwendung von ‚wahr‘ in Antwort (i) also im Sinne einer der deflationistischen Redundanzthesen verzichtbar? Einem Vertreter der These (Deflationismus) bleibt nichts anderes übrig, als genau dies zu behaupten. Er ist auf die These festgelegt, dass Antwort (i) mit der folgenden Aussage äquivalent ist: (ii) Weil Pinguine nur dann tauchen können, wenn Pinguine tauchen können. Hier aber stößt die deflationistische Strategie, alle Vorkommnisse von ‚ist wahr‘ entweder als verzichtbar wegzuerklären oder aber als Beispiele für den Gebrauch des Ausdrucks ‚wahr‘ in seiner generalisierenden Funktion zu entlarven, an ihre Grenzen. Denn (i) und (ii) sind keineswegs äquivalent: (i) liefert eine Antwort auf die Frage, warum es nur dann normativ korrekt ist zu behaupten, dass P.t.k., wenn P.t.k., (ii) dagegen liefert keine Antwort, sondern wiederholt und bekräftigt allenfalls, dass derjenige normative Zusammenhang, für den doch eigentlich eine Erklärung verlangt wird, tatsächlich besteht. Der Deflationist sagt: Es ist nur dann normativ korrekt zu behaupten, dass P.t.k., wenn P.t.k., weil Pinguine nur dann tauchen können, wenn P.t.k. Die Frage nach der Relevanz der Tautologie ‚Wenn P.t.k., dann P.t.k.‘ für den normativen Berechtigungsstatus von Behauptungen der Aussage, dass P.t.k., lässt er aber unbeantwortet. Antwort (i) mutet dem Wahrheitsbegriff eine spezifische Erklärungsleistung zu: Die Aussage, dass P.t.k., zu behaupten, ist nur dann normativ korrekt, wenn P.t.k., weil diese Aussage nur dann wahr ist, wenn P.t.k. ‚Wahrheit‘ wird in Antwort (i) als Konzept einer für den Berechtigungsstatus von Behauptungshandlungen normativ relevanten Gültigkeitseigenschaft von Aussagen ins Spiel gebracht. Für sich genommen liefert (i) freilich noch keine vollständige Erklärung dieser normativen Relevanz, denn es fehlt hier noch eine explizite Verdeutlichung des Zusammenhangs zwischen Behauptungshandlungen und Wahrheit. Dieser Zusammenhang wurde oben in den Abschnitten I.1 und I.2 mit Hilfe des diskurspragmatischen Konzepts des Wahrheitsanspruchs rekonstruiert. Die vollständige Erklärung, in der (i) beziehungsweise der Satz ‚Die Aussage, dass P.t.k., ist nur dann wahr, wenn P.t.k.‘ als eine Prämisse neben zwei weiteren vorkommt, kann folgendermaßen formuliert werden:
70
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
1
(1)
2
3 1
2
2, 3 1, 2, 3
Die Behauptung einer Aussage ist nur dann normativ korrekt, wenn der mit ihr erhobene Wahrheitsanspruch für die jeweils behauptete Aussage zu Recht erhoben wird. (2) Ein Wahrheitsanspruch wird für eine Aussage nur dann zu Recht erhoben, wenn diese Aussage wahr ist. (3) Die Aussage, dass P.t.k., ist nur dann wahr, wenn P.t.k.108 (4) Die Behauptung der Aussage, dass P.t.k., ist nur dann normativ korrekt, wenn der mit ihr erhobene Wahrheitsanspruch für diese Aussage zu Recht erhoben wird. (5) Ein Wahrheitsanspruch wird für die Aussage, dass P.t.k., nur dann zu Recht erhoben, wenn die Aussage, dass P.t.k., wahr ist. (6) Ein Wahrheitsanspruch wird für die Aussage, dass P.t.k., nur dann zu Recht erhoben, wenn P.t.k. (7) Die Behauptung der Aussage, dass P.t.k., ist nur dann normativ korrekt, wenn P.t.k.
Prämisse
Prämisse
Prämisse 1, ∀-Instantiierung
2, ∀-Instantiierung 5, 3, Transitivität 4, 6, Transitivität
Was hier mit Hilfe des Wahrheitsbegriffs erklärt wird, ist die Relevanz des Bestehens oder Nichtbestehens des Sachverhalts, dass P.t.k., für den normativen Status von Behauptungen der Aussage, dass P.t.k. Eine analoge Erklärung kann mit Bezug auf jede beliebige andere Aussage gegeben werden. Die Prämisse (3) ist, wie sich an den Dependenzziffern ablesen lässt, für den Schluss auf die Konklusion (7) unverzichtbar. Ich verwende den Ausdruck ‚Erklärung‘ hier im Anschluss an Williams und Horwich in einem weiten und nicht-technischen Sinn: Etwas zu erklären, heißt dementsprechend einfach, es auf rationale Weise verständlich, nachvollziehbar oder begreiflich zu machen. Die gerade gegebene Erklärung hat die Form eines deduktiven Arguments. Eine äquivalente Formulierung, in der die logischen Zusammenhänge möglicherweise noch etwas deutlicher werden, ist die folgende109: 108
109
Ebenso gilt: Eine hinreichende Bedingung für die Wahrheit der Aussage, dass P.t.k., besteht darin, dass P.t.k. Aber dies ist in unserem Zusammhang irrelevant. Zur Erläuterung: S ist eine Variable, deren Werte Sprecher sind, α ist eine Variable, deren Werte Aussagen respektive Propositionen sind, p ist eine Aussagenkonstante und stehe für die Aussage, dass Pinguine tauchen können, NKB steht für
71
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe 1
(1)
2
(2)
3
(3)
1
(4)
2
(5)
2, 3
(6)
1, 2, 3
(7)
∀S[∀α[NKBSα→RWASα]] Für alle Sprecher S und alle Aussagen α gilt: Wenn S auf normativ korrekte Weise behauptet, dass α, dann erhebt S zu Recht einen Wahrheitsanspruch für α. ∀S[∀α[RWASα→Wα]] Für alle Sprecher S und alle Aussagen α gilt: Wenn S zu Recht einen Wahrheitsanspruch für α erhebt, dann ist es wahr, dass α. Wp→p Wenn es wahr ist, dass P.t.k., dann P.t.k. ∀S[NKBSp→RWASp] Für alle Sprecher S gilt: Wenn S auf normativ korrekte Weise behauptet, dass P.t.k., dann erhebt S zu Recht einen Wahrheitsanspruch für die Aussage, dass P.t.k. ∀S[RWASp→Wp] Für alle Sprecher S gilt: Wenn S zu Recht einen Wahrheitsanspruch für die Aussage, dass P.t.k., erhebt, dann ist es wahr, dass P.t.k. ∀S[RWASp→p] Für alle Sprecher S gilt: Wenn S zu Recht einen Wahrheitsanspruch für die Aussage, dass P.t.k., erhebt, dann P.t.k. ∀S[NKBSp→p] Für alle Sprecher S gilt: Wenn S auf normativ korrekte Weise behauptet, dass P.t.k., dann können Pinguine tauchen.
Prämisse
Prämisse
Prämisse 1, ∀-Instantiierung
2, ∀-Instantiierung
5, 3, Transitivität
4, 6, Transitivität
Damit ist ein Beispiel für eine Verwendung des Wahrheitsprädikats geliefert, die weder im Sinn der deflationistischen Redundanzthesen als prinzipiell verzichtbar erwiesen werden kann noch der Generalisierung im Sinn der deflationistischen Generalisierungsthesen dient und die darüber hinaus begrifflich-theoretische Explikationsarbeit leistet. Die These (Deflationismus) ist somit widerlegt.
‚__behauptet auf normativ korrekte Weise, dass...‘, RWA steht für ‚__ erhebt zu Recht einen Wahrheitsanspruch für die Aussage, dass...‘, W steht für ‚es ist wahr, dass...‘.
72
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Die Pointe dieser Überlegungen kann noch einmal aus einem anderen Blickwinkel verdeutlicht werden, wenn man die folgende Frage stellt. Warum ist die Norm (a) Behaupte nur dann, dass P.t.k., wenn P.t.k.! eine gültige Norm für Behauptungen der Aussage, dass P.t.k., die Norm (b) Stelle nur dann die Frage, ob P.t.k., wenn P.t.k.! dagegen keine gültige Norm für das Stellen der Frage, ob P.t.k? Die sehr einfache Antwort kann im Rekurs auf das Konzept des Wahrheitsanspruchs gegeben werden. Norm (a) ist eine gültige Norm für das Behaupten der Aussage, dass P.t.k., weil Behauptungshandlungen konstitutiv mit dem Erheben eines Wahrheitsanspruchs für ihren jeweiligen propositionalen Gehalt einhergehen. Norm (b) ist keine gültige Norm für das Stellen der Frage, ob P.t.k., weil ein Sprecher, der eine derartige Satzfrage stellt, keinen Wahrheitsanspruch für den propositionalen Gehalt seiner Frage erhebt.110 Er will ja gerade wissen, ob der propositionale Gehalt seiner Frage wahr ist oder nicht. Im Gegensatz zu Behauptungen sind Satzfragen nicht mit dem Erheben eines Wahrheitsanspruchs für ihre jeweiligen propositionalen Gehalte verbunden, und dieser Umstand erklärt, weshalb (a) eine gültige Norm für Behauptungen der Aussage, dass P.t.k., ist, (b) dagegen keine gültige Norm für das Stellen der Frage, ob P.t.k.111 Der Wahrheitsbegriff ist im Rahmen der Erläuterung der pragmatischen Unterschiede, die zwischen dem Sprechakt des Behauptens und anderen Sprechakten, etwa dem Stellen einer Satzfrage, bestehen, als explanatorisches Konzept unverzichtbar. Die systematische Leerstelle, die sich für die philosophische Rekonstruktion der diskursiven Praxis ergibt, 110
111
Satzfragen sind Fragen, die auf sinnvolle Weise mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ beantwortet werden können. Zum Konzept der Satzfrage vgl. Frege 1993, S. 34 f. Das soll keineswegs besagen, dass mit dem Stellen einer Satzfrage überhaupt keine Wahrheitsansprüche erhoben werden. Satzfragen gehen mit Existenzpräsuppositionen einher. Wer die Frage stellt, ob P.t.k, präsupponiert zum Beispiel, dass es Pinguine gibt, und für diese Existenzpräsupposition erhebt er zumindest implizit einen Wahrheitsanspruch. Das ändert aber nichts daran, dass die Existenzpräsuppositionen einer Satzfrage nicht identisch sind mit dem propositionalen Gehalt dieser Frage, und daher spricht es nicht gegen die oben formulierte These, dass ein Sprecher, der eine Satzfrage stellt, für den propositionalen Gehalt dieser Frage keinen Wahrheitsanspruch erhebt.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
73
wenn man das Wahrheitsprädikat beziehungsweise, in Brandoms Fall, den Ausdruck ‚wahr‘ deflationistisch auf ein Instrument zur Formulierung von Generalisierungen reduziert, füllen die Deflationisten nicht aus.
I.4
Fallibilismus ohne Wahrheit?
Auch Richard Rorty will nachweisen, dass der Wahrheitsbegriff in der philosophischen Rekonstruktion der Zielsetzungen und der normativen Struktur der Forschungs- und Argumentationspraxis keine erklärende oder explizierende Rolle spielen kann. So behauptet er in dem Aufsatz „Is Truth a Goal of Inquiry?“, das Wahrheitsprädikat habe „no explanatory use, but merely a disquotational use, a commending use, and [...] a ‘cautionary’ use.“112 Ihrem Wortlaut nach unterscheidet sich diese These kaum von den deflationistischen Thesen, die im letzten Abschnitt diskutiert wurden; und mit seinem Hinweis auf die zitattilgende und die empfehlende Verwendung des Wahrheitsprädikats sowie der Behauptung, dass sich im Rekurs auf den Wahrheitsbegriff nichts erklären lässt, knüpft Rorty auch direkt an die Tradition des wahrheitstheoretischen Deflationismus an. Aber die Begründung, die er für seine Behauptung gibt, dass dem Wahrheitsbegriff in der philosophischen Rekonstruktion der Forschungs- und Argumentationspraxis keinerlei normative Explikationsfunktion zugemutet werden darf, läuft dem Grundanliegen des Deflationismus geradewegs entgegen: „There are [...] what Lacanians call impossible, indefinable, sublime objects of desire. […] On my view truth is just such an object. It is too sublime, so to speak, to be either recognized or aimed at.“113
Kein Deflationist käme auf die Idee, Wahrheit als etwas zu bezeichnen, das zu erhaben (‚sublime‘) ist, als dass wir es in unseren Erkenntnisbemühungen anstreben oder, wie Rorty sagt, anzielen könnten. Denn eine der zentralen Thesen des Deflationismus besteht gerade darin, dass es sich bei Wahrheit um etwas ganz und gar nicht Geheimnisvolles oder Unfassbares handelt. 112
113
Rorty 1998a, S. 21 f. Vgl. schon Rorty 1986, S. 334 f. Später hat Rorty den ‚warnenden‘ Gebrauch des Wahrheitsprädikats als den einzigen nur schwer verzichtbaren ausgezeichnet. Vgl. Rorty 2000a, S. 4. Darauf komme ich zurück. Rorty 2000a, S. 2.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
Normativ irrelevant für die diskursive Begründungspraxis und als erklärendes Konzept in ihrer Explikation fehl am Platz ist der Wahrheitsbegriff nach Rorty, weil das Streben nach wahren Meinungen, Theorien und Behauptungen dem Streben nach etwas gleichkomme, das selbst dann, wenn man es erreicht hätte, nicht als solches erkennbar wäre: „[Y]ou cannot aim at something, cannot work to get it, unless you can recognize it once you have got it“.114 Das Streben nach Wahrheit wäre nach Rorty nur dann sinnvoll, wenn es möglich wäre, Wahrheiten als solche zu erkennen. Wahrheit ist aber, so Rorty, „unrecognizable“115, und deshalb können sich Sprecher nicht sinnvoll um Wahrheit bemühen. Dieses Argument lässt sich präziser fassen, wenn man es als Einwand gegen die oben als gültig behauptete Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen formuliert: (WNB) Behaupte nur dann, dass p, wenn die Aussage p wahr ist! Wer Rortys Ansicht teilt, dass Wahrheit nichts darstellt, das man anstreben oder anzielen könnte, dem wird (WNB) als eine leere Norm erscheinen, die sich weder dazu eignet, die Behauptungen anderer zu bewerten, noch dazu, die eigenen Behauptungshandlungen zu orientieren: 1
(1)
2
(2)
1, 2
(3)
Sprecher können sich nur dann auf sinnvolle Weise um die Erfüllung der Norm (WNB) bemühen, wenn es ihnen möglich ist festzustellen, ob die Aussagen, die sie behaupten, wahr sind. In Bezug auf keine Aussage ist es möglich, festzustellen, ob sie wahr ist. Daher können sich Sprecher nicht auf sinnvolle Weise um die Erfüllung der Norm (WNB) bemühen.
Prämisse
Prämisse aus 1, 2 MT
Man muss nun nur noch eine weitere Prämisse ergänzen, um mit Rorty auf die Konklusion schließen zu können, dass (WNB) keine gültige Norm der Behauptungspraxis darstellt: 114
115
Rorty 2000a, S. 2. Dies ist derselbe Punkt, den Davidson mit seiner oben zitierten Bemerkung zum Ausdruck bringt, „that we will never be able to tell which of our beliefs are true“. Was ich oben über Davidsons Bemerkung gesagt habe, gilt insofern auch in Bezug auf Rortys These, Wahrheit sei eine unerkennbare (‚unrecognizable‘) Eigenschaft von Aussagen. Siehe oben, S. 21, Anm. 6. Rorty 2000a, S. 2: „One difference between truth and justification is that between the unrecognizable and the recognizable.“ Für eine Kritik dieser eigentümlich spekulativ metaphysischen These Rortys vgl. McDowell 2000.
75
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe 4
(4)
1, 2, 4
(5)
(WNB) ist nur dann eine gültige Norm der Behauptungspraxis, wenn es den an dieser Praxis Beteiligten möglich ist, sich in ihren Handlungen auf sinnvolle Weise um eine Erfüllung von (WNB) zu bemühen. Also ist die Norm (WNB) keine gültige Norm der Behauptungspraxis.
Prämisse
aus 3, 4 MT
Zu diesem Argument selbst hier nur drei knappe Anmerkungen: 1. Sein schwächster Punkt ist die in der zweiten Prämisse zum Ausdruck gebrachte These, dass Wahrheit immer und überall erkenntnistranszendent ist. Diese These werde ich in Kapitel V diskutieren. 2. Die erste Prämisse ist ebenfalls angreifbar: Ob es möglich ist, den Wahrheitswert einer problematisierten Aussage festzustellen oder nicht, das zeigt sich oftmals erst im Verlauf eines Versuchs, ihn festzustellen. So kann es durchaus das Ergebnis eines solchen Bemühens sein, dass die Beteiligten zu der begründeten und wahren Einschätzung gelangen, dass es ihnen unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich ist, festzustellen, ob p. Ein solches Ergebnis macht das ihm vorausgehende Bemühen aber nicht sinnlos. Insofern ist auch die erste Prämisse problematisch. 3. Die dritte Prämisse (in Zeile 4) ist eine Instanz eines gültigen generellen Prinzips, das schematisch so formuliert werden kann: Eine Norm N ist nur dann gültig für eine Praxis P, wenn es den an P Beteiligten möglich ist, sich in ihren Handlungen auf sinnvolle Weise um eine Erfüllung von N zu bemühen. Ausführlicher diskutiere ich nun den Schritt in Rortys Überlegungen, der auf das dargestellte Argument folgt: Nachdem Rorty den Wahrheitsbegriff als normativ relevantes Konzept verabschiedet hat, macht er die These geltend, dass mit dieser Verabschiedung für die philosophische Rekonstruktion der diskursiven Behauptungspraxis keinerlei Verlust verbunden sei. Wenn es um die Bestimmung dessen gehe, was Behauptende auf sinnvolle Weise anstreben und worum sie sich in ihren Behauptungshandlungen sinnvollerweise bemühen können, lasse sich nämlich alles Wesentliche mit Hilfe des Begründungsbegriffs sagen: „[W]hat philosophers have described as the universal desire for truth is better described as the universal desire for justification.“116 Im Gegensatz zu Wahrheit sei Begründung 116
Rorty 2000a, S. 2.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
zwar nicht erhaben (‚sublime‘), sondern ‚bloß schön‘, habe aber den großen Vorteil, erkennbar zu sein: „Justification is merely beautiful, but it is recognizable, and therefore capable of being systematically worked for.“117 Im Blick auf die oben formulierten Normen für Behauptungshandlungen interpretiert, schlägt Rorty also vor, die Norm (WNB) ersatzlos zu streichen und zur Explikation der Behauptungspraxis ausschließlich die Begründungsnorm (BNB) respektive ihr deklaratives Äquivalent (BNB’) zu verwenden: (BNB) Behaupte nur dann, dass p, wenn du die Aussage p begründen kannst! (BNB’) Die Behauptung, dass p, eines beliebigen Sprechers S ist nur dann normativ korrekt, wenn S die Aussage p begründen kann. Die Bezugnahme auf eine Wahrheitsnorm wie (WNB) in der Rekonstruktion der Behauptungspraxis hält Rorty somit für überflüssig: „[I]f something makes no difference to practice, it should make no difference to philosophy. […] I cannot bypass justification and confine my attention to truth: assessment of truth and assessment of justification are, when the question is 118 about what I should believe now, the same activity.“
Dabei kann er sich prima facie auf die Tatsache berufen, dass die normativen Gehalte der beiden folgenden Forderungen, bezogen auf lokale Begründungskontexte, identisch sind:119 (a) Prüfe, ob die Aussage p wahr ist! (b) Prüfe, ob die Aussage p überzeugend begründet werden kann! 117 118
119
Rorty 2000a, S. 2. Rorty 1998a, S. 19. Rorty muss diesen Befund freilich auf solche Kontexte einschränken, in denen es darum geht, was ich jetzt glauben soll (vgl. ebd., S. 19, Fn. 1). Denn retrospektiv kann ‚ich‘ durchaus zu der Einschätzung gelangen, dass der propositionale Gehalt einer bestimmten begründeten Überzeugung, die ‚ich‘ in der Vergangenheit hatte, falsch ist und daher auch damals schon falsch war. Rorty meint, dass nur über lokale Begründungskontexte sinnvoll gesprochen werden kann. Eine philosophische Reflexionsperspektive, die es erlauben würde, normative Strukturen aufzudecken und zu thematisieren, die allen Begründungskontexten zugrundeliegen, würde uns nicht zur Verfügung stehen. Vgl. Rorty 1998a, S. 19, Anm. 2.
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Was eine Person S als Adressatin von (a) nur tun kann, um der an sie gerichteten Aufforderung nachzukommen, unterscheidet sich nicht von dem, was sie als Adressatin von (b) tun kann: Gründe für und gegen die Aussage p suchen, erwägen und prüfen. Dies gilt selbst in Fällen einfacher Beobachtungsaussagen, in denen die beste Weise des Begründens oftmals darin besteht, zu sagen: ‚Sieh doch hin – und überzeuge dich selbst!‘ Nehmen wir einmal an, S liefere als Adressatin von (a) eine intersubjektiv überzeugende Begründung der Aussage p oder auch einen intersubjektiv überzeugenden Einwand gegen diese Aussage. Es wäre dann offenbar wenig sinnvoll, S vorzuwerfen: ‚Du hast zwar eine überzeugende Begründung für (einen überzeugenden Einwand gegen) die Aussage p geliefert, aber eigentlich solltest du doch prüfen, ob es wahr ist, dass p, und was diese Frage angeht, hilft uns deine Begründung (dein Einwand) nicht weiter.‘ Die möglichen Handlungsweisen, die wir als Erfüllung der Forderung (a) in einer gegebenen Situation S zählen würden, unterscheiden sich nicht von den möglichen Handlungsweisen, die wir als Erfüllung der Forderung (b) in S zählen würden. Überlegungen dieser Art zeigen nach Rorty, dass es für den Berechtigungsstatus der Behauptung einer gegebenen Aussage p unerheblich ist, ob es wahr ist, dass p. Dass manche Aussagen die Eigenschaft der Wahrheit haben und manche nicht, will Rorty dabei keineswegs bestreiten.120 Bestreiten will er vielmehr, dass die Wahrheit oder Falschheit einer gegebenen Aussage p mit darüber entscheidet, ob Behauptungen von p in normativer Hinsicht korrekt oder inkorrekt sind: „[T]he rightness or wrongness of what we say is just for a time and a place. […] I cannot give any content to the idea of nonlocal correctness of assertion. If we shift from correctness and warrant to truth, then I suppose we might say, noncontroversially if pointlessly, that the truth of what we say is not just for a time or place. But that high-minded platitude is absolutely barren of consequences, either for our standards of warranted assertibility or for any other aspect of our practices.“121
Den Berechtigungsstatus (‚correctness‘) einer gegebenen Behauptung sieht Rorty in den Grenzen des jeweiligen Kontextes, in dem sie aufgestellt und von den Beteiligten als berechtigt oder unberechtigt bewertet wird, restlos 120 121
Vgl. etwa Rorty 2000b, S. 57. Rorty 1998b, S. 60. Hervorhebung getilgt.
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bestimmt. Zu dem Kontext des Aufstellens und Bewertens einer Behauptung zählt er denjenigen, der die jeweils thematische Behauptung B aufstellt – mitsamt seinen weiteren Meinungen und Überzeugungen –, sowie diejenigen, an die B aktual adressiert ist – mitsamt ihren Meinungen und Überzeugungen. Die Wahrheit oder Unwahrheit einer behaupteten Aussage dagegen sei kontextunabhängig, das heißt, unabhängig von den Meinungen derer, die Teil des Kontextes der jeweiligen Behauptungshandlung sind. Aus diesen beiden Thesen zieht Rorty konsequenterweise den Schluss, dass die Begriffe der Begründung und der Wahrheit nichts miteinander zu tun haben: „Nichts verbindet die beiden Konzepte.“122 Er schreibt Sprechern daher auch keine kontexttranszendierenden Wahrheitsansprüche, sondern nur noch Begründbarkeitsansprüche gegenüber den jeweiligen Kommunikationspartnern in einem gegebenen Kontext zu. Begründung versteht Rorty dabei als „sociological matter“123 und ‚Begründung‘ als einen Ausdruck, der letztlich nur deskriptiv, nicht aber normativ verwendet werden sollte.124 Ob das, was ein Sprecher S zur Begründung der von ihm behaupteten Aussage p und damit zur Rechtfertigung seiner entsprechenden Behauptungshandlung anführt, eine gute Begründung darstellt oder nicht, das hängt nach Rorty allein von der „reception of S’s statement by his peers“125 ab. Wird S’ Behauptung auf der Basis der von S gegebenen Gründe de facto anerkannt, dann ist sie begründet. Wird sie nicht anerkannt, dann ist sie unbegründet.126 Die Unhaltbarkeit dieser strikten Trennung von Wahrheit und Begründung wird aber dort deutlich, wo Rorty mit Hilfe seiner Rede von einem ‚warnenden Gebrauch‘ (‚cautionary use‘) des Wahrheitsprädikats den fallibilistischen Gedanken zu retten versucht, dass Behauptungen fehlbar, Begründungen revidierbar sowie Argumentationen prinzipiell offen und fortsetzbar sind. Diese Rettung kann ihm, wie ich nun zeigen will, vor dem 122 123 124
125 126
Rorty 1994, S. 977. Rorty 1998b, S. 50. Vgl. dazu Rortys deskriptivistische Deutung (Rorty 1998b, S. 49 f.) der folgenden normativen These von Putnam: „In ordinary circumstances, there is usually a fact of the matter as to whether the statements people make are warranted or not.“ (Putnam 1990a, S. 21.) Rorty 1998b, S. 50. Vgl. dazu bes. Rorty 1998b, S. 49-51.
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Hintergrund seines ‚soziologischen‘ Begriffs von Begründung und seines strikt auf partikulare Kontexte bezogenen Konzepts der normativen Korrektheit von Behauptungshandlungen nicht gelingen. Den ‚cautionary use‘ führt Rorty folgendermaßen ein: „There are many uses for the word ‘true,’ but the only one which could not be eliminated from our linguistic practice with relative ease is the cautionary use. That is the use we make of the word when we contrast justification and truth, and say that a belief may be justified but not true. […] [T]he point of contrasting truth and justification is simply to remind oneself that there may be objections […] which have not yet occurred to anyone.“127
Wenn das Warnende am ‚cautionary use‘ in dem Hinweis liegen soll, dass es Einwände (‚objections‘) geben könnte, die hier und jetzt nicht bekannt sind, dann hängt für Rortys These, dass wir den Wahrheitsbegriff in der Rekonstruktion der normativen Struktur unserer Behauptungspraxis nicht brauchen, offenbar alles von einer Explikation des Ausdrucks ‚Einwand‘ ab, in welcher der Wahrheitsbegriff und damit die Idee einer ‚non-local correctness of assertion‘ nicht wiederum implizit ins Spiel gebracht werden. Rortys ‚soziologische‘ Deutung des Begründungsbegriffs im Sinne faktischer Konsensfähigkeit in einem partikularen Kontext erfüllt zwar diese Bedingung, aber die Warnung, die in dem Hinweis auf noch nicht bekannte Einwände liegen soll, kann mit ihrer Hilfe nicht einsichtig gemacht werden. Sprecher, die im Blick auf ihre Behauptungen nur an der faktischen Zustimmung der jeweils Anwesenden interessiert sind, haben offenbar keinen Grund, den Hinweis auf hier und jetzt nicht bekannte Einwände als Warnung zu verstehen. Es liegt natürlich nahe, den warnenden Gebrauch von ‚wahr‘ mit Rortys Anerkennung von Putnams These in Verbindung zu bringen, dass Wahrheit unverlierbar und stabil ist.128 Die Warnung könnte dann im Sinne 127
128
Rorty 2000a, S. 4. Seltsam an dieser Stelle ist die Tatsache, dass Rorty den Sinn des warnenden Gebrauchs von ‚wahr‘, desjenigen Gebrauchs also, den er einige Zeilen zuvor als den einzigen herausgestellt hat, der aus unserer Sprachpraxis nicht ohne weiteres ‚eliminiert‘ werden könnte, hier wiederum in Begriffen von Begründbarkeit erläutert und damit gerade das in wenigen Worten vorzuführen scheint, was er zuvor als äußerst schwieriges Unternehmen charakterisiert hat. Vgl. dazu Lafont 1994, S. 1013 f. Vgl. Rorty 2000b, S. 57.
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des fallibilistischen Vorbehalts verstanden werden, dass die hier und jetzt verfügbaren Gründe für p zwar überzeugend sind, uns aber keine epistemische Garantie dafür liefern, dass die Aussage p wahr ist. Diese Lesart scheidet jedoch aus dem offensichtlichen Grund aus, dass sie jene normative Relevanz des Wahrheitsbegriffs für die Begründungspraxis wieder ins Spiel bringt, die Rorty gerade bestreiten will. Wer keinen Wahrheitsanspruch erhebt und Gründe nicht als Medium der Einlösung dieses Anspruchs versteht, der kann auch nicht davor gewarnt werden, dass eine von ihm behauptete Aussage trotz ihrer faktisch überzeugenden Begründung falsch sein könnte, also davor, dass er den von ihm nicht erhobenen Wahrheitsanspruch – um es angemessen paradox auszudrücken – möglicherweise zu Unrecht erhoben hat. Der ‚warnende Gebrauch‘ des Wahrheitsprädikats „in such remarks as ‘Your belief that S is perfectly justified, but perhaps not true’“129 kann die Signifikanz, die Rorty ihm zuerkennen will, nur aus einer unterstellten Differenz zwischen dem Wahrsein und dem Begründetsein von Aussagen beziehen. Zugleich muss Rorty hier aber auch die Unterstellung ins Spiel bringen, dass zwischen Begründung und Wahrheit ein relevanter normativer Zusammenhang besteht. Denn der Hinweis darauf, dass eine gegebene Aussage p, die auf der Basis faktisch überzeugender Gründe g1, ..., gn anerkannt wird, nicht wahr sein könnte, ist nur dann als Warnung verstehbar, wenn man annimmt, dass seine Adressaten p auf der Basis von g1, ..., gn anerkennen, weil sie g1, ..., gn als Gründe bewerten, die für die Wahrheit von p sprechen. Ohne diese Unterstellungen wäre nicht ersichtlich, worin die Warnung im ‚cautionary use‘ des Wahrheitsprädikats bestehen sollte. Der Hinweis darauf, dass eine Aussage, die hier und jetzt de facto überzeugend begründet ist, dennoch nicht wahr sein könnte, wäre dann vergleichbar mit dem Hinweis, dass diese Aussage zwar hier und jetzt begründet ist, aber vor 1903 von niemandem behauptet wurde.130 129 130
Rorty 1986, S. 325. Auf denselben Punkt weist Davidson hin: „When Rorty speaks of the ‘cautionary’ use of the concept of truth, I take him to mean that it is often useful to remind people that being justified isn’t necessarily being right. Is it obvious, then, that there is no sense in which the distinction matters to practice? Why remind someone of a distinction if it doesn’t matter?“ (Davidson 1999b, S. 18.)
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Die fallibilistischen Ideen der Fehlbarkeit und Korrigierbarkeit von Behauptungen sowie der Offenheit und Fortsetzbarkeit von Argumentationen setzen den Wahrheitsbegriff als normatives Konzept einer ‚non-local correctness of assertion‘ voraus. Denn die Rede von Korrektur und rationaler Revision hat nur dann einen klaren Sinn, wenn die Möglichkeit verständlich gemacht werden kann, dass Argumentierende, welche die Aussage p in einem Kontext A faktisch überzeugend begründen, ihrem eigenen argumentativen Anspruch nicht gerecht werden, obwohl sie p faktisch überzeugend begründen. Nur wenn der Gültigkeitsanspruch von Behauptungen sich nicht in einem Anspruch auf Begründbarkeit-in-A erschöpft, sind spätere Revisionen in einer Argumentation B, also Rückzüge wie ‚Wir haben uns in A geirrt, obwohl wir p damals überzeugend begründen konnten‘, überhaupt als Revisionen verstehbar. Würden jeweils nur lokale, auf den aktuellen Redekontext beschränkte Begründungsansprüche erhoben, dann ginge es in A und B um zwei verschiedene Fragestellungen: ‚Ist es begründbar-in-A, dass p?‘ und ‚Ist es begründbar-in-B, dass p?‘. Die thematische Kontinuität, die es erlaubt, B als eine Fortsetzung von A zu verstehen, wird unter anderem durch die Unterstellung gewährleistet, dass der Wahrheitswert der Aussage p über alle Veränderungen ihres Begründungsstatus hinweg sowie in allen temporal oder lokal getrennten Kontexten ihrer Thematisierung konstant bleibt, so dass es in A und B um dieselbe Frage gehen kann: ‚Ist es wahr, dass p?’ In genau diesem Sinn muss auch Rorty die normative Relevanz des Wahrheitsbegriffs für die diskursive Behauptungspraxis voraussetzen, wenn er den warnenden Gebrauch des Wahrheitsprädikats als „gesture toward an unpredictable future“131 charakterisiert, also als Hinweis auf die Möglichkeit, dass in der Zukunft triftige Einwände gegen hier und jetzt überzeugend begründete Aussagen oder Meinungen geltend gemacht werden könnten. Ohne die Unterstellung, dass es uns in Argumentationen nicht bloß um begründete, sondern zugleich um wahre Resultate geht, bliebe diese Geste leer.
131
Rorty 2000a, S. 4.
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I.5
Gründe haben, geben, zuschreiben und bewerten
Albrecht Wellmer hat eine Explikation des normativen Zusammenhangs zwischen Begründung und Wahrheit vorgeschlagen, die genau dort ansetzt, wo deflationistische Versuche, diesen Zusammenhang zu trivialisieren, enden: „Zu begründen, daß p, ist dasselbe wie zu begründen, daß ‚p‘ wahr ist.“132 Deflationisten der minimalistischen und der disquotationalistischen Spielart verstehen diese These als triviale Folge der Gültigkeit des sententialen Zitattilgungsschemas (DS) oder des analogen propositionalen Äquivalenzschemas (ÄS). Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Begründung und Wahrheit und ebenso die zum Beispiel von Habermas aufgeworfene Frage nach der Berechtigung, mit der wir in aktualen Begründungsbemühungen performativ unterstellen, „daß eine nach unseren Maßstäben erfolgreiche Rechtfertigung von ‚p‘ für die Wahrheit von ‚p‘ spricht“133, würden insofern kein ernsthaftes Problem aufwerfen. Um sie zu beantworten, genüge ein Hinweis auf die sprachliche Funktionsweise des Wahrheitsprädikats, deren wesentliche Aspekte durch (DS) beziehungsweise (ÄS) vollständig transparent gemacht würden. Michael Williams deutet diese Überlegung an: „There are of course trivial connections between justification and truth […]. For example, to justify a claim that p is automatically to justify a claim that ‘p’ is true. This much is guaranteed by the ‘equivalence thesis,’ that any proposition p is logically equivalent to the proposition that it is true that p.“134 132
133 134
Wellmer 2003, S. 156. Wellmer hat seine Thesen zu Wahrheit und Begründung im Kontext einer Kritik an Apels, Putnams und Habermas’ Rekurs auf epistemische Idealisierungen in der Erläuterung des Wahrheitsbegriffs entwickelt. Die Kerngedanken dieser Kritik finden sich schon im zweiten Kapitel von „Ethik und Dialog“ (Wellmer 1986). Vgl. auch Wellmer 1992, 1993a, 2003 und 2004, S. 212-243. Im Folgenden diskutiere ich Wellmers Thesen unabhängig von diesem Entstehungszusammenhang. Auf seine Kritik an Apels wahrheitstheoretischer Verwendung der regulativen Idee eines Konsenses der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft komme ich in Kapitel VI zurück. Habermas 1999c, S. 288. Williams 1996, S. 230. Proponenten der Zitattilgungstheorie könnten hier eine analoge Erläuterung im Rekurs auf das sententiale Disquotationsschema (DS) geben: Jede Begründung des Satzes ‚p‘ ist zugleich eine Begründung des Satzes ‚‚p‘ ist wahr’ und umgekehrt.
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Wellmer dagegen interpretiert die These, dass jede Begründung einer gegebenen Aussage p zugleich eine Begründung der Aussage darstellt, dass es wahr ist, dass p, nicht als eine triviale Folge von (DS) und (ÄS), sondern als eine sprachpragmatische Erläuterung, ohne die man (DS) und (ÄS) letztlich gar nicht verstehen könne: „Daß eine Behauptung, daß p, zu rechtfertigen heißt, sie als wahr zu rechtfertigen, ist die sprachpragmatische Erläuterung der angeblich bloß semantischen Äquivalenz ‚p‘ ist wahr = p.“135
Diese Erläuterung macht nach Wellmer den „Ort“ deutlich, den die Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ „in unserer Redepraxis haben“136. Ein Sprecher, der zum Beispiel die Aussage (a) Es ist wahr, dass Pinguine Vögel sind. behauptet, geht alle und nur diejenigen Begründungsverpflichtungen ein, die er auch einginge, wenn er die folgende Aussage behaupten würde: (b) Pinguine sind Vögel. Im Rekurs auf das Konzept des Wahrheitsanspruchs, das auch Wellmer verwendet137, kann dafür eine einfache Erklärung gegeben werden: Die Behauptung von (a) zieht dieselben Begründungsverpflichtungen nach sich wie die Behauptung von (b), weil Behauptungshandlungen intern mit dem Erheben von Wahrheitsansprüchen verbunden sind. Sie unterscheidet sich von der Behauptung von (b) allein dadurch, dass in ihr der Wahrheitsanspruch auf der Ebene des behaupteten propositionalen Gehalts selbst explizit gemacht wird. Der nächste Schritt von Wellmers Erläuterung des Zusammenhangs zwischen Wahrheit und Begründung besteht aus zwei ohne Zweifel korrekten Hinweisen: Zunächst stellt er heraus, dass verschiedene Sprecher in ihren Bewertungen der Güte, Überzeugungskraft oder Stichhaltigkeit von Gründen für eine gegebene Aussage divergieren können: „Dem anderen Gründe zuzuschreiben heißt nicht notwendigerweise, die Gründe als stichhaltig anzuerkennen.“138 Dieser Hinweis lässt sich am besten erläutern, in135
136 137 138
Wellmer 2000, S. 263, und Wellmer 2003, S. 156. Siehe auch Wellmer 2004, S. 216-218. Wellmer 2004, S. 221. Vgl. zum Beispiel Wellmer 1993a und Wellmer 2004, S. 212-277. Wellmer 2003, S. 157.
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dem man ein ‚generelles‘ Personalpronomen ‚ich‘ zur Kennzeichnung einer beliebigen ersten Person Singular verwendet: Ich kann einem anderen Sprecher Gründe für seine Meinung, dass p, zuschreiben und diese Gründe als für ihn überzeugend charakterisieren, ohne dass ich seine Gründe überzeugend finden und seine Meinung, dass p, daher als wahr anerkennen müsste. Mit anderen Worten: Ich kann die Meinungen anderer als aus ihrer Perspektive begründet verstehen und nachvollziehen, ohne sie als wahr zu bewerten und damit auch zu meinen Meinungen zu machen. Wellmers zweiter Hinweis betrifft nicht die Situation, in der eine erste Person einer anderen begründete Überzeugungen zuschreibt, sondern das Haben solcher Überzeugungen, also die „Perspektive einer ersten Person auf sich selbst“139. Im reflexiven Verhältnis zu meinen eigenen Überzeugungen kann ich zwischen den Antworten auf die Frage nach Begründung einerseits und Wahrheit andererseits nicht auf dieselbe Weise differenzieren wie im Blick auf die Überzeugungen anderer: „Meine Gründe – was immer ich als gute Gründe annehme – sind eo ipso gute Gründe (das ist eine Bemerkung zur Grammatik von ‚guter Grund‘); das soll heißen: Für mich sind die begründeten Überzeugungen notwendigerweise die wahren Überzeugungen. Mit Bezug auf jeden anderen sind dagegen Begründungen nicht notwendigerweise stichhaltig und entsprechende Überzeugungen nicht notwendigerweise wahr.“140
Damit will Wellmer natürlich nicht behaupten, wir wären im Blick auf unsere je eigenen Überzeugungen auf einen naiven und unreflektierten Infallibilismus festgelegt: „Das soll nicht heißen, daß ich mich aus dem Bereich fehlbarer Wesen ausschließe, denn gleiches gilt für jeden anderen Sprecher in der Ich-Perspektive. Daß meine Gründe eo ipso gute Gründe, daß meine begründeten Überzeugungen notwendigerweise wahre Überzeugungen sind, soll nur heißen, daß, was mir als zwingender Grund einleuchtet, eben deshalb für mich ein zwingender Grund ist. Ich kann mich nicht außerhalb meiner Überzeugungen, Gründe und Evidenzen aufstellen; wenn ich zweifle, so heißt das nur, daß ich mich von den (mir verfügbaren) Gründen eben nicht gezwungen fühle, daß sie für mich (noch) keine zwingenden Gründe sind.“141
139 140 141
Wellmer 2004, S. 246. Wellmer 2003, S. 157. Wellmer 2003, S. 157 f.
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Wenn ich Gründe für eine gegebene Aussage p habe und diese Gründe mich überzeugen, dann halte ich die Aussage p für wahr, das heißt, ich bin aus den von mir als stichhaltig bewerteten Gründen davon überzeugt, dass (es wahr ist, dass) p.142 Diese letztlich analytischen Hinweise auf begriffliche Zusammenhänge zwischen ‚Wahrheit‘, ‚Begründung‘ und ‚Überzeugung‘, deren Pointe sich übrigens schon in Peirces Aufsatz „How to make our Ideas Clear“ findet143, fasst Wellmer in den folgenden Thesen zusammen: „Wahrheit und Rechtfertigung fallen mit Bezug auf den Vollzug von Urteilen und Begründungen zusammen, aber nicht mit Bezug auf die Zuschreibung von Urteilen und Begründungen an andere. In dieser ‚grammatischen‘ Differenz ist sowohl die Normativität und Transsubjektivität der Wahrheit als auch das ‚Streitige‘ der Wahrheit beschlossen.“144
Wellmers Ausführungen zu Wahrheit und Begründung enthalten sowohl Erhellendes wie auch Problematisches. Problematisch ist vor allem die durch Wellmers Erläuterungen nahegelegte und von ihm dann auch explizit formulierte These, dass der „Begriff eines ‚guten Grundes‘ [...] in einer irreduziblen Weise an die Perspektive dessen gebunden [ist], der von guten Gründen ‚gezwungen‘ ist“145 – an die Perspektive der ersten Person Singular also. Es trifft zwar zu, dass ‚mir‘ letztlich niemand die Bewertung oder Anerkennung von Gründen für problematisierte Aussagen als gut und stichhaltig abnehmen kann, und genauso wenig kann ‚ich‘ sie einem anderen abnehmen. Das gilt selbst dort, wo wir argumentative Diskurse führen, in denen wir unterstellen, dass nichts anderes als der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes“146 zum Zug kommt. Die Bewertung von Gründen als gut ist, mit anderen Worten, eine Handlung, die ‚ich‘ jeweils ‚selbst‘ durchzuführen und zu verantworten habe. Dies kann ‚ich‘ aber einräumen, ohne ‚mich‘ damit auf die These festzulegen, dass der Be142
143
144 145 146
Das ist derselbe Punkt, auf den Rorty mit seiner oben zitierten These hinauswill, dass „assessment of truth and assessment of justification are, when the question is about what I should believe now, the same activity.“ (Rorty 1998a, S. 19.) Vgl. Peirce 1931-1938, 5.375: „[W]e think each one of our beliefs to be true, and, indeed, it is mere tautology to say so.“ Wellmer 2003, S. 169. Wellmer 2003, S. 159, Hervorhebung B.R. Habermas 1984a, S. 161.
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griff des guten Grundes in irgendeinem interessanten Sinn davon abhängt, was ‚ich‘ jeweils als einen guten Grund bewerte und welche Gründe ‚mich‘, wie Wellmer formuliert, zwingen. Wellmer entwickelt seine perspektivische Erläuterung der Differenz und des Zusammenhangs zwischen Wahrheit und Begründung im Blick auf genau zwei Situationstypen: die Konstellation des Zuschreibens von begründeten Überzeugungen an andere Sprecher zum einen und die Situation des Habens von begründeten Überzeugungen sowie des Vollzugs von Urteilen auf der Basis von Gründen zum anderen. In Konstellationen des ersten Typs ist die Rede sowohl von ‚begründeten-aber-falschen‘ als auch von ‚begründeten-aber-für-mich-nicht-überzeugend-begründeten Meinungen‘ sinnvoll und verstehbar. In Konstellationen des zweiten Typs ist diese Rede, wie Wellmer zeigt, dagegen nicht – oder nicht in derselben Weise – sinnvoll und verstehbar.147 Wellmers Erläuterung lässt sich präzisieren, wenn man berücksichtigt, dass der Ausdruck ‚begründet‘ in diesen beiden Konstellationen einen jeweils unterschiedlichen normativen Sinn hat. Durch diese Präzisierung wird aber zugleich deutlich, dass der von Wellmer angenommene irreduzible Zusammenhang zwischen der Perspektive der ersten Person Singular und dem Begriff des guten Grundes nicht besteht. Die hier erforderlichen Unterscheidungen sollen im Folgenden herausgearbeitet werden.148 Anderen Gründe für ihre Meinungen, Überzeugungen und Handlungen zuzuschreiben oder abzusprechen, bedeutet zwar immer, normativ Stellung zu nehmen, aber der Sinn der Bewertung, die hier jeweils im Spiel ist, variiert mit den verschiedenen Kontexten, innerhalb derer das Zu- und Absprechen von begründeten Meinungen vorkommen kann. Diese Sinnvariationen bewegen sich in einem Spektrum, an dessen einem Ende die Zuschreibung von Gründen an andere mit der Anerkennung dieser Gründe als überzeugend einhergeht, also auch mit der Anerkennung dessen, was diese Gründe jeweils begründen sollen, und an dessen anderem Ende die Zuschreibung von Gründen an andere bloß auf die Unterstellung hinausläuft, dass eine notwendige Bedingung für die Verstehbarkeit dieser anderen als Träger von propositional gehaltvollen Meinungen und als Sprecher einer 147 148
Auf die Qualifizierung komme ich zurück. Dabei knüpfe ich an Überlegungen aus Rähme 2002 an.
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Sprache erfüllt ist. Das erste Extrem kennzeichne ich als maximal wertende Zuschreibung von Gründen, das zweite als minimal wertende und alles, was dazwischen liegt, als medial wertende.149 Um sperrige Formulierungen zu vermeiden, verwende ich im Weiteren auch die Ausdrücke ‚maximale‘, ‚mediale‘ und ‚minimale Zuschreibung von Gründen‘. Die mit maximal wertenden Zuschreibungen von Gründen verbundene normative Stellungnahme bezieht sich auf die epistemische Qualität der zugeschriebenen Gründe und damit auf den Gültigkeitsstatus dessen, was die zugeschriebenen Gründe begründen sollen. Indem ein Sprecher R in diesem Sinn behauptet, dass eine andere Person S für ihre Meinung, dass p, Gründe hat, erkennt er die zugeschriebenen Gründe zugleich als solche an, die tatsächlich erweisen, dass es wahr ist, dass p, und die daher nicht allein S, sondern auch ihn selbst und jeden anderen, der sich die Frage stellt, ob es der Fall ist, dass p, epistemisch zur Festlegung auf die Meinung, dass p, berechtigen würden. Indem man einer Person Gründe für ihre Meinung, dass p, im maximalen Sinn zuschreibt, bewertet man die zugeschriebenen Gründe – mit Wellmer gesprochen – als stichhaltig und bringt damit Zustimmung oder Übereinstimmung zum Ausdruck. Die maximale Zuschreibung von Gründen geht auf Seiten des Zuschreibenden insofern auch mit der Unterstellung einher, dass die Perspektive derjenigen Person, der die Gründe zugeschrieben werden, eine der jeweiligen Sache angemessene Perspektive ist, das heißt, dass sie ihre Gründe zu Recht als gut und stichhaltig behandelt. Die Anerkennung der Gültigkeit dessen, was die zugeschriebenen Gründe begründen sollen, ist hier also schon mit der Zuschreibung selbst verbunden. Wenn R dagegen der Ansicht ist, dass das, worauf S ihre Meinung, dass p, stützt, keine guten beziehungsweise keine überzeugenden Gründe sind, dann wird er ihr das Haben von Gründen im maximal wertenden Sinn absprechen. Hier sind verschiedene Fälle möglich: Entweder R bestreitet geradehin, dass die von S angeführten Gründe für ihre Meinung, dass p, wirklich Gründe für p sind – etwa weil er über Einwände verfügt, die nach seiner Einschätzung die Falschheit von p erweisen, oder weil er zwar selbst der Überzeugung ist, dass p, zugleich aber seine ‚eigenen‘ Gründe als die 149
Den Verlegenheitsausdruck ‚medial‘ verwende ich hier also im Sinne von ‚zwischen dem Maximum und dem Minimum liegend‘.
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eigentlich richtigen bewertet. Oder R erkennt an, dass S’ Gründe zwar für die Wahrheit von p sprechen, behauptet aber zugleich, dass sie für sich genommen zu schwach sind, um eine vorbehaltlose Anerkennung von p zu rechtfertigen. In diesem Fall wird eingeräumt, dass S’ Gründe zwar Bestandteil einer überzeugenden Begründung für p sein könnten, aber bestritten, dass sie selbst schon eine solche Begründung darstellen. Mit dem maximal wertenden Absprechen von Gründen ist nicht schon ein Absprechen von Gründen im medial wertenden Sinn verbunden. R kann durchaus weiterhin behaupten, dass S für ihre Meinung Gründe hat. Aber mit der Zuschreibung von Gründen in diesem Sinn ist dann offenbar etwas anderes gemeint als eine zustimmende Stellungnahme im Blick auf den Gültigkeitsstatus des propositionalen Gehalts von S’ Meinung. Hier verschiebt sich der Bezugsrahmen der Wertung von der Frage, ob S’ Meinung wahr ist, auf die Frage, ob S’ Meinung – gegeben S’ aktuelle epistemische Situation, ihren Informationsstand, ihre raum-zeitliche Position usw. – epistemisch rational ist. Die mit medialen Zuschreibungen von Gründen verbundene Wertung bezieht sich auf die Art und Weise, in der S aus dem Bestand an Informationen, Wahrnehmungen und Evidenzen, über den sie von ihrem jeweiligen subjektiven Standpunkt aus de facto verfügt, die Begründung ihrer Meinung herleitet oder entwickelt. Solche Zuschreibungen können mit einer hypothetischen Perspektivenübernahme der folgenden Art einhergehen: ‚Wenn ich, so wie S, nicht wüsste, dass q, dann würde auch ich aus den von S in Anspruch genommenen Gründen davon überzeugt sein, dass p.‘ In diesem Fall ist auf Seiten des Zuschreibenden zugleich eine bestimmte Erwartung im Spiel: ‚Wenn S wüsste, dass q, – wenn ich ihr etwa mitteilen könnte, dass q – dann würde sie ihre Überzeugung, dass p, revidieren.‘150 In Kontexten, in denen einer Person S nur Gründe im medial wertenden Sinn zugeschrieben, im maximal wertenden Sinn aber abgesprochen werden, hat die Rede von ‚begründeten aber falschen Überzeugungen‘ ihren Sinn. Hier können die Antworten auf die Frage ‚Ist S’ Meinung begründet?‘ und ‚Ist der propositionale Gehalt von S’ Meinung wahr?‘ insofern divergieren, als auf die erste Frage mit ‚ja‘, auf die zweite dagegen mit ‚nein‘ geantwortet werden kann. Robert Brandom, 150
Zu hypothetischen Perspektivenübernahmen dieser Art vgl. auch Kambartel u. Stekeler-Weithofer 2005, S. 195 f.
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an den Wellmer kritisch anknüpft151, formuliert diesen Punkt so: „The distinction of social perspective between attributing a standing and adopting it keeps the truth condition from being run together with the others, and so makes it possible to understand assessments of something as having the standing of a justified belief that is not true.“152
Wäre R neben seiner negativen Einschätzung der epistemischen Qualität dessen, was S als gute Gründe für ihre Überzeugung, dass p, ansieht, auch noch der Meinung, dass S ‚es eigentlich besser wissen müsste‘, dann würde er auch bestreiten, dass S über Gründe im medial wertenden Sinn verfügt. An dieser Stelle sind wiederum verschiedene Fälle möglich: Entweder wird R die Art und Weise, in der S die Begründung für ihre Meinung, dass p, aus der Menge der von ihr faktisch berücksichtigten Aussagen und Evidenzen entwickelt hat, als defizitär bewerten, und zwar so, dass S diese Defizienz auch selber hätte bemerken müssen. Oder R wird die Menge der von S faktisch als Begründungsprämissen ins Spiel gebrachten Evidenzen oder Aussagen als defizitär bewerten – wiederum so, dass auch S diese Defizienz hätte bemerken müssen. Wichtig ist jeweils der Zusatz, dass im Kontext des Absprechens von Gründen im medial wertenden Sinn auf Seiten des Bewertenden die Unterstellung im Spiel ist, dass von S legitimerweise hätte erwartet werden dürfen, dass sie die Defizite in ihrem Begründungsversuch bemerkt. Robert Fogelin hat im Rahmen einer Diskussion von Gettiers Einwänden gegen die Erläuterung von Wissen als wahre, begründete Meinung auf zwei mögliche Interpretationen der Rede von begründeten Überzeugungen hingewiesen, die der hier vorgeschlagenen Differenzierung zwischen maximalen und medialen Zuschreibungen von Gründen weitgehend korrespondieren. Gettiers Gegenbeispiele gegen die traditionelle Wissensanalyse stützen sich unter anderem auf ein Verständnis von Begründung, demzufolge es möglich ist, dass eine Person begründete Überzeugungen hat, deren propositionale Gehalte falsch sind.153 Dieses Verständnis entspricht in 151 152 153
Vgl. Wellmer 2003, S. 156, Anm. 12, u. S. 162 f., Wellmer 2004, S. 245 u. S. 269. Brandom 1995, S. 904. Vgl. Gettier 1963, S. 121: „[I]n that sense of ‚justified‘ in which S’s being justified in believing P is a necessary condition of S’s knowing that P, it is possible for a person to be justified in believing a proposition that is in fact false.“ Vgl. dazu Fogelin 1994, S. 15-30.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
etwa demjenigen Sinn von ‚Begründung‘, in dem dieser Ausdruck im Kontext medialer Zuschreibungen von Gründen vorkommt. Indem wir einer Person S Gründe dieser Art für ihre Überzeugung, dass p, zuschreiben, bringen wir die Einschätzung zum Ausdruck, dass S auf ‚epistemisch verantwortliche‘ Art und Weise zu der Überzeugung, dass p, gelangt ist, wobei wir uns zugleich einer Stellungnahme zum Gültigkeitsstatus der Aussage p enthalten und sogar konsistenterweise behaupten können, dass p falsch ist.154 Davon unterscheidet Fogelin eine zweite Deutung von Zuschreibungen begründeter Meinungen, die sich mit dem deckt, was ich als maximale Zuschreibung von Gründen bezeichnet habe: „The leading idea is that in saying S is justified in believing that P, we are not assessing the procedures S used in coming to his belief that P; we are, instead, evaluating the adequacy of S’s grounds for establishing the truth of P. In saying that S is justified in believing that P is true, we are saying that the grounds on which S accepts P establish the truth of P.“155
Beziehen sich die mit maximalen und medialen Zuschreibungen von Gründen einhergehenden Wertungen auf die epistemische Qualität der zugeschriebenen Gründe sowie auf die epistemische Rationalität der Art und Weise, in der jemand von seinem Standpunkt aus zu einer Meinung gelangt ist, so ist mit minimalen Zuschreibungen von Gründen in dem hier intendierten Sinn nicht mehr verbunden als die Unterstellung, dass derjenige, dem in dieser Weise das Haben von Gründen zugesprochen wird, ein Sprecher einer Sprache und ein Träger von Meinungen ist – jemand also, dessen Äußerungen interpretiert und verstanden, und nicht etwas, dessen Äußerungen ausschließlich zum Gegenstand einer objektivierenden Erklärung gemacht werden können. So verwendet, kommt der Ausdruck ‚begründete Meinung‘ einem Pleonasmus gleich. Anhaltspunkte für eine genauere Explikation dessen, was hier unter ‚minimalen Gründen‘ verstanden wird, ließen sich zum Beispiel in Wittgensteins Argumenten für die These finden, dass zur „Verständigung in der Sprache [...] eine Übereinstimmung in den Urteilen“156 der Sprecher gehört, in Habermas’ und Apels Argumenten für die These, dass die Äußerungen anderer nur vor dem Hintergrund eines 154
155 156
Vgl. Fogelin 1994, S. 18: „In making such a claim, we are indicating that S has been epistemically responsible in forming his belief.“ Fogelin 1994, S. 18. Wittgenstein 1984b, S. 356 (PU, § 242).
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
91
unterstellten Potentials von Gründen verstanden werden können, in Davidsons Überlegungen zur radikalen Interpretation und in Brandoms Version der inferentialistischen Semantik. Diese Ansätze weisen auf jeweils unterschiedliche Weise darauf hin, dass schon der bloße Versuch, jemanden als Träger von begrifflich artikulierten Meinungen zu verstehen, mit einer Zuschreibung von Gründen verbunden sein muss, die ich hier als ‚minimal‘ kennzeichne. Mit Brandom gesprochen, setzt die Fähigkeit, eine Meinung zu haben, voraus, diese Meinung mit den propositionalen Gehalten anderer Meinungen sowohl „upstream“ als auch „downstream“ in inferentielle Zusammenhänge zu bringen.157 Gründe im minimalen Sinn abzusprechen, heißt daher letztlich, Sprache, Rationalität und damit den Status eines Meinungsträgers abzusprechen. Man kann einer Person S den Besitz von Gründen für ihre Meinungen nur im maximalen oder medialen Sinn absprechen. S den Besitz von Gründen für ihre Meinung, dass p, im medialen Sinn abzusprechen, bedeutet, diese Meinung als epistemisch irrational zu charakterisieren. Zugleich spricht man S damit den Besitz von Gründen im maximalen Sinn ab und präsupponiert, dass sie über Gründe im minimalen Sinn verfügt, also die Meinung unterhält, dass p. Spricht man S Gründe für ihre Meinung, dass p, im maximalen Sinn ab, dann präsupponiert man ebenfalls, dass S über Gründe im minimalen Sinn verfügt. Dieses Absprechen von Günden ist ferner vereinbar mit der medialen Zuschreibung von Gründen beziehungsweise mit der Charakterisierung von S’ Meinung als epistemisch rational aus S’ Perspektive. Kommen wir nun zurück auf die oben zitierte bereits These Wellmers, dass „[...] Wahrheit und Rechtfertigung [...] mit Bezug auf den Vollzug von Urteilen und Begründungen zusammen[fallen], aber nicht mit Bezug auf die Zuschreibung von Urteilen und Begründungen an andere.“158
Wenn man den ersten Teil dieser These folgendermaßen liest, dann ist er zweifellos richtig: Die Bewertung einer Meinung als maximal begründet 157
158
„Downstream, they must have inferential consequences, commitment to which is entailed by commitment to the original content. Upstream, they must have inferential antecedents, relations to contents that can serve as premises from which entitlement to the original content can be inherited.“ (Brandom 2000, S. 193 f.) Vgl. Brandom 2000, S. 45-77; Wellmer 1997 u. Wellmer 2004, S. 184-211. Wellmer 2003, S. 169.
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I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
fällt mit der Bewertung und Anerkennung des propositionalen Gehalts dieser Meinung als wahr zusammen. Aber dies gilt sowohl im Blick auf meine Überzeugungen und Gründe, die ich mir nicht zuschreibe, sondern die ich habe, als auch für die maximal wertende Zuschreibung begründeter Überzeugungen an andere. Dasjenige Verständnis von ‚Rechtfertigung‘ beziehungsweise ‚Begründung‘, das den ersten Teil der These Wellmers wahr macht, macht ihren zweiten Teil falsch. Deutet man andererseits den zweiten Teil der These im Rekurs auf das Konzept medialer Gründe, dann ist er offenbar richtig: Die Bewertung einer Meinung als begründet im medialen Sinn fällt nicht unbedingt mit der Anerkennung des propositionalen Gehalts dieser Meinung als wahr zusammen. Versucht man dann aber den ersten Teil der These entsprechend zu deuten, so zeigt sich, dass das gar nicht möglich ist.159 Darin besteht ja gerade eine der Pointen von Wellmers Erläuterungen. Die Einschätzung von explizit angeführten eigenen Überzeugungen als bloß medial begründet ist nur im Kontext retrospektiver Selbstzuschreibungen von Überzeugungen und Behauptungen verstehbar, nicht aber im Blick auf Überzeugungen, die man aktual hat.160 In Wellmers These sind also zwei in normativer Hinsicht verschiedene Lesarten von ‚Begründung‘ im Spiel: die maximal wertende und die medial wertende. In Bezug auf die maximale Wertung von Gründen als gut oder stichhaltig besteht aber, wie oben betont wurde, kein Unterschied zwischen der Perspektive der ersten Person auf sich selbst und der Perspektive der ersten Person auf andere. Daher zeigen Wellmers Überlegungen auch nicht, dass der „Begriff eines guten Grundes“161 in einer irreduziblen Weise auf die Perspektive eines ‚Ich‘ verweist, das seine eigenen Gründe als gut bewertet. Das wird noch deutlicher, wenn man nicht die Situation des 159
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161
An dieser Stelle korrigiere ich den Einwand, den ich in Rähme 2002, S. 194 f., vorgebracht habe. Retrospektive Selbstzuschreibungen der folgenden Art sind offenbar unproblematisch, wenn man den darin vorkommenden Ausdruck ‚gute Gründe‘ im medial wertenden Sinn liest: ‚Ich war damals von der falschen Aussage p mit guten Gründen überzeugt.‘ Vgl. dazu auch Wellmer 2003, S. 158: Wenn ich auf der Basis von Gründen eine Behauptung aufstelle, dann weiß ich, „daß das, was ich begründet für wahr halte, mir selbst zu einem späteren Zeitpunkt – vielleicht nach einem Dialog mit anderen – als nicht (wirklich) begründet erscheinen mag.“ Wellmer 2003, S. 159.
I. ‚Wahrheit‘ und ‚Begründung‘ als normative Begriffe
93
gegenseitigen Zuschreibens und Habens von begründeten Überzeugungen, sondern die intersubjektive und reziproke Perspektivenkonstellation von Argumentationen über die Gültigkeit von problematisierten Aussagen als Orientierungsrahmen für die Erläuterung des Begriffs guter Gründe wählt. In Argumentationen interessieren Gründe für und Einwände gegen eine problematisierte Aussage p nicht als etwas, das einzelne Leute haben können und dessen Besitz ihnen zu- oder abgesprochen werden kann. Sie werden hier einzig und allein im Blick auf ihre Relevanz für die Feststellung des Wahrheitswerts von p thematisch. Hier ist die maximal wertende Einstellung, die auf die epistemische Qualität von vorgeschlagenen Gründen bezogen ist, sowohl gegenüber ‚meinen eigenen‘ als auch gegenüber den Gründen anderer maßgeblich. Der Bezug auf die möglichen argumentativen Stellungnahmen anderer gehört wesentlich zum normativen Sinn der Bewertung von Gründen als gut oder stichhaltig. Deswegen argumentieren wir.
II.
Fallibilität und Fallibilismus
Michael Williams’ Behauptung: „We are all fallibilists nowadays.“1, stellt wohl allenfalls eine geringfügige Übertreibung dar.2 In der einen oder anderen Variante und mit dieser oder jener Einschränkung wird der Fallibilismus heute von den meisten Philosophen vertreten oder, wenn nicht explizit vertreten, so doch implizit als gültig vorausgesetzt. Zumindest aber würde niemand auf die Idee kommen, ihn auf ganzer Linie zurückzuweisen und zu behaupten, dass Menschen in schlechthin allen ihren Erkenntnisbemühungen erfolgreich und insofern epistemisch infallible Wesen sind. So weit wollte noch nicht einmal das Erste Vatikanum im Blick auf einen Menschen gehen, als es unter Vorsitz und Drängen von Papst Pius IX. am 18. Juli 1870 per Mehrheitsentscheid die päpstliche Infallibilität beschloss – die meisten Kritiker der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit waren bereits abgereist, und nur zwei der anwesenden Bischöfe wagten ein ‚Non placet‘. Der Wortlaut der mit „Pastor aeternus“ überschriebenen Konstitution des Ersten Vatikanischen Konzils bezieht sich an den relevanten Stellen ausschließlich auf bestimmte Äußerungen des Papstes, nämlich auf Proklamationen ex cathedra, die Fragen des Glaubens oder der Moral betreffen.3 Ich erzähle diese historische Anekdote hier nur deshalb, weil Charles Sanders Peirce, der manchmal als Begründer des erkenntnistheoretischen Fallibilismus bezeichnet wird4 und zugleich interessierter und zumal verblüffter Zeitgenosse des Ersten Vatikanischen Konzils war, an ver-
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3 4
Williams 2001b, S. 5. Ähnliche Einschätzungen finden sich zum Beispiel in Cohen 1988, S. 91 („The acceptance of fallibilism in epistemology is virtually universal.“), Reed 2002, S. 143 („Fallibilism is endorsed by virtually all epistemologists.“), und Siegel 1997, S. 164 („[W]e are all fallibilists now.“). Vgl. Schatz 1997, S. 251-259. Vgl. Apel 1998a, S. 85. Zumindest hat Peirce der erkenntnistheoretischen These des Fallibilismus wohl ihren Namen gegeben. Vgl. dazu Heede 1972 und Hetherington 2005. Der Sache nach gab es den Fallibilismus schon sehr viel früher. Vgl. etwa den Abschnitt 4 von Humes „Enquiry Concerning Human Understanding“ (Hume 1999), der auch unter fallibilistischen, anstatt unter skeptizistischen Vorzeichen gelesen werden kann. Dazu Hetherington 2005.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
schiedenen Stellen polemisch auf das römisch-katholische Dogma der päpstlichen Infallibilität Bezug nimmt.5 Obwohl der Fallibilismus zu den wenigen substantiellen Thesen zu gehören scheint, die heute in der Philosophie unstrittig sind6, legt ein genauerer Blick in die erkenntnistheoretische Literatur den Verdacht nahe, dass es sich hierbei zum Teil bloß um eine Übereinstimmung im Wortlaut handelt, welche sich daraus ergibt, dass die verschiedenen übereinkommenden Parteien den Ausdruck ‚Fallibilismus‘ auf ganz unterschiedliche Weise deuten und verwenden. Hinsichtlich der Frage, wie genau die fallibilistische These zu verstehen und zu formulieren ist, bestehen jedenfalls erhebliche Differenzen oder doch Unklarheiten. Diese Unklarheiten sind nicht zuletzt begrifflicher Natur. Dafür will ich hier zwei Beispiele anführen. Jürgen Habermas formuliert den Fallibilismus an einer Stelle als die These, dass „auch gut begründetes Wissen falsch sein kann.“7 Gibt es aber schlecht begründetes Wissen? Und vor allem: Kann Wissen falsch sein, also einen falschen propositionalen Gehalt haben? ‚Wissen‘ ist ein faktives epistemisches Konzept. Wenn jemand weiß – und nicht nur zu wissen glaubt8 –, dass p, dann ist es wahr, dass p. Aus diesem rein begrifflichen Grund kann Wissen nicht falsch sein – sei es gut begründet oder nicht.9 Derselbe Punkt kann auch so zum Ausdruck gebracht werden: Ebenso wie die epistemischen Verben ‚erkennen‘, ‚beweisen‘, ‚zeigen‘, ‚erweisen‘ und viele andere ist das Verb ‚wissen‘ ein Erfolgsverb in dem von Gilbert Ryle in „The Concept of Mind“ eingeführten Sinn.10 Ob eine Person S weiß, 5
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So etwa in Peirce 1931-1938, 2.75: „Absolute infallibility may belong to the pope and the ecumenical councils: it is outside my province to discuss that question.“ Vgl. auch Peirce 1931-1938, 1.672, 2.158 und 6.527. In der römisch-katholischen Kirche ist die Dogmatisierung der päpstlichen Infallibilität in Fragen des Glaubens und der Moral, einer Unfehlbarkeit sozusagen von Amts wegen, niemals unstrittig gewesen. Vgl. dazu zum Beispiel Küng 1970. Habermas 1999d, S. 44. Eine weniger missverständliche Erläuterung der fallibilistischen These findet sich in Habermas 1986, S. 350-352. Vgl. dazu Wittgenstein 1984c, S. 121 (ÜG, § 12). Zur Faktivität propositionalen Wissens vgl. zum Bespiel Audi 1998, S. 291-293, und Williams 2001a, S. 19. Vgl. Ryle 2002 [1949], S. 152: „It has long been realised that verbs like ‘know’, ‘discover’, ‘solve’, ‘prove’, ‘perceive’, ‘see’ […] are in an important way incapa-
II. Fallibilität und Fallibilismus
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dass p, das hängt nicht allein von S selbst und der Art und Weise ab, wie sie zu der Überzeugung, dass p, gelangt ist, sondern auch davon, ob es wahr ist, dass p. Ein ähnlicher begrifflicher Einwand kann gegen die zweite Beispielformulierung vorgebracht werden, die ich hier herausgreife. Thomas Grundmann schreibt dem Fallibilisten die These zu, „daß jede gerechtfertigte Meinung sich als falsch erweisen“11 kann. Nun können sich aber nur solche Meinungen als falsch erweisen, deren propositionale Gehalte falsch sind. In Bezug auf eine Meinung mit wahrem propositionalen Gehalt dagegen kann es allenfalls geschehen, dass wir irrtümlich zu der Einschätzung gelangen, sie habe sich als falsch erwiesen. Träfe Grundmanns Charakterisierung des Fallibilismus zu, dann wäre der Fallibilist auf die These festgelegt, dass alle unsere gerechtfertigten Meinungen falsch sind. Das ließe zwar Raum für die Wahrheit unserer ungerechtfertigten Meinungen. Aber letzteres wäre offenbar nur ein schwacher Trost für den Fallibilisten. Obwohl dieser Einwand gegen Habermas’ und Grundmanns Erläuterungen des Fallibilismus nichts anderes als begriffliche Konsequenzen dieser Erläuterungen selbst ins Spiel bringt und insofern berechtigt ist, mag er letztlich ein wenig unfair sein. Denn worauf Grundmann und Habermas wohl hinauswollen, wenn sie die Wendungen ‚jede gerechtfertigte Meinung kann sich als falsch erweisen‘ respektive ‚gut begründetes Wissen kann falsch sein‘ als Explikationen des Fallibilismus – und nicht etwa als Formulierungen einer skeptischen These – anbieten, ist das Folgende: Wir sind niemals in der Lage, auf epistemisch legitime Weise auszuschließen, dass wir in Erwägung bislang nicht bekannter oder vergessener oder nicht hinreichend berücksichtigter Gründe rational dazu bewogen werden könnten, die von uns jetzt und hier für wahr gehaltene Aussage p dort und dann – wenn diese Gründe aufgedeckt oder in Erinnerung gerufen oder in ihrer Relevanz ernst genommen werden würden – als nicht wahr zu bewerten. Diese Formulierung des Fallibilismus ist konsistent mit der Annahme, dass fallible Behauptungen und Überzeugungen trotz ihrer Fallibilität wahre propositionale Gehalte haben können, und sie antizipiert in einigen Hin-
11
ble of being qualified by adverbs like ‘erroneously’ and ‘incorrectly’“. Vgl. auch S. 150 f. und S. 238 f. Grundmann 2001, S. 11 f.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
sichten die Formulierung, die ich später als angemessene Explikation des Fallibilismus vorschlagen werde. Zwar sind die gemeinsamen theoretischen – und auch praktischmoralisch relevanten – Intuitionen, die hinter demjenigen stehen, was von verschiedenen Philosophen jeweils unter dem Ausdruck ‚Fallibilismus‘ verstanden wird, hinreichend klar: Es geht, grob gesagt, um die Unverfügbarkeit absoluter rationaler Gewissheit und Sicherheit in epistemischen Fragen, um die niemals – oder fast niemals – rationalerweise ausschließbare Möglichkeit, dass wir uns mit unseren Meinungen und Behauptungen im Irrtum befinden.12 Wie aber lassen sich diese theoretischen Intuitionen explizieren und präzise formulieren? Abschnitt II.1 behandelt insgesamt die zuletzt gestellte Frage, also das Problem der korrekten Formulierung des Fallibilismus. Im Anschluss an eine kritische Diskussion verschiedener Explikationen der fallibilistischen These, die sich in der Literatur finden, schlage ich eine Formulierung des Fallibilismus in Begriffen der Unverfügbarkeit eines bestimmten sehr anspruchsvollen Typs von Begründung vor. Diese Formulierung beruht erstens auf der These, dass Fallibilität und Infallibilität, anders als Wahrheit und Falschheit, keine Eigenschaften von Propositionen oder Aussagen, sondern primär Eigenschaften von Meinungen, Überzeugungen und Behauptungen sind, also von konstitutiv mit Wahrheitsansprüchen verbundenen doxastischen Einstellungen und Sprechhandlungen epistemischer Subjekte; zweitens steht in ihrem Hintergrund die These, dass eine Behauptung oder Überzeugung genau dann fallibel ist, wenn ihr propositionaler Gehalt nicht auf epistemisch wahrheitsgarantierende Weise begründet ist.13 Wenn diese Thesen zutreffen, lässt sich der Fallibilismus angemessen so zum Ausdruck bringen: Keine unserer Überzeugungen und Behauptungen ist auf epistemisch wahrheitsgarantierende Weise begründet. 12
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Vgl. zur moralischen und politischen Relevanz des Fallibilismus vor allem Jonas 1979, S. 28 f., S. 66 und S. 76-83, sowie Popper 1961a, S. 380-386. Manche Autoren verwenden die Prädikate ‚ist fallibel‘ und ‚ist infallibel‘ auch zur Charakterisierung epistemischer Subjekte. Vgl. etwa Haack 1978, S. 234, und Reed 2002, S. 143. Ich werde diese Verwendungsweise im Folgenden nicht gesondert diskutieren, sondern Sätze wie ‚S ist fallibel.‘ und ‚Wir sind fallibel.‘ als Abkürzungen für die Sätze ‚S’ Meinungen und Behauptungen sind fallibel.‘ und ‚Unsere Meinungen und Behauptungen sind fallibel.‘ auffassen.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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Ein Aspekt der in der Erkenntnistheorie geführten FallibilismusDebatte betrifft die Frage, ob der Fallibilismus als globale, also hinsichtlich ihres Gültigkeitsbereichs uneingeschränkte These zu formulieren ist oder aber manche Behauptungen und Überzeugungen aus seinem Gültigkeitsbereich auszuschließen sind.14 Ohne damit eine Antwort auf diese Frage präjudizieren zu wollen, werde ich den Fallibilismus in der folgenden Diskussion als eine universelle und uneingeschränkte These behandeln. Dieses Vorgehen ist insofern gerechtfertigt, als es mir hier primär um eine Klärung und Bestimmung des Sinns der fallibilistischen These geht, also nicht zuletzt um eine Erläuterung des Prädikats ‚fallibel‘ und der Eigenschaft der Fallibilität. Die Frage, ob der Fallibilismus in seinem Gültigkeitsbereich eingeschränkt werden muss, kann erst nach einer solchen Sinnklärung beantwortet werden. Dieses Anschlussproblem diskutiere ich hier ausschließlich im Zusammenhang eines Einwandes, den Karl-Otto Apel gegenüber den Vertretern des sogenannten ‚pankritischen Rationalismus‘ und des ‚auf sich selbst anwendbaren Fallibilismus‘ geltend gemacht hat. In Abschnitt II.2 geht es um Apels Behauptung, dass die Selbstanwendung der fallibilistischen These, welche durch den uneingeschränkten Fallibilismus legitimiert wird, in eine semantische Paradoxie führt, die strukturell der Lügnerparadoxie gleichkommt.15 An dieser Stelle muss noch eine Einschränkung der Themenstellung der folgenden Diskussion deutlich gemacht werden: Der erkenntnistheoretische Fallibilismus lässt sich nicht allein auf Meinungen und Behauptungen mit deskriptivem propositionalen Gehalt beziehen – also auf Überzeugungen hinsichtlich dessen, was der Fall ist –, sondern ebenso auch auf Meinungen und Behauptungen mit präskriptivem propositionalen Gehalt, also etwa auf moralische Überzeugungen über das, was in einer gegebenen Handlungssituation H getan werden soll oder auch zu tun legitim ist. Der 14
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Vgl. dazu etwa Albert 1987; Apel 1998a, S. 146-162; Bartley 1987; Grundmann 2008, S. 426-429; Keuth 1983 u. 1988; Kuhlmann 1985b; Ossa u. Schönecker 2004. Darüber hinaus verstrickt sich Apel zufolge jeder, der die These des uneingeschränkten Fallibilismus behauptet, in einen performativen Selbstwiderspruch. Diesen zweiten Paradoxie-Einwand Apels gegen den ‚pankritischen Rationalismus‘, der auf den Nachweis eines nicht semantischen, sondern pragmatischen Widerspruchs abzielt, diskutiere ich im Folgenden nicht.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Gültigkeitsstatus der propositionalen Gehalte solcher präskriptiven Behauptungen ist immer auch abhängig davon, ob H in allen moralisch relevanten Hinsichten korrekt beschrieben und verstanden wurde. Die Fallibilität von deskriptiven Behauptungen über die Beschaffenheit von H kann sich insofern auf präskriptive Behauptungen darüber, welche Handlungen in H moralisch legitim oder sogar geboten sind, übertragen. Unter anderem aus diesem Grund sind Behauptungen und Überzeugungen mit moralisch präskriptiven propositionalen Gehalten fallibel und können ihr kognitives (Teil-)Ziel verfehlen, etwas Gültiges beziehungsweise moralisch Richtiges zum Ausdruck zu bringen.16 In diesem Kapitel wird der Fallibilismus ausschließlich im Blick auf deskriptive Behauptungen und Überzeugungen thematisiert. Trotzdem ist anzunehmen, dass sich einige Punkte, für die ich hier argumentieren werde, auf moralische Überzeugungen und Behauptungen übertragen lassen.
II.1
Das Problem der Formulierung des Fallibilismus
Der folgenden Diskussion liegt ein kritisches Vorverständnis des Fallibilismus zugrunde, das im Voraus explizit formuliert sein will. Es lässt sich in vier Thesen zusammenfassen, die jeweils eine Adäquatheitsbedingung für akzeptable Deutungen des Fallibilismus zum Ausdruck bringen. Ich führe diese Bedingungen hier nacheinander ein und kommentiere sie. 1. Eine vorgeschlagene Formulierung der fallibilistischen These ist nur dann adäquat, wenn sie keinen erkenntnistheoretischen Skeptizismus impliziert. Karl-Otto Apel weist zu Recht darauf hin, dass die zwei wichtigsten Proponenten der fallibilistischen These, Peirce und Popper, den Fallibilismus
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Damit setze ich voraus, dass der moralische Kognitivismus zutrifft: Die propositionalen Gehalte moralischer Behauptungen sind zwar möglicherweise nicht wahrheitswertdifferent, sie sind aber in einem Sinn gültig oder ungültig, der es erlaubt, sie einer rationalen argumentativen Prüfung zu unterziehen. Das wird von manchen Proponenten nonkognitivistischer Ansätze in der analytischen Metaethik bestritten. Auf diese Diskussionslinie kann ich hier nur hinweisen.
II. Fallibilität und Fallibilismus
101
„nicht etwa als eine Variante des Skeptizismus, sondern als Komplement des ‚Meliorismus‘ im Zusammenhang einer Theorie der langfristigen Verbesserung unseres [...] Wissens [...] verstehen“17.
Ein erkenntnistheoretischer Skeptiker in dem hier relevanten Sinn behauptet, dass wir weder propositionales Wissen haben noch haben können. Es ist nun keineswegs offensichtlich, wie der Fallibilismus explizit zu formulieren ist, um mit der Negation dieser skeptischen These logisch und begrifflich vereinbar zu sein.18 Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass zum Beispiel die zunächst plausibel erscheinende Explikation des Fallibilismus in Begriffen epistemisch möglichen Irrtums mit der Negation der wissensskeptischen These unvereinbar ist. Ob eine gegebene Formulierung F des Fallibilismus einen Wissensskeptizismus impliziert, hängt freilich nicht allein von F selbst, sondern auch von der Deutung des Wissensbegriffs ab. David Lewis etwa behauptet, dass zwischen Wissen und Infallibilität ein direkter begrifflicher Zusammenhang besteht: „[I]t seems that knowledge must be by definition infallible. If you claim that S knows that P, and yet you grant that S cannot eliminate a certain possibility in which not-P, it certainly seems as if you have granted that S does not after all know that P. To speak of fallible knowledge, of knowledge despite uneliminated possibility of error, just sounds contradictory.“19
Lewis geht hier von dem folgenden Verständnis des Prädikats ‚ist fallibel‘ aus: Die Überzeugung, dass p, einer Person S ist fallibel genau dann, wenn S nicht in der Lage ist, alle Irrtumsmöglichkeiten auszuschließen – mit anderen Worten: wenn S nicht in der Lage ist, die Möglichkeit auszuschließen, dass ihre Überzeugung, dass p, einen Irrtum darstellt. Die dem korrespondierende Formulierung der fallibilistischen These würde lauten: Wir sind niemals – in Bezug auf keine unserer Überzeugungen – in der Lage, alle Irrtumsmöglichkeiten auszuschließen.20 Wenn nun mit Lewis ange17 18 19 20
Apel 1998a, S. 85. Vgl. hierzu auch Williams 2001a, S. 40-42. Vgl. dazu Carrier 1993. Lewis 1996, S. 549, vgl. auch S. 550. Lewis selbst scheint den Fallibilismus dagegen mit der These gleichzusetzen, dass ein epistemisches Subjekt S auch dann wissen kann, dass p, wenn S nicht in der Lage ist, alle Irrtumsmöglichkeiten auszuschließen. Diese Deutung des Fallibilismus als These über propositionales Wissen findet sich in der neueren erkenntnistheoretischen Literatur häufig. Vgl. dazu unten Abschnitt II.1.2.
102
II. Fallibilität und Fallibilismus
nommen wird, dass nur infallible Überzeugungen oder Behauptungen Wissen darstellen beziehungsweise zum Ausdruck bringen, dann folgt der Wissensskeptizismus aus dem Fallibilismus: Man kann nicht widerspruchsfrei zugleich einen uneingeschränkten Fallibilismus befürworten, behaupten, dass viele unserer Überzeugungen propositionales Wissen darstellen, und darüber hinaus darauf bestehen, dass propositionales Wissen Infallibilität impliziert. Lewis hält an der zweiten und der dritten dieser Thesen fest und verwirft dementsprechend die erste.21 Allerdings rechtfertigt er seine Behauptung, dass propositionales Wissen per definitionem infallibel sein muss, allein durch eine auf sein Sprachgefühl gestützte Intuition: Die Rede von falliblem Wissen klinge einfach widersprüchlich. Peirce und Popper teilen diese sprachliche Intuition offenbar nicht. Beide wollen den Fallibilismus von jeglicher Form des epistemologischen Skeptizismus abgrenzen. Beide bestreiten, dass manche unserer Behauptungen und Überzeugungen infallibel sind, und beide behaupten, dass wir nichtsdestotrotz in vielen Fällen über propositionales Wissen verfügen, eben über fallibles Wissen. So vertritt Peirce die These, der Fallibilismus sei vereinbar mit einem ‚high faith in the reality of knowledge‘: „[T]he first step toward finding out is to acknowledge you do not satisfactorily know already; so that no blight can so surely arrest all intellectual growth as the blight of cocksureness […]. Indeed, out of a contrite fallibilism, combined with a high faith in the reality of knowledge, all my philosophy has always seemed to grow.“22
An anderer Stelle charakterisiert er den Grundgedanken des Fallibilismus explizit im Rekurs auf den Begriff des Wissens: „[F]allibilism is the doctrine that our knowledge is never absolute but always swims, as it were, in a continuum of uncertainty and of indeterminacy“23. Dieselbe Kombination 21
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Genauer gesagt: Er versieht die Wendung ‚jede Irrtumsmöglichkeit‘ (‚every possibility of error‘) mit einer kontextualistischen Erläuterung, die seiner Ansicht nach erklärt, weshalb Wissenszuschreibungen der Form ‚S weiß, dass p.‘ und – sofern Wissen Lewis zufolge per definitionem infallibel ist – dementsprechend auch Aussagen der Form ‚S’ Überzeugung, dass p, ist infallibel.‘ in vielen Fällen wahr sein können. Die Details dieser Erläuterung können hier vernachlässigt werden. Peirce 1931-1938, 1.13 f. Peirce 1931-1938, 1.171 (Hervorhebung B.R.). Vgl. auch Peirce 1931-1938, 5.311, wo Peirce die von ihm vertretene Kombination aus Fallibilismus und Anti-Skepti-
II. Fallibilität und Fallibilismus
103
aus Fallibilismus und Anti-Skeptizismus und dieselbe Warnung vor dem Streben nach Gewissheit als einem falschen Bestreben24 finden sich bei Karl R. Popper. Popper zufolge liegt der Kerngehalt des Fallibilismus in den Thesen, „daß wir uns immer irren können – daß wir die Wahrheit verfehlen können, obwohl wir sie auch oft erreichen; daß Gewißheit für uns nicht zu haben ist [...]; daß wir fehlbar sind.“25
Vier Absätze weiter formuliert er seine These der Vereinbarkeit von Fallibilismus und Anti-Skeptizismus dann explizit: „Aber die Fehlbarkeit unseres Wissens – oder die These, daß all unser Wissen Vermutungswissen ist, von dem ein Teil aus Vermutungen besteht, die äußerst streng geprüft worden sind – darf nicht zur Unterstützung des Skeptizismus oder Relativismus angeführt werden. Aus der Tatsache, daß wir uns irren können, und daß es kein Wahrheitskriterium gibt, das uns vor Irrtum bewahren könnte, folgt eben nicht, daß die Wahl zwischen Theorien willkürlich oder nicht-rational ist; eben nicht, daß wir nicht lernen oder der Wahrheit näherkommen können; eben nicht, daß unser Wissen nicht wachsen kann. [...] Mit dem Namen ‚Fallibilismus‘ bezeichne ich hier die Auffassung, oder die Anerkennung der Tatsache, daß wir uns irren können, und daß das Streben nach Gewißheit [...] ein falsches Bestreben ist. Aber dies impliziert nicht, daß das Streben nach Wahrheit falsch ist. Im Gegenteil, die Idee des Irrtums impliziert diejenige der Wahrheit als das Ziel, das wir verfehlen können. ‚Fallibilismus‘ impliziert, daß wir, obgleich wir nach Wahrheit suchen können, und obgleich wir die Wahrheit sogar finden können (was wir, wie ich glaube, in sehr vielen Fällen tun) niemals völlig sicher sein können, daß wir sie gefunden haben. Es besteht immer die Möglichkeit eines Irrtums“.26
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zismus mit Bezug auf empirisches Wissen formuliert: „There is nothing, then, to prevent our knowing outward things as they really are, and it is most likely that we do thus know them in numberless cases, although we can never be absolutely certain of doing so in any special case.“ Vgl. die gerade zitierte Bemerkung Peirces über ‚cocksureness‘ und Peirces ‚first rule of logic‘: „Do not block the way of inquiry.“ (Peirce 1931-1938, 1.135.) Popper 1961b, S. 466. Ich zitiere die deutschsprachige Fassung von Poppers „Facts, Standards, and Truth: A Further Criticism of Relativism“ (Popper 1961a), weil in ihr die Kombination aus Fallibilismus und Anti-Skeptizismus, die Popper vertritt, noch deutlicher zum Ausdruck kommt als im englischsprachigen Original. Popper 1961b, S. 467 f. Vgl. damit die in Anm. 23 zitierte Stelle aus Peirce 19311938, 5.311, welche Poppers Aussagen zum Verhältnis zwischen Fallibilismus und Wissensskeptizismus antizipiert.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Popper hält das Streben nach Gewissheit für ein falsches Streben, weil es einerseits wahrheitsgarantierende Gewissheit nicht gebe – das Streben nach ihr wäre demnach auf eine Fiktion gerichtet – und weil es andererseits nicht allein epistemisch witzlos sei, sondern auch dem „Erkenntnisfortschritt“27, dem „Growth of Knowledge“28, abträglich. In der zitierten Passage unterscheidet er zwischen zwei Typen von epistemischen Situationen, in denen wir uns mit unseren Überzeugungen und Behauptungen wiederfinden können. In beiden zeige sich die Fallibilität unserer Wahrheitsansprüche: (A) Wir halten eine falsche Aussage für wahr. (B) Wir halten eine wahre Aussage für wahr – haben in diesem Fall also, mit Popper gesprochen, ‚die Wahrheit gefunden‘29 –, besitzen aber in Bezug auf die von uns für wahr gehaltene Aussage keine epistemische Gewissheit oder Sicherheit. Für Popper liefern (A) und (B) eine disjunktiv vollständige Typisierung der für uns erreichbaren epistemischen Situationen in Bezug auf die Einschätzung des Wahrheitswerts jeder beliebigen Aussage. Er vertritt hier die These, dass für alle Überzeugungen und Behauptungen gilt, dass sie entweder unter den Situationstyp (A) oder unter den Situationstyp (B) fallen: Entweder ihr propositionaler Gehalt ist falsch, und sie sind daher a fortiori fallibel, oder ihr propositionaler Gehalt ist wahr, aber wir haben in Bezug auf ihn keine wahrheitsgarantierende Gewissheit. Es ist diese disjunktive These, die Popper durch seinen Hinweis, dass „immer die Möglichkeit eines Irrtums“ bestehe, zusammenzufassen beansprucht. Auf Poppers These der immer bestehenden Möglichkeit des Irrtums und auf Peirces Behauptung, dass „[w]e never can be absolutely sure of anything“30, komme ich in den nächsten Abschnitten ausführlich zu sprechen. An dieser Stelle ging es mir allein um den Nachweis, dass weder Peirce noch Popper in der Vereinbarkeit von Fallibilismus und Anti-Skeptizismus ein Problem zu erblicken scheinen. Will man ihnen hier keine Inkonsistenz zuschreiben, dann wird man den Schluss ziehen müssen, dass 27 28 29 30
Popper 1961b, S. 468. Popper 1961a, S. 375. Vgl. dazu auch Popper 1973, S. 42. Peirce 1931-1938, 1.146.
