Poetik der Alterität: Fragile Identitätskonstruktionen in der Literatur zeitgenössischer Autorinnen 9783839439067

Female writers find their own language in the face of marginalization. A book about the fragility of identity and concep

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German Pages 214 Year 2017

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Inhalt
1. Poetik der Alterität
2. Lektüren
3. De/Konstruktion von Alterität (Schluss)
4. Bibliographie
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Poetik der Alterität: Fragile Identitätskonstruktionen in der Literatur zeitgenössischer Autorinnen
 9783839439067

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Andrea Horváth Poetik der Alterität

Lettre

Andrea Horváth (Dr. phil.), geb. 1977, studierte Germanistik, Romanistik und Niederlandistik an der Universität Debrecen (Ungarn) und promovierte 2006 über Barbara Frischmuth. Sie war Gastwissenschaftlerin an der Katholischen Universität Leuven (Belgien), der Universität Münster und der Universität Oradje (Rumänien). Sie ist Assistenzprofessorin und stellvertretende Leiterin am Institut für Germanistik der Universität Debrecen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender Studies und postkoloniale Literaturtheorien.

Andrea Horváth

Poetik der Alterität Fragile Identitätskonstruktionen in der Literatur zeitgenössischer Autorinnen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: misterQM / Photocase.de Satz: Andrea Horváth Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3906-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3906-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Poetik der Alterität | 7

Literatur und Migration | 7 Postkolonialismus vs. Postkolonialität | 13 Literatur und Geschlecht | 19 Erzählen, Identität, Geschlechterkonstruktionen | 28 Postkoloniales Erzählen: Narrative Vermittlung postkolonialer Identitätsentwürfe | 33 1.6 Die Lust am Erzählen und ihre Lektüren | 44

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

2.

Lektüren | 49

2.1 Kulturelle und religiöse Grenzgänge in Barbara Frischmuths Der Sommer, in dem Anna verschwunden war | 49 2.2 Zwischen Räumen und Kulturen. Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn | 68 2.3 Narrative Konstruktionen der Grenze in Ágota Kristófs Das große Heft | 78 2.4 Die Ambivalenz von Gewalt und Rationalität in Elfriede Jelineks Lust | 88 2.5 Das Unmögliche des Sichtbarmachens in Anna Kims Erzählungen | 102 2.6 Zwischen Nähe und Ferne. Zwischen Vertrautem und Unbekanntem. Zu Judith Hermanns Sommerhaus später | 131 2.7 Eine neue Poetik des Sexuellen und des Politischen im Werk von Marlene Streeruwitz | 140 2.8 Poetik der Alterität in Terézia Moras Seltsame Materie | 162 2.9 »Von uns gab es keine Spuren.« Erinnerungsstrategien in Zsuzsa Bánks Der Schwimmer | 173 2.10 Juli Zehs Die Stille ist ein Geräusch als Gedächtnismedium und Reiseerzählung über Bosnien-Herzegowina | 184 3.

De/Konstruktion von Alterität (Schluss) | 195

4.

Bibliographie | 199

4.1 Primärliteratur | 199 4.2 Sekundärliteratur | 200

1. Poetik der Alterität

1.1 L ITERATUR UND M IGRATION Wolfgang Müller-Funk entwickelt in Die Kultur und ihre Narrative (2002) einen kulturtheoretischen Ansatz, dessen Kern eine Theorie des Narrativen ist, in der narrative Phänomene in der kulturellen Entwicklung von Mensch und Gesellschaft als unhintergehbar betrachtet werden.1 Narration wird nicht als Gattung, sondern als ein Modus verstanden, eine »kulturelle Kraft«, die nicht auf Sprachlichkeit beschränkt ist, sie ist die zentrale Kulturtechnik zur Organisation des individuellen und kollektiven Gedächtnisses; sie ist ein Verfahren zur Selbst(er)findung der Kultur und ihrer Subjekte. Aufgrund dieser engen Verbindung von Kultur und Narration besteht immer eine Interdependenz von Erzählform und Kulturauffassung: Eine »geschlossene« Kulturvorstellung, der ein traditionelles Identitätsmuster im Sinne von Einheit und Geschlossenheit des Individuums und der Gesellschaft zugrunde liegt, ist mit einem traditionellen Erzählen verbunden, dessen Charakteristika beispielsweise Linearität, weitgehende Einheitlichkeit und Überschaubarkeit von Zeit und Raum, klassische Perspektivenwahl oder klar umgrenzte Figuren-Zeichnung sind. Laut Müller-Funk muss sich mit dem zunehmenden Aufbrechen der bislang als weitgehend geschlossene kulturelle Einheiten aufgefassten Gesellschaften hin zu transkul-

1

Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Wien, New York: Springer Verlag, 2002, 34. Zitiert von Hausbacher, Eva: Poetik der Migration. Transtanionale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg, 2009, 110-111.

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turellen Mischungen und den damit einhergehenden Vorstellungen von hybriden kulturellen und individuellen Identitätsmustern, auch das Erzählen verändern. Dieser Zusammenhang von Kultur und Schreibweise wird mit Beispielen aus der klassischen Moderne beschrieben: »So kann man zeigen, dass es einen unegalen Zusammenhang zwischen klassischen Erzählformen und traditionellen Identitätsmustern gibt. Geschlossenheit und Ausschluß sind Konstituenten exklusiver heroischer Identitätsbildungen. Nur selten rückt im Fall der Narrative das Zusammenspiel ästhetischer, moralischer und politischer Kategorien derart grell ins Licht. Es geht im Kampf um kulturelle Hegemonie und im Streit um Bedeutung nicht mehr darum, den gegebenen Erzählungen andere gegenüberzustellen, sondern anders zu erzählen, sowohl auf der Ebene der Performanz wie auf jener der Konfigurationsbildung: ironische Erzählerinnen und Erzähler sind ebenso gefragt wie Geschichten, die nicht glatt aufgehen. Aber damit befinden wir uns noch immer in einem kulturellen Territorium, das narrativ strukturiert ist: denn der Gestus der Ironie ist ebenso wie jener der Verwerfung und Irritation ›sekundär‹: er setzt das Verständnis von Menschen voraus, die wissen, was eine ›normale‹ Erzählung ist und die das in der kulturellen Manufaktur Schule etwa erlernt haben. Einen Text von James Joyce, Franz Kafka oder Kurt Schwitters lesen und verstehen zu können, bedeutet, jene Erzähltypen des 19. Jahrhunderts zu kennen, auf die sie sich intertextuell beziehen. Ohne dieses Verständnis ergeht es rezeptionsästhetisch gesprochen dem Leser wie dem, der den kulturellen Hintergrund eines Witzes nicht kennt: man verfehlt die Pointe.«2

Heute besteht die Herausforderung in erster Linie darin, parallel zur Beschreibung und Analyse der Kulturen der Migration eine Poetik der Migrationsliteratur zu beschreiben. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang das von Deleuze/Guattari entwickelte »Rhizommodell« ins Spiel gebracht. Deleuze und Guattari haben 1976 in dem Aufsatz »Rhizome« eine »écriture nomade et rhizomatique« proklamiert, die sehr starke Parallelen zum Konzept der »écriture migrante« als offenem, nicht abgrenzendem und nicht polarisierendem Schreiben aufweist.3

2

Ebd. 35.

3

Mehr zu lesen im Kapitel 2.5.

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ǀ9

Eine weitere metaphorische Beschreibungshilfe für eine migratorische Schreibweise ist in der Bildlichkeit der Porosität zu finden. Die »Ästhetik des Porösen« wird von Walter Benjamin und Asja Lacis im Denkbild »Neapel« beschrieben. Nur demjenigen, der sich nicht gegen die Ambiguität des Fremden wehrt und sich seiner eigenen Porosität bewusst wird, steht die »geheime Pforte für den Wissenden« zur neapolitanischen Welt des Porösen offen4. Dieses Konzept kann man bei Julia Kristeva wieder finden, die ebenso behauptet, dass wir erst dann aufhören, das Fremde zu diskriminieren, wenn wir bereit sind, uns mit dem Fremden in uns selbst auseinanderzusetzen. In ihrer Arbeit Fremde sind wir uns selbst (1990) über kulturelle Konfigurationen des Fremden parallelisiert Kristeva kulturelle Fremdheit mit psychischer Alterität und so politisiert Freuds Entdeckung des gespaltenen Subjekts. Sie greift Freuds Diktum, das Ich sei nicht länger Herr im eigenen Haus, auf, um darzustellen, dass die menschliche Psyche, über alle Fragen nach der kulturellen und geschlechtsspezifischen Zugehörigkeit hinaus, nie in einem eigenen Heim verortet sein kann.5 Nach Kristeva gibt es also eine Übereinstimmung zwischen den kulturellen Prozessen der Entortung und den psychischen Prozessen des Unbewussten, zwischen wirklicher geographischer Entortung und dem fremden, anderen Schauplatz, den Freud im Zentrum des psychischen Apparates ansiedelt. Die Erfahrung kultureller Fremdheit setzt sie parallel mit der Erfahrung psychischer Alterität, welche das Unbewusste innerhalb eines jeden individuellen psychischen Apparates herstellt. Die Figur des Fremden wird in diesem Sinne zur Chiffre für die Subversion eines Individualismus des mit sich identischen Subjekts. Die Verlaufskurve der psychoanalytischen Behandlung und die des Exils erweisen sich als austauschbar. Mit dem Anderen leben, mit dem Fremden leben, meint Kristeva, konfrontiert uns zugleich mit

4

Benjamin, Walter / Lacis, Asja: »Neapel«. In: Tiedemann, Rolf / Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Bd. IV.I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, 310.

5

Das Buch ist im französischen Original unter dem Titel »Étrangers à nousmêmes« 1988 erschienen. Elisabeth Bronfen greift diese Parallelisierung in mehreren Arbeiten (1995, 1999) für die Analyse von Filmen und literarischen Texten auf und bezeichnet die Immanenz des Fremden im Vertrauten als »unlösbaren Antagonismus«.

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der (Un-)Möglichkeit, ein Anderer zu sein und die eigene, unheimliche Andersartigkeit zu erfahren6: »Mit dem Begriff des Freudschen Unbewussten verliert die Einbindung des Fremden in die Psyche ihren pathologischen Aspekt und integriert eine zugleich biologische und symbolische Andersheit ins Innere der angenommenen Einheit der Menschen: sie wird integraler Teil des Selbst. Von nun an ist das Fremde nicht Rasse und nicht Nation. [...] Als Unheimliches ist das Fremde in uns selbst: Wir sind unsere eigenen Fremden - wir sind gespalten.«7

Das Ich ist demnach »durchsetzt« mit Elementen des Anderen und insofern porös. Diese Porosität wird durch einen migratorischen Kontext verstärkt und offensichtlich. Daphne Marlatt (1984) spricht vom Bedürfnis, die verschiedenen Orte, die das Leben der Migrantinnen bestimmen - einer in der gegenwärtigen Realität, andere in der Erinnerung und der Phantasie -, miteinander zu verbinden: »to knit the two places, two (at least) selves, somehow« (Marlatt 1984, 223) und erklärt dieses synästhetische Bemühen folgendermaßen: »Now we make our exegesis of the difference using montage, using juxtaposition, knitting disparate and specific images from both places. Seeing the world as multidimensional as possible and ourselves present within it.«8

Die sich so dem Fremden Öffnenden und vom Fremden Durchdrungenen suchen nicht nach Vertrautem, sondern machen die Ungereimtheiten und Bruchstellen der neu erlebten Kultur zum Mittelpunkt ihres Interesses, um schließlich alte und neue Erfahrungen miteinander zu verbinden. Während die Emigrationsliteratur sich nicht im Sinne Daphne Marlatts von der ehemaligen Heimat löst, sondern in Betroffenheit als Protest- und Anklageliteratur Grenzen gegenüber der neuen Kultur zieht, erweisen sich die Texte

6

Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, 199f. Zitiert von Hausbacher, 2009, 114.

7

Ebd. 197.

8

Marlatt, Daphne: »Entering in The Immigrant Imagination«. In: Canadian Literature 100, 1984, 219-224, hier: 223.

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der Migration auf Grund ihrer hybriden und intertextuellen Erzählstrategie, die das Fremde und das Eigene auf verschiedene Weise verknüpft, als poröse Texte. Eva Hausbacher macht darauf aufmerksam, dass Werner Wintersteller (2006) zur Beschreibung desselben ästhetischen Phänomens - der Poetik der Vielheit in der Literatur der Migration - den von Glissant (1996) im Anschluss an Segalen9 geprägten Terminus der diversité präferiert und definiert sie »[als] eine Schule oder Lehre der Wahrnehmung und Wertschätzung des Diversen in seiner ästhetischen Gestalt«10. Dies setze die explizite Literatur der Fremdheit, zu der er sowohl Minderheiten- und Migrationsliteratur sowie postkoloniale Literatur zählt und die er von der impliziten Fremdheit jeder Literatur unterscheidet, in ihren Texten um und verdopple somit die Fremdheit: »Literatur ist nie Zeugnis einer Welt, ohne Zeugnis des Risses in der Welt zu sein. Begegnung mit Literatur ist immer schon Fremdheitserfahrung, auch wenn es sich um die des eigenen Kulturkreises handelt. In der Literatur einer anderen Kultur begegnet uns daher eine ›doppelte Fremdheit‹, eine gebrochene, ästhetisch verfremdete Darstellung einer uns fremden Welt.«11

Die Ästhetik des Diversen und ihre latente Interkulturalität manifestiert sich nach Wintersteller in vierfacher Weise: Von ihrer Perspektive her entwirft sie einen »fremden Blick« auf die Gesellschaft; von ihrer Machart her pflegt sie einen von der Norm abweichenden Umgang mit Sprache mit Hilfe fremder Elemente; von ihrer Wirkung her löst sie eine Entautomatisierung der (kulturell beeinflussten) Wahrnehmung aus; und schließlich von ihrem Kulturverständnis her unternimmt sie ein Überschreiten bzw. Erweitern kultureller Grenzen.12

9

Segalen, Viktor: Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus. Frankfurt am Main: Fischer, 1994.

10 Wintersteiner, Werner: Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung. Klagenfurt: Drava, 2006, 19. Zitiert von Hausbacher, 2009, 115. 11 Ebd. 132. 12 Ebd. 277.

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Bei der Beschreibung dieses neuen ästhetischen Phänomens, das durch die Auflösung vormals fester Verbindungen von Kultur, Sprache, Literatur mit einer fixen Lokalität aufgrund von Migration in einer globalisierten Welt, aufgrund von Massentourismus und von Massenmedien ausgelöst wird (Deterritorialisierung), berücksichtigt Wintersteller allerdings, dass es gleichzeitig zu diesen Erscheinungen immer auch gegenläufige gibt. Hier wird keine nomadische Kultur gepredigt, sondern auf eine permanente Wechselbeziehung verwiesen: Wege und Wurzeln, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung sind die beiden zusammengehörigen Faktoren, deren Spannung erst die kulturelle Dynamik ausmacht.13 In diesem Zusammenhang sollte auf die von Ottmar Ette (2004) entwickelte Metapher der »vektorisierten Literatur« hingewiesen werden, mit der er die transkulturelle Durchdringung und die Mobilisierung zuvor voneinander abgegrenzter Räume in der zeitgenössischen Migrationsliteratur zu fassen versucht. Migratorisches Schreiben beschränkt sich für Ette nicht auf das (inhaltliche) Erzählen von Migration, sondern »vektorisiert die zur Verfügung stehenden kulturellen Elemente so, dass [...] eine wahre Choreographie der Bewegungen zwischen unterschiedlichen Kulturen und ihren ›Aufführungspraktiken‹ einschließlich religiösen Handlungen entsteht. Die in diesen Texten markierten Grenzen sind daher stets Räume des Übergangs, Türen und Brücken, die verbinden, ohne zu vermischen, die Grenzen vervielfachen, ohne auszugrenzen.«14

Die von Ette beschriebene Vektorisierung bezieht sich sowohl auf die textimmanente Ebene, verstanden als Schreibweise, als auch auf die entgrenzende Wirkung dieser Schreibweise in Bezug auf das »Nationale« und »Nationalliterarische«: »Migratorisches Schreiben ist keine Migrantenliteratur mehr, sondern vektorisiert gewohnte und von nationalen Institutionen geschützte Grenzziehungen in einer so

13 Ebd. 63. 14 Ette, Ottmar: ÜberLesenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2004, 245.

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grundlegenden Weise, dass sich das jeweils Nationale zunehmend seines Ortes (und seines Wortes) nicht mehr sicher sein kann. «15

Vektorielles Schreiben kann abgelöst von einer notwendigen eigenen Erfahrung der Migration Texte hervorbringen, »in denen die jeweiligen Räume und Raumstrukturen gegenüber den Bewegungsstrukturen in den Hintergrund rücken, ja oftmals vorwiegend dazu dienen, in ständige Prozesse transkultureller Überlagerung, Verschiebung und Verdichtung eingebunden zu werden«16. Damit sei nach der Moderne mit ihrer stark zeitlich dominierten und nach der Postmoderne mit ihrer stark räumlich dominierten Struktur ein neues Paradigma im Entstehen, in dem eine Vektorisierung der Raum-Zeit-Dominanten die Oberhand gewinnt17. Als ein Indiz für diese Entwicklung sieht Ette, dass an die Stelle des post ein trans gerückt ist (transnational, transkulturell, translatorisch, transdisziplinär, transgressiv, transitorisch), welches den terminologischen Apparat der Kulturwissenschaft neuerdings dominiert. Die vektorisierende Dynamik der Migrationsliteratur wird in ihren spezifischen Schreib- und Erzählformen entfaltet und kann so transkulturell angelegtes Lebenswissen, wie es durch die biopolitischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen in der globalisierten Welt geprägt ist, transportieren18. Diese globalisierte Welt ist freilich zugleich auch eine Welt, in die sich Machtstrukturen eingeschrieben haben und weiterhin einschreiben. Mit dem Theoriemodell des Postkolonialismus hat man versucht, diese Machtverhältnisse theoretisch zu fassen und zu dekonstruieren.

1.2 P OSTKOLONIALISMUS

VS .

P OSTKOLONIALITÄT

Wenn man Edward Saids »Orientalismus« von 1978 als »Gründungsmanifest« der Postcolonial Studies betrachtet, so existieren postkoloniale Studien bereits seit dreißig Jahren. Wie Michael Lützeler feststellt, ist die Lite-

15 Ebd. 251. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.

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ratur zum Postkolonialismus kaum mehr überblickbar19. Die Kritiker der Postcolonial Studies monieren, dass die Ideen des Postkolonialismus mittlerweile beliebig eingesetzt werden und ihre Wirkungsmächtigkeit als analytische Konstrukte dadurch immer mehr verlieren.20 Diese Einführung will weder eine chronologische Repräsentation der Entwicklung und diversen Ausformungen der Postcolonial Studies21 geben noch der Flut an Untersuchungen, die deren Theoreme auf neue Anwendungsfelder übertragen. In diesem Fall ginge es um die Übertragbarkeitsfrage der Postcolonial Studies auf die Schnittstellen zwischen postkolonialer und gender-orientierter Narratologie, von der später noch ausführlich die Rede sein wird. Zunächst geht es hier um eine kreative Auseinandersetzung mit jenen Ansätzen aus den postkolonialen Theorien, die aus meiner Sicht die Analyse der hier fokussierten Literatur in besonderem Maße aufwerten. Bei Legitimation dieser Vorgangsweise - einer »kombinierten Bindung an theoretische Perspektiven oder Begriffe einerseits und an textnahe Lektüre (close reading) andererseits«22 – kann ich mich auf Mike Bal berufen, die im einleitenden Kapitel ihrer »Kulturanalyse« (2005) für ein »Anpassen« von Theoriemodellen an neue Kontexte im Verlauf eines Analyseprozesses plädiert: »Theorie ist genauso beweglich, dem Wandel unterworfen und in historisch wie kulturell verschiedenartige Kontexte eingebettet wie die Objekte, in Bezug auf die sie zur Geltung gebracht werden kann. [...] Wenn man aus theoretischer Perspektive detaillierte Analyse praktiziert, wird man dazu bewogen, sich gegen pauschale Aussagen, Parteinahme und reduktionistische Klassifikationen zu wehren. [...] Ich als professionelle Theoretikerin möchte behaupten, dass Theorie im Bereich der Kulturforschung nur dann Sinn haben kann, wenn sie in enger Interaktion mit den Objekten, um die es ihr geht, zum Einsatz gebracht wird. Auf diese Weise können methodolo-

19 Lützeler, Michael: Räume der literarischen Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung. Tübingen: Stauffenburg, 2000, 11. 20 Mar Castro Varela, Maria do / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript, 2005, 112. 21 Vgl. Horváth, Andrea: »Wir sind anders.« Gender und Ethnizität in Barbara Frischmuths Romanen. Würzburg: Königshaus&Neumann, 2007. 22 Bal, Mieke: Kulturanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, 19.

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ǀ 15

gische Streitfragen bezüglich der Begriffe auf der Basis entschieden werden, die weder dogmatisch noch freischwebend ist. In sachnaher, detaillierter Analyse erprobte Begriffe können eine Art von Intersubjektivität herstellen, die nicht nur zwischen dem Analytiker und seinem Publikum besteht, sondern auch zwischen dem Analytiker und seinem ›Objekt‹.«23

Laut Hausbacher drücken wir terminologisch diese Ab- bzw. Eingrenzung unseres Ansatzes in der begrifflichen Gegenüberstellung von Postkolonialismus vs. Postkolonialität aus: Bearbeiten Postkolonialismus-Studien die Auswirkungen kolonialer Strukturen auf eine Kultur und fokussieren sie dabei die geopolitischen Machtverhältnisse und Hierarchien zwischen Kulturen ebenso wie die durch ethnische Differenzen charakterisierten innerstaatlichen Zentrum-Peripherie-Verhältnisse, so arbeiten PostkolonialitätsStudien auf einem höheren Abstraktionsniveau an der Dekonstruktion von kulturellen Hierarchien, ungeachtet ihrer geopolitischen Verortung.24 Eine ähnliche Konzeption der Weiterentwicklung des Postkolonialismus erfolgt in dem Band »Eigene und andere Fremde. ›Postkoloniale‹ Konflikte im europäischen Kontext« von Wolfgang Müller-Funk und Birgit Wagner (2005), die den Diskurs über Postkolonialismus in einen (inner)europäischen Kontext stellen und damit einen »äußeren« Kolonialismus von einem »inneren« differenzieren. Gleichzeitig warnen sie vor einer unreflektierten Übernahme der Terminologie und der methodischen Konzepte der anglophonen und auf die klassischen Kolonien fokussierten Postcolonial Studies. Sie interessieren sich für die Innenseite des Kolonialismus, die Binnenkolonisation innerhalb Europas, die gleichwohl nach dem Modell des äußeren Kolonialismus funktioniert. Dieser Differenzierung wird von uns eine weitere Variante hinzugefügt: die interne Differenz kennt nämlich neben der Beherrschung kleinerer und peripherer Kulturen durch größere auch kolonialistische Verhältnisse in der rein diskursiven Auseinandersetzung zwischen Kulturen25. Wenn Müller-Funk und Wagner also zwischen

23 Ebd. 17f. 24 Haubacher, 2009, 123-124. 25 Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit: »Diskurse des Postkolonialen in Europa«. In: Dies. (Hg.): Eigene und andere Fremde. »Postkoloniale« Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia&Kant, 2005, 9-27, hier: 13.

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äußerem und innerem Prozess der Kolonialisierung differenzieren und dabei deren Ähnlichkeiten herausstreichen, so ergänzen wir eine dritte Spielart der Kolonialisierung, die wir als abstrakt-diskursive bezeichnen. Allen drei Formen des Postkolonialen gemeinsam ist der Konnex von Kultur und Macht, der einen bestimmten kulturellen Habitus und Code hervorruft; der klassisch postkoloniale Komplex ist nur ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie intra- bzw. interkulturelle Wertungen sich mit Machtausübung verschränken.26 Entgegen allen kritischen Einwänden bezüglich der Unschärfe und Beliebigkeit im Einsatz von postkolonialer Theorie wird für eine metaphorische und damit auch ahistorische Verwendung von postkolonialen Theoremen plädiert, dafür, Postkolonialität (im Gegensatz zu Postkolonialismus) nicht (ausschließlich) an territoriale Beherrschung zu knüpfen. Ähnlich lässt sich auch Orientalismus im Saidschen Sinne verstehen, der vor allem den Diskurs und die kulturelle Dimension des Kolonialismus in den Vordergrund rückt und auch an Kulturen feststellt, die keine konkreten kolonialen Interessen kennzeichnen. Diese Auffassung von Postkolonialität findet Anschluss auch an Stuart Halls Position, der im Unterschied zu vielen Kritikern dem Projekt der Postcolonial Studies wie auch dem Begriff »postkolonial« sehr positiv gegenüber steht. Zwar warnt auch er vor einem unreflektierten Umgang mit der postkolonialen Begrifflichkeit und fordert eine Reflexion der Abstraktionsebene, auf der der Begriff eingesetzt wird.27 Aber auf einem hohen Abstraktionsniveau kann »postkolonial« zu Recht »universalisiert« werden. Seine Präzisierung der Postkolonialität geht in zwei Richtungen: Zum einen versteht er sie als Instrument der Analyse von binären Identitätsvorstellungen, zum anderen als Transformation des »historischen Großnarrativs« der westlichen Moderne, als Änderung und Bruch in der Erzählperspektive der historiographischen Meta-Erzählung28. Halls Verständnis geht auch weg

26 Ebd. 15. 27 Hall, Stuart: »Wann gab es ›das Postkoloniale‹? Denken an der Grenze«. In: Conrad, Sebastian / Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Campus, 2002, 219-246, hier: 224. 28 Ebd. 231.

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von dem asymmetrischen Modell des Kulturtransfers, wonach die westliche hegemoniale Kultur den kolonisierten Ländern ihr Dispositiv einschreibt, sondern zeigt, wie machtvoll der Prozess der Kolonisierung sich auch in den kolonisierenden Gesellschaften und ihren identitätsstabilisierenden Selbstbildern spiegelt. An der Verwendung der Begrifflichkeit »postkolonial« bzw. der Interpretation des Präfixes »post« werden die verschiedenen Einschätzungen des Projekts der postkolonialen Studien noch einmal gut sichtbar: Wurde lange Zeit das »post« allein als chronologische Markierung verstanden, die die historische Abfolge von Kolonialismus zu nachkolonialen Zuständen kennzeichnet, und damit impliziert, dass die Geschichte des Kolonialismus ein abgeschlossenes Kapitel ist, so bedeutet bei Hall das »post« nicht einfach nur ein »Nach« dem Kolonialismus, sondern etwas über das Koloniale Hinausgedachte29 und steht so auch für eine besondere Form des theoretischen Ansatzes und der Analyse: »Damit ist nicht eine zeitliche, sondern eine epistemische Dimension angesprochen, die in der Dekonstruktion und Verabschiedung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses besteht. Die Kritik an binären Oppositionen und der Stabilität fundierender Gegensatzpaare teilen postkoloniale Ansätze mit dem Poststrukturalismus. Vor allem die strikte Gegenüberstellung von Kolonialherren und Kolonisierten ist in diesem Zusammenhang zum Gegenstand der Kritik geworden. Die Dichotomie zwischen ›wir‹ und ›sie‹, die bereits Fanon als Fiktion entlarvt hatte, gehörte zu den tragenden Annahmen des kolonialen Projekts und ist selbst als Element der europäischen Herrschaft identifiziert worden.«30

Mit Michael Lützelers Differenzierung zwischen einer deskriptiven und programmatischen Verwendung des Postkolonialen, lassen sich einige Kritikpunkte an der universalistischen Verwendung der postkolonialen Theoreme entkräften. Nach Lützeler handelt es sich bei der Beschreibung (deskriptive Verwendung) um eine Konstatierung und analytische Durchdringung von interkulturellen Beziehungen, mit dem Programmbegriff (programmatische Verwendung) jedoch werden politische Zielsetzungen mar-

29 Ebd. 236. zitiert von Hausbacher, 2009, 125. 30 Ebd. 237.

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kiert. Die in dieser Arbeit eingesetzte abstrakt-diskursive Auffassung von Postkolonialität will keine politische Pragmatik entwerfen, sondern eine dekonstruktive Lektüre von Figurationen des Transkulturellen anbieten.31 Differenzieren wir nun nach den Abstraktionsebenen, auf welchen die postkolonialen Diskurse operieren: Alle dominant soziologisch argumentierenden Positionen bestimmen Kolonialismus im Kern als Praxis einer Fremdherrschaft, die kulturelle Differenz als Rechtfertigungsstrategie für politische Ungleichheit operationalisiert. Im kulturwissenschaftlichen Diskurs wird Kolonialismus primär als eine Art »Befindlichkeit« gewertet: »Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen [...] werden. Damit verbinden sich [...] sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.«32

Auch diese kulturalistische Definition öffnet die innerkontinentalen Räume für eine Kolonialismus-Debatte: Konstruktion von inferiorer Andersartigkeit, Sendungsglaube und Vormundschaftspflicht (der Kolonisatoren) sowie die Utopie der Nicht-Politik (d.h. eines politikfreien Verwaltens) können hier subsumiert werden. Dort, wo Post-/Kolonialismus aus seiner historischen Referentialität und soziokulturellen Fundierung am weitesten herausgelöst und als Metapher verwendet wird, kommt es zu einer engen Korrespondenz mit poststrukturalistischen Theoremen. Mit diesem postkolonialen Modell - von uns im Terminus der »Postkolonialität« gefasst -, das vor allem als eine Lesart bestimmt wird (Dirlik 1994), arbeitet auch diese Untersuchung.

31 Lützeler, 2000, 10. 32 Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München: C.H. Beck, 1995, 21.

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1.3 L ITERATUR UND G ESCHLECHT Es ist unmöglich, in dieser Einführung alle Einzelstudien und Ausdifferenzierungen der Gender Studies darzustellen33. Zu viele Studien zum Œuvre einzelner Autorinnen und zu spezifischen Themen sind während der letzten Jahrzehnte entstanden, als dass sie hier angemessene Berücksichtigung finden könnten. Auch haben sie Genderaspekte in sehr unterschiedlicher Weise berücksichtigt, also entweder zur Grundlage ihrer Untersuchung erhoben oder auch als neben- oder untergeordnetes Analysekriterium behandelt. Es sollte aber möglich sein, im Folgenden einige grundsätzliche aktuelle Tendenzen der Gender Studies aufzuzeigen und deren Relevanz für die Literatur (und konkret für die Analyse der Texte von zeitgenössischen Autorinnen) im Ausblick anzudeuten. Dass Geschlechterdifferenzen nicht losgelöst von anderen Differenzkategorien gedacht werden können, wurde als feministisches Thema bereits in den 1970er Jahren gesetzt und mündete in jüngster Zeit in die Kritik am neoliberalen Postfeminismus. Die gegenwärtige Anti-/Feminismus-Debatte, die in Medien und Politik geführt wird, lässt nicht darauf hoffen, dass Diskurs und Praxis der heteronormativen Naturalisierung in allernächster Zeit der Vergangenheit angehören werden. Im Hinblick auf die neoliberale Ökonomiedominanz ist eher das Gegenteil zu befürchten. An solche Beobachtungen schließen sich politische Fragen nach Autorisierung/Autorität und ihren Repräsentationssystemen an. Das Argument der Alterität benötigt Bezugsgrößen (anders als?) und implizite Grenzziehungen (wann, wo und wie anders?). Diese Grenzziehungen können auch für die Literaturwissenschaften geltend gemacht werden34, und auch sie scheitern regelmäßig an der Definition ihres Gegenstands - wenn es denn tatsächlich als immerhin produktives Scheitern zu benennen sei, dass Disziplinen und Identitäten interdependent und dynamisch gedacht werden wollen und sie im »Weiterle-

33 Vgl. Horváth, Andrea: Gender als Analysekategorie. In: Trans. InternetZeitschrift für Kulturwissenschaft. 15. Nr. 2004. Redaktion: Herbert Arlt. http://www.inst.at/trans/15Nr/05_13/horvath15.htm 34 Heitmann in Röttger, Kati /Paul, Heike (Hg.): Differenzen in der Geschlechterdifferenz / Differences within Gender Studies. Berlin: Erich Schmidt, 1999.

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sen« entwickelt werden.35 Auch Gattungsdefinitionen und die Einhaltung möglichst »reiner« Gattungsnormen sind wie Identitätskategorien selbst gender, race, class etc. - gleichermaßen über die Optimierung von Merkmalsbündelung organisiert. Gender lässt sich plausibel als ein »epistemisches Ding« beschreiben. Damit ist gemeint, dass Gender - wie Hans-Jörg Rheinberger bereits für das Experiment, die Differenz und die Schrift argumentierte (1992) - die Möglichkeit zur im Denken »verändernde[n] Erprobung seiner/ihrer selber« anbietet36. Hieran zeigt sich eine tragfähige Verbindung zwischen Literatur und Gender Studies. Gender als Analysekategorie kann wie der literarische Text als Medium der Erprobung und Vorläufigkeit gelten. Beide tragen dazu bei, mögliche Welten und Identitäten zu entwerfen. Sowohl Episteme als auch Literaturen können demzufolge der imaginativen Selbsterweiterung dienen37, jedoch mit unterschiedlichen Mitteln und in unterschiedlichen Kontexten. An diese epistemisch-ästhetische Differenz lässt sich der Grundgedanke der Performativität anschließen, denn nicht die Frage, ob eine Norm wiederholt wird, sondern auf welche Weise dies geschieht - etwa im poetischen oder wissenschaftlichen Diskurs -, entscheidet darüber, welche sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse sich denken und praktizieren lassen: »In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die ›Handlungsmöglichkeit‹ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren.«38 Mit Judith Butlers Arbeiten zur Performativität und vielen anderen Beiträgen wurde in den letzten zwanzig Jahren ein Diskussionsraum eröffnet, der die Kategorien sex/gender in Zweifel zog. Mit Donna Haraways An-

35 Bergermann, Ulrike / Strowick, Elisabeth (Hg.): Weiterlesen: Literatur und Wissen, Bielefeld: transcript, 2007. 36 Deuber-Mankowsky in Casale, Rita / Rendtorff, Barbara (Hg.): Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Bielefeld: transcript, 2008, 182. 37 Fluck in Gymnich, Marion / Nünning, Ansgar (Hg.): Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2005. 38 Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the subversion of Identity. New York: Routledge, 1990, 213.

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satz etablierte sich der Begriff einer »Post-Gender«-Ära, die mit der Technisierung und medialen Virtualisierung von Identität in der posthumanen Gesellschaft angebrochen sei (Haraway 1995). Cyborgs als kybernetischorganische Hybridwesen, die Medizin und Fiktion gleichermaßen besiedeln, unterliegen keinen traditionellen binären Gendercodes. Mit dem gender swapping, dem Geschlechterwechsel im Zuge virtueller Identitätsentwürfe, stehen den Netznutzerinnen zudem interessante Möglichkeiten der Performativität und des medialen self-fashioning offen. Ob die Theoretisierung von Gender nach dem performative turn in die Auflösung der Genderkategorien münden wird, wie bisweilen antizipiert wurde39, oder ob - im Gegenteil - eher der Backlash in Prä-Gender-Politiken droht, ist eine offene Frage.40 Gegenwärtige Tendenzen lassen zumindest darauf schließen, dass die Diskussion um die Zukunft der Gender Studies und ihre institutionellen Organisationsformen sehr lebendig und intensiv geführt wird.41 Drei Tendenzen der Gender Studies, die im Folgenden skizziert werden, haben gemeinsame Problem- und Aktionsfelder: die Krise der Repräsentation, sprach- und handlungsbasierte Machtkritik sowie die Interdependenz von Identitätskategorien. Zu den Problemfeldern zählt darüber hinaus solche soziale Normativität, die mit individuellen und kollektiven Abwehrreaktionen (Xenophobie, Homophobie) sowie Formen struktureller wie personeller Gewalt durchgesetzt wird. Die drei Ansätze nähern sich diesen Feldern aus unterschiedlichen Perspektiven: Die Intersektionalitätsforschung hat einen primär sozialwissenschaftlichen Hintergrund, so dass es vor allem um die Analyse sozialer Ungleichheiten und Diskriminierung geht; die Postcolonial Studies arbeiten mit kulturwissenschaftlichem Instrumentarium und kritisieren ethnische Alteritätsstrukturen, während die Queer Studies von psychoanalytischen und diskursgeschichtlichen Denkansätzen herkommen und sich vorrangig mit Begehrensstrukturen beschäfti-

39 Hülk, Walburga /Schuhen, Gregor et al. (Hg.): (Post-)Gender. Geographien / Schnitte. Bielefeld: transcript, 2006. 40 Reiche, Claudia /Sick, Andrea (Hg.): do not exist. europe, woman, digital medium. Bremen: thealit, 2006. 41 Fleig, Anne (Hg.): Die Zukunft der Gender Studies. Frankfurt am Main: Campus, 2014.

