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German Pages 402 [412] Year 2001
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Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Ingo Stöckmann
Vor der Literatur Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Dem Andenken meiner Eltern
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stöckmann, Ingo: Vor der Literatur : eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas / Ingo Stöckmann. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Communicatio ; Bd. 28) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1999/2000 ISBN 3-484-63028-0
ISSN 0941-1704
D249 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorbemerkung Einleitung I. Gesellschaftsstruktur und poetologische Semantik. Zur Poetik Alteuropas II. Ordnungen des Schreibens 1. Von den >artes liberales< zu den >Schönen Künsten und Wissenschaftern 2. Voraussetzungen: Poetik und Rhetorik I (Antike) 3. Voraussetzungen: Poetik und Rhetorik II (17. und 18. Jahrhundert). . 4. Poetik oder Rhetorik? 5. Inspiration und Verfahren: der Poet 6. Hermeneutische Textanschauung: der Kunstrichter 7. Poesie von >obenVor der Literatur< erzählt von jenem literarischen Wissen, das mit dem Übergang zur Moderne, also im Verlauf des 18. Jahrhunderts, seine tragende kulturelle Bedeutung einbüßte. Mit dem >Vor< der Literatur ist eine historische Differenz bezeichnet: es unterscheidet eine genuin moderne literarische Kommunikation, die im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung zunehmend Distinktion gegen andere soziale Felder gewinnt, von der Einheit vormoderner Literatur, die in ein Geflecht multifünktionaler Anforderungen und generalisierter Produktionsverfahren eingebunden war und deren Axiomatik von der Antike bis an die Schwelle zur Moderne präsent blieb. Die Geschichte einer Literatur vor der Literatur ist daher nicht die Geschichte der Literatur selbst, sondern erfaßt das Spektrum ihrer poetologischen Reflexion, wie sie in die Poetiken zwischen 1600 und 1750 eingespeist wurde, ohne daß sich das in ihnen niedergelegte Wissen, das immer altes und, im Wortsinne, merkwürdiges Wissen ist, zunächst grundsätzlichen Innovationen ausgesetzt hätte. Daß die historischen Schnittstellen so trennscharf markiert werden können, hat zum einen disziplinäre, zum anderen soziostrukturelle Gründe: Mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts ist einerseits die disziplinäre Zuständigkeit der neueren deutschen Literaturwissenschaft lokalisiert; andererseits setzt zugleich jene deutsche Poetiktradition ein, die mit Martin Opitz, dem »Vater des deutschen Witzes« (Gottsched), auf ihren ersten und prominentesten Autornamen verweist. Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts sieht schließlich die tragenden Prämissen der Welt Alteuropas untergehen; mit ihr, d.h. mit dem Ende der vertrauten stratiflkatorischen Ordnungsleistungen, geht auch das poetologische Wissen der alten Welt verloren. An seine Stelle tritt eine philosophische Ästhetik, die, selbst Teil einer unhintergehbaren System-Umwelt-Kontextur, kaum mehr über jene normative Regulierungskraft verfügt, die das alte Wissen für das Verfertigen von Literatur einst in Anspruch nehmen konnte. Was die Arbeit daher unberücksichtigt läßt, sind die genuin >ästhetischen< Reflexionen Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts den diskursiven Sprung von der Anweisungspoetik alten Typs in jene »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (Baumgarten) vollziehen, die fortan Ästhetik heißen darf.
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Einleitung
Wenn von einer Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas die Rede ist, sind gleich mehrere Einsätze der Arbeit benannt. Zum einen trägt sie dem Umstand Rechnung, daß evolutionstheoretische Rekonstruktionsperspektiven immer auch anders möglich, d.h. kontingent sind; die vorliegende Arbeit bildet eine Erzählmöglichkeit, die gleichwohl hofft, nach Maßgabe ihrer Ausgangsentscheidungen an sich selbst Plausibilität zu finden. Zum anderen siedelt sie ihren Objektbereich in einen historisch um 1800 zu Ende kommenden stratifikatorischen Gesellschaftstyp an, der noch deutliche Relevanzunterschiede in der sozialen Kommunikation kennt; wer von welchem Ort aus spricht, ist für eine soziale Kontextur, die alles - Gattungen und Themen, Personal und Stile - an einer leitenden oben/unten-Unterscheidung ausrichtet, von entscheidender Bedeutung. Zugleich fehlen dem DifFerenzierungstyp noch alle weiterreichenden Möglichkeiten, Kommunikationen gegeneinander zu differenzieren, und es ist gerade dieses geringe Maß an kommunikativer Außenabgrenzung, das der Titel Alteuropa bezeichnen möchte: eine Form der »Kompaktkommunikation« (Luhmann), in der alles, was literarisch gesagt wird, auch unmittelbare religiöse, moralische oder politische Resonanzen erzeugt. Weil diese Kontextur durch jene Orte getragen wird, die die alteuropäischen Wissensordnungen der Poetik zuweisen, behandelt Kapitel II zunächst die externen und internen Organisationsstrukturen des literarischen Wissens. Was in den Blick gerät, sind die sich wandelnden und doch immer eigentümlich statisch bleibenden Ordnungen im Bereich der >Schönen Künste und Wissenschaftern, vor allem aber jene Beschreibungsbemühungen, mit denen die Poetik es unternimmt, Außenabgrenzungen - nicht zuletzt gegen eine übermächtige Rhetorik - und interne Verfahrenssicherheiten miteinander zu kombinieren. Und weil diese Typik Antike, Mittelalter, Humanismus, Barock und Aufklärung, aller Modifikationen ungeachtet, miteinander verbindet, liegt es nahe, kleinformatige Epochentitel zu vermeiden und Interpunktionen nur dort anzusetzen, wo Neuheiten beobachtet werden können. In der hier zugrundegelegten Perspektive sind allein Bewegungen in der poetologischen Semantik von Interesse, die begründet als Innovationen, d.h. als traditionsgefahrdende Variationen des alten Wissens beobachtbar sind. Der vielbeschriebene poetologische Normenwandel um 1700 mitsamt seinen Tendenzen zur Thesaurierung und Anthologisierung mag die Organisationsgewohnheiten der Poetiken verändern, das in ihnen abgelegte und verwaltete Wissen bleibt zunächst das gleiche. Und wenn es zunächst um die Voraussetzungsstrukturen des poetologischen Wissens geht, wird man seine >gelehrten< Grundlagen - die sozialgeschichtliche Forschung hat dies in den achtziger Jahren entschieden betont1 - nicht übersehen dürfen. Die
Vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik
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hier anvisierte Engführung von soziostruktureller und semantischer Evolution 2 muß jedenfalls auch im Blick auf den gelehrten Diskurs des 17. Jahrhunderts zu der Einsicht gelangen, daß seine semantische Politik - dies im Gegenzug zu den an Habermas geschulten Gutmütigkeiten der Sozialgeschichte - gerade keine herrschaftsfreien bzw. egalitären Verständigungstugenden freigibt, sondern lediglich die immer ungleichen Ordnungen des Sozialen wiederholt: >Gelehrt< ist, wer jene Regularien schriftlicher Kommunikation befolgt, die im Feld des Poetischen »dignitet vnd ansehen« (Martin Opitz) garantieren, weil sie den Vorrangsund Statuszuweisungen einer stratifizierten Gesellschaft unmittelbar entsprechen. Die Orientierung an der systemtheoretischen Evolutionstheorie signalisiert im übrigen genauer, worum es gehen, aber auch worum es nicht gehen soll. Zunächst erhofft sich die Arbeit einen Anschluß der Poetik Alteuropas an das systemtheoretische Paradigma. Bei aller Blüte arbeitet die systemtheoretische Literaturwissenschaft bislang exklusiv an einer Theorie der modernen Literatur, und manchem Literaturwissenschaftler bereitet sie gar alle Wonnen der Vorläuferschaft und strukturellen Homologie: Systemtheorie ist das, was die Literatur, setzt man nur beide einer einfallsreichen Komparatistik aus, immer schon wußte. 3 Daß diese selbstverordnete Exklusivität einer modernezentrierten Theorie auch in den Reihen einer hochreputierten, inzwischen freilich in die Jahre gekommenen Sozialgeschichte registriert wird, hat jüngst Albert Meier bestätigt und für das eigene Projekt einer »Sozialgeschichte der deutschen Literatur« bilanziert; »systemtheoretische Basisannahmen«, so Meier, beziehen sich [...] regelmäßig auf den Zeitraum nach 1750: auf die Phase eines ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystems >Literaturrelative Autonomie< ausbildet. Auf die Literatur vor dieser >Sattelzeit< [...], d.h. auf die frühneuzeitliche Periode geht keiner dieser Modellentwürfe ein. Für eine Sozialgeschichtsschreibung der Barockliteratur liegt mithin keine brauchbare Theoriebildung vor.4
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des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982; Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983. Vgl. das von Niklas Luhmann ausgearbeitete Forschungsprogramm unter dem Titel Gesellschaftsstruktur und Semantik (Studien zur Wissenssoziologie Bde. 1-4, Frankfurt/M. 1980, 1981, 1989, 1995). Vgl. Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen 1990. Albert Meier: Vorwort, in ders. (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München/Wien 1999. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Bd. 2). S. 9-17. S. 12.
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Einleitung
Soweit es sich um die poetologischen (und eben nicht: literarischen) Diskurse des 17. Jahrhunderts handelt, will die Arbeit exakt jene Leerstelle füllen, die Meier, auch unter Hinweis auf die noch immer schwach entwickelten »genetischen« (ebd.) Erkenntnisinteressen der Systemtheorie, zurecht moniert. Kapitel I bemüht sich daher zunächst um eine Applikation des systemtheoretischen Theorierahmens, die den spezifisch alteuropäischen Einbettungsbedingungen der poetologischen Kommunikation Rechnung trägt. Das system-, genauer: evolutionstheoretische Paradigma macht - zweitens - deutlich, daß es weder um planmäßige Prozesse und Teleologien, noch um rhetorik- oder sozialgeschichtliche Erzählgewohnheiten geht. Die Evolutionstheorie fragt vielmehr nach den Möglichkeiten und Bedingungen wachsender bzw. sich verändernder struktureller Komplexität und dies, obwohl Strukturänderungen aufgrund von dauerhaften Einpassungszwängen zunächst immer unwahrscheinlich bleiben. Daß die Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts strukturelle Variationen in aller Regel ausschließt, ist dann nicht mehr länger Effekt einer autoritativen Bindung an Tradition, wie es die ältere Forschung traditionell möchte, sondern verdankt sich dem Zusammenspiel von evolutionären Mechanismen (Variation, Selektion, Stabilisierung), die aus dem Universum möglicher Kommunikationen das Überlieferungs- und Merkwürdige einer Kultur filtern. Statt sich beharrlich auf Tradition zu berufen, rekonstruiert die systemtheoretische Evolutionstheorie jene Mechanismen, die es erlauben, einmal gewählte Selektionen unter Minimierung von Variationsanlässen laufend zu reproduzieren - was auch bedeutet, daß Tradition selbst ein evolutionärer Effekt von Evolution ist. Solche evolutionären Innenansichten können, drittens, jenen Schematismus vermeiden, zu dem die systemtheoretische Literaturwissenschaft, differenz- und symmetrieverliebt, tendenziell immer schon neigt: den Prozeß der Ausdifferenzierung in eine Ereigniserzählung zu verkürzen und das poetologische Paradigma zur bloßen Vorgeschichte moderner literarischer Kommunikation zu degradieren. Die Beweislast des Folgenden liegt gerade darin, zu zeigen, wie widersprüchlich und temporal weiträumig der Ausdifferenzierungsprozeß verlaufen ist. Kapitel III untersucht daher jene poetologischen >Zentralen< (Stil, Nachahmung, Geschmack), deren paradigmatischer Charakter Innovationsmöglichkeiten zunächst ausschließt, gleichwohl aber im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts Transformationen sichtbar werden läßt, die die semantische Masse deutlich in Bewegung bringen. Kapitel IV dagegen widmet sich, indem es Heterogenitäten hinsichtlich der unterschiedlichen rhetorischen Verankerung der Konzepte bewußt in Kauf nimmt, solchen poetologischen >Nischen< (IV, 6-9), die kurzfristige, aber um so abruptere Innovationsschübe auslösen. Ihnen sind jene >barocken< Datenbanken, Ordnungsräume, Legitimationstopoi und Literatur-Historien (IV, 1-5) vorgeschaltet, mit deren Hilfe jeder neue Text als Reproduktion und Beglaubigung des Alten und Überlieferten zur Anordnung gebracht werden
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kann. Ihr Vergessen, d.h. die Einspeisung stabilisierten Wissens in die Evolution, ermöglicht es schließlich, daß auch Anderes, Abweichendes, Nicht-Äquivalentes als merk-würdig selektiert wird. Worauf die Arbeit allerdings verzichtet, sind gesonderte Ausführungen zur Gattungstheorie, da Gattungsreflexionen, genau besehen, kein spezifisches Problem der Poetik Alteuropas bilden bzw. deren gegen 1800 erfolgendes diskursives Ende überleben. Gattungen haben für Poetik wie Literaturwissenschaft vielmehr eine »theorieermöglichende« 5 Funktion oder bilden Universalien, die sich schenkt man ihnen das überhistorische Gewicht goethezeitlicher Bestimmungen - leicht als »allgemeine Möglichkeiten des Menschen« 6 anthropologisieren lassen. Um die Geschichte der Poetik nicht als ebenso ahistorische wie uferlose Geschichte der Gattungspoetik erzählen zu müssen, plädiert die Arbeit für eine Rekonstruktionsperspektive, die lediglich die Phasen der Koevolution von poetologischem und gattungstheoretischem Wissen aufgreift - was bedeutet, daß gattungstheoretische Probleme nur dort zur Sprache kommen, wo sie zur Evolution bzw. Variation anderer poetologischer Funktionen Beiträge leisten. Weil das Verfertigen von Literatur im 17. und 18. Jahrhundert nicht zuletzt auf spezifischen Technologien der Speicherung, Verwaltung und Abrufung beruht, wird die Analyse die Medienumgebung des poetologischen Denkens nicht übersehen dürfen. Gleichwohl: Das poetologische Wissen Alteuropas, seine semantischen Archive, sind keine Epiphänomene eines vorgängigen, gleichsam >harten< medialen Apriori, wie es medientheoretische Exerzitien gewöhnlich nahelegen. 7 Was die Arbeit vielmehr anregen möchte, ist eine evolutionstheoretische Perspektive, die den Rückkopplungen zwischen der medialen Basis einer Gesellschaft und ihrer kommunikativen Verhandlung nachfragt 8 und die insofern die spezifischen Programmierungen der medialen Technologien im 17. und 18. Jahrhundert - Schrift und Buchdruck, aber auch die Formen schrift- und druckgestützter Textverwaltung (Schatzkammern, Aeraría poetica, Florilegien) auf spezifischen evolutionären Niveaus in den Blick rückt, also medial bedingte
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Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F.Th. Vischers. Tübingen 1981. S. 61. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich/Freiburg 81968. Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. 3., vollstdg. überarbeitete Neuauflage München 1995 ('1985) und Norbert Bolz: Computer als Medium - Einleitung. in: ders./Friedrich A. Kittler/Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium. München 1994. S. 9-16. So jetzt auch Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. S. 11.
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Einleitung
Innovationsgarantien skeptischer beurteilt. Nur diese Perspektive kann nämlich erklären, warum Schrift und Druck im 17. Jahrhundert - gegen jede medientheoretische Intuition - gerade keine semantischen Alternativen stimulieren, sondern zur möglichst restlosen Speicherung und Archivierung des bewahrens- und merkwürdigen Wissens dienen. »Litteratur«, so weiß es ein Anonymus in bereits urheberrechtlichen Zeiten, ist »der Inbegriff aller in Büchern niedergelegten Kenntnisse und Ideen«,9 mithin ein Archiv an unschätzbarem Wissen, das durch Schrift und Druck unablässig angereichert wird. Und eben weil denkbare semantische Abweichungen immer an der Gültigkeit paradigmatischer und überhistorischer Schreibmuster verrechnet werden, übernimmt die Poetik bis 1750 eine Funktion, die der Rhetorik und der ihr zugehörigen Kultur noch wesentlich und unverzichtbar ist: Memoria, also Gedächtnis zu sein. 50 Jahre später erzeugen die steigenden Kommunikationslasten, die nicht mehr allein in der Bearbeitungskapazität von Oberschichten liegen, einen neuartigen Differenzierungstyp, dem ein neuartiges Medienprogramm entspricht. Wenn Politik, Recht, Wirtschaft, Religion und Kunst in spezifische Funktionshorizonte ausgelagert werden und ihren Funktionsbezug als temporales Problem ihrer eigenen Reproduktion entfalten müssen, dann gerät auch das schriftformige, wenn man so will: >literarische< Wissen unter Temporalisierungszwänge. Der Buchdruck trägt dem Rechnung, indem er einem neuartigen Speicherprogramm folgt: nicht mehr länger Überliefertes variationsresistent festzuschreiben, sondern Strukturvarianten und Innovationen unter Bezug auf Vorhergegangenes zu stimulieren. Nichts anderes meint die romantische Poetik, wenn sie ihr »eigentliches Wesen« als ein »ewig nur werden« denkt.10 Ihr Gesetz freilich ist nicht mehr das der alteuropäischen Poetik.
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Anonymus: Idee einer Litteratur. in: Neues Museum der Philosophie und Litteratur 1 (1803). Heft 1, S. 129-143. S. 133f. Friedrich Schlegel: >Athenäumsprivaten< oder öffentlichen Interaktionsroutinen realisieren kann. »Es gibt«, so Dietrich Schwanitz, »zu viele Menschen in der Nähe, mit denen man nicht kommuniziert«.37 Noch ein Benimmbuch der bürgerlichen Etikette wird »das Leben in großen Städten« 1788 deswegen als »schön« preisen, weil der Mensch »alle tage andre Menschen sehen kann« und »am allerunbe-
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ganisation, Gesellschaft, in: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975. S. 9-20. S. 13. Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. a.a.O., S. 121.
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merktesten und ganz nach seiner Neigung leben« darf. 38 Was am Aufkommen der Schrift und an der Stabilisierung der Stadtzentren im Verlauf des 16. Jahrhunderts schließlich abgelesen werden kann, ist die steigende Unmöglichkeit, die Gesamtheit sozialer Kommunikation noch mit den Mitteln von Interaktionssystemen zu rekonstruieren. Es ist künftig allein die Gesellschaft, die die über Interaktion hinausreichenden Kommunikationen erfassen wird. In stratifizierten Gesellschaften bildet Interaktion den primären Integrationsmodus. Interaktionen symbolisieren und integrieren die Gesellschaft, weil ihre Grenzen analog zu den Standesgrenzen verlaufen und die für ein Teilsystem erwünschten und möglichen Beiträge, Themen, Personen regulieren. Interaktionen bilden spezifische kommunikative Ökologien, indem sie das Strukturmuster über in sich homogene, nach Außen aber ungleiche und inhomogene Verhaltens- und Kommunikationsregulative stabilisieren, die feste Erwartungsstrukturen und routinen ausbilden. Faktisch aber ist es die Interaktion in Oberschichten, deren erhöhte Anschlußfahigkeit für funktionale Problemlagen innerhalb ihrer eigenen Kontaktnetze gesamtgesellschaftliche Relevanz in Anspruch nehmen kann. Ihre Bedeutung gewinnen Oberschichten durch die zunehmende Ausdifferenzierung und Bearbeitung von Bezugsproblemen, die sich aus dem Strukturmuster und seinem Schichtungsprinzip selbst ergeben: die Erhaltung der Ungleichverteilung, die Konzentration von Ressourcen (Macht, Recht, Güter), die Entscheidung über weiterreichende Kontakte innerhalb der eigenen Schicht oder die Regulierung funktionaler Teilbereiche (Politik, Militär, Religion). Das zentrale Bezugsproblem ist daher die Erhaltung des Differenzierungstyps selbst, die die Oberschichteninteraktion - und nur sie - lösen muß: Systemdifferenzierung nach Schichten ist demnach ein Mechanismus der Steigerung von Sondererwartungen und Kommunikationsleistungen innerhalb der Gesellschaft. Mit Hilfe der Ausdifferenzierung von Sonderkommunikationsbedingungen in Teilsystemen können stratifizierte Gesellschaften erheblich komplexer werden [...] und ein bereits erhebliches Maß an funktionaler Rollendifferenzierung hervorbringen. Zugleich wird [...] dieser Vorteil mitdifferenziert: Er kommt in den höheren Schichten stärker zum Tragen als in den unteren Schichten, und er kulminiert in der obersten Schicht [.. .].3'
Weil die Oberschichten vor dem Zwang stehen, ihre angestammten Rechte, Güter, Qualitäten oder Relevanzen gegen Geltungsverluste sichern zu müssen, folgen auch die Intimbeziehungen spezifischen Regularien. Michel Foucault hat diese alteuropäische Politik der Körper und der Reproduktion als »Allianzdispo-
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Adolf Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hannover '1790 ['1788], Hg. von Gert Ueding. S. 66 bzw. 71. Luhmann: Interaktion in Oberschichten. a.a.O., S. 74.
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sitiv« 40 bezeichnet und damit ein Kontrollsystem benannt, das über ein festgelegtes »System des Heiratens« die »Entwicklung der Verwandtschaften« oder die »Übermittlung der Namen und Güter« (ebd.) garantiert. Das Allianzdispositiv sichert den ungestörten »Umlauf der Reichtümer« (129) und läßt die Oberschichten zum Ort der gesellschaftlich folgenreichsten Interaktion werden, weil an ihnen ablesbar wird, daß Schichtung und Relevanzkonzentrationen an der Spitze bestandserhaltend und damit notwendig sind: Alles ist, wie es ist, weil es ist.41 Semantisch wird diese gesamtgesellschaftliche Strukturrelevanz der Oberschichten in Aggregationsmodellen aufgefangen, die die Spitze der Hierarchie als Kulminationspunkt maximalen Glanzes symbolisieren. Fürsten und Könige versammeln alle Positivwerte - Reichtum und Schönheit, Macht und Recht - auf sich, ohne daß sich ihr repräsentativer Glanz in der Gesellschaft noch überbieten ließe. Eine symbolische Weiterfuhrung von Ungleichheit >nach oben< kann nur in der Transzendenz - und damit in der Nähe Gottes - enden. 42 Die hohe Stabilität dieser Semantik kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Oberschichteninteraktion im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts als Integrationsmodus allmählich an Bedeutung verliert. In dem Maße, wie Bezugsprobleme aus der Verantwortlichkeit und Verarbeitungskapazität von Interaktionen gelöst und in funktionale Horizonte ausgelagert werden, büßt Interaktion an unmittelbarer sozialer Relevanz ein. Die stratifizierte Gesellschaft entwickelt seit Mitte des 17. Jahrhunderts eine interne Komplexität, die die Problemlösungskapazitäten von Interaktionsmechanismen über eine neue evolutionäre Schwelle treibt und funktionsspezifische Problemlösungen als bezugsgleiche Äquivalenzen durchtestet. Vor allem in den Stadtzentren entstehen eigenständige politische, militärische und wirtschaftliche Problem- und Funktionshorizonte, für deren Bearbeitung Interaktionsleistungen nicht mehr ausreichen. Die Konsequenz ist, daß Interaktionssysteme gegen operativ komplexere Funktionsbereiche diffe-
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Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt/M. 1983. S. 128. Dies erklärt die alteuropäische Neigung zu Ontologien. Wo die Gesellschaft und ihr Ordnungsprimat laufend als altemativlos erfahren werden, lassen sich Natumotwendig keiten unterlegen, die im Sein selbst unverrückbar verankert scheinen. Zweifel führen aus der Ordnung und aus der Gesellschaft heraus - siehe Theodizee. So konnte die calvinistische Lehre vermuten, daß »Gott [...] die Könige durch ihren hohen Rang näher zu sich [stelle].« Zit. nach Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur [1931], in: Richard Alewyn (Hg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Köln/Berlin 1965. S. 147-181. S. 148.
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Gesellschaftsstruktur und poetologische Semantik
renziert werden und auf Selbstreferenz umstellen können.43 Was der Oberschichteninteraktion nach diesem Ende repräsentativer Interaktion bleibt, ist die >freie< Geselligkeit eines kultivierten Gesprächs, das sich laufend zu kultivieren und an sich selbst zu steigern sucht: Die gesellige Interaktion setzt eine Art Autonomieanspruch durch, wobei Schichtung und Moral durchaus erfolgswirksame Faktoren bleiben, Funktionsbezüge aber ausgespart sind. Sozialität wird für sich selbst bewußt und mit Selbstkorrektiv ausdifferenziert. [...] Geselligkeit wird, mit einer jetzt viel gebrauchten Formel, zum Selbstzweck erklärt, zum Kunstwerk ohne Nutzen [.. ,].44 Bereits 1711 gibt eine Moralische Wochenschrift, die das adelige Leben ihrem Titel gemäß denkbar genau und interessiert beobachtet, Empfehlungen, die den Nutzen der geselligen Konversation für jene freien Stunden des Lebens betonen, über die die europäischen Oberschichten, gesegnet von der Gnade der Muße, in reichlichem Maße verfugen: It eases and unloads the Mind, clears and improves the Understanding, engenders Thoughts and Knowledge, animates Virtue and good Resolutions, sooths and allays the Passions, and finds Employment for most of the vacant Hours of Live.45 Noch am Ende des 18. Jahrhunderts kann Friedrich Schleiermacher in einer bemerkenswerten Soziologie der Geselligkeit darauf aufmerksam machen, daß das Wesen der Gesellschaft im reflexiven Spiel der Konversation besteht. Schleiermachers Theorie der zweckfreien Geselligkeit formuliert gleichsam im Rücken der unaufhaltsamen funktionalen Differenzierung der Gesellschaft eine Interaktionstheorie, die die Phantasmen unmittelbarer Sprecherpräsenz, wechselseitigen Austausche und unverstellter Oralität wenigstens in jene Gesprächszirkel zu retten bemüht ist, die im Gefolge ihres wachsenden Funktionsvakuums eine denkbar >freie< Konversation fuhren können:
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Damit wird keine vollständige Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft behauptet. Die hier anvisierte Übergangssemantik zeigt nur, daß Interaktion allmählich von funktionalen Anforderungen entlastet wird und eine Symbolisierung der Gesellschaft über unmittelbare face-to-face-Interaktion kaum mehr erreichbar ist: »Man kann eine [...] Integration der Gesellschaft zwar nicht mehr erreichen, kann sie sich in den herrschenden Schichten auf Grund der eigenen Interaktionsmoral aber noch vorstellen. Die Differenzierung der Systemtypen ist angesetzt, aber noch nicht vollständig und irreversibel durchgeführt« (Luhmann: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. a.a.O., S. 14). Luhmann: Interaktion in Oberschichten. a.a.O., S. 119 und 159. Joseph Addison/Richard Steele: The Spectator [1711], Edited by C.G.Smith. 1. Bd. London 1966. S. 290.
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Es kann also auf nichts anderes abgesehen sein, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und belehren. Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückgehend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Tätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus.46
Sobald Interaktion solchermaßen von funktionalen Ansprüchen entlastet und über reine Selbstreferenz begründbar wird, gewinnt sie eine neuartige, bislang nicht gekannte operative Komplexität. Norbert Elias hat am Beispiel der Differenz von >berufsbürgerlicher< und höfischer Interaktionsmoral gezeigt, auf welche enormen Ressourcen Interaktion unter den Bedingungen selbstreferentieller Geselligkeit zurückgreifen kann: Im Leben der höfischen Menschen nimmt die Geselligkeit einen ganz anderen Raum und eine ganz andere Zeit ein als im Leben der berufsbürgerlichen Menschen. Die Zahl der Menschen, die der höfische Mensch bei sich empfangen kann oder muß, ist größer, die Zahl der Menschen, mit denen der berufsbürgerliche Mensch gesellschaftlich, d.h. hier privat verkehren muß und kann, geringer. Jener verwendet ein ganz anderes Maß von Zeit auf den geselligen Verkehr als dieser. Das Netz der direkten Beziehungen ist bei ihm engmaschiger, die geselligen Kontakte zahlreicher, die unmittelbare Gesellschaftsgebundenheit größer als beim berufsbürgerlichen Menschen [...]. 47
Was Elias an der Soziologie eines sonnendurchfluteten Königtums abgelesen hat, bestimmt der Struktur nach das ganze frühneuzeitliche Europa. Als der englische Adel 1688 unter dem Eindruck der neueingeführten konstitutionellen Monarchie seine angestammten höfischen Funktionen verliert und sich auf seine Landsitze zurückzieht, ist die feine Gesellschaft einem retreat anheimgegeben, das nur durch die Spiele der Konversation mitsamt ihren Anforderungen an variety und employment gefüllt werden kann.48 Und gerade weil nun Zeit beinahe beliebig zur Verfugung steht und nur noch selten von funktionalen Anforderungen restringiert wird; und gerade weil die Zahl der Anwesenden und ihrer Beiträge erheblich ist, entfaltet die Interaktion eine sachliche Komplexität, die ihr bislang
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Friedrich D.E. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens [1799], in: Werke. Auswahl in vier Bänden. Bd. II. Leipzig 2 1927. S. 1-31. S. 10. Vgl. für eine analoge Autonomiebegründungstechnik aus der Figur des >In-sich-(selbst-)Vollendeten< Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung der schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten [1785]. in: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Hg. von Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962. Elias: Die höfische Gesellschaft. a.a.O., S. 91f. Vgl. Günther Blaicher: Freie Zeit - Langeweile - Literatur. Studien zur therapeutischen Funktion der englischen Prosaliteratur im 18. Jahrhundert. Berlin/New York 1977.
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Gesellschaftsstruktur undpoetologische
Semantik
nicht zur Verfügung stand. 49 Was die Oberschichten daher zunehmend in die Kommunikation einarbeiten, ist ein Urteilsvermögen, das seine Spezifikationsfähigkeit auch und vor allem auf Fragen der Kunst und der Literatur ausdehnt. Der neuartige Selbstbezug der Interaktion wird zu einem »Angriffspunkt für funktionsspezifische Leistungsanschlüsse«: 50 wer kommuniziert, muß, will er den Ton der guten Gesellschaft treffen, auch über Fragen der Kunst und der Literatur kommunizieren können.
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Auch wenn die europäischen Hochkulturen im Verlauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts tatsächlich funktionsspezifische Situationen, Rollen und Probleme auszusondern beginnen, dominiert doch weiterhin eine stratifizierte Semantik, die alles soziale Geschehen »nach Maßgabe von Schichtdifferenzen« 51 reguliert. Stratifïkation bleibt bei allen Transformationsbewegungen in Richtung auf funktionale Differenzierung primäres Ordnungsprinzip der Gesellschaft und ihrer Funktionshorizonte. Die poetologische Semantik kennt daher noch keine ausdifferenzierte Systemkommunikation. Künste - der Kollektivsingular Kunst setzt sich, unter Ausscheidung kunstunspezifischer Tätigkeiten, erst um 1800 durch und Poesie lehnen sich an >Umweltschöne< Werk zugleich in die Kontextur moralischer, wissenschaftlicher, religiöser oder technischer Unterscheidungen einarbeiten und dort nach stratifikatorischen Verteilungsprinzipien ordnen. So verordnet Sigmund von Birken der Teutschen Redebind und Dicht-Kunst 1679 eine kommunikative Allianz, die Poesie und Religion verschränkt:
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Die Ungleichverteilung von Zeit und ihre Konzentration in den Oberschichten betont auch Wolfgang Nahrstedt: Die Entstehung der Freizeit. Dargestellt am Beispiel Hamburgs. Ein Beitrag zur Strukturgeschichte und zur strukturgeschichtlichen Grundlegung der Freizeitpädagogik. Göttingen 1972. S. 104: »Die größte Freiheit über die Zeit befand sich an der Spitze, die geringste Freiheit über die Zeit an der Basis der sozialen Pyramide der Freiheiten.« - Genauer: Über freie Zeit zu verfügen und ihren Überfluß symbolisch kenntlich zu machen, wird eine dezidierte Anforderung an den adeligen Höfling - was fiir die englische Aristokratie des 18. Jahrhunderts bedeutet, laufend inattention, negligence und nonchalance zu demonstrieren. Vgl. Blaicher: Freie Zeit - Langeweile Literatur. a.a.O., S. 15. Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik 1. a.a.O., S. 162-234. S. 189. Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. a.a.O., S. 26.
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So nennen dan wir Christen den dritten Zweck der Poesy / vielmehr den ersten / die Ehre Gottes. Die Poetische Dichtfahigkeit / wie zuvor erwehnt / und der Geist / komt vom Himel: so ist ja billig / daß dessen Wirkung in seinen Ursprung wiederkehre. Aller Thon / alle Rede und Schrift / sol Gott loben: weil Gott allein / das Leben / die Redfahigkeit / den Geist und die Kraft / gibet.52
An Gottscheds Critischer Dichtkunst ist noch 1751, in der »vierten sehr vermehrten Auflage«, ablesbar, wie kompakt der Verbund der alteuropäischen Kommunikationshaushalte geknüpft ist. Was der Poet als getreuer Schüler der aristotelischen Poetik nachahmt, sind Handlungen, die immer schon beides: ihre >ästhetische< wie moralische Relevanz über eine einfache Verteilungstechnik (schön/häßlich) ausweisen müssen: Ein Dichter ahmet die Handlungen der Menschen nach; die entweder gut oder böse sind. Er muß also in seinen Schildereyen die guten als gut, das ist schön, rühmlich und reizend; die bösen aber als böse, das ist häßlich, schändlich und abscheulich abmalen.53
Nun ist die Semantik dieses evolutionären Niveaus selbst ein Ergebnis evolutionärer Mechanismen, die für Kunst und Literatur hinreichende Anschlußfähigkeit und Abnahmebereitschaft sicherstellen. Die Systemtheorie verweist zur Erklärung dieser gesteigerten Abnahmewahrscheinlichkeiten auf die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, die der Stabilisierung von Systemkontexten in aller Regel vorausgehen. Kommunikationsmedien ordnen Selektionsofferten auf ein hochaggregiertes Symbol zu, das Selektion und Motivation kombiniert, also Abnahme- und Entmutigungsschwellen für an sich unwahrscheinliche Kommunikationen herabsetzt. Das Medium Wahrheit etwa bindet aus dem Universum flottierender Selektionen diejenigen, die für einen an Wahrheit orientierten Kommunikationstyp relevant sind; alle anderen entgehen der Aufmerksamkeit: Allgemein handelt es sich bei symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien um semantische Einrichtungen, die es ermöglichen, an sich unwahrscheinlichen Kommunikationen trotzdem Erfolg zu verschaffen. >Erfolg verschaffen< heißt dabei: Die Annahmebereitschaft für Kommunikationen so zu erhöhen, daß die Kommunikation gewagt werden kann und nicht von vornherein als hoffnungslos unterlassen wird.54
An alle Kommunikationsmedien - und die europäischen Hochkulturen verfügen bereits über relativ trennscharf voneinander abgesetzte Medien wie Wahrheit und
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53
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Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy. Nürnberg 1679. Nachdruck Hildesheim/New York 1973. S. 185. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Vierte sehr vermehrte Auflage Leipzig 1751 ['1730]. Nachdruck Darmstadt 51962. S. 110. Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982. S. 21.
26
Gesellschaftsstruktur und poetologische Semantik
Recht, Macht und Glaube - kann zweifach angeschlossen werden: als >Plus< oder >MinusPrimitive< und >Zivilisiertenatürliche< Gleichheit des Menschen von semantischen Reformulierungen des Differenzierungstyps selbst verhindert, weil Gleichheitspostulate aus der Ordnung herausführen würden. Es sind diese Rückkopplungen der Semantik an das soziale Strukturmuster, die auch das literarische Wissen zunächst noch gegen Innovationen verschließen.
VI Die systemtheoretische Literaturwissenschaft steht derzeit vor einem Problem, das sie mit langen Phasen der germanistischen Fachgeschichte teilt. Trotz der erheblichen Abstraktionslage und Reichweite ihrer Beobachtungen hat sie der Poetik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts keine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Daß die Forschung mithin Risse im Theorietransfer in Kauf nimmt, scheint in einer gewissen Liebe zu expansiven Theoriediskussionen begründet zu sein, die das »neue Paradigma« 65 entweder lediglich reformulieren oder in einer Komparatistik der verschiedenen Theorieangebote aufgehen lassen. 66 Letztlich
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Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. a.a.O., S. 40. So der Untertitel von Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. a.a.O. Reformulierungen bei Harro Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen 1990. S. 201-217; Dietrich Schwanitz: Selbstreferentielle Systeme, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Heft 77 (1990). S. 100-125; Georg Stanitzck: Systemtheorie? Anwenden? in: Brackert/Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. a.a.O., S. 650663. Theorievergleiche bei Matthias Prangel: Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus. Zu einem systemtheoretisch fundierten Ansatz von Textverstehen, in: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.): Kommunikation und Differenz. a.a.O., S. 9-31; Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen/Basel 1995.
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Gesellschafisstruktur und poetologische Semantik
werden hier profilhygienische Motive sichtbar, die eine distinkte Anpassung der Theorie an literaturwissenschaftliche Fragestellungen noch immer verhindern, wie der notwendige Durchgriff auf das Material der literarischen Semantik zudem einem Hermeneutik-Verdacht zuarbeitet, dem Teile der systemtheoretischen Literaturwissenschaft offenbar um den Preis notwendiger epistemologischer Reflexionen nachzugeben drohen. Für Siegfried J. Schmidt gleitet jedes Interesse an Semantik kurzerhand in eine »neo-hermeneutische Konzeption« 67 zurück, die in ihrer Konzentration auf textförmigen Sinn den Fehler begehe, die »Umwelt literarischer Kommunikation« (263) auszublenden. Wer ausschließlich Semantik beobachte, so Schmidt, könne die Umwelt des Literatursystems nur an die empirische Literaturwissenschaft weiterreichen: Wenn [...] das Interesse der Literaturwissenschaft im Gefolge Luhmanns auf Semantik reduziert wird, dann erscheint systemtheoretische Literaturwissenschaft notwendig im Gewände einer neuen Texthermeneutik [...] - und empirische Literaturwissenschaft bleibt - mit ihrem Interesse fiir die Umwelt literarischer Kommunikation - bis auf weiteres deren komplementäre Variante, (ebd.)
Schmidts Einwand ist systemtheoretisch wenig plausibel. Denn zum einen kann eine distinkte, System/Umwelt-Differenzen trennscharf unterscheidende Analyse des Literatursystems lediglich systeminterne Sachverhalte in den Blick rücken; Umweltereignisse kommen im System nicht vor und finden dort keine (unmittelbare) Resonanz. Zweifellos sind der Autoren und Rezipienten, die Schmidt als Aktanten ebenso wie die Prozesse des Marktes, der Politik und des Rechts als Gegenstände einer empirischen Literaturwissenschaft verstanden wissen möchte, unerläßliche Konstitutionsbedingungen fur Literatur - sie bleiben aber Umweltereignisse, die nur von einer polykontexturalen Theorie erfaßt werden können. 68 Zum anderen ist der Vorwurf, semantische Analysen verlagerten »Bedeutung und Literarizität in die literarische Kommunikation, und das heißt in die literarischen Texte selbst«, 69 systemtheoretisch unverständlich, zumindest kein weitreichender Einwand, weil eine Theorie sozialer Systeme schlechterdings nur Kommunika-
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68
69
Siegfried J. Schmidt: Kommunikationskonzepte fur eine systemorientierte Literaturwissenschaft. in: ders. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. a.a.O., S. 241268. S. 242. Vgl. die Beiträge in Gerhard Plumpe/Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995. Hier ist die Annahme forschungsleitend, daß »Literatur [...] als ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft gleichursprünglich auch Umwelt anderer sozialer Systeme ist, die sie beobachten und in eigendirigierte Konzepte von >Literatur< überfuhren« (9). Schmidt: Kommunikationskonzepte fiir eine systemorientierte Literaturwissenschaft. a.a.O., S. 263.
Zur Poetik Alteuropas
31
tionen als basale Einheiten beobachten kann. Es bleibt ungelöst, wo die »Literarizität« der Literatur, wenn sie schon textfbrmig nicht rekonstruierbar ist, ansonsten abgerufen werden soll. Nun beruht die systemtheoretische Zurückhaltung gegenüber der Poetik Alteuropas zudem auf Ursachen, die eng mit den selbstverordneten Kompetenzen der Theorie im Feld der Literaturwissenschaft zusammenhängen. Solange sich die systemtheoretische Literaturwissenschaft ausschließlich als Theorie moderner Literatur zur Geltung bringt, bleibt die mögliche Anpassung der Theorie an die poetologischen Diskurse im historischen Vorfeld des modernen Literatursystems eine ungenutzte theoretische Option, die sich bislang gegen die Suggestionskraft einer Emergenz des Neuen, wie sie Siegfried J. Schmidt 1989 mit forschungsleitender Reichweite formuliert hatte, kaum zu behaupten vermag: Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen in Europa spontan Literatursysteme vom Typ selbstorganisierender Systeme im Zuge des allmählichen Umbaus der europäischen Gesellschaften von stratifizierten zu funktional differenzierten Gesellschaften als Netzwerken aus sozialen Systemen.70
Auch außerhalb des engen Zirkels systemtheoretischer Überlegungen pflegt die Germanistik Vorbehalte gegenüber der Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts; daß hier liebgewordene Traditionen am Werk sind, ist - man denke etwa an die Generation zwischen Herder und Friedrich Schlegel 71 - offenkundig. Noch in den jüngeren, sozialgeschichtlich belehrten Darstellungen kehrt die Autorität eines goethezeitlich-hermeneutischen Literaturideals wieder, das, ungeachtet aller strukturellen Andersartigkeit der Literatur Alteuropas, programmatisch die ihm so lieb gewordene Subjektivität aufruft. Zweifellos hat hier eine dominante Her-
70
Schmidt: Die Selbstorgansisation. a.a.O., S. 9. - Die wenigen Hinweise auf die Poetik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts leiden dementsprechend an einem allzu pauschalen Zugriff. So hat Niels Werber seine Rekonstruktion des Ausdifferenzierungsprozesses im wesentlichen an der Schwächung der (fraglos zentralen) Nachahmungsdoktrin entwickelt (vgl. Werber: Literatur als System. a.a.O., S. 30), während Klaus Disselbeck (Die Ausdifferenzierung der Kunst als Problem der Ästhetik, in: de Berg/Prangel (Hg.): Kommunikation und Differenz. a.a.O., S. 137-158) zu einer Großgeschichte funktionaler Differenzierung ansetzt, die Kunst und Wissenschaft allerdings gegen die eingangs formulierte Differenzierungsthese als »aufs engste verwandt« (149) erklärt. Friedrich Vollhardt schließlich (Zur Selbstreferenz im Literatursystem: Rhetorik, Poetik, Ästhetik. in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Literaturwissenschaft. München 1995. S. 249-272) homogenisiert unter dem Titel der »Selbstreferenz« (249) so unterschiedlich gelagerte Diskursformationen wie Poetik, Rhetorik und Ästhetik, ohne deren historische und systematische Differenz auszuweisen.
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Vgl. Plumpe: Epochen moderner Literatur. a.a.O., S. 65ff.
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Gesellschaftsstruktur undpoetologische Semantik
meneutik des Erlebens und des subjektiven Gefühls, das etwa paradigmatisch an Goethes früher Lyrik entziffert werden konnte, eine angemessene Beobachtung poetologischer Fragen wirkungsmächtig verhindert, und es führt zu grotesken Fehleinschätzungen, wenn das 17. und frühe 18. Jahrhundert mit den Erlebnisund Gestimmtheitskategorien moderner Literatur durchmustert wird. Noch Harald Steinhagen, Herausgeber einer der in den 80er Jahren maßgeblichen Sozialgeschichten, findet kein rechtes Verhältnis zu der Eigenart einer Poetik, die für die vielgeliebte und an ein wohlmeinendes Erziehungssystem weitergereichte Subjektivität keinen systematischen Ort hat. Steinhagen schrieb 1985 über das Verhältnis von »poetisch-rhetorischem Normensystem« und »individueller Substanz«: Die Konformität [...] der Barockliteratur ist, so gesehen, Ausdruck der Selbstverständlichkeit, mit der die Autoren respektieren, daß in der geschlossenen Gesellschaft des absolutistischen Staates [...] nichts Besonderes und Individuelles, nichts Unangepaßtes oder gar Widersetzliches zugelassen werden kann, weil es deren Bestand gefährdet. Zugleich aber erhält und schützt sich die individuelle Substanz in den ihr entgegengesetzten Ausdrucksformen, überlebt so in einer Epoche, die ihr extrem feindlich ist, was aber nichts anderes heißt, als daß sie selbst in dieser frühneuzeitlichen Epoche noch nicht stark genug ist, um sich offen und selbstbewußt darzustellen, wie es dann in der Literatur nach 1750 möglich wird.72
Steinhagen entdeckt in den von absolutistischen Repräsentationszwängen durchsetzten barocken Ausdrucksformen eine vorderhand individualitätslose Epoche, die die geknechtete Subjektivität aber subkutan überwintern läßt, bis das Zeitalter befreiter und expressiver Menschlichkeit anbricht. Was dem Hermeneuten bis dahin zu tun bleibt, ist die verborgene Spur der Individualität unter den reglementierten Ausdrucksformen der Schrift freizulegen. Unausgesprochene oder buchstäbliche Präferenzen dieser Art prägen den literaturwissenschaftlichen Kommentar auch noch dort, wo eine theoretische bzw. ästhetikgeschichtliche Aufarbeitung der poetologischen Diskurse Alteuropas für Klarheit hätte sorgen können. Ein Blick in die einschlägigen Publikationen zur »Geschichte der Poetik« 73 offenbart allerdings, daß der Begriff semantisch viel zu unbestimmt gebraucht wird, als daß sich mit ihm ein einheitlich referentialisiertes und von jeder
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Harald Steinhagen: Einleitung, in: Höret Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Band 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock 1572-1740. Hg. von Harald Steinhagen. Reinbek 1985. S. 9-17. S. 12f. Vgl. stellvertretend Hermann Wiegmann: Geschichte der Poetik. Ein Abriß. Stuttgart 1977 (= SM 160); ders.: Von Piatons Dichterkunst zur Postmoderne. Köln 1989; Artikel >PoetikÄsthetik< trennscharf unterschiedenes Forschungsprojekt verbinden ließe. Die Literaturwissenschaft zeigt vielmehr, das eine theoretisch kontrollierte Grenze zur Ästhetik weder gesucht noch aufrechterhalten wird; beide Konzepte - Poetik und Ästhetik - scheinen eine homogene und mit sich identische Denktradition zu bezeichnen, die auf einheitliche, historisch kaum variierende Reflexionslagen und Bezugsprobleme antwortet: Wenn die Geschichte der Ästhetik einzig das umfasste, was unter dem Namen >Ästhetik< auftrat, dann würde sie sehr spät beginnen, denn diese Bezeichnung verwendet bekanntlich als erster Alexander Baumgarten im Jahre 1750. Aber man hatte dieselben Fragen unter anderem Namen schon viel früher behandelt. Der Name ist unwichtig [...]. Wollte man die Geschichte der Ästhetik als Geschichte einer selbständigen Wissenschaft, die auf eigenen Füßen steht, behandeln - auch in diesem Fall könnte man sie erst im 18. Jahrhundert beginnen lassen; es wäre eine kurze Geschichte, die knapp zwei Jahrhunderte umfasst.74
Noch 1995 sah sich Werner Jung in ähnlicher Weise einem anything goes verpflichtet, das zwischen Antike und Gegenwart denkbar ökonomisch eine Reihe immer gleicher und überraschungsarmer »Grundfragen« verhandelt: Ästhetik bezeichnet ganz allgemein die Geschichte unseres Umgangs mit dem Schönen und der Kunst von der Antike bis zu unserer Zeit; eingeschlossen darin sind dann Fragen nach der Beschaffenheit dieses Schönen [...]. Von den frühen Anfangen bei den Griechen spannt sich der historische Bogen bis in die Postmoderne. Dabei werden wir sehen, wie sich Problembestände über die Jahrhunderte erhalten, wie [...] Traditionen und Brüche gleichermaßen eine Disziplin kennzeichnen, die seit ihren Anfängen [...] bis zu postmodemem »anything goes< hartnäckig und unbeeindruckt an einigen wenigen Grundfragen laboriert.75
Komplementär hat auch die vergleichsweise schmal dimensionierte Poetik-Forschung ihren Gegenstand als universalhistorische Tradition verstanden, die von den Sophisten bis zum strukturalen Paradigma der 30er Jahre (Jan Mukafovsky) reicht. Schon Bruno Markwardts in den 30er Jahren begonnenes Großprojekt 76 zeigte paradigmatisch, daß die anvisierte Geschichte des »deutschen Kunstwollens« 77 in das Zwielicht einer diffusen Ästhetik mündet, in der alles - »Rede-
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76 77
Wladislaw Tatarkiewicz: Geschichte der Ästhetik. Erster Band: Die Ästhetik der Antike. Basel/Stuttgart 1979. S. 22f. Werner Jung: Von der Mimesis zur Simulation. Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik. Hamburg 1995. S. 8 und lOf. Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. 5 Bände, Berlin 1937ff. Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Band 1: Barock und Frühaufklärung. 3., unveiänd. Auflage Berlin 1958. S. DC.
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Gesellschaftsstruktur undpoetologische Semantik
kunst« und »Gesetzespoetik«, »Aphorismus« und »Künstlerroman« - irgendwie Bedeutung hat: Die Poetik begegnet bald als Anweisungs- und Lehrpoetik im engen Verbände mit der Metrik und der Redekunst (17. Jahrhundert), bald als Wirkungsästhetik (Auflockerungsepoche), als Schöpfungsästhetik (Geniezeit) oder Gestaltungsästhetik (Klassik) und Literaturphilosophie (Romantik). [...] Vom Epigramm bis zum philosophischen Lehrgebäude, vom Aphorismus bis zum Künstlerroman, von der Tagebuchaufzeichnung bis zur umspannenden Abhandlung [...] stehen für kunsttheoretische Beiträge und Erträge fast alle Formen zur Verfügung. (1)
Im Ergebnis scheinen Poetik und Ästhetik, folgt man den Auskünften Tatarkiewiczs und Jungs oder - als deren komplementäre Variante - denen Bruno Markwardts und Hermann Wiegmanns, identische Geschichten zu sein, die irgendwo im semantischen und historischen Niemandsland allgemeiner Kunstreflexionen zu suchen und zu finden sind. Die Perspektive der modernen Ästhetik mit ihren weitreichenden und emphatischen Implikationen (Genialität, Expressivität, Individualität etc.) hat lange Zeit ein angemessenes Verständnis der internen Struktur der alteuropäischen Poetik verhindert, ungeachtet der Tatsache, daß schon Ernst Robert Curtius und Klaus Dockhorn in den 50er und 60er Jahren auf die paradigmatische Bedeutung der rhetorischen Tradition verwiesen hatten. 78 Curtius und Dockhorn hatten damit nicht nur gezeigt, wie wenig das alteuropäische Literaturverständnis im Schlagschatten des »lateinischen Mittelalters« mit den Reflexionsfiguren moderner Ästhetik faßbar ist, sondern zugleich ein Forschungsprojekt vorgegeben, das die vielzitierte »Renaissance der Rhetorik« 79 nun auch an einem poetologischen Paradigma erproben konnte, das bis in die Details seiner Funktionen und Systematiken rhetorisch strukturiert ist. Was Wilfried Bamer 1970 über die neu verordnete Allianz von Poetik und Rhetorik zu bedenken gab, entsprach einer Reihe ähnlichlautender Überlegungen Joachim Dycks, Ludwig Fischers oder Karl Otto Conradys: 80
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Emst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 2 1954 und Klaus Dockhom: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968. Helmut Schanze (Hg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 1 6 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1974. S. 7. Vgl. die z.T. noch immer maßgeblichen Arbeiten von Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Tübingen 3 1991 ('1966); ders.: Philosoph, Historiker, Orator und Poet. Rhetorik als Verständnishorizont der Literaturtheorie des 17. Jahrhunderts, in: Arcadia 4 (1969). S. 1-15; Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968; Hans-Peter Herrmann: Natumachahmung und Einbildungskraft. Zur Ent-
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In der Geschichte der deutschen Literatur ist keine der großen Epochen so umfassend durch das Phänomen >Rhetorik< geprägt wie das Zeitalter des Barock. Was immer man unter >Rhetorik< zunächst verstehen mag [...]: die Rhetorik als Bildungsdisziplin ist während der Barockepoche ein zentraler Faktor des literarischen Lebens selbst. Sie entscheidet über Ziele und Methoden der gesamten literarischen Erziehung. Es ist eine Erziehung, die von der untersten Stufe an zur kunstgemäßen Praxis in Poesie und Prosa anleitet und den Werdegang nahezu aller Barockautoren [...] bestimmt hat.81 Diese Macht des Rhetorischen hat die Forschung in der Folge ausschließlich nach innerrhetorischen Zusammenhängen fragen lassen, mit der Konsequenz, Zumutungen an eine theoretische Reformulierung unter Hinweis auf die Evidenz des Objekts abweisen zu können. Rhetorikforschung bedeutete vor allem, das eigene Forschungsprogramm in eine derartige Gegenstandsnähe zu rücken, daß weder eine im weitesten Sinne >sozialgeschichtliche< noch >evolutionstheoretische< Redeskription der poetologischen Theorietraditionen erforderlich schien. In »einer Epoche«, so Ludwig Fischer 1968, die so stark der Überlieferung verpflichtet ist, wie das Barock, [kann es sich] nur um neue Nuancen, Akzente, Gewichtsverschiebungen handeln. Es findet keine Revolution statt. Aber aus der noch so geringfügigen Variation des Tradierten läßt sich [...] etwas heraushören, das man als bezeichnend für die Ausprägung der Literaturtheorie des Barock hinstellen könnte.82 Mit der forschungsleitenden Sozialgeschichte der 70er und 80er Jahre ist das poetologische Repertoire mitsamt seinen >weichen< Paradigmenwechseln vornehmlich Effekt einer vorgängigen Sozial- und Politikgeschichte geworden, deren Spannungen und Repräsentationszwänge im Normengefuge der Poetik Alteuropas strukturauslösend wiederkehrten. Paradigmatisch ist das sozialgeschichtliche Projekt an Volker Sinemus' Studie über Poetik und Rhetorik im nen deutschen
Staat ablesbar, die die politischen Konflikte des
Territorialabsolutismus
in die Position einer tiefenstrukturellen
frühmoder-
frühmodernen Universalie
brachte, die das poetologische »Normenrepertoire« lediglich noch abspiegelt:
81 82
wicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Tübingen 1970; Renate HildebrandtGünther: Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jahrhundert. Marburg 1966 und Carl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. Bamer: Barockrhetorik. a.a.O., S. 448. Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 3. Analog Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966. S. 17: »Rhetorik und Poetik sind so ausbalancierte, differenzierte Systeme, daß schon eine leichte Gewichtsverlagerung, eine kleine Kursänderung stilistische Revolutionen rückwirkend rechtfertigen oder von sich aus einleiten kann.«
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Gesellschaftsstruktur und poetologische Semantik Es geht um einen Zusammenhang des scheinbar in sich geschlossenen und allenfalls systemimmanente Variationen aufweisenden literarischen >Systems< mit der historischen Gesamtentwicklung der Epoche, die durch fundamentale soziale und politische Spannungen und Entwicklungen gekennzeichnet ist. [...] Wandlungen im Sozialsystem insgesamt oder auch nur in bestimmten Teilbereichen müssen unter solchen Voraussetzungen auch als Wandlungsvorgänge im ästhetischen Normenrepertoire ihren Niederschlag finden.83
Bei genauerem Zusehen und im Blick auf die sich widersprechenden Standpunkte der Literaturwissenschaft wird schnell deutlich, daß beide Positionen Rhetorikforschung und Sozialgeschichte - letztlich ein Referenzproblem fortschreiben, das die Germanistik seit ihren Anfangen begleitet. Denn die Ausschließlichkeit, mit der einerseits interne, andererseits externe Referenzen zum unhintergehbaren Startpunkt der literaturwissenschaftlichen Arbeit erklärt werden, teilt den Raum der Theoriebildung in eine Differenz, deren beide Seiten letztlich nur als Oppositionen angeordnet werden können: entweder Immanenz oder Faktengeschichte, entweder Formalismus oder externe Determinanten. 84 Die Frage, die sich vor allem für evolutionstheoretische Überlegungen stellt, ist: ob literaturgeschichtliche Transformationen allein aus den internen Bewegungen der poetologischen Tradition oder allein aus den externen Fakten vorgängiger sozialund politikgeschichtlicher Prozesse ableitbar sind. Beiden Positionen wird man wechselseitig gravierende Schwächen unterstellen können. Fischer und Windführ etwa müssen sich die Frage gefallen lassen, wie Transformationen der beschriebenen Art zu erklären sind, wenn die Literatur des 17. Jahrhunderts über eigendirigierte Evolutions- und Reproduktionsmöglichkeiten noch gar nicht verfügt. Und Volker Sinemus steht ebenso wie Gunter E. Grimm vor dem Problem, die Rhythmen poetologischer Evolution in bloße Repräsentationen einer vorgängigen Sozial- und Wissenschaftsgeschichte verwandelt zu haben. Eine Wissenschaft, die in der Exklusivität eines starren Enweder-Oder verbleibt, wird sich nur auf die eine oder andere Seite schlagen können, weil sie das Spiel sich ausschließen-
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Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978. S. 9 und 242. Vgl. auch Grimm: Literatur und Gelehrtentum. a.a.O., S. 3: »Die Umwandlungen der Normen hat sich nicht schlagartig vollzogen; sie ist das Ergebnis eines langsamen und komplexen Prozesses, der sich nicht als innerliterarische Bewegung umschreiben läßt. Gerade gelehrte Poesie steht per definitionem im Bezugsfeld wissenschaftlicher und sozialer Entwicklungen, die das Gelehrtentum als Wissenschaftsparadigma und als Stand durchmacht.« Vgl. zu diesem wissenschaftstheoretischen Ritual Gerhard Plumpe/Niels Werber: Différence, Differenz, Literatur. Systemtheoretische und dekonstruktivistische Lektüren, in: de Berg/Prangel (Hg.): Differenzen. a.a.O., S. 91-112.
Zur Poetik Alteuropas
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der Oppositionen weiterspielt. Die Systemtheorie versucht es dagegen mit einer Theorietechnik, die der Ausschließlichkeit interner oder externer Referenzen entgeht, indem sie poetologische Semantik und politische Repräsentationsbedürfnisse in gleichem Maße als Effekte eines stratifíkatorischen Differenzierungstyps beschreibt, der seine Evolutionsmöglichkeiten und Komplexitätsschranken laufend selbst erzeugt und in eine ihm korrelierende Semantik einarbeitet.
II. Ordnungen des Schreibens
1.
Von den >artes liberales< zu den >Schönen Künsten und Wissenschaftern
Mit dem Wissen kommt das Problem seiner Ordnung in die Welt - Michel Foucault hat diesen Zusammenhang am Beispiel historisch variabler Ordnungssysteme nachgezeichnet, die als >episteme< nicht nur das Wißbare einer Gesellschaft organisieren, sondern selbst zugleich wissensfbrmigen Charakter besitzen.1 Das Foucaultsche Projekt einer >Archäologieautonomen< Verständnis des modernen Wissens, nicht immer schon gab. Die griechische und römische Antike hat unter >Kunst< und >Künsten< noch etwas verstehen können, was bis an die Grenze zur Ausdifferenzierung des modernen Kunstsystems - erst hier dient der Singular >Kunst< als Klammer für Literatur, Musik und bildende Kunst 2 alteuropäischer Konsens war: daß die >Künste< lediglich regelgerechte, das heißt: verfahrensbezogene Tätigkeiten sind und insofern immer schon eine Einheit von Tätigkeit und theoretischem Wissen bilden. Der antike Kunstbegriff - téchne bzw. ars - bringt dieses Begriffsverständnis noch zum Ausdruck, wobei die téchne in der griechischen Antike zwischen der empeiria - einem bloß erfahrungsmäßigen Können - und der epistéme - dem wissenschaftlich-theoretischen Wissen - vermittelte.3 Analog hatte Ernst Robert Curtius im Blick auf den artes-
1
2 3
Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfiut/M. 1971. S. 87. Vgl. grundlegend Kristeller: Das moderne System der Künste. a.a.O., S. 165. Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Schriften zu ersten Philosophie. Übers, und hg. von Franz F. Schwarz. Bibliogr. ergänzte Ausgabe Stuttgart 1984. S. 18f. (981a 20ff.), sowie dazu Plumpe: Ästhetische Kommunikation I. a.a.O., S. 27f.
40
Ordnungen des Schreibens
Begriff den wichtigen Umstand vermerkt, daß »die antike Etymologie [...] das Wort mit artus >eng< zusammenbrachte]: die artes schließen alles in enge Regeln ein«.4 Der Kanon der Septem artes liberales hat diesem Verfahrensbezug im 5. Jahrhundert insofern Rechnung getragen, als er die ars poetica in eine stabile Wissensformation einspeiste, die sich bis ins 18. Jahrhundert am Leben erhalten konnte. Wissensgeschichtlich bemüht sich zwar bereits die Antike um eine Systematisierung allgemeiner Bildungsgrundlagen (enkyklios padeiä) - vor allem die in der römischen Kaiserzeit zur Leitwissenschaft ausgewachsene Rhetorik muß sich immer wieder ihrer Bildungsvoraussetzungen versichern5 - , die maßgebliche Darstellung der >sieben freien Künste< geht allerdings auf Martianus Capeila zurück, der wohl als bedeutendster Vermittler des antiken Denkens an das frühe Mittelalter gelten darf. Capeila stellt die artes liberales im Rahmen einer mythologisch-allegorischen Erzählung unter dem Titel De nuptiis Philologiae et Mercuri (zwischen 410 und 439) vor und empfiehlt sie in dieser narrativen Form dem mittelalterlichen literatus zur Ausübung: Merkur heiratet auf den Rat Apolls die gelehrte Philologia, die in ihrer Eigenschaft als parnassische Jungfrau das »Ganze des Wissens«6 repräsentiert und als Brautgeschenk die sieben >freien Künste< erhält. Faktisch aber besitzen die artes liberales zunächst nur ein propädeutisches Gewicht, weil sie - nach dem schulischen Elementarunterricht als Vorbereitung für die >höheren Fakultäten< (Theologie, Recht, Medizin) dienen und insofern kein eigentlich eigenständiges Bildungsziel markieren. Die schnell gängig gewordene Differenzierung der artes in einen >Dreiweg< aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik und einen >Vierweg< aus Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik ist zudem eine Leistung späterer Autoren; erst im 8. Jahrhundert werden die >sprachlichen< Wissenschaften zum trivium, die mathematischem Wissenschaften zum quadrivium zusammengefaßt,7 so daß die ars poetica
4 5
6 7
Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. a.a.O., S. 47. Vgl. zur Vorgeschichte der artes liberales Gert Ueding/Bemd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3., überarbeitete und erw. Auflage Stuttgart/Weimar 1994. S. 53 und Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. a.a.O., S. 46f. In diesen Kontext gehören auch die Bildungsanforderungen, die mit den rhetorischen Idealfiguren des orator perfectos (Vgl. Cicero: De oratore I, 64) bzw. des vir bonus dicendi peritus (Vgl. Quintilian: Institutio oratoria I, Proöm. 9; II, 15, 1) verbunden sind. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. a.a.O., S. 48. Das quadrivium ist als quadruvium allerdings schon Boethius (480-526 n.Chr.) bekannt. Vgl. Josef Koch (Hg.): Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. 2. Aufl. Köln/Leiden 1976.
>artes liberalesSchöne Künste und
Wissenschaften
41
- als appendix artium - in aller Regel der Grammatik oder - seltener - der Rhetorik bzw. Dialektik zugeordnet wird.8 Nun ist der Begriff der freien Künste kein Ausdruck einer wie auch immer gearteten Beliebigkeit. Frei sind die freien Künste, weil sie bereits im Horizont des antiken Denkens als Tätigkeiten freier Menschen gedacht werden, die sich, entlastet von jeglichen Erwerbszwängen, der Muße der theoretischen Betrachtung (theoria) anheimgeben können, ohne körperlich, etwa als Handwerker, arbeiten zu müssen. In die Konstruktion der artes liberales geht eine eminente soziale Codierung ein, die die als freien Künste qualifizierten Tätigkeiten allein Stadtbürgern und Adeligen zuerkennt, alle anderen Tätigkeiten aber komplementär als >unfreie< Erwerbsarbeit zurückweist. Schon die aristotelische Rhetorik entscheidet in diesem Sinne, wenn sie es als Kennzeichen des Schönen (kalos) ansieht, »keinerlei Handwerk zu betreiben; denn es ist Kennzeichen eines unabhängigen Mannes, nicht in Abhängigkeit von anderen zu leben«.9 Auch die Epistulae Morales des Seneca folgen dieser sozialen Leitdifferenz, unterlegen die Unterscheidung von freien und unfreien Künsten aber mit einem ökonomischen Argument: nur diejenigen Künste, die nicht dem Gelderwerb dienen, können mit recht studia liberalia genannt werden: Was ich von den freien Geistesarbeiten halte, begehrst du zu wissen. Keine bewundere ich, keine rechne ich zu den werthaften Dingen, die aufs Geld aus ist. Verdienstbringende Kunstleistungen sind sie, begrenzt nützlich, wenn sie den Geist vorbereiten, nicht fesseln. Denn nur solange ist bei ihnen zu verweilen, wie der Geist nichts Höheres zu leisten vermag [...]. Weshalb sie >freie< Geistesarbeiten [liberalia studia] heißen, siehst du: weil sie des freien Menschen würdig sind [homine libera digna sunt].10
Bei Seneca klingt bereits an, was spätestens im 12. Jahrhundert Wirklichkeit werden wird: ein zu den artes liberales komplementäres System unfreier Tätigkeiten, die dem Lebensunterhalt dienen und daher auf handwerkliche oder körperliche Arbeit verwiesen sind. Die artes mechanicae umfassen so unterschiedliche Bereiche wie Landwirtschaft, Festungsbau oder Handel und bilden in der von
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' 10
Die Poetik gilt lange Zeit als Spezialistenkunst und entzieht sich dadurch häufig einer eindeutigen Zuordnung zu einer einzelnen Logos-Wissenschaft. Vgl. Kristeller: Das moderne System der Künste. a.a.O., S. 173. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. 5., unveränd. Auflage München 1995. S. 50 (I, 9, 27). Senecas 88. Brief. Über den Wert und Unwert der freien Künste. Text mit Übersetzung und Kommentar von Alfred Stückelberger. Heidelberg 1965. S. 85. An anderer Stelle überliefert Seneca eine vierteilige Klassifizierung der artes, die auf den Stoiker Poseidonius (2. Jahrhundert n.Chr.) zurückgeht; erwartungsgemäß bilden die artes liberales Höhepunkt und Abschluß des Schemas. Vgl. a.a.O., S. 91.
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Ordnungen des Schreibens
Hugo von St. Victor überlieferten Zusammenstellung (lanificium, armatura, navigano, agricultura, venatio, medicina, theatrica) ein vollgültiges Pendant zu den sieben freien Künsten, ohne allerdings deren soziale Reputation zu erreichen.11 Die ungewohnt apologetische Absicht, mit der Hugo sein Schema verfaßt - das Didascalion (um 1130) nennt die mechanischen Künste bewußt scientiae statt artes - , bleibt dementsprechend folgenlos; die artes mechanicae bleiben bis in das 16. Jahrhundert hinein untergeordnete artes serviles (Thomas von Aquin), deren Ausübung der freie Mann tunlichst zu vermeiden habe. Nicht zuletzt hängt die soziale Disqualifikation der artes mechanicae damit zusammen, daß die bildenden Künstler - im Unterschied zu den betrachtend-theoretischen Wissensbereichen der artes liberales - zunftformig organisiert sind.12 Wie stabil die Abwertung der mechanischen Künste gehandhabt wurde, zeigen noch Petrarcas Invectiva contra medicum, die der Medizin jede Anerkennung als philosophisch fundierte Wissenschaft in harschen Tönen versagen und als bezahlte Arbeit aus dem Kreis der ehrwürdigen Wissenschaften ausschließen: Quomodo ego te philosophum credam cum mercennarium mechanicum sciam? Repeto libenter hoc nomen, quia novi quod nullo magis ureris convitio; non casu, sed sciens sepe te machanicum voco, et, quo gravius doleas, non primum. Percontare qui mechanica Uteris mandaverunt: ab illis digito tibi monstrabitur locus tuus.13
Auch wenn Petrarca noch einen diskursiven Krieg toben läßt, der mittelalterlichen Gepflogenheiten entspricht, ist es der italienische Humanismus, der die ältere artes-Lehre durchgreifend umarbeitet. Das 16. Jahrhundert sorgt zunächst für eine begriffliche Innovation, indem es das alte trivium unter dem anspruchsvolleren Titel der studia humanitatis fortfuhrt. Die studia humanitatis - der Begriff geht, angeregt durch antike Quellen (Cicero, Varrò), auf Leonardo Bruni (13691444) zurück14 - umfassen zu Beginn des 16. Jahrhunderts neben den alten artesWissenschaften Grammatik, Rhetorik und Dialektik nun auch Poetik, Geschichte
" 12 13
14
Vgl. Artikel >Artes Mechanicaeartes liberatesi, >Schöne Künste und Wissenschaftern
43
und Moralphilosophie - Disziplinen, die bislang von anderen Wissenschaften mitvertreten wurden, weil sie für die propädeutische Funktion der artes
liberales
nur marginale Bedeutung hatten. »De studiis«, so weiß es Tommaso Parentucelli, der spätere Papst Nikolaus V., »autem humanitatis quantum ad grammaticam, rhetoricam, historicam et poeticam spectat ac moralem«. 15 Ihren Ort findet die neuartige Hochschätzung der Poetik vor allem dort, wo der humanistische Grundgedanke einer imitatio der Antike am wirkungsvollsten angesiedelt werden kann: in der Lektüre und Exegese der antiken Schriften, die dem humanista als Gefäße eines verbindlichen Welt- und Sachwissens gelten; 16 insofern sind die studia
humanitatis
ihrer disziplinaren Qualität nach immer schon literarische
Studien. 17 Deren Fleiß richtet sich auf einen überlieferten Quellenkorpus, der, so die Auskunft Leonardi Brunis, das Sachwissen der antiken Philosophie und Wissenschaft - sapientia
- in vorbildlicher Weise mit einem stilfahigen Aus-
druck - eloquentia - verbindet: Eruditionem autem intelligo [...] legitimam illam et ingenuam, quae litterarum peritiam cum rerum scientia coniungit [...]. Nam et litteiae sine rerum scientia steriles sunt et inanes, et scientia rerum quamvis ingens, si splendore careat litterarum, abdita quaedam obscuraque videtur. [...] Atque ita coniugata quodammodo sunt peritia litterarum et scientiarum rerum. Haec duo simul coniuncta veteres illos, quorum memoriam veneramur, ad celebritatem nominis gloriamque provexere: Platonem, Democritum, Aristotelem, Theophrastum, Varronem, Ciceronem, Senecam, Augustinum, Hieronymum, Lactantium, in quibus omnibus discerni vix potest, maiome scientia rerum an peritia fuerit litterarum.18 Wo eloquentia
und eruditici in gleichem Maße aus den antiken Schriften spre-
chen, kann sich der Humanist in allen Belangen der Antike verpflichten. »Die überlieferten antiken Schriften«, so Gunter E. Grimm, »galten nicht nur in formaler Hinsicht als Muster; die in ihnen enthaltenen Lehren hatten noch dieselbe Gültigkeit wie in der Antike selbst. Wer über Feldbau sich orientieren wollte, der
15 16
17
18
Zit. nach Buck: Der Wissenschaftsbegriff. a.a.O., S. 56. Zur Antike-Nachfolge als rinascere le arti perdute vgl. aus der unüberschaubaren Forschungsliteratur nur Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. 2 Bde. München 1974 bzw. 1976; Buck: Humanismus. a.a.O., sowie die seit 1975 erscheinenden Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung. Bonn 1975ff. Dies belegen die zahlreichen literaturbezogenen Synonyme für die studia humanitatis (,bonae litterae, litterae humaniores, litterae humanae). Vgl. Buck: Humanismus. a.a.O., S. 155. Ein weiteres Indiz: Der humanista zieht die Bezeichnung poeta vor. Vgl. Buck: Der Wissenschaftsbegriff. a.a.O., S. 57. Leonardo Bruni Aretino: De studiis et litteris liber [1422/1429]. in ders.: Humanistischphilosophische Schriften. Mit einer Chronologie seiner Werke und Briefe. Hg. und erläutert von Hans Baron. Leipzig/Berlin 1928. S. 6 und 19.