II. Fallibilität und Fallibilismus
105
beide bestreiten, dass eine gegebene Überzeugung nur dann ein Wissen darstellt, wenn es sich bei ihr um eine infallible Überzeugung handelt. Anders gesagt: Sie bestreiten, dass infallibles Überzeugtsein eine notwendige Bedingung für Wissen darstellt. 2. Eine Explikation F der fallibilistischen These ist nur dann akzeptabel, wenn man eine gegebene Behauptung oder Überzeugung B im Sinne von F als fallibel charakterisieren kann, ohne sich dadurch bereits auf die Behauptung festzulegen, dass der propositionale Gehalt von B falsch ist.31 Die fallibilistische These betrifft den Wahrheitswert der propositionalen Gehalte unserer Behauptungen und Überzeugungen nicht direkt. Zwar gilt aus rein begrifflichen Gründen, dass die Falschheit einer gegebenen Proposition p eine hinreichende Bedingung für die Fallibilität jeder Behauptung oder Meinung darstellt, die p zum propositionalen Gehalt hat, und ferner, dass die Wahrheit einer gegebenen Proposition q eine notwendige Bedingung für die Infallibilität jeder Behauptung oder Meinung darstellt, die q zum propositionalen Gehalt hat. Aber weder ist die Falschheit des propositionalen Gehalts einer Überzeugung B notwendig für die Fallibilität von B, noch ist die Wahrheit des propositionalen Gehalts von B hinreichend für die Infallibilität von B. Sofern F als Explikation der fallibilistischen These akzeptabel sein soll, darf aus der Aussage, dass B in dem durch F explizierten Sinn fallibel ist, daher nicht logisch-begrifflich folgen, dass der propositionale Gehalt von B falsch ist. Zwischen dem Wahrheitswert der propositionalen Gehalte unserer Überzeugungen und Behauptungen und der fallibilistischen These besteht kein direkter und einfacher, sondern ein indirekter und komplexer Zusammenhang. 3. Eine Formulierung der fallibilistischen These ist nur dann adäquat, wenn sie logisch mit der Aussage vereinbar ist, dass manche der propositionalen Gehalte unserer Behauptungen und Überzeugungen notwendig wahr sind. Dieses Postulat mag hier unangebracht erscheinen. Denn als Adäquatheitsbedingung für Explikationen des Fallibilismus scheint es zu präsuppo31
Eine Formulierung des Fallibilismus, die dieser Adäquatheitsbedingung nicht gerecht wird, wurde oben schon angeführt. Vgl. Grundmann 2001, S. 11 f.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
nieren, dass jeder Fallibilist auf die These festgelegt ist, dass manche der propositionalen Gehalte unserer Behauptungen und Überzeugungen notwendig wahr sind. Es ist aber, so könnte hier eingewandt werden, nicht klar, weshalb ein Proponent des Fallibilismus als solcher auf diese These festgelegt sein sollte. Dieser Einwand lässt sich leicht zurückweisen: Die hier formulierte Adäquatheitsbedingung präsupponiert keinesfalls, dass der Fallibilist qua Fallibilist auf die Anerkennung der These festgelegt ist, dass manche unserer Überzeugungen einen notwendig wahren propositionalen Gehalt haben. Durch sie wird nur geltend gemacht, dass aus der fallibilistischen These selbst nicht logisch oder begrifflich folgen sollte, dass für alle propositionalen Gehalte aller unserer Überzeugungen gilt, dass sie, wenn sie wahr sind, nur kontingent wahr sind.32 Dies ist die eine Seite der logischen Unabhängigkeit des Fallibilismus von jeder theoretischen Festlegung in Bezug auf den alethisch-modalen Status von Propositionen. Die andere Seite lässt sich so zum Ausdruck bringen: 4. Eine Formulierung F des Fallibilismus ist nur dann akzeptabel, wenn man eine gegebene Behauptung oder Überzeugung B im Sinne von F als nicht fallibel (also als infallibel) charakterisieren kann, ohne sich dadurch auf die Anerkennung der These festzulegen, dass der propositionale Gehalt von B notwendig wahr ist. Nehmen wir zum Beispiel mit Descartes an, meine Überzeugung, dass ich existiere, sei infallibel.33 Ließe sich nachweisen, dass aus dieser Annahme folgt, dass ich notwendig existiere beziehungsweise dass die Aussage, dass ich existiere, notwendigerweise wahr ist, so würde dies einen sehr guten Grund dafür darstellen, die Ausgangsannahme, meine genannte Überzeugung sei infallibel, zu verwerfen. Denn meine Existenz respektive die Wahrheit der Aussage, dass ich existiere, stellt eine durch und durch kontingente Angelegenheit dar. Ein weiteres Beispiel: Nehmen wir mit KarlOtto Apel an, meine Behauptung, dass eine menschliche Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft existiert, sei eine infallible Behauptung.34 Ließe sich nachweisen, dass aus dieser Annahme folgt, dass notwendiger32
33 34
Vgl. Haack 1979a, S. 309: „[F]allibilism is a thesis about our liability to error, and not a thesis about the modal status (possible falsity) of what we believe.“ Vgl. Descartes 1960a, zweite Meditation, S. 20-30. Vgl. etwa Apel 1998a, S. 156-164.
II. Fallibilität und Fallibilismus
107
weise eine menschliche Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft existiert oder dass die Aussage, dass eine solche Gemeinschaft existiert, notwendig wahr ist, so stellte dies wiederum einen sehr guten Grund dafür dar, die Ausgangsannahme, dass meine genannte Behauptung infallibel ist, zu verwerfen. Auch die Existenz einer menschlichen Sprach- und Argumentationsgemeinschaft respektive die Wahrheit der Aussage, dass eine solche Gemeinschaft existiert, sind durch und durch kontingent.
II.1.1
Fallibilismus und möglicher Irrtum
Eine prima facie plausible Erläuterung des Gehalts der fallibilistischen These rekurriert auf den Begriff des Irrtums beziehungsweise des fehlerhaften Überzeugtseins oder Behauptens. So charakterisiert Peirce die Fallibilität unserer Meinungen und Behauptungen als eine Äußerungsform jener ‚Anfälligkeit für Fehler und Irrtümer, die alles menschliche Handeln und Tun kennzeichnet‘ („that liability to error that affects everything that man does“35). Popper kennzeichnet den Fallibilismus, wie oben bereits deutlich wurde, als die These, dass im Blick auf alle unsere Meinungen, Theorien und Überzeugungen die Möglichkeit besteht, dass sie fehlerhaft sind: „There is always a possibility of error“36. Und Hans Albert liefert letztlich dieselbe Erläuterung des Fallibilismus, wenn er schreibt, „daß man sich in bezug auf den Wahrheitswert aller möglichen Aussagen irren“37 kann. Um nun genauer zu verstehen, worauf diese Versuche, den Fallibilismus zu erläutern und explizit zu formulieren, hinauslaufen, ist es zunächst nötig, die Begriffe des Irrtums und des möglichen Irrtums zu explizieren, die in ihnen verwendetet werden. Was behauptet man und worauf legt man sich fest, wenn man von einer Person S sagt, sie befinde sich in Bezug auf eine gegebene Aussage p im Irrtum? Zumindest legt man sich auf die Behauptung der folgenden Konjunktion fest: S ist überzeugt oder behauptet, 35 36 37
Peirce 1931-1938, 5.577. Popper 1961a, S. 375. Albert 1987, S. 427. Vgl. auch Schlesinger 1984, S. 263, der in Übereinstimmung mit Popper behauptet, der Fallibilismus sei „the thesis of the ever-present possibility of error“.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
dass p, und der propositionale Gehalt dieser Überzeugung/Behauptung, also p, ist falsch. (Irrtum) ∀S[∀α[ISα→((BSα)∧¬α)]]38 Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn sich S darin irrt, dass α, dann glaubt/behauptet S, dass α, und α ist falsch. Zweifellos lässt sich einiges mehr an Interessantem über Irrtümer sagen, als mit (Irrtum) zum Ausdruck gebracht wird. In unserem Zusammenhang wird aber nichts Wesentliches verfehlt, wenn man ‚Irrtum‘ schlicht extensional als ‚Überzeugung/Behauptung, deren propositionaler Gehalt falsch ist‘ definiert, also die These vertritt, dass alles und nur das, was unter den Begriff ‚Irrtum‘ fällt, auch unter den Begriff ‚Überzeugung/Behauptung mit falschem propositionalen Gehalt‘ fällt: (DefIrrtum) ∀S[∀α[ISα↔((BSα)∧¬α)]] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: S irrt sich darin, dass α, genau dann, wenn α falsch ist und S glaubt/ behauptet, dass α.39 Aus (DefIrrtum) folgt, dass der epistemische (besser: doxastische) Begriff des Irrtums anti-faktiv ist: (Anti-FaktIrrtum) ∀S[∀α(ISα→¬α)] Für jedes epistemische Subjekt S und jede Proposition α gilt: Wenn S sich darin irrt, dass α, dann ist α falsch. Nun sprechen Peirce, Popper und Albert in den oben zitierten Charakterisierungen der fallibilistischen These nicht von tatsächlichen Irrtümern oder Fehlern, sondern von der Möglichkeit des Irrtums und des Fehlermachens. Sie behaupten nicht, dass wir uns mit jeder einzelnen unserer Überzeugun38
39
Hier und in den folgenden formalen Darstellungen von Thesen, die für die Diskussion des Fallibilismus relevant sind, verwende ich ‚S‘ als Variable, die über epistemische Subjekte läuft und deren Substituenden singuläre Termini sind, die epistemische Subjekte denotieren. Die Substituenden der propositionalen Variablen ‚α‘, ‚β‘ sind deklarative Sätze und ihre ‚Werte‘ sind die durch deklarative Sätze zum Ausdruck gebrachten Propositionen. Um eine Ambiguität zu vermeiden, habe ich die Reihenfolge der Konjunkte der Konjunktion auf der rechten Seite des Bikonditionals in der nichtformalen Darstellung vertauscht.
II. Fallibilität und Fallibilismus
109
gen und Behauptungen im Irrtum befinden, sondern dass Irrtum immer möglich ist. Wie ist die modale Wendung ‚möglicher Irrtum‘ zu verstehen? Bleiben wir zunächst bei logischer Möglichkeit, wobei ich den Ausdruck ‚logisch möglich‘ hier in dem folgenden weiten Sinn verwende: Eine gegebene syntaktisch beliebig komplexe Aussage p ist genau dann logisch möglich beziehungsweise logisch möglicherweise wahr, wenn sich aus p kein Widerspruch ableiten lässt – sei es auf der Basis von logischen Schlussregeln allein oder auch auf der Basis solcher Schlussregeln und Überlegungen über die Bedeutung des in p vorkommenden nicht-logischen Vokabulars. Im Blick auf (DefIrrtum) liegt die folgende Erläuterung des Begriffs ‚möglicher Irrtum‘ nahe: (Def◊Irrtum) ∀S[∀α[◊ISα↔◊((BSα)∧¬α)]] Für jedes epistemische Subjekt S und jede Proposition α gilt: Es ist genau dann logisch möglich, dass sich S darin irrt, dass α, wenn es logisch möglich ist, dass [α falsch ist und S glaubt/behauptet, dass α].40 Peirce, Popper und Albert scheinen unter dem Fallibilismus die folgende These zu verstehen: Immer dann, wenn wir eine Überzeugung haben oder eine Aussage behaupten, besteht die Möglichkeit, dass wir uns mit dieser Überzeugung respektive Behauptung im Irrtum befinden. Deutet man den Begriff des möglichen Irrtums im Sinne von (Def◊Irrtum), dann kann der gemeinsame Gehalt ihrer oben zitierten Erläuterungen des Fallibilismus so zum Ausdruck gebracht werden: (F◊Irrtum) ∀S[∀α[BSα→◊(BSα∧¬α)]] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass α, dann ist es logisch möglich, dass S glaubt/behauptet, dass α, obwohl α falsch ist.41 Obgleich (F◊Irrtum) als Explikationsvorschlag intuitiv plausibel erscheinen mag, ist diese Formulierung des Fallibilismus in Begriffen des logisch möglichen Irrtums problematisch, denn sie hat die folgende missliche Kon40
41
Die eckigen Klammern in der nichtformalen Darstellung kennzeichnen den Bereich des zweiten Möglichkeitsoperators. Vgl. auch Williams 2001a, S. 41. Williams deutet den Fallibilismus dort im Sinne der Aussage, „that the possibility of error can never be logically excluded.“
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II. Fallibilität und Fallibilismus
sequenz: Wer sich die durch (F◊Irrtum) zum Ausdruck gebrachte These zu eigen macht, legt sich damit nolens volens darauf fest, zu bestreiten, dass manche unserer Überzeugungen oder Behauptungen einen logisch notwendig wahren propositionalen Gehalt haben.42 Mit anderen Worten, (F◊Irrtum) impliziert, dass für alle propositionalen Gehalte unserer Meinungen oder Behauptungen gilt: Wenn sie wahr sind, dann sind sie logisch kontingent wahr. Denn aus (F◊Irrtum) folgt: (a) ∀S[∀α(BSα→◊¬α)] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass α, dann ist es logisch möglich, dass α falsch ist.43 (F◊Irrtum) ist daher inkompatibel mit der These, dass manche unserer Überzeugungen und manche unserer Behauptungen logisch notwendig wahre propositionale Gehalte haben. Die Konjunktion aus (F◊Irrtum) und der folgenden These ist inkonsistent: (b) ∃S[∃α(BSα∧α)] Manche unserer Überzeugungen und Behauptungen haben einen logisch notwendig wahren propositionalen Gehalt. Wenn (F◊Irrtum) wahr ist, dann ist keine notwendig wahre Proposition Gehalt einer unserer Überzeugungen oder Behauptungen, das heißt, es gilt:
42
43
Vgl. dazu Haack 1979b; Hetherington 1999, 2002, S. 145-149. (F◊Irrtum)→(a): 1 (1) ∀S[∀α[BSα→◊(BSα∧¬α)]] 1 (2) Bap→◊(Bap∧¬p) 3 (3) Bap 1, 3 (4) ◊(Bap∧¬p) 1, 3 (5) ◊Bap∧◊¬p 1, 3 (6) ◊¬p 1 (7) Bap→◊¬p 1 (8) ∀S[∀α(BSα→◊¬α)] --(9) ∀S[∀α[BSα→◊(BSα∧¬α)]]→ ∀S[∀α(BSα→◊¬α)]
S. 565; Lehrer 1990, S. 45f.; Reed
Ann. (F◊Irrtum) 1, ∀-Instantiierung Ann. 2, 3, MP 4, ◊(P∧Q)→(◊P∧◊Q) 5, ∧-Elimin. 3, 6, →-Einf. 7, ∀-Einf. 1, 8, →-Einf.
II. Fallibilität und Fallibilismus
111
(F◊Irrtum)→non-(b).44 Einem Fallibilisten, der an (F◊Irrtum) als Formulierung seiner These in Begriffen des immer möglichen Irrtums in unmodifizierter Form festhalten wollte, bliebe demnach keine andere Wahl, als zu bestreiten, dass manche der propositionalen Gehalte unserer Überzeugungen und Behauptungen notwendig wahr sind.45 Einem Fallibilisten dagegen, der an 44
45
(F◊Irrtum)→non-(b): 1 (1) ∀S[∀α[BSα→◊(BSα∧¬α)]] 2 (2) ∃S[∃α(BSα∧α)] 3 (3) Bap∧p 3 (4) Bap 1 (5) Bap→◊(Bap∧¬p) 1, 3 (6) ◊(Bap∧¬p) 1, 3 (7) ◊Bap∧◊¬p 1, 3 (8) ◊¬p 3 (9) p 3 (10) ¬◊¬p 1, 3 (11) ⊥ 1, 2 (12) ⊥ 1 (13) ¬∃S[∃α(BSα∧α)] --(14) ∀S[∀α[BSα→◊(BSα∧¬α)]]→ ¬∃S[∃α(BSα∧α)]
Ann. (F◊Irrtum) Ann. (b) Ann. typisches Disjunkt von (2) 3, ∧-Elimin. 1, ∀-Instantiierung 4, 5, MP 6, ◊(P∧Q)→(◊P∧◊Q) 7, ∧-Elimin. 3, ∧-Elimin. 9, P→¬◊¬P 8, 10, ∧-Einf. 2, 3, 11, ∃-Elimin. 2, 12, RAA 1, 13, →-Einf.
Eine entsprechende Interpretation der fallibilistischen These ist von Thomas Grundmann vertreten worden: „Der universelle Fallibilismus [...] besagt, daß es keine sicheren Aussagen gibt. Unter der Sicherheit, die der Fallibilismus sämtlichen Aussagen abspricht, ist nicht deren psychologische Verankerung im Überzeugungssystem einer Person, sondern ihr objektiver Geltungsstatus zu verstehen. Als sicher in diesem Sinn könnte eine Aussage nur dann gelten, wenn sie notwendig wahr wäre. Der universelle Fallibilismus behauptet also, daß sich von keiner Aussage sagen läßt, daß sie notwendig wahr ist.“ (Grundmann 1993, S. 331 f.) Nun trifft es zwar zu, dass der Fallibilist keine Behauptung in Bezug auf die ‚psychologische Verankerung‘ von Aussagen in den Überzeugungssystemen epistemischer Subjekte aufstellt – dazu Abschn. II.1.3 –, aber ebenso wenig macht er eine Aussage über den ‚objektiven Geltungsstatus‘ der propositionalen Gehalte unserer Überzeugungen und Behauptungen. Warum also sollte er als Fallibilist auf die These festgelegt sein, dass wir niemals rational dazu berechtigt sind, die Behauptung aufzustellen, eine gegebene Proposition sei notwendig wahr? Er wird einfach darauf hinweisen, dass eine solche Behauptung – ebenso wie jede andere – fallibel ist. Selbst dann, wenn Grundmann mit der Annahme richtig läge, dass sich die epi-
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II. Fallibilität und Fallibilismus
der Formulierung seiner These mit Hilfe des Konzepts des möglichen Irrtums festhalten und andererseits nicht bestreiten will, dass manche unserer Überzeugungen oder Behauptungen einen notwendig wahren propositionalen Gehalt haben46, scheinen drei argumentative Züge zur Verfügung zu stehen, deren erfolgreiche Durchführung es ihm erlauben würde, das oben vorgebrachte Argument zu blockieren: (i) Er könnte die oben gegebenen Erläuterungen der Konzepte des Irrtums und des möglichen Irrtums, also (DefIrrtum) und (Def◊Irrtum), bestreiten, genauer: Er könnte in Abrede stellen, dass eine gegebene Behauptung oder Überzeugung B nur dann einen Irrtum darstellt, wenn der propositionale Gehalt von B falsch ist, und dass B nur dann einen möglichen Irrtum darstellt, wenn die Falschheit des propositionalen Gehalts von B möglich ist. Damit würde er sich erstens den logischen Raum schaffen, auf wenigstens konsistente Weise behaupten zu können, dass ein epistemisches Subjekt sich mit seiner Überzeugung oder Behauptung, dass p, auch dann im Irrtum befinden kann, wenn es logisch notwendig wahr ist, dass p, und zweitens würde er dadurch der Festlegung auf die Behauptung der Negation von (b) entgehen. (ii) Er könnte die These vertreten, dass Überzeugungen und Behauptungen mit notwendig wahrem propositionalen Gehalt eo ipso infallibel sind und dann die Reichweite des zweiten Allquantors in (F◊Irrtum) auf logisch kontingente Propositionen einschränken. Auch dieser Argumentationszug würde, sofern er gelänge, den Proponenten der These, dass der Fallibilismus in Begriffen logisch möglichen Irrtums zu formulieren ist, vor einer Festlegung auf die Behauptung der Negation von (b) bewahren. (iii) Er könnte versuchen, die modale Komponente in ‚es ist möglich, dass S sich mit ihrer Meinung/Behauptung, dass p, im Irrtum
46
stemische Sicherheit respektive die Gewissheit, deren Möglichkeit durch den Fallibilismus seiner Ansicht nach bestritten wird, nur auf notwendig wahre Aussagen richten könnte, wäre es unplausibel, den Fallibilismus mit der These zu identifizieren, dass es keine notwendig wahren Aussagen gibt. Genau darauf läuft Grundmanns Formulierung aber hinaus. Eine Aussage nicht zu bestreiten bedeutet nicht, diese Aussage zu behaupten.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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befindet‘ respektive den in (F◊Irrtum) verwendeten Modaloperator ◊ mit einer Erläuterung zu versehen, die es erlauben würde, die Zuschreibung möglichen Irrtums von der Zuschreibung logisch möglicher Falschheit des propositionalen Gehalts der Überzeugung oder Behauptung, die jeweils als möglicherweise irrtümlich bezeichnet wird, begrifflich zu entkoppeln. Prima facie bietet sich hierfür das Konzept der epistemischen Möglichkeit an.47 Zu (i): Dieser Argumentationszug wäre bloß ad hoc, solange er nicht mit einer triftigen Begründung der mit ihm implizit verknüpften Behauptung einherginge, dass wir den Ausdruck ‚Irrtum‘ bisher völlig falsch verstanden und verwendet haben. Wie aber sollte eine solche Begründung aussehen? Die These, es sei logisch möglich, dass sich eine Person, die – aus welchen Gründen auch immer – eine Überzeugung mit logisch notwendig wahrem propositionalen Gehalt besitzt, mit dieser Überzeugung im Irrtum befindet, ist schlicht falsch. Irrtum impliziert Falschheit, und daher impliziert die logische Möglichkeit, dass eine gegebene Überzeugung oder Behauptung ein Irrtum respektive Ausdruck eines Irrtums ist, auch die logische Möglichkeit der Falschheit des propositionalen Gehalts dieser Überzeugung oder Behauptung. Eine Überzeugung mit logisch notwendig wahrem ist eine mit logisch unmöglich falschem propositionalen Gehalt. Es ist daher logisch unmöglich, dass sie einen Irrtum darstellt.48 Das heißt nicht, dass jede Überzeugung mit notwendig wahrem propositionalen Gehalt eo ipso schon ein Wissen darstellt. Die beiden Aussagen (1) S weiß, dass p. (2) S irrt sich darin, dass p. sind einander konträr, nicht kontradiktorisch entgegengesetzt. Sie können zwar nicht beide zugleich wahr sein, aber sie können beide zugleich falsch sein. Sie sind zum Beispiel dann beide falsch, wenn S nicht davon überzeugt ist, also nicht glaubt, dass p, oder auch dann, wenn p wahr ist und S zwar glaubt respektive davon überzeugt ist, dass p, S diese Überzeugung aber aus Gründen hat, die für das Wissen, dass p, nicht hinreichen. 47 48
Vgl. dazu kritisch Haack 1979b, S. 48 f., und Reed 2002, S. 145 f. Vgl. Hetherington 1999, S. 565: „No belief in a necessary truth can be mistaken – because no necessary truth can be false.“ Vgl. auch Lehrer u. Kim 1990, S. 100.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Zu (ii): Auch dieser Argumentationszug ist wenig plausibel, denn es ist unklar, weshalb die Tatsache, dass eine gegebene Proposition p logisch notwendig wahr ist, für sich genommen eine hinreichende Bedingung der Infallibilität von Überzeugungen und Behauptungen darstellen sollte, die p zum propositionalen Gehalt haben. Nur dann, wenn sich ein solcher direkter Zusammenhang zwischen der logisch notwendigen Wahrheit von Aussagen einerseits und der Infallibilität von Überzeugungen und Behauptungen, die notwendige Wahrheiten zum propositionalen Gehalt haben, andererseits nachweisen ließe, wäre die Exklusion von Überzeugungen und Behauptungen mit notwendig wahrem propositionalen Gehalt aus dem Gültigkeitsbereich der fallibilistischen These gerechtfertigt. Zwar ist es in der Tat logisch unmöglich, dass eine Überzeugung mit logisch notwendig wahrem propositionalen Gehalt einen Irrtum darstellt, aber dies spricht eben nicht dafür, dass jede derartige Überzeugung infallibel ist, sondern eher dafür, dass die Aussagen (3) S’ Überzeugung, dass p, ist infallibel. und (4) Es ist logisch unmöglich, dass S sich mit ihrer Überzeugung, dass p, im Irrtum befindet. unterschiedliche Wahrheitsbedingungen haben, so dass (4) a fortiori nicht als angemessene Explikation von (3) gelten kann. Dasselbe gilt für: (5) S’ Überzeugung, dass p, ist fallibel. (6) Es ist logisch möglich, dass S sich mit ihrer Überzeugung, dass p, im Irrtum befindet. Wie steht es um den letzten der oben antizipierten Argumentationszüge? Zu (iii): Eine naheliegende Reaktion auf das oben vorgebrachte Argument bestünde in der Tat darin, den Möglichkeitsoperator im Nachsatz von (F◊Irrtum), nicht als Ausdruck logischer oder begrifflicher, sondern als solchen epistemischer Möglichkeit zu lesen. Für dieses Verständnis der modalen Wendung ‚möglicher Irrtum‘ spricht, dass der Fallibilismus eine erkenntnistheoretische, nicht aber eine logische These darstellt: (F◊Irrtum-epistemisch) ∀S[∀α[BSα→◊(BSα∧¬α)]] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass α, dann ist es epistemisch möglich (für S), dass S glaubt/behauptet, dass α, obwohl α falsch ist.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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Ebenso wie logische Möglichkeit distribuiert auch epistemische Möglichkeit über Konjunktionen, das heißt, eine gegebene Konjunktion ist für eine Peron S nur dann epistemisch möglich, wenn jedes ihrer Konjunkte für S epistemisch möglich ist. Somit folgt aus (F◊Irrtum-epistemisch): (aepistemisch) ∀S[∀α(BSα→◊¬α)] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Aussagen α gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass α, dann ist es epistemisch möglich (für S), dass α falsch ist. Vorausgesetzt, dass logische Möglichkeit keine notwendige Bedingung für epistemische Möglichkeit darstellt, ist ein Proponent von (F◊Irrtum-epistemisch) nicht darauf festgelegt, die These zu bestreiten, dass manche unserer Überzeugungen und Behauptungen einen logisch notwendig wahren propositionalen Gehalt haben. Es ist aber fraglich, ob diese Voraussetzung zutrifft. Die in der Literatur am häufigsten diskutierte Erläuterunge des Konzepts der epistemischen Möglichkeit49 lässt sich vollständig in Begriffen der logischen Konsistenz respektive Inkonsistenz einer gegebenen Proposition p mit einer Menge M von Propositionen explizieren, die als Gehalt des Wissens eines epistemischen Subjekts oder auch einer beliebig großen Gruppe solcher Subjekte vorausgesetzt wird: (◊-epistemischA) Es ist für ein epistemisches Subjekt oder auch für eine Gruppe epistemischer Subjekte S dann und nur dann epistemisch möglich, dass p, wenn die Konjunktion aus p und allen Propositionen α, für die gilt, dass S weiß, dass α, logisch konsistent, also widerspruchsfrei ist. Epistemische Möglichkeit ist dieser Deutung nach nichts weiter als logische Möglichkeit relativ zu einer Menge wahrer – weil gewusster – Aussagen. Der Gehalt von (◊-epistemischA) kann daher auch folgendermaßen zum Ausdruck gebracht werden: (◊-epistemischA’) Es ist für eine Person oder eine Gruppe von Personen S dann und nur dann epistemisch möglich, dass p, wenn die Wahrheit der Konjunktion aus p und allen Aussagen α, für die gilt, dass S weiß, dass α, logisch möglich ist. 49
Vgl. DeRose 1991, S. 596-601; Gendler u. Hawthorne 2002, S. 3; Girle 2000, S. 148-168; Hale 1997, S. 488; Hintikka 1962, S. 5 u. S. 10 f.; Huemer 2007, S. 124.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Wenn diese Erläuterung zutrifft, dann ist logische Möglichkeit eine notwendige Bedingung epistemischer Möglichkeit: Jede Konjunktion von Aussagen, die eine logisch unmöglich wahre Proposition als Konjunkt enthält, ist logisch notwendig falsch.50 Die logisch notwendige Wahrheit des propositionalen Gehalts p der gegebenen Behauptung oder Überzeugung B eines epistemischen Subjekts S wäre demnach eine hinreichende Bedingung dafür, dass die Wahrheit der Aussage non-p für S nicht epistemisch möglich ist. Auch ein Proponent von (F◊Irrtum-epistemisch) müsste also nolens volens bestreiten, dass manche unserer Überzeugungen und Behauptungen einen logisch notwendig wahren propositionalen Gehalt haben. Jason Stanley hat eine abgeschwächte Variante der soeben diskutierten Erläuterung des Konzepts epistemischer Möglichkeit vorgeschlagen: (◊-epistemischB) „It is possibleS that p is true if and only if what S knows does not, in a manner that is obvious to S, entail not-p.“51 Diese Explikation lässt einigen Raum für die These, dass es für eine Person oder Gruppe von Personen S auch dann epistemisch möglich sein kann, dass p, wenn die Aussage non-p logisch notwendig wahr ist: Die Wahrheit einer logisch notwendig falschen Aussage p kann nach Stanleys Erläuterung für S epistemisch möglich sein, wenn non-p nicht auf für S offensichtliche Weise aus der Konjunktion aller Aussagen folgt, von denen S weiß, dass sie wahr sind. Aber gleichviel, ob man sich an (◊-epistemischA/A’) oder an (◊-epistemischB) hält, wird hier ein weiteres Problem der entsprechenden epistemisch-modalen Lesarten des Möglichkeitsoperators im Nachsatz von (F◊Irrtum) deutlich: Sowohl gemäß (◊-epistemischA/A’) wie auch gemäß (◊-epistemischB) gedeutet, impliziert (F◊Irrtum-epistemisch) jene wenig subtile Variante des Skeptizismus, auf die oben schon hingewiesen wurde, die These nämlich, dass wir nichts wissen. Dies zeigt das folgende Argument: Nehmen wir – per Reductio ad absurdum – an, dass die Person S weiß, dass p. Sowohl vor dem Hintergrund der ersten als auch vor dem Hintergrund der zweiten der gerade skizzierten Erläuterungen des Begriffs der epistemischen Möglichkeit folgt aus dieser Annahme direkt, dass die Wahrheit der Aussage non-p für S nicht epistemisch möglich ist. Was die 50 51
Vgl. die auf S. 109 gegebene Erläuterung des Konzepts der logischen Möglichkeit. Stanley 2005, S. 128. Vgl. auch DeRose 1991. Ich habe den von Stanley verwendeten Platzhalter ‚A‘ hier durch ‚S‘ ersetzt.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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erste Erläuterung angeht, so genügt es, auf Folgendes hinzuweisen: Wenn S weiß, dass p, dann ist die Konjunktion aus non-p und allen Aussagen, die Gehalt des Wissens von S sind, logisch inkonsistent. Denn sie ist in jedem Fall inkonsistent mit der Aussage p selbst, die ex hypothesi von S gewusst wird. Was Stanleys Explikationsvorschlag angeht, so genügt hier der Hinweis: Wenn irgendetwas auf für S offensichtliche Weise (‚in a manner that is obvious to S‘) aus der von S gewussten Proposition p folgt, dann die Aussage non-non-p beziehungsweise die Aussage p selbst. Vorausgesetzt, dass (F◊Irrtum-epistemisch) eine korrekte Formulierung der fallibilistischen These darstellt, folgt in beiden Fällen die Aussage, dass S noch nicht einmal glaubt, dass p, und weil Wissen, dass p, die Überzeugung oder Meinung erfordert, dass p, folgt in beiden Fällen, dass S nicht weiß, dass p. Dies widerspricht unserer anfänglichen Annahme. Wollte man an dieser Stelle an (F◊Irrtum-epistemisch) festhalten, so müsste man diese anfängliche Annahme verabschieden – und zwar für jedes beliebige epistemische Subjekt S und jede beliebige Aussage p. Die epistemische Lesart der modalen Komponente in ‚es ist möglich, dass S sich darin irrt, dass p‘ legt jeden Proponenten von (F◊Irrtum-epistemisch) auf die Anerkennung der skeptischen These fest, dass keine einzige unserer Überzeugungen ein Wissen darstellt und keine einzige unserer Behauptungen ein Wissen zum Ausdruck bringt. Und dies will eben kein Fallibilist behaupten. Liest man die modale Wendung ‚es ist möglich, dass S sich darin irrt, dass p‘ dagegen im Sinne logischer Möglichkeit, dann zeigt sich, dass jeder Proponent von (F◊Irrtum) allein aufgrund seiner Deutung des Fallibilismus auf die Anerkennung der fragwürdigen These festgelegt ist, dass keine unserer Überzeugungen und Behauptungen einen logisch notwendig wahren propositionalen Gehalt hat. In beiden Lesarten verstößt (F◊Irrtum) gegen die oben formulierten Adäquatheitsbedingungen für Explikationen der fallibilistischen These. Der Fallibilismus sollte daher nicht in Begriffen möglichen Irrtums zum Ausdruck gebracht werden.
II.1.2
Fallibilismus und logische Folgebeziehung
Peirce und Popper vertreten eine Kombination aus Fallibilismus und Antiskeptizismus. Zum einen behaupten sie, dass alle unsere – oder doch die
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II. Fallibilität und Fallibilismus
weitaus meisten unserer – Überzeugungen fallibel sind, und zum anderen, dass wir in vielen Fällen, in denen wir zu wissen beanspruchen, dass p, tatsächlich wissen, dass p.52 Die Konjunktion dieser Thesen kann, wie oben deutlich wurde, nur dann konsistent behauptet werden, wenn zugleich die folgende Aussage bestritten wird: (1) Infallible Überzeugung ist eine notwendige Bedingung für Wissen. In der aktuellen Fallibilismus-Diskussion ist es inzwischen üblich geworden, (1) als das kontradiktorische Gegenteil der fallibilistischen These zu behandeln und den Fallibilismus dementsprechend mit der Negation von (1) zu identifizieren: (2) Infallible Überzeugung ist keine notwendige Bedingung für Wissen.53 So gehen auch Richard Feldman und Jason Stanley vor54, deren Vorschläge zur Formulierung des Fallibilismus ich jetzt diskutieren will. Dazu ist es erforderlich, dass ich mich zunächst auf deren eigenwillige Deutung des Fallibilismus als These über propositionales Wissen – anstatt über Behauptungen und Überzeugungen – einlasse. Die Frage nach der korrekten Explikation des Fallibilismus wird von Feldman und Stanley mit der Frage nach der korrekten Explikation von (2) gleichgesetzt. Feldman schlägt vor, (2) in dem folgenden Sinn zu verstehen: „It is possible for S to know that p even if S does not have logically conclusive evidence to justify believing that p.“55 Die Pointe dieser Formu52
53
54 55
Vgl. Peirce 1931-1938, 1.14 und 5.311 f.; Popper 1961a, S. 375 f., und Popper 1963, S. VII. Allerdings vermeiden es sowohl Peirce als auch Popper, die These, dass wir in vielen Fällen über propositionales Wissen verfügen, direkt in die Bestimmung des Gehalts des Fallibilismus aufzunehmen. In der neueren Diskussion wird diese anti-skeptizistische These dagegen oft von vornherein als Element der fallibilistischen These behandelt. Vgl. etwa Reed 2002, S. 143: „Fallibilism is the philosophical view that conjoins two apparently obvious claims. On one hand, we are fallible. [...] But, on the other hand, we also have quite a bit of knowledge.“ Vgl. Brueckner 2005; Cohen 1988; Fantl u. McGrath 2009; Leite 2004; Lewis 1996; Reed 2002. Dutant 2007, S. 59, schreibt: „Infallibilism is the claim that knowledge requires that one satisfies [sic.] some infallibility condition.“ Vgl. Feldman 1981 und Stanley 2005. Feldman 1981, S. 266.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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lierung liege dabei in der Aussage, dass nicht-deduktiv begründetes Wissen möglich sei: „[P]eople can know things on the basis of nondeductive arguments. That is, they can know things on the basis of inductive, perceptual, or testimonial evidence that does not entail what it is evidence for.“56
Stanley macht eine Explikation des von ihm im Sinn von (2) verstandenen Fallibilismus geltend, die derjenigen Feldmans im Wesentlichen entspricht: „What is fallibilism in epistemology? Fallibilism is a certain claim about the character of one’s evidence for one’s knowlege. Fallibilism is the doctrine that someone can know that p, even though their evidence for p is logically consistent with the truth of not-p.“57
Zwar sind die von Stanley und Feldman gebrauchten Wendungen ‚even though...‘ und ‚even if...‘ (‚selbst dann, wenn...‘) etwas missverständlich, aber es scheint klar, dass beide den Fallibilismus als die Negation der folgenden These verstanden wissen wollen: (3) Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: S weiß nur dann, dass α, wenn S von α auf der Basis von Evidenzen überzeugt ist, welche mit der Wahrheit von non-α logisch inkonsistent sind.58 Nun sind logische Konsistenz und Inkonsistenz ebenso wie logische Folge (entailment) Eigenschaften von beziehungsweise Relationen zwischen Aussagen. Mit dem Ausdruck ‚evidence‘ müssen Stanley und Feldman also etwas meinen, das propositionalen Gehalt hat. Anderenfalls bliebe unverständlich, inwiefern Evidenzen, auf deren Grundlage ein epistemisches Subjekt davon überzeugt ist, dass p, überhaupt mit der Proposition non-p logisch inkonsistent sein oder auch den propositionalen Gehalt der Überzeugung, dass p, logisch konklusiv begründen könnten. Die von Stanley 56 57 58
Feldman 1981, S. 267. Stanley 2005, S. 127. Ich verwende den Ausdruck ‚Evidenz‘ und seinen Plural ‚Evidenzen‘ hier und im Rest dieses Abschnitts als Übersetzung des Ausdrucks ‚evidence‘ wie er in weiten Teilen der englischsprachigen erkenntnistheoretischen Diskussion und auch in den zitierten Passagen von Stanley und Feldman gebraucht wird, also als Sammelbegriff für alles, was in die Begründung von Überzeugungen und Behauptungen eingehen kann: andere Überzeugungen, Wahrnehmungen und Wahrnehmungsaussagen, Erinnerungen, Beobachtungen und Beobachtungsaussagen etc.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
und Feldman vorgeschlagene Erläuterung der fallibilistischen These, derzufolge die Pointe des Fallibilismus in der Aussage besteht, dass propositionales Wissen nicht in jedem Fall logisch konklusive Begründung erfordert, hinge dann begrifflich in der Luft. S’ Evidenzen e für den propositionalen Gehalt ihrer Überzeugung, dass p, sind genau dann logisch inkonsistent mit non-p, wenn p aus e logisch folgt. Und S ist von p genau dann auf der Basis logisch konklusiver Evidenzen e überzeugt, wenn die Konjunktion aus e und non-p logisch inkonsistent ist. Stanleys und Feldmans Formulierungen der fallibilistischen These sind daher äquivalent mit der folgenden Aussage: (4) In manchen Fällen stellt das Verfügen über Evidenzen, aus denen die Aussage p logisch folgt, keine notwendige Bedingung dafür dar, zu wissen, dass p. Was ist von Feldmans und Stanleys Vorschlägen zu halten? Ist (4) eine adäquate Erläuterung von (2)? Zunächst ist klar, dass ein Fallibilist, der die Möglichkeit nicht-deduktiv begründeten propositionalen Wissens einräumen will59, weder die These (4) bestreiten noch Feldmans Behauptung in Frage stellen wird, dass Wissen auf der Basis nicht-deduktiver Argumente möglich ist (‚people can know things on the basis of non-deductive arguments‘). Was er aber als unberechtigt zurückweisen sollte, ist der von Stanley und Feldman erhobene Anspruch, mit (4) eine Explikation der fallibilistischen These geliefert zu haben – und zwar selbst dann, wenn er sich auf die Umdeutung des Fallibilismus als These über propositionales Wissen einlässt und (2) als diejenige Aussage annimmt, um deren Erläuterung es einer Charakterisierung der Pointe der fallibilistischen These zu gehen habe. Denn indem Stanley und Feldman (4) als Explikation von (2) anbieten, stützen sie sich implizit auf ein sehr problematisches Verständnis des Prädikats ‚fallibel‘: (5) Die Überzeugung, dass p, eines epistemischen Subjekts S ist genau dann fallibel, wenn S von p auf der Basis von Evidenzen überzeugt ist, aus denen die Aussage p nicht logisch folgt. (5) impliziert nun die folgende Aussage über Infallibilität: 59
Etwa ein Fallibilist, der die Möglichkeit induktiv begründeten oder auch gar nicht weiter begründeten Wissens einräumen will.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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(6) Die Überzeugung, dass p, eines epistemischen Subjekts S ist genau dann nicht fallibel (also infallibel), wenn S von p auf der Basis von Evidenzen überzeugt ist, aus denen die Aussage p logisch folgt. (6) ist aber evidentermaßen falsch, und deshalb stellt (4) keine angemessene Erläuterung von (2) dar.60 Die folgenden zwei Beispiele machen deutlich, dass das Verfügen über Evidenzen e, aus denen die Aussage p logisch folgt, keine hinreichende Bedingung für die Infallibilität einer durch e begründeten Überzeugung, dass p, darstellt: Takeshi ist davon überzeugt, dass ein Tier auf dem Bildschirm seines Computers sitzt. Würde ihn jemand fragen: ‚Warum glaubst du das?‘, so würde er sinngemäß folgendermaßen antworten: ‚Da sitzt ein Marienkäfer auf dem Bildschirm meines Computers, und alle Marienkäfer sind Tiere.‘ Es ist nicht möglich, dass beide Elemente dieser Konjunktion, die insgesamt Takeshis Begründung seiner Überzeugung darstellt, dass ein Tier auf dem Bildschirm seines Computers sitzt, wahr sind, der propositionale Gehalt seiner Überzeugung dagegen nicht wahr ist. Letzterer folgt logisch aus den Gründen, die Takeshi für seine Überzeugung anführt. Diese Tatsache allein ist aber nicht hinreichend dafür, dass Takeshis Überzeugung der epistemische Status der Infallibilität zukommt. Auch dann, wenn das erste Konjunkt der von Takeshi angeführten Begründung falsch ist folgt der propositionale Gehalt von Takeshis Überzeugung logisch aus Takeshis Gründen. Im Rekurs auf falsche Aussagen begründete Überzeugungen sind aber allemal fallibel. 60
Hier könnte der Einwand naheliegen, dass Feldman und Stanley der These (4) doch nur den Namen ‚Fallibilismus‘ geben, und dass man dies allenfalls als irreführende terminologische Festlegung kritisieren könne. Aber dieser Einwand wäre ungerechtfertigt, denn Feldman und Stanley beanspruchen explizit, den Kerngedanken der erkenntnistheoretischen These des Falliblismus zu rekonstruieren. Stanley will eine Antwort auf die Frage: „What is fallibilism in epistemology?“, geben (Stanley 2005, S. 127). Und Feldmans erklärtes Ziel besteht darin, zu einem korrekten Verständnis der fallibilistischen These zu gelangen – „to understand fallibilism“ (Feldman 1981, S. 266).
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Akane ist überzeugt, dass alle geraden Zahlen größer als 2 sich als Summe zweier Primzahlen darstellen lassen. Nehmen wir nun an, sie würde, fragte sie jemand: ‚Warum glaubst du das?‘, so antworten: ‚Ich habe in Bezug auf alle geraden Zahlen kleiner als 4561 und größer als 2 festgestellt, dass sie sich als Summe zweier Primzahlen darstellen lassen. Wenn sich aber alle geraden Zahlen kleiner als 4561 und größer als 2 als Summe zweier Primzahlen darstellen lassen, dann muss dasselbe für alle geraden Zahlen größer als 2 gelten.‘61 Es ist nicht möglich, dass beide Elemente dieser Konjunktion, die insgesamt die Begründung von Akanes Überzeugung ausmacht, wahr sind, der propositionale Gehalt ihrer Überzeugung dagegen nicht wahr ist. Letzterer folgt unabhängig von dem tatsächlichen Wahrheitswert der Propositionen, aus denen Akanes Begründung besteht, logisch-begrifflich aus den Gründen, die sie für ihre Überzeugung anführt. Selbst dann, wenn die Goldbachsche Vermutung wahr sein sollte, würde es sich bei Akanes Überzeugung aber um eine fallible Überzeugung handeln. Denn die Gründe, durch die Akane ihre Überzeugung rechtfertigt, sind keine guten Gründe, geschweige denn Gründe, welche ihre Überzeugung zu einer infalliblen machen würden. Stanley deutet in die richtige Richtung, wenn er – zwar nicht in wörtlicher, aber in sachlicher Übereinstimmung mit Feldman – behauptet, der Fallibilismus sei eine These, die den ‚character of one’s evidence‘ betreffe.62 Falsch liegen Stanley und Feldman aber, indem sie davon ausgehen, dass Aussagen über die Fallibilität oder Infallibilität von Überzeugungen, also Aussagen wie S’ Überzeugung, dass p, ist (in-)fallibel, durch Aussagen des folgenden Typs erläutert werden können: S ist von p auf der Basis von Evidenzen/Gründen überzeugt, aus denen p (nicht) logisch folgt. Feldman scheint sich dieses Einwandes bewusst zu sein: 61
62
Ich verwende ‚feststellen, dass...’ hier als ein Erfolgsverb in Ryles Sinn: Man stellt nur dann fest, dass q, wenn es wahr ist, dass q. Der Zusatz ‚for one’s knowledge‘ ist freilich zu restriktiv.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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„It should be noted that if one proposition, P, is known fallibly, and P entails Q, and Q is believed on the basis of P, then Q is also known fallibly even though the evidence for Q, i.e., P, entails Q.“63
Feldman räumt hier ein, dass S’ Wissen, dass q, auch dann fallibel sein kann, wenn S von q auf der Basis von Evidenzen überzeugt ist, aus denen q logisch folgt. Insofern müsste er seinen Anspruch, mit (4) eine akzeptable Explikation des Fallibilismus – und sei es des im Sinne von (2) verstandenen Fallibilismus – geliefert zu haben, eigentlich zurücknehmen. Denn wenn es Wissen gibt, das logisch konklusiv begründet und dennoch fallibel ist, dann kann die Pointe der fallibilistischen These offenbar nicht darin bestehen, dass man in manchen Fällen auch dann wissen kann, dass p, wenn man keine logisch konklusiven Evidenzen für p zur Verfügung hat. Das Bestehen der Folgebeziehung zwischen den propositionalen Gehalten unserer Evidenzen oder Gründe und denjenigen der Überzeugungen, die durch diese Evidenzen oder Gründe jeweils begründet werden sollen, ist eine logische, nicht jedoch eine per se epistemisch relevante Tatsache; und der Fallibilist will – daran erinnert Susan Haack zu Recht – eine erkenntnistheoretische These geltend machen, nicht aber eine logische: „[F]allibilism is [...] an epistemological, not a logical, thesis“64. Genauso wenig wie der Fallibilismus sich auf eine These über den alethisch- oder epistemisch-modalen Status der propositionalen Gehalte unserer Überzeugungen und Behauptungen reduzieren lässt, lässt er sich auf eine These reduzieren, welche bloß die logischen Beziehungen zur Sprache bringt, die zwischen den propositionalen Gehalten unserer Überzeugungen und Behauptungen auf der einen Seite und den propositionalen Gehalten unserer Gründe und Evidenzen auf der anderen bestehen. Die logische Folgebeziehung ist, mit G. H. von Wright gesprochen, eine Relation zwischen Propositionen, „that subsists quite independently of either the truth-values or the modal status of the propositions.“65 Ob eine gegebene Proposition q aus einer anderen gegebenen Proposition p logisch folgt oder nicht, ist unabhängig davon, welchen Wahrheitswert p und q tatsächlich haben.66 Nehmen 63 64 65 66
Feldman 1981, S. 267. Vgl. Haack 1979b, S. 48. von Wright 1957, p. 177. Wenn q notwendig wahr ist, dann folgt q (klassisch) logisch aus jeder beliebigen, sei es wahren oder falschen, Proposition. Insofern ist die Beantwortung der Frage,
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II. Fallibilität und Fallibilismus
wir an, dass die Aussage q logisch aus der Aussage p folgt, und dass p den propositionalen Gehalt der Evidenz darstellt, auf deren Basis S von q überzeugt ist. Sowohl die Falschheit von p als auch die Falschheit von q ist dann eine hinreichende Bedingung dafür, dass es sich bei S’ Überzeugung, dass q, um eine fallible Überzeugung handelt. Die Tatsache, dass q logisch aus p folgt, ändert daran nichts.
II.1.3
Fallibilismus und epistemische Gewissheit
Eine weitere, im Vergleich zu der zuletzt diskutierten sehr viel plausibler erscheinende Explikation der fallibilistischen These rekurriert auf das Konzept der Gewissheit beziehungsweise der Sicherheit. Sie findet sich wiederum bei Peirce und Popper, welche sie scheinbar als eine verbale Variante ihrer im vorletzten Abschnitt diskutierten Erläuterung des Fallibilismus in Begriffen möglichen Irrtums auffassen.67 So charakterisiert Peirce den Fallibilismus an einer Stelle als die These, „that people cannot attain absolute certainty concerning questions of fact.“68 In dieser Formulierung schränkt er den Gültigkeitsbereich des Fallibilismus durch die Wendung ‚concerning questions of fact‘ auf empirische Diskurse ein. Einige Zeilen zuvor ist er weniger vorsichtig und formuliert den Fallibilismus als eine für alle Diskurse gültige These: „We can never be absolutely sure of anything“69. Popper bringt dasselbe zum Ausdruck, wenn er die Pointe des Fallibilismus durch die Aussage zusammenfasst, „that certainty is not for us“70. Um
67 68 69
70
ob q aus p logisch folgt, nicht vollkommen unabhängig davon, welchen modalen Status q hat. Aber dieser Punkt kann hier vernachlässigt werden. Vgl. auch Albert 1991, S. 9-12 und S. 28-34. Peirce 1931-1938, 1.149. Peirce 1931-1938, 1.147. In einer Passage, die oben bereits zitiert wurde, behauptet Peirce zum Beispiel, dass auch mathematische Diskurse fallibel sind: „In practice and in fact mathematics is not exempt from that liability to error that affects everything that man does.“ (Peirce 1931-1938, 5.577.) Ferner vertritt er – zumindest an einigen Stellen – einen selbstanwendbaren Fallibilismus, demzufolge auch die Behauptung der fallibilistischen These – „without claiming absolute certainty for it“ (Peirce 1931-1938, 1.151) – unter Fallibilitätsvorbehalt gestellt werden müsse. Vgl. dagegen aber Peirce 1931-1938, 2.75. Popper 1961a, S. 374.
II. Fallibilität und Fallibilismus
125
diese Formulierungen genauer zu verstehen, muss geklärt werden, was Peirce und Popper mit dem Wort ‚certainty‘ meinen oder meinen sollten, wenn ihre Behauptung, dass wir keine Gewissheit haben können, als Behauptung der fallibilistischen These verstehbar sein soll. Der Ausdruck ‚Gewissheit‘ ist mehr-, zumindest aber zweideutig. Einerseits kann mit ihm eine bestimmte psychologisch beschreibbare Haltung oder Einstellung gemeint sein, die epistemische Subjekte in Bezug auf propositionale Gehalte ihrer Meinungen, Überzeugungen und Behauptungen einnehmen. Gewissheit in diesem Sinn liegt dann vor, wenn eine Person in Bezug auf ihre Überzeugung B keine Zweifel hegt, sich sicher ist, dass der propositionale Gehalt von B wahr ist, fest an dessen Wahrheit glaubt usw. Nennen wir diese Variante von Gewissheit ‚subjektiv‘. Andererseits wurde der Ausdruck ‚Gewissheit‘ – beziehungsweise seine Entsprechungen in anderen Sprachen – in der Tradition der philosophischen Erkenntnistheorie manchmal dazu verwendet, eine besondere epistemische Einstellung von Subjekten gegenüber manchen ihrer Überzeugungen und Behauptungen zu bezeichnen, um damit dann die These zu verbinden, dass diesem Typus von Gewissheit die Funktion eines Indikators oder gar die eines garantierenden Kriteriums, einer Art Lackmustest, für Wahrheit zugesprochen werden dürfe. Nennen wir diese Variante der Gewissheit ‚epistemisch‘. Zur subjektiven Variante genügen hier einige knappe Bemerkungen: Sie kann in graduellen Abstufungen auftreten, das heißt, man kann sich subjektiv mehr oder weniger gewiss sein, dass p. An dem einen Ende dieses Spektrums steht die aktuelle Abwesenheit von Zweifel, an dem anderen der Dogmatismus. Unter ‚Abwesenheit von Zweifel‘ kann mit Peirce der Umstand verstanden werden, dass es de facto keinen Anlass gibt, eine gegebene Überzeugung B in Frage zu stellen – zum Beispiel weil bislang keine Befolgung von Handlungsorientierungen, in denen B eine Rolle spielte, zu einem Misserfolg geführt hat, oder weil B de facto von niemandem ernsthaft problematisiert wird.71 Unter ‚Dogmatismus‘ andererseits kann eine Disposition von Personen verstanden werden, in bestimmter Weise auf Einwände gegen manche ihrer Meinungen zu reagieren. Dogmatisch ist eine Person in Bezug auf ihre Überzeugung B dann, wenn sie nicht 71
Vgl. Peirce 1931-1938, 5.376 und 5.523, sowie Rosenberg 2002, S. 285.
126
II. Fallibilität und Fallibilismus
bereit ist, Kritik an B oder Misserfolge in der Befolgung von Handlungsorientierungen, in denen B eine Rolle spielt, zur Kenntnis zu nehmen und argumentativ offen zu prüfen – sei es, dass sie sie schlicht ignoriert oder dass sie sie nicht ernsthaft unter Einräumung der Möglichkeit erwägt, B könnte in epistemischer Hinsicht in Frage gestellt und problematisiert werden. Ein Dogmatiker in Bezug auf B hat immer schon – bewusst oder unbewusst – entschieden, keinen Einwand gegen B als berechtigt anzuerkennen und sich durch nichts in seiner Meinung beirren zu lassen. Zwar ist ‚subjektive Gewissheit‘ primär ein psychologisches, kein epistemologisches Konzept. Es wäre aber falsch, subjektive Gewissheit gänzlich außerhalb dessen anzusiedeln, was sich unter Gesichtspunkten epistemischer Rationalität beurteilen lässt. In dem hier relevanten Sinn ist sie immer Gewissheit, dass etwas der Fall ist, das heißt, sie ist immer bezogen auf die propositionalen Gehalte von Behauptungen und Überzeugungen. Eine Person S, die sich subjektiv gewiss ist, dass p, kann dies auf epistemisch mehr oder weniger rationale Weise sein, je nachdem zum Beispiel, welche Gründe S für p hat, ob sich die Aussage p ohne offensichtliche Widersprüche in die Menge ihrer übrigen Überzeugungen einfügen lässt, und ob S bereit ist, Einwände gegen ihre Überzeugung, dass p, argumentativ offen zu prüfen. Während einerseits eine dogmatische Haltung in Bezug auf eine Überzeugung in jedem Fall epistemisch irrational ist, könnte man andererseits dafür argumentieren, dass Überzeugungen und Behauptungshandlungen immer mit einem gewissen Grad an subjektiver Gewissheit verbunden sind. Aber wie dem auch sei – das Vorhandensein subjektiver Gewissheit, dass p, ist für S selbst jedenfalls kein zusätzlicher epistemischer Grund für ihre Überzeugung oder Behauptung, dass p. Wichtiger als diese Hinweise auf die Gradualität subjektiver Gewissheit zwischen aktueller Abwesenheit von Zweifel und unbeirrbarem Glauben sind in unserem Zusammenhang die folgenden beiden Punkte: Erstens ist es möglich, dass eine Person mit subjektiver Gewissheit davon überzeugt ist oder behauptet, dass p, obwohl es nicht wahr ist, dass p. Und zweitens will kein Fallibilist bestreiten, dass sich unsere Überzeugungen und Behauptungen in mehr oder weniger hohem Maße durch subjektive Gewissheit auszeichnen können. Was Peirce und Popper mit ihren eingangs zitierten Formulierungen des Fallibilismus bestreiten wollen, ist vielmehr die Behauptung, dass wir in Bezug auf manche unserer Überzeu-
II. Fallibilität und Fallibilismus
127
gungen eine epistemische Gewissheit C besitzen oder doch besitzen können, welche wenigstens die folgenden drei Bedingungen erfüllt72: 1. Sie kann, anders als subjektive Gewissheit, nicht auf Propositionen gerichtet sein, die nicht wahr sind. Gewissheit, die den Titel ‚epistemisch‘ verdienen würde, müsste faktiv sein: (CFaktivität) ∀S[∀α(CSα→α)] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn α für S epistemisch gewiss ist, dann ist α wahr. 2. Sie ist erkennbar verschieden von jeder nicht-faktiven oder bloß subjektiven Gewissheit, so dass gilt: Wenn eine Person S in Bezug auf die Proposition, dass p, epistemische oder C-Gewissheit besitzt, dann ist S auch in der Lage, sich diese Tatsache reflexiv zu vergegenwärtigen. Nennen wir dies die Bedingung der Wissenstransparenz epistemischer Gewissheit: (CKTransparenz) ∀S[∀α[CSα→KS(CSα)]] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn α für S epistemisch gewiss ist, dann weiß S, dass α für S epistemisch gewiss ist. 3. Auch das Nichtverfügen über epistemische Gewissheit ist reflexiv erkennbar, das heißt, wann immer eine Person S in Bezug auf eine von ihr für wahr gehaltene Proposition p keine epistemische Gewissheit besitzt, weiß S oder kann S doch zu dem Wissen gelangen, dass dies der Fall ist: (¬CKTransparenz) ∀S[∀α[(BSα∧¬CSα)→KS(¬CSα)]] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S behauptet/glaubt, dass α, und α für S nicht epistemisch gewiss ist, dann weiß S, dass α für S nicht epistemisch gewiss ist.73 72 73
‚C‘ stehe für ‚certitudo‘. Es mag sein, dass die mit Hilfe des Wissensbegriffs formulierten Bedingungen (CKTransparenz) und (¬CKTransparenz) letztlich zu schwach sind, um die Unterscheidbarkeit einer Gewissheit, die als epistemisch gezählt werden dürfte, zum einen und bloß subjektiver Gewissheit zum anderen in einem hinreichend anspruchsvollen Sinn zu gewährleisten. So könnte man annehmen, dass die folgenden Transparenzbedingungenhier angemessener wären: (CCTransparenz) ∀S[∀α[CSα→CS(CSα)]], (¬CCTransparenz) ∀S[∀α[(BSα∧¬CSα)→CS(¬CSα)]]. Da ich aber nur grob umreißen
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Lässt sich im Rekurs auf ein Konzept epistemischer Gewissheit, welches wenigstens die Bedingungen 1. bis 3. erfüllt, eine akzeptable Explikation der fallibilistischen These liefern? Bevor ich mich der Beantwortung dieser Frage zuwende, will ich einige Bemerkungen zu Descartes einfügen, denn Descartes hat die Idee epistemischer Gewissheit in seiner Erkenntnis- und Evidenztheorie paradigmatisch entwickelt, und mit Bezug auf diese Theorie lässt sich auch zeigen, dass (CFaktivität), (CKTransparenz) und (¬CKTransparenz) als Bestimmungsstücke epistemischer Gewissheit nicht bloß willkürlich aus der Luft gegriffen sind. Der Evidenzbegriff von Descartes hat nur sehr wenig mit demjenigen gemein, der im letzten Abschnitt gebraucht wurde. ‚Evidenz‘ im Cartesischen Sinn kennzeichnet eine epistemische Qualität bestimmter Überzeugungen – Descartes spricht von Gedanken und Ideen74. In seiner frühen Schrift „Regulae ad directionem ingenii“ zeichnet er „Intuition“ und „Deduktion“ als die „zwei Handlungen unseres Verstandes“ aus, „durch die wir ohne jede Furcht, uns zu täuschen, zur Erkenntnis der Dinge kommen können.“75 An dieser These hat Descartes in allen späteren Werken festgehalten. Evident beziehungsweise klar und deutlich76 und daher epistemisch gewiss sind Descartes zufolge solche Überzeugungen, deren propositionale Gehalte entweder direkt durch intellektuelle Intuition als wahr erkannt oder aber aus derart erkannten Propositionen deduktiv erschlossen werden können. Evidenz und epistemische Gewissheit sind dabei nach Descartes in erster Linie Eigenschaften intuitiver Erkenntnisse. Sie lassen sich aber über inferentielle Zusammenhänge, durch „klare und sichere Schlüsse“77, von intuitiv erkannten Prämissen auf Konklusionen übertragen, die dem „geistigen Auge“78 nicht direkt intuitiv zugänglich sind. Epistemische Gewissheit, so lässt sich diese These Descartes’ erläutern, ist deduktiv geschlossen unter epistemisch gewisser logischer Folge, das heißt, für sie gilt:
74
75 76 77 78
will, durch welche Eigenschaften sich epistemische von bloß subjektiver Gewissheit unterscheiden müsste, verfolge ich diese Anschlussfrage hier nicht weiter. Einen guten Überblick über die Geschichte dieses Evidenzbegriffs liefern Halbfass u. Held 1972 sowie Mittelstraß 1995. Descartes 1979, S. 10. Vgl. Descartes 1955, S. 11. Descartes 1960b, S. 47. Descartes 1960a, S. 31, vgl. auch Descartes 1979, S. 16.
II. Fallibilität und Fallibilismus
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∀S[∀α[∀β[(CSα∧CS(α→β))→CSβ]]] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α, β gilt: Wenn S in Bezug auf α epistemische Gewissheit besitzt und sich ferner epistemisch gewiss ist, dass β aus α folgt, dann ist auch β für S epistemisch gewiss. Darüber hinaus vertritt Descartes die These, dass ein epistemisches Subjekt S nur dann weiß, dass p, wenn es sich epistemisch gewiss ist, dass p. Epistemische Gewissheit ist nach Descartes notwendig für Wissen: ∀S[∀α(KSα→CSα)] Wenn S weiß, dass α, dann ist α für S epistemisch gewiss. Nun sieht Descartes epistemische Gewissheit zweifellos auch als eine hinreichende Bedingung für Wissen an, und daher liegt es nahe, ihm die These zuzuschreiben, dass ‚Wissen‘ und ‚Gewissheit‘ extensional äquivalente Begriffe sind: ∀S[∀α(Ksα↔Csα)] S weiß, dass α, genau dann, wenn α für S epistemisch gewiss ist. Hat Descartes auch die These vertreten, dass alle wahren Propositionen klar und deutlich erfasst oder aus klar und deutlich erfassten Propositionen deduktiv erschlossen und insofern erkannt respektive gewusst werden können? In einer bestimmten Hinsicht darf ihm auch diese These zugeschrieben werden. Denn er geht davon aus, dass Gott als ens perfectissimum notwendig existiert, und dass zu den perfectiones Gottes neben derjenigen der notwendigen Existenz unter anderem auch die der Allwissenheit gehört.79 Insofern Gott aber allwissend ist, hat er alle Wahrheiten erkannt, und wenn er sie alle erkannt hat, dann sind sie a fortiori allesamt erkennbar – wenn auch vielleicht nicht für menschliche Erkenntnissubjekte, so doch für Gott selbst.80 Im Rahmen seiner Kritik der „klassische[n] Erkenntnislehre“ hat Hans Albert Descartes’ Rekurs auf epistemische Evidenz mit einem dogmati79 80
Vgl. etwa Descartes 1955, S. 5, Descartes 1960a, S. 41, u. Descartes 1960b, S. 57. Deduktives Schlussfolgern hat Gott Descartes zufolge freilich nicht nötig. Er erkennt alles auf direkte und unvermittelte Weise, eben intuitiv. Für eine Diskussion der Frage, ob aus der Annahme der Erkennbarkeit aller wahren Aussagen als wahr religionsphilosophisch relevante Festlegungen folgen vgl. Plantinga 1982, bes. S. 67-70, sowie Rea 2000. Kritisch dazu Brogaard u. Salerno 2005.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
schen Begründungsabbruch gleichgesetzt.81 Diese Gleichsetzung ist aber fragwürdig, denn Descartes hat für die Legitimität des Rekurses auf epistemische Gewissheit durchaus argumentiert. Man mag Descartes aus heutiger Sicht vorwerfen, dass die Argumente, die er in diesem Zusammenhang liefert, keine besonders guten Argumente sind. Man kann ihm aber nicht vorhalten, er habe den Evidenzbegriff im Sinne eines dogmatischen Abbruchs argumentativer Begründung ins Spiel gebracht. Im Gegenteil: Descartes hat sehr viel argumentative Mühe auf den Versuch verwendet, nachzuweisen, dass wir dem Verlangen nach weiterer Begründung des jeweils Thematischen nicht bloß beliebig und willkürlich, sondern legitim und epistemisch rational dann ein Ende setzen können, wenn wir auf evidente respektive auf epistemisch gewisse Aussagen stoßen, aus denen das jeweils zu Begründende logisch geschlossen (‚deduziert‘) werden kann. Diesen Nachweis zu liefern, ist das erkenntnistheoretische Ziel von Descartes’ Gottesbeweisen und seiner Argumentation für die These der veracitas dei, der Wahrhaftigkeit und epistemischen Güte Gottes. Insofern Gott wahrhaftig sei, dürften wir uns auf rationale Weise darauf verlassen, „daß das natürliche Licht (lumen naturae) oder das von Gott uns verliehene Erkenntnisvermögen, niemals einen Gegenstand erfassen kann, der nicht, soweit er erfaßt wird, d. h. soweit er klar und deutlich erkannt ist, wahr wäre. Denn Gott müßte mit Recht ein Betrüger genannt werden, wenn er uns jenes Vermögen derart gegeben hätte, daß wir, wenn wir uns seiner richtig bedienen, das Falsche für das Wahre hielten.“82
Als ens perfectissimum kann Gott, so Descartes, aber kein Betrüger sein: „Das erste Attribut Gottes [...] ist, daß er im höchsten Grade wahrhaft und Geber allen Lichtes ist. Er kann uns daher nicht betrügen noch auch im eigentlichen oder positiven Sinne die Ursache der Irrtümer sein, denen wir uns ausgesetzt sehen. Denn wenn auch die Macht zu täuschen bei den Menschen als ein Beweis von Verstand gelten möchte, so geht doch der Wille zu täuschen nur aus Bosheit, Furcht oder Schwäche hervor und kann daher Gott nicht zugeschrieben werden.“83
Bosheit, Furcht und Schwäche sind Descartes zufolge imperfectiones und können Gott daher nicht zukommen. Daher ist nichts, was wir in Ausübung 81 82 83
Albert 1991, S. 24, zum Kontext siehe Albert 1991, S. 13-28. Descartes 1955, S. 11. Descartes 1955, S. 10. Vgl. auch Descartes 1960a, S. 49.
II. Fallibilität und Fallibilismus
131
des „von Gott uns verliehene[n] Erkenntnisvermögen[s]“84 wirklich klar und deutlich erfassen, unwahr. Wie gesagt: Dies mag kein gutes Argument sein. Ein Argument ist es aber allemal. Die These, „daß [...] die Dinge, die wir uns sehr klar und sehr deutlich vorstellen, alle wahr sind“85, ist das Cartesische Pendant zu der oben formulierten Faktivitätsbedingung epistemischer Gewissheit (CFaktivität). Ihre Pointe wird vielleicht deutlicher, wenn man die Kontraposition von (CFaktivität) betrachtet: Die Falschheit einer gegebenen Aussage p ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass niemand epistemische Gewissheit in Bezug auf p besitzt. Mit Descartes gesprochen: Die Falschheit von p ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass niemand den Gedanken, dass p, klar und deutlich erfassen kann. Für sich genommen genügt dieses Faktivitätsprinzip allerdings nicht, um die spezifische systematische Rolle herauszustellen, die Descartes der epistemischen Gewissheit zuspricht, indem er sie als verfügbares und anwendbares Wahrheitskriterium auszeichnet. Die Funktion eines solchen Wahrheitskriteriums könnte zu Recht allein einer Gewissheit zugesprochen werden, welche nicht nur der Bedingung (CFaktivität), sondern darüber hinaus auch den beiden Transparenzbedingungen (CKTransparenz) und (¬CKTransparenz) gerecht wird. Nur dann wäre nämlich die Möglichkeit einer Verwechslung von bloß subjektiver mit epistemischer Gewissheit ausgeschlossen und zum anderen sichergestellt, dass eine Person, die sich epistemisch gewiss ist, dass p, auch feststellen kann, dass sie in Bezug auf p epistemische Gewissheit besitzt.86 Dass die Frage nach der reflexiven Erkennbarkeit epistemischer Gewissheit ein echtes Problem für Proponenten der These aufwirft, Evidenz könne als unfehlbares Kriterium für die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit dienen, war Descartes durchaus bewusst. So schreibt er im vierten Teil des „Discours“: „Nun hatte ich beobachtet, daß in dem Satz: ‚Ich denke, also bin ich‘ überhaupt nur dies mir die Gewißheit gibt, die Wahrheit zu sagen, daß ich klar einsehe, daß man, um zu denken, sein muß, und meinte daher, ich könne als allgemeine Regel 84 85 86
Descartes 1955, S. 11. Descartes 1960b, S. 63. Vgl. dazu Kaplan 1985, S. 360 f.: „Knowledge, for Descartes, is a state of cognition different–and, from the knower’s point of view, discernibly different–from what we call ‘justified belief.’ According to Descartes, a known proposition leaves unmistakable psychological evidence of its being known.“ (Hervorhebung B.R.)
132
II. Fallibilität und Fallibilismus annehmen, daß die Dinge, die wir ganz klar und deutlich begreifen, alle wahr sind, daß aber nur darin eine gewisse Schwierigkeit liege, richtig zu merken, welche es sind, die wir deutlich begreifen.“87
Insofern ist zum Beispiel Peirces polemische Bemerkung, es sei Descartes offenbar niemals in den Sinn gekommen, dass man sich in der Beantwortung der Frage, ob ein gegebener Gedanke klar und deutlich ist, täuschen könne („[t]he distinction between an idea seeming clear and really being so, never occured to him [Descartes]“88), nicht gerechtfertigt. Doch zurück zu der Frage, ob im Rekurs auf das Konzept epistemischer Gewissheit eine adäquate Formulierung des Fallibilismus geliefert werden kann. Nicht zuletzt im Blick auf die Tatsache, dass die Cartesische Erkenntnistheorie, die in mancherlei Hinsicht als das Paradigma einer infallibilistischen Epistemologie angesehen werden kann, entlang des Gewissheitsbegriffs konzipiert ist, liegt es nahe, diese Frage zu bejahen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen subjektiver und epistemischer Gewissheit kann zunächst deutlich angegeben werden, wogegen sich der Fallibilismus richtet, wenn man ihn als die These der Unverfügbarkeit von Gewissheit auffasst: gegen die Vorstellung einer faktiven und epistemisch als anwendbares Kriterium verfügbaren Gewissheit.89 Es ist diese epistemische Variante von Gewissheit, nicht die oben charakterisierte subjektive, von der Peirce behauptet, dass wir sie niemals haben, und von der Popper sagt, ‚that it is not for us‘. Das legt die folgende Formulierung der fallibilistischen These nahe: (FC) ∀S[∀α(BSα→¬CSα)], alternativ: ¬∃S[∃α(BSα∧CSα)] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass α, dann ist α für S nicht epistemisch gewiss. Oder alternativ: Niemand verfügt über epistemisch gewisse Überzeugungen. Ist (FC) eine angemessene Formulierung des Fallibilismus? Zunächst muss betont werden, dass sich (FC) im Vergleich zu den anderen bisher diskutierten Vorschlägen recht gut schlägt. Da der Nachsatz von (FC) nichts über den alethisch-modalen Status der propositionalen Gehalte von Behauptun87 88 89
Descartes 1960b, S. 55. Hervorhebung B.R. Peirce 1931-1938, 5.391. Vgl. dazu auch Albert 1987, S. 421 f.
II. Fallibilität und Fallibilismus
133
gen und Überzeugungen aussagt, ist (FC) immun gegen die Schwierigkeiten, die sich für (F◊Irrtum) im Blick auf logisch notwendig wahre Propositionen ergaben. Aus der Aussage, dass kein epistemisches Subjekt in Bezug auf irgendeine von ihm für wahr gehaltene Proposition α über epistemische Gewissheit verfügt, folgt nicht, dass alle Aussagen α, die von irgendjemandem für wahr gehalten werden, logisch kontingent sind. Aus ihr folgt gar nichts in Bezug auf den alethisch-modalen Status der propositionalen Gehalte von Überzeugungen und Behauptungen. (FC) impliziert, anders als (F◊Irrtum-epistemisch), auch keinen Wissensskeptizismus. Das gilt jedenfalls dann, wenn nicht angenommen wird, dass propositionales Wissen epistemische Gewissheit in dem durch die Bedingungen 1. bis 3. charakterisierten Sinn voraussetzt – und es gibt keinen guten Grund dafür, dass man dies annehmen sollte. Weiterhin scheint (FC) unsere Fallibilität an der richtigen Stelle zu verorten und richtig zu charakterisieren, nämlich als eine Eigenschaft der epistemischen Relation zwischen Subjekten einerseits und den propositionalen Gehalten ihrer Überzeugungen und Behauptungen andererseits. So reduziert (FC), anders als die von Stanley und Feldman vorgeschlagene Formulierung, den Fallibilismus auch nicht auf eine These über das Bestehen oder Nichtbestehen bestimmter logischer Beziehungen zwischen den propositionalen Gehalten von Überzeugungen und Behauptungen einerseits und den jeweiligen Gründen für diese Überzeugungen und Behauptungen andererseits. Trotz dieser Vorzüge der Explikation des Fallibilismus in Begriffen der Unverfügbarkeit epistemischer Gewissheit drängt sich aber der folgende Einwand auf: (FC) ist eine zu enge und zu spezifische Formulierung der fallibilistischen These, insofern die Idee epistemischer Gewissheit nicht nur historisch, sondern auch systematisch gesehen aufs engste mit der klassisch rationalistischen und mutatis mutandis mit der klassisch empiristischen Erkenntnistheorie verwoben ist.90 Wie oben am Beispiel der Cartesischen Evidenzlehre illustriert, wurde epistemische Gewissheit innerhalb dieser Traditionen als Eigenschaft einer ausgezeichneten Klasse von Überzeugungen verstanden. Sie wurde als eine Eigenschaft solcher Überzeugungen konzipiert, die aus der richtigen Ausübung spezifischer Erkenntnisvermögen resultieren – sei es aus der Ausübung des Vermögens 90
Vgl. dazu Albert 1991, S. 24-34; Böhler 1985, S. 67-76; Popper 1963b.
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II. Fallibilität und Fallibilismus
einer intellektuellen Intuition klarer und deutlicher Gedanken oder der des Vermögens einer unmittelbaren Wahrnehmung von sinnlich gegebenen Tatsachen. Von diesen Vermögen wurde dann jeweils behauptet oder doch präsupponiert, dass wir sie tatsächlich besitzen. Es ist jedoch, sehr vorsichtig gesagt, äußerst fragwürdig, ob wir solche Vermögen besitzen. Jenseits der Annahme besonderer infallibler Erkenntnisvermögen beziehungsweise jenseits des begrifflichen Rahmens klassisch fundamentalistischer Erkenntnistheorien lässt sich dem Konzept der epistemischen Gewissheit kein klarer Sinn verleihen. Daher liefert (FC) keine angemessene Charakterisierung der Pointe des Fallibilismus. Schließlich will sich der Fallibilist mit seiner These nicht darauf beschränken, die Existenz bestimmter Erkenntnisvermögen zu bestreiten, über die wir klassisch empiristischen oder klassisch rationalistischen Erkenntnistheorien zufolge verfügen.
II.1.4
Fallibilismus und epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung
Im Anschluss an einen Vorschlag Hans Alberts kann der erkenntniskritische und -theoretische Kerngedanke des Fallibilismus vorläufig durch die Aussage charakterisiert werden, „daß wir keine Garantie der Wahrheit erreichen können“91. Es ist dieser Gedanke, der durch eine adäquate Explikation der fallibilistischen These präzisiert und erläutert werden muss – nicht zuletzt dadurch, dass angegeben wird, wodurch sich jene Wahrheitsgarantie, von welcher der Fallibilist behauptet, dass wir sie nicht erreichen können, auszeichnen würde. Aus dieser Perspektive betrachtet, liegt zum Beispiel der zuletzt diskutierten Formulierung des Fallibilismus, also (FC), die Annahme zugrunde, dass der Rede von einer Wahrheitsgarantie im Rekurs auf den Begriff der epistemischen Gewissheit ein hinreichend bestimmter Gehalt verliehen werden kann: Eine Person S verfügt für die Aussage p genau dann über eine Wahrheitsgarantie, wenn p für S epistemisch gewiss ist. Die durch (FC) vorausgesetzte Explikation des Prädikats ‚fallibel‘ wäre dementsprechend: S’ Überzeugung oder Behauptung, dass p, ist fallibel genau dann, wenn p für S nicht epistemisch gewiss ist. Die Formulierung 91
Albert 1982, S. 19, vgl. auch S. 9, S. 15 und S. 63-69.
II. Fallibilität und Fallibilismus
135
(FC) erweist sich aber als problematisch, sobald man bedenkt, dass sie mit dem Konzept epistemischer Gewissheit einen Begriff ins Spiel bringt, bei dem keineswegs klar ist, ob er mit unserer tatsächlichen epistemisch-diskursiven Praxis in irgendeinen Zusammenhang gebracht werden kann. Das gilt zumindest dann, wenn man ihn entlang der drei Bedingungen (CFaktivität), (CKTransparenz) und (¬CKTransparenz) versteht – und keine Gewissheit, welche die Konjunktion dieser Bedingungen nicht erfüllt, verdient den Titel ‚epistemisch‘. Der einzige prima facie plausible Anknüpfungspunkt, der sich für eine Erläuterung des Konzepts epistemischer Gewissheit innerhalb unserer epistemischen Praxis findet, sind die Gründe und Evidenzen, auf deren Basis wir die propositionalen Gehalte unserer Behauptungen und Überzeugungen für wahr halten. Anstatt nun aber die Idee einer Wahrheitsgarantie, die als solche für die Formulierung der fallibilistischen These zentral ist, erst im Rekurs auf die Idee epistemischer Gewissheit zu erläutern, um die Letztere dann auf die Begründungspraxis zu beziehen, kann man auf den Umweg über epistemische Gewissheit verzichten und den Fallibilismus gleich als die Negation der These zum Ausdruck bringen, dass wir für die propositionalen Gehalte mancher unserer Überzeugungen und Behauptungen epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe haben. Die Deutung des Prädikats ‚ist fallibel‘, die diesem Verständnis der fallibilistischen These zurunde liegt, lautet: Die Überzeugung/Behauptung, dass p, einer Person S ist fallibel genau dann, wenn S für p nicht über eine epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung verfügt. Um diese Formulierung der fallibilistischen These und die ihr zugrunde liegende Deutung des Begriffs der Fallibilität mit Gehalt zu versehen, muss zumindest in groben Zügen angegeben werden, wodurch sich epistemisch wahrheitsgarantierende Begründungen in dem hier intendierten Sinn auszeichnen würden. Dabei gehe ich genauso vor wie bei der Erläuterung des Konzepts epistemischer Gewissheit im letzten Abschnitt, das heißt, ich umreiße notwendige Bedingungen, die von epistemisch wahrheitsgarantierenden Begründungen erfüllt werden müssten. Doch zuvor eine terminologische Bemerkung: Oftmals wird das Konzept der deduktiven Gültigkeit durch den Hinweis erläutert, dass in einem deduktiv gültigen Argument die Wahrheit der Prämissen die Wahrheit der
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II. Fallibilität und Fallibilismus
Konklusion garantiert,92 um dann den Begriff der deduktiven Schlüssigkeit im Rückgriff auf den der Gültigkeit einzuführen: Schlüssig ist ein Argument genau dann, wenn es gültig ist und seine Prämissen wahr sind.93 Im Blick auf diese im Kontext der Logik geläufige Verwendung des Ausdrucks ‚Wahrheitsgarantie‘ muss betont werden, dass ein Fallibilist, der bestreitet, dass die propositionalen Gehalte mancher unserer Überzeugungen und Behauptungen in dem hier relevanten Sinn epistemisch wahrheitsgarantierend begründet sind, damit weder behauptet, dass wir niemals über deduktiv gültige Argumente, noch, dass wir niemals über schlüssige Argumente für das verfügen, was wir für wahr halten. Der folgenden Liste von notwendigen Bedingungen, denen eine epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung einer gegebenen Aussage p genügen müsste, liegt der Gedanke zugrunde, dass eine derartige Begründung diejenigen, die sie liefern, ebenso wie diejenigen, die sie verstehen würden, dazu berechtigen müsste, die bloße Möglichkeit einer rationalen Infragestellung der Wahrheit von p kategorisch auszuschließen: (WGJ) Ein epistemisches Subjekt S begründet den propositionalen Gehalt seiner Überzeugung, dass p, mit den Gründen g1, ..., gn nur dann auf epistemisch wahrheitsgarantierende Weise, wenn 1. g1, ..., gn wahr sind, 2. S weiß, dass 1. erfüllt ist, 3. es nicht möglich ist, dass g1, ..., gn wahr sind und die Aussage p nicht wahr ist, 4. S weiß, dass 3. erfüllt ist, 5. es nicht möglich ist, dass g1, ..., gn wahr sind, die folgende Aussage dagegen nicht wahr ist: Es kann keine Einwände gegen S’ Überzeugung, dass p, geben, deren Berücksichtigung und Abwägung S auf epistemisch rationale Weise dazu bewegen könnte, seine Überzeugung, dass p, anzuzweifeln, zu revidieren, zu suspendieren oder preiszugeben, 6. S weiß, dass 5. erfüllt ist. 92
93
Vgl. etwa Bonevac 2002, S. 16: „In a deductively valid argument, the truth of the premises guarantees the truth of the conclusion.“ Vgl. Bonevac 2002, S. 18: „An argument is sound if and only if (1) it is valid and (2) all its premises are true.“
II. Fallibilität und Fallibilismus
137
Die erste Bedingung bringt die These zum Ausdruck, dass keine Überzeugung oder Behauptung auf der Basis von Gründen, deren propositionale Gehalte selbst nicht wahr sind, epistemisch wahrheitsgarantierend begründet werden kann. Diese These sollte unstrittig sein. Die Bedingungen 2., 4. und 6. postulieren zusammengenommen, dass epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe als solche erkennbar und von nicht wahrheitsgarantierenden Gründen unterscheidbar sein müssten. Damit knüpfen sie an die Transparenzbedingungen in der im letzten Abschnitt skizzierten Erläuterung des Konzepts der epistemischen Gewissheit an. Auch hier mag es wieder sein, wie im Fall von (CKTransparenz) und (¬CKTransparenz), dass die mit 2., 4. und 6. formulierten Transparenzbedingungen letztlich zu schwach sind.94 Doch selbst dann, wenn dieses Bedenken zutrifft, kann es hier vernachlässigt werden. Denn für jedes epistemische Konzept Φ, das für eine angemessenere Formulierung der epistemischen Transparenzbedingung hinreichend anspruchsvoll oder stark wäre, würde gelten: ∀S[∀α(ΦSα→KSα)] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S Φ-t, dass α, dann weiß S, dass α. Da (WGJ) nur notwendige Bedingungen für epistemisch wahrheitsgarantierende Begründungen auflistet, also keine Äquivalenz zu liefern beansprucht, bleibt hier Raum für etwaige anspruchsvollere und stärkere Transparenzbedingungen. Die 3. Bedingung bringt zum Ausdruck, dass eine gegebene Aussage p durch die Gründe g1, ..., gn nur dann epistemisch wahrheitsgarantierend begründet wird, wenn p logisch aus g1, ..., gn folgt. In Verbindung mit Bedingung 1. ergibt sich aus 3. die Faktivität epistemisch wahrheitsgarantierender Begründung: (WGJFakt) ∀S[∀α(WGJSα→α)] Für jedes epistemische Subjekt S und jede Aussage α gilt: Wenn S die Aussage α epistemisch wahrheitsgarantierend begründet, dann ist α wahr. Was immer die vollständige Explikation eines Konzepts epistemisch wahrheitsgarantierender Begründung sonst noch umfassen müsste, (WGJFakt) 94
Vgl. oben S. 127, Anm. 73.
138
II. Fallibilität und Fallibilismus
würde in jedem Fall zu einer solchen Explikation dazugehören. Ebenso wenig wie man wissen kann, dass p, wenn es nicht wahr ist, dass p, kann man auf epistemisch wahrheitsgarantierende Weise begründen, dass p, wenn es nicht wahr ist, dass p. Im Hintergrund der 5. und 6. Bedingung steht der folgende, oben bereits angedeutete Gedanke: Würde eine Person S eine gegebene Aussage p auf der Basis der Gründe g1, ..., gn epistemisch wahrheitsgarantierend begründen, dann könnte S auf der Basis von g1, ..., gn zugleich die Möglichkeit begründeter Zweifel an der Wahrheit von p kategorisch ausschließen.95 Mit anderen Worten: S wüsste dann, dass eine berechtigte Kritik an seiner Überzeugung, dass p, unmöglich ist, und könnte dementsprechend die Frage, ob es wahr ist, dass p, in diesem sehr anspruchsvollen Sinn rationalerweise als definitiv beantwortet betrachten. Als Formulierung der These des uneingeschränkten beziehungsweise globalen Fallibilismus schlage ich vor: (F) ∀S[∀α(BSα→¬WGJSα)], alternativ: ¬∃S[∃α(BSα∧WGJSα)] Für alle epistemischen Subjekte S und alle Propositionen α gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass α, dann verfügt S nicht über epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe für α. Oder alternativ: Niemand verfügt über epistemisch wahrheitsgarantierend begründete Überzeugungen.96 Da epistemisch wahrheitsgarantierende Begründungen faktiv sind – keine falsche Aussage kann epistemisch wahrheitsgarantierend begründet werden ((WGJFakt)) –, sind Behauptungen mit kontingent falschem ebenso wie Überzeugungen mit notwendig falschem propositionalen Gehalt gemäß (F) trivialerweise fallibel. Damit wird (F) der kaum bestreitbaren These gerecht, dass die Falschheit einer gegebenen Aussage p eine hinreichende Bedingung für die Fallibilität jeder Überzeugung oder Behauptung darstellt, die p zum propositionalen Gehalt hat. Ebenso wie schon (FC) – und im Unterschied zu (F◊Irrtum) – ist (F) vereinbar mit der These, dass wir zuweilen logisch notwendig wahre Propositionen behaupten respektive von der Wahrheit solcher Propositionen überzeugt sind. Aus der Aussage ‚S’ Behauptung, dass p, ist nicht epistemisch wahrheitsgarantierend begründet‘ 95 96
Vgl. in diesem Sinn Kuhlmann 1985a, S. 71-76 und S. 189 f. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich behaupte nicht, dass (F) wahr ist, sondern nur, dass die fallibilistische These im Sinne von (F) verstanden werden sollte.
II. Fallibilität und Fallibilismus
139
folgt nicht die Aussage ‚p ist logisch kontingent‘. Unter der Voraussetzung, dass epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung keine notwendige Bedingung für propositionales Wissen darstellt, ist (F) – im Gegensatz zu (F◊Irrtum-epistemisch) – ferner vereinbar mit der Negation der wissensskeptizistischen These, und im Gegensatz zu Feldmans und Stanleys Formulierung reduziert (F) den Fallibilismus auch nicht auf eine These, die allein die logischen Relationen zwischen Gründen und Begründetem betrifft. So bewahrt (F) alle Vorzüge, die (FC) gegenüber den anderen hier diskutierten Formulierungen der fallibilistischen These auszeichnen, ohne dabei die Vorstellung von einem besonderen kognitiven oder mentalen Zustand, dem der epistemischen Gewissheit, ins Spiel zu bringen.97
97
Eine Konsequenz der Erläuterung des Fallibilismus in Begriffen der Unverfügbarkeit epistemisch wahrheitsgarantierender Begründung besteht darin, dass jede externalistische oder verlässlichkeitstheoretische Explikation des Wissensbegriffs eo ipso die Explikation eines Konzepts falliblen Wissens darstellt. Proponenten externalistischer Erkenntnistheorien geht es unter anderem darum, die These zu plausibilisieren, dass ein epistemisches Subjekt S wissen kann, dass p, ohne selbst in der Lage zu sein, für den propositionalen Gehalt seines Wissens Gründe anzuführen. Der Kerngedanke dieses Plausibilisierungsversuchs kann so umrissen werden: Wenn S die wahre Überzeugung unterhält, dass p, dann handelt es sich bei S’ Überzeugung genau dann um ein Wissen, wenn sie das Resultat eines kognitiven Prozesses darstellt, der de facto auf zuverlässige Weise zu S’ wahrer Meinung, dass p, geführt hat – oder, wie es manchmal auch von Externalisten ausgedrückt wird, wenn S’ Überzeugung, dass p, nicht bloß zufällig wahr ist. Dafür, dass S’ wahre Meinung, dass p, das Resultat eines zuverlässigen Prozesses der Überzeugungsbildung darstellt, ist es Externalisten zufolge aber nicht notwendig, dass S über Gründe für p verfügt. (Vgl. die Rekonstruktion der Grundgedanken des epistemologischen Externalismus in Brandom 2000, S. 97-122.) Nun besteht eine Art und Weise, nicht über epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe für eine Überzeugung zu verfügen, darin, über gar keine Gründe für diese Überzeugung zu verfügen. Wenn es also in dem gerade umrissenen externalistischen Sinn Wissen ohne Begründung geben sollte, dann wäre dieses Wissen gemäß (F) fallibel.
140 II.2
II. Fallibilität und Fallibilismus
Ist die ‚Selbstanwendung‘ des Fallibilismus widersprüchlich? Zu Apels Kritik des uneingeschränkten Fallibilismus
In der folgenden Diskussion gehe ich davon aus, dass die These des uneingeschränkten Fallibilismus durch (F) adäquat zum Ausdruck gebracht wird. Ein Proponent von (F) behauptet, dass jede Überzeugung und jede Behauptung fallibel ist, und versteht diese Aussage in dem Sinn, dass keine Überzeugung oder Behauptung epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist. Damit legt er sich auf die Anerkennung der These fest, dass auch jede Behauptung von (F) – unter anderem seine eigene – fallibel ist. Diese letzte These nun kann mit Apel, Radnitzky, Bartley und Albert als die reflexive ‚Anwendung des Fallibilismus auf sich selbst‘ bezeichnet und im Rekurs auf (F) folgendermaßen zum Ausdruck gebracht werden98: (Frefl.) ∀S[BS(F)→¬WGJS(F)], alternativ: ¬∃S[BS(F)∧WGJS(F)] Für alle epistemischen Subjekte S gilt: Wenn S glaubt/behauptet, dass (F) wahr ist, dann verfügt S nicht über epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe für (F). Oder alternativ: Kein Proponent von (F) verfügt über epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe für (F).99 Karl-Otto Apels Kritik des uneingeschränkten Fallibilismus umfasst zwei Hauptargumentationslinien. Seine erste Kritiklinie besteht in dem Versuch, nachzuweisen, dass die Selbstanwendung des Fallibilismus paradox ist: „[D]as Fallibilismus-Prinzip [kann] nicht paradoxiefrei auf sich selber angewendet werden“.100 In dem Aufsatz „Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik“, Apels erster ausführlicher Kritik der Position des uneingeschränkten Fallibilismus, findet sich eine detailliertere Formulierung dieser Behauptung: 98
Vgl. zum Beispiel Apel 1998a, S. 149, Apel 1998e, S. 66; Albert 1975, S. 122 f.; Bartley 1987; Radnitzky 1987. 99 (Frefl.) folgt aus (F): Ann. (F) 1 (1) ∀S[∀α(BSα→¬WGJSα)] 1, ∀-Instantiierung 1 (2) ∀S[BS(F)→¬WGJS(F)] --- (3) ∀S[∀α(BSα→¬WGJSα)]→ ∀S[BS(F)→¬WGJS(F)] 1, 2, →-Einf. 100 Apel 2003, S. 189 f. Vgl. auch Apel 1988, S. 51, und Apel 1998f, S. 10.
II. Fallibilität und Fallibilismus
141
(TheseApel) „[D]ie Selbstanwendung des ‚Fallibilismus‘-Prinzips [führt] in eine Paradoxie, die derjenigen des ‚Lügners‘ entspricht: Ist das ‚Fallibilismus‘-Prinzip selbst fallibel, dann ist es insofern gerade nicht fallibel und umgekehrt.“101 Ich verstehe die ‚Selbstanwendung des Fallibilismusprinzips‘, von der Apel hier spricht, im Folgenden gemäß (Frefl.) und (TheseApel) dementsprechend als die Behauptung, dass (Frefl.) auf dieselbe Weise semantisch paradox ist wie der Lügnersatz (L): (L) Der Satz (L) bringt eine falsche Proposition zum Ausdruck. Im Zentrum von Apels zweiter Kritiklinie steht die folgende These: Selbst dann, wenn der uneingeschränkte Fallibilismus nicht semantisch paradox ist, so ist er dennoch allemal nachweisbar falsch. Denn Apel zufolge ist epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung möglich – dort nämlich, wo es um Aussagen geht, die Präsuppositionen der Praxis des argumentativen Begründens selbst zum Ausdruck bringen oder auch das implizite und performativ in Anspruch genommene Handlungswissen explizieren, das wir als Sprecher vom illokutionären Sinn unserer Sprechhandlungen haben. Solche Aussagen lassen sich nach Apel auf epistemisch wahrheitsgarantierende Weise begründen, indem man nachweist, dass jeder Versuch, ihre Negationen zu behaupten, performativ selbstwidersprüchlich ist.102 In diesem Abschnitt geht es allein um (TheseApel), also nur um Apels erste Argumentationslinie gegen den uneingeschränkten Fallibilismus. (TheseApel) ist in zwei Hinsichten problematisch. Das erste Problem betrifft ihre Formulierung. Indem Apel die Wendung ‚ist das Fallibilismusprinzip selbst fallibel, dann ist es insofern gerade nicht fallibel‘ gebraucht, präsupponiert er, es sei sinnvoll, dem Fallibilismusprinzip selbst – also der durch (F) zum Ausdruck gebrachten Proposition – den epistemischen Status entweder der Fallibilität oder der Infallibilität zuzuschreiben. Fallibilität und Infallibilität sind aber keine Eigenschaften von Propositionen, sondern solche von propositionalen Einstellungen und Sprechhandlungen, die konstitutiv mit Wahrheitsansprüchen verbunden sind. Daher werde ich hier zunächst eine Präzisierung von (TheseApel) anbieten (a). Das zweite 101
102
Apel 1998e, S. 65 f. (Kursivierung getilgt). Der hier zitierte Aufsatz ist zuerst 1975 erschienen. Vgl. dazu etwa Apel 1998a, S. 156-164.