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gen. Streng zu trennen sind diese Forschungsrichtungen jedoch nicht mehr, denn gerade die Überkreuzungen und gegenseitigen Impulse befördern die gegenwärtigen Theoriedebatten, welche von ästhetischer Repräsentation über explizite Metapoetik bis hin zur Funktionalisierung als politisches Steuerungsinstrument reichen können. Die Versuche, möglichst integrativ alle aktuellen Tendenzen der Gender Studies unter Stichworten wie Intersektionalität oder Diversität zu bündeln, werden nicht per se von allen Wissenschaftlerinnen als positiv eingeschätzt, weil dann Erkenntnisinteressen der einzelnen Forschungsrichtungen - feministisch, queer, trans/interkulturell, postcolonial u.a.m. - nicht mehr entsprechend zur Geltung kämen. Diesbezüglich müssten die Verfahren der Inklusion und Exklusion mittelfristig noch deutlicher markiert und diskutiert werden. Einen Überblick über diese Diskussionen bieten inzwischen zahlreiche eigene Einführungsbände zu diesen Forschungsansätzen, auf die in den folgenden Abschnitten jeweils verwiesen wird. Das Konzept der Intersektionalität ermöglicht es, die Überschneidung von Identitätskategorien in kultur-, sozial- und humanwissenschaftlichen Zusammenhängen zu untersuchen. Als klassischer Dreisatz solcher Überschneidungen gilt seit den 1980er Jahren gender, race und class. Nach und nach wurden weitere Kategorien wie Religion, Nation, sexuelle Orientierung u.a.m. hinzugenommen.42 Letztlich kommt jede plausibel definierte Kategorie für eine intersektionale Analyse in Betracht.43 Die Definition dessen, was sich auf Achsen anordnen lässt und an den Punkten ihrer Überschneidung zur Entstehung von Ungleichheiten beiträgt, gehört zu den zentralen Aufgaben der Intersektionalitätsforschung. Ebenso wichtig ist die Frage, wie soziale Strukturen und soziale Gruppen miteinander in Beziehung stehen und welchen Ordnungsprinzipien diese Beziehungen unterlie-

42 Winker, Gabriele / Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript, 2009. 43 Bührmann, Andrea D.: Intersectionality – ein Forschungsfeld auf dem Weg zum Paradigma? Tendenzen, Heraasforderungen und Perspektiven der Forschung der Intersektionalität. In: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 1/2, 2009, 28-44.; Klinger, Cornelia: Für einen Kurswechsel in der Intersektonalitätsdebatte.

In:

Kleinger.pdf (2013.11.05.)

http://portal-intersektionalitaet.de/uploads/media/

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gen.44 Neben den Chancen, die Intersektionalität als Forschungsansatz mit sich bringt, besteht auch die Gefahr, dass sich eine einseitige Analysepraxis mit ausschließlichem Fokus auf unterdrückte Gruppen und Individuen etabliert, ohne die Auswirkungen sozialer Ungleichheit gleichermaßen für die dominanten Gruppen zu betrachten45. Das Konzept der Intersektionalität soll darüber hinaus ermöglichen, die Relation von Identitätskategorien untereinander zu untersuchen und damit »Gender als interdependente Kategorie zu fassen«: »Mit dem Begriff Interdependenzen werden folglich nicht mehr wechselseitige Interaktionen zwischen Kategorien gefasst, vielmehr werden soziale Kategorien selbst als interdependent konzeptualisiert. In der Konsequenz bedeutet dieser Vorschlag, dass auch die Kategorien Klasse, Ethnizität oder Sexualität als interdependente Kategorien gedacht werden müssen. Diese Perspektive weist über die Gender Studies hinaus und kann allgemein für Forschungen zu Ungleichheit, Marginalisierung und Soziale Ungleichheit entsteht in privaten und öffentlichen Räumen - Schule, Arbeitsplatz, Wohnung -, die interdependent mit Identitätskategorien korrelieren.«46

Für das sozialwissenschaftliche Arbeiten liegen konkrete Vorschläge vor, wie eine Mehrebenenanalyse unter Berücksichtigung von vier Kategorien »Klasse, Geschlecht, Rasse, Körper« - auf die Auswertung von Interviews angewendet werden kann: auf der Ebene der Sozialstrukturen, der Identitätskonstruktionen und der symbolischen Repräsentation.47 Solche Interviews können von vorneherein auf die Analyseschritte zugeschnitten werden; sie sind wissenschaftliche Methode und Gegenstand in einem. Literari-

44 Rommelspacher, Birgit: Intersektionalität – über die Wechselwirkung von Machtverhältnissen. In: Kurz-Scherf, Ingrid / Leperhoff, Julia / Scheele, Alexandra (Hg.): Feminismus: Kritik und Intervention. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2009. 45 Ebd. 46 Hess, Sabine / Langreiter, Nikola et al. (Hg.): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundigungen. Bielefeld: transcript, 2011. 47 Winker/Degele, 2009, 74f.

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sche Texte hingegen liegen immer schon vor und weisen zudem das Problem auf, dass sie selbst zu den symbolischen Repräsentationsmedien gezählt werden müssen. Auf welchen Ebenen der Narration wäre eine Mehrebenenanalyse anzusetzen, die etwa vorrangig Fiktionalisierungsgrade und Erzählperspektiven berücksichtigen möchte? Für die literaturwissenschaftliche Anwendung der Intersektionalitätsforschung liegt es nahe, Figuren und ihre Handlungsmuster als in Bezug auf die Textinterpretation interdependente Kategorien zu analysieren. Ebenso nahe liegt es, sich unter intersektionalen Gesichtspunkten mit der Prosa des Realismus zu beschäftigen, in der stets soziale und politische Verhältnisse in ihrer Komplexität aufgezeigt und kritisiert werden. Ähnliches gilt für Genres wie Familien- und Gesellschaftsromane. Aus diesen Interpretationsansätzen zur Intersektionalität wird deutlich, dass die Übertragung von soziologischen Größen wie Kategorie, Struktur und Ordnung auf literarische Texte noch nicht umfassend ausgearbeitet werden konnte. Noch zu leicht geraten die ästhetischen und diegetischen Gestaltungsmerkmale ins Hintertreffen, was allerdings viele Möglichkeiten für zukünftige Lektüreprojekte eröffnet. Dies gilt – was für die folgenden Analysen von großer Relevanz ist – auch generell für die Genderaspekte in der Inter- und Transkulturalitätsforschung, die sich überwiegend mit migrantischer Literatur beschäftigt und dazu in nächster Zeit noch umfänglicher soziale, religiöse oder sexuelle Identitätsparameter einbeziehen wird. Förderlich ist dabei sicherlich weiterhin der intensive Dialog mit der lebhaften Theoriedebatte in den Postcolonial Studies. Die Impulse der Postcolonial Studies sind für die Literatur- und Kulturwissenschaft in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Andersheit lässt sich nicht mehr auf ethnische Identitätsaspekte beschränken, sondern sie muss zusammen mit weiteren, intersektionalen Aspekten wie Gender, soziale Schicht, Religion u.a.m. diskutiert werden. Im Blick auf »die Fremde« in Edward Saids Untersuchungen zum Orientalismus und europäischen Kolonialismus war die Geschlechterdifferenz anscheinend historiographisch vorgegeben: Der okzidentale Mann reist in die Fremde und versucht, einen Blick auf »die Fremde«, die orientalische Frau, zu erhaschen. Als Allegorie für kulturelle Differenz schlechthin ist die Orientalin das Geheimnisvolle, das es für den Westen hermeneutisch zu entschlüsseln gilt. Im Zuge der Globalisierungskritik und der viel beschworenen Rückbesinnung auf das Lokale - insbesondere unter ethnologischen, ökologischen

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Sprechpositionen und philosophischen Prämissen - wurden Identitätsentwürfe diskutiert, die etwa die politische Semantik öffentlicher/privater Räume, das nomadische Subjekt und den Konflikt zwischen Globalisierung vs. Resilienz unter Gender-Aspekten betrachten.48 Als kanonisch gilt ein Essay von Gayatri Chakravorty Spivak. Im Kontext der Subaltern Studies stellt sie die Frage, ob es für das subalterne Subjekt überhaupt eine selbst reklamierte und ermächtigte Sprechposition geben könne.49 Deleuze und Foucault haben gezeigt, dass kein Diskurs solche naiven Selbstbehauptungsstrategien erlaubt und die Kategorie Gender bei diesen Vorstellungen noch vollkommen unbeachtet geblieben war.50 Spivaks Kritik wendet sich gegen die Gender-Defizite der Subaltern Studies und zugleich gegen die ethnozentrische Selbstbezogenheit der westlichen dekonstruktiven Philosophie. Homi Bhabhas Location of Culture (1994) und zahlreiche nachfolgende Schriften lenkten den Blick mit Hilfe von Konzepten wie Hybridität, Präsenz, Zitation auf postkoloniale und kulturelle Ungleichheiten, indem sie Ansätze der Dekonstruktion, Diskursanalyse und Psychoanalyse für die Fragen der Cultural Studies modifizierten. Der zentrale Begriff der hybriden kulturellen Identität im Sinne einer parodierten biologischen »Kreuzung« versucht, an die Performativitätstheorie Butlers anzuschließen und die Präsenz des performativen Akts als politisches Instrument zu erkennen. Diese Hybridität als third space der Kultur impliziert trotzdem noch eine ursprüngliche Idee von präkolonialer Kultur und deren Reinheit, der dialektisch nicht zu entkommen ist. Am Beispiel der »Sisterhood« als längstens etablierte Metapher für feministische Solidarität, die von ethnischen Konflikten zwischen black feminism und white feminism geprägt ist, zeigt sich, dass selbst eine sorgfältige Analyse dessen bereits neue Binarismen erzeugt: So erscheint die Gruppe der »Feministinnen«, die jene Sisterhood als Kampfbegriff über Jahrzehnte verwendete und damit auf das implizite

48 Reuter, Julia / Karentzos, Alexandra (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012. 49 1988; Spivak 2007. 50 Chakrabarty, Dipesh: A Small History of Subaltern Studies. In: Schwarz, Henry / Ray, Sangeeta (Hg.): A Companion to Postcolonial Studies. London: WileyBlackwell, 2005, 467-485. Hier: 471.

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Wissen setzte, was es bedeutet, Schwester unter Schwestern zu sein, unversehens wieder als eine neue, homogen erscheinende Gruppe, die es doch nie gegeben hat. Als hybrid wird diese Konstruktion feministischer Verwandtschaft gerade nicht erkannt.51 In dem wichtigen Punkt der destabilisierenden Wiederholung kreuzen sich allerdings Bhabhas Ansatz der kolonialen Mimikry mit der Butlerschen Performativität: Über die verschiebende Wiederholung hegemonialer Normativität entstehen nicht nur Effekte der Verfremdung und Parodie. Vielmehr werden die zitierten Ordnungen selbst als Konstruktionen ohne originalen Ursprung, als Zitation der Zitation, sichtbar und so in ihrer Wirkmächtigkeit destabilisiert. 52 Nachhaltige Impulse für die Postcolonial Studies gingen von den Whiteness Studies aus, die seit 1997 mit der Monographie White von Richard Dyer und Whiteness: A Critical Reader von Mike Hill größere kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Es geht um den Perspektivenwechsel, der es ermöglicht, Auskunft über die Identität der/des Weißen als »unsichtbare Norm« zu geben und soziale Ungleichheit auch über unmarkierte kulturelle Differenz zu erkunden. In der Kolonialgeschichte gilt Whiteness als Signum hegemonialer Ansprüche der westlichen Welt. Zugleich ist sie Teil der Mimikry-Praxis in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften. Die unmarkierten Herrschaftspositionen werden über ihre Zitationen, Parodien und Verwerfungen sowohl unterlaufen als auch gefestigt. An der Kolonial- und Postkolonialliteratur wurden diese Forschungsansätze bereits überprüft und für neue Interpretationen genutzt. Männlichkeit und Kolonialismus ergeben bei genauerem Hinsehen ein mehr als binäres Gender- und Rassenkonstrukt. Vielmehr findet sich ein breites Spektrum an Identitätsentwürfen, wobei sich die ethnozentrische Perspektive auf die krisenhafte Männlichkeit im ethnisch hybriden Raum als Privileg der weißen

51 Gerund, Katharina: »Alle Menschen warden Schwestern?« Präsenz, implizites Wissen und feministische Solidarität. In: Ernst, Christoph / Paul, Heike (Hg.): Präsenz und implizites Wissen. Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegrife der Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript, 2013, 185-209. 52 Babka, Anna: Prozesse der (subversiven) cross-identification. Parodistische Performanz bei Judith Butler – koloniale mimikry bei Homi Bhabha. In: Grizelj, Mario / Jahraus, Oliver (Hg.): Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geiseswissenschaften. München 2011, 167-180.

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Männer erweist.53 An Texten, Filmen und Photographien zeigt sich eindrucksvoll, wie ausdifferenziert und divers sich Männlichkeit im britischen kolonialen und postkolonialen Diskurs darstellt: Von heroisch über queer bis weiblich präsentieren sich Männerfiguren, die sowohl für das westliche Hegemoniedenken einstehen als auch für die subversive Kritik daran.54 An der Genderforschung zur deutschen Kolonialkultur und -literatur ist zu beobachten, wie sich die Untersuchungsperspektiven in den letzten Jahren verändert haben: Von der binären Konstellation Schwarze Frau, weiße Herrin 55 über die Analyse autobiographischer und populärkultureller Texte hat sich die Aufmerksamkeit in jüngster Zeit auf die intersektionale Konstruktion von gender, race, class und die vor allem auch poetologisch interessanten Diskurse der Reinheit und Vermischung verschoben. Ein bedeutendes Forschungsfeld mit postkolonialen Ansätzen ist die Migrationsliteratur. Für die deutschsprachige Literatur seit den 1960er Jahren stellt sich die Frage, wie diese Literatur definiert werden kann: Sollen dazu ausschließlich migrantische Autorinnen und Autoren zählen oder auch Texte nicht-migrantischer Autorinnen, die über Migration, Transkulturalität und Einwanderungspolitik schreiben? Wie authentisch kann inter- und transkulturelle Literatur sein, wenn man einen antiessentialistischen Identitätsbegriff zugrunde legt? Migrationsliteratur verhandelt nicht allein Effekte kultureller Hybridisierung und Durchkreuzung, sondern hat häufig auch den Anspruch, diese Diskurse poetologisch entsprechend zu reflektieren. Dazu gehören hybride bilinguale Neologismen wie bei Emine Sevgi Özdamar oder die lyrisch in Szene gesetzte globaleuropäische Innen/Außenperspektive im Werk Yoko Tawadas und Anna Kims.

53 Gaál-Szabó, Péter: Masculine Social Space as Transparent Space. In: drs.: »Ah done been tuh de horizon and back«. Zora Neale Hurston’s Cultural Spaces in Their Eyes Were Watching God and Jonah’s Gourd Vine. Frankfurt am Main (al): Peter Lang, 2011, 81-93. 54 Yekani, Elahe Haschemi: The Privilege of Crisis. Narratives of Masculinities in Colonial and Postcolonial Literatur, Photography and Film. Frankfurt am Main: Campus, 2011. 55 Mamozai, Martha: Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den Kolonien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1982.

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Postcolonial Studies setzen sich im Deutungskanon der germanistischen Literaturwissenschaft nur zögerlich durch. Der/die Fremde ist zwar in Kanontexten als Figur vielfach untersucht worden, aber »fremde« Texte »fremder« Autorinnen haben es immer noch schwer, wissenschaftlich wahrgenommen zu werden. Dabei stellen die Postcolonial Studies gerade für eine Erweiterung des Blicks in diese Richtung geeignetes Instrumentarium zur Verfügung. Ihre Ansätze taugen nicht nur für historiographische Kanonrevisionen, sondern auch für die weitere Eröffnung von Trans- und Interkulturalitätsperspektiven, z.B. auf die Gegenwartsliteratur schwarzer Frauen in Deutschland, aber auch auf die Literatur von »postkolonialen« Autorinnen wie Barbara Frischmuth oder von transkulturellen Dokumentarautorinnen wie Juli Zeh. Wie und mit welchen Verfahren Texte der Gegenwartsliteratur, die verschiedene Konstruktionen von Identität zum Gegenstand haben, »Andrersheit« thematisieren, konstruieren und dekonstruieren, das soll im vorliegenden Band gezeigt werden. Daher muss zunächst noch sowohl das Verhältnis von Narratologie und Gender-Studies als auch das von Narratologie und Postcolonial Studies genauer geklärt werden.

1.4 E RZÄHLEN , I DENTITÄT , G ESCHLECHTERKONSTRUKTIONEN Neuere Entwicklungen in der gender-orientierten Erzähltheorie und Erzähltextanalyse wären zwar kaum denkbar ohne die Ansätze und Kategorien der feministischen Narratologie56, doch sie haben einige von deren Konzepten auch einer Kritik unterzogen und sie weiterentwickelt hin zu einer kulturwissenschaftlichen Erzählforschung, die in stärkerem Maße den Einsichten aktueller gender-theoretischer Ansätze Rechnung trägt. Die Kritik richtet sich zum einen v. a. gegen die in der feministischen Narratologie vorherrschende Tendenz, traditionelle Geschlechteroppositionen zu übernehmen, indirekt zu bestärken und damit unfreiwillig wiederherzustellen. Solche Vorstellungen werden in der neueren Geschlechterforschung kritisch hinterfragt. Im Zuge der performativen Wende (performative turn) in den

56 Nünning, Vera / Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart: Metzler, 2004.

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Gender Studies ist zum anderen das in der feministischen Narrarologie noch stark ausgeprägte Erbe des Strukturalismus generell einer Kritik unterzogen worden. Dadurch hat sich das Interesse erstens verlagert von der Frage nach Erzählperspektiven und Subjektpositionen und von der bloßen Ergänzung traditioneller Modelle der Erzähltheorie um bestimmte Kategorien hin zu neuen Fragen nach der narrativen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten, der performativen Qualität allen Erzählens und der »Performativität von Geschlecht«57. Das Narrative wird dabei als eine gattungs- und medienübergreifende kulturelle Praxis verstanden, die von weitreichender Bedeutung für Geschlechtskonstruktionen und Geschlechterverhältnisse ist, weil Erzählungen Vorstellungen von »Geschlecht« nicht nur reflektieren oder inszenieren, sondern auch hervorbringen. Aus dieser Sicht erscheint Erzählen somit als einer der performativen Akte, die Identitäten und Geschlechterkonstruktionen überhaupt erst erzeugen und kulturell stabilisieren. Zweitens ist die in der feministischen Narratologie noch vorherrschende Konzentration auf Literatur von Autorinnen bzw. so genannte »Frauenliteratur« in den literaturwissenschaftlichen Gender Studies inzwischen durch eine mehrfache Erweiterung des Gegenstandsbereichs und der Fragestellungen überwunden worden. So wird die narrative Konstruktion von Geschlechtsidentitäten zum einen in Werken von Autorinnen und Autoren untersucht. Zum anderen geht es längst nicht mehr nur um »Frauenbilder«, sondern auch um narrative Konstruktionen - und Dekonstruktionen – historischer Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie um die Wechselwirkung von Geschlechterkonstruktionen. Diese konstruktivistischen und dekonstruktiven Tendenzen gehen einher mit einer Infragestellung von autonomen Subjektpositionen und einer Zurückweisung essentialistischer Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit. Drittens hat die neuere gender-orientierte Erzählforschung wesentliche Impulse durch die Weiterentwicklung der strukturalistischen Narratologie erhalten, die sich in den letzten Jahren in eine Reihe von »post-klassischen« Erzähltheorien ausdifferenziert hat. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich

57 Butler, Judith: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of »Sex«. New York, London: Routledge, 1993 (dt. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997).

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der Akzent von der Theorie- und Modellbildung auf die Anwendung erzähltheoretischer Kategorien bei der Untersuchung von Erzählungen in unterschiedlichsten Gattungen und Medien verlagert. Zudem sind eine Abwendung von den formalistisch-strukturalistischen Grundlagen und eine gleichzeitige Hinwendung zu den interpretatorischen und kulturwissenschaftlichen Fragen der Cultural Studies und der Gender Studies zu beobachten. An die Stelle der sowohl in der traditionellen strukturalistischen als auch der feministischen Narratologie im Vordergrund stehenden Beschreibung von Textmerkmalen sind sowohl die Dynamik und die kognitiven Mechanismen des Rezeptionsprozesses (kognitive Narratologie) als auch die dialogische Beziehung zwischen Texten und ihren kulturellen Kontexten (kontextbezogene Ansätze) in das Zentrum des Interesses gerückt. Im Gegensatz zur ersten Phase der feministischen Narratologie, die noch ganz auf literarische Erzähltexte konzentriert war, zeichnen sich viele der neuen Ansätze in der gender-orientierten Erzähltheorie und Erzähltextanalyse durch eine Reihe von produktiven Grenzüberschreitungen aus. So werden zum einen in zunehmendem Maße auch Erscheinungsformen des Erzählens in anderen Gattungen und Medien berücksichtigt. Auf diese Weise ist die dominant textzentrierte, intragenerische und intramediale Narratologie strukturalistischer Provenienz weiterentwickelt worden zu einer transgenerischen und intermedialen Erzählforschung58. Zum anderen richtet sich das Interesse an dem Wechselverhältnis von Narration und Geschlecht längst nicht mehr nur auf literarische Texte und Medien, sondern erstreckt sich inzwischen auch auf nichtliterarische Diskurse und andere Disziplinen (z. B. die Historiographie) sowie auf die epistemischen Funktionen des Narrativen auf der Ebene der Produktion und Darstellung kulturellen Wissens sowie bei dessen Institutionalisierung und Legitimierung. Versucht man, den Erkenntnisgewinn der oben umrissenen Entwicklungstendenzen zu resümieren, so kann man die wichtigsten Verdienste schlagwortartig verkürzt mit fünf Begriffen zusammenfassen: Operationalisierung, Kontextualisierung, Historisierung, Sinnorientierung und Funktionspotenzial. Die damit genannten Leistungen, die in ihrer Gesamtheit

58 Nünning, Vera / Nünning, Ansgar (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2002.

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nicht nur zu einer beträchtlichen Horizonterweiterung, sondern auch zu einer Erhöhung des Anwendungspotenzials und der Relevanz von Erzähltheorie und Erzähltextanalyse geführt haben, sollen abschließend kurz erläutert werden. Erstens ermöglicht die Allianz von Narratologie und Gender Studies eine terminologisch und methodisch präzise Operationalisierung kulturwissenschaftlicher und gender-kritischer Fragestellungen bei der Analyse und Interpretation literarischer Texte. Sowohl die strukturalistische Narratologie als auch neuere Ansätze der »post-klassischen« Erzähltheorie stellen der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung ein breites terminologisches und methodisches Repertoire an Kategorien zur Analyse und Interpretation narrativer Texte und Medien zur Verfügung, das in den letzten Jahren für gender-theoretische Fragestellungen fruchtbar gemacht worden ist. Zweitens zählt es zu den Verdiensten der bislang vorliegenden Bausteine einer »feminist poetics of narrative« und einer gender-orientierten Erzähltextanalyse, dass sie sowohl die reine Textzentriertheit der Narratologie als auch die naiv mimetische Sicht früher feministischer Arbeiten durch neue Formen und Strategien der Kontextualisierung überwunden haben. Eine kulturwissenschaftliche und gender-orientierte Erzählforschung trägt der dynamischen Wechselwirkung zwischen Literatur und historischer Wirklichkeit Rechnung. In Anlehnung an den New Historicism fassen Warhol und Lanser literarische Texte als Produkte ihres Entstehungskontexts auf und gehen der Frage nach, wie Romane gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Probleme sowie das soziokulturelle Wissen der jeweiligen Epoche aufgreifen und mit literaturspezifischen Gestaltungsmitteln kommentierend sowie interpretierend verarbeiten59 Obgleich die Frage, wie die Kontextualisierung von literarischen Themen und Formen mit historischen, biographischen, sozialen und politischen Bedingungsfaktoren im Einzelnen methodisch zu bewerkstelligen ist, noch keineswegs endgültig geklärt ist, hat die gender-orientierte Erzähltextanalyse der kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht eine Reihe wertvoller Impulse gegeben. Im Rahmen einer feministisch orientierten und gender-

59 Warhol, Robyn R.: Gendered Interventions: Narrative Discourse in the Victorian Novel. New Brunswick: Rutgerts UP, 1986.

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bewussten Erzähltextanalyse gewinnen Romane somit einen eigenständigen Wert als aufschlussreiche Quellen für eine literatur-, kultur- und mentalitätsgeschichtlich orientierte Erzählforschung, die die Analyse von Romanen mit weitreichenden kulturwissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft. Ein drittes wichtiges Verdienst besteht darin, dass die gender-orientierte Erzähltheorie und Erzähltextanalyse das Bewusstsein für die Historizität und den Wandel von Erzählformen enorm geschärft hat. Im Gegensatz zur ahistorischen Herangehensweise der strukturalistischen Erzähltheorie hat die feministische Narratologie seit ihren Anfängen stets nach der historischen und kulturellen Bedingtheit von Erzählformen gefragt und damit deren Wandel in den Blick gerückt. So gibt es in jeder Epoche nicht nur bestimmte kulturell verfügbare Plots, sondern auch privilegierte Techniken der erzählerischen Vermittlung auf der discourse-Ebene. Auch alle anderen Bauformen des Erzählens - z. B. die Raumdarstellung, die Zeitdarstellung und die Figurendarstellung - unterliegen geschichtlichen Veränderungen. Es ist nicht zuletzt auf die skizzierte Kontextualisierung und Historisierung zurückzuführen, dass die gender-orientierte Erzählforschung viertens ganz entschieden die Sinnorientierung und die Bedeutungsdimensionen von Literatur in den Mittelpunkt des Interesses gestellt hat. Dadurch rückt sie nicht nur den Inhalt oder die Form literarischer Erzähltexte in den Blick, sondern auch die Semantisierung von Erzählformen. Bereits die Ausgangsfrage nach dem Beitrag, den Erzählformen zur Konstruktion von Geschlechtsidentität(en) und Geschlechterdifferenz leisten, lässt erkennen, dass es vor allem um den Zusammenhang von Form und Bedeutung und damit um den Sinn von Literatur geht. Nicht weniger wichtig ist fünftens die Tatsache, dass durch einen kulturwissenschaftlich erweiterten Begriff des Narrativen das Funktionspotenzial narrativer Texte und Medien in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Im Gegensatz zur klassischen Narratologie beschränkt sich die genderorientierte Erzähltextanalyse nicht auf die Beschreibung von Erzählformen, sondern fragt auch und vor allem nach den historisch und kulturell variablen Funktionen, die diese jeweils erfüllen. Erst dadurch gerät die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erzählformen und Geschlechterkonstruktionen, die mit den Formeln »narrating gender« und »making gendered selves« prägnant umrissen wird, überhaupt erst in den Blick. In einigen aktuellen Arbeiten zeichnen sich Ansätze zu einer Erweiterung des Gegenstandsbereichs ab, die in Richtung einer hybriden Er-

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zähltheorie weisen. Die Verbindung gender-orientierter Erzähltheorie mit anderen postklassischen Narratologien – insbesondere in diesem Fall mit der postkolonialen Narratologie – vervielfältigt neue Perspektiven. Die bislang in der gender-orientierten Erzähltheorie weitgehend festzustellende Aussparung der Faktoren class, race und ethnicity wird weiten Bereichen der Literatur nicht gerecht, da sie die komplexen sozio-kulturellen Bedingungen außer Acht lässt, unter denen sex, gender und sexuality konstruiert werden. Eine Berücksichtigung der Wechselwirkung der drei letzten genannten Kategorien mit Faktoren wie class, race und ethnicity, aber auch Alter, Bildungsstand und Religionszugehörigkeit erscheint insbesondere bei einer Beschäftigung mit literarischen Texten aus postkolonialen Literaturen und Migrantenliteraturen unabdingbar, was einen wesentlichen und unmittelbaren Einfluss auf Identitäts- und Alteritätskonstruktionen hat.

1.5 P OSTKOLONIALES E RZÄHLEN : N ARRATIVE V ERMITTLUNG POSTKOLONIALER I DENTITÄTSENTWÜRFE In der Literaturwissenschaft geht die postkoloniale Theorie von einer sehr kontextbewussten Literaturkonzeption aus, allerdings gibt es immer häufiger Versuche, textimmanent und formal orientierte erzähltheoretische Ansätze mit den dominant thematisch, kontextuell und ideologiekritisch ausgerichteten postkolonialen Paradigmen zu verknüpfen. Anfänglich hat die postkoloniale Literaturkritik, so Paul Michael Lützeler, vor allem Texte behandelt, die von Autorinnen aus ehemaligen Kolonialländern bzw. aus Staaten der »Dritten Welt« geschrieben worden waren. Zu den existentiellen Erfahrungen dieser Autorinnen gehörte das Leben zwischen den Zivilisationen, die Erfahrung kultureller Hybridität.60 Laut Hausbacher hat sich inzwischen der Anwendungsbereich der postkolonialen Theorie stark erweitert. Von postkolonialen Gesichtspunkten aus werden (erstens) all jene historischen Zeugnisse der Weltliteratur untersucht, die den Kolonialismus (sei es oppositionell oder affirmativ) thematisieren, die im Sinne des postkolonialen Projekts geschrieben worden sind.

60 Lützeler, 2005, 99f.

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Neuerdings gibt es auch Tendenzen, die Literatur von Minoritäten und Ausländern unter postkolonialen Aspekten zu lesen, wobei es zu interessanten Fusionen des multikulturellen und postkolonialen Diskurses kommt.61 Als Gemeinsamkeit könnte festgestellt werden, dass sich alle Ausrichtungen der postkolonialen Literaturkritik haben könnte folglich ihr Fokus auf die literarische Inszenierung von interkulturellen Begegnungen fokusieren. Hannes Schweiger, der in dem Aufsatz »Zwischenwelten. Postkoloniale Perspektiven auf Literatur von Migrantinnen« (2005) ebenso ähnlichen Versuch unternimmt, zählt folgende Aspekte zu diesen thematischen Überschneidungen von postkolonialer Theorie und Migrationsliteratur: »Erstens das Migrationserlebnis als einschneidendes Erlebnis, bei dem Grenzen einerseits überschritten werden, andererseits neue und andere Grenzen gezogen bzw. die bisherigen Grenzen verschoben werden. Zweitens die Problematisierung von Identität vor dem Hintergrund der Migrationserfahrung. Drittens das In-FrageStellen von Konzepten wie Nation und Kultur sowie von essentialistischen Identitätszuschreibungen. Viertens lässt sich in den Texten Bhabhas wie auch in jenen von Migrantinnen der performative Charakter von Identität, Kultur, Nation finden. Fünftens stehen häufig Machtverhältnisse und das Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und Minorität im Mittelpunkt. Und sechstens, um die noch erweiterbare Auflistung hier zu beenden, wird einerseits auf das Potential einer Position zwischen den Kulturen im so genannten Dritten Raum verwiesen. Andererseits aber wird auch die Belastung und Problematik einer solch prekären Situation in den Zwischenräumen deutlich.«62

Allerdings relativiert Schweiger die Produktivität dieses Ansatzes auch, wenn er meint, dass damit der Blick auf die Texte ein eingeschränkter sei, sie zum Objekt eines theoretischen Diskurses würden und damit die Sicht auf andere Aspekte dieser Texte verstellt wäre.63

61 Ebd. Zitiert von Hausbacher, 2009, 130. 62 Schweiger, Hannes: »Zwischenwelten. Postkoloniale Perspektiven auf Literatur von MigrantInnen.« In: Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Eigene und anderer Fremde. »Postkoloniale Konflikte« im europäischen Kontext. Wien: Turia&Kant, 2005, 216-227, hier: 217. 63 Ebd. 225.

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In dem Aufsatz »Welche Rolle spielt der literarische Text im postkolonialen Diskurs?« überprüft auch Oliver Lubrich verschiedene Richtungen der Postcolonial Studies - diskursanalytische Arbeiten (Said, Pratt, Zantop), binäre Schematisierungen (Todorov, Greenblatt) und dekonstruktivistische Ansätze (Bhabha) – wie sie mit literarischen Texten umgehen. Lubrich macht darauf aufmerksam, dass postkoloniale Theorie, wenn sie denn überhaupt auf die Lektüre konkreter Texte hin orientiert ist, mit der Literatur genau das tut, was sie dieser vorwirft: die vereinfachende Modellierung von Alterität nach vorgegebenen Maßstäben.64 Dieses »Defizit« kann die postkoloniale Theorie wettmachen, wenn sie Lektüre-Techniken entwickelt, die der Komplexität der kolonialen und postkolonialen Erfahrungen und der Literatur, in denen diese reflektiert werden, gerecht(er) werden. Oftmals werden die Kennzeichen postkolonialer Literatur sehr vereinfacht mit postmodernen Schreibweisen gleichgesetzt.65 Beide bevorzugen eine Ästhetik des Fragmentarischen, beide arbeiten mit Formen der Marginalität und der Doppeldeutigkeit, an den Strategien der Ablehnung des Entweder-Oder, an allen Formen der Nachahmung, der Parodie und der Widerspiegelung interessiert.66 Wie manisfestiert sich aber diese Ästhetik in den konkreten Texten? Auf diese Frage antwortet die Arbeit von Birk/Neumann (2002), die sich auf die zentralen Schnittstellen zwischen ausgewählten Konzepten des postkolonialen Theoriekomplexes und Kategorien der Erzähltheorie fokussiert und aufzeigt, wie eine primär textimmanent orientierte Erzähltheorie strukturalistischen Ursprungs mit in erster Linie thematisch-inhaltlich ausgerichteten postkolonialen Ansätzen zusammengeht. In postkolonialen Analysen wurden bislang nur selten literaturwissenschaftliche Beschreibungsverfahren der Erzähltheorie verwendet, obwohl gerade erzähltheoretische Modelle dazu beitragen, genau und präzi-

64 Lubrich, Oliver: »Welche Rolle spielt der literarische Text im postkolonialen Diskurs?« In: Archiv 242/157, 2005, 16-39, hier: 16. 65 Unter anderem bei Lützeler, Räume der literarischen Postmoderne, 2000, und Duclot-Clement, Nathalie: »Interkulturelle Spannungen und die Ästhetik des zeitgenössischen Romans – Bildwelten der Ernüchterung«. In: Müller-Funk / Wagner (Hg.): Eigene und anderer Fremde, 2005, 228-240. 66 Duclot-Clement, 2005, 237.

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se beschreiben zu können, wie thematisch und ideologisch Identifikationsprozesse sprachlich und narrativ textualisiert werden67: »Eines mag die Erzähltheorie zur postkolonialen Debatte beizusteuern haben, nämlich Präzision. Viele der Beiträge postkolonialer Literaturtheorie können eine präzisere Einordnung ihrer Doktrinen in die strukturalistische Tradition gut gebrauchen.«68

Auch Roy Sommer stellt fest, dass gerade diese Verbindung von kulturwissenschaftlichen Konzepten mit Beschreibungsmodellen und Analysekategorien der Narratologie besondere Aufmerksamkeit verdient, »da literarische Texte die Identitätsproblematik nicht expositorisch abhandeln, sondern narrativ inszenieren«69. Dabei ist zu überprüfen, wie Erzähltechniken im multi- oder transkulturellen Sinne semantisiert sind und ob Gattungskonventionen durch Migrationsliteratur modifiziert werden. Versteht man postkoloniale Literaturen als Ausdruck eines antiimperialistischen Diskurses, der versucht, etablierten (europäischen) Vorstellungen von Literatur, Kultur, Geschichte, Ethnizität, Identität usw. eigenständige Modelle entgegenzusetzen, dann hat eine postkoloniale Literaturkritik das Ziel, die Formation von individuellen und kulturellen Identitäten, die Wahrnehmungs- und Konstruktionsweisen von Alterität zu analysieren und die in den Texten implizit vorgenommene Beurteilung von transkultureller Hybridität zu untersuchen70 und in der Folge zu zeigen, wie diese soziokulturellen Kategorien mit formalen, narratologischen Analysekategorien korreliert werden können.

67 Hausbacher, 2009, 136. 68 Fludernik, Monika: Grenzgänger zwischen Kulturen. Würzburg: Ergon, 1999, 96. 69 Sommer, Roy: Fictions of migration: Ein Beitrag zur Theorie und Gattungstypologie des zeitgenössischen interkulturellen Romans in Großbritannien. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2001, 18. 70 Birk, Hanne / Neumann, Birgit: »Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie«: In: Nünning / Nünning, Neue Ansätze in der Erzähltheorie, 2002, 115-152, hier: 118.

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Die Narratologie konzentriert sich auf die Art und Weise, in der Erzähltexte Identitäts- und Alteritätskonstruktionen produzieren, und ermöglicht so präzise Beschreibungen ihres interkulturellen Wirkungspotentials. Allerdings lassen sich Erzähltechniken als künstlerische Ausdrucksmittel weder komplett katalogisieren, noch können ihnen bestimmte Funktionen eindeutig zugewiesen werden, wie dies Nünning/Nünning (2000) nachgewiesen haben.71 Die folgenden Kriterien72 präsentieren keine vollständige Liste interkultureller Erzähltechniken. Es geht vielmehr darum, anhand einiger Kategorien der Erzähltextanalyse, über die sich Konzepte des postkolonialen Theoriekomplexes, allen voran deren zentrale Schlüsselkategorien Identität, Alterität und Hybridität, in die Texte einschreiben, exemplarisch Zusammenhänge zwischen Darstellungsverfahren und dem textuellen Wirkungspotential für die folgenden Textanalysen aufzuzeigen. Damit sind einige sehr wichtige, aber längst nicht alle in Frage kommenden Analysekategorien erfasst, mit deren Hilfe sich Identitäts- und Alteritätskonstruktionen in den folgenden Textanalysen beschreiben lassen. »Letztlich können alle narrativen Verfahren, wenn sie entsprechend semantisiert sind, aus interkultureller Sicht relevant sein.«73 An erster Stelle sind jene Kategorien zu nennen, die mit der Analyse von Raumdarstellungen zusammenhängen, denn die literarische Darstellung von Räumen ist in vielen Fällen semantisiert. Diesbezüglich ist auch der Zusammenhang zwischen postkolonialer Literaturtheorie und erzähltheoretischen Überlegungen besonders eng.74 Postkoloniale Literatur so lässt sich feststellen - ist topographische Literatur. In der Vielfalt der literarischen Räume, die sie gestaltet, reflektiert sie im Sinne Salman Rushdies die Tatsache, dass die Einteilung der Welt nicht auf isolierte physische,

71 Ansgar Nünning (2000, 31) weist am Beispiel der Multiperspektivität daraufhin, dass es »keine eins-zu-eins Korrelation zwischen Formen und Funktionen im Sinne eines ›form-to-function mapping bzw. function-to-form mapping‹ gibt, sondern dass narrative Verfahren ›je nach Werkzusammenhang und historischem Kontext ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen‹«. 72 Hausbacher, 2009, 138-144. 73 Sommer, 2001, 71. 74 Birk/Neumann, 2002, 135.