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Ordnungen des Schreibens
griff eben zu Vergils >Georgicaausgleichende< Vermischung des hohen und niederen Stils von Cicero dezidiert zurückgewiesen worden: Das genus mediocris
umreißt gerade keine mischende
oder ausgleichende Teilhabe an Stilextremen, sondern bezieht eine eigene Stilhöhe, die innerhalb des Schemas relativ, also in Differenz zu ihren benachbarten Stilniveaus >nach oben< und >nach unten< Profil gewinnt: Es gibt aber noch eine in der Mitte zwischen diese [d.i. hoher und niederer Stil, I.S.] eingeschobene, gewissermaßen ausgeglichene Stilart. Sie besitzt nicht die Klarheit der letzteren und nicht den Glanz der ersten, sondern ist beiden benachbart, ohne daß eine das Übergewicht hätte. Sie hat vielmehr an beiden teil - oder, wenn wir nach der Wahrheit fragen, an beiden eben eigentlich nicht teil, (ebd.)
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58 59
Rhetorica ad Herennium IV, 11. Vgl. auch Cicero: Orator 20-23. Die Dreistillehre geht ihrer Konzeption nach vermutlich auf den Aristoteles-Schüler Theophrast zurück, dessen Schrift Über den Slil verloren gegangen ist. Die erste explizite Erwähnung des Schemas findet sich in der Rhetorica ad Herennium. Vgl. Ottmers: Rhetorik. a.a.O., S. 199f.; Fuhrmann: Einfuhrung in die antike Dichtungstheorie. a.a.O., S. 157 und ders.: Die antike Rhetorik. S. 38. Theophrast gilt noch Cicero als Gewährsmann. Vgl. Cicero: Orator 79. So noch Ottmers: Rhetorik a.a.O., S. 202. Cicero: Orator 21.
Voraussetzungen: Antike
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Daß die Dreistillehre unablässig die Rhetoriken und - in veränderter Form - auch die Poetiken durchlaufen kann, hängt mit ihrer gesteigerten Anschlußfahigkeit für andere Theorieelemente zusammen. Seit Cicero tritt neben die Dreistillehre die Lehre von den officia oratoris,
die jedem genus eine spezifische Wirkungs-
funktion zuordnet: das genus humilis überzeugt (docere), das genus medium unterhält (delectare, conciliare),
das genus grande erregt (movere, concitare)·.
Der vollkommene Redner [...] wird also der sein, der auf dem Forum und in Zivilprozessen so spricht, daß er beweist [probare], daß er unterhält [delectare], daß er beeinflußt [flectare]. [...] Jedoch so viele Aufgaben der Redners [officia oratoris], so viele Stilarten [genera dicendi] gibt es auch: die einfache beim Beweisen, die gemäßigte beim Unterhalten, die heftige beim Beeinflussen; und auf diesem einen Punkt beruht die ganze Macht eines Redners.60 Was es bedeutet, Texte nach rhetorischen Gesichtspunkten zu erzeugen, wird allerdings erst dort sichtbar, w o die elocutio an die Bedürfnisse konkreter Textregularien angepaßt werden muß. Seit Theophrast steht hierfür das Schema der vier virtutes elocutionis,
der Stiltugenden, zur Verfügung, das dem Redner eine Reihe
normativer Anweisungen an das >richtige< Sprechen und Schreiben an die Hand gibt. 61
Die
latinitas
(hellenismos,
auch puritas)
unterhält noch
deutliche
Beziehungen zur Grammatik, weil sie in der Hauptsache Anforderungen an die grammatisch-syntaktische und idiomatische Richtigkeit enthält. 62 Ihre Bindung an die Rhetorik legitimiert die latinitas
60
61
62
im wesentlichen dadurch, daß sie wir-
Cicero: Orator 69-70. Vgl. auch Cicero: De oratore II, 128 und Quintilian: Institutio oratoria VIII, Proöm. 7. Systematisch geht die officia-Lehie auf die Theorie der drei Überzeugungsmittel (ethos, pàthos, lògos) zurück, mit denen Aristoteles unterschiedliche Aspekte der rhetorischen persuasio bestimmt hatte. Vgl. Aristoteles: Rhetorik I, 2, 3. Vgl. nur Quintilian: Institutio oratoria VIII, 1, 2, 3 bis IX, 4 und XI, 1. Zu Theophrast vgl. Fuhrmann: Die antike Rhetorik. a.a.O., S. 114. Ein alternatives Schema findet sich in der Rhetorica ad Herennium IV, 17: auf die elegantia, die Gewähltheit des Ausdrucks, die sich aus latinitas und explanatio (eine Analogie zur perspicuitas) zusammensetzt, folgen conpositio (»Anordnung«: Forderung nach richtiger syntaktischer Fügung) und dignitas, die dem ornatos entspricht. Das aptum fehlt. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria I, 6, der die latinitas im Rahmen der grammatischen Propädeutik abhandelt. Die latinitas übergreift ihrerseits nochmals vier Kriterien: 1) ratio (Vernunftgründe: Ableiten ungesicherter Fälle aus sicheren nach dem Prinzip der Analogie), 2) vetustas (Alter: maßvoller Gebrauch von veralteten Ausdrücken), 3) auctoritas (Autorität: Rechtfertigung von Fehlern durch Vorbilder), 4) consuetudo (übliche, d.h. am consensus eruditorum ausgerichtete Sprache). Vgl. ebd. - Der idiomatische Aspekt der latinitas ist für die römische, d.h. nach-griechische Rhetorik im übrigen bedeutsam, weil sich mit ihm die Legitimation verbinden läßt, den Eigentümlichkeiten der eigenen (lateinischen) Sprache folgen zu können.
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Ordnungen des Schreibens
kungsbezogene Abweichungen von der Grammatikalität durchaus ermöglicht und das rhetorische Sprechen insofern stärker als ars bene dicendi denn als ars rede dicendi ausweist. 63 Prima virtus aber ist, folgt man der Auskunft Quintilians, die perspicuUas (saphéneia), die der Rede jene Verständlichkeit und Transparenz sichert, mit der alle immer auch denkbaren Verdunkelungen und Verhüllungen des Sinns (obscuritas) wirkungsvoll ausgeschlossen werden können. 64 Systematisch bezieht sich die perspicuitas entweder auf das einzelne Wort (verbis singulis) oder auf ganze Perioden (verbis coniunctis);65 für das Einzelwort gilt das Primat der proprietas, also die Vorstellung, daß jeder Sache (res) eine >eigentliche< Bezeichnung (verba propria) entspricht, während in den verbis coniunctis die überschaubare und >richtige< Wortfolge - der ordo rectus - beachtet werden muß: Für uns gelte die Durchsichtigkeit als Haupttugend des Ausdrucks, die eigentliche Bedeutung im Gebrauch der Wörter [propria verba], ihre folgerichtige Anordnung [rectus ordo], kein Schluß, der zu lang hinausgeschoben wird, nichts das fehle, und nichts, das überflüssig sei [...]. (VIII, 2,22) Wo nichts fehlen, aber auch nichts überflüssig sein darf, ist eine Ökonomie des Maßhaltens am Werk, die die massiven Revisionen der Rhetorik, wie sie das 18. Jahrhundert betreiben wird, gegenstandslos zu machen scheint. Gleichwohl verdanken sich die Mißverständnisse über das >Wesen des Rhetorischem exakt jenem Redeschmuck, der innerhalb des ornatus (kataskeué) abgehandelt und insofern gerade als Teil und Vollzug der rhetorischen persuasio gedacht wird, als sich die Argumentation idealerweise mit und durch den möglichst wirkungsvollen Einsatz stilistisch-elokutiver Muster vollzieht. Andererseits zeigt vor allem die römische Rhetorik des ersten Jahrhunderts, daß sie den elokutiven Bereich, trotz
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Gleichwohl kennt die latinitas spezifische Fehler (vitia): zum einen den Soloecismus, der einen Verstoß auf der grammatisch-syntaktischen Ebene bildet, zum anderen den Barbarismus, der alle Formen unidiomatischen Sprechens, also spezifische Dialektismen oder Provinzialismen, umfaßt. Vgl. Rhetorica ad Herennium IV, 17 und Quintilian Institutio oratoria I, 5. Beide vitia können allerdings zur Verlebendigung oder zur Effektsteigerung erlaubt sein; Verstöße gegen die gewohnte Grammatikalität (Soloecismus) werden dann als grammatische Figuren innerhalb des ornatus (s.u.) behandelt. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria IX, 3, 2. Vgl. grundlegend Manfred Fuhrmann: Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (Poetik und Hermeneutik II). Hg. von Wolfgang Iser. München 1966. S. 47-72. bes. S. 50. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria VIII, 2, 1 (»perspicuitas in verbis«) und VIII, 2, 14 (perspicuitas »in contextu et continuatione sermonis«).
Voraussetzungen: Antike
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aller programmatischen Rückbesinnung auf die >klassischen< Redner der attischen Demokratie (Demosthenes), allmählich aus seinem argumentativen Kontext löst und die systematische Aufspaltung des ornatus in Tropen und Figuren in unüberschaubare Stilmittelkataloge aufschwemmt, die der vielbeklagten »Literarisierung der Rhetorik« 66 gerade Vorschub leisteten. Unter den Tropen (tropos, verba translata) versteht die Rhetorik traditionell alle Formen der uneigentlichen, also bildlichen oder übertragenen Sprachverwendung. Die Tropen beruhen auf einem Substitutionsprinzip, das ein eigentlich Gemeintes durch ein faktisch Gesagtes ersetzt und hierdurch Spielräume im Bereich der Semantik wahrnimmt. Die Figuren (schémata, figuraé) dagegen berühren den Bedeutungsbereich der Worte nicht; sie nutzen eine syntaktische Verknüpfung, die vom normalen Sprachgebrauch abweicht und insofern stilistische Prägnanz gewinnt. Weil dies in immer neuen Durchgängen durch die Rhetorik bestätigt wird, kann ein klassisches Lehrbuch eine nachgerade >klassische< Definition liefern: Es ist also ein Tropus eine Redeweise, die von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeutung auf eine andere übertragen [translatas] ist, um der Rede zum Schmuck zu dienen, oder [...] ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle übertragen ist, wo er nicht eigentlich gilt. Eine Figur ist [...] eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise.67
Während die Tropen in aller Regel nicht weiter differenziert werden, 68 unterscheiden die rhetorischen Lehrbücher im Bereich der Figuren Gedankenund Wortfiguren. 69 Die Gedankenfiguren (schémata dianoias, flgurae sententiarum) beruhen auf der ungewöhnlichen Form der Gedankenführung, weichen also, nach der Auskunft Quintilians, »von der einfachen Aussageweise ab« (IX, 2, 1 ; 269); Quintilian zählt zu ihnen etwa die rhetorische Frage (interrogatio, DÌ, 2,
66 67 68
69
Vgl. Fuhrmann: Die antike Rhetorik. a.a.O., S. 70. Quintilian: Institutio oratoria IX, 1,4. Eine Ausnahme bildet Quintilian: Institutio oratoria VII, 6, 2, der Tropen »um der Wortbedeutung willen« und Tropen »um des schönen Ausdrucks willen« (S. 219) unterscheidet. Der Tropenkatalog beinhaltet im einzelnen: Metapher (translatio, VIII, 6, 4), Synecdoche (VIII, 6, 19), Metonymie (Hypallage, VIII, 6, 23), Antonomasie (VIII, 6, 29), Onomatopoiie (VIII, 6, 31), Katachrese (abusio, VIII, 6, 34), transsumptio (VIII, 6, 37), Epitheton (appositum, sequens; VIII, 6, 40), Allegorie (inversio, VIII, 6, 44), Ironie (illusio, VIII, 6, 54), Umschreibung (VIII, 6, 59), Hyperbaton (ebd.), Hyperbel (VIII, 6, 67). Vgl. Rhetorica ad Herennium IV, 19-46 (Wortfiguren) und IV, 47-68 (Gedankenfiguren); Quintilian: Institutio oratoria IX, 2 (Gedankenfiguren), IX, 3 (Wortfiguren).
60
Ordnungen des Schreibens
6f.), die Ironie (IX, 2, 44) 70 oder die Emphase (IX, 2, 64f.). Die Wortfiguren (schemata lexeos, figurae verborum) dagegen entstehen durch spezifische Änderungskategorien; Quintilian unterscheidet Figuren, die auf »Vertauschung [per mutationem], Hinzufügung [per adiectionem], Weglassen [per detractionem] und Anordnung [per ordinem]« (IX, 3, 27; 329) einzelner Worte oder Wortpartien beruhen. Daß Figuren und Tropen im Rahmen der Institutio oratoria in umfangreiche Kataloge eingespeist werden, zeigt, wohin die kaiserzeitliche Rhetorik führen wird: in einen Thesaurus des sprachlichen Wissens, den der Redner nur noch abzurufen braucht.71 Am Ende der stilistischen Regularien, mit denen die Stiltugenden das Geschick des Redners einfordern, gibt das aptum (decorum; prepon) schließlich vor, wozu eine Norm des >SchicklichenAngemessenen< oder >Geziemenden< anhält: daß Worte und Dinge, verba und res, in ein prinzipielles, >angemessenesSchicklichkeit< diktieren, gegen die der Redner als vir bonus peritus nicht verstoßen darf, weil das aptum immer das Typische und Erwartbare in die Rede einsetzt: Auch der Ton der Beredsamkeit selbst geziemt sich j e nach der Person in verschiedener Art: denn für die Alten dürfte ein voller, gehobener, kühner und reich geschmückter Stil nicht so schicklich sein wie ein knapper, milder, gefeilter [...]. Bei jüngeren Leuten nimmt man auch etwas zu Wortreiches und schon fast Gewagtes hin.74
Solange die Rhetorik noch eine Form der öffentlichen Rede ist, verfügt sie nicht zuletzt über eine performative Dimension, an der ablesbar wird, daß Reden und Texte immer auf ein Außen jenseits der Schrift bezogen sind, ohne die der Text notwendig unabgeschlossen bleiben muß. Die Performanzstadien der Rede - memoria und actio - bilden im Durchlaufen der Textproduktion vielmehr jene >OrteGedächtniskunststofflichen< Elemente der Poetik (inventio, disposino, elocutio) liegenden Teil, der im 17. Jahrhundert als >gebundene Rede< gilt und als >Reimkunst< gegen die rhetorisch strukturierte >Dichtkunst< differenziert wird. Das gesteigerte Interesse an rhythmischen und metrischen Fragen hängt im 17. Jahrhundert eng mit der neuartigen qualitativen Metrik zusammen, die durch Opitz und in der Opitz-Nachfolge (Buchner, Zesen, Titz) erstmals den Wortakzent, und nicht - wie in der klassischen, d.h. griechisch-römischen Prosodie - die Silbenlänge bemißt.85 Von poetologischem Interesse ist das qualitative Paradigma in zweierlei Hinsicht: zum einen erlaubt es, feste Versformen in alternierenden Rhythmen einzurichten - die zeittypische Hochschätzung von Jambus, Trochäus und insbesondere des repräsentativen Alexandriners86 hängt hiermit eng zusammen - ; zum anderen dient es gerade im Kontext der frühen nationalliterarischen Begründungsversuche dazu, den Eigenwert der deutschen
84
Vgl. etwa Ludwig von Anhalt Köthen: Kurtze Anleitung Zur Deutschen Poesi oder Reim-Kunst [1740], Justus Georg Schottelius: Teutsche Vers -oder ReimKunst [1645], Martin Rinckart: Summarischer Diskurs und Durch-Hang / Von Teutschen Versen [...] [1645], Sebastian Mitteinach: Bericht von der Teutschen Reime-Kunst [1648], Johann Henrich Hadewig: Kurze und richtige Anleitung [1650], Alhardus Moller: Einleitung zur Deutschen Vers- und Reimekunst [1656], Gottfried Wilhelm Sacer: Nützliche Erinnerungen Wegen der Deutschen Poeterey [1661], Samuel Schelwig: Entwurff der Lehrmäßigen Anweisung zur Teutschen Ticht-Kunst [1671], An das Madrigal bzw. das Epigramm richten sich Caspar Ziegler: Von den Madrigalen [1653] und Johann Georg Meister: Unvorgreiffliche Gedancken von Teutschen Epigrammaticus [1698]. Zur kontroversen Einschätzung der Gelegenheitsdichtung vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977.
85
Vgl. Christoph Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. München 1971. Der Alexandriner wird nach seiner französischen Neubegründung (Pierre de Ronsard) im deutschen 17. Jahrhundert zum beherrschenden Vers in Lyrik und Dramatik. Vgl. Opitz: Buch von der deutschen Poeterey [1624], a.a.O., S. 50.
86
Ordnungen des Schreibens
66
Nationalsprache apologetisch gegen die klassischen Literaturen der Antike, deren Geltung h ä u f i g in einer auf metrische Aspekte verkleinerten querelle
in Frage
gestellt wird, durchzusetzen. 8 7 Gemeinsam ist beinahe allen Verslehren, daß sie die Prosodie von der Mikro- zur Makrostruktur entfalten; auf die Silbe (»ton«) folgen V e r s f u ß (»tritt«, »schritt«), Vers (»gebänd«, »band«) und Strophe (»gesetz«), ergänzt durch Anweisungen z u m »steigenden« (Jambus), »fallenden« (Trochäus), »rollenden« (Daktylus) u n d »gegen-rollenden« (Anapäst) »reimtritt«. 8 8 W o die Poetiken über bloße Verslehren hinausreichen und im eigentlichen, d.h. rhetorisch-stofflichen Sinne >Dichtkunst< betreiben, folgen die Autoren spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts einem standartisierten A u f b a u s c h e m a , das in aller Regel drei deutlich von einander unterschiedene Teile erkennen läßt. A m Beginn steht eine Exordialpartie, die sich aus einer meist umfangreichen >Literaturgeschichte< 89 und einer Reihe von apologetischen Topoi z u s a m m e n setzt, 9 0 die nacheinander das (biblische) Alter, die wissenschaftliche Universalität u n d die religiöse Funktion der Dichtung als Gottesdienst beweisen sollen. 9 1 A n
87
88
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"
So etwa Zesen: Hochdeutscher Helikon [41656], a.a.O., S. 38; die »heutige Dichtkunst« sei »viel fol=komner und grundrichtiger [...] als beides die Latein=und Griechische.« Der Grund seien ihre »wider die natur lauffende gesetze«. So etwa Zesen: Hochdeutscher Helikon [41656], a.a.O., S. 55f. Opitz hatte nur Jambus und Trochäus vorgesehen (vgl. Opitz: Buch von der deutschen Poeterey [1624], a.a.O., S. 49); erst Buchner erweitert die Verslehre um Daktylus und (implizit) Anapäst; der Daktylus gilt im übrigen noch lange als »Buchner-Art«. Vgl. Buchner: Wegweiser [1663]. a.a.O., S. 118 und Zesen: Hochdeutscher Helikon [41656]. ebd. Dies allerdings mit allen Grenzen, die dem Begriff durch das rhetorisch-klassifikatorische Geschichtsschreibungsverfahren des 17. Jahrhunderts gezogen werden. Vgl. Kap. IV, 5. Ein rhetorisches Vorbild: die Exercitationum Rhetoricarum des Johannes Tesmarus. Tesmarus schlägt für das Lob der Dichtkunst eine konventionelle partes-Lehre vor, die auf das exordium propositio, loci, refiitatio und peroratio folgen läßt. Vgl. Johannes Tesmarus: Exercitationum Rhetoricarum libri VIII. Amstelodami 1657. Lib. VIII, cap. III. Die Aufarbeitung der Poetik als epideiktische Rhetorik ist im übrigen noch ein Desiderat der Forschung. Vgl. flir den Bereich des sog. >Altersbeweises< Kap. IV, 4. Ein Muster der epideiktischen Poetik bildet etwa Klajs Lobrede von der deutschen Poeterey [1645], Vgl. hierzu Ferdinand van Ingen: Dichterverständnis, Heldensprache, Städtisches Leben: Johann Klajs >Lobrede von der Teutschen PoetereyReim-Kunst< ausgewiesen wird. Den dritten und letzten Teil bildet die >DichtkunstVerskunst< durchmessen. Allerdings legen Kempes Ausführungen nahe, daß das rhetorische elocutio-Verständnis
auf dem Weg in
das 17. Jahrhundert vollständig verloren gegangen ist: an die Stelle eines in die Stilarbeit eingelagerten Argumentationsvollzugs ist nun ein ornatus getreten, der als ebenso gleißender wie äußerlicher Wortschmuck zum Einsatz gelangt: Offi berührte Kunst wird in die Reim= und Dicht=Kunst unterschieden: diese lehret die Rede mit einer Lieblichkeit zusammenbinden; die Ticht=Kunst aber [...] zeiget / wie man etwas sinnlich erfinden soll / die Erfindung in gewisse Handlungen und Sätze einschliessen / und aufs beste mit Fabeln / Gleichnissen und Figuren auszieren / auf daß die Rede als ein köstlicher Ring mit prächtigen Edelsteinen geschmücket / glinzer und gleisse / strahle und prahle [.. .].102 Auch Kaspar Stielers Dichtkunst des Spaten bestätigt die gängigen Produktionskategorien, zeigt aber im Bereich der dispositio
eine Auffälligkeit, die deutlich an
Stielers antikes Erbe (Horaz) erinnert. Während sich »Erfindung« 103 und »Ausschmückung« (81; 2747) ohne Probleme in den Fluß der Alexandriner fügen, entzieht sich die dispositionelle »Ordnung« aufgrund ihres situativen Charakters einer normativen Bearbeitung: Zur Ordnung langt nicht hin, daß nur den Griff man finde / zusagen, was sich schickt, und das zuübergehn, / was zuverschweigen dient und ietzt nicht da soll stehn. /
101
102 103
Theodor Kornfeld: Selbst=Lehrende Alt-Neue Poesie Oder Vers=Kunst. Bremen 1685. S. 89. Neumark/Kempe: Poetische Tafeln [1667]. a.a.O., S. 64f. Kaspar Stieler: Die Dichtkunst des Spaten [1685]. Hg. von Herbert Zeman. Wien 1975. S. 22 (V. 370).
Voraussetzungen: 17. und 18. Jahrhundert
71
Es ist ein großes zwar, ich leugn' es nicht, zuwißen, / wo iedes hin gehört, seyn auf die Wahl beflißen / und meiden, was nicht taug: wer aber weist mich an / wie man hier nach der Kunst den Wechsel finden kann? / Hier schweigt der Helikon, die Musen sind geheime. (74; 2450-2458)
Wie wenig das 18. Jahrhundert auf der Ebene der Dispositionstechniken an einem Normenwandel interessiert gewesen ist, zeigen die Poetiken von Magnus Daniel Omeis (1704) und Johann Hübner (1712). Omeis, der in vielerlei Hinsicht eine materiale Summe der barocken Poetik zieht, schließt in nachgerade schulmäßiger Weise an die traditionellen Dispositionsgewohnheiten an. »Die DichtKunst«, so Omeis, begreifet in sich erstlich die Lehre von der Gedichten Erfindung insgemein; und derer nothwendig= und wohlanständiger Zugehöre: darnach die Lehre von unterschiedlicher Gedichten Erfindung insonderheit. Da dann überall / was zur ordentlichen Kunst-Verfaßung oder Disposition, und geschickter Ausrede (Elocution) gehörig / an seinem Ort mit angefuget werden soll.
Dennoch macht Omeis im Bereich der dispositio Zugeständnisse an eine »natürliche inclination«,104 die der RegelfÖrmigkeit des Schreibens deutliche Grenzen setzt. Anders als der Redner, der sich an den überlieferten partes orationis orientieren müsse, könne der Poet lediglich einer dispositionellen Klammer aus propositio und applicatio folgen: während die propositio einen thematisch-stofflichen »Grund-Satz« oder »Haupt-Satz« festlegt, paßt die applicatio das Thema an jene Umstände und Bedingungen an, die ihm durch das behandelte Personal gestellt werden: Die Disposition belangend / so ist hier zu wissen / daß sich der Poet nicht eben / wie der Orator, an die Partes Orationis, Exordium, Narrationem, Propositionem &c. binde; sondern seiner natürlichen inclination nachgehe. Und bestehet mehrenteils ein Carmen aus der Proposition und Application. Durch die Proposition verstehe ich alles das jenige / was gleichsam zur Vorbereitung vorher gesetzet wird / bis die Application hernach folget / und solches der Person oder der Sache / davon das Carmen handelt / zugeeignet und gerecht gemacht wird, (ebd.)
Johann Hübners Neu=Vermehrtes Poetisches Handbuch trägt 1712 schließlich den neuartigen Aufschreiberegeln eines poetologischen Diskurses Rechnung, der die systematisch ausgearbeiteten Dichtkünste barocker Herkunft durch ebenso barocke Datenbanken ersetzt. Hübners Handbuch entspricht damit jener Sammelund Anthologisierungsarbeit, die das poetologische Wissen gegen 1700 in stoffreichen Exempelsammlungen niederlegt und an die Bedürfhisse eines Schulbe-
104
Omeis: Gründliche Anleitung [1704], a.a.O., S. 142.
72
Ordnungen des Schreibens
triebs anpaßt, der literarische Fertigkeiten über das Aus- und Nachschreiben beispielhafter Textmuster zu vermitteln gewohnt ist.105 Was das Handbuch dementsprechend präsentiert, ist ein über 600 Druckseiten umfassendes »Reim= Register«,106 hinter dem die nicht ohne Bedacht so benannte »Kurtze Anleitung« an Umfang deutlich zurücksteht. In systematischer Hinsicht kehrt Hübner die angestammte Reihenfolge der Produktionsphasen um: auf die elocutio folgt die dispositio, auf die dispositio die inventio·. XI. Wenn diese vierfache Übung [d.i. Herstellung »poetischer Periodos«, I.S.] vorbey ist, so sind erstlich die Schwürigkeiten mit dem Scandiren, mit dem Reimen, und mit den Generibus geschoben: das heißt, es eine guter Grund zu einer Poetischen ELOCUTION geleget. XII. Darnach weiß der Untergebene ein jedwede Materie so einzutheilen, daß, so zu reden, der Kopff oben, der Bauch in die mitten, und die Füsse unten kommen: das heißt es hat mit der Poetischen DISPOSITION seine Richtigkeit. XIII. Endlich kriegt der Discipul unvermerckt ein anschlägisch Köpfgen, daß er von sich selbst allerhand gute Einfälle hat; das heißt, es ist der Weg zur Poetischen INVENTION gebähnet worden. (140)107
Der unübersehbaren Hochschätzung der inventio innerhalb der überlieferten Produktionskategorien entspricht im 17. und 18. Jahrhundert, aller Kritik zum Trotz, die ungebrochene Bedeutung der Topik. Wenn auch das 17. Jahrhundert die schon an der römischen Rhetorik in Ansätzen beobachtbare Tendenz zum Abschluß gebracht hat, die Topik nur noch als einen durchsuchbaren Speicherraum für passende Schreibargumente zu behandeln, ist die konkrete Textpragmatik ohne das topische Denken gleichwohl nicht vorstellbar. Welche eminente textgenetische Funktion die topischen Arsenale in einem Zeitalter besitzen, das Dichter noch auszubilden gewohnt ist, zeigt Magnus Daniel Omeis, der im Rahmen seiner Gründlichen Anleitung mit gelehrter Ausführlichkeit vorfuhrt, wie ein Gedicht aus der Abfrage eines umfassenden Topossystems erzeugt, d.h. wie ein »Thema« bzw. »Grundsatz« (propositio: »Der Krieg ist höchst-verderblich«) über ein schrittweises Abfragen und Vertexten von geeigneten loci bzw. topoi auf
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Vgl. Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart/Weimar 1996. S. 65 und ders.: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995. S. 306f. Vgl. zur zeittypischen Praxis der Exempelsammlungen, Schatzkammern, Florilegien und Aeraría poetica Kap. IV, 2. Johann Hübner: Neu=vermehrtes Poetisches Hand=Buch. Leipzig 1712. Nachdruck Bern 1969. Vgl. S. 1-620. Die Hochschätzung der inventio als besonders schwieriger Produktionskategorie entspricht antiker Tradition. Schon Horaz hatte dem imitator nahegelegt, besser bereits vorhandene Stoffe umzuarbeiten als mit »Unbekanntem und Ungesagtem« Schiffbruch zu erleiden. Vgl. Horaz: Ars Poetica. a.a.O., S. 13.
Voraussetzungen: 17. und 18. Jahrhundert
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Textniveau aggregiert wird.108 Die Barockpoetik hat sich in aller Regel auf ein zumeist viergliedriges, gleichwohl variierendes Topossystem geeinigt, Harsdörffer und Kempe/Neumark etwa benennen »Wort«, »Dinge« bzw. »Sachen«, »Umstände« und »Gleichnisse«109 als »Erfindungsquellen« (71), während schon Philipp von Zesen sechs,110 Hunold schließlich 15 »Loci Tropici«111 kennt. Funktional dienen die Toposkataloge dazu, der poetologischen Kommunikation im Bereich ihrer als besonders anspruchsvoll empfundenen Erfindung spezifische Amplifikations- und Entlastungsmechanismen an die Seite zu stellen, um das Verfahren und das Verfahrensziel der inventio zumindest von stofflich-materialer Seite her zu unterstützen. Amplifizierend wirken die Toposkataloge dabei, weil sie der im Prozeß der inventio immer mitlaufenden Gefahr, keinen >Einfall zu habenOriginalität< oder I n dividualität eng bemessen, ebenso wie Innovationsmöglichkeiten unter Verweis auf einen allenfalls nur im Detail variierenden Korpus an generalisierten Schreibargumenten wirkungsvoll ausgeschlossen werden. Innovationsanlässe bestehen nur in der variativen Rekombination des topischen Materials; faktisch aber zielt die Praxis der loci communes ja gerade darauf, das Schreiben mit generalisierten Mustern zu versehen oder die ausbleibende Erfindung des Poeten mit Stoff anzureichern; die Figur der amplißcatio, ursprünglich eine wirkungsbezogene Strategie der Überredung, geht immer schon in die Poetik Alteuropas ein. Wie eng jedenfalls der Zusammenhang zwischen Amplifikationsfunktionen und poetologischer Topik ist, zeigt die Flut der Anthologiegattungen, die um 1700 das Bild der Poetik bestimmen und die barocke Erfindungswissenschaft in eine Umlauftechnologie gespeicherter Texte und Schriftexempel verwandeln.
4. Poetik oder Rhetorik? Variation eines Grundmotivs: »Diesem nach ist die Poeterey und Redkunst miteinander verbrüdert und verschwestert / verbunden und verknüpfet / daß keine sonder die andere gelehret / erlernet / getrieben und geübet werden kann.«" 4 So will es, wie gesehen, Harsdörffers Poetischer Trichter 1648, und mit ihm, über drei Jahrhunderte später, eine Rhetorikforschung, die der Literaturwissenschaft in den 60er Jahren empfahl, was sie, ungeachtet dieser »unüberhörbaren Hinweise« aus dem 17. Jahrhundert, versäumt hatte: nämlich »genaue Analysen der rhetorischen Theorie gerade in ihrer Verbindung zur poetischen Lehre« vorzulegen, nicht zuletzt Einsichten in die »hohe Bedeutung der Rhetorik für Poesie und
" 2 Kaspar Stieler: Teutsche Sekretariats-Kunst / Was sie sey? Wovon sie handele? was daizu gehöre? [...]. 1. Teil. Nürnberg 1673. S. 141. 113 Morhof: Unterricht [1682/21700], a.a.O., S. 313. 114 HarsdörfFer: Poetischer Trichter. Teil 3 [1653], a.a.O., Vorrede, S. iiij.
Poetik oder Rhetorik?
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Poetik des Barock« 115 zu gewinnen. Nun haben die rhetorik-, später auch sozialgeschichtlichen Forschungen der 60er und 70er Jahre keinen Zweifel an den rhetorischen Voraussetzungsstrukturen des 17. und 18. Jahrhundert gelassen, wie die Germanistik überhaupt erst in den 60er Jahren ein Objektfeld zurückgewann, das sie im Schlagschatten goethezeitlicher Vorverständnisse lange Zeit ignoriert hatte. Gleichwohl verdankt die Germanistik der Rhetorikforschung eine gewisse Blindheit gegenüber den Bemühungen des 17. Jahrhunderts, Poetik und Rhetorik wenigstens versuchsweise gegeneinander zu differenzieren. In einer Großperspektive auf die poetologische Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts zeigen sich nämlich eine Reihe formal-dispositioneller bzw. topischer Unterscheidungsmöglichkeiten, die die Grenzwerte zwischen beiden Disziplinen erhöhen. Wo immer beispielsweise die Poetik des 17. Jahrhunderts die Differenz von >gebundener< und angebundener Rede< zur Sprache bringt, sind solche Differenzierungsbewegungen zumindest angesetzt. >Gebundene< und >ungebundene RedeBinden< der Rede - im Gegensatz zur reimlosen Poesie der Antike - auf die >bindende< Funktion des Reims zurückführen. 116 Die älteren Begriffe der römischen Prosodie, astrictus und vinctus, umfassen noch bis ins 17. Jahrhundert hinein das Zusammengeschnürtsein bzw. Gefesseltsein einer einzigen Sache, vor allem aber eines Textes oder eines Stils mittels metrischer Regelung; die Rede zu >bindengebiihrenden< Regelungssicherheiten der Gattungstheorie bemüht werden, gelangen stilspezifische Amplifikationen nur als situative und weiterhin rhetorisch regulierte Muster zum Einsatz, die die Grenzen zur benachbarten Rhetorik entsprechend flexibel handhaben. Überhaupt entspricht die elokutive Anbindung des stilus poeticus jenem grundsätzlichen Bemühen der Poetik Alteuropas, alle Aspekte des Schreibens gegen Verfahrensunsicherheiten zu schützen, die eine außerhalb der Stillehre stehende Sprachlizenz gerade eröffnen würde. Solange Stile »Fehler« und »Unverstand« (43) sehen können lassen, herrschen Verfahrensregeln über »dergleichen hoher / und prächtiger Reden« (ebd.). Nun kennen die poetologischen Diskurse Alteuropas durchaus jene Ränder, an denen auch Verfahrenssicherheiten nach und nach schwächer werden. Was die Poetik des 17. Jahrhunderts bei aller Regulierungsdichte in den Kanon ihrer Normen und Anweisungen einarbeitet, sind situative Regelfreiheiten, die der gelehrte Kenner ebenso souverän zu piazieren wie zu erkennen weiß. Die poetische Lizenz< - schon Cicero und Quintilian haben entsprechende Hinweise gegeben141 - umfaßt im 17. Jahrhundert Regelbrüche, die immer als bewirkte, also selbst wiederum verfahrensbezogene Regelbrüche rekonstruierbar sein müssen. Johann Peter Titz trägt dieser Paradoxie 1642 insofern Rechnung, als er den Regelbruch, den »wissentlichen vnd vorbedachten irrthum«, als »Gesetz« und das heißt: anstelle einer situativ gültigen Regel behandelt: Denn gleich wie ein Redner nicht schamroth wird / wenn er gern und wissentlich die von den Sprachmeistern vorgegebenen Regeln überschreitet: also kann man es auch keinem Poeten vor keinen Fehler außstellen / wenn er mit wissen vnd willens eines oder
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In Differenz zu aller Rhetorik im wesentlichen drei: 1. der Dichter ist »etwas gebundener im Rhythmus, aber freier in der Ungebundenheit der Sprache« (Cicero: De oratore I, 70), 2. die poetische Rede dient »mehr den Formulierungen als den Sachen« (Cicero: Orator 21, 68), 3. die Dichtkunst ist für die »Zurschaustellung bestimmt« und will »ausschließlich Freude [voluptas] bereiten.« (Quintilian: Institutio oratoria IX, 1, 18). Helmut Rahn hat voluptas im übrigen treffender mit »Genuß« übersetzt (vgl. M.F. Quintiiianus: Ausbildung des Redners. Hg. und übers, von Helmut Rahn, 2. Teil. a.a.O., S. 443); tatsächlich spricht Quintilian der Poesie eine gewisse Verfuhrungskraft zu, die den Leser, will er sich Genuß und Lust verschaffen, zur Lektüre gleichsam zwingt. Analog scheint Cicero eine Hyperfunktion der elocutio im Auge gehabt zu haben, die den Bezug zu den res tendenziell verlieren darf.
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das ander / was sonst von ihm erfordert wird / hindansetzet. Denn alsdann ist dieser wissentliche vnd vorbedachte irrthum ihm selbst anstatt eines Gesetzes.142 Was der »vorbedachte irrthum« zaghaft verdeckt und doch deutlich genug bezeichnet, ist die Paradoxie einer regellosen RegelsicherheitblödenInklinationen< des poetischen ingeniums anvertraut, kann sie die Anwendung bzw. Mißachtung der »fürgeschriebenen Regeln« ohne weitere Begründung in die »freyheit« des Poeten stellen: Bey dieser Gelegenheit wird vielleicht auch nicht unfuglich sein / zum beschluß etwas von der Poetischen Licentz zu berühren. Wodurch hier verstanden wird / wenn ein poet ihm die freyheit nimmt / die Abgeschriebenen Regeln der Kunst in einem oder dem andern zu verlassen.145
5. Inspiration und Verfahren: der Poet Dennoch: Wie individuell sind die Wege der Poeten, die im 17. Jahrhundert die Segnungen einer regelfemen »freyheit« genießen dürfen? Und: Könnte eine Her-
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Titz: Zwey Bücher [1642]. a.a.O., fol Hij". Es geht, anders formuliert, darum, Kontingenz mit Notwendigkeit auszustatten. Vgl. Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O. Das ingenium umfaßt alteuropäischem Denken gemäß die Summe der natürlichen, also nicht künstlich erworbenen Begabungen und Fertigkeiten. Bereits Aristoteles stellt die Rhetorik auf die Basis der euphyia (»gute Veranlagung«, vgl. Rhetorik I, 6, 15). Titz: Zwey Bücher [1642], a.a.O., fol S. VI*.
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Ordnungen des Schreibens
meneutik, wie sie gegen 1800 das literaturwissenschaftliche Wissen zu organisieren beginnt, jenen individuellen Sinn aufspüren, den der Autor als seine Spur in den Text legt, weil es eine Poetik gibt, die dem Autor Lizenzen dieser Art zugesteht? Bei allem, was die alteuropäische Tradition über das Subjekt ihrer Dichtung zu sagen weiß, wird der hermeneutische Blick seine historische Nicht-Zuständigkeit akzeptieren müssen. Denn was, mit einem Grimmschen Wort, an »autormäszigem« 146 Wissen seit der Antike im Umlauf ist, bestimmt, wie so oft, auch das 17. Jahrhundert, und es hat daher im wesentlichen zwei antike Grundüberzeugungen vorgetragen: daß sich die Poesie entweder einer normativen, d.h. rhetorisch angeleiteten Textgenese verdankt, über deren Kalküle der poeta doctus souverän verfügt, oder aber daß sie der Macht einer göttlichen bzw. musischen Eingebung vertraut, die den Dichter inspiriert und ein prinzipiell Wahres und Unbezwei feibares künden läßt. Tatsächlich bildet die Figur des inspirierten Dichters die älteste Antwort auf die Frage, wie die Entstehung von Dichtung zu denken sei. Die frühesten Dokumente (Homer, Hesiod, Demokrit), die zugleich auch die ältesten überlieferten Zeugnisse der abendländischen Literatur sind, stammen aus der Zeit zwischen dem 8. und dem 4. vorchristlichen Jahrhundert und stehen damit medienhistorisch auf der Schwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit; erst Piaton unterstellt das inspirierte Wissen einer epistemologischen Kritik (Ion, Apologie, Merton), die bereits die Differenz von mündlich-inspiriertem Sagen und gesicherter philosophischer Schriftreflexion voraussetzt. Was der inspirierte Dichter unter dem Anhauch (epipnoia, afflatus) der Musen oder dem Atem eines Gottes (pneuma) eingegeben bekommt, ist eine substantielle Wahrheit, für die der Autor als bloßes Medium und Stimmgefaß freilich keine auktoriale Verantwortung übernimmt; recht verstanden kommt der Titel >Autor< insofern einzig der inspirierenden Instanz zu. Und weil der Gesang immer auch prophetisches Sagen des menschlichen oder göttlichen Geschicks ist, hat das griechische Denken Dichtung und Weissagung analog behandelt: der inspirierte Dichter ist ein vates, der Glaubhaftes und Gesichertes dank höherer Eingebung verkündet. 147 Gleichwohl fallt eine historische Einschätzung des Inspirationsdenkens schwer. Denn die überlieferten Zeugnisse machen nicht immer hinreichend deut-
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Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1: A - Biermolke. Leipzig 1854. Sp. 1044. So etwa Piaton: Apologie 22c, wo die Dichter wie »die Wahrsager und Orakelsänger« in »Begeisterung« sprechen. Vgl. Piaton: Werke in acht Bänden. 2. Bd. Hg. von Gunther Eisler. Darmstadt 1973. S. 15f. Vgl. auch Menon 99c (a.a.O., S. 595) und Ion 534c. Zur Figur des poeta vates vgl. außerdem Hellfried Dahlmann: Vates, in: Philologische Zeitschrift fiir das klassische Altertum 97 (1948). S. 337ff.
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lieh, ob die Inspiration noch >spontaner< Vollzug des Glaubens an eine göttliche Abkunft des Gesangs ist oder ob sich der Inspirationsgedanke bereits auf dem Weg zur Topisierung bzw. Metaphorisierung befindet, so daß die Momente der Inspiration und der Musenansprache lediglich aufgeschrieben und literalisiert werden. 148 Für das Modell des inspirierten Dichters, wie er in die Poetiken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Eingang findet, ist diese Frage allerdings von untergeordneter Bedeutung, weil der Schritt zur Topisierung hier längst vollzogen ist und der Inspirationsgedanke viel eher vor dem Problem steht, wie er an das regelpoetische Paradigma überhaupt vermittelt werden kann. Auch die Beschreibungsfülle der antiken Quellen ist im 17. Jahrhundert kaum rezipiert worden. 149
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Vgl. Axel Gellhaus: Enthusiasmus und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung. München 1995. S. 32ff. Das Problem wird selbstverständlich medienhistorisch entschieden, weil die Umarbeitung der Inspiration zum literarischen Topos eine ausdifferenzierte Schriftkultur voraussetzt. In der römischen Antike haben Inspirationskonzepte dementsprechend nur noch wenig Raum; das Konkurrenzmodell zu einer >inspirierten< Textgenese ist nun die ars rhetorica mitsamt einer ausgefeilten Produktionsund Gedächtnistheorie. Die antiken Quellen heben besonders hervor: 1. Dichter und Sänger bilden eine Funktionseinheit, weil das >Erfinden< bzw. Improvisieren des Stoffs (composition; invention synchron zum Vortrag des eingegebenen Textes (performance; actio) verläuft. 2. Der Gesang des inspirierten Dichters kennt in aller Regel keine textuelle Fixierung, sondern ist an die mnemotechnischen Kapazitäten des Gedächtnisses gebunden. So fehlt dem homerischen Demodokos das »Licht seiner Augen« (Homer: Odyssee. V. 64f.), während Hesiods Theogonie den inspirierten Dichter erstmals im Zusammenhang mit den neun Musen, den Töchtern der Mnemosyne, nennt. (Vgl. Hesiod: Theogonie. V. 54). 3. Der Gesang dient der Erinnerung der Göttergeschichte; er preist »die Sippe der ewigen, seligen Götter« (Hesiod: Theogonie. V. 34), er kündet »von Künftigem und von Gewesnem« (33), er erzählt vom »Ruhm« der »Helden« (Homer: Odyssee. V. 73f.) und von den »Taten der Urväter« (Piaton: Phaidros 245a. Werke in acht Bänden. 5. Bd. Hg. von Gunther Eisler. Darmstadt 1981). 4. Der inspirierte Dichter bestimmt weder den Anlaß, noch die Wahrheitsfähigkeit seines Vortrags. Demodokos, der >im Volk akzeptierte^ singt zur festlichen Unterhaltung des höfischen Publikums (Vgl. Homer: Odyssee. V. 537). Die Theogonie zeigt die Musen als launische Göttinnen, die frei über »Trug« oder »lautere Wahrheit« (Hesiod: Theogonie. V. 27f.) walten. 5. Der Gesang des Sängers steht in einem sekundären Verhältnis zu einem >Ur- oder PrätextEntzündung< jener >rohen< Poeten, deren ingenium poeticum nur schwach entwickelt ist; insofern kompensiert die Inspiration einen Begabungsrückstand, der auch regelhaft, d.h. durch geduldiges Studium nicht ausgeglichen werden kann. Die Inspiration selbst erreicht den Poeten antiker Tradition gemäß auf zweierlei Wegen: entweder fließt die vis divina gnädig »vom Himmel herab« (85) oder sie muß um Beistand angerufen werden (invocatici): Die Dichter rufen also deshalb die Musen an, damit sie von Raserei erfüllt vollbringen, was ihre Aufgabe ist. Von diesen Gottbegeisterten aber habe ich bis jetzt zwei Arten festgestellt. Der ersten Art kommt jene göttliche Kraft [divina vis] vom Himmel herab von selbst und unvermutet zu Hilfe, oder einfach auf einen Anruf hin; zu dieser Gruppe rechnet Hesiod sich selbst; Homer aber wird allgemein dazugerechnet. (ebd.)'57
Mit der enzyklopädischen Poetik Scaligers wird allerdings deutlich, daß die einschlägigen Inspirationskonzepte vor ein Kohärenzproblem führen, auf das die Poetiken in aller Regel keine Antwort finden. Denn so unerläßlich der Inspirationstopos fur die apologetischen Intentionen der Poetiken ist, so wenig ist er andererseits an den Verfahrenscharakter der Poetiken vermittelbar; Inspiration kann schlechterdings nicht regelhaft beschrieben oder erzeugt werden. Schon Opitz begibt sich in systematische Widersprüche, wenn er die »Poeterey« unter Berufung auf »Plato« zunächst auf einen »Göttlichen antriebe« 158 gründet, nach einer Reihe weiterer literaturgeschichtlicher und apologetischer Überlegungen aber ganz traditionell regelhafte Anweisungen über inventio, dispositio und elocutio folgen läßt. 159 Schottel hält die »Kraft der Poesis« 1663 schließlich für jene »Himlische« Energie, die sich der Verfügung der ars poetica entzieht; Inspiration kann durch »Fleiß und Arbeit« weder ersetzt noch erlernt werden: Es sind die Gelahrten alters her hierin überall einhellig / daß die Poesis etwas Himlisches und uhrsprüngliches von den Göttern sey [...]. Also was menschlicher Witz und Wissenschaft heisset / hat seine anfängliche bekantliche Uhrsache; aber diese Kraft der Poesis / woher die komme / weiß man nicht; Diese verborgene Kunst wird nicht eben durch Fleiß und Arbeit / sondern aus einer göttlichen Erleuchtung zugleich erlernet.160
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Bleibt die Inspiration aus, wird in aller Regel Weingenuß empfohlen. Vgl. ebd. Die Poetiken des 17. und 18. Jahrhunderts schwanken allerdings zwischen diätetischer Sorge und ausdrücklicher Empfehlung. Gleichwohl gilt Mäßigung. Opitz: Buch von der deutschen Poeterey [1624]. a.a.O., S . l l . Dies außerdem im Gegensatz zu der von Ronsard entliehenen Versicherung, man könne niemanden »durch gewisse regeln vnd gesetze zu einem poeten machen.« Vgl. ebd. Schottel: Ausfuhrliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache [1663]. a.a.O., S. 105. Auch August Buchner betont im gleichen Jahr, daß »der Poeten thun mehr von einem
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Nun ist das 17. Jahrhundert bei aller Autoritätstreue für den systematischen Graben, der den inspirierten Dichter von seiner gelehrten Anweisung trennt, nicht blind. Sigmund von Birkens Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst
bemüht sich
1679 daher darum, Inspiration und dichterisches ingenium miteinander zu verbinden - ungeachtet der Tatsache, das zwei Topostraditionen eine Nähe eingehen müssen, die sie traditionell nicht besitzen. Damit, so Birkens Lösung, die begeisternde Kraft des göttlichen pneumas produktiv wird, muß der Poet über ein geeignetes ingenium verfügen, das den Inspirationsmoment im Blick auf die rhetorisch-poetologischen
Begabungen des Poeten - »Scharfsinnigkeit«, »Wohlreden-
heit«, »Erfindung« 161 -
gleichsam filtert. Enthusiasmós
und eyphia
(»gute
Veranlagung«) werden in eine Serie von Vermittlungen gestellt, die den Inspirationsmoment an das ingenium, das ingenium seinerseits an ein regelhaftes Studium übergibt: Bei den Römern / gienge das Sprüchwort: Orator fit, poeta nascitur; Rednere werden gemacht / nämlich durch die RedKunst-Lehre / aber Poeten werden gebohren. Solches erkläret Cicero, da er saget: (a) Poetam naturâ valere, & quasi divio spirita afflali; ein Poet werde von der Natur zum dichten gefahigt / und gleichsam von einer Göttlichen Begeisterung angeflammet. [...] Vielleicht hat er von dem Plato also reden gelernet / welcher schreibet, (c) Sie / die Poeten / reden nicht aus eignem Kunstvermögen / sondern durch Kraft eines Göttlichen Triebs. (167f.) [...] Es wird aber / solcher Göttlichen Begeisterung / gleichsam durch die Natur der Weg gebahnet / mit einpflanzung einer redfartigen Zunge oder Feder: welches die Griechen Wohlangeborenheit [eyphia] nennen. (170)162 Lange vor den barocken Toposkonjekturen hatte bereits der Neuplatonismus (Christofo Landino) eine Antwort auf die Frage gefunden, wie die Autorschaft in alteuropäischer Zeit zu denken ist. Was die florentinischen Platon-Lektüren an
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göttlichen trieb / und Einfluß / als Kunst und Geschicklichkeit der Menschen herrühere.« Vgl. Buchner: Wegweiser [1663]. a.a.O., S. 12. Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst [1679]. a.a.O., S. 170f. Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 40f., ist an dieser Stelle der Suggestion erlegen, ingenium und Inspiration im Begriff der »Be-Gabung« bzw. in der Figur des »furor poeticus« zusammenzuziehen: »Die Poesie erfordert aber [...] eine besondere Be-Gabung, die mehr ist als die mit natura bezeichnete Veranlagung des jeweiligen Kunstübenden. Diese Be-Gabung verlangt eine eigene Bezeichnung, wie sie dann, nach dem griechischen Vorbild, im furor poeticus, dem poetischen Geist, auftritt.« Fischer übersieht, daß weder Inspiration noch furor poeticus als Teil des ingenium poeticus gedacht werden. Birken kombiniert vielmehr zwei getrennte Topostraditionen: die Inspiration bildet eine >Entzündung< des Poeten >von außenaffectuösen Entzückung< trägt alle Zeichen einer neuartigen Anthropologie,
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Vgl. E.N. Tigerstedt: The Poet as Creator. Origins of a Metaphor, in: Comparative Literature Studies 5 (1968). S. 455^188. Scaliger: Poetices libri Septem [1561]. Buch 1. a.a.O., S. 71 f. Vgl. Kindermann: Der Poet [1664], a.a.O., S. 31 und 243. Vgl. Daniel Georg Morhof: Polyhistor literarius, philosophicus et practicus. Cum accessionibus a Johannes Frick et Johannes Moller. Lübeck 41747. Nachdruck 2 Bde. Aalen 1970. S. 1007f. Klaj: Lobrede [1645], a.a.O., S. 388.
Der Poet die den enthusiasmós
91 als spezifische Seelenenergie, und das heißt nun: als Ei-
geninspiration in den Affekthaushalt des Poeten verlegt, um gleichwohl auf ein traditionsreiches Problem antworten zu können: was die >Entzündung< der enthusiastischen Affektenergien bewirkt, ist die Verflüssigung, Stimulation, Anregung und >Befeuerung< jener barocken Erfindungskraft, die noch aufgeklärte Pädagogen von der »Armut der Gedanken« 168 bedroht sehen: Die alten nenneten solches furorem poeticum, und solcher ist nichts anderes als die affettuose Entzückung / dadurch man zu artigen inventionibus getrieben wird. Hat nun jemand diesen furorem nicht verbergen können / so hat er manchen zum praejudiz die opinion in die Welt gebracht / daß sie niemand gerne will vor einen furiose declariren lassen.169 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird der Enthusiasmus, nicht zuletzt unter dem aufklärerischen Skeptizismus Shaftesburys, »zu einer höheren Glut der Leidenschaft«, 170 der sich schließlich die Seelenlehren und Erfahrungsseelenkunden annehmen, um die ungesunden Exaltationen in die Archive der Pathologie einarbeiten zu können. Johann Gottlieb Wiggers kennt den dichterischen
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1784 in einer zeittypischen Diätetik der Imagination lediglich noch als »Krankheit der Seele«, die der Pathologe an der ungesunden Häufigkeit enthusiastischer Gemütsverfassungen entziffert und einer Kur im Zeichen der Mäßigung empfiehlt: Der Enthusiasmus ist die Fassung der Seele, in welcher diese durch [...] eine glühende Imagination fähig wird, sich auf eine ungewöhnliche Art zu äußern; folglich nicht mehr und nicht weniger, als ein anhaltender Affect, der die Seelenkraft zu außerordentlicher Wirksamkeit spannt. [...] Dagegen giebt es einen andern, in welchem der Affect nicht so wohl lange anhält, als vielmehr oft wiederkehrt, und die Disposition dazu ist eine Krankheit der Seele. [...] Man hat sich also sehr in Acht zu nehmen, daß man die eine Gemüthsfassung nicht mit der andern verwechsele.171
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Johann Christoph Dommerich: Entwurf einer Deutschen Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen abgefasset. Braunschweig 1758. S. 22. Christian Weise: Curióse Gedancken von Deutschen Versen / welcher gestalt Ein Studierender In dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden soll [...]. Leipzig 1702. Teil II. S. 21f. Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus/Die Moralisten. Ins Deutsche übertragen und eingeleitet von Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1909. S. 33. Johann Gottlieb Wiggers: Der Enthusiasmus, in: ders.: Vermischte Aufsätze. Leipzig 1784. S. 115-164. S. 120f. Vgl. zur Erfahrungsseelenkunde der Imagination Verf.: Der Leib und die Träume. Traumwissen und semantische Evolution im 17. und 18. Jahrhundert in: IASL 27 (2002) Heft 1 (in Vorbereitung).
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Ordnungen des Schreibens
Nun sind die Vorbehalte gegen den Enthusiasmus keine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Bereits Horaz hatte dem angehenden Poeten im Rahmen seiner Ars Poetica empfohlen, den Habitus des inspirierten Dichters frühzeitig abzulegen, weil nur die »richtige Einsicht« 172 (recte sapere) zum Ziel führt. Auch wenn der Vorsokratiker Demokrit an die Macht des Enthusiasmus glaubt - wer weder seine Nägel manikürt, noch seinen Bart pflegt, die Bäder meidet und die Einsamkeit liebt, oder gar, wie Empedokles, in den »glühenden Ätna« springt, um »für einen unsterblichen Gott gehalten zu werden« (V. 465), ist lange noch kein poeta, der den Lorbeer erringen könnte: Weil Demokrit Genie [ingenium] für gesegneter als armselige Kunst [ars] hält und vom Helikon die vernünftigen Dichter [sanos poetas] ausschließt, müht sich auch der bessere Teil, nicht die Nägel zu schneiden, nicht den Bart, sucht einen abgeschiedenen Ort und meidet die Bäder. [...] Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben. Den Gehalt können dir die sokratischen Schriften zeigen, die Worte [verba] werden dem vorgesehnen Gehalt [res] nicht ungern folgen. (V. 297ff.; 23f.)
Horaz' Satire auf den dichterischen Enthusiasmus ist literaturgeschichtlich außerordentlich bedeutsam, weil in seinem Schatten das Konkurrenzmodell zum inspirierten Dichter, der poeta doctus, seine Ansprüche geltend zu machen beginnt. Das >richtige< Schreiben entspricht fortan einer verfahrensförmigen Kunstlehre (ars), deren Regularien und Produktionsnonnen außerhalb der Sinnintention des Autors liegen und daher nur befolgt werden müssen, soll die poetische Tätigkeit sachrichtig sein. Und weil jede Schulung und jede Regel gleichermaßen spezifische Begabungswerte und natürliche Talente voraussetzt, müssen ars und natura, Studium und ingenium immer als Komplementärwerte gedacht werden: Ob durch Naturtalent [natura] eine Dichtung Beifall erringt oder durch Kunstverstand [studium], hat man geiragt. Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen ohne fündige Ader oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andren und verschwört sich mit ihm in Freundschaft. (31)173
Wo individuelle Begabungsunterschiede eine Rolle spielen, scheinen auch Bewegungsräume für Individualität im Ganzen gewonnen zu sein. Gleichwohl: Individualität ist weder eine Bildungsprämisse noch ein Bildungsziel der ars poetica, denn auch das Studium bildet lediglich einen Sollwert, der das Ziel der Schulung in einem der Sache immanenten Perfektionsmaßstab lokalisiert, also veranlagungsbedingte Abweichungen und individuelle Begabungswerte dort zum
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Horaz: Ars Poetica. a.a.O., S. 23. Vgl. für die antike Rhetorik nur Quintilian: Institutio oratoria II, 19,1.
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Ausgleich bringt, wo überindividuelle Regularien Maßstäbe setzen - Maßstäbe übrigens, die noch den Bildungsweg betreffen, weil der rhetorische Lehrplan jeden Schüler einem einheitlichen cursus folgen läßt. 174 Nun erzeugt das Ideal des poeta doctus spätestens im 17. und 18. Jahrhundert aller gegenläufigen Bekundungen zum Trotz ein deutliches Übergewicht auf der Seite der technischen bzw. verfahrensbezogenen Aspekte des Dichtens. Das 17. Jahrhundert kommt damit einer Tendenz nach, die die Poetiken immer schon vorgeben: während das ingenium lediglich hinsichtlich seiner Eignung geprüft werden kann, 175 steht hinter dem Studium das Motiv, innerhalb der Grenzen gelehrter Kommunikation eine Schreibkompetenz einzurichten, die prinzipiell an jeden vermittelbar ist. Wenn sich die rhetorische Textherstellung in diesem Sinne auf einheitliche Produktionsnormen bezieht, ist andererseits kaum erklärbar, wie die immer auch möglichen Differenzen in der Textkonstitution gedacht werden können. Diese Begründungsleerstelle wird ganz offenbar vom ingenium besetzt, denn nur die individuellen Begabungsunterschiede können letztlich plausibel machen, warum es trotz der Anwendung einheitlicher Regeln zu unterschiedlichen Regelapplikationen kommt. Für das 17. Jahrhundert ist damit ein Erklärungswert gefunden, der Regelverfehlungen und Regelbrüche ebenso plausibilisieren kann, wie reine Regelformalisierungen, die die Poetiken in zeittypischer Weise an den polemisch bekämpften >Pritschmeistern< und >Verseschmieden< ablesen. >Pritschmeister< ist derjenige, der die Produktionsnormen, vor allem im Bereich der >Reim- und Verskunst< sicher beherrscht, die Würde eines Dichters aufgrund seines fehlenden ingeniums gleichwohl nicht erlangt. Die Differenz von poeta doctus und versificator wird damit allein am Maßstab des ingenium poeticum ausgerichtet, wobei das zugrundeliegende Begründungsschema in auffälliger Weise die Unterscheidung von >Reimkunst< und >Dichtkunst< kopiert: während der >Reimschmied< über eine prinzipielle Verfahrenssicherheit hinsichtlich der metrisch-prosodischen Aspekte verfugt, zeichnet sich der poeta durch eine ingeniöse Erfindungsgabe (inventio) aus, die normativ gerade nicht beschreibbar ist: Etlichen ermangelt es an natürlicher Fähigkeit zu der Poeterey / daß sie zwar die Worte kunstrichtig zu binden wissen / aber gezwungen / hart und mißlautend; ohne poetische
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Vgl. Barner: Barockrhetorik. a.a.O., 242f. Vgl. nur Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst [1679], a.a.O., S. 172, die dem Poeten empfiehlt, »erstlich« zu »prüfen / ob ihn Gott und die Natur dazu fähig gemacht habe.«
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Gedancken / und sinnreiche Einfälle: daß man leichtlich sehen kann / es sey kein poetischer Geist in jhnen / und jhre Gedichte mit langer Zeit zusammengenöthiget.176 Nun suggeriert die Figur des poeta doctus eine Kontinuität, die den ebenso gleitenden wie abrupten evolutionären Veränderungen innerhalb des gelehrten Dichtungsparadigmas kaum entspricht. Denn die frührationalistischen Poetiken stellen das Dichten um 1730 auf den Boden eines neuartigen Wissenschaftsparadigmas, das zwar weiterhin Gelehrsamkeit für sich in Anspruch nimmt, die eruditici nun aber nicht mehr an eine Totalerfassung des sozialen Wissens (Polymathie) bindet, wie es Johann Klaj im Einklang mit der barocken Gelehrsamkeit noch 1645 forderte: Es muß ein Poet ein vielwissender / in den Sprachen durchtriebener und allerdinge erfahrner Mann seyn: Er hebet die Last seines Leibes von der Erden / er durchwandert mit seinen Gedanken die Länder der Himmel / die Strassen der Kreise / die Sitze der Planeten / die Grenzen der Sterne / die Stände der Elementen. [...] Er durchkreucht den Bauch der Erden / er durchwädet die Tiefen / schöpffet scharffe Gedancken / ziemende zierliche Worte lebendige Beschreibungen / nachsinnige Erfindungen / wolklingende Bindarten / ungezwungene Einfalle / meisterliche Ausschmükkungen / seltene Lieblichkeiten / und vemünfftige Neuerungen."7 Was der Poet gemäß der barocken Umlauftechniken souverän zu verwalten und in immer andere Texte einzuspeisen hat, ist ein »materiales Vielwissen«, 1 7 8 das,
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HarsdörfTer: Poetischer Trichter. Teil I [1647]. a.a.O., Vorrede 5, fol. Va. Aus der Masse der immergleichen Polemik vgl. Zesen, der den Weg vom »Pritschmeister« bzw. »Reimenschmid« zum »Dichtmeister« gradualisiert: auf den »Reimenschmid« folgt der »Reimer«, auf den »Reimer« der »Reimendichter«, auf den »Reimendichter« der »Dichter, auf den »Dichter« schließlich der »vollkommene Dichtmeister«. Vgl. Philipp von Zesen: Hochdeutsche Helikonische Hechel. Hamburg 1668. in: Sämtliche Werke. Bd. 11. Hg. von Ferdinand van Ingen, bearbeitet von Ulrich Maché. Berlin/New York 1974. S. 8f. Die Unterscheidung von poeta und versificator kennt bereits der Humanismus. Vgl. Scaliger: Poetices libri Septem [1561], 1. Buch. a.a.O., S. 73. Die inventio des Dichters wird hier allerdings zusätzlich an die musische Inspiration gebunden. Ein weiterer Beleg bei Jacobus Pontanus: Poeticarum Institutionum Libri Tres. Ingolstadii 1594. fol )(5b: »Est vero inter illos et hos (d.i. poetas et versificatores, I.S.) tantum discrimen, quantum profani vix credere possunt.«
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Klaj: Lobrede [1645]. a.a.O., S. 389. Analog fordert Alhardus Moller, daß der Poet »in allen Theilen der welt-weißheit / auch beides in lengst- und erst-jüngst verstrichenen Weltgeschichten / ja alles auff einmal ausredend / in vielen / so wol Himmel; als Erbeliebigen Wissenschaften erfahren und belesen« zu sein habe. Moller: Tyrocinium Poeseos Teutonica, Das ist: Eine Kunst- und grund-richtige Einleitung zur Deutschen Verßund Reimkunst. Braunschweig 1656. S. 4. Vgl. Dyck: Ticht-Kunst. a.a.O., S. 122ff; Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 61ff; Bamer: Barockrhetorik. a.a.O., S. 232ff. Bamer: Barockrhetorik. a.a.O., S. 133.
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gerade weil es aus seinen ursprünglichen Quellenkontexten vollständig gelöst ist, in Zitatform präsent gehalten werden muß und daher von spezifischen Verwaltungs- und Speichertechnologien durchgearbeitet wird. Diese Wissensverwaltung im Bereich der »Wissenschaften und freyen Künste« 179 macht im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, nach dem Ende des polymathischen Wissens, einem philosophisch-kritischen Paradigma Platz, das über die Befolgung hinreichend »richtiger Grundregeln« 180 eine wissenschaftsanaloge Reflexionssicherheit gewinnen möchte. 181 Und weil diese Grundüberzeugung zunächst noch Frieden in der gelehrten Republik garantiert, können die Kritischen Dichtkünste zwischen Leipzig und Zürich ihre »richtigen Grundregeln« gemeinsam an einer vernunftvoll eingerichteten Schöpfung bemessen, die der Poet unter Erfüllung spezifischer Anforderungen 182 nachzuahmen hat: Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingefuhret worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an; sondern sie haben ihren Grund in der unveränderten Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und der Harmonie. (123) [...] Die Nachahmung der vollkommenen Natur, kann also einem künstlichen Werke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstände gefällig und angenehm wird; und die Abweichung von ihrem Muster, wird allemal etwas ungestaltes und abgeschmacktes zuwege bringen. (132) Freilich: Wie lassen sich »Vollkommenheit« und »Abweichung«, Regelkonvergenz und Regelverfehlung überhaupt lokalisieren? Es sind diese (vagen) Differenzen, die bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts die Ausdifferenzierung einer Sondersemantik nahelegen, die es erlaubt, die grundsätzlich zu vermeidenden Regel- und Verfahrensunsicherheiten des Poeten begrifflich aufzuspüren. >Blödigkeitpolitischen< bzw. >weltklugen< Interaktionsideale entstanden, 183 bezeichnet im 17. und 18. Jahrhundert alle Formen der
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Harsdörffer: Poetischer Trichter. 1. Teil [1647], a.a.O., S. 5. Gottsched: Critische Dichtkunst [1730/"l751]. a.a.O., S. 95. Diesen Paradigmenwechsel betonen auch Grimm: Literatur und Gelehrtentum. a.a.O., S. 620ff. und Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 69. Der Tugendkanon lautet: 1. »Witz« (102), 2. »Einbildungskraft« (103), 3. »weitläufige Gelehrsamkeit« (105), 4. »gründliche Erkenntniß des Menschen« (107) 5. Kenntnis der »Sittenlehre« (ebd.) und 6. »Urtheil des Verstandes« (108). Vgl. Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O. S. 16ff. Blödigkeit meint seiner ursprünglichen Bindung an Interaktion gemäß die Abwesenheit der Fähigkeit, der Konversation schnell und angemessen Beiträge zu liefern. Das Kernproblem des Blöden besteht in der Neigung zu Überreflexionen, die den Kandidaten im Diskurs permanent zu spät kommen lassen, so daß die occasio, die günstige Gelegenheit, ungenutzt verstreicht. Blödigkeit kann im übrigen an einer passenden Körpersemiotik (Erröten, Stottern etc.) abgelesen werden.
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»Unsicherheit über das, was zu tun ist« (188) und umreißt damit Unbestimmtheitslagen, die auf allen Feldern regelhaften Verhaltens auflaufen können. Was das Konzept >Blödigkeit< im Feld der Poesie der Beobachtung preisgibt, entspricht daher dem, was der >KIuge< in der Interaktion vermissen läßt: Wie der Politicus die Gelegenheit zur kommunikativen Profilierung vorübergehen läßt und seine Interaktionsunsicherheit im Schweigen verbirgt (und dadurch gerade zeigt), so mangelt es dem >blöden< Poeten an der sicheren Beherrschung seines Metiers: >blöde< ist, wer seiner Erfindungsgabe keine Einfálle abzuringen vermag, wer das decorum mißachtet oder wer die rechte Gelegenheit zur Anfertigung eines Gelegenheitsgedichts verstreichen läßt. Gleichwohl ist >Blödigkeit< immer schon insoweit produktiv auf die fehlende Regelsicherheit bezogen, als >Blödigkeit< durch wiederholte und geduldige Übung (exercitatio) gerade überwunden werden kann. Gottscheds Empfehlungen zur Ausbildung des Redners, die grundsätzlich auch für den Poeten gelten, zeigen, daß die Erfahrungen des >blöden< Dichters einerseits zwar die Kehrseite des poeta doctus bilden, andererseits seinen Perfektionswillen aber in entscheidender Weise allererst motivieren: nur wer einmal >blöde< gewesen ist, übt sich im Umgang mit den Regeln, um seine Geschicklichkeit zu fördern: Nichts ist nemlich einem so unanständig und hinderlich, als die Blödigkeit und Furchtsamkeit des Gemüthes. [...] So muß man theils die Knaben unter viele Leute bringen, daß sie in dem Umgange mit andern die Blödigkeit ablegen lernen, teils muß man sie durch das Lob ihres Wohlverhaltens und ihrer bereits erlangten Gelehrsamkeit, zu einigem Vertrauen auf sich selbst bringen: Bis sich endlich mit wirklich anwachsender Geschicklichkeit, auch die Blödigkeit völlig verlieret.'84
Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird sich der Poet bewußt zur >Blödigkeit< bekennen und damit jenen individualitätsreferentiellen Neuansatz vollziehen können, der die moderne Literatur auf den Flügeln des Genies beginnen läßt. 185 Das >blöde< Genie zeichnet sich fortan dadurch aus, daß es die alten Regeln bewußt verletzt, um »selbst schöpferisch eine neue Bahn zu finden«. 186
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Gottsched: Ausführliche Redekunst [1734/s1759]. 1. Teil. a.a.O., S. 56f. Vgl. Gerhard Plumpe: Kunst ist Kunst. Vom Subjekt zur Tautologie, in: Symptome. Zeitschrift für epistemologische Baustellen 6 (1990). S. 66-75, sowie ders.: Epochen moderner Literatur. a.a.O., S. 80-84. Jakob Friedrich Abel: Rede über das Genie. Werden grosse Geister geboren oder erzogen und welches sind die Merkmale derselbigen? Neudruck der Rede Abels vom 14.12.1776 in der Herzoglichen Militär-Akademie zu Stuttgart. Mit einem Nachwort hg. von Walter Müller-Seidel. Marbach a.N. 1955. S. 31. Zur zeittypischen Metaphorik der exzentrischen Bahnen, auf denen sich das Genie kometengleich bewegt, vgl. Georg Stanitzek: Genie: Karriere/Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18. Jahrhunderts und zu
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Nun sind die >neuen Bahnen< des Genies freilich solange nicht in Sicht, wie der Poet generelle Regularien befolgt, an denen er, im Unterschied zum Genie, kein exklusives Besitzrecht reklamieren kann. Die Poetik Alteuropas erblickt in den konkreten Regeln vielmehr ein Gemeingut, das zwar individuell aneignungsfähig ist, gleichwohl aber von jedem beliehen und benutzt werden kann; >persönlich< ist allenfalls die je unterschiedliche Form und Qualität der Aneignung durch die Kombinations- und Anwendungsgabe des Poeten. Bereits Horaz hatte diesen Sachverhalt in den Kategorien des römischen Privatrechts formuliert; »difficile est proprie communia dicere«, »schwierig ist, Allgemeines individuell zu sagen«, aber, so Horaz: »publica materies privati juris«, »Allgemeingut gerät unter privates Besitzrecht«. 187 Noch Gottsched wird seiner Critischen Dichtkunst eine Übersetzung der Ars Poetica voranstellen und damit bestätigen, was des Poeten in voreigentumsrechtlicher Zeit, und das heißt: auch im 18. Jahrhundert ist: »Es steht ja Dichtern frei, sich aus bekannten Sachen, Durch Witz und Kunst und Fleiß ein Eigenthum zu machen.« 188 Was dieser voijuristischen Perspektive in besonderem Maße entspricht, ist die barocke Tradition der exempla, die, gestützt auf einen institutionalisierten Schulbetrieb, gegen Ende des 17. Jahrhunderts schließlich in die einschlägigen Anthologieformen - Schatzkammern, Florilegien, Aeraría poetica - mündet: als Sammel- und Umschlagplätze für einzelne Sentenzen, Texte oder ganze Werkteile, die nach den Gesetzen rhetorischer Texterzeugung wieder in Texte fließen und die Spur ihres Urhebers verwischen. Die alteuropäische Gleichgültigkeit gegenüber dem Autor(namen) und seiner - wie man es später nennen wird - »eigentümlichen« 189 Leistung hängt insofern eng mit der Struktur barocker Datenbanken zusammen: wo jeder Text beliehen werden kann, dient die Nennung des Autornamens lediglich dem Nachweis einer bildungs- und traditionsgesicherten Musterhaftigkeit, nicht aber dem Schutz eines geistigen Eigentums. Was das 17. Jahrhundert seinen Poeten empfiehlt, bewegt sich dementsprechend auch außerhalb juristischer Regelungssicherheiten. Sigmund von Birken verweist den Gedanken, Texte aus Texten emergieren zu lassen, 1679 an die alteuropäische Diätetik: wie im Reich der Insekten Nektar zu Honig verdaut werde,
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J.M.R. Lenz, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998. S. 241-255, bes. S. 246f. Horaz: Ars Poetica. a.a.O., S. 13. Johann Christoph Gottsched: Horaz von der Dichtkunst, an die Pisonen. in: Critische Dichtkunst [ m o ^ m i ] , a.a.O., S. 25. Vgl. Gerhard Plumpe: Eigentum - Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert, in: Archiv filr Begriffsgeschichte Bd. XXIII (1980). S. 175-196.