142
II. Fallibilität und Fallibilismus
Problem betrifft die Gültigkeit von (TheseApel): Ist es wahr, dass sich aus (Frefl.) – und, sofern (Frefl.) logisch aus (F) folgt, auch aus (F) selbst – eine Paradoxie ergibt, „die derjenigen des ‚Lügners‘ entspricht“? Ich werde dafür argumentieren, dass diese These nicht wahr ist (b).103 Zu (a): Sätze, Theorien, Propositionen oder Prinzipien können wahr oder falsch sein, sie sind aber für sich genommen weder fallibel noch infallibel. Liest man sie wortwörtlich, enthält (TheseApel) einen Kategorienfehler. Was sinnvollerweise als fallibel oder infallibel bezeichnet werden kann, sind Überzeugungen, Meinungen, Behauptungen oder genereller: Sprechakte und doxastische Einstellungen, die Wahrheitsansprüche in Bezug auf ihre jeweiligen propositionalen Gehalte involvieren – Wahrheitsansprüche also zum Beispiel für Propositionen, Prinzipien, Theorien oder Sätze (respektive für dasjenige, was durch Sätze zum Ausdruck gebracht wird). Apel dürfte demnach in seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern des uneingeschränkten Fallibilismus genau genommen nicht von der Fallibilität des Fallibilismusprinzips sprechen, sondern nur von der Fallibilität der Meinung oder Überzeugung oder Behauptung, dass das Fallibilismusprinzip gültig ist, also – je nach der Formulierung des Fallibilismus, die jeweils zur Diskussion steht – zum Beispiel von der Fallibilität der Behauptung, dass man sich in Bezug auf den Wahrheitswert aller möglichen Aussagen irren kann, oder von der Fallibilität der Überzeugung, dass wir für keine unserer Behauptungen epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe zur Verfügung haben.104 Ersetzt man die Wendung ‚ist das 103
104
Kudaka 2005, S. 346, beansprucht den Nachweis zu liefern, „dass das Fallibilismusprinzip […] nicht widersprüchlich ist“, und behauptet dann, dass aus einem derartigen Nachweis „folgen würde, dass Letztbegründungen tatsächlich unmöglich sind.“ Wenn man mit Apel unter Letztbegründung eine Begründung versteht, welche die Wahrheit dessen, was sie jeweils begründet, epistemisch garantiert, dann ist Kudakas Behauptung offensichtlich ein Non sequitur. Die logische Widerspruchsfreiheit respektive Konsistenz des uneingeschränkten Fallibilismusprinzips ist nicht hinreichend für seine Wahrheit. Nur aus einem Nachweis der Wahrheit des Fallibilismusprinzips würde aber folgen, dass es epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung nicht gibt. Es könnte schließlich sein, dass der uneingeschränkte Fallibilismus zwar widerspruchsfrei, aber schlicht falsch ist. Vgl. Haack 1979a, S. 327 f.: „‘Is fallibilism fallible’ is […] the wrong question, since ‘fallible’ isn’t a predicate of theses; the right question is ‘Could we be mistaken in thinking ourselves always liable to error?’“
II. Fallibilität und Fallibilismus
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Fallibilismusprinzip selbst fallibel, dann ist es insofern gerade nicht fallibel‘ in (TheseApel) den vorangegangenen Überlegungen entsprechend und macht die durch ‚und umgekehrt‘ abgekürzte zweite Hälfte von (TheseApel) explizit, ergibt sich die folgende Reformulierung: (TheseApel*) Die Anwendung des Fallibilismusprinzips (F) auf Behauptungen von (F) selbst führt in eine Paradoxie, die derjenigen des ‚Lügners‘ entspricht: Wenn alle Behauptungen von (F) selbst fallibel sind, dann sind nicht alle Behauptungen von (F) fallibel, und wenn nicht alle Behauptungen von (F) fallibel sind, dann sind alle Behauptungen von (F) fallibel. Zu (b): Entlang der durch (F) vorausgesetzten Explikation des Prädikats ‚fallibel‘ gelesen – eine Behauptung ist genau dann fallibel, wenn sie nicht epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist –, besagt der zweite, nach dem Doppelpunkt stehende Satz von (TheseApel*): Wenn keine Behauptung des Fallibilismusprinzips (F) epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist, dann ist es nicht der Fall, dass keine Behauptung von (F) epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist, und wenn es nicht der Fall ist, dass keine Behauptung von (F) epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist, dann ist keine Behauptung von (F) epistemisch wahrheitsgarantierend begründet. In eine etwas weniger sperrige Formulierung gebracht, behauptet Apel hier, dass die ‚Selbstanwendung des Fallibilismus‘, also (Frefl.), in dem folgenden Sinn paradox ist: Wenn (Frefl.) wahr ist, dann ist (Frefl.) falsch, und wenn (Frefl.) falsch ist, dann ist (Frefl.) wahr. Träfe diese Behauptung zu, dann wäre Apels These, dass (Frefl.) auf dieselbe Weise paradox ist wie der Lügnersatz (L), wahr. Denn (L) ist genau insofern paradox, als sowohl die Annahme, (L) bringe etwas Wahres zum Ausdruck, als auch die Annahme, (L) bringe etwas Falsches zum Ausdruck, in einen Widerspruch führt. Eine Begründung von (TheseApel*) müsste demnach zeigen, dass dasselbe für (Frefl.) gilt. Bei Apel findet sich eine solche Begründung nicht, und es wäre auch aussichtslos, nach einer solchen zu suchen. Denn aus der Annahme, dass keine Behauptung von (F) epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist, also der Annahme, (Frefl.) sei wahr, folgt offensichtlich nicht, dass es nicht der Fall ist, dass keine Behauptung von (F) epistemisch wahrheits-
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II. Fallibilität und Fallibilismus
garantierend begründet ist. Daher ist (TheseApel*) falsch: Die Selbstanwendung des Fallibilismus führt nicht in eine Paradoxie, die derjenigen des ‚Lügners‘ entspricht. Es lohnt sich aber dennoch, einen genaueren Blick auf das zweite Konjunkt von (TheseApel*) zu werfen: Wenn es nicht der Fall ist, dass alle Behauptungen von (F) fallibel sind, dann sind alle Behauptungen von (F) fallibel. Nehmen wir also an, (Frefl.) sei falsch, beziehungsweise es sei nicht der Fall, dass keine Behauptung von (F) epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist. Unter der Voraussetzung, dass die Schlussregel Duplex negatio affirmat in unserem Zusammenhang legitimerweise angewendet werden darf, läuft die Annahme der Falschheit von (Frefl.) auf die Annahme hinaus, irgendein Proponent von (F) verfüge über eine epistemisch wahrheitsgarantierende Begründung für (F): (Non-Frefl.) ∃S[BS(F)∧WGJS(F)] Mit Hilfe einer einfachen Reductio ad absurdum kann nun gezeigt werden, dass (Non-Frefl.) tatsächlich eine inkonsistente These darstellt: Aufgrund der Faktivität epistemisch wahrheitsgarantierender Begründung impliziert die Annahme, dass (Frefl.) falsch ist, die Wahrheit von (F).105 Da aus (F) wiederum (Frefl.) folgt, ist (Non-Frefl.), also die Annahme der Falschheit von (Frefl.), widersprüchlich.106 Das zweite Konjunkt von (TheseApel*) ist wahr. 105
106
(Non-Frefl.)→(F): 1 (1) ∃S[BS(F)∧WGJS(F)] 2 (2) Ba(F)∧WGJa(F) 2 (3) WGJa(F) 2 (4) ¬∃S[∃α(BSα∧WGJSα] 1 (5) ¬∃S[∃α(BSα∧WGJSα] --(6) ∃S[BS(F)∧WGJS(F)]→ ¬∃S[∃α(BSα∧WGJSα] Reductio von (Non-Frefl.): 1 (1) ∃S[BS(F)∧WGJS(F)] 1 (2) ¬∃S[∃α(BSα∧WGJSα] 1 (3) ¬∃S[BS(F)∧WGJS(F)] 1 (4) ⊥ --(5) ¬∃S[BS(F)∧WGJS(F)]
Ann. (Non-Frefl.) Ann. typisches Disjunkt von (1) 2, ∧-Elimin. 3, (WGJFakt) 1, 2, 4 ∃-Elimin. 1, 5, →-Einf. Ann. (Non-Frefl.) 1, (Non-Frefl.)→(F) 2, (F)→(Frefl.) (Siehe Anm. 99.) 1, 3, ∧-Einf. 1, 4, RAA
Die Andeutung eines ähnlichen Arguments findet sich in Bartley 1987, S. 320.
II. Fallibilität und Fallibilismus
145
Aus der Annahme, dass nicht alle Behauptungen von (F) fallibel sind – dass also manche Behauptungen von (F) infallibel sind –, folgt, dass alle Behauptungen von (F) fallibel sind. Die Annahme, (Frefl.) sei falsch, führt also, anders als die Annahme der Wahrheit von (Frefl.), tatsächlich in einen Widerspruch. Weit entfernt davon, paradox zu sein, scheint es sich bei (Frefl.) um eine Aussage zu handeln, die aus logisch-begrifflichen Gründen wahr sein muss. Für die Beantwortung der Frage nach der Gültigkeit von (F) ist mit diesem Resultat freilich nichts gewonnen. Die (analytische) Wahrheit von (Frefl.) ist sowohl mit der These des uneingeschränkten Fallibilismus selbst wie auch mit deren Negation vereinbar. Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann lässt sich der uneingeschränkte Fallibilismus jedenfalls nicht dadurch widerlegen, dass man sein Implikat (Frefl.) als semantisch paradox erweist. Denn (Frefl.) kann – im Gegensatz zu (Non-Frefl.) – offenbar konsistent vertreten werden. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass (F) auf andere Weise widerlegt werden kann.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen am Beispiel der Konsenstheorie von Peirce In den Kapiteln I und II wurde ein noch nicht weiter erläuterter Wahrheitsbegriff in der Explikation von normativen Korrektheitsbedingungen des Behauptens und in der Rekonstruktion des Sinns der fallibilistischen These verwendet. So zum Beispiel in dem Rekurs auf das Konzept epistemisch wahrheitsgarantierender Begründung in der Formulierung (F) des Fallibilismus, in der Bezugnahme auf das diskurspragmatische Konzept eines Gültigkeitsanspruchs auf Wahrheit, in der regulativen Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen (WNB) und in der konstitutiven Wahrhaftigkeitsnorm für Behauptungen (SAB)1. Nun stellen sich im Blick auf diese Verwendungen des Wahrheitsbegriffs in der philosophischen Rekonstruktion der Behauptungspraxis und des Fallibilismus etwa die folgenden Fragen: Was genau ist es eigentlich, das jene epistemisch wahrheitsgarantierenden Gründe, von denen der Fallibilist behauptet, dass wir sie niemals zur Verfügung haben, garantieren würden? Was genau beanspruchen Sprecher, wenn sie Wahrheitsansprüche erheben? Unter welchen Bedingungen werden Behauptungshandlungen der Norm (WNB) gerecht? Und was heißt es genau, von Sprechern zu sagen, sie würden mit ihren Behauptungshandlungen Wahrhaftigkeitsansprüche erheben? Hinsichtlich der ersten und der zweiten Frage liegen zunächst die folgenden, letztlich uninformativen, Antworten nahe: Epistemisch wahrheitsgarantierende Gründe würden, wie ihr Name schon sagt, denjenigen, die sie für eine gegebene Aussage p zur Verfügung hätten, eine Garantie der Wahrheit von p liefern, und indem Sprecher Aussagen behaupten, beanspruchen sie Wahrheit für die von ihnen behaupteten Aussagen, das heißt, sie führen jede ihrer Behauptungshandlungen mit dem Anspruch aus, etwas Wahres zu behaupten. Entsprechend ließen sich die dritte und die vierte Frage so beantworten: Die Behauptung einer beliebigen Aussage p wird der Norm (WNB) genau dann gerecht, wenn die Aussage p wahr ist, und 1
Zu den Normen (WNB) und (SAB) vgl. I.2.
148
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
indem Sprecher mit ihren Behauptungen Wahrhaftigkeitsansprüche erheben, geben sie ihren Adressaten zu verstehen, dass sie das, was sie behaupten, auch wirklich glauben, also für wahr halten. Es ist klar, dass diese Antworten für denjenigen, der die oben formulierten Fragen aufwirft, nicht befriedigend sind, denn auch mit ihnen wird der Wahrheitsbegriff nicht weiter erläutert, sondern als schon hinlänglich verstanden vorausgesetzt. Bei der Antwort auf die dritte Frage handelt es sich zumal bloß um eine andere Formulierung dessen, was oben als das deklarative Äquivalent (WNB’) von (WNB) eingeführt wurde. Mit Blick auf jede der gerade gegebenen Antworten drängt sich sofort die Anschlussfrage auf: Was heißt denn hier ‚wahr‘? Diese Frage steht im Zentrum philosophischer Wahrheitstheorien und wird von verschiedenen Philosophen auf unterschiedlichste Weise beantwortet. Eine Antwort, diejenige der wahrheitstheoretischen Deflationisten, wurde im ersten Kapitel bereits kritisch diskutiert. Das vorliegende Kapitel ist der Rekonstruktion der konsenstheoretischen Antwort gewidmet, die C. S. Peirce auf die Frage nach dem Sinn der Rede von Wahrheit gegeben und damit zugleich ein Paradigma dessen formuliert hat, was in der aktuellen wahrheitstheoretischen Diskussion unter dem Titel ‚epistemische Wahrheitskonzeptionen‘ diskutiert wird. III.1
Zur Standarddeutung der Peirceschen Konsenstheorie
Peirces explizite Thesen und Bemerkungen zum Wahrheitsbegriff sind sporadisch, verstreut über eine Reihe von veröffentlichten Aufsätzen sowie Fragment gebliebenen Manuskripten, und es ist kein Leichtes, aus ihnen ein einheitliches Bild, eine systematische Wahrheitskonzeption oder eine Wahrheitstheorie zu extrahieren. Christopher Hookway schreibt in der Einleitung zu einer seiner Peirce-Monographien insofern ganz zu Recht: „Although [Peirce] repeated [his] view of truth on a number of occasions, and although it is very important for the overall structure of his thought, his treatments of the topic generally have a throwaway character: nowhere did he provide an ex2 tended and detailed presentation and defence of his position.“
Für Peirces Wahrheitskonzeption gilt daher dasselbe, was Karl-Otto Apel in Bezug auf die „systematische Gesamtkonzeption Peirces“ feststellt: Sie 2
Hookway 2000, S. 4. Vgl. zu diesem Punkt auch Kirkham 1992, S. 79 ff.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
149
ist „aus der disparaten Fülle der Fragmente nur mit Mühe zu rekonstruieren“.3 Ihre Deutung wird auch durch die Tatsache erschwert, dass Peirce nicht selten auf metaphorische, zuweilen geradezu suggestive Art und Weise über Wahrheit spricht. Dies kommt der argumentativen Klarheit seiner Darlegungen nicht zugute. Da ist von Schicksal und Prädestination die Rede,4 und Peirce zitiert Bryants Vers „Truth, crushed down to earth, shall rise again“5, um seine These zu illustrieren, dass sich in Bezug auf jede Tatsachenfrage, die überhaupt einen verstehbaren Sinn hat, letztlich die wahre Antwort durchsetzen wird – oder doch durchsetzen würde, wenn die Bemühung um ihre Beantwortung nur lange genug fortgesetzt werden würde. Es ist wohl auch ihrer manchmal recht dunklen Darlegung geschuldet, dass Peirces Äußerungen zum Wahrheitsproblem sowohl als Ansatzpunkt für systematische Hochinterpretationen wie auch als Vorlagen für Karikaturen dienen können. Um eine systematische Hochinterpretation handelt es sich zweifellos bei Apels transzendentalpragmatischer Deutung der wahrheitstheoretischen Thesen von Peirce.6 Apel liest sie als Antizipationen der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie, die den Wahrheitsbegriff im Rekurs auf die regulative Idee des Konsenses einer unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft expliziert. Dass diese transzendentalpragmatische Deutung „nicht immer durch Peirces Texte belegbar“7 ist, hat Apel freilich nie bestritten. Um eine Karikatur handelt es sich dagegen bei Rortys Deutung der Peirceschen Konsenstheorie. Rorty spricht von „Peirce’s unfortunate attempt [...] to define truth in terms of ‘the end of inquiry’“8, und er meint, es gebe „excellent reasons for abandoning as useless Peirce’s notion of the ‘end of inquiry’“9. Wie viele andere Philosophen, die Peirces wahrheitstheoretische Thesen kommentieren, übersieht Rorty dabei, dass Peirce die Wendung ‚end of inquiry‘ im Sinne 3 4
5 6 7 8 9
Apel 1975, S. 33. Peirce 1931-1938, 5.407. Peirce-Zitate werden im Folgenden durch Angabe von Band- und Absatznummer der „Collected Papers“ (Peirce 1931-1938) im laufenden Text nachgewiesen. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.408. Der Vers stammt aus Bryants „The Battlefield“. Vgl. bes. Apel 1975 u. Apel 1998a. Apel 2002a, S. 117. Rorty 1986, S. 334, vgl. auch S. 336-338. Rorty 2000b, S. 60.
150
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
von ‚Zweck der Forschung‘ und nicht im Sinne von ‚Ende‘ oder ‚Abschluss der Forschung‘ gebraucht. Darauf komme ich gleich zurück. Trotz der damit angedeuteten Interpretationsschwierigkeiten lassen sich aus Peirces Bemerkungen zur Frage nach dem Sinn von ‚Wahrheit‘ einige klar umrissene Thesen und konstante Motive rekonstruieren, die für epistemische Wahrheitstheorien insgesamt maßgeblich geworden sind. Um diese Rekonstruktion vorzubereiten, bietet es sich an, mit einem kritischen Blick auf Rortys Deutung der Peirceschen Konsenstheorie ‚in terms of ‚the end of inquiry’‘ zu beginnen, und an Peirces Texten zu belegen, dass diese Deutung keinesfalls zwingend ist. Der Sache nach ist Rortys Deutung weit verbreitet. Sie darf sogar einiges Anrecht auf den Titel ‚Standardinterpretation‘ erheben. Nicht selten dient sie als Ausgangspunkt einer abschätzigen Kritik der Peirceschen Konsenstheorie.10 Die Standarddeutung wird zum Beispiel von Michael Lynch geltend gemacht: „[R]ather than saying that truth is a matter of agreement with reality, Peirce suggests that truth is determined by agreement among ourselves. But not merely any consensus will do; it must be consensus at the end of exhaustive empirical investigation–scientific inquiry when complete. […] Peirce’s view seems to be that a judgment is true if and only if it is justified at the end of scientific inquiry.“11
Dieselbe Interpretation der Peirceschen Wahrheitstheorie findet sich bei Richard Schantz: „For Peirce, a belief seems to be true just in case it is justified by the consensus of opinion we will attain at the end of scientific investigation.“12 Cheryl Misak nimmt diese Deutung sogar in den Titel einer ihrer Monographien auf: „Truth and the End of Inquiry. A Peircean Account of Truth“13; und zu Beginn des Vorworts schreibt sie, es gehe ihr darum, zu verdeutlichen, „how, following C. S. Peirce, we might think it correct to say that a true hypothesis is one which would be believed at the end of inquiry.“14 Crispin Wright behauptet, Peirce habe die These vertreten, dass alle wahren empirischen Aussagen am Endpunkt idealer empirischer Forschung begründet wären („would be justified at the limit of ideal 10
11 12 13 14
Rorty etwa behauptet, dass Peirces „contribution to pragmatism was merely to have given it a name, and to have stimulated James.“ (Rorty 1982, S. 161.) Lynch 2001, S. 185 f. Schantz 2002, S. 3. Misak 1991. Misak 1991, S. vii. Vgl. dagegen aber Misak 1998, S. 407 f.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
151
empirical investigation“15), und zudem die These, dass irgendwann einmal alle Wahrheiten erkannt sein werden („that all truths will eventually be known“) – um die Idee eines solchen Endes der Forschung dann als „mythical“16 zu disqualifizieren. Hinsichtlich seiner Interpretation der Peirceschen Wahrheitskonzeption stimmt Wright mit Thomas Nagel überein, der ebenfalls Peirce im Blick hat, wenn er schreibt: „[T]here is no guarantee that the whole of what there is coincides with what we or beings like us could arrive at if we carried the pursuit of objectivity to the limit–to the convergence of views that would come at that mythical point of stupefaction, ‘the end of inquiry.’“17
Die mit diesen Zitaten umrissene Standarddeutung der Peirceschen Wahrheitstheorie umfasst zwei Elemente, wobei einige der gerade zitierten Autoren freilich nur das erste Element explizit vertreten. Das erste Element: Peirce zufolge ist eine Aussage wahr genau dann, wenn sie am Ende der Forschung insgesamt von allen Mitgliedern der Forschergemeinschaft konsensuell anerkannt werden wird oder doch anerkannt werden würde, wenn die wissenschaftliche Forschung insgesamt an ihr Ende käme. Das zweite Element: Am Ende der Forschung gäbe es keine wahre Aussage, die nicht zum Gehalt des umfassenden Konsenses der Forschergemeinschaft gehören würde, der sich dann eingestellt hätte. Kurz, am Ende der Forschung wären wir allwissend. Trifft es aber zu, dass Peirce mit einem derartigen teleologischen Konzept der Wissenschaftsentwicklung, allgemeiner gesagt, mit einem teleologischen Konzept der epistemischen Geschichte insgesamt arbeitet? Vertritt er wirklich die These, dass die Wissenschaft auf ihre eigene Vollendung zustrebt und dass diese Vollendung aus einem schlechthin alle wahren Aussagen umfassenden letzten Konsens bestehen würde oder sogar bestehen wird?18 Die von Nagel und Wright angedeutete Kritik der Idee einer in 15 16 17 18
Wright 1992, S. 47. Wright 2000, S. 354. Nagel 1986, S. 98. Vgl. auch Devitt 1991, S. 37 und S. 45. Diese Deutung findet sich mehr oder weniger explizit auch in Putnam 1990, S. vii f., wo Peirce Fantasterei und Utopismus attestiert wird, und in Wright 1992, S. 45, wo von der „Peircean idea that truth is what is justified at an ideal limit of enquiry, when all empirical information is in“ die Rede ist; ferner in Rorty 1984, Rorty 1986, Rorty 2000b, S. 60, und in Rea 2000, S. 291.
152
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
der Zukunft liegenden Vollendung aller Forschung als mythisch – der Ausdruck ‚mysteriös‘ wäre an dieser Stelle angemessener – und der utopischen Vorstellung von einem dereinstigen Zuendebringen des Projekts der Erkenntnis der Realität insgesamt als schlecht metaphysisch mag berechtigt sein. Fraglich ist aber, ob diese Kritik an die richtige Adresse gerichtet ist, also ob sie Peirces Wahrheitskonzeption überhaupt trifft. Das einzige zukünftige Ende des Projekts ‚Erkenntnis und Erklärung der Realität‘, dessen Eintreten Peirce ernsthaft als möglich erwägt, ist ein endgültiger Abbruch dieses Projekts – „owing to a final extinction of intellectual life“ (8.43).19 Wenn Peirce dagegen den Ausdruck ‚end of inquiry‘ gebraucht, dann meint er damit kein zukünftiges Ende, sondern als Pragmatist – oder, um die von Peirce selbst letztlich bevorzugte Bezeichnung zu gebrauchen: als Pragmatizist – schlicht das rationale Motiv beziehungsweise den Sinn und Zweck (im Sinne von ‚purpose‘ und ‚motive‘) von Forschung und Argumentation. Jedenfalls hat die Wendung ‚end of inquiry‘ an den weitaus meisten Stellen, an denen Peirce sie gebraucht, grammatisch betrachtet einen finalen, also zweckbezogenen, und keinesfalls einen temporalen Sinn.20 So spricht Peirce von dem „principal end of inquiry, as regards human life“ (2.763), von dem hauptsächlichen Zweck der wissenschaftlichen Forschung für das menschliche Leben, und in demselben Sinn macht er auch diese These geltend: „[T]he settlement of opinion is the sole end of inquiry“ (5.375). Dass auch diese letzte Äußerung nicht im temporalen Sinn eines Abschlusses oder eines ein für alle Mal Zuendebringens des schlussfolgernden Denkens, der Argumentation und der Forschung gelesen werden darf, wird deutlich, wenn man sie in demjenigen Kontext betrachtet, in den sie gehört, nämlich in dem Zusammenhang von Peirces Erläuterung der Dynamik von Überzeugung und Zweifel im Prozess der Forschung, der Argumentation und des Denkens. Im Anschluss an assoziationspsychologische Thesen des schottischen Philosophen Alexander Bain entwirft Peirce in seinem Aufsatz „The Fixa19 20
Vgl. auch Peirce 1931-1938, 5.357. Die ambigue Abschnittsüberschrift „The End of Inquiry“, unter der in Peirce 19311938 die Absätze 5.374 bis 5.376 des Aufsatzes „The Fixation of Belief“ zusammengefasst sind, stammt nicht von Peirce selbst, sondern ist von Charles Hartshorne und Paul Weiss, den Herausgebern der ersten sechs Bände der „Collected Papers“, hinzugefügt worden.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
153
tion of Belief“ einen terminologischen Rahmen für die Rekonstruktion der wissenschaftlichen Forschungspraxis, der in die Richtung einer am Stimulus-Response-Modell orientierten Naturalisierung des Forschungsbegriffs weist. Forschung wird von Peirce als eine jeweils durch Zweifel motivierte und auf die Ausräumung dieses Zweifels gerichtete Tätigkeit beschrieben: „Doubt [...] stimulates us to inquiry until it is destroyed“. (5.373) Die Beseitigung des Zweifels geschehe dabei durch die Festlegung einer Überzeugung. Als „uneasy and dissatisfied state from which we struggle to free ourselves and pass into the state of belief“ (5.372) sei der Zweifel vergleichbar mit der „irritation of a nerve“ und die durch ihn verursachte intellektuelle Aktivität der Forschung mit einem Reflexverhalten („reflex action“ (5.373)). Der Zustand des Überzeugtseins dagegen habe als „calm and satisfactory state which we do not wish to avoid, or to change to a belief in anything else“ (5.372) sein neurophysiologisches Analogon in dem, ‚was man nervliche Assoziation nennt‘: „[F]or the analogue of belief, in the nervous system, we must look to what are called nervous associations – for example, to that habit of the nerves in consequence of which the smell of a peach will make the mouth water“ (5.373).
Peirce behauptet hier, dass das Denken von sich aus letztlich nur danach strebt, die Zweifel, die es plagen, und damit auch sich selbst durch die Festlegung einer Überzeugung zur Ruhe zu bringen. Ziel des Denkens sei es also immer, eine das Denken beruhigende Meinung festzulegen: „Thought in action has for its only possible motive the attainment of thought at rest“ (5.396).21 Überzeugungen (‚beliefs‘) stehen als Prämissen 21
Wenn Peirce an dieser Stelle über das Denken spricht, anstatt über diejenigen, die denken, so findet dies eine Entsprechung in seiner Zeichentheorie. Peirce rekonstruiert die Semiosis zumeist als einen eigengesetzlichen und –dynamischen Prozess, in dem nicht Sprecher beziehungsweise Zeichenverwender, sondern Zeichen Zeichen interpretieren. Vgl. zum Beispiel Peirce 1931-1938, 5.284. Insofern ist die immer wieder vorkommende Gleichsetzung des Peirceschen ‚interpretant‘ mit einem Interpreten, also einem interpretierenden Sprecher, jedenfalls als Peirce-Interpretation problematisch. Vgl. in diesem Zusammenhang schon Deweys Kritik an dieser Gleichsetzung in Morris’ Semiotik (Dewey 1946, bes. S. 85-89.). Zu Peirces Fokussierung auf das Denken und den Zeichenprozess passt, dass er, wie Habermas feststellt, „nicht sehr oft von Kommunikation spricht“ (Habermas 1992a, S. 9.), und dieser Zug in Peirces Zeichen- und Forschungstheorie passt wie-derum schlecht zu K.-O. Apels Anliegen, Peirce als einen Vordenker der transzendental-
154
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
in Schlüssen, also in weiteren Denkhandlungen, zur Verfügung, die ihrerseits entweder der Beseitigung weiterer Zweifel oder der Orientierung und Planung anderer, nicht intellektueller Handlungen dienen.22 Weil Peirce auch das Denken als ein Handeln versteht23, kann er Überzeugungen als Handlungsregeln oder, was bei ihm dasselbe ist, als Gewohnheiten (‚habits‘) kennzeichnen24: „[S]ince belief is a rule for action, the application of which involves further doubt and further thought, at the same time that it is a stopping-place, it is also a new starting-place for thought.“ (5.397)
Zweifel und Überzeugung stecken für Peirce insofern, wie Apel es formuliert, „eine jeweils endliche Funktionseinheit in dem unendlichen Prozeß der Erkenntnis ab.“25 Man muss die damit skizzierte und zum Teil eigentümliche Rekonstruktion des Denkens und Forschens in Begriffen von Zweifel, Überzeugung und Gewohnheit keineswegs akzeptieren, um einsehen zu können, dass die Rede von einem ‚end of inquiry‘ in ihr weder dem Ausdruck der Vorstellung von einem definitiven Zur-Ruhe-Kommen des Denkens dient noch auf das Projekt der wissenschaftlichen Forschung insgesamt bezogen ist. Insofern erweist sich die Standarddeutung der Peirceschen Wahrheitskonzeption ‚in terms of ‘the end of inquiry’‘ jedenfalls als fragwürdig. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass die Standarddeutung dort einen Ansatzpunkt findet, wo Peirce Ausdrücke wie „final opinion“ und „ultimate opinion“26 verwendet, die als solche zugleich temporal und final
22 23
24 25 26
pragmatischen, auf die intersubjektive und kommunikative Praxis des argumentativen Diskurses bezogenen Konsenstheorie der Wahrheit zu rekonstruieren. Zwar vertritt Peirce die These, dass „thinking always proceeds in the form of a dialogue [...] so that, being dialogical, it is essentially composed of signs“, aber er denkt dabei an „a dialogue between different phases of the ego“. (Peirce 1931-1938, 4.6.) Peirces sehr komplexe Zeichentheorie bleibt hier unberücksichtigt. Vgl. dazu Brandom 1994, S. 289 f. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.397: „[T]hought is essentially an action“. Diese Charakterisierung des Denkens als Handeln steht bei Peirce in einer unaufgelösten Spannung mit der These, das Denken sei ein eigendynamischer, nach dem „law of mental association“ (5.284) fortschreitender Prozess. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.397. Apel 1975, S. 116. Vgl. 2.693, 5.408, 7.336, 8.12, 8.14, 8.43, 5.430, 5.609, 8.113, 8.184, 8.261.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
155
konnotiert sind. Dies zumal, weil Peirce an manchen Stellen tatsächlich nahelegt, dass er die ultimate oder final opinion der Forschergemeinschaft im Sinne einer alle wahren Aussagen umfassenden letzten Meinung konzipiert. So zum Beispiel in der folgenden berühmten Passage aus dem Aufsatz „How to Make Our Ideas Clear“ von 1878: „The opinion which is fated to be agreed upon by all who investigate, is what we mean by the truth, and the object represented in this opinion is the real. That is the way I would explain reality.“ (5.407)
Die Konzepte der Wahrheit und der Realität sollen sich hier gegenseitig erläutern. ‚Wahrheit‘ wird als semantisches Korrelat des Realitätsbegriffs gekennzeichnet, die Wahrheit als epistemisches Telos der Forschung und die Realität als der Gegenstand, welcher durch die Wahrheit repräsentiert werden würde. Der propositionale Gehalt der ultimate opinion, auf deren Erreichung die Forschergemeinschaft gleichsam schicksalhaft (‚fated‘) zustrebe, wäre demnach die vollständige und umfassende Repräsentation der Realität insgesamt. An anderen Stellen scheint Peirce die Realität, also dasjenige, was durch eine so verstandene letzte Meinung repräsentiert werden würde, sogar mit einer „ideal perfection of knowledge“ (5.356) zu identifizieren, die mit der ultimate opinion erreicht wäre.27 Problematisch an diesen Formulierungen von Peirce ist vieles. Hier soll zunächst nur darauf hingewiesen werden, dass sich bei Peirce ebenso Passagen finden lassen, in denen er seine Rede von einer ultimate opinion auf einzelne Aussagen beziehungsweise auf die Beantwortung spezifischer Fragen bezieht und nicht auf die Vorstellung von einer Repräsentation der Realität insgesamt. Stellen wie die folgende passen nur schlecht zur Standardinterpretation: „We cannot be quite sure that the community ever will settle down to an unalterable conclusion upon any given question. Even if they do so for the most part, we have no reason to think the unanimity will be quite complete, nor can we rationally presume any overwhelming consensus of opinion will be reached upon every question. All that we are entitled to assume is in the form of a hope that such conclusion may be substantially reached concerning the particular questions with which our inquiries are busied.“ (6.610, Hervorhebung B.R.)28
27 28
Vgl. Peirce 1931-1938, 5.316, 5.331, 5.351, 8.16 und 8.104. Vgl. auch Peirce 1931-1938, 2.773, 5.430 und 8.113.
156
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
Im Blick auf diese Textstelle erscheinen die im Indikativ formulierten Thesen über ein zukünftiges Ende der Forschung, die Peirce von manchen der oben zitierten Vertreter der Standardinterpretation zugeschrieben werden, als vollkommen unangemessen. In den drei folgenden Abschnitten werden diejenigen Kernthesen der Peirceschen Konsenstheorie herausgearbeitet, die für die meisten epistemischen Ansätze, die später formuliert wurden, von Bedeutung geblieben sind.
III.2
Peirces epistemische Wahrheitsäquivalenz
Ausgehend von einer Kritik der traditionellen Unterscheidung zwischen klaren und deutlichen, dunklen und verworrenen Begriffen – Peirce spricht im Anschluss an die Tradition von ‚ideas‘ –, differenziert Peirce in „How to Make Our Ideas Clear“ zwischen ‚drei Graden der Klarheit‘29. Den ersten Grad der Klarheit hat ein Begriff B für einen Sprecher S dann, wenn S ihn auf intersubjektiv verstehbare Weise regelmäßig verwenden kann, den zweiten dann, wenn S eine „abstract definition“ (5.392) für B zu liefern imstande ist, grob gesprochen, wenn er notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für das Fallen eines Gegenstands unter den Begriff B formulieren kann. Peirce behauptet nun, dass ein grundlegender methodischer Fehler vieler Philosophen darin besteht, dass sie sich hinsichtlich der Begriffe, die sie klären und verständlich machen wollen, mit diesem zweiten Grad der Klarheit, also der Formulierung von ‚abstrakten Definitionen‘, zufrieden geben. Er bestreitet zwar nicht die Nützlichkeit abstrakter Begriffsdefinitionen, die als solche durchaus geeignet seien, unsere bestehenden Überzeugungen und Hypothesen zu ordnen und so unser Denken zu orientieren30, fordert darüber hinaus aber eine „higher perspicuity of thought“ (5.392), nicht zuletzt einen höheren Grad von Deutlichkeit und Verständlichkeit in der Formulierung philosophischer Argumente und The29
30
Vgl. Peirce 1931-1938, 5.388-5.393. Die Wendung ‚drei Grade der Klarheit‘ findet sich in „How to Make Our Ideas Clear“ zwar nicht wörtlich, vgl. dazu aber den Aufsatz „The Logic of Relatives“ (3.456-3.552), wo explizit von „three grades of clearness in our apprehensions of the meanings of words“ (3.457) die Rede ist. Dazu Apel 1975, S. 133-146, und Misak 1995, S. 112-120. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.392 und 1.222.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
157
sen. Denn selbst, wenn Philosophen ihre Gedanken in eine begrifflich konsistente, auf abstrakte Definitionen gestützte Ordnung bringen können, so heißt das nach Peirce noch lange nicht, dass sie auch wirklich verstehen, was sie denken.31 Letzteres aber ist, darin hat Peirce zweifellos Recht, eine notwendige Bedingung für relevantes und ernst zu nehmendes Philosophieren. Er stellt sich in die Tradition sowohl von Humes wie auch von Kants Metaphysikkritik, wenn er seine später so genannte32 Pragmatische Maxime als Maßstab einer Bedeutungsklärung von Begriffen und Hypothesen formuliert, die jene „higher perspicuity of thought“ und damit den „third grade of clearness“ (3.457) zu erreichen gestatte.33 Er kündigt an: „To know what we think, to be masters of our own meaning, will make a solid foundation for great and weighty thought.“ (5.393) Die Pragmatische Maxime führt Peirce folgendermaßen ein: „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.“ (5.402)
Peirce spricht der Pragmatischen Maxime eine dreifache Funktion zu. Sie soll erstens als Instrument der Bedeutungsklärung von Begriffen und Hypothesen dienen, zweitens soll sie es ermöglichen, Sinn- und Bedeutungsloses zu identifizieren34, und drittens soll sie einen Maßstab für die Feststellung von Bedeutungsidentität abgeben35. Ohne dazu an dieser Stelle auf die Feinheiten der Formulierung der Pragmatischen Maxime eingehen zu müssen – Peirce hat die Maxime immer wieder verändert und ergänzt36 –, 31 32 33
34 35 36
Vgl. Peirce 1931-1938, 5.393. Vgl. Peirce 1931-1938, 1.14. Vgl. etwa Hume 1999, Abschnitt 2, S. 16, und Kants Vorrede zu den „Prolegomena“ (Kant 2001, S. 3-15). In Peirce 1931-1938, 6.6, steht eine Charakterisierung der „present condition“ der Metaphysik, die sich, wenn nicht bei Kant, so doch auch bei Hume hätte finden können. Vgl. auch 8.191 sowie Peirces Charakterisierung ‚fast ausnahmslos jeder ontologisch-metaphysischen Aussage‘, die in der philosophischen Tradition formuliert wurde, als „meaningless gibberish“, „downright absurd“ und „rubbish“ (5.423), mit der er sowohl an Humes starke Worte am Ende des „Enquiry“ (vgl. Hume 1999, Abschnitt 12, S. 123) anknüpft als auch den Tonfall manch logisch-positivistischer Metaphysikkritik vorwegnimmt. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.403 f. Vgl. zum Beispiel Peirce 1931-1938, 5.196, 5.398 und 5.401. Vgl. dazu Apel 1975, S. 143-146.
158
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
lässt sich Peirces konsenstheoretische Explikation der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Realität‘, die oben bereits zitiert wurde, als Ergebnis einer ‚Anwendung‘ der Pragmatischen Maxime verstehen.37 Dies zumindest, wenn man um des Arguments willen die folgende These von Peirce akzeptiert: „The only effect which real things have is to cause belief, for all the sensations which they excite emerge into consciousness in the form of beliefs. The question therefore is, how is true belief (or belief in the real) distinguished from false belief (or belief in fiction).“ (5.406)
Die eine Frage, die Peirce hier stellt, kann zunächst in zwei Teilfragen im Sinn der Pragmatischen Maxime zerlegt werden: 1. Welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wären zu erwarten, wenn ein Gegenstand x mit der Eigenschaft E real wäre, also existierte? 2. Welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wären zu erwarten, wenn eine gegebene Aussage p wahr wäre?38 Für sich genommen sind diese Fragen und auch Peirces Formulierung der Pragmatischen Maxime auf eine an Unverständlichkeit grenzende Weise abstrakt. Ihre Abstraktheit entspricht derjenigen einer Äußerung oder Niederschrift des folgenden Satzes, deren Hörer oder Leser zwar wissen, von welchem Konzert die Rede sein soll, aber sonst nichts: (?) Das Konzert wäre besser gewesen. Das Konzert wäre besser gewesen, wenn was der Fall gewesen wäre? Ebenso muss auf die Fragen 1. und 2. zurückgefragt werden: Wirkungen, die denkbarerweise für wen und unter welchen Bedingungen praktische Relevanz haben könnten? Äußerungen von Sätzen wie (?) und Fragen wie 1. und 2. brauchen einen Bezugskontext, um verständlich zu sein. Peirce setzt als Bezugskontext der Fragen 1. und 2. einen als zeitlich unbegrenzt gedachten intersubjektiven Forschungsprozess voraus39:
37 38
39
Vgl. dazu Apel 1998a, S. 111. Peirce zufolge sind sowohl ‚Realität‘ und ‚Existenz‘ wie auch ‚Wahrheit‘ echte Prädikate, die Eigenschaften denotieren. ‚In the long run‘ ist eine von Peirces Lieblingswendungen. Vgl. etwa Peirce 19311938, 1.67, 1.88, 1.93 und 1.107.
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1’. Vorausgesetzt, es existiert ein Gegenstand x mit der Eigenschaft E: Welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz für die Forschergemeinschaft G haben könnten, wären dann zu erwarten, wenn G einen zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess zur Frage, ob es ein x gibt, das E ist, durchführen würde? 2’. Vorausgesetzt, die Aussage p ist wahr: Welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz für die Forschergemeinschaft G haben könnten, wären dann zu erwarten, wenn G einen zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess zur Frage, ob p wahr ist, durchführen würde? Peirces Antworten auf die Fragen 1’. und 2’. sind nun die folgenden: Die Realität respektive Existenz eines Gegenstands x, der die Eigenschaft E hat, hätte in einem zeitlich unbegrenzt fortgesetzten Forschungsprozess F zur Frage, ob es ein x gibt, das E ist, die Konsequenz, dass die Aussage ‚∃x(Ex)‘ irgendwann zum Gehalt eines stabilen Konsenses der an F beteiligten Forschergemeinschaft werden würde. Und die Wahrheit der Aussage p hätte dementsprechend in einem zeitlich unbegrenzt fortgesetzten Forschungsprozess F’ zur Frage, ob p wahr ist, die Konsequenz, dass p irgendwann zum Gehalt eines stabilen Konsenses der an F’ beteiligten Forschergemeinschaft werden würde. Mit dieser konsenstheoretischen Antwort auf die Fragen 1. und 2., die ich weiter unten genauer erläutern werde, ergänzt Peirce die von ihm zuvor formulierte „abstract definition of the real“ als „that whose characters are independent of what anybody may think them to be.“ (5.405) Ich zitiere die relevante Passage hier nochmals, weil von ihr ausgehend sowohl (a) die für Peirce zentrale Unterscheidung zwischen faktischem Erkanntsein und prinzipieller Erkennbarkeit verdeutlicht wie auch (b) die von ihm vertretene epistemische Wahrheitsäquivalenz hergeleitet werden kann: „The opinion which is fated to be ultimately agreed to by all who investigate, is what we mean by the truth, and the object represented in this opinion is the real. That is the way I would explain reality.“ (5.407)
Zu (a): Im Anschluss an diese Passage antizipiert Peirce den naheliegenden Einwand, dass zwischen der ‚abstrakten Definition‘ des Realen als „that whose characters are independent of what anybody may think them to
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be“ und der konsenstheoretischen Explikation der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Realität‘ ein Widerspruch besteht. Legt die Letztere nicht genau jene Abhängigkeit der Realität vom Denken nahe, welche durch die Erstere per definitionem ausgeschlossen wird?40 Den übrigen Teil des Aufsatzes „How to Make Our Ideas Clear?“ verwendet Peirce dazu, diesen und einige andere Einwände zu entkräften. Ich will seine Argumentation hier nicht en détail rekonstruieren. Peirce arrangiert sie um das Zitat einiger Verse aus Thomas Grays „Elegy Written in a Country Church Yard“, in denen darauf hingewiesen wird, dass manche Gegenstände und Ereignisse, die unter geeigneten Bedingungen wahrgenommen, beobachtet und beschrieben werden könnten, de facto niemals von irgendjemandem wahrgenommen, beobachtet oder beschrieben werden: „Full many a gem of purest ray serene The dark, unfathomed caves of ocean bear; Full many a flower is born to blush unseen, And waste its sweetness on the desert air.“41
Im Kontext dieses Zitats stellt Peirce sich selbst die folgende Frage: „But I may be asked what I have to say to all the minute facts of history, forgotten never to be recovered, to the lost books of the ancients, to the buried secrets.“ (5.409)
Und er antwortet: „To this I reply that, though in no possible state of knowledge can any number be great enough to express the relation between the amount of what rests unknown to the amount of the known, yet it is unphilosophical to suppose that, with regard to any given question (which has any clear meaning), investigation would not bring forth a solution of it, if it were carried far enough.“ (5.409)
Peirces Antwort umfasst zwei Aspekte. Zum einen macht er die These geltend, dass kein Zustand des Wissens erreichbar ist, der auch nur annähernd an den Zustand eines – und sei es über verschiedene Zeiten und epistemische Subjekte verteilten – vollständigen Wissens heranreicht. In keinem möglichen, das heißt hier, in keinem realisierbaren Zustand des Wissens (‚possible state of knowledge‘) würde gelten, dass schlechthin alle wahren 40 41
Vgl. Peirce 1931-1938, 5.408. Zitiert nach Peirce 1931-1938, 5.409. Diese Verse sind in der Diskussion über epistemische Wahrheitstheorien schon mehrfach zitiert worden. Vgl. etwa Künne 1992, S. 231 f., Anm. 14, Künne 2003, S. 424; Williamson 2000, S. 273.
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Aussagen als wahr erkannt sind. A fortiori erkennt Peirce hier die folgende These an42: (NonAllK) Es gibt wahre Aussagen, die de facto niemals Gehalt von Wissen waren, es jetzt nicht sind und auch in Zukunft niemals sein werden. Zwar folgt die These (NonAllK) nicht aus Peirces Wahrheitsexplikation43, aber ebenso wenig folgt aus der Letzteren – und darum geht es Peirce hier – das kontradiktorische Gegenteil von (NonAllK): (AllK) Für jede wahre Aussage gilt, dass sie de facto einmal Gehalt von Wissen war, es jetzt ist oder einmal sein wird. Es ist die These (AllK), von der Peirce sich distanzieren will, wenn er explizit auf die Grenzen unseres faktischen Wissens hinweist und darauf bedacht ist, seine Konsenstheorie von jeglichen prognostischen Implikationen und empirischen Aussagen über die Extension vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Wissens freizuhalten. (NonAllK) bringt zum Ausdruck, dass der Umfang unseres Wissens begrenzt ist, und zwar nicht nur jetzt und in der Vergangenheit, sondern auch in Zukunft. Man muss nur an solche wahren und im Prinzip epistemisch korrekt entscheidbaren Aussagen denken, die de facto niemals thematisch werden, weil sich niemand für ihren Wahrheitswert interessiert, oder eben, worauf Peirce mit Gray hinweist, an die Eigenschaften einer Blume, die de facto niemals von einem epistemischen Subjekt wahrgenommen wird respektive an die wahren Aussagen, die über eine solche Blume mit Gründen behauptet werden könnten, wenn sie wahrgenommen werden würde.44 42 43 44
‚NonAllK‘ steht für ‚nicht alles wird gewusst‘ oder auch ‚nicht alles ist erkannt‘. Ich werde sie weiter unten präziser formulieren. Man kann dabei natürlich nicht an eine bestimmte wahre Aussage über eine bestimmte de facto niemals wahrgenommene Blume denken. Um die folgenden Existenzaussagen zu verstehen oder sogar zu begründen, ist das aber auch nicht notwendig: ‚Es gibt wenigstens eine Aussage, die wahr ist und niemals mit Gründen für wahr gehalten wird.‘ ‚Es gibt wenigstens eine Blume, die niemals wahrgenommen wird.‘ Denn der Quantor ‚es gibt wenigstens eine Aussage‘ designiert ebenso wenig eine bestimmte Aussage wie der Quantor ‚es gibt wenigstens eine Blume‘ eine bestimmte Blume designiert.
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Zum anderen macht Peirce an der zuletzt zitierten Stelle eine spezifische Erkennbarkeitsthese geltend, ein epistemisches Regulativ: Wenn eine Frage eine wahre Antwort hat, dann ist es im Prinzip möglich, diese Antwort zu finden und als wahre Antwort zu erkennen. Obwohl wir sehr gute Gründe für und keine Gründe gegen die Annahme haben, dass der Umfang unseres Wissens immer begrenzt war, jetzt begrenzt ist und in Zukunft begrenzt sein wird – also dafür, dass niemals alle möglichen sinnvoll stellbaren Fragen beantwortet waren oder sein werden45 –, bedeutet dies doch nicht, dass manche sinnvoll stellbaren Fragen prinzipiell unbeantwortbar sind. (NonAllK) impliziert weder die These, dass es prinzipiell unbeantwortbare Fragen gibt, die eine wahre Antwort haben, noch die Negation dieser These. Es ist zwar nicht vollkommen klar, wie der Ausdruck ‚unphilosophisch‘ an der zitierten Stelle zu verstehen ist, insofern aber jede verstehbare und wahre Aussage als korrekte Antwort auf eine sinnvoll stellbare Frage gedacht werden kann, geschieht Peirce wohl kein hermeneutisches Unrecht, wenn man ihm an dieser Stelle die Behauptung des folgenden epistemischen Regulativs zuschreibt: (EpReg◊K) Wenn es wahr ist, dass p, dann ist es möglich, zu erkennen, dass p. Damit sind zwei Kernthesen von Peirces konsenstheoretischer Wahrheitskonzeption herausgestellt: (EpReg◊K) und (NonAllK). Die These (NonAllK) ist nichts anderes als die Negation der ganz und gar unplausiblen Aussage, dass für jede Wahrheit – für jede wahre Proposition – gilt, dass sie faktisch irgendwann einmal Gehalt von Wissen war, es jetzt ist oder einmal sein wird. Wir haben nur gute Gründe für, keine guten Gründe gegen die These (NonAllK). Man kann Peirce nun so verstehen, dass er darauf hinweist, dass das kontradiktorische Gegenteil von (NonAllK), also (AllK), jedenfalls nicht aus einer Explikation des Wahrheitsbegriffs allein folgen sollte. Mit anderen Worten: Er versteht (NonAllK) als eine These, mit der jede akzeptable Explikation des Wahrheitsbegriffs logisch vereinbar sein muss. Bei (EpReg◊K) handelt es sich um eine vollkommen generelle These. Sie soll für schlechthin jede wahre Proposition gelten. Das heißt: Wenn es prinzipiell unmöglich ist, zu erkennen, dass p, dann ist die Aussage, dass p, jedenfalls nicht wahr. Nun sollte man allemal erwarten, dass (EpReg◊K) und 45
Vgl. Peirce 1931-1938, 8.113.
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(NonAllK) zwei Thesen sind, deren Konjunktion sich konsistent behaupten lässt. Schließlich ist in (EpReg◊K) allein von der prinzipiellen Möglichkeit eines spezifischen epistemischen Status einer jeden wahren Proposition die Rede, während (NonAllK) eine These über den Umfang dessen zum Ausdruck bringt, was de facto zu irgendeinem Zeitpunkt diesen Status hat. Ebenso wenig wie man sich mit der Behauptung, dass Zucker wasserlöslich ist, auf die These festlegt, dass jedes Zuckerkorn irgendwann einmal in Wasser aufgelöst wird, legt man sich mit der Behauptung, dass jede wahre Aussage im Prinzip auch als wahr erkannt werden kann, auf die These fest, dass jede wahre Aussage de facto irgendwann einmal als wahr erkannt wird. So scheint es jedenfalls. Wie in Kapitel V deutlich werden wird, liegen die Dinge hier aber komplizierter als in Bezug auf Zucker und Wasserlöslichkeit. Den Grundgedanken, der hinter der Kombination der Thesen (NonAllK) und (EpReg◊K) in „How to Make Our Ideas Clear?“ steht, hatte Peirce bereits in seinem Aufsatz „Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man“46 von 1868 formuliert, dort noch ohne Rekurs auf die Pragmatische Maxime. Im Blick auf Kants Lehre von der Unerkennbarkeit der Dinge, wie sie an sich selbst sind, fragt Peirce dort, „[w]hether a sign can have any meaning, if by its definition it is the sign of something absolutely incognizable.“47 Seine Antwort lautet, paraphrasiert und erläutert: Nein, wir können zwar im Sinne einer rein stipulativen Definition festlegen, dass ein Zeichen, zum Beispiel der Ausdruck ‚Ding an sich‘, dieselbe Bedeutung haben soll wie das Zeichen ‚etwas absolut Unerkennbares‘. Die Möglichkeit einer solchen Stipulation garantiert aber von sich aus noch nicht, dass wir den Ausdruck ‚Ding an sich‘ auf ihrer Grundlage dann auch wirklich verstehen können. Dies ist eine Variante desselben Gedankens, den Peirce später mit seiner Differenzierung zwischen dem zweiten und dem dritten Grad der Klarheit auf den Begriff bringen wird. Es könnte schließlich sein, dass wir uns nur irrtümlicherweise einbilden, die Bedeutung des Ausdrucks ‚etwas absolut Unerkennbares‘ zu verstehen. Ein sehr starker Grund für die These, dass wir uns Letzteres nur fälschlicherweise einbilden, bestünde in dem Nachweis, dass der Ausdruck ‚etwas absolut Uner46 47
Peirce 1931-1938, 5.213-5.263. Peirce 1931-1938, 5.254.
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kennbares‘ keine Bedeutung hat und insofern nicht verstanden werden kann. Peirce bringt nun ein sinnkritisches Argument vor, mit dem er genau diesen Nachweis zu liefern beansprucht: „[A]ll our conceptions are obtained by abstractions and combinations of cognitions first occurring in judgments of experience. Accordingly, there can be no conception of the absolutely incognizable, since nothing of that sort occurs in experience. But the meaning of a term is the conception which it conveys. Hence, a term can have no such meaning.“48
Peirce versteht die von ihm an dieser Stelle vertretene empiristische These über die Genese von Begriffen offenbar in dem Sinn, dass es keinen Begriff eines absolut Unerkennbaren geben kann. Nur dann aber, wenn es einen solchen Begriff gäbe, könnte ein Zeichen ihn vermitteln (‚convey‘).49 Peirce schließt daraus zunächst, dass also kein Zeichen den Begriff eines absolut Unerkennbaren vermitteln kann. Wenn aber kein Zeichen diesen Begriff vermitteln kann, dann kann a fortiori kein Zeichen, das ‚aufgrund seiner Definition das Zeichen für etwas absolut Unerkennbares ist‘, diesen Begriff vermitteln. Aus all dem zieht Peirce dann eine starke Schlussfolgerung50: „Over against any cognition, there is an unknown but knowable reality; but over against all possible cognition, there is only the self-contradictory.“ (5.257) Die Frage, ob Peirce auf der Basis seines Arguments tatsächlich berechtigt ist, diese starke Schlussfolgerung zu behaupten, werde ich hier nicht diskutieren. Hingewiesen sei nur darauf, dass er auch den ersten zitierten Satz modal stärker hätte formulieren müssen. Etwa so: ‚No conception can be obtained other than by means of abstractions and combinations of cognitions first occurring in judgments of experience.‘ Denn aus der Aussage, dass wir de facto alle unsere Begriffe durch Abstraktion und Kombination aus Erfahrungsurteilen gewinnen, folgt nicht, dass kein Begriff auf eine andere Weise gewonnen werden kann. In der Form, in der 48 49
50
Peirce 1931-1938, 5.255. Ich übernehme hier Peirces Rede davon, dass Zeichen Begriffe vermitteln, und seine Behauptung, dass der Begriff, den ein Zeichen vermittelt, die Bedeutung dieses Zeichens ist. Beide Redeweisen sind zwar sprachphilosophisch problematisch, im Rahmen einer immanenten Erläuterung des Arguments von Peirce aber hinreichend verständlich. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.525 und 8.43: „[A]n unknowable reality is nonsense“.
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Peirce sein Argument formuliert, folgt der zweite Satz (‚there can be no conception of the absolutely incognizable‘) also nicht aus dem ersten. Aber wie dem auch sei, es geht hier allein um den Nachweis, dass Peirce die These vertritt, dass jede wahre Aussage im Prinzip auch als wahr erkannt werden kann ((EpReg◊K)), und zugleich behauptet, dass der Umfang unseres Wissens de facto niemals alle wahren Aussagen umfasst ((NonAllK)). Zu (b): Oben wurde bereits angedeutet, dass sich in Peirces verstreuten Bemerkungen zum Wahrheitsproblem, wenn man sie vergleicht, eine systematische Zweigleisigkeit zeigt. Zum einen spricht Peirce in manchen Passagen über Aussagenwahrheit und gibt eine konsenstheoretische Erläuterung des Wahrheitsbegriffs im Blick auf einzelne Propositionen, die sich durch die folgende epistemische Wahrheitsäquivalenz präzisieren lässt51: (WahrheitPeirce) Die Aussage p ist wahr gdw.52 gilt: Wenn in Bezug auf die Frage, ob es der Fall ist, dass p, ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F stattfinden würde, dann würde sich zu irgendeinem Zeitpunkt von F ein stabiler Konsens in der an F beteiligten Forschergemeinschaft einstellen, welcher die Aussage p zum propositionalen Gehalt hätte. (WahrheitPeirce) liefert eine Erläuterung des Ausdrucks ‚wahre Aussage‘. Sie bringt diejenigen Stellen auf den Punkt, an denen Peirce über den Sinn von ‚Wahrheit‘ hinsichtlich der Antworten auf spezifische Fragen spricht, die Gegenstand wissenschaftlicher oder auch alltagspraktischer Forschung (‚inquiry‘) sind oder werden können.53 Es finden sich aber, wie schon deutlich wurde, bei Peirce auch Passagen, in denen es ihm nicht um Aussagenwahrheit, sondern um die Idee der vollständigen Wahrheit zu gehen scheint. An solchen Stellen scheint er 51 52 53
Vgl. Peirce 1931-1938, 2.773, 4.61, 5.430, 8.43 und 8.113. Die Abkürzung ‚gdw.‘ steht für ‚genau dann, wenn‘. Für Peirce ist der Unterschied zwischen alltäglichen Versuchen, eine gegebene Frage zu beantworten, und wissenschaftlicher Forschung ein gradueller, kein prinzipieller. Vgl. dazu zum Beispiel Peirce 1931-1938, 5.374 f., 5.384 u. 5.394.
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dann ‚Wahrheit‘ plötzlich nicht mehr als generellen, sondern als singulären Terminus zu verstehen, nämlich als einen Namen für die alle wahren Aussagen umfassende letzte Meinung und vollständige Repräsentation der Realität. So ist es in der Tat nachvollziehbar, wenn manche Vertreter der Standarddeutung die Formulierung in 5.407 in genau diesem Sinn interpretieren und Peirce die folgende Explizitdefinition zuschreiben54: Die Wahrheit =def. die konsensuelle Meinung über die Realität insgesamt, die am Ende der Forschung von der Forschergemeinschaft erreicht sein würde, und deren propositionaler Gehalt die Realität insgesamt repräsentieren würde. Peirce hat an keiner Stelle ausdrücklich den Versuch unternommen, seine Explikation von Aussagenwahrheit und seine Erläuterung der Idee der vollständigen Wahrheit systematisch zueinander in Beziehung zu setzen, und es mag sein, dass er sie als bloß verbale Varianten ein und derselben These verstanden hat. In diesem Sinn lässt sich zum Beispiel die Bestimmung des Wahrheitsbegriffs lesen, die Peirce in dem Artikel „Truth, Falsity and Error“ für den „Baldwin’s Dictionary of Philosophy“55 von 1901 vorgeschlagen hat: „Truth is a character which attaches to an abstract proposition, such as a person might utter. It essentially depends upon that proposition’s not professing to be exactly true. […] Truth is that concordance of the abstract statement with the ideal limit towards which endless investigation would tend to bring scientific belief, which concordance the abstract statement may possess by virtue of the confession of its inaccuracy and one-sidedness, and this confession is an essential ingredient of truth.“ (5.565)
Peirces These, dass eine gegebene Proposition nur dann wahr ist, wenn sie ein Eingeständnis ihrer eigenen Ungenauigkeit und Einseitigkeit (‚inaccuracy and one-sidedness‘) umfasst, will ich hier nicht en détail erläutern. Dazu nur soviel: Diese These, die sich in ähnlichen Formulierungen auch in den Kohärenztheorien der britischen Idealisten Francis H. Bradley und Harold H. Joachim findet56, ist zwar in verschiedenen Hinsichten intuitiv nachvollziehbar, es ist aber fraglich, ob sie wirklich präzise gefasst und 54 55 56
Vgl. auch Peirce 1931-1983, 5.356 und 8.104. Peirce 1931-1938, 5.565-5.573. Vgl. Joachim 1906, S. 107 f., sowie die Diskussion in Künne 2003, S. 385-388.
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kohärent expliziert werden kann. Denn inwiefern kann eine Proposition einräumen oder bekennen (‚profess‘), dass sie selbst einseitig, ungenau und insofern nicht völlig wahr (‚exactly true‘) ist? Können Propositionen in Bezug auf sich selbst etwas einräumen? Man sollte erwarten, dass nur Sprecher, die eine gegebene Proposition p zum Ausdruck bringen – etwa indem sie p behaupten –, etwas in Bezug auf p einräumen oder konzedieren können. Und können Propositionen mehr oder weniger wahr sein, wie es durch Peirces Verwendung des Ausdrucks ‚not exactly true‘ nahegelegt wird? Diese Fragen will ich hier nur aufwerfen. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang, dass man Peirces zuletzt zitierte Erläuterung als einen Versuch deuten kann, seine konsenstheoretische Explikation des Ausdrucks ‚wahre Aussage‘, also (WahrheitPeirce), mit seiner Identifikation ‚die Wahrheit = die ultimate opinion‘ zu vermitteln: Wenn man erstens die Wendung ‚the ideal limit towards which endless investigation would tend to bring scientific belief‘ im Anschluss an die Standarddeutung liest und davon ausgeht, dass Peirce mit ihr die Vorstellung von einer vollständigen Repräsentation der Realität insgesamt zum Ausdruck bringen will, und wenn man zweitens das Wort ‚concordance‘ etwas frei im Sinne von ‚ist Teil‘ oder ‚ist Element von‘ interpretiert, dann liegt die Annahme nahe, dass Peirce hier den Sinn von ‚wahre Aussage‘ im Rekurs auf die Idee einer nicht auf spezifische Fragen, sondern auf alle sinnvoll stellbaren Fragen bezogenen ultimate opinion der Forschergemeinschaft erläutert. Etwa so: (WahrheitPeirce*) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn der Forschungsprozess insgesamt an sein Ende gebracht wäre, dann würde die Forschergemeinschaft konsensuell eine ultimate opinion qua vollständige Repräsentation der Realität erreicht haben, deren propositionaler Gehalt die Aussage p als Element umfassen würde. Diese Interpretation mag auf den ersten Blick etwas waghalsig erscheinen, sie eröffnet aber die Möglichkeit, die beiden ansonsten unvermittelt nebeneinander stehenden Explikationsstränge zusammenzuführen, die sich in Peirces Bemerkungen zum Wahrheitsproblem finden. Die epistemische
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Wahrheitsäquivalenz (WahrheitPeirce*) bringt diejenigen Stellen auf den Punkt, an denen Peirce seine Rede von der ultimate oder final opinion und dem end of inquiry auf die Vorstellung einer vollständigen Repräsentation der Realität insgesamt bezieht und an denen seine Konsenstheorie Berührungspunkte mit Kohärenztheorien aufweist, denen zufolge eine Aussage genau dann wahr ist, wenn sie Element des ideal kohärenten Überzeugungssystems wäre.57 (WahrheitPeirce) und (WahrheitPeirce*) sind schematische Bikonditionale, auf deren linker Seite jeweils das Schema einer logisch einfachen kategorischen Aussage steht, und deren rechte Seite die Form eines kontrafaktischen Konditionals hat. Diese logische Form teilen sie, wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, mit Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs, die von Putnam, Habermas und Apel vorgeschlagen wurden. Weil der Klärungsbedarf und die vielfältigen Probleme, die mit der sehr spekulativen epistemischen Wahrheitsäquivalenz (WahrheitPeirce*) verbunden sind, weit über die im Folgenden zu diskutierenden Fragestellungen hinausreichen, werde ich von nun an nur noch (WahrheitPeirce) berücksichtigen und so tun, als würde Peirce keinen Zweifel daran lassen, dass es ihm in seiner Wahrheitskonzeption um eine Klärung des Konzepts der Aussagenwahrheit geht. Nur auf eine Frage, welche die Idee der vollständigen Wahrheit über die Realität insgesamt aufwirft, werde ich in Kapitel VI zurückkommen, um sie negativ zu beantworten: Kann für diese Idee sinnvollerweise der Status einer regulativen Idee im Sinne Kants beansprucht werden?
III.3
Idealisierungen und kontrafaktische Annahmen
Der Hauptgrund dafür, dass Peirce in seiner Wahrheitskonzeption auf ein kontrafaktisches Konditional zurückgreift58, besteht darin, dass er zusammen mit der Idee eines Konsenses der Forschergemeinschaft, durch die er den Wahrheitsbegriff zu explizieren versucht, eine bestimmte idealisierende und kontrafaktische Annahme ins Spiel bringen muss.59 Konsens, die 57 58 59
Vgl. auch die in Apel 2003, S. 196, skizzirte Deutung von Peirces Konsenstheorie. Vgl. die rechte Seite von (WahrheitPeirce). Ich setze voraus, dass kontrafaktische Konditionale wahr oder falsch sein können. Wollte man diese Voraussetzung bestreiten, so wäre man gezwungen, die weitaus
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übereinstimmende Anerkennung oder Ablehnung einer Aussage durch mindestens zwei Personen, kann sowohl zufällig bestehen wie auch auf unterschiedliche Weisen erreicht oder sogar hergestellt werden. Darauf hat Peirce in „The Fixation of Belief“60 hingewiesen. Eine Weise der Herstellung von Konsens ist zum Beispiel die „method of authority“ (5.380)61. Der Begriff eines autoritär durch Sanktionen und Gewalt hergestellten Konsenses ist zur Klärung des Konzepts der Wahrheit offensichtlich ungeeignet. Doch selbst der Begriff eines Konsenses, der nicht autoritär oder sonstwie manipulativ hergestellt, sondern allein auf der Grundlage einer freien Auswertung von Argumenten erzielt wäre, kann Peirce zufolge keine wahrheitstheoretische Explikationsarbeit leisten, solange in ihn nicht eine Idealisierung investiert wird. Welche Idealisierung bringt Peirce in seiner Konsenstheorie ins Spiel? In dem Aufsatz „Truth: A Traditional Debate Reviewed“ charakterisiert Crispin Wright eine „broadly Peircean conception of truth“ – freilich ohne eine solche vertreten zu wollen – als eine Konzeption, derzufolge „truth is what would be agreed upon by thinkers operating under epistemically ideal conditions“62. Diese Charakterisierung nimmt Wright an anderer Stelle auf und stellt die folgende „biconditional elucidation of ‘true’“ als den theoretischen Kern von an Peirce anknüpfenden Wahrheitskonzeptionen dar:
60 61 62
meisten, wenn nicht sogar alle epistemischen Wahrheitstheorien als sinnlos zu betrachten. Die Voraussetzung, dass kontrafaktische Konditionale wahrheitswertdifferent sind, muss also von jedem anerkannt werden, der epistemische Wahrheitstheorien nicht insgesamt als verworren ablehnen will. Oftmals werden kontrafaktische Konditionale als Konditionale mit einem Vordersatz charakterisiert, von dem geglaubt oder sogar gewusst wird, dass er falsch ist: „A counterfactual conditional is a conditional with a known (or believed) to be false antecedent.“ (Girle 2003, S. 159.) Aus Gründen, die weiter unten deutlich werden, hat Peirce dagegen in Bezug auf die Vordersätze der von ihm in der Konsenstheorie verwendeten kontrafaktischen Konditionale weder behauptet, sie für falsch zu halten, noch, zu wissen, dass sie falsch sind. Ich schließe mich diesem Aspekt von Peirces Verständnis kontrafaktischer Konditionale an. Vgl. dazu auch Williamson 2007, S. 137-141. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.377-5.387. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.379 f. Wright 1999, S. 57.
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III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen „Let us, for every proposition P, call the following the Peircean biconditional for P: P is true if and only if were P appraised under conditions U, P would be believed. where U are conditions under which thinkers have achieved some informationally comprehensive ideal limit of rational-empirical inquiry.“63
Wrights Deutung projiziert aber letztlich nur retrospektiv eine Lesart von Putnams Erläuterung des Wahrheitsbegriffs mit Hilfe des Konzepts idealer epistemischer Bedingungen auf Peirce.64 Wenn man dagegen Peirces Konzeption selbst betrachtet, dann zeigt sich, dass Wrights ‚broadly Peircean conception‘ ihren Titel zu Unrecht trägt. Man kann Peirce so verstehen, dass er die folgende Frage zu beantworten versucht: Lassen sich Bedingungen B für einen Konsens K hinsichtlich der Beantwortung einer beliebigen gegebenen Frage, ob p, denken, dessen propositionaler Gehalt in jedem Fall wahr wäre? Diese Frage kann präzisier so gefasst werden: Lassen sich Konsensbedingungen B derart denken, dass zum Beispiel aus der Aussage (a) die Aussage (b) folgt? (a) Der Konsens K mit dem propositionalen Gehalt, dass Caesar den Rubikon überquerte, erfüllt die Bedingungen B. (b) Es ist wahr, dass Caesar den Rubikon überquerte.65 Wenn ja, dann könnte der Begriff eines die Bedingungen B erfüllenden Konsenses möglicherweise wahrheitstheoretische Explikationsarbeit leisten. Eine wahrheitstheoretisch relevante Antwort auf Peirces Frage darf natürlich keine beliebig starken Idealisierungen enthalten.66 Vor allem dürfen die Bedingungen B nicht so anspruchsvoll ausfallen, dass zwischen ihnen und den Bedingungen unserer tatsächlichen, nicht-idealen epistemischen Praxis kein erkennbarer Zusammenhang mehr besteht. Anderenfalls würde der Rekurs auf das Konzept eines die Bedingungen B erfüllenden Konsenses jeglichen Explikationswert in Bezug auf den Wahrheitsbegriff 63 64 65
66
Wright 2000, S. 338. Vgl. Putnam 1981, S. 55 f. Die Konsensbedingungen B müssten also so beschaffen sein, dass aus jeder spezifischen Einsetzungsinstanz der schematischen Aussage ‚Der Konsens K mit dem propositionalen Gehalt p erfüllt die Bedingungen B.‘ die entsprechende Einsetzungsinstanz der schematischen Aussage ‚p ist wahr.‘ folgt. Vgl. dazu Wright 2000, S. 345-348.
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verlieren.67 Die ins Spiel gebrachten Idealisierungen müssen als Idealisierungen bestimmter Elemente oder Aspekte erkennbar bleiben, die Teil unserer nicht-idealen epistemischen Praxis sind. Eine epistemische Idealisierung, deren Verwendung zur Explikation eines wahrheitstheoretisch relevanten Konsensbegriffs daher offensichtlich nutz- und witzlos wäre, ist beispielsweise die Annahme der Allwissenheit der an K beteiligten epistemischen Subjekte. Das Bikonditional68 (Omn.) Die Aussage p ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn jeder von uns allwissend wäre, dann würden wir die Aussage p konsensuell anerkennen. ist als Explikation des Wahrheitsbegriffs wertlos. Zum einen ist unklar, weshalb in ihm überhaupt noch von einer Pluralität epistemischer Subjekte die Rede ist. Ein einziges allwissendes Wesen würde doch genügen. Zum anderen steht die verwendete Idealisierung in keinem Zusammenhang mit unserer tatsächlichen epistemischen Situation. Wir sind nicht allwissend und kennen auch keine Art und Weise, es zu werden. Darüber hinaus ist (Omn.) falsch69: Wenn wir allwissend wären, dann wären viele Aussagen, die de facto wahr sind, nicht wahr, und viele, die de facto falsch sind, wären wahr. Ein besonders plakatives Beispiel für eine Aussage, die nach allem, was wir wissen, wahr ist und falsch wäre, wenn wir allwissend wären, habe ich in diesem Absatz schon behauptet: Wir sind nicht allwissend. Zwar nicht der erste, aber doch der zweite und dritte Einwand können, entsprechend abgewandelt, auch gegen eine konsenstheoretische Erläuterung von ‚Wahrheit‘ vorgebracht werden, welche auf einen Begriff kollektiver, über verschiedene epistemische Subjekte verteilter Allwissenheit rekurriert, demzufolge eine Gruppe G von epistemischen Subjekten genau dann kollektiv allwissend wäre, wenn für jede de facto wahre Aussage p gilt, dass wenigstens ein Mitglied von G wüsste, dass p.70 Eine weitere epistemische Idealisierung, die in Bezug auf den Wahrheitsbegriff keinen Explikationswert hätte, bestünde in der kontrafaktischen Annahme, wir wären infallibel: 67 68 69 70
Vgl. dazu Davidson 1990, 307. ‚Omn.‘ steht für ‚omniscientia‘. Vgl. Shope 1978 und Wright 2000, S. 344-347. Vgl. dazu Humberstone 1985.
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(Inf.) Die Aussage p ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn wir infallibel wären und uns die Frage stellen würden, ob p, dann würden wir konsensuell zu der Antwort gelangen, dass p. Hier gilt dasselbe wie in Bezug auf (Omn.). (Inf.) ist nicht nur als Explikation des Wahrheitsbegriffs wertlos, sondern darüber hinaus falsch. Wenn wir infallibel wären, dann wären viele Aussagen, die de facto wahr sind, nicht wahr, und viele, die de facto falsch sind, wären wahr. Wieder eine plakative Beispielaussage, die wahr ist, aber falsch wäre, wenn wir infallibel wären: Wir sind nicht infallibel. Es gibt also ein Gegenbeispiel gegen den durch (Inf.) behaupteten bikonditionalen Zusammenhang zwischen der schematischen Aussage ‚Es ist wahr, dass p.‘ und dem schematischen kontrafaktischen Konditional auf der rechten Seite der Äquivalenz (Inf.). Dieses eine Gegenbeispiel genügt, um (Inf.) zu widerlegen, aber es ließen sich beliebig viele weitere formulieren, und genauso ließen sich beliebig viele Gegenbeispiele gegen die Korrektheit von (Omn.) geben. Auf solche Gegenbeispiele, die keineswegs in einem direkten Zusammenhang mit den exotischen Begriffen der Allwissenheit und der Infallibilität stehen, sondern die logische Struktur betreffen, die (Omn.) und (Inf.) sowohl mit (WahrheitPeirce) als auch mit den epistemischen Wahrheitsäquivalenzen teilen, die im nächsten Kapitel eingeführt werden, komme ich in Kapitel VI ausführlicher zu sprechen. Worin besteht aber nun Peirces Antwort auf seine Frage nach einem wahrheitstheoretisch relevanten Konsensbegriff? Peirces Antwort bringt weder zweifelhafte epistemische Idealvorstellungen wie Allwissenheit oder Infallibilität ins Spiel noch irgendwelche Annahmen, die in dem Sinn kontrafaktisch wären, dass ihre Wahrheit jenseits des sinnvoll Denkbaren läge: (KonsensPeirce) Wenn sich in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F in Bezug auf die Frage, ob es wahr ist, dass p, unter den an F Beteiligten zu irgendeinem Zeitpunkt ein Konsens mit dem propositionalen Gehalt, dass p, einstellen und dann in F stabil bleiben würde, dann ist die Aussage p wahr.71 71
Peirce würde natürlich auch behaupten, dass gilt: Wenn sich in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F in Bezug auf die Frage, ob p, unter den an F Beteiligten ein Konsens mit dem propositionalen Gehalt, dass non-p, einstellen und dann in F stabil bleiben würde, dann ist die Aussage, dass non-p, wahr.
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Bevor ich diese Antwort erläutere, stelle ich noch einmal explizit heraus, weshalb die von Crispin Wright als ‚broadly Peircean conception of truth‘ rekonstruierte und kritisierte Wahrheitskonzeption mit derjenigen von Peirce nicht mehr teilt als ihre logische Form. Zum einen wurde bereits deutlich, dass die Annahme, Peirce habe sich in seiner Erläuterung des Wahrheitsbegriffs auf die Idee eines, wie Wright formuliert, ‚informationally comprehensive ideal limit of rational-empirical inquiry‘ gestützt, äußerst fragwürdig ist. Zum anderen, und das ist hier wichtiger, bezieht sich die von Peirce in seinen Konsensbegriff investierte kontrafaktische Annahme keineswegs auf die epistemischen Bedingungen, unter denen Forscher, allgemeiner: Argumentationspartner, die Frage zu beantworten versuchen, ob eine gegebene Proposition p wahr ist. Es geht Peirce nicht um die Idee eines Forschungsprozesses unter idealen epistemischen Bedingungen, sondern um diejenige eines als zeitlich unbegrenzt gedachten Forschungsprozesses unter ansonsten ganz normalen epistemischen Bedingungen. Die einzige von Peirce als kontrafaktische Annahme ins Spiel gebrachte Idealisierung besteht in der Unterstellung der zeitlich unbegrenzten Dauer von Forschungsprozessen in Bezug auf spezifische Fragen. Er behauptet, „[...] that questions that are either practical or could conceivably become so are susceptible of receiving final solutions provided the existence of the human race be indefinitely prolonged and the particular question excite sufficient interest.“ (8.43, Hervorhebung B.R.)72
(KonsensPeirce) ist nichts anderes als eine Hälfte der epistemischen Wahrheitsäquivalenz (WahrheitPeirce) und bringt die These zum Ausdruck, dass die Wahrheit (einer beliebigen Einsetzungsinstanz) des folgenden (schematischen) kontrafaktischen Konditionals (KontrafaktPeirce) Wenn in Bezug auf die Frage, ob es der Fall ist, dass p, ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F stattfinden würde, dann würde sich zu irgendeinem Zeitpunkt von F ein stabiler Konsens in der an F beteiligten Forschergemeinschaft einstellen, der die Aussage p zum propositionalen Gehalt hätte. eine hinreichende Bedingung für die Wahrheit der (korrespondierenden Einsetzungsinstanz der) folgenden (schematischen) kategorischen Aussage darstellt: Die Aussage p ist wahr. 72
Vgl. auch 1.34, 1.100, 1.485, 1.608, 2.150, 2.588, 5.311, 5.408f., 5.416, 6.40, 8.41.
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Peirce geht nun davon aus, dass ein wahrheitstheoretisch relevanter Konsensbegriff nur zusammen mit einer Konzeption idealer Bedingungen des Zustandekommens oder Erreichens von Konsens zu haben ist. Um nicht explanatorisch gehaltlos zu sein, muss sich letztere Konzeption dabei aus einer Idealisierung von Aspekten und Elementen unserer tatsächlichen epistemischen Situation und Praxis ergeben, darf also keine willkürlichen Idealisierungen ins Spiel bringen. Nach Peirce genügt es an dieser Stelle, von der Endlichkeit zu abstrahieren, durch die, soweit wir wissen, alle realen Forschungen gekennzeichnet sind, und sich Forschungsprozesse als zeitlich unbegrenzt zu denken. Die Endlichkeit, von der Peirce abstrahiert, ist dabei nicht diejenige der epistemischen Subjekte, also der einzelnen Mitglieder der Forschergemeinschaft, sondern die Endlichkeit der Forschungsprozesse selbst. Die Idee zeitlich unbegrenzter Forschungsprozesse erfordert keineswegs die Vorstellung von zeitlich unbegrenzt existierenden individuellen Forschern.73 Da Peirce nicht davon ausgeht, dass de facto jemals ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess in Bezug auf irgendeine Frage stattfindet74, greift er in der Formulierung seiner Konsenstheorie auf ein kontrafaktisches Konditional zurück, das der Sache nach der rechten Seite von (WahrheitPeirce) entspricht. Der Versuch einer erschöpfenden Erläuterung von (WahrheitPeirce) hätte Peirces gesamte, in seiner Semiotik begründete ‚theory of inquiry‘ zu rekonstruieren, zumal sein Projekt einer, wie Apel formuliert, „transzendentalen Deduktion der langfristigen Gültigkeit von synthetischen Schlussverfahren“75. Denn der Forschungsprozess, auf den in (WahrheitPeirce) rekurriert wird, darf Peirce zufolge natürlich nicht irgendein beliebiger sein. Er muss der von Peirce so genannten „method of science“ (5.384) folgen. Peirces methodologische und wissenschaftheoretische Argumente und Thesen können hier nicht im Einzelnen berücksichtigt werden.76 Nur soviel: Nach Peirce unterscheidet sich die ‚method of science‘ von anderen 73 74 75
76
Vgl. dazu etwa Peirce 1931-1938, 2.173, 5.60 und 5.522. Vgl. Peirce 1931-1938, 8.43. Apel 1998a, S. 87. Vgl. auch Apel 1973a, S. 167-177, Apel 1975, S. 97-102 und S. 189; Misak 1991, S. 86-124. Vgl. Peirces Unterscheidung zwischen der „method of tenacity“ (5.378), der „method of authority“ (5.380) und der „a priori method“ (5.383) in Peirce 1931-1938, 5.377-5.383.
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Methoden der Festlegung einer Überzeugung dadurch, dass ihr allein die folgende „fundamental hypothesis“ zugrunde liegt: „There are Real things, whose characters are entirely independent of our opinions about them; those Reals affect our senses according to regular laws, and, though our sensations are as different as are our relations to the objects, yet, by taking advantage of the laws of perception, we can ascertain by reasoning how things really and truly are; and any man, if he have sufficient experience and he reason enough about it, will be led to the one True conclusion.“ (5.384)
‚Reasoning‘ versteht Peirce dabei als schlussfolgerndes Denken im Sinne der drei von ihm unterschiedenen Schlusstypen Abduktion, Induktion und Deduktion77, deren Anwendung zusammen mit dem Experimentieren den Kern der „method of science“ ausmachen. Anstatt all dies genauer zu erläutern, will ich hier nur eine Antwort auf den folgenden naheliegenden Zusammenhang von Einwänden skizzieren, die im Blick auf meine PeirceDeutung erhoben werden könnten: Warum bringt Peirce denn überhaupt die Idee eines zeitlich unbegrenzten Forschungsprozesses ins Spiel? Selbst dann, wenn man den Grundgedanken, der hinter seiner Konsenstheorie der Wahrheit steht, ernst nimmt, scheint es doch so zu sein, dass es für Peirces konsenstheoretische Zwecke genügen würde, Forschungsprozesse derart zu denken, dass sie mit der Beantwortung der in ihnen jeweils thematischen Fragen, also mit dem Erreichen der ultimate opinion in Bezug auf diese Fragen, enden. Es wäre doch unsinnig, weiter zu forschen, wenn man die Antwort schon gefunden hat! Dann muss aber auch die systematische Rolle, die der Idee der Stabilität eines Konsenses in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess in (WahrheitPeirce) zukommen soll, in Frage gestellt werden. Meines Erachtens liegt diesen Einwänden ein grundlegendes Missverständnis des Peirceschen Konzepts einer konsensuellen ultimate opinion zugrunde. Sie beruhen wiederum auf der problematischen, durch die Standarddeutung nahegelegten Annahme, Peirce habe die Idee der ultimate opinion als Idee eines Abschlusses oder Endes von Forschungsprozessen gedacht. Die Denkfigur, die hier im Spiel ist, ist in etwa die folgende: 77
Vgl. Peirce 1931-1938, 2.619-2.644.
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In einem hinreichend lange andauernden Forschungsprozess über die Frage Q würde die Forschergemeinschaft irgendwann die konsensuelle ultimate opinion erreichen, die sich den Forschenden dann auch auf irgendeine Weise als solche zu erkennen gäbe. Die ultimate opinion wäre also in dem Sinn epistemisch selbstindizierend, dass diejenigen, die sie erreicht hätten, auch wissen würden, dass es sich bei der von ihnen erreichten konsensuellen Überzeugung um die ultimate opinion in Bezug auf ihre Frage Q handelt. Insofern wäre es für die Forschenden dann geradezu irrational, ihre Forschungen in Bezug auf Q weiter zu betreiben. Denn sie wüssten ja, dass alle epistemische Arbeit getan ist, könnten insofern rationaler- und berechtigterweise das Projekt der Beantwortung der Frage Q als ein für alle mal erfolgreich beendet erklären und sogar die bloße Möglichkeit berechtigter Einwände gegen die erreichte konsensuelle Überzeugung ausschließen. Das wäre das Ende der Forschung in Bezug auf Q. Diese Denkfigur ist aber unvereinbar mit einer zentralen erkenntnistheoretischen These von Peirce: seinem Fallibilismus. Peirces Rekurs auf das Konzept einer konsensuellen Überzeugung, die in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess stabil bliebe, wird verständlich, wenn man von der Interpretationshypothese ausgeht, dass er auch jede ultimate opinion in Bezug auf eine spezifische Frage als eine fallible Überzeungung versteht. Diese Interpretationshypothese ist freilich erläuterungsbedürftig, da unter dem Fallibilismus oftmals die These verstanden wird, dass auch die propositionalen Gehalte unserer bestmöglich begründeten Überzeugungen sich als falsch erweisen können.78 Bezieht man nun diese Deutung des Fallibilismus auf Peirces Konzept der ultimate opinion, so erscheinen die von mir vorgeschlagene Interpretationshypothese und, falls diese Hypothese zutreffen sollte, auch Peirces Konsenstheorie der Wahrheit selbst, als schlicht verworren: Wenn der propositionale Gehalt einer konsensuellen ultimate opinion sich als falsch erweisen könnte, dann eignet sich das Konzept einer solchen Meinung doch offenbar nicht zur Explikation des Wahrheitsbegriffs. So verstanden, würde Peirce mit der hier vorgeschlagenen 78
Vgl. die in Abschnitt II.1 diskutierten Formulierungen des Fallibilismus von Grundmann und Habermas (Grundmann 2001, S. 11 f.; Habermas 1999d, S. 44).
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Lesart die Behauptung der Konjunktion der folgenden beiden Aussagen zugemutet79: (a) Die Proposition p ist wahr genau dann, wenn sie Gehalt einer ultimate opinion wäre. (b) Wenn p Gehalt einer ultimate opinion wäre, dann könnte sich p als falsch erweisen. Je nachdem, wie man den Modalausdruck ‚könnte‘ in (b) interpretiert, erweist sich die Konjunktion aus (a) und (b) aber entweder als widersprüchlich oder als konfus. All dies zeigt jedoch nicht, dass meine Interpretationshypothese falsch oder Peirces Konsenstheorie verworren ist, sondern bestätigt nur einmal mehr, dass man die fallibilistische These nicht auf die gerade charakterisierte Weise verstehen sollte. Der Fallibilismus ist, wie im letzten Kapitel deutlich wurde, keine These über den Wahrheitswert von Aussagen, sondern eine erkenntnistheoretische These über den Begründungsstatus von Behauptungen und Überzeugungen, die Aussagen zum propositionalen Gehalt haben. Versteht man das Prädikat ‚fallibel‘ im Sinne der oben vorgeschlagenen Deutung – eine Behauptung/Überzeugung ist fallibel genau dann, wenn sie nicht epistemisch wahrheitsgarantierend begründet ist –, dann wird deutlich, dass zwischen (WahrheitPeirce) und der Aussage, dass auch jede ultimate opinion in Bezug auf eine gegebene Frage eine fallible Überzeugung wäre, nur dann ein Widerspruch besteht, wenn man die zusätzliche Annahme ins Spiel bringt, dass die ultimate opinion hinsichtlich einer gegebenen Frage nicht allein die Eigenschaft hätte, in einem unbegrenzten Prozess ihrer kritischen Prüfung stabil zu bleiben, sondern darüber hinaus die Eigenschaft, epistemisch wahrheitsgarantierend begründet zu sein. Diese Annahme liegt Peirce aber fern.80 Den Zusammenhang zwi79
80
Der Satz (a) steht hier als Abkürzung für die epistemische Wahrheitsäquivalenz (WahrheitPeirce). Derselbe Punkt lässt sich auch mit Bezug auf die folgende, in Abschnitt II.1.3 bereits diskutierte Formulierung der fallibilistischen These von Peirce verdeutlichen: „[P]eople cannot attain absolute certainty concerning questions of fact.“ (Peirce 1931-1938, 1.149.) Indem Peirce diese These als Formulierung des Fallibilismus vorschlägt, setzt er implizit voraus, dass eine Überzeugung genau dann fallibel ist, wenn sie sich nicht durch absolute (epistemische) Gewissheit auszeichnet. Nur
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schen einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess und der ultimate opinion konzipiert er nicht im Sinne der oben beschriebenen, sondern in dem der folgenden Denkfigur: In einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F zur Frage Q würden die an F Beteiligten irgendwann die konsensuelle ultimate opinion in Bezug auf Q erreichen. Allerdings würde sich die ultimate opinion der Forschergemeinschaft keineswegs als solche zu erkennen geben, wäre also nicht epistemisch selbstindizierend. Die an F Beteiligten würden nicht wissen, dass es sich bei der von ihnen erreichten Überzeugung um die ultimate opinion in Bezug auf ihre Frage Q handelt, das heißt, sie würden nicht wissen, dass die von ihnen erreichte Überzeugung auch dann – vielleicht abgesehen von einigen vorübergehenden Schwankungen81 – ‚in the long run‘ stabil bleiben würde, wenn sie unbegrenzt lange weiter forschen würden. Wenn die an F Beteiligten weiterhin an der korrekten Antwort auf Q interessiert wären, dann wäre es für sie irrational, ihre Forschungen in Bezug auf Q nicht weiter zu betreiben. Obwohl sie die ultimate opinion erreicht hätten, könnten sie das Projekt der Beantwortung der Fage Q nicht rationalerweise als ein für allemal erfolgreich beendet erklären und könnten keinesfalls die Möglichkeit ausschließen, dass irgendwann einmal berechtigte Einwände gegen die erreichte Überzeugung auftauchen. Das heißt aber nichts anderes, als dass auch die ultimate opinion eine fallible konsensuelle Überzeugung darstellen würde. Vor dem Hintergrund dieser Peirceschen Denkfigur lassen sich zwei miteinander zusammenhängende Punkte verdeutlichen, welche den Status der Idee einer ultimate opinion und die systematische Rolle der Idee der Stabilität in (WahrheitPeirce) betreffen. Es liefe auf ein Missverständnis der Kon-
81
wenn man annehmen wollte, Peirce habe die ultimate opinion als eine für diejenigen, die an ihr teilhätten, absolut gewisse Überzeugung konzipiert, ließe sich zwischen (WahrheitPeirce) und der These, dass auch die ultimate opinion eine fallible Überzeugung darstellen würde, ein Widerspruch nachweisen. Für die genannte Annahme finden sich in Peirces Texten aber keinerlei Belege. Vgl. Peirce 1931-1938, 8.12.