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kulturelle und politische Gegebenheiten zurückgeht, sondern vor allem ein Produkt sozialer Konstrukte und imaginärer Geographie ist.75 Laut Birk und Neumann bieten besonders die Selektion, Relationierung und Struktur des erzählten Raums sowie räumliche Oppositionen oder Bezüge Unterwuchungsansätze. Für die erzählerische Vermittlung von Identität und Alterität sind im postkolonialen Kontext. Grenzkonstrukte bzw. das Phänomen der Grenzüberschreitung relevant, da diese sowohl in sozialer, politischer wie philosophischer Hinsicht semantisch aufgeladen sein können.76 In diesem Zusammenhang gilt es etwa zu untersuchen, welche Rolle Grenzen in Texten beigemessen wird, ob Grenzen eher rigide oder flexibel inszeniert werden, ob Transgression kulturell möglich und wünschenswert erscheint, ob verschiedene Orte, wie etwa Heimat und Exil, miteinander kontrastiert werden, und welche Rolle Zwischen-Räume (»in-between spaces«) spielen. Einige Textanalysen der folgenden Kapitel untersuchen deshalb immer wieder die Frage nach der narrativen Umsetzung des diasporischen bzw. migratorischen displacement.77 Dabei wird offensichtlich, dass mit der Orientierungsproblematik und dem häufig anzutreffenden Topos der Ortlosigkeit auch die Identitätsproblematik zusammenhängt, das räumliche »inbetween« wird auf das identitäre übertragen. Die Vielfalt der literarischen Räume wird in der Migrationsliteratur tendenziell auf dynamische Raummodelle reduziert, die Bewegungen - von der Peripherie ins Zentrum, aus dem Osten in den Westen usw. - narrativ inszenieren. Dabei können verschiedene Figurationen gestaltet sein, wie beispielsweise die metaphorische Präsenz der Insel mit ihrer eigentümlich durchlässigen Grenze und der imaginären Doppelung von Innen und Außen. Sehr häufig spielen Grenzräume eine wesentliche Rolle und übernehmen Signalfunktion für Krisen- oder

75 Bachmann-Medick, Doris: »Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung«. In: Breger, Claudia / Döring, Tobias (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam, Atlanta: Editions Rodopi, l998, 31. 76 Birk/Neumann, 2002, 135f. 77 Lubrich, 2005, 16. Lubrich spricht in diesem Zusammenhang von »poetics of displacement«.

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Umbruchsituationen. Der Grenzgänger befindet sich im Dazwischen, in der Ortlosigkeit und insofern auch in einer Migrationssituation. »Das hybride Individuum als ein in den Transferprozessen befangenes Subjekt kann auch als derjenige begriffen werden, der im Unheimlichen sein Heim verortet, als ein Grenzgänger zwischen den Differenzen.«78

In »Imperial Eyes« (1992) beschreibt Mary Louise Pratt das Phänomen des »anti-conquest«: hierbei arbeitet sie gegen eine Erzählhaltung, die durch eine (eurozentrische) »Pose« des Alles-Verstehens und der intellektuellen Vereinnahmung charakterisiert ist, eine nicht-autoritäre Schreibweise, bei der sich nicht ständig ein subjektives Erzähler-Ich in den Vordergrund drängt und überlegenes Bescheidwissen vortäuscht. Der koloniale Blick wird als jene Autoren-Perspektive umschrieben, die gleichsam alles olympisch überblickt, alles eindeutig zu bewerten weiß. Migrationstexte lösen diesen kolonialen Blick durch einen postkolonialen ab, bei dem die Autorinnen Unsicherheiten und Irritationen zulassen, mögliche Irrtümer und die Begrenztheit ihrer Erfahrung eingestehen und nicht mehr die koloniale »Herrenattitüde« aufrecht erhalten. Diese bei Pratt noch als allgemeine Erzählhaltung beschriebene Pose wird konkret »messbar« in der jeweiligen Erzählsituation, die immer auch ein bestimmtes textuelles Wirkungspotential entfaltet. Selbstredend entspricht beispielsweise eine auktoriale Erzählsituation tendenziell stärker einer imperial-kolonialen »Pose« als eine IchSituation. Darüber hinaus kann eine Analyse der Kontrast- und Korrespondenzrelationen der einzelnen in einem Text vorkommenden Perspektiven bzw. eine Analyse der Perspektivenstruktur Aufschluss geben über die ideologische Haltung, die in einem Text mehr oder weniger implizit vermittelt wird. Eine offene Perspektivenstruktur sowie multiperspektivisches Erzählen dienen der Überwindung polarisierender Alteritätsmodelle und können als Charakteristikum des postkolonialen und migratorischen Diskurses gewertet werden. Auch Sommer (2001) scheibt in seinen Textanalysen der Ausgestaltung und Gewichtung der Figurenperspektiven eine wesentliche Rolle zu, indem er feststellt:

78 Fludernik, 1999, 107.

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»Die Analyse der Perspektivenstruktur, d.h. der Gesamtheit der zwischen den Einzelperspektiven bestehenden Kontrast- und Korrespondenzrelationen [...], gibt Aufschluß über die soziale und ethnische Struktur der fiktionalen Welt und den Stellenwert individueller und kollektiver Repräsentationen: Wer wird wie dargestellt? Welche Positionen werden artikuliert, welche marginalisiert? Bestätigt ein Text stereotype Einstellungen und Annahmen der Majorität innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft, oder privilegiert er subversive Sichtweisen?«79

Das narratologische Konzept der Multiperspektivität ermöglicht mit quantitativen und qualitativen Analysekategorien die Beantwortung dieser Fragen. Aus transkultureller Sicht sind vor allem die vier Aspekte der Selektion, Relationierung, Hierarchisierung und Funktionalisierung von Perspektiven hervorzuheben. Auch die Analyse der erzählerischen Vermittlung kann Aufschluss über die in einem Erzähltext inszenierten Identitäts- und Alteritätskonzepte geben. Sommer hebt hervor, dass die Erzählinstanz als »personalisiertes Orientierungszentrum«80 nicht nur Kohärenz innerhalb der fiktiven Welt schafft, sondern auch die »kulturelle Eingebundenheit von Figuren«81 verdeutlicht und Beurteilungskontexte für deren Handlungen und Einstellungen entwirft. Diese Bewertungsmaßstäbe werden insbesondere in den expliziten Stellungnahmen des Erzählers vermittelt, zu denen kritischironische Kommentare zu den Figuren, generalisierende Aussagen, aber auch appellartige Erzähleräußerungen wie z.B. Leseranreden zählen, die der Sympathielenkung dienen.82 Ein nächstes Kennzeichen der displacement ist die Ebene der Figuren, die nie ideologiefrei gestaltet ist. Die im Hinblick auf die Figurenkonzeption relevanten erzähltextanalytischen Fragen richten sich auf die Art ihrer Gestaltung, beispielsweise darauf, »ob die Figuren dynamisch bzw. statisch oder mehrdimensional bzw. typisiert wirken«83. Darüber hinaus kann die Frage gestellt werden, ob in den Texten eine transkulturelle Interaktion für

79 Sommer, 2001, 69. 80 Nünning, 1989, 122. 81 Ebd. 109. 82 Sommer, 2001, 70. 83 Birk/Neumann, 2002, 129.

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die Figuren überhaupt möglich bzw. wünschenswert ist. Birgit Wagner (2003) stellt fest, dass in postkolonialen Texten die (Roman)Figuren häufig gemischt und entwurzelt dargestellt sind. Auch die Zeitstruktur spielt in der narrativen Vermittlung von Identität und Alterität eine wichtige Rolle. Die Untersuchung der zeitlichen »order«, der Anordnung von Handlungselementen, ist insofern für den Migrationskontext relevant, weil sie sich besonders in der Beschreibung und Interpretation der narrativen Inszenierung von Erinnerung ausdrückt: »Sowohl auf individueller als auch auf kultureller Ebene kann in der erzählten Gegenwart z.B. die Präsenz der Vergangenheit strukturell hervorgehoben werden, um deren Einfluß auf die gegenwärtige Identität zu zeigen bzw. das Werden der Identität nachzuzeichnen.«84

So produziert migratorisches Erzählen immer auch individuelle bzw. (national-)kulturelle »Gegengeschichten« und kann eine Kanonrevision auslösen. Birk und Neumann führen die Kulturspezifität des jeweiligen Zeitverständnisses als weiteren Aspekt der narrativen Vermittlung von Identität und Alterität durch die Zeitstruktur in postkolonialen Texten an,85 denn nicht in allen Kulturen herrscht unser chronologisches Zeitverständnis vor. Zyklizität kann neben der Erinnerungsgestaltung auf thematischinhaltlicher Ebene auch das Wie des Erzählens bestimmen, eine Aufhebung der Erzählchronolgie und die Differenzierung von Vergangenheit und Gegenwart mehr oder weniger obsolet machen. Eine ganz wesentliche Rolle erfüllt die Kategorie der Doppelung in einer Poetik der Migration. Diese kann auf die Kategorien Zeit, Raum und Figuren angewendet werden. Sehr häufig arbeiten postkolonialmigratorische Texte mit der Duplizität von Zeit und Raum: Laut Laut Hausbacher werden verschiedene Orte miteinander verschränkt, sodass sich sog. »Mischorte« bilden, es wird analeptisch erzählt, um die unentrinnbare Verknüpfung von Gegenwart mit Vergangenheit aufzuzeigen, die unheimliche Rückkehr der Vergangenheit in die Gegenwart. Aber auch doppelte

84 Ebd. 140. 85 Ebd. 141.

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oder multiple Persönlichkeiten und Doppelgängerfiguren, wie sie auch das Freudsche Unheimliche kennt, sind paradigmatisch in postkolonialer Literatur.86 Deshalb spiegelt sich die Kategorie der Duplizität auch auf der Ebene der rhetorischen Figuren: Hier sind es in erster Linie solche, die Gefühlsambivalenz, das unheimliche Oszillieren zwischen verschiedenen Positionen und verschiedenen Doppelungen ausdrücken, wobei alle diese Figuren dazu dienen, Fixierungen, Stabilitäten sowie eine transparente Selbstidentität zu unterlaufen. So erscheint als ein gemeinsames Thema transkultureller Literatur gerade das Zusammenspiel von diversen psychischen Zuständen der Ambivalenz, der Doppelung, der verunsichernden Spaltung des Ich, die durch die Abspaltung von Heim, Familie und Heimat ausgelöst wird. »Sprache ist nicht primär ein Mittel der Kommunikation; sie ist vor allem ein Werkzeug kultureller Konstruktion, mit dessen Hilfe unsere wahre Identität und unser wahrer Sinn konstituiert werden«87, äußert Iain Chambers. Auch auf der Ebene der Sprache wird kulturelle Hybridität deutlich. Sie vermag es kulturelle Unentschiedenheit (auf der Ebene der Figurenrede sowie auf der des Erzählers) zum Ausdruck zu bringen bzw. zu verstärken und damit die Homogenität und Eindeutigkeit einfordernde Umwelt zu irritieren. Genau in dieser »indetermination of diasporic identity« 88 besteht nach Bhabha die Häresie der Migrantinnen. Es ist eine durch Mischung und Heteroglossie gekennzeichnete Sprache, durch die hybride Identitäten sprechen. Die Texte der transkulturellen Literatur sind oftmals mehrsprachig, häufig mischt sich auch das Englische als die Sprache der Globalisierung darunter. Birk/Neumann stellen auch eine Aufwertung der Oralität, der mündlichen Erzähltradition in postkolonialen-migratorischen Texten fest: »Im Gegensatz zu schriftlichen Repräsentationen ist diese tendenziell durch eine lose Zeitstruktur und durch einen von Wiederholungen, Abschweifungen und Rück-

86 Hausbacher, 2009, 141. 87 Chambers, Iain: Migration, Kultur, Identität. Tübingen: Stauffenburg, 1996, 28. 88 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London, New York: Routledge, 1994, 225 (dt. Die Verortung der Kultur. Übersetzt von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg, 2000).

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blenden geprägten Plot gekennzeichnet. So können Elemente oraler Tradition integriert und dadurch implizit im Rahmen der Konstitution der postkolonialen kulturellen Identität aufgewertet werden.«89

Außerdem sind in zahlreichen postkolonialen Literaturen eine revisionistische Umkehrung von Standardsprache und landeseigenen Varianten festzustellen, wobei der Gebrauch regionaler oder dialektaler Ausformungen des Englischen im kolonialen Roman zumeist der negativen Stigmatisierung einer kulturellen Alterität dient90. »Die Praxis der literarischen Mimikry wird in den postkolonialen- bzw. Migrationstexten häufig als Strategie eingesetzt, um gegen Mechanismen der identitären Festschreibung kritisch zu intervenieren. Mimetisches Nachahmen kolonialer Strukturen soll diese entlarven, rassistische Klischees werden ironisch zitiert oder dienen als spielerische Versatzstücke. In der Mimikry treffen allerdings Be- und Entgrenzungsprozesse zusammen, wodurch die doppelte Natur von Identitäten sichtbar wird. Sie ist die Figur einer nicht vollständigen, teilweise gescheiterten oder verhinderten Anpassung.«91

Kaja Silverman (1996) beschreibt Mimikry als eine Pose, eine aktive Identifizierungshandlung, die - in der mimetischen Bezugnahme auf gesellschaftliche Vorgaben - dem Subjekt (andere) Grenzen gibt. Sie impliziert zwar Handlungsfähigkeit, darf aber keinesfalls mit Wahlfreiheit verwechselt werden. In der Praxis ist nämlich Mimikry nicht notwendigerweise widerständig. Silverman argumentatiert aber für die Forderung nach einer nicht zuletzt durch Theatralisierung und Reflexion ermöglichten - Distanzierung von kulturellen Idealen und Normen, die in der künstlerischen Praxis die Form der Durchkreuzung von gleichmachenden Identifizierungen annehmen kann. Fiktion - das (literarisch) Hergestellte - reflektiert die The-

89 Birk/Neumann 2002, 143. 90 Ebd. 91 Breger, Claudia: »Mimikry als Grenzverwirrung. Parodistische Posen bei Yoko Tawada«. In: Benthien, Claudia / Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (Hg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart, Weimar: 1999, 176-206, hier: 183.

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atralität kultureller Identität, deren Ausstellung Silverman als eine der Bedingungen »mimischer« Subversion nennt, und macht die herrschende Norm als solche sichtbar. Die parodistische Pose der Mimikry unterminiert durch ihre (Schein-)Akzeptanz herrschender Grenzläufe die Fundamente ihrer Befestigung. Als eine weitere wichtige diskursive Strategie des kolonialen Diskurses nennt Hausbacher die Verwendung von Stereotypen, sowohl in ihrer Ausformung als Auto- wie auch als Heterostereotype, ist; sie sind in postkolonialen Texten zu finden, wenn auch (nur mehr) zum Zwecke ihrer Dekonstruktion. Wie Bhabha formuliert, ist das Stereotyp ein »unmögliches Objekt«92, da seine Artikulation (potentiell) immer vom Blick des Anderen durchkreuzt wird. Sommer verweist darauf, dass Vorstellungen, Bilder und mentale Konstruktionen, die in Fremdheitsdiskursen zirkulieren, sich häufig in einer stereotypisierenden und abwertenden »rhetoric of othering«93 manifestieren.94 Mit dem sog. »blurring of genres« (Geertz 1983), d.h. der Vermischung und Grenzverwischung von literarischen Texten und Theorien, die den postkolonialen Diskurs kennzeichnet, lässt sich geht die Vorliebe für die essayistische Form hervorzuheben, die sich durch Kritik und Offenheit, Wahrheitssuche und Dogmenfeindschaft, durch Fragen statt durch Antworten auszeichnet. Diese Beobachtung bestätigt auch Sommers (2001) These von der Modifizierung von Gattungskonventionen durch transkulturelle Literatur.95

1.6 D IE L UST

AM

E RZÄHLEN UND IHRE L EKTÜREN

Bei Autorinnen der Gegenwart scheint der Frauenkampf passé zu sein, ihre Texte sind am Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts erschienen. Sie sind durch viele Auffälligkeiten be-

92 Bhabha, 2000, 200. 93 Riggins, Stephen (Hg.): The language and politics of exclusion: others in discourse. Thousand Oaks: Sage, 1997, 1. 94 Sommer, 2001, 25. 95 Hausbacher, 2009, 143-144.

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stimmt: Mißtrauen, Aufbruch, Zerrissensein, Dekonstruktion. Einige Schriftstellerinnen haben sich schon viel Anerkennung (und Ablehnung) erfahren wie Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz, andere gehören zum von dem »Spiegel«- Kulturredakteur Volker Hage geprägten »Fräuleinwunder«. Diese Generation der Autorinnen hat ihre Lust am Erzählen entdeckt, sie selber »nüchtern und ohne Illusionen schreiben«, außerdem haben sie nach Hage »jene Naivität wiedergewonnen, die zum Erzählen gehört«.96 Die Autorinnen der Gegenwart leben in »Zwischenzeiten« und in »Zwischenorten«. Sie sind geübt im Umgang mit Marginalisierungen, finden zu ihrer »eigenen« Sprache und versuchen, »von den Rändern aus« ein anderes Zentrum zu rekonstruieren. Die kulturwissenschaftlichen Wenden reflektierend - indem sie mit Analysekategorien gender, race und class arbeiten - erfassen sie Überschneidungen von Identitäten: die Zerbrechlichkeit von Identitäts- und Alteritätskonzeptionen sowie die Fragilität und die Mobilität der Erinnerungskonstruktionen werden manifest. Brutale Machstrukturen (Ausländerfeindlichkeit, Krieg) in der Gesellschaft werden re-und dekonstruiert, das Erkennen des Eigenen im Fremden wird balanciert, und Sexualität und weiblicher Körper werden sichtbar gemacht. Durch Inszenierungen und Maskierungen sind Grenzen aufgelöst, Affirmation und Trivialität sind bewusst eingesetzte Verfahren, um Diskurse zu öffnen, scheinbar Festgefügtes zu trennen und Trennendes zusammenfügen zu können. Da in der Arbeit ein möglichst breites Spektrum an Schreibweisen aufgearbeitet werden soll, gilt die besondere Aufmerksamkeit den Darstellungsdifferenzen. Im Zentrum der Untersuchung stehen elf Werke, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben: Barbara Frischmuths Geschichte einer Muslimin, Der Sommer, in dem Anna verschwunden war (2004), Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn (2002), der erste Teil von Ágosta Kristófs Trilogie, Das große Heft97 (1987), der provozierende Roman

96 Hage, Volker: Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel 12/1999. 97 Ursprünglich 1986 in der französischen Sprache verfasst mit dem Titel Le grand cahier. Da das Buch in den meisten Fällen aufgrund der deutschen Übersetzung rezipiert wurde, und weil meines Erachtens Kristófs Roman eine spezielle Rich-

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Lust von Elfriede Jelinek (1989), die halb in Bildern gefasste Novelle von Anna Kim, Die Bilderspur (2004), Terézia Moras Erzählungsband Seltsame Materie (1999), Zsuzsa Bánks Der Schwimmer (2002), der Reiseroman von Marlene Streeruwitz, Nachwelt. (1999), Judith Hermanns Sommerhaus später (1998), der Reisebericht von Juli Zeh über Kosowo, Der Stille ist auch ein Geräusch (2004) und nicht zuletzt Jessica, 30. von Marlene Streeruwitz (2010). In erster Linie wurde das Corpus in der Perspektive der thematischtheoretischen Fragestellung zusammengestellt: Wie werden Differenzen markiert und verwischt, konstruiert und destabilisiert? Die Gegenstände bewegen sich im Wesentlichen jeweils innerhalb eines von vier Paradigmen: geographisch-kulturelle Fremdheit (Frischmuth, Streeruwitz, Móra, Özdamar), individuelle und kollektive Erinnerung (Bánk, Kim, Zeh), Grenzerfahrung von Krieg und Tod (Kristóf, Móra) sowie soziale Marginalisierung (Hermann, Özdamar, Jelinek, Streeruwitz. Alle Werke handeln dabei jeweils auch von einer europäischen Muslima, die eine wirkliche Entschleierung ihrer Persönlichkeit erlebt, wobei der westliche Blick mit der orientalischen Blick eng verbunden bleibt; der Roman Die Brücke vom Goldenen Horn beschreibt eine Protagonistin, die sich zwischen zwei Ländern bewegt. Das große Heft thematisiert die Lebensgeschichte von zwei Brüdern, die in Kriegszeiten von ihrer Mutter zur Großmutter aufs Land in Sicherheit gebracht werden; Zsuzsa Bánk beschreibt die ziellose Reise einer Familie durch Ungarn um 1956, während in Seltsame Materie Fremdheit als existenzielle Lebenserfahrung zum zentralen Thema wird. In Jelineks Lust stehen Gewalt und Perversion als sexuelle Abweichungen im Mittelpunkt; in der Bilderspur, die in die drei Teile: Suchen, Finden und Verlieren gegliedert ist, kommt es zu einer Übersetzung der Sprache in Bilder und von Bildern in Sprache. In Nachwelt. reist die Wienerin Margarethe Doblinger im Jahre 1990 nach Kalifornien; und Judith Hermanns Figuren bewegen sich zwischen Provinznestern und großstädtischen Selbstbewusstlern. In Zehs Die Stille ist auch ein Geräusch werden wir mit dem othering am Balkan konfrontiert und bei Streeruwitz

tung unter den Texten von Gegenwartsautorinnen auszeichnet, wurde der Roman in den Korpus aufgenommen.

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werden sexuelle Grenzüberschreitungen innerhalb der Gesellschaft ins Licht gebracht. Im Essay Le monolinguisme de l‘autre thematisiert Jacques Derrida seine französisch-jüdisch-algerische Herkunft und vor allem das komplexe Verhältnis zur französischen Sprache, die seine einzige »Muttersprache« und zugleich als Sprache des Kolonialismus und der antisemitischen Ausgrenzung nicht seine eigene ist. »Je n'ai qu'une langue, ce n'est pas la mienne.«98 Die »postkoloniale« Situation des franko-maghrebinischen Juden, der keiner sprachlichen, nationalen, kulturellen Identität habhaft werden kann, wird zu einer Allegorie der Dekonstruktion. Derrida dekonstruiert in diesem Zusammenhang das Konzept der Identität etymologisch über eine »chaîne sémantique«, die Eigenheit und Fremdheit miteinander verwirrt, »qui travaille au corps l'hospitalité autant que l'hostilité - hostis, hospes, hosti-pet, posis, despotes, potere, potis sum, possum, pote est, potest, pot sedere, possidere, compos, etc.«99 Die postkolonial inspirierte Dekonstruktion läuft auf denselben Befund hinaus wie der dekonstruktiv inspirierte Postkolonialismus: »Une identité n'est jamais donnée.«100 Die TheorieFusion des Poststrukturalismus, Postkolonialismus und Gender Studies, die so sie eklektisch, unsystematisch und rhetorisch abstrakt vollzogen wird, scheint gleichwohl äußerst fruchtbar zu sein. Wenn der (post)koloniale Diskurs hybrid ist, prinzipiell ambivalent, dekonstruierbar, dann muss eine Methodik der Textanalyse zu gewinnen sein, die weder in diskursanalytische Reduktionen noch in binäre Schematisierungen verfällt und die auch keine dialektischen Widersprüche und Aufhebungen produziert, sondern die Mehrdeutigkeiten dort aufsucht, als solche intakt lässt und zu beschreiben sich vornimmt, wo sie auftauchen: in der Lektüre. Die Herausforderung liegt folglich darin, Themen und Fragestellungen der Cultural Studies mit dem Instrumentarium textueller Analyse von Strukturalismus und Poststrukturalismus zu begegnen. Wie lässt sich der Ansatz des postcolonialism mit Gender Studies verbinden und dekonstruktivistisch weitertreiben, und zwar nicht in der Theorie, sondern konk-

98

Derrida, Jacques: Le monolinguisme de l'autre ou la prothèse d'origine. Paris: Editions Galilee, 1996, 13.

99

Ebd. 32.

100 Ebd. 53.

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ret und praktisch in der Lektüre? Wie lassen sich also beide Theoriekonzepte, das der Gender Studies und das des Postkolonialismus, mit dem der Erzähltheorie verknüpfen? Das methodologische Programm der folgenden Untersuchungen besteht darin, die oben diskutierten theoretischen Modelle der Narratologie, insbesondere die der postklassischen, des Postkolonialismus und der Gender Studies als heuristische tools so zu implementieren, dass im Rahmen strukturaler und dekonstruktiver Lektüren insgesamt ein Beitrag zu einer Theorie der semantischen Konstruktion und Dekonstruktion von »Alterität«, Andersheit, »Fremdheit«, »Identität« und »Differenz« geleistet werden kann.

2. Lektüren

2.1 K ULTURELLE UND RELIGIÖSE G RENZGÄNGE IN B ARBARA F RISCHMUTHS D ER S OMMER , IN DEM A NNA VERSCHWUNDEN WAR In Barbara Frischmuths Der Sommer, in dem Anna verschwunden war hat Anna immer alles auf eine Karte gesetzt, besonders wenn es um Liebe ging. Als sie Ali kennenlernte, der aus seinem Land hatte fliehen müssen, brach sie seinetwegen das Studium ab und kehrte mit ihm in ihre Heimatstadt zurück. Obwohl es die Familie nicht ganz leicht hatte, schien Anna glücklich zu sein. Doch eines Tages ist sie verschwunden. Weder Ali noch den beiden Kindern war vorher etwas aufgefallen. Sie warten, sie suchen nach ihr, sie sind verzweifelt. Langsam jedoch normalisiert sich wieder ihr Alltag, und jeder versucht mit dem Unerklärlichen fertig zu werden: Annas Mutter, Irene, reist an und kümmert sich um die Familie; Ali wird noch schweigsamer; die vierzehnjährige Tochter besinnt sich auf ihre türkischen Wurzeln und trägt plötzlich ein Kopftuch; Emmi, die mütterliche Freundin, versinkt in Verzweiflung. Manchmal kommt es ihnen so vor, als hätte Annas Verschwinden einen Krater aufgerissen, in dessen Abgrund sie etwas zu erkennen suchen. Aber aus der Tiefe tauchen nur Erinnerungen und Vermutungen auf. Hat sich Anna davongestohlen um ein bisschen Leben nachzuholen, oder ist ihr tatsächlich etwas zugestoßen? In folgender Textanalyse versuche ich meine These zu beweisen und zeigen, dass der Roman als ethnischer Text eine multikulturelle Lesemöglichkeit darstellt, weil mit Frischmuths Worten

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»auch ein völlig anderer Umgang miteinander als der der gegenseitigen Bezichtigungen möglich ist, beweist ein ums andere Mal die Literatur – vor allem die erzählende Prosa und der Roman – die mit Personen arbeitet und dabei geradezu selbstverständlich mit Atypischen, das uns Personen ja erst wirklich nahe bringt. […] Und vermittelt gerade dadurch ein differenziertes Bild jener Wirklichkeit, die in ihrer Dichte und Vielschichtigkeit nie ganz erfasst werden kann.«1

Der Text besteht aus dreiundzwanzig eigenständigen Kapiteln, die den Charakter von untereinander chronologisch nicht linear verknüpften short stories, eines »Gewebes« besitzen, der für Frischmuths Schreibweise sehr typisch ist. Alle Kapitel tragen den Namen der drei weiblichen Hauptfiguren, Emmi, Irene und Inimini, bis auf fünf Kapitel, in denen nur der IchErzähler »M.« vorkommt. Auch wenn dieser ganz »verschleiert« bleibt, kommt man durch ihn Anna, die eigentlich im ganzen Roman verschwunden ist, näher. Oft scheinbar nicht zusammenhängende Fragmente stehen nebeneinander, Figuren und Zeitebenen verschwimmen, Verbindungen werden kaum explizit hergestellt. Der Text verzichtet weitgehend auf erklärende Angaben, wie Namen und Ereignisse, die es den Lesern erleichtern könnten, die Erzählungen linear zu entschlüsseln und auf die Spur von Anna zu kommen. Darüber hinaus wechselt der inhaltliche Schwerpunkt von Kapitel zu Kapitel: Während die Beziehung zwischen der im Text nur namentlich genannten Protagonistin (Anna) und ihrer Familie eine Konstante der Kapitel darstellt, treten punktuell jeweils andere Figuren in den Vordergrund. Mit der Figur von Emmi, Irene und Inimini überrascht Barbara Frischmuth durch die vitale Schilderung beeindruckender Frauengestalten. Das erste Kapitel beginnt an einem Sonntag, »an dem Inimini zum ersten Mal ihr Kopftuch trug.«2 Anna, die Mutter, ist schon seit zwei Wochen verschwunden und plötzlich hängt eine Frau im Baum, die Mutter von Anna. Irene, so ihr Name, kehrt zurück in ihr altes Haus um für Inimini, Omo und Ali zu sorgen. Die Kapitel präsentieren unterschiedliche Weiblich-

1

Frischmuth, Barbara: Fremdeln und Eigentümeln. Essay. In: Acham, Karl (Hg.): Unbehagen und Ambivalenzen in Kultur und Politik, Zeitdiagnosen 3, Wien: Passagen, 2003, 16-17.

2

Frischmuth, Barbara: Der Sommer, in dem Anna verschwunden war. Roman. Berlin: Aufbau, 2004, 7. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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keitsvorbilder, mit denen sich der Text auseinandersetzt und die für die Protagonistin (ob es Anna ist?) und Erzählerin als Modelle dienen. Barbara Frischmuths Bemühen um eine kulturelle Verortung in der österreichischen Gesellschaft ist somit auch immer gekoppelt an eine Verbindung im gender-System, wobei sich fixe Oppositionen zwischen Ost und West, türkischer und österreichischer Kultur ebenso als instabil erweisen lässt, wie die zwischen männlich und weiblich geprägten Weiblichkeitsvorstellungen und »european feminine« Verhaltensweisen, zwischen Realität und Fiktion. Die einzelnen Kapitel sind durch unvermittelte Modus-, Tempus- und Perspektivenwechsel, sowie vielfache narrative Kontextuierungen geprägt. Bereits im ersten Kapitel fällt der gehäufte Gebrauch von Ironie und Humor auf. Sie zeigen den spekulativen Status der Erzählungen an, über den die Erzählerin im ersten Kapitel zu erklären versucht, warum Anna verschwunden war und die Familie mit der Ersatzoma Emmi völlig zerfallen ist. Doch immer wieder schlagen die Spekulationen der Erzählerin unvermittelt in Aussage, Konjunktiv in Indikativ um. Auf Derridas Theorie anspielend, bleibt im Text die Wahrheit »verschleiert«, das Rätsel von Anna wird als ein Bild der Wahrheit dargestellt. In dem Verschwundensein von Anna liegt vielleicht die Wahrheit, die Wahrheit des Schleiers. Die ganze Geschichte wird über die Struktur von Enthüllen und Verschleiern konstituiert. Dabei entsteht der Erzählerin die Möglichkeit, die Geschichte so zu erzählen, dass sie kaum eine relevante Aussage über das Leben ihrer Protagonistin macht. Die Geschichte der Verschwundenen muss »entschleiert« werden, ebenso wie die Grenzen zwischen den anderen weiblichen Figuren. Irene kehrt aus Berlin in die Provinz zurück, und möchte herausfinden, was in Annas Familie wirklich los war. Sie hat sich zwar entschlossen sich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontieren zu lassen, kann den Dingen aber noch nicht ins Auge sehen. Irene hatte eine Zeit lang auch das der typischen Frauenrolle entsprechende Leben geführt, dann ist sie schwanger geworden und versuchte das Kind allein mit Hilfe der Groβeltern zu erziehen. Aber sie wollte neue Grenzen ihrer Identität ausprobieren, wollte und konnte sich nie mit der Mutterschaft identifizieren. Mit Wurzeln und Traditionen brechend ist sie nach Berlin gegangen und hat das Kind den Groβeltern überlassen. »Aber Irene setzte sich durch, wie immer und bei allem. Und die meiste Zeit war Anna ohnehin bei Emmi.« (15) Sie hat zwar oft angerufen, aber hatte nie Geduld für das Kind. Und Emmi, die pensionierte Lehrerin hatte Zeit und Liebe für das Kind, sie war viel mehr ihre Mutter

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als Irene es hätte sein können. Anna war ein sehr glückliches Kind, konnte tatsächlich so glücklich sein, so sehr, dass es einem weh tat. Eine, die ihr Glück so leben konnte, würde auch ihr Unglück so leben müssen. Als Anna noch ein Kind war, veränderte sich die Farbe ihrer Augen, wenn die Stimmung umschlug. Von Blau nach Grün, erst recht wenn sie weinen musste. (15-16) Irene muss aber zuerst auf die Spuren ihres eigenen Lebens kommen um danach die verschleierte Wahrheit ihrer Beziehung zu Anna enträtseln zu können. Dass es ihr dabei weniger um die Rekonstruktion der Fakten an sich oder die Beschreibung von Annas Leben geht, sondern darum sich selbst zu dem in Beziehung zu setzen, was ihr als Faktum präsentiert wird – die Drohung, das schlechte Gewissen, dass sie auch schuld an dem Verschwinden von Anna sein solle –, zeigt schon die narrative Einbettung ihrer eigenen Ansätze in die Lebensgeschichte von Anna und ihrer Enkeltochter Inimini. Im Zentrum steht also ein epistemologisches und in der Konsequenz auch ontologisches Problem der Protagonistin, nämlich die immer wieder neu zu beantwortende Frage danach, was sie jeweils wissen kann und, in Abhängigkeit davon, die Frage, wer sie ist. Denn um zu einem ihrer Lebenswelt angemessenen Selbstbild zu kommen, muss sie jeweils neu zu bewerten lernen. Zu diesem Zweck imaginiert die Erzählerin, zwischen Berlin und Provinz, österreichischer und türkischer Kultur alternierend. So gelangt die Erzählerin durch die Figur von Irene zu einer Version der Geschichte von Anna, die für ein eigenes Leben in einer Immigrantenfamilie (der Mann von Anna ist von allevitischer Herkunft, aus der Türkei geflüchtet) relevant scheint: eine Geschichte der Übertretung impliziter, aber absolut gesetzter Gesetze und Normen, die dem Erhalt der Gruppe dienen sollen. Mir geht es besonders um die zwei jüngeren Frauen, Anna und Inimini, deren Identitätsentwicklung mit Verschleierung und Entschleierung, Abgrenzung und Grenzenüberwindung verbunden ist. Inimini ist ganz verzweifelt, nachdem ihre Mutter wort- und spurlos verschwunden ist, sie sucht nach ihren eigenen Grenzen um ihre verletzte Persönlichkeit zu beschützen. Am geeignetesten ist das Beispiel der Nachbarsfamilie: die Haluks sind streng gläubige Muslimen, die den Traditionen des Islam in jedem Bereich des Lebens folgen. Inimini verbringt viel Zeit mit den zwei Töchtern, Hüya und Nermin, die nach Vorschrift des Koran ein Kopftuch tragen, das fast ihren ganzen Körper bedeckt. Frischmuth zitiert im Roman

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mehrmals wortwörtliche Verse aus dem Koran um auf den Unterschied aufmerksam zu machen, dass es für viele Europäer (Österreicher) schockierend wirkt, dass ganz viele »Neo-Muslima«3 trotz der Emanzipation Kopftuch tragen, und zwar freiwillig, wie sie betonen. Laut Fatima Mernissi kann es sich um eine Rückkehr zu dem alten, konservativen Islam handeln, wo Kopftuch eine Grenze zwischen Mann und Frau ist. Für Mernissi hat der Begriff des hijab (Kopftuch) eine dreidimensionale Bedeutung: »Die erste Dimension ist eine visuelle: dem Blick entziehen. Die Wurzel des Verbs hajaba bedeutet ›verstecken‹. Die zweite Dimension dagegen ist die räumliche: trennen, eine Grenze ziehen, eine Schwelle aufbauen. Die dritte Dimension schließlich ist ethischer Natur: sie gehört dem Bereich des Verbotenen an.«4

Der Schleier verweist auf den intimen Bereich mahrem, der zugleich verboten ist und der die privaten und intimen Beziehungen zwischen Mann und Frau schützen soll. Auf der narrativen Ebene des Romans wird auch diese Kritik formuliert, nämlich ob es wünschenswert ist die verschleierte Grenze zwischen den Geschlechtern wieder herzustellen: »Hülya hatte gesagt, das mit dem Kopftuch würde gar nicht so im Koran stehen, es hieße nämlich, Frauen, lasst auf der Strasse möglichst nichts von euch blicken, damit ihr nicht im Höllenfeuer bratet. Es ging einzig und allein darum, sich vor Belästigungen zu schützen. Dass einen nicht jeder anquatschen konnte. Wenn man ein Kopftuch aufhatte, wussten die Jungs, dass sie einen nicht einfach anmachen konnten.« (61)

Niemand versteht, warum auch Inimini plötzlich ein Kopftuch aufsetzt, und sich wie eine Nonne verkleidet. Irene (Emmi), die nie eine Ahnung hatte, warum Ali, ihr Schwiegersohn, aus der Türkei geflüchtet ist und was es bedeutet, dass er hier seine Leute nicht hat und deswegen keine Gemeinde gründen kann, fragt ihn verzweifelt: »›War das deine Idee mit dem Kopftuch?‹ […] ›Meine Idee? Die Frau von Haluk muss ihr das eingeredet ha-

3

Frischmuth, 2003, 17.