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so müsse der Poet die fremde Text->Speise< sorgsam verdauen, um einen erkennbar eigenen Text vorlegen zu können: Wer wol Poetisieren wil / der lese erstlich ein gutes Latein- oder Teutsches Gedichte von selbiger Materie: ein Geist / wird den andern anzünden. [...] Man darf wohl borgen / oder übersetzen: aber man muß denjenigen nennen / von dem geborget / und nicht zum Diebe werden. Man muß entnehmen / wie die Bienen ihr Honig aus den Blumen. Man muß das Gehirne zum Magen machen / der die Speise / nicht wie er sie empfangen wieder heraus kotze / sondern verdeue und in eignen Nahrungs-Saft verwandle.190 Auch Harsdörffer qualifiziert das »listige Stehlen« 1653 als »zulässig«, 191 und noch 1739 bestätigt der Hamburger Musiktheoretiker und Jurist Johann Mattheson Legitimität und Legalität des geistigen Beleihens, wenn das Entliehene einen deutlichen Vorzug vor dem Original nachweisen kann: Entlehnen ist eine erlaubte Sache; man muß aber das Entlehnte mit Zinsen erstatten, d.i. man muß die Nachahmungen so einrichten und ausarbeiten, daß sie ein schöneres und besseres Ansehen gewinnen, als die Sätze, aus welchen sie entlehnt sind." 2 Recht verstanden liegen Eigentumsbestimmungen im modernen Sinne
freilich
auch dezidiert außerhalb des poetologischen Denkens. Für die Poetik Alteuropas muß vielmehr jene prinzipielle Möglichkeit erfüllt sein, die Johann Jakob Bodmer noch 1740 im Blick auf sein eigenes Werk in Rechnung stellte: daß nämlich »ein jeder Mensch in gleichmässigen Umständen eben dergleichen Werck hätte verfertigen können.« 193 Nur so ist das barocke Projekt denkbar, alle Menschen zu Schreibern und Autoren werden zu lassen. Und weil diese Möglichkeit grundsätzlich erfüllt sein muß, kommt das Recht des Autors an seinem Werk im 16. und 17. Jahrhundert allenfalls in Druckrechten zum Ausdruck, die - regional begrenzt und zeitlich befristet - unautorisierte Eingriffe in das Werk verhindern sollen, Autorenrechte im engeren Sinne aber kaum wahrnehmen können. Was dem juristischen
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191
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Schutz anvertraut wird, ist lediglich »die Integrität des
Birken: Ternsche Rede- bind- und Dicht-Kunst [1679]. a.a.O., S. 178. Birken bezieht sich auf das Bienengleichnis, das dem 17. Jahrhundert vornehmlich durch die Epistulae morales des Seneca (84. Brief) vermittelt wird. Harsdörffer: Poetischer Trichter. Teil 3 [1653]. a.a.O., S. 41. Zudem legt Harsdörffer nahe, »nicht allezeit« zu »vermelden / aus wem« einzelne Textpartien »entnommen worden.« Johann Mattheson: Der getreue Capellmeister. Hamburg 1739. Faksimilenachdruck Kassel 21954. S. 131. Johann Jakob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Zürich 1740. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966. S. 6f.
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Werks«, 194 nicht aber das geistige Eigentum des Autors. Zudem ist die Regelungskraft der Druckrechte offenbar gering, wie die Masse der »Protestationen« zeigt, die die Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts gegen unautorisierte Drucke erheben. Noch 1694 klagt Christian Thomasius gegen Unachtsamkeiten und Flüchtigkeiten innerhalb eines hochgeschätzten Mediums, dessen bewegliche Lettern neben unschätzbarem Wissen auch Fehler produzieren: Also erkläre ich hiermit öffentlich, daß die Konfession und Tabelle ohne meinen Konsens [...] gedruckt sei und ich diese Schrift wegen der vielen Druckfehler flir die meinige nicht erkenne, sondern bitte alle hohe und niedere Obrigkeiten, unter welche dieselbe verkauft wird, selbige zu konsfiscieren und dem Verleger gebührend zu bestrafen." 5
Gleichwohl fuhrt der im Verlauf des 18. Jahrhunderts durchgreifende Austausch der tragenden Rechtskonstruktionen auch in der Republik der Gelehrten zu einem erhöhten Interesse an eigentumsrechtlichen Fragen. »Eigenthum« steigt auf den Flügeln naturrechtlicher Konzepte (John Locke) zu einem der Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit196 auf und wird von dort in den Kontext des bürgerlichen Besitzrechts überstellt, das individuelle Besitzansprüche freilich immer an der Solidarverpflichtung der Besitzenden reguliert: das Individualrecht über das »Eigenthum« des Einzelnen reicht nur soweit, wie es die eigene »Nothdurft« erfordert und die Bedürfnisse anderer nicht beeinträchtigt. Gerade weil das Naturrecht die natürliche Gleichheit der Menschen und die »Gemeinschaft aller Güter« (178) herbeisehnt, relativiert sich das »Eigenthum« (ebd.) einzelner immer schon an des »Nechsten Glückseligkeit« (180). Was das frühe Naturrecht für die Schematisierung des literarischen Eigentum leistet, ist letztlich ambivalent und führt zu keiner Regelungssicherheit, weil Eigentumsansprüche idealerweise von einer unsolidarischen Dominanz des Individualrechts freibleiben sollen, wie die Schutzgegenstände ihre Bedeutung ohnehin nur als materielle »Güter« (ebd.) gewinnen. »Der Endzweck aller Eigenthümer ist«, so Gottsched, »daß es uns
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1,5
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Walter Bappert: Wege zum Urheberrecht. Die geschichtliche Entwicklung des Urheberrechtsgedankens. Frankfurt/M. 1962. S. 151. Rechtshistorisch wird man das Bemühen um autorisierte, d.h. den Intentionen des Autors entsprechende Drucke allerdings als Ansätze zu einer persönlichkeitsrechtlichen Perspektive werten müssen, auf der das moderne Urheberrecht als dezidiertes Persönlichkeitsrecht fußt. Christian Thomasius: Erinnerung wegen einer gedruckten Schrift. Leipzig 1694. in: ders.: Kleine deutsche Schriften. Halle 1701. S. 735ff. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit. Leipzig 1733. Unveränderter Nachdruck Frankfurt/M. 1965. Der Practischen Weltweisheit Andrer Theil: Das Recht der Natur. Das V. Hauptstück von den Pflichten im Absehen auf das Eigenthum. S. 178-189.
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nicht an Mittel fehlen möge, unsre eigene und andrer Leute Wohlfahrt zu befördern.« (181) So wenig die frühe naturrechtliche Rechtspraxis Eigentumsansprüche des Autors an seinem Werk durchsetzen kann, so gering sind schließlich auch die Chancen, ökonomische, d.h. geldwerte Ansprüche durch die Abgabe eines Buches einzuklagen. Analog zur schmalen Regelungsbasis des Rechts beruht die gelehrte Kultur Alteuropas auf der Gewohnheit, weitergehende, d.h. geldwerte Nutzungsrechte eines Autors an seinem Werk auszuschließen. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ist es üblich, den Publikationen eines Autors lediglich ein honorarium, eine Ehrengabe zuzumessen, die der aufgewendeten Arbeit am Manuskript eine symbolische Anerkennung zollt, keineswegs aber eine leistungsäquivalente Entlohnung darstellt. In diesem Sinne definiert Zedlers UniversalLexikon das honorarium 1735 als Erkenntlichkeit, oder Vergeltung, Verehrung, Discreción, Besoldung, bestehet in einer freyen Willkühr und hat keine Proportion oder Gleichheit gegen die geleisteten Dienste, differiret von Mercede oder Lohne, so von denen Contrahenten ausdrücklich bedungen, und zwischen solchen und der Arbeit eine Gleichheit beobachtet wird." 7
Was dem Autor im Rahmen des honorarium in aller Regel gewährt wird, sind Ämter, Titel, Pensionen oder Sachdonationen, die weiterführende wirtschaftliche Ansprüche aber dezidiert ausschließen. Verwertungsrechtliche Regelungen, die den Autor für die investierte geistige Arbeit ökonomisch entschädigen, entfalten erst um 1800 ihre Bedeutung, als Eigentumsfragen in grundsätzlicher Weise vom Recht bearbeitet werden. Daß der Autor nun dezidiert als Eigentümer seines Werks auftreten kann, setzt freilich voraus, daß er seine Eigentumsansprüche auf etwas anderes als auf gelehrte Regeln gründet. 198 Sie bleiben ein Gemeingut, an der die >Eigentümlichkeit< des Autors nicht ablesbar ist.
" 7 Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 64 Bde. Halle/Leipzig 1732-1750. Nachdruck Graz 1961-1964. Bd. XIII. S. 382. 198 Vgl. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethe-Zeit. Paderborn u.a. 1981; Plumpe: Eigentum - Eigentümlichkeit. a.a.O.; ders: Der Autor als Rechtssubjekt, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft Grundkurs 2. Reinbek 1981. S. 179-193; ders.: Kunst und juristischer Diskurs. Mit einer Vorbemerkung zum Diskursbegriff, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1988. S. 330-345, sowie Raimar Stefan Zons: Über den Ursprung des literarischen Werks aus dem Geist der Autorschaft, in: Kolloquium Kunst und Philosophie 3: Das Kunstwerk. Hg. von Willi Oelmüller. Paderborn u.a. 1983. S. 104-127.
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6. Hermeneutische Textanschauung: der Kunstrichter »Ein Kunstrichter zu seyn«, so August Wilhelm Schlegel 1798, »nämlich der über Kunstwerke zu Gericht sitzt und nach Recht und Gesetz Urtheil spricht, ist etwas eben so unstatthaftes als unersprießliches und unerfreuliches. Mit Einem Worte, da die Wahrnehmung hier immer von subjektiven Bedingungen abhängig bleibt, so lasse man ihren Ausdruck so individuell, das heißt so frey und lebendig seyn wie möglich.«199 Schlegels Austreibung des Kunstrichters aus der Literatur, die einmal mehr eine Feier der Individualität darstellt, ist gegen 1800 keineswegs eine exzentrische Position. Daß Literatur am Maßstab generalisierter Kriterien beobachtbar sein soll, die ein regelkundiger Fachmann, der Criticus, über das Werk legt, um den Poeten mit sicherem Blick >blöde< Verfahrensfehler nachzuweisen, gehört zu jenen poetologischen Axiomen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert Opfer eines autonomieästhetischen Aufbruchs werden. Schlegel hätte sich auf dem Schwung dieser Diagnose übrigens mit Karl Philipp Moritz treffen können, der bereits 1791 angemerkt hatte, daß »über das Eigentümliche keine Regeln stattfinden].« 200 Wer fortan von Kritik sprechen möchte, bedarf einer Kunst der Subjekt-Auslegung, die das >Eigentümliche< und Individuelle allererst aufspürt. Das kurze Glück des Kunstrichters hat neben ästhetischen freilich auch wortgeschichtliche Gründe. Der Kunstrichter ist eine Neuschöpfung des frühen 18. Jahrhunderts, die als Übersetzung des lateinischen criticus Verbreitung findet. Erstmals belegt ist der Begriff in Gottscheds Critischer Dichtkunst,201 von hier aus findet er Eingang in eine Reihe von Schriften, die den Begriff und die Tätigkeit des Kunstrichters zunehmend popularisieren.202 Der Sache nach ist der
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August Wilhelm Schlegel: Beiträge zur Kritik der neuesten Litteratur. in: Athenäum I. 1 (1798). S. 147. Karl Philipp Moritz: Vorlesungen über den Styl [1791/93]. in: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Hg. von Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962. S. 270. Gottsched: Critische Dichtkunst [ H S O / ' n S l ] . Vorrede zur zweiten Auflage [1737], a.a.O., S. XXX. Gängig ist hier bereits die Anwendung des Begriffs auf antike Autoren (Aristoteles, Cicero, Quintilian); so sei Aristoteles »unter den Griechen [...] der beste Kriticus gewesen.« a.a.O., S. 97. - Zur Begriffsgeschichte vgl. grundlegend Werner Strube: Kleine Geschichte des Begriffs >KunstrichterBuchstaben< den >Geist< des Textes nicht vergißt und dessen Sinn im Prozeß einer >critischencritischenKunstrichter Schreibarten^ wie sie in den Critischen Dichtkünsten Gottscheds und Breitingers ausgebreitet werden, kennen die materiale bzw. ständische Stillehre der Barockpoetiken. So unterscheidet Johann Jakob Breitinger im Rahmen seiner Überlegungen zur »Schreibart insgemein«17 einen elokutiven Stilbegriff- zur Diskussion steht die »Art des Ausdrucks« (295) - von einem materialen Stilkonzept, das seine Differenzierungen »in der verschiedenen Natur und Würde der Sachen« (ebd.) findet. Breitingers Critische Dichtkunst findet damit kurzerhand in die Beobachtungsgewohnheiten des 17.
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Kempe/Neumark: Poetische Tafeta [1667]. a.a.O., S. 313. Stieler: Dichtkunst des Spaten [1685]. a.a.O., V. 931ff. Breitinger: Critische Dichtkunst [1740], a.a.O., S. 287ff.
Stil
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Jahrhunderts zurück: Die Stufenfolge des Seins legt die Würde der Gegenstände (res) fest, die die Worte (verba) repräsentieren und in einer analogen Hierarchie der genera dicendi anordnen. 18 Solange die Geltung dieser stratifizierten Ontologie unwidersprochen hingenommen wird - und selbst die Differenzen zwischen Leipzig und Zürich befrieden sich an dieser Frage - bleibt Stil ein Repräsentationsstil, der die Ordnungen der Dinge und der Personen wiederholt und Poeten damit aufschreiben läßt. Wie groß jedenfalls die Traditionszwänge im 18. Jahrhundert sind, zeigt Breitinger, wenn er die ras-veria-Repräsentation in das überlieferte Dreistilschema überstellt: »hohe Dinge« (295) sind im genus »mittelmäßige« im genus mediocris
grande,
und »schlechte« im genus humilis zu bear-
beiten: Denn gleichwie die Sachen [...] von ungleicher Achtung und Würdigkeit sind; der Ausdruck aber, der aus einer geschickten Zusammensetzung der Wörter erwächst, den Sachen allemahl muß gerecht und gemäß seyn; so ist auch die Schreibart nach dieser Verschiedenheit der Sachen in Absicht auf ihre Würdigkeit von den Kunstlehrern in die hohe, mittlere und niedrige eingetheilt worden. Dahero sie auch anbefehlen, daß man von hohen Dingen prächtig und zierlich, wie es die Würdigkeit derselben erfordert, von schlechten und gemeinen Dingen einfältig und ungekünstelt, von mittelmässigen aber aequabili stylo rede und schreibe. (295f.) Insgesamt ist Breitingers Verbeugung vor der Dreistillehre eine Reverenz an ältere Theorietraditionen, die auch noch im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ihre Geltung besitzen. Leitend ist 1740 aber der entschiedene Versuch, Stil erneut ausschließlich elokutiv zu begründen und über Kriterien des Wortklangs, der Semantik und der Tropisierung bzw. Figurierung des Schreibens zu differenzieren. Systematisches Ziel ist nach einer Reihe anderer »Schreibarten« die »figürliche oder verblühmte Schreibart« (306), die als tropisierter Stil von der »eigentlichen« (ebd.), also nicht-übertragenen bzw. nicht-bildhaften Rede unterschieden wird. 19 Der »verblühmte« Stil erfüllt damit alle wesentlichen Kriterien des
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Vgl. Reinhart Meyer: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers, in: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt/M. 1978. S. 39-82. bes. S. 68f. Vgl. auch Kap. IV, 9. Bemerkenswert sind Breitingers Überlegungen zur Genese des »figürlichen« Ausdrucks: Weil »keine Sprache in der Welt« die Fülle der »Dinge« lexikalisch erfassen könne bzw. kein »Gedächtnis« so »geraum« sei, habe der »menschliche Witz [...] nicht die Zahl der Wörter, sondern bloß den Gebrauch ihrer Bedeutungen vermehret und vermannigfaltiget.« (308f.) Gleichwohl können die »verblühmten Ausdrücke [...] mit dem Lauffe der Zeit zum theil [...] naturalisiert werden, daß man sie kaum noch für figürliche Ausdrückungen nimmet« (309). Damit ist der Prozeß von Automatisierung und Entautomatisierung lange vor Sklovskij beschrieben.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
traditionellen genus grande, bildet gleichwohl nicht mehr die Spitze eines hierarchisierten Stilsystems, das über interne Rangfolgen reguliert wird. Seine Kontur erhält der »verblühmte« Stil - sieht man von seiner >natürlichen< Differenz zur proprietas der eigentlichem Rede ab - ausschließlich über seinen Funktionsbezug, den Breitinger »so wohl in Absicht auf die Annehmlichkeit, als auf den Nachdruck der Rede« bestimmt (315): Weil die »verblühmte Schreibart« motivierte, also Ähnlichkeiten und semantische Äquivalenzen erzeugende Bilder nutzt, gelingt es ihr, das Gesagte für den Beobachter und das heißt: zu seinem »Ergetzen« (316) zu vergegenwärtigen und vor Augen zu stellen. Der »verblühmte« Stil steht insofern auf dem Boden einer Poetik der Anschaulichkeit, die die alteuropäische Tradition gewöhnlich im Umkreis ihrer einschlägigen Repräsentations- und Imaginationskonzepte (fantasia, evidentia, enargeia) lokalisiert hatte:20 Diese gantze Betrachtung nun führet uns auf den Schluß, daß die figürliche und verblühmte Schreibart einen grossen Vorzug so wohl in Absicht auf die Annehmlichkeit, als auf den Nachdruck der Rede, über die gemeine und eigene verdiene, welcher hauptsächlich daher rühret, weil sie die Sachen nicht bloß durch willkührliche Zeichen, die mit den Bedeutungen nicht die geringste Verwandtschaft haben, zu verstehen giebt; sondern dieselben über das noch durch ähnliche Bilder so deutlich vor Augen mahlet, daß man sie nicht ohne Ergetzen unter einem so richtigen und durchscheinenden Bilde erkennen und entdecken muß. [...] Der figürliche und verblühmte Ausdruck läßt uns die Gedancken nicht bloß aus willkührlichen Zeichen errathen, sondern machet dieselben gleichsam sichtbar [.. .].21
Während die »figürliche Schreibart« eine »angenehme Entzückung der Einbildung« (353) bewirkt und damit ihre Nähe zur alteuropäischen Imaginationspoetik dokumentiert, wendet sich die »pathetische, bewegliche oder hertzrührende Schreibart« (352f.) als Sprache der Empfindung unmittelbar an die Affekte und Passionen. Rührung, die sanfte oder machtvolle Bewegung der Seele, des Herzens oder der Leidenschaften und Produkt des »hertzrührenden« Stils, bewirkt, daß der Leser am Dargestellten unmittelbar Anteil nimmt. Breitingers »hertzrüh-
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Vgl. nur Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der WortBild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. S. 272ff. und Andreas Solbach: Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmodeme und ihre antiken Quellen. München 1994. S. 75ff. Zur Aufnahme dieser z.T. korrumpierten Traditionen bei Bodmer und Breitinger vgl. Kap. IV, 9. Breitinger: Critische Dichtkunst [1740]. a.a.O., S. 315f. Die repräsentierende Leistung der »verblühmten« Schreibart beruht also darauf, arbiträre (»willkührliche«) Zeichen durch »ähnliche Bilder«, d.h. durch semantisch motivierte Wortbeziehungen zu ersetzen.
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rende Schreibart« kann die damit verbundene Zumutung, den Energietransport der Affekte von der Schrift in das Sensorium des Lesers leisten zu müssen, auf einen Raum der Repräsentation stützen, in dem die Schrift die Passionen lediglich verdoppelt und wiederholt: die »hertzrührende Schreibart« ist die Sprache der Leidenschaften selbst, die sie restlos vertritt und im Stil des rührenden Werks - wie Rüdiger Campe gezeigt hat - literalisiert:22 Die figürliche Schreibart machet uns glauben, wir sehen die Sachen als gegenwärtig vor uns, und betrieget uns auf eine unschuldige Weise durch den Schein der Wahrheit und Würcklichkeit; die bewegliche hergegen erweiset ihre Kraft damit, daß sie uns nöthiget, an den vorgestellten fremden Handlungen und Angelegenheiten, als Menschen von gleicher Natur Theil zu nehmen, und durch die Gemeinschaft eben derselben innigen Rührungen für ihr Wohl nicht weniger besorget und unruhig zu seyn, als für unser eigenes [...]. Die bewegliche und hertzrührende Schreibart ist nichts anders, als eine ungezwungene Nachahmung derjenigen Sprache oder Art zu reden, welche die Natur einem jeden, der von einer Leidenschaft aufgebracht ist, selbst in den Mund leget. Die Leidenschaften haben demnach ihre eigene Sprache und eine ganz besondere Art des Ausdrucks. (353f.) Was die »hertzrührende Schreibart« an den historischen Rändern jener Epoche, die Foucault die Epoche der Repräsentation genannt hat,23 eröffnet, ist die Duplikation und Wiederholung der »Leidenschaften«, die die schriftliche Kommunikation als »Sprache der Gemüths-Bewegung« 24 mitsamt ihren scheinbar rhetorikfernen Unmittelbarkeiten, Ellipsen, Anakoluthen, Seufzern und »hitzigen Unbedachtsamkeiten« (371) in den Text der Aufklärung legt. Breitinger wie auch Gottsched identifizieren die »hertzrührende« bzw. »pathetische Schreibart« 25 mit einem regellosen Diskurs, der »grammatische
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Vgl. Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge. a.a.O., bes. S. 78ff. Bodmer: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter. Zürich 1741. Nachdruck Frankfurt/M. 1971. S. 313. Gottsched: Critische Dichtkunst [ m o / 4 ^ ! ] . a.a.O., S. 372. Gottsched behält die Dreistillehre formal bei, verweigert aber, ähnlich wie ein Jahrzehnt später auch Breitinger, die durchgängige Hierarchisierung der einzelnen genera. Das Einheitskriterium der drei Stile ist vielmehr die officia-Lehre: der »natürliche oder niedrige« (355) Stil will »unterrichten und lehren« (356), der »sinnreiche oder sogenannte hohe« (355) »belustigen« (356), der »pathetische, affectuöse, oder feurige und bewegliche« (355) schließlich »bewegen« (356). Breitinger: Critische Dichtkunst [1740], a.a.O., S. 254.
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Die Eigenschaft dieser Sprache bestehet demnach darinnen, daß sie in der Anordnung ihres Vortrags, in der Verbindung und Zusammensetzung der Wörter und Redensarten, und in der Einrichtung der Rede=Sätze sich an kein grammatisches Gesetze, oder logicalische Ordnung [...] bindet: sondern der Rede eine solche Art der Verbindung, der Zusammenordnung und einen solchen Schwung giebt, wie es die raschen Vorstellungen einer durch die Wuth der Leidenschaften auf einen gewissen Grad erhitzten Phantasie erheischen; also daß man aus der Form der Rede den Schwung, den eine Gemüthes=Leidenschaft überkommen hat, erkennen kann. (354f.)27 Poeten sind damit immer schon Medientheoretiker, weil sie der Schrift und dem Faktum des Geschriebenseins aller Kommunikation die Aufgabe zuweisen, Affektenergien, die zu ihrer Realisierung bislang einer mnemotechnischen und körperlich-gestischen Performanz bedurften, allein aus den Eigenenergien der Schrift heraus zur Wirklichkeit zu verhelfen. Hinter den »Schreibart«-Lehren Gottscheds, Bodmers und Breitingers steht der eminente Versuch, das Denken der Repräsentation für eine Schließung von Bewußtsein und Kommunikation fruchtbar zu machen: Gerade weil die »hertzrührende« bzw. »pathetische Schreibart« die Bewegungen und Rührungen des Gemüts mitsamt ihrer Semiotik des Seufzens und atemlosen Verschweigens stellvertretend zeigen kann, rückt Stil zu einer Schnittstelle auf, der Kommunikationssystem und Bewußtseinssystem, Schrift und Affekt vor die Suggestion ihrer Mitteilbarkeit führt. Das Schicksal dieser Suggestion ist bekannt: Werther und mit ihm eine Epoche der kommunikativen Verstörung wird das geniale Schweigen favorisieren, weil sich das Wesentliche der Leidenschaften auf dem Weg in die symbolischen Ordnungen von Sprache und Schrift nicht mehr oder nur unter enormen Verlusten mitteilen läßt. Nun kennen die Kritischen Dichtkünste zwischen 1730 und 1740 durchaus ihre poetologischen Traditionen. Was Gottsched im »XI. Hauptstück« über die »poetische Schreibart« verschweigt, hat das »IV. Hauptstück« zur Beruhigung der gelehrten Welt bereits vorgetragen: die »Schreibart« ist auch 1730 und noch 1751, in der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst, sprachliche Repräsentation eines hierarchischen Kosmos, in dem Dinge und Menschen, Gattungen und Fabeln als Rangfolge zur Anordnung kommen. Wie im 17. Jahrhundert werden die »Schreibarten« auch bei Gottsched durch ein ständisches decorum zur Geltung gebracht und in analoge genera carminis überstellt, die ihre Elemente - Personen, Stile und Themen - einmal mehr nach einer leitenden >oben< / >untenSchwulstSchwulst< dient zur Lokalisierung von spezifischen Fehlern der »hohen Schreibart« (Hyperbolisierung der verba, übermäßige Verwendung der Tropen, obscuritas) und betrifft in der Hauptsache Autoren der zweiten schlesischen Schule (Lohenstein, Hoffmannswaldau) und der >silbernen< Latinität (Seneca). Vgl. nur Gottsched: Critische Dichtkunst [1730/1751], a.a.O., S. 278ff., sowie dazu Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit. a.a.O., S. 312ff. und erschöpfend Peter Schwind: SchwulstStil. Historische Grundlagen von Produktion und Rezeption manieristischer Sprachformen in Deutschland 1624-1738. Bonn 1977, ders.: Artikel >SchwulstSchwulstSchwulstSchwulstpolitische< bzw. >galante< Erfolgsmoral teilt diesen Funktionsansatz insofern, als sie den rhetorischen, und das heißt immer auch: stilistischen Kompetenzen des Politicus dezidiert Karrierewert verleiht und dessen geschickte Aufführung zur Steigerung von Abnahme- und Erfolgswahrscheinlichkeiten einsetzt. Auch wenn die politischen und galanten Ethiken im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend in das moralische Zwielicht
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Letztlich geht es um den Wechsel von Inklusion und Exklusion: die Gesellschaften Alteuropas sind Inklusionsgesellschaften, weil sie den Ort des Einzelnen durch Geburt und Schichtzugehörigkeit festlegen und Biographien in Lebenslaufmodellen entfalten. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme läßt Inklusion nur noch in temporalisierter Form zu, weil die Einzelperson »nicht mehr einem und nur einem gesellschaftlichen Teilsystem angehören« (Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. a.a.O., S. 158) kann. Moderne Gesellschaften sind Exklusionsgesellschaften, da sie die die Einzelperson in die gesellschaftliche Umwelt abdrängen und vor die Notwendigkeit führen, selbst Zugänge zu den einzelnen Funktionssystemen herzustellen: als Wähler, Käufer, Kläger oder Theaterbesucher. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. a.a.O., S. 232. Vgl. auch Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt/M. 1977. S. 277fF. Zur Differenz von Lebenslauf und Karriere vgl. auch Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O., S. 80f. und ders.: Genie: Karriere/Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18. Jahrhunderts und zu J.M.R. Lenz. a.a.O.
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bloßer Täuschung und Verstellung geraten,76 erzeugen die individuellen Karrierechancen des Politicus entsprechende Individualisierungs- und Abweichungszwänge, die ihm jene soziale Aufmerksamkeit verleihen, mit der er Erfolge im Blick auf die eigene Biographie zumindest einleiten und begründen kann. Was Weise im Rahmen seiner >politischen< Stillehre vorträgt, schafft einem individuellen Ausdrucksbegehren daher auch nur eingeschränkten Raum, weil das Reden und Schreiben des Politicus immer den Kontakt zur gesellschaftlichen Interaktion und ihren Schicklichkeitsanforderungen wahren muß. Stilistische Individualität kommt nur als espritvolle Neuanordnung und Variation des gängigen Ausdrucks (consuetudo) zur Geltung und reicht deshalb niemals über den Horizont der geselligen Konvenienz - ihrer »Mode« - hinaus, weil die Gesellschaft »auf Störungen mit Ausdruck von Mißachtung, Streit oder Abbruch der Kommunikation« reagiert.77 Was der Kandidat bei allen Ambitionen und latenten Erfolgsmotiven zu vermeiden hat, ist jene »Singularität«, die den sozialen Kontext aufsprengt und behindert, statt ihn geistreich und souverän fortzusetzen. Für alle Stände und alle Berufe gilt daher, daß wir einen iedweden erinnern / er wolle seinen Stand fleißig abwarten / damit sollen sich die anständigen Dinge von sich selber finden: hiernechst wolle er keine Singularität suchen / und etwas ungewöhnliches erzwingen. Denn wer die Mode nicht zu halten weiß / der ist im Verdacht / als wenn er keinen Ernst bey sich spürte / dem Stande nachzuleben.78
Die eigentlichen Kompetenzen des Politicus werden durch eine Disziplin umschrieben, die als Personal=Politica eine »Kunst der Menschenbeobachtung« einübt, um dem Einzelnen »über Aufbau, Motive, Fähigkeit und Grenzen anderer Menschen Rechenschaft zu geben«:79 >klug< und >politisch< ist, wer seinen »Stylus« adressatenbezogen ausrichtet und dazu alle Informationen nutzt, die ihm das beredte Spiel der Konversation zur Verfügung stellt. Weises Anforderungen richten sich auf ein >psychologisches< Informationskonglomerat, das der Politicus erstellt, indem er die adressierte Person nach »Amt und Verrichtungen«, nach »Rang und ihrer Extraction«, nach ihrem »äusserlichen Glücke«, nicht zuletzt
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Vgl. Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O., S. 17f., Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, sowie Kap. IV, 8. Luhmann: Interaktion in Oberschichten. a.a.O., S. 135. Christian Weise: Ausführliche Fragen über die Tugendlehre [1698], a.a.O., S. 612. »Nicht eigensinnig zu seyn« bzw. »Nicht singulier zu sein« fordert auch das Pensum der praktischen Galanterie Johann Christian Wächtlers. Zit. nach Conrad Wiedemann (Hg.): Der galante Stil 1680-1730. Tübingen 1969. S. 14. Elias: Die höfische Gesellschaft. a.a.O., S. 159.
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nach »Humeur und Inklination« 80 beobachtet, also berufliche, ständische und individuell->psychologische< Kennwerte sammelt, um sie für die Auswahl eines erfolgversprechenden Ausdrucks zugrundezulegen. Und wie diese Personalinformationen, zu deren Sammlung und Verzeichnung noch Julius Bernhard von Rohr die Einrichtung eines Buches empfiehlt, 81 Verfahrenssicherheit im politischem Reden und Schreiben garantieren, so müssen die einzelnen Stile an die >Inklination< und das >Naturel< des Adressaten angepaßt werden. Für Briefe im »lustigen Stylus« gelten daher Gesetze, die ihre Herkunft aus dem decorum externum, dem äußeren aptum, nicht verbergen können: Der lustige Stylus inclinirt entweder auf eine gantz ausgelassene Lustigkeit / da man sich recht bemühet / bey dem Leser ein Lachen zu verdienen. Und solcher schickt sich weder vor hohe Personen / bey welchen wir uns nicht sollen gemein machen; noch vor niedrige Personen / bey denen wir uns mit allzu grosser Familiarität nicht sollen prostituieren / auch nicht vor gleiche Personen / die uns nicht allzu bekandt / oder sonst unleidlich oder suspicieux seyn [...]. (239)82 Erst wenn >Naturel< und >Inklination< ihre Ansprüche auch auf Seiten des Schreibers geltend machen, gerät der Stil des Politicus in Unbestimmtheiten und Regellosigkeiten, die nun entschieden seiner Individualität geschuldet sind. Was Weise konzediert, ist die Abhängigkeit des Stils von individuellen Dispositionen und veranlagungsbezogenen Präferenzen, die regelhaft kaum mehr erfaßt werden können. >Inklination< - Neigung - und >Naturell< - Naturanlage - rücken zu Kontingenzformeln auf, die einer transnormativen, also kriteriell nicht mehr abgesicherten Stilwahl zumindest Begründungs- und Erklärungswerte an die Seite stellen. Noch das resultative Oratorische Systema schenkt einem Autor seine Stimme, der zeitlebens unter der »Inklination« zu einem »tieffsinnigen« Stil litt: Denn meine Inklination treibt mich allezeit zu einem tieffsinnigen und schweren Stylo; Doch ich habe mit selbst so widerstanden, ich habe auch viel Sachen offimahls ausgestrichen, biß ich mit einer leichten Expression bestehen kunte.83
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Christian Weise: Politische Nachricht von Sorgfältigen Briefen. Dresden/Leipzig 1693. Fol. ):( 7vf. Julius Bernhard von Rohr: Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, Darinnen gezeiget, In wie weit man aus eines Reden, Actionen und anderer Leute Urtheilen, eines Menschen Neigung erforschen könne [...]. Die andere Aufflage. Leipzig 1732. S. 160. Damit werden Interaktionsgewißheiten in Schrift gespeichert, um von dort wieder in Interaktion zurückzulaufen. Vgl. zur Ableitung der Personal=Politica aus einer gesteigerten decoram-Funktion Sinemus: Poetik und Rhetorik. a.a.O., S. 121 ff. Weise: Oratorisches Systema [1707]. a.a.O., S. 358.
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»Inklination« und »Naturel« finden dort allerdings ihre Grenze, wo die individuellen Stilpräferenzen den Erfolgsmotiven und Karrierechancen des Politicus im Wege zu stehen drohen. Die individuellen Stil->Inklinationen< werden daher laufend am Erfolgsprimat der politischen Kommunikation bemessen und bei Bedarf an der Kasuistik der Personal=Politica reguliert. Maßgeblich ist allein jener Stil, mit dem der Politicus situativ und im Blick auf den Adressaten den »besten Staat« zu machen glaubt: Wenn ich die Nacht nicht geschlaffen habe / oder wenn ich des Tages vorher mit einem guten Freunde etliche Stündgen habe verderben müssen / oder sonst die exhalationes den Kopf unruhig machen / da komm ich mehrenteils auf tieffsinnige / schwere und weitgesuchte Dinge. Wenn aber der Kopff wol auffgeräumet ist / daß ich zur Arbeit und zur Meditation gleich als zum Tantze gehe / so gerathen mir die Concepte gantz leicht und deutlich. [...] Unterdessen weil mir der schwere stylus zu verdrüßlichen Zeiten / der leichte zur glückseligen Zeit geschwinder zugerathen pfleget / so kann ein jeder gedencken / von welchem ich den besten Staat mache.84
Dem ausgesprochenen Pragmatismus der politischen Ethica entspricht eine Stilkasuistik, die - blickt man auf das rhetorische Gesamtwerk Weises - in immer neuen, gleichwohl uneinheitlichen Systematisierungsversuchen85 das Universum der möglichen >Reden< abzubilden oder zumindest annäherungsweise zu erfassen versucht. So unterscheiden die Curiösen Gedancken von Deutschen Brieffen 1691 einen »Stylus politicus«86 (auch »fluidus«, 486) von einem »Stylus sententiosus« (auch »abruptus«, 416f.), die beide zum »Stylus simplex« zusammengezogen und unter Einsatz von »allerhand prächtigen Galantereyen« (487), also durch eine Verstärkung des ornatus auf das Niveau des »Stylus floridus« (auch »panegyricus, oratorius, hoher, affectirter und prächtiger Stylus«, ebd.) angehoben werden können. Die Politische Nachricht von Sorgfältigen Briefen bevorzugt 1693 dagegen ein dreiteiliges Schema (»exzessif-höfflicher Stylus«, »mittelmässiger Stylus«, »verdrießlicher Stylus«),87 das seiner äußeren Struktur nach eine gewisse Nähe zur Dreistillehre aufweist, während die Institutiones Oratoriae 1695 lediglich einen »stylus naturalis« und einen »stylus artificialis«88 unterscheiden. Wie wenig Weise an einer einheitlichen Systematisierung interes-
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Christian Weise: Curiose Gedancken von Deutschen Versen. Leipzig 1693. S. 85. Vgl. die unterschiedlichen Einschätzungen bei Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 180ff., Barner: Barockrhetorik. a.a.O., S. 185 und Sinemus: Poetik und Rhetorik. a.a.O., S. 128. Weise: Curióse Gedancken von Deutschen Brieffen [1691]. a.a.O., S. 322ff. Weise: Politische Nachricht von Sorgfältigen Briefen [1693]. a.a.O., S. 249-253. Christian Weise: Institutiones Oratoriae Ad Praxin Hodierni Sécula Accomodatae [...]. Leipzig 1695. S. 343f.
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siert gewesen ist, zeigt das Oratorische Systema (1707), das als Schlußpunkt der Diskussion zur Systematik von 1691 zurückkehrt, 89 zugleich aber eine Reihe von »Manieren« (370ff.) mitaufiiimmt, die ihrerseits wieder an den Institutiones orientiert sind. Auch an Weises Stilkasuistik wird letzthin ablesbar, wie eng das ausgehende 17. Jahrhundert die Grenzen für einen Individualstil gezogen hat. 90 Solange individuelle >Inklinationen< an ständischen Schicklichkeitsanforderungen, konversationsbezogenen Fortsetzungszwängen und konkurrierenden Stilsystematiken verrechnet werden, dient der Stilbegriff dazu, Individualität als Störquelle aus der Kommunikation wirkungsvoll auszuschließen, weil die Sinnebene des Stils noch immer in der Generalisierung von Kommunikationen liegt. Was Weises Stiltheorie, aller Innovationen und Lockerungen zum Trotz, an traditionelle Stilkonzepte rückkoppelt, ist der Zwang, Stil nach wie vor auf Anschlußfähigkeit für eine soziale Interaktion zu präparieren, deren Prozessieren maßgeblich von der Wiedererkennbarkeit und Iterierbarkeit Verhaltens- und konversationsbezogener Regeln - Schicklichkeit, Angemessenheit, >KlugheitSingularität< etc. - abhängt. Wenn das 17. Jahrhundert also alle Ansätze in Richtung auf einen Individualstil langfristig durch Generalisierung blockiert hat, wird der um 1800 erfolgende Umbau des Stilbegriffs aus seinen Eigenvariationen allein kaum herzuleiten sein. Dort wo Stil allmählich seine Verklammerung mit generalisierten Sprechakten und Konversationssystemen zu lösen beginnt, um den Umgang mit Schrift von individualisierten Schreibpraktiken her zu rekonstruieren, ist daher immer schon ein Anlehnungskontext mitgeführt, der sich - ähnlich wie die parallel verlaufende Erfindung literarischer Autorschaft - weniger einer poetologischen Innovation, als einer Reihe neuartiger Rechts- und Eigentumsdiskurse verdankt. Was der juristische Diskurs nach einer langen Phase zunächst ausschließlich verlags- und verwertungsrechtlicher Bestimmungen, die das Eigentum des Autors an seinem Text zunächst nicht erfaßten, leistet, ist die Ausdifferenzierung einer Rechtsfigur, die Eigentumsansprüche in neuartiger Weise über ihre Individualität begründet. 91
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Vgl. Weise: Oratorisches Systema [1707], a.a.O., S. 326ff. Vgl. die Einschätzungen bei Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 177f. und Sinemus: Poetik und Rhetorik. a.a.O., S. 129f. und 115: »Weises Stillehre zielt keinesfalls [...] auf die Verwirklichung von Individualität im modernen Sinne im sprachlichen Ausdruck.« Vgl. ein weiteres Mal die einschlägigen Studien von Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. a.a.O.; Plumpe: Eigentum - Eigentümlichkeit. a.a.O.; ders.: Der Autor als Rechtssubjekt. a.a.O.; ders.: Kunst und juristischer Diskurs. a.a.O., sowie Zons: Über den Ursprung des literarischen Werks aus dem Geist der Autorschaft. a.a.O.
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Damit werden zwei ältere Regelungstraditionen nachhaltig entkräftet: zum einen jene Rechtsauffassung, die im Gefolge der älteren römischen Rechtstradition lediglich das Sacheigentum des Autors an seinem Manuskript zu schützen in der Lage ist,92 zum anderen jene naturrechtliche Perspektive (John Locke), die die investierte Arbeit des Autors an seinem Werk in den Blick rückt und von dort aus einen >gelehrten Grundstoff«, ein unverwechselbares und daher eigentumsbegründendes geistiges Substrat sichtbar macht. Die Spezifik eines geistigen Eigentums konnte von dieser Regulierung freilich nicht erfaßt werden, da der vorderhand eigentumsqualifizierende >gelehrte Grundstoff eines Werks letztlich auf den keineswegs privaten oder individuellen, sondern allgemeinen und universellen geistigen Fähigkeiten des Menschen beruht. Eigentumsrechtliche Probleme löst das Rechtssystem schließlich erst dort, wo es den Eigentumsbegriff individualisiert - was nun bedeutet, daß das Werk des Autors auf der Grundlage naturrechtlicher Konzeptionen zwar weiterhin ein Gemeingut darstellt, aber durch die Formierungsleistung des Autors eine Individualisierung erfährt, die das Werk dezidiert als formierten Stoffeigentümlich< ist das Werk nur insofern, als es seinen als Gemeingut qualifizierten Inhalt spezifisch in Form bringt, also den Autor in der nicht zu tilgenden Inschrift des Individuellen repräsentiert und verdoppelt. Erst diese Anwesenheit des Autors in der Schrift kann eine Hermeneutik des Sinns nach der unverwechselbaren Stimme des Autors fragen lassen, die sich nun, um 1800, Stil nennen kann: Stil ist jene inkommensurable Eigentümlichkeit des Schreibens und der >Schreibartreinen Seele< Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. a.a.O., S. 11. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. a.a.O., S. 168. Vgl. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Text-Strukturierung und Text-Interpretation nach Schleiermacher. Frankfürt/M. 1977 und ders.: Was ist ein literarischer Text, und was heißt es, ihn zu verstehen? In: Wege der Literaturwissenschaft. Hg. von Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe und Hans Joachim Schrimpf. Bonn 1985. S. 10-25., bes. S. 23ff. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. a.a.O., S. 637. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. a.a.O., S. 167.
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gemachte Verbindung eines Subjekts mit einem Prädikat etwas Neues ist, teils erhält er das, was er wiederholt und fortpflanzt. [...] Gewohnt sind wir, unter Stil nur die Behandlung der Sprache zu verstehen. Allein Gedanke und Sprache gehen überall ineinander über, und die eigentümliche Art, den Gegenstand aufzufassen, geht in die Anordnung und somit auch in die Sprachbehandlung über. (167f.)
2. Nachahmung Wenn, wie Herder 1776 betont, die »Muster der Alten« 99 ihre Maßstäblichkeit verlieren, hat dies weitreichende Konsequenzen für angestammte poetologische Grundsicherheiten. Was bis ins 18. Jahrhundert hinein Nachahmung heißt, und was sich an vertrauten, durch die Maßstäbe der Tradition vorgegebenen Regularien unter diesem Titel versammelt, verliert um 1800 seine Gültigkeit. Nachahmung ist fortan ein Indiz für das Alte und Überlebte oder wird den zweifelhaften Tugenden des Epigonen gutgeschrieben, der, Opfer einer innovationsverliebten Moderne, die Gegenwart seines Schreibens aus einer übermächtigen Vergangenheit bezieht. Nun kennt das alteuropäische Denken traditionell zwei Wege zur Nachahmung, die - beide auf ihre Weise - in den philosophischen, poetologischen und rhetorischen Diskursen der Antike vorgeprägt wurden, im Laufe ihrer europäischen Rezeptionsgeschichte aber Verwischungen hinnehmen mußten. Das ältere Konzept, wie es im Gefolge der platonischen und aristotelischen Philosophie entwickelt wird, versteht unter mimesis in erster Linie eine >Nachahmung der NaturEinbildungskraftNaturnachahmung< neigen jedenfalls dazu, die Sinnebene von mimesis (als >Darstellung von Wirklichkeit) und imitatio (als Nachahmung vorbildlicher Texte) kurzerhand zu verschleifen. Denn zum einen steht das Konzept der Naturnachahmung - zumindest seiner aristotelischen Grundlegung nach - dezidiert außerhalb einer rhetorischen Dichtungskonzeption;111 alle späteren imitatioEmpfehlungen folgen rhetorischen Anweisungen, die >Nachahmung< als Wiedergewinnung einer exemplarischen Schreibkultur, als Kernbefehl der poetologischen Ausbildung112 oder als Produktionshilfe im Kontext der barocken Gelegenheitsdichtung festlegen.113 Daß die aristotelische m/'wesw-Konzeption im 17. und frühen 18. Jahrhundert immer wieder rhetorisch überformt und an die Figuren der »lebhaften Deutlichkeit«114 rückgebunden wird, macht lediglich deutlich, wie eng der Zusammenhang von Poetik und Rhetorik noch im unmittelbaren Vorfeld der modernen literarischen Kommunikation ist. Zum anderen ist die imitatio ihrem ursprünglichen Verständnis nach nicht mit einer >Nachahmung der Natun identisch, auch wenn die Literaturwissenschaft dies mit Verweis auf einen »erweiterten« 115 Naturbegriff gewöhnlich suggeriert. Die Verschaltung von imitatio naturae und imitatio veterum wird erst dort möglich, wo die >Nachahmung der Alten« begründet als Naturnachahmung ausgewiesen werden kann, und es sind die Konjekturen der Renaissancepoetik, die beide Nachahmungstraditionen miteinander verschränken:116 >Natur< sind die antiken Autoren zum einen, weil ihre Werke das >Wesen< der Dichtung in einer so exemplarischen Weise erfüllen, daß sie gleichsam die >Natur der Dichtung< repräsentieren; zum anderen, weil sie selbst paradigmatische >Nachahmungen der Natur< darstellen, die dem imitieren-
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Vgl. Willems: Anschaulichkeit. a.a.O., S. 233 und Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. a.a.O., S. 154f. Vgl. nur Rhetorica ad Herennium I, 2, 3 sowie Barner: Barockrhetorik. a.a.O., S. 83; Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Bd. 1. a.a.O., S. 345 und Grimm: Literatur und Gelehrtentum. a.a.O., S. 164ff. Vgl. Grimm: Literatur und Gelehrtentum. a.a.O., S. 281ff. Breitinger: Critische Dichtkunst [1740], a.a.O., S. 66f. Vgl. zu dieser Rückkopplung an eine Rhetorik der Anschaulichkeit bzw. Verlebendigung (enargeia) Kap. IV, 9. Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 63. Vgl. auch Stephan Kohl: Realismus. Theorie und Geschichte. München 1977. S. 50f.: »Ist auch nach heutigem Verständnis [...] eine Gleichzeitigkeit von Mimesis und Imitatio prinzipiell unmöglich, so galt der Renaissance das Wiederanknüpfen an die Traditionen der Antike als weitgehend identisch mit einer Rückkehr zur Natur [...].« Vgl. auch Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. a.a.O., S. 155, sowie fur die doctrine classique Herbert Dieckmann: Die Wandlung des Nachahmungsbegriffes in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Nachahmung und Illusion. Hg. von Hans Robert Jauß. 2., durchges. Auflage München 1969 (Poetik und Hermeneutik I). S. 28-59. S. 36.
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den Poeten dann ihrerseits als nachahmenswürdige Natur empfohlen werden. Vor allem Vergil, schon im Mittelalter Vater und Meister der Künste und Wissenschaften, markiert diese altera natura, die die Renaissance an jedem seiner Epen abliest. 117 Nun verdankt sich das unter dem Titel der >Naturnachahmung< versammelte Wissen weniger genuin poetologischen Intentionen, als vielmehr jener Gabelung der antiken Philosophie, die aus der Frontstellung zwischen platonischem und aristotelischem Denken im 4. vorchristlichen Jahrhundert resultiert. 118 Was Piaton der dichterischen mimesis vorhält, markiert noch deutlich die Grenzen, die einer von staatspolitischen bzw. staatspädagogischen und epistemologischen Kalkülen regulierten Diskussion gezogen werden. 119 Für die Utopie des platonischen Staats ist die mimesis nun außerordentlich ambivalent, weil die Gefahren und Chancen des Begriffs in der inhaltsästhetischen Perspektive der Politeia nahe beieinander liegen. Die Legitimität der mimesis sieht Piaton zunächst dort, wo die nachahmenden Künste jene Tugenden der Affektkontrolle und Selbstbeherrschung zur Darstellung bringen, die für die Erziehung der Jugend, und das heißt: für die Stabilität der polis unerläßlich sind. Was der Poet »von klein auf« nachzuahmen habe, sind »tapfere, vernünftige, ehrfurchtsvolle, freie Männer und anderes dieser Art« 120 (395c). Gleichwohl kann die mimesis zu affektiven Extremen (»Raserei«, 396b) oder Willensschwächungen (»Krankheit oder Liebe«, 396d)
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»Haec, quae naturaliter constant, in naturae sinu investiganda atque inde eruta sub oculis hominum subicienda erunt. Id quod ut quam commodissime faciamus, petemda sunt exempla ab eo, qui solus poetae nomine dignus est. Vergilium intellego [...]. [...] Haec omnia, quae imiteris, habes apud alteram naturam, id est Vergilium« - so etwa die Vergil-Eloge Scaligers. Vgl. Scaliger: Poetices libri Septem [1561]. a.a.O., III, 80, 83a ff. Einen weiteren Fingerzeig gibt das 24. Kapitel, das darauf hinweist, die »exemplarischen Muster [...] anhand von Beispielen aus Vergil vorgeführt« zu haben, »als ob sie der Natur selbst entstammten.« (311) Der mimesis-Begnff taucht erst im 5. und 4. vorchr. Jahrhundert auf; den Epen Homers ist der Begriff noch unbekannt. Das Stammwort ist mimos; das Verb mimeisthai (nachahmen, darstellen, porträtieren) umfaßt einerseits Tätigkeit und Produkt des Abbildens, andererseits ein Nachahmen durch Handeln. Mimos und mímeles bezeichnen die darstellenden bzw. handelnden Personen; mimema ist das Produkt der Darstellung, mimesis die Handlung bzw. Darstellung selbst. Vgl. Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern 1954. S. 25 und Gerald F. Else: Imitation in the 5th century, in: Classical Philology 53. H. 2 (1958). S. 73-90, bes. S. 79. Eine Zusammenfassung geben Gebauer/Wulf: Mimesis. a.a.O., S. 44ff. Eine umfassende Kritik der mimesis trägt Piaton bekanntlich im 3. und 10. Buch der Politeia vor. Zitiert wird nach der Ausgabe Piaton: Der Staat (Politeia). Übers, und hg. von Karl Vretska. Durchges., verbess. und bibliogr. ergänzte Ausgabe Stuttgart 1982, hier 395c.
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verführen, die das staatspädagogische Interesse Piatons gerade disziplinieren und aus den politischen Entscheidungsprozessen ausgliedern möchte. Weil die »Dichtkunst« (606d) die »begehrenden Erregungen der Seele« (ebd.) gerade »nährt und begießt« (ebd.), können die nachahmenden Dichter bekanntlich kein Bürgerrecht in Anspruch nehmen; sie werden, anders als die Hymniker, die in zweifelsfreier Weise »Götter« und »gute Menschen« (607a) darstellen, der polis verwiesen. 121 Piatons epistemologisches Argument schließlich diskreditiert die mimesis zum bloßen Trugbild, das als Erscheinung (eidola) einer wesenhaften Idee gegenüber immer ein »Seinsderivat« 122 bleibt: Weil die Idee auf der Grundlage der ontologischen Differenz von Schein und Sein eine höchste Realität bildet, der gegenüber die Einzeldinge bloß dinghafte Repräsentationen darstellen, verfugt die mimesis, die die Dinge in einer nochmaligen ontologischen Nachordnung nachahmt, nur über die Qualität eines »Scheinbildes« (598b), aus dem die Substanz des Seins geschwunden ist.123 Als Mimesis einer Mimesis und als »Scheinbild der Vollkommenheit« (600e) erzeugt die dichterische Nachahmung ein Wissen, das, »weitab von der Wahrheit« (598b), in besonderem Maße täuschungsanfällig bleibt. Die aristotelische Poetik hat diese Vorwürfe in ihrer ganzen Breite aufgenommen und über eine veränderte, d.h. philosophisch erheblich aufgewertete Nachahmungslehre entschärft. Wie zentral Aristoteles die mimesis noch vor jeder inhaltlichen Bestimmung handhabt, zeigt zunächst der Umstand, daß er sie - gegen das Versprinzip - zum Einheitskriterium aller Poesie erhebt. Prosa, Musik und Tanz, Einzelgattungen wie der Mimos, nicht zuletzt philosophische Diskursformen wie der sokratische Dialog zählen, insoweit sie der »Nachahmung von Handlung« 124 verpflichtet sind, zur Dichtkunst; Versformen wie das naturwissenschaftliche Lehrgedicht dagegen bleiben als nicht-nachahmende Künste ausgeschlossen: Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung, sowie - größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. (5) [...] Allerdings verknüpft eine verbreitete Auffassung das Dichten mit dem Vers, und man nennt die einen Elegien-Dichter, die anderen Epen-
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Vgl. zu dieser gern mißachteten Differenzierung Plumpe: Ästhetische Kommunikation 1. a.a.O., S. 34. Hans Blumenberg: >Nachahmung der NaturDarstellung von etwasHandlungen< zu verstehen ist, die die Personen im performativen Widerstreit von Rede und Gegenrede zeigt. 128 Und weil eine Handlung, so die aristotelische Bestimmung, immer »Anfang«, »Mitte« und »Ende« (25) hat, müssen ihre Teile als »Mythos« (19) bzw. »Fabel« (29) kohärent miteinander verknüpft sein und jene »Zusammensetzung der Geschehnisse« (synthesis pragmaton) gewährleisten, die die Handlung zu einer »ganzen Handlung« macht: Demnach muß [...] auch die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt und weggenommen wird. (29)12'
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Die gattungstheoretische Konsequenz dieser Bestimmung ist bekannt: Weil es »notwendigerweise entweder gute oder schlechte« (7) Handlungen gebe, suche die »Komödie schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.« (9) Der Tanz wird nach Epos, Drama, Dithyrambe (Chorlyrik) und Musik eingeführt; auch der »Tänzer« ahme »mit Hilfe der Rhythmen, die die Tanzfiguren durchdringen, Charaktere, Leiden und Handlungen nach.« (5) Dies gilt zumindest für die Auffuhrung einer reinen, also nicht-begleitenden Instrumentalmusik. Die Differenzierung der nachahmenden Künste erfolgt über die Wahl der »Mittel« (Rhythmus, Sprache, Melodie); Prosa und Tanz nutzen lediglich den Rhythmus, während Epos, Elegie und Musik Sprache und Rhythmus kombinieren. Drama und Dithyrambus verwenden alle drei Mittel. (Vgl. 5f.) Neben die Forderung nach Ganzheit tritt ein mnemotechnisches Argument; schön (kalos) ist die Handlung, wenn sie trotz ihrer »Ausdehnung« (27) erinnert werden kann.
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Über das Verhältnis der Nachahmung zur nachgeahmten Wirklichkeit ist damit allerdings noch nicht viel gesagt. Die aristotelische Poetik löst dieses Problem bekanntlich in einer für die poetologische Tradition außerordentlich wirkungsmächtigen Weise, indem sie die Handlung der mimesis am Kriterium der »Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit« (29) orientiert: Wahrscheinlich ist die Handlung, wenn Nachahmung und nachgeahmte Wirklichkeit prinzipiell ähnlich sind; notwendig ist sie, wenn sich die einzelnen Handlungsteile zu einem kohärenten Handlungsganzen zusammenschließen. Der aristotelische NachahmungsbegriiT umfaßt damit einen Fiktionshorizont, der die Handlung, die er zur Darstellung bringt, modalisiert, weil dessen Verlauf als wirklichkeitshomologe Struktur möglich ist. Diese modale mimesis-Konzeption scheint nun in erster Linie auf Piaton antworten zu wollen, denn Aristoteles nutzt die in ihr beschlossenen Möglichkeiten, um die Poesie - als Medium des »Allgemeinen« (29) - gegen die Geschichtsschreibung zu differenzieren und damit für die Philosophie rehabilitieren zu können. Denn während die Historie bei der Beschreibung des (geschichtlich) »Besonderen« (29) und Individuellen verbleibt, stellt die Dichtung unter Bezug auf ihre modal begründeten Spielräume eine Handlung so dar, wie sie sich unter idealen und von allen Kontingenzen gereinigten Bedingungen vollziehen würde. Nur so gewinnt die Poesie Anteil am »Allgemeinen« (29): Sie präpariert die Handlung auf eine immanente und von allen Besonderheiten gereinigte Substanz hin, die dadurch gleichsam ihre eigene >Idee< zur Transparenz bringt: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. (29)
Wo die Unterscheidung von Besonderem und Allgemeinem philosophischer Tradition zufolge auch der Poetik nahegelegt wird, kann nicht zuletzt platonisches Wissen wieder geltend gemacht werden. Aristoteles unterscheidet im 25. Kapitel drei »Nachahmungsweisen« (85), die das aus der Tragödientheorie vertraute modale mwiesw-Prinzip nochmals aufnehmen, nun allerdings um eine entscheidende entelechische Denkfigur bereichern. Recht verstanden umfaßt das Kriterium der >möglichen Handlung< nämlich auch, daß die dargestellte Sache in ihrem immanenten Bildungsprinzip zur Anschauung gelangt: die mimesis zeigt die Dinge nicht nur, wie sich sie unter den Bedingungen der Wahrscheinlichkeit oder in der konventionalisierten Perspektive der Menschen (doxa, >MeinungenIdeeIdee< verstanden werden. Diese entelechische »Extrapolation aus dem Werdeprozeß auf das Werdeziel« 130 stellt menschliches Handeln immer in der Perspektive seines immanenten Sollens dar: Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien [doxa], und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten. (85)
In Bunzlau sind diese Zusammenhänge zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch vertraut, wenn auch insbesondere das platonische Erbe zu einem topischen Wissen herabsinkt, das künftig seinen immer gleichen Weg durch die >AntritteVorbereitungenZuschriften< und >Vorreden an den geneigten Leser< finden wird. 1624 weist Martin Opitz den vertrauten Vorwurf, alle Dichtung sei Lüge, unter Schützenhilfe der aristotelischen Poetik zurück: Gerade weil die Poesie die Dinge nicht darstellt, wie sie sind, sondern wie sie der Wahrscheinlichkeit nach sein könnten bzw. ihrem immanenten Bildungsprinzip nach werden sollten, ist sie über jeden platonischen Zweifel erhaben: Das [...] worden / bestehe / koendten
die Poeten mit der warheit nicht allezeit vbereinstimmen / ist [...] erzehlet vnd soll man auch wissen / das die gantze Poeterey im nachaeffen der natur vnd die dinge nicht so sehr beschreibe wie sie sein / als wie sie etwan sein oder sollten.13'
Johann Peter Titz vermag rund zwei Jahrzehnte nach Opitz keine Neuerungen zu vermelden. Auch die Zwey Bücher von der Kunst hochdeutsche Verse zu machen bewegen sich in jenem Traditionsraum, den der aristotelische Nachahmungsbegriff an die Barockpoetik vererbt; auffällig ist allenfalls die Akribie, mit der Titz die poetische Tätigkeit aus dem Sprachgebrauch der antiken Poetik abzuleiten sucht. Gleichwohl: Mimesis und imitatio werden, solange die Aufgabe des Poeten im »Nachmachen / nachthun / nachfolgen« besteht, 132 auch im barocken Danzig als identisch behandelt: Der Poet hat bey den Griechen seinen Namen von poiein, welches soviel heisset / als machen; zum theil / weil er den Vers machet / (daher ihn die Lateiner Versificem; und die Deutschen einen Vers= und Reymennmacher / zunennen pflegen) zum theil auch /
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Blumenberg: >Nachahmung der Natur«. a.a.O., S. 73. Opitz: Buch [1624]. a.a.O., S. 17. Titz: Zwey Bücher [1642], a.a.O., Die Vorbereitung (unpag.). Abschn. 1.
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weil er nicht allein ein ding / das da ist / wie es ist beschreibet / sondern auch das / was nicht ist / [...] vnd wie es seyn koendte / oder solte / fiirstellet. [...] In dem Nachmachen / nachthun / nachfolgen (denn so müssen wir das geben / was die Griechen mimesis, vnd die Lateiner Imitan, nennen:) bestehet das ampt des Poeten, [ebd.]
Wieder rund zwei Jahrzehnte später führt der Weg von Bunzlau und Danzig nach Wittenberg. August Buchner, theoretischer Mentor zahlreicher Barockautoren, gibt sich ähnlich wie Opitz als prinzipienfester Aristoteliker zu erkennen. Wie der Poet, so Buchner, »vom Schaffen / oder machen seinen Nahmen hat«, 133 so entsteht die dichterische Schöpfung aus dem Geist einer rhetorischen Findewissenschaft, die ein »Werck« (23) entweder neu erfindet oder einem anderen nacharbeitet, um auf angenehme und exemplarische Weise »zugleich belustigen und belehren« (28) zu können: So nun der Poet vom Schaffen / oder machen seinen Nahmen hat / und aber dieses nichts anders ist / als entweder ein neuerfundenes oder nach einem andern gefertigtes Werck zu Liecht zu bringen / so ist genug / daß der Poet sein Thun darstelle / was es entweder ist / sein soll oder mag [...]. (25) [...] ist also des Poeten=Ambt / ein thun abbilden und darstellen / wie es ist / sein soll oder kan / und dieses zu dem ende / daß er zugleich belustige und belehre [...]. (27f.)
Auch in Nürnberg erteilen die aristotelischen Schriften Befehle, die den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Poesie betreffen. »Der Poet und der Historicus«, so Sigmund von Birken, »sind hierin voneinander unterschieden / daß dieser schreibet / was geschehen ist / jener aber / was geschehen können.« 134 Birken wiederholt damit, wie so oft, Argumente, die Georg Philipp Harsdörffer vorgibt. Denn auch Harsdörffer läßt den Poeten 1645 darstellen, »was seyn könte und der Wahrheit ähnlich ist«,135 überformt das aristotelische Nachahmungskonzept aber mit einer Rhetorik der Anschaulichkeit, die den »Wahrheitsschein« der »Wahrheit« (141) vorzieht. Weil die »künstlichen Umstände« (140) den Stoff in gesteigerter Anschaulichkeit vor das Auge des Hörers stellen (sub oculos subiectai), gelingt dem Poeten mit Leichtigkeit, was der Redner erzwingen muß: Der Poet beschreibt / was würklich ist / und was seyn könte und der Wahrheit ähnlich [verisimilitudo] ist. Der Geschichtsschreiber erzehlet den Verlauf seiner Sachen / der Poet gleichfals / ist aber befugt allerhand künstliche Umstände beyzubringen / welche die Sachen als gegenwärtig vor Augen stellen / und in diesem leistet er mehr als der Redner / dessen Absehen nur ist in einer gewissen Sache zu bereden: [...] der Poet aber
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Buchner: Weg=Weiser [1663], a.a.O., S. 23. Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst [1679], a.a.O., S. 306. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Teil 5 [1645]. a.a.O., S. 140.
Nachahmung
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beweget mit viel mehrerer Belustigung / und handelt von allen denen Sachen / die sind / und auch nicht sind. (140) Weil die barocken Traditionszwänge immergleiches Wissen in die Poetiken einspeisen, können Georg Neumark und Martin Kempe 1667 die Gesetzgebung ihrer Poetischen
Tafeln mit einem weiteren traditionsreichen Argument auffüllen. Da
die poetische »Nachahmung« im Unterschied zur Historiographie ein »Ding nach seinem eußerlichen Wesen / wie es anzusehen ist / oder wie es seyn könte / vorstellet«, 136 bildet die Poesie eine »höhere Rede« (33), die der Poet in »sinnreichen Schwäncken« (37) an einen zu »Tugend und beliebigen Sitten« (37) bereiten Leser weitergibt. Ihre »Wahrheit« gewinnt die poetische »Fabel« (35), die wie der aristotelische mythos eine »erdichtete doch scheinbare« (ebd.) Begebenheit bezeichnet, daher nicht mehr in erster Linie dort, wo die Handlung als ganze Handlung erkennbar wird, sondern wo sie unter dem barocken Liebreiz »verblümter Bilder« (33) und »sinnreicher Schwäncke« (37) einen moraldidaktischen Kern sichtbar werden läßt: Will der Tichter von weltlichen Sachen etwas machen / so erzehlet er dieselbe umständlich / wie ein Geschichtsschreiber / der hierinn mit dem Poeten ganz übereinkommet. [...] Dasselbe aber / wodurch der Poet von dem Geschichtsschreiber unterschieden wird / begreifft etwas mehr in sich / Nemlich eine höhere Rede / und Sinnreich= erfundene Fabeln / welche gleichsam den Anfang und die Seele der Poeterey seyn. Darum hat Lactanus [...] recht gesagt: Eines Poeten Ampt sey / daß er die Dinge / so wahrhafftig geschehen / unter artige und verblümte Bilder zu verstecken wisse. [...] Daher mag der erste Haß gegen die Poeten entstanden seyn / daß etliche Leute [...] die Dichter vor Lügner zu schelten sich entblödet. Welches aber unbillige Auflagen seyn: Alldieweil unter einer Lügen und den Gedichten ein sehr grosser Unterschied. Diese seind zu des Nächsten Schaden und Beleidigung gerichtet / jene aber haben niemals den Vorsatz einen zu vernachtheilen / sondern durch Sinnreiche Schwäncke zur Tugend und beliebigen Sitten zu lencken [...]. (33f.)137 Was es bedeutet, auch platonische Motive für das Nachahmungsdenken fruchtbar zu machen, zeigt Kaspar Stieler 1685, der platonische Ontologie und barocke Kosmologie in ungewöhnlicher Weise miteinander verschmilzt. Natur und Nachahmung bilden hinsichtlich ihrer Vollkommenheit und ihrer Nähe zur göttlichen Schöpfung unterschiedlich perfekte »Werke«, 138 so daß die poetische Nachahmung als bloßes »Flickwerk« hinter das »Meisterstück« (25) der Natur zurück-
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Kempe/Neumark: Poetische Tafeln [1667]. a.a.O., S. 32. Den Vorrang der moralischen Belehrung betont schon Joachim Dyck: Nachwort, in: Ebd. S. 20: »Wahrheit wird also nicht gemessen an der Übereinstimmung mit der Realität, sondern an dem Ziel der Dichtung, zu beeinflussen und moralisch zu wirken.« Stieler: Die Dichtkunst des Spaten [1685], a.a.O., S. 25 (V. 501).
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treten muß. Wie die Natur das »Original« bildet, so bildet ihre poetische Nachahmung eine »Kopey«, die die Fülle der Schöpfung - ihren »Haubtriß« (25) nur vereinfacht wiedergeben kann: Was kan auch Menschenhand, / wie mühsam sie schon ist, der sterbliche Verstand / und eitle Bettelkunst, die man doch nur muß borgen, / wol gegen Gottes Macht mit allem Fleiß und Sorgen? / Vor solch ein Meisterstück bleibt es ein Flickwerk nur / und Schönes auf den Schein. Des Höchsten Magd, Natur, / macht das Original: Wir ahmen in Kopeyen / den Haubtriß spöttlich nach. (25, V. 495-502)
Wo die Naturnachahmung davon bedroht ist, lediglich Kopien herzustellen, die der Fülle der Erscheinungen nur näherungsweise gerecht werden, muß eine Amplifikation für die engere Schließung zwischen Natur und Nachahmung sorgen. Das 17. Jahrhundert greift hierzu auf eine Norm des Typischen und Angemessenen zurück, das die poetische Rede an der >natürlichen< und das heißt: kosmologisch begründeten Ordnung von Dingen, Personen, Themen und Stilen bemißt. Nachahmung der Natur bedeutet fur die 1725 anonym erschienene Breslauer Anleitung daher auch eine Grammatik der Rede zu repräsentieren, die durch soziale Konvenienzen und Erwartbarkeiten reguliert wird: Die Übereinstimmung mit der Natur ist nichts anders, als wenn wir ein Ding vorbringen, wie es die Natur selber sagen würde, wenn sie auftreten und reden könnte. Demnach muß ein Schäfer nicht hoch und prächtig, ein Held nicht verzagt und niedrig; ein Betrübter nicht allzu künstlich; ein Verliebter nicht scharff und gar zu sinnreich sprechen [,..]. 139
Was sich in der Breslauer Anleitung bereits vom Verdacht des Rhetorischen befreien möchte und der Sache nach doch rhetorisch strukturiert ist, trifft bei August Buchner noch auf eine Norm des >Schicklichen< und >AngemessenenNachahmung der Natur< zwar vertraut ist, in einer für die Poetik Gottscheds bezeichnenden Wendung aber einer moraldidaktischen Codierung unterstellt wird. Fabel ist die Fabel nämlich erst, wenn sie unter ihrer »möglichen«, d.h. widerspruchsfreien Handlung eine »moralische Wahrheit« 146 freigibt, die der eigentlichen Textproduktion - dem Erfinden einer »Begebenheit« (161) - vorausgeht: Ich glaube derowegen eine Fabel am besten zu beschreiben, wenn ich sage: Sie sei eine unter gewissen Umständen mögliche, aber nicht wirklich vorgefallene Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. [...] Denn da man sich in der Metaphysik die Welt als eine Reihe möglicher Dinge vorstellen muß; außer derjenigen aber, die wir wirklich vor Augen sehen, noch viel andre dergleichen Reihen gedacht werden können: So sieht man, daß eigentlich alle Begebenheiten, die in unserm Zusammenhange wirklich vorhandener Dinge nicht geschehen, an sich selbst aber nichts Widersprechendes in sich haben und also unter gewissen Bedingungen möglich sind, in einer andern Welt zu Hause gehören, und Teile davon ausmachen. (150f.) [...] Wie greift man indesssen die Sache an, wenn man gesonnen ist, als ein Poet, ein Gedicht oder eine Fabel zu machen? [...] Zuallererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absicht, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fallt. (160f.)147 Gottscheds moralpragmatische Verengung der Naturnachahmung ist in der poetologischen Debatte um 1730 freilich nicht das letzte Wort geblieben. In welchem Maße noch ältere affektrhetorische und repräsentationstheoretische Vorstellungen innerhalb des aristotelischen Nachahmungskonzepts überleben, zeigt Daniel Heinrich Arnoidts Anleitung zur Poesie der Deutschen,
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die, ähnlich wie
Johannes Kepler: Das Weltgeheimnis. Übersetzt und eingel. von Max Caspar. München/Berlin 1936. S. 71. Gottsched: Critische Dichtkunst [1730/41751], a.a.O., S. 150. Die Differenzierungsmöglichkeiten der Fabel lauten: 1. Differenz von »unglaublichen, glaublichen und vermischten« (151) Fabeln. 2. Differenz von »epischer« und »theatralischer« (153) Fabel. Zugrundeliegt das Redekriterium, mit dem Piaton bereits eine »mittelbare« (Politela 392d), d.h. (chor-)»lyrische«, eine »unmittelbare« (ebd.), d.h. dramatische und eine »gemischte« (ebd.), d.h. epische Redehaltung unterschieden hatte. 3. Differenz von »vollständiger« und »mangelhafter« (155) Fabel. Zur stiltheoretischen Differenz von »erhabener« und »niedriger« (154) Fabel vgl. Kap. III, 2.