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senstheorie hinaus, wollte man behaupten, Peirce habe die konsensuelle ultimate opinion als ein Wahrheitskriterium verstanden, mit dessen Hilfe eine Forschergemeinschaft, welche in der Beantwortung einer gegebenen Frage das „ultimate agreement“ (5.351) erreicht hätte, die Wahrheit des dann konsentierten propositionalen Gehalts auf infallible Weise feststellen könnte. Ein Kriterium, das seinen Namen verdient, muss epistemisch verfügbar und als Maßstab anwendbar sein. Die ultimate opinion, als vermeintliches Wahrheitskriterium vorgestellt, wäre aber für diejenigen, die sie erreicht hätten, weder das eine noch das andere. Es geht Peirce – um die immer noch verbreitete82, wenn auch letztlich irreführende Unterscheidung zwischen einer bedeutungsexplikativen und einer kriteriologischen Fragestellung der Wahrheitstheorie einmal aufzunehmen – nicht darum, die eigentümliche Frage nach einem vollkommen generellen Maßstab der Wahrheit zu beantworten, sondern darum, die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs am Leitfaden seiner Pragmatischen Maxime zu erläutern, und (WahrheitPeirce) ist das Resultat seines Versuchs dieser Bedeutungsklärung.83 Wenn Peirce die ultimate opinion als ein infallibles Wahrheitskriterium konzipiert hätte, dann hätte er auf die Idee der Stabilität in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess verzichten und seine epistemische Wahrheitsäquivalenz so formulieren können: (WahrheitPeirce**) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn der Forschungsprozess F in Bezug auf die Frage, ob p, zum Abschluss gebracht wäre, dann würde die an F beteiligte Forschergemeinschaft konsensuell die ultimate opinion, dass p, erreicht haben. 82 83
Vgl. zum Beispiel Gloy 2004. Vgl. Kants treffende Bemerkung zum Thema ‚allgemeines Wahrheitskriterium‘: „Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis [...] abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne.“ (Kant 1998, KrV, B 83 f.)
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(WahrheitPeirce**) greift aber auf eine Idealisierung zurück, welche die Adäquatheitsbedingung der Anschlussfähigkeit an unsere tatsächliche epistemische Situation und Praxis nicht erfüllt. Die ultimate opinion wird in (WahrheitPeirce**) als eine ideale Meinung unterstellt, die sich von unseren realen Überzeugungen dadurch radikal unterscheiden würde, dass sie infallibel wäre und von ihren Trägern beziehungsweise epistemischen Subjekten reflexiv als infallible Meinung identifiziert werden könnte. Wenn man das Konzept der ultimate opinion auf diese Weise versteht, dann wird zwar die Rede von einem Ende des Forschungsprozesses in (WahrheitPeirce**) irgendwie nachvollziehbar. Peirce versteht sie aber nicht so, und deshalb ist (WahrheitPeirce**) keine adäquate Rekonstruktion des Grundgedankens seiner Konsenstheorie. Die ultimate opinion kennzeichnet bei ihm keinen Abschluss von hinreichend lange andauernden Forschungsprozessen, sondern einen stabilen Konsens innerhalb zeitlich unbegrenzter Forschungsprozesse. Anstatt auf eine willkürliche Idealisierung der Forschergemeinschaft und ihrer epistemischen Situation ‚at the end of inquiry‘, die Vorstellung der Infallibilität am Ende der Forschung, zu rekurrieren, bringt er nur die Idee der Stabilität eines Konsenses in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess ins Spiel. Die Annahme des Abschlusses respektive des Terminierens von Forschungsprozessen fallibler epistemischer Subjekte in einer infalliblen Meinung schließt eine spekulativ metaphysische Idealvorstellung ein, die zudem schwer verständlich ist. Die Annahme dagegen, dass ein Forschungsprozess über eine unbegrenzte Anzahl von Generationen endlicher und fallibler epistemischer Subjekte hinaus kontinuierlich weitergeht, stellt eine im Anschluss an unsere tatsächliche epistemische Situation – unser „epistemic predicament“84 – kohärent explizierbare und verstehbare, wenn auch Peirce zufolge in Bezug auf jeden realen Forschungsprozess wahrscheinlich kontrafaktische Annahme dar. Der Zusatz ‚wahrscheinlich‘ ist erläuterungsbedürftig. So vertritt Apel eine These, in deren Licht er vollkommen fehl am Platz erscheint, die These nämlich, dass Peirce die ultimate opinion und damit auch die Bedingungen, unter denen sie in Bezug auf eine gegebene Frage erreicht werden würde, als regulative Ideen im Sinne Kants konzipiert hat.85 Apel ist – in 84 85
Tennant 2000, S. 825. Vgl. etwa Apel 1973a, Apel 1998a, bes. S. 108-120, und Apel 2003.
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teilweiser sachlicher Übereinstimmung mit Wrights Interpretation – der Ansicht, Peirce habe „die Bedeutung der für uns praktisch relevanten Wahrheit durch die regulative Idee der ‚ultimate opinion‘, d. h. eines von allen Mitgliedern einer unbegrenzten Forschergemeinschaft unter idealen Bedingungen zu erreichenden Konsensus expliziert.“86
Im Anschluss an Kant geht Apel nun davon aus, dass regulative Ideen zwar eine Orientierungsfunktion für die epistemische Praxis haben, aber in dieser beziehungsweise durch diese Praxis prinzipiell nicht realisiert oder erreicht werden können.87 An dieser Stelle geht es nur um die zweite Bestimmung: Prinzipielle Nichtrealisierbarkeit und strikte Kontrafaktizität sind definierende Bedeutungselemente sowohl von Kants wie auch von Apels Begriff regulativer Ideen, das heißt, es gilt: Wenn X eine regulative Idee ist, dann ist es unmöglich, X zu realisieren. Wenn also die Idee eines zeitlich unbegrenzten Forschungsprozesses den Status einer regulativen Idee im Sinne von Kant und Apel hat88, dann ist die Aussage, dass die Bedingungen, unter denen eine ultimate opinion (ein stabiler Konsens) erreicht werden würde, niemals realisiert sind, notwendig wahr, und ihr kontradiktorisches Gegenteil, die Aussage, dass diese Bedingungen irgendwann einmal realisiert sind, ist notwendig falsch. Trifft Apels Interpretation zu, dann ist es also nicht wahrscheinlich, sondern notwendigerweise so, dass in Bezug auf keine Frage jemals ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess stattfindet, und dass dementsprechend auch in Bezug auf keine Frage jemals eine ultimate opinion, ein stabiler Konsens, erreicht wird. Nun rekurriert Peirce zwar an einigen Stellen auf Kants Konzept regulativer Prinzipien89, aber die Unmöglichkeit der Realisierung einer ultimate opinion behauptet er nicht. Im Gegenteil90: „The final opinion which would be sure to result from sufficient investigation may possibly, in reference to a given question, never be actually attained, owing to a final extinction of intellectual life or for some other reason. In that sense, this final judgment is not certain but only possible.“ (8.43) 86 87 88 89 90
Apel 1998g, S. 562. Vgl. Apel 2003, S. 184. Zu Kants und Apels Konzeptionen regulativer Ideen siehe Kapitel VI. Vgl. Peirce 1931-1938, 1.405 und 3.215. Vgl. auch Peirce 1931-1938, 6.610 und 8.113.
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Peirce meint zwar, dass es gute philosophische Gründe für die These gibt, dass eine gegebene wahre Aussage p in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess zur Frage, ob p wahr ist, Gehalt eines stabilen Konsenses werden würde. Aber er will sich, wie der gerade zitierte Passus deutlich macht, weder auf die Behauptung der Aussage festlegen, dass ein solcher Forschungsprozess irgendwann tatsächlich stattfindet, noch auf die Behauptung ihres kontradiktorischen Gegenteils. Daher geht er offenbar von der Annahme aus, dass weder die eine noch die andere Aussage aus seiner Konsenstheorie der Wahrheit folgt. Diese Annahme jedoch wäre falsch, wenn er die ultimate opinion als eine regulative Idee ansehen würde. Es geht mir hier nicht um eine Frage der Peirce-Exegese, sondern darum, dass es für einen Proponenten von (WahrheitPeirce) einen guten Grund gibt, die Idee eines zeitlich unbegrenzten Forschungsprozesses nicht als regulative Idee im Sinne Kants und Apels zu verstehen, also im Anschluss an die zuletzt zitierte Passage mit Peirce die Möglichkeit einzuräumen, dass ein solcher Forschungsprozess stattfindet. (KontrafaktPeirce), die rechte Seite von (WahrheitPeirce), kann im Rückgriff auf den von David Lewis eingeführten Operator ‚→‘ folgendermaßen umformuliert werden91: (KontrafaktPeirce) (In Bezug auf die Frage, ob p, findet ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F statt) → (Die Aussage p wird in der an F beteiligten Forschergemeinschaft zum Gehalt eines stabilen Konsenses)92 Wenn die Bedingungen des Zustandekommens eines in Peirces Sinn stabilen Konsenses den Status regulativer Ideen haben, dann ist der Vordersatz von (KontrafaktPeirce) begrifflich notwendig falsch. Hält man sich nun an Lewis’ Erläuterung der Wahrheitsbedingungen von kontrafaktischen Konditionalen mit notwendig falschem Vordersatz93, dann ist jede Instanz von (KontrafaktPeirce) wahr – und zwar unabhängig von dem Wahrheitswert der Aussage, die für p jeweils eingesetzt wird.94 Da es sich bei (KontrafaktPeirce) um die eine Hälfte des materialen Bikonditionals (WahrheitPeirce) han91 92 93 94
Vgl. Lewis 1986, S. 1-4. Vgl. die vollständige Formulierung von (KontrafaktPeirce) auf S. 173. Vgl. Lewis 1986, S. 16 und S. 24-26. Lewis nennt kontrafaktische Konditionale mit notwendig falschem Vordersatz „vacuously true“ (Lewis 1986, S. 16.).
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delt, wäre ein Proponent von (WahrheitPeirce) auf die Anerkennung der absurden These festgelegt, dass schlechthin alle Aussagen wahr sind. Die Behandlung von kontrafaktischen Konditionalen mit notwendig falschem Antezedens als ‚vacuously true‘, die sich aus Lewis’ Analyse der Wahrheitsbedingungen von ‚counterfactuals‘ ergibt, ist freilich umstritten. Daher will ich auf den zuletzt dargestellten Punkt hier nicht allzuviel Gewicht legen. Aber selbst dann, wenn Lewis’ Ansatz sich als unhaltbar herausstellen sollte, wäre damit die Frage nach dem richtigen Verständnis kontrafaktischer Konditionale mit notwendig falschem Vordersatz natürlich nicht beantwortet. Crispin Wright weist zu Recht darauf hin, dass „[...] the status of subjunctive conditionals with conceptually impossible antecedents is, by and large, extremely moot.“95 Insofern machen die hier angestellten Überlegungen in jedem Fall deutlich, dass Apels Charakterisierung der Bedingungen des Zustandekommens einer ultimate opinion als regulative Ideen für einen Proponenten von (WahrheitPeirce) ein schwerwiegendes Problem schafft. Er kann dieses Problem umgehen, wenn er es mit Peirce vermeidet, die Unmöglichkeit der Realisierung der Bedingungen für einen stabilen Konsens zu behaupten und sich damit auf die Aussage festzulegen, dass das Antezedens von (KontrafaktPeirce) notwendig falsch ist. Diese Festlegungen kann er aber nur vermeiden, wenn er die Bedingungen des Zustandekommens einer ultimate opinion im Gegensatz zu Apel nicht als regulative Ideen konzipiert. Es ist darüber hinaus nicht zwingend, mit Apel anzunehmen, dass Peirce die konsensuelle ultimate opinion als eine „Meinung“ denkt, „die von niemandem mehr aufgrund verfügbarer Kriterien bestritten werden könnte“96, also als „unkritisierbare[n] [...] Konsensus“97. Wenn die oben skizzierte fallibilistische Deutung des Konzepts der ultimate opinion zutrifft, dann würde das Charakteristikum einer solchen Meinung vielmehr darin bestehen, dass sie trotz aller kritischen Einwände und Widerlegungsversuche, die durchaus stattfinden könnten, langfristig stabil bliebe. Unabhängig von der Frage, ob die hier skizzierte Deutung der Peirceschen Konsenstheorie allen wahrheitstheoretisch relevanten Bemer95 96 97
Wright 1992, S. 46. Apel 1998a, S. 112. Apel 1998a, S. 113.
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kungen von Peirce in allen Hinsichten gerecht wird, scheint sie mir die systematisch fruchtbarste und für die gegenwärtige Diskussion epistemischer Wahrheitstheorien anschlussfähigste zu sein. Wenn sich in Bezug auf eine gegebene Wahrheitskonzeption T die Frage stellt, ob sie zu den epistemischen Ansätzen zu rechnen ist, dann kann diese Frage am besten dadurch beantwortet werden, dass man prüft, ob T eine These umfasst, die sich als Variante von (EpReg◊K) verstehen lässt, also als Variante der Erkennbarkeitsthese, ob in T auf epistemische Idealisierungen und kontrafaktische Annahmen zurückgegriffen wird, und ob der Wahrheitsbegriff durch eine Äquivalenz der logischen Form ‚A↔(B→C)‘ expliziert wird. Da ich im Weiteren nicht mehr gesondert auf Peirces Konsenstheorie eingehen werde, schließe ich dieses Kapitel mit der Diskussion eines der vielfältigen Probleme, die mit (WahrheitPeirce) verbunden sind, sowie mit einigen Bemerkungen zu einer epistemisch-wahrheitstheoretischen These Crispin Wrights, welche über die gerade gegebene Charakterisierung epistemischer Wahrheitskonzeptionen hinausführt.
III.4
Faktische Erkennbarkeit
An einer Stelle versucht Peirce, die Pointe seiner konsenstheoretischen Wahrheitskonzeption anhand der Beispielaussage, dass Caesar den Rubikon überquerte, zu verdeutlichen: „The truth of the proposition that Caesar crossed the Rubicon consists in the fact that the further we push our archaeological and other studies, the more strongly will that conclusion force itself on our minds forever – or would do so, if study were to go on forever.“ (5.565)98
Peirce unterstellt hier, dass die Aussage, dass Caesar den Rubikon überquerte (nennen wir sie y), wahr ist. Außerdem wählt er mit ihr eine Bei98
Vgl. auch Peirce 1931-1938, 5.565. Die folgenden Überlegungen richten sich nicht direkt gegen Peirces Behauptung, dass die Wahrheit der Aussage, dass Caesar den Rubikon überquerte, darin besteht (‚consists‘), also identisch ist mit dem von Peirce hier als Tatsache behaupteten Umstand, dass sich in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess irgendwann ein stabiler Konsens darüber einstellen würde, dass Caesar den Rubikon überquerte. Diese Behauptung ist weder plausibel noch folgt sie aus (WahrheitPeirce), und ich ignoriere sie hier.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
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spielaussage, die unter Historikern de facto Gehalt eines gut begründeten Konsenses ist. Diese Voraussetzungen sind hier aber letztlich nebensächlich. Lässt man sie einmal um des Arguments willen fallen, dann kann der Punkt, auf den Peirce mit seiner Bemerkung hinauswill, im Rekurs auf (WahrheitPeirce) genereller gefasst werden: (TheseCaesar) Wenn y wahr ist, dann würde sich in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F zur Frage, ob y wahr ist, ein stabiler Konsens einstellen, der y zum propositionalen Gehalt hätte, und wenn non-y wahr ist, dann würde sich in F ein stabiler Konsens einstellen, der non-y zum propositionalen Gehalt hätte. (TheseCaesar) ist die Konjunktion der Einsetzungsinstanzen, die man erhält, wenn man die Links-Rechts-Richtung von (WahrheitPeirce) einmal durch die Aussage y und einmal durch non-y instantiiert. Nun gibt (WahrheitPeirce) keinerlei Auskunft darüber, wann ein Forschungsprozess zu einer gegebenen Frage, ob p wahr ist, beginnen müsste, um zu einer stabilen konsensuellen Antwort im Sinne von ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu führen. Peirce unterstellt vielmehr, dass der empirische Anfangszeitpunkt eines als dann zeitlich unbegrenzt andauernd gedachten Forschungsprozesses zu einer gegebenen Frage für die Gültigkeit von (WahrheitPeirce) vollkommen irrelevant ist.99 Wer (WahrheitPeirce) anerkennt, muss im Blick auf y also auch die folgende These vertreten: (TheseCaesar*) Wenn y wahr ist, dann würde sich in einem heute initiierten und dann zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F zur Frage, ob y wahr ist, ein stabiler Konsens einstellen, der y zum propositionalen Gehalt hätte, und wenn non-y wahr ist, dann würde sich in F ein stabiler Konsens einstellen, der non-y zum propositionalen Gehalt hätte. Nun ist (TheseCaesar*) durchaus plausibel. Selbst dann, wenn der Forschungsprozess F zur Frage, ob y wahr ist, erst heute beginnen würde, wäre zu erwarten, dass sich in F irgendwann eine stabile konsensuelle Antwort 99
Jeder Forschungsprozess hat Peirce zufolge seinen Anfang in dem Auftreten eines ‚real doubt‘. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.259-5.263, 5.311, 5.373 und 6.485. Ob und, wenn ja, wann ein solcher realer Zweifel in Bezug auf eine gegebene Aussage p zum ersten Mal auftritt, das hängt von vielem ab – vor allem davon, ob und, wenn ja, wann sich jemand zum ersten Mal die Frage stellt, ob p wahr ist.
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im Sinne von ‚ja‘ oder ‚nein‘ einstellen würde. Wir dürften dies erwarten, weil es für die folgenden beiden empirischen Annahmen gute Gründe gibt: 1. Wenn Caesar den Rubikon überquert hat, dann hat dieses Ereignis genügend viele kausale Spuren derart hinterlassen, dass die Frage, ob y wahr ist, auch noch durch einen heute initiierten Forschungsprozess auf der Basis von guten Gründen mit ‚ja‘ oder mit ‚nein‘ beantwortet werden könnte. 2. Wenn Caesar den Rubikon nicht überquert hat, dann haben andere Ereignisse genügend viele kausale Spuren derart hinterlassen, dass die Frage, ob y wahr ist, auch noch durch einen heute initiierten Forschungsprozess auf der Basis von guten Gründen mit ‚ja‘ oder mit ‚nein‘ beantwortet werden könnte. Wie aber steht es um die Plausibilität von (TheseCaesar*), wenn man y in ihr durch die Aussage – nennen wir sie z – ersetzt, dass Caesar während der Überquerung des Rubikon von einer Mücke gestochen wurde? Caesar oder seine Zeitgenossen hätten in Erfahrung bringen und wissen können, ob z wahr ist. Ferner hätten sie dieses Wissen dann zum Beispiel aufschreiben und, sofern ihre Niederschrift erhalten geblieben wäre, der Nachwelt überliefern können. Nehmen wir aber an, dass de facto weder Caesar selbst noch irgendeiner seiner Zeitgenossen in Erfahrung gebracht hat, ob z wahr ist. Unter dieser Voraussetzung ist es sehr wahrscheinlich, zumindest aber möglich, dass gilt: Egal wie lange und wie gründlich eine heute initiierte Untersuchung zur Frage, ob z wahr ist, vorangetrieben werden würde, diese Untersuchung würde nicht zu einer stabilen konsensuellen Antwort im Sinne von ‚ja‘ oder ‚nein‘ führen. Denn die folgenden beiden empirischen Annahmen 3. und 4. sind höchstwahrscheinlich wahr: 3. Wenn Caesar während der Überquerung des Rubikon von einer Mücke gestochen wurde, dann hat dieses Ereignis nicht genügend viele kausale Spuren derart hinterlassen, dass die Frage, ob z wahr ist, auch noch durch einen heute initiierten Forschungsprozess auf der Basis von guten Gründen mit ‚ja‘ oder mit ‚nein‘ beantwortet werden könnte. 4. Wenn Caesar während der Überquerung des Rubikon nicht von einer Mücke gestochen wurde, dann haben keine anderen Ereignisse genügend viele kausale Spuren derart hinterlassen, dass die
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Frage, ob z wahr ist, auch noch durch einen heute initiierten Forschungsprozess auf der Basis von guten Gründen mit ‚ja‘ oder mit ‚nein‘ beantwortet werden könnte. Wenn 3. und 4. wahr sind, was wir nicht ausschließen können, dann gilt: (TheseMücke) In einer heute initiierten und dann zeilich unbegrenzt fortgesetzten Untersuchung zur Frage, ob z wahr ist, würde weder z noch non-z zum Gehalt eines stabilen Konsenses werden. Einem Proponenten S von (WahrheitPeirce), der an seiner epistemischen Wahrheitsäquivalenz unverändert festhalten und trotzdem nicht (TheseMücke) bestreiten will, bleibt keine andere Wahl, als Folgendes zu behaupten: Wenn (TheseMücke) wahr ist, dann ist weder z noch non-z wahr. Geht man von der folgenden unstrittigen Erläuterung des Prädikats ‚ist falsch‘ mit Hilfe des Wahrheitsprädikats und der Negation aus: (Falschheit) F(p)↔W(¬p) Es ist genau dann falsch, dass p, wenn es wahr ist, dass non-p. dann ist diese Behauptung äquivalent mit der Behauptung, dass, gegeben (TheseMücke), z weder wahr noch falsch ist und insofern aus dem Gültigkeitsbereich des klassisch-semantischen Prinzips der Zweiwertigkeit herausfällt, demzufolge jeder sinnvolle und verstehbare deklarative Satz eine Proposition audrückt, die entweder wahr oder falsch ist: (Bivalenz) W(p)∨F(p). Um sich damit nicht auf die Behauptung eines offenen Widerspruchs festzulegen, müsste S ferner die These vertreten, dass wir, gegeben (TheseMücke), nicht wissen, ob die Disjunktion ‚z∨¬z‘ wahr ist, das heißt, dass wir in Bezug auf z dann nicht von der Gültigkeit des klassisch-logischen Gesetzes Tertium non datur ausgehen dürfen, demzufolge jede Instanz des folgenden Schemas wahr ist: (TND) p∨¬p.100
100
Peirce selbst scheint nicht der Ansicht zu sein, dass zwischen seiner konsenstheoretischen Wahrheitsexplikation und der Anerkennung der uneingeschränkten Gültigkeit des logischen Gesetzes (TND) eine Spannung besteht: „[E]very proposition not false is true, by the principle of excluded middle.“ (Peirce 1931-1938, 2.352.)
188
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Anderenfalls könnte S, wie das folgende Argument zeigt, nicht an (WahrheitPeirce) festhalten, ohne (TheseMücke) und damit zugleich die empirischen Annahmen 3. und 4. zu bestreiten101: (TND) (TheseMücke) (WahrheitPeirce) (WahrheitPeirce) 5 (WahrheitPeirce), 5 (TheseMücke) (WahrheitPeirce), 5, (TheseMücke) 9 (WahrheitPeirce), 9 (TheseMücke) (WahrheitPeirce), 9, (TheseMücke)
(Iz → Cz)
Ann. Ann. Ann. Ann. Ann. 1. Disj. von (1) 3, 5, MP
¬(Iz → Cz) ⊥
2, ∧-Elimin. 6, 7, ∧-Einf.
¬z
Ann. 2. Disj. von (1)
(Iz → C¬z) ¬(Iz → C¬z)
4, 9, MP
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
z∨¬z ¬(Iz → Cz)∧¬(Iz → C¬z) z→(Iz → Cz) ¬z→(Iz → C¬z) z
(9) (10) (11) (12)
⊥
(TND), (WahrheitPeirce), (13) ⊥ (TheseMücke)
2, ∧-Elimin. 10, 11, ∧-Einf. 1, 5, 8, 9, 12, ∨Elimin.
S darf von Zeile (13) nicht auf die Negation von Zeile (1) schließen, denn damit würde er sich auf die Behauptung festlegen, ein Gegenbeispiel gegen (TND) gefunden zu haben. Diese Behauptung wäre wiederum widersprüchlich.102 S’ Argumentationsstrategie müsste vielmehr darin bestehen, 101
102
z: Caesar wurde während der Überquerung des Rubikon von einer Mücke gestochen; Iz: z wird in einem heute initiierten zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F geprüft; Cz: z findent stabilen Konsens in F; →: kontrafaktischer KonditionalOperator. Mit diesem Argument wird vorausgesetzt, dass kontrafaktische Konditionale negiert und in materiale Konditionale als Nachsätze eingebettet werden dürfen, so dass zum Beispiel aus der Negation eines kontrafaktischen Konditionals K, welches den Nachsatz eines materialen Konditionals M darstellt, auf die Negation des Vordersatzes von M geschlossen werden darf. Ein Proponent von (WahrheitPeirce) wird die Zulässigkeit von Schlüssen der gerade charakterisierten Art nicht bezweifeln. Denn mit (WahrheitPeirce) behauptet er ja gerade, dass zwischen der Wahrheit von Aussagen und der Wahrheit bestimmter kontrafaktischer Konditionale ein material bikonditionaler Zusammenhang besteht. Vgl. Wright 2001, S. 67.
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189
von vornherein zu bestreiten, dass es zulässig ist, die Instanz von (TND) in Zeile (1) anzunehmen, solange zugleich auch (TheseMücke) als Annahme eingeführt wird (Zeile (2)). Wenn S weiterhin an (WahrheitPeirce) und an der Zulässigkeit, (TheseMücke) als wahr anzunehmen, festhalten will, muss er bestreiten, dass wir wissen, dass (TND) uneingeschränkt gültig ist. Wenn Crispin Wright mit seiner Behauptung richtig liegt, dass „[...] logic has no business containing first principles that are uncertain“103, dann müsste S demnach für eine Revision der klassischen Logik plädieren. Das wäre eine sehr drastische Reaktion auf ein Beispiel, welches nichts weiter als die Tatsache illustriert, dass die faktischen Realisierungsbedingungen der Begründung mancher empirischer Aussagen und der Beantwortung mancher empirischer Fragen unwiederbringlich verloren gehen können. Anstatt die klassische Logik zu revidieren, sollte S an diesem Punkt einräumen, dass die kontrafaktische Annahme eines zeitlich unbegrenzt andauernden Forschungsprozesses allein nicht hinreicht, um einen wahrheitstheoretisch hinreichend starken Konsensbegriff auszuzeichnen. Was hier fehlt scheint klar: die zusätzliche kontrafaktische Annahme der Verfügbarkeit aller für die Beantwortung einer gegebenen Frage Q relevanten Informationen, Evidenzen und Argumente. Würde S diese weitere Idealisierung in seine konsenstheoretische Explikation von ‚Wahrheit‘ aufnehmen, dann könnte er mit guten Gründen sowohl die Relevanz empirischer Annahmen wie 3. und 4. für die Gültigkeit seiner Wahrheitskonzeption bestreiten, wie auch Widerlegungsversuche zurückweisen, die nicht darauf abheben, dass die Realisierungsbedingungen der Begründung bestimmter Aussagen in unserer epistemischen Geschichte zwar einmal gegeben waren, dann aber verloren gegangen sind, sondern darauf, dass solche Bedingungen in unserer epistemischen Geschichte möglicherweise de facto niemals gegeben sind – etwa, weil in den entsprechenden Beispielaussagen von Orten die Rede ist, die zu weit entfernt sind, als dass wir sie erreichen könnten. Der Rekurs auf die kontrafaktische Annahme der Verfügbarkeit aller relevanten Informationen und Argumente würde es darüber hinaus ermöglichen, die grobe Unterscheidung zwischen faktischem Erkanntsein und prinzipieller Erkennbarkeit, die im letzten Abschnit eingeführt wurde, um das Element der faktischen Erkennbarkeit zu ergänzen. Würde S eine entsprechend er103
Wright 2001, S. 66.
190
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gänzte Peircesche Wahrheitstheorie anerkennen, dann wäre er ohne weiteres in der Lage, der folgenden, als Einwand gegen epistemische Wahrheitskonzeptionen intendierten Bemerkung Hilary Putnams zuzustimmen, ohne deshalb schon seine epistemische Wahrheitsäquivalenz oder auch seine These (EpReg◊K) preisgeben zu müssen: „[T]ruth is sometimes recognition-transcendent because what goes on in the world is sometimes beyond our power to recognize, even when it is not beyond our power to conceive.“104
Eines der Beispiele, die Putnam wählt, um seine These zu illustrieren, dass manche Wahrheiten erkenntnistranszendent sind beziehungsweise sein könnten, ist einigermaßen blutig und stammt aus der nordamerikanischen Kriminalgeschichte: „[T]he sentence ‘Lizzie Borden killed her parents with an axe’ may well be true even though we may never be able to establish for certain that it is. [...] The recognition transcendence of truth comes, in this case, to no more than the ‘recognition transcendence’ of some killings.“105
S könnte darauf schlicht erwidern: Es ist vollkommen richtig, dass wir nicht davon ausgehen können, dass die Frage, ob Lizzie Borden ihre Eltern mit einer Axt erschlagen hat, auf der Basis der uns heute noch verfügbaren Informationen korrekt beantwortbar ist. Und insofern kann es in der Tat sein, dass entweder die Aussage – nennen wir sie l –, dass Lizzie Borden ihre Eltern mit einer Axt erschlagen hat, oder aber ihre Negation eine für uns heute faktisch unerkennbare Wahrheit (‚recognition transcendent truth‘) ist. All dies ist aber weder ein Einwand gegen die These der prinzipiellen Erkennbarkeit aller wahren Aussagen ((EpReg◊K)) noch gegen die folgende. Die Aussage l ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn zur Frage, ob l wahr ist, eine zeitlich unbegrenzte Untersuchung U stattfinden würde, in der alle für die Beantwortung dieser Frage relevanten Informationen und Argumente berücksichtigt und korrekt ausgewertet werden würden, dann würde sich in U ein stabiler Konsens einstellen, der l zum propositionalen Gehalt hätte. Damit wären freilich keineswegs alle Probleme einer Peirceschen Wahrheitskonzeption aus dem Weg geräumt, aber immerhin wäre sie ge104 105
Putnam 1999, S. 69. Putnam 1999, S. 64 f.
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191
gen allzu leichte Widerlegungen geschützt. Ferner bliebe beispielsweise zu klären, ob die neu eingeführte Idealisierung die Adäquatheitsbedingung der Anschlussfähigkeit an unsere tatsächliche epistemische Situation und Praxis erfüllt. Im Fall von Lizzie Borden sollte diese Anschlussfähigkeit unstrittig sein. Doch selbst dann, wenn sich die kontrafaktische Annahme der Verfügbarkeit aller relevanten Informationen und Argumente in dieser Hinsicht als generell unproblematisch herausstellen sollte, bestünden zahlreiche weitere Probleme, nicht zuletzt solche, die sich allein aus der logischen Form der entsprechend ergänzten Peirceschen Wahrheitsäquivalenz ergeben würden – einer Form, die sie von (WahrheitPeirce) übernimmt.106 Für Peirce ist eine Wahrheitskonzeption nur dann akzeptabel, wenn aus ihr nicht die These (AllK) folgt: (AllK) Für jede wahre Aussage gilt, dass sie de facto einmal Gehalt von Wissen war, es jetzt ist oder einmal sein wird. Er hätte hinzufügen müssen, dass aus einer akzeptablen Wahrheitstheorie W ebenso wenig die These folgen darf, dass jede wahre Aussage immer und überall faktisch als wahr erkennbar ist. Denn nur dann ist W vereinbar mit der Anerkenntnis desjenigen Typs von faktischer Erkenntnistranszendenz und faktischer Unbeantwortbarkeit von Fragen, der durch Putnams Lizzie Borden-Beispiel und das gerade diskutierte Mücken-Beispiel illustriert wird. Diese Art von Erkenntnistranszendenz sollte in dem Sinn unstrittig sein, dass sie jedenfalls nicht auf der Basis philosophischer Argumente ausgeschlossen werden kann. Die Tatsache, dass die Fragen, ob l und z wahr sind, für uns heute und in Zukunft möglicherweise faktisch unentscheidbar sind, hat, mit Wright gesprochen, ihren Grund in bloßen „contingencies of epistemic opportunity“107. Es fällt nicht schwer, Bedingungen zu spezifizieren, unter denen sie hätten entschieden werden können, und auch solche, unter denen sie heute und in Zukunft entscheidbar wären. Dabei müssen zudem keinerlei metaphysisch-spekulative Idealisierungen ins Spiel gebracht werden. Man denke sich einfach einen günstig platzierten und in seinen Berichten zuverlässigen Zeitgenossen Caesars, der Caesar bei der Überquerung des Rubikon beobachtet, seine Beobachtungen aufgeschrieben und der Nachwelt überliefert hat, oder man denke 106 107
Dazu unten, Abschnitt VI.4. Wright 2000, S. 360. Hervorhebung getilgt.
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an Lizzie Borden selbst, die, wenn sie nicht geistig umnachtet war, wohl wusste, ob und, wenn ja, wie sie ihre Eltern erschlagen hat. Putnams Rede von einer ‚recognition transcendence of some killings‘ ist in diesem Zusammenhang allemal irreführend, weil nicht hinreichend spezifiziert. Wright bezeichnet Fälle dieses Typs von faktischer Unerkennbarkeit und Unentscheidbarkeit als Manifestationen einer „benign form of evidence transcendence“108. In diesem ‚gutartigen‘ Sinn erkenntnistranszendent ist eine Aussage p dann, wenn p zwar faktisch unentscheidbar ist, aber dennoch auf konstruktive und informative Weise Bedingungen beschrieben werden können, unter denen p entscheidbar wäre. Konstruktiv und informativ ist eine solche Beschreibung nach Wright nur dann, wenn sie an unser gewöhnliches, praktisches Verständnis dessen anschlussfähig bleibt, was die besten – oder doch hinreichend gute – Bedingungen für die Feststellung des Wahrheitswerts von p auszeichnen würde109: „This benign form of evidence transcendence is conceived as going with–in the broadest sense–contingencies of epistemic opportunity: in all cases where we have a conception of this kind of how the truth value of a particular statement could be unverifiable, a developed specific account of that conception will consist in detailing limitations of opportunity, or spatiotemporal situation, or perceptual or intellectual capacity, which stop us getting at the relevant facts but to which we, or others, might easily not have been subject–or at least, to which we can readily conceive that an intelligible form of investigating intelligence need not be subject.“110
Eine wahre Aussage q ist dementsprechend in Wrights Sinn ‚bösartig‘ („malignant[ly]“111) erkenntnistranszendent, wenn sich keine konstruktive Spezifikation von Bedingungen geben lässt, unter denen q für uns (oder bescheiden idealisierte ‚Versionen unserer selbst‘112) als wahr erkennbar 108 109
110 111 112
Wright 2000, S. 360. Wright 2000, S. 348. Vgl.: „[A] constructive specification [...] will proceed by elaboration of our ordinary practical understanding of what would constitute best or good enough conditions for the appraisal of such a proposition.“ Eine konstruktive Spezifikation dieser Bedingungen darf also zum Beispiel keine spekulativen epistemischen Idealvorstellungen wie Infallibilität oder Allwissenheit ins Spiel bringen (vgl. Wright 2000, S. 345). Wright 2000, S. 360. Wright 2000, S. 361. Vgl. Wright 1999, S. 72.
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wäre. Wright hält die Annahme, dass manche wahren Aussagen auf ‚maligne‘ Weise erkenntnistranszendent sein könnten, für sehr problematisch und scheint letztlich die These zu vertreten, dass eine gegebene Aussage q, für die prinzipiell keine konstruktive Spezifikation von epistemischen Entscheidungsbedingungen gegeben werden kann, jedenfalls nicht wahr ist. Trotz Wrights Kritik an Wahrheitskonzeptionen, die er als ‚broadly Peircean‘ kennzeichnet113, lassen sich unschwer enge Berührungspunkte zwischen Wrights wahrheitstheoretischen Überlegungen und Peirces Ansatz erkennen. Peirces Forderung, dass die Idealisierungen und kontrafaktischen Annahmen, welche in die Explikation eines wahrheitstheoretisch relevanten Konsensbegriffs eingehen, an unsere tatsächliche epistemische Situation und Praxis anschlussfähig sein müssen, bringt denselben Gedanken zum Ausdruck wie Wrights Postulat einer konstruktiven Spezifikation von Bedingungen, unter denen der Wahrheitswert einer gegebenen Aussage p epistemisch entscheidbar wäre. Der Unterschied besteht nur darin, dass Peirce eine vollkommen generelle Explikation solcher Bedingungen anstrebt, Wright dagegen eine auf spezifische Aussagen bezogene. Zwar nicht zwischen Wrights Wahrheitskonzeption und den von ihm so genannten ‚Peircean accounts‘, aber doch zwischen der Ersteren und der hier vorgeschlagenen Interpretation der Konsenstheorie von Peirce werden weitere Berührungspunkte deutlich, wenn man Wrights Erläuterung des Prädikats ‚superassertible‘ betrachtet114, von dem er behauptet, dass es in Diskursen, die bestimmte anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllen, als Wahrheitsprädikat fungieren kann.115 Zunächst aber einige Bemerkungen zu Wrights wahrheitstheoretischem Ansatz. Wright verfolgt eine Explikations- und Argumentationsstrategie, die er als Kombination aus ‚minimalism and pluralism about truth‘ kennzeichnet.116 Sein Minimalismus hat mit Horwichs deflationistischem Minimalismus nicht viel gemein.117 Zwar erkennt auch Wright dem Äquivalenz113 114
115
116 117
Siehe Abschnitt I.3.1. Vgl. Wright 1992, S. 44-61, Wright 1996a, bes. S. 8-13, Wright 1996b, S. 916923, Wright 1999, S. 71-74. Wright versteht unter verschiedenen Diskursen so etwas wie Themenfelder. So spricht er von dem Diskurs der Mathematik, der Ästhetik, der Moral usw. Vgl. Wright 1992, Kap. 2. Vgl. Abschnitt I.3. Zur Abgrenzung gegen Horwich: Wright 1992, S. 13, Anm. 13.
194
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
schema eine zentrale Rolle in der Explikation des Wahrheitsbegriffs zu, er behauptet aber im Gegensatz zu den deflationistischen Minimalisten nicht, dass man, um diesen Begriff zu verstehen, letztlich nur das Äquivalenzschema zu verstehen brauche.118 Wright vertritt zunächst einen Minimalismus mit Blick auf die Wahrheitswertdifferentheit (‚truth-aptitude‘) von Aussagen. Die Aussagen eines Diskursbereichs seien genau dann wahrheitswertdifferent, wenn erstens ihre Behauptungen im Rekurs auf „agreed standards of warrant“ normativ beurteilt werden können, und wenn zweitens die Sätze, durch die sie zum Ausdruck gebracht werden, bestimmten „minimal constraints of syntax“ genügen: „embeddability within negation, the conditional, contexts of propositional attitude, etc.“119 Ein Effekt dieser Bestimmung von Bedingungen der Wahrheitswertdifferentheit besteht darin, dass Wright fast alle Aussagen als ‚apt for truth‘ ansehen kann. Sein Minimalismus in Bezug auf den Wahrheitsbegriff kommt sodann in der folgenden These zum Ausdruck: „[I]t is necessary and sufficient, in order for a predicate to qualify as a truth-predicate, that it satisfy each of a basic set of platitudes about truth“120. Zu diesen ‚Gemeinplätzen‘ – „very general, very intuitive principles“ – zählt Wright unter anderem: „[...] that to assert is to present as true“, „[...] that any truth-apt content has a significant negation which is likewise truth-apt“, „[...] that to be true is to correspond to the facts“, „[...] that a statement may be justified without being true, and vice versa“.121
Wrights Liste von ‚Platitüden‘ soll letztlich alles umfassen, was über die Grenzen verschiedener wahrheitstheoretischer Ansätze hinweg im Blick auf den Wahrheitsbegriff unstrittig ist oder doch nach Wright unstrittig sein sollte. Eine Liste von unstrittigen Aussagen über ‚Wahrheit‘ konstituiert Wright zufolge in Verbindung mit einer Erläuterung der logischen und begrifflichen Zusammenhänge, die zwischen den einzelnen Elementen dieser Liste bestehen, eine ‚analytische Theorie‘ des Wahrheitsbegriffs.122 118
119 120 121 122
Vgl. Wrights Argument gegen den Deflationismus in Wright 1992, S, 12-24, und in Wright 1999, S. 38-50. Wright 1996c, S. 864. Wright 1996c, S. 864. Wright 1992, S. 34. Vgl. Wright 1999, S. 59 f. und S. 66-68. „Let us call an analysis based on the accumulation and theoretical organization of a set of platitudes concerning a particular concept an analytical theory of the concept
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
195
Wrights wahrheitstheoretischer Pluralismus kommt nun mit der Überlegung ins Spiel, dass sich zum einen für jeden Diskursbereich, dessen Aussagen die minimalen Bedingungen für Wahrheitswertdifferentheit erfüllen, ein Prädikat rekonstruieren lasse, welches die ‚truth-platitudes‘ modelliere, zum anderen aber nicht davon ausgegangen werden dürfe, dass es sich bei den so rekonstruierbaren Prädikaten letztlich immer um ein und dasselbe handeln wird: “[I]f the only essential properties of a truth predicate are formal – a matter of its use complying with certain very general axioms (platitudes) – then such predicates may or may not have a varying substance.“123
Die ‚analytische Theorie‘ stellt nach Wright sicher, dass die potentiell verschiedenen Gültigkeitsprädikate unterschiedlicher Diskursbereiche allesamt dennoch als Wahrheitsprädikate aufgefasst werden dürfen, und sie soll es ferner erlauben, die Möglichkeit des Bestehens inferentieller Zusammenhänge zwischen Diskursbereichen mit verschiedenen Wahrheitsprädikaten zu erklären, die durch einen bloßen Pluralismus in Frage gestellt werden würde: „[T]he unity in the concept of truth will be supplied by the analytical theory; and the pluralism will be underwritten by the fact that the principles composing that theory admit of collective variable realization.“124
Eines der Wahrheitsprädikate, die Wright in Erwägung zieht, ist das Prädikat ‚superassertible‘: „[A] statement is superassertible if it is assertible in some state of information and then remains so no matter how that state of information is enlarged upon or improved.“125
Wright grenzt seine Definition von ‚superassertibility‘ explizit von derjenigen Wahrheitskonzeption ab, die er Peirce unterstellt:
123 124 125
in question.“ (Wright 1999, S. 61.) Im Blick auf die Korrespondenz-‚Platitüde‘ ist die Annahme der Unstrittigkleit prima facie unangebracht. Aber Wright ist der Ansicht, dass, „naturally interpreted, the claim that truth is correspondence to fact is not a contentious metaphysical thesis but a consequence of the minimal platitudes for truth.“ (Wright 1996c, S. 866.) Vgl. auch Wright 1992, S. 25-27. Wright 1992, S. 23. Vgl. auch S. 25. Wright 1999, S. 61. Wright 1996a, S. 10. Vgl. auch Wright 1987a, S. 295-302, Wright 1992, S. 44-61, Wright 1999, S. 71-74.
196
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen „C. S. Peirce conceived of truth as what is assertible – justified – at some ideal limit of enquiry, when all relevant information is in. Superassertibility, by contrast, avoids play with arguably mythical limits: it is a matter of enduring assertibility under an ideally prosecuted, indefinitely continuing investigation, rather than of assertibility attained when such an investigation is somehow completed.“126
Wrights Peirce-Interpretation wurde oben bereits hinreichend problematisiert. Lässt man sie einmal außer Acht und hält sich an die oben vorgeschlagene Peirce-Deutung, dann zeigt sich bei Wright zunächst derselbe Rekurs auf die Idee der Stabilität, der auch für Peirces Konsenstheorie von zentraler Bedeutung ist. Zwar spricht Wright weder von einem stabilen Konsens noch von einer stabilen Meinung, aber sein Konzept der „enduring assertibility“ in einer „indefinitely continuing investigation“ entspricht offenbar Peirces Idee einer Meinung, die sich in einem zeitlich unbegrenzt fortgesetzten Forschungsprozess F einstellen und dann in F stabil bleiben würde.127 Im Gegensatz zu Peirce geht es Wright nicht darum, im Rekurs auf das Konzept der stabil begründeten Behauptbarkeit eine für schlechthin alle Diskursbereiche gültige Erläuterung des Wahrheitsbegriffs zu liefern. Anstatt sich mit Peirce auf die riskante Anerkennung der uneingeschränkten Gültigkeit des epistemischen Regulativs (EpReg◊K) einzulassen, schlägt Wright ‚superassertibility‘ von vornherein nur dann als Wahrheitsprädikat für einen Diskursbereich D vor, wenn wir a priori davon ausgehen dürfen, dass alle wahren Aussagen von D auch als wahr erkannt werden können.128 Eine weitere Vorbedingung, die von solchen Diskursbereichen D erfüllt werden müsse, bestehe darin, „[...] that the states of information which specifically bear on the characteristic claims of D are of a timelessly accessible kind“129. Auch die Annahme der Verfügbarkeit aller für die Beantwortung einer gegebenen Frage relevanten Informationen und Argumente wird von Wright also in die Menge der Voraussetzungen eingebaut, die ein Diskursbereich D erfüllen muss, wenn für das Prädikat ‚superassertible‘ zu Recht der Anspruch erhoben werden können soll, das Wahrheits126 127
128 129
Wright 1996a, S. 10. Vgl. etwa Peirce 1931-1938, 5.311, sowie Wrights Rede von einer „S-stability“ von „states of information“ (Wright 1999, S. 72 f.). Vgl. Wright 1992, S. 58, und Wright 1999, S. 72. Wright 1999, S. 72.
III. Elemente epistemischer Wahrheitskonzeptionen
197
prädikat von D zu sein. In seiner Antwort auf die naheliegende Frage, welche Diskursbereiche denn derartige Voraussetzungen erfüllen, ist Wright sehr zurückhaltend: „Pure mathematics and issues of moral and aesthetic principle may arguably be thought to supply examples of discourses meeting these conditions under only relatively modest idealizations of the powers of their practitioners.“130
So betrachtet, handelt es sich bei Wrights Thesen zum Prädikat ‚superassertible‘ um eine vorsichtige und hypothetische Variante einer um die Annahme der Verfügbarkeit aller relevanten Informationen und Argumente erweiterten Peirceschen Wahrheitskonzeption: Wenn ein Diskurs D die Bedingungen x, y, z erfüllt, dann kann das Wahrheitsprädikat von D durch das Konzept der superassertibility expliziert werden. So findet sich zwar der Rekurs auf (EpReg◊K), auf Idealisierungen131 und kontrafaktische Annahmen auch bei Wright, eine explizite epistemische Wahrheitsäquivalenz formuliert er dagegen nicht.
130 131
Wright 1999, S. 72. Vgl. Wright 1987a, S. 296 f.
IV.
Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
In der Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen wird oft davon ausgegangen, dass es den verschiedenen Proponenten von Konsens-, Begründbarkeits-, Kohärenz- und Verifizierbarkeitstheorien darum geht, den Wahrheitsbegriff im Rekurs auf epistemische Konzepte zu analysieren und zu definieren, und dass die in diesen Theorien jeweils formulierten epistemischen Wahrheitsäquivalenzen daher als Versuche einer analytischen Begriffsdefinition aufzufassen sind. So charakterisiert zum Beispiel Richard Schantz „epistemische Analysen“ des Wahrheitsbegriffs als Versuche, „den Begriff der Wahrheit durch Verifizierbarkeit oder durch gerechtfertigte Behauptbarkeit oder durch Rechtfertigbarkeit unter epistemisch idealen Bedingungen [zu] definieren“.1 In der folgenden Diskussion geht es mir nun nicht um die Beantwortung der Frage, ob diese Charakterisierung der Zielsetzung epistemischer Konzeptionen und der theoretischen Absichten derer, die diese Konzeptionen vertreten, von Fall zu Fall zutrifft, sondern darum, die These zu begründen, dass mit epistemischen Wahrheitsäquivalenzen keine definitorischen Ansprüche verbunden werden sollten. In der wissenschaftstheoretischen, sprachphilosophischen und logischen Literatur werden von verschiedenen Autoren sehr unterschiedliche Adäquatheitsbedingungen an Begriffsdefinitionen gestellt.2 Es ist hier nicht 1
2
Schantz 1996, S. 2. Vgl. Schantz 2002, S. 3: „Epistemic conceptions simply equate the truth of a statement with its verifiability, justifiability or warranted assertibility (Peirce, James, Dewey, Dummett, Putnam, Rorty).“ Ähnliche Einschätzungen finden sich in Alston 1996, S. 7; Bartelborth 1996, S. 56 u. S. 58; Cramm 2005, S. 241, u. Künne 1991, S. 117. Künne hat inzwischen eine differenziertere Charakterisierung vorgelegt, in der er zwischen epistemischen Konzeptionen, die den Anspruch erheben, eine Begriffsdefinition zu liefern, und solchen, die ohne diesen Anspruch vorgebracht werden, unterscheidet. Erstere fasst Künne unter dem Titel „Definitional Alethic Anti-Realism“ zusammen, letztere unter dem Titel „NonDefinitional Alethic Anti-Realism“. (Vgl. Künne 2003, S. 20-32, passim.) Einen Überblick liefern Radnitzky u. Seiffert 1992 sowie Brendel 1999, S. 9-18. Für eine differenzierte Darstellung unterschiedlicher wahrheitstheoretischer Definitions- und Analyse-Projekte vgl. Kirkham 1992, S. 1-40.
200
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
notwendig, diese zum Teil sehr subtilen Differenzierungen zu rekonstruieren, weil die folgenden Überlegungen nur eine minimale und unstrittige Anforderung an Begriffsdefinitionen ins Spiel bringen: Solche Definitionen stehen unter der Adäquatheitsbedingung der Zirkelfreiheit.3 Die im Definiens verwendeten Konzepte müssen unabhängig von dem zu definierenden Begriff verstehbar sein, das heißt, sie müssen mit einer zutreffenden und informativen Erläuterung versehen werden können, die ohne Rekurs auf das Definiendum auskommt. Dieser Bedingung werden Explikationen des Wahrheitsbegriffs mit Hilfe epistemischer Konzepte nicht gerecht.
IV.1
Wahrheit, Verifikation und Erkennbarkeit
In der Einleitung zu „Meaning and the Moral Sciences“ skizziert Putnam, unter Bezugnahme auf Peirce, eine verifikationistische Wahrheitskonzeption, „which interpret[s] truth as [...] what would be verified under ideal conditions of inquiry“4. Diese Andeutung einer epistemischen Wahrheitsäquivalenz kann durch folgende schematische Aussage präzisiert werden: (WPutnam‘78) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn ideale Forschungsbedingungen gegeben wären, dann wäre p verifiziert. Bringt (WPutnam‘78) eine zirkelfreie Erläuterung des Wahrheitsbegriffs zum Ausdruck? Es liegt hier nahe, mit William Alston sogleich zurückzufragen: „[W]hat does it mean to verify a statement, other than showing it to be true?“5 Alston stellt diese rhetorisch gemeinte Frage im Kontext einer Kri3
4
5
Vgl. etwa Soames 1999, S. 26: „When we define a concept, we explain the grasp of that concept in terms of a prior grasp of the defining concepts. A definition is circular when our grasp of the defining concepts itself depends on a prior grasp of the concept to be defined. In this kind of case, the definition is defeated because it is impossible for both the defining and the defined concepts to be conceptually prior to each other.“ Putnam 1978, S. 1. Statt ‚(WahrheitPeirce)‘, ‚(WahrheitPutnam)‘, ‚(WahrheitApel)‘ usw. schreibe ich von nun an ‚(WPeirce)‘, ‚(WPutnam)‘, ‚(WApel)‘ usw. Alston 1996, S. 222, vgl. auch S. 125: „Doesn’t the notion of verification presuppose a notion of truth, one that is independent of verifiability, independent in the
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
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tik epistemischer Ansätze der Wahrheitstheorie. Die Einzelheiten von Alstons Kritik können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Wichtig ist hier einzig, worauf er mit seiner rhetorischen Frage zu Recht hinweist: Eine Aussage zu verifizieren, bedeutet, ihre Wahrheit festzustellen respektive nachzuweisen. ‚Verifikation‘ ist ein faktives epistemisches Konzept. Wenn eine gegebene Aussage p verifiziert ist – sei es unter idealen oder auch unter nicht idealen epistemischen Bedingungen –, dann ist p wahr. Eine falsche Aussage kann allenfalls irrtümlich für verifiziert gehalten werden, nicht aber verifiziert sein: (FaktVERIF) Für alle Aussagen α gilt: Wenn α verifiziert ist, dann ist α wahr. Dieser interne Bezug auf den Wahrheitsbegriff gehört zum Sinn des Konzepts ‚Verifikation‘. Insofern erläutert (WPutnam‘78) das Prädikat ‚ist wahr‘ im Rekurs auf ein Konzept, das selbst wiederum nicht ohne den Wahrheitsbegriff expliziert werden kann. (WPutnam‘78) stellt also ein zirkuläre Erläuterung dar und kann daher jedenfalls nicht als Begriffsdefinition zählen. Auf analoge Weise lässt sich die folgende, von Michael Dummett in seinem Aufsatz „Victor’s Error“ als Ansatzpunkt einer „conception of truth“ für logisch elementare Aussagen („basic statements“6) charakterisierte Wahrheitsäquivalenz als zirkulär erweisen: (WDummett) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Es ist möglich, zu erkennen respektive zu wissen, dass p. Auch das Konzept der Erkenntnis respektive des Wissens ist über ein Faktivitätsprinzip auf den Wahrheitsbegriff bezogen: (FaktK) Für alle Aussagen α gilt: Wenn erkannt/gewusst wird, dass α, dann ist α wahr. Für eine zirkelfreie Erläuterung des Wahreitsbegriffs eignet sich das Konzept propositionalen Wissens also nicht. Dasselbe gilt für die Idee möglichen Wissens respektive möglicher Erkenntnis, die in (WDummett) ins Spiel gebracht wird. Eine notwendige Bedingung dafür, dass (WDummett) eine gül-
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sense of not being definable by verifiability, since verifiability, on the contrary has to be defined (partly) by truth?“ Siehe dazu auch Alston 2001, S. 59-62. Dummett 2001, S. 1.
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tige These über den Zusammenhang zwischen Wahrheit und möglichem Wissen zum Ausdruck bringt, besteht darin, dass auch das folgende Faktivitätsprinzip gilt: (Fakt◊K) Für alle Aussagen α gilt: Wenn es möglich ist, zu wissen/zu erkennen, dass α, dann ist α wahr.7 Der Modalausdruck ‚möglich‘ in (Fakt◊K) und (WDummett) kann nun nicht im Sinne logischer Möglichkeit intendiert sein. Die logische Möglichkeit, dass eine gegebene Proposition p als wahr erkannt wird oder Gehalt eines propositionalen Wissens ist, impliziert nicht, dass die Aussage p wahr ist, sondern allenfalls, dass sie konsistent ist. Auch eine logisch kontingent falsche Aussage kann daher auf kohärente Weise als Gehalt eines logisch möglichen Wissens oder einer logisch möglichen Erkenntnis bezeichnet werden. Die einzige plausible Interpretation des Sinns der Rede von möglichem Wissen in (WDummett) und (Fakt◊K) hat – in einem anderen Zusammenhang – Georg Henrik von Wright angedeutet: „When saying that it is possible to come to know the truth of a certain proposition, I may mean, by implication, that the proposition in question is true. In other words: only of true propositions may one–in this sense of ‘may’–come to know the truth.“8
Wenn man aber schon voraussetzen muss, dass dies die intendierte Lesart der Rede von möglichem Wissen und möglicher Erkenntnis in (WDummett) ist, um diese Äquivalenz nicht als offensichtlich falsch ansehen zu müssen, dann liefert (WDummett) eine zirkuläre Erläuterung des Wahrheitsbegriffs.
IV.2
Wahrheit und Kohärenz
Das Kernstück von Kohärenztheorien der Wahrheit, wie sie zum Beispiel von Francis H. Bradley, Harold H. Joachim und Brand Blanshard vertreten werden, ist die folgende epistemische Wahrheitsäquivalenz:9 7 8 9
(Fakt◊K) ist die Rechts-Links-Richtung der Äquivalenz (WDummett). von Wright 1957, S. 183. Vgl. dazu auch Tennant 2000, S. 828 f. Vgl. Joachim 1906, S. 72-79; Bradley 1914; Blanshard 1939, Bd. 2, S. 260-279. Dazu Walker 2001. Nicholas Reschers Buch „The Coherence Theory of Truth“ von 1973 ist, seinem Titel zum Trotz, der Entwicklung einer Kohärenztheorie der Begründung, nicht der Wahrheit, gewidmet: „[T]he coherence theory as we have
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(WBJB) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt:
Wenn ein epistemisches Subjekt (oder eine Gemeinschaft epistemischer Subjekte) im Besitz des ideal vollständigen und kohärenten Meinungssystems wäre, dann würde es (sie) neben vielem anderen auch davon überzeugt sein, dass p. (WBJB) ist ein Bikonditional mit kontrafaktisch-konditionaler rechter Seite. Wolfgang Künne dagegen verzichtet in seiner Rekonstruktion des Kerngedankens der Kohärenztheorie auf die Verwendung eines kontrafaktischen Konditionals: „(Coh) ∀x (x is true ↔ x belongs to a maximally coherent set of beliefs)“10. Es mag sein, dass Künnes Darstellung dem Wortlaut der Formulierungen von Bradley, Joachim und Blanshard angemessener ist als (WBJB). Da aber kein Kohärenztheoretiker davon ausgehen kann, dass irgendwann einmal ein maximal kohärentes Überzeugungssystem existierte oder existieren wird, ziehe ich (WBJB) Künnes Formulierung vor. Wenn es kein maximal kohärentes Überzeugungssystem gibt, dann ist auch keine Aussage Element eines solchen. (Coh) bringt die Kohärenztheoretiker daher in die missliche Lage, behaupten zu müssen, dass keine Aussage wahr ist, wenn de facto kein maximal kohärentes Überzeugungssystem existiert. In der Beantwortung der Frage, was genau unter der Rede von einem maximal oder ideal kohärenten Überzeugungssystem zu verstehen ist, liegt das Hauptproblem von Kohärenztheorien der Wahrheit. Ihre Proponenten gehen die theoretische Verpflichtung ein, notwendige (und vielleicht sogar zusammengenommen hinreichende) Bedingungen anzugeben, die ein Überzeugungssystem erfüllen müsste, um maximal respektive ideal kohärent zu sein. In verschiedenen Kohärenztheorien der Wahrheit werden die Bedingungen maximaler Kohärenz recht unterschiedlich erläutert. Alle Ko-
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outlined it does not purport to give a definition of ‘truth’. Coherence is certainly not the meaning of truth. […] Rather, the aim of the coherence theory is–or should be–to afford a test or criterion of truth.“ (Rescher 1973, S. 23 f.) Künne 2003, S. 385.
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härenztheoretiker stimmen aber darin überein, dass eine notwendige Bedingung für die Kohärenz eines Meinungssystems darin besteht, dass die Menge der propositionalen Gehalte der zu diesem System gehörenden Meinungen oder Überzeugungen konsistent ist. Nun lautet eine Standarderklärung des Ausdrucks ‚konsistent‘, grob gesagt, folgendermaßen: (Konsistenzsemantisch) Eine Menge M von Aussagen ist konsistent genau dann, wenn die Konjunktion aller Elemente von M wahr sein kann, das heißt, wenn M widerspruchsfrei ist. Vor dem Hintergrund dieser Deutung des Begriffs der Konsistenz und der kaum strittigen These, dass Kohärenz Konsistenz impliziert11, muss jeder Versuch einer Explikation von ‚Wahrheit‘ im Rekurs auf den Begriff der Kohärenz als zirkulär erscheinen. Kohärenz schließt Konsistenz ein. Konsistent ist eine Menge von Aussagen genau dann, wenn sie widerspruchsfrei ist, wenn also alle ihre Elemente zugleich wahr sein können. Die Elemente einer gegebenen Menge M von Aussagen können nur dann zugleich wahr sein, wenn auch alle Aussagen, die aus M logisch und begrifflich folgen, zugleich wahr sein können. Und eine gegebene Aussage p folgt logisch oder begrifflich aus M, wenn es nicht möglich ist, dass alle Elemente von M wahr sind, p dagegen nicht wahr ist. Ein ähnliches Argument für die These, dass Kohärenztheorien der Wahrheit zirkulär sind, deutet Jaakko Hintikka an: „[C]oherence with other propositions will undoubtedly play a role in any full account of how we can actually come to know the truth of a proposition [...]. But to consider such accounts of our knowledge of truth constitutive of truth simpliciter is at best to commit the naturalistic fallacy. At worst such accounts are circular, for surely the notion of truth is more fundamental than the notion of a proposition’s possibly being true on the same occasion as another one, a.k.a. coherence.“12
Die von Hintikka im letzten Satz dieses Zitats vorgenommene Identifikation von Kohärenz und Konsistenz (‚a proposition’s possibly being true on the same occasion as another one‘) ist problematisch, denn kaum ein Proponent der Kohärenztheorie der Wahrheit würde behaupten wollen, dass 11 12
Siehe aber unten Anm. 16. Hintikka 2002, S. 244. Denselben Einwand gegen definitorisch verstandene Kohärenztheorien machen Kirkham 1992, S. 107 f., und Künne 2003, S. 390, geltend.
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eine Menge von Überzeugungen oder Behauptungen genau dann kohärent ist, wenn sie konsistent ist.13 Kohärenz umfasst mehr als bloße Konsistenz.14 Die Gleichsetzung von Kohärenz und Konsistenz beeinträchtigt Hintikkas Argument aber letztlich nicht, denn für dieses Argument genügt die schwächere Prämisse, dass Konsistenz eine notwendige Bedingung für Kohärenz darstellt, und diese schwächere Prämisse folgt aus Hintikkas Identifikation von Kohärenz mit Konsistenz. An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden, dass man ja nicht gezwungen sei, die Definition des Konzepts der Konsistenz mit Hilfe des Wahrheitsbegriffs semantisch zu formulieren. Man könne sie ebenso gut syntaktisch formulieren. Etwa so: (Konsistenzsyntaktisch) Eine Menge M von Aussagen ist konsistent (relativ zu einem logischen System L) genau dann, wenn sich aus ihr (gemäß den Schlussregeln von L) keine Aussage der Form ‚p∧¬p‘ ableiten lässt. In dieser syntaktischen Erläuterung von ‚Konsistenz‘ kommt der Wahrheitsbegriff nicht vor. Und daher, so der Einwand, trifft es nicht zu, dass jede Erläuterung von ‚Wahrheit‘ im Rekurs auf den Begriff der Kohärenz zirkulär sein muss. Dass aber diese Erwiderung nicht triftig ist, kann ausgehend von der folgenden Frage verdeutlicht werden: Warum sollte die Ableitbarkeit einer Aussage der Form ‚p∧¬p‘ aus einer Menge von Aussagen, die den Gehalt der Überzeugungen eines epistemischen Subjekts S zum Ausdruck bringen, als ein Indikator dafür angesehen werden, dass mit S’ Überzeugungssystem etwas nicht in Ordnung ist, das heißt: als ein Indikator dafür, dass S’ Überzeugungssystem Fehler enthält?15 Prima facie bleibt einem Kohä13 14
15
Otto Neurath mag hier eine Ausnahme darstellen. Vgl. Neurath 1979, S. 108. Vgl. etwa Joachim 1906, S. 76: „The ‘systematic coherence’ […] in which we are looking for the nature of truth, must not be confused with the ‘consistency’ of formal logic. A piece of thinking might be free from self-contradiction, might be ‘consistent’ and ‘valid’ as the formal logician understands those terms, and yet it might fail to exhibit that systematic coherence which is truth.“ Konsistenz ist Joachim zufolge nur eine conditio „sine qua non or a ‘negative condition’ of truth“ (Joachim 1906, S. 75). Den Ausdruck ‚Überzeugungssystem‘ verwende ich hier in dem folgenden anspruchslosen Sinn: Das Überzeugungssystem einer Person S (oder einer beliebig
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renztheoretiker K, der sich auf die angedeutete syntaktische Erläuterung des Konsistenzbegriffs beruft, keine andere Wahl, als sinngemäß die folgende Antwort zu geben: ‚Weil dann nicht alle Elemente des Überzeugungssystems von S wahr sein können.‘16 Aber dies ist vorschnell. K könnte zum Beispiel auf eine der sogenannten Paradoxien der materialen Implikation, ex contradictione quodlibet, verweisen und die folgende Antwort geben: ‚Die Ableitbarkeit einer Aussage der Form ‚p∧¬p‘ aus S’ Überzeugungssystem ist eine schlechte Nachricht für S, weil sich aus einer solchen Aussage jeder beliebige deklarative Satz ableiten lässt. Logisch betrachtet, würde S’ Überzeugungssystem daher ‚explodieren‘. Und so ein Überzeugungssystem will natürlich niemand haben.‘17 Diese Erwiderung löst K’s Problem aber nicht, sondern verschiebt es nur. So darf ihm die Anschlussfrage gestellt werden, warum denn seiner Meinung nach niemand ein Überzeugungssystem haben will – oder haben wollen sollte –, das ‚logisch betrachtet‘ explodiert. Es ist anzunehmen,
16
17
großen Gruppe von Personen S) ist die Konjunktion aller Propositionen, die Gehalt einer Meinung von S sind. Proponenten des Dialetheismus würden dem entgegenhalten, es sei keinesfalls ausgemacht, dass nicht alle Elemente eines widersprüchlichen Überzeugungssystems wahr sein können. Diese These wird etwa von Graham Priest vertreten (vgl. Priest 1998, S. 416). Konsequenterweise stellt Priest denn auch die zumeist als unstrittig vorausgesetzte Annahme in Frage, dass Konsistenz eine notwendige Bedingung für Kohärenz darstellt. (Vgl. Priest 2000, S. 312-314.) Den Dialetheismus vernachlässige ich hier. Zum Begriff der logischen Explosion und zum Prinzip ex contradictione quodlibet, das in parakonsistenten Logiken ungültig ist, vgl. Priest 1998, S. 410-416. Vgl. auch von Wright 1986, S. 4 f. Auch parakonsistente Logiken vernachlässige ich hier. Die Ableitbarkeit einer beliebigen Aussage q aus einer Aussage der Form ‚p∧¬p‘ mit Hilfe klassisch logischer Schlussregeln kann zum Beispiel so demonstriert werden: 1 1. p∧¬p Annahme 1 2. p 1, ∧-Elimin. 1 3. p∨q 2, ∨-Einf. 1 4. ¬p 1, ∧-Elimin. 1 5. q 3, 4, DS --6. (p∧¬p)→q 1, 5, →-Einf.
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dass aus jedem realen Überzeugungssystem endlicher und nicht perfekt rationaler epistemischer Subjekte Aussagen der Form ‚p∧¬p‘ ableitbar sind. Wenn diese Annahme zutrifft, dann ist kein reales Überzeugungssystem insgesamt konsistent, und dennoch ist, soweit wir wissen, noch kein reales Überzeugungssystem explodiert. Das liegt daran, dass Überzeugungssysteme nicht von allein explodieren. Wir müssten sie selbst zum Explodieren bringen, indem wir alle Aussagen, die aus ihnen logisch ableitbar sind, auch tatsächlich ableiten. Dazu zwingt uns aber nichts und niemand. Und trotzdem haben wir ein epistemisches Interesse daran, Inkonsistenzen aus der Menge unserer Überzeugungen zu entfernen. Warum eigentlich? Doch wohl, weil wir ein epistemisches Interesse daran haben, dass unsere Überzeugungen und Behauptungen wahr sind. Zugestanden: Auch in der Beantwortung der zuletzt gestellten Fragen muss der Kohärenztheoretiker nicht sofort den Wahrheitsbegriff ins Spiel bringen. Er könnte sich zum Beispiel auf die pragmatistische These berufen, dass unsere Überzeugungen in erster Linie zur Planung und Orientierung von Handlungen dienen, und dann plausiblerweise behaupten, dass inkonsistente Überzeugungen diese Funktion nicht erfüllen können. Aber auch hier ergibt sich wieder eine legitime Anschlussfrage: Warum sind inkonsistente Überzeugungen ungeeignet für die Planung und Orientierung von Handlungen? Eine naheliegende (Teil-)Antwort ist die folgende: Weil es uns darum geht, zu Handlungsplänen zu gelangen, durch deren Umsetzung die von uns jeweils angestrebten Ziele realisiert werden können. Nun gilt – zwar möglicherweise nicht in jedem einzelnen Fall18, aber doch ‚im Großen und Ganzen‘ –, dass nur die Umsetzung von Handlungsplänen, welche auf wahren – und insofern a fortiori konsistenten – Überzeugungen über die Beschaffenheit der relevanten Elemente einer Handlungssituation beruhen, zur Realisierung der jeweils angestrebten Resultate führt. So betrachtet, sind inkonsistente Überzeugungsmengen schlecht zur Planung und Orientierung von Handlungen geeignet, weil ihre propositionalen Gehalte nicht alle zugleich wahr sein können. Früher oder später wird K den Wahrheitsbegriff ins Spiel bringen müssen. Wenn es zutrifft, dass jede Erläuterung des Konzepts der Konsistenz letztlich ein Verständnis des Wahrheitsbegriffs voraussetzt, dann sind ko18
Vgl. Brandom 1994, S. 290.
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härenztheoretische Explikationen des Wahrheitsbegriffs zirkulär. Dass dies zutrifft, ist hier freilich nicht konklusiv begründet worden, denn ich habe nicht gezeigt, dass es unmöglich ist, dass sich allem Anschein zum Trotz doch eine Bestimmung des Konzepts der Konsistenz liefern und dann auch im Blick auf Fragen der Art wie sie oben gestellt wurden, erläutern und plausibel machen lässt, ohne dabei früher oder später den Wahrheitsbegriff ins Spiel zu bringen. Grund dafür, zu bezweifeln, dass eine solche ‚wahrheitsfreie‘ Bestimmung des Konsistenzbegriffs geliefert werden kann, besteht aber allemal. Denn in Bezug auf jede vorgeschlagene Bestimmung D des Konsistenzbegriffs darf legitimerweise gefragt werden, warum wir Überzeugungen, die im Sinn von D konsistent sind, solchen, die im Sinn von D inkonsistent sind, vorziehen sollten. Ein Proponent einer kohärenztheoretischen Definition von ‚Wahrheit‘, der sich auf eine vorgeschlagene ‚wahrheitsfreie‘ Bestimmung des Konsistenzbegriffs beriefe, dürfte in seiner Antwort auf diese Frage den Wahrheitsbegriff nicht verwenden, und es ist nicht klar, welches andere Konzept er an dessen systematische Stelle setzen könnte. Diese Überlegungen mögen im Blick auf Brandoms Versuch, den im Sinne von (Konsistenzsemantisch) verstandenen Begriff der Inkonsistenz auf den pragmatischen der materialen Inkompatibilität (‚material incompatibility‘) zurückzuführen, unbegründet erscheinen.19 Im Hintergrund dieses Versuchs steht Brandoms ‚Scorekeeping‘-Modell20, welches die diskursive Behauptungs- und Begründungspraxis mit Hilfe der Konzepte ‚Festlegung‘ (‚commitment‘) und ‚Berechtigung‘ (‚entitlement‘) erklärt, sowie seine an Sellars anknüpfende Theorie materialer Inferenzen.21 Anstatt ‚Inkonsistenz‘ im Rekurs auf ‚Wahrheit‘ zu definieren und zu sagen, dass zwei Aussagen p und q genau dann miteinander inkonsistent sind, wenn sie nicht beide (zugleich) wahr sein können, schlägt Brandom vor, ‚Inkonsistenz‘ im Sinne pragmatischer Inkompatibilität zu verstehen: „Two claims are incompatible with each other if commitment to one precludes entitlement to the other.“22 In dieser Erläuterung kommt der Wahrheitsbegriff prima facie 19 20 21 22
Vgl. Brandom 1994, S. 160, und Brandom 2000, S. 185-204. Vgl. etwa Brandom 1994, Kap. 3. Vgl. zum Beispiel Brandom 1994, S. 97-105 und S. 125-137. Brandom 1994, S. 160, vgl. auch Brandom 2000, S. 194.
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nicht vor. Wenn sich nun zeigen ließe, dass das Konzept der Inkonsistenz verlustfrei durch Brandoms pragmatisches der Inkompatibilität ersetzbar ist, dann scheint auch einem Kohärenztheoretiker ein Verständnis von ‚Inkonsistenz‘ und ‚Konsistenz‘ zur Verfügung zu stehen, das ohne Rekurs auf den Wahrheitsbegriff expliziert werden kann. Brandom selbst, der keine Kohärenztheorie der Wahrheit, sondern eine Spielart des wahrheitstheoretischen Deflationismus vertritt, läge natürlich nichts ferner als eine solche Verwendung des Konzepts der materialen Inkompatibilität im Rahmen einer kohärenztheoretischen Definition des Wahrheitsbegriffs. Aber das ist hier nebensächlich. Ohne damit Brandoms komplexen Überlegungen gerecht zu werden, will ich hier nur darauf hinweisen, dass es weder ausgemacht ist, dass sich die semantische Relation der Inkonsistenz auf die pragmatische der Inkompatibilität reduzieren lässt23, noch dass die Rede von Festlegung (‚commitment‘) in Brandoms Erläuterung von ‚Inkompatibilität‘ ohne Rekurs auf den Wahrheitsbegriff verstanden werden kann. Brandom rekurriert in seiner Bestimmung materialer Inkompatibilität auf die Sprechhandlung des Behauptens.24 Da er dem Wahrheitsbegriff in seiner Rekonstruktion der diskursiven Praxis keine erklärende Rolle zuerkennen will,25 muss er auch in der Explikation des Etwas-Behauptens auf ihn verzichten. Zwar meint Brandom, dass „[e]veryone ought to agree that asserting is putting forward a sentence as true“26, aber das, was es heißt, einen Satz als wahr vorzubringen, also zu behaupten, bestimmt er letztlich als das Eingehen einer Festlegung: „[W]e can understand making a claim as taking up a particular sort of normative stance toward an inferentially articulated content. It is endorsing it, taking responsibility for it, committing oneself to it.“27
Brandom verwendet die Konzepte des commitment und des entitlement als theoretische Grundbegriffe. Sich auf eine Aussage festzulegen oder sie anzuerkennen, bedeute vor allem, bereit zu sein, sie als Prämisse in Schlüssen 23 24 25 26 27
Vgl. dazu Rosenkranz 2003. Er verwendet ‚claim‘ und ‚assertion‘ mehr oder weniger austauschbar. Vgl. Brandom 2002, dazu oben I.3.1. Brandom 1994, S. 231. Brandom 2000, S. 192.
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zu verwenden, die der Begründung anderer Aussagen und damit dem Nachweis der Berechtigung (‚entitlement‘) des Eingehens weiterer commitments dienen.28 Im Anschluss an das Argument gegen den wahrheitstheoretischen Deflationismus, das ich in Abschnitt I.3.2 formuliert habe, lässt sich Brandoms These, dass die Konzepte des commitment und des entitlement jede explanatorische Verwendung des Wahrheitsbegriffs in der Rekonstruktion der diskursiven Praxis überflüssig machen, nun folgendermaßen problematisieren: Das Eingehen von Festlegungen auf (die Anerkennung von) Aussagen steht unter normativen Korrektheitsbedingungen. Eine der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit beispielsweise die Festlegung auf die Aussage, dass Caesar den Rubikon überquert hat, normativ korrekt ist, besteht darin, dass Caesar den Rubikon überquert hat. Das will Brandom keineswegs bestreiten. Hier darf dann aber gefragt werden: (Q) Warum ist es nur dann normativ korrekt, eine Festlegung auf die Aussage, dass Caesar den Rubikon überquert hat, einzugehen, wenn Caesar den Rubikon überquert hat? Vor dem Hintergrund seiner wahrheitstheoretischen Thesen ist klar, dass Brandom auf diese Frage nicht die folgende Antwort geben kann: (R) Weil die Aussage, dass Caesar den Rubikon überquert hat, nur dann wahr ist, wenn Caesar den Rubikon überquert hat. Denn die Verwendung des Ausdrucks ‚ist wahr‘ in (R) kann weder im Sinne der prosententialen Redundanzthese als verzichtbar erwiesen noch im Sinne der prosententialen Generalisierungsthese als Teil einer quantifizierenden Prosentenz verstanden werden.29 Darüber hinaus passt (R) auch nicht zu der folgenden These, mit der Brandom an die eine Zeitlang von Strawson vertretene performative Wahrheitstheorie anknüpft: 28
29
Vgl. Brandom 2000, S. 194: „[E]ntitlements [...] are entitlements to commitments.“ Ich vereinfache Brandoms Darstellung der normativen Signifikanz des Eingehens von Festlegungen und des Behauptens hier unter anderem dadurch, dass ich nur die Perspektive des Sprechers auf seine eigenen Festlegungen und Behauptungen berücksichtige. Zur Unterscheidung zwischen „intrapersonal and interpersonal uses of a claim as a premise“ (Brandom 1994, S. 169) vgl. Brandom 1994, S. 168-175. Zu Brandoms Redundanz- und Generalisierungsthesen vgl. oben I.3.1.
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„Taking a claim or belief to be true is not attributing an especially interesting and mysterious property to it; it is doing something else entirely; it is endorsing the claim oneself.“30
In (R) ist nicht von einer Behauptung oder Überzeugung, sondern von einer Aussage die Rede, und wer die Antwort (R) auf die Frage (Q) gibt, legt sich dadurch keineswegs auf die Anerkennung der Aussage fest, dass Caesar den Rubikon überquert hat. Solange Brandom keine alternative Antwort auf die Frage (Q) anbietet, sprechen diese Überlegungen dafür, dass das Konzept des commitment, der Festlegung auf respektive der Anerkennung von Aussagen, und damit zugleich auch Brandoms Bestimmung materialer Inkompatibilität den Wahrheitsbegriff implizit wieder ins Spiel bringen. Doch zurück zu Kohärenztheorien. Zur Stützung der These, dass sich die Idee eines maximal oder ideal kohärenten Meinungssystems nicht dazu eignet, eine zirkelfreie Erläuterung von ‚Wahrheit‘ zu liefern, will ich hier auf einen wichtigen Punkt wenigstens noch hinweisen: Die bislang vorgebrachten Überlegungen bezogen sich ausschließlich auf das Konzept der Konsistenz von Überzeugungssystemen. Nun ist aber Konsistenz, wie oben bereits angedeutet, nur eine notwendige, keinesfalls eine hinreichende Bedingung für Kohärenz. Eine weitere notwendige Bedingung, die von Kohärenztheoretikern normalerweise angeführt wird, betrifft die inferentielle Vernetzung der Elemente eines ideal vollständigen und kohärenten Überzeugungssystems. Blanshard vertritt dazu die folgende These: „No proposition would be arbitrary, every proposition would be entailed by the others jointly and even singly“.31 Die Anforderung, dass jedes einzelne Element eines idealen Überzeugungssystems aus jedem einzelnen seiner anderen Elemente logisch oder begrifflich folgen müsste, ist derart anspruchsvoll, dass es schwer fällt, ihr überhaupt einen nachvollziehbaren Sinn zu verleihen. Sie wird auch von kaum einem anderen Kohärenztheoretiker anerkannt.32 Fest steht aber für alle Kohärenztheoretiker, dass ein ideal kohä30 31 32
Brandom 2000, S. 119. Blanshard 1939, Bd. 2, S. 265. Wenn Blanshard in seiner Anmerkung zu der gerade zitierten Äußerung richtig liegt (vgl. Blanshard 1939, Bd. 2, S. 265), dann hat aber zumindest Joachim dieselbe Anforderung an die inferentiellen Verhältnisse gestellt, die in einem ideal kohärenten Meinungssystem herrschen müssten.
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rentes Überzeugungssystem ein durch logische Folgebeziehungen zwischen seinen Elementen dicht gewobenes inferentielles Netz darstellen würde. Eine Erläuterung von ‚Wahrheit‘ in Begriffen idealer Kohärenz wäre daher nur dann zirkelfrei, wenn man auch in der Definition des Konzepts der logischen Folge ohne den Wahrheitsbegriff auskäme. Es ist aber fraglich, ob der Wahrheitsbegriff in diesem Zusammenhang tatsächlich verzichtbar ist. Jedenfalls ließe sich im Blick auf eine rein syntaktische Explikation des Begriffs der logischen Folge dieselbe Diskussion führen, die oben hinsichtlich einer rein syntaktischen Explikation von ‚Konsistenz‘ geführt wurde.33
IV.3
Wahrheit und Begründbarkeit unter idealen epistemischen Bedingungen
In „Reason, Truth and History“ formuliert Putnam seine vieldiskutierte These, Wahrheit sei ‚eine Art idealisierte rationale Akzeptierbarkeit‘, „some sort of (idealized) rational acceptability“34: „[T]ruth is an idealization of rational acceptability. We speak as if there were such things as epistemically ideal conditions, and we call a statement ‘true’ if it would be justified under such conditions.“35
Diese wahrheitstheoretische These kann durch die folgende epistemische Äquivalenz präzisiert werden: (WPutnam’81) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn ideale epistemische Bedingungen gegeben wären, dann wäre die Aussage p rational akzeptierbar oder berechtigt behauptbar oder begründet behauptbar. Anders als der Begriff der Verifikation in (WPutnam’78) sind die in (WPutnam’81) verwendeten Konzepte ‚rationale Akzeptierbarkeit‘, ‚berechtigte Behaupt33 34
35
Vgl. dazu zum Beispiel die Diskussion in Kirkham 1992, S. 107 f. Putnam 1981, S. 49, vgl. zum Kontext Putnam 1981, S. 49-56, und Putnam 1983, S. 84-86. Putnam 1981, S. 55.
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barkeit‘ und ‚begründete Behauptbarkeit‘ für sich genommen keine faktiven epistemischen Konzepte. Putnam verwendet die Ausdrücke ‚rational acceptability‘, ‚warranted assertibility‘ und ‚justified assertibility‘ austauschbar.36 In der hier folgenden Diskussion beziehe ich mich ausschließlich auf ‚begründete Behauptbarkeit‘. Aus ‚p ist begründet behauptbar‘ allein folgt nicht ‚p ist wahr‘. Insofern der Ansatzpunkt des Nachweises der Zirkularität von (WPutnam’78) gerade in der Tatsache besteht, dass es wesentlich zum Sinn des Konzepts der Verifikation gehört, dass nur wahre Propositionen verifiziert werden können, könnte die Annahme naheliegen, dass (WPutnam’81) im Gegensatz zu (WPutnam’78) nicht zirkulär ist. Doch diese Annahme wäre vorschnell. Putnams Rekurs auf das Konzept der begründeten Behauptbarkeit unter epistemisch idealen Bedingungen muss letztlich als Versuch verstanden werden, das folgende Problem zu lösen: Wie lassen sich Bedingungen B der begründeten Behauptbarkeit einer gegebenen Aussage p derart spezifizieren, dass die Aussage ‚p ist wahr‘ aus der Aussage ‚p wäre unter BBedingungen begründet behauptbar‘ logisch folgt? Noch einmal anders gefragt: Wie müssen die Bedingungen B gedacht werden, damit die Konjunktion der Aussage ‚p wäre unter B-Bedingungen begründet behauptbar‘ und der Aussage ‚p ist nicht wahr‘ einen Widerspruch darstellt? Putnams – später modifizierte und dann verworfene37 – ‚intern-realistische‘ Antwort lautet: Die Begründbarkeitsbedingungen B müssen als epistemisch ideal gedacht werden. Nun hat der Rekurs auf ideale epistemische Bedingungen in einer Erläuterung des Wahrheitsbegriffs nur dann einen theoretischen Explikationswert, wenn auch angegeben wird, worin ideale epistemische Bedin36
37
Die Wendung ‚warranted assertibility‘ stammt von Dewey. Vgl. Dewey 1938, S. 143, und Dewey 1941. Für Putnams modifizierte ‚intern-realistische‘ Wahrheitskonzeption vgl. zum Beispiel Putnam 1988, S. 113-116, und das Vorwort zu „Realism with a Human Face“ (Putnam 1990, S. vii-xi). Spätestens in Putnam 1999, bes. S. 43-70, gibt Putnam die ‚intern-realistische‘ Wahrheitskonzeption zugunsten einer Position auf, die er „common sense realism“ nennt (Putnam 1999, S. 56). Systematische Diskussionen der verschiedenen Stadien von Putnams Überlegungen zum Wahrheitsbegriff finden sich in Wright 2000 und Künne 2003, S. 404-424. Vgl. auch Putnams Antwort auf Wright 2000 in Putnam 2001.
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gungen bestehen würden. Putnam ist an diesem Punkt mit demselben theoretischen Problem konfrontiert, das sich für Peirce hinsichtlich seines Konzepts einer ultimate opinion und für Wright in Bezug auf das Konzept der superassertibility stellt. Peirce muss angeben, worin sich die ultimate opinion von anderen, offensichtlich zur Explikation des Wahrheitsbegriffs ungeeigneten, Meinungen und Überzeugungen unterscheiden würde, und zwar so, dass der Begriff der ultimate opinion als Begriff einer Meinung verstehbar bleibt, deren Träger eine Gemeinschaft fallibler und endlicher epistemischer Subjekte wäre. Wright muss spezifizieren, worin der Unterschied besteht zwischen der superassertibility von Aussagen einerseits und andererseits der faktischen begründeten Behauptbarkeit von Aussagen, die als solche kontextabhängig und instabil ist. Um Putnams ‚intern-realistische‘ Antwort auf das oben dargestellte Problem mit wahrheitstheoretischem Gehalt zu versehen, muss dementsprechend angegeben werden, wodurch sich epistemisch ideale Bedingungen auszeichnen oder auszeichnen würden. Richard Schantz weist zu Recht darauf hin, dass Putnam weder in „Reason, Truth and History“ noch in den nachfolgenden Texten aus den 1980er Jahren einen „ernsthaften Versuch der Präzisierung“ seiner „Rede von epistemisch idealen Bedingungen“38 unternommen hat. Ein Proponent S von (WPutnam’81) könnte sich nun auf den Standpunkt stellen, dass die von Schantz eingeforderte Präzisierung letztlich gar nicht notwendig sei. Um (WPutnam’81) als gültig zu erweisen, genüge es vielmehr, einige begriffliche Zusammenhänge zu explizieren, deren Bestehen unstrittig sein sollte: In unserer epistemischen Praxis geht es um das Erzielen zugleich gut begründeter und wahrer Meinungen. Insofern ist es eine Praxis, deren Gelingen oder Misslingen sich daran bemisst, ob und inwieweit wir es mit unseren Erkenntnisbemühungen dazu bringen, Wahres mit guten Gründen für wahr zu halten. Ideale epistemische Bedingungen wären nun einfach ideale Bedingungen für das Gelingen der epistemischen Praxis. Wie auch immer sie im Einzelnen beschaffen wären, sie wären auf jeden Fall so beschaffen, dass mit ihrem Erfülltsein all diejenigen Beschränkungen wegfallen würden, die dafür verantwortlich sind, dass unsere Er38
Schantz 1996, S. 328.
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kenntnisbemühungen unter nicht idealen Bedingungen manchmal misslingen, und deren Berücksichtigung uns hier und jetzt einen guten Grund dafür liefert, Fallibilisten zu sein. Unter nicht idealen epistemischen divergieren die Extensionen der Prädikate ‚ist begründet behauptbar‘ und ‚ist wahr‘. Unter idealen epistemischen Bedigungen wären diese Prädikate dagegen extensional äquivalent. Dies ist eine schlichte begriffliche Konsequenz aus den Konzepten ‚epistemische Praxis‘ zum einen und ‚ideal‘ zum anderen. Die Links-Rechts-Richtung von (WPutnam’81) ist gültig, weil die Konjunktion der folgenden drei schematischen Aussagen inkonsistent ist: (a) Die Aussage p ist wahr. (b) Die Bedingungen x, y, z sind die idealen epistemischen Bedingungen für die Prüfung der Aussage p, also für die Feststellung des Wahrheitswerts von p. (c) Es könnte sein, dass p selbst unter den Bedingungen x, y, z nicht begründet behauptbar wäre. Die Konjunktion ‚(a)∧(b)∧(c)‘ ist aus rein begrifflichen Gründen falsch. Wenn (a) und (b) wahr sind, dann ist (c) falsch. Wenn (a) und (c) wahr sind, dann ist (b) falsch. Wenn (b) und (c) wahr sind, dann ist (a) falsch. Es gibt keine sinnvolle Interpretation dieser Konjunktion, die allen drei Konjunkten den Wahrheitswert ‚wahr‘ zuordnet. Dasselbe gilt für die Konjunktion der folgenden drei schematischen Aussagen, woran sich zeigt, dass auch die Rechts-Links-Richtung von (WPutnam’81) gültig ist: (d) Die Aussage q ist nicht wahr. (e) Die Bedingungen x, y, z sind die idealen epistemischen Bedingungen für die Prüfung der Aussage q, also für die Feststellung des Wahrheitswerts von q. (f) Es könnte sein, dass q unter den Bedingungen x, y, z begründet behauptbar wäre. Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann macht es keinen Sinn, das Konzept idealer epistemischer Bedingungen, also idealer Bedingungen epistemischer Praxis, so, wie zum Beispiel Alston es tut, unter den Vorbehalt zu stellen, dass es doch wahre Aussagen
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IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
geben könnte, die auch unter solchen Bedingungen nicht begründet behauptbar wären, oder Aussagen, die zwar unter solchen Bedingungen begründet behauptbar wären, die aber falsch sind.39 Wer solche Einwände vorbringt, hat einfach den Ausdruck ‚ideale epistemische Bedingungen‘ nicht verstanden. Soweit S’ Erläuterung der Äquivalenz (WPutnam’81) und der Rede von epistemisch idealen Bedingungen. Was ist von ihr zu halten? Zunächst muss wohl eingeräumt werden, dass sie einige Plausibilität besitzt. Bedingungen, welche die Möglichkeit offen lassen, dass wir nicht zu der korrekten Einschätzung des Wahrheitswerts einer gegebenen Aussage p gelangen, sind eben keine idealen epistemischen Bedingungen für die Einschätzung des Wahrheitswerts von p. Das sollte in der Tat unstrittig sein. Die Kehrseite ihrer Plausibilität besteht aber darin, dass diese Erläuterung (WPutnam’81) trivialisiert. In ihrem Licht erscheint Putnams epistemische Äquivalenz nicht mehr als eine substantielle These, sondern als eine Aussage, die jedenfalls wahrheitstheoretisch wenig informativ ist. Grund dafür ist ein sehr enger Explikationszirkel: S bestimmt in seiner Erläuterung das Erreichen wahrer und begründeter Meinungen als Ziel von Erkenntnisbemühungen und bringt dann die Rede von idealen epistemischen Bedingungen als bloßen Platzhalter für einen Begriff derjenigen Voraussetzungen ins Spiel, die erfüllt sein müssten, damit das Erreichen des mit Hilfe des Wahrheitsbegriffs charakterisierten Ziels von Erkenntnisbemühungen garantiert wäre. Wenn die Rede von idealen epistemischen Bedingungen so zu verstehen ist, dann ist (WPutnam’81) auf offensichtliche Weise zirkulär.40 Hier wird zudem ein grundsätzliches Problem sichtbar, mit dem jeder Versuch konfrontiert ist, auf zugleich generelle und informative Weise anzugeben, wodurch sich ideale epistemische Bedingungen auszeichnen würden. Die Bedingungen der begründeten Behauptbarkeit einer beliebigen 39
40
Vgl. die entsprechenden Einwände gegen Putnams ‚intern-realistische‘ Wahrheitskonzeption in Alston 1996, S. 199-204. Außerdem übersehen Proponenten von (WPutnam’81) ein Problem, das sich im Blick auf alle Aussagen stellt, für die erstens gilt, dass sie de facto niemals unter idealen epistemischen Bedingungen geprüft werden, und zweitens, dass ihr Wahrheitswert ein anderer wäre als er es de facto ist, wenn sie unter idealen epistemischen Bedingungen geprüft werden würden. Dazu unten, Abschnitt VI.4.