4

Mernissi, Fatima: Der politische Harem. Mohammed und die Frauen, Freiburg i. Br.: Herder, 1992, 124.

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ben. Seit Anna…‹« (18). Niemand denkt daran, dass diese Verschleierung mit dem Verschwinden der Mutter zusammenhängt. Inimini musste ihr voriges Leben aufgeben, das Familienmodell wurde zerstört und sie musste mit der realen Welt konfrontiert werden, sie hat den Platz der Mutter in der Familie übernommen. Und dafür scheint die Maske, die Verborgenheit des Kopftuchs, und damit eine ganz andere Lebensform den einzigen Ausweg zu ermöglichen. Das Kopftuch fungiert als Identitätsausdruck. Als Irene Emmi fragt, wie es der Kleinen ging: »›Und Inimini? Sie muss doch irgendetwas dazu gesagt haben. Damals.‹ […] ›Inimini hat ein Riesenmundwerk, aber in Wirklichkeit kriegst Du nicht viel aus ihr raus. Sie sagt höchstens so verrückte Dinge wie, dass sie Zoo-Direktorin werden will oder dass Ali baba auf die Kraniche wartet, die noch hier durchziehen werden. Und das einzige Mal, wo ich sie weinen gesehen habe, war, als sie und Omo das Wort abkratzten, das jemand an die Hauswand gesprüht hatte.« (20)

Die Familie ist fest davon überzeugt, dass sie noch ein Kind ist und es ist unvorstellbar, dass ein intelligentes, lebhaftes Kind sich plötzlich wie eine Nonne verkleidet. Am Beispiel der Kapitel über Inimini zeigt sich, wie die Erzählerin die Geschichten über weibliche Identitäten ausschmückt, verschiedene widersprüchliche Versionen einer Geschichte (wie alle mit dem Verschwinden von Anna klar kommen) entwickelt oder in eklektischer Weise Quellen populärkultureller und mythischer Art in eine innerlich nicht einheitliche neue vermischt und zu einem Gewebe zusammenknüpft. Inimini ist eine ausgezeichnete Schülerin, sie hat bessere Noten als Nermin und Hüya. Das Gegenbeispiel für sie verkörpert ihre Mutter Anna, die ihr Studium unüberlegt abgebrochen hat, als sie schwanger wurde. Ihr fehlte »la chambre à soi«, sie wollte weg und ist der matriarchalen Linie ihrer Familie gefolgt. Sie wollte, wie ihre Mutter, durch eigene Erfahrungen die Welt entdecken und verstehen lernen. Die Erzählerin stellt Iniminis Charakter dem Leser viel selbstbewusster dar, ihre Vorstellungen über die Welt oszillieren nicht zwischen Realität und Phantasie, was sie als Problem oder gerade Ursache für das Scheitern des Lebens ihrer Mutter sieht, sie WILL streng an Allah glauben, egal was ihr Vater dazu sagt, oder gerade als Trotzreaktion, als Abgrenzung von dem Vater, den sie unbewusst für schuldig hält. Das Kopftuch wird zur Marke für Abgrenzung zwischen ihr

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und ihrem Vater. Durch das Kopftuch kann der Vater ihre Wahrheit nicht erreichen. »›Mit allem hab ich gerechnet‹, sagte er, ›dass ich dich demnächst nachts aus einer Disco fischen muss oder dass du dir Ringe durch die Nase und Drachen auf den Rücken machen lässt, dass du heimlich rauchst oder in der Schule aufsässig wirst. Auf all das war ich innerlich vorbeireitet, aber dass du plötzlich rumläufst wie eine Fanatikerin, damit habe ich nicht gerechnet.‹ […] ›Bei uns haben die Frauen nie ihr Haar verstecken müssen.‹ (Anna:) ›Du sagst wir und meinst irgendwo im hintersten Anatolien. Aber wir leben hier, das ist was anderes. Ich muss mich entscheiden, wenn ich irgendwo dabei sein will.‹ ›Ich bin dein Vater, und du weißt, dass ich nicht zu denen gehöre. Wir sind anders.‹ ›Dann sag mir, wie wir sind, wer ich bin oder wer ich sein soll.‹ Ali baba legte den Kopf in die Hände. ›Ich habe dir so oft erzählt, wie unsere Leute sind, wie sie leben, woran sie glauben. Ich dachte, du weißt, wer wir sind.‹ ›Du hast es mir erzählt, baba, aber ich war nie dort.‹ ›Du weißt auch, warum wir nicht hingefahren sind.‹ ›Trotzdem, du hast es mir erzählt, baba. Für mich sind das nur Geschichten. Ich bin halb und halb, also muss ich entscheiden.‹ (eigener Wille, bewusste Entscheidung) ›Aber du scheinst keine Ahnung zu haben, wofür du dich entscheidest.‹ ›Ich entscheide mich für das, was ich für richtig halte. Es gefällt mir, wie Nermin und Hülya sich anziehen, und ich möchte auch mit ihnen in den Koran- Unterricht gehen.‹« (44-45)

Für ihre neue gewählte Identität ist der einzige neue Fixpunkt der Koran, in dem man alles nachlesen kann und in dem für alles eine Erklärung steht. Und so muss man nicht denken. (Obwohl Omo sie kurz in Verzweiflung bringt, als er fragt, ob sich die Haluks die Geschichten vielleicht auch nur ausdenken wie die alte Emmi?) Niemandem will sie Rechtfertigung geben, warum sie das Kopftuch trägt. Anhand von Mitteln der Intertextualität – während sie mehrere Paragraphen aus dem originellen islamischen heiligen Text zitiert – verstärkt oder gerade bezweifelt die Erzählerin die Aktualität von close reading des Korans, und macht dadurch auf die reale Problematik der Neuislamisierung in der österreichischen Gesellschaft aufmerksam. In Verbindung mit Iniminis Identitätswechsel kommt ein anderes verschleiertes Problem zum Vorschein; das Zusammenleben von Menschen

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aus verschiedener Herkunft in der österreichischen Gesellschaft, die Vielfalt von Muslimen und Christen. Eine zentrale Thematik des Textes ist, wie wir es schon bei den früheren Romanen gesehen haben, die Überschreitung kultureller und religiöser Grenzen und die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Zusammenlebens. Frischmuth bearbeitet hier wieder ihre eigenen Erfahrungen, wie sie auch in ihrem Essay beschreibt: »Es scheint, dass die neue Islamisierung auch Symptom der verzweifelten Suche nach einem eigenen Weg aus der allgegenwärtigen Konfrontation mit dem Westen ist, in der die Niederlagen als vorprogrammiert erlebt werden. Umso unvermuteter erweist sich dann die Entdeckung, dass auch bei einer solchen Überbetonung des Wertes des Eigenen, der Wert des Fremden ins System eingebaut wird. Denn gerade die von islamischer Seite so oft als westlicher Unwert gescholtene Individualisierung gleichrangiger und gleichberechtigter Einzelner, wird von den jungen NeoMuslimas häufig angestrebt und spielt bei deren Emanzipation von der traditionellen Familienhierarchie eine wesentliche Rolle.«5

Das Kopftuch markiert für viele Frauen einen Übergang zu einem anderen Leben. Dieser Übergang wird durch das Kopftuch auch für die Gesellschaft deutlich gemacht und bedeutet Schutz und Abgrenzung zu einem früheren Leben. Bei vielen handelt es sich vor allem um Trennungs- und Angliederungsriten, d. h. das Kopftuch ist eine symbolische Ausdrucksform, das einerseits die Trennung zur übrigen nicht-muslimischen Gesellschaft markiert, zugleich aber auch die Angliederung an eine bestimmte Gruppe – die der muslimischen Frauen – zum Ausdruck bringt. Frischmuth formuliert durch die Figur von Inimini eine Gesellschaftskritik über die Ausländerfeindlichkeit in Österreich, die leider ein reales Problem ist. Nicht nur in der Öffentlichkeit stört ihre neue Identität die Menschen, (»Im Bus hörte Inimini eine ältere Frau zu einem Mann sagen: ›Die armen Dinger! Wohl noch keine fünfzehn – schon müssen sie sich so vermummen, und das hierzulande. Ein Skandal ist das.‹« (64), sondern auch in der Schule scheitert die Einbürgerung wegen des Kopftuchs, sie bleibt »die Schleierfrau«:

5

Frischmuth, 2003, 7.

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»Es ist schwer für unsereinen, irgend etwas über dich zu sagen, da du uns ja deinen Körper vorenthältst, also sind wir auf Vermutungen angewiesen. Am Ende hast Du eine Schuppenflechte oder gar die Krätze…[…] Meist war sie (=Svoboda, Schülerin) es, die sich über Iniminis Kopftuch und Kleidung lustig machte und gar nicht damit aufhören konnte, von ihr als unserer modeblinden Schleiereule, unserer Kaftan-Lady oder der Dame mit dem Gesichtsvorhang zu reden.« (167)

Die Ethnologin Monika Höglinger meint, dass das Kopftuch der Migrantin, der Türkin, der Muslimin in Österreich mit bestimmten Bildern verbunden wird. Selten sind es Bilder, die die Eigenständigkeit und Autonomie der Frauen in den Vordergrund stellen. Vielmehr sind es solche, die ein bestimmtes Klischeebild widerspiegeln, das des »unterdrückten«, »bemitleidenswerten« Opfers, das um der Männer und der Religion Willen gezwungen wird sich zu verschleiern. In dem Roman befragt die Erzählerin die Rolle der Frau in der islamischen Welt. Die westlichen Medien projizieren das negative Bild, das Said schon betont hat, wie türkische Frauen von ihren Männern misshandelt werden. Aber gerade die Alleviten, für deren Kultur Barbara Frischmuth in mehreren öffentlichen Reden plädierte, schenken den Frauen eine berechtigte Stelle in der Gesellschaft. Wie auch in früheren Romanen beschreibt die Autorin diese Glaubensgesellschaft als Gegenbeispiel für die in der Literatur und anderen Medien beschriebenen negativen Bilder des Islam. »Ali baba hatte immer behauptet, dass die Frauen bei seinen Leuten viel freier wären als bei den Sunniten. Nur weil sie kein Kopftuch tragen mussten und hin und wieder einen Schluck Wein trinken und bei den Festen mit ihren Männern tanzen durften? Als ob es darauf ankäme. Wenn die Frauen schon so viel besser dran waren bei Ali babas Leuten, wo waren dann die großen Wissenschaftlerinnen, die Künstlerinnen, die er ihr hätte nennen können? Sie (=Inimini) jedenfalls würde mit Allahs Hilfe und mitsamt ihrem Kopftuch eine werden, vor der alle den Hut ziehen mussten.« (170)

Aber Inimini, die liebste Figur der Erzählerin, will mit der Wahrheit des Schleiers nicht konfrontiert werden, für sie ist Kopftuch keine Metapher für die im westlichen Diskurs festgeschriebene unterdrückte Frau des Orients, sondern ein Merkmal einer selbstbewusst gewählter weiblicher Identität. Die Erzählerin arbeitet hier wieder auf der narrativen Ebene gegen die (oft pessimistischen) postkolonialen und ethnologischen Arbeiten, für die, wie

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z.B. für die Ethnologin Meyda Yenenoglu der Schleier aber nicht nur die unterdrückte Frau repräsentiert, sondern als Metapher für den Orient im westlichen Diskurs steht: »The veil attracts the eye, and forces one to think, to speculate about what is behind it. It is soften represented as some kind of mask, oriental woman is considered as not yielding herself to the western gaze and therefore imagined as hiding something behind the veil.«6

Durch die Verschleierung entzieht sie sich dem westlichen Blick, der Schleier steht für eine Wahrheit, für Geheimnisse, eng verbunden mit der orientalischen Kultur, die es zu entschleiern gilt: »The veil is that curtain which simultaniously conceals and reveals; it conceals the orients truth and of the same time reveals its mode of existence, its very being – a being always exists is a disguised and deceptive manner, a being which exists only behind its veil.«7 Die Erzählerin folgt in ihrer Erzählweise weiter dem Konzept »Schreiben als Weg der Entschleierung« (Cixous) um das »Gewebe« zu entschleiern und dadurch den Leser auf die Wahrheit des Textes, und so auch die Wahrheit von Anna zu führen. In den fünf über besondere Merkmale verfügenden Kapiteln, die den Titel »M.« tragen, wird auch eine andere Entschleierungsgeschichte erzählt. »M.«, der Fotograf ist der männliche IchErzähler, der in diesen Kapiteln über seine Begegnung mit Anna berichtet. Sein Kollege macht verschiedene Interviews über Migranten und eingebürgerte Ausländer, und er begleitet den »perfekt vollzogenen Integrationsprozess« mit »authentischen« Bildern, die immer wieder Konstruktionen des Westens werden. »Inimini wollte nicht mehr fernsehen, seit man damals in dieser Dumpfbacken- Sendung über Mischehen Anna anne und Ali baba interviewt und das Ganze dann so hingestellt hatte, als hätte Anna anne Ali baba vor allem deswegen geheiratet, damit er bleiben konnte und nicht zurück in die Türkei und ins Gefängnis musste.« (43)

6

Yenenoglu, Meyda: Colonial Fantasies. Towards a Reading of Orientalism. Cambridge, 1998, 44.

7

Ebd. 48.

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Neben der »Entschleirung« des Textes entschleiert sie der Mann durch die Kamera und zeigt ihr inneres, fremdes Gesicht: »Bei der Frau des Türken war es noch verblüffender. Ihr Zögern, ihre Hartnäckigkeit waren auf den Fotos zu ahnen. Aber wie sie wirklich war, wie überaus lebendig in ihrem Gesichtsausdruck, mit einem Lächeln, das so beherzt wirkte, eine Mischung aus komm mir entgegen und komm mir nicht zu nah….« (155) Durch den anderen Blick gelingt es dem Erzähler hinter den Schleier von Anna zu blicken, zu erfahren, dass sie und Ali in getrennten Schlafzimmern schlafen. Durch seinen Blick führt der Text zur Entschleierung von Annas Wesen, und in diesen »M«- Kapiteln wird die »nackte Anna« »enthüllt« präsentiert. Ihre Familie besitzt nicht die Fähigkeit dieses Blickes, sie besinnen sich auf die Spuren der Vergangenheit. Die Mutter folgt ihren eigenen Vorstellungen. An Annas Verschwinden, sieht sie in Ali den Schuldigen und meint, dass Anna alles zu viel geworden ist. Irene hatte Anna schon als junge Wissenschaftlerin vor sich gesehen, aber irgendwann begann dann alles anders zu werden, als sie den jungen Türken, den fremden Mann kennen gelernt hatte. »Anna hatte sich zu engagieren begonnen, wie sie es nannte, und fing bereits beim Frühstück damit an, ihr die erschreckende Situation der Menschen in vielen außereuropäischen Ländern zu erklären sowie das Erbe des Kolonialismus und die Auseinandersetzung mit der offensiven Kultur des Westens.« (139) Anna versuchte zwar Ali in die österreichische Gesellschaft zu integrieren, aber er ist doch fremd geblieben. Sein allevitischer Glaube, sogar noch innerhalb der »strengen« Muslimen fremd zu sein, wird in erzählten Geschichten betont. Sein eigener Glaube bildet für ihn auch einen Schleier, seine eigene Identität bleibt während des ganzen Romans versteckt. Die Erzählerin erlaubt nur einen kleinen Blick hinter seine Maske und wir erfahren, dass Anna vielleicht doch wegen ihm verschwunden ist. Als sie auf dem Weg nach Wien war, wo eine lebendige Gesellschaft von Alis Leuten organisiert wurde, und wo sie hoffte durch ein neues Verständnis seines Glaubens ihm näher zu kommen. Aber Ali repräsentiert in dem Text den »realen« Fremden, der zwar die neue Sprache völlig beherrscht, trotzdem fast nie zu Wort kommt. Nur durch Überlegungen der anderen über ihn wird die Wahrheit seines Schleiers gezeigt. »Sie (Irene) fragte sich, wie er sich wohl fühlen mochte unter ihnen. Letztlich war es immer auch die Herkunft, die einen Menschen bestimmte. Man vergaß nie, was man

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als Kind erlebt hatte, besonders, wenn man von zu Hause wegging. Hielt er sich deswegen an die Haluks, weil sie dieselbe Sprache sprachen, auch wenn er sonst wenig mit ihnen gemein hatte? Anna hatte es ihr einmal erklärt, nämlich dass Ali eigentlich kein Muslim oder zumindest kein Muslim im strengen Sinn war, aber was war er dann?« (76)

Aber nicht nur Ali, sondern auch Anna wird als verschleierte Person dargestellt. Diese Kapitel ermöglichen Barbara Frischmuth wieder, dass sie eine untypische Frauenfigur einführt und für sie plädiert: für eine Mutter, die die normalen sozialen Rahmen ihres Lebens verlässt. Zuerst versucht sie in die andere (muslimische) Welt ihres Mannes überzutreten, um dann später wieder eine andere Grenze zu überwinden und wieder in einer anderen, entschleierten Welt eines anderen (weißen), fremden Mannes zu landen. In diesen Kapiteln lässt sich eine Art Plädoyer des Erzählers (oder auch der Autorin) für eine Lektüre der Geschichte der Integration und »Entschleierung« und dadurch Toleranz von Differenzen lesen, die über wörtliche Entsprechungen hinausgeht und komplexere Verbindungen herstellt; impliziert ist auf einer poetologischen Ebene auch ein Plädoyer für eine sensible Lektüre des Romans, die eine Kritik, die die kulturelle Repräsentativität des Textes einklagt, aber genauso wenig leistet wie eine stereotypenhungrige und zumeist europäische/ westliche Leserschaft (und Wissenschaft), für deren mangelnde Sensibilität die Kritik allerdings die Autorin verantwortlich macht. Während Der Sommer, in dem Anna verschwunden war keine vermeintlich buchstabengetreue Reproduktion und subjektzentrierte Aneignung eines relativ statischen kulturellen Repertoires leistet, thematisiert der Text (auch) den Prozess der performativen Herstellung synkretistischer kultureller Kontexte, den Boelhower, wie im folgenden noch expliziert wird, den Prozess der ethischen Semiose oder ethnische Kinesis nennt. Am konkreten Beispiel der Bemühungen von Anna um ein für sie jeweils gegenwärtig brauchbares Verständnis der kulturellen Wurzeln von Ali in der Türkei gewährt der Roman Einblick in die Grammatik kultureller Zeichenproduktion, die die Regeln für die Konstitution individueller und kollektiver Identifikationsprozesse definiert. In den »M-Kapiteln« zeigt sich besonders anschaulich das vielschichtige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter (Irene/Anna, Anna/Inimini) sowie die kontextuelle Gebundenheit der »Gewebe«-Geschichten, die erzählt werden. Weil diese Geschichten allerdings oft nicht schlüssig sind,

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nicht »entschleiert« werden können und die Protagonistinnen auch nicht den (immer noch unvollkommenen) Ein- bzw. Überblick besitzen, den der Text dem Leser und der Leserin erschließt, thematisieren diese Kapitel auch die Bedeutungskonstruktion auf der Basis von Verunsicherung und letztendlich stets unvollständigem Wissen. Kulturalistische Aussagen werden dabei als die Komplexität der Welt reduzierende Mechanismen erkennbar, deren negative Effekte weniger darauf zurückzuführen sind, dass sie die Wirklichkeit falsch abbilden als vielmehr darauf, dass sie sie unverrückbar festschreiben.8 Irene weiß kaum etwas von der wahren Identität ihrer Tochter, nur eine Erinnerung verrät ein wichtiges Kennzeichen ihres Wesens: »Da war Annas Obsession für Halstücher und Schals, so als wäre etwas an ihrem Hals, das sie zu verbergen trachtete. Tücher in den exquisitesten Mustern. Aber Anna hatte sie zurückgelassen – außer dem einen, das sie trug, als sie damals das Haus verlassen hatte –, obwohl ihr Gewicht gleich null war. […] trug sie immer eines dieser Tücher um den Hals, so als seien sie ein nicht mehr wegzudenkendes Merkmal ihrer Persönlichkeit.« (128-129)

Dieses Tuch kann als Parallele gesehen werden mit dem Kopftuch von Inimini; in beiden Fällen bedeutet es etwas zu versteckendes, dem Blick entziehendes. Bei Anna wird mit dem Halstuch ein Zeichen verhüllt, ein Zeichen, das das Schicksal in ihren Körper eingeschrieben hat: eine kleine Narbe am Hals. (250) Ihr Mann hat sie verursacht; sie meint, sie hätte es verdient, aber die Wahrheit wird in der ganzen Geschichte verschwiegen, sie bleibt in der Wahrheit des Tuches verschleiert. Die irrationale Geschichte des Verschwindens von Anna bleibt weiter in den Roman eingewoben. Die Erzählerin präsentiert ihre anderen Mutterfiguren, Irene und Emmi (Ersatzmutter) in ihren Erzählungen nicht ohne Ironie in einer heroischen Position, als eine »Miss Marple in der österreichischen Provinz«, und kommentiert sie kurz und sarkastisch. Erneut unterstützen außerdem Begriffe den konstruktiven Charakter der Erzählung und erinnern daran, dass es sich auch bei diesen Porträts um ein Konstrukt handelt, das darüber hinaus in deutlichem Kontrast zu dem in den M-Kapiteln

8

Bhabha, 2000, 66-84, hier 75.

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präsentierten Bild der Mutter, der neuen Anna steht. Sie hat die traditionellen Rahmen ihres Lebens verlassen, und ist mit einem einzigen Tuch verschwunden. Emmi versucht doch auf ihre Spur zu kommen, aber auf der realen Ebene des Romans bleibt Anna unerreichbar. »Plötzlich war Anna ihr im Traum erschienen. Sie hatte nicht einfach von ihr geträumt, Anna war ihr erschienen, und zwar im Garten. […] Anna trug ihr Leinenkleid und dazu den gemusterten Seidenschal in verschiedenen Blautönen, mit dem sie sie damals hatte weggehen sehen.« (93) »Ein Zeichen, dass sie noch lebte?« (94)

Anna erlebt bei »M.« eine wirkliche Entschleierung ihrer Persönlichkeit, durch den Ehebruch entdeckt sie eine grenzenlose, freie Sexualität. Die alten Tabus und Grenzen wurden aufgelöst, und sie, als die Ehefrau eines Türken, die einen Pakt durch die Heirat mit Ali laut orientalischen Vorstellungen und Normen geschlossen hat, verlässt ihre alte Identität. Über die Jahrhunderte hinweg bewegte sich im klassischen Orientalismus die Darstellung von Frauen im Orient zwischen zwei Klischeebildern. In dem einen wird das Leben der Frauen idealisiert und sogar mystifiziert dargestellt, »das Leben im Harem als ›Freiheit hinter dem Schleier‹ und das Schleiertragen selbst als Glück und Schutz«9 gedeutet. In der europäischen Kunst, Malerei, Mode und Literatur des 19. Jahrhunderts »fungierte die Orientalin als Objekt erotischen Begehrens und der Gelüste europäischer Männer vor allem dadurch, dass sich ihre Wirklichkeit den unbefugten Blicken entzog und damit um so mehr zu sexuellen Träumen und Phantasien animierte.«10 Der Text konstruiert dieses Bild wieder, indem Anna von einer geschützten Frau aus in der Gesellschaft von »M.« zu einer ihre Sexualität frei erlebenden Frau, die den Blick des anderen so grenzenlos genießt, dass sie dabei ihr Tuch ganz zu tragen vergisst, wird. Sie verbringt traumhafte Tage, will aber mit ihrem alten Ich nicht konfrontiert werden. Eine Zeit lang spielt die Erzählerin mit der Möglichkeit, dass Anna wieder eine Grenze von verschiedenen Kulturen und Leben überwinden kann, aber oh-

9

Akashe-Böhme, Farideh: Frausein – Fremdsein. Frankfurt a.M.: Fischer, 1993, 59.

10 Ebda. 55.

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ne das schützende Tuch wird ihre Identität zu »nackt« und schutzlos, die neue Liebe erstickt sie, der alte Pakt mit Ali scheint doch stark zu sein, obwohl sie erkennt, dass es kaum einen Rückweg gibt. Trotzdem nimmt sie ihr Tuch und flüchtet weiter, aber hier spielt die Erzählerin wieder mit der Verschleierung des Textes. Durch mehrere Schweigenslücken sieht man Anna plötzlich am Ende des Romans (eigentlich zum ersten Mal in der von der Erzählerin erzählten Geschichte; bis jetzt hat immer der Ich-Erzähler in den »M.-Kapitel« erzählt) im Krankenhaus. Man kann vielleicht vermuten, was passierte, aber weder über das Verschwinden noch über ihre Heimkehr, noch ihr langes Gespräch mit Ali wird gesprochen. Die Wahrheit von Anna bleibt in der Wahrheit ihres Tuches: sie war mit ihrem alten Ich unglücklich, »sie enthüllt sich« und versucht ein neues Leben, aber das ist auch nicht das richtige. Die Wahrheit ist irgendwie inmitten des Prozesses stecken geblieben, selbst in der Entschleierung (Entfalten des Schleiers) ihrer Identität. Mit Derridas Worten bleibt das (die?) Verborgene die Wahrheit. Für Inimini impliziert der Text kein mütterliches Vorbild, sie wirft ihrem Vater sogar vor: »Ich will wissen, was richtig ist und was nicht. Oder wäre es dir lieber, ich wäre wie sie?« (45) Sie folgt dem gleichen Prozess wie Anna, nur in umgekehrter Richtung. Sie verschleiert sich, braucht einen neuen Schutz um eine neue, feste Identität aufbauen zu können. Ihre Großmutter dient auch als Gegenbeispiel, Inimini kann und will sie nicht erreichen. »›Coole Großmutter, fährt wieder Auto, obwohl sie eine Frau und nicht mehr so jung ist.‹ ›Da, nimm dir ein Beispiel! Die rennt nicht mit langen Röcken und mit einem Kopftuch herum. Die steigt ins Auto, und schwupp ist sie, wo immer sie hin will.‹ ›Irene glaubt auch an nichts. Außerdem ist ihr Vater nicht aus der Türkei, sie hat keine Verpflichtung.‹ ›Hör bloß damit auf! Du weißt genau, dass unser Vater kein Sunnit ist und du gar keine solche Verpflichtung hast. Und überhaupt, hast du dich je dafür interessiert, was Ali baba glaubt? Du machst doch nur die Haluks nach.‹« (97)

Der Roman vermittelt den Prozess der Aneignung einer immer neuen ethnischen Identität und macht deutlich, dass es nicht dasselbe ist, Türkin in Österreich oder türkische Österreicherin zu sein. In diesem Sinne argumentiert auch William Boelhower, nämlich dass neben der semantischen vor allem

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die performative und interpretative Dimension eines kulturellen Repertoires, das heißt seine situationsgebundene Verwendung, für seinen Erhalt entscheidend ist.11 Wie es am Beispiel von Inimini gezeigt wird, erhält nur die gelebte und sich situationsangemessen verändernde kulturelle Praxis einer ethnischen Gemeinschaft die Bedeutung eines kulturellen Repertoires. Auf der Suche dieser neuen ethnischen Identität sucht auch Inimini eine neue kulturelle Praxis: »Inimini war dabei, beten zu lernen. Es war klar, dass es nicht genügte, ein Kopftuch zu tragen und zum Hodscha zu gehen. […] Anfangs war es sehr verwirrend«. (S.101) Sie hat ein überraschendes Erlebnis, trifft einen Hund, und es entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Freundschaft, in der sich Inimini nicht mehr anstrengen musste um so tun zu können, als gäbe es das Loch gar nicht. Als sie aber für dieses Erlebnis in ihrer neuen kulturellen und religiösen Umgebung beschimpft wird, denn der Hund sei laut dem Koran ein unreines Tier, wird ihr neuer Glaube instabil, mit logischem Denken beginnt sie am Koran zu zweifeln und ist überzeugt, »sie würde der Sache nachgehen, bis auf den Grund.« (175) »›Im Religionsbuch steht doch alles drin. Mehr braucht man nicht zu wissen.‹ ›Du vielleicht nicht, aber ich möchte genau wissen, worauf ich mich einlasse. Wer sagt denn, dass das alles stimmt, was der Hodscha erzählt? Er ist auch nur ein Mann.‹« (283) »Hülya: ›Weil man über Religion nicht streiten kann. Entweder man glaubt oder man glaubt nicht. […] Den Kopf hast Du für die Welt und dafür, dass du die Dinge richtig machst. Die Religion aber glaubst Du mit dem Her. Den Kopf brauchst Du höchstens dazu, um die Gebete, die Suren und die Hadithen auswendig zu lernen.‹« (285)

Ihr Verhältnis zu ihrem Vater zeigt keine Entwicklung, sie sieht in ihm »den verirrten Muslim«. Das Kopftuch signalisiert für sie die Gleichberechtigung der Frau, durch die sie alles erreichen kann. Laut Frischmuth dient das Kopftuch oder der Schleier dazu feministische Strategien der Emanzi-

11 Boelhower, William: Through a Glass Darkly: Ethnic Semiosis in American Literature. New York: Oxford UP, 1987, 80-117.

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pation von traditioneller Ungleichheit und Segregation zu signalisieren.12 Inimini will nicht nur ihren Vater kritisieren, sondern sie will alles verwirklichen, was ihre Mutter nie sein konnte. »Vielleicht würde es ihr noch gelingen, aus Ali baba einen richtigen Muslim zu machen. Später, wenn sie die Schule und auch noch ein Studium absolviert hatte. Wenn sie ihn aufgrund ihrer eigenen Leistungen eines Besseren belehren konnte. ›Schau mich an‹, würde sie zu ihm sagen, ›das habe ich als Muslima geschafft, mit Allahs Hilfe. Das heißt doch was!‹ Während so eine blöde Sigrid Svoboda womöglich mit drei ledigen Kindern dasaß, noch dazu jedes von einem anderen Mann.« (169)

Aber ihre Identität wird immer instabiler. Durch den Hund als freies Wesen entdeckt sie in ihr die Möglichkeit eines neuen (oder alten) Ichs, eine Inimini, die kein Versteckspiel mehr braucht. Der Hund, das unreine Wesen, das sie ganz »entschleiert«, grenzenlos liebt. »Es wurde ihr so leicht ums Herz. Sie schaute sich um, ob da auch niemand war, der sie sehen konnte, hob dann ihren Rock bis weit über die Knie herauf und schob sich den Saum in den Bund. So sprang es sich schon besser.« (290) Der Hund führt sie durch eine Wiese außerhalb der Stadt, weg aus dem begrenzten, (unwahrem) Leben und sie landet bei Mo, einer einsamen Frau, die allein mit Tieren lebt, selbstständig wie es sich Inimini immer vorgestellt hat. Sie empfindet sofort Sicherheit und ihre strenge Maske verliert immer mehr an Bedeutung als Schutzfunktion: »Inimini war sich vom ersten Moment an sicher gewesen, dass die Frau allein in dem Haus wohnte und kein Mann da war, der ihr Haar sehen konnte, und entschloss sich, das Kopftuch abzunehmen und die langärmlige Bluse, die sie über einem T-Shirt trug, auszuziehen.« (295)

Nur als Mo sie über ihre Mutter fragt, setzt sie ihr Kopftuch wieder auf und sagt, ihre Mutter solle tot sein. Hier spielt Barbara Frischmuth wieder wunderbar mit dem Versteckspiel, die Wahrheit über Mo wird erst am Ende des Romans entfaltet: Mo ist die Schwester des Photografen »M.«, und so verbindet die Autorin spielerisch die Kurzgeschichten zu einem Gewebe. Als

12 Frischmuth, 2003, 9.

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Mo Inimini nach ihrem Namen fragt, antwortet sie nach langer Überlegung: Klara. Es ist ihr zweiter Name und sie möchte von Mo so genannt werden. Ein neues Ich entwickelt sich unter ihrem Schleier, und als sie spazieren gehen, war »Inimini […] zu Bewusstsein gekommen, dass sie ohne ihr Kopftuch und ohne die Bluse aus dem Haus gegangen war.« (310) Der Prozess der Entschleierung ist zwar langsam, aber stufenweise erneuert er ihr Wesen; sie fährt in dem geschenkt bekommenen Kleid, in der orangefarbenen Galabiya nach Hause, und hat nur das weiße Kopftuch wieder aufgesetzt. (315) Sie begann wieder lange Hosen zu tragen um auf andere Art und Weise ihre weibliche Identität zu befestigen. »Sie bedeckte zwar nach wie vor außer Haus ihr Haar, aber nicht mehr mit dem islamischen Kopftuch, das auf den Schultern aufzuliegen hatte, sondern mit einer Schirmmütze, in die sie ihre Locken stopfte, oder gelegentlich sogar mit einem Turban, zu dem sie ihre Kopftücher mit großem Geschick drapierte.« (322)

Ohne das schützende Kopftuch muss sie aber mit ihrem alten Ich konfrontiert werden, das das Verlieren der Mutter nie verarbeiten konnte. Sie beginnt einige von Annas Tüchern zu tragen, was auch als Zeichen für die Annäherung an die Wahrheit zu interpretieren ist. »Vielleicht war es Iniminis Weg, sich Anna wieder anzunähern.« (336) Als am Ende des Romans Anna gefunden worden war und ins Krankenhaus transportiert worden ist, erschien auch Inimini, »wieder in ihrer üblichen islamischen Kleidung […], um ihrer Mutter zu demonstrieren, wie weit sie sich inzwischen von ihr entfernt hatte.« (337) Der Prozess der Verschleierung wurde wieder durchgeführt. Mit dem Schleier war ihre Identität ebenso scheinhaft, wie nach dem Abfall des Schleiers ihr schutzloses Ich. Ihre Wahrheit, auch wie die von Anna, ist in dem Schleier geblieben. Über Anna, über die Verschwundene, um die die Erzählerin ihr ganzes Geschichten-Gewebe aufgebaut hat, erfahren wir nur, dass sie nach Berlin wiederzukehren plant um ihr Studium zu beenden. (Iniminis Reaktion: »Aber das mit dem Studium scheint ihr zu imponieren.« (367) Warum sie verschwunden ist, wer sie war und dazwischen geworden ist, bleibt im Text verschleiert. Die prozessualen (türkisch- österreichischen) Identitäten durch oder ohne Schleier implizieren eine Instabilisierung der Grenzen des Ethnischen und unterstreichen die Relevanz des Ethnischen in der deutschsprachigen

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(österreichischen) Kultur. Das Ethnische kann demnach nicht prinzipiell im anderen gegenüber dem ethnisch nicht markierten einen bzw. eigenen lokalisiert werden und Assimilation muss komplexer gedacht werden als ein einseitiger Prozess. Verallgemeinert ausgedrückt kann das Tragen eines Kopftuchs für Migrantinnen der zweiten Generation als ein wesentliches Symbol für eine neu entstehende Identität verstanden werden, die sich stark auf den Islam bezieht. Wie Barbara Frischmuth es in ihrem Essay formuliert hat: »[S]ie versuchen aus der ›Stigmatisierung‹ als unterdrückte muslimische Frau, für die das Kopftuch ja steht, eine selbstbewusste, eigenverantwortliche, muslimische Identität zu zimmern. […] Die Lösung einfach: es gibt sie. Es gibt sie nicht nur in der islamischen Welt, sondern next door, in Europa, in Österreich, in Graz. Und die meisten von ihnen sind eingebürgert. Also sind sie auch ein deutsches, ein österreichisches Problem, wenn man sie überhaupt als Problem wahrnehmen will….«13

In dem Roman kann man den Entwicklungslinien von untypischen, weiblichen Identitäten folgen. Anna erlebt eine wirkliche Entschleierung ihrer Persönlichkeit, die Mutterfiguren werden ironisiert, und Inimini entzieht sich durch ihr Kopftuch dem westlichen Blick und ist eng verbunden mit der orientalischen Kultur. Am Ende des Romans wählt Anna doch ein (altes) neues Leben, sie studiert weiter, und sucht weiter nach ihrer Identität als Mutter und als Frau, ihre Wahrheit bleibt in der Wahrheit des Tuches. Bei Inimini ist die Frage ihrer (ethnischen) Differenz schon komplizierter. Als junge Muslimin wählt sie zwar das Kopftuch, das keine Metapher für die im westlichen Diskurs festgeschriebene unterdrückte Frau, sondern das Merkmal einer selbstbewusst gewählten weiblichen Identität. Der Sommer, in dem Anna verschwunden war lässt sich in meiner Leseart anhand des »Schleiers« lesen. Es ist nur eine Dimension des Textes, die als verallgemeinbar und repräsentativ gelten kann. Das heißt, dass Der Sommer, in dem Anna verschwunden war ein Text ist, der eine neue Tradition von gender und race überarbeitet, indem er nach neuen Wegen jenseits der faktentreuen Ethnographie sucht türkisch-österreichische Identität in einer individuellen Manifestation zu artikulieren.