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Harsdörffer rund acht Jahrzehnte zuvor, eine Anschaulichkeitsrhetorik nutzt, um die Nachahmung als »lebhafte Vorstellung« 148 zum »Hauptwerk« der Poesie erklären zu können. Weil die Nachahmung der Natur auch das Mögliche und Wahrscheinliche darstellt, werde die Einbildungskraft des Lesers in besonderem Maße angeregt und verlebendigt: Die Vorstellung der Sache, so das Innere eines Gedichts ausmacht, muß vomemlich lebhaft sein. [...] Zur lebhaften Vorstellung gehöret aber vomemlich die Nachahmung. [...] Man würde also nicht irren, wenn man mit dem Aristoteles das Hauptwerk eines Gedichtes in die Nachahmung setzte [...]. Je mehr von einer Sache angefiihret wird, desto mehr stellet man sie nach dem Leben vor, und desto weiter gehet man in der Nachahmung; der Poet bleibet demnach nicht immer bey den Umständen stehen [...], sondern er nimmt öfters alle wahrscheinliche, ja auch mögliche Umstände zur Hülfe, und führet in seiner Beschreibung alles an, was nur zu vermuthen, oder auch nur irgend statt finden kann, um nur seine Vorstellung desto lebhafter zu machen. (3f.)
In den Jahren nach 1730 wird die offene Reflexionssituation, die das Nachahmungsdenken am Ende der barocken Poetik kennzeichnet, zu einer bleibenden poetologischen Signatur. Autoren wie Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, Johann Elias Schlegel, Carl Friedrich Brämer oder Karl Philipp Moritz sprengen auf unterschiedliche Weise die Leistungsmöglichkeiten des aristotelischen Nachahmungsbegriffs auf, ohne ihn im Gegenzug wieder mit älteren rhetorischen Traditionslinien (decorum, >Anschaulichkeithäßlicher< Objekte relativiert sich an den Grenzen, die auch der Critischen Dichtkunst von den ontologisch begründeten Zwängen der Naturnachahmung gezogen werden. Breitinger demonstriert zunächst am Beispiel eines Neujahrsgedichts aus Barthold Heinrich Brockes Irdischem Vergnügen, in welchem Maße selbst eine »häßliche Ungestalt« (68) zum Thema der Poesie werden kann, wenn sie ihren Gegenstand nur »wohl nachgeahmet« (71) hat und den Beobachter hier-
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Breitinger: Critische Dichtkunst [1740], a.a.O., S. 64. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie [1755]. in: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. von Winfried Menninghaus. Frankfurt/M. 1989. S. 187-201. S. 191.
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durch »belustigt« (61).152 »Daß die blosse Kunst der Nachahmung«, so Breitinger mit Verweis auf Homer und Brockes, ohne Absicht auf die Materie eine solche Kraft zu ergetzen habe, zeiget sich unstreitig daraus, weil die künstliche Vorstellung einer Sache, die vor sich gantz unangenehme und widrige Eindrücke verursachen würde, in der Nachahmung belustigt. [...] Und wem gefallt nicht folgendes Gemähide von einem alten Weibe, in dem Neujahrs=Gedicht von 1722. in Brockes Ird. Vergn. - - Wie häßlich ist doch ein veijahrter Leib! Beschau nur einst mit Emst Die grindig-gelbe Haut voll runzelichter Tiefen Der schielen Augen Rot, die unaufhörlich triefen, Ihr kal und zitternd Haupt, den Zähne=leeren Mund, Voll zähen Rotz u. Schleim, die blau=geschwollnen Lippen, Die schlaffe platte Brust, die magem dürren Rippen, Den zitternd krumen Hals, des Rückens höckricht Rund, Des Kinns entfleischte Höh, die Holen welker Wangen.' 53
Breitingers Poetik des Häßlichen verliert dort wieder ihre innovativen Impulse, wo sie in einen hierarchischen Essenzenkosmos zurückgleitet, der das >Häßliche< nur als Korruption oder imperfekte Form auszeichnen kann. Auch wenn der Poet in der Nachahmung dem Urbild so ähnlich wie nur möglich nacharbeitet, bleibt
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So schon Die Discourse der Mahlern: »Hingegen ergetzet uns auch die Beschreibung und die Abschilderung des Lasters, der Boßheit, der Häßlichkeit, des Erschrecklichen, des Traurigen, wenn sie nur natürlich sind.« Johann Jakob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Vier Theile in einem Band. Zürich 1721-1723. Nachdruck Hildesheim 1969. Erster Theil, XX. Discours (unpag.). Quelle ist wohl Addisons Spectator, wo es im 418. Artikel heißt: »Any thing that is disagreeable when lookes upon, pleases us in an apt description.« Zit. nach Bodmer/Breitinger: Die Discourse der Mahlem 1721-1722. Mit Anmerkungen hg. von Theodor Vetter. Erster Theil. Frauenfeld 1891. S. 12.
153
Breitinger: Critische Dichtkunst [1740], a.a.O., S. 69. Vgl. das umfängliche BrockesOriginal: Das, durch die Betrachtung der Grösse Gottes, verherrlichte Nichts der Menschen. In einem Gespräche Auf das Neue Jahr, 1722. in: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch=und Moralischen Gedichten. Erster Theil. Siebende, neu=übersehene und verbesserte Auflage Hamburg 1744. S. 423-457, bes. S. 441. Breitingers Brockes-Exegese steht im übrigen am Beginn einer die älteren Schlegel, Mendelssohn, Christian Ludwig Hagedorn und Lessing engagierenden Debatte, die die Legitimität des Häßlichen unter Bezug auf Brockes' Neujahrsgedicht erörtert. Vgl. die ausfuhrliche Rekonstruktion bei Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1987. S. 381ff. und - als Impuls für eine Literatur- und Theoriegeschichte des Ekels - Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt/M. 1999. S. 132-143.
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die Nachahmung doch defizitär, weil sie ein »Original« verwendet, das innerhalb der »Kette der Wesen« lediglich einen unteren Rang einnimmt. 154 Damit wird die Nachahmung der Natur wieder an eine externe Kosmologie zurückverwiesen, deren Ordnungszwänge und sachliche Hierarchien die thematischen und stofflichen Möglichkeiten der Literatur bestimmen. Eine noch so gelungene »Copie« bleibt fragwürdig, solange das »Original« über keine ontologische Würde verfugt: Wie wird uns die Copie rühren können, da ihr Original selbst solches nicht vermag? Wie wird ein Gemähide vermögen, unsere Augen auf sich zu ziehen, welches einen Bauer vorstellet, der zwey Last-Thiere vor sich her treibet, wenn die Handlung, die in diesem Gemähide nachgeahmt wird, unser Gesicht nicht auf sich ziehen mag? Wir loben zwar den Mahler wegen seiner Kunst, diese Sache geschickt nachzuahmen, aber wir tadeln ihn, daß er seinen Fleiß auf Sachen gewandt hat, um die wir uns sowenig bekümmern. (82) Der Tadel, der den Poeten aus Zürich erreicht, lokalisiert mithin die Tatsache, daß Themen dort fragwürdig werden, wo sie das »Ergetzen« 155 des Lesers verfehlen. Und weil auch Johann Elias Schlegel am »Vergnügen« 156 Gefallen findet, muß die Nachahmung ein Jahr nach Breitingers Critischer
Dichtkunst
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit kombinieren. Schlegels 1741 erschienene Abhandlung von der Unähnlichkeit in der Nachahmung
betont daher, was jeder lo-
gicus des 18. Jahrhunderts wissen kann: Weil jede »Aehnlichkeit« 157 logisch auf Abweichungen beruht, muß eine Differenz zwischen dem Gegenstand der Nachahmung und der nachahmenden Form eingezogen werden, um als »Aehnlichkeit« überhaupt beobachtet werden zu können: Man wird mir wenigstens so viel zugeben, daß man die Nachahmung deswegen unternimmt, damit andere die Aehnlichkeit derselben wahrnehmen mögen. [...] Eine Nachahmung ist todt, welche von niemanden beobachtet wird, und belohnet demjenigen seine Mühe schlecht, dem sie ihren Ursprung zu verdanken hat. Ist es aber wahr, daß wir nachahmen, damit andere die Aehnlichkeit unserer Bilder mit ihren Vorbildern bemerken; so müssen wir so nachahmen, daß unser Bild mit dem Begriffe, welche andere von dem Vorbilde haben, übereinkömmt, (ebd.)
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155 156 157
Vgl. Meyer: Restaurative Innovation. a.a.O., S. 39-82. S. 68f., sowie zur Ideengeschichte der >Kette der Wesen< Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. a.a.O., S. 176ff. Breitinger: Critische Dichtkunst [1740]. a.a.O., S. 102. Schlegel: Von der Nachahmung [1742/3], a.a.O., S. 100. Schlegel: Abhandlung von der Unähnlichkeit in der Nachahmung [1741], in Schlegel: Werke. Bd. III. a.a.O., S. 163-176. S. 170.
Nachahmung
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Schlegels Nachahmungstheorie trägt dem wahrnehmungspsychologischen Umstand Rechnung, daß die Beobachtung der Ähnlichkeit, die zwischen »Vorbild« und »Bild« besteht, an deren prinzipielle Vergleichbarkeit geknüpft ist, daß also die Differenz, die das »Bild« seinem »Vorbild« gegenüber aufspannt, notwendig einen allgemeinen »Begriff«, d.h. eine imaginative oder reflexive Anschauung des »Vorbilds« zugrunde legen muß, um vom Beobachter überhaupt wahrgenommen werden zu können. Was die »Nachahmung der Natur« (167) letztlich nachahmt, ist nicht die »Sache selbst«,158 sondern deren begriffliche »Anschauung«, die in der »Einbildungskraft« (172) erzeugt wird. Schlegels Nachahmungskonzeption vollzieht damit in epochaler Weise eine Deontologisierung der Naturnachahmung, die den traditionellen Bezug auf eine als Sachordnung gedachte Natur 159 durch eine »Darstellung« imaginierter Begriffe ersetzt, die ihrerseits wiederum »unähnlich« (144), d.h. über die Erzeugung formbezogener Differenzen zur Anschauung gebracht werden müssen: Deijenige, welcher nachahmt, muß sich nach den Vorstellungen derer richten, die das Bild vergnügen soll. Das ist, wenn sie eine andre Vorstellung von dem Vorbilde haben, als es in der That beschaffen ist; muß er nicht mehr die Sache selbst, die er nachahmet, sondern die Begriffe derer, denen zu gefallen er sein Bild verfertiget, zu seinem Vorbilde nehmen, und sein Bild muß der Sache unähnlich werden, damit es desto eher mit den Begriffen derselben übereinkomme. [...] Weil die Gegeneinanderhaltung des Bildes und Vorbildes in der Einbildungskraft geschieht, so ist nicht die Sache selbst, sondern der Begriff und die Vorstellung von der Sache, das Vorbild. (144f.)
Gleichwohl: Schlegels differenzbasierte Nachahmungskonzeption ist eine poetologische Camouflage, die zunächst verbirgt, was ihr die ontologischen Traditionen Alteuropas letztlich wieder abverlangen. Weil auch für Schlegel literarische Themen und Sujets (res) kosmologisch verankerte Essenzen bilden, die ihre Würde ihrer je unterschiedlichen Position innerhalb einer hierarchischen Schöpfüngsordnung verdanken, sind nicht alle res in gleichem Maße als »Vorbilder« der »Naturnachahmung« geeignet. »Unähnlichkeit«160 ist eine kosmologisch (und eben nicht: literarisch) begründete Anforderung, die darauf abzielt, sachliche und
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Schlegel: Von der Nachahmung [1742/43], a.a.O., S. 144. Ein besonders avanciertes Paradigma: Justus Moser, der den »unendlichen« Strukturreichtum der natürlichen Formen 1747 zum Anlaß nimmt, die Nachahmung der Natur unter explizitem Regelbruch prozessieren zu lassen. Vgl. Justus Möser: Die Deutsche Zuschauerin. Dreizehntes Stück [Mittwochs, den 29. Mart. 1747]. in: Justus Möser: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden. Erste Abteilung: Dichterisches Werk, philosophische und kritische Einzelschriften. Band 1 : Wochenschriften. Berlin 1945. S. 338-344, bes. S. 342. Schlegel: Von der Nachahmung [1742/43], a.a.O., S. 176.
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formale Korruptionen des »Vorbilds« zu tilgen und für den Beobachter affektiv zu dämpfen. Selbst der grauenvollste Bühnentod mitsamt seinen maßlosen Affektbewegungen und ungemilderten Häßlichkeiten kann durch eine Nachahmung gefiltert werden, die den sensitiven Gemütern das »Röcheln und Zucken eines Sterbenden« (174) vorenthält: Ist es aber wohlgethan, Unähnlichkeiten in die Nachahmung zu bringen, wenn man dadurch ein größres Vergnügen erhalten kann; so ist man schuldig, es zu thun, wenn das Vergnügen, das wir suchen, wieder durch die Aehnlichkeit unterbrochen würde. Obgleich alle Empfindungen der Aehnlichkeit Vergnügen erwecken muß, so kann doch dieses Vergnügen nicht bey allen Dingen kräftig und lebendig in uns werden. Der Abscheu vor der Sache [...] tödtet öfters die Lust, die wir aus der Aehnlichkeit derselben empfinden wollen, und gebiert statt derselben in uns Widerwillen und Ekel. Sollten uns Raserey, Ohnmacht, und Tod so schrecklich abgebildet vor Augen stehen, als sie in der That sind; so würde öfters das Vergnügen [...] in Entsetzen verkehrt werden. Das Röcheln und Zucken eines Sterbenden würde die Beherztesten aus ihrem Vergnügen reißen [...]. Es ist kein andres Mittel übrig, als das wir diese Bilder den Vorbildern unähnlich machen, (ebd.)
Nun zeichnen sich hinter den Versuchen Breitingers und Schlegels, »Ergetzen« und »Vergnügen« gegen ihre »gantz unangenehme und widrige« 161 Kehrseite zu sichern, deutliche Bemühungen ab, traditionelle Funktionsbestimmungen (prodesse und delectare162) aufzusprengen, um alle auf der Seite des prodesse angeordneten Nutzerwartungen in die Umwelt literarischer Kommunikation abzudrängen. Damit vollziehen die Poetiken im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts allmählich die »Auflösung alter Multifiinktionalitäten«, 163 die bislang in den Kommunikationshaushalten Alteuropas verankert waren und nun der Notwendigkeit von funktional »selbstsubstitutiven Ordnungen« (ebd.), das heißt ausschließlich systembezogenen Funktionshorizonten, weichen. Die zeittypischen Reflexionen auf den >Endzweck< der Poesie lösen dieses Problem versuchsweise dadurch, daß sie es zunächst in den Kontext der Naturnachahmung stellen und - pars pro toto - auf das ganze Feld des Poetischen ausdehnen. Johann Elias Schlegel läßt die Naturnachahmung 1742 - in entschiedener Distanz zu Batteux - nur noch insofern als Einheitskriterium der »schönen Künste« 164 zu,
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Breitinger: Critische Dichtkunst [1740]. a.a.O., S. 69. Vgl. Horaz: Ars poetica, V. 333: »aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.« Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. a.a.O., S. 624. Schlegel: Von der Nachahmung [1742/43], a.a.O., S. 98. Vgl. auch Gerlinde Bretzigheimer: Johann Elias Schlegels poetische Theorie im Rahmen der Tradition. München 1986. S. 84ff.
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als sie ihren »Endzweck« im »Vergnügen« (100) findet. Weil sich die Naturnachahmung als »allgemeiner Grundsatz« (98) an den Regularien anderer nachahmender »Reden« relativiert, muß die Nachahmung auf ihren je spezifischen »Endzweck« (100) hin rekonstruiert werden: Mein Bruder scheint, wie Batteux, die Nachahmung fur einen so allgemeinen Grundsatz anzunehmen, daß er glaubt, die schönen Künste überhaupt, und insbesondere die gantze Poesie auf ihn zurückbringen zu können. (98) [...] Vielleicht könnte man auch behaupten, daß sich nicht alle Gattungen der Poesie, und alle Regeln derselben mit gleicher Deutlichkeit aus einem einigen Grundsatze erklären lassen. [...] Eine so weitläufige Bedeutung [...] macht zwar die Lehre von der Nachahmung sehr allgemein, aber auch deswegen unfruchtbar. Der Endzweck zu vergnügen, unterscheidet alsdann die Nachahmung der Natur, die in den schönen Künsten stattfindet, von den übrigen Gattungen. (100) Was Schlegel 1742 zum Streitpunkt der gelehrten Welt erklärt, wird rund sechs Jahrzehnte später, im Kreis der Romantiker gleichen Namens, >Autonomie< heißen. Denn Schlegel fordert ein »Vergnügen«, das als immanenter, d.h. nicht-extern motivierter Zweck der Nachahmung erkennbar wird und insofern nichts zur Erfüllung anderer Zwecke beiträgt. Anders als der »Kitzel des Geschmacks« (101), der lediglich eine »Ermunterung« zum »Gebrauche der Nahrungsmittel« darstellt, verhält sich das Vergnügen an der poetischen Nachahmung zu äußeren Voraussetzungen und Bedingungen emergent, weil es wesensmäßig aus der »Nachahmung der Natur« resultiert und weder Beiträge zur Erfüllung literaturexterner Zwecke leistet, noch aus ihnen herleitbar ist: Wenn von den schönen Künsten die Rede ist, daß das Vergnügen ihr Hauptzweck, und der Nutzen derselben untergeordnet sey, so sind alte und neue Kunstrichter hierinn einstimmig [...]. Betrachtet man aber diesen Satz so allgemein, als er hier vorausgesetzet ist, so könnte er leicht anstößig erscheinen. Es ist mancherley menschlichen Handlungen ein unzertrennliches Vergnügen verbunden, welches deswegen doch nicht als der Endzweck, sondern nur als ein Erleichterungsmittel derselben angesehen werden darf. Der Kitzel des Geschmackes bey dem Gebrauche der Nahrungsmittel, die Zufriedenheit, bey der Ueberzeugung, seine Pflicht gethan zu haben [...], gehören hieher. Ein jeder sieht, daß diese Arten von Vergnügen nur Ermunterungen sind, die uns antreiben, einen wichtigeren Endzweck zu erreichen [...]. Das Vergnügen in den schönen Künsten fließt aus dem innem Wesen derselben, indem es ihr durchgängig erkannter Hauptzweck ist. (lOlf.) Schlegels Nachahmungstheorie präsentiert sich mit diesem frühen, gleichwohl bemerkenswerten Versuch, den neuartigen Anforderungen an funktionale Autonomie gerecht zu werden, ungleich widerspruchsfreier als Karl Philipp Moritz rund vier Jahrzehnte später. Moritz' ebenso barocker wie epochaler Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften
unter dem Begriff des
in sich selbst Vollendeten erliegt der Suggestion, die noch junge Autonomie der
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Literatur über den Abweis aller technischen, d.h. heteronomen Funktionen zu denken und in die Figur des »in sich selbst Vollendeten« 165 zu komprimieren. Ähnlich wie Johann Elias Schlegel gewinnt Moritz die funktionale Autonomie der »schönen Künste« (7) aus einer Frontstellung gegen alle externen, also etwa technischen, wissenschaftlichen oder pragmatischen Zwecke, erkauft sie freilich mit der funktionalen Paradoxie, gerade in der Zwecklosigkeit oder »Selbstzweckhaftigkeit« eines in sich ruhenden Werks die Funktion der Kunst sehen zu müssen. Gerade weil die ruhevolle »innere Zweckmäßigkeit« (12) des »schönen Gegenstandes« (ebd.) nur als »in sich selbst Vollendetes« (7) gedacht werden kann, bleiben die »schönen Künste« ohne jede Funktion: Da das Nützliche seinen Zweck nicht in sich, sondern außer sich in etwas anderem hat [...]; so muß derjenige, welcher etwas Nützliches hervorbringen will, diesen äußern Zweck beständig vor Augen haben. (8) [...] Bei dem Schönen ist es umgekehrt. Dieses hat seinen Zweck nicht außer sich, und ist nicht wegen der Vollkommenheit von etwas anderm, sondern wegen seiner eignen innern Vollkommenheit da. (9) [...] Das heißt mit andern Worten: ich muß an einem schönen Gegenstande nur um sein selbst willen Vergnügen finden; zu dem Ende muß der Mangel der äußern Zweckmäßigkeit durch seine innere Zweckmäßigkeit ersetzt sein; der Gegenstand muß etwas in sich selbst Vollendetes sein. (12)166 Gleichwohl: Auch Schlegel kann Funktionsblockaden dieser Art nicht umgehen. Denn die funktionale Autonomie der Literatur (»Vergnügen«) verliert sich dort wieder, w o Schlegel Rückkopplungen an alte (horazische) Multifunktionalitäten sucht, die die Ähnlichkeitsrelation der Nachahmung zwischen einem nachgeahmten »Vorbild« 167 und einem nachahmendem »Bild« (109) überformen. Was als Funktion der Poesie geltend gemacht werden kann, ist die immanente Ordnung in der »Beschaffenheit des Vorbildes« (157), dessen zweckmäßige und vollkommene Struktur dazu dient, den Beobachter zu »unterrichten« (158). So wie die Teile in einem schönen Ganzen harmonisch zusammenstimmen, so
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Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten [1785]. in: Beiträge zur Ästhetik. Hg. und kommentiert von Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler. Mainz 1989. S. 7 17. S. 7. Vgl. Plumpe: Epochen modemer Literatur. a.a.O., S. 73ff. Das Zitat legt den Schluß nahe, Moritz habe die funktionale Autonomie der schönen Künste ähnlich wie Schlegel im »Vergnügen« am »schönen Gegenstande« gesehen. »Vergnügen« aber bewirkt auch das »Nützliche« (7), insofern der nützliche Gegenstand eine (außer ihm liegende) Gebrauchsfùnktion erfüllt: »Bei dem bloß Nützlichen finde ich nicht sowohl an dem Gegenstande selbst, als vielmehr an der Vorstellung von der Bequemlichkeit oder Behaglichkeit, die mir [...] durch den Gebrauch desselben zuwachsen wird, Vergnügen.« Schlegel: Von der Nachahmung [1742/43]. a.a.O., S. 109.
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schafft das »Vorbild«, dessen »Ordnung« in der Nachahmung wiederkehrt, eine »edle Nebenabsicht« (158), die der »angenehmen Hauptabsicht« nachgeordnet ist und doch in einem Steigerungsverhältnis zum »Vergnügen« (136) steht: Weil »eines das andere befördert« (158) können sich »Vergnügen« und »Unterrichten« (136) aneinander »erhalten« (158) und optimieren: Wenn die Beschaffenheiten eines Vorbildes viel Annehmlichkeit und Ordnung an sich selbst haben, so wird alle diese Ordnung zugleich mit in das Vorbild hinüber getragen. [...] Kurz, je mehr Ordnung an dem Vorbilde selbst ist, je mehr Vollkommenheit es besitzt; desto schöner ist es zur Nachahmung, wenn alles übrige dabey zusammenstimmet [...]. Eine der größten Vollkommenheiten eines solchen Vorbildes ist, zu unterrichten, wenn zumal das Vorbild mehr in den Verstand, als in die Sinne, fallt. Es vergnüget den Verstand des Menschen nichts so sehr, als was ihn lehret, zumal wenn es ihn nicht zu lehren scheint. [...] Folglich sind die diejenigen Vorbilder die angenehmsten, welche die lehrreichsten sind. [...] Endlich ist es allezeit eine Sache, welche die Klugheit rathen wird, mit einem so angenehmen Hauptzwecke eine so edle Nebenabsicht zu verbinden; da man sie beyde zugleich erhalten kann, und da eines das andere befördert. ( 157f.) Solange alle Poetologie freilich noch eine sorgenvolle Anthropologie mitführt, die insbesondere im Bereich der Einbildungskraft diätetische Mäßigung verlangt, bleiben auch um 1740 noch ältere Funktionskomplexe in Kraft. Es ist die Hygiene der »Phantasie« und des »Gemüthes«, 168 die der Poet im Zeitalter affektiver Verführbarkeit und falscher »Rührung« sorgsam zu pflegen und gegen die Gefahren bloßer voluptas zu schützen hat, indem er »Ergetzliches« und »Nützliches« (101) zur höheren Ehre des »Wahren und Guten« (ebd.) kombiniert. Weil alle »Nachahmung [ . . . ] nothwendig ergetzen muß« (ebd.), die »Künste und Wissenschaften« zugleich aber zur »Beförderung der menschlichen Glückseligkeit« (ebd.) dienen, liege es nahe, daß nichts in seinem rechten und vernünftigen Gebrauche könne ergetzlich seyn, was nicht zugleich nützlich ist. Demnach öffnen diejenigen, welche das Nützliche von dem Ergetzlichen sondern, zu dem schändlichsten Mißbrauche der Künste Thür und Thor, und machen solche zu Werckzeugen der garstigsten Lüste. Wenn ich dann sage, daß das Ergetzen der Hauptzweck der Poesie sey, so verstehet sich da nicht ein schändliches Ergetzen, welches seinen Ursprung von dem Laster nimmt, und den schlimmen Lüsten schmeichelt, sondern das ist ein Ergetzen, welches der Vernunft und Würdigkeit der menschlichen Natur gemäß, und auf das Wahre und Gute gegründet ist [...]; folglich muß das Ergetzen, welches die poetische Kunst gewähren kan, den Menschen zur Beobachtung der natürlichen, bürgerlichen und christlichen Pflichten aufmuntern und also seine Glückseligkeit zu befördern dienen. (101 f.)
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Breitinger: Critische Dichtkunst [1740]. a.a.O., S. 58.
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Mit Carl Friedrich Brämers ebenso aristotelischer wie unaristotelischer Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst
wird die um 1750 sich vollzie-
hende Schwächung traditioneller Nachahmungskonzeptionen endgültig sichtbar. 169 Traditionell, und das heißt: aristotelisch ist Brämers Untersuchung
zu-
nächst noch dort, wo sie die Grundentscheidungen der Poetik nochmals bekräftigt. Statt des gängigen Verskriteriums sieht auch Brämer das »beständige und wesentliche der Poesie« 1 7 0 in der »Nachahmung« (18), die wie die Dichtkunst ganz aristotelisch dazu dient, »durch wahrscheinliche Erdichtungen und Fabeln« die menschlichen »Leydenschaften und Gemüthsbewegungen« (16) zu reinigen. Neuartig und durch die aristotelische Autorität kaum gedeckt ist dagegen die zeichentheoretische Grundlegung der Naturnachahmung. »Worte« (20), so Brämers semiotische Überzeugung in vor-semiotischer Zeit, bilden Zeichen, mit denen die »Gedanken« die »Sachen« imaginativ repräsentieren. Gleichwohl ist Nachahmung auch in dieser zeichentheoretischen Fassung ein repräsentationslogischer Vorgang, der die Dinge allererst für das Bewußtsein vergegenwärtigt. Dabei beruht die Wahrnehmung - ähnlich wie bei Johann Jakob Breitinger und Johann Elias Schlegel - auf der Beobachtung von Ähnlichkeiten, die zwischen nachgeahmter Wirklichkeit und nachahmendem Objekt bestehen: Uberhaupt heißt nachahmen soviel, als etwas ähnliches machen. [...] Da aber Aristoteles hier nur von der Dichtkunst handelt, und niemandem unbekannt ist, daß selbige ihre Nachahmung durch Worte verrichte: so haben wir nur zu sehen, zu was für Arten der Nachahmung Worte fähig seyn. Es sind die Worte, wie ein jeder weiß, Zeichen unserer Gedanken, und der Sachen so selbige vorstellen, (ebd.)
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Vgl. Carl Friedrich Brämer: Gründliche Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst. Danzig 1744. Brämers eigenwillige und fernab von den poetologischen Zentren entstandene Untersuchung ist in der Forschung, sieht man von wenigen Erwähnungen ab, kaum beachtet worden; eine Gesamtwürdigung der Poetik, die den Überlegungen Bodmers, Breitingers, Schlegels oder Meiers in ihrer Bedeutung für die Variation des überlieferten poetologischen Wissens kaum nachsteht, steht aus. Für einzelne Hinweise vgl. Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 2: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang. Berlin 1956. S. 119-127 (noch immer ausfuhrlichste Darstellung); Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. a.a.O., S. 50-53 (Brämer als Kritiker Gottscheds); Henning Boethius (Hg.): Dichtungstheorien der Aufklärung. Tübingen 1971. S. 145f. (knappe Würdigung des »völligen Außenseiters« Brämer); Wiegmann: Geschichte der Poetik. a.a.O., S. 64 (stichwortartige Darstellung der Untersuchung), sowie Alt: Begriffsbilder. a.a.O., S. 425f. (kurze Zusammenfassung der in ihrem »Libertinismus« erstaunlichen Untersuchung im Blick auf die aufklärerische Poetik der Allegorie).
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Brämer: Gründliche Untersuchung [1745], a.a.O., S. 16.
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Nun gelten auch für Brämers Nachahmungskonzeption jene Autoritäten, die bereits für Gottsched, Bodmer oder Breitinger verpflichtend gewesen sind. Auch in Danzig sind Aristoteles und die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie Grundlage für eine Naturnachahmung, die sich als Darstellung möglicher bzw. wahrscheinlicher Dinge und Ereignisse versteht. Um den modalen bzw. fiktiven Status der Nachahmung deutlicher kenntlich zu machen, spricht Brämer in eigenwilliger Weise von »Erdichtungen« (22, 105), bezeichnet damit aber durchaus das, was der aufklärerischen Poetik durch die Epistemologie Christian Wolffs und ihrer Konzeption der »möglichen Welten« bereits vertraut ist: Wir verstehen hier durch die Erdichtung eine Vorstellung desjenigen, so im gegenwärtigen Zusammenhange der Dinge nicht würklich vorhanden ist, als wenn es würklich wäre: und dasjenige, was als würklich vorgestellet wird, da es doch nicht würklich ist, heißt insoweit erdichtet. [...] Was die Erdichtungen der Poeten betrifft, so weiß einjeder, daß sie deswegen so genannt werden, weil uns darinnen etwas als wahr und würklich beschrieben und erzehlet wird, was doch niemals geschehen und vorhanden gewesen ist. (105f.) In Brämers Untersuchung
findet nicht zuletzt seine Quellen, was 1766 eine
Schrift Über die Grenzen der Malerei und Poesie der gelehrten Welt als semiotische Innovation zumuten wird. Ein Vierteljahrhundert vor Lessings
Laokoon
nutzt Brämers Konzept der »Erdichtung« in neuartiger Weise die Differenz, die sich aus der Anordnung und Verteilung der sprachlichen Zeichen bzw. der einzelnen Handlungselemente der Nachahmung ergibt. Brämers Untersuchung
un-
terscheidet daher zwei Zeichenklassen: Ordnen sich die Zeichen bzw. Elemente synchron an, so bildet die Nachahmung ein »Dichtungsbild« (108); ordnen sich die Elemente dagegen in einer Sequenz von Syntagmen an, so bildet die »Erdichtung« eine »Begebenheit« (107) bzw. eine »Fabel« (108): 171 Alle Sachen, die man sich vorstellen kann, sind entweder so beschaffen, daß alles, woraus sie bestehen, zugleich und zusammen vorhanden ist, oder sie bestehen gleichsam aus vielen Teilen, die alle aufeinander folgen, und nicht zugleich und zusammen vor-
Lessing begründet die »Grenzen der Malerei und Poesie« bekanntlich mit der semiotischen Differenz von »koexistierenden Kompositionen« (Malerei) und »fortschreitenden Nachahmungen« (Dichtung): während die Malerei »nebeneinander geordnete Zeichen« als »Körper« verwendet, nutzt die Poesie »aufeinanderfolgende Zeichen« als »Handlungen«. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie [1766]. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Kurt Wölfel. Frankfurt/M. 1988. S. 104f. - Die Vorläuferschaft Brämers ist mehrfach betont worden; vgl. nur Maikwardt: Geschichte der deutschen Poetik. a.a.O., S. 119ff.; Boethius (Hg.): Dichtungstheorien der Aufklärung. a.a.O., S. 146 und Wiegmann: Geschichte der Poetik. a.a.O., S. 64.
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handen sind. Alle diese Sachen, darinnen man eine Reihe auf einander folgender Dinge wahrnimmt [...], pflegt man Begebenheiten zu nennen. Vor die andern ist noch kein besondrer Nähme im Gebrauch. (107) [...] Nach diesem Unterscheide der Sachen müssen auch die Erdichtungen unterschieden seyn, nachdem sie dieser oder jener Art Sachen vorstellen. Die Erdichtung einer Begebenheit [...] nennen wir eine Fabel; eine solche Erdichtung hergegen, die uns so etwas vorstellet, was alles, woraus es besteht, zugleich hat, wollen wir ein Dichtungsbild nennen. (108) Die Auflösung dieser ungewohnten und offenbar vollständig kontextlosen Terminologie fallt auf den ersten Blick nicht leicht. Immerhin macht der Hinweis auf die zeitliche Sukzession der »Begebenheit« deutlich, daß der Begriff im wesentlichen die aristotelische Kategorie der »Handlung« bzw. ihre Verknüpfung zur »Fabel« (mythos) bezeichnen soll; hierfür spricht zudem, daß Brämer unter »Begebenheit« ausdrücklich »alle Handlungen der Menschen und Thiere« (107) erfaßt wissen will. Weniger eindeutig fällt dagegen das »Dichtungsbild« aus; im Verlauf der Untersuchung wird allerdings deutlich, daß das »Dichtungsbild« offenbar ein allegorisches Bezeichnungsverhältnis umfassen soll; 172 Brämer integriert damit eine Reihe poetischer Darstellungsformen - Allegorie, Parabel, Exempel, Fabel, Metapher etwa - , die allesamt uneigentliche Zeichenkomplexe darstellen. Das »III. Hauptstück« der Untersuchung unterscheidet daher auch »bedeutende oder hieroglyphische« (171) Dichtungsbilder, die vorrangig als allegorische Formen (»Gerechtigkeit«, »Hofnung«, »Klugheit«, 172) verstanden werden müssen, von einem »Exempel« (ebd.), das der Poet beispielsweise als Personifikation bestimmter Laster verwenden kann. In gattungspoetologischer Hinsicht gelingt es Brämer damit zugleich, Komponenten jener Lehrgattungen einzuführen, die im Kontext der aufklärerischen Poetik zunehmend an Bedeutung gewin-
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Der Begriff »Dichtungsbild« entspricht dem englischen conceit, das Brämer durch Francis Bacon kennengelemt hatte. Bacon hatte 1605 neben der »Poesie Narrative and Representative« (also der epischen und dramatischen Dichtung) auch eine »Allusive or Parabolical« Poesie unterschieden, die auf dem Prinzip der allegorischen Darstellung des Allgemeinen bzw. Abstrakten im Besonderen bzw. Konkreten beruht: »Allusive, or Parabolical, is a narration apllied only to express some speciali purpose or conceit.« Francis Bacon: From The tvvoo bookes of the proficience and advancement of learning, divine and humane [1605]. in: Joel Elias Spingam (Ed.): Critical Essays of the Seventeenth Century. Volume I (1605-1650). Oxford (U.P.) 1957. S. 7. Brämer hat dieses Schema als Quelle herangezogen (S. 87ff.) und die »parabolische« Poesie als »Historie mit einem Gegenbilde, welche uns die Wahrheiten des Verstandes sinnlich machet« (90) bezeichnet. Vgl. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. a.a.O., S. 52. Vgl. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. a.a.O., S. 53 und 11 Iff.; Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 126ff.
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Ein Dichtungsbild kann nun erstlich bedeutend oder hieroglyphisch seyn. Denn es stellet eine Sache vor, die alles, woraus sie besteht, zugleich hat [...]. (171) Kan man also ein solches Dichtungsbild aus solchen Theilen [...] zusammen setzen, daß es, wegen einiger Aehnlichkeit, eine andere Sache anzeiget [...]: so wird wohl niemand läugnen, daß ein Dichtungsbild könne bedeutend und hieroglyphisch seyn. Und wem sind die Dichtungsbilder unbekannt, wodurch man die Gerechtigkeit, die Hofìiung, die Klugheit, vorzustellen gewohnt ist? (172) Ein Dichtungsbild kan weiter ein klares Exempel von einer gewissen Gattung abgeben. Eine besondere Sache, so zur Erkenntnis oder zur Erläuterung einer ganzen Art oder Gattung dienet, nennet man Exempel. [...] Wenn z.B. die Tadlerinnen einen Narcissus, eine Gassenfama, eine Geilartin u.f.f. abschildern, so sind dieses erdichtete Personen, die aber die ganze Beschaffenheit gewisser Laster an sich zeigen, (ebd.)174 Was die Nachahmung schließlich leistet, ist die Bestimmung eines »Endzwecks« (171), den die Poesie unter Vermeidung funktionaler Äquivalenzen zu erfüllen hat. Brämers Untersuchung
fügt sich damit in den semantischen Trend zur Aus-
differenzierung von »selbstsubstitutiven Ordnungen«, 175 der um 1750 auch die angestammten poetologischen Diskurse erfaßt und zur Freigabe einer ausschließlich literarischen Funktion zwingt. Was sich der formalen Beschreibung nach aus älteren semantischen Routinen löst, ist in der Besetzung des Funktionscodes allerdings außerordentlich traditionell, denn Brämer sieht den »Endzweck« (171) der Poesie in der »unvermerkten Belehrung und Ueberredung« (192). Und weil der Poet grundsätzlich »angenehme und die Neugierde« (ebd.) erregende Stoffe zu wählen hat, hält die Untersuchung
eine ausführliche Erwähnung der »Belusti-
gung« (192) für nicht erforderlich: Man muß der Poesie denjenigen Endzweck setzen, der einem Dichter am gemässesten ist. Soll er diesem am gemässesten seyn; so muß er durch dasjenige, was derselbe braucht seine Absicht zu erreichen, am allerfuglichsten können erreichet werden. Ist nun die Erdichtung dieses; so muß es derjenige Endzweck seyn, der besser dadurch, als auf eine andere Art, kan erlanget werden. Dieses hält zweyerley in sich: 1 ) daß der gesetzte Endzweck durch die Erdichtung erreichet werden könne, 2) daß er dadurch besser, wie auf eine andere Art, könne erreicht werden. (171) [...] Wir können also mit Grunde sagen: Besteht eine Poesie in Erdichtungen; so kan man der Dichtkunst keinen anderen Endzweck zueignen, als die unvermerkte Belehrung und Ueberredung. Man wird vielleicht nicht zufrieden seyn, daß wir der Belustigung der Leser [...] nicht mit mehreren gedacht haben. Wir schliessen selbige aber deswegen nicht aus. Vielmehr [...] haben
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Die »hieroglyphische Bedeutung« (171) geht auf die Psychologia Empirica Christian Wolffs zurück, die im 151. Paragraphen definiert: »Significatum hieroglyphicum apello, quo res quaedam ad denotandam aliam transfertur.« Christian Wolff: Psychologia Empirica. Frankfurt/Leipzig 1732. in: Gesammelte Werke. II. Abteilung: Lateinische Schriften. Bd. 5. Hg. und bearbeitet von Jean Ecole. Hildesheim 1968. S. 104. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. a.a.O., S. 624.
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wir [...] zum Grande gesetzt, daß man sich in allen diesen Fällen solcher Erdichtungen bedienen müsse, die angenehm und die Neugier zu reizen fähig sind. ( 191 f.)
Zu welchen Revisionen diese konventionelle Funktionsbestimmung in der Lage ist, zeigt der überaus freie Umgang mit der überlieferten Wahrscheinlichkeitsforderung, die Brämer aus ihrer normativen Verbindlichkeit löst und funktionsspezifisch relativiert: wahrscheinlich muß die Nachahmung nur dort sein, wo ihr »Endzweck« anders nicht erreicht werden kann; jenseits dieser Regularien vermag das Unwahrscheinliche eine poetologische Legitimität zu erlangen, die ihr die Poetik Alteuropas bislang nicht zugestanden hat. Brämers Untersuchung zeigt sich im Ergebnis wesentlich konsequenter als die Leipziger und Zürcher Poetik, die eine Öffnung der Wahrscheinlichkeitsnorm nur über spezifische Hilfskonstruktionen - die Vorstellung der »möglichen Welten« (Gottsched, Breitinger), die »hypothetische Wahrscheinlichkeit« (Gottsched), 176 das »Wunderbare« als »vermummtes Wahrscheinliches« (Breitinger) 177 - erzielen kann: Nun können die Erdichtungen [...] sowohl wahrscheinlich als unwahrscheinlich seyn. [...] Ich bin daher immer der Meinung gewesen, daß die Wahrscheinlichkeit zwar hochzuschätzen sey, daß man aber deswegen alle unwahrscheinlichen Fabeln nicht verwerffen könne. Es kommt nur darauf an [...], daß die Fälle bestimmet werden, wenn man wahrscheinlich dichten müsse, und wenn dieses nicht nöthig sey. [...] Da ein jeder seiner Absicht gemäß handien muß; so ist man überhaupt verbunden, die Wahrscheinlichkeit zu beobachten, wo solches nöthig ist, den vorgesetzten Zweck desto fuglicher zu erreichen. Wo man aber auch ohne dieselbe zum Zweck gelangen kan, da wird es auch ohne Zweifel erlaubt seyn, unwahrscheinlich zu dichten. (193f.)
Brämer sieht die unwahrscheinlichen Fabeln freilich nur für die »bedeutenden und allegorischen Erdichtungen« (195), insbesondere für die äsopische Fabel, vor; die exemplarisch-didaktischen (»Muster und Exempel von Sachen«, 194) und dramatischen Gattungen (»Reden und Gespräche gewisser Personen«, ebd.) bleiben dagegen an das Primat der Wahrscheinlichkeit gebunden, damit sie vom Beobachter »als wahr und würklich [...] angenommen werden« (195). Die »allegorischen Erdichtungen« dagegen können - alternativ - wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sein; Brämers Bestimmungen legen lediglich nahe, die Darstellung einer »würklichen Sache« (ebd.) wahrheitsanalog durchzufuhren, wenn sich der Beobachter nicht einer bewirkten Täuschung gegenüber sehen soll. Handelt es sich dagegen um eine »artige Erdichtung« (ebd.) ohne jeden Wahrheitsanspruch, genügt es, die Unwahrscheinlichkeit der Handlung als Unwahrscheinlichkeit für den Beobachter kenntlich zu machen und alle Wahrscheinlichkeitsan-
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Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst [ 1730/41751 ]. a.a.O., S. 130 und Kap. IV, 9. Vgl. Breitinger: Critische Dichtkunst [1740]. a.a.O., S. 132 und ebenfalls Kap. IV, 9.
Nachahmung
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forderungen als zweckfremd auszuschließen. Beispielhaft leisten dies die »Aesopischen Fabeln« (201), weil sie auf einer unwahrscheinlichen Handlung beruhen, aber dennoch am funktionalen Primat der »Belehrung« (192) orientiert sind. 178 Brämer löst damit gattungstheoretisch ein, was er funktionstheoretisch in Aussicht gestellt hat: die flexible Handhabung wahrscheinlicher und unwahrscheinlicher Handlungsmuster am »Endzweck« (192) der Dichtung: Bedeutende und allegorische Erdichtungen können wahrscheinlich, auch unwahrscheinlich seyn. Entweder man giebt vor, eine würkliche Sache und Begebenheit zu erzehlen, oder man verspricht nur, eine artige Erdichtung zu liefern. Giebt man es selber vor nichts wahres aus, so nimmt der Zuhörer und Leser es auch nicht vor wahr und würklich an [...]. Demnach siehet man deutlich, daß hier alle Wahrscheinlichkeit unnüz sey, und also ohne Grund erfordert werde. Giebt man aber die Sache vor wahr aus, so muß sie auch wahrscheinlich seyn. Denn ist sie unwahrscheinlich, und kan sie also der Leser oder Zuhörer nicht vor was würkliches annehmen; so muß er nothwendig merken, daß man ihn hintergehen will. (195f.) [...] Jedermann weiß, daß die Aesopische Fabeln von leblosen Sachen, Pflanzen und Thieren zuweilen mit gutem Erfolg gebraucht werden können; und dennoch sind sie unwahrscheinlich. Auch in anderen allegorischen Erdichtungen trifft man oft Unwahrscheinlichkeiten an, die dennoch die gute Wiirkung derselben nicht verhindern. (201) Auflockerungen und Variationen der semantischen Masse, wie sie Breitinger, Schlegel und Brämer vortragen, gewinnen gegen 1740 einen symptomalen Stellenwert, weil an ihnen ablesbar wird, in welchem Maße die Nachahmungsdiskussion interne Energien verliert und ein gewandeltes Verhältnis zur geschriebenen Literatur gewinnt. Gegenüber der barocken Poetik des 17. Jahrhunderts, deren Regelmäßigkeiten wohl in den seltensten Fällen einen wirklichen Kontakt zur literarischen Produktion hergestellt hat, beginnt die Nachahmungsdebatte, die zwischen 1730 und 1780 gefuhrt wird, allmählich die Kluft zwischen literarischer und poetologischer Kommunikation zu schließen. Zumindest verdanken sich die zeitgenössischen Theorieprobleme spezifischen Reflexionsunsicherheiten, die nicht mehr länger innerhalb der überlieferten poetologischen Axiomatik erzeugt werden, sondern auf die literarische Produktion zu reagieren beginnen; dies gilt für die seit 1730 sich fortspinnende Debatte um das »Wunderbare« 179 wie für
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Dies betont auch Peter-André Alt; das »Unwahrscheinliche allegorischer Dichtungen läßt sich vertreten, sofem ihre Schönheit für einen angenehmen Effekt sorgt und ihr pädagogischer Nutzen die Köpfe aufklärt.« Vgl. Alt: Begriffsbilder. a.a.O., S. 426. Auf der Grundlage desselben Arguments zeigt sich 1751 auch Gottsched bereit, die äsopische Fabel in der Critischen Dichtkunst zu berücksichtigen. Ihr Funktionsgesetz lautet: Verzuckerung »bitterer Lehren« (Critische Dichtkunst [\TÌ0/*\151]. a.a.O., S. 446). Der Anlaß ist Miltons Epos Paradise lost, das Johann Jakob Bodmer 1732 erstmals vorgelegt hatte. Vgl. Kap. IV, 9.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
Breitingers durchaus ambivalente Brockes-Exegese, die eine bis Lessing und Moses Mendelssohn führende Debatte anstößt.180 An ihrem Ende wird Moses Mendelssohn gegen Johann Adolph Schlegel, der das »Häßliche« unter Verweis auf den alten Verbund von »Schönem« und »Gutem« für »ganz ausgeschlossen«181 hält, betonen, daß das, was »in der Natur das Schlimmste« sei, »in den schönen Künsten gefallen kann.«182 Semantische Umprogrammierungen dieser Art, die den Differenzierungsprozeß der Literatur gegen moralische und religiöse Grundsicherheiten vorantreiben und damit auf Reflexionsprobleme auflaufen lassen, die mit dem Nachahmungsdenken Alteuropas kaum mehr erfaßt werden können, münden nach 1750 schließlich in auffällige Entleerungen des wráeíií-Begriffs. Karl Philipp Moritz, dessen 1788 erschienene Studie Über die bildende Nachahmung des Schönen den Nachahmungsbegriff noch im Titel führt, markiert in gewisser Weise bereits Höhepunkt und Abschluß dieses Trends. Denn Moritz gründet die »Nachahmung des Schönen«183 zwar ganz alteuropäisch auf eine ontologische Weltschönheit; die Nachahmung, die dem (genial disponierten) Künstler aufgegeben ist, ahmt aber gerade nicht jene schöne, reich strukturierte Weltfülle, sondern deren reduzierte, gleichsam mikrokosmische Anschauung nach. Was der Künstler »bildend« (ebd.) ins Werk setzt, ist bereits ein ästhetisch vorstrukturierter KunstKosmos, der den an sich unzugänglichen Formenreichtum der Welt selektiv verkleinert und in den Mikrokosmos des schönen Werks transformiert: Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Andruck des höchsten Schönen im grossen Ganzen der Natur; welche das noch mittelbar durch die bildende Hand des Künstlers nacherschafft, was unmittelbar nicht in ihren grossen Plan gehörte. (44)
Dieses Abbildungsverhältnis zwischen Weltschönheit und Werkschönheit, das über den traditionellen Nachahmungsbegriff geschlossen wird, verliert sich in eine tautologische Figur, die die alteuropäische mz'man's-Tradition letztlich semantisch entleert. Denn die Nachahmung der schönen Natur ahmt in neuartiger
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Vgl. Zelle: Angenehmes Grauen. a.a.O., S. 38Iff. Johann Adolph Schlegel: Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie, in: Batteux. Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz [31770]. a.a.O., S. 185-248. S. 216. Moses Mendelssohn: Brieffe, die neueste Literatur betreffend. Berlin 1759ff. 87ster Brief, den 28. Februar 1760. in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. 7 Bde. Nach den Originaldrucken und Handschriften hg. von G.B. Mendelssohn. 4. Bd., 2. Abtheilung. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1863. Hildesheim 1976. S. 29. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen [1788]. in: Beiträge zur Ästhetik. a.a.O., S. 27-78. S. 44.
Geschmack
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Weise eine immer schon selektiv vorgeordnete Kunstwelt nach, die die »bildende Nachahmung des Schönen« vor den Reflexionszwang stellt, sich selbst, also eine bereits zur Kunst gewordene bzw. aus deren Erfahrungen heraus konstruierte Welt nachzuahmen: Von dem reellen und vollendeten Schönen also, was unmittelbar sich selten entwickeln kann, schuf die Natur doch mittelbar den Wiederschein durch Wesen, in denen sich ihr Bild so lebhaft abdrückte, daß es sich ihr selber in ihre eigene Schöpfung wieder entgegenwarf. - Und so brachte sie, durch diesen verdoppelten Wiederschein sich in sich selber spiegelnd, über ihrer Realität schwebend und gauckelnd, ein Blendwerk hervor, das fur ein sterbliches Auge noch reizender, als sie selber ist. (45)
Moritz' Nachahmungskonzeption erweist sich im Ergebnis als ausschließlich »selbstreferentieller Kunstprozeß«, der ein »eigendirigiertes Weltprogramm« 184 nachahmt. Diese paradoxale Zumutung, die Kunst sich selbst nachahmen zu lassen, wird die reife romantische Poetik gegen 1800 schließlich entschärfen und mit dem vollständigen Verlust des alteuropäischen Nachahmungsdenkens bezahlen: als Einsicht in die ausnahmslos selbstreferentielle Struktur ihrer Reproduktion, die auf keine >Natur< mehr zurückgreifen muß.
3. Geschmack Über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Wer sich bis 1800 auf die Evidenz seines guten Geschmacks beruft, verläßt den gesicherten Raum eines kriteriellen Wissens, an dessen Stelle die private Neigung tritt. Daß sich das Geschmacksurteil mit seiner Lizenz zur persönlichen Idiosynkrasie und geiühligen Unscharfe kaum diskursiv aushandeln läßt, wußte bereits die scholastische Tradition. »De gustibus et coloribus non disputandum«, heißt es dort; wo der Geschmack urteilt, fliehen Klarheit und begriffliche Strenge. Um so bemerkenswerter ist es, daß das Geschmacksurteil in den 50er und 60er Jahren Einzug in eine disziplinare Ordnung hielt, deren Kommunikationsgewohnheiten affektive Verdunkelungen gerade ausschließen und an einen ästhetischen >Laien< zurückverweisen, der der Esoterik einer ebenso voraussetzungsvollen wie urteilssicheren Rede nicht zu folgen vermag. So hat die sprachanalytische Ästhetik Nordamerikas, allen voran Frank Sibley, die Spezifik einer sachangemessenen Kommunikation über Kunst und Literatur in der Verwendung von aesthetic concepts,
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Plumpe: Epochen modernen Literatur. a.a.O., S. 77.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
also »ästhetischen Begriffen« 185 sehen wollen, die im »kritischen oder wertenden Diskurs über Kunstwerke« (88) jenseits deskriptiver Sätze gerade »Geschmack, Wahrnehmungsvermögen oder Sensibilität« (87) erfordern. Während analytischdeskriptive Sätze vom Typ »>bei dem Gemälde wurden blasse Farben verwend e t « (ebd.) beobachtbare Merkmale in einer quasi-objektiven Aussageform versammeln, setzt das Geschmacksurteil eine »ästhetische Empfänglichkeit« (89) voraus, deren Prädikate - »>einheitlichausgewogenintegriertleblosheiterdüsterdynamisch< [...]« - eine eigene Rationalität entfalten. Geschmacksurteile, auch wenn sie keine »Sache der persönlichen Vorliebe oder Neigung« (89) sind, bleiben, so Sibleys Resümee, hinsichtlich ihrer denkmöglichen Ersetzbarkeit durch »nicht-ästhetische Merkmale« (90) inkommensurabel: »Ästhetische Begriffe oder Geschmacksbegriffe sind in dieser Hinsicht keinerlei Bedingungen unterworfen.« (ebd.) Sibleys Argumentation verschweigt freilich, daß die Rede vom Geschmack keineswegs voraussetzungslos ist. Bis 1750 macht der Geschmacksdiskurs eine der zentralen, die Reflexionsmöglichkeiten des alten Literaturwissens nochmals bündelnden Leitdebatten der alteuropäischen Poetik aus - und dies in einem verschlungenen gesamteuropäischen Spektrum, das die Rekonstruktion der Begriffsverwendung ebenso wie seiner unterschiedlichen Rezeptionsdichte - die deutsche Diskussion ist, wie so oft, durch gewisse Verspätungen gekennzeichnet - erheblich erschwert. 186 Daß Geschmacksfragen primär Fragen der Literatur und Kunst betreffen, ist im 17. und 18. Jahrhundert freilich nicht selbstverständlich. Rhetorik und Poetik haben seit ihren antiken Anfängen zwar kontinuierlich über die Erkenntnismöglichkeiten eines sensuellen Urteils nachgedacht, der Geschmacksbegriff aber bleibt lange Zeit unspezifisch und erklärt daher die Weite seiner Anschlußmöglichkeiten, die so unterschiedliche Sphären wie Konversation, Interaktion, Kleidung und Gespräch umspannen. Geschmack äußert der alt-
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Frank Sibley: Ästhetische Begriffe, in: Rüdiger Bittner/Peter Pfaff (Hg.): Das ästhetische Urteil. Beiträge zur sprachanalytischen Ästhetik. Köln 1977. S. 87-110. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die deutschsprachige Diskussion, ohne die z.T. eminenten Einflüsse der französischen, italienischen und englischen Poetik übersehen zu wollen. Für einen Überblick über die gesamteuropäische Diskussionsbreite vgl. Ute Frackowiak: Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmackbegriffs. München 1994; Hans Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt/M., Bern 1982; Franz Schümmer: Die Entwicklung des Geschmackbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955). S. 120-141, sowie ders./Hannelore Klein/Karl Heinz Stierle: Artikel >GeschmackKlugheit< im sozialen Verkehr. Gleichwohl formuliert die antike Grundlegung des Geschmacks - das iudicium spezifische Reflexions- und Problemlagen vor, die im 17. und 18. Jahrhundert als neuartig rekonstruiert werden, zumindest aber auf eine problemgeschichtliche Kontinuität verweisen, die die Kommunikation von Geschmacksurteilen an eine Reihe immer gleicher Fragen koppelt. Nun ist die systematische Position des iudiciums in der antiken Rhetorik ebenso klar wie unklar. Traditionell bildet das iudicium einen Teil des decorums, weil hier entschieden werden muß, was der Rede in einem zunächst immer unspezifisch bleibenden Sinne >angemessen< und >schicklich< ist. Quintilian dehnt das iudicium auf alle Arbeitsphasen der Rede aus; Urteilssicherheit benötigt der Redner, anders als Cicero noch urteilte, in der inventio wie in der dispositio, in der elocutio wie in der actio: Manche haben [...] der Erfindung die Urteilskraft [iudicium] zugeordnet, weil zuerst die Erfindung komme und dann das Urteilen [iudicare]. Ich gehe nun so weit zu glauben, man könne nicht einmal erfinden, ohne zu urteilen. [...] Cicero hat zwar in seiner Rhetorik das Urteil der Erfindung untergeordnet. Mir scheint es aber so sehr mit den drei ersten Abteilungen verschmolzen zu sein - denn auch Anordnung und Darstellung können doch nicht ohne Urteilskraft entstehen - , daß ich glauben möchte, auch der Vortrag entlehnt sich das meiste von ihm. (III, 3, 5f.)
Der Wirkungsbezug der Rede verengt das iudicium allerdings gewöhnlich auf das äußere aptum, weil die Rede im Blick auf die äußere Redesituation, und das heißt vor allem: im Blick auf die erwartbare Publikumsstruktur so organisiert werden muß, daß der Redner, insbesondere im Rahmen des genus iudicale, möglichst publikumswirksam auftritt. Weil, wie Ciceros Brutus weiß, die Rede immer öffentliche Rede ist, hat sie sich in aller Regel, anders als die Dichtung, an ein rhetorisch ungeschultes Publikum zu wenden, dessen Affektenergien das bevorzugte Feld des Redners sind:187 Ein Poem mit seinen Besonderheiten bedarf nur des Beifalls der Wenigen. Eine Rede vor dem Volke dagegen muß die Zustimmung der Masse finden.188
Was die antike Rhetorik aller theoretischen Ambitionen ungeachtet sucht, ist die Gnade des Laienurteils, weil an ihm abgelesen werden kann, daß sich die Treff-
187
188
Dies schon die leitende These von Gabler: Geschmack und Gesellschaft. a.a.O., S. 7, wo die »Rhetorik in ihrer praxisorientierten, öffentlichkeitsbezogenen Form« zur Grundlage des Geschmacksideals erklärt wird. Cicero: Brutus 51, 191.
Paradigmen poetologischer Kommunikation
198 Sicherheit des iudiciums
immer einer ingeniösen, d.h. natürlich vermittelten In-
tuition (ingenium) verdankt, die der Kontrolle regelhafter Schulung (ars, Studium) nur bedingt zugänglich ist: Dabei soll sich niemand darüber wundern, wie denn das laienhafte [vulgus] breite Publikum beim Hören solche Dinge wahrnimmt. Denn überall und ganz besonders hier zeigt sich die Wirkung der Natur in ihrer großen, ja unglaublichen Bedeutung. Denn alle unterscheiden unbewußt ohne System und Theorie [sine ulla arte aut ratione], was in den einzelnen Gebieten und Disziplinen richtig und verkehrt ist. [...] Denn die Voraussetzungen dafür sind dem allgemeinen Empfinden eingeprägt, und niemand sollte nach dem Willen der Natur ganz frei von ihnen sein.189 Als natürliches Vermögen ist das iudicium so wenig erlernbar wie Geschmack und Geruch - »quam gustus aut odor«, so die Auskunft Quintilians (VI, 5,1) - , andererseits ist das Geschmacksurteil das Resultat einer progressiven Schulung (,Studium) und Übung (exercitatio), die die Treffsicherheit des Urteils im Umgang mit musterhaften Autoren optimiert. Festigen läßt sich der Geschmack daher nur, wenn sich der Redner einer unablässigen Lektüre der alten und modernen Autoren aussetzt, an deren paradigmatischen Leistungen das Urteilsvermögen perfektioniert werden kann: Bei gefestigtem und nicht mehr gefährdetem Geschmacksurteil aber möchte ich raten, sowohl die Alten zu lesen [...] als auch die Modemen, die auch wieder viele Vorzüge besitzen; denn die Natur hat uns ja nicht zum trägen Beharren verurteilt. (II, 5,23) Es ist dieses »träge Beharren«, genauer: das souveräne Ideal seiner Kehrseite, was das Geschmacksurteil im 17. Jahrhundert an die >politischen< Konversationstheorien und Verhaltensethiken anpaßt und damit den Unmittelbarkeiten und Reziprozitätszwängen direkter Interaktion anvertraut.190 Die Forschung hat die Genese des modernen Geschmacksbegriffs daher mit der »prudentistischen Moral« (Wilfried Barner) Baltasar Graciáns in Verbindung gebracht, auch wenn Gracián für die frühneuzeitliche Theorie des gusto weniger eine begründende als initiatorische Funktion gehabt zu haben scheint. 191 Gleichwohl: Graciáns gusto
189
190
191
Cicero: De oratore III, 195. Ebenso Quintilian: Institutio oratoria V, 14, 29: »Wir müssen unsere Rede nach dem Urteil anderer einrichten, ja wir müssen öfters von ganz Ungebildeten und jedenfalls mit dieser Art von Wissenschaft Unbekannten reden.« Vgl. Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, sowie zu den galanten und privatpolitischen Varianten in Deutschland Kap. IV, 8. Vgl. nur Schümmer: Die Entwicklung des Geschmackbegriffs. a.a.O., S. 121f. Der spanische Begriff >gusto< ist allerdings bereits seit dem Ende des 15. Jahrhunderts bekannt. Vgl. Reinhard Brandt: Marginalie zur Herkunft des Geschmacksbegriffs in der
Geschmack
199
verankert das individuelle Urteilsvermögen in einem neuartigen interaktionsbezogenen Kontext, der den Einzelpersonen, die sich in einen laufenden Kampf um Karrierechancen und Statusgewinne verwickelt sehen, einen passenden, gleichwohl denkbar labilen Erfolgshorizont zur Verfugung stellt. Worüber der Einzelne im Zeichen des gusto verfügen muß, ist ein Wissen um die Rollenhaftigkeit aller sozialen Interaktion und die damit eng korrespondierende Fähigkeit, die eigenen Interessen und Motivlagen - gleichsam im Rücken der Beobachtung durch andere - zu verbergen, um sie um so wirkungsvoller durchsetzen zu können. Leitbild ist der vollkommene Weltmann - der discreto - , der seinen sozialen Erfolg von der laufenden Introspektion seiner Person, vor allem aber von der Schulung einer Urteilskraft abhängig macht, die in allen sozialen Belangen situativ das je Richtige trifft. Über gusto verfügt mithin, wer sein Verhalten und Sprechen ebenso sicher wie intuitiv an den Konversationspräferenzen des Gegenübers abstimmt, aber auch der, der die Machtspiele am Hof hellsichtig durchschaut und diese Kompetenzen als Steigerungswerte der eigenen Perfektibilität verwendet: Seine Vollendung erreichen. Man wird nicht fertig geboren: mit jedem Tag vervollkommnet man sich in seiner Person und seinem Beruf, bis man den Punkt seiner Vollendung [punto del consumado] erreicht, wo alle Fähigkeiten vollständig, alle vorzüglichen Eigenschaften entwickelt sind. Dies gibt sich daraus zu erkennen, daß der Geschmack erhaben [realzado del gusto], das Denken geläutert, das Urteil reif [madura del juicio] und der Wille rein geworden ist." 2
Was die prudentistische Moral Graciáns kennzeichnet, ist eine voll durchreflektierte Selbstreferenz der Interaktion, in der Geschmackskompetenzen, intuitive Urteilssicherheiten und Schicklichkeitsstrategien im Prozessieren von Interaktion erlernt und geschult werden. Der gusto bildet einerseits ein angeborenes Vermögen - ein genio, dem die razon gegenübergestellt wird193 - , ist aber im Umgang mit geschmackssicheren Konversationspartnern und durch laufende erfahrungs-
1,2
193
neuzeitlichen Ästhetik (Baltasar Gracián). in: Archiv fur Geschichte der Philosophie 60 (1978). S. 168-174. S. 169. Baltasar Gracián: Handorakel oder die Kunst der Weltklugheit [1647]. Übers, von Arthur Schopenhauer. Mit einem Nachw. hg. von Arthur Hübscher. Stuttgart 1954. S. 6f. Die zweiwertige Begriffsdisposition - gusto und razon, genio und ingenio - ist vertraut: Der Geschmack bildet ein natürliches Vermögen, dem die schulbaren Verstandeskräfte korrespondieren; beides aber - Geschmack und Verstand - sind »hermanos de un vientre« (»Brüder einer Mutter«): »Hay cultura de gusto, así como de ingenio. Entrambos relevantes son hermanos de un vientre, hijos de la capacidad, heredados por igual en la excelencia.« Vgl. Baltasar Gracián: El Héroe [1637], Zit. nach Schümmer: Die Entwicklung des Geschmackbegriffs. a.a.O., S. 125. Vgl. hierzu auch Helmut Jansen: Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián. Genf/Paris 1959. S. 66ff.
200
Paradigmen poetologischer Kommunikation
bezogene Selbstdisziplinierung zu jenem »gusto relevante« optimierbar, der den »Hombre en su punto« 194 auszeichnet: Erhabener Geschmack. Er ist der Bildung [cultura] fähig, wie der Verstand [ingenio]. Je mehr Einsicht, desto größere Anforderungen, und werden sie erfüllt, desto mehr Genuß. [...] Durch fortgesetzten Umgang teilt sich der Geschmack allmählich mit, weshalb es ein besondres Glück ist, mit Leuten von richtigem Geschmack umzugehen." 5 Seit etwa 1680 werden Graciáns Maximen auch in Frankreich rezipiert, so daß in einer nun dezidiert höfischen Perspektive - Leitbild ist seit Amelot de la Houssaies Gracián-Übersetzung der homme de courm
- gusto und discreto fortan goût
und honnête homme entsprechen können. Neuartig an den moralistischen Reflexionen Rochefoucaulds, Bouhours und La Bruyères ist die Ausdifferenzierung einer geschmacksbezogenen Differenz, die erstmals guten und schlechten Geschmack zu unterscheiden vermag, und sie kann dies, weil ihr die Querelle Anciens et des Modernes
des
seit 1688 jene Stichworte und Denkfiguren liefert, die
auf der Seite der moderni schließlich zur Einsicht in die historische Relativität des Schönen (beau relativ) fuhren. Für den kompromißlosen ancien La Bruyère ist die moderne Gegenwart jedenfalls ein Ort, an dem weiterhin auf der Normativität der antiken Kultur bestanden werden muß, weil der »goût des anciens« in allen Bereichen der menschlichen Kultur vorbildlich ist und den »Sitten des Zeitalters« aufhilft: On a dû faire du style ce qu'on a fait de l'architecture. On an entièrement abandonné l'ordre gothique, que la barbarie avait introduit our les palais et pour les temples; on a rappelé le dorique, l'ionique et le corinthien: ce qu'on ne voyait plus que dans les ruines des l'ancienne Rome et de la vieille Grèce, devenue moderne, éclate dans nos portiques et dans nos péristyles. De même on ne saurait en écrivant rencontrer le parfait, et s'il se peut, surpasser les anciens que par leur imitation. Combien de siècles se sont écoulés avant que les hommes, dans les sciences et dans les arts, aient pu revenir au goût des anciens et reprendre enfin le simple et le naturel!197 Allerdings: Was das »revenir au goût des anciens« weder umgehen noch verbergen kann, ist der Formalismus, mit dem La Bruyère die Differenz von gutem und
194
195 196
197
Baltasar Gracián: Oráculo manual y arte de prudencia [1647]. Texto establecido por Gabriel Juliá Andreu. Barcelona 1941. Ausgabe Heidelberg 1946. S. 4. Gracián: Handorakel [1647], a.a.O., S. 34f. Vgl. Amelot de la Houssaie: L'homme de Cour de Baltasar gradan ['1684], Dernière Edition Augsbourg 1710. Jean de La Bruyère: Les Caractères ou les Moeurs de ce Siècle [1688]. in: Œuvres Complètes. Texte établi et annoté par Julien Benda. Paris 1951. S. 68 (Des Ouvrages de l'Esprit Nr. 15).
Geschmack
201
schlechtem Geschmack ausarbeitet. Wie die Natur über eine höchste, immanente Vollkommenheit ihrer Formen verfugt, so entspricht der »bon goût« einem »point de perfection« (67), über den der »mauvais goût« eben nicht verfugt, weil die Unterscheidung selbst nur bestätigt, was sie ist: die Asymmetrie von gutem und schlechtem Geschmack: Il y a dans l'art un point de perfection, comme de bonté ou de maturité dans la nature. Celui qui le sent et qui l'aime a le goût parfait; celui qui ne le sent pas, et qui aime en deçà ou au delà, a le goût défectueux. Il y a donc un bon et un mauvais goût. Et l'on dispute des goûts avec fondement. (67) Weil die französische Kultur im territorialstaatlichen Deutschland höchste Reputation genießt, müssen sich freilich auch die deutschen Zeitgenossen nach 1680 zunehmend mit jenen Anforderungen vertraut machen, die dem
discreto
bzw. dem honnête homme bereits zur zweiten Natur geworden sind. Solange Gracián allerdings noch in französischen Übersetzungen gelesen wird, bleiben Geschmacksfragen an einem höfischen Konversationshorizont orientiert, der seine Geschicklichkeiten ausschließlich den traditionellen Oberschichten vorbehalten möchte. Was die Oracw/o-Übersetzung Amelot de la Houssaies 1684 nahelegt - die Umdeutung des discreto zum homme de cour - vollziehen die deutschen Gracián-Kommentare, die ihrerseits auf der Übersetzung Houssaies beruhen, 198 daher kurzerhand mit, indem sie den homme de cour als »klugen Hof- und Weltmann« 199 ins Leben entlassen. Erst Christian Thomasius' Discours, Gestalt solle?200
198
200
man denen Franzosen
in gemeinem
Leben
und Wandel
Welcher nachahmen
lenkt die höfische Tradition des bon goût in die Bahnen der neuartigen
Vgl. etwa Adam Gottfried Kromayer: L'Homme de cour, oder Baltasar gracians Vollkommener Staats- und Weltweise. o.O. 1686; Johann Leonhard Sauter: L'Homme de Cour, oder der heutige politische Welt- und Staats-Weise. o.O. 1687; Silentes: Baltasar gracians, Homme de Cour, oder: Kluger Hof- und Welt-Mann, nach Monsieur Amelot de la Houssaie, seiner Französischen Version ins Teutsche übersetzet [...]. Augspurg 21715 und August Friedrich Müller: Baltasar gracians Oracul, Das man mit sich fuhren, und stets bei der Hand haben kann [...], 2 Bde. Leipzig 1716/1719. Vgl. zur deutschen Gracián-Rezeption Barner: Barockrhetorik. a.a.O., S. 142f.; Gabler: Geschmack und Gesellschaft. a.a.O., S. 38ff., sowie Frackowiak: Der gute Geschmack. a.a.O., S. 174ff. So etwa Silentes: Baltasar gracians, Homme de Cour [...] [21715], a.a.O. Vgl. Christian Thomasius: Cristian Thomasius / eröffnet / der Studirenden Jugend / zu Leipzig / in einem Discours / Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nach- / ahmen solle? / ein COLLEGIUM / über des GRATIANS / Grundreguln, / Vernünfftig, klug und artig zu leben. Halle 1687. in: Kleine deutsche Schriften. Mit einer Einleitung vers, und hg. von Julius O. Opel. Unveränd. Nachdr. der Ausg. Halle 1894. Frankfurt/M. 1983. S. 79-122.