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217
Aussage p sind in den weitaus meisten Fällen nicht identisch mit den Bedingungen der begründeten Behauptbarkeit einer beliebigen anderen Aussage q.41 Warum sollte dies im Fall idealer Bedingungen der begründeten Behauptbarkeit von Aussagen anders sein? Auf den hier einschlägigen Punkt hat, allerdings mit Bezug auf den Begriff der Verifikation, schon Alfred J. Ayer hingewiesen: „One can describe how one would set about verifying any given statement, but one cannot describe how one would set about verifying statements in general for the very good reason that they are not all verified in the same way.“42
Weil die Bedingungen begründeter Behauptbarkeit von Aussage zu Aussage verschieden sein können, läuft jeder generelle Verweis auf ideale Bedingungen des begründeten Behauptens von Aussagen überhaupt im Kontext einer Erläuterung des Wahrheitsbegriffs Gefahr, uninformativ und leer zu sein. Putnam hat diesem Punkt im Vorwort zu „Realism with a Human Face“ Rechnung getragen43: „By an ideal epistemic situation I mean something like this: If I say ‘There is a chair in my study,’ an ideal epistemic situation would be to be in my study with the lights on or with daylight streaming through the window, with nothing wrong with my eyesight, with an unconfused mind, without having taken drugs or been subject to hypnosis, and so forth, and to look and see if there is a chair there. Or, to drop the notion of ‚ideal‘ altogether, since that is only a metaphor, I think there are better and worse epistemic situations with respect to particular statements.“44
Putnam distanziert sich hier zunächst von seiner in „Reason, Truth and History“ vertretenen These, dass ideale epistemische Bedingungen grundsätzlich nicht vollständig realisiert beziehungsweise erreicht werden können: „[W]e cannot really attain epistemically ideal conditions“45. Er bezieht 41
42 43 44 45
Diese Voraussetzung liegt etwa dem semantischen Assertibilismus zugrunde, der davon ausgeht, dass eine Bedeutungstheorie für deklarative Sätze nicht von Wahrheits-, sondern von Begründbarkeits- oder auch Behauptbarkeitsbedingungen ausgehen sollte. Eine solche Bedeutungstheorie, von Putnam eine Zeit lang unter dem Titel ‚verifikationistische Semantik‘ (vgl. etwa Putnam 1978, S. 128) vertreten, kann die Differenz der Bedeutung verschiedener Sätze nur dadurch verständlich machen, dass sie ihnen verschiedene Begründbarkeitsbedingungen zuweist. Ayer 1963, S. 169. Vgl. auch Putnam 1988, S. 115. Putnam 1990, S. viii. Putnam 1981, S. 55.
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IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
seine dort noch vollkommen generelle Rede von epistemisch idealen Bedingungen auf einzelne Aussagen und schlägt dann vor, das Konzept idealer epistemischer Bedingungen vollständig fallen zu lassen und nur noch von besseren und schlechteren epistemischen Bedingungen zu sprechen. Damit legt er die folgende epistemische Wahrheitsäquivalenz nahe: (WPutnam’90) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn wir die Frage, ob p, unter Bedingungen beantworten würden, die für die Beantwortung dieser Frage hinreichend gut wären, dann würden wir mit guten Gründen behaupten, dass p. Anders als in (WPutnam’81) wird in (WPutnam’90) zwar nicht mehr auf den Platzhalter eines Konzepts von Bedingungen rekurriert, unter denen eine beliebige wahre Aussage begründet behauptbar wäre, um aber informativ zu sein, müsste jede Instanz von (WPutnam’90) mit einer Spezifizierung von hinreichend guten epistemischen Bedingungen für eine begründete Einschätzung des Wahrheitswerts derjenigen Aussage einhergehen, durch die (WPut46 Wie könnte dabei vorgegangen werden? nam’90) jeweils instantiiert wird. Da (WPutnam’90) begründete Behauptbarkeit unter hinreichend guten epistemischen Bedingungen als eine notwendige und hinreichende Bedingung für Wahrheit ins Spiel bringt, müsste jeder Versuch, eine derartige Spezifizierung im Blick auf eine gegebene Aussage p zu liefern, letztlich an dem Ziel orientiert sein, eine Liste von epistemischen Bedingungen C1,..., Cn derart aufzustellen, dass gilt: Wenn wir die Frage, ob p, unter den Bedingungen C1,..., Cn beantworten würden, dann wäre es ausgeschlossen, dass wir mit unserer Antwort falsch liegen. Mit anderen Worten, eine Liste C1,..., Cn spezifiziert für eine gegebene Aussage p nur dann hinreichend gute epistemische Bedingungen, wenn gilt: 46
An diesen Gedanken Putnams knüpft Wright mit seinem Postulat an, dass in Bezug auf jede gegebene Aussage p eine konstruktive und informative Spezifikation der Bedingungen geliefert werden müsse, unter denen der Wahrheitswert von p feststellbar wäre. Vgl. Wright 2000.
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Unter den Bedingungen C1,..., Cn würden wir genau dann zu der begründeten Behauptung gelangen, dass p, wenn p wahr ist, und genau dann zu der begründeten Behauptung, dass non-p, wenn p falsch ist. Auch bei (WPutnam’90) handelt es sich daher um eine implizit zirkuläre Explikation des Wahrheitsbegriffs. Bislang wurde die implizite Zirkulärität von (WPutnam’81) und (WPutnam’90) ausschließlich im Blick auf die in ihnen verwendeten Begriffe idealer respektive hinreichend guter epistemischer Bedingungen herausgestellt. Den Ansatz für einen zweiten Zirkularitätsnachweis liefern die sowohl in (WPutnam’81) wie auch in (WPutnam’90) verwendeten Konzepte ‚Behauptung‘ und ‚Begründung‘. Wenn die in Kapitel I gegebene (Teil-)Rekonstruktion der Behauptungspraxis zutrifft, dann leistet der Wahrheitsbegriff in der Erläuterung dessen, was es heißt, eine Behauptung aufzustellen, unverzichtbare Explikationsarbeit. Dasselbe gilt a fortiori für die Erläuterung dessen, was es heißt, eine normativ korrekte Behauptung aufzustellen. Der Zusammenhang zwischen ‚Behauptung‘ und ‚Wahrheit‘ wurde oben zunächst im Rekurs auf das Konzept des Wahrheitsanspruchs rekonstruiert (I.1) und dann (I.2) durch die konstitutive Norm (WAB) gekennzeichnet: (WAB) Eine gegebene Sprechhandlung H eines Sprechers S ist nur dann eine Behauptungshandlung, wenn S im performativen Teil von H einen Wahrheitsanspruch für den propositionalen Gehalt von H erhebt. Indem Sprecher mit ihren Behauptungen Wahrheitsansprüche erheben, erkennen sie implizit zugleich an, dass eine Behauptungshandlung nur dann normativ korrekt ist, wenn ihr propositionaler Gehalt wahr ist. Die Wahrheit einer gegebenen Aussage p gehört insofern selbst zu den notwendigen Bedingungen der normativen Korrektheit jeder Behauptung von p. Dieser Zusammenhang wurde oben durch die regulative Norm (WNB) und ihr deklaratives Äquivalent (WNB’) gekennzeichnet: (WNB’) Es ist nur dann normativ korrekt, zu behaupten, dass p, wenn die Aussage p wahr ist. In der Diskussion verschiedener Kontexte der Zuschreibung begründeter Überzeugungen ist ferner deutlich geworden, dass der epistemische Sinn des Lieferns von Gründen für und gegen die propositionalen Gehalte von
220
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
problematisierten Behauptungen in erster Linie darin besteht, eine rationale Einschätzung des Wahrheitswerts dieser propositionalen Gehalte zu ermöglichen. Auf der Basis von Gründen entscheiden wir, ob für eine gegebene Aussage ein Wahrheitsanspruch erhoben werden darf oder nicht (I.5). Treffen diese Erläuterungen zu, dann ist der Wahrheitsbegriff unauflösbar mit unserem Verständnis der Behauptungs- und Begründungspraxis verwoben und kann daher im Rekurs auf Konzepte wie ‚berechtigte Behauptbarkeit‘ (‚warranted assertibility‘), ‚begründete Behauptbarkeit‘ (‚justified assertibility‘) und ‚rationale Akzeptierbarkeit‘ (‚rational acceptability‘) jedenfalls nicht zirkelfrei expliziert werden. Putnam hat diesen Punkt schon in „Representation and Reality“ eingeräumt und dort die These vertreten, dass zwischen dem Begriff der Wahrheit und dem der rationalen Akzeptierbarkeit keine eindeutige reduktive Erklärungsrichtung besteht: „[T]ruth and rational acceptability are interdependent notions.“47 Er bestreitet dort ferner explizit, mit seiner ‚intern-realistischen‘ Erläuterung des Wahrheitsbegriffs jemals den Anspruch verbunden zu haben, eine analytische und reduktive Definition zu liefern: „I am not offering a reductive account of truth, in any sense“48. An anderer Stelle betont Putnam die Zirkularität von (WPutnam’81) sogar: „[A]n ideal epistemic situation is one in which we are in a good position to tell if p is true or false.“49 Trotzdem werden Putnams wahrheitstheoretische Thesen immer wieder als Analyseund Definitionsversuche gelesen.50 So zum Beispiel von Michael Williams: 47
48 49 50
Putnam 1988, S. 115. Vgl. auch schon Putnam 1981, S. 56, wo er seine dort gegebene Charakterisierung von Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit unter idealen epistemischen Bedingungen nicht als Definition, sondern als ‚informal elucidation‘, also als informelle Erläuterung, einführt: „I am not trying to give a formal definition of truth, but an informal elucidation of the notion.“ Putnam 1988, S. 115. Putnam 1991, S. 421. Mit der folgenden Bemerkung legt Putnam nahe, dass diese Lesart nicht völlig aus der Luft gegriffen ist,: „It was the hope that […] truth might actually be reduced to notions of ‘rational acceptability’ and ‘better and worse epistemic situation’ that did not themselves presuppose the notion of truth that was responsible for the residue of idealism in Reason, Truth and History.“ (Putnam 1992, S. 373.) Insoweit diese Selbstbeschreibung zutrifft, stand im Hintergrund der ‚informal elucidation‘ des Wahrheitsbegriffs in „Reason, Truth and History“ also doch die Vorstellung,
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
221
„[I]f we understand anything by ‘ideal justification’, it is in virtue of our prior grasp of the notion of truth. Ideally justified beliefs are beliefs formed under conditions in which all relevant sources of error are either absent or have been allowed for, which is as good as to say under conditions in which there are no obstacles to determining the truth. We cannot give an informative analysis of truth in terms of ‘ideal justification’ because the latter phrase is either empty or understood in terms of truth.“51
Wenn man (WPutnam’81) und (WPutnam’90) mit Williams als Versuche einer analytischen Definition des Wahrheitsbegriffs liest, dann wird man zwangsläufig zu der Schlussfolgerung gelangen, dass diese Versuche aufgrund ihrer Zirkularität scheitern. Man muss sie aber nicht so lesen. Williams hat zwar Recht, wenn er sagt, dass es nicht möglich ist, eine reduktive Analyse des Wahrheitsbegriffs im Rekurs auf das Konzept der idealen Begründbarkeit oder auch das der rationalen Behauptbarkeit unter hinreichend guten epistemischen Bedingungen zu liefern. Damit ist aber nicht schon ausgemacht, dass (WPutnam’81) und (WPutnam’90) auch als Erläuterungen des Zusammenhangs zwischen den Konzepten ‚Begründung‘, ‚Behauptung‘, ‚Wahrheit‘ und ‚epistemische Praxis‘ gehaltlos sind. Williams bringt unausgesprochen die Voraussetzung ins Spiel, dass man mit Hilfe eines Begriffs B nur dann etwas Informatives über einen Begriff A sagt, wenn das, was man mit Hilfe von B sagt, die Form einer zirkelfreien Analyse und Definition von A aufweist. Diese Voraussetzung ist aber allemal fragwürdig und begründungsbedürftig, versteht sich jedenfalls nicht von selbst.
IV.4
Wahrheit und Konsens
Auch die Konsenstheorien von Peirce, Habermas und Apel liefern, wie nun gezeigt werden soll, zirkuläre Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs. Weder Peirce noch Apel oder Habermas wollen behaupten, dass eine Aussage ge-
51
dass sich der Wahrheitsbegriffs im Rekurs auf epistemische Konzepte reduktiv definieren lassen würde. Vgl. dazu Schantz 1996, S. 330 f., und Künne 2003, S. 413. Williams 1996, S. 236, vgl. auch S. 237: „If our understanding of ideal justification, to the extent that we have any, depends on our grasp of the notion of truth, there may well be a conceptual connection between truth and ideal justification, but not because truth is an epistemic notion in disguise.“ Derselbe Einwand gegen Putnam findet sich in Wellmer 2004, S. 225 f.
222
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
nau dann wahr ist, wenn sie faktisch konsensfähig ist. Explikationsleistungen muten sie vielmehr jeweils dem Begriff eines Konsenses zu, der bestimmte normative Bedingungen erfüllt. Ebenso wie Putnams Rückgriff auf die Idee idealer epistemischer Bedingungen als Antwort auf die Frage verstanden werden kann, unter welchen Voraussetzungen begründete Behauptbarkeit faktiv wäre, können Peirces, Habermas’ und Apels Rekurse auf verschiedene Idealisierungen der Eigenschaften von Konsensbildungsprozessen als Antworten auf die Frage verstanden werden, unter welchen Bedingungen das Erzielen eines Konsenses faktiv wäre. Welchen Bedingungen B müsste ein Konsens genügen, damit die Konjunktion des Satzes ‚Der Konsens K wurde unter B-Bedingungen erreicht.‘ und des Satzes ‚Der propositionale Gehalt von K ist nicht wahr.’ widersprüchlich wäre? Wie in Kapitel III deutlich wurde, antwortet Peirce: Der Konsens K müsste in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F erreicht werden und dann in F stabil bleiben. Habermas antwortet: Ein solcher Konsens müsste unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation zustande kommen. Und Apel antwortet: Ein solcher Konsens müsste in einer idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft erzielt werden.
IV.4.1
Konsens der Forschergemeinschaft – Peirce
Im dritten Kapitel wurde die folgende epistemische Äquivalenz als Kernstück der Peirceschen Konsenstheorie der Wahrheit rekonstruiert: (WPeirce) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn in Bezug auf die Frage, ob p, ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F stattfinden würde, dann würde sich zu irgendeinem Zeitpunkt von F ein stabiler Konsens in der an F beteiligten Forschergemeinschaft einstellen, der die Aussage p zum propositionalen Gehalt hätte. Wissenschaftliche Forschung vollzieht sich Peirce zufolge als ein Zusammenspiel abduktiver Hypothesenbildung, deduktiver Ableitung von Vorhersagen aus den jeweils angenommenen Hypothesen im Blick auf be-
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
223
stimmte experimentell herstellbare Randbedingungen und induktiver Überprüfung der Hypothesen im Experiment.52 In seiner Erläuterung der drei Schlussformen Deduktion, Induktion und Abduktion bringt Peirce nun durchgängig den Wahrheitsbegriff ins Spiel. Ein Schluss respektive ein Argument ist Peirce zufolge deduktiv gültig, „[...] in case the premisses could not under any hypothesis, not involving contradiction, be true, without the conclusion being also true. If this is so in fact, while the argument fails to make it evident, it is a bad argument rhetorically, and yet is valid; for it absolutely leads to the truth if the premisses are true.“
Mit Blick auf induktive Schlüsse schreibt Peirce: „The validity of an inductive argument consists [...] in the fact that it pursues a method which, if duly persisted in, must, in the very nature of things, lead to a result indefinitely approximating to the truth in the long run.“
Und auch die Legitimität von Abduktionen, also von Schlüssen auf die beste Erklärung, erläutert Peirce durch den Hinweis darauf, dass fortgesetzte abduktive Hypothesenbildung in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess F auf lange Sicht dazu führen würde, dass die an F Beteiligten wahre Hypothesen bilden würden: „The validity of a presumptive adoption of a hypothesis for examination consists in this, that the hypothesis being such that its consequences are capable of being tested by experimentation, and being such that the observed facts would follow from it as necessary conclusions, that hypothesis is selected according to a method which must ultimately lead to the discovery of the truth“.53
52
53
Vgl. Peirce 1931-1938, 2.619-2.644, 2.773-2.807 u. 5.171-5.174. „Presumption, or, more precisely, abduction [...] furnishes the reasoner with the problematic theory which induction verifies.“ (2.776) Den Begriff der Verifikation verwendet Peirce hier in einem weiten Sinn, der sowohl Bestätigung (confirmation) als auch Abschwächung (disconfirmation) umfasst. Dies wird in der folgenden Passage deutlich: „Induction takes place when the reasoner already holds a theory more or less problematically [...]; and having reflected that if that theory be true, then under certain conditions certain phenomena ought to appear [...], proceeds to experiment, that is, to realize those conditions and watch for the predicted phenomena. Upon their appearance he accepts the theory with a modality which recognizes it provisionally as approximately true.“ (2.775, 2. Hervorhebung B.R.) Zu Peirces Rede von Theorien als ‚approximately true‘ vgl. oben, Abschnitt III.2, S. 166 f. Alle drei Zitate: Peirce 1931-1938, 2.781.
224
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
Im vorliegenden Zusammenhang geht es mir nicht um die Frage, ob es sich bei Peirces Erläuterungen der Gültigkeitsbegriffe für deduktive, induktive und abduktive Schlüsse um gute Erläuterungen handelt, sondern nur um den Hinweis, dass Peirce den Wahrheitsbegriff in seine Rekonstruktion der Forschungspraxis bereits investiert.54 Auf der rechten Seite von (WPeirce) wird nicht der Begriff irgendeines Konsenses, sondern derjenige einer übereinstimmenden und stabilen Meinung verwendet, die sich in einem zeitlich unbegrenzt fortgesetzten Forschungsprozess zu einer gegebenen Frage einstellen würde. Indem Peirce den Wahrheitsbegriff in seine Rekonstruktion der Forschungspraxis investiert, investiert er ihn also zugleich auch in den Konsensbegriff, der auf der rechten Seite von (WPeirce) gebraucht wird. Seine Erläuterung von ‚Wahrheit‘ durch das Konzept eines stabilen Konsenses, der sich in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess einstellen würde, ist daher jedenfalls als Definition des Wahrheitsbegriffs inakzeptabel, weil zirkulär. Die Frage, ob Peirce durch seine Konsenstheorie überhaupt eine Definition des Wahrheitsbegriffs liefern will, wird freilich von einigen Peirce-Experten negativ beantwortet.55 Diese negative Antwort liegt nahe, weil Peirce seine Wahrheitsexplikation nicht im Sinne einer ‚abstract definition‘, sondern als Resultat einer ‚Anwendung‘ der Pragmatischen Maxime versteht.56 Dennoch liegt die stillschweigende Voraussetzung, dass er eine Definition liefern will, vielen Diskussionen und zumal Kritiken der Peirceschen Konzeption zugrunde und präjudiziert deren Resultate.57
54
55
56 57
Strittig sind vor allem Peirces Bemerkungen zu Induktion und Abduktion. Für eine Rekonstruktion der Argumente, die Peirce zu ihrer Begründung anführt, vgl. Apel 1975, S. 96-106. Vgl. Misak 1991, S. 42–45; Hookway 2000, S. 49-65, Hookway 2004; Wiggins 2004. Vgl. dazu oben III.2. Vgl. etwa die oben bereits zitierte Bemerkung Rortys zu „Peirce’s unfortunate attempt […] to define truth in terms of the ‘end of inquiry’“ (Rorty 1986, S. 334).
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
IV.4.2
225
Konsens und ideale Sprechsituation – Habermas
In seinem Aufsatz „Wahrheitstheorien“58 von 1972 stellt Habermas einige sehr anspruchsvolle Thesen auf, mit denen er einen wahrheitstheoretisch relevanten Zusammenhang zwischen dem Wahrheitsbegriff einerseits und dem Konzept eines bestimmte normative Bedingungen erfüllenden argumentativen Konsenses andererseits behauptet. So will er dort sowohl die Frage nach dem Sinn und dem richtigen Verständnis von ‚Wahrheit‘ als auch die Frage nach einem Kriterium für die Unterscheidung wahrer von falschen Aussagen im Rekurs auf ein kommunikationstheoretisch idealisiertes Konzept argumentativer Konsensfähigkeit beantworten. Wahr ist, so Habermas’ damalige These, was sich unter den Bedingungen einer „idealen Sprechsituation“59 rein argumentativ als intersubjektiv anerkennungs- und daher konsensfähig erweisen würde, und ein solcherart erreichter Konsens könne für diejenigen, die an ihm teilhätten, zugleich auch als „Wahrheitskriterium“60 dienen. Habermas hat diese Thesen dann in einer Reihe von Revisionen zurückgenommen. Die erste Revision betraf die kriteriologischen Ansprüche, die anfänglich mit seiner Konsenstheorie verbunden waren: „Die Rede von Wahrheitskriterium ist irreführend. Die Konsenstheorie erklärt die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs, allerdings mit Bezugnahme auf eine Prozedur – nicht zwar der Wahrheitsfindung, aber der Einlösung von Wahrheitsansprüchen.“61
Die Behauptung, dass sich die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs konsenstheoretisch klären lasse, hat Habermas dann in Texten aus den 1990er Jahren endgültig verabschiedet.62 Nachvollziehbar werden diese Revisionen, wenn man sie vor dem Hintergrund des größeren Argumentationszusammenhangs und im Kontext der weiteren theoretischen Festlegungen be58 59 60 61
62
Habermas 1984a. Habermas 1984a, S. 174, vgl. bes. S. 174-183. Habermas 1984a, S. 160 und S. 171. Habermas 1984a, S. 160, Anm. 32, Hervorhebung B.R. Diese Bemerkung ist ein Zusatz, den Habermas im Jahr 1983 seiner Charakterisierung des argumentativen Konsenses als Wahrheitskriterium hinzugefügt hat. Vgl. dazu auch Habermas 1986, S. 352. Vgl. Habermas 1999b, 1999c und 1999d.
226
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
trachtet, in denen sie stehen. Hält man sich an die von Habermas in der Einleitung zu „Wahrheit und Rechtfertigung“ gegebene Charakterisierung der Zielsetzungen, die seiner „Sprachpragmatik [...] seit Beginn der 70er Jahre“ zugrunde lagen, dann stand auch im Hintergrund der Konsenstheorie nicht primär ein Interesse an theoretisch-philosophischen, sondern eines an praktisch-philosophischen Fragen und Problemstellungen. Die Konsenstheorie der Wahrheit erscheint dann als Teil des Projekts, „die Grundlage einer kritischen Gesellschaftstheorie und [...] [einer] diskurstheoretischen Auffassung von Moral, Recht und Demokratie“63 zu schaffen. Ich will diese Konstellation hier nur knapp im Blick auf das Verhältnis zwischen der Konsenstheorie der Wahrheit und Habermas’ kognitivistischem Verständnis moralischer Urteile andeuten. Habermas’ wahrheitstheoretische Überlegungen von 1972 hängen unter anderem mit seinem Versuch zusammen, „eine erkenntnisanaloge Auffassung der Moral“, also die These, dass moralisches Wissen möglich ist, zu vertreten, ohne sich zugleich auf die Anerkennung einer Spielart des moralischen Realismus festzulegen, die den Gültigkeitssinn von moralischen Präskriptionen, welche „sagen, was der Fall oder nicht der Fall sein soll“, an denjenigen von deskriptiven Aussagen angleicht, „die sagen, was der Fall ist“. Um sinnvoll von moralischem Wissen und Irrtum – anstatt bloß von moralischen Ansichten, Präferenzen oder Entscheidungen – sprechen zu können, muss nachgewiesen werden, dass moralische Präskriptionen in einem hinreichend anspruchsvollen Sinn gültig oder ungültig sein können. Anderenfalls ist es unangemessen, moralische Diskurse über die Anerkennungswürdigkeit von Normen unter dem kognitivistischen Gesichtspunkt als Versuche zu verstehen, im Blick auf die jeweils thematischen Handlungsorientierungen zu einem intersubjektiv geteilten „moralischen Wissen“64 zu gelangen. Ein ‚moralischer Kognitivismus ohne moralischen Realismus‘ kann nun nach Habermas nur dann auf kohärente Weise vertreten werden, wenn sich ein zwar ‚wahrheitsanaloger‘, aber doch von Wahrheit verschiedener Gültigkeitssinn moralischer Normen rekonstruieren lässt; und dieses Unternehmen habe wiederum nur dann Aussichten auf Erfolg, wenn eine Alternative zu korrespondenztheoretischen Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs 63 64
Beide Zitate: Habermas 1999d, S. 7. Die letzten drei Zitate: Habermas 1999c, S. 273.
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zur Verfügung stehe. Die Konsenstheorie der Wahrheit sollte genau diese Alternative bereitstellen und so die Möglichkeit eröffnen, einen ‚wahrheitsanalogen‘ Gültigkeitssinn moralischer Normen zu denken, ohne sich dabei an dem Modell einer ‚Übereinstimmung mit Tatsachen‘ zu orientieren. In den „Erläuterungen zur Diskursethik“ heißt es dazu: „Wenn wir [...] propositionale Wahrheit als einen mit konstativen Sprechakten erhobenen Anspruch verstehen, der nur diskursiv, also unter den anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen einer Argumentation eingelöst werden kann, braucht der mit regulativen Sprechakten erhobene wahrheitsanaloge Anspruch auf normative Richtigkeit nicht länger mit Korrespondenzvorstellungen belastet zu werden. Das auf einer höheren Allgemeinheitsstufe angesiedelte Konzept des Geltungsanspruchs läßt Raum für die Spezifizierung verschiedener Geltungsansprüche.“65
Nicht zuletzt durch Einwände Albrecht Wellmers66 veranlasst, betont Habermas in seinen neueren wahrheitstheoretisch relevanten Texten weniger die Gemeinsamkeiten, die zwischen argumentativen Wahrheits- und Richtigkeitsansprüchen bestehen, als vielmehr die Differenzen zwischen dem Gültigkeitssinn moralischer Normen und demjenigen deskriptiver Aussagen.67 Die hauptsächliche Differenz zeige sich in der jeweils unterschiedlichen Art und Weise, auf die empirische Wahrheitsansprüche einerseits und moralische Richtigkeitsansprüche andererseits problematisch werden: Wahrheitsansprüche scheitern, so Habermas, letztlich an dem „praktisch erfahrenen Dementi eines Mißerfolgs, mit dem die Welt performativ ihre Bereitschaft zum Mitspielen widerruft“. Wenn unsere Theorien und Meinungen die Tatsachen verfehlen, dann zeige sich dies also vor allem daran, dass Handlungen misslingen, in deren Planung diese Theorien und Meinungen eine Rolle spielen. Moralische Richtigkeitsansprüche dagegen „[...] scheitern nicht an der Resistenz einer von allen Beteiligten als identisch unterstellten objektiven Welt, sondern an der Unauflösbarkeit eines normativen Dissenses zwischen Gegenspielern in einer gemeinsamen sozialen Welt.“68
Ausgehend von dieser Entgegensetzung ‚diskurstranszendenter Wahrheitsbedingungen‘ und ‚diskursimmanenter Bedingungen moralischer Richtig65 66 67 68
Habermas 1991, S. 130. Vgl. Habermas 1996, S. 354; 1999b, S. 256 f., u. 1999d, S. 50. Vgl. Habermas 1999d, S. 15 f. und S. 48-55. Die letzten beiden Zitate: Habermas 1999c, S. 294 f.
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keit‘ ist Habermas inzwischen zu der Einschätzung gelangt, dass sich zwar der moralische Richtigkeits-, nicht aber der Wahrheitsbegriff konsenstheoretisch explizieren lasse: „Während ‚Richtigkeit‘ ein epistemischer Begriff ist und nichts anderes bedeutet als universale Anerkennungswürdigkeit, geht der Sinn der Wahrheit von Aussagen auch nicht in noch so anspruchsvollen epistemischen Bedingungen der Bewährung auf: truth goes beyond idealized justification.“69
Ging es Habermas also zunächst darum, den Wahrheitsbegriff so zu explizieren, dass ein wahrheitsanaloger Gültigkeitssinn moralischer Normen ohne gleichzeitige Festlegung auf einen moralischen Realismus denkbar wird, so verabschiedet er später, da mit dem diskurstheoretischen Konzept der ‚universalen Anerkennungswürdigkeit‘ eine haltbare Erläuterung des Gültigkeitsbegriffs für moralische Normen gefunden scheint, seine konsenstheoretische Explikation des Sinns von ‚Wahrheit‘.70 Seit Mitte der 1990er Jahre vertritt Habermas nicht allein die Ansicht, „daß sich der Diskursbegriff der Wahrheit einer Überverallgemeinerung des speziellen Falls der Geltung moralischer Urteile und Normen verdankt“71, sondern sogar die These, dass ein grundlegender Fehler epistemischer Wahrheitskonzeptionen im Allgemeinen und der von ihm früher vertretenen diskurstheoretischen Wahrheitsexplikation im Besonderen gerade darin bestehe, „[...] daß sie die Aussagenwahrheit im Sprachspiel der Argumentation, also dort aufsuchen, wo problematisch gewordene Wahrheitsansprüche ausdrücklich zum Thema gemacht werden.“72
Die folgenden Überlegungen betreffen Habermas’ Konsenstheorie nur in derjenigen Form, in der er sie in „Wahrheitstheorien“ programmatisch formuliert hat. Auf seine neueren wahrheitstheoretischen Festlegungen komme ich in V.2 zurück.
69 70
71 72
Habermas 2002, S. 297. Vgl. Habermas 1999c, S. 297: „Ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit ist das, was wir mit moralischer Geltung meinen; sie bedeutet nicht nur, daß das Für und Wider in Ansehung eines kontroversen Geltungsanspruchs erschöpft ist, sondern sie selbst erschöpft den Sinn von normativer Richtigkeit als Anerkennungswürdigkeit.“ Habermas 1999d, S. 15 f. Habermas 1999c, S. 290.
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Die für Habermas’ Konsenstheorie von 1972 zentraleThese zur Bedeutung des Wahrheitsbegriffs kann durch die folgende epistemische Wahrheitsäquivalenz wiedergegeben werden: (WHabermas‘72) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn p unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation argumentativ geprüft werden würde, dann würde p den Konsens der an dieser Argumentation Beteiligten finden. (WHabermas‘72) liegt zunächst eine Identifizierung von Wahrheit mit einem Gültigkeitsanspruch der Rede zugrunde: „Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten.“73 Mit dieser Einbettung des Wahrheitsproblems in den sprachpragmatischen Kontext von Behauptungshandlungen wird der spezifische Gesichtspunkt deutlich, unter dem Habermas die Frage nach dem Sinn des Prädikats ‚ist wahr‘ stellt und beantwortet. Er versteht und beantwortet sie von vornherein als Frage nach den Bedingungen, unter denen Wahrheitsansprüche von potentiellen Diskurspartnern zu Recht erhoben werden: „Eine Aussage ist wahr, wenn der Geltungsanspruch der Sprechakte, mit denen wir, unter Verwendung von Sätzen, jene Aussage behaupten, berechtigt ist.“ Die Bedingungen des berechtigten Erhebens von Wahrheitsansprüchen erläutert Habermas sodann durch das Konzept der „diskursive[n] Einlösung von Geltungsansprüchen“: „[E]inlösen lässt sich ein Wahrheitsanspruch nur durch Argumente.“74 Da faktische Argumentationen „grundsätzlich Restriktionen unterworfen“75 sind, die verhindern können, dass relevante Gründe und Argumente angemessen berücksichtigt werden, führt Habermas an dieser Stelle die Idee einer idealen Sprechsituation ein. Er charakterisiert die ideale Sprechsituation dann allerdings durch Bedingungen, die ausschließlich die Anerkennungs- und Gleichberechtigungsverhältnisse zwischen potentiellen Argumentations- und Diskurspartnern betreffen.76 Diese Bedingungen postulieren die symmetrische Chancengleichheit potentieller 73 74 75 76
Habermas 1984a, S. 129, Hervorhebung B.R. Die letzten drei Zitate: Habermas 1984a, S. 135 f. Habermas 1984a, S. 179. Vgl. Habermas 1984a, S. 177 f.
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Diskursteilnehmer, Sprechakte auszuführen und durch das Infragestellen von Geltungsansprüchen argumentative Diskurse zu eröffnen, „so daß keine Vormeinung auf Dauer der Problematisierung entzogen bleibt.“77 Sie charakterisieren sodann die moralisch und ethisch relevanten Verhältnisse, die zwischen potentiellen Diskursteilnehmern im Kontext ihres gesellschaftlich-politischen Zusammenlebens bestehen müssten: Echte, also ausschließlich vom „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“78 geleitete Diskurse können nach Habermas nur dann zustande kommen, wenn den Diskursteilnehmern auch in den intersubjektiven Kontexten alltäglichen Handelns der egalitäre Status freier Personen zukommt. Habermas hat sich später von diesen starken ethisch-politischen Implikationen seiner Konsenstheorie, die er in „Wahrheitstheorien“ noch als utopischen „Vorschein einer Lebensform“79 deutet, distanziert. Ihrer Sache nach hält er aber weiterhin an der Idee einer idealen Sprechsituation als Bedingung ‚echter argumentativer Diskurse‘ fest: „Die vier wichtigsten Präsuppositionen [argumentativer Diskurse, B.R.] sind: (a) Öffentlichkeit und Inklusion: niemand, der im Hinblick auf einen kontroversen Geltungsanspruch einen relevanten Beitrag leisten könnte, darf ausgeschlossen werden; (b) kommunikative Gleichberechtigung: allen wird die gleiche Chance gegeben, sich zur Sache zu äußern; (c) Ausschluss von Täuschung und Illusion: die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen; (d) Zwanglosigkeit: die Kommunikation muss frei sein von Restriktionen, die verhindern, dass das bessere Argument zum Zuge kommt und den Ausgang der Diskussion bestimmt.“80
Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nur die Frage, ob die von Habermas in sein Konzept einer idealen Sprechsituation investierten Idealisierungen und ‚kontrafaktischen Unterstellungen‘81 hinreichen, um die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs allein im Rückgriff auf die Idee eines Konsenses unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation zu explizieren. Dies war ja das selbsterklärte Ziel in „Wahrheitstheorien“. Den triftigsten Einwand dagegen, diese Frage affirmativ zu beantworten, deutet K.-O. Apel an. Mit seiner Charakterisierung der Bedingungen einer idealen 77 78 79 80 81
Habermas 1984a, S. 177. Habermas 1984a, S. 161. Habermas 1984a, S. 181. Habermas 2001, S. 45, vgl. auch Habermas 1999d, S. 49. Vgl. Habermas 1984a, S. 180.
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Sprechsituation erwecke Habermas den „Eindruck“, er wolle behaupten, dass „[...] die Gewährleistung der Regel-Bedingungen einer ‚idealen Sprechsituation‘ eo ipso auch schon eine epistemologisch relevante, optimale Auswertung der sachlichen Wahrheitskriterien garantieren [könne]. Dieser Eindruck wiederum scheint darauf zu beruhen, daß Habermas die kriteriologische Funktion der Konsenstheorie eher kommunikations-theoretisch – in der Gewährleistung des unverzerrten Diskurses im Sinne der Einlösung von Geltungsansprüchen – als epistemologisch – in der Gewährleistung der konsensfähigen Auswertung (z. B. Interpretation) der verfügbaren sachlichen Wahrheitskriterien – erblickt.“82
Der Kern dieser sehr vorsichtigen Formulierung Apels lässt sich so pointieren: Wir könnten uns gegenseitig als Argumentationspartner und als Personen achten und respektieren, wir könnten uns reziprok alle nur sinnvoll denkbar anspruchsvollen egalitären Rede-, Einspruchs-, Nachfrage- und Bedenkzeitrechte einräumen – und trotzdem könnte es sein, dass konsensuelle Resultate unserer Argumentationsbemühungen falsch wären. Warum? Weil es auch in Argumentationen, in denen ideale intersubjektive Anerkennungs- und Gleichberechtigungsverhältnisse herrschen würden, nicht ausgeschlossen wäre, dass mit falschen Prämissen argumentiert wird oder wahre Prämissen auf inkorrekte Art und Weise argumentativ verwendet werden. Ferner würden ideale intersubjektive Anerkennungsverhältnisse von sich aus nicht garantieren, dass alle relevanten Informationen verfügbar sind. Eine konsensuell anerkannte Aussage p kann selbst dann falsch sein, wenn in ihrer Begründung nur wahre Aussagen verwendet wurden und diese wahren Aussagen ferner von den am Begründungsprozess Beteiligten vor dem Hintergrund ihres gegebenen Informationsstands auch auf epistemisch rationale und verantwortliche Weise als gute Gründe für p behandelt wurden. Denn wahre Aussagen, die im Kontext eines gegebenen Informationsstands I für die Wahrheit von p sprechen, können diese Begründungsfunktion im Zusammenhang eines erweiterten Informationsstands I* verlieren. Habermas bringt in seiner Charakterisierung der idealen Sprechsituation nur solche kontrafaktischen Annahmen ins Spiel, die sich auf die normativen Merkmale interpersonaler Anerkennungsverhältnisse zwischen 82
Apel 1998a, S. 122. Vgl. auch Apel 2002a, S. 119 f., und Apel 2003, S. 179. Derselbe Einwand findet sich in Wellmer 1993a, S. 159.
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Diskurspartnern beziehen. Belässt man es bei diesen Idealisierungen, dann ist Habermas’ Konsenstheorie von 1972 als Angebot einer Erläuterung des Wahrheitsbegriffs zwar nicht offensichtlich zirkulär, aber vollkommen unplausibel. Denn warum sollte die Konsensfähigkeit einer gegebenen Aussage p unter den von Habermas beschriebenen Voraussetzungen eine hinreichende Bedingung für die Wahrheit von p darstellen? Aus der Aussage, dass p sich in einer idealen Sprechsituation als konsensfähig erweisen würde, folgt jedenfalls solange nicht die Aussage, dass p wahr ist, wie keine zusätzlichen Annahmen zur Beschaffenheit einer idealen Sprechsituation gemacht werden, die über die von Habermas ins Spiel gebrachten hinausgehen.83 Die Rechts-Links-Richtung der Äquivalenz (WHabermas‘72) ist daher falsch. Eine Möglichkeit, die Falschheit der Links-Rechts-Richtung von (WHabermas‘72) zu verdeutlichen, besteht wiederum in dem einfachen Hinweis auf die Tatsache, dass Informationen, Einwände und Gründe, die für die Feststellung des Wahrheitswerts einer gegebenen Aussage p unverzichtbar wären, verloren gehen können, so dass sie auch in einer Argumentationssituation, die unter Anerkennungsgesichtspunkten normativ ideal strukturiert wäre, nicht per se verfügbar wären.84 Die Wahrheit einer gegebenen Aussage p ist daher auch keine hinreichende Bedingung für die argumentative Konsensfähigkeit von p in einer idealen Sprechsituation. Ergänzt man die von Habermas ins Spiel gebrachten Idealisierungen um die von Apel eingeforderten kontrafaktischen Annahmen der Verfügbarkeit aller relevanten Argumente und Informationen sowie der „optimale[n] Auswertung“85 derselben, dann ist (WHabermas‘72) zwar möglicherweise nicht falsch, aber auf eine ähnliche Art zirkulär wie die Äquivalenzen (WPutnam’81), (WPutnam’90) und (WPeirce). So nimmt Habermas, wie oben deutlich wurde, zum Beispiel auf das Konzept der Einlösung von Wahrheitsansprüchen durch Argumente Bezug. In seiner Bestimmung der Bedingungen einer idealen Sprechsituation thematisiert er die Praxis des Argumentierens im Blick auf die Frage, welche intersubjektiv-normativen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit wirklich „das bessere Argument zum Zuge 83
84 85
In der Einleitung zu „Wahrheit und Rechtfertigung“ räumt Habermas diesen Punkt rückblickend ein. Vgl. Habermas 1999d, S. 50. Vgl. die Beispiele ‚Mücke‘ und ‚Lizzie Borden‘, die in III.4 diskutiert wurden. Apel 1998a, S. 122.
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kommt und den Ausgang der Diskussion bestimmt.“86 Worin aber unterscheiden sich gute von schlechten und bessere von weniger guten Argumenten? Zwar dürfte eine zugleich generelle und informative Antwort auf diese Frage kaum möglich sein, es ist aber auf keinen Fall falsch, im Blick auf Begründungskontexte deskriptiver Aussagen zu behaupten, dass ein Argument für eine gegebene Aussage p nur dann ein gutes ist, wenn es – entweder für sich genommen oder im Zusammenhang mit weiteren Argumenten – für die Wahrheit von p spricht. Dies ist, wie gesagt, keine besonders informative und erst recht keine erschöpfende Antwort auf die Frage, wodurch sich gute von schlechten oder weniger guten Argumenten unterscheiden. Sie genügt aber für den Nachweis, dass der Wahrheitsbegriff auch in der Explikation der auf der rechten Seite von (WHabermas‘72) verwendeten Konzepte ‚Argumentation‘ und ‚argumentative Prüfung‘ benötigt wird. Insofern handelt es sich auch bei der Äquivalenz (WHabermas‘72) nicht um eine zirkelfreie Erläuterung und a fortiori nicht um eine akzeptable Definition von ‚Wahrheit‘. Ebenso wenig wie im Fall der oben diskutierten epistemischen Wahrheitsäquivalenzen schließt diese Feststellung freilich aus, dass (WHabermas‘72) einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen Verständnis des Wahrheitsbegriffs liefert.
IV.4.3
Konsens und ideale Argumentationsgemeinschaft – Apel
Karl-Otto Apel bringt seine Kritik an Habermas’ Konsenstheorie nicht mit der Absicht vor, diese Theorie zu widerlegen, sondern seine Intention ist es, sie zu verbessern. Er zieht aus seinen Einwänden den Schluss, dass die von Habermas einseitig ins Spiel gebrachte Idealisierung der „primär diskurs-ethisch relevanten“ reziproken Anerkennungsverhältnisse zwischen Argumentationspartnern um die kontrafaktische Annahme „epistemischideale[r] Bedingungen“87 ergänzt werden muss. Apels Erläuterung des Begriffs epistemisch idealer Bedingungen lautet nun folgendermaßen: Epistemisch ideal wären die Voraussetzungen für die Beantwortung einer gegebenen Frage, ob p, genau dann, wenn alle relevanten Gründe, Argu86 87
Habermas 2001, S. 45. Apel 2002a, S. 120. Hervorhebung getilgt.
234
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
mente und Informationen verfügbar wären sowie deren „optimale Auswertung“88 gewährleistet wäre. Wenn Apel in diesem Zusammenhang von einer „Ergänzung der diskurs-ethisch idealen Bedingungen durch epistemisch-ideale Bedingungen“89 spricht, so ist dies vor dem Hintergrund seiner Kritik am methodischen Solipsismus der traditionellen Erkenntnistheorie irreführend.90 Denn er legt damit die Annahme nahe, man könne zwischen epistemischen Bedingungen einerseits und normativen Bedingungen einer intersubjektiven Argumentation über Fragen der Art ‚Ist es wahr, dass p?‘ andererseits trennscharf unterscheiden. Genau das ist aber nach Apel nicht möglich. Insofern vertritt er letztlich die These, dass auch schon die von Habermas herausgestellten Bedingungen einer idealen Kommunikationssituation epistemisch relevant sind. Die wohlverstandene Pointe seiner Kritik an Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit besteht demnach nicht in der Behauptung, dass die Berücksichtigung epistemisch idealer Bedingungen in dieser Theorie insgesamt fehlt, sondern in der These, dass Habermas’ Konzept der idealen Sprechsituation nur eine unvollständige Charakterisierung der Idee idealer epistemischer Bedingungen darstellt. Apels konsenstheoretische Erläuterung des Wahrheitsbegriffs steht am Ende einer kritischen Rekonstruktion der Grundgedanken verschiedener Ansätze, die in der wahrheitstheoretischen Diskussion unter den Titeln ‚Korrespondenz-‘, ‚Kohärenz-‘ und ‚Evidenztheorie‘ meist als Konkurrenzprojekte behandelt und gegeneinander ausgespielt werden. Mit Ausnahme der ‚metaphysisch-ontologischen‘ Variante der Korrespondenztheorie lehnt Apel keinen dieser Ansätze auf ganzer Linie ab, sondern versucht vielmehr, ihren jeweiligen Beitrag zur Klärung des Wahrheitsbegriffs in seiner Konsenstheorie kritisch aufzuheben.91 Als Leitfaden dieser Aufhe88 89 90
91
Apel 1998a, S. 122. Apel 2002a, S. 120. Zur transzendentalpragmatischen Solipsismuskritik vgl. Apel 1973b sowie Böhler 1985, S. 178-188 und S. 344-354. Zur ‚metaphysisch-ontologischen‘ Variante der Korrespondenztheorie vgl. Apel 1998a, S. 92, und Apel 1999, S. 3. Apel setzt sie zum einen von Husserls phänomenologischer ‚Evidenz-für-Korrespondenz-Theorie‘ ab, der er den Status „einer kriteriologisch relevanten Common-sense-Theorie der Wahrheit in der ‚Lebenswelt’“ einräumt (Apel 1998a, S. 93). Vgl. dazu auch Apel 1986. Zum anderen un-
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
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bung dient Apel dabei ein Postulat, das er als Adäquatheitsbedingung für jede akzeptable philosophische Explikation des Wahrheitsbegriffs ins Spiel bringt: Eine akzeptable philosophische Wahrheitstheorie muss, so Apel, „epistemologisch“ beziehungsweise „kriteriologisch relevant“ sein.92 Was besagt diese Forderung? Apels etwas missverständlich formuliertes Postulat ‚kriteriologischer Relevanz‘ läuft nicht etwa auf die Forderung hinaus, dass eine akzeptable Wahrheitstheorie ein von Fall zu Fall anwendbares Kriterium für die Feststellung des Wahrheitswerts von Aussagen anbieten müsse.93 Letztlich macht Apel mit diesem Postulat nur die These geltend, dass eine Wahrheitstheorie T allein dann annehmbar ist, wenn verständlich gemacht werden kann, dass und wie eine Einlösung von gemäß T verstandenen Wahrheitsansprüchen durch Argumente denkbar bleibt. Der Wahrheitsbegriff muss Apel zufolge also so erläutert werden, dass gilt: Wenn die Aussage p wahr ist, dann ist es im Prinzip möglich, für p einen Wahrheitsanspruch zu erheben und diesen mit Argumenten einzulösen. Dies ist Apels Variante des von Peirce vertretenen epistemischen Regulativs (EpReg◊K):94 (EpReg◊ARG) Wenn es wahr ist, dass p, dann ist es möglich, die Aussage p argumentativ zu begründen. Ausgehend von dem so verstandenen Postulat der kriteriologischen Relevanz diskutiert und kritisiert Apel wahrheitstheoretische Ansätze von vornherein unter dem Gesichtspunkt ihrer epistemologischen Konsequenzen. Er fragt in Bezug auf jede gegebene Wahrheitstheorie T zunächst: Wenn wir den Wahrheitsbegriff so – also gemäß T – erläutern, können wir dann noch angeben, unter welchen Bedingungen ein gemäß T verstandener intersub-
92 93
94
terscheidet er sie von „eine[r] realistische[n] Korrespondenz-Theorie der Wahrheit“, welche „nicht nur die natürliche Grundintuition hinsichtlich der AussagenWahrheit“ zum Ausdruck bringe, sondern darüber hinaus „auch von allen Wahrheitstheorien als notwendige Bedingung vorausgesetzt“ werde (Apel 1998a, S. 90). Zu Apels Anspruch einer kritischen Aufhebung verschiedener wahrheitstheoretischer Ansätze vgl. Apel 1998a, S. 92-108 und S. 117, sowie Apel 1982, S. 3. Vgl. Apel 1998a, S. 90-106, Apel 1999, S. 3, Apel 2002a, S. 125. Vgl. zu der ‚ungereimten‘ Vorstellung von einem solchen Kriterium die oben bereits zitierte Bemerkung Kants (Kant 1998, KrV, B 83 f.). Siehe oben, Abschnitt III.2, S. 162. ‚◊ARG‘ steht für ‚mögliche argumentative Begründung‘.
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IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
jektiver Wahrheitsanspruch mit Gründen beziehungsweise mit Argumenten eingelöst wäre? Wenn wir das können, dann ist T Kandidat einer philosophisch akzeptablen (Teil-)Explikation des Wahrheitsbegriffs. Wenn wir es dagegen nicht können, scheidet T als Kandidat aus. Diese Argumentationsstrategie Apels kann exemplarisch an seinem Einwand gegen die von ihm so genannte ‚metaphysisch-ontologische‘ Variante der Korrespondenztheorie verdeutlicht werden, welche Wahrheit als eine Übereinstimmungsrelation zwischen den Gedanken eines epistemischen Subjekts S einerseits und den von S jeweils intendierten Gegenständen und Sachverhalten andererseits konzipiere.95 Apels Einwand lässt sich folgendermaßen wiedergeben: Die einzige vom Standpunkt der metaphysisch-ontologischen Korrespondenztheorie aus denkbare Weise, auf welche die Wahrheit oder Falschheit einer gegebenen Überzeugung festgestellt werden könnte, würde darin bestehen, den propositionalen Gehalt dieser Überzeugung mit den in ihr jeweils gemeinten Gegenständen sowie deren Eigenschaften und Relationen zu vergleichen. Die dabei vorausgesetzte Vergleichsperspektive, welche es erlauben würde, unsere Überzeugungen auf ihre Korrespondenz mit den in ihnen gemeinten Gegenständen hin zu prüfen, steht uns aber prinzipiell nicht zur Verfügung: „[N]iemand kann hinter den Spiegel der Phänomene schauen und die – von der metaphysischen Korrespondenz-Theorie eigentlich unterstellte – Entsprechung zwischen den im Urteil vorgestellten bzw. gemeinten Phänomenen und den Dingen-an-sich überprüfen.“96
Träfe die ‚metaphysisch-ontologische‘ Korrespondenztheorie zu, dann wären wir Apel zufolge also prinzipiell nicht dazu in der Lage, festzustellen, ob unsere Überzeugungen wahr sind. Insofern bestehe ein direkter logischer Zusammenhang zwischen dem Grundgedanken dieser Wahrheitstheorie und einer inakzeptablen Variante des epistemologischen Skeptizismus. Daher sei diese Wahrheitstheorie selbst inakzeptabel. Rückbezogen auf das Postulat der kriteriologischen Relevanz von Wahrheitstheorien, vertritt Apel hier also die folgenden Thesen: Wenn man den Wahrheitsbegriff nach dem ‚metaphysisch-ontologischen‘ Modell einer Übereinstimmung 95
96
Apel hat hier vor allem Thomas von Aquins Bestimmung der Wahrheit als „adaequatio rei et intellectus“ (Thomas von Aquin 1964, I.1) im Blick. Apel 1998, S. 92.
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
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zwischen Überzeugungen und Gedanken mit Gegenständen oder Tasachen denkt, dann ist nicht mehr nachvollziehbar, wie demgemäß verstandene Wahrheitsansprüche durch Argumente eingelöst werden könnten.97 Also scheidet die ‚metaphysisch-ontologische‘ Korrespondenztheorie als Kandidatin für eine akzeptable philosophische (Teil-)Explikation des Wahrheitsbegriffs aus. Dieser epistemologisch motivierte Einwand Apels würde ohne Zuhilfenahme weiterer Argumente allerdings eine Korrespondenztheorie, deren Anspruch allein darin bestünde, eine Bedeutungsexplikation von ‚Wahrheit‘ zu liefern, nicht treffen. Denn nur unter der Voraussetzung, dass sich der Proponent einer solchen Korrespondenzkonzeption T für die epistemologischen Konsequenzen seiner Wahrheitstheorie überhaupt interessieren soll, können inakzeptable epistemologische Konsequenzen von T als Indikatoren der möglichen Falschheit oder Korrekturbedürftigkeit von T zählen.98 Mit anderen Worten: Solange nicht die Gültigkeit eines epistemischen Regulativs wie (EpReg◊K) oder (EpReg◊ARG) erwiesen ist, sind Hinweise darauf, dass aus einer gegebenen Theorie die Erkenntnis- oder sogar die Begründungstranszendenz mancher Wahrheiten folgt, keine argumentativen Einwände gegen T, sondern – sofern sie zutreffen – bloße Feststellungen einer begrifflichen oder logischen Konsequenz von T. Die Frage nach der Gültigkeit epistemischer Regulative diskutiere ich in Kapi-
97
Apel variiert hier Freges Argument gegen Korrespondenztheorien. Vgl. Frege 1993, S. 32 f., sowie die kritische Diskussion dieses Standardeinwandes gegen korrespondenztheoretische Wahrheitskonzeptionen in Alston 1996, S. 85-102, u. Schantz 1996, S. 147-156. 98 Davidson weist zu Recht darauf hin, dass Argumente dieser Art für sich genommen keine guten Einwände gegen Korrespondenztheorien der Wahrheit darstellen: „The usual complaint against correspondence theories is that it makes no sense to suggest that it is somehow possible to compare one’s words or beliefs with the world. [...] This complaint against correspondence theories is not sound. One reason it is not sound is that it depends on assuming that some form of epistemic theory is correct; therefore, it would be a legitimate complaint only if truth were an epistemic concept. If this were the only reason for rejecting correspondence theories, the realist [d.h. hier: der Korrespondenztheoretiker, B.R.] could simply reply that his position is untouched; he always maintained truth was independent of our beliefs or our ability to learn the truth.“ (Davidson 1990, S. 302 f.)
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IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
tel V. Hier soll zunächst Apels epistemische Wahrheitsäquivalenz eingeführt werden. Im Zentrum der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie der Wahrheit, die Apel auf der Grundlage seiner Peirce-Deutung in einer Vielzahl von Aufsätzen ausgearbeitet hat99, steht der Gedanke, „[...] daß es genau dann keinen Sinn mehr machen würde, zwischen der Wahrheit und dem Ergebnis diskursiver Rechtfertigung des Wahrheitsanspruchs zu unterscheiden, wenn gegen das Diskursergebnis keine kritischen Argumente mehr vorgebracht werden können (wenn also – in Peircescher Sprache – die ‚ultimate opinion‘ erreicht wäre).“100
Diese These Apels wirft Fragen auf, die denjenigen entsprechen, die bereits mit Bezug auf Peirces Konsenstheorie diskutiert wurden: Für wen würde es keinen mehr Sinn machen, zwischen der Wahrheit und einem Diskursergebnis zu unterscheiden, gegen das keine kritischen Argumente mehr vorgebracht werden könnten? Für diejenigen, die ein solches Diskursergebnis erreicht hätten? Oder vielmehr für Philosophen, die versuchen, den Wahrheitsbegriff zu erläutern und sich dabei die Frage stellen, ob der propositionale Gehalt einer in Apels Sinn verstandenen ultimate opinion falsch sein könnte? Bezieht sich Apels These auf das Konzept der Aussagenwahrheit oder, wie seine Verwendung des Substantivs ‚die Wahrheit‘ – ähnlich wie schon Peirces entsprechende Formulierung in „How to Make Our Ideas Clear?“101 – zumindest suggeriert, auf die Idee einer vollständigen Wahrheit? Nimmt Apel mit seiner Wendung ‚Ergebnis diskursiver Rechtfertigung des Wahrheitsanspruchs‘ also auf die Resultate spezifischer theoretischer Diskurse zu bestimmten Fragestellungen Bezug oder bringt er hier vielmehr die Idee einer definitiven diskursiven Beantwortung aller nur sinnvoll denkbaren Fragen nach der Berechtigung von Wahrheitsansprüchen ins Spiel? Und schließlich: Warum und inwiefern könnten gegen eine in Apels Sinn verstandene ultimate opinion keine kritischen Argumente mehr vorgebracht werden? Apels Rede von einem nicht mehr kritisierbaren Konsens wurde bereits in III.3 thematisiert. Er scheint davon auszugehen, dass Peirce die ul99
100 101
Vgl. zum Beispiel Apel 1973a, 1973c, 1975, 1980, 1982, 1986, 1998a, 1999, 2001, 2002a und 2003. Apel 2002a, S. 120. Vgl. auch Apel 1998a, S. 112 f. Vgl. Peirce 1931-1938, 5.407, und oben, Abschnitt III.2.
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
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timate opinion als regulative Idee einer Meinung konzipiert, die im Gegensatz zu allen realen Überzeugungen nicht mehr fallibel wäre. So verstanden, bezöge sich Apels Behauptung, dass es „keinen Sinn mehr machen würde, zwischen der Wahrheit und dem Ergebnis diskursiver Rechtfertigung“ von Wahrheitsansprüchen zu unterscheiden, auf die Perspektive derer, die dieses Ergebnis erreicht hätten. Oben dagegen habe ich eine fallibilistische Deutung der Peirceschen ultimate opinion vorgeschlagen, die zugleich auch Peirces Rekurs auf die kontrafaktische Annahme eines zeitlich unbegrenzt fortgesetzten Forschungsprozesses verständlich macht.102 Dieser Rekurs wäre überflüssig, wenn Peirce die ultimate opinion als eine aus der Perspektive derer, die sie erreicht hätten, infallible Meinung konzipiert hätte, also als eine Meinung, der gegenüber der fallibilistische Vorbehalt, dass in der Zukunft kritische Einwände vorgebracht werden könnten, wie Apel sagt „keinen Sinn mehr machen würde“. Ich habe freilich auch eingeräumt, dass die wenigen Stellen, an denen Peirce sich auf die Vorstellung einer „ideal perfection of knowledge“103 bezieht, der Apelschen Interpretation entgegenkommen. Indem Apel mit seiner Konsenstheorie an Peirces Konzeption anknüpft, übernimmt er von ihr zugleich auch die oben herausgestellte systematische Zweigleisigkeit in der Explikation des Wahrheitsbegriffs. Es ist weder bei Peirce noch bei Apel immer eindeutig, ob sie über das Konzept der Wahrheit von Aussagen oder aber über die Idee einer vollständigen Wahrheit qua Repräsentation der Realität insgesamt sprechen. Apels konsenstheoretische Erläuterung dessen, was wir meinen, wenn wir Aussagen als wahr bezeichnen, kann durch die folgende epistemische Äquivalenz wiedergegeben werden: (WApel) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn p in einem rein argumentativ strukturierten Diskurs D, in dem alle relevanten Argumente berücksichtigt und optimal ausgewertet werden würden, argumentativ geprüft werden würde, dann würde p den Konsens aller an D Beteiligten finden. 102 103
Siehe Abschnitt III.3 Peirce 1931-1938, 5.356.
240
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
Die Idee einer vollständigen Wahrheit scheint dagegen im Spiel zu sein, wenn Apel im Blick auf Peirces Konzept der ultimate opinion schreibt: „Eine solche Meinung aber muß für uns mit der Wahrheit identisch sein; d.h. sie muß als schlechthin intersubjektiv gültige Meinung zugleich die – als ontologische Relation nicht überprüfbare – adäquate Repräsentation des Realen (und das für uns maßgebende Äquivalent für die uns nicht verfügbare Sicht Gottes) sein.“104
Dass Apels Ausdruck ‚adäquate Repräsentation des Realen‘ in dieser Passage nicht im Sinne von ‚adäquate Repräsentation dieses oder jenes besonderen Bestandteils des Realen‘ oder ‚dieser oder jener Tatsache‘, sondern im Sinne von ‚Repräsentation des Realen/der Realität insgesamt‘ gelesen werden muss, legt auch die folgende Erläuterung des Sinns von ‚Wahrheit‘ aus Apels Aufsatz „Pragmatismus als sinnkritischer Realismus“ nahe: „Wahrheit (hinsichtlich der Realität überhaupt) ist derjenige Konsens, der in einer unbegrenzten Forschergemeinschaft zuletzt erreicht würde, wenn der Forschungsprozeß unter idealen kommunikativen (auf die intersubjektive Verständigung bezogenen) und epistemischen (auf die jeweils gegebenen Wahrheitskriterien bezogenen) Bedingungen über jeden faktischen Konsens kritisch hinausgehend – also potentiell unendlich – fortgesetzt werden könnte.“105
Apel lässt hier keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht um die Erläuterung der Rede von Wahrheit in Bezug auf einzelne Aussagen geht, sondern um eine Explikation der Idee der vollständigen Wahrheit, eben der Wahrheit „über die Realität im ganzen“106. An dieser Stelle ist es naheliegend, Apel dieselbe Explikationsstrategie zuzuschreiben, die im Hintergrund von Peirces Erläuterung des Wahrheitsbegriffs in dem Artikel „Truth, Falsity and Error“ zu stehen scheint107: Apel expliziert mit Hilfe der regulativen Idee des Konsenses der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft zunächst ein Konzept der vollständigen und ganzen Wahrheit ‚hinsichtlich der Realität überhaupt‘, um den Sinn des Wahrheitsprädikats in seiner Anwendung auf einzelne Aussagen dann im Rekurs auf dieses Konzept der vollständigen Wahrheit zu erläutern: Eine Aussage ist wahr genau dann, wenn sie zu der 104 105 106 107
Apel 1998a, S. 112 f. Hervorhebungen getilgt. Apel 2002a, S. 133, identisch in: Apel 2003, S. 196. Apel 2002a, S. 145. Peirce 1931-1938, 5.565. Vgl. oben, III.2.
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
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Menge derjenigen Aussagen gehört, die den Konsens der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft finden würden. Für diese Deutung spricht auch die folgende Bemerkung Apels, in der er sich zustimmend auf Peirce beruft: „Im Sinne der holistischen Fundierung aller Aussagen-Wahrheit in Schlußprozessen läßt sich nach Peirce die Wahrheit einzelner Aussagen (die im Sinne des common sense in bezug auf viele Aussagen durchaus zu unterstellen ist) letztlich nur nach Maßgabe ihrer Kompatibilität mit der kontrafaktisch unterstellten ‚ultimate opinion‘ begreifen.“108
So verstanden, vertritt Apel also die These, dass das auf Aussagen bezogene Prädikat ‚ist wahr‘ gleichbedeutend ist mit dem Prädikat ‚wäre Element des propositionalen Gehalts des Konsenses der idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft‘. In Kapitel VI werde ich die Diskussion der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie wieder aufnehmen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es allein um den Nachweis, dass auch diese Theorie keine zirkelfreie Erläuterung des Wahrheitsbegriffs liefert. Um dies nachzuweisen, beziehe ich mich auf eine von Horst Gronke vorgeschlagene Deutung des transzendentalpragmatischen Konzepts eines idealen argumentativen Konsenses. Ideal wäre ein solcher Konsens Gronke zufolge dann, wenn gegen ihn prinzipiell keine gültigen Einwände mehr vorgebracht werden könnten: „Wenn ich hier und jetzt behaupte, dass die Aussage ‚p‘ gültig ist, dann bedeutet dies: Die Aussage ‚p‘ ist gültig, wenn sie sich in einem zeitlich, räumlich und modal unbegrenzten Diskurs, in dem sich alle Argumentierenden um nichts anderes als um das beste Argument bemühen würden, als konsenswürdig erweisen würde. Oder: Im Falle ihrer Gültigkeit könnte in einem unbegrenzten Diskurs kein stichhaltiges Gegenargument vorgebracht werden, das diese Behauptung widerlegen würde.“109 108
109
Apel 2003, S. 196, Anm. 47. Apels Explikation von Wahrheit erinnert hier an traditionelle Kohärenztheorien, etwa an diejenige des britischen Idealisten F. H. Bradley: „Truth is an ideal expression of the Universe, at once coherent and comprehensive. It must not conflict with itself, and there must be no suggestion which fails to fall inside it. Perfect truth, in short, must realize the idea of a systematic whole.“ (Bradley 1914, S. 223.) Gronke 2003, S. 274. Vgl. dazu auch Gronke u. Böhler 1990. Die Bestimmung des hier relevanten Diskurses durch ‚zeitlich, räumlich und modal unbegrenzt‘ erläutert Gronke folgendermaßen: „Räumlich unbegrenzt: alle Argumente aller Argu-
242
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
Die Wendung ‚dann bedeutet dies‘ legt es nahe, diesen Passus als den Versuch einer Bestimmung der Bedeutung des Gültigkeitsbegriffs zu lesen. Gronke macht zwei Thesen geltend: (1) Wenn in einem unbegrenzten Diskurs kein stichhaltiges Gegenargument gegen die Behauptung, dass p, vorgebracht werden könnte, welches diese Behauptung widerlegen würde, dann ist die Aussage p gültig. (2) Wenn die Aussage p gültig ist, dann könnte in einem unbegrenzten Diskurs kein stichhaltiges Gegenargument gegen die Behauptung, dass p, vorgebracht werden, welches diese Behauptung widerlegen würde. Das transzendentalpragmatische Konzept propositionaler Gültigkeit, auf das Gronke seine Erläuterung bezieht, schließt nicht nur den Wahrheitsbegriff ein. Gültig in diesem Sinn können sowohl deskriptive als auch präskriptive Aussagen sein. Im ersten Fall ist Gültigkeit identisch mit Wahrheit, im zweiten mit normativer Richtigkeit. Ersetzt man ‚gültig‘ durch ‚wahr‘, ergeben (1) und (2) zusammengenommen das folgende Bikonditional: (WApel*) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn die Aussage p in einem unbegrenzten Diskurs D argumentativ geprüft werden würde, dann könnte in D gegen die Behauptung, dass p, kein stichhaltiges Gegenargument vorgebracht werden, welches diese Behauptung widerlegen würde. Die Zirkularität von (WApel*) wird nun deutlich, sobald man nach der Bedeutung der Ausdrücke ‚Gegenargument‘ und ‚Widerlegung‘ fragt, die auf mentierenden aller Kulturen, Kontexte und Welten; zeitlich unbegrenzt: alle Argumente aller früheren, gegenwärtigen und zukünftigen Argumentierenden; modal unbegrenzt: alle faktischen und alle potentiellen Argumente.“ (Gronke 2003, S. 274 f., Anmerkung 36.) Gronke knüpft hier direkt an Apel an, der, wie oben deutlich wurde, ebenfalls die These vertritt, dass gegen einen idealen argumentativen Konsens „keine kritischen Argumente mehr vorgebracht werden“ könnten (Apel 2002a, S. 120).
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
243
der rechten Seite der Äquivalenz (WApel*) gebraucht werden. Wenn eine gegebene Aussage p wahr ist, dann könnte in einem unbegrenzten Diskurs in der Tat ‚kein stichhaltiges Gegenargument vorgebracht werden‘, welches eine Behauptung der Aussage p ‚widerlegen würde‘. Diese Tatsache hat aber zunächst nichts mit dem Konzept eines unbegrenzten und idealen Diskurses zu tun, sondern nur damit, dass die folgende Konjunktion begrifflich inkonsistent ist: ‚Es ist wahr, dass p, und eine Behauptung der Aussage p wäre in einem unbegrenzten und idealen Diskurs widerlegbar.‘110 Derselbe Punkt, der gerade im Konjunktiv in Bezug auf die Idee eines in Apels und Gronkes Sinn idealen und unbegrenzten Diskurses formuliert wurde, gilt auch im Indikativ mit Bezug auf nicht-ideale und begrenzte Diskurse: Wenn eine gegebene Aussage p wahr ist, dann kann in einem nicht-idealen und begrenzten Diskurs kein Gegenargument vorgebracht werden, welches p widerlegt.111 Es können allenfalls Argumente vorgebracht werden, die irrtümlicherweise so bewertet werden, als widerlegten sie die Aussage p. Auch die folgende Konjunktion ist begrifflich inkonsistent: ‚Es ist wahr, dass p, und die Behauptung, dass p, ist in einem nicht-idealen Diskurs widerlegbar.‘ ‚Widerlegung‘ und ‚Widerlegbarkeit‘ sind ebenso wie ‚Falsifikation‘ und ‚Falsifizierbarkeit‘ anti-faktive Begriffe, das heißt, es gelten die folgenden Prinzipien: (Anti-FaktFALS) Für alle Aussagen α gilt: Wenn α widerlegt beziehungsweise falsifiziert ist, dann ist α falsch. (Anti-Fakt◊FALS) Für alle Aussagen α gilt: Wenn α widerlegbar beziehungsweise falsifizierbar ist, dann ist α falsch. Dass keine wahre Aussage widerlegt werden kann, liegt an diesem offensichtlichen, durch (Anti-FaktFALS) und (Anti-Fakt◊FALS) explizierten, begriff110
111
Dies gilt jedenfalls in Bezug auf alle wahren Propositionen α, für die das folgende kontrafaktische Konditional falsch ist: Wenn α in einem unbegrenzten Diskurs argumentativ geprüft werden würde, dann wäre α falsch. Den speziellen Fall wahrer Propositionen, zu deren Wahrheitsbedingungen es gehört, dass sie niemals in einem unbegrenzten Diskurs geprüft werden, diskutiere ich in Abschnitt VI.4. Auch diese Bemerkung erfordert eine Einschränkung: Sie gilt nur für solche Aussagen, für deren Wahrheit es keine notwendige Bedingung darstellt, dass sie de facto niemals Thema eines argumentativen Diskurses sind.
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IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
lichen Zusammenhang zwischen ‚widerlegen‘ oder ‚falsifizieren‘ und ‚Wahrheit‘ respektive ‚Falschheit‘.112 Insofern liefern auch die epistemischen Wahrheitsäquivalenzen (WApel) und (WApel*) keine zirkelfreien Erläuterungen und a fortiori keine Definitionen des Wahrheitsbegriffs. (WPutnam‘78/’81/’90), (WDummett), (WBJB), (WPeirce), (WHabermas‘72), (WApel) und (WApel*) eignen sich nicht dazu, den Wahrheitsbegriff zu definieren, weil sich epistemische Konzepte wie ‚Verifizierbarkeit‘, ‚Begründbarkeit unter idealen epistemischen Bedingungen‘, ‚ideal kohärentes Meinungssystem‘ und ‚idealer argumentativer Konsens‘ nur im Rekurs auf den Wahrheitsbegriff erläutern lassen. Die einzige Möglichkeit, die damit herausgestellte Zirkularität zu vermeiden, bestünde darin, die jeweils auf der rechten Seite der epistemischen Äquivalenzen ins Spiel gebrachten Konzepte ohne jeden Bezug auf den Wahrheitsbegriff zu erläutern. Auf die Frage nach dem Sinn der Rede von Wissen, Erkenntnis, Verifikation, Kohärenz, Argumentation und Begründung müsste dementsprechend eine Antwort gegeben werden, die den Wahrheitsbegriff nicht einmal implizit als explanatorisches Konzept ins Spiel bringt, und es ist alles andere als klar, wie eine solche Antwort aussehen könnte. Wenn aber epistemische Wahrheitskonzeptionen nicht den Anspruch erheben dürfen, zirkelfreie Erläuterungen zu liefern, 112
Der durch (Anti-Fakt◊FALS) charakterisierte Begriff der Widerlegbarkeit respektive Falsifizierbarkeit stimmt nicht mit demjenigen überein, den Popper verwendet, wenn er „Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium“ (Popper 1994, S. 14), also als Maßstab für die Unterscheidung zwischen empirisch gehaltvollen (wissenschaftlichen) und empirisch gehaltlosen (nicht-wissenschaftlichen) Sätzen einführt: „Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können“. (Popper 1994, S. 15.) Falsifizierbar in Poppers Sinn ist eine Aussage dann, wenn „ihre Falsifikation logisch möglich ist“ (Popper 1994, S. 14, Hervorhebung getilgt). Aus der logischen Möglichkeit der Falsifikation einer Aussage p folgt nicht, dass p falsch ist, sondern nur, dass p logisch kontingent ist. Insofern sind auch wahre, genauer: logisch kontingent wahre Aussagen in Poppers Sinn von ‚Falsifizierbarkeit‘ falsifizierbar. In dem durch (Anti-Fakt◊FALS) charakterisierten Sinn von ‚Falsifizierbarkeit‘ ist die Wahrheit einer gegebenen Aussage p dagegen eine hinreichende Bedingung dafür, dass p nicht falsifiziert werden kann. Die Antifaktivität des Falsifizierbarkeitskonzepts entspricht der Faktivität des Verifizierbarkeitsbegriffs: So, wie die Wahrheit von p zu den notwendigen Bedingungen der Verifizierbarkeit von p gehört, zählt die Falschheit von q selbst zu den Bedingungen der Falsifizierbarkeit der Aussage q.
IV. Epistemische Wahrheitsäquivalenzen als Begriffsdefinitionen?
245
inwiefern können sie dann überhaupt zu einer philosophischen Klärung und zu einem besseren Verständnis des Wahrheitsbegriffs beitragen? Sind sie dann nicht als ernst zu nehmende Wahrheitstheorien disqualifiziert? Sie wären es nur dann, wenn überzeugende Gründe für die These vorgebracht werden könnten, dass allein zirkelfreie Explikationen als gute philosophische Begriffsklärungen zählen dürfen. Zirkularität muss nur dann als ein Problem für – und der Nachweis ihrer Unvermeidbarkeit nur dann als ein schlagender Einwand gegen – epistemische Explikationen des Wahrheitsbegriffs bewertet werden, wenn man sich auf bestimmte Vorannahmen im Blick darauf einlässt, was eine philosophische Wahrheitstheorie zu leisten hat – zum Beispiel dann, wenn man sich, mit Ernst Tugendhat gesprochen, auf die „entscheidende Voraussetzung“ einlässt, „daß sich die Klärung des Wahrheitsbegriffs in Form einer Definition zu vollziehen habe“113. Lässt man dagegen diese Voraussetzung fallen, muss der Nachweis der Zirkularität epistemischer Wahrheitsexplikationen nicht mehr per se als eine Widerlegung derselben gewertet werden. Aus einem solchen Nachweis allein folgt weder, dass irgendeine der hier diskutierten epistemischen Wahrheitsäquivalenzen falsch ist, noch, dass diese Äquivalenzen in Bezug auf die Frage nach dem richtigen Verständnis des Wahrheitsbegriffs uninformativ, leer oder trivial sind. Es folgt allerdings, dass für keine von ihnen zu Recht der Anspruch erhoben werden kann, sie liefere eine Definition des Wahrheitsbegriffs.
113
Tugendhat 1992, S. 181.
V.
Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
Die zweite Deutung epistemischer Wahrheitskonzeptionen, die ich hier diskutieren will, lässt die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den Wahrheitsbegriff durch Konzepte begründeter Behauptbarkeit, Verifizierbarkeit, Kohärenz oder argumentativer Konsenswürdigkeit zu definieren, auf sich beruhen und orientiert sich an den epistemischen Regulativen, die im Hintergrund von Konsens-, Begründbarkeits- und Verifikationstheorien stehen. Ein Vorteil dieser zweiten Deutung besteht darin, dass sie ein kritisches Anliegen klar hervorhebt, das diesen Theorien zugrunde liegt: die Ablehnung der Behauptung, dass manche Aussagen erkenntnis- oder gar begründungstranszendent wahr sein könnten. Ralph Walker gibt die folgende treffende Charakterisierung des so verstandenen Grundgedankens epistemischer Ansätze: „What is meant by saying that truth is evidentially constrained [epistemisch reguliert, B. R.] is that the truth of a claim is not independent of our capacity to find out about it. There is no such thing as truth that is evidence-transcendent, in the sense of lying beyond any possible verification which we (or beings like us) could carry out.“1
Hält man sich an diese Kennzeichnung des Grundgedankens epistemischer Ansätze, dann erscheint der argumentative Streit zwischen Vertretern epistemischer und solchen nicht-epistemischer Wahrheitstheorien im Kern als ein Streit über die Gültigkeit der These, dass ‚Wahrheit‘ ein epistemisch reguliertes Konzept ist. Die strittige These kann im Rekurs auf die folgende generische Formulierung eines epistemischen Regulativs erläutert werden: (EpReg◊Φ) ∀α(α→◊Φα) Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es möglich, zu Φ-en, dass α. Φ steht in (EpReg◊Φ) als Platzhalter, dessen Stelle epistemische Operatoren wie zum Beispiel K (‚es wird gewusst/ist erkannt, dass‘) oder J (‚es ist be1
Walker 2002, S. 299. Walker hält die hier von ihm formulierte zentrale These epistemischer Ansätze freilich für falsch.
248
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
gründet, dass‘) einnehmen können.2 Entsprechend erfüllt der Ausdruck ‚zu Φ-en‘ in der nichtformalen Schreibweise die Funktion eines Platzhalters für epistemische Verben wie ‚zu erkennen‘, ‚zu wissen‘ und ‚zu begründen‘. Für den Platzhalter ‚zu Φ-en‘ kann also jeweils eines aus einem Spektrum mehr oder weniger anspruchsvoller epistemischer Verben eingesetzt werden, wobei etwa ‚zu wissen‘ und ‚zu erkennen‘ am oberen, anspruchsvolleren, Ende des Spektrums stehen, ‚zu begründen‘, ‚zu glauben‘ 2
Einige Erläuterungen zur Notation: In den folgenden formalisierten Darstellungen epistemischer Regulative, Transzendenzthesen und einiger anderer für die Diskussion zentraler Thesen verwende ich ‚∀α‘ und ‚∃β‘ als propositionale Quantoren. Die Variablen ‚α‘, ‚β‘ usw., die durch sie gebunden werden, stehen an Satzpositionen, das heißt, ihre Substituenden sind nicht singuläre Termini, sondern deklarative Sätze (von beliebiger syntaktischer Komplexität). Die Werte der Variablen ‚α‘, ‚β‘ usw. sind die Propositionen respektive Aussagen, die durch die Substituenden von ‚α‘, ‚β‘ usw. nicht benannt, sondern zum Ausdruck gebracht werden. (Vgl. zu dieser Lesart der Quantoren die Diskussion in Künne 2003, S. 360-368). In der Literatur werden epistemische Regulative zumeist nicht als explizit quantifizierte Thesen, sondern mit Hilfe schematischer Satzbuchstaben dargestellt, also zum Beispiel so: (EpReg◊J-schematisch) p→◊J(p). Der Sinn dieses Schemas kann dann so erläutert werden: Jede Instanz von (EpReg◊J-schematisch), die durch uniforme Ersetzung der beiden Vorkommnisse von ‚p‘ durch einen deklarativen Satz gewonnen werden kann, bringt eine wahre Aussage zum Ausdruck. Ich ziehe die explizit quantifizierte der – in vielen Kontexten eleganteren – schematischen Darstellung vor, weil sie es erlaubt, auch die kontradiktorischen Gegenteile von epistemischen Regulativen adäquat zu repräsentieren. Die Negation von (EpReg◊J-schematisch) lautet so: ¬(p→◊J(p)). Der Sinn dieses letzten Schemas kann nun aber nicht auf dieselbe Weise erläutert werden wie derjenige von (EpReg◊J-schematisch). Wer die Negation von (EpReg◊J-schematisch) behauptet, legt sich damit offensichtlich nicht auf die Anerkennung der These fest, dass keine Einsetzungsinstanz von (EpReg◊J-schematisch) eine wahre Aussage zum Ausdruck bringt, sondern nur darauf, dass wenigstens eine Einsetzungsinstanz von (EpReg◊J-schematisch) eine falsche Aussage zum Ausdruck bringt. Das Schema ‚¬(p→◊J(p))‘ muss im vorliegenden Kontext folgendermaßen erläutert werden: Wenigstens eine Instanz von ‚¬(p→◊J(p))‘, die durch uniforme Ersetzung der beiden Vorkommnisse von ‚p‘ durch einen deklarativen Satz gewonnen werden kann, bringt eine wahre Aussage zum Ausdruck. Dann ist es aber sinnvoller, die Quantoren in der Formalisierung epistemischer Regulative und ihrer kontradiktorischen Gegenteile von vornherein explizit zu machen, anstatt sie erst in der Erläuterung dieser Formalisierungen ins Spiel zu bringen.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
249
oder ‚davon überzeugt zu sein‘ in der Mitte, ‚sich zu fragen, ob es der Fall ist‘, ‚zu denken‘ und ‚sich vorzustellen‘ am unteren Ende des Spektrums. Je nachdem, welche epistemische Infinitiv-Wendung für ‚zu Φ-en’ beziehungsweise welcher epistemische Operator für Φ in (EpReg◊Φ) jeweils eingesetzt wird, erhält man ein spezifisches, im Vergleich zu anderen möglichen Einsetzungen anspruchsvolleres, gleich anspruchsvolles oder weniger anspruchsvolles epistemisches Regulativ (Abschnitt V.1). Dem korrespondieren unterschiedlich anspruchsvolle epistemische Transzendenzthesen, also die jeweiligen kontradiktorischen Gegenteile der verschiedenen Regulative (Abschnitt V.2).3 Epistemische Transzendenzthesen haben die folgende Form, wobei Φ, wie gehabt, für einen epistemischen Operator steht: (NonAll◊Φ) ∃α(α∧¬◊Φα) Für manche Aussagen α gilt: Es ist wahr, dass α, und es ist nicht möglich, zu Φ-en, dass α. Davon zu unterscheiden sind Thesen über den epistemischen Status, der wahren Propositionen de facto irgendwann einmal zukommt oder nicht zukommt, also Thesen wie: (AllΦ) ∀α(α→Φα) Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann wird geΦt, dass α. (NonAllΦ) ∃α(α∧¬Φα) Für manche Aussagen α gilt: Es ist wahr, dass α, und es wird nicht ge-Φt, dass α. Auf die verschiedenen Stärken epistemischer Regulative und Transzendenzthesen sowie auf Thesen der Art (AllΦ) und (NonAllΦ) komme ich zurück, ebenso auf die Deutung des Modaloperators ◊ in (EpReg◊Φ) und 3
Mit dem Ausdruck ‚Transzendenzthese‘ knüpfe ich an Putnams Rede von der „recognition transcendence of truth“ an (Putnam 1999, S. 65). In der deutschsprachigen Diskussion ist Putnams Wendung vor allem von Habermas aufgegriffen worden. So in dem Aufsatz „Richtigkeit versus Wahrheit“, in dem er Wahrheit – in Abgrenzung gegen seine ehemals vertretene Konsenstheorie – als einen Typus von Gültigkeit bezeichnet, „der alle möglichen Rechtfertigungen transzendiert“, und den Wahrheitsanspruch als einen „über alle potentiell verfügbaren Evidenzen hinausweisenden Anspruch“ charakterisiert (Habermas 1999c, S. 288). In V.2 komme ich darauf zurück.
250
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(NonAll◊Φ) respektive auf den hier relevanten Sinn des Ausdrucks ‚es ist möglich, dass‘. Behandelt man die Frage nach der Definierbarkeit von ‚Wahrheit‘ in epistemischen Begriffen als nebensächlich, so ergibt sich im Blick auf die Debatte zwischen Proponenten und Opponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen unter anderem die Möglichkeit, eine oftmals von beiden Seiten als unstrittig anerkannte Voraussetzung in Zweifel zu ziehen: Korrespondenztheorien werden häufig als das Paradigma nicht-epistemischer Wahrheitskonzeptionen angesehen. Wenn aber, wie im letzten Kapitel nahegelegt wurde, die Proponenten epistemischer Ansätze ihre eventuellen definitorischen Ansprüche ohnehin fallenlassen sollten, dann spricht jedenfalls prima facie nichts dagegen, dass auch eine epistemisch regulierte Korrespondenztheorie der Wahrheit kohärent vertreten werden kann. Vorsichtiger formuliert: Eine Wahrheitstheoretikerin, die behauptet, Wahrheit sei Korrespondenz mit Tatsachen, legt sich allein dadurch nicht schon auf die These fest, dass manche Aussagen erkenntnis- oder begründungstranszendent wahr sind. Sie könnte schließlich die These vertreten, dass nur solche Aussagen (korrespondenz-)wahr sind, die propositionaler Gehalt einer begründeten Meinung, einer gerechtfertigten Behauptung oder sogar einer Erkenntnis sein können. Dann gilt aber ebenso wenig, dass ein Vertreter der Auffassung, dass Wahrheit nicht erkenntnis- oder begründungstranszendent ist, sich jeglichen Rekurs auf ein Konzept der Korrespondenz mit Tatsachen verbieten muss.4 Das in der Literatur bislang wohl am häufigsten diskutierte epistemische Regulativ ist (EpReg◊K). Es wird, wie in III.2 gezeigt, unter anderem von Peirce vertreten. Man erhält es, wenn man den Platzhalter Φ in (EpReg◊Φ) durch den Operator K (‚es wird gewusst, dass‘ respektive ‚es wird erkannt, dass‘) ersetzt: (EpReg◊K) ∀α(α→◊Kα) Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es möglich, zu wissen, dass α. 4
Es kommt hier natürlich alles darauf an, was genau unter ‚Korrespondenz‘ verstanden wird. Auf ein mögliches Beispiel für eine epistemisch regulierte Korrespondenztheorie deutet Apel mit seiner Interpretation von Husserls Wahrheitskonzeption als ‚Evidenz-für-Korrespondenz-‘Theorie hin. Vgl. Apel 1998a, S. 92-97.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
251
Ein weiterer Proponent dieses epistemischen Regulativs ist Michael Dummett. Er charakterisiert (EpReg◊K) als ein „regulative principle governing the notion of truth“: „If a statement is true, it must be in principle possible to know that it is true.“5 Die folgende epistemische Transzendenzthese ist das kontradiktorische Gegenteil von (EpReg◊K): (NonAll◊K) ∃α(α∧¬◊Kα) Für wenigstens eine Aussage α gilt: Es ist wahr dass α, und es ist nicht möglich, zu wissen, dass α. Das von Apel vertretene epistemische Regulativ erhält man, wenn man den Platzhalter Φ in (EpReg◊Φ) durch den Operator ARG (‚es wird argumentativ begründet, dass‘) ersetzt6: (EpReg◊ARG) ∀α(α→◊ARGα) Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es möglich argumentativ zu begründen, dass α. In Texten, in denen Putnam die ‚intern-realistische‘ Wahrheitskonzeption zur Geltung bringt, findet sich die folgende Formulierung eines epistemischen Regulativs, die auf ein nicht weiter spezifiziertes Konzept der Begründung rekurriert: „[T]ruth is independent of justification here and now, but not independent of all possibility of justification. To claim that a statement is true is to claim it could be justified“.7
Apels und Putnams epistemische Regulative können für die nun folgende Diskussion als Varianten der These verstanden werden, dass alle wahren Aussagen im Prinzip auch mit Gründen behauptet werden können. ‚JB‘ steht für ‚es wird mit Gründen behauptet, dass‘, ‚◊JB‘ entsprechend für ‚es ist möglich, begründet zu behaupten, dass‘:
5
6 7
Dummett 1993, S. 61. Dieses uneingeschränkte epistemische Regulativ hat Dummett inzwischen zurückgenommen. Vgl. dazu Dummett 2001. Darauf komme ich in V.4 zurück. In Dummett 2007 und Dummett 2009 modifiziert er seine Formulierung der Erkennbarkeitsthese erneut. Vgl. dazu oben, Abschnitt IV.4.3. Putnam 1983, S. 85. Vgl. auch Putnam 1981, S. 56, sowie Putnam 1990, S. vii: „[T]o claim of any statement that it is true [...] is to claim that it could be justified were epistemic conditions good enough.“
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(EpReg◊JB) ∀α(α→◊JBα) Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es möglich, mit Gründen zu behaupten, dass α. Das kontradiktorische Gegenteil von (EpReg◊JB) ist diese epistemische Transzendenzthese: (NonAll◊JB) ∃α(α∧¬◊JBα) Für wenigstens eine Aussage α gilt: Es ist wahr, dass α, und es ist nicht möglich, mit Gründen zu behaupten, dass α. Zum Abschluss dieses Überblicks noch eine Bemerkung zur Frage, welche Rolle epistemische Regulative in Crispin Wrights wahrheitstheoretischen Überlegungen und in Habermas’ Konsenstheorie von 1972 spielen: Wright ist sehr viel vorsichtiger als Apel, Dummett, Peirce und Putnam während seiner ‚intern-realistischen‘ Phase. Er legt sich nicht auf die Annahme der uneingeschränkten Gültigkeit eines epistemischen Regulativs fest, sondern nimmt (EpReg◊K) nur in die Menge der Voraussetzungen auf, die ein Diskursbereich D erfüllen muss, wenn das Wahrheitsprädikat von D durch das epistemische Konzept der superassertibility explizierbar sein soll.8 In Habermas’ Texten der konsenstheoretischen Phase finden sich keine expliziten Formulierungen eines epistemischen Regulativs. Sofern er dort aber ‚Wahrheit‘ im Rekurs auf einen Begriff argumentativer Begründbarkeit erläutert und Wahrheit als einen Gültigkeitsanspruch bezeichnet, „den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten“9, darf davon ausgegangen werden, dass die Gültigkeit einer Variante von (EpReg◊JB) auch in Habermas’ Konsenstheorie vorausgesetzt wird. Gegen die durch epistemische Regulative zum Ausdruck gebrachten Erkennbarkeits- und Begründbarkeitsthesen lassen sich starke Einwände anführen. In den Abschnitten V.3 und V.4 diskutiere ich ein Argument gegen epistemische Regulative, das seit einiger Zeit zu den Haupteinwänden zählt, die von Kritikern epistemischer Wahrheitskonzeptionen geltend gemacht werden: das sogenannte ‚Paradox of Knowability‘. Der Einwand greift zurück auf ein zuerst von Frederic B. Fitch veröffentlichtes Argument, welches dafür spricht, dass aus der These der Erkennbarkeit aller 8 9
Vgl. zum Beispiel Wright 1999, S. 72, dazu oben III.4. Habermas 1984a, S. 129, Hervorhebung B.R.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
253
Wahrheiten folgt, dass alle wahren Propositionen de facto einmal Gehalt einer Erkenntnis waren, es jetzt sind oder einmal sein werden – just diejenige These (AllK) also, deren Anerkennung Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen durch ihre Unterscheidung zwischen prinzipieller Erkennbarkeit und faktischem Erkanntsein gerade vermeiden wollen.10 Da es keinen guten Grund für die Annahme gibt, dass alle wahren Aussagen zu irgendeinem Zeitpunkt de facto als wahr erkannt werden, spricht das ‚Paradox of Knowability‘ in der Tat gegen die Gültigkeit der These, dass eine Aussage nur dann wahr ist, wenn es möglich ist, zu erkennen, dass sie wahr ist, also gegen (EpReg◊K). Eine Variante von Fitchs Argument lässt sich, wie Wolfgang Künne gezeigt hat11, auch gegenüber weniger anspruchsvollen epistemischen Regulativen geltend machen (V.5 und V.6).
V.1
Regulative
Die epistemischen Regulative (EpReg◊K) und (EpReg◊JB) bedürfen weiterer Erläuterung, da sie ansonsten einen zu weiten Interpretationsspielraum bieten und unklar bleibt, was genau ihre Proponenten mit ihnen eigentlich behaupten wollen. Einen klärungsbedürftigen Aspekt betont Dummett im Blick auf seine oben bereits zitierte Variante von (EpReg◊K): „[I]ts application depends heavily upon the way in which ‘in principle possible’ is construed.“12 Die Frage nach der Gültigkeit epistemischer Regulative kann nur dann sinnvoll gestellt und beantwortet werden, wenn angegeben wird, was genau der in ihnen verwendete Ausdruck ‚möglich‘ respektive der Modaloperator ◊ besagen soll. Neben der mit (EpReg◊K) und (EpReg◊JB) ins Spiel gebrachten Modalität ist auch der Sinn der in ihnen vorkommenden Operatoren K und JB beziehungsweise der hier relevante Sinn der Rede von ‚wissen‘ und ‚begründet behaupten‘ präzisierungsbedürftig. Bevor ich mich aber der Diskussion dieser Probleme zuwende, will ich einen Punkt hervorheben, der durch die Tatsache verdeckt werden 10
11 12
Vgl. Fitch 1963. Joe Salerno hat herausgefunden, dass dieses Argument auf Alonzo Church zurückgeht. Vgl. Salerno 2009a. Ich werde es weiterhin ‚Fitchs Argument‘ nennen. Vgl. Künne 2003, S. 437-443. Dummett 1993, S. 61.