13 Frischmuth, 2003, 12-13.

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2.2 Z WISCHEN R ÄUMEN UND K ULTUREN . E MINE S EVGI Ö ZDAMAR : D IE B RÜCKE G OLDENEN H ORN

VOM

Weder die Zuwanderung nach Deutschland noch die Literatur von Migrantinnen sind ein neues Phänomen. Da Deutschland als »NichtEinwanderungsland« definiert wurde, gehörten die Werke der so genannten »Ausländer-« oder »Gastarbeiterliteratur« nicht zur deutschen Literatur. In der deutschen Literaturwissenschaft ist der Begriff »Migrationsliteratur« noch immer umstritten, insbesondere weil einige der Schriftsteller und Schriftstellerinnen befürchten, nur über biografische Daten wahrgenommen zu werden. Sie verlangen einen Status als deutsche Autoren, unabhängig von ihrem Migrationshintergrund. Der Autor Yüksel Pazarkaya zum Beispiel fragt: »Wann ist es sinnvoll, eine Literatur unter einem Sammelbegriff zusammenzufassen? Wann wird eine Literatur mit einem Sammelbegriff abgestempelt? Wann ist es sinnvoll, von einer Strömung, von einer Schule zu sprechen? […] Und schließlich, wann ist eine Literatur nur Literatur und nichts anderes als Literatur?«1

Migration ist nicht das zentrale Thema der Werke, doch sie ist ein paradigmatisches Element der Umgebung, in der Literatur heute entsteht. In ihrer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebenssituationen, Sprachen, Kulturen und Literaturen ermöglicht die Literatur von Migrantinnen einen differenzierten Blick. Durch diesen werden Grenzen verwischt und/oder überwunden: Die Abgrenzung von Eigenem und Fremdem ist nicht mehr eindeutig. Auf die Auseinandersetzung der postkolonialen Theorie mit diesen Fragestellungen wird in der Arbeit aus konzeptionellen Gründen verzichtet.2

1

Ackermann, Irmgard / Weinrich, Harald: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der »Ausländerliteratur«. München: Piper, 1986, 59.

2

Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, 2000 (Orig.: The Location of Culture. London / New York: Routledge, 1994); Spivak, Gayatri Chakravorty: A critique of postcolonial reason: toward a history of the vanishing present. Cambridge, Mass (u.a.): Routledge, 1999; Bronfen,

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Der Roman Die Brücke vom Goldenen Horn3 der türkisch-deutschen Autorin Özdamar ist insofern beispielhaft für die deutschsprachige Migrationsliteratur, als sie sich mit Fragen der Zugehörigkeit und der Selbstverortung auseinander setzt. Die Autorin thematisiert nur teilweise den Komplex »Migration«. Bei der Analyse von literarisch dargestellten Räumen tritt neben die lebenswirkliche Raumkonstruktion durch handelnde Personen die ästhetische Darstellung. Räume werden in der Interaktion der Charaktere gebildet und auf unterschiedliche Weise dargestellt. Zahlreiche Werke der Migrationsliteratur setzen sich mit räumlichen Phänomenen auseinander: Wie Claire Horst beschreibt, sind sie in Bezug auf ihre Oberflächenstruktur etwa Wanderungsbewegungen, Umzüge, Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Lebensräumen und deren Einwohnern zu nennen.4 Raum als Kategorie steht auch im Mittelpunkt der postkolonialen Theorie: Das Handeln im Raum ist eine Möglichkeit der Identitätsbildung des Subjektes. Bei der Untersuchung des Raums in Migrationsromanen sind nicht nur die einzelnen Räume relevant, sondern der sie Trennende. Die Analyse der Raumdarstellung zeigt so auf, welche Stellung die Figuren in der Migrationsliteratur einnehmen: Stehen die Protagonisten zwischen den Räumen, bildet sich ein dritter Raum, ein Niemandsland in Bhabhas Sinne, der Binäroppositionen auflöst, wird die Raumvielfalt als Bereicherung oder als Bedrohung wahrgenommen? Oder handelt es sich dabei um einen »Transit-Raum«, der sich nach Ute Gerhard als Ort des Zwischen interpretieren lässt, an dem sich Figuren zwar aufhalten, an den sie sich jedoch nicht binden. Das Werk von Emine Sevgi Özdamar stellt das Thema »Migration« ins Zentrum. Der Roman Die Brücke vom Goldenen Horn beschreibt – ebenso wie Das Leben ist eine Karawanserei und Mutterzunge – eine Protagonistin, die sich zwischen zwei Ländern bewegt. Der Roman stellt – man könn-

Elisabeth / Marius, Benjamin / Steffen, Theresa (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zum angloamerikanischen Multikulturalismus. Tübingen: Stauffenburg, 1997. 3

Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn. Roman. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1999. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

4

Horst, Claire: Der weibliche Raum in der Migrationsliteratur. Berlin: Schiler 2007, 15.

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te sagen autobiografisch – das Leben einer jungen Türkin in den sechziger Jahren in Istanbul und Berlin vor. Ihre Migration nach Deutschland und zurück führt zur Konfrontation mit verschiedenen Rollenerwartungen und ermöglicht ihr die Herausbildung der eigenen Identität. Im Folgenden wird Die Brücke vom Goldenen Horn auf die oben genannte Raumproblematik überprüft, mit besonderem Nachdruck auf das Theater bzw. Schauspiel als körperliche Gestaltung des Raums. Der Roman kann als Entwicklungsroman bezeichnet werden, obwohl hier ungewöhnlich sei, worauf Sigrid Weigel aufmerksam macht, dass eine Protagonistin im Mittelpunkt steht, weil im Entwicklungsroman Frauenfiguren traditionell als Stationen der Entwicklung des Helden konzipiert sind: »Sie verkörpern Ideen bzw. Existenzweisen, mit denen er sich zum Nutzen seiner Bildung auseinandersetzt, um sie dann hinter sich zu lassen.«5 In Özdamars Roman nimmt die Frau den Raum anders ein: Sie ist es, die ihn erkundet. Die Hauptfigur Sevgi, ein alter Ego der Autorin, reist zwischen unterschiedlichen Orten in Deutschland, Frankreich und in der Türkei herum. Der Raum bildet dabei ein Experimentierfeld. An den verschiedenen besuchten Orten wird ihre Wahrnehmung durch »andere« Umwelten differenziert, die jeweils unterschiedliche Erwartungen an ihre Persönlichkeit stellen. Ihr Selbstbild formt sich analog zu diesem Fremdbild und in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Möglichkeiten, den Raum zu benutzen. Die Flexibilität ihres Zugehörigkeitsgefühls wird auch an der Sprachverwendung deutlich, die eine hybride Mischung westlicher und türkischer Einflüsse darstellt. Gegen die Vereinnahmung durch eingrenzende Zuschreibungen wehrt sie sich durch das Theaterspielen. Schauspiel dient ihr über den Einsatz des Körpers zur kreativen Gestaltung ihrer Lebenswelt. Die zentrale Bedeutung des Körpers wird schon am Anfang des Textes deutlich. Der Roman beginnt mit der Beschreibung einer Bäckerei, deren Lage geografisch genau bezeichnet wird: »In der Stresemannstraße gab es damals, es war das Jahr 1966, einen Brotladen, eine alte Frau verkaufte dort Brot.« (11) Der Text beginnt ohne Einleitung und scheint mit dem Wort »damals« auf schon bekannte Informationen hinzuweisen. Damit wird der Eindruck einer Erinnerungserzählung erweckt. Die genaue Zeit- und Ortsangabe trägt

5

Weigel, Sigrid: Die Verdoppelung des männlichen Blicks und der Ausschluß der Frauen aus der Literaturwissenschaft. Hamburg: Reinbek 1990, 241.

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ebenfalls zu dem Eindruck bei, dass hier reale Begebenheiten geschildert werden, tatsächlich lebte die Autorin ja zur gleichen Zeit wie die Protagonistin in Berlin. Schon im nächsten Satz, dem zweiten Satz des Romans, wechselt der Erzählstil von dieser realistischen Faktendarstellung zur Metaphorik und lenkt die Aufmerksamkeit der Leserin auf den Körper der Bäckerin: »Ihr Kopf sah aus wie ein Brotlaib, den ein verschlafener Bäckerlehrling gebacken hatte, groß und schief. Sie trug ihn auf den hochgezogenen Schultern wie auf einem Kaffeetablett. Es war schön, in diesen Brotladen hineinzugehen, weil man das Wort Brot nicht sagen musste, man konnte auf das Brot zeigen.« (11)

Die Bäckerin als erste Person, die der Leserin begegnet, wird durch körperliche Eigenschaften charakterisiert, die sie mit dem ihr zugeschriebenen Raum verbinden. Ihr Handlungsraum ist der Bäckerladen und diese Zuordnung ist körperlich erkennbar. Zugleich ist die Wahrnehmung der Protagonistin nicht von einem »fremden Blick« bestimmt: Die Darstellung der Bäckerin ist unabhängig von Zuschreibungen wie »türkisch« oder »deutsch«. Auch der Einsatz von Sprache wird in diesem Abschnitt körperlich inszeniert. Da ihr die Worte fehlen, verständigt sich die Protagonistin durch eine Körperbewegung: durch das Zeigen. Den sie umgebenden Raum nutzt sie zum Erlernen der deutschen Sprache: »Wenn das Brot noch warm war, war es leichter, die Schlagzeilen aus der Zeitung, die draußen auf der Straße in einem Glaskasten hing, auswendig zu lernen. Ich drückte das warme Brot an meine Brust und meinen Bauch und trat mit den Füßen wie ein Storch auf die kalte Straße.« (11)

Der körperliche Kontakt der Protagonistin mit dem Raum wird hier betont. Sevgi nimmt aktiv Raum ein, indem sie ihren Körper auf diesen bezieht. Im zitierten Abschnitt tauchen die folgenden Körperteile auf: ihr Kopf, ihre hochgezogenen Schultern, die Brust, der Bauch, die Füße. Sevgi ist dem fremden Raum nicht ausgeliefert, denn sie handelt: Sie berührt das Brot mit ihrem Körper und tritt »mit den Füßen« auf die Straße. Von Bedeutung ist auch die Tatsache, dass der Roman mit der Nennung des Ortes einsetzt. Der Eindruck, den Sevgi hier gewinnt, erlaubt einen Einblick in die spätere Darstellung Berlins:

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»So wie in Berlin, Alexanderplatz, so ist die Initiationssituation fast immer zugleich, was man über die Stadt erfahren wird. In der Ankunft ist, was noch kommt, schon immer enthalten. Und da man an Orten des Transits ankommt, wird die Stadt zum transitorischen Ort.«6

Im Zusammenhang mit der Bedeutung des Körpers steht auch der Beruf der Protagonistin; gleich zu Beginn wird erzählt, dass sie in Istanbul Jugendtheater gespielt hat. Diese Erfahrung hilft ihr beim Deutschlernen. Das Lernen von Theatertexten hat eine räumliche Struktur: »Texte vergessen – das war, als ob eine Trapezartistin in der Luft nicht die Hand ihres Partners erreicht und herunterfällt.« (11) Schauspiel erscheint als Möglichkeit der körperlichen Gestaltung des Raumes. Dass der Topos »Theater« in einem Roman der Migrationsliteratur auftaucht, verweist auf die Tatsache, dass das Leben in einem fremden Land die Imitation neuer Gewohnheiten verlangt, was Bhabha als mimikry bezeichnet. Im Roman wird die Bedeutung des Theaters zunächst an den Binnenzitaten deutlich. Özdamar fügt zahlreiche Verweise auf türkische und europäische Theatertraditionen ein, wie etwa das Karagöz-Theater und die Dramentheorie Brechts. B. Venkat Mani vergleicht Özdamars Erzähltechnik mit der türkischen Tradition der Meddahlar7; zugleich entspricht die distanzierte Erzählhaltung der Protagonistin der Theorie des epischen Theaters Brechts, der eine der häufigsten Zitatquellen darstellt. Selbst negative Emotionen kann sie so mit Abstand beschreiben. Der erste Teil des Romans beginnt mit einem Streit zwischen Sevgi und ihrer Mutter, den sie anhand von Shakespeare-Zitaten führt: »Sie weinte. ich antwortete ihr: ›Pflegt Spott und Hohn in Tränen sich zu kleiden.‹ ›Meine Tochter; du bist so entsetzlich wild und noch so jung.‹ ›Nein, nein, Mutter, ich will nicht trau’n. Noch länger Eu’r verhaßtes Antlitz anschauen,

6

Benjamin, Walter: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band IV, 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 (1928), 114.

7

Mani, Venkat B.: The Good Woman of Istanbul: Emine Sevgi Özdamar’s Die Brücke vom Goldenen Horn. In: Lützeler, Paul Micheal/ Schindler, Stephan K. (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Tübingen: Staufenburg 2003, 29-58, hier: 35.

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Sind eure Hände hurtiger zum Raufen, So hab' ich längre Beine doch zum Laufen!‹ Ich lachte zu Hause nicht mehr, weil der Krach zwischen mir und meiner Mutter nie aufhörte.« (13)

In dieser Szene, die inhaltlich eigentlich auf große Emotionalität schließen lässt, ermöglicht die Distanz der Erzählerin eine humorvolle Schilderung. Auf ihrer Zugfahrt nach Berlin versteckt sich Sevgi hinter einem Buch von Shakespeare. Das Theater kann so zur Flucht vor der Welt dienen. Andererseits bietet es eine Möglichkeit zur Lebensgestaltung. In Berlin besucht sie das Berliner Ensemble und liest permanent Brecht. Selbst das Zimmer im Wohnheim wird für sie und ihre Freundin zu einem Teil des gegenüberstehenden Hebbeltheaters, so dass Erlebnisse als Elemente eines Theaterstückes erscheinen: »Gegenüber dem Frauenwonaym stand das Hebbeltheater. Das Theater war beleuchtet, und ein Reklamelicht ging ständig an und aus. Dieses Licht fiel auch in unser Zimmer. Wenn die Reklame ausging, hörte ich von dem Tag an [als zwei Zimmergenossinnen sich zum ersten Mal küssen] im Dunkeln Kußstimmen matsch matsch, wenn die Reklame an war, sah ich die im Halblicht glänzenden Lockenwickler der beiden Geschwisterköpfe auf ihre Kopfkissen und die ausgezogenen zwei Paar Schuhe auf dem Linoleumboden.« (23)

Sevgi spielt noch die Rolle einer Zuschauerin, mit ihrer Freundin Rezzan plant sie jedoch die Schauspielkarriere: »In manchen Nächten sprachen wir leise von Bett zu Bett im an- und ausgehenden Hebbeltheaterlicht über Theater. Rezzan fragte: ›Welche Rolle willst du spielen, Ophelia?‹« (23) Auch das Handeln der anderen Figuren empfindet Sevgi als Theaterspielen. Auch die türkischen Männer, mit denen Sevgi nach einigen Wochen im Berliner türkischen Arbeiterverein zusammentrifft, spielen Theater. Sie »rauchen alle wie in einem alten französischen Film, jeder hatte eine Zigarette in der Hand. Große Rolle, kleine Rolle – egal, rauchen machte das Leben und das Warten photogen.« (44) Die Männer agieren in Berlin, als sei der Aufenthalt nur Teil eines Theaterstückes. Das hängt mit ihrem »Gastarbeiter«-Status zusammen, der eine baldige Rückkehr der Arbeiter unterstellt und sie in einem irrealen Raum ansiedelt, der nur eine Zwischenstation, einen Transitraum darstellt. Berlin

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ist für diese Männer lediglich eine Chance zum Geldverdienen, leben wollen sie später in dem Heimatland. »Die Männer waren in der Türkei in die Busse eingestiegen, dann in die Züge, dann in die Flugzeuge, und waren nach Berlin gekommen. Jetzt standen sie hier vor einer Leiter, deren Ende im Himmel verschwand. Sie stiegen diese Leiter herauf und dachten: nur ein Stückchen, danach kommen wir wieder herunter. Dann wollten sie wieder in Züge und Busse einsteigen und zu den Orten, aus denen sie gekommen waren. zurückkehren. […] Sie redeten von diesem Jahr, für das sie nach Berlin gekommen waren, als ob es nicht zu ihrem Leben gehörte.« (44)

Als Sevgi bei ihrem zweiten Aufenthalt in Berlin eine Theaterschule besucht, möchte sie ihren Status der Arbeiterin in einen poetischeren umändern lassen: »Man konnte der türkische Halbmond sein oder Vollmond und als Mond Karriere machen. Ich schaute mir meinen Paß an. Beruf ›Arbeiterin‹. Ich ging zum türkischen Konsulat und wollte statt dessen ›Mondschein‹ oder ›Clown‹ eintragen lassen.« (168) Das Theaterspielen steht im Gegensatz zu der Arbeit in der Fabrik. Es ermöglicht ihr, als besondere Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Sevgi experimentiert mit diesen Möglichkeiten, die sie auch in den Alltag übernimmt: »Ich war so glücklich, daß ich auf den Straßen Salto mortale machte. An den Abenden ging ich zu den Theatern und setzte mich so laut in den Rang oder in die Loggias, daß mich viele Zuschauer anschauten, als ob das Stück mit mir anfangen würde. Im Dunkeln machte ich einen Schmollmund und schaute mir das Stück mit übertrieben traurigen oder interessierten Augen an.« (169)

Die Gefahr des Theaterspielens besteht also darin, dass man in der reinen Geste erstarren kann. Deutlich wird das an einer Gruppe von Kunststudenten, die Sevgi in Istanbul kennen lernt. Die Studenten werden als Personen dargestellt, die nur in Zitaten aufbegehren. Dabei wird das Theaterspielen zu einer Imitation: »[Die Studenten] versammelten sich in den Wohnungen ihrer Eltern, wickelten die Bettwäsche ihrer Mütter um ihre nackten Körper wie die Römer, saßen im Kreis in

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einem Zimmer und stellten sich Fragen, die sie aus einem Buch der surrealistischen Bewegung der Franzosen und Spanier auswendig gelernt hatten.« (194)

Das erklärte Ziel der jungen Leute ist es, »poetisch zu leben«. Die Gruppe lebt in materieller Abhängigkeit von den Eltern und nutzt das Agieren nach vorgeprägten Mustern dazu, die eigene Unabhängigkeit zu präsentieren. Die reale Gebundenheit können sie dabei nicht verleugnen, wenn etwa eine Mutter fragt: »Kinder, ich weiß, daß ihr spielt, aber könnt ihr nicht meine Wäsche in Ruhe lassen?« (198) Dieselbe Gefahr zeigt sich auch bei Sevgis Versuchen, politisch bewusst zu werden. Obwohl sie selbst von dem Geld ihrer Eltern lebt, wirft sie diesen ihren Lebensstil vor. Das Theater kann der Protagonistin jedoch zur Überwindung von Geschlechterrollen und sozialen Schranken dienen, so möchte sie auch Hamlet spielen und nicht Ophelia. Im realen Leben kann sie körperliche Schranken nicht ignorieren. Ihre ungewollte Schwangerschaft empfindet sie als Hindernis, denn »eine Schauspielerin durfte niemals schwanger sein«. (169) Kurz nachdem sie die Schwangerschaft bemerkt, reist Sevgi in die Türkei zurück, und der zweite Teil des Romans beginnt. In der Türkei wird das Theater zu ihrem zentralen Bezugspunkt. In Momenten der Trauer tröstet sie sich mit einem Gedicht von Bertolt Brecht: »Gott sei Dank geht alles schnell vorüber Auch die Liebe und der Kummer sogar. Wo sind die Tränen von gestern abend? Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?« (183)

An der Istanbuler Schauspielschule wird Sevgi von zwei Lehrern beeinflusst, die verschiedene Schauspieltheorien vertreten. Ein Lehrer vertritt ein emotionsbetontes Theaterkonzept und verlangt von den Schülern Erforschung und Darstellung der eigenen Psyche. Der zweite Lehrer ist ein Anhänger von Brecht: »Bei ihm mußten wir unsere Figuren soziologisch erforschen und darstellen.« (204) Die Schüler nennen ihre Lehrer »Körperist und Kopfist«. (205) Diesen beiden Schauspieltheorien entsprechen die zwei Erzähltechniken des Romans. Die Ich-Erzählerin schildert einerseits die Geschehnisse emotional und körperbezogen; dazu gehört auch die große Rolle, die die Schauspielerin einnimmt. Zugleich steht die Protagonistin in einer Distanz zu den

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Geschehnissen, die es ihr erlaubt, eine ironische Haltung zu den eigenen Verhaltensweisen einzunehmen. So verinnerlicht sie die Theorien beider Lehrer und setzt sie in den Alltag um. Durch die karikierende Erzählweise wird die Naivität der Protagonistin wieder relativiert: »Ich kam nach Hause, legte mich auf den Teppich, warf meinen Körper hin und her, schrie und übte, Gefühle aus dem Körper herauszuholen. Die alte Tante Topus sah das und sagte: ›Dein Vater soll dich ins Irrenhaus bringen.‹ Oder ich setzte mich als Kopf an den Tisch gegenüber meiner Mutter und sagte zu ihr: ›Was hast du, um dein Bewußtsein zu erweitern, die Woche gemacht?‹« (205)

Der körperbewusste Anteil des Theaterspielens ermöglich Sevgi ein Inszenieren ihrer Ängste in der fremden Stadt und somit eine Auseinandersetzung damit. Als Sevgi und ihre Freundinnen in Berlin von anderen Frauen beschimpft werden, weil sie in den Arbeiterverein gehen und Männer treffen, führen sie sich die Konfrontation mit den Eltern als Theaterstück vor: »Wir führten unsere Diamanten spazieren und traten vor der Telefonzelle laut mit den Füßen auf, damit unsere Eltern uns in Istanbul hören konnten. Wir liefen auf dem Grundstück des beleidigten Bahnhofs herum, als ob wir den Atem unserer Väter im Nacken hätten. Auch Rezzan, die keinen Vater mehr hatte, spürte den Vateratem im Nacken. Wir weinten dort wie die Esel, die mit ihrem ganzen Körper schreien konnten, und riefen. ›Mutter, mein Mütterlein, mein Mütterlein‹, dann schauten wir in unsere Gesichter und weinten noch lauter.« (55)

Das Theater bietet Sevgi einerseits einen Ausweg aus zunächst unlösbaren Situationen, andererseits führt auch die Auseinandersetzung mit dem Theater zu weiteren Problemen. Während des Schauspielunterrichtes in Istanbul beginnt Sevgi sich mit Politik zu beschäftigen, da einer ihrer Lehrer von seinen Schülern Bewusstseinserweiterung erwartet. Sevgis Mutter stellt allerdings die Aufrichtigkeit ihrer Bemühungen in Frage: »[…] Mach mich nicht böse, sonst pisse ich auf das Wort Bewußtsein. Du ißt dich mit dem Geld deines Vaters satt und willst mir neue Modewörter verkaufen. Verkauf deine Wörter am Theater.« (205) Sevgis Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit und mit politischen Ereignissen vollzieht sich vor allem auf der emotionalen Ebene. Bei Zeitungsberichten zum Beispiel »schaute ich jetzt immer auf die Zeitungsfotos und versuchte, die Gefühle zu betrachten,

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die die Fotos mir vermittelten.« (206) Das Theater beginnt eine andere Bedeutung für sie zu haben. Es dient nicht mehr ausschließlich zur Erprobung der eigenen Persönlichkeit, sondern wird zum Kampfmittel. Durch das Theater soll die Lebenswelt verändert werden. Dabei stoßen die Schüler schnell an ihre Grenzen, denn das Schauspielen bleibt entweder lebensfern und reine Darstellung, oder es wird pathetisch: »Wir dachten, wir sind Parasiten und leben von dem Blut der anderen, die wirklich bluteten oder schwitzten. […] Die ganze Schule schrie und schrie. Die Straßenfeger aus Anatolien liefen wegen ihrer niedrigen Löhne zu Fuß 750 Kilometer nach Istanbul, und wir schrien in der Schauspielschule in der Rolle eines dieser Straßenfeger. Wir schrien wie die Boulevardpresse.« (209)

Ähnlich wird auch Sevgis vermeintliche sexuelle Befreiung zu einer Farce, da sie diese nur spielt: »Wir schrien aber weiter, das Schreien ging bis in unsere Schlafzimmer, auch dort nahmen wir diese Maske nicht ab. […] aber der Orgasmus mußte unbedingt ein Schrei sein. Ich kannte noch keinen Orgasmus, aber spielte ihn mit verschiedenen Schrei-Tönen. […] Ich übte, wie ich am besten schreie, damit es nicht künstlich klang.« (210) So ist auch die Funktion des Theaters ambivalent. Es ermöglicht einen vielseitigen Umgang mit dem eigenen Körper und die Annahme verschiedener Rollen, kann aber dazu führen, dass Konflikte überspielt werden. Die Reibung an den Erwartungen anderer dient der Protagonistin zur Erprobung und Differenzierung ihres Selbstbildes. Dabei stellt Theater Freiräume dar, in denen Sevgi unterschiedliche Rollenbilder durchspielen kann und in denen sie sich über feste Zuordnungen hinwegsetzt. Das Selbstbild der Protagonistin ist somit abhängig von den Möglichkeiten, die der Raum ihr bietet.

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2.3 N ARRATIVE K ONSTRUKTIONEN DER G RENZE ÁGOTA K RISTÓFS D AS GROSSE H EFT

IN

Der Roman Das große Heft1 von Ágota Kristóf ist der erste Teil einer Trilogie mit den folgenden Teilen: Der Beweis und Die dritte Lüge. Er thematisiert die Lebensgeschichte von zwei Brüdern, die in Kriegszeiten von ihrer Mutter zur Großmutter aufs Land in Sicherheit gebracht werden. Aufgrund der dortigen brutalen und vom Krieg beeinflussten Lebensumstände beginnen die Kinder ihre psychische und physische Wahrnehmung durch Übungen abzuhärten, um in dieser neuen Umgebung überleben zu können. Das große Heft, ein Aufsatzheft, in welches die beiden ihre Erlebnisse eintragen, wird zur Vergegenständlichung der Entwicklungsprozesse der Zwillingsbrüder. Einer der beiden überquert die Grenze zum anderen Land, der andere kehrt in das Haus der Großmutter zurück. Im Folgenden sollen zunächst die narrativen Konstruktionen des Motivs der Grenze unter textanalytischen Kriterien und unter Bezugnahme auf verschiedene Kriterien untersucht und interpretiert werden. Des Weiteren werden die Ergebnisse dieser Untersuchung mit Aspekten wie Identitätsbildung, Realitätswahrnehmung und der Ausbildung von Moral- und Wertesystemen verknüpft. Ziel der Analyse ist es, die Funktionen der Grenzkonstruktionen in Bezug auf den Bedeutungshorizont des Romans zu verdeutlichen. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Lebensumstände der Kinder durch die räumliche Trennung verändert werden. Dabei unterscheiden sich die Zustände in ihrer alten Heimat »der großen Stadt« (5) erheblich von denen im neuen Lebensumfeld der »kleinen Stadt« (9). Allein das Gegensatzpaar »klein« und »groß« spiegelt diese Gegensätzlichkeit bereits wieder. Das Dorf, indem die Großmutter lebt, scheint abgegrenzt von jeglicher Zivilisation zu sein, es gibt keine Autos und nur »wenige Passanten« (5). Auch das Haus der Großmutter, das unmittelbare Lebensumfeld der Kinder, liegt abgeschieden »am anderen Ende der kleinen Stadt« (5), und ist umgeben von zahlreichen räumlichen Begrenzungen. Es liegt vor einer Straße, die selbst »von einer Barriere durchschnitten« (9) ist. Hinter der Barriere liegt ein Militärstützpunkt, hinter welchem sich wiederum »die Grenze und

1

Kristóf, Ágota: Das große Heft. Roman. München: Piper, 2004. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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ein anderes Land« befinden (9). Die Tatsache, dass sich das großmütterliche Haus in unmittelbarer Nähe zur Grenze befindet, betont die Bedeutung dieses Motivs für den Roman. Dass diese Grenze allerdings durch den Militärstützpunkt bewacht wird und es verboten ist, sie zu überqueren, kann auf die allgemeine Funktion des Motivs übertragen werden. Denn wie der Militärstützpunkt die Zivilisten daran hindert, die Landesgrenze zu überqueren, so hindern der Krieg selbst und seine Konsequenzen, nämlich die Umstände, denen die Zwillinge ausgesetzt sind, die Zwillinge daran, eine finale Grenze überschreiten, eine neue Identität auszubilden. Auf diesen Aspekt soll später noch genauer eingegangen werden, wenn die psychischen Grenzkonstruktionen untersucht werden. Das Haus der Großmutter ist außerdem von einem Garten umgeben, »hinter dem ein Fluss fließt« (9). Hinter dem Fluss befindet sich der Wald, der sozusagen ein Grenzgebiet oder einen Zwischenraum darstellt, denn er befindet sich zwischen dem Haus der Großmutter und der Landesgrenze. Er bildet außerdem das räumliche Pendant zur psychischen und physischen Entwicklung der Kinder, welche ebenfalls auf einem Grenzgebiet zu verorten ist. Der Fluss, eine Begrenzung zum Grenzgebiet, wird durch die Kinder durch eine selbstgebaute Brücke überquert, welche die Verbindung des alltäglichen Lebens zum Grenzgebiet darstellt. (17) Auch die verschlossenen Türen im Haus der Großmutter (10) stellen eine räumliche Begrenzung dar. Diese Grenze wird zunächst durch Löcher »verschoben«, die die Kinder in die Wände und den Boden der Dachkammer bohren, um die Großmutter beobachten zu können. Schließlich wird diese räumliche Grenze genau wie der Fluss überquert, indem sich die Brüder einen Schlüssel anfertigen, durch den sie Zugang zu den Zimmern im Haus erhalten (10-11). Auf räumlicher Ebene findet also zumindest hier ein Grenzübertritt statt, allerdings führt dies nicht zum finalen Grenzübergang, der Ausbildung einer neuen Identität. In Übereinstimmung mit diesem Ergebnis steht auch der Grenzübertritt eines der Brüder am Ende des Romans. Unklar bleibt dabei jedoch, im Bedeutungshorizont des Romans Das große Heft, ob dadurch ein Schritt zur Ausbildung einer autonomen Identität geschaffen wurde, denn an dieser Stelle wird das Wir-Individuum zum ersten Mal räumlich getrennt. Die körperliche Entwicklung der Kinder wird vor allem durch ihre äußerliche Veränderung und die Übungen zur Abhärtung des Körpers (22-23) geprägt. Die äußerliche Entwicklung spiegelt die Anpassung an die neuen

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Lebensumstände wieder, welche sich grundsätzlich von denen in der alten Heimat der Kinder unterscheiden. So beschreiben die Zwillinge: »Bei uns zu Hause, in der großen Stadt, wusch uns unsere Mutter oft« (19). Hingegen ist es bei der Großmutter »unmöglich, sich zu waschen« (19) und »alles ist schmutzig« (19) Im Laufe des Romans passen sich die Kinder immer mehr an diese Umstände an. Sie stellen zunächst fest: »Wir werden immer schmutziger« (20) und später stinken sie dann »wie Großmutter« (21). Auch die Beschreibung der Großmutter (12-13), der Personifikation der neuen Lebensumstände, betont den Gegensatz der körperlichen Zustände der alten und neuen Umgebung der Zwillinge. Ihre Lebensart wird als unzivilisiert dargestellt, »[s]ie hat keine Zähne mehr« und wenn »sie urinieren muß, bleibt sie stehen, wo sie sich gerade befindet, macht die Beine breit und pißt auf die Erden unter ihren Röcken«. (12) Die äußerliche Anpassung der Kinder an die neue Heimat macht die Verschiebung, das »verschwommen werden« der Grenze zwischen alter und neuer körperlicher Identität deutlich. Dass diese Grenze nicht endgültig überschritten wird, zeigt sich zum Beispiel in einem Kommentar der Magd, als sie die Zwillinge betrachtet: »Himmel! Wie schön ihr seid. Aber wie schmutzig«. (80) Hinter der neuen äußeren Erscheinung ist also selbst für Außenstehende noch ein Teil der alten Körperlichkeit, der alten Identität erkennbar. Durch körperliche Grenzen werden auch moralische und psychische berührt, was sich an den Übungen zur Abhärtung des Körpers (22-23) zeigt. Die Kinder werden von der Großmutter und anderen Leuten im Dorf scheinbar grundlos geschlagen (22). Zunächst reagieren die beiden auf die Gewalt, indem sie weinen, beschließen dann aber, ihren Körper abzuhärten, »um den Schmerz ertragen zu können, ohne zu weinen« (22). Die Zwillinge beginnen fortan damit, sich gegenseitig zu schlagen und stellen nach einiger Zeit fest, dass sie tatsächlich nichts mehr spüren (23). Aus dieser Überzeugung heraus fordern sie auch die Großmutter auf: »Hören Sie auf zu schreien, Großmutter, schlagen Sie lieber.« (23) Hier wird auch deutlich, dass die psychischen Grenzen der Kinder anscheinend noch nicht genug abgehärtet sind, denn sie präferieren körperliche statt seelischer Gewalt. Die psychische Abhärtung wird erst in späteren Übungen vollzogen (siehe unten). Allerdings gibt es auch in Bezug auf diese körperliche Grenze Hinweise, die darauf schließen lassen, dass auch hier lediglich eine Grenzverschiebung stattfindet. Dies zeigt sich zum Beispiel bei genauerer Betrachtung der Wahrnehmung während der Gewalt: »Es ist jemand anderes, der

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Schmerzen hat, es ist jemand anderes, der sich verbrennt, sich schneidet, leidet.« (23) Es wird deutlich, dass der Schmerz wahrgenommen wird, dies geschieht allerdings auf einer Ebene, die genau wie die Grenzverschiebungen, kaum noch fassbar geworden ist. Auch am Ende des Romans zeigt sich, dass kein Grenzübertritt hin zu absolut keinem Schmerzempfinden geglückt ist. Nachdem die Zwillinge wegen des Anschlags auf die Magd verhaftet werden und aufgrund dessen ins Gefängnis gesperrt werden, stellen sie fest: »überall tut es uns weh« (141). Die Zwillingsbrüder werden ständig von der Großmutter und anderen Leuten im Dorf beschimpft (»Hundesöhne«, »Hexensöhne! Hurensöhne!« 27). Anfangs reagieren sie noch betroffen auf diese seelische Gewalt und beschreiben ihre Reaktion wie folgt: »Wenn wir diese Wörter hören, wird unser Gesicht rot, unsere Ohren dröhnen, unsere Augen brennen, unsere Knie zittern« (27). Um sich an die Wörter zu gewöhnen, beginnen die Brüder damit, sich gegenseitig zu beschimpfen und stellen fest, dass es ihnen schließlich gelingt, »gleichgültig zu bleiben«. (28) Dass die Kinder allerdings nicht bei allen Wörtern die Bedeutung so schnell »auslöschen« können, zeigt sich durch »die alten Wörter« (28). Wörter, die die Kinder an die Zuneigung der Mutter erinnern, lösen immer noch Gefühle in ihnen aus und müssen vergessen werden, da »die Erinnerung an sie eine zu schwere Last« für sie ist (28). Die Brüder beginnen die Wörter so oft zu wiederholen, bis sie schließlich ihre Bedeutung zu verlieren scheinen und sie sagen können: »der Schmerz, den sie in sich tragen, läßt nach«. (28) In dieser Szene wird deutlich, dass die Kinder die Übungen zur Abhärtung des Geistes vollziehen, damit sie in der brutalen Welt überleben können. Dies ist in der vom Krieg geprägten Zeit, in der sie weder Zuneigung noch Liebe erfahren, nur ohne die Erinnerung an die alten Wörter und auf eine lebensfremde Art und Weise möglich.2 Auch Nietzsche hat festgestellt: »Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur, was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Ge-

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Popszt, Eszter: Be-Deutung und Identität. Zur Konstruktion der Identität in Werken von Agota Kristof und Terézia Móra. Würzburg: Köningshausen&Neumann, 2012, 28.