202
Paradigmen poetologischer Kommunikation
Galanterie, deren >privatpolitische< Kalküle nun entschieden aus den älteren Inklusionsroutinen herausführen und insofern den Intentionen Graciáns wieder näher rücken. Sie jedenfalls habe Houssaies Gracián-Exegese gründlich verfehlt, weil, so Thomasius mit der Autorität besserer Textkenntnis, in dem gantzen Buche kaum zehn Regeln werden anzutreffen seyn / die einen Hoffman absonderlich angehen / sondern dieselben vielmehr von allen und jeden / Sie leben in was für Stande sie wollen / als Politische Lehr-Sätze in acht genommen werden SOlto., ten. 201 Am Ende eines gelehrten Lebens muß sich Thomasius allerdings vorhalten lassen, die Nachahmung der »Franzosen in gemeinem Leben und Wandel« und mit ihr die Popularisierung des bon goût nur halbherzig vorangetrieben zu haben. Johann Ulrich König erhebt die ungesicherte Begriffslage 1727 zum Gegenstand einer Klage, die die kulturelle Verspätung Deutschlands in poetologischen Fragen einmal mehr in den Blick rückt.202 Zwar habe Thomasius mit seinem Discours »zuerst von dem guten Geschmacke etwas gedacht«, sich aber weder getraut, die »Grund-Gesetze desselben [...] in einer gewissen Kunst-Forme vorzustellen«, noch das »Wort goût teutsch zu geben« (241). 203 Zudem umfasse der
201
202
203
Christian Thomasius: Freimütige, Lustige und Ernsthafte, jedoch Vemunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über Allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Halle 1688. Nachdruck in vier Bänden. Bd. 2 [Juli-Dezember 1688]. Frankfurt/M. 1972. S. 81 Of. Analog bezweifelt der Discours, ob Amelot »den Titel des Gracians mit dem Titel l'homme de cour geschickt verwandelt« (Thomasius: Discours [1687]. a.a.O., S. 121) habe. Auch an anderer Stelle hat Thomasius betont, daß zu Galanterie und Geschmack »durchgehends so wohl hohes als niedem Standes, so wohl Adel als Unadel« (Thomasius: Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften. Halle 31721. Zit. nach Gabler: Geschmack und Gesellschaft. a.a.O., S. 41) befähigt seien. Johann Ulrich König: Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht= und Rede=Kunst. in: Des Freyherrn von Canitz Gedichte. Leipzig/Berlin 1727. S. 229-322. Königs Untersuchung greift bekanntlich wichtige Impulse der sensualistischen Poetik (Lodovico Antonio Muratori, Jean Baptiste Dubos) auf; einen wirklichen Paradigmenwechsel in Richtung auf einen deutschen Sensualismus« aber hat sie nicht bewirkt. Generell läuft die Rezeption sensualistischer Positionen nur schleppend an; Dubos' Réflexions critiques sur ¡a poesie et la peinture [1719] werden erst 1760 übersetzt, Muratori (Riflessioni sopra il buongusto [1708/1715] wird vor 1750 kaum zur Kenntnis genommen. Vgl. Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 92 und ders.: Begriffsbilder. a.a.O., S. 417ff. Dies hat Thomasius selbst zugestanden (vgl. Thomasius: Discours [1687]. a.a.O., S. 121) und daher die Lektüre Graciáns empfohlen. König entgeht allerdings, daß Thomasius 1689 anläßlich einer Lohenstein-Rezension (Arminius) den deutschen Begriff >Geschmack< bereits verwendet. Vgl. Thomasius: Freimütige, Lustige und Emsthafte, jedoch Vemunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche. Bd. 4 [Juli-Dezember 1688], a.a.O., S. 646-686. S. 648 u.ö.
Geschmack
203
Geschmacksbegriff, so weit er in seiner »figürlichen Bedeutung« (ebd.) überhaupt verwendet werde, noch immer eine zahllose Reihe an Synonymen, die einem trennscharfen poetologischen Gebrauch im Wege stehe: Da auch, das Wort Geschmack, ausser seiner eigentlichen Erklärung öffters fur solche Dinge gesezt wird, welche nach ihrer Beschaffenheit eines von folgenden Wörtern allein ausdrücken könnte, als: Neigung, Empfindung, Wahl, Nachdencken, Entscheidung, Einsicht, Geist, Kentnis, Verstand, Vemunfft, Weisheit, Klugheit, Antrieb, Urtheil, Begierde, Leidenschafft, Meinung, Lehr-Weise, Schreib- oder Kunst-Art, natürliche Fähigkeit, Hochachtung, Begriff und dergleichen [...]. (288)
Nach der Auskunft Gottscheds ist der Geschmacksbegriff in seiner metaphorischen Verwendung allerdings bereits 1725 ein gemeineuropäisch akzeptiertes Faktum; »diese Redensart«, so Gottsched, wird »bey allen gescheuten Völckem in Europa in solchem Verstände gebraucht.«204 Um so bemerkenswerter ist es, daß das Handlexicon von 1760 dagegen wieder die Zurückhaltung der Zeitgenossen gegenüber dem deutschen Begriff konstatiert. »Viele«, so Gottsched, scheuen sich das Wort Geschmack in deutscher Sprache für Gusto, oder Goût zu brauchen: aber ohne Grund. Denn ist dies letzte Wort im Wälschen oder Französischen dieser verblümten Bedeutung fähig, warum sollte solches im Deutschen nicht angehen?205
Nun ist das diskursive Spektrum, Gottscheds zwiespältige Einschätzungen zeigen dies, zwischen etwa 1727 und 1750 alles andere als homogen. Verbindungslinien und Gemeinsamkeiten lassen sich daher auch kaum innerhalb der widerstreitenden Positionen oder im Netz der poetologischen >Schulen< zwischen Leipzig, Zürich oder Halle ausmachen, sondern kommen vielmehr in den gleichsam unterirdisch verlaufenden problemgeschichtlichen Kontinuitäten zum Ausdruck, die der Reflexion über das Geschmacksurteil seit ihren antiken Anfangen eingeschrieben sind. Was in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter veränderten Bedingungen und mit deutlichem Bemühen um eine höher spezifizierte Form literarischpoetologischer Kommunikation ausgetragen wird, betrifft in aller Regel eine
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Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725-1726. Hg. von Johann Christoph Gottsched. Neu hg. und mit einem Nachw., einer Themenübersicht und einem Inhaltsverz. versehen von Helga Brandes. Nachdruck der Ausgabe Halle 1725. Hildesheim/Zürich/New York 1993. S. 33 [Fünftes Stück, 31. Jenner 1725], Entsprechend hält auch die erste Auflage der Critischen Dichtkunst (1730) die metaphorische Bedeutung »vor eine bekannte und völlig eingeführte.« Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst ['1730], in: Schriften zur Literatur. Hg. von Horst Steinmetz. a.a.O., S. 59. Johann Christoph Gottsched: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Leipzig 1760. Nachdruck Hildesheim/New York 1970. Sp. 760.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
Reihe gleichartiger, in ihrer Bearbeitung dann freilich divergent gelöster Bezugsprobleme, die die poetologische Reflexionsmasse gegen 1750 deutlich an das Ende ihrer Leistungskraft führen und auf eine neue evolutionäre Schwelle heben. Bis es soweit ist, müssen Metaphern verdeutlichen und erklären, was der Geschmack in seiner »verblümten Bedeutung« (Gottsched) sei. Georg Philipp Harsdörffer verweist 1651 daher im Rahmen einer Lob=Rede auf jenen »äusserlichen Sinn / der zwischen den Gaumen und der Zungen kumpfen Spitzen / die Säfte (Sapores) zu prüfen und zu unterscheiden pfleget«. 206 Weil der Geschmack (Sapore) innerhalb der Genealogie der Sinneswahrnehmungen der »Aelteste« und zugleich der »Erste und Oberste« (32) sei, verfüge das Geschmacksurteil, so will es das Zeitalter der etymologischen Konjekturen, über eine Treffsicherheit und Verläßlichkeit, die ansonsten nur dem Verstand (Sapientia) zugänglich sind: Aus besagtem erhellet / warum der Geschmack auch dem Verstand beygemessen wird / so gar / daß bey den Lateinern das Wort Sapientia und Sapere von Sapore dem Geschmack und der sichern Unterscheidung des nutzlichen und schädlichen hergeftihret wird [...]. (33)
Johann Jakob Bodmer zieht 1736 gemäß der neuartigen rationalistischen Prämissen freilich Grenzen zwischen »sinnlichem« und »figürlichem Geschmack«. 207 Während der »sinnliche Geschmack« eine bloß »mechanische Einrichtung« (9) bilde, die sich im Blick auf ihr Objekt - Speisen und Getränke - »wie etwas leidendes« (12) und rein »cörperlich« (13) verhalte, nutze der »poetische Geschmack« die »würckenden« (12) Urteilskategorien des Verstandes: Das Gemüth erkennet und unterscheidet die Eigenschafften der Rede nicht nach derselben Weise, wie das äusserliche Gliedmaß des Geschmacks den Unterschied der Gattungen in den Speisen erkennet. [...] Ihr verstehe hieraus, daß ein grosser Unterschied zwischen beyden herrschet: Ihre Gegenstände sind von ungleicher Art, der eine ist cörperlich und materialisch, der andere geistlich und würckend. (12f.)
Wo eine derart strenge rationalistische Perspektive die Grenzen des Geschmacksurteils bestimmt, sind die Spielräume für dessen sensualistischen Anteile gering. Johann Ulrich Königs Untersuchung von dem guten Geschmack beläßt der affektiven Seite des Geschmacks freilich ihre Legitimität, weil den sen-
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Georg Philipp Harsdörffer: Lob=Rede Des Geschmackes: In welcher bewiesen und dargethan wird: Daß der Geschmack der übertreflichste unter allen äusserlichen Sinnen seye [1651]. in: Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen: Der Fruchtbringenden Gesellschaft Nahmen / Vorhaben / Gemähide und Wörter. Franckfart am Mayn 1651. Nachdruck München 1971 S. 27-56. S. 31. Bodmer: Brief-Wechsel [1736], a.a.O., S. 9 und 11.
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suellen Anteilen eine Naturontologie zugrundeliegt, die das Urteilsobjekt, seinen sinnlich vermittelten »Eindruck« und die »Empfindung«, die das Objekt im Beobachter auslöst, in einer prinzipiellen »Übereinstimmung« 208 zur Deckung bringt. Wie die formale Beschaffenheit der Objekte zur Struktur der sinnlichen Wahrnehmung gleichsam >paßt< und - noch vor Kant - eine »angenehme« Lust erzeugt, so entspricht die ausgelöste »Empfindung« dem auslösenden Objekt: Der Geschmack ist also diejenige Empfindung, welche in dem gemeinen Sinne durch diejenigen Eindrücke geboren wird, die unsre sinnlichen Werckzeuge verschiedentlich empfangen. [...] Dann es ist von Natur eine Übereinstimmung zwischen der Beschaffenheit eines uns angenehmen Gegenstandes und der Eigenschaffi seines Eindruckes, wie hinwiederum zwischen diesem und unserer Empfindung, die darauf folgt. Es ist auch natürlich, daß unser Verstand an einer solchen Übereinstimmung und Ordnung ein Belieben habe, nachdem sich in der Natur selbst alles in so richtiger Gleich-Maaß, Abtheilung und Einstimmung befindet [...]. (251ff.) Königs Bekenntnis zum Sensualismus führt vor die Konsequenz, auf eine diskursive Begründbarkeit des Geschmacks verzichten zu müssen. Während das Verstandesurteil in den minutiösen Schleifen einer begrifflichen Reflexion operiert, kultiviert der Geschmack jenes begriffslose Begreifen, das als je ne sais
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und als Kehrseite »tüchtiger Gründe« (262) nur das Schweigen einer ebenso unmittelbaren wie inkommunikablen Wahrnehmung kennt: Ein feiner Geschmack entdecket alsofort, durch Hülffe der Empfindung, was ein kunstverständiger, durch den Weg einer angestellten Untersuchung erkannt hätte. Man würde manchen vergeblich ausfragen, warum ihm dieses oder jenes in einer sinnreichen Schrifft mehr oder weniger gefalle, er würde keine tüchtige Gründe anzuführen wissen; aber die Empfindung verrichtet bey ihm dasjenige, was bey einer solchen Kunst, Gebrauch und Übung würcket, der nach seinen Kunst-Regeln, Rechenschafft zu geben weis. (262f.) Drei Jahre nach König darf die Leibniz-Wolffsche Metaphysik dort aushelfen, wo der Geschmack an die Regulierungsdichte einer Critischen Dichtkunst
ange-
paßt werden muß. Gottscheds Bestimmung, der »metaphorische Geschmack« habe es »nur mit klaren, aber nicht ganz deutlichen Begriffen der Dinge zu
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König: Untersuchung [1727], a.a.O., S. 254. Vgl. zur Begriffs- und Ideengeschichte die inzwischen klassische Studie von Erich Köhler: Je ne sais quoi. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen, in: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953/54). S. 21-59, sowie ders.: Artikel >Je ne sais quoiAesthetica< [1750/58], Übers, und hg. von Hans Rudolf Schweizer. 2., durchges. Aufl. Hamburg 1988. S. 3. [Par. 1]. Der Text der Aesthetica geht auf Vorlesungen zurück, die Baumgarten bereits 1742 in Halle gehalten hatte. - Vgl. zur Begründung der Ästhetik als analogen rationis Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik A.G. Baumgartens. Wiesbaden 1972; dies.: Artikel >Analogon rationisAesthetica< A.G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung. Basel 1973. Eine instruktive Zusammenfassung bei Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 92ff.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
Von der Begründung einer solcherart sensuellen Wissenschaft ist der Weg zu einer Theorie des Geschmacks selbstverständlich nicht fern. Baumgarten bindet den Geschmack neben anderen imaginativen Vermögen wie »Einbildungskraft« (imaginatio, 19) oder »Scharfsinn« (acumen, ebd.) an den felix aestheticus, der seine Kompetenzen im Bereich der schönen Künste einer natürlichen Veranlagung (natura, ingenium) verdankt. Der Geschmack (sapor) zählt zu den natürlich vermittelten unteren Erkenntnisvermögen (facultates cognoscitivae inferiores, 18), die ihrer sensuellen Struktur nach kein kriterielles Urteil, dennoch aber eine vernunftanaloge Entscheidungssicherheit begründen. Das poetische ingenium verfugt, so Baumgarten, über die Veranlagung zum guten Geschmack [dispositio ad saporem], nicht dem allgemein verbreiteten, sondern dem verfeinerten [delicatus], der zusammen mit dem Vermögen durchdringender Einsicht der untere Richter über das sinnlich Wahrgenommene, die Einbildungen und die Erdichtungen sein soll, sooft es fur die Schönheit nicht von Bedeutung ist, ob das Einzelne vom Verstand [per intellectum] beurteilt wird. (21 f.)
Bereits 1739 hatte sich Baumgarten im Rahmen seiner Metaphysika, die noch Kant als »das nützlichste und gründlichste unter allen Handbüchern seiner Art«216 schätzen wird, um eine Systematisierung des »iudicium sensitivum«217 bemüht. Was das »sinnliche Urteilsvermögen« im Unterschied zu allen »distincten« Urteilsgängen unmittelbar sensuell und »undeutlich« prüft, ist die »Vollkommenheit oder Unvollkommenheit« (57) der Dinge, die der Geschmack, weil er ebenso vollkommen und unvollkommen sein kann, unterschiedlich treffsicher beurteilt. Auch Georg Friedrich Meier unterscheidet im Rahmen seiner enzyklopädischen Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1749) analog zur Wolffschen Epistemologie eine philosophisch-begriffliche und eine sinnliche Erkenntnis, 218 die als »facultas cognoscitiva inferior & sensitiva« (II, 4) die rationalen Erkenntnisvermögen ergänzt. Und wie Baumgartens felix aestheticus verfügt
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218
Immanuel Kant: Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde. Königsberg 1756. in: Kant's gesammelte Schriften. Hg. von der Könglich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1: Vorkritische Schriften I [1747-1756]. Berlin 1910. S. 489-503. S. 503. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 1739. Zit. nach Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers, und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983. S. 36 [Par. 607], »Alle unsere Erkenntnis ist entweder deutlich vernünftig philosophisch, oder undeutlich und sinlich. Mit der ersten beschäftiget sich die Vernunftlehre, und mit der letzten die Aesthetick.« Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Halle 1749. Nachdruck der 2. Auflage Halle 1754f. Hildesheim/New York 1976. Teil 1. S. 8 [Par. 5]. Im Folgenden wird unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert.
Geschmack
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der »aesthetische Kopf« (I, 511) über das stille Glück eines sensuellen Vermögens, das nicht nur hinsichtlich seiner unterschiedlichen Teile, sondern auch mit dem »Verstände« in einer »erforderlichen Proportion« steht: Es wird also zu einem geistreichen Kopfe nicht nur erfordert, daß die sinnlichen Erkenntniskräfte sich, auf eine gehörige Art, gegeneinander verhalten; sondern sie müssen auch, mit den Obern, mit dem Verstände und der Vernunft, in der erforderlichen Proportion stehen, (ebd.)219
Nun kann die Beschreibungsdichte, mit der vor allem Baumgarten und Meier nicht müde werden, das Geschmacksurteil in eine Anatomie seiner Vermögen zu zergliedern, nicht darüber hinwegtäuschen, daß Geschmacksurteile so lange vage bleiben, wie ihre Kriterien ungeklärt sind. Was die Geschmacksdebatte ihrem Kern nach ausmacht, ist die theoretische Zumutung, >ästhetische< Urteile kriteriell so auszustatten, daß Beliebigkeiten trotz der eingestandenen Sensualität und Intuition des Urteilens wirkungsvoll vermieden bzw. in einem begrifflichen Begründungshorizont abgefedert werden können. 220 Daneben tritt ein ebenfalls neuartiges, zumindest als besonders dringlich empfundenes Beobachtungsproblem, das aus den poetologischen Schwierigkeiten resultiert, einerseits geschmacksbezogene Urteile, und das heißt: divergente Beobachterperspektiven freigeben, andererseits aber die auflaufenden Urteilsdivergenzen mit Hilfe einheitlicher Kriterien auffangen zu müssen. »Der Begriff des guten/schlechten Geschmacks bildete den ersten Versuch, den Betrachter oder Genießer in die Kunsttheorie einzuführen und von da aus die Frage nach den Kriterien schöner Kunst zu formulieren. Damit war zugleich die Tendenz eingeleitet [...], alle schönen Künste in eine einheitliche Begrifflichkeit zusammenzufuhren.«221 Vor diesem Hintergrund ist die Antwort bemerkenswert, die Christian Thomasius 1689 gibt. Denn Thomasius konstatiert mit dem Charme individueller >Inklina-
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Die einzelnen »Vermögen« (512) sind: »Einbildungskraft« (II, 256ff.), »Witz« (II, 328ff), »Scharffsinnigkeit« (II, 393ff.), »Gedächtnis« (II, 433), »Dichtungskraft« (II, 484ff.), »Geschmack« (II, 503ff.), das »Vermögen vorherzusehen« (II, 537ff.) bzw. »zu vermuthen« (II, 575) und »Bezeichnungsvermögen« (II, 609ff.). Vgl. auch Meier: Theoretischen Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt. Halle 1744. Nachdruck Frankfurt/M. 1971. S. 71-80 [Par. 60-65] und Baumgarten: Metaphysica [1739]. a.a.O., Par. 557-623. Die historisch erfolgreichste Lösung des Problems liegt in der Differenz von gutem und schlechtem Geschmack. Sie bleibt freilich für den gesamten Zeitraum, in dem über Geschmack diskutiert wird, problematisch, weil erneut kriterielle Unsicherheiten auflaufen. Die Frage lautet nun: Wie ist guter Geschmack überhaupt erkennbar? Vgl. Luhmann: Das Kunstwerk. a.a.O., S. 638. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 133.
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Paradigmen poetologischer
Kommunikation
tionenjetztspäteraltneublöden< Regellosigkeit befreien sollen, zeigt, gegen welche Normzwänge die noch junge Ästhetik zu kämpfen hat, sobald Kontingenzrisiken in der Kommunikation sichtbar werden. Urteilsfehler nun, so Meier, erzeugt der Geschmack, wenn der Prozeß der Urteilsfindung zu schnell verfährt, also unter einer intuitiven »Uebereilung« (II, 521) leidet, die »Irrthümer« (ebd.) gerade erzeugt, statt sie wirkungsvoll auszuschließen. Meiers Empfehlung lautet daher, eine Muße der Betrachtung zu üben, die den Gegenstand mehrfachen Urteilsgängen aussetzt und in immer neuen Reflexionsschleifen umkreist - und dies gegen eine Theorietradition, die am Geschmack gewöhnlich gerade die Zeitvorsprünge intuitiver Urteile hervorhebt: Alle Irrthümer entstehen aus der Uebereilung, folglich muß man, um den Geschmack nicht zu verderben, niemals zu geschwinde im Urtheilen sein. Wir müssen uns gehörige Zeit nehmen, nicht alsobald Endurtheile fallen, sondern lieber zu verschiedenen Zeiten eine Sache öfters von neuem überdenken, ehe man ein entscheidendes Urtheil fällt, (ebd.)
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Analog das Handlexicon [1760]. a.a.O., Sp. 759: »Er [der Geschmack, I.S.] ist gut, wenn er mit den Regeln überein kömmt, die von der Vernunft, in der Dichtkunst allbereit fest gesetzet worden; oder übel, wenn er nach der bloßen Empfindung ohne Regeln urtheilet; aber sich in solchen seinen Urtheilen betrügt.« Meier: Anfangsgründe. 2. Teil [1755], a.a.O., S. 4. [Par. 254], Genauer: Rund 50. Vgl. II, 510-535 [Par. 471-^178].
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
Weil das geduldige Urteil sichere Verfahrensregeln benötigt, wird die Urteilsfindung von explizierbaren Kriterien geführt, die die Beobachtung nun auf das einzelne Werk lenken. Geschmack bildet eine Scharnierfunktion, die zwischen einer abstrakten Regel einerseits und den Selektionen auf Werkebene andererseits vermittelt. Meiers Ausführungen legen dabei nahe, daß die Applikation eines solcherart generalisierten Normenhorizonts auf die Werkebene primär im Bereich der Gattungen, also innerhalb einer Ordnung von Formen zu suchen ist, die über eine Reihe >typischer< Merkmale organisiert wird; auch Meier bleibt damit ähnlich wie bereits König - einem rhetorisch-dispositionellen Gattungsbegriff verpflichtet, der das Einzelwerk als Manifestation eines abstrakten Selektionsprogramms versteht: Wenn man eine Sache beurtheilen will, so muß man allezeit vorher, eine Theorie der Schönheiten oder Häßlichkeiten derselben, voraussetzen. [...] Wer eine Tragödie beurtheilen will, der muß nothwendig, eine Theorie von den Schönheiten und Häßlichkeiten einer Tragödie voraussetzen. Eine jede allgemeine Theorie von den Schönheiten und Häßlichkeiten einer Sache, muß auf einige Exempel angewendet werden. Oder man muß nach einer solchen erlernten Theorie viele Sachen beurtheilen, damit unser Geschmack practisch werde. (II, 515)
Justus Moser gelingt es 1747 schließlich, das Ausgangsproblem auf die funktionale Prägung der poetologischen Kommunikation im Ganzen auszudehnen. Moser sucht die Kriterien für den guten Geschmack im Paradigma eines Regelbruchs, der das regelpoetische Denken an entscheidender Stelle bereits aushöhlt, denn, so Moser, Kunst und Natur werden von immanenten Regeln strukturiert, die im Falle der Kunst »endlich«, im Falle der Natur »unendlich« sind und daher einen unterschiedlichen Formenreichtum erzeugen. 234 Weil die Natur auf einer »unzähligen« Menge und »unerschöpflichen Tiefe ihrer Regeln« (ebd.) beruht, entläßt die natürliche Welt einen potentiell unbegrenzten Strukturreichtum, dem die Kunst lediglich eine »gewisse Zahl von Dingen nach einigen gegebenen Regeln« gegenüberstellen kann: Die Natur handelt sowohl nach Regeln als die Kunst, nur mit dem Unterschiede, daß diese endlich, jene aber unendlich sind. So sehr also eine Sache, die unendliche Mannigfaltigkeiten nach unzähligen Regeln in einer Übereinstimmung darbietet, andre übertrifft, wo nur eine gewisse Zahl von Dingen nach einigen gegebenen Regeln zusammengeordnet sind, so sehr übertrifft auch die Natur die Kunst, (ebd.)
Mosers Konzeption wirft dort Probleme auf, wo sich die »Nachahmung der Natur« der Zumutung gegenübersieht, eine Natur darstellen zu müssen, deren »un-
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Moser: Die Deutsche Zuschauerin. Dreizehntes Stück [1747]. a.a.O., S. 342.
Geschmack
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endliche Regeln« und unerschöpfliche Formenvielfalt mit dem Regelkanon der Literatur nicht mehr länger erfaßt werden kann. Gerade weil der unerschöpfliche Kosmos »durch endliche Begriffe in kein System« (ebd.) gebracht werden kann, muß die Kunst ihren Weg jenseits des konventionellen Regelapparats suchen. 235 Was Moser am Ende einer repräsentationstheoretischen Poetik empfiehlt, ist eine Ästhetik der originellen Abweichung, die den »sehr betretenen Weg der Kunst und ihrer bekannten Regeln« (ebd.) verläßt, um auf Seiten des Beobachters Staunen und verwundertes Gefallen (admiratio) zu bewirken: Alle diese Regeln [der Natur, I.S.] lassen sich durch endliche Begriffe in kein System bringen. Daher rät man oft einem Dichter oder Maler, den gar sehr betretenen Weg der Kunst und ihrer bekannten Regeln zu verlassen und nach dem Vorgange der Natur auf eine scheinbar verwegene Art auszuschweifen. Er tut es und gefallt. Man meint und sagt, er sei von Regeln abgewichen. In der Tat aber hat er nur die bekannten verlassen, und unsre Empfindung merket mit ihrem nebelhaften Blicken das Schöne in seinem exzentrischen Schwünge; allein, sie kann von solchen Sachen wegen ihrer Kurzsichtigkeit noch keine allgemeine Regeln abziehen. Sie erkennet die glückliche Würckung dieser scheinbaren Verwegenheit oder vielmehr gar zu hohen Vollkommenheit und erstaunet, (ebd.)
Der »exzentrische Schwünge«, auf dessen Flügeln Moser den Sprung aus allen Regeln vollzieht, ist so exzentrisch freilich wiederum nicht. Denn die abweichungsbezogene >Originalität< zwingt den Poeten dazu, die »bekannten Regeln« als Vergleichshorizont mitzufuhren, um die Abweichungsqualität der Naturnachahmung gegenüber ihren »allgemeinen Regeln« (ebd.) überhaupt zur Geltung bringen zu können. Auch Mosers Konzeption zeigt damit noch alle Merkmale einer Übergangssemantik; dies zum einen, weil die Auszeichnung von Originalität noch immer nur unter Regelbezug, genauer: als Differenz zur Regel denkbar ist, Abweichung also noch nicht über eine innerliterarische Formenevolution organisiert wird; 236 zum anderen, weil der anvisierte Regelbruch ein Überschreiten des regelpoetischen Paradigmas gerade nicht gestattet; Mosers »exzentrische«
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Eine im Horizont der Argumentation liegende Alternative ist: daß sich die Kunst als Nachahmung der Natur ebenfalls auf »unzählige Regeln« (ebd.) stützt - und das bedeutet: aufkeine! Dies auch zur historischen Differenzierung der gleichlautenden These Luhmanns (Die Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 1., a.a.O., S. 354): »Über Originalität entscheidet nun nicht der Vergleich mit der Natur, nicht die Qualität der Imitation, sondern der Vergleich mit anderen Kunstwerken.« Solange Originalität noch als Differenz zu einer konventionellen Regel gefuhrt wird, kann von einer »Forderung an das einzelne Werk«, die die Kunst als »autonom und selbstbezüglich ausdifferenziert« (ebd.), nicht die Rede sein.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
Bahnen legen vielmehr die Vermutung nahe, daß die Abweichungen unter Führung des Codes >konventionell< / >originell< zunächst nicht, offenbar aber später als Regel rekonstruiert werden sollen. 237 Geschmack beweist der Poet nun, wenn er gegen einzelne »bekannte« und »kleinere« (343) Regeln verstößt, um am Werk die schöne Ordnung seiner »wohlfuglichen Teile« (344) um so wirkungsvoller zur Geltung bringen zu können. Wenn damit, so Mösers Fazit, auch keine hinreichende Sicherheit über den guten Geschmack bestehe, so gewinne man zumindest »einige wahrscheinliche Empfindungen« (344): Die Größe der Natur verlangete dieses Opfer der Kunst. Der Dichter hätte die Regeln verlassen müssen, weil die Unendlichkeit des Großen es erfordert hätte, so wie der Schöpfer dieser Welt oftmals scheinbare Unvollkommenheiten unsem kurzen Augen zurücklassen müssen, um sich in dem Ganzen desto vollkommener zu zeigen. [...] Es ist also nur ein Wortspiel, wenn man sagt, ein Dichter hätte den Fehler, daß er keine Fehler hätte. Er sündiget bei seinen ungewohnten Entzündungen, wenn sie das Glück haben, überall und lange zu gefallen, gegen keine Regel, weil er zur Erhaltung seiner Absicht nur einer größern gefolgt, wodurch die kleinere aufgehoben worden [...]. [...] Denn eine jede Sache muß in sich ein Ganzes ausmachen und aus wohlfuglichen Teilen bestehen. Sie muß eine Größe haben, zu welcher sich in einem gesetzten Ebenmaße alle Teile verhalten. [...] Es sind dieses lauter Umstände, nach welchen man zwar wohl einige wahrscheinliche Empfindungen, aber keine Gewißheit von dem guten Geschmack und der Naturfolge erhalten kann. (343f.)
Nun hängt die fehlende »Gewißheit« des Geschmacksurteils eng mit dessen intuitiven Charakter zusammen. Was das 18. Jahrhundert am Geschmack vor allem schätzt, weil von hier aus erstmals die Autonomie eines >literarischen< Sachurteils in Anspruch genommen werden kann, ist der neuartige Zeitbezug des Geschmacksvermögens. Geschmack zu besitzen bedeutet im 18. Jahrhundert nicht nur, literaturspezifisch zu urteilen, sondern auch, die Treffsicherheit in der Sache an eine temporale Unmittelbarkeit zu binden, die als Vorzug gegenüber den zeitintensiven Reflexionsgängen des Verstandesurteils ausgezeichnet werden kann. Schon Johann Ulrich König beschreibt eine Urteilsfindung, die am Werk als gelungen oder mißlungen kenntlich macht, was die Wahrnehmung »alsofort« und »plötzlich« 238 und das heißt eben: spontan und intuitiv empfindet. Der »richtigste Verstand« (255) dagegen folgt einer minutiösen Reflexion, die zwischen Werk und Regelapparat ein Netz rekursiver Urteilsgänge entspinnt, um so dasjenige in Anspruch zu nehmen, was der Geschmack gerade nicht benötigt: Zeit.
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Es geht also um ein unterschwellig mitgefühltes Temporalschema (jetzt/später), das die Abweichung im Moment ihrer Selektion »noch nicht« (ebd.) in eine Regel fassen kann, später allerdings als Regel konventionalisiert. König: Untersuchung [1727], a.a.O., S. 255.
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[...] Dieser Geschmack pflegt sein Urtheil von einer Sache [...] nicht so lange zu verschieben, bis er zuvor derselben richtige Ordnung, Gleichförmigkeit in ihren Theilen, Schönheit oder Nutzen nach allen Regeln und guten Gründen, in einer genauen Untersuchung geprüft. Er empfindet alsofort das Vollkommene in einem Verse oder in einer Rede. Kaum hat das Auge solche gelesen, oder das Ohr dieselbe vernommen, als er schon sein Urtheil darüber fallt; Da hingegen der richtigste Verstand, wann er entdecken will, worinn eigentlich dasjenige vollkommene bestehe, was den Geschmack so plötzlich eingenommen, manchmahl viel Zeit anwenden muß, weil die Ursachen einer so geschwinden Würckung leichter zu empfinden, als zu erkennen sind. (256f.) Wo der Geschmack das trifft, was auch die »Vernunfft unfehlbar würde gebilliget haben, wann sie Zeit gehabt hätte« (261), liegt ein >ereignishaftes< Temporalschema zugrunde, das seinen Ursprung, aller Neuerungswerte ungeachtet, gerade nicht in den Poetiken des 18. Jahrhunderts findet. Die temporale Unmittelbarkeit, die das Geschmacksurteil positiv gegenüber reflexiven und zeitintensiven Urteilsgängen auszeichnet, ist ausschließlich aus der Interaktionsvergangenheit des Geschmacks zu erklären, weil die Konversationsideale des 17. Jahrhunderts Interaktion primär als verzögerungsfreies und spontanes Prozessieren von Beiträgen denken, die in einen immer nur als »Ereigniskonglomerat« 239 erscheinenden Konversationsverlauf eingearbeitet werden müssen. Die >galanten< und politischem Konversationslehren des 17. Jahrhunderts zeigen jedenfalls, daß die Chancen sozialen Erfolgs maßgeblich von der Fähigkeit abhängig gemacht werden, die flüchtigen Gelegenheiten der Konversation zu ergreifen, um dem Diskurs im Zeichen jener occasio verzögerungsfrei und reaktionsschnell Beiträge zu liefern, die, wird sie nicht rechtzeitig ergriffen, immer schnell vorüberzieht. Christoph August Heumann fordert 1724 auf den Weiden einer gängigen Allegorik, daß der »Politische Philosophus« jederzeit »die Gelegenheit [...] in acht nimmet, als welche von fornen Haare hat und ergriffen werden kann, hinten aber nackend ist.« 240 Es sind diese Einsichten in die temporale Struktur von Interaktion mit-
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Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O. S. 50. Christoph August Heumann: Der Politische PHILOSOPHUS, Das ist, Vemunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben, Ehemals aufgesetzet. 3. Aufl. Franckfurt/Leipzig 1724. Nachdruck Frankfurt/M. 1972. S. 16. Das allegorische Bild bedeutet: Die Gelegenheit des Sprechens muß beim Schöpf ergriffen werden, soll der Zugriff nicht am kahlen Hinterkopf der occasio abgleiten. Vgl. zu dieser allegorischen und emblematischen Tradition Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O., S. 51 f. - Generell geht es um die flüchtigen »Gelegenheiten, dabey man rechtmäßiger weise etwas erwerben kann.« Gottlieb Stolle: Kurtzgefaßte Lehre der Allgemeinen Klugheit Mit einer Vorrede Vom Reformiren der Wissenschaften und Anwenden der Philosophie auf andere Theile der Gelahrtheit begleitet von Diro Magnificienz Herrn Hofrath Danes. Jena 1748. Zit. nach Stanitzek: Blödigkeit. a.a.O., S. 56.
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Paradigmen poetologischer Kommunikation
samt ihren Zwängen zu »rascher Reproduktion« und zu »unmittelbarem Anschlußhandeln«, 241 die im frühen 18. Jahrhundert zu Zwecken literarischer Kommunikation rekonstruiert und an ein Geschmacksideal vermittelt werden, das die Spezifik und Autonomie seines Urteilens über eben diese Zeitvorsprünge ausweist. 242 Nun sind in der Frage nach den genetischen Prämissen des Geschmacks vornehmlich sozialgeschichtliche Antworten gegeben worden, die in den 70er Jahren in aller Regel ausgedehnte Habermas-Lektüren 243 mit einer Reihe von ideologiekritischen Grundüberzeugungen verbanden. Alexander von Bormann etwa sah 1974 in der aufkeimenden Geschmacksdiskussion das gesellschaftlich drängende Interesse, »Egalisierung gegen Privilegierung zu setzen und die Ideologisierung der gesellschaftlichen Ungleichheit zu problematisieren«. 244 Als einer »der Zentralbegriffe der aufsteigenden bürgerlichen Kultur« (2) artikuliere der Geschmack die erwachende Selbstverständigung des Bürgertums im Zeichen eines aufgeklärten Räsonnements: Die Dichtung gewinnt eine Zentralstellung in der Aufklärung, weil sie die >vernünftigste< Kunst ist und weil die Bürger angesichts der bestehenden Machtverhältnisse auf das Raisonnieren verwiesen bleiben. So läßt sich die Literatur seit der Aufklärung weitgehend als Medium der Selbstdarstellung und Selbstverständigung der bürgerlichen Klasse interpretieren [...]. Verbürgerlichung des Geschmacksbegriffs und Entwicklung der bürgerlichen Ästhetik gehen zusammen, das cognitive Moment ist dabei leitend: im Geschmack wird die Möglichkeit einer allgemeinen Rezeption der erzieherischen Inhalte der Aufklärung gedacht. (4f.)
In der Tendenz ähnlich, aber ungleich nüchterner hatte Hans-Georg Gadamer bereits 1960 die historische Bedeutung des Geschmacks für die Belange einer »philosophischen Hermeneutik« gefaßt. Gadamer verwies im Rahmen seines Hauptwerks Wahrheit und Methode auf die »Geburt und Rang« 245 vergleichgültigende Stoßrichtung des Geschmacks, der als »Ideal einer Bildungsgesellschaft« (32) die alten »ständischen Vorgegebenheiten« (ebd.) langfristig unter Legitima-
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Luhmann: Soziale Systeme. a.a.O., S. 568f. Vgl. Ebd. S. 551-592; ders.: Schematismen der Interaktion, in: Soziologische Aufklärung 3. a.a.O., S. 81-100; ders.: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. a.a.O., sowie ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. a.a.O., S. 813-826. Was selbstverständlich nicht ausschließt, daß Geschmack auch weiterhin in Interaktionskontexten kommuniziert und erprobt werden muß. Vgl. nur Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit a.a.O. Bormann: Einleitung, in: ders. (Hg.): Vom Laienurteil zum Kunstgefuhl. a.a.O., S. 5. Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode. a.a.O., S. 33.
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tionsdruck gesetzt und insofern die »Vorgeschichte des dritten Standes« eingeleitet habe: Wie es scheint, vollzieht sich solche gesellschaftliche Idealbildung überall im Zeichen des Absolutismus und seiner Zurückdrängung des Blutadels. Die Geschichte des Geschmacksbegriffs folgt daher der Geschichte des Absolutismus von Spanien nach Frankreich und England und fällt mit der Vorgeschichte des dritten Standes zusammen. Geschmack ist nicht nur das Ideal, das eine neue Gesellschaft aufstellt, sondern erstmals bildet sich im Zeichen dieses Ideals des >guten Geschmacks* das, was man seither die >gute Gesellschaft nennt. Sie [...] legitimiert sich nicht mehr durch Geburt und Rang, sondern grundsätzlich durch nichts als die Gemeinsamkeit ihrer Urteile [...]. (32f.)
So zutreffend Gadamers Einsichten im Detail, vor allem im Blick auf die selbstreferentiellen Interaktionskontexte der >guten Gesellschaft, sind - sie bleiben einer hermeneutisch-geistesgeschichtlichen Tradition verbunden, die das Aufkommen des Geschmacksideals als Teil einer auf Schichten oder Klassen zurechenbaren Ideenmasse auffaßt. Sozialgeschichte und Hermeneutik teilen insofern eine Gesellschaftskonzeption, die Verschiebungen und Bewegungen innerhalb der sozialen Ordnung als Erosionen innerhalb eines stratifikatorischen, d.h. über ungleiche Schichten oder Gruppen organisierten Differenzierungstyps versteht, dem spezifische Ideen als semantisches Korrelat entsprechen. Die systemtheoretische Evolutionstheorie dagegen bricht mit diesen Präsuppositionen, insofern sie nicht mehr länger Anpassungen an einen stratifikatorischen Gesellschaftstyp etwa: Aufstieg der bürgerlichen Klasse, Übernahme traditioneller oberschichtenbezogener Attribute, Durchsetzung gesamtgesellschaftlicher Führungsansprüche - beschreibt, sondern den theoretischen Bezugsrahmen selbst austauscht und durch die These ersetzt, daß die um 1750 anlaufenden Wandlungssyndrome ausschließlich auf den Übergang von primär stratifikatorischer zu primär funktionaler Differenzierung zurückzuführen sind. Auch das Geschmacksideal qualifiziert sich im Prozeß des soziostrukturellen Umbaus von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung, also in einem Moment, in dem die Oberschichteninteraktion allmählich von funktionalen Anforderungen entlastet wird und diese Funktionsansprüche in neuartige, primär nun über Kommunikation integrierte Funktionshorizonte ausgelagert werden. Und weil Interaktion im Prozeß dieser Entlastung allmählich auf Selbstreferenz umstellt, kann sie ihre Konversationsanforderungen im Bereich geeigneter oder >schicklicher< Themen und Teilnehmer an sich selbst steigern: als Ort einer ebenso kultivierten wie normativen Kommunikation, die nun entschieden die technische Beherrschung spezifischer konversationsbezogener Codes und weniger ein qua Geburt vermitteltes Zugangsrecht einfordert. Was die Geschmacksdebatte im Verlauf des 18. Jahrhunderts ermöglicht, ist daher weniger die Freigabe einer schichten- oder klassenbezogenen E m a n zipation - auf sie kommt es im Umbau zur funktionalen Differenzierung kaum
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Paradigmen poetologischer
Kommunikation
mehr an - , als vielmehr, daß der anlaufenden Ausdifferenzierung des Literatursystems einheitliche Kriterien des Urteilens und Beobachtens zur Verfügung gestellt werden, die ihre Voraussetzungen nicht mehr in der schichtformigen Umwelt des Literatursystems finden, sondern in der Schließung einer systemspezifischen Kommunikation. Sie macht nun einen Beobachter sichtbar, der als Leser oder Zuschauer (Theater) zwar immer schon präsent war, bis ins 17. Jahrhundert aber keine Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Geschmack organisiert auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung ein »differenzierendes Qualitätsbewußtsein«,246 das erstmals Unterscheidungen jenseits normativer Regelprüfungen247 in den Prozeß des Beobachtens selbst verlegt und das Werk als Gegenstand eines intuitiv gewonnen, in aller Regel freilich reflexiv überprüften Gefallens bzw. Mißfallens ausweist.248 Im Ergebnis differenziert das Geschmacksideal über die Handhabung literaturbezogener Urteilskompetenzen ein systemeigenes Publikum aus und entspricht damit der Forderung nach »funktionsbezogenen Rollenkomplementaritäten«,249 die im Prozeß funktionaler Systemdifferenzierung in allen sozialen Bereichen (Recht, Wirtschaft, Politik) aufläuft. »Die Kunst hat demnach ihr eigenes Publikum, ihre eigene Inklusion, ihre eigene Sozialisation.«250 Gleichwohl: Es ist gerade diese in die Sachdimension verlegte Sozialisation, die im 18. Jahrhundert Schwierigkeiten bereitet. Denn die Probleme, die mit der Ausdifferenzierung einheitlicher Urteilskriterien verbunden sind, weil sie letztlich Tautologien auflaufen (König) oder durch Regelprüfungen abgesichert werden müssen (Gottsched, Meier), zeigen, daß die Rekonstruktion der Inklusionsbedingungen für literarische Kommunikation nur angesetzt, nicht aber vollständig durchgearbeitet ist. Die kriterielle Unsicherheit im Bereich der Sachdimension wird im Verlauf des frühen 18. Jahrhunderts daher durch eine komplementäre Spezifikation in der Sozialdimension abgefedert251 - was bedeutet, daß die kriteriell wie auch immer bestimmte Handhabung des Geschmacksurteils in aller Regel wieder eine soziale, d.h. Rangunterscheidungen kommunizierende Distinktion mitführt, die als Differenz von Kennern und Nicht-Kennern, von Ge-
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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 134. Was einer Beobachtung erster Ordnung entsprechen würde. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 135 und ders.: Weltkunst. a.a.O., S. 12. Vgl. nur König: Untersuchung [1727]. a.a.O., S. 274 und Meier: Theoretische Lehre [1744], a.a.O., S. 79 [Par. 65], Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 325. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. a.a.O., S. 204. Vgl. Luhmann ohne entsprechende Belege: Individuum, Individualität, Individualismus. a.a.O., S. 205; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft 2. a.a.O., S. 979.
Geschmack
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lehrten und Dilettanten, 252 von guter Gesellschaft und gemeinem Pöbel 253 entfaltet wird. Soziale Distinktionen dieser Art gehen um 1800 freilich in dem Maße verloren, wie das ausdifferenzierte Literatursystem stratifikatorische Unterscheidungsleistungen in seine Umwelt abdrängt und Inklusionsbedingungen in neuartiger Weise über codeprägnante Beiträge zu rekonstruieren beginnt. Was dem Geschmacksurteil schließlich bleibt, ist die Kommunikation »feiner Unterschiede«, 254 die - quer zur funktionalen Differenzierung - soziale Distinktionen über milieuspezifische Idiosynkrasien und kulturelle Kompetenzen zu gewinnen sucht.
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Vgl. Bodmer: Brief=Wechsel [1736], a.a.O., S. 70 (Differenz von »Ungestudierten« und »Gelehrten«), Vgl. Thomasius: Discours [1687], a.a.O., S. 89 und 117 (Differenz von »galantem Mensch« und »gemeinem Pöbel«); Meier: Theoretische Lehre [1744], a.a.O., S. 179 (Differenz von »artigem Mensch« und »Pöbel«). Eine >weiche< Form sozialer Selektivität bilden die berufsständischen Differenzen bei König: Untersuchung [1727], a.a.O., S. 298f. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982.
IV. Evolution
»Don't imitate, innovate«
Hugo Boss Die Philologie zehrt von Augenblicken. Was sie im 19. Jahrhundert noch war Gedächtnis und wissenschaftlicher Ort der Tradition - , ist seit langem eine bloße Hilfswissenschaft und mikrologische Tätigkeit, der die Literaturwissenschaft als ihr »Eigentliches« und »Wesentliches« gegenübersteht. 1 Die in den 60er Jahren beginnende Aufarbeitung der Poetik Alteuropas führte beide Fachtraditionen freilich noch einmal zusammen und erneuerte eine disziplinare Allianz, die beides: die Arbeit am Text-Sinn und die vorgängige Sicherung und Restaurierung des Überlieferten Zusammenschloß. Was die Barockphilologie zu Beginn der 60er Jahre aus den Archiven und Bibliotheken zu Tage förderte, war ohne einen philologischen Anteil nicht denkbar und bestärkte eine Reihe von Vermutungen, die die Literaturwissenschaft nun auf dem Weg von Lektüren erhärten konnte: zum einen die, daß das alteuropäische Literaturwissen kaum mit ästhetikgeschichtlichen Vorverständnissen erfaßt werden kann; zum anderen, daß die barocke Poetik Teil eines poetologischen Normensystems ist, dem durchgreifende Innovationen strukturell fremd sind. Variationen innerhalb der Semantik sind insofern entweder als innerrhetorische Minimalbewegungen oder - unter sozialgeschichtlichen Vorzeichen - als Variationen im Bezugsfeld vorgängiger Sozialpolitik· und wissenschaftsgeschichtlicher Transformationen verarbeitet worden. Zwischen der vermeintlichen Unvereinbarkeit rhetorikgeschichtlicher und sozialhistorischer Analysen steht allerdings eine gemeinsame Mitte, die es als Tradition gestattet, jenseits fachpolitischer Fragen nach der entweder internen (Rhetorikgeschichte) oder externen Referentialisierung (Sozialgeschichte) der Analysen
Vgl. Nikolaus Wegmann: Zurück zur Philologie? Diskurstheorie am Beispiel der Empfindsamkeit, in: Fohrmann/Müller (Hg.): Diskurstheorien. a.a.O., S. 349-364, sowie Axel Gellhaus u.a. (Hg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994.
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Evolution
grundsätzlich weitreichende Bewegungen in der poetologischen Semantik auszuschließen, so daß die barocke Poetik, wie Marian Szyrocki 1977 betonte, »nicht so sehr als ein Entwicklungsprozeß aufzufassen [...], sondern vielmehr als vielfältige Variation« einer »Grundproblematik« zu verstehen ist. 2 Die deutsche Poetik, so wissen es Studien, die wie ihr Gegenstand »Ticht-Kunst« heißen, erschließt sich dem Verständnis und der wissenschaftlichen Beschäftigung nur dann, wenn man sie so versteht, wie sie sich selbst verstanden hat: als späte Blüte am weitverzweigten Baum der rhetorischen Theorie. Die Schriftsteller des 17. Jahrhunderts in Deutschland ziehen sowohl ihr Sachwissen wie auch ihre sprachlich-formale Bildung aus dem überlieferten Kanon der Antike. Sie treten damit humanistisches Erbe an. [...] Ihr Verhältnis zur lateinischen Tradition bleibt eigenartig unlebendig und distanziert.3 Nun ist die Berufung auf Tradition selbstverständlich nicht unangemessen, wie die in den 60er und 70er Jahren vorangetriebene Analyse der rhetorischen Implikationen der Poetik gezeigt hat. Für evolutionstheoretische Fragestellungen bleiben Substantialisierungen dieser Art, also kurzschlüssige Rückgriffe auf Tradition allerdings fragwürdig, weil sie auf die Ebene der Operationen und Regelmäßigkeiten, die das poetologischen Paradigma im 17. und frühen 18. Jahrhundert organisieren, kaum durchzugreifen vermögen. Tradition, so scheint es, bildet für weite Teile der Forschung ein Substrat, das die Analyse des ihr korrelierenden evolutionären Niveaus eher vorschnell verdeckt, als sie für eine evolutionstheoretische Rekonstruktion freizugeben. Was in den Blick geraten müßte, ist die Ordnung der poetologischen Semantik selbst, deren Selektionsverhalten allererst jene Innovationsblockaden und semantischen Rekursionen erzeugt, die eine Beschreibung als Tradition nahelegen könnten. Die systemtheoretische Evolutions-
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Marian Szyrocki: Poetik des Barock [Nachwort]. Stuttgart 1977. S. 256. Dyck: Ticht-Kunst. a.a.O., S. 7. Die Berufung auf >Tradition« ist im übrigen selbst Tradition, wie noch Peter-André Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 60, zeigt: »Die Regelpoetik des deutschen 17. Jahrhunderts ist klassizistisch orientiert und rhetorisch fundiert. [...] Zur formalen Systematik, die an das Fortwirken der rhetorischen Tradition gemahnt, gesellt sich die Berufung auf die prominentesten Musterautoren der Antike.« Vgl. auch Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. a.a.O.; Hildebrandt-Günther: Antike Rhetorik und deutsche literarische Tradition im 17. Jahrhundert. a.a.O.; Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. in: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980). Heft 4. S. 481-506; Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G.Fr. Meier. München 1983 sowie Heinz Entner: Der Weg zum »Buch von der deutschen Poeterey«. Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert, in: ders. (u.a.): Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Berlin 1984. S. 11-144.
Evolution
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theorie hat für evolutionäre Zustände dieser Art den Begriff Involution zur Verfügung gestellt und damit ein Niveau der stratifikatorischen Semantik beschrieben, das bestehende Strukturen lediglich variiert und als Einpassungskontexte für Anschlußselektionen wiederverwendet: Insgesamt gewinnt man den Eindruck, daß einem Problem der Evolution zunächst durch Involution begegnet wird. Vorhandene Formen und Mittel werden wiederverwendet, abgewandelt, diversifiziert und verfeinert und werden bis an die Grenze des existenziell Möglichen [...] getrieben. Anpassung wird im Rahmen wahrnehmbarer Probleme vollzogen, die sich an den bekannten Strukturen und in den durch sie dirigierten Sensibilitäten abzeichnen.4
Dem hier vorgeschlagenen Umbau des Referenzrahmens könnte der Einwand entgegengehalten werden, die systemtheoretische Literaturwissenschaft tausche lediglich die Theoriesprache aus und betreibe eine bloße »Umschrift« längst vertrauter Einsichten.5 Der Vorwurf müßte allerdings sachlich erhärtet werden, denn evolutionstheoretische Erklärungsmodelle ermöglichen eine Tieferlegung der Analysen, ohne die die hier anvisierte Beobachtung semantischer Transformationen und poetologischer Differenzierungsgewinne notwendig rudimentär bleiben muß. Im einzelnen stehen evolutionstheoretische Analysen nämlich 1. nicht vor dem Zwang, ihre Rekonstruktionen mit dem Verweis auf Tradition kurzerhand abzubrechen. Sie rücken vielmehr die evolutionären Mechanismen in den Blick, die ein solchermaßen involutives Fortschreiben des überlieferten semantischen Materials allererst ermöglichen. Involution markiert ein evolutionäres und nicht-beliebiges Niveau innerhalb der Evolution von Semantik, die selbst wiederum an den Komplexitätsgrenzen des stratifizierten Gesellschaftstyps orientiert wird6 - was auch bedeutet, das eine involutiv verfaßte Tradition vornehmlich die Aufgabe hat, Komplexität, d.h. Kontingenzrisiken zu reduzieren. 2. Semantische Traditionen müssen andererseits nicht prinzipiell als Selektionsschranke wirken, wie es die Ergebnisse der rhetorik- und sozialgeschichtlichen Forschung suggerieren. Die poetologische Semantik zeigt vielmehr, daß Tradition in Phasen zunehmender Ausdifferenzierung gerade benötigt werden, um Innovation zumindest versuchsweise durchzusetzen. Tradition wird zu einem Selektionshorizont, der Komplexität aufbaut, indem er das überlieferte poetologi-
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Luhmann: Interaktion in Oberschichten. a.a.O., S. 87f. Vgl. Georg Jäger: Systemtheorie und Literatur. Teil I: Der Systembegriff der Empirischen Literaturwissenschaft, in: IASL 19 (1994). H. 1. S. 95-125. S. 96. Vgl. Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. a.a.O., S. 16ff.
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Evolution
sehe Wissen in spezifischer Weise und das heißt: im Sinne »nutzbarer Zufälle« 7 auf Variation präpariert. Daß Involution selbst ein evolutionäres Niveau von Evolution markiert und insofern nicht aus Evolution hinaustritt, entspricht im übrigen den veränderten Prämissen der Evolutionstheorie. Im Gegensatz zu traditionellen Geschichtsverlaufsannahmen fuhrt soziokulturelle Evolution offensichtlich nicht zu einer langsamen, gleichmäßigen, kontinuierlichen Formenentwicklung. Man kann in ihren Resultaten Klumpenbildungen beobachten. Es kann Zeiten relativ häufiger und tiefgreifender Strukturänderungen geben und dann wieder Zeiten relativer Stagnation. [...] Vordringlich interessiert, wie dieses Phänomen der Unregelmäßigkeit selbst zu begreifen ist.8
Identische Reproduktionen und Phasen »relativer Stagnation« innerhalb der Semantik müssen an die eingeschränkten Evolutionsmöglichkeiten stratifizierter Gesellschaften verwiesen werden. Differenzierungstypen dieser Art verfügen offenbar über nur geringe Trennmöglichkeiten zwischen den evolutionären Mechanismen Variation, Selektion und Stabilisierung, so daß Variationsanlässe in aller Regel ausbleiben und mögliche Strukturvarianten an bereits bestehende Selektionshorizonte angepaßt werden müssen.9 Im Ergebnis richtet sich der Normalfall sinnförmiger Selektion »weitgehend nach dem vorhandenen Typenschatz und nach dem, was durch Bezug auf bekannte und vertraute Muster stabilisierbar ist.«10 Die hohe Kontinuität des poetologischen Normenrepertoires im 17. und frühen 18. Jahrhundert läßt allerdings vermuten, daß über die beschriebenen Einpassungsanforderungen hinaus zusätzliche Mechanismen benötigt werden, um den laufenden Bezug auf überliefertes Wissen sicherzustellen. Tradition schließt einen Überlieferungszusammenhang, vor dessen Hintergrund die Gegenwart immer als rekursive Aktualisierung und bewahrendes Erbe antiker und humanistischer Musterhaftigkeit erkennbar bleibt; es geht damit um eine spezifische Form historischer und sachlicher >Konnektivitätoffenen< Zukunft, Konzepte von Entwicklung und Fortschritt) bei Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: ders./Rainer Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987 (Poetik und Hermeneutik XII). S. 269-282. Koselleck: >Neuzeitpassenden< Semantik abstützen müssen. In dem Maße, wie der stratifikatorische Differenzierungstyp mit seiner hierarchischen Grundsymbolik und seinen schichtspezifischen Interaktionsroutinen als stabil und unveränderlich gelten kann, wird zugleich eine Semantik erzeugt, die die Welt als beständigen und festen Kosmos, als wohlgeordnete Summe ihrer Teile auffaßt. Temporalisierte Zeitvorstellungen finden vor diesem Hintergrund keinen Raum, so daß Innovationen nur als sachliche Korruptionen, nicht aber als temporalisierte Ereignisse verarbeitet werden können. Selbst die oft beklagte Inkonstanz der irdischen Verhältnisse läßt sich von hier aus noch als verborgenes Kennzeichen ihrer eigentlichen Beständigkeit interpretieren - etwa in der Art und Weise, wie der alteuropäische Zeitbegriff an der Unterscheidung von Fließendem und Festem auf der Seite des Festen orientiert wird. 21 Geschichte bleibt in die Annahme einer unveränderlichen irdischen Korruption von Recht, Glaubenstreue und Sittlichkeit eingespannt, so daß der Weltlauf - wie Jan-Dirk Müller im Blick auf die Jetztzeiterfahrungen des beginnenden 16. Jahrhunderts
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sellschaft. Frankfurt/M. 1995. S. 55-100. S. 58. Vgl. auch ders.: Das Kunstwerk. a.a.O., S. 628 sowie ders.: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Bern 1994. S. 41. Artikel καινσζ. in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. von Gerhard Kittel. 3. Bd.: O-K. Stuttgart 1938. S. 450-456. S. 450. Im Alten Testament bildet καινσξ einen Zentralbegriff der apokalyptischen Verheißung; auch hier meint der Begriff das »ganz Andere, Wunderbare« (a.a.O., S. 451) des unerwartet kommenden Heils. Vgl. mit reichen Belegen aus der mittelalterlichen Theologie Johannes Spörl: Das Alte und Neue im Mittelalter. Studien zum Problem des mittelalterlichen Fortschrittsbewußtseins. in: Historisches Jahrbuch 50 (1930). S. 297-341 und 498-524. S. 299. So etwa Karl der Große über die adoptianische Ketzerei: »Ihr habt kürzlich mit neuen Sätzen, wie sie in der alten Zeit der Kirche unerhört waren, in Schriften schlimme Irrlehren behauptet.« Zit. nach a.a.O., S. 301. Vgl. Luhmann: Die Behandlung von Irritationen. a.a.O., S. 83.
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gezeigt hat - den Zeitgenossen als Abfolge prinzipiell identischer, zumindest äquivalenter Geschichten, als »stabile instabilitas«, erscheinen mußte. 22 Nun sind es die eminenten Reproduktionsanforderungen der stratifikatorischen Ordnung selbst, die Innovationen mit Verweis auf soziale Erhaltungs- und Unveränderlichkeitszwänge verunmöglichen. Diesen Zwängen entspricht eine Semantik, die alles Bestehende - Adel, Besitz, Recht, Einfluß und Prestige - laufend auf seinen begründenden Ursprung zurückführt, um dessen Rechtmäßigkeit zu sichern. So kann der Adel seinen angestammten Ort in der sozialen Hierarchie nur über dynastische Argumente der Geburt plausibilisieren - was bedeutet, daß sich die je gegenwärtigen Ansprüche der Nachkommen auf den Unveränderlichkeit garantierenden Ursprung ihrer Familien beziehen müssen. Ähnliches gilt für Eigentumsansprüche, die an den Nachweis einer alten und ursprünglichen, in der Gegenwart aber prinzipiell aktualisierbaren Sachherrschaft abgesichert werden. Die mittelalterliche Rechtspraxis führen solche über Alter gewonnenen Legitimationszwänge in die Paradoxie, ein durch unvertraute Rechtsfälle erforderliches Gesetz nachträglich als »alt und gut« 23 zu bearbeiten, wenn auch das neugeschaffene Gesetz fraglos als neu erkennbar bleibt. »Das Recht«, so Johannes Spörl, »ist alt, neues Recht ist ein Widerspruch.« (315) Kontrafakturen dieser Art, die das Neue als Altes ausgeben, um seine Rechtmäßigkeit und soziale Legitimität unter Beweis zu stellen, haben die Aufgabe, Vergangenes und Vorbildliches als »stets aktuelle Gegenwart« 24 für aktuelle Kommunikationen präsent zu halten. Gegenwartserfahrungen sind im alteuropäischen Denken vor diesem Hintergrund im wesentlichen Erfahrungen einer Vergangenheit, die prinzipiell immer aktuell bleibt und als »Äquivalent für Unveränderlichkeit« (67) dient - mit der Konsequenz, daß Zeit primär bewahrend wirkt und auch »Vorgriffe in eine veränderbare Zukunft« 25 ausschließen muß. Die alteuropäische Zeitkonzeption kann Zukunft lediglich als Expansion der Vergangenheit behandeln, so daß Zukünftiges nur als Variation und Diversifikation eines vergangenen Ursprungs denkbar ist. Prinzipiell mögliche Innovationen werden - variatio non delectat - immer mit Bezug auf begründende Autoritäten oder
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Vgl. Jan-Dirk Müller: >Alt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hg.): Traditionswandel und Traditionsverhalten. Tübingen 1991. S. 121-144. S. 123. Jetztzeiterfahrungen dieser Art artikulieren sich allerdings unterhalb gelehrt-humanistischer Weltverlaufsannahmen; sie sind damit Teil eines >volkssprachigen < Erlebens und Schreibens. Spörl: Das Alte und Neue im Mittelalter. a.a.O., S. 314. Luhmann: Die Behandlung von Irritationen. a.a.O., S. 66. Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. a.a.O., S. 278.
Neuheit: Abweichung oder Innovation
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in Aussicht gestellte Verfehlungen limitiert. »Von den Vorfahren«, so der Kanonikus Adelmann von Lüttich Mitte des 12. Jahrhunderts, »ist alles vortrefflich geordnet; nichts Neues kann mehr geschaffen werden; ja Gott haßt die Neuerer.« 26 Die hier anklingende Nähe zur Theologie und Moraltradition Alteuropas ist in der Verurteilung des Neuen kein Zufall. Seit Augustinus wird gegen jede Form programmatischer Neuerung der Vorwurf der curiositas erhoben - und dies innerhalb eines Lasterkatalogs, der die curiositas als impia superbia diskreditiert. 27 Superbia, so Augustinus in den Confessiones, ist die menschliche Neugier, weil sie als bloß sinnliche Sensation des Sehens, als reine Augenlust (concupiscebtia oculorum), die von Gott gesetzten Schranken des Wissens ignoriert. Statt in der vita beata, der selbstvergessenen und respektvollen Anschauung der göttlichen Schöpfung zu verharren, fuhrt die curiositas in die »nichtige und vorwitzige Begierde der sinnlichen Erfahrung«: 28 Es gibt Leute, die alle Tugendhaftigkeit verlassen und im Unwissen um das Wesen Gottes und die Größe der Majestät einer sich immer gleichbleibenden Natur etwas Bedeutendes zu leisten glauben, in dem sie die ganze Masse der Körper, die wir >Welt< nennen, mit äußerster Neugierde und Aufmerksamkeit [curiosissime intentissimique] durchforschen. Und daraus erwächst ein solcher Hochmut, daß sie sich selbst in den Himmel [...] versetzt glauben.29
In der Moraltradition nach Augustinus und damit am Beginn einer allmählich legitim werdenden theoretischen Neugier schaffen schließlich aristotelische Motive zunehmend erkenntnisbezogene Freiräume. So führt die Einsicht der aristotelischen Metaphysik, daß »alle Menschen [...] von Natur aus nach Wissen (streben)«, 30 bei Thomas von Aquin zu einer Anthropologisierung des Erkenntnisbegehrens; curiositas ist vor diesem Hintergrund lediglich noch eine qualitative Korruption eines an sich legitimen Wissens: 31 Nur wer die erkannten Schöp-
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Oder auch: »Odit Dominus nimios scrutatores.« Zit. nach. Spörl: Das Alte und Neue im Mittelalter. a.a.O., S. 307. Vgl. hierzu Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt/M. 1973. Zit. wird nach der Wiederveröffentlichung in ders.: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt/M. 21988. S. 263-528. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. a.a.O., S. 361. Zur Begriffsgeschichte der curiositas vgl. Gunther Bös: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin. Paderbom/München/Wien/Zürich 1995. Augustinus: De moribus ecclesiae et de moribus Manichaeorum. Zit. nach Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. a.a.O., S. 367. Aristoteles: Metaphysik 980a 21. »Omnis scientia bonis est« (Thomas). Zit. nach: Blumenberg, a.a.O., S. 384.
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Evolution
fùngstatsachen nicht auf ihren ebenso ersten wie letzten Ursprung zurückführt, den wirkenden Gott also nicht in den irdischen Dingen erkennt, macht sich der curiositas schuldig. »Der Mensch«, so Thomas, »begehrt Erkenntnis der Wahrheit über die Schöpfung, ohne sie bis zu ihrer Konsequenz durchzuführen, indem er sie auf die Erkenntnis Gottes bezieht.«32 Solange neues Wissen damit nützliches Wissen ist, bleiben die epistemologischen Risiken gering. Seine Kehrseite verfällt, wie etwa in der 1692 erschienen L'art de se connoitre soi-meme des Jacques Abbadie, dem alten Verdikt der curiositas,33 Semantische Transformationen dieser Art erreichen die Poetik im Verlauf des 17. Jahrhunderts nur zögerlich. Neuheit bleibt - so weit ihre Ansprüche nicht ohnehin in die Schranken einer rigiden Moraltradition eingebunden werden - zunächst ein sachlich orientiertes Problem, das seinen Neuerungswert nicht in Differenz zu zeitlich Vorausliegendem, sondern einzig in Differenz zu strukturell Ähnlichem gewinnt. Für die kultivierten Konversationsrunden des 17. Jahrhunderts bleiben Unsicherheiten dieser Art damit immer salomonische Fragen, an denen sich die Harmonie der einschlägigen Frauenzimmer Gesprächspiele kaum bedroht sehen muß. Die Frage, »Ob nichts neues unter der Sonne sey?«,34 wird von den Mitgliedern der adeligen Runde jedenfalls im Sinne traditioneller, und das heißt: organologischer bzw. zyklischer Neuheitsvorstellungen beantwortet. »Neuerung« ist den edlen Herrschaften sichtbares Zeichen einer sich erneuernden Natur, die die Rhythmen der Jahreszeiten, der Vogelbrut oder der Erdumdrehung teilt: Kein Gewächs ist das wegen seiner neubegründen Blätelein nicht lustig anzuschauen. Kein Baum oder Reben / der nicht neue Zweige treibe / kein Vogel / der nicht junge Brut hege [...]. Der Lentzen erneuert / was in dem grauen Winter / gleichsam veraltet ist. Es kan nicht neu genennet werden / was uns zuvor bekant ist / als die Sprossen an den Baumen [...]. [...] der Mond verändert alle acht Tage sein Angesicht / und wird deswegen alle vier Wochen der Neumond genennet. Die Sonne emeuet das Jahr / so giebt es auch neue Steme am Himmel. (476f.)
Die erlauchte Konversationsrunde gewinnt allerdings auch Einsichten, die über eine naturkundliche eruditio hinausfuhren. Neuheit, so der Hofmann Vespasian, kann auch heißen: Variation des Bekannten und Diversifikation vertrauter Formen - etwa in der Art, wie der Poet im Rahmen der dichterischen inventio vorbildliche Muster und Autoren nachahmt:
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Thomas von Aquin, zit. nach a.a.O., S. 387. Genauer: dem der curiosité inutile. Vgl. Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. a.a.O., S. 202 und Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. a.a.O., S. 341. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. 6. Teil [1655]. a.a.O., S. 475.
Barocke Datenbanken - Schatzkammern
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Die Kunsterfindungen / welche man fiir neu hält / ist mehrmals eine Nachahmung / oder eine ungefehre Begegniß / und unsre Gedanken sind uns alle mehrmals zu Sinne gekommen / ob wir gleich derselbigen vergessen. (477)
Auch die Poesie, so legen es Hofmänner nahe, vermag nichts durchgreifend Neues hervorzubringen. Wo antike und humanistische Vorbilder laufend als musterhafter Horizont aller Formen mitgefuhrt werden, muß eine programmatische innovatio, in der die Spuren des Alten und Überlieferten nicht wenigstens verborgen präsent sind, notwendig »gegen Gott« (476) sein. Erst das ausdifferenzierte Literatursystem wird Neuheit jenseits theologisch begründeter Beunruhigungen erproben können.
2. Barocke Datenbanken - Schatzkammern In gewisser Hinsicht ist alle Poetik bereits Medientheorie. Denn Fragen nach der >Materialität der Kommunikation sind immer schon dort betroffen, wo die Unterscheidung von Rhetorik und Poetik traditionell auch die Differenz von Rede und Schrift, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhandelt. Gleichwohl: Aus der Perspektive der rhetorischen Dogmatik bleibt die Materialität der Texte oft genug folgenlos; Dichtung und Rede bilden lediglich verschiedene >Fälle< von Sinnbildung im Medium der Sprache oder Teile einer übergreifenden >WohlredenheitAeraría PoeticaFälle< prinzipiell rekonstruierbarer Regeln und präskriptiver Schreibanweisungen gelesen werden, die dann einen sach-richtigen »Nachtrab« ermöglichen: Was nun diesen Poetischen Vortrab insbesonderheit betrifft / soll der Leser wissen / daß selbiger bestehe aus unterschiedenen Sonetten / Oden / Elegien / Beyschriffien / und andern Arthen Gedichten / welche ich aus meinen sämtlichen Poetischen Vorrath [...] heraus gezogen / zu welche ich dann zwey oder drey ganze Wercke der Trauer- und Lust-Spiele gethan f...] und so dann den Weg des folgenden Nachtrabs auf ein oder andern Fall entweder zu bahnen oder zuzuschließen.50
Neben diesen produktionsdidaktischen Funktionen finden die Schatzkammern ihren systematischen Ort vor allem innerhalb der überlieferten Produktionsphasen der inventio und elocutio. Solange Poeten laufend von der >blöden< Gefahr bedroht sind, keine Einfalle zu haben, füllen Schatzkammern genau diese Sollstelle der barocken Erfindungswissenschaft auf, indem sie den stofflichen Bereich aufschwemmen und den Ungeübten sachlich, den Kasualdichter zeitlich unterstützen, weil ein »langes Nachsinnen« die Gelegenheit zum Dichten ungenutzt verstreichen läßt:
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Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie [1682/21700]. a.a.O., S. 313f. Haugwitz: Prodromus Poeticus [1684], a.a.O. unpag. Vorrede.