254
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
könnte, dass der Fokus der Debatte über epistemische Regulative in der Literatur zumeist auf (EpReg◊K) und Varianten von (EpReg◊JB) liegt: Wie oben bereits angedeutet, sind auch schwächere epistemische Regulative als (EpReg◊K) und (EpReg◊JB) denkbar und diskussionswürdig. Hier sollen zumindest zwei davon berücksichtigt werden, eines, das mit Bezug auf den Begriff der Behauptung simpliciter, und ein zweites, das im Rekurs auf den Begriff des Verstehens formuliert werden kann: Wenn die Aussage p wahr ist, dann ist es möglich, p zu verstehen und zu behaupten. Diese Regulative markieren ihrer ‚Schwäche‘ zum Trotz einen Streitpunkt zwischen allen Proponenten eines epistemischen Wahrheitskonzepts einerseits und manchen Proponenten eines nicht-epistemischen Wahrheitskonzepts andererseits. Ich füge sie in die erste Kolumne der folgenden Übersicht ein:13 (Liste) 1. (EpReg◊Φ) 2. (NonAll◊Φ) 3. (AllΦ) 4. (NonAllΦ) (EpReg◊K) (NonAll◊K) (AllK) (NonAllK) ∀α(α→◊Kα) ∃α(α∧¬◊Kα) ∀α(α→Kα) ∃α(α∧¬Kα) (NonAll◊JB) (AllJB) (NonAllJB) (EpReg◊JB) ∀α(α→◊JB) ∃α(α∧¬◊JBα) ∀α(α→JBα) ∃α(α∧¬JBα) (EpReg◊B) (NonAll◊B) (AllB) (NonAllB) ∀α(α→◊Bα) ∃α(α∧¬◊Bα) ∀α(α→Bα) ∃α(α∧¬Bα) (EpReg◊V) (NonAll◊V) (AllV) (NonAllV) ∀α(α→◊Vα) ∃α(α∧¬◊Vα) ∀α(α→Vα) ∃α(α∧¬Vα) Die unterschiedlichen Instantiierungen von (EpReg◊Φ) in der ersten Kolumne bringen allesamt eine These der folgenden Art zum Ausdruck: Nur dann, wenn einer gegebenen Aussage p ein bestimmter epistemischer Status zukommen kann, ist p wahr. Wenn es dagegen prinzipiell nicht möglich ist, p als wahr zu erkennen, p mit Gründen zu behaupten, p zu behaupten oder auch nur zu verstehen, dann ist p nicht wahr – so die Proponenten eines epistemisch regulierten Wahrheitskonzepts.14 Ihre Opponenten halten 13
14
Ich verwende dabei die Operatoren ‚V‘ (‚es wird verstanden, dass‘) und ‚B‘ (‚es wird behauptet, dass‘). Der Unterschied zwischen einer begründeten Behauptung und einer Behauptung simpliciter ist schlicht der Unterschied zwischen einer Behauptungshandlung, die der regulativen Begründungsnorm für Behauptungen (BNB) gerecht wird, und einer Behauptungshandlung, die diese Norm nicht erfüllt. Vgl. dazu oben I.2. Wer
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dem entweder direkt eine jeweilige Transzendenzthese aus der zweiten Kolumne entgegen oder sie sind vorsichtiger und behaupten nur, dass es keine hinreichend starken Gründe für die Festlegung auf das jeweilige epistemische Regulativ gibt, gegen das sie argumentieren. In diesem Fall legen sie sich also nicht auf die direkte Behauptung der betreffenden (NonAll◊Φ)These fest, sondern machen nur geltend, dass deren Gültigkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Auf die verschiedenen Instantiierungen von (AllΦ) in der dritten Kolumne von (Liste) wollen sich aus jeweils unterschiedlichen Gründen weder Proponenten noch Opponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen festlegen. Beide Seiten stimmen ferner darin überein, dass es gute Gründe gibt, die verschiedenen (NonAllΦ)-Thesen in der vierten Kolumne für wahr zu halten, wenngleich die von ihnen als gut bewerteten Gründe auch hier zum Teil unterschiedlich ausfallen. Ein Opponent epistemischer Wahrheitskonzeptionen, der zum Beispiel meint, gute Gründe für die These (NonAll◊B) zu haben, wird diese Gründe zugleich auch als solche für die schwächere These (NonAllB) bewerten. Ein Proponent von (EpReg◊B), der zudem (NonAllB) anerkennen will, sollte sich dagegen in der Rechtfertigung seiner Anerkennung von (NonAllB) offensichtlich nicht auf Gründe berufen, die für die Gültigkeit von (NonAll◊B) sprechen. Er sollte ferner die These (EpReg◊B) nur auf der Basis von Argumenten vertreten, von denen er meint, dass sie nicht zugleich für die viel stärkere These (AllB) sprechen. Proponenten der verschiedenen epistemischen Regulative in der ersten Kolumne gehen davon aus, dass diese Regulative sowohl von den verschiedenen (AllΦ)-Thesen in der dritten wie auch von den verschiedenen (NonAllΦ)-Thesen in der vierten Kolumne von (Liste) logisch unabhängig sind. In III.2 wurde dieser Punkt mit Bezug auf (AllK) und (NonAllK) am Beispiel von Peirces Konsenstheorie herausgearbeitet. Peirce will sich weder auf die These (AllK) noch auf ihr kontradiktorisches Gegenteil, also auf die in der ersten Zeile der vierten Kolumne stehende These (NonAllK), festlegen. Zugleich behandelt er (NonAllK) als eine Aussage, mit der jede akzeptable philosophische Behauptung über den Sinn des Wahrheitsbegriffs vereinbar sein muss. Da er (EpReg◊K) vertritt, geht er insofern davon aus, dass weder (EpReg◊B) vertritt, legt sich dadurch nicht bereits auf die Anerkennung von (EpReg◊JB) fest.
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(AllK) noch (NonAllK) aus (EpReg◊K) folgen. Dieselbe Konstellation von Festlegungen findet sich (zumindest implizit) in allen hier diskutierten epistemisch regulierten Wahrheitskonzeptionen. Das ‚Paradox of Knowability‘, das ich in den Abschnitt V.3 und V.4 diskutieren werde, stellt die Konsistenz genau dieser Konstellation von Festlegungen in Frage. Eine Instantiierung A von (EpReg◊Φ) ist stärker beziehungsweise anspruchsvoller als eine andere Instantiierung B, und B ist dementsprechend schwächer oder weniger anspruchsvoll als A, wenn die Gültigkeit von B eine notwendige Bedingung für die Gültigkeit von A ist, nicht aber die Gültigkeit von A eine notwendige Bedingung für die von B. A und B sind gleich stark, wenn alle und nur diejenigen möglichen Instantiierungen von (EpReg◊Φ) aus A folgen, die auch aus B folgen. A und B sind in diesem Fall äquivalent. Man könnte nun sehr viel Zeit darauf verwenden, die logisch-begrifflichen Verhältnisse zwischen den verschiedenen möglichen Instantiierungen von (EpReg◊Φ) in der ersten Kolumne genau auszubuchstabieren, und es ist anzunehmen, dass sich dabei zeigen würde, dass sie nicht in allen Hinsichten vollkommen eindeutig und unstrittig sind. Aber es lassen sich einige logisch-begriffliche Relationen aufzeigen, die unstrittig sein sollten. Nimmt man an, dass eine Person S nur dann weiß, dass p, wenn sie davon überzeugt ist, dass p, und Gründe für die Aussage p verfügbar sind, welche S’ Überzeugung rechtfertigen, dann gilt auch, dass S nur dann weiß, dass p, wenn es möglich ist, p mit Gründen zu behaupten. Denn sofern es Gründe für p gibt, die S’ Überzeugung rechtfertigen, sind auch Gründe für p verfügbar, die eine Behauptung von p rechtfertigen würden. Wenn es also möglich ist, zu wissen, dass p, dann ist es auch möglich, mit Gründen zu behaupten, dass p. Insofern folgt (EpReg◊JB) aus (EpReg◊K), das heißt, die Wahrheit von (EpReg◊JB) ist eine notwendige Bedingung der Wahrheit von (EpReg◊K).15 Wenn es aber möglich ist, die Aussage p be15
Da ich die Debatte zwischen dem sogenannten Internalismus und dem sogenannten Externalismus in der Erkenntnistheorie an dieser Stelle nicht rekonstruieren kann, habe ich die Annahme eines begrifflichen Zusammenhangs zwischen ‚Wissen‘ respektive ‚Erkenntnis‘ einerseits und ‚Begründung‘ andererseits hier möglichst schwach formuliert. Proponenten externalistischer Ansätze vertreten die These, dass Personen manchmal auch dann wissen, dass p, wenn sie selbst keine Gründe
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gründet zu behaupten, dann ist es auch möglich, p zu behaupten. A fortiori folgt also (EpReg◊B) aus (EpReg◊K). Nun stellt eine gegebene Sprechhandlung nur dann eine Behauptung dar, wenn sie als Behauptungshandlung verstehbar ist, und dazu gehört auch die Verstehbarkeit ihres jeweiligen propositionalen Gehalts.16 Daher ist die Gültigkeit von (EpReg◊V) eine notwendige Bedingung der Gültigkeit von (EpReg◊B). Unter der Voraussetzung dieser Deutung ergibt sich in der ersten Kolumne eine transitive Implikationskette, die von (EpReg◊K) zu (EpReg◊V) verläuft. Insofern lässt sich auch das logisch-begriffliche Verhältnis der verschiedenen (NonAll◊Φ)Thesen in der zweiten Kolumne als transitive Kette darstellen: Sie verläuft von unten nach oben, also von (NonAll◊V) zu (NonAll◊K). Eine weitere transitive Kette verbindet die in der dritten Kolumne stehenden verschiedenen (AllΦ)-Thesen. Sie verläuft von oben nach unten, also von (AllK) zu (AllV). Und eine vierte verbindet, wiederum von unten nach oben, die verschiedenen (NonAllΦ)-Thesen in der vierten Kolumne. Je schwächer eine Instantiierung von (EpReg◊Φ) in der ersten Kolumne ausfällt, desto anspruchsvoller ist ihr jeweiliges kontradiktorisches Gegenteil, also die ihr korrespondierende Instantiierung von (NonAll◊Φ) in der zweiten Kolumne. Während ein Proponent der Transzendenzthese (NonAll◊K) nur behauptet, dass manche wahren Propositionen für uns nicht als wahr erkennbar sind, also keinen Gehalt eines uns möglichen Wissens darstellen, legt sich ein Proponent der These (NonAll◊V) auf die sehr viel anspruchsvollere Behauptung fest, dass manche wahren Propositionen, weit
16
für den propositionalen Gehalt ihrer Überzeugung, dass p, anführen können. Daraus ergibt sich die folgende (prima facie seltsame) Konsequenz: (EXT) Für manche Personen S und manche Propositionen α gilt: S weiß, dass α, ohne in der Lage zu sein, mit Gründen zu behaupten, dass α. Anstatt (EXT) zu diskutieren, weise ich nur darauf hin, dass die oben formulierte Annahme über den Zusammenhang zwischen Wissen und Begründung auch für diejenigen akzeptabel sein sollte, die (EXT) anerkennen, denn sie impliziert nicht, dass S nur dann weiß, dass p, wenn S selbst die Proposition p begründen kann. Mit anderen Worten: Der oben behauptete begriffliche Zusammenhang zwischen (EpReg◊K) und (EpReg◊JB) beruht nicht auf der Voraussetzung, dass S, um zu wissen, dass p, selbst in der Lage sein muss, mit Gründen zu behaupten, dass p. Vgl. in diesem Zusammenhang Brandoms Kritik an Verlässlichkeitstheorien des Wissens in Brandom 1994, S. 217-221, und Brandom 2000, S. 97-122. Vgl. die in I.2 eingeführte konstitutive Norm für Behauptungshandlungen (VAB).
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
entfernt davon, Gehalte eines uns möglichen Wissens zu sein, von uns noch nicht einmal verstanden werden können. All dies, so könnte hier eingewandt werden, gehe viel zu schnell: Jedes einzelne der epistemischen Konzepte, die in den verschiedenen in (Liste) aufgeführten Thesen vorkommen – ‚Wissen‘, ‚Behauptung‘, ‚Begründung‘ und ‚Verstehen‘ – ist schon für sich genommen höchst erläuterungsbedürftig, und die Beantwortung der Frage nach der korrekten Erläuterung ist strittig. Das machen die kontroversen Diskussionen in der Sprachphilosophie, der Erkenntnistheorie, der epistemischen und doxastischen Logik, der Argumentationstheorie, der Hermeneutik und der Philosophie des Geistes hinreichend deutlich. Und insofern die Frage nach dem richtigen Verständnis dieser Begriffe strittig ist, ist natürlich auch die Beantwortung Frage nach den logisch-begrifflichen Relationen umstritten, in denen die verschiedenen Thesen in (Liste) zueinander stehen. Soweit ein naheliegender, aber dennoch unberechtigter Einwand. Unberechtigt ist er, weil die oben gezeichnete Skizze der logisch-begrifflichen Relationen, die zwischen den verschiedenen in (Liste) vorkommenden Thesen bestehen, nur drei minimale Bestimmungsstücke der begrifflichen Zusammenhänge zwischen ‚Wissen‘, ‚Begründung‘, ‚Behauptung‘ und ‚Verstehen‘ ins Spiel bringt, mit denen ohnehin jede akzeptable Erläuterung dieser Konzepte vereinbar sein muss: Man kann nur dann wissen, dass p, wenn es möglich ist, begründet zu behaupten, dass p.17 Man kann nur dann begründet behaupten, dass p, wenn man (auch simpliciter) behaupten kann, dass p. Eine gegebene Sprechhandlung stellt nur dann eine Behauptungshandlung dar, wenn ihr propositionaler Gehalt sinnvoll und verstehbar ist. Im vorliegenden Diskussionszusammenhang ist es zudem wichtig, die Operatoren K, JB, B und V mit einer minimalen Erläuterung zu versehen, die sowohl zwischen Proponenten verschiedener substantieller Erkenntnisund Begründungstheorien wie auch zwischen Proponenten verschiedener substantieller Erläuterungen der Praxis des Behauptens unstrittig sein kann. Zu einer solchen minimalen Erläuterung gehören zweifellos die folgenden 17
Siehe dazu S. 256, Anm. 15.
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Elemente: Wissen gibt es nur, wenn es auch epistemische Subjekte gibt, und dasselbe gilt für begründete Behauptungen, Behauptungen simpliciter, verstandene Aussagen und Aussagen simpliciter. Behauptungen sind datierbare und kontextuell eingebettete Handlungen von Sprechern einer Sprache, und das Verstehen von Aussagen steht am Ende von Interpretationsprozessen, die jeweils mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen mögen. Ferner kann Wissen in Vergessenheit geraten sowie unwiederbringlich verlorengehen, und eine Ursache dafür kann darin bestehen, dass Begründungen und Argumente verlorengehen. Insofern müssen die Operatoren K, JB, B und V implizit zumindest zwei Existenzquantifikationen enthalten, nämlich eine über Sprecher qua Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft respektive über epistemische Subjekte und eine weitere über Zeitpunkte der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft. Ihre vollständige Lesart lautet demnach: ‚es wird irgendwann von jemandem gewusst, dass‘, ‚es wird irgendwann von jemandem mit Gründen behauptet, dass‘, ‚es wird irgendwann von jemandem behauptet, dass‘ und ‚es wird irgendwann von jemandem verstanden, dass‘. Diese Lesart der Operatoren werde ich im Folgenden voraussetzen und die mit K, JB, B und V verbundenen Existenzquantifikationen weiterhin implizit lassen. Die entsprechende formale Schreibweise sei hier nur am Beispiel der ersten Zeile von (Liste) dargestellt: (EpReg◊K) ∀α[α→◊∃S,t(KS,tα)] Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es möglich, dass zu irgendeinem Zeitpunkt jemand weiß, dass α. (NonAll◊K) ∃α[α∧¬◊∃S,t(KS,tα)] Für manche Aussagen α gilt: Es ist wahr, dass α, und es ist nicht möglich, dass zu irgendeinem Zeitpunkt jemand weiß, dass α. (AllK) ∀α[α→∃S,t(KS,tα)] Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann weiß zu irgendeinem Zeitpunkt jemand, dass α. (NonAllK) ∃α[α∧¬∃S,t(KS,tα)] Für manche Aussagen α gilt: Es ist wahr, dass α, und es ist nicht der Fall, dass zu irgendeinem Zeitpunkt jemand weiß, dass α. Für die Diskussion in den folgenden Abschnitten sind zwei weitere Eigenschaften der in (Liste) gebrauchten Operatoren relevant. Eine davon kommt
260
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
allen zu, die andere nur dem Wissensoperator K. Die erste betrifft die Interaktion dieser Operatoren mit Konjunktionen: Wenn eine Person weiß, dass (p∧q), dann weiß sie sowohl, dass p, als auch, dass q. Anders gesagt: Wenn sie nicht weiß, dass p, oder nicht weiß, dass q, dann weiß sie auch nicht, dass (p∧q). Dasselbe gilt für das begründete Behaupten, das Behaupten simpliciter und für das Verstehen von Konjunktionen. Wenn die Behauptung einer gegebenen Konjunktion (p∧q) begründet ist, dann wird mit ihr sowohl begründet behauptet, dass p, als auch begründet behauptet, dass q, und wenn diese Konjunktion schlicht behauptet wird, dann wird sowohl behauptet, dass p, als auch behauptet, dass q. Ferner versteht man eine gegebene Konjunktion nur dann, wenn man alle ihre Konjunkte versteht. Alle Operatoren, die in (Liste) vorkommen, distribuieren über Konjunktionen.18 Φ steht in dem folgenden Distributivitätsprinzip wie gehabt als Platzhalter für K, JB, B und V: (DistΦ) ∀α∀β[Φ(α∧β)→(Φα∧Φβ)] Für jede Proposition α und jede Proposition β gilt: Wenn ge-Φ-t wird, dass (α und β), dann wird ge-Φ-t, dass α, und ge-Φ-t, dass β. Die zweite hier relevante formal darstellbare Eigenschaft kommt ausschließlich dem Wissensoperator K zu und betrifft den Zusammenhang zwischen Wissen und Wahrheit. Sie wurde bereits oben in Abschnitt IV.1 eingeführt: Wenn eine Person weiß, dass p, dann ist p wahr. Dieser Zusammenhang zwischen Wissen und Wahrheit gehört zum Sinn des Begriffs propositionalen Wissens: (FaktK) ∀α(Kα→α) Für alle Propositionen α gilt: Wenn gewusst wird, dass α, dann ist α wahr.19 18
19
Robert Nozicks ‚Truth-Tracking‘-Theorie des Wissens impliziert, dass propositionales Wissen (manchmal) nicht über Konjunktionen distribuiert. Vgl. Nozick 1981, S. 228. Hier liegt aber der folgende Kommentar von Timothy Williamson nahe: „The conflict between Nozick’s analysis of knowledge and the distribution principle is a problem for Nozick’s analysis, not for distribution.“ (Williamson 2000, S. 279.) Wenn eine Person nicht weiß, dass p, oder nicht weiß, dass q, wie könnte sie dann wissen, dass (p∧q)? Zu (DistΦ) – mit K anstelle von Φ – und (FaktK) vgl. Williamson 2000, S. 271.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
261
Es bleibt noch zu klären, wie der Modaloperator ◊ in den verschiedenen (EpReg◊Φ)- und (NonAll◊Φ)-Thesen in der ersten und zweiten Kolumne von (Liste) zu verstehen ist. Was soll die Rede von möglichem Wissen, möglichem begründeten Behaupten, möglichem Behaupten simpliciter und möglichem Verstehen hier besagen? Indem oben die in K, JB, B und V impliziten Existenzquantifikationen über epistemische Subjekte als Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft und über Zeiten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft explizit gemacht wurden, habe ich bereits der Tatsache Rechnung getragen, dass Proponenten epistemischer Regulative ihre Erkennbarkeits- und Begründbarkeitsthesen etc. normalerweise nicht so verstanden wissen wollen, als würden sie sich auf ein Erkennen, Begründen und Verstehen beziehen, das nur infalliblen oder allwissenden Wesen möglich wäre.20 Ginge es um mögliches Wissen etc. in diesem Sinn, dann wären epistemische Regulative trivial – jedenfalls würden sie keinen Anlass zu einem argumentativen Dissens zwischen Proponenten und Opponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen mehr bieten. In diesem Sinn trivial ist zum Beispiel die von Alvin Plantinga diskutierte theistische Variante einer epistemischen Wahrheitskonzeption, welche mit der Annahme der Existenz eines allwissenden Wesens arbeitet: Wenn es ein allwissendes Wesen gäbe, dann wären alle Aussagen, die dann wahr wären, durch das allwissende Wesen als wahr erkannt – a fortiori wären sie für das allwissende Wesen allesamt als wahr erkennbar.21 Theistisch motivierte epistemische Regulative werden hier vernachlässigt. Ich setze voraus, dass mit (EpReg◊Φ)-Thesen der Gedanke zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es keine wahren Aussagen gibt, die jenseits dessen liegen, was von Menschen, also von endlichen und falliblen epistemischen Subjekten im Prinzip als wahr erkannt, begründet oder verstanden werden kann. Erlaubt ist in diesem Zusammenhang allenfalls der Rekurs auf Idealisierungen, die an unsere tatsächliche epistemische Situation anschlussfähig bleiben.22 20
21 22
Das gilt zumindest für alle hier diskutierten Proponenten einer epistemisch regulierten Wahrheitskonzeption. Vgl. Plantinga 1982, Alston 1996, S. 202, Brogaard u. Salerno 2005 und Rea 2000. Vgl. dazu oben III.3 sowie Dummett 1993, S. 60-62; Edgington 1985, S. 557; Rosenkranz 2007, S. 61-67; Tennant 2000, S. 829; Wright 1987a, S. 296 f., Wright 2000, S. 360.
262
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In IV.1 wurde schon ein wichtiges Element der intendierten Lesart von Aussagen der Form ‚Es ist möglich, zu wissen, dass p.‘ (‚◊Kp‘) eingeführt. Nicht nur das Konzept propositionalen Wissens, sondern auch der für (EpReg◊K) relevante Begriff möglichen propositionalen Wissens ist faktiv: (Fakt◊K) ∀α(◊Kα→α) Für alle Aussagen α gilt: Wenn es möglich ist, zu wissen, dass α, dann ist α wahr. Aus (EpReg◊K) und (Fakt◊K) folgt die von Michael Dummett vertretene – und inzwischen abgeschwächte beziehungsweise modifizierte23 – epistemische Wahrheitsäquivalenz: (WDummett) ∀α(α↔◊Kα) Für alle Aussagen α gilt: Es ist genau dann wahr, dass α, wenn es möglich ist, zu wissen/zu erkennen, dass α. Liest man den Modaloperator ◊ hier im Sinn von logischer oder begrifflicher Möglichkeit, dann ist die Rechts-Links-Richtung der Äquivalenz (WDummett), wie in IV.1 schon angedeutet, offensichtlich falsch, denn auch eine logisch kontingente Proposition, die de facto nicht wahr ist, könnte, wenn sie wahr wäre, Gehalt von Wissen sein.24 Neil Tennant erläutert die für (WDummett) und für (EpReg◊K) relevante Lesart von ◊K folgendermaßen: „The idea is that the possibility alluded to is that of our attaining the knowledge that φ, where φ already holds. [...] We are not being invited to think of ◊Kφ as true when φ is a contingent falsehood. On the contrary: if φ is any contingent falsehood (such as, say, ‘Grass is purple’), then it is not feasibly knowable that φ, in the sense of feasibility with which we are here concerned. [...] Another way of putting this last moral is to say that not only the epistemic operator K, but also its modalization ◊K, is ‘factive’. That is, we have the valid inference ‘◊Kφ, therefore φ’, just as we have the inference ‘Kφ, therefore φ’.“25 23 24 25
Vgl. Dummmett 2001, 2007 und 2009. Vgl. Künne 2003, S. 23. Tennant 2000, S. 829. Vgl. dazu auch Williamson 2000, S. 95; sowie Wright 2001, S. 59 f., Anm. 17: „The modality involved in feasible knowledge is to be understood […] as constrained by the distribution of truth values in the actual world. […] [T]he range of what is feasible for us to know goes no further than what is actually the case: we are talking about those propositions whose actual truth could be recognised by the implementation of some humanly feasible process.“
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
263
In Bezug auf Möglichkeit und Notwendigkeit sowie die Modaloperatoren ◊ (‚es ist möglich, dass‘) und (‚es ist notwendig, dass‘) setze ich in der weiteren Diskussion allein voraus, dass die folgenden beiden Prinzipien gelten26: (Dual) ¬p ┤├ ¬◊p Aus ‚es ist notwendig, dass non-p‘ folgt ‚es ist nicht möglich, dass p‘ und vice versa. (-Einführung) Wenn ├p, dann p. Wenn p eine Theorem ist, dann ist es notwendig, dass p.
V.2
Transzendenzthesen
Kritikern der verschiedenen epistemischen Regulative in der ersten Kolumne von (Liste)27 stehen prima vista genau drei Argumentationsstrategien zur Verfügung. Sie können (a) direkt zu zeigen versuchen, dass es wahre Propositionen gibt, die nicht als wahr erkennbar, begründet behauptbar, behauptbar simpliciter oder auch nur verstehbar sind. Sie können (b) nachzuweisen versuchen, dass die (EpReg◊Φ)-These, gegen die sie jeweils argumentieren – gegebenenfalls zusammen mit weiteren Annahmen, die im Gegensatz zu der betreffenden (EpReg◊Φ)-These selbst unstrittig sind – einen Widerspruch oder eine offensichtlich falsche Aussage impliziert. Schließlich können sie (c) nachzuweisen versuchen, dass es keine guten Gründe für die Anerkennung der Gültigkeit desjenigen epistemischen Regulativs geben kann, gegen das sie jeweils argumentieren. Die Argumentationsstrategien (a) und (b) sind anspruchsvoller als die Strategie (c). Wenn sich im Sinne von (a) nachweisen ließe, dass es tatsächlich wahre Aussagen gibt, die nicht als wahr erkennbar, begründet behauptbar, 26 27
Vgl. dazu Williamson 2000, S. 273. Siehe S. 254.
264
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
behauptbar simpliciter oder auch nur verstehbar sind, dann wäre damit a fortiori nachgewiesen, dass es keine guten Gründe für die Anerkennung entsprechender epistemischer Regulative geben kann. Denn diese Regulative besagen ja gerade, dass Propositionen nur dann wahr sein können, wenn ihnen wenigstens einer der epistemischen Status der Erkennbarkeit als wahr ((EpReg◊K)), der begründeten Behauptbarkeit ((EpReg◊JB)), der Behauptbarkeit simpliciter ((EpReg◊B)) oder der Verstehbarkeit ((EpReg◊V)) zukommt. Ein triftiges Argument im Sinn der Strategie (a) wäre insofern zugleich ein triftiges Argument im Sinn von (c). Dasselbe gilt für (b) und (c): Wenn gemäß der Strategie (b) gezeigt werden könnte, dass eine jeweilige Instantiierung A von (EpReg◊Φ) einen Widerspruch oder eine offensichtlich falsche Aussage impliziert, dann wäre auch damit gezeigt, dass es keine guten Gründe für die Anerkennung von A geben kann. Auch ein triftiges Argument im Sinn der Strategie (b) wäre insofern a fortiori ein triftiges Argument im Sinn von (c). Wer andererseits gemäß der Strategie (c) für die These argumentiert, dass es keine guten Gründe für die Anerkennung desjenigen epistemischen Regulativs geben kann, gegen das er sich jeweils wendet, argumentiert damit nicht unbedingt zugleich auch für die These, dass es tatsächlich wahre Propositionen gibt, die prinzipiell nicht als wahr erkannt oder begründet behauptet etc. werden können, und auch nicht für die These, dass das epistemische Regulativ A, welches er jeweils kritisiert, widersprüchliche oder offensichtlich falsche Aussagen impliziert. Er will eben möglicherweise nur die These vertreten, dass prinzipiell keine Gründe zur Verfügung stehen, welche die Anerkennung von A rechtfertigen könnten. Diese These kann man – jedenfalls prima facie – vertreten, ohne sich auf die Behauptung der Negation von A festzulegen. So ist zum Beispiel, wie oben bereits angedeutet, ein Opponent von (EpReg◊JB), der entlang der Strategie (c) argumentiert, nicht darauf festgelegt, die These (NonAll◊JB) geradewegs zu behaupten, sondern nur darauf, ihre mögliche Wahrheit einzuräumen.28 Wenn es, wie in V.1 behauptet, zutrifft, dass die verschiedenen epistemischen Regulative in der ersten Kolumne von (Liste) durch eine transitive Implikationskette miteinander verbunden sind, die von (EpReg◊K) zu (EpReg◊V) verläuft, dann ist jedes Argument gegen (EpReg◊V) – im Sinne 28
Vgl. dazu Rosenkranz 2002, S. 1-27, u. 2007, S. 81-88.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
265
der Strategien (a), (b) oder (c) – zugleich eines gegen (EpReg◊B/◊JB/◊K), jeder Einwand gegen (EpReg◊B) zugleich ein Einwand gegen (EpReg◊JB/◊K) und jedes Argument gegen (EpReg◊JB) zugleich ein Argument gegen (EpReg◊K). In Bezug auf alle epistemischen Transzendenzthesen in der zweiten Kolumne von (Liste) mag zunächst der folgende prinzipielle Einwand naheliegen: Weil es nicht möglich ist, Beispiele für nicht erkennbare, nicht begründbare, nicht behauptbare oder nicht verstehbare Wahrheiten anzuführen, können (NonAll◊Φ)-Thesen letztlich gar nicht auf kohärente Weise argumentativ vertreten werden. Diesen Einwand, dessen Prämisse zweifellos zutrifft, dessen Konklusion aus dieser Prämisse allein aber nicht folgt, will ich hier nur antizipieren, um seine Diskussion auf später zu verschieben: Er wäre nur dann triftig, wenn vorausgesetzt werden dürfte, dass Sprecher allein in solchen Fällen berechtigt sind, eine Existenzaussage E zu behaupten, in denen sie wenigstens eine Einsetzungsinstanz von E berechtigt behaupten können. Ließe sich die Legitimität dieser Voraussetzung erweisen, so dass also etwa die Behauptung der Existenzaussage ‚Es gibt unerkennbare Wahrheiten.‘ nur durch das Anführen eines Beispiels für eine unerkennbare Wahrheit als berechtigt erwiesen werden könnte, dann wäre damit eine Begründung a priori für die These geliefert, dass keine Behauptung einer (NonAll◊Φ)-These berechtigt sein kann. Muss man aber ein Beispiel für eine unerkennbare, prinzipiell nicht begründbare, behauptbare oder verstehbare Wahrheit anführen können, um zur Festlegung auf die entsprechende (NonAll◊Φ)-These berechtigt zu sein? Diese Frage diskutiere ich in Abschnitt V.6. Der gerade angedeutete prinzipielle Einwand gegen epistemische Transzendenzthesen wird sich dabei als unhaltbar erweisen. Die Transzendenzthesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B) bringen jeweils eine Variante des Gedankens zum Ausdruck, dass es wahre Propositionen gibt, deren Wahrheit für uns prinzipiell epistemisch unzugänglich ist und für die wir daher prinzipiell keinen berechtigten Wahrheitsanspruch erheben können. Genereller formuliert, lautet der durch diese Thesen variierte Grundgedanke so: Es gibt wahrheitswertdifferente Propositionen, deren Wahrheitswert festzustellen für uns unmöglich ist.29 Jede 29
Der oben dargestellten Argumentationsstrategie (c) geht es um die folgende modalisierte Fassung dieses Grundgedankens: Es ist möglich, dass es wahrheitswertdif-
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
der Transzendenzthesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B) ist vereinbar mit der Gültigkeit des epistemischen Regulativs (EpReg◊V). Wer behauptet, dass manche wahren Aussagen nicht als wahr erkennbar sind, nicht mit Gründen behauptet oder auch nur simpliciter behauptet werden können, legt sich dadurch nicht per se auf die Anerkennung der These fest, dass manche Wahrheiten jenseits des für uns prinzipiell Verstehbaren liegen. Dasselbe gilt für die im Sinn der oben eingeführten Argumentationsstrategie (c) modalisierten Varianten von (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B). Wer behauptet, es sei möglich, dass manche Wahrheiten nicht erkennbar, nicht begründbar oder behauptbar sind, kann durchaus kohärenterweise zugleich das epistemische Regulativ (EpReg◊V) vertreten, also die These anerkennen, dass keine wahre Aussage jenseits des für uns prinzipiell Verstehbaren liegt. Manchen Kritikern epistemischer Regulative, zum Beispiel William Alston und Thomas Nagel, sind die so verstandenen Transzendenzthesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B) nicht radikal genug. Sie behaupten nicht nur, dass es möglicherweise wahre und verstehbare Propositionen gibt, für die prinzipiell kein Wahrheitsanspruch erhoben werden kann, sondern darüber hinaus, dass es wahre Propositionen geben könnte, die für uns prinzipiell unverstehbar sind, weil uns nicht nur de facto, sondern notwendigerweise die begrifflichen Ressourcen fehlen, die erforderlich wären, um sie zu verstehen. Alston und Nagel vertreten also die radikale epistemische Transzendenzthese (NonAll◊V) und legen sich damit a fortiori auf die Anerkennung aller schwächeren (NonAll◊Φ)-Thesen fest.30 Ich will die damit angedeutete Unterscheidung zwischen gemäßigten und radikalen epistemischen Transzendenzthesen hier zumindest skizzieren, obwohl im Weiteren allein gemäßigte (NonAll◊Φ)-Thesen eine Rolle spielen werden. In ihrer gemäßigten Variante besagen die Transzendenzthesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B), dass es Propositionen gibt – oder doch geben könnte –, in Bezug auf welche die Konjunktion der folgenden drei Aussagen zutrifft:
30
ferente Propositionen gibt, deren Wahrheitswert festzustellen für uns unmöglich ist. Vgl. Alston 1996, S. 199-204, und Nagel 1986, S. 90-109.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
267
1. Wir können sie sprachlich zum Ausdruck bringen und verstehen. 2. Sie sind wahr. 3. Es ist uns prinzipiell unmöglich, sie als wahr zu erkennen ((NonAll◊K)), begründet zu behaupten ((NonAll◊JB)) oder auch nur simpliciter zu behaupten ((NonAll◊B)). Proponenten gemäßigter epistemischer Transzendenzthesen legen sich insofern auf die Behauptung fest, dass unsere expressiven und hermeneutischen Kompetenzen unsere epistemischen in dem folgenden Sinn überschreiten: Wir können mehr Wahres zum Audruck bringen und verstehen als wir behaupten, begründen oder wissen können.31 Diese These lässt sich wieder allgemeiner fassen: Es gibt mehr wahrheitswertdifferente Propositionen, die wir verstehen können, als es wahrheitswertdifferente Propositionen gibt, deren Wahrheitswert im Prinzip erkennbar ist ((EpReg◊K)), die im Prinzip begründet behauptet werden können ((EpReg◊JB)) oder die zumindest simpliciter behauptbar sind ((EpReg◊B)). Wer zum Beispiel die so verstandene Transzendenzthese (NonAll◊JB) oder auch ihre modalisierte Variante behauptet, legt sich, mit Crispin Wright gesprochen, darauf fest, „[…] that our depictive powers may outstrip our cognitive capacities, that truth may intelligibly transcend evidence“.32 Davon sind radikale epistemische Transzendenzthesen zu unterscheiden, wie sie etwa von Alston und Nagel vertreten werden. So fragt Alston: „Might there not be states of affairs, or even entire realms or aspects of reality, that are totally inaccessible to human cognition?“33. Eine direkte affirmative Antwort gibt Alston zwar nicht, er meint aber, dass eine solche durch generelle Überlegungen zumindest plausibilisiert und argumentativ gestützt werden kann.34 Thomas Nagel ist in diesem Punkt entschlossener. Er vertritt einen Realismus, 31
32 33 34
Vgl. dazu Dummett 1978, S. 146, u. Wright 1987b, S. 2. Dummett und Wright formulieren den Grundgedanken epistemischer Transzendenzthesen dort freilich nur. Sie vertreten ihn nicht. Wright 1987b, S. 3. Wright argumentiert dort gegen diese These. Alston 1996, S. 200. Vgl. Alston 1996, S. 201: „But how plausible is it that there are realms or aspects of reality that are in principle inaccessible to human cognition? There are general
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen „[…] according to which our grasp on the world is limited not only in respect of what we can know but also in respect of what we can conceive. In a very strong sense, the world extends beyond the reach of our minds.“35
Nagels zugleich epistemologische und ontologische These kann auf diese Weise paraphrasiert und erläutert werden: Wir können nicht ausschließen, dass unser kognitiver Zugang zur Welt prinzipiell eingeschränkt ist, da wir nicht ausschließen können, dass es Aspekte der Realität gibt, die für uns epistemisch vollkommen unzugänglich sind – epistemisch unzugänglich nicht allein in dem Sinn, dass die Beschaffenheit dieser Aspekte der Realität für uns unerkennbar ist, sondern in dem sehr viel radikaleren Sinn, dass wir über ihre Beschaffenheit noch nicht einmal Vermutungen oder Annahmen formulieren können, schlicht und einfach, weil uns prinzipiell die begrifflichen Mittel dazu fehlen. Wahre (oder auch falsche) Propositionen über solche „aspects of reality“36 – Realitätsaspekte, von denen wir uns keinen Begriff machen und über die wir nichts anderes sagen können, als dass es sie möglicherweise gibt37 – könnten Nagel zufolge allein in Sprachen zum Ausdruck gebracht werden, die, wenn sie existierten, nicht oder nur teilweise in menschliche Sprachen übersetzbar wären.38 Nagel behauptet also unter anderem, es könne Propositionen geben, für die gilt:
35 36 37
38
considerations that render it quite plausible.“ (Hervorhebung getilgt.) Die generellen Überlegungen, die Alston an dieser Stelle ins Spiel bringt, betreffen zum einen die Endlichkeit unserer kognitiven Kompetenzen, also die Grenzen des von uns epistemisch und intellektuell Leistbaren, und zum anderen die Partikularität unseres spezifisch menschlichen kognitiven Zugangs zur Welt. Vgl. Alston 1996, S. 201. Nagel 1986, S. 90. Nagel 1986, S. 92. Vgl. Nagel 1986, S. 92: „About some of what we cannot conceive we are able to speak vaguely–this may include the mental lives of alien creatures, or what went on before the Big Bang–but about some of it we may be unable to say anything at all, except that there might be such things. The only sense in which we can conceive of them is under that description–that is as things of which we can form no conception–or under the all-encompassing thought ‘Everything,’ or the Parmenidean thought ‘What is.’“ Verwandte Thesen vertreten Fodor 1983, S. 120-126, und McGinn 1993. Vgl. dazu die Diskussion in Rosenkranz 2007, S. 89-103. Vgl. Nagel 1986, S. 97; Alston 1996, S. 200 f., und in diesem Zusammenhang auch Künnes Rede von „language[s] which humans are constitutionally unable to
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269
1. Wir können sie nicht sprachlich zum Ausdruck bringen und nicht verstehen. 2. Sie sind wahr. 3. Es ist uns prinzipiell unmöglich, sie als wahr zu erkennen, sie zu begründen oder zu behaupten. Der dritte Punkt ist im Blick auf die von Nagel vertretene und von Alston zumindest für plausibel gehaltene radikale epistemische Transzendenzthese freilich trivial. Wenn es wahre Propositionen gibt, die nicht bloß kontingenterweise, sondern notwendigerweise jenseits des von uns Verstehbaren und Denkbaren liegen, dann gilt a fortiori, dass wir diese Propositionen nicht als wahr erkennen, mit Gründen behaupten oder auch nur simpliciter behaupten können. Für die folgende Diskussion ist es glücklicherweise nicht notwendig, Argumente für und gegen die spekulative These zu erwägen, dass es epistemisch prinzipiell unzugängliche Aspekte der Realität geben könnte. Ebenso wenig muss hier die Frage diskutiert werden, ob es nicht Sprachen geben könnte, die zu erlernen menschlichen epistemischen Subjekten unmöglich ist und in denen Propositionen zum Ausdruck gebracht werden könnten, die für Menschen prinzipiell unverstehbar sind. In den nächsten beiden Abschnitten diskutiere ich einen Einwand gegen epistemische Regulative, der gänzlich ohne ontologische und sprachphilosophische Spekulationen auskommt. Zuvor will ich aber noch auf eine Inkonsistenz hinweisen, die Habermas’ wahrheitstheoretische Überlegungen zueigen ist, seitdem er sich die folgende epistemische Transzendenzthese zu eigen gemacht hat: „‚Wahrheit‘ ist ein rechtfertigungstranszendenter Begriff, der auch nicht mit dem Begriff ideal gerechtfertigter Behauptbarkeit zur Deckung gebracht werden kann.“39 Im Einklang mit dieser These und im Gegensatz zu der zuvor von ihm vertretenen Konsenstheorie charakterisiert Habermas nun auch den diskursiven Wahrheitsanspruch als einen „über alle potentiell verfügbaren
39
master“ (Künne 2003, S. 360, siehe auch S. 246-248) sowie Williamson 1987 und Hacker 1996, die sich ebenso wie Künne und Nagel gegen Davidsons These wenden, dass die Rede von unübersetzbaren Sprachen inkohärent ist (vgl. Davidson 1984). Habermas 1999c, S. 284 f., vgl. 1999d, S. 50.
270
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Evidenzen hinausweisenden Anspruch“40. Habermas scheint hier nicht allein behaupten zu wollen, dass ‚Wahrheit‘ – anders als seiner Ansicht nach ‚moralische Richtigkeit‘41 – nicht dasselbe bedeutet wie ‚ideal begründete Behauptbarkeit‘, sondern darüber hinaus, dass alle Wahrheiten, also alle wahren Aussagen, in einem bestimmten Sinn begründungstranszendent sind. Obwohl er damit seine in IV.4.2 diskutierte Konsenstheorie der Wahrheit vollständig verwirft, hält er nach wie vor daran fest, dass sich die Wahrheit „von Aussagen nur im diskursiven Durchgang durch das Medium verfügbarer Gründe erweisen [kann]“.42 Er verwendet ferner das Konzept des Wahrheitsanspruchs weiterhin als einen Grundbegriff in der Rekonstruktion des kommunikativen Handelns und des Verstehens sprachlicher Äußerungen – ungeachtet der Tatsache, dass er Wahrheitsansprüche jetzt als prinzipiell rechtfertigungstranszendent betrachtet. Habermas sieht nun selbst, dass er sich mit dieser Konstellation von Thesen das Problem einhandelt, erklären zu müssen, „warum wir einen für ‚p‘ explizit erhobenen Wahrheitsanspruch als eingelöst betrachten dürfen, sobald die Aussage [‚p‘] unter Diskursbedingungen rational akzeptiert ist.“43 Er versucht die damit eingeforderte Erklärung44 zunächst ausgehend von dem Hinweis zu liefern, dass Argumentationen über problematisierte Wahrheitsansprüche aus der Perspektive „handelnder Subjekte“ und angesichts des „Hand40 41 42
43 44
Habermas 1999c, S. 288, vgl. auch 1999b sowie 1999d, S. 15 f. u. S. 48-55. Siehe oben, Abschnitt IV.4.2, sowie Habermas 2002, S. 297. Habermas 1999c, S. 284. Habermas’ Konsenstheorie bestand ja im Kern aus einer Theorie der argumentativen Einlösung von Wahrheitsansprüchen durch Gründe und beruhte auf der methodologisch leitenden Annahme, dass „das Konzept der Gültigkeit eines Satzes [nicht] unabhängig vom Konzept der Einlösung eines mit der Äußerung dieses Satzes erhobenen Geltungsanspruchs geklärt werden kann.“ (Habermas 1981, Bd. I, S. 424.) Vgl. auch 1984a, S. 135 f.: „Die Idee der Wahrheit läßt sich nur mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten.“ Ferner 1984a, S. 136: „Der Sinn von Wahrheit, der in der Pragmatik von Behauptungen impliziert ist, läßt sich erst hinreichend klären, wenn wir angeben können, was ‚diskursive Einlösung‘ von erfahrungsfundierten Geltungsansprüchen bedeutet. Genau dies ist das Ziel einer Konsensustheorie der Wahrheit.“ Habermas verwirft die Konsenstheorie insofern vollständig, als er die mit diesen Zitaten umrissenen Grundgedanken dieser Theorie verwirft. Habermas 1999b, S. 260, vgl. S. 261; 1999c, S. 290, sowie 1999d, S. 53. Vgl. Habermas 1999d, S. 53 f.
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271
lungsbedarf[s] der Lebenswelt“ nicht „Selbstzweck“, sondern „Mittel zu anderen Zwecken“45 sind. Sie haben, so Habermas, in erster Linie „die Funktion [...], ein partiell gestörtes Hintergrundeinverständnis wiederherzustellen“46. So betrachtet, gehe es in argumentativen Diskursen also vor allem um eine „‚Entsorgung‘ von Handlungsunsicherheiten“: „Aus der Perspektive von Handelnden, die nur zeitweise die reflexive Einstellung von Argumentationsteilnehmern einnehmen, um ein partiell erschüttertes Wissen auszubessern, gewinnt die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen den Sinn einer Lizenz zur Rückkehr in die Naivität der Lebenswelt.“47
Ohne Frage beruft sich Habermas hier auf eine wichtige praktische Funktion von als eingelöst bewerteten Wahrheitsansprüchen: Aussagen, die wir auf der Basis von Argumenten als überzeugend begründet einschätzen, verwenden wir oftmals zur Planung und Orientierung von Handlungen. Damit ist aber noch keine Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage gegeben, weshalb Aussagen, die vor dem Hintergrund der jeweils verfügbaren Informationen und Argumente de facto als überzeugend begründet bewertet werden, rationalerweise für wahr gehalten werden dürfen. Mit dem Hinweis darauf, dass wir als Akteure in der Lebenswelt auf „handlungsleitende Gewissheiten“48 angewiesen sind und dem argumentativen Diskurs die Herstellung solcher Gewissheiten auch zutrauen, stellt Habermas bloß einmal mehr fest, dass wir uns zuweilen durch Argumente von der Wahrheit von Aussagen überzeugen lassen. In der Einleitung zu „Wahrheit und Rechtfertigung“ räumt er diesen Punkt explizit ein und weist darauf hin, dass die von ihm angebotene „funktionale Erklärung [...] schon voraussetzt, was erklärt werden soll – den rationalen Grund für den Perspektivenwechsel vom Diskurs zum Handeln.“49 Habermas’ neuere wahrheitstheoretische Thesen sind äußerst problematisch, weil er sie zwar weiterhin im Rekurs auf das normative Konzept eines diskursiven Gültigkeitsanspruchs auf Wahrheit formuliert, aber nicht mehr angeben kann, unter welchen Bedingungen Wahrheitsansprüche diskursiv eingelöst wären. Letztlich vertritt er die beiden folgenden Thesen: 45 46 47 48 49
Habermas 1999c, S. 292. Habermas 1999d, S. 53; vgl. 1999b, S. 262-265, u. 1999d, S. 53 Habermas 1999c, S. 292. Dazu Apels Kritik in Apel 2003, S. 192-195. Habermas 1999c, S. 291. Habermas 1999d, S. 54.
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(a) Wahrheitsansprüche können durch Gründe und Argumente als berechtigt erhoben erwiesen werden.50 (b) Wahrheitsansprüche sind prinzipiell begründungstranszendente Gültigkeitsansprüche.51 Zwischen diesen beiden Thesen besteht eine offensichtliche Spannung. These (a) setzt voraus, dass Gründe und Argumente rationalerweise als Lizenzen für die Anerkennung von Wahrheitsansprüchen behandelt werden dürfen. Diese Voraussetzung ist aber nur dann legitim, wenn zumindest ein verstehbarer Begriff der Einlösbarkeit von Wahrheitsansprüchen durch Gründe und Argumente expliziert werden kann. Mit These (b) dagegen wird Letzteres gerade bestritten, denn sie besagt ja, dass Wahrheitsansprüche prinzipiell begründungstranszendent sind. Insofern sind die Thesen (a) und (b) jedenfalls prima facie inkonsistent. Diese latente Widersprüchlichkeit zeigt sich zum Beispiel in der folgenden Formulierung von Habermas: „Zwar lassen sich Wahrheitsansprüche in Diskursen nicht einlösen; aber es sind allein Argumente, durch die wir uns von der Wahrheit problematischer Aussagen überzeugen lassen.“52
Hier fragt sich, weshalb wir uns weiterhin durch Argumente von der Wahrheit problematischer Aussagen überzeugen lassen sollten, obwohl wir Habermas zufolge wissen oder doch wissen können, dass Wahrheitsansprüche in Argumentationen nicht einlösbar und insofern auch nicht als zu Recht erhoben erweisbar sind. Mit Habermas’ vollkommen genereller Kennzeichnung von Wahrheit als Gültigkeitstypus, „der alle möglichen Rechtfertigungen transzendiert“53, wird letztlich bereits seine These unplausibel, dass Sprecher mit ihren Behauptungen Wahrheitsansprüche erheben: Würde es zutreffen, dass wir jedes Mal, wenn wir eine gegebene Aussage p behaupten, für p einen Anspruch auf begründungstranszendente Gültigkeit erheben, dann würden wir uns mit unseren Behauptungen gleichsam permanent und systematisch selbst überschätzen. Eine Theorie des kommunikativen Handelns, die Sprechern Wahrheitsansprüche zuschreibt, muss aber angeben können, unter welchen Bedingungen diese 50 51 52 53
Vgl. Habermas 1999c, S. 284. Vgl. Habermas 1999c, S. 288. Habermas 2001, S. 37. Habermas 1999c, S. 288.
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273
Ansprüche mit den Mitteln und Wegen des kommunikativen Handelns selbst eingelöst beziehungsweise als zu Recht erhoben erwiesen wären. Dieses Erfordernis ergibt sich aus der einfachen Überlegung, dass die Rede von Ansprüchen nur dort einen wohlbestimmten Sinn hat, wo verständlich gemacht werden kann, unter welchen Bedingungen ein Anspruch zu Recht und unter welchen er zu Unrecht geltend gemacht wird. Wenn Wahrheit ‚alle möglichen Rechtfertigungen transzendiert‘, Rechtfertigungen aber zugleich das einzige sein sollen, was wir zur Einlösung von Wahrheitsansprüchen zur Verfügung haben, dann verliert der Begriff des Wahrheitsanspruchs seine Berechtigung im Rahmen einer Theorie des sprachlichen Handelns und des Verstehens sprachlicher Äußerungen – jedenfalls dürfen ihm dann keine theoretischen Erklärungs- und Begründungsleistungen mehr zugemutet werden. In dieser Hinsicht erscheint Habermas’ heutige Position wie eine inkonsequente Variante der in Abschnitt I.4 diskutierten Position Rortys. Habermas’ These, dass Wahrheit ‚alle möglichen Rechtfertigungen transzendiert‘, unterscheidet sich von Rortys These, „[...] that truth is too sublime, so to speak, to be either recognized or aimed at“, letztlich nur dadurch, dass sie nicht mit Hilfe ästhetisch-psychologischer Metaphern formuliert ist. Dort, wo Rorty von „impossible, indefinable, sublime objects of desire“54 redet, spricht Habermas von prinzipiell uneinlösbaren Gültigkeitsansprüchen. Anders als Rorty zieht Habermas aus seiner These allerdings nicht die naheliegende Konsequenz, dass es unter der Voraussetzung der Unerkennbarkeit und Begründungstranszendenz der Wahrheit unsinnig ist, Wahrheitsansprüche weiterhin als konstitutive Elemente der kommunikativen Praxis auszuzeichnen. Wenn die Charakterisierung von Wahrheitsansprüchen als prinzipiell rechtfertigungstranszendent zuträfe und ferner die von Habermas nach wie vor vertretene These, dass jede Behauptung intern mit dem Erheben von Wahrheitsansprüchen verbunden ist, dann wäre Habermas’ Behauptung, dass Wahrheit begründungstranszendent ist, seiner eigenen Theorie gemäß eine irrationale Handlung. Eine Explikation der Praxis des Behauptens, die solche irrationalen Gültigkeitsansprüche als konstitutiv für die von ihr explizierte Praxis kennzeichnet, ist aber inakzeptabel. Sie untergräbt zudem ihren eigenen Rationalitätsanspruch, indem sie sich jener systematischen Selbstüberschätzung, die sie 54
Die letzten beiden Zitate: Rorty 2000a, S. 2.
274
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den Teilnehmern der diskursiven Praxis implizit attestiert, selbst schuldig macht. Wenn es für Behauptungshandlungen konstitutiv ist, dass mit ihnen Wahrheitsansprüche erhoben werden, dann gilt für jede derartige Handlung, dass sie nur dann normativ korrekt ist, wenn der mit ihr verbundene Wahrheitsanspruch berechtigterweise erhoben wird und eingelöst werden kann. Wenn sich ferner die Berechtigung eines erhobenen Wahrheitsanspruchs allein durch Gründe erweisen lässt, dann muss angenommen werden, dass auf der Basis von Gründen und Argumenten eine rationale Einschätzung der normativen Korrektheit von erhobenen Wahrheitsansprüchen möglich ist. Anderenfalls wird die Annahme, dass Sprecher mit ihren Behauptungen Wahrheitsansprüche erheben, selbst fragwürdig. Dieser Punkt lässt sich genereller fassen: Wer in der Rekonstruktion einer Praxis P behauptet, dass P durch die Norm N reguliert ist, legt sich die theoretische Verpflichtung auf, anzugeben, unter welchen Bedingungen die Norm N in P erfüllt ist oder doch zumindest, unter welchen Bedingungen sie erfüllt wäre. Wenn sich dagegen zeigt, dass eine Erfüllung der in der Rekonstruktion explikativ verwendeten Norm N in der Praxis P unmöglich ist, dann spricht dies nicht für die These, dass die Praxis P stets hinter der Erfüllung ihrer eigenen Normen zurückbleibt, sondern es ist ein hervorragender Grund für die Annahme, dass die jeweils thematische Rekonstruktion von P inakzeptabel ist. In der folgenden Passage scheint Habermas den paradoxen Gehalt seiner neueren wahrheitstheoretischen Festlegungen einzuräumen: „Es ist das Ziel von Rechtfertigungen, eine Wahrheit herauszufinden, die über alle Rechtfertigungen hinausragt. Dieser transzendierende Bezug [...] versetzt [...] die Diskursteilnehmer in eine paradoxe Lage. Einerseits können sie kontroverse Wahrheitsansprüche ohne direkten Zugriff auf Wahrheitsbedingungen nur dank der Überzeugungskraft guter Gründe einlösen, andererseits stehen auch die besten Gründe unter Fallibilitätsvorbehalt, so daß gerade dort, wo ja die Wahrheit und Falschheit von Aussagen allein zum Thema gemacht wird, die Kluft zwischen rationaler Akzeptabilität und Wahrheit nicht überbrückt werden kann.“55
Hier scheint Habermas die von ihm behauptete Begründungstranszendenz der Wahrheit schlicht im Sinne der fallibilistischen These zu verstehen, dass auch die besten uns verfügbaren Gründe die Wahrheit dessen, was sie 55
Habermas 1999d, S. 53; vgl 1999c, S. 288.
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275
jeweils begründen sollen, nicht epistemisch garantieren können. Wenn er mit seiner These der Begründungstranszendenz der Wahrheit aber nur behaupten will, dass die Resultate argumentativer Begründungen fallibel sind, dann wird unklar, weshalb er sie gegen seine vormals vertretene Konsenstheorie der Wahrheit ausspielt. Letztere ist mit dem Fallibilismus vollkommen vereinbar, denn aus (WHabermas‘72)56 folgt nicht, dass eine gegebene Proposition p nur dann wahr ist, wenn p unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation infallibel begründet werden könnte. Nachvollziehbar ist die zuletzt zitierte Passage in ihrem dialektischen Kontext einer Kritik epistemischer Wahrheitskonzeptionen allein unter Zuhilfenahme der hermeneutischen Konjektur, dass Habermas von der Voraussetzung ausgeht, es ginge epistemischen Erläuterungen des Wahrheitsbegriffs darum, die ‚Kluft zwischen rationaler Akzeptabilität und Wahrheit‘ durch ein idealisiertes Konzept infallibler, also epistemisch wahrheitsgarantierender Begründung57 ‚zu überbrücken‘. Im Kontext der kritischen Diskussion der Konsenstheorien von Peirce und Apel ist aber bereits deutlich geworden, dass diese Voraussetzung auf einem Missverständnis beruht – oder doch zumindest, dass sie allemal fragwürdig ist.58 Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen behaupten nicht – oder sollten nicht behaupten –, dass Überzeugungen und Behauptungen, die unter idealen epistemischen Bedingungen zustande kommen würden, der epistemische Status der Infallibilität zukäme. Sie behaupten vielmehr, dass die propositionalen Gehalte derartiger Überzeugungen und Behauptungen nicht falsch sein könnten, und diese These ist, wenn die in Kapitel II gegebene Erläuterung des Prädikats ‚fallibel‘ zutrifft, nicht identisch mit der These, dass Überzeugungen und Behauptungen unter idealen epistemischen Bedingungen infallibel wären.
56 57 58
Vgl. IV.4.2. Vgl. II.1.4. Vgl. III.3 und IV.4.3.
276 V.3
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Fitchs Argument und das ‚Paradox of Knowability‘
Was die Operatoren K, JB, B und V angeht, so sind für das Verständnis der in diesem und den nächsten Abschnitten diskutierten Argumente ausschließlich die in V.1 eingeführten Prinzipien der Faktivität propositionalen Wissens sowie der Distributivität des Wissens, Behauptens, Begründens und Verstehens über Konjunktionen relevant. Diese Argumente setzen also keine substantielle und kontroverse Erkenntnis- oder Behauptungstheorie voraus. In Bezug auf die Modaloperatoren ◊ (‚es ist möglich, dass‘) und (‚es ist notwendig, dass‘) wird nichts weiter angenommen als die oben bereits eingeführten Prinzipien (Dual) und (-Einführung).59 Im vorliegenden Abschnitt wird zunächst ein Argument diskutiert, welches auf den Nachweis abzielt, dass jeder, der das epistemische Regulativ (EpReg◊K) vertritt, auf die Anerkennung der offensichtlich falschen These (AllK) festgelegt ist, derzufolge jede wahre Aussage de facto irgendwann einmal von irgendjemandem als wahr erkannt wird. Dieses auf den Logiker Frederic B. Fitch zurückgehende Argument involviert eine Anwendung der klassisch-logischen Schlussregel Duplex negatio affirmat, deren uneingeschränkte Gültigkeit von Proponenten der intuitionistischen Logik bestritten wird. Da sich manche Autoren auf diesen Punkt berufen, um die argumentative Relevanz von Fitchs Argument in der Diskussion epistemischer Regulative in Frage zu stellen, formuliere ich anschließend eine intuitionistisch unproblematische Variante dieses Arguments.60 Letztere erweist, dass jeder, der das epistemische Regulativ (EpReg◊K) vertritt, darauf festgelegt ist, die These (NonAllK) zu bestreiten, also die Negation der These zu vertreten, dass manche wahren Aussagen de facto niemals als wahr erkannt werden. In beiden Varianten erweist dieses Argument, dass die von manchen Proponenten epistemischer Wahrheitstheorien als unproblematisch vorausgesetzte Konjunktion des epistemischen Regulativs 59
60
Siehe oben, Abschnitt V.1, S. 263. Dazu Williamson 1982, S. 203; 1992 u. 2000, S. 273. Die im Folgenden diskutierten Argumente lassen sich zum Beispiel in dem normalen modallogischen System T formulieren, wenn man es jeweils um die Operatoren K, JB, B oder V ergänzt. Zu normalen modallogischen Systemen vgl. Chellas 1980, Kap. 4, und Girle 2000, S. 28-50. Vgl. zu der angesprochenen Argumentationsstrategie DeVidi u. Solomon 2001; Dummett 2009; Sander 2006, 2008 u. 2009; Williamson 1982 u. 1988.
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277
(EpReg◊K) und der These (NonAllK) inkonsistent ist. Dieses Resultat spricht gegen (EpReg◊K), denn es gibt keinen guten Grund, zu bestreiten, dass manche wahren Aussagen de facto niemals von irgendjemandem als wahr erkannt werden. Im weiteren Verlauf der Diskussion wird sich zeigen, dass ähnliche Argumente auch gegen die Konsistenz der Konjunktionen ‚(EpReg◊JB) und (NonAllJB)‘ sowie ‚(EpReg◊B) und (NonAllB)‘ sprechen (V.5). In dem 1963 veröffentlichten Aufsatz „A Logical Analysis of some Value Concepts“ hat Fitch ein Argument für das folgende Konditional – er nennt es dort ‚Theorem 5‘ – formuliert: (Theorem 5) „If there is some true proposition which nobody knows (or has known or will know) to be true, then there is a true proposition which nobody can know to be true.“61 In die hier verwendete Schreibweise übertragen, lautet (Theorem 5) folgendermaßen: (Theorem 5) ∃α(α∧¬Kα)→∃α(α∧¬◊Kα) Wenn es eine wahre Proposition gibt, die niemals als wahr erkannt wird (die niemals propositionaler Gehalt eines Wissens ist), dann gibt es eine wahre Proposition, die nicht als wahr erkannt werden kann (die nicht propositionaler Gehalt eines Wissens sein kann). Fitchs Argument für (Theorem 5) beruht auf der Überlegung, dass jeder wahren Aussage p, die de facto niemals als wahr erkannt wird, eine wahre Aussage korrespondiert, die nicht als wahr erkannt werden kann, nämlich die Konjunktion p∧¬Kp.62 In der folgenden klassisch-logisch äquivalenten Formulierung ist (Theorem 5) als ‚Paradox of Knowability‘ bekannt und zum Gegenstand einer bis heute anhaltenden, inzwischen sehr umfangreichen und differenzierten Diskussion geworden:63 61
62
63
Fitch 1963, S. 139. Wie bereits angedeutet, schreibt Fitch die Grundzüge seines Beweises von (Theorem 5) – ebenso wie diejenigen seines Beweises von ‚Theorem 4‘: „For each agent who is not omniscient, there is a true proposition which that agent cannot know.“ (Fitch 1963, S. 138) – einem anonymen Gutachter des Journal of Symbolic Logic zu. Vgl. Fitch 1963, S. 138, Anm. 5; dazu Salerno 2009a. Vgl. Williamson 2000, S. 270: „Every point of contingent ignorance corresponds to a point of necessary ignorance.“ Für den Stand der Debatte vgl. Salerno (Hg.) 2009.
278
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(◊K-Paradox) ∀α(α→◊Kα)→∀α(α→Kα) Wenn jede wahre Aussage als wahr erkennbar ist, dann gilt für jede wahre Aussage, dass sie (zu irgendeinem Zeitpunkt von irgendjemandem) als wahr erkannt wird. Alternativ: Wenn jede wahre Aussage propositionaler Gehalt eines Wissens sein kann, dann ist jede wahre Aussage zu irgendeinem Zeitpunkt propositionaler Gehalt eines Wissens. Hier ließe sich über die Frage streiten, ob es wirklich gute Gründe dafür gibt, dieses beweisbare Konditional (siehe unten (Argument B)) als ein Paradoxon anzusehen.64 Überraschend ist (◊K-Paradox) aber allemal: Man sollte zwar erwarten, dass die modale These der Erkennbarkeit aller wahren Aussagen als wahr aus der nicht-modalen These des faktischen Erkanntseins aller wahren Aussagen als wahr folgt, nicht aber, dass auch umgekehrt die nicht-modale These des faktischen Erkanntseins aus der modalen der Erkennbarkeit folgt. Da sich der Name ‚Paradox of Knowability‘ in der Literatur etabliert hat, behalte ich ihn hier bei. Zentral für den Beweis von (◊K-Paradox) und mutatis mutandis von (Theorem 5) ist die folgende Aussage – bei Fitch ‚Theorem 1‘65: (Theorem 1) Ist Ω ein faktiver epistemischer Operator, der über Konjunktionen distribuiert, dann gilt für jede beliebige Proposition α: ¬◊Ω(α∧¬Ωα). Fitchs Argument für (Theorem 1) kann unter Annahme der im Antezedens von (Theorem 1) spezifizierten Bedingungen (FaktΩ) ∀α(Ωα→α) Für alle Propositionen α gilt: Wenn ge-Ω-t wird, dass α, dann ist es wahr, dass α. und (DistΩ) ∀α∀β[Ω(α∧β)→(Ωα∧Ωβ)] Für alle Propositionen α und β gilt: Wenn ge-Ω-t wird, dass (α und β), dann wird ge-Ω-t, dass α, und ge-Ω-t, dass β. 64
65
Vgl. Williamson 2000, S. 271. Die detaillierteste Verteidigung der These, dass man es als ein solches ansehen sollte, liefert Kvanvig 2006, S. 1-6 und S. 35-55. Vgl. Fitch 1963, S. 138. Ich passe Fitchs ‚Theorem 1‘ an die hier verwendete Terminologie und Notationsweise an.
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279
folgendermaßen rekonstruiert werden: 1 (1) Ann. Ω(p∧¬Ωp) 1 (2) 1, (DistΩ) Ωp∧Ω¬Ωp 1 (3) Ω¬Ωp 2, ∧-Elimin. 1 (4) 3, (FaktΩ) ¬Ωp 1 (5) Ωp 2, ∧-Elimin. 1 (6) 4, 5, ∧-Einf. ⊥ --(7) 1, 6, RAA ¬Ω(p∧¬Ωp) Da die Menge der Dependenzen von Zeile (7) leer ist, darf gemäß der Regel der Nezessitation (-Einführung) Wenn ├p, dann p von Zeile (7) auf --(8) ¬Ω(p∧¬Ωp)
7, (-Einführung) geschlossen werden. Gemäß der gegenseitigen Definierbarkeit von ‚notwendigerweise nicht‘ und ‚nicht möglich‘
(Dual) ¬p ┤├ ¬◊p erhalten wir: --(9) 8, (Dual) ¬◊Ω(p∧¬Ωp) Ein epistemischer Operator, der die im Antezedens von (Theorem 1) spezifizierten Bedingungen erfüllt, ist der Wissensoperator K. Es gilt sowohl (FaktK) ∀α(Kα→α) Für alle Propositionen α gilt: Wenn gewusst wird, dass α, dann ist α wahr. wie auch (DistK) ∀α∀β[K(α∧β)→(Kα∧Kβ)] Für alle Propositionen α und β gilt: Wenn gewusst wird, dass (α und β), dann wird gewusst, dass α, und gewusst, dass β.66 Wird Ω in dem obigen Argument durch K ersetzt, so ergibt sich:67 66
Das Konvers von (DistK) ist ungültig: Aus der Tatsache, dass eine Person S weiß, dass p, und weiß, dass q, folgt nicht, dass S weiß, dass (p und q). Es kann schließlich sein, dass S ihr Wissen, dass p, und ihr Wissen, dass q, nie in einen inferentiellen Zusammenhang bringt.
280
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(Argument A) 1 (1) Ann. K(p∧¬Kp) 1 (2) 1, (DistK) Kp∧K¬Kp 1 (3) K¬Kp 2, ∧-Elimin. 1 (4) 3, (FaktK) ¬Kp 1 (5) Kp 2, ∧-Elimin. 1 (6) 4, 5, ∧-Einf. ⊥ --(7) 1, 6, RAA ¬K(p∧¬Kp) --(8) ¬K(p∧¬Kp) 7, (-Einführung) --(9) 8, (Dual) ¬◊K(p∧¬Kp) (Argument A) weist nach, dass wir von einer Wahrheit, die de facto niemals als wahr erkannt wird, nicht wissen können, dass sie eine de facto niemals als wahr erkannte Wahrheit ist.68 Wissen distribuiert über Konjunktionen, das heißt, um zu wissen, dass eine gegebene Proposition p eine unerkannte Wahrheit ist (Zeile (1)), müsste man sowohl wissen, dass p, als auch wissen, dass niemand jemals weiß, dass p (Zeile (2)). Wenn aber jemand weiß, dass niemand jemals weiß, dass p (Zeile (3)), dann weiß auch niemand jemals, dass p: Propositionales Wissen ist faktiv (Zeile (4)). Die Konjunktion in Zeile (2) ist inkonsistent. Aus der Annahme in Zeile (1) folgt also ein Widerspruch (Zeile (6)), und damit ist sie als falsch erwiesen (Zeile (7)). Nun sind widersprüchliche Aussagen nicht bloß kontingenterweise, sondern notwendig falsch (Zeile (8)), und was notwendigerweise nicht der Fall ist, ist nicht möglich (Zeile (9)). Im Rückgriff auf die Konklusion von (Argument A) kann nun (◊KParadox) – also auch Fitchs (Theorem 5) – bewiesen werden: 67
68
Weitere epistemische Konzepte, die sowohl faktiv sind als auch über Konjunktionen distribuieren und insofern für den Platzhalter Ω eingesetzt werden können, sind zum Beispiel‚es ist bewiesen, dass‘, ‚es ist erkannt, dass‘ und ‚es ist verifiziert, dass‘. Ich verwende die Ausdrücke ‚eine Wahrheit‘ und ‚Wahrheiten‘ hier – wie auch zuvor – als Abkürzungen für ‚eine wahre Aussage/Proposition‘ beziehungsweise für ‚wahre Aussagen/Propositionen‘, die Ausdrücke ‚Wahrheit, die niemals als wahr erkannt wird‘ und ‚nicht erkannte Wahrheit‘ als Abkürzungen für ‚wahre Aussage/Proposition, die weder in der Vergangenheit als wahr erkannt wurde noch jetzt als wahr erkannt ist oder in Zukunft als wahr erkannt werden wird‘.
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281
(Argument B)69 1 (1) 2 (2) 1 (3) 1, 2 (4) --(5) 1, 2 (6) 1 (7) 1 (8) 1 (9) --(10)
Ann. (EpReg◊K) ∀α(α→◊Kα) Ann. p∧¬Kp (p∧¬Kp)→◊K(p∧¬Kp) 1, ∀-Instantiierung 2, 3 MP ◊K(p∧¬Kp) Theorem-Einf.70 ¬◊K(p∧¬Kp) 4, 5, ∧-Einf. ⊥ 2, 6 RAA ¬(p∧¬Kp) p→Kp 7, ¬(P∧¬Q)→(P→Q) ∀α(α→Kα) 8, ∀-Einf. ∀α(α→◊Kα)→∀α(α→Kα) 1, 9, →-Einf. Zur Erläuterung von (Argument B): In Zeile (1) wird die Gültigkeit des epistemischen Regulativs (EpReg◊K) angenommen: Alle Wahrheiten sind als wahr erkennbar. Nun gibt es ohne Zweifel sehr viele wahre Propositionen, die zwar prinzipiell als wahr erkennbar sind, für die aber gilt: Sie waren de facto niemals propositionaler Gehalt einer Erkenntnis respektive eines Wissens, sind es jetzt nicht und werden es auch niemals sein. Zwar ist es nicht möglich, ein Beispiel für eine solche Aussage anzuführen – auf diesen Punkt komme ich in Abschnitt V.6 zurück –, man muss jedoch nur an wahre Aussagen denken, deren Wahrheitswert festzustellen durchaus möglich wäre, die aber zu belanglos sind, als dass sich jemals irgendjemand um die Feststellung ihres Wahrheitswerts kümmern würde; oder auch an wahre Antworten auf Fragen, die de facto niemals (korrekt) beantwortet werden.71 In Zeile (2) wird angenommen, p sei eine solche wahre Proposition, die in der Vergangenheit niemals propositionaler Gehalt von Wissen war, es gegenwärtig nicht ist und auch in Zukunft niemals sein 69
70 71
Für eine Formulierung dieses Arguments, in der die in K impliziten Existenzquantifikationen über epistemische Subjekte und Zeiten explizit gemacht werden, vgl. Kvanvig 2006, S. 12 f. Siehe (Argument A). Vgl. Edgington 1985, S. 557: „I cannot, of course, give you an example [of an unknown truth, B.R.], but the simplest kind of case is the answer to a decidable question which it would be tedious, and pointless, to decide – the answer to the question, ‘How many occurences of the letter ‘k’ are there in this edition of the Encyclopaedia Britannica?’, say.“
282
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wird. Zeile (3) ist eine Instanz des in Zeile (1) als gültig angenommenen epistemischen Regulativs (EpReg◊K): Wenn es wahr ist, dass die Aussage p eine niemals als wahr erkannte Wahrheit ist, dann ist es auch möglich, zu wissen respektive zu erkennen, dass p eine niemals als wahr erkannte Wahrheit ist. Aus (2) und (3) folgt die Aussage, dass die Proposition, welche durch die in Zeile (2) angenommene Konjunktion p∧¬Kp zum Ausdruck gebracht wird, Gehalt eines Wissens sein beziehungsweise als wahr erkannt werden kann (Zeile (4)). Aus (Argument A) wissen wir aber bereits, dass dies nicht möglich ist (Zeile (5)). Zeile (4) und Zeile (5) widersprechen einander (Zeile (6)). Via Reductio ad absurdum kann nun entweder auf die Negation von Zeile (1) oder auf die Negation von Zeile (2) geschlossen werden. Wer (EpReg◊K) nicht schon an diesem Punkt verabschieden will, der wird sich für Letzteres entscheiden (Zeile (7)). Zeile (7) ist klassisch-logisch äquivalent mit dem Konditional in Zeile (8).72 Da die Dependenzziffer von Zeile (8) nicht auf eine Beweiszeile zurückverweist, die ‚p‘ enthält, darf generalisiert werden (Zeile (9)). Die Allquantifikation in Zeile (9) ist nun nichts anderes als die These (AllK), auf deren Anerkennung sich verständlicherweise kein Proponent von (EpReg◊K) einlassen will. Durch konditionalen Beweis kann auf (◊K-Paradox), also auf ‚(EpReg◊K)→(AllK)‘, geschlossen werden (Zeile (10)). (◊K-Paradox) ist, wie oben bereits bemerkt, klassisch-logisch äquivalent mit Fitchs (Theorem 5), also mit ‚(NonAllK)→(NonAll◊K)‘: ∃α(α∧¬Kα)→∃α(α∧¬◊Kα). Unter der Voraussetzung, dass (FaktK), (DistK), (-Einführung) und (Dual) gültig sind, erweist (Argument B), dass aus dem epistemischen Regulativ (EpReg◊K) klassisch-logisch die inakzeptable, weil offensichtlich falsche These (AllK) folgt: Wenn jede wahre Proposition als wahr erkannt werden kann, dann gilt für jede wahre Proposition, dass sie irgendwann einmal als wahr erkannt war, es jetzt ist oder in Zukunft einmal sein wird. (Argument A) und (Argument B) exemplifizieren zusammengenommen die oben, in Abschnitt V.2, erläuterte Argumentationsstrategie (b) gegen das epistemische Regulativ (EpReg◊K). Im Folgenden bezeichne ich die Kombination von (Argument A) und (Argument B) als ‚Fitchs Argument‘.73 72 73
Intuitionistisch-logisch gilt diese Äquivalenz nicht. Darauf komme ich zurück. Hier soll auf einen Punkt zumindest hingewiesen werden, den ich im Folgenden nicht weiter diskutieren werde: Unter Voraussetzung des unstrittigen modalen
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283
Fitchs Argument wirft für all diejenigen ein Problem auf, die zum einen das epistemische Regulativ (EpReg◊K) vertreten, zum anderen aber nicht bestreiten wollen, dass die These (NonAllK) gültig ist, dass es also wahre Aussagen gibt, die de facto niemals als wahr erkannt werden.74 Dazu gehören, wie oben deutlich wurde, zumindest Peirce, Dummett und – mit den in Abschnitt III.4 gemachten Einschränkungen – Crispin Wright. Wie zu Beginn dieses Abschnitts bereits angedeutet, ist Fitchs Argument intuitionistisch-logisch ungültig. Genauer gesagt, trifft dies freilich nur auf (Argument B) zu. Im Gegensatz zu (Argument A), in dem ausschließlich Schlussregeln verwendet werden, die sowohl klassisch als auch intuitionistisch gültig sind, involviert die Ableitung der Konklusion von (Argument B) beim Übergang von Zeile (7) zu Zeile (8) eine Anwendung der nur klassisch, nicht aber intuitionistisch gültigen Schlussregel Duplex negatio affirmat (DNA):
Prinzips, dass alles, was wirklich ist, auch möglich ist (P→◊P), kann auch das Konvers der Konklusion von (Argument B) – also ‚∀α(α→Kα)→∀α(α→◊Kα)‘ beziehungsweise ‚(AllK)→(EpReg◊K)‘ – bewiesen werden, so dass sich die Thesen (EpReg◊K) und (AllK) letztlich als klassisch-logisch äquivalent erweisen (vgl. dazu Kvanvig 2006, S. 52): 1 (1) ∀α(α→Kα) Ann. 1 (2) p→Kp 1, ∀-Instantiierung 3 (3) p Ann. 1, 3 (4) Kp 2, 3, MP 1, 3 (5) ◊Kp 4, Q→◊Q 1 (6) p→◊Kp 3, 5, →-Einf. 1 (7) ∀α(α→◊Kα) 6, ∀-Einf. --(8) ∀α(α→Kα)→∀α(α→◊Kα) 1, 7, →-Einf. Der Vordersatz des Konditionals in Zeile (8) ist die These (AllK), der Nachsatz die These (EpReg◊K). Die logische Äquivalenz dieser beiden Thesen lässt sich nun so ableiten: --(9) ∀α(α→◊Kα)→∀α(α→Kα) Theorem-Einf. (s. (Argument B)) --(10) ∀α(α→◊Kα)↔∀α(α→Kα) 8, 9, ↔-Einf. 74
Die Gültigkeit der These (NonAllK) nicht zu bestreiten, heißt nicht, ihre Gültigkeit zu behaupten.
284 i ii iii ii, iii i, ii, iii i, ii i, ii i
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(i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi) (vii) (viii)
Ann. ¬(p∧¬Kp) Ann. p Ann. ¬Kp p∧¬Kp ii, iii, ∧-Einf. i, iv, ∧-Einf. ⊥ iii, v, RAA ¬¬Kp Kp vi, DNA p→Kp ii, vii, →-Einf. Konstruktiv ist das Argument (i)-(viii) nur bis einschließlich Zeile (vi) akzeptabel. Ein Proponent der intuitionistischen Logik wird hier darauf hinweisen, dass via konditionalen Beweis dementsprechend nicht auf p→Kp, sondern nur auf p→¬¬Kp (ii, vi, →-Einführung) geschlossen werden darf. Und da, wie gesagt, (DNA) intuitionistisch nicht gültig ist, folgt p→Kp konstruktiv nicht aus p→¬¬Kp. Beschränkt man sich auf die Anwendung konstruktiv akzeptabler Schlussregeln, dann lässt sich also nicht erweisen, dass (EpReg◊K) die These (AllK) impliziert. Intuitionistisch folgt aus (EpReg◊K) – zusammen mit (FaktK), (DistK), (Dual) und (-Einführung) – nur die (konstruktiv) schwächere Aussage (All¬¬K) ∀α(α→¬¬Kα).75 Das intuitionistische ‚Gegenstück‘ zur Konklusion von (Argument B) ist dementsprechend die These (EpReg◊K)→(All¬¬K): (KonklusionInt) ∀α(α→Kα)→∀α(α→¬¬Kα). Für einen intuitionistisch-logisch argumentierenden Proponenten S von (EpReg◊K) ergibt sich an dieser Stelle die Möglichkeit, (All¬¬K) anzuerkennen und die These, dass nicht alle wahren Aussagen de facto irgendwann einmal als wahr erkannt werden, folgendermaßen zum Ausdruck zu bringen: (NonAllK-Int) ¬∀α(α→Kα).76 (NonAllK-Int) impliziert intuitionistisch nicht die These (NonAllK), und insofern kann S die kaum sinnvoll bestreitbare faktische Begrenztheit unseres Wissens mit Hilfe von (NonAllK-Int) einräumen, ohne sich dadurch auf die 75 76
Vgl. Williamson 1982, S. 205 f. Vgl. dazu Williamson 1982, S. 206.
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285
These (NonAllK) festzulegen, derzufolge manche wahren Aussagen de facto niemals als wahr erkannt werden. An diesem Punkt muss aber eingewandt werden, dass sich (KonklusionInt) für Proponenten von (EpReg◊K) bei genauerer Betrachtung als letztlich ebenso problematisch erweist wie die These (EpReg◊K)→(AllK), also als ebenso problematisch wie (◊K-Paradox) ∀α(α→Kα)→∀α(α→Kα). (All¬¬K), der Nachsatz von (KonklusionInt), besagt, dass für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es nicht nicht der Fall, dass irgendwann einmal von irgendjemandem erkannt respektive gewusst wird, dass α. Zwar impliziert (All¬¬K) intuitionistisch-logisch nicht die Aussage (AllK), derzufolge jede Wahrheit irgendwann einmal als wahr erkannt wird, aber aus (All¬¬K) folgt konstruktiv die These (¬K:¬P) ∀α(¬Kα→¬α).77 Nun besagt (¬K:¬P), dass alle Aussagen, die de facto niemals von jemandem als wahr erkannt werden, falsch sind78, und dass diese These inakzeptabel ist, kann leicht verdeutlicht werden: Nehmen wir an, dass niemand jemals erkannt hat oder erkennen wird, dass Caesar während der Überquerung des Rubikon von einer Mücke gestochen wurde (¬Kp). Nehmen wir weiter an, dass niemand jemals erkannt hat oder erkennen wird, dass Caesar während der Überquerung des Rubikon nicht von einer Mücke gestochen wurde (¬K¬p). Wäre die These (¬K:¬P) wahr, dann wäre die Konjunktion dieser beiden Annahmen inkonsistent, denn sie würde implizieren, 77
78
Dies zeigt das folgende intuitionistisch gültige Argument: 1 (1) ∀α(α→¬¬Kα) Ann. 1 (2) p→¬¬Kp 1, ∀-Instantiierung 3 (3) ¬Kp Ann. 4 (4) p Ann. 1, 4 (5) ¬¬Kp 2, 4, MP 1, 3, 4 (6) ⊥ 3, 5, ∧-Einf. 1, 3 (7) ¬p 4, 6, RAA 1 (8) ¬Kp→¬p 3, 7, →-Einf. 1 (9) ∀α(¬Kα→¬α) 8, ∀-Einf. --(10) ∀α(α→¬¬Kα)→∀α(¬Kα→¬α) 1, 9, →-Einf. Vgl. etwa Kvanvig 2006, S. 147; Percival 1990; S. 186, u. Rosenkranz 2002, S. 17.
286
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dass Caesar während der Überquerung des Rubikon sowohl nicht wie auch nicht nicht von einer Mücke gestochen wurde. Die Konjunktion der Annahmen ¬Kp und ¬K¬p ist aber evidentermaßen konsistent. Daraus, dass niemand jemals weiß, dass p, folgt nicht, dass es falsch ist, dass p. Und daraus, dass niemand jemals weiß, dass non-p, folgt nicht, dass es falsch ist, dass non-p. Die Konjunktion der Annahmen ¬Kp, ¬K¬p und ∀α(¬Kα→¬α) ist sowohl klassisch wie auch intuitionistisch widersprüchlich: 1 (1) ∀α(¬Kα→¬α) Ann. (¬K:¬P) 2 (2) Ann. ¬Kp∧¬K¬p 1 (3) ¬Kp→¬p 1, ∀-Instantiierung 2 (4) ¬Kp 2, ∧-Elimin. 1,2 (5) 3, 4, MP ¬p 1 (6) ¬K¬p→¬¬p 1, ∀-Instantiierung 2 (7) ¬K¬p 2, ∧-Elimin. 1,2 (8) 6, 7, MP ¬¬p 1,2 (9) 5, 8, ∧-Einf. ⊥ Hier kann nun (klassisch wie auch intuitionistisch) entweder auf die Negation von Zeile (1) oder auf die von Zeile (2) geschlossen werden. Wollte man an (¬K:¬P) festhalten, so müsste man sich für den Schluss auf die Negation von (2) entscheiden: 1 (10) ¬(¬Kp∧¬K¬p) 2, 9, RAA Hier darf generalisiert werden: 1 (11) ∀α¬(¬Kα∧¬K¬α)
10, ∀-Einf. Zeile (11) ist intuitionistisch äquivalent mit der folgenden negierten Existenzaussage: 1 (12) ¬∃α(¬Kα∧¬K¬α) 11, ∀x¬Fx↔¬∃xFx79 Die negierte Existenzaussage in Zeile (12) – nennen wir sie (NE) – besagt: Für keine Proposition gilt, dass weder sie selbst jemals als wahr erkannt wird noch ihr kontradiktorisches Gegenteil. Auch diese intuitionistisch aus (¬K:¬P) folgende These ist kaum plausibel. 79
Diese Quantorenäquivalenz ist intuitionistisch uneingeschränkt gültig.
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287
Eine weitere problematische Konsequenz, die sich auf intuitionistisch akzeptable Weise aus (EpReg◊K) ableiten lässt, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der intuitionistisch inakzeptable Schritt in (Argument B) im Übergang von Zeile (7) zu Zeile (8) besteht, also von ¬(p∧¬Kp) zu p→Kp. Wie bereits deutlich wurde, wird ein Proponent der intuitionistischen Logik allenfalls einräumen, dass von ¬(p∧¬Kp) auf p→¬¬Kp und dann über eine ∀-Einführung auf (All¬¬K) geschlossen werden darf. Er wird aber ebenfalls einräumen, dass stattdessen in Zeile (8) direkt mit einer ∀-Einführung fortgesetzt werden kann: (Argument B’) 1 (1) Ann. (EpReg◊K) ∀α(α→◊Kα) 2 (2) Ann. p∧¬Kp 1 (3) (p∧¬Kp)→◊K(p∧¬Kp) 1, ∀-Instantiierung 1, 2 (4) 2, 3 MP ◊K(p∧¬Kp) --(5) Theorem-Einf. ¬◊K(p∧¬Kp) 1, 2 (6) 4, 5, ∧-Einf. ⊥ 1 (7) 2, 6 RAA ¬(p∧¬Kp) 1 (8) ∀α¬(α∧¬Kα) 7, ∀-Einf. 1 (9) ¬∃α(α∧¬Kα) 8, ∀x¬Fx↔¬∃xFx Die negierte Existenzaussage in Zeile (9) von (Argument B’), also die Negation von (NonAllK), besagt: Für keine wahre Aussage gilt, dass sie niemals als wahr erkannt wird. Während es zunächst so schien, als könne der intuitionistisch argumentierende Proponent S von (EpReg◊K) der faktischen Begrenztheit unseres Wissens durch die These (NonAllK-Int) Ausdruck verleihen, ohne sich dadurch auf die Anerkennung von (NonAllK) festzulegen, wird hier deutlich, dass S die These (NonAllK) sogar bestreiten muss. Nun ist die Negation von (NonAllK) zwar intuitionistisch nicht äquivalent mit der These (AllK), derzufolge alle Wahrheiten irgendwann einmal als wahr erkannt werden, sie ist aber um keinen Deut plausibler als (AllK). Insofern (¬K:¬P), (NE) und die Negation von (NonAllK) konstruktiv aus dem Nachsatz von (KonklusionInt) folgen, also aus (All¬¬K), ist damit deutlich geworden, dass sich aus (EpReg◊K) auch dann inakzeptable Konsequenzen ableiten lassen, wenn man sich auf die Anwendung intuitionistisch gültiger Schlussregeln beschränkt.
288 V.4
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Was zeigt Fitchs Argument?
Auf der Grundlage bescheidener Annahmen in Bezug auf den Wissensbegriff ((FaktK) und (DistK)) sowie im Blick auf die Rede von Möglichkeit und Notwendigkeit ((-Einführung) und (Dual)) weist (Argument A) nach, dass keine Aussage der Form ‚p∧¬Kp‘ als wahr erkannt werden kann. Für einen Proponenten S des epistemischen Regulativs (EpReg◊K) wäre dieses Resultat allein dann unproblematisch, wenn er entweder wenigstens eine der genannten Annahmen als illegitim erweisen oder aber mit guten Gründen behaupten könnte, dass es keine wahren Aussagen der Form ‚p∧¬Kp‘ gibt. (FaktK) und (DistK) sollten unstrittig sein. Wollte S (FaktK) bestreiten, so müsste er nachweisen, dass eine unwahre Aussage trotz ihrer Unwahrheit propositionaler Gehalt von Wissen sein kann.80 Und wollte er (DistK) bestreiten, müsste er nachweisen, dass die folgende Situation konsistent denkbar ist: Eine Person weiß, dass eine gegebene Konjunktion C wahr ist (eine wahre Proposition zum Ausdruck bringt), obwohl sie dies nicht in Bezug auf jedes Konjunkt von C weiß. Weder das eine noch das andere lässt sich aber nachweisen, denn beides widerspricht evidentermaßen unserem Verständnis des Konzepts propositionalen Wissens – und im letzten Fall zudem unserem Verständnis von Konjunktionen. Die begrifflichen Prinzipien (FaktK) und (DistK) werden in der Diskussion zum ‚Paradox of Knowability‘ dementsprechend auch fast einmütig als unproblematisch angesehen.81 Dasselbe gilt für den Rekurs auf die modalen Prinzipien (-Einführung) und (Dual) in (Argument A): Eine Aussage, die sich mit Hilfe rein begrifflicher und logischer Überlegungen als widersprüchlich erweisen lässt, ist notwendigerweise falsch, und was notwendigerweise falsch ist, ist unmöglich wahr. Der Rekurs auf die Nezessitationsregel (-Einführung) in Zeile (8) sowie auf die gegenseitige Definierbarkeit von ‚notwendigerweise nicht‘ und ‚nicht möglich‘ respektive auf (Dual) in Zeile (9) von (Argu80
81
Eine Person weiß nur dann, dass p, wenn sie die Aussage p für wahr hält, und von einer Person, die eine unwahre Aussage für wahr hält, würden wir normalerweise sagen, dass sie sich irrt. Vgl. aber Kelp u. Pritchard 2009, die für eine abgeschwächte Version von (FaktK) argumentieren. Williamson hat eine Version von Fitchs Argument formuliert, die ohne Rekurs auf (DistK) auskommt. Vgl. Williamson 1993 u. 2000, S. 282 f.
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289
ment A) ist insofern legitim. Anstatt auf (-Einführung) und (Dual) zu rekurrieren, könnte man auch direkt von dem Prinzip ausgehen, dass eine logisch-begrifflich widersprüchliche Aussage unmöglich wahr sein kann. Unter dieser Voraussetzung ließe sich von Zeile (7) in (Argument A) unmittelbar auf ¬◊K(p∧¬Kp) schließen.82 Erkennt S den Rekurs auf die in (Argument A) investierten begrifflichen und modalen Prinzipien als legitim an, so muss er Gründe für die Akzeptabilität der folgenden These liefern: (NonNonAllK) ¬∃α(α∧¬Kα) Es gibt keine wahren Aussagen, die de facto niemals als wahr erkannt werden. Wie aber sollten solche Gründe beschaffen sein? Ohne an dieser Stelle die theologische Idee eines allwissenden Wesens ins Spiel zu bringen83 – was dem hier vorausgesetzten impliziten Bezug des Wissensoperators K auf endliche und fallible Wesen zuwiderliefe – sind Gründe für (NonNonAllK) kaum denkbar. In seiner klassisch-logischen Variante ((Argument A) plus (Argument B)) erweist Fitchs Argument, dass (EpReg◊K) die These (AllK) impliziert, der zufolge jede Wahrheit de facto irgendwann einmal als wahr erkannt wird. In seiner klassisch und intuitionistisch akzeptablen Variante ((Argument A) plus (Argument B’)) erweist es, dass (EpReg◊K) die Negation der These (NonAllK) impliziert, also die Aussage, dass es keine wahre Proposition gibt, die niemals als wahr erkannt wird. In beiden Varianten zeigt Fitchs Argument demnach, dass man nicht auf konsistente Weise das epistemische Regulativ (EpReg◊K) behaupten und zugleich die These (NonAllK) als gültig anerkennen kann. Auch Peirces (implizite) Behauptung, man könne (EpReg◊K) als wahrheitstheoretische These vertreten und sich als 82
83
Tennant bewertet die These „(◊⊥) [a]bsurd propositions are impossible“ als „unimpeachable modal principle“ (Tennant 1997, S. 256 f.). Im Kontext der Diskussion über das ‚Paradox of Knowability‘ wird dieses Prinzip in Beall 2000 aus der Perspektive einer parakonsistenten Logik in Frage gestellt. Beall versucht dort die These zu plausibilisieren, dass aus dem Nachweis der Widersprüchlichkeit von K(p∧¬Kp) nicht auf ¬◊K(p∧¬Kp) geschlossen werden darf. Parakonsistente Antworten auf Fitchs Argument lasse ich hier unberücksichtigt. Vgl. dazu Plantinga 1982.