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dächtnis.«3 Genau auf diese Art und Weise versuchen die Kinder, die Erinnerung an »die alten Wörter« zu vermeiden, indem sie sie oft genug wiederholen, damit der Schmerz nachlässt und sie sich nicht mehr an die Bedeutung erinnern können. (28) Dass auch diese psychische Grenze nicht vollkommen überschritten wird, zeigt sich in der Feststellung, dass der Schmerz »nachläßt« aber nicht vollkommen verschwindet. (28) Auch die Übungen in Grausamkeit (58-60) enthüllen die Notwendigkeit der psychischen Anpassung der Kinder an die neue Umgebung. Nachdem die Kinder das Huhn der Großmutter geschlachtet haben, reagiert diese entsetzt auf dieses Verhalten. Der folgende Dialog spiegelt die Motivation der Kinder wieder: »Ihr mögt das, was? - Nein, Großmutter, wir mögen es nicht. Gerade deswegen müssen wir uns daran gewöhnen.« (59) Neben den psychischen Grenzen, die mit den Übungen der Kinder zusammenhängen und durch ihre Entwicklung verschoben werden, gibt es auch moralische, die die Fremdheit in der Familie und die Entfremdung der Gefühle der Kinder wiederspiegeln. So wird direkt am Anfang des Romans ein Gefühl des Fremdseins erzeugt, wenn die Mutter der Zwillinge ihre eigene Mutter sieht (6) und deutlich wird, dass die Großmutter die Enkel noch nie gesehen hat: »Meine Enkel? Ich kenne sie nicht mal« (6). Die Mutter wird von der Großmutter außerdem als »Hündin« beschimpft und es zeigt sich, dass diese sich eigentlich nicht um ihre Enkel kümmern will. (7) Dies wird auch später im Roman deutlich, wenn klar wird, dass die Großmutter die Kinder nur bei sich aufgenommen hat, damit sie an das Geld kommt, das die Mutter für die Zwillinge schickt, welches sie allerdings vor den beiden Brüdern versteckt. Aufgrund dieser Umstände entwickelt sich auch das Verhältnis zur Großmutter ohne Zuneigung und Gefühle. So macht sie den Kindern bereits am Anfang klar: »Aber ich sorge schon dafür, daß sie arbeiten, keine Bange. Auch hier ist das Essen nicht umsonst« (7) und gibt ihnen unmissverständlich zu verstehen, dass sie sich nicht um sie sorgt, wenn sie zum Beispiel alleine in den Wald gehen: »[…] Ich würde euch nicht suchen.« (17) Wenn die Kinder nicht für die Großmutter ar-

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Öhlschlager, Claudia: Gedächntnis. In: Von Braun, Christina/Stephan, Inge (Hg.):

Gender@Wissen. Ein Handbuch Weimar/Wien: Bühlau, 2005, 239-260.

der

Gender-Theorien.

Köln/

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beiten, müssen sie draußen schlafen und bekommen nichts zu essen. (14) Dass das Verhältnis zur Großmutter allerdings auch von Widersprüchen geprägt ist, zeigt sich darin, dass sie einerseits Drohungen gegen sie aussprechen: »Von jetzt an werden Sie uns die Post geben. Sonst werden wir Sie töten. Haben Sie verstanden?« und sie immer noch siezen, andererseits kümmern sie sich um die Großmutter, nachdem sie einen Schlaganfall erlitten hat und pflegen sie, bis sie wieder gesund wird. (190-192) Auch das Verhältnis zur Mutter ist scheinbaren Widersprüchen unterworfen, so scheinen die Zwillinge am Anfang ein gutes Verhältnis zur Mutter gehabt zu haben (81), sagen aber zum Deserteur: »Wir haben keine Mutter« (51). Sie wollen auch nicht mit der Mutter mitgehen, als diese sie abholen will (167) und betrachten ihren Tod auf eine brutale, pragmatische Weise (169), aber drohen der Großmutter um an die Briefe der Mutter zu kommen (70). Auch die Tatsache, dass sie sich ihr Skelett später poliert auf den Dachboden hängen, spricht eher für das Suchen ihrer Nähe (199). Die Widersprüche spiegeln die Unfähigkeit der Zwillinge wieder, ihre Gefühle auszudrücken, zu evaluieren und zu reflektieren und sind mit dem Unvermögen, eine neue Identität auszubilden, verbunden. Ein weiterer Höhepunkt, der die Entfremdung von Familie und Gefühlen darstellt, findet sich am Ende des Romans, wenn die Brüder ihren eigenen Vater »opfern«, um die Grenze überqueren zu können (207). Die Unterrichtsstunden der Kinder bilden die Schlüsselszene des Romans. (35-37: »Unsere Studien«) Auf dem Dachboden des Hauses haben die Kinder unter anderem ein Aufsatzheft versteckt, in welches sie ihre Erlebnisse eintragen und diese gegenseitig korrigieren und bewerten. Das Aufsatzheft, welches von den Zwillingen nur als »das große Heft« (35) bezeichnet wird, stellt die Vergegenständlichung der Entwicklungsprozesse der Kinder dar. Die Kriterien, nach denen die Kinder die Aufsätze bewerten, sind Negationen von Subjektivem: »Um zu entscheiden, ob es ›gut‹ oder ›nicht-gut‹ ist, haben wir eine sehr einfache Regel: Der Aufsatz muß wahr sein.« (36) Die Kinder entwickeln eine Abgeklärtheit, nach der Gefühle unsicher und Tatsachen sicher sind. Das subjektive Wort »lieben« ist demnach »unbestimmt« (37), denn es fehlt ihm an »Genauigkeit und Sachlichkeit« (37). Die Kinder bewerten ihre Aufsätze auf diese Art und Weise, um die als unsicher erfahrene Welt unter ihrer Kontrolle sicher zu gestal-

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ten.4 Dadurch, dass die Aufsätze immer »korrekter« und von emotionalen Ausdrücken immer mehr befreit werden, verändert sich auch die Entwicklung der Kinder immer weiter. Die Aufzeichnungen im großen Heft spiegeln die Veränderung der Zwillinge wieder, welche versuchen, »unter Abarbeitung des Subjektiven, des Emotionalen, des Wertenden«5, die ihnen einzig mögliche Lebensgeschichte zu erzählen. Die semantischen Grenzen im großen Heft werden mit derselben Brutalität erhärtet, mit der die Kinder auch ihren Körper und Geist abhärten.6 Das große Heft, als Ort der Entwicklungsprozesse der Zwillinge nimmt also in Bezug auf den Bedeutungshorizont des Romans eine besondere Stellung ein, was nicht zuletzt durch den Titel des Buches betont wird. Durch ihre Entwicklung bilden die Kinder ein völlig individuelles Werte- und Moralsystem aus. So stehlen sie zum Beispiel im Winter, um Hasenscharte und ihrer Mutter zu helfen, bezahlen aber immer einen Teil der mitgebrachten Dinge: »Man muß etwas kaufen, um etwas anderes stehlen zu können« (76). Sie rächen sich auch an der Magd als Reaktion auf ihr Verhalten gegenüber den Deportierten (128), indem sie einen Anschlag auf sie verüben (138). Dass die Zwillinge also solch ein Verständnis von Werten und Moral besitzen, oder dieses neu entwickelt haben, zeigt sich auch, wenn sie auf ihre »Kusine« (147) aufpassen, obwohl sie wissen, dass sie keine Kusine haben, und dies so begründen: »Wir haben dem alten Herrn versprochen, auf sie aufzupassen.« (148) Aufgrund dieses individuellen Wertesystems helfen sie auch Hasenscharte nach dem Angriff der anderen Jungen aus dem Dorf. (61-64) Dieses Werteverständnis ist allerdings unübersehbar geprägt von den Erlebnissen des Krieges, was sich zeigt, wenn die Kinder ihr Verhalten begründen, nachdem sie zum Beispiel dem Deserteur geholfen haben: »Wir wollten nicht nett sein. Wir haben Ihnen die Sachen gebracht, weil Sie sie unbedingt brauchten. Das ist alles.« (51) Das neue Gefühlssystem der Kinder bildet das Grenzgebiet auf psychischer und moralischer Ebene. Es befähigt die Zwillinge außerdem sich offensichtlich ohne Reflexion in den Sinn-Welten anderer zu bewegen.7 So schlagen sie zum Beispiel den Offi-

4

Propszt, 2012, 33.

5

Ebd. 28.

6

Ebd.

7

Ebd. 32.

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zier bis zum Orgasmus (102-103) und auch der sexuelle Missbrauch durch die Magd (92) wird von den Kindern ohne emotionale Äußerungen hingenommen. Auch ihr Verhalten nach dem Tod von Hasenscharte lässt sich durch diese Theorie erklären. Sie schneiden der Mutter von Hasenscharte ohne zu zögern die Kehle durch und zünden das Haus an, weil sie sie darum gebeten hat. (179-180) Ihre Aussage, »[j]a wir sind dazu fähig« (179) verdeutlicht noch einmal ihre psychische und moralische Entwicklung und ist nur durch die Abhärtung aufgrund der brutalen Ereignisse angesichts des Krieges zu erklären. Außerdem vergiften sie ihre Großmutter, weil es ihr Wunsch ist, zu sterben (195). Das neue Gefühlssystem ist das Ergebnis der Einflüsse durch das neue Lebensumfeld und verdeutlicht die verschobene Grenze zwischen alter und neuer Identität auf eine teilweise so brutale Art und Weise, dass diese verschwommene Grenze kaum noch für den Leser zu erkennen ist. Auch der Text an sich verschiebt moralische, ethische und psychische Grenzen in Bezug auf die Wahrnehmung des Lesers, in der Art und Weise, wie die Dinge dargestellt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Konfrontation mit Sexualität, vor allem durch die Schilderungen, in denen die Nachbartochter vorkommt. »Hasenscharte« (39) trinkt Milch aus den Eutern der Ziegen und ihre Aussage: »Ich sauge auch gern an was anderm« (34) lässt auf ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität schließen. Dieses gestörte Verhältnis wird auch im Kapitel »Hasenscharte« (43-45) deutlich, in dem geschildert wird, wie das Mädchen sexuelle Handlungen mit dem Hund der Großmutter vollzieht. Die Beschreibung dieser Szene ist von solch erschreckend offensivem Pragmatismus geprägt, dass sich die Wirkung im Bedeutungshorizont des Romans und auch auf den Leser selbst auf einem Grenzgebiet verorten lässt. Auch der Tod von Hasenscharte tritt sich auf einem solchen Grenzgebiet ein. So beschreibt ihre Mutter ihren Tod: »Sie ist glücklich gestorben, totgefickt.« (179) Der Ausdruck »totgefickt« ist nur eines der Beispiele, die verdeutlichen, dass der Text auch auf sprachlicher Ebene unter anderem moralische Grenzen beim Leser berührt. Auch die Beschreibungen der Umwelt machen deutlich, in welcher Welt die Zwillinge aufwachsen. So erzählen sie: »Überall hört man Schüsse und Schreie von Frauen, die vergewaltigt werden.« (177) Ein weiteres Beispiel findet sich in der Beschreibung des Todes der Mutter: »Wir betrachten unsere Mutter. Die Eingeweide quellen ihr aus dem Bauch. Sie ist überall rot. Das Baby auch. Der Kopf unserer Mutter hängt in dem Loch, das die

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Granate gerissen hat. Ihre Augen sind noch offen und noch feucht von Tränen« (170). Der Fund des Leichenhaufens (165) symbolisiert den Krieg in einer Präsenz, deren Wirkung sich auch die Zwillinge trotz ihrer Übungen nicht entziehen können: »wir erbrechen uns« (165). Durch die Übungen wollen die Kinder die Wahrnehmung der Realität verändern, um in dieser überleben zu können. Die Übungen in Blindheit und Taubheit stellen den Versuch dar, die Realität durch manipulierte Sinneswahrnehmungen anders zu erfahren. In diesem Kapitel (»Übung in Blindheit und Taubheit«) werden allerdings nicht nur die Realitätswahrnehmungen der Zwillinge, sondern auch die des Lesers beeinflusst. Das Kapitel hat eine besondere Bedeutung für den Roman, da hier zum ersten und einzigen Mal von der Wir-Erzähler-Perspektive abgewichen wird und von einem »Ich« die Rede ist: »Ich höre die Flugzeuge. […] Ich höre wieder die Vögel.« (46-47) Durch diesen Perspektivenwechsel erfährt die »Wir-Identität« der Zwillinge einen Bruch und die Anspielungen auf die Fragwürdigkeit der Existenz beider Brüder werden omnipräsent. Erste Anspielungen dieser Art finden sich in einem Rückblick auf das alte Leben der Kinder im Kapitel »Die Schule« (24-31). Die Kinder sollen nach dem Willen des Vaters in getrennte Klassen gehen, da ihr Verhalten »beängstigend« (29) ist: »Sie denken zusammen. Sie handeln zusammen.« (29) Die Aussage der Mutter scheint hier wie eine Vorausdeutung auf die Handlungen in den Folgeromanen Der Beweis und Die dritte Lüge, in denen enthüllt wird, dass die Zwillinge eigentlich nur die Spiegelung einer Person sind. Die Mutter sagt: »Ich kenne sie. Sie sind ein und dieselbe Person.« (29) Auch das Verhalten der Kinder nach der Trennung betont die Realitätsverzerrung. Die Situation ist für sie »unerträglich«, sie »haben kein Gleichgewicht mehr« und »verlieren das Bewusstsein« (30), worauf sie wieder in eine Klasse geschickt werden. Auch, wenn die Wahrheit über die Existenz der Zwillinge erst in den Folgeromanen aufgedeckt wird, bereits in Das große Heft sind Anspielungen darauf allgegenwärtig und werden durch Aussagen wie: »Nie geht einer von uns ohne den anderen aus dem Haus. Wir gehen immer zusammen«, verstärkt. Im Roman Das große Heft werden die Entwicklungen der Zwillingsbrüder auf psychischer und physischer Ebene dargestellt. Die Brüder entwickeln eine veränderte Wahrnehmung der Realität, da dies die einzige Möglichkeit darstellt, um in der brutalen Umwelt überleben zu können. In Folge

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dieser Entwicklung finden zahlreiche Grenzverschiebungen statt, welche auf verschiedenen Ebenen zu verorten sind. Die Grenzen verschwimmen so stark, dass sie teilweise kaum noch zu erfassen sind. Als Ergebnis ihrer Entwicklung bilden die Brüder ein individuelles Werte- und Moralsystem aus. Durch die zahlreichen schrecklichen Erlebnisse sind die Kinder unfähig geworden, ihre Gefühle zu erfassen. Aufgrund dessen misslingt auch der finale Grenzübertritt, die Stiftung einer neuen Identität. Die Unfähigkeit der Identitätsbildung, also die Grenzverschiebungen stehen zwar im Gegensatz zum Grenzübertritt eines Zwillings am Ende der Geschichte, dieser beschränkt sich allerdings lediglich auf eine räumliche Ebene. Die finale Übernahme einer neuen, an das neue Lebensfeld angepassten Identität misslingt, weswegen auch kein endgültiger Grenzübertritt vollzogen wird. Der Roman wird nur durch das Verschoben-Werden von Grenzen geprägt, ein »Ankommen nach der Grenze« gibt es nicht. Die Funktion der Grenzen und ihre Verschiebung bleiben die Gegensätzlichkeiten der alten und neuen Identität sowie die Unfähigkeit eine neue, beständige Identität auszubilden. Das neue Wertesystem und die Verhaltensweisen sowie die Realitätswahrnehmung der Zwillinge spiegeln die neue Position der Grenzen, in einem Zwischenraum8 zwischen alter und neuer Identität wieder.

8

Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Frage der Identität. (und) Die Verortung der Kultur. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Theresa: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenberg, 1997, 122-148.

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2.4 D IE AMBIVALENZ VON G EWALT UND R ATIONALITÄT IN E LFRIEDE J ELINEKS L UST Schon seit Freud ist das Herr-Knecht-Verhältnis nicht mehr nur Gegenstand philosophischer Abhandlungen, sondern gehört Zentrum psychoanalytischer Theoriebildung. Die feministische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin stellt in ihren Untersuchungen fest, dass die Herrschaft nicht nur Macht über die Knechtschaft hat, sondern insbesondere »rationale Gewalt« gegen sie ausübt. »Rationale Gewalt« sei »eine kontrollierte, ritualisierte Form von Gewalt«,1 die im Bestehenden überaus rational kalkuliert sei, so dass sie im Unterschied zu heftigem Missbrauch, Misshandlungen oder individueller Gewalt eine soziokulturell normal erscheinende Form annehme und ideologisch mythologisiert werde, als ob sie angesichts immerwährender historischer Legitimation von Natur aus zu begründen wäre. Das heißt, trotz der hohen Zivilisation und Kultivierung der Gegenwart ist der ambivalente Gegensatz von Gewalt und Rationalität der patriarchalischen Kultur inhärent und konvergiert in ihr. Fernerhin führt Benjamin aus, dass neben der abendländischen Rationalität auch der abendländische Individualismus zur Struktur der HerrschaftKnechtschaft beiträgt.2 Die rationale Gewalt des Herr-Knecht-Verhältnisses sei in sexuellen Fantasien insbesondere in den Ländern, wo der Individualismus überwiegend vorherrscht, rege und jederzeit bereit, eruptiv nach außen zu drängen, weil sie den Wunsch nach Befreiung von der steifen Verschlossenheit, Isolation und Öde des Individuums verkörpert.3 Je nach dem individuellen und rationalisierten Zustand drängen die unerfüllten Bedürfnisse in das erwachsene sexuelle Leben vor, in dem der Körper oft zum Ort der Reflexion und des Ausagierens werde. So übe die rationale Gewalt tiefergehende Einflüsse nicht nur auf das soziopolitische Leben des Individu-

1

Benjamin, Jessica: Herrschaft – Knechtschaft: Die Phantasie von der erotischen Unterwerfung. In: List, Elisabeth; Studer, Herlinde (Hg.): Denkverhältnisse: Feminismus und Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, 511-538, 513.

2

Benjamin, Jessica: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. (Ins Deutsche übertragen von Nils Thomas Lindquist und Diana Müller) Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993, 181.

3

Benjamin, Herrschaft - Knechtschaft, 513.

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ums, sondern auch auf dessen erotisches Leben aus.4 Benjamin ist überzeugt, die rationale Gewalt der Herrschaft sei stets mit Fantasien erotischer Gewalt verbunden; erotische Komponenten seien auch im politischen Leben zu finden.5 Denn sie vertritt die Auffassung, dass die Antriebe erotischer Gewalt und Unterwerfung, die eben Folge und Ursache vom Herrschaft-Knechtschaft-Paradoxon des Systems sind, auf ursprüngliche Bedürfnisse »nach Eigenständigkeit und gleichzeitiger Überwindung der eigenen Grenzen«, zurückzuführen seien6; erotische Herrschaft beinhalte also auch die Wünsche nach Unabhängigkeit und Anerkennung7. Infolge rationaler Gewalt gehe Liebe unvermeidlich in das HerrKnecht-Verhältnis über, wobei Liebe leicht das Gefühl bzw. den Anschein erwecke, als beruhe ein solches Verhältnis auf freiem Willen.8 Bedeute Liebe die Sehnsucht, erkannt und anerkannt zu werden, müsse sie angesichts der Ablehnung des Herrn, Anerkennung auszusprechen, ohnehin in einem Desaster enden. Alles in allem beruhe das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft hauptsächlich auf dem paradoxen Verharren in dem »Gefühl des Einsseins und des Alleinseins«9 des Subjekts, d. h. in dessen beinahe »uneingeschränkte[m] Narzißmus«10, und dem Verlangen nach Anerkennung zugleich. Bei Elfriede Jelinek zieht sich das Thema des Herr-KnechtVerhältnisses wie ein roter Faden durch ihre Werke. In einem Interview mit Adolf-Ernst Meyer spricht Jelinek in Bezug auf den Roman Lust davon, dass bei ihr die sexuellen Beziehungen und Wirkungen (in der Ehe) nach dem hegelschen Herrschaft-Knechtschaft-Schema verlaufen und die Rollenzuweisungen der Beteiligten als Besitzende und Besessene im Grunde aus gesellschaftlichem Zwang anstatt aus freier individueller Entscheidung

4

Ebd. 511.

5

Ebd.

6

Ebd.

7

Benjamin, Die Fesseln der Liebe, 53.

8

Benjamin, Herrschaft - Knechtschaft, 511.

9

Benjamin, Die Fesseln der Liebe, 35.

10 Ebd. 49.

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resultieren.11 Wie Jessica Benjamin bezieht auch Jelinek die Herr-KnechtParadoxie auf die biolog(ist)isch begründeten Geschlechter- bzw. Geschlechtsbeziehungen. Der Roman Lust12 handelt von einer bürgerlichen Familie, in der sich die Frau namens Gerti sexuell wie auch ökonomisch von ihrem Mann Hermann unterwerfen lässt. Durch andauernde Vergewaltigungen destruiert er sie physisch und psychisch. Aus Angst vor Aids verzichtet er auf jeden außerehelichen Sexualverkehr. Immer wieder wendet er sich seiner Frau zu, nur um sie sexuell zu misshandeln. Dazu muss sie jederzeit bereit sein. Hingegen versucht Gerti, dem Mann möglichst zu entgehen. Äußerst passiv protestiert sie gegen die Vergewaltigungen. Um ihr Leiden zu lindern und ihren Hass gegen den Mann zu unterdrücken, verfällt sie dem Alkohol. Auch die Liebe zu und die Pflicht gegenüber ihrem Sohn vermag sie nicht mehr zurückzuhalten. Einmal geht Gerti im Rauschzustand von zu Hause weg und wird unterwegs von einem jungen Juristen namens Michael aufgefunden. Im Nu entwickeln sich heftige Sexualbedürfnisse zwischen ihnen. Beide geraten sofort in Leidenschaft. Während er sie lediglich als eine vorläufige Beute zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ansieht, glaubt sie, durch ihn eine auf Liebe basierende Zuflucht gefunden zu haben. Sie lässt sich von ihm zwar nach Hause begleiten, aber nur um unter dem Schutz der ehelichen Fassade ihre Liebe zu ihm zu entwickeln. Obwohl er sie schonungslos vor seinen Skifreunden vergewaltigt und sie von ihnen, Jungen und Mädchen, sexuell missbrauchen lässt, ist sie immer noch von ihm besessen, bis Hermann sie zur Rückkehr in die Familie zwingt. Schließlich kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie für alle ihre Nahestehenden, den Ehemann, den Liebhaber und den Sohn, nur Mittel zum Zweck ist. Einerseits aus Wut, andererseits aus Verzweiflung erstickt sie den Sohn. Somit begeht sie eine wagemutige Devianz von dem bisher geführten Leben.

11 Jelinek, Elfriede; Heinrich, Jutta; Meyer, Adolf-Ernst: Sturm und Zwang – Schreiben als Geschlechterkampf. Hamburg: Ingrid Klein Verlag, 1995, 7-74, 55. 12 Jelinek, Elfriede: Lust. (ursp.1989) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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Beruflich ist Hermann der Direktor einer österreichischen Papierfabrik in einer provinziellen Industriegemeinde. So, wie er seine Frau unterdrückt, dressiert er auch die Arbeiter. Da er als Brotgeber die Existenz der Arbeiter bestimmen kann, beansprucht er deren völlige körperliche und seelische Hingabe, indem sie nicht nur für ihn arbeiten, sondern ihn auch mit Lobgesängen vergöttern sollen. Neben der Frau braucht er die Untergebenen zur Reproduktionsarbeit, damit seine Machtposition und sein Gewaltverfügungsrecht gesellschaftlich wie auch familiär weiter gesichert seien. Gertis Worten fehlt die mindeste Äußerungskraft. Dementsprechend bildet sich vornehmlich durch die Erzählweise ein mit dem Stil äquivalenter, monotoner sowie hoffnungsloser Stillzustand der Protagonistin im Innern und im Äußern. Jelinek reproduziert »nur den schlechten IstZustand«13. Keine »Rettung in ein höheres Sein«14 ist in Sicht. So scheint es sich im Roman ständig um eine ewige Zirkulation und Akkumulation der geschlechtlichen Zustände zu handeln, die auf der individuellen und familiären Ebene keinen Ausweg finden. Ohne die besondere Affinität zum sarkastisch grausamen Witz würde der Roman den Leser vielleicht langweilen. Im Gegensatz zu der sich hoffnungslos im Abgrund befindenden, stillen Protagonistin zeigt sich der Protagonist Hermann in Sprache und Handeln extravagant. Er allein ist der vollkommene Individualist, »der Herr des Diskurses« und beherrscht »die höchste Ausformung der deutschen Sprache«, welche der in den Medien üblicherweise benutzten klischeehaften Sprache entspricht.15 Die Figuren dienen bei Jelinek nur zur Sprachkritik sowie zur Auffindung der genuinen Wirklichkeit bzw. Wahrheit. Wenn Jelinek die Wirklichkeit schildert, dann ist ihre Sprache in hohem Grad »polemisch, satirisch, überspitzt«16. Sie bevorzugt, die Wirklichkeit dermaßen zu übertrei-

13 Deuber-Mankowsky, Astrid; Konnertz, Ursula: Erschrecken vor dem Denken. Elfriede Jelinek über das Unterlaufen der Philosophie mittels weiblicher Ungenauigkeit. In: Auf 82/1993, 7-9, hier: 8. 14 Bohrer, Karl Heinz: Imaginationen des Bösen. München; Wien: Carl Hanser, 2004, 104. 15 Winter, Riki: Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Bartsch, Kurt; Höfler, Günther (Hg.): Elfriede Jelinek. Graz; Wien: Verlag Droschl, 1991, 9-19, hier: 13f. 16 Ebd.

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ben, bis »sie zur Kenntlichkeit entstellt wird.«17 Ihrer Ansicht nach soll die geschilderte Grausamkeit im Roman Lust trotz der stilistischen Deformierung der Wirklichkeit endlich als nackte Wahrheit erkannt werden. Mit anderen Worten: Die erzählten Zustände sollen nicht für erfunden erachtet werden. Der Leser soll den Eindruck bekommen, als gebe die Erzählerin eine soziopolitische und familiäre Realität wieder. Infolgedessen verlässt sie oft »die illusorische Ebene und [gibt] einen (geschlechter-politischen Kommentar, der die Wahrheit hinter den Dingen kenntlich macht«.18 In Lust wird die Protagonistin nicht als eine vollständige Persönlichkeit charakterisiert. Sie hat keine Vergangenheit und äußert sich kaum in der Sprache. Selbst wenn sie dem Liebhaber Michael gegenüber kurzzeitig einen unaufhaltbaren Impuls zur Äußerung hat, bleibt ihre Sprache entweder unverständlich oder verworren. Tatsächlich lassen sich Herkunft, individuelle Entwicklung und Gedankengang der Protagonistin schwer rekonstruieren. Mit solch einer Charakterisierung als leblose Protagonistin intendiert die Schriftstellerin, sie zuerst zu entindividualisieren, dann zum weiblichen Kollektiv zu klassifizieren. Da Jelinek fest davon überzeugt ist, dass der Frauenkörper und dessen Funktionen längst politisiert sind, glaubt sie, durch die entpersönlichte Charakterisierung der Protagonistin und ihre übertrieben passiven Reaktionen auf das überaktive Verlangen der Männer die längst politisierte Kontrolle des Frauenkörpers nicht als Folge des individuellen Missbrauchs der Männer allein zu hinterfragen. Über das individuelle gewalttätige Verhalten des Ehemanns hinaus versucht Jelinek, seine Gewaltakte im tieferen Sinne als Konsequenz der rationalisierten strukturellen Manipulierung des Systems zu entlarven. Mit diesem Verständnis der Gewalt ist - meint Jelinek - die abgebildete Unterjochung der Protagonistin durch den Ehemann nicht zum Einzelfall abzustempeln. Die Passivität, enorme Abhängigkeit, Depression, Hilflosigkeit, Angst, der entstellte Erkenntnis- und Denkmodus der Protagonistin sind nicht die Ursachen, sondern die Folgen der familiären Gewalt. Von daher wird jeder Versuch, auf die psychischen bzw. persönlichen Mängel der Protagonistin zur Analyse ihrer masochistischen Züge einzugehen, sinnlos. Die

17 Ebd. 18 Jelinek, Elfriede; Heinrich, Jutta; Meyer, Adolf-Ernst, Sturm und Zwang, 28.

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Aufmerksamkeit des Lesers soll infolgedessen auf eine kritische Reflexion über das Ganze gelenkt werden. In Zusammenhang mit dem Roman Lust machte Jelinek in einem Interview nachdrücklich die Bemerkung, dass infolge der geschlechtlichen Ungleichheit im bestehenden System kein weibliches Subjekt - weder auf dem intellektuellen Gebiet noch auf der sexuellen bzw. pornographischen Ebene - existieren könne.19 Jelineks Ansicht zufolge können die Frauen erst existieren, wenn sie gänzlich auf ihr Selbst verzichten. Zweifellos steht für sie außer Frage, dass die Selbstauslöschungstendenz der Frauen völlig unfrei und unwillig von ihnen selbst ausgeht. Bei Jelinek kann auf der sexuellen Ebene keine Lust bzw. kein Begehren aus den Frauen hervorgehen, weil sie sich zwangsweise in eine Rolle des männlichen Lust-und Begehrensgegenstandes einzwängen und sich stets im Zustand der Selbstausschaltung befinden. Die Männer hingegen sehen in den Frauen stets nur das eigene Ich. Diesbezüglich hebt die Erzählerin in Lust speziell die Du-und-Du-Beziehung der Männer zu den Frauen, ohne Letztere als »ihresgleichen« zu betrachten, mit besonderer Aufmerksamkeit heraus. Insofern existiert aus der männlichen Perspektive kein weibliches Ich. Die Frauen haben ausschließlich für die Männer (in Lust vor allem auf der sexuellen Ebene) zu existieren. Indem die Männer ihrer eigenen Lust und Begierde nachgehen und ihr Gegenüber zur Hörigkeit und Demut verleiten, steht ihnen kaum der Sinn nach der Lust und Begierde der Frauen, welche weder wahrgenommen noch gestattet werden, was Jelinek als gewalttätig anprangert.20 Aufgrund dessen stellt Jelinek in Lust nicht die Lust bzw. Begierde der Frauen dar, sondern einzig und allein die der Männer ebenso wie die Unmöglichkeit der weiblichen Lust bzw. Begierde im Herr-Knecht/Magd-System.

19 Deuber-Mankowsky; Konnertz, Erschrecken vor dem Denken, 7. 20 Presber, Gabriele: Frauenleben, Frauenpolitik. Rückschläge & Utopien. Gespräche mit: Elfriede Jelinek, Eva Poluda-Korte, Johanna Stumpf, Branka Wehowski, Regine Hildebrandt, Petra Kelly. Tübingen: Konkursverlag Claudia Gehrke 1992, 7-37, hier: 35.

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Die Frauen bleiben ausschließlich Objekt statt »Subjekt ihrer Wünsche«21. Während ein Subjekt in der sexuellen Zweierbeziehung als Individuum für sich spricht und seine eigenen Interessen und Rechte eigenständig vertreten kann, wird das Individuum durch den Zwang zum Objekt gemacht. Da das Objekt mit anderen Objekten gleichsam denselben Status bzw. dasselbe Schicksal teilt, wird es ständig als Teil des unterworfenen Kollektivs angesehen. Im Gegensatz dazu ist das Subjekt imstande bzw. ist es ihm erlaubt, auf seiner eigenen Individualität und Selbstständigkeit zu bestehen. So macht jedes Subjekt den Eindruck, als wäre es einzigartig. Erst aus dieser Gegenüberstellung erlangt die folgende Konstatierung Jelineks ihren tieferen Sinn: Die Frauen gehören zu »einer unterdrückten Kaste«, sie repräsentieren sich nicht selbst, sondern ihr Geschlecht.22 Gewalt gegen die einzelne Frau und Missachtung ihr gegenüber betreffen bei Jelinek ergo alle Frauen. Wird ein Mann hingegen entwürdigt oder geopfert, geht es nur um ihn als Individuum.23 In eben diesem Zusammenhang der Reduzierung der Frau zum Objekt scheint Jelineks vermeintlich extreme Behauptung - »Man gesteht einer Frau nicht zu, Ich zu sagen. Eine Frau steht für alle Frauen.«24 - verständlich. Das Fehlen des weiblichen Subjekts führt nicht nur zum Verlust der weiblichen Lust bzw. Begierde als Subjekt, sondern auch dazu, dass die Frauen keine Sprache bewusst beherrschen und in der Sprache auch keinen Standpunkt bzw. keine eigene Meinung besitzen. Indem das Geschlecht die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau determiniert, dirigiert die Macht zum einen die sexuellen Verhältnisse, zum anderen die Sprache. Faktisch reflektiert die Sprache nicht nur Machtverhältnisse, sondern hat in vielerlei Hinsicht insbesondere die Funktion, das unterlegene Geschlecht

21 Schwarzer, Alice: Alice Schwarzer porträtiert Vorbilder und Idole. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003, 154. 22 Ebd. 153. 23 Ebd. 24 Jelinek, Elfriede; Streeruwitz, Marlene: Jelinek & Streeruwitz – Die Begegnung. In: Emma 5, Sept/okt 1997, http://www.emma.de/artikel/sind-schreibendefrauen-fremde-dieser-welt-263456 (23.10.2014)

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weiter - so Monique Wittig - »zu unterwerfen und auszuschließen«25 Macht, Sprache und Sexualität sind sozusagen gänzlich konform. Erst vor diesem Hintergrund wird die folgende Erörterung Monique Wittigs deutlich: »Die sprachliche Fiktion des ›Geschlechts‹ wird als Kategorie durch das System der [Zwangssexualität] erzeugt und in Umlauf gebracht, [...] um die Produktion der Identitäten an der Achse des [sexuellen] Begehrens entlang einzuschränken.«26 Jelinek ringt sich zur selben Auffassung durch und ist überzeugt, »daß die Männer nicht nur die Herren der Schrift sind. Sie sind auch die Herren der Sexualität und die Machthaber des sexuellen Sprechens«27. Da das weibliche Subjekt innerhalb sexueller Machtverhältnisse verschwindet respektive unterdrückt wird, ist es für die Frauen als Objekte allerdings auch unmöglich, ihre sexuellen Erfahrungen aus ihrem eigenen Gesichts- und Standpunkt mittels der Sprache zum Ausdruck zu bringen.28 In der Rolle des Objekts können sie notgedrungen die bestehende Sprache nur wiederholen bzw. reproduzieren. Ohne eine bewusst angewandte Sprache sind die Frauen auch nicht fähig, dialektisch zu denken.29 So werden sie, um mit Jelinek zu sprechen, »nicht Subjekt des Denkens«.30 Höchstens fungieren sie als ein beschriebenes Objekt des menschlichen respektive männlichen Denkens.31 Im Roman Lust kommt die Protagonistin Gerti auffälligerweise kaum zur Sprache. Wie eine »verborgene«, »stummgemachte«, »betäubte« und

25 Wittig, Monique: The Point of View. Idézi Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1991, 51. 26 Zitiert Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1991, 51. 27 Jelinek, Elfriede; Löffler, Sigrid: Die Hosen runter im Feuilleton. In: Emma 5/1989, 4-9, 4. 28 Deuber-Mankowsky; Konnertz, Erschrecken vor dem Denken, 7. 29 Friedl, Harald (Hrsg.): Die Tiefe der Tinte. Wolfgang Bauer, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, H.C. Artann, Milo Dor, Gert Jonke, Barbara Frischmuth, Ernst Jandl, Peter Turini, Christine Nöstlinger im Gespräch. Salzburg: Verlag Grauwerte im Institut für Alltagskultur, 1990, 36. 30 Deuber-Mankowsky; Konnertz, Erschrecken vor dem Denken, 7. 31 Ebd.

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»in ein Leichentuch eingewickelte Frau«32 stellt sie sich dar. Wie allen Frauen wird ihr »kein eigener Wille zugestanden«33. Im Gegensatz zum Protagonisten Hermann, der wiederholt spricht und prahlt, manifestiert sie dem Ehemann gegenüber weder direkte Artikulation noch evidente Widersprüche ebensowenig wie psychische Entwicklungen. In ihr herrschen sowohl Schweigen als auch Widerstandsunfähigkeit.34 Sie spricht nicht, weil sie für den Mann »dem Nichts entwendet worden« (22) ist und ihr nicht erlaubt wird, sich zu äußern. Daneben ist sie nicht imstande, sich ins Bild zu setzen, als Frau ihren »tausendstimmigen Sirenengesang« einzusetzen. (82) Dem Ehemann gegenüber versucht Gerti, möglichst »kein Gefühl in sich wohnen zu lassen«. (32) Vor ihm zeigt sie ihren Körper wie ein ,»stumme[s] Reich« (45). Sie hat nicht mal das Recht, Nein zu sagen. Der Leser kann zwar die Gewalterlebnisse und -erfahrungen der Protagonistin verfolgen, aber er erfährt äußerst wenig von ihren Empfindungs- bzw. psychischen Konstrukten. Im Roman lässt sich eine überspitzt geschilderte Auflösung des weiblichen Selbst feststellen. Selbst wenn sie den Mann und sein Verlangen zurückweist, werden ihre Artikulation und Gestikulation teils ignoriert teils sexualisiert. Ihr souveränes Bestimmungsrecht auf ihren eigenen Körper ist längst von ihrem Mann usurpiert. Die Sprache beider reflektiert zugleich ihre sexuellen Handlungen. Während sich Gertis Sexualleben und libidinöse Signalisierungen überaus verödet zeigen, wiederholt und mechanisiert Hermann seine Sexualakte, worauf die Erzählerin wie folgt hinweist: Die männliche »Lust bleibt immer dieselbe! Sie ist eine endlose Kette von Wiederholungen« (123). An anderer Stelle tut Jelinek ebenfalls kund, dass sie beabsichtigt, durch den Roman Lust »die sogenannte Lust oder Sexualität als etwas zu entlarven, was eigentlich die Wiederkehr des Immergleichen ist.«35 Bei Jelinek betreffen solche sinnentleerten Erlebnisse und die derartig öde Mechanisierung der männlichen Lust nicht Einzelfälle; sie sind per se eine Normalität. Mit Hilfe der Medien werden sie kund. Eben dadurch werden sie täglich als

32 Cixous, Hélène: Geschriebene Frauen, Frauen in Schrift. In: Dies.: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin: Merve, 1980, 22-57, hier: 28f. 33 Presber, Frauenleben, Frauenpolitik, 29. 34 »Die Frau hüllt sich in das Dunkel ihres Schweigens.« (77) 35 Friedl, Die Tiefe der Tinte, 46.