Barocke Datenbanken - Schatzkammern
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Angehende sind zu schwach stracks zu erfinden / was dißfalls erfordert wird / sie müssen Körbe haben / dabey sie schwimmen. So fallet denen geübtem auch nicht stets also fort ein / was sich fuget / langes Nachsinnen aber lässet die Zeit nicht allemal zu. Kan demnach dieses Werck denen Unerfahmen aufhelffen / denen Geschicktem aber so weit an die Hand gehen / daß sie um eines Verses will sich nicht aufhalten / und andern Verrichtungen Abbruch thun dörfften.51
Weil Zugewinne im Bereich der exempla zudem eine varietas von Ausdrucksund Vertextungsmöglichkeiten versprechen, kann August Buchner mit allem gelehrten Stolz auf die Fülle der im Dädalus enthaltenen elokutiven Formeln verweisen, »welche zu allerley artigen Auschweiffungen / ein Gedicht desto gesehener zu machen / Anlaß geben«. Andreas Tscherning schließlich läßt seinen Thesaurus davon handeln, wovon der Poet aus eigener Kraft nicht immer geschickt ist: »Von schönen und zierlichen Poetischen redens-Arten / umbschreibungen / und denen dingen / so einem getichte / sonderbaren glantz und anmuth geben können.«52 Freilich: Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhundert geraten die Schatzkammern allmählich in Mißkredit. Als Umschlagplätze einer angelesenen und zitathaften Bildung gelten sie vor allem der rationalistischen Rhetorik als überlebte Formen, deren schematische Topisierung und aufgeschwemmte Schmuckfülle mit den Grundsätzen der neuen >Oratorie< nicht harmonisierbar sind. Gottfried Polycarp Müller spricht 1711 von einem »Puppenspiel der oratorischen Kinder« und »oratorischen Trödel-Buden«.53 Friedrich Andreas Hallbauer schließlich findet nur noch Spott für die »Realien-Crämer«, die nur eines erwarten dürfen - einen »kräncklichen Leib« und einen allzu frühen Tod, herbeigeführt durch unablässiges Exzerpieren: Was ihnen nur zu Gesichte kommt, das schreiben sie ab: sie schreiben ihre eigenen Bücher oft mehr, als einmal aus: denn einige tragen es erst in miscellanea, hernach aus diesen in collectanea. Kommen sie zu einem guten Freunde, so stenkem sie einem gleich die Bücher durch [...]. Ihr ganzes Studium bestehet in schreiben, colligiren, excerpiren, annotiren [...]. Und ob sie gleich merken, daß sie bey dem Colligiren nichts in Kopf kriegen, daß sie die Augen verderben, daß sie das malum hypochondriacum sich zuziehen, daß sie ihre ganz Gesundheit dabey zusetzen [...]. Dadurch geschieht es oft, daß sie ihre mit großer Mühe gemachte excerpta nicht brauchen können; und zwar entweder,
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August Buchner: Vorrede zu Treuer: Deutscher Dädalus [1675], a.a.O. (unpag.). Tscherning: Kurzer Entwurff oder Abrieß einer Deutschen Schatzkammer [1659]. a.a.O. (Titelblatt). Gottfried Polycarp Müller: Abriß einer gründlichen Oratorie, zum Academischen Gebrauch entworffen und mit Anmerckungen versehen. Leipzig 1711. S. 26.
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weil sie sich vor der Zeit zu tode excerpieren, oder weil sie ihres kräncklichen Leibes ganz unbrauchbar sind.54
Die aufklärerische Sorge um den Körper, der unter den Archiven der Schrift erdrückt zu werden droht, verdeckt allerdings leicht, daß das 17. Jahrhundert schon über weiterreichende Argumente verfügt, wenn es um die Diskreditierung barocker Sammelleidenschaften geht. Was die Schatzkammern letztlich in Vergessenheit geraten läßt, sind Einwände gegen jene barocken Speichereffekte und Merksysteme, die Literatur aus Datenbanken hervorgehen lassen, indem Texte immer andere Texte durchlaufen dürfen. Schatzkammern, so Martin Kempe 1677, tragen nur »einerley mit vielfältigem Verdruß wiederholeter Einhalt«.55 Und: Statt »den Überrest von den Schriften der verstorbenen / als noch übrige Gütter von einem Schiffbruch / zusammen [zu] rappeln«, solle der Poet, curiös wie ein Seefahrer und Entdecker, auf den Weiten der Poesie »etwas newes ersinnen« (303): Man [...] miiste vielmehr alle Segel aufspannen / das hohe Meer beschiffen / und Frembde noch Unbekannte Waaren einholen / wodurch die Welt reicher und herrlicher wurde, (ebd.)
Georg Friedrich Meier läßt das Schicksal der Schatzkammern 1754 schließlich im Rauch eines Autodafés enden, das die gesamte barocke Kultur der exempla »mit einem male verbrant« wissen will. Was Meier in einer denkbar radikalen Datenverarbeitung beschreibt, ist das Löschen und Entleeren von Datenbanken, deren »Realien« zwar systematisch, aber sachlich immer zusammenhangslos angeordnet worden sind: Es hat viele Männer gegeben, welche [...] sich die Mühe genommen, aus den berühmtesten Schriften schöner Geister Realien zusammen zu lesen, und sie unter gewisse Titel zu bringen, ohne eine Verbindung der Sachen selbst zu beobachten. Daher sind die Schatzkammern, die Blumen lesen u.s.w. entstanden. Wenn man eine Sache verwerfen müste, die mehr Schaden verursacht als Nutzen, so müsten alle solche Schriften mit einem male verbrant werden.56
Solange alle Literatur auf dem Weg einer alteuropäischen Letterduplikation noch »Litteratur« ist und damit als immer erweiterbares Archiv »aller in Büchern nie-
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Hallbauer: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie [1725]. a.a.O., S. 289f. Vgl. auch Daniel Peucer: Anfangs-Gründe der Teutschen Oratorie. Dresden 41765 ['1739], Nachdruck Kronberg/Ts. 1974. S. 38. Martin Kempe: Charismatum Sacrorum Trias, Sive Bibliotheca Anglorum Theologica [1677]. Zit. nach Ingen: Strukturierte Intertextualität. a.a.O., S. 302. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Teil 1 [1754], a.a.O., S. 327f.
Barocke Datenbanken - Schatzkammern
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dergelegten Kenntnisse und Ideen«57 gilt, sind Schatzkammern in ihrer Stabilisierungsfunktion für den alteuropäischen Literaturbegriff freilich kaum zu überschätzen. An ihnen kann nämlich abgelesen werden, daß druckgestützte Schrift - ungeachtet der durch den Buchdruck ermöglichten Datenmengen und der nochmals gesteigerten zeit-räumlichen Abstraktionsleistungen58 - der Implementierung eines Kopierbefehls folgt, der ursprünglich aus der Manuskriptkultur stammt und der Texte insofern formiert, als er in immer neuen Exzerptoperationen musterhafte exempla zur Verfügung stellt, die einem Kanon antiker, humanistischer und gegenwärtiger Autoren entnommen werden. Der Deutsche Dädalus Gotthilf Treuere etwa versammelt neben den hundertfachen »Tituln aus der berühmtesten Poeten / Herren Opitzes / Flemmings / Bartasses / Werders / Dilherr / Schottels / Harßdorffers / Ristens / Brehmens / Tschernings / Buchholtzens / Glasers / Betuliens / Rumpiers / Klajens / Rinckarts / Schirmers / Franckens etc. / Schrifften« vor allem »Redens-Arten derer Griech- und Lateinischen Poeten.«59 Schatzkammern koppeln sich damit an eine Kontinuität des Paradigmatischen und Typenhaften, das als immer materiale Erweiterung und supplementierende Expansion des Alten und Überlieferten fortgeschrieben wird, ohne daß prinzipiell Neues in den Blick käme. »Das Exemplarische und Musterhafte«, so Ferdinand van Ingen, »versteht sich im historischen Kontinuum als unbeschränkt gültig [...]. Es handelt sich um einen allgemeinen Fundus, der von späteren Kulturen und Generationen fortschreibend zu erweitem ist und allenfalls im Vorherrschen bestimmter Präferenzen eine geschichtliche Differenzierung erlaubt.«60 Nun sind die einschlägigen Schatzkammern, Georg Friedrich Meier hatte darauf hingewiesen, hinsichtlich ihrer internen Systematik keineswegs ordnungslos, wie sich die Auswahl, Speicherung und Verwaltung der Muster zumindest Minimalkriterien verdankt. Texte und Texteinheiten gewinnen ihre musterhafte Qualität, wenn ihre Exemplarizität nachgewiesen werden kann - und das heißt: wenn ihre operative Wieder- und Weiterverwendbarkeit für andere Texte
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Anonymus: Idee einer Litteratur [1803]. a.a.O., S. 133f. Vgl. Jan-Dirk Müller: >Alt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500. a.a.O., S. 128; Ingen: Strukturierte Intertextualität. a.a.O., S. 288, sowie grundlegend Michael Giesecke: Der Buchdruck in der fnihen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1991. Treuer: Deutscher Dädalus [1675], a.a.O. Fol. A 5". (Titelblatt). Analog Bergmann; sein Deutsches Aerarium Poeticum trägt »Theile aus Hhn. Martin Opitzens / Paul Fleminges / Andreas Tscheminges / George Phil. Harsdörffers / Johann Franckes etc [...] Schriften« und »Theils aus dem Lateinischen« gewonnene Muster zusammen. Vgl. Deutsches Aerarium Poeticum oder Poetische Schatzkammer [1675]. a.a.O. (Titelblatt). Ingen: Strukturierte Intertextualität. a.a.O., S. 288.
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sichtbar wird.61 Weil Schatzkammern laufend Texte in Texte einspeisen, erzeugen sie jenen barocken und eigentumslosen Textbegriff, der seine Elemente auf dem Weg rhetorischer Umlauftechniken und ungeachtet >originärer< Kontexte, also unter Mißachtung von Ursprungsnachweisen prinzipiell in andere Texte einschreiben kann. Diese >intertextuelle< Transponierbarkeit und operative Weiterverwendbarkeit von Textelementen summiert die textuellen Erfahrungen des 17. Jahrhunderts schließlich zu einer Poetik, die in einem vorweggenommenen poststrukturalistischen Impuls immer »neue Gewebe alter Zitate«62 aufschreibt: Wenn Texte aus Texten emergieren und anonym gewordene Zitatenschätze die Archive des Schreibens regulieren, ist die barocke Vorstellung eines universalen, viele Jahrhunderte umspannenden Text- und Überlieferungszusammenhangs nicht fern. Eine Alternative wird allein das goethezeitliche Textverständnis bieten: der Text als homogener, kohärenter und singulärer Sinn-Raum.
3. Nach-Schriften: Imitatio Um 1800 artikulierten sich bekanntlich Sehnsüchte, die die Schrift und das Vergessen betreffen. Was für die alte Kunst der Mnemonik damit verpflichtend ist, gilt in einer historisch nur vordergründig gewagten Analogie auch fur das poetologische Wissen Alteuropas: es muß, wie die Kreideschrift auf einer Schiefertafel, gelöscht und in diesem bildlichen Sinne vergessen werden können. 1804 jedenfalls formuliert ein noch durch und durch rhetorisch informiertes Compendium der Mnemonik genau diese Sehnsucht nach einem Vergessen, das Raum für neues Wissen schafft, indem es die kulturellen Speicher entleert: Könnte man die angefüllten Plätze von ihrem unnütz gewordenen Vorrath reinigen, die alte unbrauchbar gewordene Bilderschrift, wie von einer schwarzen, mit Kreide beschriebenen Tafel, gleichsam mit einem Schwamm wegwischen, und so das Gedächtnis seines Ueberflusses entladen.63
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Vgl. Wiedemann: Vorspiel der Anthologie. a.a.O., S. 2. Roland Barthes: Artikel > Texte (Theorie du)originellen< Erfindung auszusetzen. Allerdings: bloße Kopien müssen in beiden Fällen vermieden werden: Schwierig ist, Allgemeines individuell zu sagen, und besser, du setzt die Dichtung um Troja in ein Bühnenstück um, als daß du Unbekanntes und Ungesagtes als erster vorlegst. Allgemeingut gerät unter privates Besitzrecht, wenn du nicht in dem billigen, allen zugänglichen Kreise dich aufhältst, nicht als Nachahmer [imitator] in die Klemme gerätst, aus der dich herauszuwagen dir Kleinmut oder das Gesetz des Werkes verbieten [...]·* Für das alteuropäische Literaturverständnis sind diese Formulierungen paradigmatisch; sie besitzen - auch wenn der antiken Rhetorik Autoren- und musterbezogene imitatio-Konzepte aus anderen Kontexten bereits vertraut sind 66 - eine diskursbegründende Macht, die erst an der Schwelle zur modernen Literatur ihre Gültigkeit verlieren wird. Paradigmatisch ist die Ars poetica, weil sie im Konzept der imitatio ein Literaturverständnis bündelt, das Nachahmung als Transposition immer schon vorausliegender Textmaterialien versteht. Transposition bedeutet hier: Aneignung und produktives Weiterschreiben von Texten und Schriftexem-
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Stephan Kohl: Realismus. a.a.O., S. 50. Vgl. auch Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. a.a.O., S. 155. Horaz: Ars Poetica. a.a.O., S. 13. Gemeint sind die im 1. vorchristlichen Jahrhundert einsetzenden Bemühungen, die klassischen Redner des 4. Jahrhunderts (Lysias, Demosthenes) angesichts einer vielseits beklagten corrupta eloquentia für die öffentliche Rede wiederzugewinnen. Verbindlich sind diese Motive in der fragmentarisch überlieferten Schrift Über Nachahmung des Dionysios von Halikamass formuliert worden, wo es heißt: »Wir müssen die Werke der Alten studieren, um uns von dort nicht nur Stoff für unser Thema, sondern auch die Fähigkeit zur Nachbildung (zelos) ihrer Stileigentümlichkeiten zu verschaffen« (Dionysios von Halikamass: Über Nachahmung. Zit. nach Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. a.a.O., S. 193.). Ein Effekt dieser Nachahmungsbemühungen ist die Entstehung der alexandrinischen Philologie (Kallimachos), unter deren Einfluß die ersten Autorenverzeichnisse angefertigt werden. Vgl. a.a.O., S. 186ff.
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peln, die in einem noch voreigentumsrechtlichen Sinne als >Allgemeingut< (publica materies) jedem zugänglich sind und von anderen Autoren nach Maßgabe objektiver Schreibregeln ihrerseits in andere Texte eingeschrieben werden können. Imitatio ist damit keine Kopieranweisung, die ihre Gültigkeit aus der Detailtreue »identischer Reproduktion«67 gewönne, sondern ein Schreibbefehl, der den vorgegebenen Text unter Beachtung spezifischer Regularien transformiert und - im Idealfall - überbietet. Die römische Rhetorik, insbesondere Cicero und Quintilian, hat die imitatio daher konsequent um eine Lektüre erweitert, die sich den Raum des Geschriebenen restlos aneignet, um die besonders gelungenen exempia zu Zwecken des eigenen Schreibens zusammenzufassen. Wie sich der Maler Zeuxis, so Cicero, für das Bildnis der Helena die virgines formosissimas der Stadt Kroton vor Augen stellen ließ, habe der Redner »aus dem reichsten Vorrate das zweckmäßigste auszuwählen«: Demgemäß habe auch ich [...] nicht irgendein einzelnes Muster vorgelegt, von dem ich glaubte, daß alle seine Teile in jeder Beziehung nachgebildet werden müßten, sondern ich brachte alle Schriftsteller auf einen Platz zusammen und veranstaltete eine Auswahl aus den trefflichsten Leistungen der verschiedenen Talente. [...] Mir war es an die Hand gegeben, aus dem ganzen zu Gebote stehenden Vorräte, von der frühesten Zeit an, da man Vorschriften für diese Kunst gab, bis herab auf unsere Tage, nach Gefallen meine Auswahl zu treffen. 68
Nun erinnert der Fleiß des Poeten nicht zufällig an einen sprichwörtlichen Bienenfleiß. Spätestens seit den Epistulae morales des Seneca wird das imitatorische Verfahren im Bild Honig sammelnder Bienen symbolisiert, die das nachahmende Geschäft des Poeten auf den Weiden der frühneuzeitlichen Allegorik verdeutlichen: Wie die Bienen sammelt der Poet einen Stoff, der erst qua organischer bzw. produktiver Transformation zum Honig des Textes wird. Es liegt in der Logik dieses Bildes, daß die über die bloße scientia colligendi hinausführende scientia mellis faciendi der Bienen auch dem Poeten zufließt, der die Summe der aufgenommenen Lektürefrüchte im quasi verdauenden poetischen ingenium produktiv transformiert und als Text diskursförmig gemacht: Die Bienen, wie man sagt, müssen wir nachahmen, die umherfliegen und die zur Honiggewinnung geeigneten Blüten aussaugen, sodann, was sie eingebracht haben, ordnen, auf die Waben verteilen, und, wie unser Vergil sagt, flüssigen Honig anhäufen und mit süßem Nektar füllen die Zellen. [...] Auch wir müssen diese Bienen nachahmen und,
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Luhmann: Ist Kunst codierbar? a.a.O., S. 257f. Cicero: De iventione II, 2. in. Werke Bd. X. Übersetzt von Wilhelm Binder. Berlin/Stuttgart 1855-1919. S. 79f. Vgl. zu den entsprechenden aemulatio-Empfehlungen Quintilian: Institutio oratoria X, 2 , 4 bzw. X, 2, 9 und Vom Erhabenen 13,2.
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Nach - Schriften: Imitatio
was immer wir aus verschiedener Lektüre zusammengetragen haben, trennen [...], sodann Sorgfalt sowie Einfallsreichtum unseres Verstandes anwenden und in einen einzigen Geschmack jene verschiedenartigen Lesefrüchte zusammenfließen lassen; dadurch wird es [...] offenkundig etwas anderes sein als das, woher es genommen ist. Das sehen wir an unserem Körper [...]: Lebensmittel, die wir zu uns genommen haben, sind, solange sie in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit verharren und unverdaut im Magen schwimmen, eine Belastung; hingegen wenn sie sich von dem ursprünglichen Zustand weg verwandelt haben, dann erst gehen sie in Kräfte und Blut über." Solange alle Nachahmung eigentlich einer sorgenvollen Diätetik folgt, entspricht den poetologischen imitatio-Grundsätzen
ein institutionalisierter Schulbetrieb,
der das Konzept der Nachahmung auch zu Ausbildungszwecken verankert. Bereits die antike Schulrhetorik kennt einen dreiteiligen Lehrplan, dessen interne Struktur zwar variieren kann, prinzipiell aber ohne nachahmende Schreibübungen nicht denkbar ist. Der früheste Reflex dieser Ordnung findet sich in der Rhetorica ad Herennium,
die die traditionelle Lehre von den fünf Bearbeitungsphasen der
Rede auf den Dreischritt ars - imitatio - exercitatio
stützt:
Haec omnia tribus rebus adsequi poterimus: arte, imitatione, exercitatione. Ars est praecepta, quae dat certam viam rationemque dicendi. Imitatio est qua impellimur, cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse. Exercitatio est adsiduus usus consuetudoque dicendi.70 Auch Quintilian empfiehlt einen dreigliedrigen Ausbildungsgang: nach den vom Redelehrer abgehaltenen Vorübungen (praeexercitamenta) der rhetorischen Theorie (ars, praecepta,
doctrina),
folgt die Vermittlung
deren systematischer Kern
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L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium. Epistulae morales LXX-CXXIV. in: Philosophische Schriften. Bd. 4. Übers., eingel. und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1984. S. 225f. [84, 3 - 84, 6], Zur Tradition des Bienengleichnisses vgl. Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. in: Romanische Forschungen 68 (1956). S. 271-293, sowie Alfons Reckermann: Das Konzept kreativer imitatio im Kontext der Renaissance-Kunsttheorie, in: Walter Haug/Burkhart Wachinger (Hg.): Innovation und Originalität. Tübingen 1993. S. 98-132, sowie Grimm: Literatur und Gelehrtentum. a.a.O., S. 174. Vgl. zur Aufnahme des Bienengleichnisses in der Barockpoetik Omeis: Gründliche Anleitung [1704]. a.a.O., S. 15; Männling: Der europäische Helicon [1704]. a.a.O., S. 8; Stieler: Dichtkunst des Spaten [1685], a.a.O., S. 124. V. 4445f., sowie in Epigramm-Form bei Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte [Nr. 12]. Hg. von Gustav Eitner. Tübingen 1872. S. 9. Wörtliche Seneca-Paraphrasen bei Harsdörffer (Poetischer Trichter. 3. Teil [1653], a.a.O., S. 54) und Birken (Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst [1679], a.a.O., S. 178). Die nützliche Empfehlung lautet generell: verdaue gut, um gut zu dichten.
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Rhetorica ad Herennium I, 2, 3. With an english translation by Harry Caplan. Howard University Press. London 1981. S. 6ff.
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die Lehre von den fünf Arbeitsstadien, den Redeteilen und den vier Stiltugenden bildet. Die praktische Anwendung des Gelernten findet anschließend im Rahmen der exercitatio statt; geübt wird auf allen Feldern des Rhetorischen: durch Lesen, Schreiben und freies Reden: Denn weder gefestigt noch kernig könnte jemals die Beredsamkeit sein, sollte sie nicht aus reichlicher Schreibübung ihre Kräfte schöpfen; und ohne das Vorbild der Lektüre wird jene Bemühung fiihrerlos umherirren, und wenn jemand, der weiß, was und wie gesprochen werden muß, die Beredsamkeit nicht kampfbereit und für alle möglichen Fälle gerüstet zur Verfugung hat, so wird er gleichsam verschlossene Schätze bewachen." Am Ende der Ausbildung steht die imitatio. Sie geht aus der exercitatio hervor, indem sie die exempla als Vorbilder für eine überbietende Nachahmung nutzt. Was der Rhetorikschüler zu diesem Zweck unter Anweisung des Magisters vollzieht, ist eine unablässige Lektüre, die an den gesammelten Mustertexten dasjenige präpariert, was sich zur Nachahmung besonders eignet: So wollen wir es [das Gelesene, I.S.] denn wiederholt überdenken, und wie wir die Speisen gut gekaut und geradezu im flüssigen Zustand schlucken, um sie leichter zu verdauen, soll auch der Lesestoff nicht roh, sondern durch oftmalige Wiederholung erweicht und gleichsam zerkaut dem Gedächtnis zur Nachahmung einverleibt werden. (X, 1, 19) [...] Es kann nämlich nicht bezweifelt werden, daß ein Großteil der Kunstfertigkeit auf Nachahmung beruht. Denn wie das Ersinnen zwar am Anfang stand und das Wichtigste ist, so wird man gut daran tun, die bewährten Erfindungen nachzuahmen. (X, 2,1) Auch im 16. und 17. Jahrhundert gibt es an normativen Gültigkeit dieser Ordnung mitsamt ihrer Hochschätzung der imitatio keinen Zweifel. 72 Humanismus und Barock arbeiten die antike Systematik in ein umfassendes Erziehungsprogramm ein, das alle pädagogisch-gelehrten Institutionen - die konfessionellen Schulen ebenso wie Universitäten und Ritterakademien - verpflichtend prägt. Im Mittelpunkt steht der gegenüber Quintilian nur im Detail veränderte Dreischritt praecepta/doctrina - exempla - imitatio, der nun gleich zwei systematische Posi-
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Quintilian: Institutio oratoria X, 1,2. Dies gilt selbst fur den mittelalterlichen Rhetorik-Unterricht. So kann Alkuin auf eine vollständige Darstellung der rhetorischen doctrina verzichten, weil rhetorische Fertigkeiten bereits durch Nachahmung gewonnen werden können: »Ein scharfer und feuriger Geist erwirbt die Kunst der Rede leichter durch Lesen und Anhören guter Redner als durch theoretisches Studium. [...] Er wird zur Vollendung gelangen, wenn er außerdem sich in der Niederschrift, im Diktat und im mündlichen Vortrag übt.« Zit. nach Ueding/ Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. a.a.O., S. 58f.
Nach - Schriften:
Imitatio
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tionen besetzt: Einerseits orientiert er die im engeren Sinn rhetorische, also gleichsam fachwissenschaftliche Erziehung, andererseits expandiert er in den gesamten philologisch-verbalen Unterricht im Bereich des überlieferten Triviums (Grammatik, Poesie, mit Einschränkungen auch Logik bzw. Dialektik). »In jedem dieser Fächer«, so Wilfried Barner, »schreitet der Unterricht von den praecepta über die exempla zur imitatio fort, wobei alle drei Übungsbereiche in Wechselwirkung stehen, dem eigenen literarischen Produkt aber die Prävalenz zukommt.«73 Schon 1528 kann Philipp Melanchthons Kursächsische Schulordnung damit Lehrbarkeiten und pädagogische Regularien aufschreiben, die in den Schulordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts immer wiederkehren werden. 74 Melanchthon unterscheidet drei Ausbildungsschritte - sogenannte »Hauffen« - , die nach einem elementaren Lesekurs75 und der Vermittlung der grammatischen »regulas Constructionum«76 schließlich in nachahmende Schreibübungen münden, die neben den »grammatischen« Fertigkeiten der Etymologie und der Syntax zusätzlich auch metrische Fähigkeiten voraussetzen: Und wenn sie [die Kinder, LS.] Etymologiam vnd Syntaxes wol künden, sol man yhnen Metricam fürlegen, dadurch sie gewenet werden, Vers zu machen. Denn die selbige vbung ist sehr fruchtbar, anderer Schrift zuuerstehen, Machet auch die Knaben reich an Worten, vnd zu vielen Sachen geschickt. [...] Von dem andern vnd dritten hauffen, sollen alle wochen ein mal Schrifft, als Epistel oddr Vers, gefoddert werden. (94f.)
Ihren vollen Sinn kann die imitatio freilich erst dort entfalten, wo das bewahrenswerte Wissen in einem Maße zur Verfügung steht, daß Rückbezüge auf antike Texte nicht mehr länger an vereinzelte Schriftmilieus gebunden sind. In gewisser Hinsicht ist alle imitatio lediglich ein produktionsdidaktisches Äquivalent einer neuartigen Medientechnik, die Texte seit der Erfindung der beweglichen Lettern in Buchkörper einzuspeisen beginnt, so daß alle Nachahmung eigentlich dazu dient, Texte einander begegnen zu lassen, ohne daß noch die Verkehrsgren-
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Barner: Barockrhetorik. a.a.O., S. 242f. Vgl. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Bd.l. 3., erweiterte Auflage Leipzig 1919, S. 345. Vgl. Philipp Melanchthon: Unterricht der Visitatorn an die Pfarhern ym Kurfurstenthum zu Sachssen [Instructio Visitatorum Auetore Philippo Melanchthone]. Wittenberg 1528. Zit. nach: Corpus reformatorum Bd. 26. Hg. von Karl Gottlieb Bretschneider und Heinrich Emst Bindseil. Braunschweig 1858 (Reprint 1963). Sp. 49-96. Der der Sammlung von exempla dient: »Also, das der Schulmeister einen vers oder zween exponire, welche die Kinder darnach zu einer stunde, auff sagen, das sie dadurch einen hauffen lateinischer wort lernen, vnd einen Vorrat schaffen zu reden« (a.a.O., Sp. 91). Zur Grammatik zählt Melanchthon Etymologie, Syntax und Prosodie. Musterautoren sind Terenz und Äsop. Vgl. a.a.O., Sp. 92.
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zen der Schrift eben jene textuelle Interaktionen blockieren können. 77 Die frühneuzeitliche
Wiederentdeckung, Kommentierung und Auslegung der antiken
Quellen hat hier jedenfalls ihren Möglichkeitsgrund, weil der Buchdruck die eingeschränkten, an das Ab- und Ausschreiben weniger kanonischer Texte gebundenen Verbreitungsmöglichkeiten der mittelalterlichen Manuskriptkultur endgültig aufsprengt und die Reichweite schriftlicher Kommunikation über eine neue evolutionäre Schwelle treibt: Sobald Schrift durch Buchdruck verstärkt wird, kommt es zu einer massenhaften Reaktualisierung vergangenen Gedankenguts [...]. Die Parallele zur europäischen Renaissance und zur Überführung allen Buchwissens in den Druck liegt auf der Hand. Teils unabhängig, teils abhängig davon wird jetzt auch Kunst >gesammeltAntritte< und »Vorreden< der Poetiken Eingang finden werden, reagieren in erster Linie auf die ungebrochene Kontinuität der platonischen Dichtungskritik, die im 16. und 17. Jahrhundert vor allem in den orthodoxen und reformierten Kreisen unter dem Stichwort der Lügenhaftigkeit aller Dichtung wiederaufgenommen wird. 1595 faßt eine schnell Schule machende Apology for Poetry zusammen, was ein bereits 1579 veröffentlichtes Pamphlet Stephen Gossons' der Literatur
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Harsdörffer: Poetischer Trichter. 2. Teil [1648]. a.a.O. Vorrede, unpag. Opitz: Buch [1624], a.a.O., S. 16. Iulius Caesar Scaliger: Contra Poetices Calumniatores Declamatio [1600]. Zit. nach der Ausgabe von Vemon Hall: Scaliger's Defense of Poetry, in: PMLA 63 (1948). S. 11251130. S. 1130.
Das »undenkliche Alter der Poesie«
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unter dem Titel The school of abuse vorgehalten hatte: Lüge, Schein, Zeitvergeudung und, nicht zuletzt, maßloses Erotikon zu sein: First, that there being many other more fruitful knowledges, and man might better spend his time in them than in this. Secondly, that it is the mother of lies. Thirdly, that it is the nurse of abuse, infecting uns with many pestilent desires, with a siren's sweetness drawing the mind to the serpent's tale of sinful fancy [...]. 105
Was Sir Philip 1595 zitiert, sind jene puritanischen Bedenken, die ihre ursprünglichen, und das heißt: platonischen Motive in einen ethischen Diskurs der Pflichterfüllung und der sinnlichen Askese aufweichen. In den deutschsprachigen Poetiken wird die Diskussion um die ebenso oberflächlichen wie verführerischen Tändeleien der Poesie schnell zu einem Topos verfestigt, ohne daß die Auseinandersetzung den Anspruch und den Raum von Sidneys Apology annimmt. Martin Opitz behandelt den Vorwurf, daß »die Poeten mit der warheit nicht allezeit vebereinstimmen«106 im dritten Kapitel seines Buchs von der Deutschen Poeterey als Teil der »etlichen Sachen die den Poeten vorgeworffen werden.« (14) Auch Balthasar Kindermann überstellt die Diskussion der platonischen und puritanischen Dichtungskritik - neben anderen Vorwürfen - dem dritten Kapitel seines Deutschen Poeten, das »von etlichen errichteten Auflagen und Lastern / welche allen rechtschaffenen Poeten / von den Unverständigen / heutiger Zeit / ohne allen unterscheid / ganz unverantwortlicher weise / fürgeworffen werden.«107 Besonders fruchtbar aber ist die Diskussion um die Lügenhaftigkeit der Dichtung dort geworden, wo der Roman und mit ihm eine an Widersprüchen reiche Debatte seine poetologische Relevanz zu erweisen beginnt. Weil die »Romanen«, wie Pierre Daniel Huets Traité de l'origine des romans weiß, allenfalls »in gewissen Teilen wahr«108 sind, können Lüge und Schein, lange bevor die Literaturwissenschaft von Fiktion sprechen wird, zum Gattungskriterium aufrücken und Absetzbewegungen gegen die historischen Erzählungen vollziehen, in denen, hinreichend aristotelisch, die »Wahrheit die Oberhand behält«. Während die
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Sir Philip Sidney: An Apology for Poetry. London 1595. Ed. by Geoffrey Shepherd, Manchester 1973. S. 123. Opitz: Buch [1624]. a.a.O., S. 17. Ähnlich bei Birken: Teutsche Rede- bind- und DichtKunst [1679]. a.a.O., Vorrede 16. Kindermann: Der deutsche Poet [1664]. a.a.O., S. 16. Kindermann ist einer der wenigen Autoren des 17. Jahrhunderts, die das platonische Motiv der Dichterverbannung sinngemäß wiedergeben; Piaton habe »nur die lasterhaften / wollüstigen und verliebten Dichter von seiner Bürgerschaft ausgeschlossen« (26). Pierre Daniel Huet: Traité de l'origine des romans [1670]. Faksimiledruck nach der Erstausgabe 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Stuttgart 1966. S. 576.
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»Romanen«, so Huet und sein Übersetzer Eberhard Werner Happel, in der Hauptsache Falsches erzählen, sind die »Historien [...] in Genere wahr« und nur »in gewissen Stücken falsch«: Die Romanen hingegen sind in gewissen Teilen wahr / und im ganzen oder in Genere falsch. Diese sind warheit mit falschheit vermenget / und jene sind falschheit mit warheit vermischet. Ich kan wohl sagen daß in angeregten Historien die Warheit die Oberhand behält! und daß die Falschheit dergestalt in den Romanen herschet / daß sie falsch heissen mögen im gantzen Wesen / Und zertheilet. (576) Nun stellt der Altersbeweis kein genuin poetologisches Argument dar. Es ist die Patristik des 2. Jahrhunderts, die die legitimierende Kraft des Alters nutzt, um die Überlegenheit der christlichen Dogmatik gegenüber der griechischen, insbesondere platonischen Philosophie unter Beweis zu stellen. Das Argument, das von der frühchristlichen Apologetik bis in die Schriften der griechischen und lateinischen Kirchenväter überliefert wird, stützt sich auf das Buch der Bücher und duldet aus diesem Grund keinen Widerspruch: Das Alter der heiligen Schrift verbürgt eine immittelbare Nähe zum göttlichen Ursprung und sichert damit ein Höchstmaß an Wahrheit. Theophilus von Antiochien fuhrt vor diesem Hintergrund den »Beweis für das Alter der Lehren der Hl. Schrift«, demgegenüber die platonische Philosophie, wenn sie auch im Einzelnen durchaus Wahres zu sagen habe, lediglich als imitatio der doctrina Christiana anzusehen sei: Ich will dir nun mit Gottes Hilfe auch die Chronologie genauer darlegen, damit du siehst, daß unsere Lehre nicht neu noch fabelhaft sei, sondern älter und wahrer als die aller Dichter und Schriftsteller, die ins Blaue hineingeschrieben haben. Denn diejenigen, welche die Welt als ungeworden annahmen, gingen bis ins Unbegrenzte zurück; andere, welche eine Entstehung der Welt behaupteten, sagten, es seien seitdem bereits 153, 075 Jahre verflossen. [...] Plato aber, der flir den Weisesten der Griechen gilt, in welche Faseleien verliert sich der!109 In die Poetiken des 17. Jahrhunderts findet der Altersbeweis zusammen mit einer Reihe anderer Argumente Eingang, die allesamt apologetische Funktionen tra-
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Drei Bücher des heiligen Theophilus, Bischof von Antiochien, an Autokylus. Übersetzt von Andreas Freiherr Di Pauli. Kempten/München 1913. S. 91. Ein ähnliches Argument auch bei Justin dem Märtyrer. Vgl. Die beiden Apologien Justins des Märtyrers. Übersetzt von G. Rauschen. München/Kempten 1913. S. 72. Die christliche Apologie ist im übrigen um das Argument erweitert worden, die Heilige Schrift stehe den profanen Autoren hinsichtlich ihrer sprachlich-rhetorischen Würde nicht nach (Hieronymus). Vgl. zu dieser Verknüpfiing von antiker Bildung und christlicher Theologie Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. a.a.O., S. 226, sowie Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. S. 24ff.
Das »undenkliche Alter der Poesie«
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gen.110 Conrad Wiedemann hat angesichts der topischen Struktur dieser Argumente von einem barocken »Systemdenken« gesprochen,111 dem Joachim Dyck in ähnlicher Weise den Begriff des »Argumentationssystems« an die Seite stellte.112 Beide Begriffe machen deutlich, daß der Altersbeweis Teil einer apologetischen Rhetorik ist, die die Legitimationsprobleme der Poetik offenbar schon über frühe Formen von Selbstreferenz thematisiert und in den Argumentationsgang der Poetiken einarbeiten kann. Rhetorisches Muster ist das genus demonstrativum, das aus der antiken Theorie der genera dicendi entnommen wird und bereits in der Antike eine reiche Tradition an Lobreden, vornehmlich im Bereich der Künste und Wissenschaften entfaltet.113 Gemäß den Strukturprinzipien des genus demonstrativum werden dabei traditionell zwei Gegenstände des Lobes unterschieden: einerseits die laudatio der Personen, andererseits die laudatio der res, die zudem die drei Topoi der utilitas, der facilitas und der honestas berücksichtigen muß.114 Die Poetiken des 17. Jahrhunderts zeigen allerdings, daß der Altersbeweis für weiterfuhrende apologetische Argumente genutzt werden kann. Johann Klajs Lobrede der Teutschen Poeterey, 1644 »Einer Hochansehnlich-Volkreichen Versammlung« nach allen Gesetzen des genus demonstrativum vorgetragen,115 nutzt den Altersbeweis, um eine Ursprungsmythologie der deutschen Sprache und Literatur zu begründen, die sich gegen die traditionelle Hegemonie der antiken Literaturüberlieferung durchzusetzen vermag. Im Gefolge der babylonischen Sprachverwirrung, so Klaj auf den Flügeln der epideiktischen Rhetorik, sei die Sprachentwicklung von den Hebräern auf die Kelten übergegangen, deren Sprache dann erst das Griechische und das Lateinische hervorgebracht habe. Damit
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Dazu zählt etwa der Nachweis, die Poesie bilde Ursprung und Quelle aller anderen Künste und Wissenschaften (>UniversalitätsbeweisDichtkunstGeschichte< als einen Einheit stiftenden Raum, in dem Autoren und Werke als res einer inventiven und dispositionellen Klassifikationstätigkeit zunächst ausgewählt und schließlich geordnet werden. Geschichte artikuliert vor diesem Hintergrund immer eine den res schon vorausliegende Verlaufsannahme, die die denkmögliche zeitliche Sukzession als ein primär sachliches Problem ihrer additiven Ordnung versteht und die den >Text der Geschichte< insofern als Summe ihrer aufeinanderbezogenen Elemente organisiert. Innovationen werden dabei nicht als temporalisierte Ereignisse, sondern als sachliche Zuwächse und Auffüllungen des kategorialen Rahmens und seiner klassifikatorischen Orte behandelt. Nun finden die Landkarten des historischen Wissens im Verlauf des 17. Jahrhunderts auch Eingang in die Poetiken der Zeit. 1645 entwirft Johann Klaj eine Literaturgeschichte in vier »Denkzeiten«, an der deutlich wird, das Denken noch Ge-Denken und damit Erinnern ist, so daß »Denkzeiten« lediglich Trennereignisse bilden, die den Traditionszusammenhang der deutschen Literatur von ihren keltischen Ursprüngen bis in die Gegenwart des 17. Jahrhunderts intern gliedern und ordnen, ohne aber geschlossene Sinneinheiten zu artikulieren. Die erste Denkzeit umfaßt einmal mehr die prätendierten germanisch-keltischen Ursprünge der Poesie, die Karl der Große, »Schutzherr und Vater« (392) aller deutschen Dichtung, »vor dem Untergange« (393) rettet und der Nachwelt überliefert. Auch am Beginn der zweiten »Denkzeit« steht Karls Wirken als spiritus rector der deutschen Poesie. Sie umgreift die traditionsstiftende Tätigkeit der karolingischen Kultur, die »die Heydnischen Gesetz- und Grabreimen in Christliche Gedichte versetzet« (395) und damit in einen ebenso christlichen wie doppelsinnigen Überlieferungszusammenhang einarbeitet, weil die höfische Blüte der mittelalterlichen Literatur vorgibt, was die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts im Zeichen neuerlicher Blüte (renovatio) wiederholen soll: die so geschätzte Verbindung von nobilitas Iliteraria und nobilitas generis: Ist also unsere Poeterey nicht aus dem Schulstaube hergeflogen / nach welcher sie / wie etliche unbesonnen meinen / noch stinket / sondern sie ist zu Hofe / nebenst andern Ritterlichen Übungen / Thurnieren und Fechten / in vollem Schwang gangen. Wird auch / ob Gott will / dermaleins widerüm von hohen Häubtem angenommen und geliebet werden. (394)
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Auch die »dritte Denkzeit« (395) steht in einem prospektiven Verhältnis zur Gegenwart des 17. Jahrhunderts. Luther habe, ganz ähnlich wie die Sprachgesellschaften der späteren Zeit, eine erste Sprachreinigung durchgeführt, die den Deutschen alle ungelenken Wendungen genommen und zur Verkündigung der »Evangelischen Warheit« (ebd.) vorbereitet habe: Mit hereinbrechendem Liechte des heiligen Evangelii hat Lutherus S.G. alle Lieblichkeit / Würde und Beweglichkeit in unsere Sprache gepflanzet / alle rauhe knarrende Wörter ausgemustert / hingegen dero ermögen mit allerhand anmutigen Gesängen und geistreichen Liedern bereichert / viel fromme Herzen dadurch erreget und beweget / daß sie dem abergläubischen Papstthum gute Nacht gegeben / und sich zu der Evangelischen Warheit bekennet [...]. (ebd.)
Auf »ihren Ehrenthron« aber wird die deutsche Literatur erst in der »vierten Denkzeit« (396) gesetzt. Das Zeitalter des Territorialfürstentums, angeführt von den Sprachgesellschaften und den ihnen vorstehenden »Hochgebornen Fürsten und Herren«, entfaltet eine systematische Sprach- und Literaturpflege, die das Deutsche endgültig von ihrem »fremddrückenden Joche« (396) befreit. Nicht zuletzt die Allianz der bedeutendsten Dichter um Opitz, Buchner und Harsdörffer habe die deutsche Literatur schließlich im europäischen Wettstreit um die Palme der Dichtung siegen lassen: Vornemlich aber ist unser hochherrlichste / allerreichste / vollkommene Dichtung auf ihren Ehrenthron eingesetztet worden / in dem die güldene Staffeln hierzu geleget die Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten und Herren [...] als hochvermögende Schutzherren / Lobwürdigste Pflantzer und Pflegherren des Weltberühmten Kunstgewächses der Fruchtbringenden Gesellschaft / durch deren unverdrossenen Fleiß [...] mit Zuthun H. Werders / Opitzes / Hortleders / Buchners / Harsdörfers / Schottels / Gweintzes [...] die deutsche Verskunst von dem fremddrückenden Joche erlediget [...]: Also / daß / wenn sich die Poeten auf einem Rechsplatz versanden solten / daselbstum die Ehre zu kämpfen / würden gewiß / vor andern / die Teutschen den Dank davontragen, (ebd.)
Klajs Literaturgeschichte in »Denkzeiten« folgt einem linearen Traditionszusammenhang, der als Bezugsrahmen für die Zuordnung von Fakten und Namen dient und der seine interne Gliederung durch trennende Zäsuren erhält. Gleichwohl: die >Epochen< der deutschen Literatur unterhalten interne Bezüge und Rekursionen, die in der klassifikatorischen Ordnung Kohärenz schaffen sollen: wie Karl der Große eine Überlieferung sichert, die im 17. Jahrhundert unter vergleichbaren nationalpolitischen Bedingungen wiederauferstehen kann, so verweist die mittelalterliche Blüte der Literatur bereits auf ihre spätere Gipfelhöhe im territorialstaatlichen Deutschland. Nun ändert auch der Territorialabsolutismus, allen sozialgeschichtlichen Vermutungen zum Trotz, nichts an den Verständigungsgewohnheiten der historia litteraria. Daniel Georg Morhofs dreiteiliger Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie ordnet die Ausführungen über
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den »Ursprung und Fortgang« der Literatur noch am Ende des 17. Jahrhunderts zwischen eine historische Grammatik (»Von der teutschen Sprache«) und eine im wesentliche Stilfragen abhandelnde Anweisungspoetik (»Von der teutschen Poeterey an ihr selbst«), womit alle drei Teile den rhetorischen Arbeitsphasen der inventio (Grammatik), der dispositio (Literaturgeschichte) und der elocutio (Poetik) entsprechen. Solange Literaturgeschichten noch als Unterricht auftreten, bleibt die angekündigte Wende zu einer historischen Literaturbetrachtung damit nur ein systematisches Ereignis; methodisch ist Morhofs Unterricht einer rhetorisch-klassifikatorischen Literaturgeschichtsschreibung verbunden,132 die, weil dem 17. Jahrhundert immer schon geeignete humanistische Vorbilder zur Verfügung stehen, die Periodisierung der »Teutschen Poeterey« kurzerhand der Ortlobschen Dissertatio entnimmt, auch wenn die fünfteilige Disposition, der Ortlob humanistischen Gesetzen gemäß noch verpflichtet war, auf ein dreiteiliges Schema literaturgeschichtlicher »Zeiten« verknappt wird.133 So darf die »erste« oder »uralte« Zeit unter Berufung auf Tacitus einmal mehr und denkbar traditionell die germanischen Anfänge der Literatur umfassen, die, so Morhofs medientheoretische Vermutung, noch ein weitgehend schriftloses »Helden Lob« (142) gewesen sein müssen.134 Mit dem Wirken »von Carolo dem Grossen« (154) beginnt die »andere und mittlere Zeit«, in der Karl der Große - ähnlich wie in Klajs Lobrede - als universaler Kulturstifter tätig ist, der die nationale Einigung des karolingischen Reichs ebenso vorantreibt, wie die Sprach- und Literaturpflege im Zeichen des germanischen Erbes: Die Andere und mittlere Zeit muß / von Carolo dem Grossen an / gerechnet werden / so gar / daß von ihm selber der Anfang gemacht werde. Er hat die alte unbeschriebenen
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Dies im Gegensatz zu einer Germanistik, die sich der Suggestion des Neuen offenbar nicht entziehen kann. Vgl. neben der bereits zitierten Einschätzung Richard Newalds Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. a.a.O., S. 15Off.; Szyrocki: Poetik des Barock [Nachwort]. a.a.O., S. 259, sowie Henning Boethius: Nachwort, in: Morhof: Unterricht [1682/21700]. a.a.O., der Morhofs Unterricht als »Durchbruch zur kritischen Betreibung von Literaturgeschichte« (421) wertet. So entsprechen sich in beiden Entwürfen zwanglos die Anfangs- und Endphasen: die »erste Zeit« (140ff.) korrespondiert der Ortlobschen »Kindheit«, die »dritte Zeit« (211 ff.) der Ortlobschen »Wiedergeburt«, während sich Verschiebungen allein hinsichtlich der zweiten oder »anderen Zeit« (152ff.) ergeben, unter die Morhof die Jahrhunderte zwischen der karolingischen »Jugend« und der Verfallsphase »nach des Foderici II. Zeit« (141) faßt. Die Spekulationen über eine ursprüngliche germanische Poesie stützen sich im 17. Jahrhundert in aller Regel auf Tacitus (Germania 19 und 2), der sich selbst wiederum auf Poseidonius bezieht. Von versifizierten Texten kann allerdings keine Rede sein; Tacitus spricht lediglich von »carmina antiqua«.
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Gesetze seiner Völcker zusammen schreiben lassen. Er hat eine Teutsche Grammaticam zu schreiben angefangen / umb zu erweisen / daß er zugleich ein König und Lehrmeister seines Volcks wäre. [...] Er hat alle Wissenschaften ausgeübt / hohe und niedrige Schulen vor dieselben gestiftet. Er hat auch selbst die Feder angesetzt / und so wohl in Lateinischer / als Teutscher Sprache Carmina geschrieben [...]. (ebd.) Nach einer wiedereinmal mittelalterlichen Blüte, in der die »damahlige Poeterey zum höchsten Ansehen erhoben« wurde (159), 135 führt das politischen Interregnum zwischen 1257 und 1273 in jene Talsohle, in der Poesie und Politik einem gemeinsamen Verfallsschicksal entgegengehen: Nach dieser so glücklichen Zeit / da Könige / Fürsten / Grafen und Edele die Poeterey für ihre Zierde und Ergötzung hielten / fiel dieselbe auff einmahl / und gerieth unter die Hände des gemeinen Pöbels. Denn / wie in Teutschland die Kriege und Zerrüttungen des Reichs angiengen / und bey 23. Jahren kein Haupt war [...] da ist unter so viel Kriegen und Drangsalen / wie die Ritter und Edelen immer in den waffen lagen / diese edle Kunst gar verlassen / und viel ungeschicktes Dinges von nichtswürdigen Leuten geschrieben worden. (165) Was den Aufschreibebefehlen der deutschen Literaturgeschichte bleibt, sind die fragwürdigen Künste der »Meistersinger«, die »immer an Güte abgenommen« (ebd.), und die »Pritschmeister«, die zu jedem Anlaß »ihre närrische und umgereimbte Reime hervorgebracht« (172) haben. Hans Sachs schließlich ist der letzte Autorname innerhalb einer verfallenen Poesie, über den die kritische Literaturgeschichte noch einige Wort verlieren kann; ansonsten, so Morhof, ist »niemand zu nennen / der einige des Andenckens würdige Verse geschrieben.« (187) Erst das 17. Jahrhundert führt die deutsche Poesie - endgültig - einer einsamen Gipfelhöhe entgegen. Mit Martin Opitz beginnt nicht nur die »dritte Zeit der Teutschen Poeterey« (212), Opitz ist zugleich das helle Licht ihrer »Morgenröthe« (188). Das 17. Jahrhundert schließt damit einen Traditionszusammenhang, der der deutschen Literatur als ihre immanente Teleologie immer schon aufgegeben war: als entbehrungsreicher Weg von den Anfängen zu ihrer ersten Blüte, und von ihrem Verfall zu einer Wiedergeburt im Zeichen barocker Gelehrsamkeit: Wir müssen endlich auff die dritte Zeit der Teutschen Poeterey kommen / da dieselbe gleichsam aus dem Grabe wieder erwecket worden / und viel herrlicher / als jemahls / hervorkommen / unter des Herrn Opitzens Anführung. Es haben zwar einige vor ihm
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Selbstverständlich sind die dort versammelten Dichter ausschließlich »Könige / Fürsten und Greffen« (161). Ähnlich wie Opitz haben auch die späteren Autoren des 17. Jahrhunderts noch keinen Blick fur die mittelalterliche Standessoziologie, so daß die höfische Dichtung grundsätzlich als adelige Standesdichtung erscheinen muß. Quelle sind auch hier die Editionen des Juristen, Philologen und Historikers Melchior Goldast (1578-1635). Vgl. Morhofs diesbezügliches Eingeständnis a.a.O., S. 163.
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sich etwas darinne angenommen / aber es macht doch nichts gegen seine Voll- // kommenheit. (212)
Nun werden nicht nur die Gegenstände der Literaturgeschichte, sondern auch ihre Methoden von den immergleichen Aufschreibetechnologien reproduziert. Entsprechend bleibt die Literaturhistorie auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts - Magnus Daniel Omeis' 1704 erschienene Gründliche Anleitung zur teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst zeigt dies deutlich - , was sie im 17. Jahrhundert immer schon war: ein chronikales Kompendium, das Namen und Bücher anschreibt, um eine Vollständigkeit von Einträgen innerhalb des klassifikatorischen Merksystems zu erreichen.136 Auch bei Omeis folgen damit auf die erste von vier »nothwendigen Vor-Betrachtungen«, die »der Poesie Ursprung« (1) behandelt, die drei bekannten Zeiten der deutschen Literaturgeschichte: »Die Teutsche Poesie«, so Omeis, »kann füglich in dreyerlei Zeiten eingetheilet werden: in die Uralte / Mittlere und Neue.« (6) Vertraut sind zudem die literaturgeschichtlichen Zäsuren samt ihrer organologischen Differenzierung; die »erste Zeit, in der die Germanen »Gesänge von ihren alten Helden gedichtet« (7) haben, wird zu Beginn des »neundten Jahrhunderts« (15) durch das Wirken Karls beendet; auf die Blüte in »mittlerer Zeit« folgt ein durch »Kriege und Reichs-Zerrüttungen« (20) verursachter Verfall, dem die »dritte Zeit« eine ebenso neuerliche wie langwährende Blüte im Gefolge Opitz' entgegenhält (39). Daß freilich »nach allerhöchstem Steigen / die Sonne selbst zum Niedergang sich neigen« (57) könnte, ist eine Warnung, die dem 17. Jahrhundert durchaus in Erinnerung ist, gleichwohl aber durch die teleologischen Züge der klassifikatorischen Literaturgeschichtsschreibung eigentlich ausgeschlossen ist. Ursprung, Blüte und Verfall, wie sie als Orientierungswerte an den Poetiken Morhofs und Omeis' ablesbar werden, sind Teile eines Zeitalterschemas, das Zeit nur vordergründig als Innovationsmöglichkeit und Variationsanlaß berücksichtigt; sie bleiben universalgeschichtliche Zäsuren, die als abstrakte Verlaufsannahmen zum einen prinzipiell jeder Geschichte eingeschrieben werden können (Mensch, Natur, Poesie), zum anderen noch keinen offenen Zeitverlauf ermöglichen.137
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Dem entsprechen Autorenkataloge, die im Falle von Morhof und Omeis im übrigen erstaunliche Parallelen (Hugo von Trimberg, Freidank, Sebastian Brant etc.) aufweisen. Vgl. Morhof: Unterricht [1682/21700], a.a.O., S. 173-185 und Omeis: Anleitung [1704], a.a.O., S. 24-33. Die Auswahl richtet sich ganz offensichtlich nach dem, was beiden Autoren in Editionen oder in Form von Literaturchroniken zugänglich war. Omeis' Vorbilder sind im übrigen, eigenem Bekunden nach, Morhof, Hoffmannswaldau und Albrecht Christian Rotth. Vgl. a.a.O., S. 14. Prominentestes Modell sind Giorgio Vasaris Vite de' più eccellenti pittori scultori ed archittetori, mit denen die zyklisch-organologische Kunstgeschichtsschreibung 1568
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Präjudizielle Geschichtsverlaufsannahmen dieses Typs dienen vielmehr dazu, denkmögliche Innovationen zugunsten einer laufenden Vorab-Koordination von Strukturwahlen zu entschärfen oder in Teleologien aufzufangen, die jede Neuheit immer schon als sachliche Realisierung ihres Ursprungs behandeln. »Das Entscheidende an dieser Zeitalterabfolge«, so Jürgen Fohrmann, lag aber darin, daß der historische Prozeß nicht offen, sondern immer schon durch abstrakte Verlaufsannahmen präjudiziell war. [...] Damit werden noch keine literarhistorischen Zusammenhänge rekonstruiert; die Epochen bleiben unverbunden und zeugen nur von Höhe und Tiefe einer deutschen Poesie, von der insgesamt stets behauptet wird, daß sie sich aufs Ganze gesehen nun im Aufstiege befinde.'38
Epochen markieren vor diesem Hintergrund lediglich Trennereignisse, die als Halte- oder Ruhepunkte dem historischen Prozeß selbst äußerlich bleiben, weil die alteuropäische Tradition Epochen nicht als temporalisierte Sinneinheiten, sondern als bloße Zeitrechnungsfunktionen auffaßt, deren Ordnungsleistung darin besteht, Zäsuren innerhalb einer Kontinuität von Einträgen zu setzen. 139 Die historia Iliteraria verwendet Epochen noch ganz in diesem Sinne: Die Periodisierungen, mit denen Klaj, Morhof und Omeis operieren, dienen der gliedernden Strukturierung und Ordnung eines Raums, in dem die diffuse Masse des geschriebenen Materials noch nicht näher bezeichnet und hinsichtlich ihrer möglichen klassifikatorischen Ordnung differenziert ist. Auch die poetologisch regulierte Tradition der historia litteraria, wie sie bis ins 18. Jahrhundert fortgeschrieben wird, muß damit als ein semantischer Effekt des involutiven Literaturverständnisses Alteuropas gewertet werden. >Literaturgeschichte< bleibt ein sachliches und niemals temporales Ordnungsproblem von Daten und Materialien, die innerhalb eines Vergleichbarkeit garantierenden, zeitlosen Raumes zur Anordnung gebracht und verzeichnet werden. Ordnungsfähig ist das Material der geschriebenen Texte, weil sie immer schon unter den Bedingungen formaler und operativer Äquivalenz stehen, also evolutionär zumindest denkmögliche Abweichungen und Innovationen mit Bezug auf rhetorischpoetologische Grundsicherheiten ausschalten. Ordnungsfähigkeit beruht auf der prinzipiellen Unveränderlichkeit und latenten Redundanz rhetorisch-poetologischer Strukturwahlen, denen die Literaturgeschichtsschreibung des 17. Jahrhun-
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beginnt. Ihr Evolutionsgesetz lautet: »la loro perfezione e rovina e restaurazione e, per dir meglio, rinascita«. Zit. nach: Ursula Link-Heer: Giorgio Vasari oder der Übergang von einer Biographien-Sammlung zur Geschichte einer Epoche, in: Gumbrecht/LinkHeer(Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen. a.a.O., S. 73-88. S. 81. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. a.a.O., S. 8 und 81. Vgl. Artikel >Epoche, EpochenbewußtseinZierlichnatürlichenursprünglichen< und >reinen< Sprache, die vor allem die Gebote des proprium zu berücksichtigen hat.145 Damit übergreift die elegantia einen ganzen Komplex an Kriterien, die die rhetorische Tradition gewöhnlich unter den grundlegenden Stiltugenden der latinitas (oder puritas) und perspicuitas faßt. In diesem systematischen Sinne - Reinheit und idiomatische Korrektheit der Sprache, intellektuelle Transparenz des Ausdrucks ist die elegantia erstmals von der Herennius-Rhetorik verwendet worden; hier bildet sie eine von drei virtutes elocutiones, die die überlieferten Forderungen der grammatischen Richtigkeit, der Harmonie der syntaktischen Fügung (conpositio) und des angemessen verwendeten Schmucks (dignitas) umfassen:146 Welche am meisten in vollem Maße dem Redner angepaßt ist, diese muß drei Eigenschaften in sich bergen: die Gewähltheit [elegantia], die gehörige Anordnung [conposi-
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Eine umfassende begriffsgeschichtliche Rekonstruktion steht trotz einiger, z.T. ergiebiger Versuche in den 60er und 70er Jahren noch immer aus. Vgl. die hinsichtlich ihrer Systematizität recht unterschiedlichen Zusammenstellungen bei Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 219ff., Hildebrandt-Günther: Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jahrhundert. a.a.O., S. 82ff. und 122ff., Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. a.a.O., S. 77ff., Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die >Sonnete< des Andreas Gryphius. München 1976. S. 290ff., ders.: Opitz und der Beginn der deutschsprachigen Barockliteratur. Ein Versuch, in: Filologia e critica. Studi in onore de Vittorio Santoli. Bd. 2. Rom 1976. S. 281-314.
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Vgl. Artikel >Elegantiaeligere< (wählen, auslesen) zurück, meint aber gerade keine Affektiertheit oder Gespreiztheit des Ausdrucks. Das Auswählen der verba entspricht vielmehr einer Selektion passender, also sachangemessener Worte, für die die elegantia kriterielle Sicherheit erreichen muß. Rhetorica ad Herennium IV, 12, 17. Die latinitas handelt Soloecismen und Barbarismen, die explanatio Gängigkeit (consuetude) und Eigentlichkeit (proprietas) der Rede ab.
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Transformationen:
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tio], die würdige Darstellung [dignitas]. Die Gewähltheit ist die Eigenschaft, die bewirkt, daß jeder einzelne Punkt rein und offen gesagt zu werden scheint. Sie wird unterteilt in den reinen lateinischen Ausdruck [latinitas] und die Deutlichkeit [explanatio], (ebd.)
Nach der Herennius-Rhetorik ist es Quintilian, der die elegantia im Rahmen seiner Institutio oratoria wieder aufgreift, während die Stillehre Ciceros den Begriff nicht kennt. Das »latine loquendi planeque dicendi«, das im dritten Buch von De oratore die überlieferten Stiltugenden der latinitas und der perspicuitas zusammenfaßt, entspricht allerdings in systematischer Hinsicht dem, was die Herennius-Rhetorik unter elegantia verstanden hatte.147 Quintilian dagegen thematisiert die elegantia, neben einer umfangreichen Lehre von den virtutes elocutiones an mehreren Stellen der Institutio, verwendet den Begriff freilich in einem Sinne, der der überlieferten Stildogmatik bereits tendenziell fernsteht. Elegantia heißt nun, einen feinsinnigen und geistreichen Ausdruck zu treffen, dessen gewählte und pointierte Kürze überrascht und insofern zum delectare des Zuhörers beiträgt: Witzige Dinge in der Erzählung zu bringen, ist eine besonders feine und der Kunst des Redners würdige Aufgabe [...]. Jedoch erfordert hierbei immer schon der ganze Rahmen eine gewählte [elegans] und reizvolle Darstellungsweise, indem dann das die größte Heiterkeit erregt, was der Redner in ihn einfugt. (IV, 3, 39)148
Mit der humanistischen Rezeption der elegantia wird die Begriffsverwendung Ende des 15. Jahrhunderts wieder in die vertrauten, vor allem von der HerenniusRhetorik vorgeprägten Bahnen zurückgelenkt. Elegantia, im deutschsprachigen Raum fortan in der neuartigen Fassung als Zierlichkeit,149 bedeutet nun wieder, alles Reden und Schreiben unter die Anforderungen von latinitas und perspicui-
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Die Stiltugenden lauten wörtlich: »purus« - »dilucidus« bzw. »latinus« - »planus«. Vgl. Cicero: De oratore III, 38 und III, 52. Damit steht der Begriff in einer gewissen Nähe zur urbanitas, die die pointierte Kürze der elegantia nochmals steigert: »Urbanitas ist die besondere (sprachliche) Leistung, die in einer kurzen sprachlichen Äußerung in gedrängter Form besteht und dazu geeignet ist, die Menschen zu erfreuen [...]. (VI, 3, 104). An anderer Stelle bildet elegantia ein Kennzeichen der lateinischen Komödie: »in comoediis elegantia [...] inveniri potest« (I, 8, 8).
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Vgl. Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. 1. Bd.: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Hamburg "1973 ('1949). S. 348, Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 219, Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. a.a.O., S. 77, Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. a.a.O., S. 294, ders.: Opitz und der Beginn der deutschsprachigen Barockliteratur. a.a.O., S. 311.
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tas zu stellen. Wortgeschichtlich taucht das neue Konzept Zierlichkeit in seiner Bindung an das geschriebene Wort offenbar erstmals in Friedrich Riederers 1493 erschienenem Spiegel der waren Rhetoric auf,150 hier allerdings schon in einem doppelten Sinne. Zum einen übergreift Zierlichkeit die gesamte rhetorische Kommunikation; die Rede, so Riederer, ist die »Kunst Rhetoric, gemeins und zierlich redens«.151 Zum anderen wird Zierlichkeit auf die elocutio hingeordnet; als »zierlich red« integriert sie - analog zur Herennius-KhetoúV. - elegantia, conpositio und dignitasP2 Damit spaltet schon Riederers Rhetorik den um 1500 an sich noch engen begriffsgenetischen Zusammenhang zwischen elegantia und Zierlichkeit wieder auf; Zierlichkeit dient als Bezeichnung für den gesamten elokutiven Apparat der humanistischen Rhetorik, während das antike Vorbild elegantia auf eine einzelne Stiltugend beschränkt bleibt. Caspar Goldtwurms Schemata rhetorica geben der Zierlichkeit ein halbes Jahrhundert später schließlich wieder eine vergleichsweise konventionelle Bedeutung, wenn sie erneut am Ideal der elegantia orientiert wird. Als »nutz und zier in der Rede« bezeichnet Zierlichkeit jene Gewähltheit und stilistische Geschliffenheit des Ausdrucks, »durch welche die sprach von gemeynen brauch zu reden / zu eynem zierlichen und nützlichen gebracht wirdt.«'53 Die eigentliche begriffliche Expansion von Zierlichkeit beginnt freilich erst im 17. Jahrhundert. Zwar bleiben zierlich und Zierlichkeit weiterhin an die überlieferten Stiltugenden der Reinheit und Klarheit gebunden und diffundieren fallweise auch durch die gesamte elocutio, sie gewinnen aber in der barocken Anweisungsliteratur schließlich eine semantische Dynamik, die über die engeren Grenzen schriftlicher Kommunikation hinausfuhrt und Fragen der sozialen Interaktion mitbehandelt. Zierlichkeit wandelt sich im 17. Jahrhundert zu einer se-
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Vgl. Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 220, Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. a.a.O., S. 294, ders.: Opitz und der Beginn der deutschsprachigen Barockliteratur. a.a.O., S. 311. Friedrich Riederer: Spiegel der waren Rhetoric [1493]. Zit. nach Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 220. Gemeint ist also die ars oratoria mitsamt ihren Sprachhandlungsnormen der Geläufigkeit und der Verständlichkeit. Die elegantia - Riederer übersetzt mit »ußerwelung« - besteht erwartungsgemäß aus latinitas (»sprach«) und explanatio (»ebenmachung«). Vgl. Hildebrandt-Günther: Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jahrhundert. a.a.O., S. 143ff. Caspar Goldtwurm: Schemata rhetorica, Teutsch. Marburg 1545. Zit. nach Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 220. Grundsätzlich gewinnt die elegantia unter humanistischem Einfluß eine sprachpflegerische Tendenz. Vgl. die schon im Titel bezeichnenden Schriften von Laurentius Valla: De linguae latinae Elegantia libri sex [o.J.], Laurentius Corvinus: Hortulus Elegantiarum [1503] und Jacob Wimpheling: Elegantiae maiores Rhetorica eiusdem pueris utilissima [1513].
Transformationen: Zierlichkeit
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mantischen und begrifflichen Systemstelle, zu einem Ventil gleichsam, in das offenbar alle Problemstellungen einströmen können, die mit den Mitteln eines rhetorischen Normenkanons regulierbar sind; dies betrifft in einer Kommunikation und Interaktion übergreifenden Klammer poetologische und rhetorische Fragen ebenso wie Fragen des sozialen Verhaltens und Sprechens. Nun ist es vor allem eine geistes- und sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft gewesen, die das Zierlichkeits-Ideal gewöhnlich in den Kontext substantieller Prozesse der Ideengeschichte oder vorgängiger politisch-sozialer Umbrüche stellte. Paul Böckmanns Formgeschichte der deutschen Dichtung, die den »Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter zur Neuzeit« 154 als Reflex der abendländischen Ideengeschichte und ihrer »bestimmenden geistigen Kräfte und Auffassungsformen« (319) erzählt, erblickt im barocken Stilwillen und seiner Leitfigur der elegantia jenen Vorgriff auf das Jenseits, den das 17. Jahrhundert in seinem prägenden »Gegensatz von irdischer Hinfälligkeit und göttlicher Allgewalt « (320) immer schon artikuliert: Jetzt ergibt sich ein freierer Bezug zwischen christlichem Glauben und antiker Formüberlieferung, sofern das humanistische Elegantiaideal eine erhöhte Redekultur und ein rhetorisches Pathos ermöglicht, das die innermenschlichen Vorgänge zum Sprechen bringt und sie doch im Aufschwung des Glaubens überfliegt, (ebd.)
Mit der Sozialgeschichte der 70er Jahre rückte demgegenüber die Formierung der absolutistischen Territorrialherrschaft mit ihren weitreichenden mentalen Konsequenzen in den Mittelpunkt. Wolfram Mauser betrachtete das Zierlichkeits-Ideal 1976 als ästhetisches Pendant zu einer höfischen Interaktionsmoral, die Adel und Bürgertum im Zeichen des »Schicklichen« zumindest programmatisch auf Standesunterschiede verzichten läßt: Als Verfechter der von Adel und Bürgertum anerkannten Tugendlehre steht der Dichter im gesellschaftlichen und politischen Funktionszusammenhang. Durch die Übernahme von Formvorstellungen, die in der Hof-Etikette, in der Lehre vom Schicklichen und in den Anweisungen über bürgerliches Verhalten ihren Niederschlag fanden, wird der gehobene >zierliche< Stil zum ästhetischen Korrelat eines ethischen Leitbildes, das Adel und Bürgertum - jedenfalls als ideelle Forderung - durchdrang.' 55
154 155
Vgl. Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. a.a.O. Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. a.a.O., S. 299. Vgl. auch ders.: Opitz und der Beginn der deutschsprachigen Barockliteratur. a.a.O. und Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodemen deutschen Staat. a.a.O., S. 81, wo die Transformationen des >»Zierlichen< [...] als Reflex einer durch den sich ausbildenden Absolutismus bewirkten Veränderung des gesamten gesellschaftlichen Ordnungssystems« begriffen werden.
278
Evolution
Fraglos zählt Zierlichkeit im 17. Jahrhundert zu den zentralen Selbstverständigungsformeln eines gepflegten Interaktionsideals, das das aus der rhetorischen Tradition entnommene aptum als Norm eines >schicklichenSchicklichen< und >Angemessenen< (aptum, decorum) verschmelzen. Damit wird die angestammte Begriffsverwendung im Bereich der eher grammatischpropädeutischen Stiltugenden erweitert und mit einer zentralen Funktion innerhalb der elocutio verklammert. Schon Johann Matthäus Meyfart ersetzt das aptum 1634 innerhalb der traditionellen virtutes-Lehie
durch jene Zierlichkeit, die
künftig anweisen wird, was »schicklich« sein möchte: Fürnehmlich muß ein Redener darauff bedacht seyn / daß er seine Sach mit reinen / deutlichen / zierlichen vnd geschickten Worten vorbringe: Weil ihm obliget erstlich zubeweisen / und das ist die unumbgängliche Nothwendigkeit: Zum andern zubelustigen / und das ist die süsse Liebligkeit: zum dritten zubewegen / und das ist die strenge Dapfferkeit.172 Wo die Rhetorik vor allem das Verfassen von Briefen anzuweisen und als Secretariats-Kunst ihre Ansprüche geltend zu machen beginnt, steht ein Schriftverkehr im Mittelpunkt, der der barocken Schicklichkeit in besonderem Maße bedarf, weil das Sagbare durch die ständische Relation der Briefpartner reguliert wird. Georg Philipp Harsdörffers Teutscher Secretarius der eher randständigen Stiltugend der brevitasm perspieuitas
und der consuetude
behandelt daher neben
und den vertrauten virtutes der
ein zierlichkeits-Ideal, das in der öffentlichen
Verwaltungskorrespondenz einen »eigentlichen« und das heißt: am Adressaten orientierten Stil treffen muß: III. Soll der Brief zierlich gestellet seyn. Solche Zier bestehet eines Theils in dem lehrreichen Inhalt / Sprüchen / und Gleichnussen: Anders Theils in lieblichen und den Sachen eigentlichen Worten / welche gleichsam die natürlichen Farben sind / den Innhalte nach seiner Beschaffenheit auszubilden und vorzustellen.174
171
172 173
174
Gottsched: Critische Dichtkunst [1730/41751], a.a.O., S. 352. Allerdings ist der »deutliche und ordentliche« (493) Vortrag eine Tugend des »Historienschreibers« (ebd.). Meyfart: Teutsche Rhetorica [1634], a.a.O., S. 63. Die brevitas geht auf Diogenes von Babylon zurück, der das Schema Theophrasts damit um eine fünfte virtus erweiterte. Ihre eigentliche Bedeutung entfaltet die brevitas erst im Kontext der >politischen< Interaktion. Das Ideal heißt dann: Schnelligkeit der Beiträge, pointierte Gewandtheit im Gespräch, Vermeidung von zeitintensiven >ÜberreflexionenKleid< überführen, »zierlich und gemäß« zu sein haben. 175 Harsdörffer verwendet das Doppel Zierlichkeit-Angemessenheit gleich mehrfach; so etwa, wenn die »poetischen Wörter / zierlich un wolschicklich« 176 bzw. »zierlich und gemäß« 177 an der »Erfindung« ausgerichtet werden müssen. Nicht zuletzt darf Zierlichkeit auch das sein, was in den Poetiken als dispositionelles Regelproblem gewöhnlich Gattungstheorie heißt und über die Dreistillehre gestützt wird: ein dreiteiliges Gattungsgefälle, das Stil, Gegenstand und Personal einheitlich anordnet und an Tragödie, Komödie und Satyre vergibt: Zierlich ist / wann man hohe Dinge mit hohen prächtigen Machtworten / mittelmässige mit feinen verständigen / und nidrige mit schlechten Reden verträget.178 [...] Wie nun dreyerlei Haubtstände / also sind auch dreyerlei Arten der Gedichte [...]: I. Die Trauerspiele / welche der Könige / Fürsten und grosser Herren Geschichte behandeln. II. Die Freudenspiele / so deß gemeinen Burgermans Leben außbilden. III. Die Hirten oder Feldspiele / die das Bauerleben vorstellig machen / und Satyrisch genennet werden. (II, 71)
3. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts expandiert die semantische Reichweite des zierlichen über einzelne elokutive Teilaspekte hinaus in den gesamten Bereich der elocutio. So sieht Meyfart den Gebrauch der »Metaphora« als Beitrag zur dignitas der Rede, deren zierliche, das heißt »prächtige« und »prachtvolle« Schmuckqualitäten Rede eine besondere amplificano hinsichtlich ihrer Wirkungsintentionen garantieren: Zum Dritten geschieht solches wegen der Zierligkeit / weil es stattlich pranget aus den Lippen deß Redners / durch die Stille der Lufft biß in die Ohren der Anwesenden.175
Balthasar Kindermann nutzt das Ideal der Zierlichkeit 1664, um »dreyerley Arten der Fabeln« 180 unterscheiden zu können. Die »Majestätische Fabel« (ebd.) umfaßt dabei die erhabenen Gattungen wie Epos und Tragödie, die mit den Mitteln einer konventionellen Gattungspolitik Heroen und Könige, generell Personen von
175 174 177 178 179 180
Kindermann: Der Deutsche Poet [1664]. a.a.O., S. 48. Harsdörffer: Poetischer Trichter. 1. Teil [1647]. a.a.O., S. 6. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele 5 [1645]. a.a.O., S. 129. Harsdörffer: Poetischer Trichter. 1. Teil [1647]. a.a.O., S. 106. Meyfart: Teutsche Rhetorica [1634], a.a.O., S. 73. Kindermann: Der Deutsche Poet [1664], a.a.O., S. 136.