290
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Wahrheitstheoretiker zugleich jeder Festlegung in Bezug auf den Gültigkeitsstatus von (NonAllK) enthalten84, erweist sich damit als ungerechtfertigt. Denn aus (EpReg◊K) folgt, wie (Argument B’) deutlich macht, die These (NonNonAllK), so dass jeder, der (EpReg◊K) vertritt, nolens volens auch darauf festgelegt ist, zu bestreiten, dass es de facto unerkannte Wahrheiten gibt. Die von Peirce vorgeschlagene ‚agnostische‘ Haltung gegenüber (NonAllK) kann daher rationalerweise nur einnehmen, wer sich entweder auch hinsichtlich der Gültigkeit oder Ungültigkeit von (EpReg◊K) einer Festlegung enthält, oder wer dieses epistemische Regulativ geradewegs bestreitet. A fortiori steht auch die Anerkennung der allenfalls unter den Vorzeichen bestimmter theologischer Denkfiguren bestreitbaren These (NonAllK) nur den Kritikern des epistemischen Regulativs (EpReg◊K) offen. Proponenten von (EpReg◊K) setzen in der Regel voraus, dass dieses epistemische Regulativ mit der These (NonAllK) logisch vereinbar ist. Sie behaupten, dass die Wahrheit von Aussagen nicht jenseits des Erkennbaren liegt, und gehen dabei von der Annahme aus, dass mit dieser Behauptung keinerlei Festlegung in Bezug auf die Beantwortung der Frage verbunden ist, ob nicht manche Wahrheiten jenseits des de facto irgendwann einmal als wahr Erkannten liegen. Fitchs Argument erweist, dass diese Annahme falsch ist – (EpReg◊K) impliziert (NonNonAllK) –, und insofern besteht eine seiner Stärken gerade darin, dass es an epistemische Wahrheitskonzeptionen nicht als externe Kritik herangetragen werden muss. Es zeigt vielmehr im Sinne einer immanenten Kritik eine Inkonsistenz zwischen zwei Aussagen auf, deren erste ((EpReg◊K)) eine Kernthese dieser Wahrheitskonzeptionen darstellt, und deren zweite ((NonAllK)) kein Proponent dieser Wahrheitskonzeptionen bestreiten will – und die zu bestreiten absurd wäre. Dass Fitchs Argument einen guten Grund dafür liefert, die Gültigkeit des epistemischen Regulativs (EpReg◊K) in Frage zu stellen, wird inzwischen nicht mehr nur von Kritikern epistemisch regulierter Wahrheitskonzeptionen behauptet, sondern auch von einigen (ehemaligen) Proponenten der Erkennbarkeitsthese (EpReg◊K) eingeräumt, die das ‚Paradox of Knowability‘ zur Kenntnis genommen und durchdacht haben.85 So haben zum 84 85
Siehe oben, Abschnitte III.2 und V.1. Einige Kritiker der Erkennbarkeitsthese interpretieren Fitchs Argument als eine vollständige und konklusive Widerlegung nicht allein des epistemischen Regula-
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291
Beispiel Neil Tennant und Michael Dummett mit einer Einschränkung des Gültigkeitsbereichs des von ihnen zuvor als uneingeschränkt gültig anerkannten epistemischen Regulativs (EpReg◊K) reagiert und sich auf die Behauptung der schwächeren These zurückgezogen, dass für alle Propositionen α gilt: Wenn α wahr ist und bestimmte zusätzliche Bedingungen erfüllt, dann ist es möglich, zu erkennen beziehungsweise zu wissen, dass α. Tennant schränkt den Gültigkeitsbereich von (EpReg◊K) auf Propositionen ein, in Bezug auf die konsistenterweise angenommen werden kann, sie seien Gehalt einer Erkenntnis beziehungsweise eines Wissens.86 Er nennt diese Propositionen ‚Cartesianisch‘ und formuliert sein eingeschränktes epistemisches Regulativ dann folgendermaßen: „All Cartesian truths are knowable.“87 Durch die Einschränkung der Erkennbarkeitsthese auf in Tennants Sinn ‚Cartesianische‘ Propositionen wird Fitchs Argument blockiert: Weil die Annahme K(p∧¬Kp) beweisbar inkonsistent ist88, ist die Instantiierung von (EpReg◊K) durch die Konjunktion p∧¬Kp in Zeile (3) von (Argument B) beziehungsweise (Argument B’) Tennants eingeschränkter Version des epistemischen Regulativs zufolge unzulässig. Dummett reduziert den Gültigkeitsbereich von (EpReg◊K) in dem Aufsatz „Victor’s Error“ auf „basic statements“89. Zwar erläutert er dort nicht genauer, was er unter einem ‚basic statement‘ versteht, aber aus dem Zusammenhang wird
86 87
88 89
tivs (EpReg◊K), sondern sogar der grundlegenden Intuition epistemischer Wahrheitstheorien insgesamt – also der Idee, dass Wahrheit keine begründungs- respektive rechtfertigungstranszendente Eigenschaft von Aussagen sein kann. Vgl. dazu etwa Hart u. McGinn 1976, S. 206, sowie Hart 1979, S. 156 und S. 164 f., Anm. 3. Für eine Kritik dieser starken Interpretation der Relevanz von Fitchs Argument vgl. Edgington 1985, S. 568, u. Williamson 1982, S. 203: „Perennial philosopher’s hopes are unlikely victims of swift, natural deduction.“ Inzwischen scheint aber auch Williamson der Ansicht zu sein, dass Fitchs Argument eine Widerlegung der Erkennbarkeitsthese (EpReg◊K) darstellt. Vgl. Williamson 2000, S. 271. Eine Variante von Harts und McGinns Einschätzung der dialektischen Relevanz von Fitchs Argument für die Diskussion epistemischer Wahrheitstheorien wird von Künne vertreten (vgl. Künne 2003, S. 424-452). Dazu unten, Abschnitt V.5. Vgl. Tennant 1997, Kap. 8, bes. S. 272-276; 2001a, 2001b, 2002 u. 2009. Tennant 2002, S. 136; dort auch: „A Cartesian proposition is a proposition – of any syntactic complexity – such that Kp is consistent.“ Vgl. oben (Argument A). Dummett 2001, S. 1.
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
deutlich, dass er eine Aussage nur dann als ‚basic‘ zählen will, wenn sie keine logischen Junktoren enthält, also logisch elementar ist. Durch Dummetts Restriktion von (EpRegK) wird Fitchs Argument an derselben Stelle blockiert wie durch Tennants Einschränkung: Keine Konjunktion ist logisch elementar, und daher fällt jede Aussage der Form ‚p∧¬Kp‘ aus dem Gültigkeitsbereich der von Dummett auf ‚basic statements‘ eingeschränkten Erkennbarkeitsthese heraus. Beide Argumentationsstrategien sind wenig überzeugend, solange der einzige Grund, der für die jeweils vorgeschlagene Restriktion von (EpReg◊K) angeführt wird, in dem Hinweis darauf besteht, dass sie es erlaubt, die durch Fitchs Argument aufgezeigten Schwierigkeiten für eine uneingeschränkte Erkennbarkeitsthese zu umgehen. So ist dann auch sowohl gegen Tennant wie gegen Dummett der Einwand erhoben worden, dass sie durch ihre Einschränkungen der Erkennbarkeitsthese bloß ad hoc auf das Problem antworten, welches durch Fitchs Argument für Proponenten von (EpReg◊K) aufgeworfen wird.90 Dieser Einwand ist berechtigt. Wer ihn vorbringt muss keineswegs bestreiten, dass es sich bei den abgeschwächten epistemischen Regulativen durchaus noch um substantielle und kontroverse Thesen handelt. Denn es gibt unzählige wahre Aussagen, zu deren Wahrheitsbedingungen es nicht gehört, dass sie niemals als wahr erkannt werden, und ebenso gibt es unzählige wahre Aussagen, die in Dummetts Sinn ‚basic‘ sind. Der für die Triftigkeit des Ad-hoc-Einwandes ausschlaggebende Punkt ist ist vielmehr dieser: Die von Dummett und Tennant vorgeschlagenen abgeschwächten epistemischen Regulative stellen keine epistemisch-wahrheitstheoretischen Thesen mehr dar. Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen beanspruchen, mit ihren jeweiligen Erkennbarkeits-, Begründbarkeits- oder Behauptbarkeitsthesen, grundlegende Elemente der Bedeutung des Wahrheitsbegriffs aufzudecken: Man habe diesen Begriff nicht vollständig verstanden, wenn man bestreite oder auch nur bezweifle, dass Erkennbarkeit, Begründbarkeit und Behauptbarkeit notwendige Bedingungen für Wahrheit sind. Wer nur noch ein im Sinne Dummetts oder Tennants abgeschwächtes epistemisches Regulativ vertreten will, muss diese Behauptung aber offenbar aufgeben. 90
Vgl. dazu Hand u. Kvanvig 1999; Brogaard u. Salerno 2002, S. 144; Hand 2003, S. 220; Kvanvig 2006, S. 69-78.
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Hinsichtlich Dummetts Restriktion von (EpReg◊K) auf logisch elementare Aussagen liegt darüber hinaus der Einwand nahe, dass sie als Antwort auf Fitchs Argument viel zu weit geht. Schließlich zeigen (Argument A) und (Argument B) nur im Blick auf sehr spezifische logisch komplexe Aussagen, dass die Annahme ihrer Wahrheit logisch unvereinbar ist mit der Annahme ihrer Erkennbarkeit als wahr. Es gibt zahllose andere logisch komplexe Aussagen, deren Wahrheit mit der Annahme, sie seien als wahr erkannt respektive Gehalt eines Wissens, vollkommen vereinbar ist. Dummetts Restriktion schließt nun nicht nur all diejenigen logisch komplexen Aussagen aus dem Gültigkeitsbereich des von ihm vorgeschlagenen epistemischen Regulativs aus, welche der uneingeschränkten Erkennbarkeitsthese Probleme bereiten, sondern alle logisch komplexen Aussagen.91 Um ein deutlicheres Bild der dialektischen Relevanz von Fitchs Argument im Kontext der Diskussion über das epistemische Regulativ (EpReg◊K) zu gewinnen, ist es notwendig, auf die spezifische Beschaffenheit derjenigen Aussagen einzugehen, von denen (Argument A) erweist, dass sie nicht als wahr erkannt werden können. Zur Veranschaulichung bietet es sich an, von einer konkreten Situation auszugehen. Die Disjunktion der folgenden beiden Sätze bringt zweifellos eine wahre Proposition zum Ausdruck92: (a) Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist gerade. (b) Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist ungerade. 91
92
Künne 2003, S. 446, bezeichnet die in Dummett 2001 vorgebrachte Antwort auf das Paradoxon der Erkennbarkeit insofern zu Recht als eine „draconian restriction on [the principle of knowability]“. In Dummett 2007, S. 348-350, distanziert sich Dummett von seiner in „Victor’s Error“ vorgeschlagenen Antwort auf Fitchs Argument. Vgl. auch Dummett 2009: dazu Salerno 2009b, S. 6 f. Um sperrige Formulierungen zu vermeiden, spreche ich hier und im Folgenden davon, dass Sätze Propositionen zum Ausdruck bringen. Streng genommen ist das unangemessen. Vgl. zu diesem Punkt Strawson 1949, S. 94, Anm. 1. Sprecher verwenden Sätze dazu, Propositionen zum Ausdruck zu bringen. Ebenfalls im Interesse der Lesbarkeit spreche ich hier und im Folgenden von der Wahrheit oder Falschheit von Sätzen, und nicht von der Wahrheit oder Falschheit der Propositionen, die Sprecher zum Ausdruck bringen, indem sie Sätze verwenden.
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
Wenn die Disjunktion ‚(a)∨(b)‘ wahr ist, dann ist (genau) eines ihrer Disjunkte wahr. Die Frage, welches der beiden Disjunkte wahr ist, wäre problemlos beantwortbar, wenn ich selbst oder eine andere Person die Briefe, die ich vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt habe, gezählt hätte. Von mir selbst weiß ich, dass ich dies nicht getan habe, und es ist davon auszugehen, dass auch niemand sonst mitgezählt hat. Nehmen wir – plausiblerweise – an, dass sich de facto niemand jemals auch nur darum bemüht, festzustellen, ob (a) wahr ist oder vielmehr (b). Unter dieser Bedingung ist auch die Disjunktion der folgenden beiden Sätze wahr: (a’) Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist gerade, und niemand weiß, dass das so ist, oder wird es jemals wissen. (b’) Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist ungerade, und niemand weiß, dass das so ist, oder wird es jemals wissen. Nennen wir Sätze wie (a’) und (b’) beziehungsweise Sätze der Form ‚p∧¬Kp‘ Fitch-Konjunktionen. (Argument A) zeigt in Bezug auf jede beliebige Fitch-Konjunktion F, dass F nicht als wahr erkannt werden kann. Wenn die Disjunktion der Fitch-Konjunktionen (a’) und (b’) wahr ist, dann ist auch die Disjunktion der folgenden beiden Sätze wahr: (a’’) Der Satz (a’) bringt eine Wahrheit zum Ausdruck, die nicht als wahr erkannt werden kann. (b’’) Der Satz (b’) bringt eine Wahrheit zum Ausdruck, die nicht als wahr erkannt werden kann. Auf die damit illustrierte Art und Weise ließen sich beliebig viele weitere Disjunktionen F∨F’ von Fitch-Konjunktionen anführen, für die gilt: Wir haben gute (freilich fallible) Gründe dafür, die Disjunktion F∨F’ für wahr zu halten, obwohl wir keinerlei Grund dafür haben, eines der beiden Disjunkte für wahr zu halten. Fitchs Argument schuldet seine dialektische Relevanz als Einwand gegen (EpReg◊K) gerade der Tatsache, dass wir derartige Disjunktionen von Fitch-Konjunktionen auf sinnvolle und verstehbare Weise formulieren können. Insofern können (Argument A) und (Argument B) auch evidentermaßen nichts zu einer Begründung der im vorletzten Abschnitt skizzierten radikalen Transzendenzthesen beitragen. Sie liefern also zum Beispiel keinen Grund für Nagels und Alstons Behauptung, dass es
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
295
wahre Propositionen geben könnte, deren Wahrheit für uns unerkennbar ist, weil diese Propositionen für uns notwendigerweise unverstehbar sind. Der Grund für die Unerkennbarkeit der Wahrheit einer beliebigen wahren Fitch-Konjunktion lässt sich am besten im Rekurs auf das Konzept des Wissens-ob (KO) verdeutlichen: (DefKO) ∀α[(KOα)↔(Kα∨K¬α)] Für alle Aussagen α gilt: Es wird genau dann gewusst, ob α, wenn entweder gewusst wird, dass α, oder gewusst wird, dass non-α. Fitch-Konjunktionen bringen Propositionen zum Ausdruck, zu deren Wahrheitsbedingungen es gehört, dass de facto niemals jemand weiß, ob sie wahr sind. Die Unerkennbarkeit der Wahrheit einer gegebenen wahren Fitch-Konjunktion p∧¬Kp ist eine triviale Folge des Umstands, dass ihr erstes Konjunkt (p) nur dann als wahr erkannt wäre, wenn ihr zweites Konjunkt (¬Kp) falsch wäre, und dass ihr zweites Konjunkt (¬Kp) nur dann als wahr erkannt wäre, wenn ihr erstes Konjunkt (p) nicht als wahr erkannt wäre. Mit anderen Worten, für alle Fitch-Konjunktionen – sowohl für die wahren wie auch für die falschen – gilt: Wenn irgendjemand wüsste oder erkennen würde, ob sie wahr sind, dann wären sie falsch. Die Pointe von Fitchs Argument kann nun noch einmal in anderen Worten formuliert werden: Wenn es wahre Aussagen gibt, die falsch wären, wenn jemand wüsste, ob sie wahr sind, dann gibt es wahre Aussagen, die nicht als wahr erkannt werden können. Proponenten von (EpReg◊K) wollen nicht bestreiten, dass es wahre Aussagen der zuerst charakterisierten Art gibt. Fitchs Argument zeigt nun, dass sie genau dies bestreiten müssen, sofern sie an (EpReg◊K) festhalten wollen.
V.5
Begründete Behauptbarkeit, Behauptbarkeit und Verstehbarkeit
Fitchs Argument stellt einen Einwand gegen das epistemische Regulativ (EpReg◊K) dar. In Abschnitt V.1 wurde zwischen unterschiedlich anspruchsvollen epistemischen Regulativen differenziert. Eine für Proponenten eines epistemisch regulierten Wahrheitskonzepts naheliegende Reaktion auf Fitchs Argument könnte nun etwa folgendermaßen lauten:
296
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(Argument A) und (Argument B) respektive (Argument B’) zeigen zusammen, dass die Konjunktion der Thesen (EpReg◊K), (NonAllK), (DistK) und (FaktK) nicht konsistenterweise argumentativ vertreten werden kann. Weder (NonAllK) noch die beiden epistemisch-logischen Prinzipien (DistK) und (FaktK) sind problematisch. Daher spricht Fitchs Argument in der Tat dafür, dass (EpReg◊K) verworfen werden sollte. Nun ist dieses epistemische Regulativ aber mit Hilfe des Wissensbegriffs formuliert, und weil die Ableitung des Widerspruchs aus der Annahme K(p∧¬Kp) in (Argument A) auf (FaktK) rekurrieren muss, um von Zeile (3) zu Zeile (4) zu gelangen, liegt der Gedanke nahe, (EpReg◊K) nicht ersatzlos zu verwerfen, sondern durch ein schwächeres Regulativ zu ersetzen, das mit Hilfe eines nicht-faktiven epistemischen Konzepts formuliert ist.93 Zum Beispiel durch das folgende: (EpReg◊JB) ∀α(α→◊JBα) Für jede Aussage α gilt: Wenn es wahr ist, dass α, dann ist es möglich, mit Gründen zu behaupten, dass α. Ebenso wie ‚wissen, dass‘ (K) distribuiert auch ‚begründet behaupten, dass‘ (JB) über Konjunktionen: (DistJB) ∀α∀β[JB(α∧β)→(JBα∧JBβ)] Für jede Propositionen α und jede Proposition β gilt: Wenn begründet behauptet wird, dass (α und β), dann wird begründet behauptet, dass α, und begründet behauptet, dass β. Im Gegensatz zu propositionalem Wissen ist begründetes Behaupten aber nicht faktiv. Aus der Tatsache, dass eine gegebene Aussage p mit Gründen behauptet wird, folgt nicht, dass p wahr ist. Anders als die Annahme K(p∧¬Kp), welche auf einfache Weise als widersprüchlich und daher als logisch-begrifflich notwendig falsch erwiesen werden kann, ist die Annahme JB(p∧¬JBp) jedenfalls nicht offensichtlich widersprüchlich. Zwar kann aus ihr mit Hilfe von (DistJB) auf JBp∧JB¬JBp geschlossen werden. Ein offener Widerspruch ließe sich daraus, so könnte ein Proponent S von 93
Vgl. dazu die Diskussion in Mackie 1980 sowie Edgington 1985, S. 558: „One reaction is to blame the paradox on the truth-entailing property of knowledge, and conclude that a plausible verificationism must invoke a weaker epistemic attitude.“
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297
(EpReg◊JB) an dieser Stelle argumentieren, aber nur dann ableiten, wenn aus dem zweiten Konjunkt, also aus JB¬JBp, auf ¬JBp geschlossen werden dürfte. Dieser Schluss wäre aber, so S, ungerechtfertigt, da der Operator JB nicht faktiv ist. Fitchs Argument zeigt, dass ein Proponent von (EpReg◊K) darauf festgelegt ist, die These (NonAllK) zu bestreiten, weil die Annahme, eine Aussage der Form ‚p∧¬Kp‘ sei als wahr erkannt, beweisbar widersprüchlich ist und daher unmöglich wahr sein kann. Da Erkennbarkeit gemäß (EpReg◊K) eine notwendige Bedingung für Wahrheit darstellt, kann an diesem epistemischen Regulativ konsistenterweise nur festhalten, wer zugleich bereit ist, die offensichtlich falsche These zu akzeptieren, dass es keine wahren Aussagen gibt, die de facto niemals als wahr erkannt werden. Insofern demgegenüber die Annahme, eine Aussage der Form ‚p∧¬JBp‘ sei propositionaler Gehalt einer begründeten Behauptung, zumindest nicht offensichtlich widersprüchlich ist, kann man jedenfalls prima facie das Regulativ (EpReg◊JB) – und insbesondere seine Instanzen der Form ‚(p∧¬JBp)→◊JB(p∧¬JBp)‘ – vertreten, ohne sich dadurch darauf festzulegen, die These (NonAllJB) ∃α(α∧¬JBα) zu bestreiten. So scheint es zunächst, als sei das epistemische Regulativ (EpReg◊JB) vor einer entsprechenden Variante von Fitchs Argument sicher. Können sich Proponenten von (EpReg◊JB) hiermit zufrieden geben? Crispin Wright zufolge können sie es nicht, denn die Annahme ◊JB(p∧¬JBp) sei „absurd: It implies the possibility of a state of information in which one would be justified in claiming both the truth of a statement and the lack of any justification for it.“94
Diese Einschätzung ist intuitiv plausibel. Wenn sich trotz der Nichtfaktivität des Operators JB auf der Grundlage prinzipieller Überlegungen nachweisen ließe, dass die Annahme ◊JB(p∧¬JBp) für jede beliebige Aussage p absurd ist, dann wäre damit zugleich gezeigt, dass Proponenten des epistemischen Regulativs (EpReg◊JB) entgegen dem ersten Anschein doch da94
Wright 1987a, S. 311. Vgl. dazu auch Edgington 1985, S. 558; Kvanvig 2006, S. 19-25; Mackie 1980, S. 91 f., und Williamson 1988, S. 423.
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
rauf festgelegt sind, die These (NonAllJB) zu bestreiten.95 Anstatt der Frage nachzugehen, ob sich ein solcher Nachweis liefern lässt, will ich hier ein Argument Wolfgang Künnes ins Spiel bringen, welches dafür spricht, dass mit dem epistemischen Regulativ (EpReg◊JB) selbst dann gravierende Probleme verbunden sind, wenn die Annahme ◊JB(p∧¬JBp) konsistent ist. Ausgangspunkt von Künnes Argument ist die Behauptung, dass die folgende Aussage einen ‚gemeinsamen Nenner‘ (‚common denominator‘) aller epistemisch regulierten Wahrheitskonzeptionen – Künne spricht in diesem Zusammenhang von ‚alethischem Anti-Realismus‘96 – darstellt, eine These also, auf deren Anerkennung alle Proponenten eines epistemisch regulierten Wahrheitskonzepts festgelegt seien: „(ComDen) There is no true proposition such that the assumption that it is both true and the content of a justified belief implies a contradiction.“97 Ziel des Arguments ist die Widerlegung von (ComDen), also der Nachweis, dass es wahre Aussagen gibt, in Bezug auf welche die Annahme, sie seien wahr und Gehalt einer begründeten Überzeugung, widersprüchlich ist. Wenn (ComDen) eine Kernaussage aller epistemisch regulierten Wahrheitskonzeptionen wiedergibt, dann liegt Künne mit seiner folgenden Einschätzung richtig: „If (ComDen) can be shown to be incorrect, then alethic anti-realism is refuted.“98 Bevor ich Künnes Argument wiedergebe und eine allgemeiner gefasste Variante desselben geltend mache, sind einige Vorüberlegungen erforderlich. Zunächst: (ComDen) ist mit Hilfe des Konzepts der begründeten Überzeugung (‚justified belief‘) und nicht im Rekurs auf das der begründeten Behauptung (JB) formuliert. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Begriffen sind aber im vorliegenden Zusammenhang nebensächlich. Denn die einzige Annahme in Bezug auf das Konzept der begründeten Überzeugung, die durch Künnes Argument gegen (ComDen) ins Spiel gebracht 95
96 97 98
Wright liefert einen solchen Nachweis nicht, und auch Dorothy Edgington geht davon aus, die Absurdität von ◊JB(p∧¬JBp) sei evident. Vgl. Edgington 1985, S. 558; für eine vorsichtigere Einschätzung vgl. Künne 2003, S. 439-442. Vgl. Künne 2003, S. 20-32, passim. Künne 2003, S. 437. Künne 2003, S. 437.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
299
wird, besteht, wie im Folgenden deutlich werden wird, aus der These, dass man nur dann begründetermaßen von einer Konjunktion überzeugt ist, wenn man von jedem ihrer Konjunkte mit Gründen überzeugt ist.99 Diese Eigenschaft der Distributivität über Konjunktionen teilt das Konzept der begründeten Überzeugung mit demjenigen der begründeten Behauptung. Insofern würde es für die Frage nach der Triftigkeit von Künnes Argument keinen Unterschied machen, wenn man den Ausdruck ‚justified belief‘ in (ComDen) durch ‚justified assertion‘ respektive den Begriff der begründeten Überzeugung durch den der begründeten Behauptung ersetzte. Auch dem Einwand, dass (ComDen) ohnehin nur für solche epistemischen Wahrheitskonzeptionen gelten könne, die mit einem Regulativ arbeiten, das wenigstens ebenso anspruchsvoll ist wie (EpReg◊JB), und daher keinen gemeinsamen Nenner darstelle – ein Einwand, der im Blick auf die in Abschnitt V.1 unterschiedenen stärkeren und schwächeren epistemischen Regulative zunächst naheliegt –, kann mit dem Hinweis darauf begegnet werden, dass Künnes Argument hinsichtlich begründeter Überzeugungen nichts weiter voraussetzt als deren Distributivität: Nicht nur K und JB, sondern auch B und V distribuieren über Konjunktionen. Aus Gründen, die später deutlich werden, klammere ich den Operator V (‚es wird verstanden, dass‘) und das Regulativ (EpReg◊V) zunächst aus der Diskussion aus. ∆ stehe hier und im Weiteren als Platzhalter für die epistemischen Operatoren K, JB, JÜ (,es wird mit Gründen geglaubt, dass‘) und B: (Dist∆) ∀α∀β [∆(α∧β)→(∆α∧∆β)] Für jede Propositionen α und jede Proposition β gilt: Wenn ge-∆-t wird, dass (α und β), dann wird ge-∆-t, dass α, und ge-∆-t, dass β. Der Gedanke, der Künnes Formulierung von (ComDen) zugrundeliegt, sollte unstrittig sein: Wer immer das epistemische Regulativ (EpReg◊JÜ) ∀α(α→◊JÜα) vertritt, also die These, dass nur solche Aussagen wahr sind, die im Prinzip Gehalt einer begründeten Überzeugung sein können, muss auch die These vertreten, dass es keine wahre Aussage gibt, deren Wahrheit logisch mit der Annahme unvereinbar ist, sie sei Gehalt einer begründeten Überzeugung. Entsprechendes gilt mutatis mutandis für Proponenten der epistemi99
Vgl. Künne 2003, S. 437 f.
300
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
schen Regulative (EpReg◊K), (EpReg◊JB) und (EpReg◊B): Wer immer die These vertritt, dass nur solche Aussagen wahr sind, die im Prinzip ge-∆-t werden können, muss auch die These vertreten, dass es keine wahre Aussage gibt, deren Wahrheit logisch mit der Annahme unvereinbar ist, sie würde ge-∆-t. Proponenten der Regulative (EpReg◊K), (EpReg◊JÜ), (EpReg◊JB) und (EpReg◊B) sind also auf die Anerkennung der ihrem jeweiligen Regulativ korrespondierenden Variante der folgenden These festgelegt: (Π∆) Es gibt keine wahre Proposition α derart, dass die Annahme, α sei sowohl wahr als auch ge-∆-t, einen Widerspruch impliziert.100 Jeder Versuch, in Bezug auf eine einzelne gegebene Aussage s nachzuweisen, dass s ein Gegenbeispiel gegen eine der Varianten von (Π∆) darstellt, wäre müßig. Ein solcher Versuch kann nur scheitern.101 Eine aussichtsreichere Strategie, gegen (ComDen) oder eine der anderen Varianten von (Π∆) zu argumentieren, besteht in dem Versuch, eine Disjunktion D zu identifizieren, für die gilt: Wir haben keine Gründe dafür, die Wahrheit von D in Frage zu stellen, und für jedes Disjunkt von D ist die Annahme, es sei wahr und zugleich Gehalt einer Erkenntnis (beziehungsweise einer begründeten Behauptung, einer begründeten Überzeugung, einer Behauptung oder Überzeugung simpliciter), widersprüchlich. Künne formuliert die Beispieldisjunktion, mit deren Hilfe er (ComDen) zu widerlegen beansprucht, mit Bezug auf die Anzahl Z der Haare, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt t auf seinem Kopf befinden, und die zweifellos plausible Annahme, dass niemand jemals mit Gründen von einer der beiden folgenden Aussagen überzeugt ist: Z ist gerade. Z ist ungerade. Seine Beispieldisjunktion lautet so: „[O]ne of the following two sentences (ΣO) The number of hairs now on my head is odd, but nobody is ever justified in believing that this is so 100
101
Ein Proponent von (EpReg◊K) ist auf die Anerkennung der These festgelegt, die man erhält, wenn der Platzhalter Δ in (Π∆) durch K ersetzt wird, ein Proponent von (EpReg◊JB) auf die, die man erhält, wenn Δ in (Π∆) durch JB ersetzt wird, usw. Siehe dazu unten, Abschnitt V.6.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
301
(ΣE) The number of hairs now on my head is even, but nobody is ever justified in believing that this is so expresses a truth (with respect to me now)“102.
Um es mit Gegenständen zu tun zu haben, die leichter zählbar sind als die Haare auf einem Kopf, greife ich hier auf meine im letzten Abschnitt angeführten Beispielaussagen zurück: Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist gerade. (p) Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist ungerade. (¬p) Es darf mit guten, wenn auch falliblen, Gründen davon ausgegangen werden, dass niemand jemals wissen, begründet behaupten, mit Gründen davon überzeugt sein oder auch nur simpliciter behaupten wird, dass p – dass also gilt: ¬Δp. Dasselbe trifft für die Negation von p zu: ¬Δ¬p. Eine der beiden Aussagen p und ¬p ist aber wahr. Und insofern kann mit denselben guten, wenn auch falliblen, Gründen, welche für die Konjunktion ¬Δp∧¬Δ¬p sprechen, davon ausgegangen werden, dass die Disjunktion der folgenden beiden Sätze (xΔ) und (yΔ) eine wahre Proposition zum Ausdruck bringt, gleichviel durch welchen der epistemischen Operatoren K, JB, JÜ oder B der Platzhalter Δ in (xΔ) und (yΔ) jeweils ersetzt wird: (xΔ) p∧¬Δp Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist gerade, und es wird niemals ge-Δ-t, dass dies so ist. (yΔ) ¬p∧¬Δ¬p Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist ungerade, und es wird niemals ge-Δ-t, dass dies so ist. Die oben angekündigte generalisierte Version von Künnes Argument gegen (ComDen) kann nun folgendermaßen formuliert werden, wobei Δ, wie bisher, als Platzhalter für die Operatoren K, JB, Jü und B steht103:
102 103
Künne 2003, S. 431; vgl. auch Künne 2007, S. 334. Künne legt diese Variante seines Arguments selbst nahe. Vgl. Künne 2003, S. 442.
302
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(Argument C) 1 (1)
panΔp
Ann.
2
(2)
Δ(panΔp)
Ann.
2
(3)
Δp∧Δ(nΔp)
2, (DistΔ)
2
(4)
Δp
3, a-Elimin.
1
(5)
nΔp
1, a-Elimin.
1, 2
(6)
F
4, 5, a-Einf.
In Zeile (1) wird angenommen, dass (xΔ) – genauer: einer der Sätze (xK), (xJB), (xJÜ) oder (xB) – eine wahre Proposition zum Ausdruck bringt: Die Aussage p ist wahr und de facto wird sie niemals als wahr erkannt oder mit Gründen behauptet etc. In Zeile (2) wird angenommen, dass die in Zeile (1) als wahr angenommene Aussage zu irgendeinem Zeitpunkt als wahr erkannt wird oder mit Gründen behauptet wird etc. Gemäß (DistΔ) darf aus dieser Annahme auf Zeile (3) geschlossen werden. Aus den Konjunktionen in Zeile (1) und Zeile (3) folgt die Kontradiktion Δp∧¬Δp (Zeile (4)-(6)). Auf dieselbe Weise ist die Konjunktion der Annahmen, dass (yΔ) – genauer: einer der Sätze (yK), (yJB), (yJÜ) oder (yB) – wahr ist und irgendwann einmal als wahr erkannt oder mit Gründen behauptet wird etc., als widersprüchlich erweisbar. Auch die Konjunktion der Annahmen ¬p∧¬Δ¬p und Δ(¬p∧¬Δ¬p) ist also inkonsistent. Damit ist für jedes der beiden Disjunkte unserer Beispieldisjunktion (xΔ)∨(yΔ) gezeigt, dass die Annahme, es sei wahr und ge-Δ-t, widersprüchlich ist. Welche Relevanz hat (Argument C) – zusammengedacht mit seinem Gegenstück für (yΔ), nennen wir es (Argument C’) – für die Diskussion der epistemischen Regulative (EpReg104 ◊K/◊JÜ/◊JB/◊B)?
104
(Argument C’) 1 (1) ¬p∧¬Δ¬p 2 (2) Δ(¬p∧¬Δ¬p) 2 (3) Δ¬p∧Δ(¬Δ¬p) 2 (4) Δ¬p 1 (5) ¬Δ¬p 1, 2 (6) ⊥
Ann. Ann. 2, (DistΔ) 3, ∧-Elimin. 1, ∧-Elimin. 4, 5, ∧-Einf.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
303
Künne interpretiert seine auf das Konzept der begründeten Überzeugung bezogenen Varianten von (Argument C) und (Argument C’) – mit JÜ anstelle von Δ – als klare und eindeutige Widerlegung von (ComDen) und damit seiner Ansicht nach zugleich aller Varianten einer epistemisch regulierten Wahrheitskonzeption: „From (1) and (2) we have derived a contradiction in (6); thus in the case of (xJÜ), being true, line (1), and being justified, line (2), do exclude each other. As regards (yJÜ), the argument runs on the very same lines, of course. Hence, each of these two propositions is such that the assumption that it is both true and (the content of a) justified (belief) implies a contradiction. But admittedly one of these propositions is true. (Don’t ask me which one: how would I know?) Hence, either the above argument or its counterpart for (yJÜ) shows that there is a proposition that falsifies (ComDen) and thereby all versions of alethic anti-realism.“105
Trifft es aber zu, dass entweder (Argument C) – mit der Annahme (xJÜ) in Zeile (1) – oder (Argument C’) – mit der Annahme (yJÜ) in Zeile (1) – nachweist, dass es eine Proposition gibt, die (ComDen) falsifiziert? Zwei Argumente gegen (ComDen) beziehungsweise gegen die These (ΠJÜ) vorzubringen und dann zu sagen: ‚Nun, eines der beiden widerlegt (ΠJÜ), aber ich weiß nicht, welches von beiden.‘, erscheint allemal eigentümlich. Könnte ein Proponent S von (ΠJÜ) hier nicht legitimerweise erwidern: ‚Sie müssen sich schon entscheiden, welches der beiden Argumente Sie gegen meine These vorbringen wollen!‘? Da Künne durch seine Varianten der Argumente (C) und (C’) die Existenz eines Gegenbeispiels gegen (ΠJÜ) und nicht bloß das Konditional ‚wenn die Disjunktion (xJÜ)∨(yJÜ) wahr ist, dann existiert ein Gegenbeispiel gegen (ΠJÜ) respektive gegen (ComDen)‘ zu beweisen beansprucht, ist diese Erwiderung durchaus berechtigt. Eine Entscheidung zwischen (Argument C) und (Argument C’) wäre aber rationalerweise nicht möglich. Sie würde es erfordern, eine der Aussagen (xJÜ) oder (yJÜ) mit Gründen als wahr zu vertreten, also begründet zu behaupten. Weder (xJÜ) noch (yJÜ) können aber auf sinnvolle und verstehbare Weise behauptet werden.106 Gewiss, Künne macht die sicherlich plausible 105
106
Künne 2003, S. 439. Die Zeilennummern und Namen der Disjunkte der Beispieldisjunktion habe ich dem hier vorliegenden Kontext angepasst. Dazu unten, Abschnitt V.6.
304
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
Voraussetzung, dass auch der Proponent S von (ΠJÜ) die Wahrheit der Disjunktion (xJÜ)∨(yJÜ) einräumt107, und insofern wäre ein Nachweis der Wahrheit des oben angeführten Konditionals für S kaum weniger problematisch als ein direkter Nachweis der Existenz eines Gegenbeispiels gegen (ΠJÜ). Es ist aber zunächst keineswegs ausgemacht, was S daran hindern sollte, auf die Argumente (C) und (C’) – mit JÜ anstelle von Δ – folgendermaßen zu reagieren: ‚Wir können die Falschheit der Disjunktion (xJÜ)∨(yJÜ) nicht a priori ausschließen, und daher handelt es sich bei den Argumenten (C) und (C’) eben nicht um einen Beweis der Existenz eines Gegenbeispiels gegen (ΠJÜ).‘?108 Oben habe ich behauptet, dass es gute, wenn auch fallible, Gründe für die Anerkennung jeder Variante der Disjunktion (xΔ)∨(yΔ) als wahr gibt. Hier sind einige davon: Ich selbst weiß nicht und wusste auch nie, ob die Zahl der Briefe, die ich vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt habe, gerade oder ungerade ist. Ferner kann ich mich auch nicht mehr an alle Adressaten derjenigen Briefe erinnern, die ich vor diesem Zeitpunkt geschrieben und verschickt habe. Es ist anzunehmen, dass viele dieser Briefe inzwischen nicht mehr existieren, und außerdem, dass sich niemals jemand für ihre genaue Anzahl interessiert hat oder interessieren wird. Letzteres gilt höchstwahrscheinlich auch für die Frage, ob ihre Zahl gerade oder ungerade ist. Dies sind zwar gute Gründe dafür, die Disjunktionen (xK)∨(yK), (xJB)∨(yJB), (xJÜ)∨(yJÜ) und (xB)∨(yB) allesamt für wahr zu halten. Wir sind auf der Basis dieser Gründe aber nicht dazu berechtigt, kategorisch auszuschließen, dass irgendjemand einmal wusste, jetzt weiß oder einmal wissen wird, ob die Anzahl der Briefe, die ich vor dem 9. März 2009 geschrieben 107 108
Vgl. Künne 2003, S. 431. Eine solche Antwort erwägt Dummett im Kontext der Diskussion einer Variante von Künnes Argument – mit K anstelle von JÜ: „[I]t can never be wholly ruled out, of any statement that has not been shown to be false, that it may eventually be shown to be true.“ (Dummett 2007, S. 348.) Bezogen auf die Frage nach der Parität der Zahl aller Briefe, die ich vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt habe, läuft dies auf den folgenden Hinweis hinaus: Da weder die Aussage p noch die Aussage non-p bislang als falsch erwiesen wurde, können wir für keine dieser beiden Aussagen ausschließen, dass sie irgendwann als wahr erkannt wird. Insofern können wir auch die Falschheit der Disjunktion (xJÜ)∨(yJÜ) nicht ausschließen.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
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und verschickt habe, gerade oder ungerade ist. Dasselbe gilt in Bezug auf die Frage, ob irgendjemand in dieser Sache einmal eine begründete Behauptung aufstellt, eine begründete Überzeugung hat oder auch nur eine Behauptung simpliciter vorbringt. Daher würde man den verschiedenen Varianten der Argumente (C) und (C’) – mit K, JB, JÜ und B anstelle von Δ – zuviel zutrauen, wollte man sie mit Künne als unanfechtbare Widerlegungen der unterschiedlichen (Π∆)-Thesen auffassen. Was die verschiedenen Varianten der Argumente (C) und (C’) allerdings erweisen, ist die Wahrheit des folgenden Konditionals: Wenn eine gegebene Disjunktion (x∆)∨(y∆) wahr ist, dann ist eines ihrer Disjunkte wahr und zugleich so beschaffen, dass die Annahme, es sei wahr und werde ge-Δ-t, einen Widerspruch impliziert. Dieses Resultat ist für Proponenten einer der (Π∆)-Thesen und damit für alle Vertreter eines der epistemischen Regulative (EpReg◊K/◊JÜ/◊JB/◊B) problematisch genug. Das sei hier am Beispiel von (EpReg◊JB) und (ΠJB) verdeutlichet, wobei dieselbe Erläuterung auch am Beispiel von (EpReg◊K) und (ΠK), an dem von (EpReg◊JÜ) und (ΠJÜ) oder mit Bezug auf (EpReg◊B) und (ΠB) gegeben werden könnte. Die Argumente (C) und (C’), mit JB anstelle von Δ, weisen nach, dass für keine der beiden folgenden Aussagen konsistent angenommen werden kann, sie sei wahr und zugleich propositionaler Gehalt einer begründeten Behauptung: (xJB) p∧¬JBp Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist gerade, und niemand hat jemals mit Gründen behauptet, dass dies so ist, oder wird es jemals mit Gründen behaupten. (yJB) ¬p∧¬JB¬p Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist ungerade, und niemand hat jemals mit Gründen behauptet, dass dies so ist, oder wird es jemals mit Gründen behaupten. Da eine Disjunktion nur dann wahr ist, wenn eines ihrer Disjunkte wahr ist, sind Proponenten der These
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V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
(ΠJB) Es gibt keine wahre Proposition α derart, dass die Annahme, α sei wahr und werde mit Gründen behauptet, inkonsistent ist. darauf festgelegt, die Wahrheit der Disjunktion (xJB)∨(yJB) zu bestreiten. Wer das epistemische Regulativ (EpReg◊JB) vertritt, legt sich dadurch eo ipso auf die Anerkennung von (ΠJB) fest. Bei (ΠJB) handelt es sich letztlich nur um die Formulierung der schwächsten Lesart, in welcher das Regulativ (EpReg◊JB) von seinen Proponenten intendiert sein kann: Wenn eine gegebene Aussage q wahr ist, dann ist die Konjunktion der Annahmen ‚q ist wahr‘ und ‚q wird begründet behauptet‘ logisch möglich, also nicht als widersprüchlich erweisbar. Insofern sind alle Vertreter von (EpReg◊JB) darauf festgelegt, die Wahrheit der Disjunktion (xJB)∨(yJB) zu bestreiten. Die Disjunktion (xJB)∨(yJB) bringt aber eine Aussage zum Ausdruck, die, wenn sie denn falsch ist, nur kontingent falsch ist. Um diese Aussage rationalerweise zu bestreiten, wären empirische Gründe für die Falschheit jedes ihrer Disjunkte erforderlich. Kurzum: Proponenten von (EpReg◊JB) sind allein aufgrund ihrer wahrheitstheoretischen Festlegungen dazu gezwungen, ein Urteil über den Wahrheitswert einer empirischen Aussage zu fällen, die, wenn sie wahr ist, nur kontingentermaßen wahr ist, und die, wenn sie falsch ist, nur kontingentermaßen falsch ist. Hier liegt das eigentliche Problem, das durch (Argument C) und (Argument C’) für Proponenten der Regulative (EpReg◊K/◊JÜ/◊JB/◊B) aufgeworfen wird. Denn es ist zweifellos eine Adäquatheitsbedingung für philosophisch-wahrheitstheoretische Thesen, dass sie für sich genommen keine Festlegungen in Bezug auf den Wahrheitswert empirisch-kontingenter Aussagen präjudizieren. An dieser Stelle wird auch deutlich: Der Kritiker der epistemischen Regulative und (ΠΔ)-Thesen kann die mögliche Falschheit der von ihm jeweils als Annahme ins Spiel gebrachten Disjunktion (xΔ)∨(yΔ) gleichmütig einräumen – solange jedenfalls, wie er nicht beansprucht, die Existenz eines Gegenbeispiels gegen eine (ΠΔ)-These zu beweisen. Denn wenn die jeweilige Disjunktion (xΔ)∨(yΔ) sich als falsch herausstellen sollte, dann könnte er problemlos eine andere passende Beispieldisjunktion D formulieren und die Argumente (C) und (C’) mit Bezug auf D wiederholen. Die Proponenten epistemischer Regulative sind dagegen darauf festgelegt, kategorisch die Falschheit aller derartigen Disjunktionen behaupten.
V. Epistemische Regulative und Transzendenzthesen
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Fitchs Argument, also (Argument A) plus (Argument B) respektive (Argument B’), weist nach, dass jeder, der das epistemische Regulativ (EpReg◊K) vertritt, nolens volens darauf festgelegt ist, die These (NonAllK) zu bestreiten, also zu behaupten, dass es keine wahre Aussage gibt, die de facto niemals als wahr erkannt wird. Die Argumente (C) und (C’), welche an Künnes Einwand gegen (ComDen) anknüpfen, erweisen, dass nicht nur (EpReg◊K), sondern auch die schwächeren Regulative (EpReg◊JÜ/◊JB/◊B) inakzeptable Konsequenzen haben: Es wäre in der Tat absurd, auf der Basis philosophisch-wahrheitstheoretischer Überlegungen über den Wahrheitswert der empirisch-kontingenten Aussagen entscheiden zu wollen, welche durch die Disjunktionen (xK)∨(yK), (xJB)∨(yJB), (xJÜ)∨(yJÜ) und (xB)∨(yB) zum Ausdruck gebracht werden. Zum Schluss dieses Abschnitts muss noch erläutert werden, weshalb der Operator V (‚es wird verstanden, dass‘) und das Regulativ (EpReg◊V) hier aus der Diskussion ausgeklammert wurden. Zwar ist auch ein Proponent des epistemischen Regulativs (EpReg◊V) ∀α(α→◊Vα) Für jede Aussage α gilt: Wenn α wahr ist, dann ist es möglich, α zu verstehen. auf die Anerkennung der korrespondierenden (Π∆)-These festgelegt, also auf die Anerkennung von: (ΠV) Es gibt keine wahre Proposition α derart, dass die Annahme, α sei wahr und werde verstanden, einen Widerspruch impliziert. Ferner distribuiert das Verstehen von Aussagen auch über Konjunktionen. Man versteht eine gegebene Konjunktion nur dann, wenn man jedes ihrer Konjunkte versteht. Insofern kann der Platzhalter ∆ in (Argument C) und (Argument C’) durch V ersetzt werden, ohne dadurch ungültige Argumente hervorzubringen. Aber: Die Tatsache, dass sich die Konjunktion der Annahmen p∧¬Vp und V(p∧¬Vp) ebenso wie diejenige der Annahmen ¬p∧¬V¬p und V(¬p∧¬V¬p) als widersprüchlich erweisen lässt, stellt für den Proponenten von (EpReg◊V) und (ΠV) keinen Grund zur Beunruhigung dar. Er hat einen guten, von dieser Tatsache unabhängigen Grund dafür, die Wahrheit der Disjunktion der folgenden beiden Aussagen zu bestreiten:
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(xV) p∧¬Vp Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist gerade, und die Aussage, dass dies so ist, wird niemals verstanden. (yV) ¬p∧¬V¬p Die Zahl aller Briefe, die B.R. vor dem 9. März 2009 geschrieben und verschickt hat, ist ungerade, und die Aussage, dass dies so ist, wird niemals verstanden. Um die Beispieldisjunktion (xV)∨(yV) überhaupt als eine solche ins Spiel bringen zu können, muss jedes ihrer beiden Disjunkte formuliert und verstanden werden. Keines der beiden Disjunkte kann aber formuliert und verstanden werden, ohne es dabei in actu zu falsifizieren. Man kann die Disjunktion (xV)∨(yV) insofern nicht formulieren, ohne sie zugleich als Beispieldisjunktion im Kontext einer kritischen Argumentation gegen (ΠV) und (EpReg◊V) unbrauchbar zu machen. Daher können die Argumente (C) und (C’) mit V anstelle von ∆ keinen Grund dafür liefern, die Gültigkeit der These (ΠV) und des epistemischen Regulativs (EpReg◊V) in Frage zu stellen.
V.6
Lassen sich epistemische Transzendenzthesen begründen?
Die Argumente (C) und (C’) liefern Gründe dagegen, die epistemischen Regulative (EpReg◊K/◊JB/◊B) als gültig anzuerkennen.109 Liefern sie aber auch Gründe für die jeweiligen kontradiktorischen Gegenteile dieser Regulative, also für die epistemischen Transzendenzthesen (NonAll◊K/◊JB/◊B)? In diesem Abschnitt wird für eine vorsichtige affirmative Antwort argumentiert. Dabei gehe ich zunächst von dem in V.2 antizipierten prinzipiellen Einwand gegen epistemische Transzendenzthesen aus: Solche Thesen können nicht argumentativ vertreten werden, so der Einwand, weil sie nicht durch Beispiele belegbar sind. Bleiben wir zunächst bei der These (NonAll◊K): 109
Das im letzten Abschnitt durch Künnes Argument ins Spiel gebrachte Regulativ (EpReg◊JÜ) vernachlässige ich hier, da sein Gehalt sich von demjenigen des Regulativs (EpReg◊JB) nicht wesentlich unterscheidet.
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(NonAll◊K) ∃α(α∧¬◊Kα) Es gibt unerkennbare Wahrheiten. Es ist in der Tat nicht möglich, diese Existenzaussage durch Anführen von Beispielen für unerkennbare Wahrheiten zu begründen. Genauer gesagt: Niemand kann mit Bezug auf eine bestimmte Aussage auf verstehbare Weise behaupten, bei ihr handele es sich um eine unerkennbare Wahrheit. Ein Sprecher S, der behaupten wollte, ein derartiges Beispiel, sagen wir die Proposition p, gefunden zu haben, würde sich damit auf die Behauptung der Konjunktion der folgenden beiden Aussagen festlegen: (a) Es handelt sich bei p um eine wahre Proposition. (b) Es handelt sich bei p um eine Proposition, die prinzipiell nicht als wahr erkannt respektive Gehalt eines Wissens werden kann. Indem er (a) behauptet, muss S aber beanspruchen, erkannt zu haben und zu wissen, dass es sich bei der Proposition p um eine Wahrheit handelt. Dass er diesen Anspruch erheben muss, wird daran deutlich, dass wir von ihm legitimerweise eine Antwort auf die folgende Frage verlangen können: ‚Weißt du/hast du erkannt, dass die Aussage p wahr ist?‘ Verneint er diese Frage, so können wir seinen Anspruch, ein Beispiel für eine unerkennbare Wahrheit geliefert zu haben, nicht als solchen ernst nehmen. Der modale Ausdruck ‚unerkennbare Wahrheit‘ in (NonAll◊K) besagt soviel wie ‚Wahrheit, deren Erkenntnis unmöglich ist‘. Alles was wirklich ist, ist möglich. Insofern S also beanspruchen muss, (wirklich) erkannt zu haben, dass es sich bei p um eine wahre Proposition handelt, präsupponiert er, dass die Aussage p erkennbar wahr ist – dass es möglich ist, p als wahr zu erkennen –, und widerspricht damit implizit seiner Behauptung von (b). Beansprucht S dagegen, zu wissen respektive erkannt zu haben, dass die Aussage p wahr ist, können wir seinen Versuch, ein Beispiel für eine unerkennbare Wahrheit zu liefern, wieder nicht als solchen ernst nehmen. Denn er widerspricht dann in expliziter Form dem zweiten von ihm behaupteten Konjunkt (b). Was die Behauptung von (b) selbst angeht, so darf S auch hier die Frage gestellt werden: ‚Weißt du, dass es sich bei p um eine Aussage handelt, die niemals als wahr erkannt wurde oder werden wird?‘. Antwortet S darauf mit ‚ja‘, so wäre die einzige nachvollziehbare Antwort auf die Anschlussfrage: ‚Und wie hast du das erkannt/woher weißt du das?‘, unvereinbar mit S’ Behauptung von (a): ‚Ich habe erkannt/weiß, dass die
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Aussage p nicht wahr ist.‘ Antwortet S dagegen mit ‚nein‘, nimmt er seine Behauptung von (b) wieder zurück. Ob S auf die an ihn gerichteten Fragen also mit ‚ja‘ oder mit ‚nein‘ antwortet, er kann nicht auf rationale und verstehbare Weise darauf bestehen, das geleistet zu haben, was er zu leisten beanspruchte: ein Beispiel für eine unerkennbare Wahrheit zu liefern. Auf analoge Weise ließe sich auch jeder Versuch, Instanzen der folgenden epistemischen Transzendenzthesen zu behaupten, als absurd erweisen: (NonAll◊JB) ∃α(α∧¬◊JBα) Manche wahren Aussagen können prinzipiell nicht begründet behauptet werden. (NonAll◊B) ∃α(α∧¬◊Bα) Manche wahren Aussagen können prinzipiell nicht (sinnvoll) behauptet werden. (NonAll◊V) ∃α(α∧¬◊Vα) Manche wahren Aussagen können prinzipiell nicht verstanden werden. Wer ein Beispiel für (NonAll◊JB) geltend machen wollte, müsste dabei das erste Konjunkt des angeblichen Beispiels mit Gründen behaupten, und um eine Instanz von (NonAll◊B) anzuführen, müsste er ihr erstes Konjunkt behaupten. Was (NonAll◊V) angeht, so ist im letzten Abschnitt deutlich geworden, dass sogar jeder Versuch, eine Instanz der schwächeren These (NonAllV) anzuführen, sich selbst widerlegen würde. Dasselbe gilt insofern a fortiori im Blick auf (NonAll◊V). Wie im letzten Abschnitt – und aus denselben Gründen – klammere ich diese Transzendenzthese hier aus der Diskussion aus. Was darf aus den vorangegangenen Überlegungen geschlossen werden? An diesem Punkt sind zwei Fragen zu beantworten: (I) Legt uns die Anerkennung der Tatsache, dass wir nicht in der Lage sind, Beispiele für unerkennbare, unbegründbare oder nicht sinnvoll als wahr behauptbare Wahrheiten anzuführen, zugleich auf die Anerkennung der These fest, dass es keine derartigen Wahrheiten gibt oder auch nur geben kann? (II) Liefert der Nachweis der Tatsache, dass wir keine Beispiele geben können, einen guten Grund für die These, dass niemand
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dazu berechtigt sein kann, zu behaupten, dass es unerkennbare, unbegründbare oder nicht sinnvoll als wahr behauptbare Wahrheiten gibt? Wer auf Frage (I) mit ‚ja‘ antworten wollte, könnte sich dabei prima facie auf das von Karl-Otto Apel geltend gemachte „transzendentalpragmatische Prinzip des zu vermeidenden performativen Selbstwiderspruchs“110 berufen. Eine Behauptungshandlung, genauer: eine als Behauptung intendierte Sprechhandlung, ist diesem Prinzip zufolge genau dann performativ selbstwidersprüchlich (oder performativ inkonsistent), wenn ihr propositionaler Gehalt, also die Aussage, die der jeweilige Sprecher zu behaupten versucht, einer Präsupposition des Ausführens von Behauptungshandlungen widerspricht. Präsuppositionen der Praxis des Etwas-Behauptens können dabei als Bedingungen aufgefasst werden, die erfüllt sein müssen, wenn eine gegebene sprachliche Äußerung als Behauptungshandlung verstehbar sein soll.111 Apel verwendet das Prinzip des zu vermeidenden performativen Selbstwiderspruchs nun nicht allein als Sinnkriterium für Behauptungshandlungen, also als einen Maßstab, mit dessen Hilfe sich entscheiden lasse, ob eine gegebene, als Behauptung intendierte beziehungsweise prima facie behauptungsförmige Sprechhandlung überhaupt als Behauptung verstanden werden kann. Er geht ferner davon aus, dass sich aus dem Nachweis der performativen Inkonsistenz einer als Behauptung intendierten Sprechhandlung U ein direkter Rückschluss auf den Wahrheitswert des propositionalen Gehalts von U ziehen lässt: Wenn U performativ selbstwidersprüchlich ist, dann ist der propositionale Gehalt von U nicht wahr.112 Apel zufolge ist die performativ konsistente Behauptbarkeit einer gegebenen Aussage p also eine notwendige Bedingung für die Wahrheit von p. Dies ist Apels Variante des epistemischen Regulativs (EpReg◊B).113 110 111
112
113
Apel 1998a, S. 159. Hervorhebung getilgt. Einige dieser Bedingungen wurden in Kapitel I in Form von konstitutiven Normen der Behauptungspraxis rekonstruiert. Vgl. oben, Abschnitt I.2. Kuhlmann 1985a, S. 89, vertritt die stärkere These, „daß wir die Negation“ des propositionalen Gehalts einer performativ inkonsistenten ‚Behauptung‘ „als schlechthin notwendig wahr behaupten dürfen“. Dieser Auffassung zufolge ist der propositionale Gehalt solcher Sprechhandlungen also notwendig falsch. Zum transzendentalpragmatischen „Kriterium des zu vermeidenden performativen Selbstwiderspruchs“ (Apel 1998a, S. 163) vgl. bes. Apel 1998a, S. 159-183.
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Oben wurde dargestellt, inwiefern jeder Versuch, Instanzen der Thesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) zu behaupten – also Beispiele zu liefern – zu absurden Sprechhandlungen führt. Es liegt nun durchaus nahe, die Absurdität dieser Sprechhandlungen mit Apel in Begriffen performativer Inkonsistenz zu erläutern: 1. Ich behaupte hiermit, dass p, und dass es nicht möglich ist, zu erkennen/zu wissen, dass p. 2. Ich behaupte hiermit, dass p, und dass es nicht möglich ist, mit Gründen zu behaupten, dass p. 3. Ich behaupte hiermit, dass p, und dass es nicht möglich ist, (sinnvoll) zu behaupten, dass p. Es ist angemessen, diese prima facie behauptungsförmigen Sprechhandlungen – denken wir uns Sprecher, welche die Sätze 1.-3. ernsthaft mit der Intention äußern, Behauptungen aufzustellen – als performativ inkonsistent im Sinne Apels zu kennzeichnen. Denn mit jeder von ihnen wird im performativen Teil ein für das Aufstellen von Behauptungen konstitutiver Gültigkeitsanspruch für das jeweils erste Konjunkt des propositionalen Teils erhoben, dessen Einlösung durch das zweite Konjunkt sodann als unmöglich hingestellt wird.114 Wenn die Absurdität, die mit jedem Versuch einhergehen muss, eine Beispielinstanz der Thesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) zu behaupten, sich auf diese Weise in Begriffen der performativen Inkonsistenz erklären lässt, und wenn zudem Apels These zutrifft, dass die performativ konsistente Behauptbarkeit einer Aussage p eine notwendige Bedingung für die Wahrheit von p darstellt, dann folgt daraus, dass keine Instanz der epistemischen Transzendenzthesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) wahr ist. Mit anderen Worten, es folgt daraus, dass alle Instanzen dieser Thesen und damit diese Thesen selbst falsch sind: (NonNonAll◊K) ¬∃α(α∧¬◊Kα) Es gibt keine wahre Aussage, deren Erkenntnis als wahr unmöglich ist. (NonNonAll◊JB) ¬∃α(α∧¬◊JBα) Es gibt keine wahre Aussage, deren begründete Behauptung unmöglich ist. 114
Zu 1. vgl. die Überlegungen am Ende von Abschnitt I.2.
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(NonNonAll◊JB) ¬∃α(α∧¬◊JBα) Es gibt keine wahre Aussage, deren (sinnvolle) Behauptung unmöglich ist. Auf diese Weise könnte im Rekurs auf das transzendentalpragmatische Prinzip des zu vermeidenden performativen Selbstwiderspruchs für eine affirmative Antwort auf Frage (I) argumentiert werden. Eine affirmative Antwort auf Frage (II) könnte durch die dialogischlogische Erläuterung der Bedingungen des berechtigten Behauptens von Existenzaussagen nahegelegt werden, die Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen in ihrer „Vorschule des vernünftigen Redens“ exemplarisch anhand des folgenden Beispiels geben:115 „Wer behauptet ‚einige Heidelberger Professoren sind Nobelpreisträger‘ [...] und damit auf Zweifel bei seinem Gesprächspartner stößt, der hat an einem von ihm gewählten Heidelberger Professor nachzuweisen: ‚Professor N. ist Nobelpreisträger.‘ Gelingt ihm dieser Nachweis, so hat er den Dialog gewonnen, andernfalls verloren.“116
Eine entsprechende Erläuterung der „Begründungsverpflichtungen“, die sich ein Sprecher beziehungsweise ein „Gesprächspartner P“ gegenüber einem Opponenten O auferlegt, indem er „einen Satz der Form ‚A oder B‘ (‚A∨B‘) bzw. ‚Es gibt ein x: A(x)‘ (‚∃x A(x)‘) behauptet“, geben auch Friedrich Kambartel und Pirmin Stekeler-Weithofer: Im Anschluss an eine solche Behauptung dürfe „[...] O den P dazu auffordern, einen der Sätze A oder B (bzw. A(N)) zu wählen und im weiteren Gesprächsverlauf zu vertreten (und das heißt wieder: diesen unverzüglich zu behaupten). Das heißt: P muss auf diese Nachfrage hin eine Wahl treffen. Eben darin besteht der effektive Sinn einer Adjunktions- oder Existenzaussage, die damit als (bedingte) Behauptung gelesen wird.“117
Überträgt man Kamlahs und Lorenzens dialogisch-logische Erläuterung der Bedingungen des berechtigten Behauptens von Existenzaussagen auf den angenommenen Fall der Behauptung einer der Thesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) oder (NonAll◊B), so ergibt sich: 115
116 117
Kamlah und Lorenzen bezeichnen existenzquantifizierte Aussagen treffend als „Großadjunktionen“ und allquantifizierte Aussagen dementsprechend als „Großkonjunktionen“. Vgl. Kamlah u. Lorenzen 1967, S. 162. Kamlah u. Lorenzen 1967, S. 161. Kambartel u. Stekeler-Weithofer 2005, S. 217.
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Wer behauptet, dass manche wahren Aussagen prinzipiell nicht als wahr erkannt (begründet oder auch nur sinnvoll behauptet) werden können, und damit auf Zweifel bei seinem Gesprächspartner stößt, der hat an einer von ihm gewählten wahren Aussage p nachzuweisen, dass p prinzipiell nicht als wahr erkannt (begründet oder auch nur sinnvoll behauptet) werden kann. Gelingt ihm dieser Nachweis, so hat er den Dialog gewonnen, anderenfalls verloren. Und aus einer entsprechenden Übertragung von Kambartels und StekelerWeithofers Erläuterung ergibt sich Folgendes: Behauptet ein Gesprächspartner P, dass manche wahren Aussagen prinzipiell nicht als wahr erkannt (begründet oder auch nur sinnvoll behauptet) werden können, so darf ein Opponent O den P dazu auffordern, einen Satz der Form ‚q ist eine wahre Aussage, die prinzipiell nicht als wahr erkannt (begründet oder auch nur sinnvoll behauptet) werden kann‘ zu wählen und im weiteren Gesprächsverlauf zu vertreten (und das heißt wieder: diesen unverzüglich zu behaupten). Das heißt: P muss auf diese Nachfrage hin eine Wahl treffen. Insofern aber, wie oben deutlich wurde, kein Sprecher auf rationale Weise in Bezug auf eine bestimmte Proposition behaupten kann, sie sei unerkennbar wahr (respektive wahr und nicht begründet behauptbar oder auch nur sinnvoll behauptbar), wird sofort deutlich, dass die von Kamlah und Lorenzen, Kambartel und Stekeler-Weithofer gegebene Erläuterung der Bedingungen des berechtigten Behauptens von Existenzaussagen ausschließt, dass irgendjemand zu einer assertorischen Äußerung der Thesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) oder (NonAll◊B) berechtigt sein kann. Ausgehend von konstruktivistischen Erläuterungen des Existenzquantors118 könnte also dafür argumentiert werden, dass Frage (II) mit ‚ja‘ beantwortet werden sollte. Der gravierendste Einwand dagegen, die dialogisch-logische Erläuterung von Existenzaussagen zur Begründung der These zu verwenden, dass niemand dazu berechtigt sein kann, zu behaupten, dass manche Wahrheiten unerkennbar, unbegründbar oder nicht sinnvoll behauptbar sind, spricht 118
Vgl. auch Dummett 2000, S. 13-17.
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zugleich auch dagegen, den Nachweis der performativen Inkonsistenz jeder Behauptung einer Instanz der Thesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) als Nachweis der Falschheit dieser Thesen zu bewerten. Er ergibt sich aus dem folgenden einfachen Hinweis: Was für (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B) gilt – es ist unmöglich, sie durch Beispiele zu belegen, und jeder dahingehende Versuch wäre performativ selbstwidersprüchlich –, trifft ebenso auf die folgenden Thesen zu: (NonAllK*) ∃α(α∧◊Kα∧¬Kα) Manche im Prinzip erkennbaren Wahrheiten werden de facto niemals als wahr erkannt. (NonAllJB*) ∃α(α∧◊JBα∧¬JBα) Manche im Prinzip mit Gründen behauptbaren Wahrheiten werden de facto niemals begründet behauptet. (NonAllB*) ∃α(α∧◊Bα∧¬Bα) Manche im Prinzip (sinnvoll) behauptbaren Wahrheiten werden de facto niemals behauptet. Auch für diese Thesen ist es nicht möglich, Beispiele zu geben oder Instanzen anzuführen, denn auch hier ist ohne weiteres einsehbar, dass jeder Versuch, ein solches Beispiel geltend zu machen, performativ selbstwidersprüchlich wäre und scheitern müsste. Wer also im Rekurs auf das transzendentalpragmatische Kriterium der performativen Konsistenz oder auf konstruktivistische Erläuterungen der Behauptbarkeitsbedingungen von Existenzaussagen eine affirmative Antwort auf die oben gestellten Fragen (I) und (II) begründen wollte, müsste mit denselben Gründen konsequenterweise auch die Wahrheit beziehungsweise die berechtigte Behauptbarkeit der Thesen (NonAllK*/JB*/B*) bestreiten. Nun will freilich keiner der hier diskutierten Proponenten epistemischer Regulative in Frage stellen, dass manche im Prinzip als wahr erkennbaren, begründ- und behauptbaren Wahrheiten de facto niemals als wahr erkannt, begründet oder behauptet werden. Ablehnen wollen sie nur die Annahme einer prinzipiellen Erkenntnis-, Begründungs- oder Behauptbarkeitstranszendenz der Wahrheit, welche durch die Thesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) zum Ausdruck gebracht wird. Hier zeigt sich aber, dass die beiden in diesem Abschnitt skizzierten Argumentationslinien gegen die Transzendenzthesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) dem Proponenten eines der Regulative (EpReg◊K/◊JB/◊B) nicht zur Verfügung stehen – es
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sei denn, er wollte absurderweise auch (NonAllK*), (NonAllJB*) respektive (NonAllB*) bestreiten. Denn wenn der zutreffende Hinweis darauf, dass niemand rationalerweise behaupten kann, eine Instanz von (NonAll◊K/◊JB/◊B) gefunden zu haben, tatsächlich einen guten Einwand gegen die Annahme darstellen soll, dass diese Transzendenzthesen wahr sein könnten, zumindest aber mit Gründen vertretbar sind – warum sollte dann der entsprechende, ebenfalls zutreffende, Hinweis im Blick auf (NonAllK*/JB*/B*) nicht auch als guter Einwand gegen deren Wahrheit und berechtigte Behauptbarkeit angesehen werden? Zurück zu der eingangs gestellten Frage, ob die Argumente (C) und (C’) einen Grund für die Anerkennung der Transzendenzthesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) liefern: Die Annahme, dass manche wahren Aussagen de facto niemals als wahr erkannt, begründet oder auch nur simpliciter – also auf zwar konsistente Weise, aber unbegründet – behauptet werden, ist zwischen Proponenten und Opponenten epistemischer Regulative unstrittig. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass weder Proponenten noch Opponenten epistemischer Regulative die gemeinsam anerkannten Thesen (NonAllK/JB/B) durch den Nachweis der Wahrheit von Instanzen dieser Existenzaussagen begründen können. Insofern steht der Hinweis darauf, dass keine Instanz von (NonAll◊K/◊JB/◊B) sinnvoll behauptbar ist, den Proponenten epistemischer Regulative auch nicht als Einwand gegen die Transzendenzthesen (NonAll◊K/◊JB/◊B) zur Verfügung. Die Argumente (C) und (C’) weisen nun nach, dass gilt: Wenn es wahre Aussagen der Form ‚(p∧¬Δp)∨(¬p∧¬Δ¬p)‘119 gibt, dann gibt es auch wahre Aussagen, die insofern unerkennbar, unbegründbar und nicht behauptbar sind, als die Konjunktion der Annahmen, sie seien wahr und würden als wahr erkannt, begründet oder behauptet, widersprüchlich ist. Ohne sich auf die Anerkennung dieser spezifischen Form von Erkenntnis-, Begründungs- und Behauptungstranszendenz festzulegen, kann niemand einräumen, dass manche Wahrheiten de facto niemals als wahr erkannt, begründet oder behauptet werden. Insofern aber (NonAllK), (NonAllJB) und (NonAllB) kaum ernsthaft bestreitbar sind, liefern die Argumente (C) und 119
Δ steht wie bisher als Platzhalter für K, JB oder B.
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(C’) tatsächlich eine Begründung der Transzendenzthesen (NonAll◊K/◊JB/◊B). Ebenso wie Fitchs Argument machen sie deutlich, dass sich epistemische Regulative dort als problematisch erweisen, wo es um faktisches Nichtwissen oder das faktische Fehlen begründeter Überzeugungen in Bezug auf Fragen geht, die eine wahre Antwort haben, deren wahre Antwort wir aber de facto nicht kennen.
VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee? Zwei Einwände gegen die transzendentalpragmatische Konsenstheorie Oben wurde die Äquivalenz (WApel) als Rekonstruktion des Kernstücks der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie vorgeschlagen.1 Die in (WApel) zur Explikation des Wahrheitsbegriffs ins Spiel gebrachte Idee eines Konsenses, der rein argumentativ und unter Berücksichtigung aller relevanten Argumente erzielt werden würde, versteht Apel – im Rekurs auf seine Deutungen von Kants Konzept der „regulative[n] Idee“2 zum einen und der Peirceschen ultimate opinion zum anderen – als „regulative Idee [...] einer Meinung, die von niemandem mehr aufgrund verfügbarer Kriterien bestritten werden könnte.“3 Apels These, Peirce habe die ultimate opinion als eine nicht mehr rational kritisierbare Meinung konzipiert, wurde bereits kritisch diskutiert, und es hat sich ferner gezeigt, dass jedenfalls ein Proponent der Äquivalenz (WPeirce) einen guten Grund hat, die darin ins Spiel gebrachte kontrafaktische Annahme eines zeitlich unbegrenzt fortlaufenden Forschungsprozesses nicht im Sinne einer regulativen Idee aufzufassen.4 Dieses Kapitel setzt die Diskussion von Apels Rekurs auf regulative Ideen in der Wahrheitstheorie fort. In der Abhandlung „Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung“5 wird die regulative Idee des Konsenses der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft als unverzichtbarer Bestandteil der transzendentalpragmatischen Explikation des Wahrheitsbegriffs ausgezeichnet, aber Apel vermeidet es dort, Wahrheit selbst als eine regulative Idee zu charakterisieren. In den Aufsätzen „Pragmatism as Sense-
1 2
3 4 5
Siehe oben, Abschnitt IV.4.3. Kant 1998, KrV, B 712. Im Folgenden weise ich Zitate aus der „Kritik der reinen Vernunft“ im laufenden Text unter Angabe der Seitenzahlen der zweiten Auflage nach. Apel 1998a, S. 112. Vgl. oben, Abschnitt III.3. Apel 1998a.
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VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee?
Critical Realism Based on a Regulative Idea of Truth“6 und „Wahrheit als regulative Idee“7 geht Apel dagegen dazu über, Wahrheit mit einer regulativen Idee gleichzusetzen. Dies erscheint vor dem Hintergrund der bereits in „Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung“ und früheren Texten vertreteten These, dass „der nicht mehr bestreitbare Konsens einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft für uns die Idee der Wahrheit repräsentiert“8, freilich als konsequente und explizite Anerkennung einer bis dahin implizit gebliebenen wahrheitstheoretischen Festlegung Apels. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, ist nicht allein die Identifikation von Wahrheit mit einer regulativen Idee problematisch, sondern auch bereits die These, dass der Wahrheitsbegriff im Rekurs auf kontrafaktische Idealisierungen und mit Hilfe kontrafaktischer Konditionale erläutert werden kann. Zur Vorbereitung der folgenden Diskussion ist zunächst ein Blick auf die systematische Funktion regulativer Ideen in der „Kritik der reinen Vernunft“ erforderlich, denn es ist der dort von Kant entfaltete Gedanke von einem „regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ (B 670), an den Apel kritisch anknüpft, wenn er die unbegrenzte und ideale Argumentationsgemeinschaft und ihren Konsens als regulative Ideen kennzeichnet (Abschnitt VI.1). Sodann rekonstruiere ich einige zentrale Elemente von Apels Verwendung regulativer Ideen in der Explikation des Wahrheitsbegriffs und gehe auf eine Kritik ein, die Albrecht Wellmer gegenüber der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie vorgebracht hat. Wellmers Kritik wird sich dabei als nur partiell berechtigt, jedenfalls als nicht konklusiv erweisen (Abschnitt VI.2). Anschließend werden zwei von Wellmers Kritik unabhängige Einwände gegen die transzendentalpragmatische Wahrheitstheorie geltend gemacht. Der erste bezieht sich direkt auf Apels These, Wahrheit sei eine regulative Idee in Kants Sinn – oder doch in einem an Kants Verständnis regulativer Ideen zumindest in wichtigen Hinsichten anknüpfenden Sinn. Die Pointe des Einwands besteht in dem Nachweis, dass Apel sich mit dieser These auf bestimmte logisch begriffliche Folgen festlegt, die mit der Annahme in Widerspruch geraten, dass wir als 6 7 8
Apel 2001, deutsche Übersetzung: Apel 2002a. Apel 2003. Apel 1998a, S. 145, Hervorhebung B.R.
VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee?
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Sprecher und Dialogpartner mit jeder unserer Behauptungen den Anspruch erheben, etwas Wahres zu behaupten – also etwas, das wahr ist. Diese Annahme aber ist grundlegend nicht nur für die hier in Kapitel I gegebene Explikation der normativen Struktur von Behauptungshandlungen, sondern ebenso für Apels Transzendentalpragmatik. Wenn durch philosophische Argumente erwiesen werden könnte, dass Wahrheit eine im Sinne Kants regulative Idee ist, dann wäre durch das Liefern solcher Argumente paradoxerweise sowohl gezeigt, dass de facto kein einziger Wahrheitsanspruch zu Recht erhoben wird, als auch der Nachweis erbracht, dass es aus begrifflichen Gründen notwendigerweise der Fall ist, dass kein einziger Wahrheitsanspruch zu Recht erhoben wird (Abschnitt VI.3). Der zweite Einwand führt die damit angedeutete Kritik an Apels These des regulativ idealen Status der Wahrheit in gewisser Weise fort. Er stellt am Beispiel der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie ein strukturelles Problem von Wahrheitsexplikationen heraus, die mit kontrafaktischen Konditionalen arbeiten. Genauer gesagt, handelt es sich hierbei um ein Problem, welches in Wahrheitstheorien angelegt ist, die zwischen kategorischen Aussagen der Form ‚Die Proposition, dass p, ist wahr‘ auf der einen und bestimmten kontrafaktischen Konditionalen auf der anderen Seite einen material-bikonditionalen Zusammenhang herstellen. Im Fall der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie betrifft dieses Problem nicht zuletzt einige philosophische Aussagen, die selbst explizit Teil dieser Theorie sind oder doch aus ihr folgen. Diese Aussagen aus dem Gültigkeitsbereich der konsenstheoretischen These, dass eine Proposition genau dann wahr ist, wenn sie in einem idealen und unbegrenzten Diskurs D den argumentativen Konsens aller an D Beteiligten finden würde, auszuschließen, widerspräche zumal dem von Apel explizit als Adäquatheitskriterium aufgestellten Postulat der Selbstanwendbarkeit jeder akzeptablen philosophischen Wahrheitstheorie (Abschnitt VI.4). Beide Einwände, die hier vorgebracht werden, sind immanent-kritischer Natur. Sie machen ausschließlich von solchen Aussagen beziehungsweise solchen theoretischen Festlegungen Gebrauch, die Apel selbst entweder explizit anerkennt oder implizit eingeht.
322 VI.1
VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee?
Zum Begriff der regulativen Idee in der „Kritik der reinen Vernunft“
Kant unterscheidet drei ‚Ideen der reinen Vernunft‘: die des Ich als „denkende Natur (Seele) betrachtet“ (B 710), die der „Welt“ in ihrer Gesamtheit respektive den „Weltbegriff überhaupt“ (B 712), und die Idee Gottes „als der einigen und allgenugsamen Ursache aller kosmologischen Reihen“ (B 713).9 Jede dieser Ideen sei uns zum einen „durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben“ (B 697), zum anderen aber zugleich auch Quelle eines „transzendentalen Scheins“ (B 355) sowie einer „natürlichen und unvermeidlichen Illusion“ (B 354). Letztere hätten in der Geschichte der metaphysischen Spekulation zu denjenigen „Trugschlüsse[n]“ (B 354) geführt, die Kant im zweiten Buch der „Transzendentalen Dialektik“ analysiert. Der mit der Idee der Seele einhergehende transzendentale Schein sei verantwortlich für die „Paralogismen“ (B 399) und derjenige, der die Idee des Weltganzen umgebe, für die „Antinomie[n] der reinen Vernunft“ (B 432). Die Idee Gottes schließlich führe zum „Ideal der reinen Vernunft“ (B 595), welches den Ansatzpunkt für spekulative Gottesbeweise darstelle, die Kant zufolge „ihrer inneren Beschaffenheit nach“ sämtlich als „null und nichtig“ (B 664) bewertet werden müssen. Beide Teile des „Anhangs zur Transzendentalen Dialektik“, mit den Titeln „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ und „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“, beginnen demgegenüber mit einer Zurückweisung des Verdachtes, dass die Vernunft selbst trügerisch und der Ursprung des transzendentalen Scheins sein könnte. Diesem Verdacht hat Kant in der Einleitung und in den beiden Büchern der „Transzendentalen Dialektik“ zunächst selbst zugearbeitet, indem er immer wieder betont hat, dass der transzendentale Schein das Produkt einer „natürliche[n] und unvermeidliche[n] Dialektik der reinen Vernunft“ sei (B 354) und dass „die menschliche Vernunft [...] einen natürlichen Hang habe“, in ihren Schlüssen „über das Feld möglicher 9
Vgl. auch B 391: „Folglich werden alle transzendentale Ideen sich unter drei Klassen bringen lassen, davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält.“
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Erfahrung“ (B 670) hinauszugehen – einen natürlichen Hang also zu transzendenter Metaphysik.10 Nun versucht Kant aber, seine These von der Natürlichkeit der Ideen für die Vernunft11 ins Positive zu wenden: Weil die transzendentalen Ideen uns „durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben“ sind, können sie, so meint Kant, „nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr bloßer Mißbrauch muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt“ (B 697). Der Missbrauch der Ideen sei dabei „jederzeit einem Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstande oder der Vernunft zuzuschreiben“ (B 671). Er bestehe darin, die reinen Vernunftbegriffe der Seele, der Welt und Gottes transzendent zu verwenden und als „Begriffe von wirklichen Dingen“ (B 671) aufzufassen, die zwar jenseits aller möglichen Erfahrung lägen, in Bezug auf die aber dennoch eine spekulative Erkenntnis möglich sei. In diesem falschen, transzendenten, Verständnis der Vernunftideen bestehe der gemeinsame Fehler, der den Trugschlüssen der reinen Vernunft zugrunde liege. Kant will dagegen den „guten und folglich immanenten Gebrauch“ (B 671) der Ideen ausweisen. Diesen nennt er den ‚regulativen‘ und unterscheidet ihn vom ‚konstitutiven Gebrauch‘: „Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ (B 672.)
Mit seinem Hinweis auf den „vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch“ der reinen Vernunftbegriffe deutet Kant an, inwie10
11
Auch hat er dort viel Anstrengung darauf verwendet, nicht allein eine lose Folge von Beispielen für transzendentalen Schein anzuführen, sondern eine „systematische Struktur des Scheins“ (Strawson 1992, S. 135) zu präsentieren. Die transzendente Metaphysik wird von Kant als das selbst noch systematisch vorstellbare und entfaltbare Feld eines ‚in die Irre geführten‘ Vernunftgebrauchs dargelegt. Vgl. dazu auch B 670 f. und B 383 f.
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fern sich die Ideen trotz des in ihnen angelegten Potentials, zum Anlass für transzendent-metaphysische Trugschlüsse genommen zu werden, als legitime philosophische Begriffe ausweisen lassen: „Sie enthalten eine gewisse Vollständigkeit, zu welcher keine mögliche empirische Erkenntnis zulangt, und die Vernunft hat dabei nur eine systematische Einheit im Sinne, welcher sie die empirisch mögliche Einheit zu nähern sucht, ohne sie jemals völlig zu erreichen.“ (B 595 f.)
Die Rechtfertigung des Gebrauchs eines Begriffs bezeichnet Kant als ‚Deduktion‘.12 Nun handelt es sich bei den Ideen nicht um empirische, sondern um Begriffe a priori, und Kant vertritt die These, dass man „sich eines Begriffs a priori mit keiner Sicherheit bedienen“ kann, „ohne seine transzendentale Deduktion zustande gebracht zu haben.“ (B 697.) Im Fall der Ideen steht einer solchen Deduktion, also einer „Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“ (B 117), jedoch im Weg, dass sich die Ideen Kant zufolge überhaupt nicht auf Gegenstände möglicher Erfahrung beziehen. So betont er in Bezug auf die Begriffe der reinen Vernunft denn auch mehrmals, es sei „unmöglich“, „eine transzendentale Deduktion derselben zu Stande“ (B 691 f.) zu bringen. Andererseits aber will Kant den Ideen zumindest „einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit“ (B 697) sichern. Denn sonst müssten sie als „bloß leere Gedankendinge“ (B 697), als zwar durch die Vernunft ‚gegebene‘, aber überflüssige und letztlich sogar schädliche, weil trügerische, „Hirngespinste“ (B 371) angesehen werden.13 Dies würde jedoch der – gewissermaßen selbst noch regulativen – Vermutung widersprechen, dass die Ideen „ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft haben“ (B 697). Daher besteht Kant darauf, dass zumindest „eine Deduktion“ (B 698, Kursivierung B.R.) der Ideen, eine Rechtfertigung ihres Gebrauchs also, möglich sein muss, auch wenn diese nicht als transzendentale Deduktion aufgefasst werden könne, also nicht als Nachweis eines apriorischen und damit konstitutiven Gegenstandsbezugs der Ideen.14 In einem gewissen Spannungsverhältnis zu diesen Überlegungen Kants steht die Tatsache, dass er seine Explikation des richtigen oder ‚gu12 13 14
Vgl. dazu B 116 f. Zur Einordnung der Ideen in die „Stufenleiter“ der Vorstellungen vgl. B 376 f. Vgl. B 697 f.
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ten‘, eben des regulativen Gebrauchs der Vernunftideen dann trotzdem als „transzendentale Deduktion“ (B 699) bezeichnet.15 Das Argument, mit dessen Hilfe Kant nun also doch eine „transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft“ (B 699) zu leisten beansprucht, läuft schlicht und einfach auf den Hinweis hinaus, dass der regulative Gebrauch der reinen Vernunftbegriffe der „Erfahrungserkenntnis“ immer nur nützen, sie „jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein“ könne (B 699). Aus der Nützlichkeit der regulativ gebrauchten Ideen für die systematische Ausbreitung der Verstandeserkenntnis folgert Kant sodann die Notwendigkeit, den regulativen Ideen den Status von Verfahrensmaximen für die Anleitung der Verstandeserkenntnis einzuräumen16: „[S]o ist es eine notwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren.“ (B 699.) Versucht man, die systematische Stelle des regulativen Gebrauchs der Vernunftbegriffe in der Architektonik der Kantischen Erkenntnistheorie zu kennzeichnen – und lässt sich insoweit auch auf die Begrifflichkeit ein, in der Kant kognitive Vermögen und Erkenntnisquellen gleichsam inventarisiert und theoretisch systematisiert –, dann bietet es sich an, von der folgenden zusammenfassenden Bemerkung Kants auszugehen: „So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen.“ (B 730.) Kant präsentiert die Ideen hier vom Ende der „Transzendentalen Dialektik“ und damit auch der „Transzendentalen Logik“ her als architektonischen Schlussstein seiner Erkenntnistheorie. Die Vernunft, als Vermögen der Prinzipien, habe den Verstand, 15
16
Dietmar Köveker schreibt dazu: „Wir haben es hier mit einem glatten und durch nichts zu relativierenden Widerspruch zwischen zwei durch sechs Seiten Text und eine Kapitelüberschrift voneinander getrennten Stellen zu tun.“ (Köveker 1996, S. 223, mit Bezug auf B 691 f. und B 697 f.) Damit hat Köveker zwar Recht, aber aus der Inkonsistenz im Wortlaut, auf die Köveker hinweist, folgen letztlich keine systematischen Unklarheiten in den anschließenden Überlegungen Kants. Insofern sollte man nicht allzuviel auf den Widerspruch geben, denn das Resultat, auf das Kant an dieser Stelle hinauswill, ist hinreichend deutlich: Er will zeigen, dass die Ideen der reinen Vernunft keine ‚bloß leeren und überflüssigen Gedankendinge‘ sind, indem er ihre ‚gute immanente‘ Funktion für die Orientierung und Systematisierung der Verstandeserkenntnis aufweist. Vgl. dazu die drei „Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen“ (B 686, vgl. B 685-692).
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als Vermögen der Begriffe oder Regeln, zum ‚Gegenstand‘. Der Verstand wiederum richte sich auf die Sinnlichkeit, welche die Anschauungen liefere: „Die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande, und wie dieser das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind.“ (B 671 f.)
Der Verstand allein, so kann diese Passage erläutert werden, hätte keinen systematischen Überblick über das Feld seiner einzelnen Synthesisleistungen. Die Vernunft, das Vermögen der Prinzipien, soll nun auf analoge Weise „systematische Einheit ins Erkenntnis bringen“ (B 678) wie der Verstand, als Vermögen der Begriffe oder Regeln, die Einheit der empirischen Erkenntnis ermöglicht, indem er das „Mannigfaltige gegebener Vorstellungen“ (B 143) zur Synthesis bringt.17 Ebenso wie der Verstand ohne die Sinnlichkeit nichts hätte, was er synthetisieren könnte, hätte die Vernunft ohne den auf die Sinnlichkeit bezogenen Verstand nichts, was sie systematisieren könnte. Regulativ gebraucht, sollen die Vernunftideen nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer strikten Kontrafaktizität, also aufgrund der Tatsache, dass in der Erfahrung „niemals ein Gegenstand vorkommen kann“, der ihnen „adäquat wäre“ (B 384), der möglichst weitreichenden und systematischen ‚Ausbreitung‘ der Verstandeserkenntnis dienen können, deren konstitutive Bedingungen auf Seiten ihres sinnlichen Teils durch die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit und auf Seiten ihres spontanen Teils durch die Kategorien gegeben sind.18 Sie sollen also „dem Verstande zum Kanon seines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen, dadurch er zwar keinen Gegenstand mehr erkennt, als er nach seinen Begriffen erkennen würde, aber doch in dieser Erkenntnis besser und weiter geleitet wird.“ (B 385 f.)
Die systematische Pointe von Kants Theorie des regulativen Gebrauchs der Ideen ist in der „Kritik der reinen Vernunft“ insofern eine heuristische beziehungsweise methodologische. Als „heuristische Grundsätze“ der For17 18
Vgl. dazu auch B 382 f., B 692 f. und B 699. Vgl. auch Kants „Vorrede“ zur ersten Auflage der „Kritik der Urteilskraft“ (Kant 2006, S. 3 f.).
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schung würden die Ideen der reinen Vernunft „mit gutem Glücke gebraucht“ (B 691), und ihre Berechtigung erweise sich dabei durch ihre Nützlichkeit. Der regulative Gebrauch der Ideen liefert Kant zufolge insoweit eine konstante Orientierung aller empirischen Erkenntnisbemühungen, als er es verbietet, irgendeinen de facto erreichten Erkenntnisstand als Abschluss oder Vollendung dieser Bemühungen anzusehen.19
VI.2
Apels Rekurs auf regulative Ideen und Wellmers Kritik
Wenn nun Apel im Kontext seiner transzendentalpragmatischen Explikation des Wahrheitsbegriffs an Kants Konzept der regulativen Idee anknüpft, dann geht es ihm in erster Linie um bestimmte strukturelle Bestimmungsstücke dieses Konzepts, die unabhängig von allen Bezügen zur Kantischen ‚Systemarchitektonik‘20 erläutert werden können. Ohne sich direkt auf die von Kant ausgezeichneten ‚drei Klassen‘ der transzendentalen Ideen der reinen Vernunft zu beziehen, interessiert sich Apel primär für die allgemeinen Merkmale der von Kant geltend gemachten regulativen Deutung der Vernunftbegriffe.21 Eine Detailrekonstruktion der Bezüge, die zwischen Apels Verständnis regulativer Ideen und Kants Theorie des regulativen Vernunftgebrauchs bestehen, ist insofern hier nicht erforderlich. Als Ausgangspunkt der folgenden Diskussion genügt zum einen der Hinweis, dass sich einige Elemente von Kants Theorie des regulativen Gebrauchs der Vernunftbegriffe, so vor allem die Thesen der strikten Kontrafaktizität regulativer Ideen und ihrer orientierenden Funktion für die epistemische Praxis, in transzendentalpragmatisch transformierter Form bei Apel wiederfinden. Zum anderen muss aber sogleich darauf hingewiesen werden, dass Apel diese Elemente mit einer Deutung versieht, die der Kantischen Gegenüberstellung des regulativen und konstitutiven Gebrauchs von Begriffen prima facie zuwiderläuft. Kant spricht den spekulativen Begriffen 19
20 21
Vgl. dazu Kants Bemerkungen zum Fehschluss der „faule[n] Vernunft (ignava ratio) [...], welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe.“ (B 717 f.) Vgl. B 860-879. Vgl. dazu bes. Apel 1998a, S. 112-114, u. 2003, S. 183-186.
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der reinen Vernunft jegliche konstitutive Funktion ab und verweist auf die transzendent-metaphysischen Trugschlüsse, zu denen jeder Versuch eines konstitutiven Gebrauchs der Ideen führen müsse. Apel dagegen schreibt den transzendentalpragmatischen Ideen der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft und des idealen Konsenses eine zugleich regulative und konstitutive Bedeutung zu. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber bereits an diesem Punkt, dass ein direkter und unmittelbarer Vergleich zwischen Apels Verständnis regulativer Ideen und Kants Theorie des regulativen Vernunftgebrauchs irreführend wäre, weil Kant und Apel hier jeweils auf unterschiedliche Fragestellungen antworten. Kant zufolge hat ein Begriff nur dann einen sinnvollen und legitimen ‚konstitutiven Gebrauch‘, wenn sich nachweisen lässt, dass er an der Konstitution des Gegenstandsbereichs objektiver Erfahrungserkenntnis beteiligt ist. Ein solcher Nachweis sei aber für die Vernunftideen nicht möglich. Er könne ausschließlich in Bezug auf „die Begriffe des Raumes und der Zeit, als Formen der Sinnlichkeit“, zum einen und die „Kategorien“, also die „Begriffe des Verstandes“ (B 118), zum anderen geleistet werden.22 Wenn dagegen Apel der transzendentalpragmatischen „regulative[n] Idee der (endgültigen) Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen“23 zugleich eine konstitutive Bedeutung zuweist24, dann geht es ihm dabei nicht um Gegenstandskonstitution, sondern um Praxis-, genauer: um Argumentationskonstitution. Die regulative Idee des universalen Konsenses ist Apel zufolge zugleich eine praxiskonstitutive Sinnbedingung des Argumentierens, insofern sie von jedem, der etwas als gültig behauptet, als Verstehbarkeitsbedingung seiner Behauptungshandlung vorausgesetzt werden müsse: „Daß ich z.B. mit einem Behauptungsakt notwendigerweise einen Sinn- und Wahrheits-Anspruch, und d.h. zugleich: einen intersubjektiv bezogenen Gültigkeits-Anspruch, vorbringe und seine prinzipielle Einlösbarkeit im Sinne der Konsensfähigkeit der behaupteten Propositionen unterstelle: dies kann und muß ich in jeder möglichen Argumentationspraxis als a priori gewiß (als paradigmatische Gewißheit des nicht hintergehbaren Sprachspiels der Argumentation) unterstellen.“25 22 23 24 25
Vgl. dazu Apel 1998g, bes. S. 537-541. Apel 2003, S. 174. Vgl. Apel 2003, S. 173; dazu Gronke 2003. Apel 1998a, S. 192.