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»etwas Neues« (123) und vermeintlich Natürliches erlebt. Auch der andere Protagonist Michael verfällt in solche primitiven Lusterfahrungen. Weder sind sich die männlichen Protagonisten dessen bewusst, noch können sie sich aus dieser Zirkulation entfalten. Der Hauptgrund liegt darin, dass sich fast alle menschlichen Wertenormen des Patriarchats nach den Genitalien richten, welche das Physische und Geistige zugleich beherrschen. D. h. die körperlichen Merkmale diktieren die Ordnung des Systems dermaßen, als ob sie Natur der Sache wären. Diese Verwechslung erweist sich bekannterweise jedoch nur als »ein kulturell erzeugtes, raffiniertes mythisches Konstrukt, eine ›imaginäre Formation‹«36. In dem Augenblick, wo sich die Protagonistin verzweifelt betrinkt und bereit ist, auf das bisher geführte Leben zu verzichten, begegnet sie dem jungen Mann Michael. Von da an entfacht sich ihr uneingeschränktes Trachten nach »Luft und Lust« (105). »Ein Quellgebiet ist erschlossen, von dem sie jahrzehntelang heimlich träumte.« (116) Wie nie zuvor bildet sie sich ein, sich durch Lust und Liebe ins Leben bzw. in die Außenwelt zu integrieren. Leidenschaftlich offenbart sie Michael ihr »Sehnen« und ihre Sehnsucht nach »seinem sehnigen Oberkörper«. (124) »Sie hört ihre Gefühle wie Donner heranrollen und wie einen Expreßzug durch ihre Körperstation rasen.« (97) »Wie Gewalt vom Himmel ist diesen Gefühlswesen allen das Rauschen der Starkströme, das sie erfüllt.« (97) Sexualität scheint ihr nicht mehr so lächerlich, bösartig, gewalttätig und absurd wie zuvor. Sicher nennt man eine solche Leidenschaft nicht Liebe, weil sich die Beziehung zu Michael de facto mit einer Flucht vor patriarchalischen Kriterien (vornehmlich den sexuellen Verboten) deckt. Andererseits spiegelt ihre neue Zweierbeziehung außerhalb der Ehe überwiegend einen Versuch der Grenzüberschreitung der institutionalisierten Lusterfahrungen bzw. Sexualität wider. Dadurch gedenkt die Protagonistin den Ehemann, das monogame Familiensystem, die christlichen und soziopolitischen Institutionen, die gemeinsam das Herr-Knecht/Magd-Verhältnis verfechten, abzuschütteln respektive zu widerlegen. Um dem Phantasma der legitimen sexuellen Ansprüche der Männer etwas entgegenzusetzen, stellt sie ein anderes her, wobei sie endlich das Sub-

36 Wittig, Monique: The Point of View. Zitiert Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, 50.

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jekt ihrer Bedürfnisse und Lust ins Leben zu rufen versucht. Sexueller Vollzug sollte von nun an keine Ehepflicht mehr sein, sondern eine Art Befreiung von allen patriarchalischen Kriterien. Aber solange das bestehende System seine (Allein-)Geltung hat, muss dieser Versuch fehlschlagen. Zu dem Zeitpunkt, als Gerti sexuell aktiv (re-)agiert, entwickelt sie ebenfalls ihre weibliche Subjektivität, die logischerweise das konventionelle HerrKnecht/Magd-Verhältnis wie auch die Subjektivität und Begierde des Gegenübers bedroht. Aus diesem Grund rät die Ich-Erzählerin den Frauen davon ab, ihre Wünsche und Bedürfnisse hemmungslos auszurücken, wobei sie ständig an männliche sexuelle Brutalität und Gleichgültigkeit gegenüber den Frauen zu erinnern versucht. Diesen Gedankengang zeigend appelliert sie emphatisch an die Frauen: »Bändigen Sie Ihre Sprache!« (174) Schließlich stellt sich heraus, dass der für das patriarchalische Machtsystem plädierende Liebhaber nichts anderes im Kopf hat, als sie sexuell auszubeuten, um sie dann loszuwerden. Je heftiger sich Gerti sexuell hingibt, desto elender wird sie verletzt. Zusammenfassend formuliert: Jelinek fühlt sich verpflichtet, die Begierde und die Unmöglichkeit der weiblichen Subjektivität im Patriarchat zu thematisieren: Aus ihrer weiblichen Feder wolle sie »die Frau nicht nur zeigen als eine, die nicht Subjekt der Begierde ist, sondern als eine, die scheitern muss, wenn sie sich zum Subjekt der Begierde macht.«37 Ergreifen die Frauen als Begehrende »ihre Initiative« bzw. setzen sie ihre Subjektivität durch, werden die männliche Subjektivität und Begierde von der Gefahr, ausgelöscht zu werden, überflutet,38 weshalb die Männer ergo anstreben, die Begierde und die Subjektivität der Frauen möglichst einzudämmen. Daneben meint Jelinek noch: »Sexuelle Aktivität der Frau stößt den Mann auch ab.«39 Das Paradoxon kommt davon, dass »das eine Begehren immer das andere zum Verlöschen bringt und eigentlich nicht steigert.«40 Keine Simultaneität ist erreichbar.41 Aus diesem Grund ist der Titel des

37 Schwarzer, Alice Schwarzer porträtiert Vorbilder und Idole, 153. 38 Ebd. 39 Friedl, Die Tiefe der Tinte, 50. 40 Ebd. 59. 41 Ebd. 49.

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Romans »Lust« unzweifelhaft »eine reine Ironie«, wie Jelinek betont.42 Zur Verdeutlichung klärt sie auf: »Das ist die Anti-Lust, der Anti-Klimax, wenn ich etwas Lust nenne und nur von ihrer Zerstörung, ihrer Unmöglichkeit schreibe.«43 In erster Linie geht es hier um die männliche Definitionsmacht über die Sexualität, die teils die Natürlichkeit und Unschuld der Sexualität vortäuscht, teils die Artikulationsformen - insbesondere die Symbole der Sexualität - als arbiträr, d. h. natürlich, festlegt. De facto spielt die Sexualität insbesondere aufgrund der ihr verhafteten Verbote generell auf »ein System von Werten«44 - genau genommen ein System von den patriarchalischen Ideologien - an. Die Beziehung zwischen dem Bezeichneten und der Bezeichnung im sexuellen Sprechen und Handeln hängen ausschließlich von den Werten bzw. Ideologien ab. Daneben wird sie zugleich als »ein System von Fakten«45 missverstanden, weswegen ihre scheinbare Natürlichkeit und Unschuld gar nicht angezweifelt wird. Sicher ist Sexualität allein unschuldig. Was sie besudelt, ist just ihre Ideologisierung hinter den »Machtverhältnisse[n], die die Gesellschaft aus ihr ableitet«46. Während die Ideologisierung der Sexualität den ursprünglichen Sinn der sexuellen Zeichen destruiert und entfremdet, ohne dass deren ursprünglicher Sinn völlig verschwindet, vermag der ursprüngliche Sinn der sexuellen Zeichen zugleich den patriarchalischen Ideologien bzw. dem Mythos der Sexualität die beste Deckung zu geben.47 Somit bleibt die tatsächliche Bedeutung der Ideologien bzw. des Mythos unerkannt. Abgesehen davon wird die Sexualität häufig oberflächlich mit menschlichem Trieb und Bedürfnis gleichgesetzt. Eigentlich ist das Geschlecht ein anatomisch und biologistisch ausgeprägter Begriff, die Sexualität ein persiflierter und historisch herausgebildeter. Da zu viel Gewicht auf das Ge-

42 Ebd. 43 Ebd. 44 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964, 115. 45 Ebd. 46 Darauf macht Jelinek in dem Interview mit ihr (per E-Mail verfasst) aufmerksam: »Die Sexualität ist etwas natürliches, aber die Machtverhältnisse […] sind eben gesellschaftlich bedingt.« 47 Ebd. 104.

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schlecht und die Sexualität gelegt wird, wird man dazu verleitet, zu glauben, sie allein könnten den Menschen repräsentieren. Auch im Roman Lust übt die Erzählerin Kritik an solch einer Verwechslung, »die Natur des Menschen besteht darin, dem Geschlecht hinterherzurennen, bis er, im ganzen und in seinen Grenzen gesehen, genauso wichtig geworden ist wie dieses.« (79) Indem Geschlecht und Sexualität als natürlich angesehen werden, wird zugleich der Eindruck erweckt, dass das Herrschaft-Knechtschaft-Schema und die hinter ihnen stehenden Ideologien unerkannt blieben. Die hinter der Sexualität verborgenen Ideologien gebrauchen mitsamt ihren Vollstreckern die Natürlichkeit und Unschuld der Sexualität,48 ebenso wie die sexuelle Artikulationsmöglichkeit der Menschen (vornehmlich der Frauen). In Anlehnung an Roland Barthes lässt sich schließen, dass die »künstlich und falsch« erzeugte »Kausalität« der sexuellen Ideologien wie auch des einschlägigen Zeichensystems de facto der Konsequenz eines strategischen Betrugs gleicht.49 Im Wesentlichen ist die Naturierung der Sexualität und des Sprachsystems, um mit Roland Barthes zu sprechen, »ein politischer Akt«50. Gleichermaßen klärt Jelinek auf, Sexualität sei »etwas Politisches«51. In Bezug auf den Roman Lust erklärt sie: »In dem, was ich schreibe, gibt es immer wieder drastische Stellen, aber die sind politisch. Sie haben nicht die Unschuldigkeit des Daseins und den Zweck des Aufgeilens. Sie sollen den Dingen, der Sexualität, ihre Geschichte wiedergeben, sie nicht in ihrer scheinbaren Unschuld lassen, sondern die Schuldigen benennen.«52 Um das Ziel zu erreichen, stellt sie die von den Männern initiierten sexuellen Aktivitäten äußerst artifiziell dar und beabsichtigt hierdurch, »der Sexualität ihre scheinbare Unschuldigkeit zu nehmen.«53 Parallel dazu fokussiert Jelinek die Aufmerksamkeit insbesondere auf die mit der Lust bzw. Sexualität zusammenhängenden Verbote. In Lust ver-

48 Jelinek, Elfriede: Der Sinn des Obszönen. In: Gehrke, Claudia (Hg.): Frauen & Pornographie. Konkursbuch extra. Tübingen 1988, S. 102-103, 102. 49 Barthes, Mythen des Alltags, 115. 50 Ebd. 148. 51 Jelinek, Der Sinn des Obszönen, 102. 52 Ebd. 53 Friedl, Die Tiefe der Tinte, 46.

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deutlicht sie ausdrücklich: »Es ist alles durch Verbote, die Vorboten der Gelüste, begrenzt.« (18) Durch Verbote erweckt Lust bzw. Sexualität häufig eine riskante, eventuell grenzüberschreitende Abenteuerlust. Da die Verbote sowohl Verdrängungs- als auch Unterdrückungsmanöver sind, vermögen sie den Anschein zu evozieren, dass sie omnipotent wären. In der Tat sind sie ohne Macht bloß leblose Gesetze, welche man imitiert und reproduziert.54 Deshalb gilt Jelineks Fokussierung hauptsächlich der Macht und den Machtverhältnissen. Nichtsdestotrotz bieten sich die vom männlichen Geschlecht festgesetzten Verbote als entscheidender Anhaltspunkt zur Hinterfragung der sexuellen Politisierung, Schuld- und Machtverhältnisse an, die zugleich zur Entmystifizierung der Sexualität respektive des Körpers führen kann. Wie die Jelinek'schen Auffassungen aufzeigen, kommt hierbei einzig der männliche sexuelle Diskurs in Frage, der seit langem eine historische Tradition hat. Aus der weiblichen Perspektive existiert für sie keine sexuelle bzw. pornografische Schilderung(smöglichkeit) der Frauen, demnach fehlt deren Geschichte. Der Plan Jelineks, den Roman Lust als Pornografie zu schreiben, scheitert womöglich aufgrund der patriarchalischen Ideologien und des immer mehr verödeten Zeichensystems auf der sexuellen Ebene. Beim Schreiben erkennt sie langsam die Unmöglichkeit, die längst von den Männern einverleibte sexuelle respektive obszöne Sprache zu erkämpfen.55 Wider Erwarten musste Jelinek hierbei immer mehr politisch vorgehen, bis schließlich daraus eine so genannte »Anti-Pornografie«56 entstanden ist. Immer wieder klagt sie das Herr-Knecht/Magd-Verhältnis zwischen Mann und Frau an. Den Männern insbesondere wirft sie vor, dass sie die Macht über Sexualität und Sprache an sich gerissen haben. Ihr liegt es deshalb am Herzen, die vorgetäuschte Unschuld der Geschlechterbeziehung zu entlarven und die Machtverhältnisse kritisch zu veranschaulichen.57

54 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 55. 55 Jelinek, Der Sinn des Obszönen, 102. 56 Ebd. 57 Ebd.

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2.5 D AS U NMÖGLICHE DES S ICHTBARMACHENS ANNA K IMS E RZÄHLUNGEN

IN

Immer wieder wird in Zusammenhang mit der Beschreibung von Migrationsliteratur das von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelte »Rhizommodell« ins Spiel gebracht. Deleuze und Guattari haben 1976 in dem Aufsatz »Rhizome« eine »écriture nomade et rhizomatique«1 proklamiert, die zum Konzept der »écriture migrante« als offenem, nicht abgrenzendem und nicht polarisierendem Schreiben gegenüber sehr starke Parallelen aufweist. Der aus der Botanik stammende Begriff »Rhizom« wird hier zu einer Metapher, die zunächst generell für ein neues Modell der Wissensorganisation und Weltbeschreibung steht und die Metapher des Baumes, die eine hierarchische und dichotomische Ordnung impliziert, durch ein heterogenes Geflecht ersetzt, das sich zu »Vielheiten« bzw. zu »Plateaus« auswuchert. Deleuze und Guattari selbst sprechen die Möglichkeit an, dieses rhizomatische Modell auf die Heterogenität von Sprachen zu übertragen und Sprachen auf rhizotomatischen Merkmale oder auf ihren rhizomorphen, rhizomatischen Gebrauch hin zu untersuchen. So heißt es: »[…] im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel […]«, so kann man sich demnach fragen, inwiefern in Texten, die ein »Mehr« an Sprachen in sich tragen, genau das passiert, inwiefern sich ein spielerischer Umgang mit verschiedenen Zeichensystemen findet und sich dadurch ein freierer Umgang mit Sprache(n) ausdrückt, in dem es möglich wird, neuartige Verbindungen zu knüpfen. »Rhizomorph sein heißt, Stengel und Fasern zu produzieren, die […] gemeinsam mit ihnen [mit den Wurzeln] in den Stamm eindringen und einen neuen und ungewöhnlichen Gebrauch von ihnen machen« (26) schreiben Deleuze und Guattari, und gerade um den neuen und ungewöhnlichen Gebrauch der Sprache(n), in die hinein- und durch die hindurch gewandert wird, geht es

1

Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Rhizom. (Aus dem Französischen übersetzt von D. Berger, C-C. Haerle, H. Konyen, A. Krämer, M. Nowak, K. Schacht.) Berlin: Merve, 1977. (Originalausgabe: »Rhizome. Introduction«. Paris: Les Edititions de Minuit, 1976.)

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schließlich mitunter auch in der Untersuchung der exophonen Schreibweisen. Dieses philosophische Konzept der Rhizomatik eignet sich vor allem zu Beschreibung postmoderner Ästhetik und moderner medientheoretischer Phänomene, wie der Struktur von Hypertexten oder Computernetzten.2 Es lässt sich aber auch die ästhetische Konfiguration der Migrationsliteratur als rhizomatisches Erscheinungsbild fassen; ihre rhizomatische Ästhetik, die auf Kulturbegegnungen, Überlagerungen verschiedener kultureller Traditionen und kulturellen Vermischungen basiert, unterscheidet nicht mehr zwischen den kulturellen Ebenen, zwischen Fremdem und Eigenem. Diese Anleihe an dem Deleuzschen Rhizommodell ist auch angeregt durch die Verbindung des Nomadischen mit dem Rhizomatischen, bei der das nomadische Unbehaustsein mit der Mobilität des Migranten assoziiert wird. Immacolata Amodeo greift in ihrer Studie »Die Heimat heißt Babylon«: zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik3 zur Beschreibung der ästhetischen Konfiguration von Migrationsliteratur auf diese rhizomatische Rhetorik zurück und spricht in Bezug auf die Redevielfalt, die Mehrsprachigkeit, bestimmte stoffliche und motivische Kriterien und die Verwendung eines synkretistischen Stils von einer »rhizomatischen Ästhetik«4. In der metaphorisch gesteuerten Weiterführung dieses Modells wird rhizomatisches Schreiben auch als nomadisches bezeichnet, nicht nur in Bezug auf Genrewahl und sprachliche bzw. stilistische Charakteristika, sondern etwa auch in Hinblick auf eine Nomadologie, die anstelle herkömmlicher Geschichtsschreibung gefordert wird.5 Es wird ein Schreiben propagiert, das in Fluchtlinien stattfindet, das jegliche Hierarchie verlässt und außer Kraft setzt. Fragen nach Orten, Zielen und Sinn werden damit unwichtig. Viel interessanter scheinen die Bewegungen zwischen den Dingen, die Reisen, die Ausgangspunkte der Mitte, das Hinein und Hinaus, das

2

Ebd.

3

Vgl. Amodeo, Immacolata: »Die Heimat heißt Babylon«: Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996.

4

Ebd. 109.

5

Hausbacher, Eva: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg, 2009, 113-115.

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Nicht-Beginnen und Nicht-Enden.6 Die Ausgangsthese von Amodeo lautet: »Die ästhetische Konfiguration dieser Literatur hat ein rhizomatisches Erscheinungsbild«, und dieses beschreibt sie in der Folge auf »[…] verschiedenen Ebenen«. Sie leitet aus dem von ihr ausgemachten »[…] Aspekt […] eine ihr grundsätzlich innewohnende Mehrsprachigkeit […]« ab – sowohl im Hinblick auf die Gesamtheit ihres Textkorpus, den sie untersucht, als auch im Hinblick »[…] auf die einzelnen Texte.« Es herrsche »[s]owohl programmatisch als auch faktisch […] eine Tendenz zur Mehrsprachigkeit vor, welche von Fall zu Fall unterschiedliche Konkretisierungen erfährt«, grundsätzlich aber immer vorhanden sei, und so ergebe sich mit Blick auf die Gesamtheit der von ihr untersuchten literarischen Texte wie auch in diesen »[…] niemals einsprachig[en]« Texten selbst »[ein] synkretistisches Sprachprofil.« In Bezug darauf bezeichnet sie die von ihr analysierte Literatur auch als »[…] sprachliches Rhizom […].« Setzt man sich mit den Texten Anna Kims und ihren Schreibweisen auseinander, kann man feststellen, dass Kims Texte sprachlich sowohl in ihrem Umgang mit der deutschen Sprache als auch im Hinblick auf die darin verarbeitete Mehrsprachigkeit und die translingualen Sprachbewegungen sehr unterschiedlich sind. Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren und seit 1999 veröffentlicht sie ihre ausschließlich in deutscher Sprache verfassten Texte in Literaturzeitschriften und Anthologien. Begonnen werden soll mit ihrem 2000 publizierten Text irritationen, zu dem die Jury bei der Preisverleihung schreiben zwischen den kulturen unter anderem folgende Worte fand: »Ein sehr persönlicher Text, selbstreflektierende, fragmentarische Prosa, jedoch frei von jeglichem Pathos, in einer sehr interessanten Sprache an der Grenze zum literarischen Experiment. Ein gekonntes Stuck assoziativ-analytischer Literatur.«7 In dieser Erzählung »[…] reduzieren sich […]«, wie Angelika Friedl in ihrer Diplomarbeit schreibt, »[d]ie Handlungen, die die Ich-Erzählerin setzt, […] auf das Bedienen eines Kopierge-

6

Vgl. Gruber, Iris: »Aus einem Land – in das gleiche. Zur Verwendung des Terminus ›écriture migrante‹ in Québec«. In: Ertler, Klaus-Dieter (Hg.): Migration und Schreiben in der Romania. Wien: Lit, 2006, 31-41, hier: 37f.

7

Stippinger, Christa: Nachwort. In: Dies. (Hg.): Anthologie »fremdLand«. Das Buch zum Literaturpreis »schreiben zwischen den kulturen« 2000. Wien: edition exil 2000, 184-187, hier: 185.

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räts, eines Passbildautomaten, eines Videorekorders und eines Diktiergerätes«8 – zumindest im ersten Teil der Erzählung. Innerhalb dieser immer nur kurz angedeuteten Rahmenhandlungen besteht der Text zunächst nur aus Aneinanderreihungen von Beschreibungen und Wahrnehmungen der IchErzählerin, die sich »[…] mithilfe unterschiedlicher technischer Hilfsmittel […]«9 in sehr distanzierter Art und Weise »von außen« untersuchen will, von Betrachtungen und Beobachtungen, die mehr auf das Detail ausgerichtet sind, als auf den großen, verbindenden Zusammenhang, was sich in der sprachlichen Struktur, vor allem im ersten Teil der Erzählung, in den vielen eigentlich unvollständigen Sätzen niederschlagt: »erforschung des äußeren […]. die frontalansicht: zwei schnitte oberhalb der wangenknochen; zwei leuchtende, mit schwarzen tupfen besprenkelte weißflachen auf dem grauschwarz: lichtflecken; […]«10 oder: »die haare, eine einheitliche welle: die schwingung des kleingeschriebenen buchstaben a.«11 Friedl spricht diesbezüglich von einer »[…] extreme[n] Reduktion der Satze […]«12 und von einer »[…] analytischen und distanzierten Sprache […].«13 Schon über das Erscheinungsbild des Textes, der abgesehen von Satzzeichen und Absätzen keine der sonst üblichen Strukturierungen (wie etwa Großbuchstaben) in der deutschen Sprache aufweist und durch den ungewöhnlichen Gebrauch des Sprachmaterials, der vor allem mit diesem assoziativen Wahrnehmen und detaillierten Beschreiben der Ich-Erzählerin und der Abbilder, die sie von sich produziert bzw. analysiert, in Verbindung gebracht werden kann, wird von Beginn an eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Sprache gelenkt, die sich im Verlauf des Textes dann mehr und mehr zu einer Mehrsprachigkeit hin entfaltet.

8

Friedl, Angelika: Der Literaturpreis »Schreiben zwischen den Kulturen«. Ein Literaturprojekt zur Förderung des Dialogs zwischen und über Kulturen. Wien: Dipl-Arb, 2003, 83.

9

Ebd.

10 Kim, Anna: irritationen. In: Stippinger, Christa (Hg.): Anthologie »fremdLand«. Das Buch zum Literaturpreis »schreiben zwischen den kulturen« 2000. Wien: edition exil, 2000, 9-14, hier: 9. 11 Ebd. 10. 12 Friedl, 2003, 84. 13 Ebd. 83.

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Zunächst schleicht sich über diese Beschreibungen der Bilder, die die Ich-Erzählerin in ihrem Gesicht, ihrem äußeren Erscheinen sieht und erkennt, auch in die Sprache eine starke Bildhaftigkeit ein, wobei es zwischendurch zu ungewöhnlichen Wortzusammensetzungen und -neuschöpfungen kommt wie »naseninsel«, »festlandgesicht«, »lippengiebel«, »lippenrelief«, »schattenwange« oder »das gesicht: giraffengestreckt.« Friedl erläutert mit Blick auf diese Formulierungen: »In ihrer Beschreibung bedient sich die Erzählerin der Sprache von Landschaftsdarstellungen, spricht von ›Giebeln‹, ›Rillen‹, ›Reliefs‹ […].«14 Als die IchErzählerin »familienbänder« in den Videorekorder einlegt, sich die Aufnahme von einem »totenessen« ansieht und dabei all ihre Verwandten sieht, stößt man dann aber auf den wesentlichen Satz, der diese Sprache, diese Beschreibungen erklärt: »[…] ich sehe sie, wie ich gesehen werde«15 – ein Satz, der zum einen darauf hinweist, dass die Ich-Erzählerin sich von ihren Familienmitgliedern in gewisser Art und Weise distanzieren kann oder sich prinzipiell vielleicht nicht ganz zu ihnen zugehörig fühlt, dass sie in eine andere Perspektive wechseln kann bzw. ihre Familienmitglieder womöglich prinzipiell aus einem anderen (sprachlich-kulturellen) Blickwinkel wahrnimmt, als diese sich selbst, aus dem Blickwinkel der, wie man später sehen wird, deutschsprachigen Umgebung, in der die Ich-Erzählerin lebt. Zum anderen erklärt dieser Satz aber auch ihre Versuche der Erforschung ihres eigenen Aussehens, das sie mit ihren Familienmitgliedern letztlich gemein hat. Sie will sich auch selbst sehen, wie sie von den Menschen in ihrer Umgebung (außerhalb der Familie) gesehen wird, und das passiert auf ziemlich radikale Art und Weise, wenn man an einer Stelle dann z.B. liest: »verwischte augenwinkel, gegenteilig die augenzeichnung: überdeutlich weisen sie auf das eine wort: schlitzaugen.«16 Sie versucht, indem sie ihren eigenen Blick auf sich durch technische Gerate bricht bzw. objektiviert, sich aus den Augen der anderen wahrzunehmen, »[…] aus verschiedenen Perspektiven […]«17, gebraucht zur Beschreibung dessen, was sie sieht, zum Teil auch deren (vermutete oder tatsachlich schon gehörte) Wörter und

14 Ebd. 15 Kim, 2000, 11. 16 Ebd. 10. 17 Stippinger, 2000, 185.

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entdeckt in und aus dieser Distanz heraus ungewöhnlichste Bilder in ihrem Gesicht, die sie dann auch in ungewöhnliche Sprachbilder, wie sie oben angesprochen wurden, umsetzt. Nach und nach aber kommt es dann zu einer Verlagerung von der bildlichen auf die klangliche Ebene, geht es verstärkt darum, was sie akustisch wahrnimmt. Angedeutet wird dies bereits, als sie im Betrachten der Familienbänder beschreibt: »separiert vom erwachsenentisch höre ich dennoch zu […]. selten kann ich der unterhaltung folgen, flüsternd frage ich meinen bruder nach den unerkannten vokabeln […].«18 Hier klingt schon an, dass die Ich-Erzählerin in einem distanzierten Verhältnis zu der Sprache der restlichen Familie steht, und im darauf folgenden Abschnitt der Erzählung wird dies immer deutlicher: »durch die zimmertür das schnattern meiner mutter und ihrer verwandten.«19 Dieser Satz leitet jene Seiten ein, in denen wirklich die Sprache in den Blickpunkt rückt und ihre Konzentration auf Stimmen. Über die zentrale, auf dieses Schnattern folgende Bemerkung »der rhythmus ist ein anderer […]«20 in Bezug auf das »schnattern« ihrer Mutter und deren Verwandten wird angezeigt, dass die Mutter mit ihren Verwandten offenbar eine andere Sprache spricht als die ich-erzählende Tochter, und diesen Rhythmus, diesen Chor der Stimmen gibt sie nun in genauen Analysen wieder, wobei sich ihr Stil zwischendurch einer Lautmalerei annähert. Sprachverweis erhält man keinen konkreten, aber den Rhythmus, die Musik und den Klang dieser »anderen« Sprache, und so liefert diese Passage auch ein Beispiel für eine Translingualität in dem Sinne, als sie die Leser/innen zugleich in eine andere als die deutsche aber auch über die wortliche Sprache hinaus ins Musikalische hineinführt: »[…] meist zwei oder dreisilbige laute, deren endsilben betont werden, dem stakkato folgt ein auf und abschwellen der tone, gleichsam eine welle, die sich überschlägt. […] kastagnettenartig werden die zeichen hervorgeschleudert: […] die wörter: geknattert geschnalzt: gedehnt, kurz bevor sie verklingen; […] viertelnoten, immer die viertel einer tonleiter, einer halbierten tonleiter, werden hinauf und hinunter mit der zunge geklopft und jeweils mit der weichen wellung beendet. Das lokdampfen, tscho

18 Kim, 2000, 11. 19 Ebd. 12. 20 Ebd.

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tscho tscho, abgelöst vom weicheren dscho: die anderen laute wickeln sich um diese beiden, bilden die garnierung, platschern um dieses dämpfen. […] und auch mein ohr vernimmt bald nur undifferenzierbare wörter: das trommeln der dampflok im abgeschlossenen des tunnels.«21

Es wird hier über diese klangmalerischen Beschreibungen, in denen sie Vergleiche zu den Geräuschen einer Dampflokomotive zieht, deutlich, dass sie diese Sprache wahrnimmt bzw. so beschreibt, als würde sie sie aufnehmen, wie jemand, der diese Sprache nicht versteht und lediglich ihren Rhythmus und die Klangbilder beschreiben kann, wodurch die Annahme verstärkt wird, dass es sich bei der »Mutter-Sprache«22 um eine andere handelt als jene, die ihr im Alltag vertraut ist, oder zumindest um eine Sprache, von der sie sich dermaßen distanzieren kann, aus der sie in so starkem Maße heraustreten kann (falls es ihr überhaupt möglich ist, »drinnen« zu sein), dass es ihr gelingt, nur deren Klang wahrzunehmen, sich rein auf die Laute der Sprache zu konzentrieren. »Die Frage nach der Bedeutung der Wörter wird nicht gestellt. Wie zuvor bleibt es bei einer Analyse jener Oberfläche, auf die sich eine Beobachtung von außen beschränken muss«23, heißt es bei Friedl dazu. Die Erzählerin versucht, für ihre Wahrnehmungen geeignete Ausdrücke und Beschreibungsmuster in der deutschen Sprache zu finden und dehnt dabei zunächst die Grenzen zum Bildhaften und dann die Grenzen zum Klanglichen hinaus, um zum einen die Betrachtungsweisen und Blickwinkel der Umgebung auf sie und zum anderen ihre eigene Wahrnehmung des anderen Rhythmus' der Muttersprache in und mit der deutschen Sprache einzufangen und wiederzugeben. Die Tonalität von Sprache bleibt dann auch im nächsten inhaltlichen Abschnitt in irritationen wichtig, denn hier nimmt sie mit einem Diktiergerät ausgerustet »geschwisterliche gespräche« auf, wobei sie bemerkt, dass »[…] eingekellerte laute hervorgeholt [werden], in das fremde gefüge eingegliedert: lehnwörter sind sie für einen moment, hybridwesen, ihres heimatlichen rhythmus beraubt, einer fremden behandlung unterzogen. die

21 Ebd. 22 Friedl, 2003, 87. 23 Ebd. 86.

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aussprache und akzentuierung werden angeglichen […]«24 Wieder kommt also eine andere Sprache ins Spiel bzw. ist hier davon die Rede, dass sich eine Sprache mit einer anderen mischt. Es wird beschrieben, wie in diesen geschwisterlichen Gesprächen ein Code-Switching/-Mixing abläuft. Sie spricht im Zuge des eben zitierten Auszugs von »kauderwelsch«, von »hybridsprache«, in der gewissermaßen beide Sprachen zugleich präsent sind, über Laute und Lehnwörter, die eingegliedert und angeglichen werden, sie spricht vom »kreuzen« und »springen zwischen zwei sprachmentalitäten« und von der »anderen, immer ist es die andere sprache«, in die sie ein »neu entstandenes sprachgewebe einheilen« lässt.25 Auch hier ist der Rhythmus wieder wesentlich und wird in der Überlagerung der Sprachen wichtiger als die Bedeutung der Wörter, worauf sie selbst hinweist: »die bedeutung scheint dieselbe zu bleiben, doch auch sie past sich dem sprachrhythmus an, verliert ihre scharfe. Im kauderwelsch wird der sprachsinn vom rhythmus bestimmt: das wort erhält seine bedeutung über den gebrauch durch seinen klang«26. Interessant ist, dass diese Präsenz einer noch anderen Sprache immer mit ihrer Familie verbunden ist. Zunächst ist es das fremd klingende Geschnatter der Mutter und ihrer Verwandten, dann sind es »geschwisterliche Gespräch«, in denen sie auf diese (wohl ihre eigene dabei zum Ausdruck kommende) Hybridsprache stößt, und dies verstärkt die Annahme, dass die Herkunftssprache der Familie der Ich-Erzählerin und damit wohl auch ihre eigene biographische Erstsprache eine andere ist als jene der Umgebung, in der die Handlung des Textes angesiedelt ist, womit neben dem distanzierten Verhältnis, das sie zu ihrer Mutter-Sprache hat, auch ihre exophone Haltung mit Blick auf die deutsche Sprache deutlich wird. Da sie selbst es ist, die die geschwisterlichen Gespräche knüpft, in denen es zu diesem Kauderwelsch kommt, ist davon auszugehen, dass auch sie selbst diese Sprache der Familie einmal sprach/lernte und in gewissem Ausmaß immer noch sprechen kann. Erst gegen Ende hin erhält man als Leser/in dann ein paar konkretere Hinweise auf die Sprache(n) und den Sprachraum, in dem man sich gegenwärtig mit der Ich-Erzählerin bewegt und auch auf jenen, aus dem die Ich-Erzählerin bzw. ihre Familie ursprünglich stammt,

24 Kim, 2000, 12. 25 Ebd. 12-13. 26 Ebd. 13.

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und zwar dann, als die Ich-Erzählerin hinausgeht in die Stadt und nun die Blicke, die tatsächlich von außen kommen, die andere Leute auf sie werfen, beschrieben werden. Dass es sich bei der Ich-Erzählerin um eine Person handelt, die man sprachlich anscheinend nicht oder nur schwer zuordnen kann, wird offensichtlich, als sie der ersten Frau im Text begegnet: »da sich ihr blick in meinem verfangt, überlegt sie, unschlüssig, welche sprache sie wählen soll, ob sie mich ansprechen darf, sie versucht einen freundlichen anfang […].«27 In welcher Sprache sie diesen Anfang versucht, wird zunächst nicht gesagt, aber es wird gleich klar, dass die beiden in deutscher Sprache miteinander sprechen: »ich spräche sehr gut deutsch, wie lange ich schon gast sei, zwei oder drei jahre? Ich bin hier aufgewachsen, antworte ich.«28 Es kommt hier also gewissermaßen zur Bestätigung der Vermutung, dass die Ich-Erzählerin ursprünglich von anderswo hierherkam bzw. in irgendeiner Form »sichtbar« aus einer Familie mit Wurzeln in einem anderen Land stammt. Bewusst wird der Name allerdings nicht genannt, denn als die Frau danach fragt, heißt es: »ich beantworte diese frage wahrheitsgemäß, nenne das land, in dem ich geboren wurde, beim namen.«29 Der Name bleibt jedoch aus. Die Frau aber spurt der ursprünglichen Herkunft ihres Gegenubers sozusagen weiter nach und glaubt, im Sprechen der IchErzählerin einen Akzent in ihrer Verwendung der deutschen Sprache zu hören, und dieser Akzent, existiert er auch nur im Gehör dieser Frau, verweist ganz deutlich wieder auf diese andere Sprache im Herkunftshintergrund der Ich-Erzählerin zurück, ist ein Akzent ja schließlich etwas, das man aus der einen Sprache in eine andere mitnimmt, durch den eine Sprache von einer anderen geprägt wird und den man nur schwer ablegen kann. Und über diesen Akzent, den sich diese Frau einbildet, bei der Ich-Erzählerin zu hören, erhalten die Leser/innen dieses Textes schließlich einen ersten konkreteren sprachlich ausgerichteten Verweis darauf, dass die andere Sprache, von der weiter vorne im Text die Rede war, der andere Rhythmus, den sie dem Gespräch ihrer Mutter und ihrer Verwandten zuhörend beschrieb, ein asiatischer gewesen sein konnte. Denn die Frau »[…] beteuert […] mit einem blick auf mein gesicht, das r, sie sei sich nicht sicher, ob ich das r richtig

27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd.

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rolle […].«30 Es wird hier also das bekannte Klischee bedient, dass es aus Asien stammenden Personen schwer fallt, ein »r« zu sagen, und die durch diese Anspielung erweckte Vermutung, dass die Ich-Erzählerin einen asiatischen Hintergrund hat, bestätigt sich dann durch eine weitere Begegnung mit einer anderen Frau in einem chinesischen Restaurant: dort wird die IchErzählerin von der Bedienung nämlich gefragt: »sie verstehen, heimat? […] sie sprechen sie doch, ihre muttersprache, oder?«31 Es sind keinerlei Elemente anderer Sprachen in diesem Text in manifester Form zu finden und doch birgt er sichtlich ein »Mehr« an Sprache(n) in sich, in dem sich translinguale Sprachbewegungen vollziehen. Durch dieses »Hinhören auf die Wörter«32 einer Sprache, deren Rhythmus ihr »anders« erscheint, durch die Wiedergabe dieses Klangs einer anderen Sprache, durch das Aufnehmen einer Hybridsprache, die sich aus der Mischung der einen und der anderen Sprache ergibt, sind in diesem Text, ohne dass die deutsche Sprache verlassen werden musste, unüberhörbar andere Sprachen und Stimmen präsent, die über die deutsche Sprache hinausweisen und zugleich durch sie und mit ihr wiedergegeben werden. Die Perspektive der Ich-Erzählerin ist ganz klar eine, die aus der deutschen Sprache herausblickt, dabei hört sie aber zum Teil in die Mutter-Sprache hinein sowie auch in sich selbst, wo es »eingekellert« doch auch noch diese andere Sprache, diese anderen Laute zu geben scheint, die sie, wenn es sein muss, hervorholen kann und die dann ihre Sprache zu einer hybriden macht. Darin zeigt sich zum einen eine gewisse Translingualität in ihren eigenen Wahrnehmungen und in ihrem eigenen Artikulieren, zum anderen aber wird sie vor allem auch von außen mit anderen (mit anderssprachigen) Zuschreibungen versehen bzw. Erwartungshaltungen konfrontiert. Es ist, konnte man sagen, eine durch Ohren und Augen wahrgenommene Anderssprachigkeit, die diesen Text durchzieht. Friedl stellt bezüglich des Sprachgebrauchs in diesem Text richtig fest: »Von einer verspielten Vermischung

30 Ebd. 14. 31 Ebd. 32 Kamm, Martina: Auszug aus dem Interview mit Giuseppe Gracia und Francesco Micieli. In: Dies., Spoerri, Bettina / Rothenbühler, Daniel / D’Amato, Gianni (Hg.): Diskurse in die Weite. Kosmopolitische Räume in den Literaturen der Schweiz. Zürich: Seismo Verlag, 2010, 121-125, hier: 124.