Transformationen: Zierlichkeit
283
Stand, auftreten läßt. »Zierlich« ist die »Majestätische Fabel«, weil sie einen erhabenen Stilaufwand benötigt, der die Haupt- und Staatsaktionen von Epos und Tragödie in das helle Licht ihrer rhetorischen evidentia stellt. Im Gegensatz zur »Lust= und Schluß=Fabel« ist die »Majestätische Fabel« auff Keyser / Könige / Fürsten / Grafen / Kriegs=Helden / und der gleichen hohen Potentaten und vornehmer Herrn Beylager / Leichbegängnisse / Geburt / Krönungen / erhaltene Siege / wieder erlangte Gesundheit / u.d.g. Fälle gerichtet / darinnen nebenst dem Verlauf der geschehenen Sachen [...] alles prächtig / zierlich und gleichsam lebendig furgebracht wird, (ebd.)
Nach der Auskunft Georg Neumarks liegen die semantischen Kompetenzen der Zierlichkeit freilich weit höher. Neumark sieht in der Zierlichkeit die spätere verbale »Gestalt« und elokutive »Ausarbeitung« einer textgenetisch zunächst vorgängigen, gleichwohl minutiös auszuschmückenden Stoff-»Erfindung«: Das grosseste Stück der Poetischen Wissenschaft bestehet darinn / daß ein Tichter / die zu einem gewissen Vorhaben erwehlete Erfindung / zierlich und mit sonderbarem Fleiss vollfiihre / und ausarbeite / damit sie ihre anständige und gehörige Gestalt erlange.18'
Albrecht Christian Rotth verwendet Zierlichkeit 1688 schließlich in einer, wie das Grimmsche Wörterbuch bestätigen werden wird, etymologisch zulässigen Ableitung als Zier 182 und kann damit den gesamten Bereich des poetischen ornatus, insbesondere Figuren- und Tropenlehre zusammenfassen: Ob gleich so wohl die Erfindung [...] als die Vorstellung und Auskleidung der erfundenen Sache [...] ein Poetisches Gedichte sonderlich schmücken / so ist doch noch etwas / so vor andern ein Poetisches Gedichte wohl auszieret. Und dasselbe wird von den Lateinern [...] genandt ornatuspoeticus.' 83
4. Als signifikanteste Transformation innerhalb des Bedeutungskontinuums von Zierlichkeit wird man die Ausweitung des Begriffs auf den gesamten Bereich der virtutes elocutionis werten müssen. Zierlichkeit entspricht einer semantischen und systematischen Variable, die prinzipiell alle Regularien der überlieferten Stilistik besetzen kann. Ob diese Bedeutungsexpansionen bereits unter der Führung neuartiger Codierungssemantiken (>schönprächtigkunstvollungezwungennatürlich< oder eben >schön< zu bezeichnen beginnt. Johann Peter Titz verwendet die bezeichnende Doppelform »schön oder zierlich«, die neben der ohnehin eigenwilligen Interpunktion der überlieferten virtufes-Lehre (Theophrast, Herennius-Rhetorìk) tendenziell traditionslos erscheinen muß:185 Ihr [= der Poesie, I.S.] ganzes Wesen belangend / wollen wir vns dieß orts genügen lassen wen wir mit wenigem berichtet / daß sie (1.) Verständlich [perspicuitas] / (2.) Schön / oder Zierlich / vnd (3.) den Sachen gemäß [aptum] sein soll. Der Verständlichkeit geben wir billich die fürnehmste Stelle / als der fiirnehmsten Tugend einer iedwedern Rede [...]. Neben derselbigen wird auch erfordert / daß sie Schön vnd Zierlich sey. Dadurch verstehen wir hier / daß die ganze Rede anmuthig / fein vnd munter fein / vnd gleichsam ein Leben und durchdringende Krafft in sich haben soll / dadurch sie den Leser unvermerckt fangen und einnehmen möge. [...] Sonsten kan hiervon in der kürtze nich viel vorgeschreiben werden / es sey dan dieses / daß die Worte rein / die Phrasen außerlesen / die Figuren geziemend / die ganze Rede wolstehend / alle ihre Glieder fuglich aneinander gehenckt / nichts mangelhafftes / nichts übriges / nicht gezwungenes / an gehörigen orten bequeme Vergleichungen / vn artige Poetische Umbschreibungen der Dinge [...] sein müssen.186
Zierlichkeit dient mitsamt seinem Synonym pulchritudo als Sammelkonzept für eine Serie ansonsten systematisch eigenständiger Stiltugenden, Schreibqualitäten und Wirkungsintentionen; im einzelnen umfaßt Zierlichkeit mindestens die puntas (»reine« Worte), das innere aptum (»geziemender« Gebrauch der Figuren), den omatus (»poetische Umbschreibungen der Dinge«), die harmonía (»fuglich aneinander gehenckte« Satzglieder), die brevitas (»nichts übriges«), nicht zuletzt das aus der o$îcz'a-Lehre übernommene, an dieser Stelle aber ungewöhnliche Gebot des movere (»einnehmen« des Lesers). Was Titz den Traditionszwängen der barocken Poetik damit zumutet, ist eine Aufstapelung bislang getrennter bzw. systematisch nicht zusammenhängender Stilqualitäten auf ein dispositionell neuartiges Niveau, von dem aus alle »Vollkommenheiten« des Stils als rhetorisch kaum mehr trennscharf lokalisierbare pulchritudo reflektiert werden können. Erst
184
185
186
So die forcierte, aber bedenkenswerte These von Fischer: Gebundene Rede. a.a.O., S. 221. Vgl. zur Kritik Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. a.a.O., S. 79. Dies insofern, als sich das Terzett perspicuitas-pulchritudo/elegantia-aptum weder auf das Schema Theophrasts noch auf das der Herennius-Rhetorik beziehen kann. Titz: Zwey Bücher [1642], a.a.O., fol. Q bzw. Qiib.
Transformationen: Zierlichkeit
285
Johann Gotthelf Lindner trägt dieser latenten Ästhetisierung des zierlichen 1755 nochmals Rechnung, wenn Zierlichkeit nun auf den gesamten Bereich der »Wohlredenheit« ausgeweitet wird, der im Gegensatz zur Rhetorik und zur »Beredsamkeit« primär Schönheit und Anmut der Sprache bezeichnet, also einen dezidiert stilbezogenen Bereich aus dem rhetorischen Paradigma herausschält: 187 Die Wohlredenheit (Elegantia sermonis) ist eine Geschicklichkeit (facultas), schön und gut zu schreiben und zu reden. Diese Wohlredenheit besteht vornämlich in der guten Schreibart, die jedem Schriftsteller ansteht, er sey ein Redner oder Geschichtsschreiber.188 5. Die von sozialgeschichtlicher Seite nachdrücklich betonte Orientierung des zierlichen an den sozialethischen Normen des »Sich-Ziemenden und Schicklichen« 189 nimmt im 17. und frühen 18. Jahrhundert einen breiten Raum ein, dokumentiert damit aber lediglich die Reichweite und >offene< Transponierbarkeit des Begriffs. Selbst innerhalb einer ausschließlich auf Interaktionshorizonte zugeschnittenen Verwendung des zierlichen kommt es zu semantischen Feindifferenzierungen, etwa was den Bezug auf traditionelle Oberschichteninteraktion einerseits oder die Anbindung an primär >politische< und >weltkluge< Konversationsroutinen andererseits anbelangt. So lokalisiert Christian Weise das zierliche innerhalb eines >politischen< Kommunikationsraums, der Chancen und Prestigegewinne für die Einzelperson dort bereithält, wo sie durch Interaktionsgeschick, nicht zuletzt durch formale Kompetenzen Aufmerksamkeit auf sich versammelt: So wird man die heldenmäßige Zierligkeit an demselben Orte suchen müssen / da die hohen Helden und Potentaten / durch erlauchte Ministres, gelehrte Secretarios, und andere qualificirte Leute / zu reden und zu schreiben pflegen.190
187
Das 17. und frühe 18. Jahrhunderts unterscheidet >Rhetorik< als explizite Theorie (téchne rhetoríké), »Beredsamkeit als praktische Fähigkeit des guten und wirkungsvollen Redens und, im beschriebenen Sinne, >WohlredenheitHebung< eines verborgenen, durch Äquivalenzen aber prinzipiell zugänglichen Sinns. Was die Metapher gegenüber aller »natürlichen« Prosa auszeichnet, ist ein Sinn- und Zeitvorzug, weil die Bildbereiche innerhalb der metaphorischen Vergleichsbeziehung in einer semantischen Antithese zueinander stehen, die den Textsinn gleichsam blitzartig aufscheinen läßt: Die Art des sprachlichen Ausdrucks nun ist in allen Fällen die gleiche, doch je kürzer und je antithetischer man sich ausdrückt, desto größeren Beifall findet man. Der Grund davon liegt darin, daß das Erfassen des Sinnes durch die antithetische Ausdrucksweise besser und durch die Kürze schneller vonstatten geht. (III, 11,9) Eine analoge Disposition bestimmt die aristotelische Poetik, die - ähnlich wie ihr rhetorisches Pendant - die »vollkommene sprachliche Form« in einer »klaren
209
210
Neben den verba propria und der Metapher läßt Aristoteles die Epitheta als prosaische Stilmittel zu (III, 2, 9). Dies betont auch Fuhrmann: Die antike Rhetorik. a.a.O., S. 116: »Als besonders großzügig erzeigt sich, was den Gebrauch von Metaphern angeht, Aristoteles [...]: geschickt gewählte Bilder vermögen Ungewöhnlichkeit, die die Rede reizvoll macht, mit einem hinlänglichen Maß an Deutlichkeit zu verbinden.«
294
Evolution
und zugleich nicht banalen« Diktion sieht. 2 " Perspicuitas bedeutet, Klarheit und Ungewöhnlichkeit, Transparenz und Entlegenheit miteinander zu vermitteln, wobei der »eigentliche« Ausdruck (proprietas) eine klare, zugleich aber allzu nüchterne, die entlegene Formulierung eine erhabene, allerdings unverständliche Diktion erzeugt: Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. [...] Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet, (ebd.)212
Stärker noch als die rhetorische Stilistik betont die aristotelische Poetik einen Stilausgleich, der Klarheit und Entlegenheit, Eigentlichkeit und Abweichung vom alltäglichen Ausdruck miteinander kombiniert. Musterhaft gelingt dies den metaphorischen Ausdrücken, die Differenz - Abweichung vom gewöhnlichen Ausdruck - und Äquivalenz - Nähe zum Gewohnten - verbinden: Man muß also die verschiedenen Arten irgendwie mischen. Denn die eine Gruppe bewirkt das Ungewöhnliche und Nicht-Banale, nämlich die Glosse, die Metapher, das Schmuckwort [...]; der übliche Ausdruck hingegen bewirkt Klarheit. Durchaus nicht wenig tragen sowohl zur Klarheit als auch zur Ungewöhnlichkeit der sprachlichen Form die Erweiterungen und Verkürzungen und Abwandlungen der Wörter bei. Denn dadurch, daß sie anders beschaffen sind als der übliche Ausdruck und vom Gewohnten abweichen, bewirken sie das Ungewöhnliche, dadurch aber, daß sie dem Gewohnten nahestehen, die Klarheit.2'3
Was die aristotelische Poetik in aller Eindeutigkeit formuliert, ist eine Poetologie der Abweichung, die die perspicuitas-Norm dupliziert, indem sie auf der einen Seite der »vollkommenen sprachlichen Form« die claritas des poetischen Ausdrucks, auf der anderen aber eine Abweichung von der Prosakonvention anordnet, die den poetischen Stil allererst begründet Neben der prinzipiell zu berücksichtigenden Stildifferenz zwischen Rhetorik und Poetik 214 artikuliert die aristotelische Grundlegung der σ α φ ή ν ε ι α ein Textprogramm, das Abweichungen vom Gewöhnlichen, scharfsinnig-geistreiche Kürze und entlegene Bildstrukturen als gewünschte Stilfaktoren gerade zuläßt. 215
211 212
213 214
215
Aristoteles: Poetik. Kap. 22. Zu den »fremdartigen Ausdrücken« zählt Aristoteles die Glosse (dialektaler Ausdruck), die Metapher und die Erweiterung (Epitheton). Vgl. ebd. Aristoteles: Poetik. Kap. 22. Vgl. Rhetorik III, 1,9: [...] »die sprachliche Formulierung der Rede und der Poesie sind voneinander geschieden.« Was schließlich auch bedeutet: Dunkelheiten als »intendierte Mittel der Rede« (Ott-
Acutezza
295
Unter dem Einfluß der in vielerlei Hinsicht neuansetzenden römischen Rhetorik gerät die aristotelische pers/H'ci«f£w-Auffassung allerdings schnell wieder in den Kontext normativerer Stilkonzepte. Perspicuitas heißt nun, etwa im Rahmen der kanonischen Grundlegung der Rhetorik als umfassendes Bildungsprogramm durch Cicero: vollständige Transparenz und Identität von res und verba auf der Grundlage des verbum proprium. Der Ausdruck, so will es eine enzyklopädische Rhetorik, muß »so prägnant und konzentriert« sein, »daß man nicht recht weiß, ob der Inhalt durch den Ausdruck oder ob die Formulierung durch den Gedanken deutlich wird.«216 Quintilian steht in dieser Tradition, wenn er die perspicuitas der Rede ganz analog auf die verba propria stützt: »Die Durchsichtigkeit hat bei den Wörtern ihre Besonderheit in dem, was ihre eigentliche Bedeutung ausmacht.«217 Vitia, Verfehlungen, sind - neben den einschlägigen Figuren der obscuritas2n - daher alle Formen der Uneigentlichkeit, die nur eine einzige Ausnahme - die Metapher - gestatten: [...] Der übertragene Gebrauch (die Metapher), in dem ja wohl der wichtigste Schmuck der Rede besteht, macht Worte für Dinge passend, die es eigentlich nicht sind. Deshalb bezieht sich die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks nicht auf die Benennung, sondern auf die Kraft zu kennzeichnen, und läßt sich nicht dem Klang, sondern dem Sinn nach abwägen. (VIII, 2, 6)
Deutlich ist die Metapher, weil ihre referentielle Leistung - die »Kraft zu kennzeichnen« - über die semantische Qualität der eigentlichen Wortbedeutung hinausführt, also Beziehungen und Analogien aufdeckt, die der Rede eine größere semantische Fülle verleihen. In die deutsche Poetik geht die antike Konzeption der perspicuitas in vollem Umfang erst im 17. Jahrhundert ein. Das neue Ideal heißt nun humanistisch genug »Zierlichkeit«, meint aber die traditionellen Tugenden der grammatischen
2,6 217
218
mers: Rhetorik. a.a.O., S. 150) zu akzeptieren. Vgl. auch Ueding/Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. a.a.O., S. 224: »Der der perspicuitas gegenüberstehende Fehler ist die obscuritas [...]. Als Ausnahme mag gelten, wenn der dunkle Ausdruck die eigentliche Wirkungsabsicht nicht etwa behindert, sondern gar unterstützt.« Gemeint sind vor allem Polemik, Ironie oder Provinzialismen. Cicero: De oratore II, 55. Oder auch: der beste Ausdruck ist der, »quo nihil inveniri possit significantius.« Quintilian: Institutio oratoria VIII, 2, 1 bzw. VIII, 2, 9. Quintilian unterscheidet zwischen Fehlern in den verbis singulis und den verbis coniunctis. Wortfehler sind Zweideutigkeiten (ambiguitas), Neologismen und Archaismen (ungebräuchliche bzw. veraltete Wörter); Syntaxfehler sind Hypotaxen (Überlänge), Kürze (brevitas), Parenthesen, Zweideutigkeiten der Konstruktion (ambiguitas), Wortvermischungen und Umschreibungen. Vgl. VIII, 2,12 - VIII, 2,21.
296
Evolution
Korrektheit und intellektuellen Verständlichkeit, wie Opitz am Beginn der deutschen Poetik zeigt: Die worte bestehen in dreyerley; inn der elegantz oder ziehrligkeit / in der composition oder zuesammensetzung / vnd in der dignitet vnd ansehen. Die ziehrligkeit erfordert das die worte reine und deutlich sein. 2 "
Dispositionelle Gebote dieser Art stehen noch in einer sprachpflegerischen Poetiktradition, die die >deutsche Rede< zu Beginn des 17. Jahrhunderts allererst als poesiefáhig erweisen muß. Opitz' Befehlsketten zur Pflege der deutschen Nationalliteratur verschränken daher puritas und perspicuitas, und noch Georg Philipp Harsdörffer zeigt sich ähnlich legitimationsbeflissen, wenn er - perspicuitas und aptum verbindend - fordert, daß »die ganze Rede [...] verständlich, zierlich und den Sachen gemäß seyn« solle.220 Für Johann Peter Titz schließlich bildet die perspicuitas als verpflichtender Traditionserwerb die erste Stiltugend überhaupt: Der Verständlichkeit geben wir billich die fìirnehmste stelle / als der furnehmsten Tugend einer iedwedern Rede / in welcher es höchstübel stehet / nicht allein / wenn sie gar nicht / sondern auch / wenn sie kaum / und mit schwerer müh / kann verstanden werden. Von den Lateinern wird diese wolständigkeit perspicuitas genennet.22'
Auch die Autoritäten der barocken Rhetorik - Johann Matthäus Meyfart zeigt dies 1634 deutlich - wissen ihre Traditionen, die ihnen Antike und Humanismus vorgeben, zu schätzen, wenn sie perspicuitas und obscuritas in das überlieferte Schema von virtutes und vitia zwingen: Fürnemlich muß ein Redner darauff bedacht seyn / daß er seine Sach mit reinen / deutlichen / zierlichen vnd geschickten Worten vorbringe. [...] Aus diesem folget / daß ein Redner sich zu hütten habe vor dunckeln / zweiffelhafitigen / verwickelten / abgekürzten / vbersetzten vnd fernhinterhaltenen Worten vnd Reden.222
Nun hatte Wilfried Barner bereits 1970 angemerkt, daß das »weitverzweigte komparatistische Thema argutia-Bewegung für Deutschland noch gänzlich unbearbeitet« sei.223 Barners Feststellung traf in den 70er und 80er Jahren auf eine Forschungssituation, die, bedenkt man die erst in den 60er Jahren einsetzende Sichtung der Quellen, nur in den seltensten Fällen Ausblicke auf eine außerdeutsche Poetiktradition und damit auf gesamteuropäische Evolutions- und Einfluß-
219 220 221 222 223
Opitz: Buch [1624], a.a.O., S. 32. Harsdörffer: Poetischer Trichter. 1. Teil [1647]. a.a.O., S. 105. Titz: Zwey Bücher [1642], a.a.O., Buch II. 3. Kap., § 2. Meyfart: Teutsche Rhetorica [1634]. a.a.O., S. 63 bzw. 65. Bamer: Barockrhetorik. a.a.O., S. 44.
Acutezza
297
Perspektiven zu leisten vermochte. Allerdings ist schon mit den programmatischen Manierisimus-Forschungen Ernst Robert Curtius', Gustav René Hockes oder Hugo Friedrichs 224 deutlich gewesen, daß die anvisierte Großgeschichte deutscher Literatur ohne eine gemeineuropäische Perspektive notwendig fragmentarisch bleiben mußte. Im Falle der romanischen Scharfsinns-Theorie stand und steht die tatsächliche Breite des Objektfelds jedenfalls noch immer einem eher schläfrigen Interesse auf Seiten der Germanistik gegenüber, 225 zumal, wie Ingrid Höpel 1987 bestätigte, die massive konfessionelle Spaltung des europäischen 17. Jahrhunderts eine homogene Rezeption behinderte: Die barocke Ausarbeitung der Lehre von der >acutezzaeigentlichen< Sprechens traditionell nur geringe Lizenzen besitzt. >Argut< ist der Ausdruck freilich erst, wenn er eine geistreiche Diktion nutzt, die neben ihrer Leistung, die Dinge in überraschender Weise zu vergegenwärtigen, einen spezifisch spirituellen Genuß freisetzt, an dem das Geschick eines scharfsinnigen Intellekts (ingegno) sichtbar wird: Tutta la forza di ciascun Vocabolo significante [...] consiste nel rappresentare alla mente humana la cosa significata. Ma questa Rappresentation si piò fare, ò col Vocabulo nudo e propio, ilqual non richieda niun'opera dell'ingegno: ò con alcuna significatione ingegnosa, che insieme rappresenti & diletti. Onde nascono due generali differenze della Oratione: l'vna Propia & Grammaticale: l'altra Retorica & Arguta.236
234
235
236
Emanuele Tesauro: Il Cannocchiale Aristotelico, ò sia, Idèa dell'arguta et ingeniosa elocutione. Venedig 1655. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Turin 1670. Hg. und eingeleitet von August Buck. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968. S. 2f. Ergänzend dazu der Stahlstich des Tittelblatts: Aristoteles überreicht der als Frau personifizierten Dichtkunst ein Fernrohr, durch das sie zu Phoebus Apollon, dem Musenführer und Gott der Künste, emporblickt. Vgl. August Buck: Emanuele Tesauro und die Theorie des Literaturbarock [Einleitung], in: Emanuele Tesauro: Il Cannocchiale Aristotelico [1655/1670], a.a.O., S. V-XXI. S. XV. Zu den aristotelischen Quellen Tesauros a.a.O., S. XVI, sowie Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. a.a.O., S. 624, Anm. 2. Tesauro: Cannocchiale Aristotelico [1655/1670]. a.a.O., S. 235. An anderer Stelle wird diese Unterscheidung durch die Differenz von gestaltetem {parlar figurato) und nicht-
Acutezza
301
In der Tendenz ähnlich hatte Matteo Pellegrini bereits 1639 die Struktur der acutezza bestimmt. 237 Die acutezza,
so Pellegrini, ist eine Leistung der Verbin-
dung (legamento) zwischen Wörtern (parole) Gegenständen (obbietti significati).
und den durch sie bezeichneten
Gelungen ist die Verbindung, wenn ihre refe-
rentielle Struktur entlegen ist und insofern als bewirktes artificium
ausgewiesen
werden kann: In einer Aussage [detto] gibt es nichts anderes als Wörter, bezeichnete Gegenstände und ihre wechselseitige Verbindung. Die Wörter, sowie auch die Gegenstände oder Dinge, sind, für sich betrachtet, reiner Stoff. Also hängt die >acutezza< notwendigerweise von der Verbindung ab. [...] Diese kann man betrachten zwischen Wörtern und Wörtern, zwischen Dingen und Wörtern und zwischen Dingen und Dingen. Und in jeder dieser Möglichkeiten kann sie künstlich [artificio] und auch ohne Kunstgriff [senza artificio] sein. Wenn sie natürlich [naturale], zufallig [casuale] oder sonstwie ohne Kunstgriff ist, dann interessiert sie uns hier nicht, denn wir haben die >acutezza< als künstliche Sache vorausgesetzt.238 Als »künstliche Sache« und stilistisches artificium benötigt die acutezza
freilich
eine spezifisch disponierte Grundlage. Tesauro wie Pellegrini finden die primäre Quelle der acutezza in einem ingegno, das - gegen manches Mißverständnis der Forschung - auch weiterhin in der alteuropäischen Tradition des ingeniums beheimatet ist. 239 Ingeniös ist die acutezza, weil ihre geistreiche Kürze Leistung und Eigensinn einer natürlichen Veranlagung ist, die durch Studium und
exercitatio
perfektibilisiert wird. Auch das >acute< ingegno bleibt insofern, was es als nicht>acutes< ingenium immer schon war: eine natürliche, gleichwohl schulbare Erfindungsleistung
(inventio), die unter den Vorzeichen des >acuten< Stils blitzar-
tige und zugespitzte Sinneffekte in die Texte legt:
gestaltetem Sprechen (pariamoti figurata) paraphrasiert. Vgl. a.a.O., S. 121 und KlausPeter Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus. Tesauros und Pellegrinis Lehre von der >acutezza< oder von der Macht der Sprache. München 1968. S. 35f. Beide Unterscheidungen dienen der Kennzeichnung einer Diktion, die vom gewöhnlichen Ausdruck kraft ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit (pellegrino) abweicht. 237 Vgl. Matteo Pellegrini: Delle acutezze, che altrimenti spiriti, vivezze e concetti volgarmente si appellano. Genova 1639. 238 Pellegrini: Delle acutezze [1639]. Zit. nach Lange: Theoretiker. a.a.O., S. 124. 239 Vgl. nur August Buck: Einleitung. a.a.O., S. VIII, der hier die »Befreiung der Phantasie als selbständiger schöpferischer Kraft« am Werk sieht. Zur alteuropäischen Begriffstradition des ingenium vgl. Joachim Ritter: Artikel >GenieManiera< und >pellegrinoWitz< fassen. Witz, so Gottsched, »ist eine Gemüts-Kraft, welche die Ähnlichkeit der Dinge wahrnehmen [...] kann.« (Gottsched: Critische Dichtkunst. ['1730]. a.a.O., S. 44). Die frühaufklärerischen Definitionen Gottscheds, Bodmers und Breitingers stützen sich generell auf die schulbildenden Bestimmungen Christian Wolffs. Wolff hatte bereits 1720 erklärt, daß »die Leichtigkeit die Aehnlichkeit wahrzunehmen, [...] dasjenige [ist], was wir Witz heissen.« (Wolff: Vemünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen [Deutsche Metaphysik '1720/" 1751], a.a.O., S. 223 [Par. 366]). Vgl. hierzu Otto F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip. Darmstadt 1989; Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. a.a.O. Vgl. Aristoteles: Rhetorik. III, 11, 5: »Man muß aber Metaphern bilden [...] von verwandten aber auf den ersten Blick nicht offen zutage liegenden Dingen [...].« Ziel ist es, »das Ähnliche auch in weit auseinanderliegenden Dingen zu erkennen.« Tesauro: Cannocchiale Aristotelico [1655/1670], a.a.O., S. 266. Ähnlich auch bei Baltasar Gracián: Die agudeza sei »un acto del entendimiento que exprime la correspondencia qua se halla entre los objectas« (Baltasar Gracián: Agudeza y Arte de Ingenio [1642], Zit. nach: Artikel >Concettoacutes< Anthropologicum, das den Körper des Beobachters im Moment der bewirkten Überraschung gleichsam versteinern und erstarren läßt, weil ein Objekt wahrgenommen wird, das im rhetorischen Zeitalter, bemerkenswert genug, sprichwörtlich schweigen macht: Die Verwunderung [la marauiglia] ist ein aufmerksames Anhaften des Bewußtseins an ein neues und ernstes Objekt, von dem es nicht die Ursache weiß, sie aber in seiner Unsicherheit wissen möchte. Und in diesem kurzen Weggerissensein bleibt auch der Körper, gleichsam in plötzlicher Ekstase, stumpf, versteinert, ohne Bewegung und ohne Sprache.249
Wo Kommunikation das Bewußtsein in ein »aufmerksames Anhaften« zwingt, scheint eine Poetologie ihre Ansprüche geltend zu machen, die entschieden auf die wechselseitige strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation setzt.250 Unentschieden bleibt dabei, ob die Figur der meraviglia letztlich noch im Kontext barocker Affektökonomien steht, oder ob sich bereits eine differenzierte Physiologie >ästhetischer< Wahrnehmung durchzusetzen beginnt; immerhin spricht einiges dafür, daß die Theorie der meraviglia innerhalb der Poetik des Seicento Bewußtsein und Kommunikation übergreifend thematisierte und als spezifische Leistung einer Poetik empfahl, die Formunterschiede in der Strukturwahl - etwa: entlegene und konventionelle Metaphorik - für Wahrnehmung
249
250
Emanuele Tesauro: La Filosofia Morale derivata dall'alto font del grande Aristotele Stagirita, dal Conte, et cavalier Gran Croce Don Emanuele Tesauro, Patritio Torinese. Turin 1670. Zit. nach Lange: Theoretiker. a.a.O., S. 90. Vgl. zur strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 13-91.
Acutezza
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erzeugte und zur Verfügung stellte.251 Ganz analog sieht Matteo Pellegrini die höchste Leistung der acutezza in den acutezze mirabili, deren entlegene Referenzstrukturen ein gesteigertes diletto erzeugen, also Wahrnehmung in gesteigertem (amplifiziertem) Maße engagiert. Gleichwohl: der Scharfsinn muß als Scharfsinn, und das heißt: in seinem kunstvoll bewirkten Überraschungswert auf Seiten des Beobachters wahrgenommen werden. »Die Bewunderung allein reicht nicht, es muß sachverständige Bewunderung sein.«252 Was die acutezza daher einzufordern beginnt, ist eine Beobachtungskompetenz, für die Orientierungswerte und Leitunterscheidungen unterhalb von Codes - etwa die Differenz >scharfsinnig< / >nicht-scharfsinnig< - eingerichtet werden müssen, damit Urteilssicherheiten wirkungsvoll gesteigert werden können: Der Kunstgriff, weil er die Bewunderung [mirabile] erzeugen soll, darf nicht gewöhnlich, sondern muß höchst selten [rarità] sein, und da er einen fur das Bewußtsein stark angenehmen Gegenstand der Schau zu formen hat, wird seine Seltenheit [...] darin offensichtlich werden, daß er ein starkes wechselseitiges Zueinanderpassen [acconcezza] zwischen den durch eigene Leistung verbundenen Teilen der Aussage erscheinen läßt.253
Bewunderung erzeugt die acutezza, wenn sie ungewöhnliche und seltene ( rarità) Referenzbeziehungen schafft, und - zugleich - interne Redundanzen erzeugt, die die scheinbar kontingenten, >arbiträren< Bildverknüpfungen stringent koppeln. Die acutezze mirabili verbinden mithin beides: Entlegenheit der semantischen Organisation und innere Plausibilisierung ihrer Selektionen über >stimmigeprivate< Interaktionsmoral vgl. Göttert: Kommunikationsideale. a.a.O., S. 44ff. Göttert weist u.a. nach, daß Gracián bereits im El Héroe von 1637 eine >Privatisierung< machiavellistischer, also staatspolitischer Klugheitskonzepte beabsichtigte. Hinweise, insbesondere zu den Strategien des recato und disimulo (Prestigegewinn durch Verstellung), auch bei Ulrich Schulz-Buschhaus: Über die Verstellung und die ersten >Primores< des >Héroe< von Gracián. in: Romanische Forschungen 91 (1979). S. 411—430. Gracián: Handorakel [1647], a.a.O., S. 40 bzw. 75. Umberto Eco: Die Insel des vorigen Tages. Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber. München/Wien 1995. S. 118. Johann Michael von Loen: Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten des Grafens von Rivera. Franckfurt am Mayn 1742. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Karl Reichert. Stuttgart 1966. S. 10.
Galante Kommunikation
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simulierenden Verstellung von sich zu weisen, um Unaufrichtigkeitsvermutungen, vor allen kommunikativen Authentizitätsbekundungen und damit: performativen Selbstwidersprüchen, bereits habituell begegnen zu können: Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich es ohne solche heutzutage nicht leben läßt. [...] Die größte Kunst bestehe darin, daß man bedecke, was für Betrug gehalten wird. Im goldenen Zeitalter war die Geradheit an der Tagesordnung, in diesem eisernen ist es die Arglist. Der Ruf, ein Mann zu sein, welcher weiß, was er zu tun hat, ist ehrenvoll und erwirbt Zutrauen; aber der eines verstellten Menschen ist verfänglich und erregt Mißtrauen.303
An dieser Ethik der Abschirmung wird deutlich, daß die politischen Interaktionsmuster mitsamt ihren Dissimulations- und Simulationsstrategien letztlich in eine Beobachtung zweiter Ordnung führen, die den sozialen Umgang erheblich komplexer gestaltet als zuvor. Die Anforderungen jedenfalls, die das >politische< 17. Jahrhundert an eine erfolgsbezogene Konversation stellt - die Abschirmung der eigenen Motivlagen gegen die zudringlichen Blicke alters, die Gewinnung des Gegenübers durch Simulation gemeinsam geteilter Absichten und Neigungen - , sind nur vor dem Hintergrund einer in ihrer operativen Komplexität erheblich gesteigerten Interaktionstechnologie verständlich, die bereits um die reziproke Beobachtbarkeit und Manipulierbarkeit ihrer Teilnehmer weiß. Was die politischen Kommunikationsideale des 17. Jahrhunderts daher auch empfehlen, ist eine Beobachtung der Beobachtung: nur so kann das Verhalten (also Beobachten) des anderen beobachtet und zur Orientierung des eigenen Handelns und Beobachtens dienen. 304 Wie selbstverständlich diese wechselseitige Orientierbarkeit der Interaktion und des Verhaltens Mitte des 17. Jahrhunderts geworden ist, zeigt einmal mehr Baltasar Gracián, der den politischen Menschen immer schon als beobachteten Beobachter sieht: Stets handeln, als würde man gesehen. Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, daß man ihn sieht oder doch sehen wird. Er weiß, daß die Wände hören und daß schlechte Handlungen zu bersten drohen, um herauszukommen. Auch wenn allein, handelt er wie unter den Augen der ganzen Welt. (144f.)
303 304
Gracián: Handorakel [1647], a.a.O., S. 109. Und dies mit allen Konsequenzen einer Beobachtung zweiter Ordnung: Jeder beobachtet jeden - und wird beobachtet. Die Erfolgskalküle politischer Interaktion beschränken sich an der prinzipiellen Unmöglichkeit, einen beobachtungsbezogenen Vorsprung vor anderen Beobachtern zu gewinnen. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 92-164.
320
Evolution
Die Differenzen zu einem modernen Interaktions- und Kommunikationsverständnis, das etwa um die Probleme »doppelter Kontingenz«305 oder die Gefahren grundsätzlichen Nichtverstehens weiß, liegen auf der Hand. Wo, wie im 17. Jahrhundert, Interaktion noch als rhetorisch planbare und vorstrukturierbare Verhaltenssequenz verstanden werden kann, müssen Personen im Vollzug dieser Kontaktserien prinzipiell für die Intentionen egos erreichbar sein. Dieser Möglichkeiten interpersonaler Resonanz und Irritierbarkeit entspricht eine frühneuzeitliche Anthropologie, die die Chancen politischer Manipulation in der dynamischen Unruhe jener menschlichen Affekte sieht, die der Politicus nur wirkungssicher anzusprechen hat, wie Kontaktschwellen und Kontaktermutigungen - humoralpathologischer Auffassung gemäß - immer schon von einem physiologischen Apriori festgelegt sind, das Sympathien und Antipathien, lange vor aller empfindsamem Psychologie, über einen analogen affektgenetischen Säfte- und Aromenverkehr erzeugt.306 Das 17. Jahrhundert ist vor diesem Hintergrund auch kein Jahrhundert rigider Affektdämpfongen, etwa im Sinne neostoischer Apathie- oder Ataraxie-Programme, sondern scheint vielmehr der Einsicht zu folgen, daß Affektdämpfung und Affektmobilisierung aneinander gesteigert werden müssen, um der Interaktion Raum für individuelle Erfolgsstrategien zu sichern.307 Die galante Anthropologie kultiviert daher eine rollenbezogene Verteilung von Affektregulierung und Affekterregung, die das eigene Selbst diszipliniert, um den Gesprächspartner komplementär gerade über seine Passionen einnehmen und bewegen zu können: Nie handle man im leidenschaftlichen Zustande: sonst wird man alles verderben. Der kann nicht für sich handeln, der nicht bei sich ist: stets aber verbannt die Leidenschaft die Vernunft. [...] Sobald man merkt, daß man außer Fassung gerät, blase die Klugheit zum Rückzüge: denn kaum wird das Blut sich vollends erhitzt haben, so wird man blutig zu Werke gehen und in wenigen Augenblicken auf lange Zeit sich zur Beschämung und andern zur Verleumdung Stoff gegeben haben.308
305
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307 308
Vgl. nur Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, in: Soziologische Aufklärung 3. a.a.O., S. 11-24; ders.: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. in: ebd., S. 25-34, sowie ders.: Soziale Systeme. a.a.O., S. 148-190. Für einen Beleg siehe nur Artikel >SympathieSchauspiel< verstandene Interaktionsmoral fuhrt in eine kaum mehr bestrittene Psychagogie, die die Manipulation der Gesprächspartner geradezu fordert und als verbindliche Maxime galanten Handelns empfiehlt. Am Beginn der deutschen Galanterie steht daher auch kaum zufällig eine Ökonomie des Affekts, die den privaten wie öffentlichen Erfolg allein von der Fähigkeit zur affektiven Beeinflussung und Suggestion des Gesprächspartners abhängig macht: Wer in der Welt etwas nützliches ausrichten / und ein rechtschaffenes Amt bedienen will / der muß die Leute mit ihren Affecten recht in seinen Händen haben. Absonderlich was die Politischen Ministros betrifft / so werden solche in ihren Consiliis schlechte Expedition erhalten / wenn sie nicht die Gemüther zu gewinnen / und nach Belieben einen guten oder bösen Affect einzupflanzen wissen.310 Mit Weises Politischem
Redner vollzieht sich Mitte der 1670er Jahre die Umori-
entierung des >Politischen< auf eine auch für deutsche Verhältnisse neuartige Konzeption von >PrivatklugheitFreundschaft< zeigt. Vgl. a.a.O., S. 105 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen [1772]. in: Werke. Zweiter Band: Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1971. S. 153.
Galante Kommunikation d'amour
333
empfohlen, deren unterhaltsamer Besuch alles das bereitzustellen ver-
spricht, was den unbedarften Leser zu einem homme galant werden läßt: kluge Weitläufigkeit, psychologische Einsicht, Konzilianz, kommunikatives Geschick zumal. 344 Die »guten Romane«, so Huet, sind »fromme Lehrmeister«, die den »Menschen« in allen Fragen weltläufig-galanten Verhaltens wirkungsvoll und verläßlich »zu formiren« wissen. 345 Auch die deutschen Autoren empfehlen den Roman zu Zwecken einer galanten Verhaltensschulung, die deutlich macht, daß alle Schrift in externe Konversationssysteme zurückkehrt, indem einzig die »Discourse«, also die im Roman vertexteten Konversationen und Plaudereien in den Mittelpunkt rücken. Was, ungalant genug, sekundär bleibt, ist, wie das Commode Manual des Leipziger Juristen Johann Christian Wächtler zeigt, die eigentliche Romanhandlung mit ihren Intrigen, Liebeshändeln und amourösen Petitessen: § 43. Will man aber eine geschickte Rede machen lernen, so bediene man sich zuförderst derer schönsten Romanen in derselbigen Sprache, derer man kundig ist [...]. § 44. Diese müssen aber nicht zu dem Ende bloß gelesen werden, damit man nur die Historien und Intriques d'amour samt deren Verlauff an und vor sich selber begreiffe, sondern über dieses wird hauptsächlich erfordert, daß der Leser wohl Acht habe auf die darinne vorkommende Discourse und Unterredungen, absonderlich aber auf die eingemischte galante und verständige Redens-Arten.346
344
345
346
Vgl. Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blankenburg. Stuttgart 1973. S. 89. Pierre Daniel Huet: Traité de l'origine des Romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966. S. 628. - Und dies in einer diskreten Kopplung aus Nutzen (prodesse) und Divertissement (delectare): Man liest und wird - kaum bemerkt - instruiert. Vgl. a.a.O., S. 621. Johann Christian Wächtler: Commodes Manual Oder Hand-Buch [...]. Leipzig o.J. Zit. nach Wiedemann (Hg.): Der galante Stil. a.a.O., S. 15f. Eine ähnliche Empfehlung spricht ein 1708 erschienenes Raisonnement über die Romanen aus: »Was suchen wir aber in allen Historien anders / als Klugheit und eine gute Conduite daraus zu lernen? [...]. Denn diese Art von Wissenschaften lässet sich ohnedem in keine Lehrsätze / sondern eintzig und allein in Exempel fassen [...]. Es wird ein iedweder seine Lection und sein Temperament darinnen finden [...] zugleich auch [...] gar artig daraus lernen können / wie er mit iedweder Art Leute klüglich conversiren / mit einer galanten Maniré reden / alle überflüssigen Complimente meiden / und so viel als möglich einem iedweden Satisfaction geben [...] müsse. Ein junger Mensch wird darinen vielerlei Gelegenheit an die Hand gegeben sehen / sowohl vornehmer Leute als auch Frauenzimers Compagnie honetter Weise zu suchen / und sich mit einer guten Geschicklichkeit dabey auffzufuhren [...].« Anonym: Raisonnement über die Romanen [1708]. Zit. nach Eberhard Lämmert (Hg.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880. Köln/Berlin 1971. S. 62-68. S. 6Sf.
334
Evolution
Wo alles, auch und insbesondere Literatur, von der sozialen Interaktion her organisiert wird, genauer: wo Literatur aus Anlaß von Interaktion entsteht und in Interaktion zurückkehrt, ist die Poesie kaum mehr als ein »Neben=Werck« (Weise), das zu jenem Konglomerat an Fähigkeiten und Techniken zählt, die der Politicus wirkungssicher einzusetzen hat. Insgesamt ist die poetologische Relevanz der Galanterie gering, vereinzelte Hinweise auf den Roman und stilistische Fragen abgerechnet, wie es ohnehin schwer fällt, von einer »galanten Literaturtheorie« im engen Sinne des Begriffs zu sprechen.347 Was die Galanterie freilich ihrem Kern nach ausmacht und in allen Anstrengungen des Simulierens und Verbergens diskret mitfuhrt, ist das Bemühen, die eigenen rhetorischen Voraussetzungen des Ausdrucks der Sichtbarkeit zu entziehen und sie ihrer Latenz zu versichern. Was im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert Galanterie heißt, will nur eines sein, obwohl es genau dies nicht ist: natürlich und ungezwungen, regellos und spontan. Nun ist die Empfehlung, die kunstvollen Regeln des Schreibens wirkungsvoll zu verbergen, keine Anweisung, die das 17. Jahrhundert erstmals ausgesprochen hätte. Quintilian etwa behandelt das »Sich-Stellen und Verstellen«348 an verschiedenen Orten der rhetorischen Systematik. Neben ihrer Bedeutung für die elocutio, hier vor allem als Teil der Ironie,349 seien simulatio und dissimulano in besonderem Maße geeignet, das Gelächter der Zuhörer zu erregen: Das meiste Gelächter aber gibt es beim Sich-Stellen und -Verstellen [simulatio et dissimulatio], was ja nah verwandt und fast gleich ist; liegt doch der Unterschied nur darin, daß man im einen Fall sich stellt, als sei einem eine bestimmte Auffassung wirklich zu eigen, im andern Fall vorgibt, man habe keine klare Vorstellung von dem, was der andere meint. (VI, 3, 85)
Brisant ist das Verhältnis von simulatio und dissimulatio allerdings erst dort geworden, wo es auf das rhetorische Sprechen selbst angewendet werden konnte. Die dissimulatio artis, also das strategische und kunstvolle Verbergen der Beredsamkeit, schlägt sich - ungeachtet der Ethisierung des rhetorischen Denkens und der von Seiten der alteuropäischen Moraltradition wiederholt vorgetragenen Kritik350 - in einer ganzen Reihe von Anweisungen nieder, die den Redner darüber
347 348 349 350
So Conrad Wiedemann. (Hg.): Der galante Stil. a.a.O., S. 28^18. Quintilian: Institutio oratoria VI, 3, 85. Vgl. IX, 2, 44, wo Ironie und dissimulatio beinahe synonym verwendet werden. Dies berührt eine die Rhetorik bekanntlich seit ihren Anfängen begleitende Diskussion. Paradigmatisch hierfür ist Piatons Rhetorik-Kritik; der Vorwurf gegenüber der Sophistik lautet, die Polis als bloße Verfügungsmasse für die manipulativen Interessen des Redners zu mißbrauchen. Als Antwort darf wohl noch Ciceros Konzept des orator per-
Galante Kommunikation
335
belehren, wie die ars rhetorica wirkungsvoll für die Zuhörer verborgen werden kann, ohne daß auf ihren Einsatz wirklich verzichtet werden müßte. 351 Nun steigen die Ansprüche an die Fähigkeit, die Kunst des Schreibens zu verbergen, selbstverständlich dort, wo das Ziel der Texte die Liebe ist. Was der galante Liebesbrief erwecken muß, ist der Schein einer unmittelbaren Schrift des Herzens, einer >natürlichPrimores< des >Héroe< von Gracián. a.a.O., S. 412. Zur Figur der dissimulatio artis vgl. mit einer Fülle an Belegen Christoff Neumeister: Grundsätze der forensischen Rhetorik. Gezeigt an Gerichtsreden Ciceros. München 1964. S.130-155. Die Verbergung von Kunst und Technik fordert übrigens auch die antike Liebeslehre: »Kunst, die versteckt ist, nützt; doch verrät sie sich, bringt sie dir Schande« - so Ovids Ars amatoria II, 313. In der Politik schließlich habe sich der Vertragsbrüchige Fürst wie ein Fuchs zu verhalten: »Nur muß man es gleich dem Fuchs verstehen, seine Rolle durch geschickte Wendungen meisterhaft zu verstecken.« Machiavelli: II principe [1516], a.a.O., S. 97. Der Hofmann wird schließlich analog die sprezzatura des Ausdrucks schätzen. Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung. a.a.O., S. 51 f., sowie fur reiche Belege aus Antike und Neuzeit Wolfgang G. Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988. S. 189-208. Müller verzeichnet eine von Erasmus (»caput artis esse, artem dissimulare«) über Francis Bacon bis Richard Steele führende Tradition. Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen [1727]. a.a.O., S. 191. Neukirchs Wirkung ist noch in der für das 18. Jahrhundert paradigmatischen Brieflehre Gellerts zu studieren. Gellerts Empfehlung lautet: Die »besten Regeln« sind die »wenigsten«. Geliert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe [1742], a.a.O., S. 101.
336
Evolution
Wahrhaft galant ist der galante Liebesbrief, wenn er die dynamische Unruhe der Affektation in die Unmittelbarkeit einer passionierten Schrift fließen läßt, die zwischen »hertz« und »feder« keinen medialen oder expressiven Bruch kennt und gerade deswegen ein transnormatives Niveau gewinnt. Überhaupt scheint der galante Brief einer Logik der Anwesenheit zu folgen, die in den Schreibakten das Gefühl des Schreibers und damit den Schreiber selbst präsent werden läßt. Wo jedenfalls das »hertz« mitsamt seinen Passionen spricht, bedarf es keiner Regel, die darüber Auskunft gibt, wie und unter welchen Bedingungen der Briefschreiber sich zu repräsentieren hat. Und weil die Ausfälle gegen die »rhetorische Feder« auf dem Boden einer rhetorisch regulierten Epistolographie formuliert werden, bleibt der galanten Natürlichkeit nur die Paradoxie einer nicht-rhetorischen Rhetorik, die nun in einer neuartigen semantischen Frontstellung Rhetorik und Regel gegen Natur und »freyheit« ausspielen muß: Verliebte Briefe lassen sich nach keinen regeln eintheilen. Denn sie müssen von hertzen gehen, und so bald man sie zwingen will, so kommen sie nicht mehr verliebt heraus. [...] Denn zu einem verliebten briefe gehöret auch ein verliebter Schreiber: und drey zeilen, welche von hertzen kommen, haben mehr kraffi und wiirckung, als zwantzig, welche aus einer rhetorischen Feder fliessen. Derowegen lassen wir einem ieden hier seine freyheit. Denn die natürliche eintheilung ist die beste [...]. (398)
Dieser »Sprung aus aller Rhetorik«, den Nikolaus Wegmann historisch nicht ganz zutreffend als epochales Signum der Empfindsamkeit bestimmt hat, 353 ist selbstverständlich selbst rhetorisch, weil die Unmittelbarkeiten und distanzlosen Affektationen des »hertzens« Simulationen einer Aufschreiberhetorik sind, die der Beobachter, genauer: die Beobachterin am Grad jener »Verwirrung«354 überprüfen kann, die der Schreiber in den Text zu investieren bereit ist. Neukirchs Verweis auf jenen Comte de Bussi, dessen Briefe der Dame seines Herzens »zu künstlich« erschienen, weil »Grosse Leidenschaften mehr Verwirrung« (ebd.) besitzen, zeigt jedenfalls genau dies: daß die Passion des Verfassers immer an der Art und Weise, wie er den Verlust seines »Verstandes« und das Maß seiner rhetorisch inszenierten »Verwirrung« (ebd.) zu simulieren vermag, überprüft werden kann. 355 Und noch eines wird an dieser Berechnungslogik von
353
354 355
Wegmann: Zurück zur Philologie? Diskurstheorie am Beispiel einer Geschichte der Empfindsamkeit, in: Fohrmann/Müller (Hg.): Diskurstheorien. a.a.O. S. 349-364. S. 354. Vgl. auch ders.: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen [1727], a.a.O., S. 193. Fehlerhafte Briefe können daher prinzipiell korrigiert werden - was bedeutet, daß das Formular der Liebe nochmals eingereicht werden kann.
Galante Kommunikation
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Affektenergien deutlich: daß die galante Kommunikation den Informationsaspekt - die artikulierte Leidenschaft - unter besondere Beobachtung stellt, diese Beobachtung aber auf den Mitteilungsaspekt der Kommunikation verschieben muß, weil nur das Maß ihrer Rhetorizität beglaubigt, was die Kommunikation mitzuteilen beabsichtigt. In der Logik dieser Affektkontrollen, die die galante Natürlichkeit denkbar paradox ihrer Abwesenheit überführen, liegt damit ein rhetorisches Affektwirkungsvolumen, an das sich Schreiber schrittweise und in mehrfachen Werbungen annähern müssen, um ihre Bemühungen schließlich mit dem Erfolg intimer Kontaktaufnahmen bilanziert zu sehen. Was der galante Brief gleichwohl einzig kommuniziert, ist der Schein der Natürlichkeit, der so natürlich, ungezwungen und spontan ist, wie es rhetorische Kriterien zulassen: Ein galanter mensch muß in allem seinem thun natürlich seyn: derowegen muß er auch natürlich schreiben. Und gleichwohl, so muß er doch auch in allen dingen etwas besonderes haben. Tantzet er, so muß er es ohne affectirang der kunst, aber doch mit Verwunderung aller Zuschauer thun. Singet er, so muß er gefallen: redet er, so muß er ergötzen: machet er verse, so müssen sie durchdringen: und schreibet er endlich briefe, so muß er seine gedancken, ehe er sie zu papier bringet, wol untersuchen: wenn sie aber geschrieben seyn, so müssen sie scheinen, als ob er sie ohne bemiihung geschrieben hätte. (210)356
Wo dieser Schein als Schein reflektiert und kenntlich gemacht wird, kann sich die Rhetorik der Natürlichkeit als semantische Überleitungsfünktion schließlich zu ihrer paradoxen Lage bekennen. 357 Und auch wenn der galante Diskurs das Schreiben erstmals von seiner verpflichtenden Bindung an präskriptive Regeln löst und an ein semantisches Substrat bindet, das als »Natur« geeignet scheint, die Vernetzung mit der traditionellen Regelpoetik im Ganzen zu lösen, bleibt die Galanterie was sie ist: Rhetorik, Kunst, Technik des Ausdrucks. Benjamin Neukirch begibt sich daher in die widersprüchliche Lage, die rhetorischen Regelmäßigkeiten des Ausdrucks einerseits der Sichtbarkeit entziehen, andererseits die rhetorische Struktur der »galanten briefe«, ihre »eintheilung«, dennoch offenlegen zu müssen: Ich habe gesagt, daß sich verliebte briefe nicht wohl eintheilen Hessen; aber es gehet noch vielweniger in galanten an. [...] Ich habe schon eben gewiesen, was ein galanter
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357
Die rhetorischen Subtexte sind unübersehbar: »verse« müssen »durchdringen« und »bewegen« (192) (movere), »gedancken« müssen nach inventiven und dispositionellen Gesetzen »wol untersucht« werden. Vgl. zum Begriff der »Überleitungsfünktion« Kap. III, 1 sowie Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie a.a.O., S. 173 und ders.: Interaktion in Oberschichten. a.a.O., S. 83.
Evolution
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brief sey, und wie man alle Kunst darin meiden müsse, ungeachtet er in der that recht künstlich ist. [...] Mit einem worte: ein galanter brief bestehet in lauter artigen meditationen und gedancken: deren eintheilung aber kommet auf eines ieden natürlichen verstand und geschicklichkeit an. (401)358 Auch im Bereich der überlieferten Stiltheorie lauten die prononcierten Empfehlungen damit: Natürlichkeit, Zwanglosigkeit, Leichtigkeit, nicht zuletzt: Vermeidung aller Extreme des Ausdrucks. 359 Damit gerät die galante Stilistik unübersehbar in Widerspruch zur rhetorischen Tradition, die einen natürlichen Stil gewöhnlich nicht kennt. Galante Autoren wie Christian Hunold, August Bohse und Benjamin Neukirch sehen sich daher gezwungen, auf die Ordnungsleistungen der überlieferten Schematik weitgehend zu verzichten; Hunold, indem er die traditionelle Stiltrias unter Ausblendung des niederen Stils {stylus bzw. communis)
humilis
neu besetzt; 360 Neukirch, indem er die Dreistillehre zugunsten
einer neuartigen Vierstillehre aufsprengt.361 Bezeichnend ist dabei, daß der anvi-
358
Ein Blick in die zeitgenössischen Kunst-Umwelten zeigt: Natürlichkeit inklusive der auflaufenden Paradoxien auch hier. Im Bereich der Schauspielkunst etwa beginnt die Karriere einer >natürlichenAffektierungen< vermeidende Konversation der galanten Zirkel. Damit wird - wie übrigens auch bei Bohse - die alte rhetorische Empfehlung der consuetudo
in den Bereich der galanten Stillehre
zurückgewonnen: üblich ist der Ausdruck, wenn er dem Sprachgebrauch des »civilen« Gesprächs folgt, Ausfalle in beide Richtungen des überlieferten Stilspektrums (oben - unten, hoch - niedrig) also dezidiert vermeidet. 363 Nicht zuletzt ist der Stylus politicus
auch bei Hunold ein mittlerer Stil, der die Niederungen des
Stylus communis und die Höhenlagen des Stylus magnifiais
ausgleicht:
Und zwar was Stylum politicum anbelanget, so heisset er auch sonsten floridus, weil er sich durch übliche und galante Worte, und in civiler Conversation gleichsam florirende Redens=Arten zu recommendiren suchet. Ingleichen wird er Mediocris tituliret, weil er zwischen dem Stylo communi und magnifico die Mittelbahn erwählet.364 Ein Stilideal, das die »Mittelbahn erwählet«, um eine »civile Conversation« zwanglos und souverän fortzusetzen, macht hinreichend deutlich, wie sehr die ga-
362
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August Bohse [Talander]: Gründliche Anleitung zu Teutschen Briefen. Jena 1706. Nachdruck Kronberg/Ts. 1974. S. 242. Dies betrifft noch die Zeitdimension galanter Kommunikation; so sollen »galante liebes-brieffe« den Eindruck erwecken, »als ob man sie [...] aus dem ermel geschüttelt hätte.« Vgl.Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen [1727], a.a.O., S. 217. Vgl. den Merkmalskatalog bei Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen [1727], a.a.O., 478; der Stil habe »1. deutlich, 2. üblich, 3. ungezwungen, 4. nicht zu hoch und nicht zu niedrig, 5. nicht zu kurtz und nicht zu lang 6. wohl connectirt, 7. gleich, 8. wohl punctiert, 9. wohl numerirt« zu sein. Hunold: Die allerneueste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen [1735]. a.a.O., S. 473.
340
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lante Theorie noch eine Theorie des öffentlichen, d.h. sozial piazierten Ausdrucks ist, der seine Gratifikation gerade aus dem Bezug auf ein rhetorisch reguliertes Verhalten und Sprechen gewinnt. Was die moderne Literatur und Kultur an der Galanterie kritisch aufdecken und aus ihren Selbstbeschreibungen tilgen wird: die Künstlichkeit und Stilformigkeit des Ausdrucks, weiß gegenwärtig wieder eine Soziologie zu schätzen, die die Moderne als progressiven »Verfall des öffentlichen Lebens« 365 erleidet und daher erneut bindende und ritualisierte Kommunikationsstile herbeisehnt.
9. Ein Streit: das Wunderbare »Gottscheds literarisches Leben«, so Wilhelm Theodor Danzel in der zweiten Ausgabe seiner erstmals 1848 erschienen Gottsched-Monographie, »zerfallt [...] in zwei genau zu sondernde Hälften. In der ersten ist er auf das Entschiedenste der Chorführer der deutschen Litteratur [...]. Dies änderte sich plötzlich; so rasch er bis dahin gestiegen war, so schnell fällt er jetzt von seiner Höhe herab; er ist auf einmal zu dem Vertreter einer vergangenen Zeit, dem Bearbeiter einer bereits gelösten Aufgabe geworden. Es ist der Streit mit den Schweizern, welcher diesen Angelpunkt in Gottscheds Leben bildet.« 366 Was Wilhelm Theodor Danzel Mitte des 19. Jahrhunderts nicht ohne Bedauern erzählt, ist eine Geschichte von Aufstieg und Fall, zugleich aber auch eine von der Dynamik der literaturgeschichtlichen Zeit, die über einen einstigen Reformator und poetischen Neuerer hinweggegangen ist. Danzel hat es im übrigen wissen müssen. Seine umfangreiche Gottsched-Studie, die erstmals die Quellen, insbesondere die Korrespondenz des Leipziger Poetik-Professors auswertete, hat sich dezidiert als seriöse wissenschaftliche Darstellung verstanden, die dem Gegenstand mit monographischer Strenge zu Leibe rücken sollte. Gegen die spekulative und von allerlei nationalpolitischen Hoffnungen übercodierte Literaturgeschichtsschreibung eines Gervinus vertraute Danzel auf die Unbestechlichkeit seines »parteilosen Auges« (3), das der wirklichen Bedeutung Gottscheds vorurteilslos und gleichsam auf empirischem Wege gerecht werden würde.
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Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Frankfurt/M. 1986. S. 18. Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel, zusammengestellt und erläutert von Th.W. Danzel. Nebst einem Anhange: Daniel Wilhelm Trillers Anmerkungen zu Klopstocks Gelehrtenrepublik. 2., wohlfeile Ausgabe Leipzig 1855. S. 185.
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So wohltuend sich Danzels Darstellung von den gängigen und bis heute zählebig fortgeschriebenen Gottsched-Stereotypen - wenn auch nur ihrer Intention nach - abhebt, so konsensstiftend ist sie in anderer Hinsicht. Denn Danzel entfaltet an Gottsched und seinen Schweizer Kontrahenten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger eine literaturgeschichtliche Erzählung, die im Widerstreit zwischen Leipzig und Zürich nichts geringeres als die Geburtsstunde der modernen Literatur sieht. Während der ehemals kühne Reformator Gottsched an den veralteten Positionen einer präskriptiven Regelpoetik festhält, haben die Schweizer in epochaler Weise erstmals die Poesie als autonome Kunst zu würdigen gewußt. Gottscheds biographisches Schicksal markiert eine literaturgeschichtliche epoché in ihrem Wortsinn: eine Trennscheide zwischen alter Regelpoetik und moderner Poesie: Aber dieser Streit ist nicht bloß für Gottscheds literarische Stellung von Epoche machender Wichtigkeit. Man kann ihm fiir diese eine solche Bedeutung eben nur darum beilegen, weil er sie in der Geschichte der deutschen Litteratur überhaupt hat. Gottscheds Streit mit den Schweizern ist die Geburtsstätte, man möchte sagen der Zeugungsact der ganzen neueren deutschen Litteratur. [...] Die Schweizer sind in Deutschland die ersten, welche die Poesie als Kunst betrachten: während Gottsched im Grunde nur auf eine poetische Schreibart ausgeht und die Poesie ihm also neben die Redekunst, die Poetik neben die Rhetorik tritt [...]. (185f.)
Danzels genealogische Perspektive ist Teil und Modell einer Literaturgeschichtsschreibung, die sich nach ihrer akademischen Errichtung im frühen 19. Jahrhundert schnell als Innovationsgeschichte verstanden hat und deren suggestive Kraft noch die jüngsten Forschungsperspektiven grundiert. Gottsched und die Schweizer stehen als Autorennamen und damit pars pro toto fiir jene Schwelle in der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts ein, an der alte Regelpoetik und moderne literarische Kommunikation auseinandertreten; es genügt auch nur ein kursorischer Blick in die einschlägigen Literaturgeschichten, um die Langlebigkeit dieses evolutionären Schemas nachzuweisen - dies gilt für Theodor Mündt367 wie für Karl Lemcke368 oder Jakob Baechtold.369 Selbst die jüngere Literaturgeschichtsschreibung hat diesen in vielerlei Hinsicht unhistorischen Einsichten trotz einer weiträumigen sozialgeschichtlichen Theoretisierung keine durchgreifend
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Vgl. Theodor Mündt: Allgemeine Literaturgeschichte. Zweiter Band: Die Literatur der Reformationsperiode und des achtzehnten Jahrhunderts. 2., verb, und verm. Ausgabe Berlin 1848. S. 445ff. Carl Lemcke: Geschichte der deutschen Literatur neuerer Zeit. Bd. 1: Von Opitz bis Klopstock. Leipzig 1871. S. 414. Jakob Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz. Erste Lieferung. Frauenfeld 1892. S. 564.
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neuen Perspektiven an die Seite gestellt. Noch Christoph Siegrist läßt die asketische Mentalität des Rationalisten Gottsched gegen die innovationsorientierte Haltung Bodmers und Breitingers zu Felde ziehen; Gottsched, so Siegrist, habe die »Phantasie und Kreativität des Dichters«370 in die Zelle der »Phantasiefeindlichkeit« eingesperrt: Die Dominanz des Allgemeinen und die Ausrichtung auf die Wirkung lassen fur den Ausdruck seiner [des Dichters, LS.] Subjektivität keinen Raum. Die Phantasiefeindlichkeit wie der Rigorismus, mit dem das Sinnliche über seine bloße Mittlerfiinktion hinaus abgelehnt wird, legen Zeugnis ab vom Geist frühbürgerlicher Askese des protestantischen Utilitarismus. (287)
Wie beharrlich die Diskurstraditionen eines Fachs überliefert werden, zeigt PeterAndré Alt. Auch Alt schreibt das aus dem 19. Jahrhundert übernommene Innovationsschema fort, baut es aber zu einer ästhetik- und wissenschaftsgeschichtlichen Gabelung aus, die Gottsched und die Schweizer als Stellvertreter zweier einander ablösender Diskurstypen - alte Regelpoetik hier, neue Ästhetik dort anordnet: Der Konflikt zwischen Gottsched und den Schweizern [...] besitzt programmatischen Charakter, weil er eine Wegscheide markiert, von der aus die Entwicklung der deutschsprachigen Poetik zweigleisig verlief: hier in den Bahnen der rationalistischen Regelpoetik, dort auf eine philosophische Beobachtung zustrebend, die sich zunehmend von den Zwängen normativer Bestimmungen emanzipierte und eine allgemeine Theorie des Schönen zu begründen suchte.371
Insgesamt wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß der vielzitierte Streit zwischen Gottsched und den Schweizern der Literaturwissenschaft bis heute dazu dient, eine fachkonstitutive Erzähltypik an einem besonders prominenten Paradigma zu entfalten.372 Wenn Literaturgeschichte primär als Innovationserzählung und - dies im Blick auf das 18. Jahrhundert - darüberhinaus als Emergenzgeschichte moderner Literatur verstanden wird, dann müssen Legitimationen an Daten gewonnen werden, die in einem spezifischen Sinn tiefenstrukturell (Tradition - Innovation) angeordnet sind, weil sie immer schon jene
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Christoph Siegrist: Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten, in: Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 3. a.a.O., S. 280-303. S. 298. Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 80. - Konsequenzen ganzer anderer (romanhafter) Art zieht übrigens Renate Feyl: Der Literaturstreit als Drama der Intimität und des gestörten Hausfriedens. Vgl. den Roman Idylle mit Professor. Köln 1989. Vgl. die materialreiche Dokumentation von Hans Otto Horch/Georg-Michael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Darmstadt 1988.
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Vorentscheidungen illustrieren, die die Literaturgeschichtsschreibung (und weniger die Literaturgeschichte) bereits getroffen hat. Nun ist das >WunderbareWunderbare< (thaumaston) zunächst in den Kontext seiner Tragödientheorie gestellt, wobei die Tragödie bekanntlich als »Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung« 374 definiert wurde: Die Nachahmung hat nicht nur eine geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudemerregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie in wechselseitiger Unabhängigkeit und durch Zufall vonstatten gehen
Wunderbar ist die tragische Handlung, wenn sie einem nicht folgerichtig eintretenden Ereignis dennoch den Anschein von Notwendigkeit gibt, Unerwartbarkeit und scheinbare Folgerichtigkeit also für den verwunderten Zuschauer in paradoxer Weise miteinander verknüpft. Wie der Mörder des Mitys von einer zufällig herabstürzenden Statue in Argos erschlagen wurde, so daß der Eindruck einer gerechten Sühne entsteht, so habe das Wunderbare dort Notwendigkeiten und Folgerichtigkeiten einzurichten, wo sie die dramatischen und epischen Ereignisse eigentlich verweigern: Denn auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am wunderbarsten, die sich nach einer Absicht vollzogen zu haben scheinen - wie es bei der Mitys-Statue in Argos der Fall war, die den Mörder des Mitys tötete, indem sie auf ihn stürzte, während er sie betrachtete; solche Dinge scheinen sich ja nicht blindlings zu vollziehen, (ebd.)
Was das mythische Zeitalter allerdings benötigt, ist eine Haltung des Verwunderns, das - wie Manfred Fuhrmann bemerkt hat - als mittleres Vermögen »die kognitiven und die emotionalen Kompetenzen des Rezeptionsvorgangs«, also das »Begreifen der dramatischen Struktur« und die Erregung der »tragischen Affekte« miteinander verknüpft: »Das Wunderbare der Tragödie erzeugt durch den
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Vgl. grundlegend Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1975. bes. S. 270ff. Aristoteles: Poetik. Kap. 6. Aristoteles: Poetik. Kap. 9.
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Zusammenprall von konsequenter Handlungsführung und paradoxer Wende eine Art Schockeffekt, der der Katharsis den Weg bereitet.«376 Gleichwohl ist das Wunderbare trotz seiner weitläufigen Verankerung in der Tragödientheorie primär eine Qualität des Epos, weil es als »Hauptquelle« des »Ungereimten« den Bereich des Wahrscheinlichen stärker auszuschreiten vermag und gerade nicht zeigt, was die Tragödienszene sichtbar machen muß: Man muß zwar auch in den Tragödien dem Wunderbaren Einlaß gewähren. Indes, das Ungereimte, die Hauptquelle des Wunderbaren, paßt besser zum Epos, weil man den Handelnden nicht vor Augen hat. So würden die Begleitumstände der Verfolgung Hektars auf der Bühne lächerlich wirken: die Griechen stehen da und beteiligen sich nicht an der Verfolgung; Achilleus jedoch warnt sie durch Kopfschütteln. Im Epos hingegen bemerkt man solche Dinge nicht." 7
In die Poetik des frühen 18. Jahrhunderts findet die aristotelische Tradition des Wunderbaren nur unter erheblichen Revisionen Eingang. Das Wunderbare ist in Leipzig wie in Zürich einmal mehr Teil einer Nachahmungslehre, die das aristotelische Erbe mit der Leibniz-Wolffschen Metaphysik der »möglichen Welten« vermittelt.378 Als »ein Stücke aus einer andern Welt«379, die ihrerseits als »eine Reihe möglicher Dinge« vorgestellt werden muß, vollzieht die poetische Nachahmung in der Form der »Fabel«, was Gott in einem Akt autonomer und vernunftvoller Dezision aus sich entlassen hat: die Schöpfung einer Welt, die nach dem »bestmöglichen Plan«380 eingerichtet ist, gleichwohl aber immer reflektieren muß, daß »mehr als eine Welt möglich« sei,381 weil eine modale Metaphysik Schöpfungsalternativen immer schon mitreflektiert. Nun hat die Poetik des frühen 18. Jahrhunderts auf diese Lockerung ontologischer Zwänge bezeichnenderweise wieder limitativ reagiert. Was Gottscheds Critische Dichtkunst, auch wenn sie sich ausdrücklich auf die Wolffsche Metaphysik beruft, 382 den Beliebigkeiten poetischer Fiktion entgegenhält, ist die Norm
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Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. a.a.O., S. 35. Aristoteles: Poetik. Kap. 24. Im übrigen bereite das Wunderbare »Vergnügen« (ebd.). 378 Vgl. hierzu Kap. IV, 2 und IV, 3. 379 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. Leipzig 1730. 3., vermehrte Auflage 1742. in: Ausgewählte Werke. Bd. 6. 1. Teil. Hg. von Joachim und Brigitte Birke. Berlin/New York 1973. S. 204. Im Folgenden als CD 1742 unter Angabe der Seitenzahl zitiert. 380 Leibniz: Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison. Monadologie/Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie [1714]. a.a.O., S. 17. 3S ' Wolff: Deutsche Metaphysik [1720/"l751]. a.a.O., S. 345 und 347. 382 Gottsched hat die Wolffsche Philosophie bekanntlich enthusiastisch begrüßt: »Ich lernte [...] Herrn Hofrath Wolfs Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen 377
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einer Wahrscheinlichkeit, die in der poetischen »Fabel« wiederentdeckt, was ihr die Wirklichkeit vorgibt: Daher kommt es denn, daß man auch im Dichten eine Wahrscheinlichkeit beobachten muß, ohne welche eine Fabel, oder was es sonst ist, nur ungereimt und lächerlich sein würde. Ich verstehe nämlich durch die poetische Wahrscheinlichkeit nichts anders als die Ähnlichkeit des Erdichteten mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Übereinstimmung der Fabel mit der Natur. (CD 1742, 255)383 Unklar bleibt, wie die Allianz zwischen dem Paradigma der wahrscheinlichen Handlung und dem Wunderbaren im Rahmen der Critischen
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haupt zu denken ist. »Erlaubt« ist das Wunderbare vor dem Richterstuhl der Critischen Dichtkunst freilich nur, wenn es das Vergnügen am Neuen und Unerwarteten (delectare) an einer funktionalen Sollstelle abgleicht, die seit den Tagen des Horaz prodesse
heißt:
Nun bewundert man nichts Gemeines und Alltägliches, sondern lauter neue, seltsame und ffirtreffliche Sachen. Daher mußten auch die Poeten auf was ungemeines denken, dadurch sie die Leute an sich ziehen, einnehmen und gleichsam bezaubem könnten. Der Grund dieser Bemühung steckt in der menschlichen Neugierigkeit [...]. An sich selbst aber ist dergleichen Mittel, die Leute aufmerksam zu machen, erlaubt: wenn man nur den Endzweck hat, sie bei der Belustigung zu bessern und zu lehren. (CD 1742,226)384 Inhaltlich bleiben die Wunder des Wunderbaren damit freilich noch unspezifisch. Gottsched unterscheidet daher »drei Gattungen« des Wunderbaren: die erste be-
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kennen. Hier gieng mir's nun wie einem, der aus einem wilden Meere widerwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft, und [...] endlich auf ein festes Land zu stehen kommt. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte [...].« Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [21733]. Vorrede S. T . Zu Gottscheds Wolff-Rezeption vgl. Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie: Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966. S. 1-48; Herrmann: Natumachahmung und Einbildungskraft. a.a.O., S. 25Iff.; Grimm: Literatur und Gelehrtentum. a.a.O., S. 626; Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 77. Gottsched unterscheidet nochmals eine »unbedingte« von einer »hypothetischen« Wahrscheinlichkeit. Die »hypothetische« Wahrscheinlichkeit beruht auf einer nur bedingt wahrscheinlichen, aber in sich widerspruchsfreien Handlung. Beispiele sind die »Aesopischen Fabeln« (130), die ihre Ereignisfolge widerspruchsfrei entfalten, auch wenn die gattungstypischen Prämissen (sprechende Tiere, mythische Figuren) prinzipiell unwahrscheinlich sind: »Denn man darf nur die Bedingung zum voraus setzen, daß die Bäume etwa in einer andern Welt Verstand und eine Sprache haben, so geht alles übrige sehr wohl an.« (257) Vgl. Peter Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie. Strukturmerkmale der poietischen Rationalität im Werk von Johann Christoph Gottsched. Frankfurt/M.; Bern 1981. S. 214ff.