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Trotz der damit angedeuteten systematischen Differenzen liefert Kants Theorie des regulativen Vernunftgebrauchs für Apel einige klare, wenn auch nicht inhaltliche, so doch strukturelle Anknüpfungspunkte. Ein solcher liegt bereits in Kants These, die „transzendentale[n] Ideen“ seien „nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ (B 384). Transzendental- respektive diskurspragmatisch transformiert, findet sich dieser Gedanke bei Apel wieder. Weit davon entfernt, ein theoretisch-spekulatives Konstrukt zu sein, sei die Idee „einer unbegrenzten, idealen Kommunikationsgemeinschaft, in der es zu einem letzten Konsens über Wahrheitsansprüche kommen würde“26, in der Praxis des Argumentierens, des Erhebens und Rechtfertigens von Wahrheitsansprüchen, selbst angelegt. Mit ihr werde insofern letztlich nur eine Idealisierung expliziert, welche die argumentative Praxis ohnehin immer schon normativ orientiere. Um sich dies klarzumachen, bedürfe es allein einer Reflexion auf den Sinn des Erhebens von Wahrheitsansprüchen, genauer gesagt: eines Versuches, die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen ein erhobener Wahrheitsanspruch argumentativ restlos eingelöst wäre. Es ist letztlich diese Frage, die durch eine philosophische Explikation des Wahrheitsbegriffs beantwortet werden muss, sofern sie Apels – in Abschnitt IV.4.3 diskutiertem – Postulat der ‚kriteriologischen Relevanz‘ genügen soll.27 In der oben vorgeschlagenen Rekonstruktion der transzendentalpragmatischen Antwort auf diese Frage, in der Äquivalenz (WApel), habe ich Apels Wendung ‚Konsens der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft‘ durch den Begriff einer Übereinstimmung erläutert, die sich in einem rein argumentativ strukturierten Diskurs erzielen ließe, in dem alle relevanten Argumente und Informationen zur jeweiligen Sache berücksichtigt und, wie Apel sagt, optimal ausgewertet werden würden.28 Eine solche Übereinstimmung muss, so Apel, als Konsens einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft gedacht werden, die alle möglichen Argumentationspartner, also alle möglichen Kritiker von erhobenen Wahrheits26 27
28
Apel 2003, S. 171. Vgl. dazu Apel 2003, S. 174 u. S. 192-196, wo Apel diese Frage als Leitfaden seiner Kritik an Habermas’ neueren wahrheitstheoretischen Überlegungen verwendet. Vgl. Apel 1998a, S. 122.
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ansprüchen, als ihre Mitglieder umfassen würde. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass in Bezug auf keinen faktischen, in einer realen und begrenzten Kommunikationsgemeinschaft erreichten Konsens davon ausgegangen werden darf, dass tatsächlich alle relevanten Argumente und Informationen berücksichtigt wurden und zum Zuge gekommen sind: „Denn, wenn es um die erschöpfende Auswertung von Kriterien geht, muss schon allein die stets noch überschreitbare zahlenmäßige Begrenzung der [jeweils realen, B.R.] Argumentationsgemeinschaft als Mangel erscheinen.“29
Apel versteht Gründe und Argumente, also das Medium, in dem sich Wahrheitsansprüche einlösen lassen, nicht als abstrakte Entitäten, die in einem Fregeschen Reich oder einer Popperschen Welt versammelt existieren, um dann von Sprechern aufgesucht und, wie Frege in Bezug auf Gedanken sagt, ‚gefasst‘ zu werden oder auch nicht. Dem Konzept des Grundes kann ohne Bezugnahme auf Sprecher respektive auf Argumentierende, die etwas als Grund und Gründe als Bestandteile von Argumenten für anderes behandeln oder verwenden, kein Sinn verliehen werden. Die Rede von allen möglichen Argumenten, die für die Beantwortung der Frage nach der Berechtigung eines erhobenen Wahrheitsanspruchs relevant sein könnten, erfordert nach Apel demzufolge die Idee einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Denselben Gedanken macht Dietrich Böhler geltend, wenn er das Erheben eines Wahrheitsanspruchs im Anschluss an Apel als eine Stellungnahme im „Universum der Argumente“ expliziert, die als solche „in der faktischen Situation auf Mitglieder einer realen Gemeinschaft, virtuell aber zugleich auf eine kein sinnvolles Argument ausschließende und insofern unbegrenzte Gemeinschaft aller möglichen Argumentationspartner bezogen ist.“30
Mit dem transzendentalpragmatischen Konzept einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, in der alle Argumente zur jeweiligen Sache zum Zuge kämen, wird die Idee jener systematischen Vollständigkeit, von der Kant sagt, sie sei in den reinen Vernunftbegriffen „enthalten“ (B 395), als regulative Idee der vollständigen Verfügbarkeit aller relevanten Informa29 30
Apel 1998a, S. 114. Böhler 1995, S. 145 und S. 151, mit Bezug auf George Herbert Meads Konzept eines ‚universe of discourse‘. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Brandoms Rede von einem ‚space of reasons‘ (Brandom 1995), mit der er eine Metapher von Sellars aufnimmt.
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tionen und Argumente auf die Praxis des Argumentierens bezogen. Apel versteht den mit Behauptungshandlungen erhobenen Wahrheitsanspruch also von vornherein zugleich als einen Anspruch auf Konsenswürdigkeit der jeweils behaupteten Aussage in der realen Argumentationsgemeinschaft und auf deren Konsensfähigkeit in der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft.31 Die beiden wichtigsten strukturellen Anknüpfungspunkte für Apels Verständnis regulativer Ideen in Kants Theorie des regulativen Vernunftgebrauchs liegen in Kants These, dass Vernunftbegriffe strikt kontrafaktische Konzepte sind, denen in der Erfahrung „niemals ein Gegenstand vorkommen kann“, der ihnen „adäquat wäre“ (B 384), und in der Orientierungsfunktion, die Kant den Vernunftideen für die epistemische Praxis zuschreibt. Indem Apel den Konsens der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft als regulative Idee kennzeichnet, macht er deutlich, dass es sich bei diesem idealen consensus omnium nicht um etwas Realisierbares handeln soll, also nicht um etwas, das sich irgendwann einmal tatsächlich erreichen ließe. Als einer regulativ ‚gebrauchten‘ komme der Idee des idealen argumentativen Konsenses aber trotz ihrer strikten Kontrafaktizität die Funktion zu, ein „heuristische[s] ‚Als ob‘-Ziel“ zu explizieren, welches geeignet sei, allen realen und faktischen diskursiven Erkenntnisbemühungen „eine normative Richtung zu geben“32. Sie ermögliche es nämlich, das fallibilistische Bewusstsein, welches sich aus der Reflexion auf die epistemischen Beschränkungen unserer Praxis des Erhebens und Rechtfertigens von Gültigkeitsansprüchen ergibt, nicht allein im Sinne der Fehlbarkeit unserer Überzeugungen negativ, sondern auch entlang eines melioristischen Konzepts des Erkenntnisfortschritts im Sinne der Korrigierbarkeit unserer jeweils faktisch begründeten Überzeugungen positiv zu deuten und ins Orientierend-Normative zu wenden: „[D]ie regulative Funktion der Idee des letzten, idealen Konsensus [liegt] darin, dass jeder zeitweilige, faktische Konsens [...] auf der methodologischen Meta31
32
Die Unterscheidung zwischen Konsenswürdigkeit und Konsensfähigkeit, mit der Apel implizit arbeitet, lässt sich folgendermaßen erläutern: Eine gegebene Aussage p, die in der idealen Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wäre, ist in der realen Argumentationsgemeinschaft konsenswürdig, verdient also die Anerkennung aller, sofern sie sich die Frage nach dem Wahrheitswert von p stellen. Apel 2003, S. 185 und S. 186.
332
VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee? ebene unter einen heuristisch relevanten Fallibilitäts- und Verbesserungsvorbehalt gestellt werden kann und muß.“33
Bislang habe ich den transzendentalpragmatischen Rekurs auf regulative Ideen in dem folgenden Sinn erläutert: Um „den internen Zusammenhang zwischen realitätsbezogener Wahrheit und diskursbezogener Rechtfertigung“34 zu explizieren, müssen und können nach Apel auch legitimerweise kontrafaktische Begriffe ins Spiel gebracht werden, welche die diskursive Rechtfertigungspraxis in bestimmten Hinsichten idealisieren. Legitim ist der Rekurs auf solche Idealisierungen in der Wahrheitstheorie dann, wenn sich nachweisen lässt, dass sie die epistemische Praxis ohnehin immer schon orientieren und daher nicht als spekulative Erklärungskonstrukte ‚von außen‘ an diese Praxis herangetragen werden müssen. Genau dies trifft Apel zufolge auf die regulativen Ideen der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft und ihres Konsenses zu. Diese regulativen Ideen erweisen sich nach Apel daher als unverzichtbare Elemente einer jeden philosophischen Explikation des Wahrheitsbegriffs, die mit dem Anspruch vorgebracht wird, den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Begründung einsichtig zu machen und insofern in Apels Sinn ‚kriteriologisch‘ relevant zu sein. Apel geht aber, wie eingangs angedeutet, noch einen Schritt weiter und erklärt Wahrheit selbst zu einer regulativen Idee.35 So spricht er von der „regulative[n] Idee der Wahrheit als des unüberbietbaren Konsenses der unbegrenzten Diskursgemeinschaft“36 sowie von der „Peircesche[n] Konzeption der Wahrheit als regulative Idee“37 und kennzeichnet seine Rekonstruktion des Pragmatismus als „sense-critical realism based on a regulative idea of truth“38. Bevor ich im nächsten Abschnitt selbst einen Einwand gegen diese begriffliche Festlegung Apels geltend mache, soll hier Albrecht Wellmers Kritik an jedem Rekurs auf regulative Ideen in konsenstheoretischen Explikationen des Wahrheitsbegriffs berücksichtigt werden. 33 34 35 36 37 38
Apel 1998, 114. Apel 2003, S. 182. Kant selbst rechnet den Wahrheitsbegriff nicht zu den regulativ idealen Begriffen. Apel 2003, S. 176. Apel 2002a, S. 130. So ein Teil des Titels von Apel 2001. Vgl. auch den Titel von Apel 2003: „Wahrheit als regulative Idee“.
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Am Ende einer kritischen Auseinandersetzung mit Apels Konsenstheorie der Wahrheit schreibt Wellmer: „Meine Schlußfolgerung lautet: Wahrheit ist keine regulative Idee. Der Versuch, einen metaphysischen Korrespondenzbegriff der Wahrheit durch einen rechtfertigungsbezogenen Wahrheitsbegriff zu ersetzen mit der Maßgabe, daß Wahrheit und Rechtfertigung – oder Wahrheit und Konsens – nicht hier und jetzt, sondern unter idealen Bedingungen zusammenfallen würden, führt nicht aus der Metaphysik heraus.“39
Diese Schlussfolgerung zieht Wellmer aus einer Reihe von Argumenten, die zum einen zeigen sollen, dass Apels Explikation des Wahrheitsbegriffs durch das Konzept des Konsenses der idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft die Geschichte der metaphysischen Erläuterungen von ‚Wahrheit‘ bloß fortschreibt, anstatt sie – wie Apel es beansprucht – sinnkritisch zu überwinden, und die zum anderen deutlich machen sollen, dass wir die von Apel ins Spiel gebrachten und nach Wellmers Ansicht spekulativ metaphysischen Konzepte gar nicht benötigen, um den Wahrheitsbegriff philosophisch zu explizieren. Wellmer formuliert seine Kritik – so in dem Aufsatz „Wahrheit, Kontingenz, Moderne“ von 1993 – vor dem Hintergrund einer aporetisch zugespitzten Diagnose der Problemsituation, vor die sich jede Wahrheitstheorie gestellt sehe. Er gibt dieser Problemsituation dort den Namen „Antinomie der Wahrheit“40: Entweder man versuche, den unbedingten und absoluten Sinn des Wahrheitsbegriffs zu verteidigen und werde dabei genötigt, auf letztlich spekulativ metaphysische Konzepte zu rekurrieren, die als solche letztlich keinen rationalen Explikationswert haben, oder man versuche, die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs im Blick auf seine grammatische Rolle innerhalb der faktisch etablierten Rechtfertigungspraxis des je eigenen „sprachlich-kulturellen Kontexts“41 zu erläutern und gelange dabei unweigerlich zu relativistischen Konsequenzen, die sich nicht konsistent behaupten lassen.42 Die transzendentalpragmatische Konsenstheorie fällt Wellmer zufolge unter das erste Disjunkt der ‚Antinomie 39 40 41 42
Wellmer 2003, S. 169. Wellmer 1993a, S. 158; vgl. schon Wellmer 1986, S. 91-102. Wellmer 1992, S. 27. Vgl. Wellmer 1993a, S. 157 f., u. 2003, S. 169: „Der Relativist zieht sich – natürlich um den Preis eines performativen Widerspruchs – aus dem Wahrheitsspiel zurück und betrachtet es von außen; er streicht sich als Mitspieler durch.“
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der Wahrheit‘. In ihren zentralen Begriffen, durch die sie den „Wahrheits‚Absolutismus‘“43 zu retten versuche, setze sich die Tradition der Metaphysik nur in einem neuen, dem sprachpragmatischen, Gewand fort. Sobald man nämlich die Idee der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft konsequent ausbuchstabiere, werde deutlich, dass sie auf „einen Zustand [...] vollkommener Transparenz, absoluten Wissens und moralischer Vollkommenheit“ verweist und insofern auf eine „Kommunikationssituation, die die Zwänge, die Opazität, die Fragilität, die Temporalität und die Materialität endlicher menschlicher Kommunikationsformen hinter sich gelassen hätte.“ Eine solche ideale, von allen Einschränkungen realer Verständigungsprozesse befreite Kommunikation wäre jedoch Wellmer zufolge eine „Kommunikation [...] außerhalb und jenseits der Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation. Insoweit die Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft [...] die Negation der Bedingungen endlicher menschlicher Kommunikation einschließt, impliziert sie die Negation der naturhaften und historischen Bedingungen menschlichen Lebens, der endlichen menschlichen Existenz.“44
Unter der Voraussetzung, dass diese Deutungen zutreffen, würde offenbar auch der Begriff eines Konsenses der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft zu einem im schlechten Sinne metaphysischen Konstrukt. Würde er doch dann die Vorstellung von einer Übereinstimmung zum Ausdruck bringen, die jedenfalls nicht mehr als ein Konsens endlicher und fallibler Menschen gedacht werden könnte – also nicht mehr als eine Übereinstimmung solcher Wesen, die darauf angewiesen sind, in sowohl zeitlich wie epistemisch begrenzten und eingeschränkten Diskursen Argumente auszutauschen und zu beurteilen, um die Berechtigung von problematisierten Gültigkeitsansprüchen zu prüfen. Als Träger eines solchen Konsenses käme Wellmer zufolge nurmehr eine Gemeinschaft von epistemischen Subjekten in Frage, die „einer Sicht der Welt gleichsam vom Standpunkt Gottes“45 fähig wäre. Der Begriff des Konsenses der idealen Argumentationsgemeinschaft erweise sich somit als „metaphysische Fiktion“46 und zudem als 43 44 45 46
Wellmer 1993a, S. 158; vgl. auch 2003, S. 169. Wellmer 1993a, S. 162; vgl. auch 1992, S. 29, u. 1993b. Wellmer 1993a, S. 161. Wellmer 2003, S. 169.
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„in sich inkohärent, da eine ideale Kommunikationsgemeinschaft diejenige wäre, in der sprachliche Kommunikation nicht mehr notwendig wäre – also eine Kommunikationsgemeinschaft jenseits der realen geschichtlichen Bedingungen sprachlicher Kommunikation, ein Jenseits der Geschichte und der Sprache.“47
Apel antwortet auf Wellmers Behauptung, die transzendentalpragmatische Konsenstheorie bringe spekulativ die Vorstellung von einem Ende und Ziel der epistemischen Geschichte beziehungsweise einem Ende der argumentativen Auseinandersetzung über Gültigkeitsansprüche ins Spiel, mit einer Gegenbehauptung, in der er sich direkt auf Kants Bestimmung des regulativen Gebrauchs der Vernunftbegriffe beruft. Wellmer missverstehe den Sinn der regulativen Idee „des letzten, unüberbietbaren Konsenses, zu dem eine unbegrenzte Diskursgemeinschaft unter idealen Bedingungen gelangen würde“, indem er sie als Vorstellung von einem „innerweltlich realisierten“ Zustand auffasse: „Dazu würde ich sagen: Einen solchen Zustand als faktisch realisiert vorzustellen (zu vergegenwärtigen) wäre [...] absurd; es widerspricht aber [...] auch allen Bestimmungen Kants über den Sinn und die Funktion von ‚regulativen Ideen‘ im Rahmen kritischer Transzendentalphilosophie.“48
Es ist aber unklar, ob Apels Behauptung, dass Wellmer den Sinn regulativer Ideen falsch versteht – diese Behauptung steht nach wie vor im Zentrum von Apels „Metakritik der Wellmerschen Kritik an der transzendentalpragmatischen Explikation des Sinns von Wahrheit“49 –, wirklich den Kern von Wellmers Einwänden trifft. Denn Wellmer räumt das von Apel mit Kant geltend gemachte ‚Verbot‘, sich regulative Ideen als realisierbar vorzustellen,50 durchaus ein. Die eigentliche Pointe seiner Kritik besteht in der folgenden These: Es sei inkonsistent, einerseits zu behaupten, dass die Realisierung der regulativen Idee des idealen Konsenses weder sinnvoll gedacht noch vorgestellt werden kann, dieser Idee dann aber andererseits 47 48
49 50
Wellmer 1992, S. 23; vgl. auch 2003, S. 153 f., u. 2004, S. 233. Apel 2003, S. 185. Vgl. dort auch S. 184: Kant habe „immer wieder klargemacht, daß die ‚regulativen Ideen‘ zwar methodologisch, im Sinne der Vervollständigung, auf mögliche Erfahrung bezogen sind, gleichwohl aber ‚nichts Empirisches‘ (d.h. kein vorstellbarer Zustand in Raum und Zeit) den durch sie unterstellten ‚als ob‘Zielen ‚jemals völlig korrespondieren kann‘.“ Apel 2003, S. 183. Vgl. Apel 2002b, S. 83.
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eine Orientierungsfunktion für die epistemische Praxis zuzusprechen – etwa im Sinne eines „‚Als ob‘-Ziel[s]“51, von dem wir wissen, dass es niemals erreicht werden kann.52 In dem Moment, so Wellmer, in dem man versucht, einen solchen Orientierungsgehalt der Idee des idealen Konsenses zu denken, erweise sich ein Verstoß gegen das Verbot, diesen Konsens als zumindest möglicherweise realisierbar vorzustellen, als unvermeidlich.53 Apel beharrt demgegenüber darauf, dass gerade in dieser These Wellmers Missverständnis des Konzepts der regulativen Idee sichtbar werde, und bestreitet, dass die von ihm selbst betonte Undenkbarkeit einer Realisierung des Konsenses der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft die Idee eines solchen Konsenses als Orientierungsinstanz unserer epistemischen Praxis disqualifiziert. Ohne diese argumentative Patt-Situation hier auflösen zu können, will ich zumindest darauf hinweisen, dass Apels Formulierungen der Wellmerschen Kritik in manchen Hinsichten durchaus Ansatzpunkte liefern; dort nämlich, wo Apel 1. die Idee des Konsenses der idealen Argumentationsgemeinschaft durch die temporal konnotierte Rede von einem „letzten Konsens über Wahrheitsansprüche“54 charakterisiert, der 2. für diejenigen, die an ihm teilhätten, nicht mehr argumentativ kritisierbar und problematisierbar wäre,55 und zumal dort, wo Apel 3. nicht hinreichend verdeutlicht, ob es ihm um eine konsenstheoretische Erläuterung des Wahrheitsprädikats beziehungsweise des Begriffs der Aussagenwahrheit oder aber um eine solche der Idee einer vollständigen Wahrheit „hinsichtlich der Realität überhaupt“56 geht. 51 52 53
54 55 56
Apel 2003, S. 185. Vgl. Wellmer 2003, S. 153, u. 2004, S. 233 f. Vgl. dazu Wellmer 1993b, S. 205, wo in Bezug auf regulative Ideen die These geltend gemacht wird, „daß sie als bloße Gedanken leer wären, wenn sie nicht von möglicher Erfahrung her, das heißt sub specie einer ihnen zumindest möglichen objektiven Realität, gedacht würden.“ Apel 2003, S. 171, vgl. dort auch S. 174. Vgl. Apel 2002a, S. 120, u. 1998a, S. 112 f. Apel 2003, S. 196, vgl. auch 1998a, S. 112f., u. 2002a, S. 145.
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Wellmers Kritik an Apels Rekurs auf regulative Ideen enthält einen guten Teil Polemik – so etwa, wenn er die transzendentalpragmatische Idee des idealen Konsenses als quasi-theologische Vorstellung von einer „vollkommen moralisierten Menschheit, ein[em] Zustand des ewigen Friedens“ und „Reichs Gottes auf Erden“57 bezeichnet. Zudem ist keinesfalls ausgemacht, dass Wellmers Deutung der Idee des idealen Konsenses ohne Alternativen ist.58 Insofern beruht sein Einwand auf strittigen substantiellen Voraussetzungen. Zumindest gegen Apels Behauptung, dass Wahrheit eine regulative Idee ist, lässt sich aber ein anderer, sehr viel weniger voraussetzungsreicher Einwand geltend machen.
VI.3
Wahrheit ist keine regulative Idee
Der angekündigte Einwand gegen Apels These, Wahrheit sei eine regulative Idee, ist ebenso einfach wie meines Erachtens triftig. Er hat die Form eines Arguments im Modus tollendo tollens: Wenn Wahrheit eine regulative Idee ist, dann ist keine Aussage wahr. Manche Aussagen sind aber wahr. Also ist Wahrheit keine regulative Idee. Die erste Prämisse ist eine analytische Konsequenz aus Apels Bestimmung der Bedeutung regulativ idealer Begriffe. Regulative Ideen sollen, darin besteht ein zentraler Anknüpfungspunkt Apels in Kants Theorie des regulativen Vernunftgebrauchs, in dem Sinn strikt kontrafaktisch sein, dass nichts Reales – kein existierender ‚Gegenstand‘ – unter den Begriff einer regulativen Idee fallen kann. Regulativ ideale Begriffe haben, mit anderen Worten, zwar eine Intension, eine explizierbare Bedeutung, aber ihre Extension ist leer.59 Wer demnach behauptet, dass ‚Wahrheit‘ ein regulativ idealer Begriff und daher Wahrheit eine regulative Idee ist, der legt sich damit zugleich auf die These fest, dass die Extension des Wahrheitsprädikats die leere Menge ist. 57 58 59
Wellmer 2004, S. 233; vgl. auch 2003, S. 153 f. Dazu Gronke 1994, bes. S. 422, und Øfsti 2003. Kant formuliert diesen Punkt, indem er sagt, dass durch die transzendentalen Vernunftbegriffe „kein Objekt bestimmt werden kann“ (B 385).
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VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee?
Auch die zweite Prämisse ist leicht zu begründen. Nehmen wir zum Beispiel die folgende Disjunktion: Röntgen hat den ersten Nobelpreis für Physik erhalten oder er hat nicht den ersten Nobelpreis für Physik erhalten. Eines der beiden Disjunkte bringt eine wahre Aussage zum Ausdruck. Nach allem, was wir wissen, ist das erste Disjunkt wahr. Doch auch dann, wenn wir uns mit dieser Meinung im Irrtum befinden sollten, bringt die gegebene Beispieldisjunktion selbst in jedem Fall eine wahre Aussage zum Ausdruck, eine Aussage also, die in die Extension des Prädikats ‚ist wahr‘ fällt. Auch handelt es sich bei der zweiten Prämisse um eine Aussage, die man nicht sinnvoll bestreiten oder in Zweifel ziehen kann. Wer sie bestreiten wollte, müsste dabei unterstellen, dass ihr kontradiktorisches Gegenteil wahr ist. Und auch wer sie nur bezweifeln wollte, müsste dabei beanspruchen, mit dem propositionalen Gehalt seiner Zweifelshandlung etwas Wahres zum Ausdruck zu bringen – etwa die Aussage, es sei möglicherweise falsch, dass manche Aussagen wahr sind. Die Extension des Wahrheitsprädikats ist nicht leer, und daher ist, anders als Apel behauptet, ‚Wahrheit‘ kein regulativ idealer Begriff und Wahrheit keine regulative Idee. Dieselbe Problematik, die gerade im Blick auf Apels These vom regulativ idealen Status der Wahrheit herausgestellt wurde, findet sich auch bei Popper: „[U]nsere kritischen Diskussionen der Theorien sind von dem Gedanken beherrscht, eine wahre (und leistungsfähige) erklärende Theorie zu finden; und wir rechtfertigen unsere Bevorzugungen durch Berufung auf die Idee der Wahrheit: sie spielt die Rolle einer regulativen Idee. Wir prüfen auf Wahrheit, indem wir das Falsche ausscheiden. Daß wir keine Rechtfertigung – keine hinreichenden Gründe – für unsere Vermutungen angeben können, bedeutet nicht, daß wir nicht auf die Wahrheit gestoßen sein könnten; einige unserer Hypothesen können sehr wohl wahr sein.“60
Wenn Wahrheit eine regulative Idee ist, dann ist es (begrifflich) notwendigerweise der Fall, dass wir nicht ‚auf die Wahrheit stoßen‘ können, und es ist ebenso der Fall, dass keine einzige unserer Hypothesen wahr sein kann. Wenn Popper im Sinne der von ihm vertretenen falsifikationistischen Methodologie behauptet, dass ‚wir auf Wahrheit prüfen, indem wir das Fal60
Popper 1973, S. 42; vgl. auch 1963a, S. 306 f., S. 311; u. 1963b, S. 39.
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sche ausschließen‘, und Wahrheit zugleich als eine regulative Idee kennzeichnet, dann übersieht er zudem, dass Wahrheit nur dann eine regulative Idee sein könnte, wenn – paradox gesprochen – auch Falschheit eine regulative Idee wäre. Jede Negation einer falschen Aussage ist eine wahre Aussage. Wenn wir ‚das Falsche‘ negieren und, wie Popper sagt, ‚ausscheiden‘, dann bringen wir etwas Wahres zum Ausdruck. Wenn Wahrheit eine regulative Idee wäre und wir daher nichts Wahres zum Ausdruck bringen könnten, dann könnten wir auch nichts Falsches zum Ausdruck bringen, denn jede wahre Aussage kann als Negation einer falschen Aussage formuliert werden und vice versa. Problematisch ist die Rede von regulativen Ideen vor allem dort, wo sie sich direkt auf Gültigkeits- und Erfolgsbegriffe der epistemischen Praxis bezieht. Wollte man statt Wahrheit etwa Wissen oder Erkenntnis als regulative Ideen explizieren, so würde man sich dadurch auf die Anerkennung der These festlegen, dass es de facto kein Wissen und keine Erkenntnis gibt. Damit wäre uns dann aber auch die Möglichkeit genommen, die vorgeschlagene Explikation von Erkenntnis und Wissen als regulative Ideen als ein Stück Wissen oder Erkenntnis über den Sinn der Konzepte ‚Wissen‘ und ‚Erkenntnis‘ zu verstehen und anzuerkennen. Ebenso wenig wie Popper will selbstverständlich Apel bestreiten, dass es wahre Aussagen gibt. Seine These, Wahrheit sei eine regulative Idee, erweist sich daher als umso problematischer. Sie gerät mit der von Apel zu Recht als sinnvoll nicht bestreitbar ausgezeichneten Einsicht in Widerspruch, dass das Erheben eines Wahrheitsanspruchs konstitutiv zum pragmatischen Sinn einer jeden Behauptungshandlung gehört, dass also Sprecher, indem sie eine Aussage behaupten, zu verstehen geben, dass sie etwas zu behaupten beanspruchen, das wahr ist. Um Sprechern im Rahmen einer philosophischen Rekonstruktion der diskursiven Praxis sinnvollerweise Wahrheitsansprüche zuschreiben und für die jeweils angebotene Rekonstruktion selbst solche Ansprüche erheben zu können, muss Wahrheit daher als ein Gültigkeitsstatus expliziert werden, der den propositionalen Gehalten von Behauptungen und Überzeugungen de facto zukommen kann. Apels Gleichsetzung von Wahrheit mit einer regulativen Idee ist damit aber unvereinbar. Wäre Wahrheit eine regulative Idee, dann gäbe es keine wahren Aussagen, und das Erheben von Wahrheitsansprüchen müsste dann als ein zutiefst irrationaler Zug unserer diskursiven und epistemi-
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VI. Ist Wahrheit eine regulative Idee?
schen Praxis angesehen werden: Wir könnten das Erheben solcher Ansprüche in unseren Behauptungen nicht vermeiden, wüssten aber zugleich (oder könnten doch wissen), dass jeder derartige Anspruch unberechtigt wäre, weil eine notwendige Bedingung der normativen Korrektheit von Behauptungshandlungen – die Wahrheit des jeweils behaupteten propositionalen Gehalts – in jedem Fall unerfüllt bliebe.61 Hier ergibt sich eine ähnliche Absurdität wie schon im Fall von Habermas’ These, dass wir in unserer diskursiven Praxis nicht umhinkommen, regelmäßig Wahrheitsansprüche zu erheben, obwohl wir – so Habermas – durch eine theoretische Rekonstruktion dieser Praxis zugleich zu dem Wissen gelangen (können), dass es nicht möglich ist, solche Ansprüche diskursiv durch Gründe einzulösen.62 Wer mit Apel sowohl behauptet, dass Wahrheit ein regulativ idealer Gültigkeitsstatus von Aussagen ist, also ein Gültigkeitsstatus, der Aussagen de facto gar nicht zukommen kann, als auch, dass das Erheben von Wahrheitsansprüchen für uns unhintergehbar ist, der legt sich damit zugleich auf die Anerkennung der folgenden These fest: Wir erheben in Behauptungen nolens volens Wahrheitsansprüche für die von uns jeweils behaupteten Aussagen, obwohl wir durch philosophische Reflexion wissen (können), dass Wahrheit eine regulative Idee ist und es daher keine wahren Aussagen gibt. Ebenso wie im Fall von Habermas’ These, dass Wahrheitsansprüche prinzipiell nicht durch Gründe eingelöst werden können, spricht die hier herausgestellte begriffliche Konsequenz der Charakterisierung von Wahrheit als regulative Idee nicht dafür, dass unsere diskursive Praxis auf Präsuppositionen beruht, die wir als zugleich irrational und dennoch unvermeidbar einsehen können. Sie liefert vielmehr einen guten Grund für die Annahme, dass Apels These, Wahrheit sei eine regulative Idee, falsch ist. Der hier vorgebrachte Einwand richtet sich bislang allein gegen die Erläuterung von Aussagenwahrheit als regulative Idee. Berücksichtigt man an diesem Punkt die oben skizzierte systematische Zweigleisigkeit der transzendentalpragmatischen Wahrheitstheorie63, die freilich von Apel selbst an keiner Stelle als solche kenntlich gemacht wird, dann ergibt sich eine zweite mögliche Deutung der These vom regulativ idealen Status der 61 62 63
Vgl. die in I.2 rekonstruierte Wahrheitsnorm für Behauptungshandlungen (WNB). Vgl. oben, Abschnitt V.2. Vgl. oben, Abschnitt IV.4.3.
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Wahrheit. Ebenso wie schon Peirce verwendet Apel den Begriff des idealen Konsenses einerseits dazu, den Sinn der Rede von wahren Aussagen zu erläutern: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie sich in einem hinsichtlich seiner kommunikativen Eigenschaften ideal strukturierten Diskurs, in dem alle relevanten Informationen und Argumente zur Verfügung stünden und optimal ausgewertet werden würden, als konsensfähig erweisen würde. Andererseits deuten manche Ausführungen Apels – ebenfalls in sachlicher Nähe zu entsprechenden Aussagen von Peirce – darauf hin, dass der Begriff des Konsenses der idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft nicht das Konzept der propositionalen Wahrheit oder Aussagenwahrheit, sondern die Idee einer vollständigen Wahrheit „hinsichtlich der Realität überhaupt“64 explizieren soll. So spricht Apel von der „regulative[n] Idee des mit der Wahrheit identischen Limit-Konsenses“65 und scheint dabei das Substantiv ‚die Wahrheit‘ als einen singulären Terminus zu gebrauchen, dessen intendierter Referent das vollständige System aller wahren Aussagen wäre. Es liegt nun nahe, Apels Behauptung, Wahrheit sei eine regulative Idee, im Sinne dieses zweiten Elements der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie zu verstehen: Nicht der Begriff der Aussagenwahrheit, sondern derjenige der Wahrheit ‚über die Realität im ganzen‘sei ein regulativ ideales Konzept. Oben habe ich Apels Rekurs auf den Vollständigkeitsgedanken, der von Kant aufs engste mit dem ‚regulativen Gebrauch der Ideen‘ verknüpft wird, im Sinne der Idee der Verfügbarkeit aller für die Beantwortung einer gegebenen Frage relevanten Informationen und Argumente gedeutet. Nimmt man dagegen an, dass es Apel dort, wo er von der ‚regulativen Idee der Wahrheit‘ spricht, nicht um Aussagenwahrheit geht, sondern um die Idee der Wahrheit ‚über die Realität im ganzen‘, dann scheint damit eine andere Deutung des Vollständigkeitsgedankens ins Spiel zu kommen: Vollständigkeit im Sinn von vollständiger Wahrheit. So verstanden, entgeht Apels Rede von der „Verfolgung der regulativen Idee der Wahrheit“66 den oben geltend gemachten Einwänden: Das Konzept der vollständigen Wahrheit im Sinne einer regulativen Idee zu erläutern, schließt offenbar 64 65 66
Apel 2003, S. 196. Apel 2003, S. 179, Hervorhebung B.R. Apel 2002a, S. 129.
342
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nicht die Anerkennung der Thesen aus, dass es wahre Aussagen gibt, dass wir de facto viele wahre Überzeugungen haben und oft wahre Propositionen behaupten. Die These, dass die vollständige Wahrheit eine regulative Idee ist, gerät insofern auch nicht mit der Tatsache in Widerspruch, dass Behauptungshandlungen konstitutiv mit dem Erheben von Wahrheitsansprüchen einhergehen, denn mit keiner unserer Behauptungshandlungen ist konstitutiv der Anspruch verbunden, ihr propositionaler Gehalt bringe die vollständige Wahrheit über die ‚Realität im ganzen‘ zum Ausdruck. Aber – dieser Einwand drängt sich hier auf – zugleich verliert die so verstandene ‚regulative Idee der Wahrheit‘ deshalb auch jene praxiskonstitutive Bedeutung, die Apel den regulativen Ideen des Argumentierens zuspricht: Regulative Ideen sind Apel zufolge mit jeder Behauptungshandlung notwendig vorausgesetzte und anerkannte, daher konstitutive Sinnbedingungen der Praxis des Erhebens und Rechtfertigens von Gültigkeitsansprüchen.67 Nehmen wir aber, indem wir Aussagen behaupten, die Idee der einen vollständigen Wahrheit beziehungsweise des einen vollständigen Systems aller Wahrheiten qua Repräsentation der Realität insgesamt als konstitutive Sinnbedingung unserer Behauptungshandlungen in Anspruch? Es trifft zwar zu, dass wir, indem wir eine Aussage behaupten, implizit zugleich für eine große Anzahl anderer Aussagen Wahrheitsansprüche erheben. Hier sind zum Beispiel die mit singulären Termini in deklarativ verwendeten Sätzen verbundenen Existenzpräsuppositionen zu nennen, die sich im Prinzip vollständig als behauptete Aussagen müssten explizit machen und thematisieren lassen, und ferner die mit jeder kommunikativen Handlung performativ einhergehenden Präsuppositionen der Existenz einer Kommunikationsgemeinschaft, geschichtlicher Sprachen und – wie Habermas sagt – „einer gemeinsamen objektiven Welt“68. Aber die These, dass wir uns mit dem Erheben eines Wahrheitsanspruchs für eine Aussage notwendigerweise implizit auf die Menge aller wahren Aussagen beziehen, lässt sich allenfalls in einem ganz und gar abstrakten und formalen Sinn plausibilisieren: „Everything that is true must be consistent with everything else that is true.“69 Wenn ich eine gegebene Aussage p behaupte, also für p ei67 68 69
Vgl. dazu Gronke 2003, S. 268. Habermas 2001, S. 13. Wiggins 1980, S. 214.
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nen Wahrheitsanspruch erhebe, dann unterstelle ich, dass die aus der Hinzufügung von p zu einer beliebig großen Menge M wahrer Aussagen resultierende Menge N von Aussagen nicht inkonsistent ist. Und ich erkenne implizit an, dass ich meinen Wahrheitsanspruch zu Unrecht erhebe, wenn diese Unterstellung falsch ist. Dieser formale Bezug einer jeden Behauptungshandlung auf alle (möglichen) wahren Aussagen kann jedoch nicht im Sinne des Bezugs auf eine in Apels Sinn praxiskonstitutive regulative Idee des Argumentierens verstanden werden. Das wird offensichtlich, wenn man sich vor Augen führt, was die vollständige Wahrheit alles umfassen würde: alle möglichen wahren Aussagen über schlechthin alles. Und dies ist kein sinnvolles epistemisches Ideal. Es gibt keinen einsehbaren Grund für die These, dass wir die vollständige Wahrheit über schlechthin alles als etwas ansehen sollten, das ein ‚Als ob‘-Ziel unserer Erkenntnisbemühungen darstellt und an dessen „approximative[r]“70 epistemischer Inbesitznahme unsere Argumentations- und Forschungspraxis regulativ orientiert ist. Unzählige wahre Aussagen sind es – trotz ihrer Wahrheit – schlicht nicht wert, als wahr erkannt zu werden, weil sie jeglicher theoretischen oder praktischen Relevanz entbehren. Selbst wenn sich die Idee einer vollständigen Wahrheit ‚hinsichtlich der Realität überhaupt‘ kohärent explizieren lässt – das habe ich hier um des Arguments willen unterstellt –, eignet sie sich jedenfalls nicht als eine in Apels Sinn regulative Idee der epistemischen Praxis. Propositionale Wahrheit als eine regulative Idee zu charakterisieren, führt andererseits aus rein begrifflichen Gründen zu der Folgefestlegung auf die Anerkennung der absurden These, dass keine einzige Aussage, die wir de facto irgendwann einmal behaupten, wahr ist und dass daher schlechthin alle Wahrheitsansprüche, die wir als Teilnehmer der diskursiven Praxis erheben, zu Unrecht erhoben werden. Jeder Versuch, diese These zu behaupten, liefe aber auf einen paradigmatischen Fall performativer Selbstwidersprüchlichkeit in dem von Apel selbst herausgestellten Sinn hinaus: Man kann diese Aussage nicht auf sinnvolle und verstehbare Weise behaupten, denn sie widerspricht dem Wahrheitsanspruch, der schon für jeden Versuch, sie zu behaupten, konstitutiv ist. Wahrheit ist keine regulative Idee.
70
Apel 2003, S. 185.
344 VI.4
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Apels Postulat der Selbstanwendbarkeit der Konsenstheorie und das Problem des konditionalen Fehlschlusses
Auf die soeben vorgebrachten Einwände könnte erwidert werden, sie machten zu viel Lärm um eine Behauptung Apels, die für seinen konsenstheoretischen Ansatz der Wahrheitsexplikation allenfalls nebensächlich sei. Denn Apel könnte die These, dass Wahrheit eine regulative Idee ist, zurücknehmen und trotzdem darauf bestehen, dass die regulativen Ideen der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft sowie ihres Konsenses in der philosophischen Erläuterung des Wahrheitsbegriffs unverzichtbar sind. Selbst dann nämlich, wenn die beiden im letzten Abschnitt geltend gemachten Einwände triftig sind und weder der Begriff der Aussagenwahrheit ein regulativ idealer Begriff ist noch derjenige der Wahrheit insgesamt oder, wie Apel sagt, der Wahrheit ‚hinsichtlich der Realität überhaupt‘, so ist damit nicht bereits die These widerlegt, dass im Rahmen der Explikation des Wahrheitsbegriffs auf regulative Ideen beziehungsweise auf strikt kontrafaktische epistemische Idealisierungen Bezug genommen werden muss. Ich will diese letzte These hier nicht bestreiten, sondern auf ein generelles Problem hinweisen, welches sich aus dem Rekurs auf kontrafaktische Idealisierungen und aus der damit einhergehenden logischen Struktur epistemischer Wahrheitsäquivalenzen ergibt: Wenn die im Kontext solcher Wahrheitsexplikationen kontrafaktisch ins Spiel gebrachten epistemischen Idealisierungen realisiert wären, dann wären manche Aussagen, die de facto – das heißt: unter nicht idealen epistemischen Bedingungen – falsch sind, wahr, und manche anderen Propositionen, die de facto wahr sind, wären falsch. Robert Shope hat – in einem anderen Diskussionskontext – das potentiell Problematische an kontrafaktisch-konditionalen Erläuterungen der Wahrheitsbedingungen kategorischer Aussagen analysiert und dabei den Namen „Conditional Fallacy“ geprägt.71 In lockerer Anknüpfung an Shope kennzeichne ich das in unserem Zusammenhang relevante strukturelle Problem, welches (WApel) mit den Wahrheitsäquivalenzen (WPeirce), (WBJB), (WHabermas’72) und (WPutnam’78/’81/’90) teilt, als ‚konditionalen Fehlschluss‘. In der wahrheitstheoretischen Diskussion hat zuerst Crispin Wright auf dieses Problem aufmerksam gemacht, und zwar im 71
Vgl. Shope 1978.
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Blick auf Putnams ‚intern-realistische‘ Erläuterung des Wahrheitsbegriffs.72 Für die transzendentalpragmatische Konsenstheorie stellt es sich aber in besonderem Maße, weil Apel erstens die von ihm verwendeten epistemischen Idealisierungen als regulative Ideen deutet, deren Realisierung nicht sinnvoll gedacht werden könne,73 und weil er die transzendentalpragmatische Konsenstheorie zweitens explizit unter das Postulat der Selbstanwendbarkeit stellt. Zunächst zu diesem letzten Punkt. Das „wesentliche Charakteristikum“ philosophischer Aussagen und insofern auch philosophisch-wahrheitstheoretischer Aussagen besteht nach Apel darin, dass sie „ihren eigenen Geltungsanspruch prinzipiell mitreflektieren und in den Geltungsbereich ihres universalen Geltungsanspruchs einbeziehen müssen.“74 Dem entspricht, dass eine gute philosophische Wahrheitstheorie Apel zufolge selbstanwendbar sein muss. Selbstanwendbar ist eine Wahrheitstheorie T dann, wenn sie die begrifflichen Mittel für eine Explikation der Wahrheitsbedingungen ihrer eigenen wahrheitstheoretischen Aussagen zur Verfügung stellt. Zumindest aber darf aus T nichts folgen, was mit der Annahme unvereinbar ist, T sei wahr. Apel spricht in diesem Zusammenhang von ‚reflexiver Selbsteinholung‘75. Für die transzendentalpragmatische Konsenstheorie der Wahrheit bedeutet dies, dass sie auch noch ihre eigenen Gültigkeitsbedingungen konsenstheoretisch muss einholen und explizieren können: „Es ist [...] nicht zu bestreiten, dass auch die [...] Aussagen der Philosophie Gegenstand von argumentativen Diskursen und insofern konsensbedürftig sind. Auch für sie gilt die Peircesche Definition des Sinns von Wahrheit, derzufolge nur [...] der nicht mehr bestreitbare Konsens einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft für uns die Idee der Wahrheit repräsentiert.“
Apel charakterisiert die zweite der gerade zitierten Aussagen explizit als eine „Aussage, in der die Konsenstheorie der Wahrheit [...] auf sich selber angewendet wird“76, und legt sich damit im Blick auf jede gegebene konsenstheoretische Aussage p auf die These fest, dass p genau dann wahr ist, wenn p in der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft kon72 73 74 75 76
Vgl. Wright 2000, S. 341-347. Vgl. dazu Apel 1998a, S. 113, u. 2003, S. 185. Apel 1998a, S. 140. Vgl. Apel 1996. Die letzten beiden Zitate: Apel 1998a, S. 145; vgl. auch 1980, S. 393 f.
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sensfähig wäre. Hier soll zunächst gezeigt werden, dass die transzendentalpragmatische Konsenstheorie der von Apel aufgestellten Adäquatheitsbedingung der Selbstanwendbarkeit nicht genügt. Das Kernstück der Apelschen Wahrheitstheorie ist die folgende epistemische Äquivalenz: (WApel) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn p in einem rein argumentativ strukturierten Diskurs D, in dem alle relevanten Argumente berücksichtigt und optimal ausgewertet werden würden, argumentativ geprüft werden würde, dann würde p den Konsens aller an D Beteiligten finden. Die im Antezedens des kontrafaktischen Konditionals auf der rechten Seite von (WApel) eingeführten epistemisch idealen Bedingungen für die Feststellung des Wahrheitswerts einer gegebenen Aussage p haben Apel zufolge den Status regulativer Ideen. Ein solcher Diskurs D könne nur als idealer Diskurs, nämlich als Argumentation in der unbegrenzten und idealen, im Gegensatz zu jeder realen und begrenzten strikt kontrafaktischen Argumentationsgemeinschaft expliziert werden. Um die Formulierung des folgenden Arguments weniger sperrig zu gestalten, kürze ich (WApel) wie folgt ab: (WApel’) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn p in einem idealen Diskurs D argumentativ geprüft werden würde, dann würde p den Konsens aller an D Beteiligten finden. Apel vertritt nun die folgenden Thesen: (1) Der ideale Diskurs ist eine regulative Idee. (2) Regulative Ideen können nicht realisiert werden. Aus den Thesen (1) und (2) folgt: (3) Es findet niemals ein idealer Diskurs statt. Die Thesen (1) und (2) sind ohne Zweifel philosophische Aussagen. Und auch (3) ist eine philosophische Aussage, wenn gilt:
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(4) Wenn p und q philosophische Aussagen sind, die Konjunktion p∧q konsistent ist und r aus p∧q logisch folgt, dann ist auch r eine philosophische Aussage.77 Nicht zuletzt weil Apel explizit den Anspruch erhebt, mit Hilfe der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie auch die Gültigkeitsbedingungen philosophischer Aussagen korrekt erläutern zu können, stellt sich hier die Frage, wie die Explikation der Wahrheitsbedingungen von (3) gemäß (WApel’) lauten würde. Um diese Frage zu beantworten, muss man nur ‚p‘ in dem Schema (WApel’) durch die Aussage (3) ersetzen: (5) Die Aussage (3) ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn (3) in einem idealen Diskurs D argumentativ geprüft werden würde, dann würde (3) den Konsens aller an D Beteiligten finden. Doch (5) ist als Explikation der Wahrheitsbedingungen von (3) inakzeptabel. Nehmen wir zur Verdeutlichung der in (5) angelegten Problematik zunächst an, ein Proponent S der Äquivalenz (WApel’) würde behaupten, dass die Aussage (3) in einem idealen Diskurs D über die Frage, ob (3) wahr ist, den Konsens aller an D Beteiligten finden würde. Mit anderen Worten: Nehmen wir an, S würde behaupten, dass das kontrafaktische Konditional auf der rechten Seite von (5)78 wahr ist. Auf diese Behauptung ist S nolens volens festgelegt, weil er erstens aufgrund der von ihm gegebenen Charakterisierung des idealen Diskurses als regulative Idee die These vertreten muss, dass die Aussage (3) wahr ist, und zweitens mit (WApel’) eine Explikation des Wahrheitsbegriffs anbietet, derzufolge eine Aussage genau dann wahr ist, wenn sie in einem idealen Diskurs den Konsens aller Beteiligten finden würde. Es ist aber offensichtlich, dass S die Konjunktion der Thesen, dass die Aussage (3) wahr ist, dass (3) in einem idealen Diskurs konsensfähig wäre, und dass (WApel’) eine zutreffende Explikation des Konzepts der Aussagenwahrheit liefert, nicht konsistent vertreten kann. Denn die zweite dieser Thesen läuft auf das Eingeständnis hinaus, dass auch ein Konsens, der unter idealen argumentativen Bedingungen erzielt werden würde, einen falschen propositionalen Gehalt haben könnte: Wenn das An77
78
Ich vernachlässige hier, dass logisch notwendig wahre Aussagen (klassisch) aus jeder beliebigen Aussage folgen, aber nicht alle logisch notwendigen Wahrheiten philosophische Aussagen sind. Also das Konditional nach dem Doppelpunkt.
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tezedens des kontrafaktischen Konditionals auf der rechten Seite von (5) wahr wäre, also die Aussage (3) in einem idealen Diskurs argumentativ geprüft werden würde, dann wäre (3) falsch, und ein unter diesen Bedingungen erzielter argumentativer Konsens, der die Aussage (3) zum propositionalen Gehalt hätte, wäre Ausdruck eines Irrtums der idealen Argumentationsgemeinschaft. Genau dieses kontrafaktische ‚Szenario‘ müsste S aber ausschließen können, denn er behauptet ja, dass die Äquivalenzen (WApel) respektive (WApel’) geeignet sind, eine konsenstheoretische Explikation der Wahrheitsbedingungen der philosophischen Aussage (3) zu liefern. Könnte S dagegen konsistenterweise behaupten, dass die Aussage (3) in einem idealen Diskurs D nicht den Konsens aller an D Beteiligten finden würde, dass also das kontrafaktische Konditional auf der rechten Seite von (5) falsch ist? Nein. Denn da S die Äquivalenz (WApel’) als korrekte Explikation des Wahrheitsbegriffs vertritt, würde er sich mit dieser Behauptung auf die Anerkennung der These festlegen, dass es nicht wahr ist, dass niemals ein idealer Diskurs stattfindet – also auf die Behauptung der faktischen Falschheit von (3). Letzteres widerspricht S’ These, dass wir hier und jetzt wissen, dass (3) wahr ist, insofern wir wissen, dass die Idee eines idealen argumentativen Diskurses den Status einer regulativen Idee hat. Dieses von S beanspruchte Wissen aber, soviel ist hier deutlich geworden, lässt sich nicht im Rekurs auf (WApel’) oder auch (WApel) als ein Wissen um die argumentative Konsensfähigkeit der Aussage (3) in der idealen und unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft erläutern. Weitere Beispiele für Aussagen, die aus Apels Konsenstheorie folgen und deren Wahrheitsbedingungen durch (WApel) respektive (WApel’) nicht auf akzeptable Weise expliziert werden können, sind etwa: (6) Die unbegrenzte und ideale Argumentationsgemeinschaft ist niemals realisiert. (7) Keine Aussage wird jemals den Konsens der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft finden. (8) Der Konsens der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft ist eine regulative Idee. (9) In keinem Diskurs werden jemals alle möglichen für die jeweils thematische Sache relevanten Argumente berücksichtigt.
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Auch von den Aussagen (6)-(9) können wir hier und jetzt wissen, dass sie wahr sind, sofern wir – wie Apel behauptet – hic et nunc wissen können, dass die unbegrenzte und ideale Argumentationsgemeinschaft sowie der Konsens derselben regulative Ideen sind, deren Realisierbarkeit a priori ausgeschlossen werden muss. Und auch in Bezug auf (6)-(9) ist leicht einsehbar, dass sie falsch wären, wenn sie – per impossibile – in einem idealen Diskurs geprüft werden oder den Konsens der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft finden würden. Mit Hilfe der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie sind die Wahrheitsbedingungen von (3), (6), (7), (8) und (9) nicht explizierbar. Da diese Aussagen sämtlich entweder ausdrücklich Teil der transzendentalpragmatischen Wahrheitskonzeption sind oder aber aus ihr folgen, zeigt sich hier, dass die Konsenstheorie dem von Apel aufgestellten Adäquatheitskriterium der Selbstanwendbarkeit nicht gerecht wird. Bislang habe ich nur Beispiele für Propositionen genannt, die de facto wahr sind, aber falsch wären, wenn die von Apel zur Explikation des Wahrheitsbegriffs verwendeten strikt kontrafaktischen Idealisierungen realisiert wären. Dementsprechend gibt es freilich auch Aussagen, die de facto falsch sind, aber wahr wären, wenn sie – per impossibile – in einem idealen Diskurs argumentativ geprüft werden würden. So etwa die kontradiktorischen Gegenteile der Aussagen (3) und (6)-(9) sowie alle Aussagen, aus denen wenigstens eines der kontradiktorischen Gegenteile der Aussagen (3) oder (6)-(9) logisch folgt. Zwei Beispiele: (10) Manche Aussagen werden in einem idealen Diskurs argumentativ geprüft. (11) In manchen Diskursen werden alle möglichen für die jeweils thematische Sache relevanten Argumente berücksichtigt. Wenn die Aussagen (10) und (11) Gegenstand eines idealen Diskurses wären, dann wären sie wahr und hätten demnach nicht denselben Wahrheitswert, der ihnen – Apels Konzeption des idealen Diskurses als regulativer Idee gemäß – de facto, also unter nicht-idealen epistemischen Bedingungen, zukommt. Die transzendentalpragmatische Konsenstheorie gerät also dort in Schwierigkeiten, wo es um die Erläuterung der Wahrheitsbedingungen von Aussagen geht, für die entweder gilt, dass sie de facto wahr sind, aber
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falsch wären, wenn sie in einem idealen Diskurs argumentativ geprüft werden würden, oder für die gilt, dass sie de facto falsch sind, aber wahr wären, wenn das Antezedens des kontrafaktischen Konditionals auf der rechten Seite der entsprechenden Instanzen von (WApel) beziehungsweise (WApel’) wahr wäre. Dieses Resultat kann auch im Blick auf FitchKonjunktionen, also Konjunktionen der Form ‚p∧¬Kp‘, ‚p∧¬JBp‘ oder ‚p∧¬Bp‘, verdeutlicht werden. Durch Fitch-Konjunktionen zum Ausdruck gebrachte Aussagen lassen sich nicht als propositionale Gehalte sinnvoller Behauptungshandlungen denken.79 A fortiori können sie nicht Gehalt von argumentativen Konsensen sein. Wollte man ihre Wahrheitsbedingungen im Rekurs auf (WApel) oder (WApel’) explizieren, so wäre man daher allein aufgrund des mit diesen epistemischen Äquivalenzen behaupteten Zusammenhangs zwischen faktischer Wahrheit und kontrafaktisch-idealer argumentativer Konsensfähigkeit auf die Anerkennung der These festgelegt, dass alle Propositionen, die durch Fitch-Konjunktionen zum Ausdruck gebracht werden, falsch sind. Fitch-Konjunktionen bringen jedoch empirische Aussagen zum Ausdruck, über deren Wahrheitswert auf der Basis philosophisch-wahrheitstheoretischer Überlegungen keine Entscheidung gefällt werden kann.80 An diesem Punkt der Diskussion muss ein möglicher Einwand antizipiert und entkräftet werden, der von Seiten eines Proponenten der Äquivalenz (WApel) – wiederum unter Berufung auf den strikt kontrafaktischen Sinn regulativer Ideen – gegen die hier angestellten Überlegungen geltend gemacht werden könnte: Der soeben gegen (WApel) vorgebrachte Einwand beruht auf Überlegungen darüber, was der Fall wäre, wenn die regulative Idee des idealen Diskurses realisiert wäre. Es gehört doch aber gerade zur Pointe der Verwendung regulativer Ideen in der transzendentalpragmatischen Wahrheitstheorie, dass diese Ideen nicht als realisierte gedacht werden können beziehungsweise dass jeder Versuch, sie als realisierte zu denken, „absurd“81 sein muss. Allen Überlegungen darüber, was der Fall wäre, wenn eine Aussage in 79 80 81
Siehe oben, Abschnitt V.6. Vgl. oben, Abschnitt V.5. Apel 2003, S. 185.
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einem idealen Diskurs argumentativ geprüft werden würde, liegt daher wieder dasselbe Missverständnis regulativer Ideen zugrunde, das Apel in Wellmers Kritik der Konsenstheorie bemängelt.82 Insofern ist der oben gegen (WApel) vorgebrachte Einwand, weit entfernt davon, auf ein Problem der transzendentalpragmatischen Wahrheitstheorie hinzuweisen, bloß Ausdruck einer unangemessenen Deutung des Sinns regulativer Ideen. Zu dieser Erwiderung ist ein Proponent von (WApel) aus einem einfachen Grund nicht berechtigt: Er selbst behauptet, dass die Äquivalenz (WApel) eine verständliche, theoretisch gehaltvolle und philosophisch gültige Explikation des Wahrheitsbegriffs liefert, und das heißt, er behauptet, dass man den Sinn der Rede von Aussagenwahrheit durch strikt kontrafaktische Überlegungen zu der Frage klären kann, welcher epistemische Status einer Aussage, die de facto wahr ist, dann zukäme, wenn sie unter regulativ idealen Bedingungen für die Feststellung ihres Wahrheitswerts geprüft werden würde. Sollte es also tatsächlich illegitim sein, strikt kontrafaktische Überlegungen darüber anzustellen, was der Fall wäre, wenn die epistemischen Idealisierungen, auf die in (WApel) zur Explikation des Wahrheitsbegriffs rekurriert wird, realisiert wären, dann müsste dasselbe auch schon für die Verwendung dieser regulativen Ideen in der konsenstheoretischen Erläuterung des Wahrheitsbegriffs selbst gelten. Man dürfte dann nämlich auch diejenigen Überlegungen, die dem Proponenten von (WApel) zufolge eine philosophische Klärung des Wahrheitsbegriffs ermöglichen, gar nicht anstellen. Ein Proponent von (WApel) kann den hier im Rahmen einer Kritik der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie ins Spiel gebrachten strikt kontrafaktischen Überlegungen daher jedenfalls nicht konsistenterweise vorhalten, sie beruhten auf einem grundlegenden Missverständnis des Sinns regulativer Ideen. Denn er verwendet strukturell analoge Überlegungen seinem eigenen Anspruch nach dazu, den Wahrheitsbegriff mit einer zutreffenden philosophischen Erläuterung zu versehen. Sieht man von den zusätzlichen Problemen ab, die sich einerseits aus Apels Postulat der Selbstanwendbarkeit und andererseits aus seinem Rekurs auf regulative Ideen ergeben, dann erweist sich der hier vorgebrachte Einwand gegen die konsenstheoretische Explikation des Wahrheitsbegriffs 82
Vgl. oben, Abschnitt VI.2.
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als ein rein struktureller. Sein Angriffspunkt liegt letztlich allein in der logischen Form der Äquivalenz (WApel), und daher trifft er alle epistemischen Wahrheitsäquivalenzen, welche dieselbe logische Form wie (WApel) aufweisen: (Wschematisch) Wp↔[Ψp → Φp]83 p ist wahr gdw. gilt: Wenn p unter idealen Bedingungen für die Beantwortung der Frage, ob p, geprüft werden würde84, dann würde p der epistemische Status Φ zukommen85. Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen bringen Äquivalenzen der Form (Wschematisch) mit dem Anspruch vor, einen epistemischen Status Φ zu spezifizieren, der allen und nur denjenigen Propositionen, die de facto wahr sind, unter bestimmten idealen – oder hinreichend guten – epistemischen Bedingungen für die Feststellung des Wahrheitswerts von Propositionen zukäme. Das Problem, das durch den oben mit Bezug auf (WApel) vorgebrachten Einwand der konditionalen Fehlschlüssigkeit herausgestellt wird, ergibt sich aus der für epistemische Wahrheitsäquivalenzen charakteristischen Kombination von Indikativ (linke Seite des Bikonditionals) und Konjunktiv (rechte Seite des Bikonditionals). Es betrifft alle wahren Aussagen α, für deren Wahrheit ¬Ψα eine notwendige Bedingung darstellt, und alle falschen Aussagen β, für deren Falschheit ¬Ψβ eine notwendige Bedingung ist. Dieselbe allgemeine Charakterisierung des Problems der konditionalen Fehlschlüssigkeit gibt Crispin Wright, wenn er schreibt: 83
84
85
Durch (Wschematisch) präzisiere ich die vorläufige Charakterisierung der logischen Form epistemischer Wahrheitsäquivalenzen, die in der Einleitung gegeben wurde. Wp stehe für: p ist wahr. Ψp stehe für: p wird unter (zu spezifizierenden) idealen Bedingungen für die Beantwortung der Frage, ob p, geprüft. Φp stehe für: p kommt der (zu spezifizierende) epistemische Status Φ zu. Also etwa: unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation (Habermas’72), in einem Diskurs der unbegrenzten und idealen Argumentationsgemeinschaft (Apel), unter Verfügbarkeit des ideal kohärenten und vollständigen Überzeugungssystems (Bradley, Joachim, Blanshard), unter idealen (Putnam’78/’81) oder unter hinreichend guten epistemischen Bedingungen (Putnam’90). Also etwa: p wäre Gehalt eines argumentativen Konsenses (Habermas’72, Apel), p wäre Element des ideal kohärenten und vollständigen Meinungssystems (Bradley, Joachim, Blanshard), p wäre verifiziert (Putnam’78) oder p wäre Gehalt einer rationalen Überzeugung respektive Behauptung (Putnam’81/’90).
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„[N]o categorical claim can be a priori (or necessarily) equivalent to a subjunctive conditional of a certain type – roughly: one whose antecedent hypothesises conditions under which a manifestation, depicted by the consequent, of the status of P takes place – unless it is likewise a priori (or necessary) that realization of the antecedent of the latter would not impinge on the actual truth value of the categorical claim.“86
Das Problem der konditionalen Fehlschlüssigkeit epistemischer Wahrheitsäquivalenzen ist unabhängig davon, ob die Idealisierungen, die in ihnen jeweils ins Spiel gebracht werden, mit Apel als strikt kontrafaktische regulative Ideen, also als notwendigerweise nicht realisierbar, gedacht werden oder ob eine mögliche, aber nicht garantierte, Realisierung zugelassen wird. An diesem Punkt will ich daher noch andeuten, inwiefern es sich für die Äquivalenzen (WPeirce), (WHabermas’72) und (WBJB) stellt.87 In Kapitel III wurde für die These argumentiert, dass sich der Kerngedanke der Peirceschen Konsenstheorie durch die folgende Äquivalenz rekonstruieren lässt: (WPeirce) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn in Bezug auf die Frage, ob es der Fall ist, dass p, ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F stattfinden würde, dann würde sich zu irgendeinem Zeitpunkt von F ein stabiler Konsens in der an F beteiligten Forschergemeinschaft einstellen, der die Aussage p zum propositionalen Gehalt hätte. Anders als viele seiner Kommentatoren nahelegen, behauptet Peirce nicht, dass die wissenschaftliche Forschung irgendwann in der Zukunft alle sinnvoll stellbaren Fragen beantwortet haben und in diesem Sinn zu ihrem Abschluss gebracht sein wird. Was die Frage nach einem zeitlichen ‚end of in86 87
Wright 2000, S. 344; vgl. auch 1996b, S. 938-940. Vgl. zu (WPeirce), (WHabermas’72) und (WBJB) die Abschnitte IV.2, IV.4.1 und IV.4.2. Für eine Version des Einwands der konditionalen Fehlschlüssigkeit gegenüber Putnams ‚intern-realistischer‘ Wahrheitskonzeption vgl. Wright 2000, S. 341-347. Die in Abschnitt IV.1 diskutierte Äquivalenz (WDummett) bleibt hier unberücksichtigt, da sie nicht die durch (Wschematisch) dargestellte logische Form aufweist.
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quiry‘ anbelangt, so zieht er allenfalls die Möglichkeit eines „final extinction of intellectual life“88 in Betracht: „There cannot be a scintilla of evidence to show that at some time all living beings shall not be annihilated at once, and that forever after there shall be throughout the universe any intelligence whatever.“89
Wenn intelligentes, forschungs- und argumentationsfähiges Leben ein für allemal ausgelöscht werden würde, dann würde a fortiori – so lässt sich eine Konsequenz des von Peirce erwogenen Katastrophenszenarios erläutern – in Bezug auf keine Frage ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess stattfinden. Was die folgende Aussage angeht, so will sich Peirce jedenfalls als Wahrheitstheoretiker jeder Festlegung enthalten, also weder behaupten, sie sei wahr, noch, sie sei falsch: (12) In Bezug auf keine Frage findet ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess statt. Ersetzt man nun ‚p‘ in (WPeirce) durch die Aussage (12), so erweist sich Peirces Wahrheitsexplikation in der derselben Hinsicht als problematisch wie diejenige Apels: (13) Die Aussage (12) ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn in Bezug auf die Frage, ob (12) wahr ist, ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F stattfinden würde, dann würde sich zu irgendeinem Zeitpunkt von F ein stabiler Konsens in der an F beteiligten Forschergemeinschaft einstellen, der die Aussage (12) zum propositionalen Gehalt hätte. Insofern ein Proponent S von (WPeirce) beansprucht, den Wahrheitsbegriff durch das Konzept eines stabilen Konsenses zu explizieren, muss er die Möglichkeit ausschließen, dass die community of investigators in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess zu einem stabilen Konsens mit falschem propositionalen Gehalt gelangen könnte. Nun gilt aber: Wenn das Antezedens des kontrafaktischen Konditionals auf der rechten Seite von (13) wahr wäre, dann wäre (12) falsch. Daher ist S gezwungen, darauf zu bestehen, dass die Aussage (12) nicht propositionaler Gehalt eines stabilen Konsenses werden würde, dass also das kontrafaktische Konditional auf 88 89
Peirce 1931-1938, 8.43. Peirce 1931-1938, 5.357.
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der rechten Seite der Äquivalenz (13) insgesamt falsch ist. Zusammen mit (WPeirce) ergibt sich daraus für S nolens volens, dass er die faktische Falschheit der Aussage (12) behaupten muss. Die epistemische Äquivalenz (WPeirce) lässt also keinen Raum für die Wahrheit der Aussage (12). Für Habermas’ ehemalige konsenstheoretische Erläuterung des Wahrheitsbegriffs im Rekurs auf das Konzept der idealen Sprechsituation ergibt sich ein ähnliches Problem: (WHabermas‘72) Die Aussage p ist wahr gdw. gilt: Wenn p unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation argumentativ geprüft werden würde, dann würde p den Konsens der an dieser Argumentation Beteiligten finden. Habermas weist darauf hin, dass reale Argumentationsprozesse den Bedingungen einer idealen Sprechsituation niemals vollständig entsprechen können: „Jede empirische Rede ist sowohl durch die raumzeitlichen Begrenzungen des Kommunikationsvorganges wie auch durch die psychischen Belastungsgrenzen der Diskursteilnehmer grundsätzlichen Restriktionen unterworfen, die eine vollständige Erfüllung der idealen Bedingungen ausschließen.“90
Mit seiner These, dass eine ‚vollständige Erfüllung der idealen Bedingungen‘ ausgeschlossen ist, legt Habermas sich zugleich auf die Behauptung fest, dass die folgende Aussage wahr ist: (14) Die Bedingungen einer idealen Sprechsituation sind niemals vollständig realisiert. Die Explikation der Wahrheitsbedingungen von (14) würde nun gemäß (WHabermas’72) folgendermaßen lauten: (15) Die Aussage (14) ist wahr genau dann, wenn gilt: Wenn (14) unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation argumentativ geprüft werden würde, dann würde sie den Konsens der an dieser Argumentation Beteiligten finden. Und auch hier gilt wieder, dass (15) keine akzeptable Erläuterung der Wahrheitsbedingungen von (14) darstellen kann: Wenn das Antezedens 90
Habermas 1984, S. 179.
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des kontrafaktischen Konditionals auf der rechten Seite der Äquivalenz (15) wahr wäre, dann wäre (14) falsch. Würde sich also unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation ein Konsens einstellen, der (14) zum propositionalen Gehalt hätte, dann wäre dieser Konsens Ausdruck eines Irrtums. Wollte ein Proponent von (WHabermas‘72) dagegen bestreiten, dass (14) unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation konsensfähig wäre, dann müsste er zugleich die Falschheit von (14) behaupten. (WHabermas‘72) lässt also keinen Raum für die Wahrheit der Aussage (14). Auf analoge Weise stellt sich das Problem der konditionalen Fehlschlüssigkeit für die kohärenztheoretische Äquivalenz (WBJB)91 zum Beispiel im Blick auf die folgende Aussage: (16) Kein epistemisches Subjekt und keine Gemeinschaft solcher Subjekte verfügt jemals über ein ideal vollständiges und kohärentes Überzeugungssystem. (WBJB) lässt für die Wahrheit dieser Aussage keinen Raum. Insgesamt zeigt sich hier, dass eine allgemeingültige Erläuterung E der Wahrheitsbedingungen kategorischer Aussagen der Form ‚p ist wahr‘ im Rekurs auf kontrafaktische Konditionale nur dann gelingen könnte, wenn garantiert wäre: Es gibt keine wahrheitswertdifferenten Aussagen, die einen anderen Wahrheitswert hätten, als sie ihn de facto haben, wenn die mit E zur Explikation des Wahrheitsbegriffs ins Spiel gebrachten kontrafaktischen Annahmen wahr wären. Eine derartige Garantie ist aber, wenn die vorangegangenen Überlegungen zutreffen, nicht zu haben.
91
Vgl. oben, Abschnitt IV.2.
VII. Resümee Crispin Wright schlägt vor, dem Einwand der konditionalen Fehlschlüssigkeit gegen epistemische Wahrheitskonzeptionen dadurch seinen Ansatzpunkt zu entziehen, dass der explikative Kerngedanke dieser Konzeptionen nicht mehr in Form von Bikonditionalen mit kontrafaktisch-konditionaler rechter Seite, sondern in Form von kontrafaktischen Konditionalen mit bikonditionalem Nachsatz zum Ausdruck gebracht wird.1 Anstatt sich auf die Behauptung von Wahrheitsäquivalenzen der Form (Wschematisch) festzulegen, sollten sich Proponenten epistemischer Konzeptionen mit der Behauptung kontrafaktischer Konditionale der folgenden Art begnügen2: (PBschematisch) Ψp → [Wp↔Φp] Wenn p unter idealen Bedingungen für die Beantwortung der Frage, ob p, geprüft werden würde, dann wäre p genau dann wahr, wenn p der epistemische Status Φ zukäme. Ausgehend von (WApel’) ergibt sich daraus die folgende Reformulierung des Grundgedankens der transzendentalpragmatischen Konsenstheorie: (PBApel) Wenn die Aussage p in einem idealen Diskurs D argumentativ geprüft werden würde, dann wäre p genau dann wahr, wenn p den Konsens aller an D Beteiligten finden würde.3 In VI.4 wurde deutlich, dass aus Apels Bestimmung des idealen Diskurses als regulative Idee die These (3) folgt, also die Aussage, dass niemals ein idealer Diskurs stattfindet respektive kein realer Diskurs den Bedingungen eines idealen Diskurses gerecht werden kann.4 Im Rückgriff auf (WApel) lassen sich die Wahrheitsbedingungen dieser Aussage nicht erläutern. Für einen Proponenten S von (PBApel) dagegen wirft die Festlegung auf (3) kein 1 2 3
4
Vgl. Wright 1996b, S. 939 f., u. 2000, S. 345-347. Wright 2000, S. 347, spricht hier von „Provisional Biconditionals“ (PB). Vgl. Wrights entsprechende Deutung der wahrheitstheoretischen Thesen, die Putnam im Vorwort zu „Realism with a Human Face“ (Putnam 1990, S. vii-xi) geltend macht: „Were P to be appraised under (topic specific) sufficiently good epistemic conditions, P would be true if and only if P would be believed.“ (Wright 2000, S. 347, vgl. auch S. 350.) Ich knüpfe ich hier und im Folgenden an die Nummerierung der für die Diskussion relevanten Thesen aus Abschnitt VI.4 an.
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VII. Resümee
Problem auf. Wenn die Aussage (3) in einem idealen Diskurs D geprüft werden würde, dann wäre (3) falsch, und die Falschheit von (3) wäre unter diesen Bedingungen gemäß (PBApel) hinreichend dafür, dass (3) nicht den Konsens aller an D Beteiligten finden würde. Mit (PBApel) wird – anders als mit (WApel) – nicht mehr behauptet, dass ideale argumentative Konsensfähigkeit, also Konsensfähigkeit unter Bedingungen eines strikt kontrafaktisch gedachten idealen Diskurses, eine sowohl notwendige wie auch hinreichende Bedingung für faktische Wahrheit darstellt, sondern (PBApel) bringt nur noch die These zum Ausdruck, dass die argumentative Konsensfähigkeit einer gegebenen Aussage p eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Wahrheit von p wäre, wenn ein idealer Diskurs zu der Frage, ob p, stattfinden würde. Insofern kann S die Konjunktion der These (3) und der Aussage, dass (3) in einem idealen Diskurs D über die Frage, ob (3) wahr ist, nicht den Konsens aller an D Beteiligten finden würde, konsistent behaupten. Dasselbe gilt für die Konjunktion der Aussagen (6) bis (9) und die These, dass (6) bis (9) in einem idealen Diskurs nicht konsensfähig wären. S ist also, anders als der Proponent von (WApel), nicht darauf festgelegt, einzuräumen, dass eine Beantwortung der Frage, ob (3) und (6) bis (9) wahr sind, in einem idealen Diskurs zu der konsensuellen Anerkennung von Aussagen führen würde, die unter den Bedingungen eines solchen Diskurses falsch wären. S vermeidet damit eine Festlegung, die mit der Annahme, der Begriff der Wahrheit lasse sich im Rekurs auf denjenigen eines idealen Konsenses erläutern, offensichtlich unvereinbar ist. Auch die Festlegung darauf, dass die Thesen (10) und (11) falsch sind – diese Festlegung ergibt sich wiederum aus Apels Bestimmung des idealen Diskurses als regulative Idee –, ist für einen Proponenten S von (PBApel) unproblematisch. Wenn die Frage, ob (10) und (11) wahr sind, Thema eines idealen Diskurses D wäre, dann wären (10) und (11) wahr, und ihre Wahrheit wäre unter diesen Bedingungen gemäß (PBApel) hinreichend dafür, dass (10) und (11) den Konsens aller an D Beteiligten finden würden. Anders als der Proponent von (WApel) kann S die ideale Konsensfähigkeit von (10) und (11) behaupten und zugleich konsistenterweise daran festhalten, dass (10) und (11) de facto falsch sind, da er mit den entsprechenden Instanzen von (PBApel) keine Aussagen über die tatsächlichen Wahrheitsbedingungen von (10) und (11) formuliert, sondern nur eine konsenstheoretische These darüber, was für die Wahrheit von (10) und (11) notwendig und
VII. Resümee
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hinreichend wäre, wenn (10) und (11) Gegenstand eines idealen Diskurses wären. Ein Proponent von (PBApel) kann ferner die These anerkennen, dass es wahre Fitch-Konjunktionen gibt, weil er sich dadurch – wiederum im Gegensatz zu einem Proponenten von (WApel) – nicht auf die absurde Behauptung festlegt, dass manche Fitch-Konjunktionen in einem idealen Diskurs konsensuelle Anerkennung als wahr finden würden. Mit anderen Worten: Er kann behaupten, dass keine Fitch-Konjunktion in einem idealen Diskurs konsensfähig wäre, ohne damit zugleich eine der in Kapitel V diskutierten Thesen (AllK), (AllJB) oder (AllB) vertreten zu müssen, denen zufolge alle wahren Aussagen de facto irgendwann einmal als wahr erkannt, begründet oder auch nur behauptet werden. Deutet man den explikativen Grundgedanken der Peirceschen Konsenstheorie gemäß (PBschematisch), dann ergibt sich die folgende These: (PBPeirce) Wenn in Bezug auf die Frage, ob es der Fall ist, dass p, ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess F stattfinden würde, dann wäre p genau dann wahr, wenn sich zu irgendeinem Zeitpunkt von F ein stabiler Konsens in der an F beteiligten Forschergemeinschaft einstellen würde, der p zum propositionalen Gehalt hätte. (PBPeirce) ist, anders als (WPeirce), mit (12) vereinbar, also mit der These, dass de facto in Bezug auf keine Frage ein zeitlich unbegrenzter Forschungsprozess stattfindet, weil mit (PBPeirce) keinerlei Aussage über die Wahrheitsbedingungen von Propositionen gemacht wird, die nicht in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess geprüft werden. Entsprechendes gilt mutatis mutandis für den gemäß (PBschematisch) gedeuteten explikativen Grundgedanken der Konsenstheorie von Habermas5 und die These (14) sowie für den gemäß (PBschematisch) aufgefassten Grundgedanken der Kohärenztheorien von Bradley, Joachim und Blanshard6 und die These
5
6
(PBHabermas’72) Wenn die Aussage p unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation argumentativ geprüft werden würde, dann wäre p genau dann wahr, wenn p den Konsens aller an dieser Argumentation Beteiligten finden würde. (PBBJB) Wenn ein epistemisches Subjekt oder eine Gemeinschaft solcher Subjekte über das ideal vollständige und kohärente Überzeugungssystem verfügen würde,
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VII. Resümee
(16). Im Gegensatz zu (WPeirce), (WApel), (WHabermas’72), und (WBJB) sind (PBPeirce), (PBApel), (PBHabermas’72) und (PBBJB) also immun gegen den Einwand der konditionalen Fehlschlüssigkeit. Sollte daher mit Crispin Wright die These vertreten werden, dass Aussagen der Form (PBschematisch) den eigentlichen und wohlverstandenen explikativen Grundgedanken epistemischer Wahrheitskonzeptionen zum Ausdruck bringen?7 Wer dies annimmt, wird nicht umhinkommen, den Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen eine gewisse Fehleinschätzung dessen zuzuschreiben, was ihre Theorien zu leisten imstande sind: Proponenten solcher Wahrheitstheorien wollen erläutern, was es für Propositionen de facto, also unter (möglicherweise) nicht-idealen epistemischen Bedingungen bedeutet, wahr zu sein, indem sie kontrafaktische Überlegungen zu der Frage anstellen, welcher epistemische Status denjenigen Propositionen, die de facto wahr sind, unter epistemisch idealen Bedingungen zukommen würde. Mit anderen Worten, sie erheben den Anspruch, im Rekurs auf idealisierende epistemische Konzepte von Begründbarkeit, Konsensfähigkeit, Kohärenz oder gerechtfertigter Behauptbarkeit eine generelle Erläuterung des Sinns von Aussagen der Form ‚p ist wahr‘ zu liefern. Dieser Anspruch kann aber für Thesen der Form (PBschematisch) aus einem offensichtlichen Grund nicht zu Recht erhoben werden: Thesen dieser Art betreffen die Wahrheitsbedingungen einer gegebenen Aussage p nur insofern, als die Erfüllung der idealen epistemischen Bedingungen für die Feststellung des Wahrheitswerts von p (kontrafaktisch) vorausgesetzt wird. (PB)-Thesen geben also keine Auskunft über den Sinn der Rede von Wahrheit in Bezug auf Aussagen, deren ideale epistemische Prüfungsbedingungen nicht realisiert sind. So betrachtet, liefern sie keinesfalls die bessere Formulierung eines Grundgedankens, der ohnehin immer schon im Hintergrund epistemischer Konzeptionen stand, sondern mit diesen Thesen wird der für Konsens-, Kohärenz- und Begründbarkeitstheorien zentrale Anspruch, eine vollständige Erläuterung von ‚Wahrheit‘ in idealisierenden epistemischen Begriffen zu geben, letztlich fallen gelassen. Es ist insofern zumindest irreführend, Aussagen der Form (PBschematisch) mit Wright als
7
dann wäre die Aussage p genau dann wahr, wenn die Meinung, dass p, Element dieses Überzeugungssystems wäre. Vgl. Wright 2000, S. 347.
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bloße Korrekturen und Reformulierungen epistemischer Wahrheitsäquivalenzen der Form (Wschematisch)8 zu beschreiben, denn erstere bringen völlig andere Thesen zum Ausdruck als letztere. Der Einwand der konditionalen Fehlschlüssigkeit zeigt in der Tat, dass Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen ihren Anspruch preisgeben müssen, mit Äquivalenzen der Form (Wschematisch) eine Antwort auf die Frage zu liefern, was es heißt, von einer gegebenen Aussage p zu sagen, sie sei wahr. Die Problematik epistemischer Wahrheitsäquivalenzen liegt dabei nicht so sehr in dem Umstand, dass sie, wie in Kapitel IV gezeigt wurde, zirkuläre Antworten auf die genannte Frage liefern – es ist keineswegs ausgemacht, dass diese Frage eine zirkelfreie Antwort überhaupt zulässt. Sie liegt vielmehr darin, dass es wahrheitswertdifferente Aussagen gibt, die einen anderen Wahrheitswert hätten, als sie ihn de facto haben, wenn die mit epistemischen Wahrheitsäquivalenzen ins Spiel gebrachten kontrafaktischen Annahmen und Idealisierungen wahr respektive realisiert wären. Sobald dies berücksichtigt wird, erscheint der Rückzug auf Thesen der Form (PBschematisch) für Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen alternativlos. In Kapitel V wurde eine Deutung epistemischer Wahrheitskonzeptionen diskutiert, die das Hauptanliegen dieser Theorien nicht in einer vollständigen Erläuterung des Sinns der Rede von Wahrheit sieht, sondern darin, bestimmte Thesen über den Zusammenhang zwischen Wahrheit einerseits und Erkennbarkeit, Begründbarkeit oder Behauptbarkeit andererseits – also epistemische Regulative – zur Geltung zu bringen. Wären die epistemischen Regulative (EpReg◊K), (EpReg◊JB) und (EpReg◊B) uneingeschränkt gültig, dann würde für jede beliebige Aussage α gelten, dass die Möglichkeit, α als wahr zu erkennen, begründet oder auch nur simpliciter (etwa: auf zumindest performativ konsistente Weise) zu behaupten, eine notwendige Bedingung für die Wahrheit von α darstellt. Fitchs Argument und Künnes Variation desselben zeigen jedoch, dass an diesen epistemischen Regulativen konsistenterweise nur festhalten kann, wer zugleich bereit ist, zu bestreiten, dass manche wahren Aussagen de facto niemals als wahr erkannt, begründet oder auch nur behauptet werden. Da es keine guten Gründe für, wohl aber gute Gründe dagegen gibt, dies zu bestreiten, 8
Vgl. oben, Abschnitt VI.4, S. 352.
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erweisen sich epistemische Regulative auf ihre Weise als mindestens ebenso problematisch wie epistemische Wahrheitsäquivalenzen. In demselben, sehr spezifischen Sinn, in dem Fitchs und Künnes Argumente dagegen sprechen, die epistemischen Regulative (EpReg◊K), (EpReg◊JB) und (EpReg◊B) als gültig anzuerkennen, liefern sie Gründe für die Anerkennung der kontradiktorischen Gegenteile dieser Regulative, also für die Anerkennung der epistemischen Transzendenzthesen (NonAll◊K), (NonAll◊JB) und (NonAll◊B).9 Die in diesem Zusammenhang relevante Erkenntnis-, Begründungs- und Behauptbarkeitstranszendenz mancher Wahrheiten hat freilich kaum etwas mit derjenigen zu tun, um die es Kritikern epistemischer Wahrheitskonzeptionen wie Thomas Nagel oder William Alston geht10, wenn sie die Regulative (EpReg◊K/◊JB/◊B) ablehnen. Um die These zu begründen, dass manche wahren Aussagen in dem von Fitch und Künne herausgestellten Sinn erkenntnis-, begründungs- oder gar behauptungstranszendent wahr sind, bedarf es keiner Spekulation über prinzipielle und unüberwindbare Beschränkungen unserer kognitiven Kompetenzen, sondern allein einer letztlich sehr einfachen begrifflichen Überlegung: Wenn eine gegebene Aussage p wahr ist, aber de facto niemals als wahr erkannt wird, dann ist auch die Konjunktion F der Aussage p und der Aussage, dass p de facto niemals als wahr erkannt wird, wahr. Wenn aber F wahr ist, dann ist F in einem ganz und gar unspektakulären Sinn erkenntnistranszendent wahr: Die Annahme, F sei wahr und zugleich als wahr erkannt, impliziert einen Widerspruch.11 Nun werden zweifellos sehr viele wahre Aussagen de facto niemals als wahr erkannt. Daher liefern Fitchs und Künnes Argumente einen guten Grund für die Annahme, dass es auch viele wahre Aussagen gibt, die in dem gerade geschilderten Sinn nicht als wahr erkannt werden können – diejenigen nämlich, die durch wahre Fitch-Konjunktionen zum Ausdruck gebracht werden. So tragen Fitchs und Künnes Argumente zwar nichts zu einer Begründung metaphysischer Transzen9 10 11
Vgl. oben, Abschnitt V.6. Vgl. oben, Abschnitt V.2. Dasselbe gilt für die Annahme, eine gegebene Konjunktion der Form ‚p∧¬JBp‘ sei sowohl wahr als auch Gehalt einer begründeten Behauptung, oder auch für die Annahme, eine gegebene Konjunktion der Form ‚p∧¬Bp‘ sei sowohl wahr wie auch Gehalt einer Behauptung. Vgl. V.5.
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denzthesen bei, die mit kognitiv prinzipiell unzugänglichen Aspekten der Realität oder mit prinzipiell unerkennbaren ‚Dingen an sich‘ rechnen, sie genügen aber für den Nachweis, dass jener direkte begriffliche Zusammenhang zwischen Wahrheit auf der einen Seite und Erkennbarkeit, Begründbarkeit oder Behauptbarkeit auf der anderen Seite, von dem Proponenten der epistemischen Regulative (EpReg◊K/◊JB/◊B) ausgehen, nicht besteht. In welchem Verhältnis steht dieses Resultat zu der in Kapitel I im Rekurs auf das Konzept des Wahrheitsanspruchs skizzierten Rekonstruktion der normativen Korrektheitsbedingungen von Behauptungshandlungen? Ist die Gültigkeit epistemischer Regulative nicht eine notwendige Bedingung dafür, Sprechern sinnvollerweise das Erheben von Wahrheitsansprüchen zuschreiben und solche Ansprüche selbst auf rationale Weise erheben zu können? Zunächst: Es trifft zwar zu, dass wir jedes Mal, wenn wir den Versuch unternehmen, die Frage zu beantworten, ob eine gegebene Aussage p wahr ist – oder auch die Frage, ob ein für p erhobener Wahrheitsanspruch zu Recht erhoben wurde –, unterstellen müssen, dass gilt: Wenn p wahr ist, dann ist es möglich, zu erkennen respektive zu dem Wissen zu gelangen, dass p, und wenn p falsch ist, dann ist es möglich, zu erkennen beziehungsweise zu dem Wissen zu gelangen, dass non-p. Wer dies nicht zumindest implizit voraussetzt, kann jedenfalls nicht rationalerweise den Versuch unternehmen, die Frage zu beantworten, ob p. Ebenso trifft es zu, dass wir immer dann, wenn wir eine gegebene Aussage q behaupten, nicht allein unterstellen müssen, dass es möglich ist, q auf verstehbare und begründete Weise zu behaupten, sondern sogar, dass wir die damit präsupponierte Möglichkeit durch unsere jeweilige Behauptungshandlung aktualisieren. Diese performativen Unterstellungen können nicht sinnvoll bestritten werden, denn jeder Versuch, eine Aussage der Form ‚p∧¬◊JBp‘ zu behaupten, würde zu einer performativ inkonsistenten Sprechhandlung führen, und dasselbe gilt für Versuche, Aussagen der Form ‚p∧¬JBp‘ zu behaupten.12 Wenn die Rekonstruktion der normativen Korrektheitsbedingungen von Behauptungshandlungen in Kapitel I zutrifft, dann ist dieser Typus von Sprechhandlungen konstitutiv mit dem Erheben von Wahrheitsund Begründungsansprüchen verbunden, und solche Gültigkeitsansprüche 12
Vgl. oben, Abschnitt V.6.
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VII. Resümee
kann eben rationalerweise nur erheben, wer voraussetzt, dass sie auch eingelöst werden können. Mit all dem ist aber die Anerkennung der These, dass manche Aussagen erkenntnis-, begründungs- oder behauptbarkeitstranszendent wahr sind, durchaus vereinbar. Unvereinbar sind damit nur pauschale Thesen über die Begründungstranszendenz der Wahrheit – etwa die von (dem postkonsenstheoretischen) Habermas geltend gemachte, oben bereits zitierte, Charakterisierung von Wahrheit als Gültigkeitstypus, „der alle möglichen Rechtfertigungen transzendiert“13, oder auch Rortys pauschale Behauptung, Wahrheit sei eine unerkennbare (‚unrecognizable‘) Eigenschaft von Aussagen14. Wenn diese Thesen zuträfen, dann wären alle Wahrheiten erkenntnis- und begründungstranszendent, und es wäre irrational, Wahrheitsansprüche zu erheben. Das Konzept des Wahrheitsanspruchs hätte dann zumal keine legitime Funktion mehr in der philosophischen Rekonstruktion der epistemischen und diskursiven Praxis.15 Dass wir die Einlösbarkeit unserer Wahrheitsasprüche durch Gründe voraussetzen müssen, kann auch durch die Aussage zum Ausdruck gebracht werden, dass wir als Behauptende in Bezug auf jede von uns behauptete Proposition die Gültigkeit der entsprechenden Instanzen der epistemischen Regulative (EpReg◊K), (EpReg◊JB) und (EpReg◊B) unterstellen müssen. Daraus folgt aber nicht, dass wir mit unseren Behauptungshandlungen performativ die uneingeschränkte Gültigkeit der genannten epistemischen Regulative selbst voraussetzen müssen, und noch weniger folgt, dass diese Regulative tatsächlich uneingeschränkt gültig sind. Insofern liefern diese Überlegungen keinen Grund für die von Proponenten epistemischer Wahrheitskonzeptionen behauptete generelle und kategorische These, dass die Wahrheit einer beliebigen Proposition für sich genommen schon eine hinreichende Bedingung für die Erkennbarkeit dieser Proposition als wahr, für ihre Begründbarkeit oder ihre Behauptbarkeit darstellt. Sie legen es vielmehr nahe, epistemische Regulative von vornherein nicht im Sinne kategorischer Aussagen über die Erkennbarkeit, Begründbarkeit und Behauptbarkeit schlechthin jeder wahren Aussage aufzufassen, son13 14 15
Habermas 1999c, S. 288. Vgl. Rorty 2000a, S. 2. Vgl. oben, Abschnitte I.4 und V.2.
VII. Resümee
365
dern ihnen den Status von Rationalitätspräsuppositionen unserer epistemischen und diskursiven Praxis zuzuschreiben. Unter Rationalitätspräsuppositionen einer Praxis P verstehe ich hier Unterstellungen beziehungsweise Voraussetzungen, die wir als Teilnehmer an P vornehmen müssen, um unser Handeln kohärent als ein Handeln in der Praxis P verstehen, beschreiben und explizieren zu können. Rationalitätspräsuppositionen in dem hier intendierten Sinn sind Bedingungen eines rationalen Selbstverständnisses von Handelnden, in diesem Fall: Bedingungen eines rationalen Selbstverständnisses von Akteuren, die Behauptungen aufstellen, Wahrheits- und Begründungsansprüche erheben, diese Ansprüche im Rekurs auf intersubjektiv prüfbare Evidenzen und Argumente als berechtigt auszuweisen versuchen und zu den Behauptungen und Überzeugungen anderer Teilnehmer der diskursiven Praxis mit Gründen Stellung nehmen. So verstanden, sollten epistemische Regulative nicht durch Aussagen der Form (EpReg◊Φ)16 zum Ausdruck gebracht werden, sondern folgendermaßen: Für jede Aussage α, die wir behaupten oder deren Wahrheitswert wir herauszufinden versuchen, müssen wir unterstellen, dass gilt: Wenn α wahr ist, dann ist es möglich, zu erkennen/zu begründen/zu behaupten, dass α.
16
Vgl. oben, Abschnitt V.1.
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