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handelt »alles, was von Göttern und Geistern herrühret« (226), die zweite »alles, was von Menschen und ihren Handlungen entsteht« (ebd.), die dritte schließlich, »was von Tieren und andern leblosen Dingen kommt«; verpflichtend ist für alle drei Gattungen, daß sie »nach gewissen Regeln eingerichtet werden, wenn sie nicht kindisch und lächerlich herauskommen sollen.« (ebd.) Bei genauerem Besehen wird allerdings deutlich, daß sich unter den drei »Gattungen« des »Wunderbaren« vertraute Problemlagen verbergen, die Gottsched gegen die Gefahr unwahrscheinlicher Stoffe absichern möchte. So behandelt Gattung (1) in zwei getrennten Durchgängen zunächst die platonische Inspirationstopik, dann nochmals - das Problem der Wahrscheinlichkeit, während Gattung (2) die moraldidaktische Funktion der Dichtung in den Mittelpunkt rückt; Gattung (3) schließlich diskutiert die prekäre Stellung der (äsopischen) Fabel. (1) Auf die »Hülfe der Musen« (231) kann sich der Poet nicht in beliebiger Art und Weise berufen. Gottsched unterstellt den (platonischen) Gedanken der Musenanrufung und der göttlichen Inspiration einer stratifizierten Poetik, die die Zulässigkeit des Topos an der Würde von Stoff, Gattung und Stil bemißt. Da ein »Gedichte« der »Form nach« entweder »groß oder klein, entweder episch oder dramatisch, entweder in erhabener Schreibart abgefaßt oder in einer niedrigen und gemeinen Art des Ausdrucks geschrieben« ist, habe der Poet »wohl in großen, epischen und erhabenen, nicht aber in kleinen, dramatischen und niedrigen Gedichten die Musen an[zu]rufen.« (228) Ähnliches gelte für die verschiedenen Inhalte der Poesie: wirklich beheimatet ist die Musenanrufung nur in den »historischen« Stoffen, da die Musen als »Töchter der Mnemosyne« wesensmäßig mit der »Wissenschaft alter Geschichte« (231) verbunden sind; ganz fremd ist sie dagegen in den »dogmatischen« Stoffen der lehrhaft-religiösen Dichtung (233), während sich die »prophetischen Sachen« (235) an Apollo, den »weissagenden Gott« (ebd.), wenden. Das Verhältnis von wunderbarem Stoff und poetischer Wahrscheinlichkeit wird am Beispiel der einschlägigen »Wunderwerke« (236) der Poesie, also insbesondere hinsichtlich der phantastischen Elemente von Epos und Tragödie (Engel, Teufel, Geister, Ovidsche Metamorphose) abgehandelt. Kriterium für die Zulässigkeit dieser »widersinnischen Dinge« (237) ist ein iudicium, das die prinzipielle Möglichkeit wunderbarer Stoffelemente zum einen an ihrer handlungsbezogenen Notwendigkeit, zum anderen an ihrer Wahrheitsfähigkeit bemißt. Regelverstöße machen sich immer dort bemerkbar, wo das »Wunderbare« »entweder ohne Not, oder nicht mit genügsamer Wahrscheinlichkeit erdacht« (ebd.) wird. 385
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Ausnahmen werden gestattet, wenn ein »allegorischer Verstand« sichtbar wird, der »wunderbar«, aber »nicht ungereimt« (242) ist. Gottsched kann die Allegorie von dem
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(2) Das »Wunderbare, so von den Menschen und ihren Handlungen entsteht« (243), dient zur Konturierung von Tugenden und Lastern, die die critische Poesie auf den Flügeln der Vernunft gewöhnlich der Korrektur empfiehlt. Was das Wunderbare leistet, ist eine Amplifikation der Figuren und ihrer moralischen Dispositionen, die die poetische Fabel »aufs Höchste« bringt, um nachahmungswürdige Tugenden oder - komplementär - abschreckende Laster darstellen zu können. Das Wunderbare erzeugt einen Grad der Sinnfälligkeit, der von allem Gewohnten abweicht und so »Leser und Zuschauer« ohne »alle Beihülfe andrer Seltsamkeiten« (244) einnimmt: Da nun die Poesie das Wunderbare liebet, so beschäftiget sie sich auch nur mit lauter außerordentlichen Leuten, die es entweder im Guten oder Bösen aufs Höchste gebracht. Jene stellt sie als lobwürdige Muster, diese aber als schändliche Ungeheuer zum Abscheue vor. Eine mittelmäßige Tugend rühret die Gemüter nicht sehr. (244)
(3) Die »dritte und letzte Gattung des Wunderbaren« (250) widmet sich der Zulässigkeit von »Tieren und leblosen Dingen« (ebd.), insbesondere dem Auftreten denkender und handelnder Tiere im Rahmen der »Aesopischen Fabeln« (251). Neben das leitende Prinzip der Wahrscheinlichkeit tritt das aufklärerische Argument, die progressive Rationalisierung der Welt habe die Glaubwürdigkeit der einschlägigen Fabelmotive entkräftet (252), so daß ihre Verwendung maßvoll vonstatten zu gehen habe (250). 386 1740 führt der Weg vom reformierten Leipzig in das orthodoxe Zürich. Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Absolventen des hochgelehrten Collegium Carolinum, bemühen sich um einen Anschluß ihrer von calvinistischer Enge und handfesten Zensurverordnungen geprägten Heimatstadt an die poetologischen Zentren der Zeit. 1720 beginnt die enge Kooperation zwischen beiden Autoren, die in einer Reihe gemeinsamer, zunächst den Reformbemühungen Gottscheds nahestehenden Publikationen Niederschlag findet, gegen 1740 allerdings aus den von Leipzig vorgezeichneten Bahnen ausschert. Differenzen
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Verdacht der Unwahrscheinlichkeit befreien, weil sie in einer Bildtradition verankert ist, deren Vertrautheit den Eindruck des »Wunderbaren« kaum mehr erwecken kann. »Man weiß es längst, daß Mars den Krieg, Pallas die Weisheit, Apollo die freien Künste, Venus die Liebe [...] vorstellen.« (243) Eine ausführliche Würdigung der Fabel liefert erst die vierte Auflage der Critischen Dichtkunst [1751]. Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst [1730/"l751]. S. 446., sowie hierzu Alt: Aufklärung. a.a.O., S. 253; Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. a.a.O., S. 42f., und P.M. Mitchell: Aspekte der Fabeltheorie im 18. Jahrhundert vor Lessing. in: Peter Hasubek (Hg.): Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung. Berlin 1982. S. 119-133. S. 126f.
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treten vor allem dort zutage, wo es um die neuartigen Fragen der Einbildungskraft und des Geschmacks, nicht zuletzt um die Beurteilung einzelner poetischer Werke geht, an denen sich der Streit in seiner ganzen Polemik entfalten kann. Eine Opposition gegen die Dogmatik Gottscheds scheint, j e mehr sich die Fronten verhärten, geboren. Seinen eigentlichen Anlaß findet der bereits 1739/40 offen zu Tage tretende Bruch mit dem Leipziger Poetik-Professor - nach einer Phase loser, aber durchaus freundschaftlicher Zusammenarbeit 387 - in den Auseinandersetzungen um John Miltons Epos Paradise
lost (1667), das Johann Jakob Bodmer 1732 nach
zensurbedingten Verzögerungen in einer ersten Prosaübersetzung
vorgelegt
hatte. 388 Gottsched und die Schweizer stehen damit zu Beginn des 18. Jahrhunderts keineswegs isoliert da. Bereits 1712 versammelt Joseph Addison in insgesamt 18 Spectator-Artikeln
eine beeindruckende Milton-Apologie, gegen die sich
in den folgenden Jahren vor allem aus Frankreich Widerspruch regt. 1728 veröffentlicht Voltaire seinen Essai sur la poésie épique, der, ebenso wie die nur ein Jahr später erschienene Dissertation
critique sur le paradis perdue Constantin de
Magnys an der offensichtlichen »absurdité« des Miltonschen Epos Anstoß nimmt. Miltons Werk, so Voltaire, weise weder Geschmack noch Vernunft auf und verletze insbesondere dort, w o Engel wie Soldaten Schwerter kreuzen müssen, die unerschütterlichen Regeln der Wahrscheinlichkeit: La guerre entre le bons et les mauvais anges a paru aussi aux connaisseurs un épisode où le sublime est trop noyé dans l'extravagant [...]. Les critiques les plus judicieux n'ont trouvé dans cet endroit ni goût, ni vraisemblance, ni raison [.. ,].389
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Einen Eindruck hiervon gibt die hauptsächlich von Gottsched und Bodmer getragene Korrespondenz der Jahre 1732 bis 1739. Vgl.: Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger. Nach den Originalen der Zürcher Stadtbibliothek und der Leipziger Universitätsbibliothek herausgegeben von Eugen Wolff, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht. 11. Jahrgang (1897). S. 353-381. Weitere Auflagen folgten 1742, 1754, 1759, 1769 und 1780. Aus dem Briefwechsel mit Gottsched geht hervor, daß Bodmer seine Übersetzung bereits 1724 beendet hatte. Vgl. Briefwechsel. a.a.O., S. 353 [Brief vom 5.2.1732]. Bodmers Übersetzung ist nicht der erste Versuch, das deutsche Publikum mit Miltons Epos vertraut zu machen; bereits 1667 hatte der Milton-Freund Theodor Haak eine handschriftliche Übertragung angefertigt, der 1682 eine Versübersetzung von Ernst Gottlieb von Berge folgte. Vgl. Wolfgang Bender: Nachwort, in: Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Stuttgart 1965. S. 3*-24*. S. 4*. Voltaire: Essai sur la poésie épique [1728]. in: Œuvres complètes. Nouvelle Edition. Vol. 8. Paris 1877. Reprint Nendeln/Liechtenstein 1967. S. 305-363. 358f. Damit stehe Milton im übrigen in einer Reihe mit Homer, Vergil und Tasso.
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Die Kritik argumentiert gesamteuropäisch. Gottsched jedenfalls muß die Argumente Voltaires 1740 lediglich aufnehmen, um seine ablehnende Haltung gegenüber Milton einmal mehr zu begründen. Was dem Deutschen, insbesondere dem deutschen Philosophen nicht schmeckt, wird man ihm, so Gottsched gegenüber Bodmers Klage, Deutschland verweigere Milton die Anerkennung, die ihm zukomme, nicht schmackhaft machen können: Was kann nun das philosophierende Deutschland dafür, daß ihm Milton gleichfalls nicht schmecken will? Es sieht ohne Zweifel auch in diesem Engländer den Lohensteinischen und Zieglerschen Schwulst, die ungeheure Einbildung, die hochtrabenden Ausdrückungen und die unrichtige Urteilskraft herrschen.390 Die zentrale Stellung, die das Wunderbare in der Poetik Bodmers und Breitingers einnimmt, scheint sich damit zunächst nur gewissen Rechtfertigungszwängen zu verdanken, denen sich vor allem der Milton-Übersetzer Bodmer ausgesetzt sieht. Noch die 1740 erschienene Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie ist eine späte Reaktion auf die Aufforderung Gottscheds, Bodmer möge ihm die »Regeln« mitteilen, »nach welchen eine so regellose Einbildungskraft, als des Miltons seine war, entschuldiget werden kann.«391 Bodmer ist der Aufforderung Gottscheds bereits 1738 nachgekommen, ohne daß sich Gottsched in seiner ablehnenden Haltung kompromißbereit gezeigt hätte.392 Bis 1746 setzen die Schweizer noch mehrfach zu einer Apologie Miltons an;393 eine Verständigung mit Gottsched hat sie nicht bewirkt.
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Johann Christoph Gottsched: Rezension über Johann Jacob Bodmers >Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesievon dem Gemüthe des Lesers Meisten machen. Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers. Frankfurt/M., Bern, New York 1986. S. 179ff.
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- poetische - Wirklichkeit vollziehe, komme ihm der Titel eines »Schöpfers« (CD 1740, 60) zu: Ein jedes wohlerfundenes Gedicht ist darum nicht anders anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: Und in dieser Absicht kommt auch dem Dichter alleine der Nähme π ο ι η τ ο ν , eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Wiircklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen des Würcklichen mittheilet. (CD 1740, 57ff.)
Nun hat die Germanistik an diesen Zeilen einen epochalen Bruch entziffert, an dem sie, je nach argumentativem Interesse, die Überwindung der alteuropäischen Nachahmungsdoktrin, die Geburt genialer Subjektivität oder gar eine quasi-realistische Weltzuwendung abzulesen glaubte. So hat Jochen Schmidt im Blick auf Bodmer und Breitinger von einer ersten »Subjektivierung der dichterischen Produktion« gesprochen, die »bis in den Beginn der eigentlichen Genie-Bewegung hinein gewirkt« habe.395 Und Hans-Peter Herrmann glaubte bereits 1970, der entrhetorisierte Nachahmungsbegriff der Schweizer stelle den »entscheidenden Schritt zur neuzeitlichen Auffassung sowohl der Natur wie der Poesie«396 dar: Tatsächlich erhält der Poet [...] an einem genau zu bestimmenden Punkt, nämlich in den Poetik-Discoursen und den weiteren Schriften der Schweizer, zum ersten Mal in Deutschland die Aufgabe, Realität in seine Dichtung zu bringen; nicht mehr um der rhetorischen Wirkung und der allegorischen Repräsentanz willen, sondern wegen dieser Realität selbst. >Natur< ist ein Gegenstandsfeld außersubjektiver, eigner Dignität geworden. (8f.)
Offenbar reichen, und ein Vierteljahrhundert germanistischer Forschung legt dies nahe, gewisse Diskurssignale aus - >Schöpfer< und >SchöpfungPhantasie< und >Schein< etwa - , um Vorverständnisse aufzurufen, die die Alterität des poetologischen Wissens verfehlen müssen. Herrmanns These, die Schweizer wendeten sich der Realität (welcher?) um ihrer »selbst« willen zu, ist angesichts der unübersehbaren religiösen Codierung ihrer Weltkonstruktion ebenso unverständlich, wie die Rede vom genialen Schöpfer-Autor, für dessen - dann freilich eminente - kommunikative Karriere erst das ausdifferenzierte Literatursystem hinreichende Bedingungen bereitstellen werden wird. Eine genauere Lektüre wird demgegenüber registrieren müssen, daß der Nachahmungsbegriff der Schweizer
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Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. 2., durchges. Auflage Darmstadt 1988. S. 53 bzw. 47. Herrmann: Natumachahmung und Einbildungskraft. a.a.O., S. 167f.
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entschieden im Kontext des alteuropäischen Representations- und Imaginationsdenkens verbleibt und seine unübersehbaren Innovationen gerade aus einer Rekombination seiner rhetorischen Parameter - also der einschlägigen Figuren der evidentia, der fantasia, generell aller Figuren der vergegenwärtigenden Anschaulichkeit - gewinnt; dies betrifft in einem denkbar genau kalkulierten Doppelsinn (1) das Verhältnis von Urbild und repräsentierendem Abbild wie die (2) vergegenwärtigende Leistung der Einbildungskraft«. (1) Den Gegenstand aller Nachahmung bilden die »Kräfte der Natur«, deren Elemente und Phänomene der Poet als »Urbilder« (63) verwendet. Dabei besteht zwischen dem »Original« (ebd.) der Nachahmung und seiner »Copie« (ebd.) ein Ähnlichkeitsverhältnis, das auf Seiten des Beobachters eine Unterscheidung zwischen »Urbild« (ebd.) und »Copie« idealerweise unmöglich macht, weil »beyde, das Original und die Copie auf ein gleiches Gemüthe eine gleiche Würckung haben, und einen gleichen Eindruck machen.« (CD 1740, 64) Was Breitinger 1740 über die »Nachahmung der Natur« zu berichten hat, wird eine innovationsverliebte Germanistik Psychologisierung nennen und damit freilich übersehen müssen, daß das »Gemüthe« lediglich registriert und genießt, was ihm ein repräsentationslogisches Nachahmungskonzept vergegenwärtigend und verlebendigend vor Augen und Ohren fuhrt. Wenn das nachgeahmte Objekt und die imitierende Form hinsichtlich ihres »Eindrucks« nicht mehr als Differenz rekonstruiert werden können, dann gewinnt das Abbild die Möglichkeit, das Urbild für den Beobachter als gegenwärtig zu repräsentieren: etwas Abwesendes wird durch etwas anderes, präsentes gegenwärtig gemacht:397 Auf dieser Ähnlichkeit und Übereinstimmung der Nachahmung der Natur beruhet nun einestheils die lebhafte Deutlichkeit der Schildereyen, von welcher die wunderbare Kraft die Phantasie zu rühren entstehet, die uns nöthigt, bey Anschauung einer Schilderey bey uns selbst zu sagen: In Wahrheit ist es eben das, was ich gesehen, was ich gehöret habe; oder was ich mit meinen Augen sehen, mit meinen Ohren hören würde, wenn mir das Original von dieser Sache vor Augen oder zu Ohren käme. Die alten Kunstlehrer haben diese lebhafte Deutlichkeit eben darum ενεσγειαν und Evidentiam genennet [...]. (CD 1740, 66f.)
Daß rhetorische Kenntnisse, auch wenn sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich ihre angestammte Reputation verlieren, keineswegs nur überlebte Attitüden des Gelehrten sind, sondern auch noch um 1740 poetologische Perspektiven
397
Oder in der klassischen Formel des Johannes Micraelius: »Repraesentare, absens quodammodo facere praesens.« Johannes Micraelius: Lexicon Philosophicum Terminorum Philosophis Usitatorum. Stettin 1612. Nachdruck der 2. Auflage. Mit einer Einleitung vom Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1966. Sp. 1216.
Das Wunderbare
353
markieren, zeigt Breitingers Critische Dichtkunst mit aller Entschiedenheit. Was die »alten Kunstlehrer [...] Evidentiam« nennen und als »lebhafte Deutlichkeit« in die eigene Critische Dichtkunst aufgenommen werden kann, macht Breitingers Nachahmungskonzeption auf dem Boden einer Anschaulichkeitspoetik heimisch, die an der Schwelle zur modernen Literatur noch einmal den Kontakt zum alten Wissen der Rhetorik und ihrer repräsentationslogischen Prämissen sucht. Nun kennt die rhetorische Theorie traditionell mehrere Wege zu einer anschaulichen oder vergegenwärtigenden Darstellung.398 Die antike Rhetorik hat vor diesem Hintergrund im wesentlichen zwei Funktionen unterschieden, die als enargeia bzw. energeia zunächst unterschiedliche Sachverhalte bezeichneten, im Verlauf der frühen Neuzeit aber - wie Heinrich F. Plett gezeigt hat399 - zunehmend an Trennschärfe verloren und in dieser korrumpierten Form Anschluß an die poetologischen Reflexionen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gefunden haben. Mit energeia ist zunächst eine ältere, auf die aristotelische Rhetorik zurückfuhrende Tradition des bewegten, affektiv gesteigerten Sprechens gemeint, die alle verbalen Figuren der Wirksamkeit und des In-Erscheinung-Tretens umfaßt, also eine Form sprachlich-figürlicher Simulation bezeichnet, die das Beschriebene in affektgenetischer Weise verlebendigt.400 Mit dem Begriff der enargeia ist dagegen die jüngere, primär auf Quintilian beruhende Tradition der römisch-hellenistischen Rhetorik verbunden, die alle Figuren des durch Sprache vermittelten Vor-Augen-Führens umfaßt und insofern immer schon eine Form repräsentierenden Sprechens meint. In der Institutio oratoria kehrt die enargeia in ihrer lateinischen Variante evidentia daher auch an systematisch ganz verschiedenen Stellen wieder; Quintilian behandelt sie teils im Rahmen des ornatus, teils im Rahmen der narratio oder der perspicuitas, nicht zuletzt auch als Teil der Affektenlehre: Für die Erzählung passend, ihr aber auch mit den übrigen Teilen der Rede ist auch der Vorzug, den Theodektes ihr allein als eigentümlich zugeteilt hat; er will nämlich, die
3,8
Wichtige Hinweise bei Heinrich F. Plett: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance. Tübingen 1975; Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G.Fr. Meier. München 1983. S. 51ff.; Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989. S. 272ff., sowie Andreas Solbach: Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmodeme und ihre antiken Quellen. München 1994. S. 75ff.
399
Vgl. Plett: Rhetorik der Affekte. a.a.O., S. 135 und 184ff. Als Beispiele wählt Aristoteles Ausdrücke wie »dessen Manneskraft in ihrer Blüte steht« oder »Dich wie von Fesseln befreit«. Vgl. Aristoteles: Rhetorik. III, 11.
400
354
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Darlegung soll nicht nur großartig sein, sondern auch reizvoll. Andere fugen den Vorzügen auch die Anschaulichkeit [evidential hinzu, die auf griechisch ενεσγειαν heißt. [...] Doch in einer Rede muß alles nach Möglichkeit in würdiger Form dem Wesen der Person angepaßt sein, Anschaulichkeit ist zwar, wenn ich recht sehe, in der Erzählung ein großer Vorzug, indem etwas Wahres nicht nur ausgesprochen, sondern gewissermaßen vorgeführt zu werden verdient; doch kann man sie zur Deutlichkeit [perspicuitas] rechnen. (IV, 2, ββί) 401 Im Rahmen des ornatus fuhrt die repräsentierende Kraft der evidentia
zu jenem
gesteigerten Verhältnis von Worten und Dingen, die über die Leistung der konventionellen perspicuitas
hinausführt. Die Rede, so die Auskunft Quintilians,
veranschaulicht und verlebendigt einen Sachverhalt, den die Worte nicht nur klar und durchsichtig (perspicuitas)
bezeichnen, sondern unmittelbar vor Augen
stellen: Deshalb wollen wir die ενεσγειαν (Anschaulichkeit) [...] zu den Schmuckmitteln stellen, weil die Veranschaulichung [evidentia] oder, wie andere sagen, Vergegenwärtigung [repraesentatio] mehr ist als die Durchsichtigkeit, weil nämlich die letztere nur den Durchblick gestattet, während die erstere sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt. Eine große Leistung ist es, die Dinge, von denen wir reden, klar [clarus] und so darzustellen, daß es ist, als sähe man sie deutlich vor sich. (VIII, 3, 61)402 Evidentia
(als Teil der enargeia)
und energeia
haben im Laufe ihrer neuzeitli-
chen Rezeption, wie bereits erwähnt, zunehmend an Trennschärfe verloren; 403
401
402
403
Vgl. auch VI, 2, 32: »Daraus ergibt sich die ενεσγειαν [Verdeutlichung], die Cicero >illustratio< [Ins-Licht-Rücken] und evidentia [Anschaulichkeit] nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint, und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen.« Vgl. auch IX, 2, 40, wo die ciceronianische Figur des sub oculos subiecto unter Bezug auf De Oratore III, 53 und Orator 139 Erwähnung findet: »Die Figur nun, die Cicero als Unmittelbar-Vor-Augen-Stellen [sub oculos subiecto] bezeichnet, pflegt dann einzutreten, wenn ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist, vorgeführt wird [...]. [...] Celsus hat auch die Figur selbst >Anschaulichkeit< benannt, bei anderen heißt sie υποτυπωσις [Ausprägung], eine in Worten so ausgeprägte Gestaltung von Vorgängen, daß man eher glaubt, sie zu sehen als zu hören.« Grundsätzlich geht es bei den Figuren der evidentia also um ein Wechseln der Wahrnehmungsmodi. Der Zuhörer ist im Hören gleichsam ganz Auge. Vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997. S. 208-225. Orte dieser Vermischung sind die humanistischen Aristoteles-Kommentare, in denen beide Begriffstraditionen, wohl unterstützt durch die graphematische Ähnlichkeit von energeia und enargeia, verwechselt wurden. Vgl. Plett: Rhetorik der Affekte. a.a.O.,
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355
daß ihnen, wie Rüdiger Campe nachgewiesen hat, grundsätzlich »verschiedene Sprachkonzepte« - ein »ontologisch-dynamisches« auf Seiten der aristotelischen energeia, ein »repräsentationslogisch-statisches«404 auf Seiten der enargeialevidentia - zugrunde liegen, hat die frühe Neuzeit in aller Regel kaum noch zur Kenntnis genommen.405 Mit Breitingers Rückbezug auf die evidentia und ihre Techniken repräsentierender Anschaulichkeit gewinnt die Poetik im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts jedenfalls nochmals Anschluß an ein Nachahmungsdenken, das sich weniger als objektprägnante Kopie, denn als vergegenwärtigende Repräsentation an sich nicht präsenter Objekte versteht. Die »lebhafte Deutlichkeit« (CD 1740, 66) der Naturnachahmung eröffnet einen rhetorisch vermittelten Bereich wahrnehmungsbezogener Imagination, in der das nachahmende Objekt das abwesende Original wieder präsent macht und in einem Maße vergegenwärtigt, daß es auf Seiten des Beobachters eine quasi-optische Unmittelbarkeit gewinnt. Überhaupt entsprechen Vergegenwärtigungsleistungen, die eigentlich Leistungen der Schrift sind, einer aufklärerischen Anthropologie des Sehens, die auch in der textuellen Vermittlung noch ihr Zentralorgan - das Auge - metaphorisch bestätigt.40® Rhetorisch ist Breitingers Nachahmungsbegriff schließlich dort, wo die Repräsentationsleistung der mimesis maßgeblich von ihrer Fähigkeit zur »Rührung« abhängig ist: nur eine Nachahmung, die das »Gemüth« der Menschen in dem gleichen zu »rühren« vermag, wie das (abwesende) Original, ist eine vollkommene Nachahmung: Die Kunst des Poeten und des Mahlers, suchet durch den unschuldigen Betrug der künstlichen Nachahmung eben diejenigen Eindrücke in dem Gemüthe des Menschen zu erwecken, welche es von den gegenwärtigen in der Natur vorkommenden Dingen selbst
404
405
406
S. 184ff. Eine der aristotelischen Tradition noch nahestehende Paraphrase findet Scaliger, der die energeia als »efficacia« bzw. »Wirksamkeit« unter die vier Kardinaltugenden des Dichters rechnet. Die »efficacia« sei die Fähigkeit, den Gegenstand »auf hervorragende Weise darzustellen«. Scaliger: Poetices libri Septem [1561], Buch III, Kap. 24. a.a.O., S. 337. Campe: Affekt und Ausdruck. a.a.O., S. 230. Anm. 22. Vgl. auch ders.: Vor Augen Stellen. a.a.O., S. 213. Harsdörffer etwa beruft sich in den Frauenzimmer Gesprächspielen ohne weitere Einlassungen auf die Figur des sub oculos subiecto\ während der »Geschichtsschreiber« nur »den Verlauf seiner Sachen« erzählt, mische der Poet »allerhand künstliche Umstände« hinzu, »welche die Sachen als gegenwärtig vor Augen stellen.« Vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. 5. Teil [1645]. a.a.O., S. 140. Vgl. Horst Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Bodmer und Breitinger. München 1982.
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empfangen würde; die Kunst der Nachahmung thut mehrers nicht, als daß sie die abwesenden Gegenstände gleichsam herbey bringet und vor Augen stellet. (CD 1740,85)407 (2) Neben der Repräsentation steht im Denken Alteuropas immer schon die Imagination. Auch mit der Imagination ist der Gedanke einer Vergegenwärtigung abwesender oder zeitlich zurückliegender Ereignisse verbunden, die die der Imagination innewohnende Kraft zu einem kohärenten Vorstellungsbild zusammenfügt. Das antike Wissen stellt für diesen Sachverhalt zunächst ausschließlich den Begriff der fantasia
zur Verfügung; in dieser Form findet die Imagination
schließlich auch Eingang in die Rhetorik. 408 Daß sie hier vor allem als Mittel der Affekterregung zum Einsatz gelangt, entspricht einem klassischen rhetorischen Topos: Die Bewegung des Zuhörers, so weiß es Quintilian, setzt zunächst die Eigenerregung des Redners voraus, der sich dazu der fantasia
bedient. Sie verge-
genwärtigt den zu behandelnden Stoff in einer so unmittelbaren Art und Weise, daß der Redner ihn gleichsam vor Augen sieht: Aber wie ist es möglich, sich ergreifen zu lassen? Die Gemütsbewegungen stehen doch nicht in unserer Gewalt! [...] Jeder, der das, was die Griechen (pOCVTOKTlCXl nennen wir könnten >visiones< [Phantasiebilder] dafür sagen - , wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinung gut gefaßt hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein.409 Eine zweite Verwendung des Begriffs zeichnet sich dort ab, wo es - ähnlich wie in der Repräsentationslehre - um die Vergegenwärtigung der Redegegenstände (res) in einem Moment affektiver Erregung geht. Weil sich die fantasia gesteigerten (amplificatici),
einem
gleichsam be-geisterten Moment verdankt, darf die
Imagination des Redners, wie ein autorlos überlieferter Traktat Über das Erhabene weiß, die an sich abwesenden Redeinhalte gleichsam »schauen« und für den Zuhörer vor Augen führen: Femer rufen [...] die Bilder Phantasie auch Erhabenheit, Größe und Energie des Stils hervor - so jedenfalls nenne ich sie; manche sprechen von Bilderzeugung. Denn gewöhnlich heißt Vorstellung jeder aufsteigende Gedanke, der einen sprachlichen Aus-
407
408
409
Vgl. zur Kontinuitität rhetorischer Wirkungsfunktionen in der Poetik der Schweizer Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. in: ZfdPh 99 (1980) Heft 4. S. 481-506. bes. S. 499, sowie ders.: J.J. Bodmer und J.J. Breitinger. a.a.O., S. 94. Zum synonymen Gebrauch von fantasia, Imagination und Einbildungskraft vgl. Thomas G. Rosenmeyer: ΦΑΝΤΑΣΙΑ und Einbildungskraft. Zur Vorgeschichte eines Leitbegriffs der europäischen Ästhetik, in: Poetica 18 (1986). S. 197-248. Quintilian: Institutio oratoria VI, 2, 29.
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357
druck hervorruft; das Wort hat sich aber auch fiir die Fälle eingebürgert, wo man das Gesagte in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint und es den Hörem vor Augen stellt.410 Die eigentliche Wirkungsgeschichte des Erhabenen setzt freilich erst mit den Schriften Boileaus (Traité du sublime, 1674) und Addisons (Essay on the Pleasures of Imagination,
1712) ein, die die wesentlichen Gedanken der Abhandlung an
die Poetik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts vermitteln; 411 ein wirklicher Neuerwerb ist die Schweizer Theorie der >EinbildungskraftOrten< und versammelt sie an einem gemeinsamen Punkt, wo sie sich im Prozeß der Ein-Bildung zu einer wieder kohärenten und >rührenden< Anschauung verbinden: Wenn die Sache, die mir der Poet oder der Mahler vorstellet, der Zeit oder des Ortes halber von mir entfernet ist, so werde ich ihnen verbunden, wenn sie mir dieselbe durch ihre Kunst herbeybringen, daß ich sie als mit meinen Augen betrachten und bewundem kan, dermassen, daß ich ungeachtet der Entfernung des Ortes und der Zeit [...] die Sachen und die Personen vor mir gegenwärtig habe, sie handeln und reden höre, fast auf die Weise, wie mir die äusserlichen Sinnen solche hätten sehen und hören lassen, wenn ich zu derselben Zeit und auf demselben Platz zugegen gewesen wäre. (CD 1740, 112f.)
Die Critische Dichtkunst holt allerdings schnell nach, was die Verankerung der Nachahmung in der überlieferten Repräsentations- und Imaginationslehre versäumt: ein Objekt zu benennen, an dem die »Einbildungskraft« tätig werden kann. Der bevorzugte Gegenstand der poetischen Nachahmung ist das »Neue«, das die »einzige Quelle des Ergezens« bildet: Wenn ich demnach sage, daß das Neue und Ungemeine die einzige Quelle des Ergezens sey, welches die Poesie hervorbringt, so begreiffe ich unter diesem Titel des Neuen alles dasjenige, was nicht durch den täglichen Gebrauch und Umgang bekannt und gewohnt [...] ist; hiemit alles, was selten gefunden wird, was der Zeit oder des Orts halber von unserer Einsicht allzuweit entfernet ist, was mit unsern Begriffen, Sitten und Gewohnheiten nicht übereinstimmet, und eben durch seinen fremden Aufzug die Sinnen kräftig einnimmt, und eine auftnercksame und angenehme Bewunderung in uns verursachet. (CD 1740, 111)
Neuheit ist einmal mehr eine Abweichungsqualität, die als Differenz zum Gewohnten sichtbar wird und auf Seiten des Beobachters eine erstaunende Bewunderung (admiratio) freigibt. Dennoch stellt die vorderhand so innovative Prämierung des »Neuen« eine bezeichnende Kompromißformel dar, weil sie den Neuerungswert der Abweichung in erster Linie als Abweichung innerhalb der sachlichen Ordnung der Dinge (130) und weniger als temporalisierte Differenz ausweist. Solange das »Neue« dem »Ungewohnten, Seltzamen, und Ausserordentlichen« (110) entspricht, bleiben poetologische Neuerungswerte sachliche, wenn auch überraschende Abweichungen innerhalb vertrauter Formen, die Zeit nur insofern benötigen, als formbezogene Abweichungen Zeit eben voraussetzen. 414 Dieser sachliche Innovationsbegriff schließt daher auch eine prinzipielle Vergleichbarkeit und Gradualisierung von Neuheit ein: je höher das Maß an formbe-
414
Vgl. zu diesem genuin alteuropäischen, vor allem in Theologie und Moraltradition verankerten Begriff von Neuheit Kap. V, 1., sowie Luhmann: Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit? a.a.O., S. 58.
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zogener Abweichung, desto größer der Eindruck des »Neuen«. Das Neue, so Breitinger, verfugt über »verschiedene Grade und Staffeln« (129), an deren Ende das Wunderbare als »äusserste Staffel des Neuen« (130) nun seinen systematischen Ort findet: Nach dem Grade dieser Entfernung wächßt und verstärcket sich die Verwunderung, die durch das Gefühl dieser Neuheit in uns entstehet; wenn denn die Entfernung so weit fortgehet, biß eine Vorstellung unsern gewöhnlichen Begriffen, die wir von dem ordentlichen Laufe der Dinge haben, entgegen zu stehen scheinet, so verliehret sie den Nahmen des Neuen und erhält an dessen statt den Nahmen des Wunderbaren. [...] Demnach ist das Wunderbare in der Poesie die äusserste Staffel des Neuen, da die Entfernung von dem Wahren und Möglichen sich in einen Widerspruch zu verwandeln scheinet. Das Neue gehet zwar von dem gewöhnlichen Laufe und der Ordnung der Dinge auch ab, doch entfernet es sich niemahls über die Gräntzen des Wahrscheinlichen [...]. Hingegen leget das Wunderbare den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab, und nimmt einen unbetrüglichen Schein des Falschen und Widersprechenden an sich, es verkleidet die Wahrheit in eine gantz fremde aber durchsichtige Maßke [...]. (129) »Wunderbar« ist die Poesie, wenn »Begriff« (129) und »Vorstellung« (ebd.), die Bezeichnung der Dinge und ihre poetisch erzeugte Imagination, in einem Maße auseinandertreten, daß das Bild mit seinem konventionalisierten Begriff nicht mehr erfaßbar ist. Das Wunderbare entfaltet sich als Einheit einer Differenz: es erzeugt eine beobachtungsbezogene Spannung zwischen poetischer Imagination und Begriff, die als »offenbarer Widerspruch« (131) und »unbetrüglicher Schein der Falschheit« (131) an den Dichter zurückverwiesen werden muß. Weil das »Wunderbare« der disziplinierenden Kontrolle des »Wahrscheinlichen« (133) zugleich entflieht und ihm doch nicht zu entgehen vermag, darf die Dichtkunst
Critische
ihren gelehrten Beobachtern eine Poetik des »Scheins« (131) zumu-
ten, die den Bruch mit den »gewöhnlichen Begriffen von dem Wesen der Dinge« (130) nur »dem ersten Anscheine nach« vollzieht, letztlich aber bleibt, was sie jenseits ihrer »wunderbaren« Hülle ist: ein »vermummetes Wahrscheinliches« (312): Ich begreiffe demnach unter dem Nahmen des Wunderbaren alles, was von einem andern widerwärtigen Bildniß oder vor wahr angenommenen Satze ausgeschlossen wird; was uns, dem ersten Anscheine nach, unsren gewöhnlichen Begriffen von dem Wesen der Dinge [...] zu bestreiten düncket. Folglich hat das Wunderbare für den Verstand immer einen Schein der Falschheit; weil es mit den angenommenen Sätzen desselben in einem offenen Widerspruch zu stehen scheint: Allein dieses ist nur ein Schein, und zwar ein unbetrüglicher Schein der Falschheit; das Wunderbare muß immer auf die würckliche oder die mögliche Wahrheit gegründet seyn [...]. (130f.) Ich verstehe durch das Wahrscheinliche in der Poesie alles, was nicht von einem andern widerwärtigen Begriff, oder für wahr angenommenen Satze ausgeschlossen wird [...]; hiemit alles, was in gewissen Umständen und unter gewissen Bedingungen [...] möglich ist, und keinen Widerspruch in sich hat. (134)
360
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Wo das »Wunderbare« am Paradigma des »Wahrscheinlichen« beruhigt wird, können Innovation und Anschlußfahigkeit reproduktionstauglich miteinander kombiniert werden. Die Engführung von »Wunderbarem« und »Wahrscheinlichem« löst das Problem von gesteigerter Innovation und Fortsetzbarkeit dadurch, daß es Beliebigkeiten und nicht anschlußfähige Variationen im Bereich formbezogener Abweichungen durch die Anbindung an das Kriterium der Wahrscheinlichkeit limitiert, das seinerseits auf der Ebene der Formwahlen für hinreichende Redundanz und Wiedererkennbarkeit sorgt. Nun muß das Wunderbare seine Legitimität gerade dort erweisen, wo eine Critische Dichtkunst 1730 die Gefahren und Beliebigkeiten einer »regellosen Einbildungskraft« (Gottsched) besonders schonungslos nachgewiesen hatte: in jener »unsichtbaren Welt der Geister« (157), an der die gelehrte Republik schon vor Gottsched Anstoß nahm. Und weil noch ein Jahrzehnt nach Gottscheds Critischer Dichtkunst auch aus Zürich Ansprüche an eine kritische Poetologie angemeldet werden, erweist Johann Jakob Bodmer 1740 in einer selbstverständlich ebenfalls Critischen Abhandlung, was das Wunderbare in der Poesie sei. Gleichwohl: Bodmers Abhandlung startet mit einer Prämisse, die in entscheidenden Aspekten mit der rationalistischen Poetik Leipzigs bricht. Da das »Wunderbare«, so Bodmer, seine »Materie« vorzugsweise »aus der unsichtbaren Welt« 415 bezieht, habe die Vernunft nur bedingt Heimatrecht in der Poesie. Das »Wunderbare« operiere auf dem Boden einer geoffenbarten Theologie, deren Schöpfungstatsachen nur der Evidenz des Glaubens, nicht aber den bescheidenen »Kräfften« der Vernunft zugänglich sind: Die Wercke des Höchsten sind alleine unsrer Betrachtung und Bewunderung, aber nicht unsrem richterlichen Ausspruch unterworffen. Eine solche vernünftige Betrachtung ist alleine beflissen die Spuhren der Kraft und der Weisheit des Unendlichen in dessen Werken einzusehen, und dadurch sie selbst zu seinem Lob, als der Absicht der Erschaffung, aufzumuntern. (W 1740, 6) Von dieser Art sind die Wercke Gottes insgesamt, unsere Kräffte fallen in der Erkenntnis derselben unendlich zu kurz. (5)
Wenn die »göttlichen Dinge« (11) auch prinzipiell unzugänglich sind, so verfügt die immanente Stufenfolge der menschlichen Erkenntnis doch über eine »erhabene« Position, die die sich entziehende Transzendenz für einen Moment öffnet. Bodmer denkt die immanente Struktur der Welt mit den alteuropäischen Reflexionsgewohnheiten einer »hierarchisierten Kosmologie« 416 als Rangfolge zuneh-
415
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Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Zürich 1740. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966. S. 3. Im Folgenden als W 1740 unter Angabe der Seitenzahl zitiert. Niklas Luhmann: Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspek-
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361
mender Komplexion und Intelligibilität, die in einer stufenförmig organisierten Kontiguität menschlicher Erkenntnisvermögen von den »groben Sinnen« (9) bis zu einem tendenziell entkörperlichten, >erhabenen< Blick fuhrt. Diese Erhabenheit des Blicks habe nun Miltons Paradise
lost auf wahrhaft wunderbare Weise
realisiert; sein Schöpfer stehe daher in der Stufenfolge des Erkennens unmittelbar unter denjenigen Wesen, »die zuerst vom Cörper frey sind« (11): Man gebe auf die unermeßliche Verschiedenheit der Grade Achtung, nach welchen sich die Individua des menschlichen Geschlechtes sowohl in Ansehung des Verstandes als ihrer übrigen Gemüthes=Gaben voneinander entfernen. Die unterste Stafel von dieser Leiter setzet die Menschen bis zu den Thieren hinunter [...], von da erhebet sich die Leiter nach und nach [...], bis zu derjenigen, die auf der Spitze der Leiter stehet, und mit denen Wesen, von dem höhern Rang, der auf die Menschen folget, am nächsten gränzet. (9) Ich meine mich keines hyperbolischen Verbrechens schuldig zu machen, wenn ich Milton in den Rang dieser sonderbaren Menschen setze, welche auf der Leiter der Wesen zu oberst unter den Menschen stehen, und gleich über sich diejenigen Geister haben, die zuerst vom Cörper frey sind. (lOf.) Bodmers Milton-Apologie ist Teil und Triumph einer alteuropäischen Ontologie, die die teleologisch auf Gott hingeordnete Hierarchie der Wesen und Gattungen nutzt, um das »Wunderbare« gegen seine rationalistischen Verdächtigungen zu legitimieren. 417 Was der Gottsched'sehe Rationalismus Bodmer vorhalten kann: die Unmöglichkeit, eine transzendente Welt mit den Mitteln eines nachahmenden und »wahrscheinlichen« Textes erfassen zu wollen, bricht sich an einem theoontologischen Horizont, der das »Wunderbare« als Teil einer Kontiguität der »würcklichen Wesen« (15) - Engel, Teufel und Geister etwa - nun auch und gerade der Literatur anvertrauen kann. 418 Damit gewinnt die Schweizer Poetik des Wunderbaren thematische bzw. mediale Spielräume, die Gottscheds Dichtkunst
Critische
aufgrund ihrer rationalistischen Nachahmungskonzeption noch unter
das Verdikt der Unwahrscheinlichkeit stellen mußte:
417
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tive. in: Gesellschaftsstruktur und Semantik 2. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1981. S. 9-44. S. 17. Auf die Unverzichtbarkeit dieses ontologischen Rahmens hatte Reinhart Meyer bereits 1980 in einer wegweisenden, in der Forschung allerdings weitgehend folgenlos gebliebenen Studie hingewiesen. »Der Grad des Wunderbaren«, so Meyer, »[...] ist abhängig vom >Rang< des behandelten Gegenstandes. Dieser Rang ergibt sich aus dem Ort, den ein Wesen in der >Kette des Seins< einnimmt, aus der Nähe bzw. Ferne zu Gott [...].« Meyer: Restaurative Innovation. a.a.O., S. 68f. Vgl. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. a.a.O., S. 176ff. Im übrigen garantiert die Autorität der heiligen Schrift Glaubwürdigkeit: »Was für glaubwürdigere Zeugnisse will man für die Existenz Raphaels, Michaels, Gabriels, Satans, der Engel und der Teufel fo[r]dern, als der göttlichen Scribenten, die uns davon Nachricht gegeben haben?« (41)
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Alleine Miltons Gedicht ist nicht in diesem Fall begriffen, die Engel sind würckliche Wesen, welche in der Natur sind, zwar über die Natur des Menschen erhaben, doch nicht so weit, daß man den erhabensten Geistern unter ihnen alle Fähigkeiten absprechen könne, auf einen gewissen Grad der Wissenschaft von dem Stand der Engel zu steigen, und von ihrer Natur, Gesetzen und Verfassungen etwas zu erkennen. [...] Aus dieser Gleichheit können wir schon verschiedenes von den Tugenden der Engel herholen; wenn wir nemlich den vollkommenen Begriff, den wir uns von dem menschlichen Geist vorstellen können, noch mehr erheben [...]; wir bekommen auf diese Weise Begriffe von ihrer Unsichtbarkeit, Unsterblichkeit, Zartheit, Behendigkeit, Scharffsinnigkeit. (15f.)
Die vielzitierte >Progressivität< der Schweizer Poetik resultiert einzig aus einer gegenüber Gottsched veränderten, theo-ontologischen Weltkonstruktion, die Spielräume dort schafft, wo die »Logick der Vernunft« limitativ wirkt. Noch 1746 wird eine Reihe von Critischen Briefen betonen, daß eine zu rigide Handhabung der Wahrscheinlichkeit »dem Gebiete der Poesie allzu enge Gränzen setzt.« 419 Von einem Bruch mit der poetologischen Tradition kann dennoch nicht gesprochen werden, weil beides: das kritische Paradigma Gottscheds wie das >offenbarungstheologische< Paradigma Bodmers und Breitingers an der Schwelle zur Ausdifferenzierung modemer Literatur von literaturextemen Codierungen durchgearbeitet wird, die eine eigendirigierte Weltkonstruktion, und das heißt: eine religiös oder rationalistisch entlastete Fiktion noch nicht zulassen. Weil das »Wunderbare« Wesenheiten der »unsichtbaren Welt« und körperlose Körper zur Anschauung bringen möchte, ist es die »Phantasie« (32), die die transzendenten Wesen nach Maßgabe ihrer ontologisch garantierten Möglichkeit vergegenwärtigt und ver-körperlicht. »Der Poet«, so Bodmer über Milton, »hat diese unsichtbaren Wesen mit Cörpern und Gestalten versehen, welche in die Sinne fallen [...].« (20) Ihre »Schöpfung« (32) bildet auch bei Bodmer eine religiös angeleitete Repräsentationsleistung, die etwas nicht Präsentes als prinzipiell Mögliches in die »Würcklichkeit« (ebd.) des Textes transformiert und an der Evidenz ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit begründet. »Wahrscheinlich« ist das »Wunderbare« daher auch weniger in seiner prinzipiellen Wirklichkeitsäquivalenz, als in der Unhintergehbarkeit jenes neuartigen »Zeugnisses«, das die sensualistische Poetik an den »Sinnen« abliest und als das »poetisch Wahre« gegen das »Wahre des Verstandes« (47) in die Umwelt literarischer Kommunikation abdrängt: Denn da die Sichtbarkeit für die Natur der Engel etwas ganz fremdes ist, so ist die Operation des Poeten, der sie in sichtbare Körper einkleidet, eben dieselbe, nach welcher Dinge, die alleine möglich sind, aus diesem Stand in den Stand der Würcklichkeit hinübergebracht werden. [...] (32) Der Poet bekümmert sich nicht um das Wahre des Ver-
419
Bodmer/Breitinger: Critische Briefe [1746]. a.a.O., S. 132.
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standes; da es ihm nur um die Besiegung der Phantasie zu thun ist, hat er genug an dem Wahrscheinlichen, dieses ist Wahrheit unter vorausgesetzten Bedingungen, es ist wahres, so fern als die Sinnen und die Phantasie wahrhaft sind, es ist auf das Zeugnis derselben gebaut. [...] Demnach ist dieses poetische Wahre nicht ohne gewisse Vernunft und Ordnung; es hat für die Phantasie und die Sinne seinen zureichenden Grund, es hat keinen Widerspruch in sich, ein Stück davon gründet sich in dem andern. (47)
So konstatiert es Bodmer in einer Kontroverse, die gegen 1800 keine mehr sein wird, weil eine moderne Literatur den Streit um das Wunderbare der Suggestion enthebt, normativ ausgehandelt werden zu müssen. Über das Schicksal des Wunderbaren wird schließlich allein eine literarische Kommunikation entscheiden, die divergierende Beobachtungskriterien auf einer Programmebene anordnet.
10. Involution, Evolution, Rekombination Wenn es in der Logik moderner literarischer Kommunikation liegt, Redundanzen zu vermeiden, dann gilt dies für wissenschaftliche Kommunikation nur mit Einschränkungen. Wissenschaft benötigt vielmehr beides: sie muß ihre Erkenntnisgewinne als Effekte jener Unruhe fassen, die in der Serie von immer neuen Erkenntnisrevisionen >wahrereTradition< progressiv zu lösen beginnt, wie also das an sich involutive Niveau der poetologischen Semantik im Verlauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts allmählich strukturelle Bedingungen für Innovationen und Variationen des überlieferten semantischen Materials bereitstellen kann, ohne daß Teildifferenzierungen dieser Art bereits zur vollständigen Ausdifferenzierung des modernen Literatursystems führen. Gefordert ist eine Theorielage, die die veränderte Ökonomie, d.h. die steigende Innovationswahrscheinlichkeit innerhalb einer zunächst evolutionär »kalten« (Lévi-Strauss) semantischen Formation plausibel beschreibt, ohne in kausale oder teleologische Argumentationstypen zurückzugleiten. Zudem wird man den Beobachtungsrahmen so einstellen müssen, daß die bereits im 17. Jahrhundert einsetzenden Differenzierungssyndrome in ihrer semantischen und temporalen Weitläufigkeit dezidiert außerhalb kurzschlüssiger Ereignismodelle lokalisiert werden können. Genetische Fragestellungen dieser Art erfordern damit einen >passenden< evolutionären Mechanismus, der, so die
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These, über die Fähigkeit zur semantischen Rekombination verfügen muß. Zuvor aber sei in wenigen Zügen nochmals das Bezugsproblem umrissen, auf das eine rekombinativ aufbereitete Semantik im 17. und frühen 18. Jahrhundert überhaupt zu reagieren beginnt. Semantische Innovationen und Variationen sind vor dem Hintergrund der alteuropäischen Poetik und ihrer normativen Rückkopplung an >Tradition< - wie gesehen - evolutionär unwahrscheinlich. Das poetologische Wissen versteht sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert immer als Teil eines Überlieferungszusammenhangs, der durch laufende Rekursionen auf zeitlich vorausliegende, aber prinzipiell aktualisierbare Normen und Muster des Schreibens geschlossen und aufrechterhalten wird. Dieser involutive Selektionstyp weist ein evolutionäres Niveau aus, das einmal vollzogene Selektionen unter Ausscheidung von Variationsanlässen auf kanonische Anschlußfähigkeit hin präpariert und als verpflichtende Einpassungskontexte für - ohnehin limitierte - Folgeselektionen verwendet. 420 Involution beruht auf einer noch nicht vollständig durchgearbeiteten Trennbewegung zwischen den evolutionären Mechanismen Variation, Selektion und Stabilisierung und ist insofern kennzeichnend für die interne Organisation einer Semantik, die ihre potentiell >offene< und auf sich selbst reagierende Selektivität an den Einpassungs- und Kompatibilitätszwängen vertrauter und als >gültig< überlieferter Strukturwahlen abgleicht; Variationen sind vor diesem Hintergrund nur als Diversifikation, Modifikation oder verfeinernde Ausschreibungen denkbar, die zudem immer den Zusammenhang - ihre >Konnektivität< mit dem überlieferten semantischen Typenschatz wahren müssen. Bezeichnenderweise sind involutive semantische Formationen dieser Art auch außerhalb des engeren Bereichs evolutionstheoretischer Überlegungen beobachtet worden; Jan Assmann hat im Blick auf die noch mnemotechnisch organisierten Wissenshaushalte früher Hochkulturen von »Hypolepse« 421 gesprochen und damit eine »Diskursorganisation« (282) bezeichnet, in der die »Bezugnahme auf Texte der Vergangenheit in der Form einer kontrollierten Variation« (281) strukturiert wird. Insgesamt bilden involutive bzw. hypoleptische Organisationsformen eine langwährende, gleichwohl ausschließlich an die medientechnischen Möglichkeiten vormoderner Hochkulturen gebundene semantische Kohärenz, deren eminente soziokulturelle Funktion einem Gedächtnis vergleichbar ist, das den Bestand an bewahrenswertem sozialen Sinn zeitresistent speichert und zu Zwecken seiner Re-Aktualisierung verfugbar macht. Auch das poetologische Denken Alteuropas
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Vgl. die eher randständigen Bemerkungen Luhmanns zum Begriff der Involution: Interaktion in Oberschichten. a.a.O., S. 87f. und 97. Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. a.a.O., S. 281.
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trägt eine solche memorative Ökonomie, weil es alle Schriftbewegungen als Fortund Ausschreiben eines normativ, also regelhaft integrierten Überlieferungszusammenhangs versteht, der seine Legitimität und Aktualität aus einer prinzipiell bewahrenswerten Vergangenheit (Antike) bezieht. 422 Schematisch lassen sich im wesentlichen fünf redundante Kennzeichen dieses poetologischen >Gedächtnisses< herausstellen: 1. Totalität. Die Poetik Alteuropas versteht sich als Raum eines vollständigen und prinzipiell nicht erweiterbaren Kanons an Schreibregeln. Supplemente dieses Normenkanons sind allein auf der Ebene von Texten denkbar, die immer als Transformation oder Manifestation der sie strukturierenden Regeln beobachtbar sein müssen. Während auf der Ebene der poetologischen Dogmatik Vollständigkeit besteht, bilden Texte (Tragödien, Komödien etc.) einen potentiell infiniten Raum an regelbezogenen Transformationen. 2. Inklusion/Exklusion. Der Kanon des bewahrenswerten Literaturwissens benötigt einen kriteriell gesteuerten Mechanismus, der die Differenz von Einschluß und Ausschluß (des Wissens) handhabt. Solche Kriterien sind Paradigmatizität (bzw. Exemplarizität) und Normativität. Mit Paradigmatizität werden Ansprüche an die prinzipielle Wieder- und Weiterverwendbarkeit von Kommunikationen gestellt; dies betrifft etwa das Ausschreiben und die produktive Transformation musterhafter Texte im Prozeß der imitatio oder die Einpaßbarkeit >fremder< Textsegmente, die den Kompilationsformen des 17. Jahrhunderts (Schatzkammern, Aeraría poetica) als textuelle Zirkulationsorte entnommen werden können. Mit Normativität sind Vorgaben im Bereich prinzipieller Regelhaftigkeit gemeint; hier lassen sich m.E. auch schwach strukturierte Hinweise auf eine code-analoge Unterscheidungsleistung ausmachen, an der sich die poetologische Kommunikation bis ins frühe 18. Jahrhundert orientieren kann. Normativität bedeutet, daß Entscheidungs- und Selektionsschritte kriteriell abgestützt und als fortsetzungsfähige Strukturwahlen angeordnet werden können. Dies leistet vermutlich die Unterscheidung >regelgerecht< / >nicht-regelgerechtliteraturgeschichtlichen< Ortes und nach Maßgabe ihrer prinzipiellen Vergleichbarkeit zur Anordnung bringt. Literatur bildet eine Technologie für das überhistorische Fort- und Ausschreiben eines homogenen, Antike und barocke Gegenwart integrierenden Überlieferungszusammenhangs. 4. Schriftlichkeit. Die Gedächtnisfunktion der alteuropäischen Poetik beruht auf einer spezifischen Technologisierung von Schrift und Druck, nutzt also - gegen die von Luhmann wiederholt herausgestellten Variationsmöglichkeiten schriftund druckbasierter Kommunikation 424 - ein spezifisches Medienprogramm, das das überlieferte und merk-würdige Wissen stabilisiert und kanonisiert. Vor allem der Buchdruck ermöglicht textuelle Rückbezüge und Präsenzen, wie sie für das imitatio-Konzept erforderlich sind, indem er das Bewahrenswerte und Merkwürdige der Gesellschaft speichert und zur Nachahmung zur Verfugung stellt. Generell sind Schrift und Druck im 17. Jahrhundert insofern von einer medientheoretischen Substitution betroffen, als die im Prozeß der Verschriftlichung aller sozialen Kommunikation marginalisierte memoria in das Innere der Schrift verlegt wird; Schrift und Druck sind immer schon Medialisierungen von Erinnerungsund Gedächtnisfunktionen. Damit bildet das poetologische Paradigma ein >Archiv< oder >DepotAusscherungen< aber komplementär unberücksichtigt lassen kann. 425
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Damit sind die Bedingungen für einen Code, insbesondere was seine Reversibilität betrifft, nur unzureichend erfüllt. Der Positivwert bildet einen verpflichtenden Präferenzwert, während der Negativwert nur als Vermeidungswert, nicht aber als eigenständiges Selektionsziel vorkommt. Insgesamt wird man diese rudimentäre Codestruktur als Hinweis auf die noch unvollständige Ausdifferenzierung der alteuropäischen Kommunikationshorizonte werten müssen. Vgl. zu Fragen der Codierung Luhmann: distinctions DirectricesRäumebegangen< und >beliehen< werden können. 426 Nun scheint die Gedächtnisfünktion der alteuropäischen Poetik im Verlauf des 18. Jahrhunderts in dem Maße verloren zu gehen, wie das moderne Literatursystem die Möglichkeiten einer auf sich selbst reagierenden Formenevolution zu nutzen beginnt. Autonomie bedeutet nun, die eigene Reproduktion zu temporalisieren und sich insofern vor den Zwang einer nur noch selbsterzeugten Anschließbarkeit der Kommunikationen zu stellen. 427 Von systemtheoretischer Seite ist dieser um 1750 durchgreifende evolutionäre take off mitsamt seinen Folgeproblemen - man denke an die Originalitäts- und Innovationszwänge literarischer Kommunikation, aber auch an ihr komplementäres >AlternEmergenz< allerdings eigentümlich kontext- und voraussetzungslosen Ereignisses erzählbar wurde, dessen Prämissen zwar als historisch trennscharf lokalisierbare, aber evolutionär weitgehend isolierte Fakten in den Blick gerieten. Berücksichtigt man dagegen den so anders gearteten evolutionären Typ >PoetikWärmetod< des Kunstsystems veranlaßt hat. Vgl. Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. a.a.O. S. 652 und Die Kunst der Gesellschaft. a.a.O., S. 393ff. Vgl. nur Werber: Literatur als System. a.a.O.
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tualisieren. 430 Wenn die Prämissen für die Emergenz literarischer Kommunikation im ausgehenden 18. Jahrhundert also in diesem Sinne an das progressive >Vergessen< der alten poetologischen Paradigmen gekoppelt sind, dann bleibt zu klären, welcher evolutionäre Mechanismus Transformationen dieser Art überhaupt wahrscheinlich werden läßt. Die Frage lautet: Wie ist der Umbau von semantischer Involution auf semantische Innovation mit evolutionstheoretischen Mitteln rekonstruierbar? Ein erster, allerdings nur vorläufiger Lösungsversuch könnte auf die strukturelle Spezifik von Semantik selbst verweisen. Semantik ist als »höherstufig generalisierter, relativ situationsunabhängig verfügbarer Sinn« 431 per definitionem Sinn-förmig und damit ein selbstselektiver Prozeß, der aktuell realisierte Selektionen unter mitlaufendem Verweis auf andere, appräsentierte Möglichkeiten ständig de-aktualisiert. Der instabile Aktualitätskern von Semantik zwingt gleichsam zu einem Selektionsdruck, der Variationen und Innovationen des semantischen Materials scheinbar »natürlich« erzeugt und prozessiert: Aller Sinn präsentiert deshalb Wirkliches durchsetzt mit anderen Möglichkeiten und setzt damit das Verhalten unter Selektionsdruck, weil von diesem appräsentierten Möglichkeitsüberschuß nur die eine oder die andere Eventualität aktuell realisiert, thematisch intendiert, handlungsmäßig nachvollzogen werden kann. (18) Die Differenz von Aktualität und Möglichkeit erlaubt mithin eine zeitlich versetzte Handhabung und damit ein Prozessieren der jeweiligen Aktualität entlang von Möglichkeitsanzeigen. Sinn ist somit die Einheit von Aktualisierung und Virtualisierung, von Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung als ein sich selbst propellierender [...] Prozeß.432
Der Verweis auf die interne Selektivität von Semantik läuft bei genauerer Prüfung allerdings nur den Begründungs- und Erklärungsschleifen eines epigenetischen Prozesses auf, der prinzipiell zwar über die Möglichkeit zur Selektion von Varianten verfügt, der aber die Anlässe und Bedingungen für Innovationen weder selbständig rekonstruieren noch erzeugen kann. Die Selbstselektivität des semantischen Apparats erfaßt nicht, wann und wie es zu Evolutionsbewegungen, also zu selektierten Varianten innerhalb der Semantik kommt; Aussagen über die historische Konditionierung von Innovations- und Variationsanlässen können auf der Ebene der Beobachtung von Semantik mithin nicht getroffen werden. Gesucht ist insofern weiterhin ein evolutionärer Mechanismus, der die Vermittlung
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Von hier aus wäre versuchsweise eine Literaturgeschichte denkbar, die einmal nicht Innovationen, sondern das Vergessen und Zu-Ende-Kommen eines inaktuell werdenden Literaturwissens rekonstruierte. Vgl. für eine Kulturgeschichte des Vergessens Weinrich: Lethe. a.a.O. Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. a.a.O., S. 19. Luhmann: Soziale Systeme. a.a.O., S. 100.
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von identischer Reproduktion (Involution) und variationsbezogener Selektion (Innovation) hinreichend, zumindest phasenweise wahrscheinlich werden läßt. Die Lösung scheint in einem Verfahren zu liegen, das - wie bereits angedeutet versuchsweise als Rekombination bezeichnet werden kann und einen spezifisch alteuropäischen Umgang mit Texten, überliefertem Wissen und semantischem Material - vor allem der antiken Poetik und Rhetorik - umfaßt. Im Kern kann mit >Rekombination< der redundante Prozeß der laufenden Lektüre, Kommentierung, Exegese und Interpretation des überlieferten Literaturwissens bezeichnet werden; rekombinativ ist dieser Prozeß, weil die kommentierende Lektüre und das imitatorische Nach- und Fortschreiben der überlieferten poetologischen Paradigmen spontane und zufallige Kombinationen, Synthesen, Kontaminationen und >Verklebungen< des semantischen Materials erzeugen, die unter Umständen als bislang nicht selektierte Freiräume oder Innovationen rekonstruiert werden können.433 Entscheidend ist vor diesem Hintergrund, daß Innovationen innerhalb der rekombinativ aufbereiteten Semantik grundsätzlich »nutzbare Zufalle«,434 also Effekte eines kontingenten und nicht-intentionalen Prozesses der Kombination von poetologischen Paradigmen, Traditionen und Konzepten bilden, ohne daß Neuerungswerte immer und gleichsam >natürlich< miterzeugt werden würden. Auch rekombinative Verfahren müssen mit der prinzipiellen Möglichkeit rechnen, daß zufällig erzeugte Variationen unbeobachtet bleiben und insofern nur als kurzfristige Einmal-Strukturen vergehen 435 Im Detail wird man daher unterschiedliche Typen von rekombinativen Lektüren unterscheiden können, wobei ihre Trennschärfe ebenso wie ihr poetologischer Neuerungswert von Fall zu Fall selbstverständlich schwankt: 1. Generell umfaßt Rekombination alle Formen der Kombination und Synthetisierung von poetologischen Traditionen und Theoriebeständen. So kennt schon die Poetik der Renaissance überraschende Variationen im Bereich traditioneller poetologischer Funktionsbestimmungen, die durch die Zusammenführung oder
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Es geht damit um eine Form der Wiedereinspeisung von Selektionen in die Evolution. Voraussetzung ist allerdings die Textformigkeit des poetologischen Materials. Insofern handelt es sich um »gepflegte«, also bewahrenswerte Semantik. Vgl. Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. a.a.O., S. 19. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft 1. a.a.O., S. 417. Die Entscheidungslast, welche rekombinativ erzeugten Variationen als tradierfahige Neuerungswerte stabilisiert werden, wird insofern nicht auf der Ebene der Rekombination, die lediglich Ermöglichungsbedingungen für Innovationen bereitstellt, getragen. Aussagen über das >Wann< und das >Warum< der Selektion von Variationen müssen an eine Analyse jener Kontexte bzw. >Milieus< weitervermittelt werden, die über einen entsprechenden Innovationsbedarf bzw. über besonders anschlußfähige Einpassungskontexte für Neuerungswerte verfügen.
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Kontamination an sich getrennter, etwa aristotelischer {mimesis) und horazischer (prodesse, delectare) Reflexionsmotive entstehen. 2. Rekombinationen beruhen auf allen Formen kontextbezogener Transformation; dies betrifft in erster Linie begriffliche und systematische Transfers zwischen Rhetorik und Poetik. Das Beispiel Zierlichkeit etwa zeigt, wie einzelne Kategorien aus ihrem originären rhetorischen Kontext gelöst und progressiv an die Bedürfhisse poetologischer Stilbeobachtungen angepaßt werden, um in einem nochmaligen, allerdings kurzfristigen Transformationsschub eine Anschließbarkeit an die neuartigen Reflexionsformeln der philosophischen Ästhetik zu ermöglichen. 3. Mit Rekombination sind alle Formen kontextprägnanter Um- und Neuinterpretationen erfaßbar. Dies betrifft vor allem rhetorische Funktionen, die in der Folge ihrer zumeist abrupt einsetzenden poetologischen Beobachtung exklusiv als Abweichungs- und Innovationsformeln Verwendung finden. Paradigmatisch ist dies an der Theorie des scharfsinnigen Stils und ihrer Leitfigur der acutezza beobachtbar, die ihre kontextuelle Verankerung in der aristotelischen Stiltradition zugunsten einer im 17. Jahrhundert neuartigen und genuin poetologischen Theorie der >Entlegenheit< verliert. 4. Als Rekombination müssen alle Formen progressiver Spezifikation verstanden werden, wie sie etwa am Beispiel der in Deutschland verspätet einsetzenden Geschmacks-Diskussion nachweisbar ist. Geschmack erweist sich als Poetologisierung einer nur allgemeinen, zunächst in rhetorischen Kontexten (aptum), später in primär konversations- und interaktionsbezogenen Theoriehorizonten (Gracián) beheimateten Kategorie, die auf dem Boden der Poetik schließlich zu einer versuchsförmigen Ausdifferenzierung literaturspezifischer Beobachtungskriterien fuhrt. 5. Rekombination umfaßt alle Formen überlieferungs- und rezeptionsgeschichtlich bedingter Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und Auslegungsspielräume. Als paradigmatisch darf etwa Lessings Aristoteles-Rezeption gelten, die die primär psychohygienische Bestimmung der dramatischen Wirkungsintention - der katharsis - und ihrer Affekte (eleos, phobos) in zeittypischer Weise einer ethischen Codierung unterstellt und »Reinigung« insofern als »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten« (miß-)verstehen kann.436 Offenbar
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Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie [1769]. Hg. von Kurt Wölfel. Frankfurt/M. 1986. S. 371. [Achtundsiebzigstes Stück. Den 29. Januar 1768], Aus der reichhaltigen Forschungsliteratur vgl. nur Helmut Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik, in: Hermes 84 (1956). S. 12-48; Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? in ders.: Hellas und Hesperien. Bd. 1. Zürich 21970. S. 194-236; Dieter Borchmeyer: Corneille, Lessing
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verfügen gerade interpretationsbezogene Unbestimmtheitslagen, wie sie an Lessings Aristoteles-Rezeption mitsamt ihrer nachfolgenden Mitleidspoetik beobachtbar sind, in besonderem Maße über evolutionäre Reproduktionschancen. 6. Nicht zuletzt neigen rekombinative Mechanismen dazu, den Horizont dessen, was als >Tradition< die Summe des überlieferten Literaturwissens verwaltet, in grundlegender Weise zu rekonstruieren. Solange die poetologische Semantik nach involutiven Gesichtspunkten organisiert ist, hat >Tradition< die Aufgabe, Komplexität und das heißt immer: denkmögliche operative Kontingenzen durch Verweis auf fundierende Texte und fundierendes (Regel-) Wissen zu reduzieren; Tradition antwortet insofern unmittelbar auf Kontingenzrisiken, für die sie regelförmige Entmutigungsschwellen bereitstellt. Rekombinative Prozesse dagegen nutzen den Horizont der >Tradition< zu Zwecken des Komplexitätsaufbaus, indem sie - einer neuartigen Ökonomie folgend - semantische Innovationen stimulieren und Entmutigungsschwellen für Neuheit herabsetzen. Es ist diese Totaldifferenz, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Formen des Sprechens und Schreibens, generell: des Kommunizierens über und aus Anlaß von Literatur verändert. Gleichwohl: So wenig die moderne Literatur als Ereignis entsteht, weil sie - zumindest im Feld ihrer poetologisch-ästhetischen Reflexion - aus einem Komplex semantisch wie temporal weitläufiger Transformationen hervorgeht, so wenig darf die Literaturwissenschaft der Suggestion dieses Ereignisses auf der Ebene ihres Beobachtens und Beschreibens nachgeben. Was das Vorangegangene erproben sollte, ist exakt diese Engflihrung eines historischen Nachweises mit seiner (system-)theoretischen Vermittlung: als ein kontingentes, aber an sich selbst Halt findendes Evolutionsgeschehen, dessen theoretische Redeskription die Innovationsschübe des poetologischen Denkens jenseits kausaler oder teleologischer Argumentationsgewohnheiten in ihrer selbsterzeugten gesteigerten Wahrscheinlichkeit erfaßt, gleichwohl aber nicht an eine voraussetzungslose und insofern reduktionistische >Emergenz< koppelt.
und das Problem der >Auslegung< der aristotelischen Poetik, in: Dvjs 51 (1977). S. 422435, sowie Manfred Fuhrmann: Die Rezeption der aristotelischen Tragödienpoetik in Deutschland, in: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980. S. 93-105.
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