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der Sprachen und Kulturen im Sinne von ›nomadischem Sprachgebrauch‹ kann hier keine Rede sein.«33 Es sei zu beobachten, dass die Ich-Erzählerin »[…] kein ausgewogenes Verhältnis zu beiden Sprachen hat, sondern das Deutsche (wie der Text zeigt) in allen Facetten beherrscht, während ihr diese Ausdrucksmöglichkeiten im – wie wir annehmen – Koreanischen verschlossen bleiben.«34 Die Tatsache, dass sie aber genau dieses Verhältnis zur einen und zu einer noch anderen Sprache thematisiert und zum Teil auch stilistisch verarbeitet, macht ihn, wie wir gesehen haben, zu einem mehrsprachigen und translingualen in mehrfachem Sinne, in dem sich vor allem in dem sich gleichermaßen ausdruckenden Außerhalb-Stehen wie Innerhalb-sich-Befinden das im exophonen Schreiben charakteristische Wechselspiel aus Distanz und Nähe zu den einzelnen Sprachen zeigt. So wird in der gesamten Sprachverwendung des Textes wie auch in der Perspektive der Ich-Erzählerin offensichtlich, wie sehr sie in der deutschen Sprache drinnen ist, mit ihr vertraut ist und wie sie in und mit der deutschen Sprache zum Teil in ungewöhnlichen Wortneuschöpfungen die unterschiedlichsten Bilder und Klange erzeugen kann. Zugleich aber wird sie zum einen von der Frau, die ihr einen Akzent andichtet, außerhalb der deutschen Sprache angesiedelt, wird aus ihr hinaus verwiesen, und zum anderen steckt auch in ihrer eigenen deutschen Sprachverwendung in den Passagen, in denen sie die Abbilder von sich beschreibt, viel analytischer Abstand. Beim Blick auf das eigene Gesicht, im Rahmen dessen sich die Distanz, die sie dabei einnimmt, auch in der Sprachverwendung niederschlagt, wird die deutsche Sprache, wie oben gezeigt wurde, wenn auch nicht aus einem anderen sprachlichen Blickwinkel heraus, so doch aus einem versuchten anderen Blickwinkel heraus sozusagen mit anderen Augen verwendet, und mehr und mehr lasst sie diese deutsche Sprache dann mit einer anderen dialogisieren. Und auch mit Blick auf die andere Sprache kommt es zu Überlagerungen von »außen« und »innen«. Sie nimmt die Mutter-Sprache weitgehend nur klanglich wahr, beschreibt sie nur von außen, hat Probleme im Verständnis und doch bewegt sie sich in den geschwisterlichen Gesprächen dann auch ein Stuck weit in sie hinein und beschreibt, wie ihre Sprache

33 Friedl, 2003, 88. 34 Ebd.

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durch das Zulassen dieser anderen eingekellerten Laute, durch das »[…] Gelten lassen des anderen Klangs […]«35 zuweilen zu einer hybriden wird. Im Folgenden möchte ich auf die Analyse von Anderssprachigkeit, Mehrsprachigkeit und Translingualität in der Novelle Die Bilderspur detailliert eingehen. Die Bilderspur36 ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung. In der Bilderspur werden das Verhältnis zwischen der Sprache der verlassenen und neuen Heimat, das sich in den Figuren der erzählenden Tochter und ihres Vaters widerspiegelt, und der Versuch der Identitätsfindung durch das Erschaffen einer neuen Sprache thematisiert. Einerseits versuchen Vater und Tochter die Distanz zwischen ihnen zu überwinden, indem sie eine eigene Sprache kreieren, was aber am Ende der Erzählung scheitert. Die dabei entstehende Bildersprache spiegelt gleichzeitig den Schreibvorgang Kims wieder. In der Bilderspur, die in die drei Teile: Suchen, Finden und Verlieren gegliedert ist, kommt es zu einer Übersetzung der Sprache in Bilder und von Bildern in Sprache. Eine Anderssprachigkeit wird zum grundlegenden Stil des ganzen Textes, eine Translingualität, die sich zwischen wörtlicher Sprache und einer Bilderspur bewegt, welche gleichermaßen in die Worte der Sprache hinein – als auch aus ihnen herausführt und, wie man sehen wird, zum Teil auch als leiser Anklang auf die Kalligraphie der Sprachen des Fernen Ostens gelesen werden kann. Dieses Sprachkunstwerk ist ein literarisches Beispiel dafür, wie Mehrsprachigkeit und Translingualität literarisch verarbeitet und ausgestaltet werden können, ohne dass tatsächlich andere Sprachen auftauchen müssten. »Die Bilderspur ist durchgehend auf Deutsch verfasst […]«, so Sandra Vlasta, »[…] es werden darin aber gleichsam mehrere Sprachen gleichzeitig hörbar, was zu einer dem Text inhärenten Mehrsprachigkeit führt«, und in seiner […] ständigen gleichzeitigen Präsenz von drei Sprachen […] spiegelt dieser Text trotz seiner einsprachigen Oberfläche eine »[…] linguistische Vielfalt« wieder […], in der

35 Vgl. Ivanovic, Christine (Hg.): Exophonie, Echophonie: Resonanzkörper und polyphone Räume bei Yoko Tawada. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook 7, 2008. Schwerpunkte / Focuses: Literatur und Film / Literatur und Erinnerung. 223-247, hier: 227. 36 Kim, Anna: Die Bilderspur. Graz: Droschl, 2004. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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»[…] die asiatische Muttersprache des Vaters […]«, das »[…] Deutsche als Sprache der neuen Heimat […]« und die »[…] Bildersprache als selbst erfundene […] Sprachkreation« zwischen Vater und der Tochter in unterschiedlicher Art und Weise Einzug halten.37 Schon das Auftaktzitat weist auf die besondere Sprachsituation dieses Textes hin. Ein Zitat aus Ludwigs Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen steht am Beginn der Bilderspur, und durch die Bezugnahme wird den Lesern schon vor dem Einsetzen der Handlung eine »[…] Leseanleitung […]« mit auf den Weg gegeben – nach Sandra Vlasta kann dieses Motto zumindest als eine solche betrachtet werden: »›Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.‹ (5) – Dieses Wittgenstein-Zitat stellt Anna Kim ihrer Erzählung voran und nimmt damit eines der Hauptmotive des Textes vorweg: Bilder in der Sprache, Bilder und Sprache, Bilder als Sprache […]. Gleichzeitig kann das Wittgenstein-Zitat als Hinweis auf das sprachsensible Schreiben Anna Kims gelesen werden, das im Spiel zwischen Sprachen und Bildern kreativ neu schöpft (und keineswegs gefangen ist). In diesem Sinn entspricht es einer Leseanleitung, die den Leser dazu anhält die Bilder in der Sprache und die Sprache als Bilder in ihren Gegensätzen als Spur durch den Text wahrnehmen.«38

Es mischt sich in die Sprache dieses Textes von Anfang an die starke Bildhaftigkeit der Sprache der Ich-Erzählerin, was sich gut anhand der Passage veranschaulichen lässt, in der die Ich-Erzählerin einer Freundin ihres Vaters offenbar sagt, dass es draußen regnet: »Vor dem Fenster wringt es Wolken, in die Lachen fallen Flammen, Edith besserte mich aus, Tropfen, ich widerspreche: Als würden Flammen im Loch ertrinken; ich

37 Vlasta, Sandra: Muttersprache, Vatersprache, Bildersprache. Mehrsprachigkeit und familiäre »Sprachbande« im Kontext von Migration in Anna Kims Die Bilderspur. In: Germanistik in Ireland Jahrbuch der /Yearbook of the Association of Third-Level Teachers of german in Ireland. Volume 2. 2007. Themenschwerpunkt: (Wahl-)Verwandschaften. 29-45, hier: 31, 34. 38 Ebd. 33.

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zeichne sie auf, Edith versteht nicht. […] ich erzähle Vater von fallenden Flammen in Lachen, ich zeichne sie auf, Vater versteht.« (10-11)

Der erste Teil dieser zitierten Stelle, die den sprachlichen Stil widerspiegelt, macht deutlich, wie sehr die Ich-Erzählerin, das, was sie sieht, in ihrem sprachlichen Ausdruck in Bilder übersetzt und/oder umgekehrt: wie sie ihre bildhaften Wahrnehmungen in ungewöhnliche Worte bzw. Beschreibungen umsetzt. Um Edith besser zu erklären, was sie mit den Flammen gemeint hat, zeichnet sie es auch auf. Doch Edith versteht diese Bildersprache nicht, wie es etwas später dann auch konkret gesagt wird: »Edith versteht keine Bildergeschichten.« (12). Man erfährt auch den Grund dafür: Vater und Tochter »[buchstabieren] Farbe für Farbe« (12) in ihrer Bildersprache, Edit dagegen »[…] liest Wort für Wort.« (21) Edit will das Kind sogar ausbessern, sie denkt, die Tochter hat nicht das richtige Wort dafür gefunden. Die Kommunikationssituation zwischen Edith und der Ich-Erzählerin macht die unterschiedlichen Blickwinkel und Wahrnehmungsarten der verschiedenen Figuren in diesem Text deutlich und zeigt, dass die Sehweise des Kindes und seine Sprach-Bilder zu Differenzen im Sprachverständnis führen können. Es werden nicht nur, wie oben gezeigt wurde, Verben zu zusammengesetzten Substantiv-Bildern, sondern »Substantive zu Verbkonstruktionen«39, wenn es heißt: »maulwurfe mich vor der Bank […]«, »Strassen sackgassen im Stadtkern […]« (27) oder: »ich hänsle und gretle durch einen langen Korridor.« (42) Der Vater versteht im Gegensatz zu Edith natürlich diese Bildersprache, was einerseits damit erklärt werden kann, dass er Künstler ist, und er selbst diese Sprache seine Tochter gelehrt hat, und andererseits auch damit, dass Vater und Tochter im übertragenen Sinne die gleiche Sprache sprechen, einander verstehen. Zugleich wird die Ich-Erzählerin zwischen dem Verstehen des Vaters und dem Nicht-Verstehen Ediths zu einer Mittlerin, einer Vebindungsfigur, einer Übersetzerin.

39 Schwaiger, Silke: Schreibweisen der Migration. Neue sprachexperimentelle Tendenzen und interkulturelle Fragestellungen. In: ide. informationne zur deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule. 34. Jg. 2010. Heft 1. Weltliteratur, 46-54, hier: 53.

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»Wir kreisen uns auf dem Teppich, Edith möchte blinde Kuh spielen, Vater der Erste im Ring. […] Man lacht und kichert, ruft Regeln, die er nicht versteht, dennoch bleibt sein Gesicht mit Grinsen verziert; ich schummle die Übersetzung zwischen das Kreischen, helfe bei Fallen und Fällen, nennt er mich sein Sprechrohr: Kein Fuß vor die Tür ohne K. wie Kind begleite ich Vater als Schattenspion, HeimlichÜbersetzer, Wanderstab; verteidige ihn vor den Fluten des Fremdseins.« (10)

Hier wird erstmals deutlich, dass der Vater die deutsche Sprache nicht oder kaum versteht. Außerdem aber kommt in der zitierten Passage das erste Mal eine andere Sprache (eine andere als die deutsche und als die Bildersprache) im Text vor, die anzeigt, inwiefern dieser Text ein translingualer und mehrsprachiger ist. Um welche Sprache es sich handelt, wird im ganzen Text nicht explizit gemacht. Das sprachliche Verhältnis, das zwischen Vater und Tochter zunächst noch ganz harmonisch scheint, wird im Verlauf des Textes immer brüchiger. Als in den Text die ständige (Flucht-)Bewegung des Vaters einkehrt, werden Perspektive und Gefühle der Zugehörigkeit klarer: Während der Vater aus Heimweh immer wieder in die Heimat (für die Tochter »Fernland« (22)) zurückkehrt und dabei Abschied von dem Fremden nimmt, versucht er »[…] zu erklären, nimmt Wörter zwischen die Zähne, bringt knirschend die eine, andere Ausflucht hervor. Stottert, ich müsse bleiben, ich hätte mich angepasst, er wolle keine Wurzeln ausreißen, er aber müsse gehen […].« (18, 76) Die Tochter hat im Gegensatz zum Vater also mittlerweile im deutschsprachigen Raum Wurzeln geschlagen und verfügt schon über unterschiedliche Zuordnungen und Sichtweisen von Heimat und Fremde. Dass die beiden unterschiedliche verbale Sprache sprechen, d.h. in unterschiedlichen verbalen Sprachen daheim sind, wird erstmals deutlich, als die zweite Abschiedsszene zwischen Vater und Tochter beschrieben wird: »Vater versucht […], mal in meiner Sprache Abschiedsworte zu finden. Beobachtet ihr Entkommen. Fängt eines ein, lässt es von der Zunge taumeln. Fremd taucht es in meine Ohren, der fremde Klang in den Gehörgang gesperrt.« (23) Es scheint egal zu sein, welche verbale Sprache der Vater wählt, seine Worte werden in den Ohren der Tochter immer einen fremden Klang entfalten. Und ebenso hat die Schwester Schwierigkeiten mit ihrer Reaktion: »Es fällt mir schwer, eine Antwort zu geben. Ich nicke. Glaube Bedauern stottern zu hören. Antworte ich schließlich in meiner Sprache, Fremdsprache, lese ich Nicken zurück.« (23)

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Beschleunigt und intensiviert wird diese sprachliche Entfremdung zwischen Vater und Tochter noch durch die Krankheit des Vaters, die dazu führt, dass er nicht mehr nur im Sprechen stottert, sondern dass auch »[…] [s]eine Striche stottern.« (57) Eine sehr zentrale Szene im Hinblick auf die Mehrsprachigkeit spielt sich aber trotzdem am Krankenbett des Vaters ab. Bevor die Ich-Erzählerin im ersten Teil der Erzählung resigniert und verschwindet, versucht sie ihren Vater wieder in die Sprache zurückzuführen, und dabei kommt es zu einem explizit geschilderten Übersetzungsprozess: »Ich lese vor: Schriftzeichen der Fremde Strich an Strich neben der vertrauten Übersetzung, die Kalligraphie gespiegelt von Bild auf Zeile. Ein Liniensammeln, Stricheraten, Abstauben vergangener Sprache; es liest mit mir, sein Blick auf meinen Lippen. Glaube ich an Wunder.« (28)

Hier erhält man den ersten konkret sprachlich ausgerichteten Hinweis darauf, dass es sich bei der verbalen Vater-Sprache um eine fernöstliche, asiatische Sprache handeln könnte, d. h. die verbale Sprache des Vaters ebenfalls eine Art Bilderspur in sich trägt, auch eine Art von Bildersprache ist. Die Bildersprache, die tatsachlich über das Malen von Bildern geschieht, ist also auch als Anklang an die verbale Sprache der Herkunft des Vaters und der Ich-Erzählerin zu lesen, die im Schrift-Bild ja auch diverse »Bilder« produziert. So verstanden könnte, so Vlasta, die tatsächliche Bildersprache dann als verstärkte, künstlerisch gesteigerte und ganz ins Bildhafte projizierte Form der Herkunftssprache der beiden angesehen werden40, bzw. so könnte die ganze Textsprache dieser Erzählung noch in einem weiteren Maße als eine Sprachmischung betrachtet werden: Die asiatische Muttersprache des Vaters, die Bildende-Kunst-Sprache und die deutsche Sprache fließen hier zu einer Sprachkreation zusammen.41 Die Ich-Erzählerin liest dem Vater am Krankenbett nicht nur in seiner verbalen Sprache vor, auch diese tatsächliche Bildersprache, die Malerei, versucht die Tochter ihrem Vater nach seinem Gehirnschlag wieder beizubringen. Die anfängliche Situation, als sie von ihrem Vater lernte, kehrt sich um. »Führe Vater am Ärmel, lotse ihn […]. Ich lehre das Sprechen der

40 Vlasta, 2007, 31. 41 Ebd. 40.

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Bäume, ihr Blütenlachen, ihr Ästefluchen. Zwischen Bleistiftwellen im papierenen Teich die Nadelstation auf Vaters Handrücken. […] Nehme Vaters Hände Huckepack, strichle Wort und Bild.« (29) Hier zeigt sich noch mal deutlich, welche sprachkompetente Figur die Ich-Erzählerin in diesem Text ist und wie sehr eine mehrsprachige. Zwar hat sie Schwierigkeiten mit der alten für sie fremden Sprache der Herkunft, sie braucht eine vertraute Übersetzung dazu, aber trotzdem ist sie unter ein paar Staubschichten noch da. Im Weiteren versucht sie ihrem Vater, die tatsächliche Bildersprache wiederzugeben, und zusätzlich spricht sie auch ihre Alltagssprache Deutsch. Neben dem offensichtlich werdenden sprachlichen Unterschied zwischen Vater und Tochter werden zwischendurch auch die sprachlichen Perspektiven gewechselt und es wird nicht nur die Sichtweise der IchErzählerin dargebracht. In dem dritten Teil kehren Beschreibungen der Sprachsituationen aus dem ersten Teil wieder, nur aus einer Erzählperspektive des Vaters. Es wird geschildert, wie fremd er sich im »Ausland« fühlt: »Er geht spazieren, […] stapft durch Unbekanntes, Fremdes, es scheint ihm, als seien ihm ungebrauchte Augen gewachsen.« (74) Einerseits klingt eine Chance darin, mit »ungebrauchten« Augen sehen zu können, die Chance, im Fremden, Unbekannten auch etwas ganz Neues sehen zu können, mit neuen Augen und unverstellten Blicken, die noch nicht gewohnte, gewöhnliche, alltägliche Winkel und Perspektiven eingenommen haben und überformt sind, die Umgebung zu entdecken. Zum anderen aber deutet »ungebraucht« auch auf mögliche Probleme in der Wahrnehmung hin, darauf, dass diese Augen keine Übung haben, sich erst einsehen müssen – ein Umstand, den auch die meisten Leser mit Blick auf die Sprache der Bilderspur erfahren können. Eine andere erwähnenswerte Passage im dritten Teil ist jene, in der erstmals die sonst den ganzen Text hindurch abwesende Mutter zur Sprache kommt, indem der familiäre Hintergrund der Ich-Erzählerin aufgerollt wird: »Gerüchteweise vermied der Mieter als Kind fernöstlicher Adeliger das Bebauen des eigenen Ackers, besuchte die Universität, nachdem er von der Militärakademie aufgrund besessenen Stotterns verwiesen worden war, studierte Malerei, mehrere Jahre, während derer er die zukünftige Mutter von K. wie Kind in einer Redaktion kennen lernte, wo er Geschichten für Spatzen noch mit Pinsel, Tusche und Farben illustrierte, ihr einen zukünftigen Brief unterschob, ein Dokument, wie er es nannte, das ins Deutsche übersetzt werden musste, natürlich ein Heiratsantrag, den die übersetzende

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Mutter drei Jahre später erst annahm; nach der Niederkunft lud sich der Mieter als Fremder ins übersetzte Ausland ein, im Bündel ein zukünftig verschollenes K. wie ein Kind.« (72)

Interessant ist an diesen Sätzen, dass man den Eindruck gewinnen kann, dass es sich bei der Mutter um eine Deutschsprachige handelt. »Die Abwesenheit der Mutter bedeutet für die Tochter ein Fehlen der Nähe zur Mutter, gleichzeitig kann sie aber auch als Distanz zur Muttersprache gelesen werden […]«42, heißt es bei Vlasta. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bildersprache nicht nur ein Kommunikationsmittel für die Protagonisten, sondern auch Gestaltungsmittel ist, um Kommunikation zwischen Autorin, Text und Leser zu ermöglichen. Der Text der Bilderspur erfüllt im Besonderen die These von Deleuze/Guattari, wonach die Sprache »[…] ihr repräsentatives Dasein aufgibt, um sich bis an ihre Extreme, äußersten Grenzen zu spannen.«43 Beinah jeder einzelne Satz aus dieser Erzählung könnte für eine nähere Analyse herangezogen werden, um zu zeigen, wie sehr in der Schreibweise dieses Textes »gegen das übliche Sprachgeplätscher«44 geschwommen wird. Schwaiger spricht von einer »[…] poetische[n] Unberechenbarkeit […]«, die durch »[…] die ›Fremdheit‹ des Textes, die sich im Überschreiten sprachlicher Normen, Worterweiterungen und -neuschöpfungen zeigt […]«, entstehe.45 Literatur im Kontext von Migration wie Anna Kims Text bietet durch ihre Arbeit an der Sprache eine alternative Sichtweise der deutschen Sprache und Literatur, die den Texten eingeschriebene Mehrsprachigkeit ermöglicht Veränderungen und Neukreationen, die einsprachigen Texten verschlossen bleiben. Wie Kim in ihrem Interview mit Christa Stippinger sag-

42 Ebd. 34. 43 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. (Kafka. Pour une littérature mineure. Aus dem Französischen übersetzt von Burkhard Kroeber.) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, 33. 44 Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. 4.Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, 216. 45 Schwaiger 2010, 53.

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te: »Schreiben besitzt für mich […] die Qualität des Sichtbarmachens des Unmöglich-Möglichen.«46 Das Sichtbarmachen des Unmöglichen bleibt für Kim ein immer wichtigeres Thema, indem sie über Krieg, Erinnerung, Verlust und Opfer berichtet. Auf dem Balkan leben Völker mit verschiedenem nationalem, ethnischem und religiösem Hintergrund. Jugoslawien bestand, bis zu seinem Zerfall, aus Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Kosovo, Serbien und Montenegro, die heute als unabhängige Staaten existieren. Nach 1989 setzte ein Nationenbildungsprozess ein, der nicht friedlich verlief. Bruno Batinić beschreibt in seiner Arbeit aus dem Jahr 2003 die damalige politische Lage in Jugoslawien bzw. in Europa folgenderweise: »Der Jugoslawien-Krieg kann grundsätzlich mit Hinsicht auf das ›Wendejahr 1989‹ in Osteuropa als das Resultat einer fehlgeschlagenen Demokratisierung in dem kommunistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien verstanden werden. Diese mit 1989 verbundenen Demokratisierungen bedeuten vielerorts (nicht nur in Jugoslawien) ›Nationalisierungen‹ und in weiterer Folge Eigenstaatbildungen der einzelnen Völker/Nationen (vgl. die Sowjetunion und die Tschechoslowakei). In Jugoslawien führten bzw. verwandelten sich die nationalen Erneuerungen und Spannungen schließlich in einer brutalen (Bürger-) Krieg.«47

Bei nationalen Identitätsbildungen ist die Abgrenzung von dem Anderen zentral, auf den meistens alles Schlechte projiziert wird und der dadurch zum Feindbild wird. Die »Selbstbestätigung durch Feindmarkierung«48 ge-

46 Kim, Anna: »Schreiben bedeutet für mich, die Begrenztheit, in dem ich mich im Grunde befinde, zu sprengen.« Anna Kim im Gespräch mit der Herausgeberin. In: Stippinger, Christa (Hg.): Anthologie »fremdLand«. Das Buch zum Literaturpreis »schreiben zwischen den kulturen« 2000. Wien: edition exil 2000, 1520, hier: 18. 47 Batinić, Bruno: Der Jugoslawien-Krieg in der Fiktion: die Rezeption des Jugoslawien-Krieges in den fiktionalen Werken deutschsprachiger SchriftstellerInnen. Wien: unveröffentlicht, 2013, 8. 48 Schulze, Hagen: Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte? Berlin: Reclam, 1989, 28.

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hört bekannter Weise zu den verbreiteten Exklusionsstrategien und diesbezüglich argumentiert Daniela Finzi folgenderweise: »All das, was einen selbst überfordert und was man bei sich selbst nicht wahrnehmen möchte, wird nach außen geworfen, auf einen Anderen, eine oder aber mehrere übertragen. Im Selbstschutz gegen das Unbekannte kommt es zur Identifizierung dieses oder dieser Anderen bzw. Fremden als Feind/e/innen, wie es uns die Beispiele wachsender Xenophobie immer wieder zeigen.«49

Die Jugoslawien-Kriege von 1991 bis 1999 können in vier verschiedene Kriege aufgeteilt werden: der Krieg in Slowenien vom 26. Juni bis zum 7. Juli 1991, der Krieg in Kroatien von Frühjahr 1991 bis November 1995, der Krieg in Bosnien-Herzegowina von April 1992 bis Dezember 1995 und schließlich der Kosovo-Krieg50 von März bis Juni 1999. In Bezug auf die Balkan-Kriege verwendet man oft den Topos des Pulverfasses Balkan und dieser wird mit anderen Topoi verknüpft wie z. B. nicht-zivilisiert, Unübersichtlichkeit, ethnisches Durcheinander, Armut und Gewalt oder mangelnde demokratische Traditionen. Auf diese Weise wird der Balkan wahrgenommen als eine Region, die sich von Westeuropa unterscheidet. Es gibt Debatten darüber, ob der Balkan als ein eigener Raum oder als Teil von Europa aufgefasst werden soll. Daniela Finzi benennt zwei auf einander bezogene Interpretationen in Bezug auf die Balkankriege, die sich in Westeuropa und in den USA entwickelten. Der Konflikt sei auf uralte Feindschaften zurückzuführen und zudem habe es keine Hindernisse oder Mittel gegeben, mit Hilfe derer die Feindschaften hätten begrenzt werden können.51 Die ethnischen Säuberungen und Völkermorde, die im Laufe der JugoslawienKriege begangen wurden, können als Beweise für diese These dienen. »Im Hinblick auf den postjugoslawischen Krieg«, so empfahl Slavoj Žižek im Jahre 1997, »sollte eigentlich eine Art invertierter phänomenologischer Reduktion gelingen, und man sollte die Vielzahl der Bedeutungen

49 Finzi, Daniela: Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Literatur. Tübingen: Francke, 2013, 56. 50 Batinić, 2003, 8. 51 Finzi, 2011, 47-50.

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in Klammern setzen, den Reichtum der Spektren des Vergangenen, der uns erlaubt, eine Situation zu ›verstehen‹. Man sollte der Versuchung zu ›verstehen‹ widerstehen, und es sollte eine Geste gelingen homolog zu jener, den Ton eines Fernsehgeräts abzustellen.«52 Für den erwünschten Erkenntnisgewinn sei – im Falle der Jugoslawienkrise – eine »Suspendierung des ›Verstehens‹« unumgänglich. Doch ist der primäre Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit nicht der kriegerische Zerfall Jugoslawiens, sondern dessen Niederschlag bzw. Folgen in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur unter besonderer Berücksichtigung von Erinnerungsdynamiken. Maria Todorova hat festgestellt, dass im Zuge der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens insbesondere in den Erzählungen von Massenmedien und Politik die gleichfalls von der bulgarisch-amerikanischen Historikerin als »Balkanismen« apostrophierten hegemonialen Muster diskursiver und narrativer Art verstärkt zur Anwendung kamen. In ihnen steht der Balkan als Symbol für barbarisch, aggressiv, halbzivilisiert, halborientalisch, halbentwickelt und intolerant.53 Die Kriege am Balkan von 1991 bis zum Jahre 1999 spielen in der Gegenwartsliteratur eine bedeutende Rolle. In diesem Kontext sind AutorInnen zu erwähnen, die vor allem aus Österreich oder Deutschland stammen und unter denen Peter Handke im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen scheint. Die Parteinahmen der AutorInnen sind einerseits ganz unterschiedlich, in Handkes Essay steht z. B. die serbische Bevölkerung im Vordergrund, in Anna Kims Roman Die gefrorene Zeit wird dagegen die Perspektive der albanischen Bevölkerung im Kosovo wiedergeben. Andererseits weisen sie zahlreiche Ähnlichkeiten auf, was dadurch zu erklären ist, dass die deutschsprachigen AutorInnen keinen persönlichen Kontakt zum Jugoslawienkrieg haben, sie sind zeitlich und räumlich distanziert. Die räumliche Distanz wird durch das Motiv der Reise oder durch Mittlerfiguren bewusst gemacht, die zeitliche Distanz zeigt sich dadurch, dass die Figuren zur Rekonstruktion der vergangenen Geschehnisse verschiedene Medien und Dokumente brauchen.

52 Žižek, Slavoj: Underground oder: Die Poesie der ethnischen Säuberung. In: ÖZG 8, H.4, 1997, 587-593, hier: 587. 53 Todorova, 2002, 470.

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Dokumente können z. B. die Aufarbeitung des Traumas erleichtern, bieten Materialien zur nachträglichen Auseinandersetzung mit dem Vergangenen oder liefern Beweise. Michael Schwab-Trapp formuliert aufgrund des Beispiels von Srebrenica folgenderweise: »Auf die Einnahme von Srebrenica durch die Serben folgen die Ermordung, Vertreibung und Flucht tausender bosnischer Zivilisten. Die in den folgenden Monaten sich verdichtenden Indizien für systematische Massenmorde – hierzu gehören zahlreiche Augenzeugenberichte über serbische Gräueltaten, Photos und Dokumente der amerikanischen Regierung über die Existenz von Massengräbern und eine in die Tausende gehende Zahl vermisster Personen – sowie die offensichtliche Tatenlosigkeit der UN-Blauhelme bei der Einnahme Srebrenicas und die Grausamkeiten im Gefolge dieser Einnahme haben Srebrenica vom ›alltäglichen‹ Kriegsgeschehen in Jugoslawien ab und verleihen ihm eine besondere Bedeutung für die öffentliche Diskussion über Jugoslawienkrieg, die Politik der UNO und die Legitimität militärischer Interventionen.«54

Anna Kims Roman Die gefrorene Zeit55 handelt von den Folgen der Jugoslawienkriege für die zivile Bevölkerung, die durch die Beschreibung der jahrelangen Suche nach einem Opfer zum Vorschein kommen. Im Mittelpunkt stehen eine Familie, hauptsächlich der Ehemann und sein Streben nach dem Herausfinden der Wahrheit. Fahrie wurde vor sieben Jahren entführt und seitdem sucht der Ehemann, Luan, nach ihr. Während der Suche muss er zahlreiche Fragen eines Formulars beantworten, wobei er seine Erinnerungen genau sammeln muss. Die Frage ist nur, inwieweit man sich nach sieben Jahren erinnern kann. Dazu kommt noch, dass er zur Zeit der Entführung in Österreich als Gastarbeiter arbeitete und nur eine kurze Zeit nach den Geschehnissen nach Hause fahren konnte. Deswegen hat er keine persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen von der Entführung, er weiß alles nur aus den Beschreibungen der Augenzeugen, der Familie. Was dann später passiert ist, weiß er überhaupt nicht, er sucht nur in Zeitungen und

54 Schwab-Trapp, Michael: Kriegsdiskurse: die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991 – 1999. Opladen: Leske + Budrich, 2002, 149. 55 Kim, Anna: Die gefrorene Zeit. Wien: Droschl, 2008. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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Berichten, die möglicherweise ähnliche Fälle beschreiben. Für eine erfolgreiche Suche braucht Luan die genauesten Angaben, die detailliertesten Erinnerungen. Ob er seine Frau findet, hängt in großem Maße von seinem Erinnerungsvermögen und von vorhandenen Medien (Fotos, Urkunden, Dokumente) ab. Mit der Hilfe einer Frau, die sich mit vermissten Personen beschäftigt und die im Roman als Ich-Erzählerin auftaucht, findet er die Überreste seiner Frau. Nach der Identifizierung der gefundenen Gebeine, kann die Familie Fahrie endlich bestatten. Dadurch aber, dass er Fahries Überreste gefunden hat, scheint er sein Lebensziel verloren zu haben, wenige Tage nach der Beisetzung Fahries begeht er Selbstmord. Das Trauma des Verlustes kann auch durch eine neue Beziehung mit der Erzählerin nicht geheilt oder gemildert werden. Die konkrete Datumsnennung im Roman (am 23. Dezember 1998 war Fahrie verschwunden bzw. entführt worden) kann auch als Hinweis auf die realgeschichtlichen Ereignisse des Kosovo zu diesem Zeitpunkt sein: Im Dezember 1998, noch vor Beginn des Kosovo-Krieges, konnten die unter der Ägide von US-Vermitler Chris Hill und des EU-Sondergesandten Wolfgang Petritsch geführten Verhandlungen zwischen Belgrad und Prishtina als »festgefahren« bezeichnet werden; bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen UÇK-Kämpfern und jugoslawischen Grenzsoldaten mehrten sich in der zweiten Hälfte des Monats.56 Bereits in den Wochen davor, das ist einem Bericht des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu entnehmen, war es zu »arbitrary detentions, killings and kidnappings blamed on both Serbian security forces and the Kosovo Albanian paramilitary units« gekommen.57 In Kims Roman stehen der Kosovo-Krieg bzw. dessen Folgen im Mittelpunkt. Die Protagonisten stammen aus dem Kosovo, aus dem Dorf B. 60 km entfernt von Pristina. Das Datum der Entführung der Frau ist der 23. Dezember 1998. Wenn man näher nachforscht, was zu diesem Zeitpunkt im Kosovo geschehen ist, kann man feststellen, dass sich vor dem Anfang des Krieges im Dezember 1998 »bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen

56 Petritsch, Wolfgang/Kaser, Karl/Pichler, Robert: KosovoKosova. Mythen, Daten, Fakten. Klagenfurt u.a.: Wieser, 1999, 251. 57 http://www.un.org/peace/kosovo/s981147.pdf, 31.1.2013.

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UÇK-Kämpfern [albanische Kräfte, die für die Unabhängigkeit des Kosovo kämpften] und jugoslawischen Grenzsoldaten mehrten«58. Wenn man die Opfer- und Täterfiguren des Romans näher untersucht, kann man behaupten, dass es um die Darstellung der Gewalt gegen KosovoAlbaner geht, wobei die Herkunft der Täter unbekannt bleibt, auch wenn der Leser solche Gewalttaten aufgrund seiner (mangelnden) Kenntnisse den Serben zuschreibt. Durch die Thematisierung des Schicksals eines konkreten Individuums untermauert Kim die gängigen Opferdiskurse und zugleich bricht sie diese auch auf, weil »Täter und Opfer«, »Militär und Zivilbevölkerung« leicht zu trennen sind. Die Hauptfigur kommt aus der zivilen Bevölkerung, er ist ein Kosovo-Albaner, dessen Ehefrau während einer Entführung ums Leben gekommen ist.59 »[Sie] haben sie endlich gefunden« (9) steht am Beginn der Erzählung, womit dann die im Präsens erzählten Ereignisse als Rückblende erkennbar werden. Den Schluss des Romans führt Luan kurz an: »Nur wenige Tage nach dem Begräbnis begehst du Selbstmord […].« (147) Zwischen diesen zwei Polen entfaltet sich die Erforschung der Prozesse vom Erinnern, Verdrängen, Vermissen und Vergessen. Der Text weist permanent auf die alteritätstheoretischen Identitätstheorien, wenn es um die Identität einer »Toten« geht. Die Leiche wird zum Individuum, zu dessen Identifizierung benötigen die ForensikerInnen Ante Mortem Data (AMD), eine Datenbank des Roten Kreuzes, in der es nicht um Gefühle, sondern Fakten geht, die in Form von Interviews erfragt werden. Nora, die Ich-Erzählerin und Luan sitzen einander gegenüber, und ihr Gespräch erfolgt als direkte (Figuren-)Rede und (-)Wechselrede. Laut Daniela Finzi entspricht diese asymetrische Kommunikationssituation dem Interview-Typus der empirischen Sozialwissenschaften, aber aufgrund der JaNein-Antworten kann nicht von einem Dialog gesprochen werden.60 Die

58 Finzi, 2013, 270. 59 Rahofer, Antonia: Kriegsinhalt – Textgewalt? Zur Verschränkung von Erinnern und Erzählen in Anna Kims Roman Die gefrorene Zeit. In Gansel, C. / Kaulen, H. (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress, 2011, 168-169. 60 Finzi, 2013, 271.

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Ich-Erzählerin verbindet mit Luan zudem ein in Fragen und Antworten zur Sprache gebrachtes Liebesverhältnis. Die weitere Liebesbeziehung kommt im zweiten Teil des Romans zum Vorschein, als die sie nach mehreren Jahren das erste Mal im Kosovo den Mediziner Sam trifft. Der Text arbeitet mit Ausloten von Nähe und Distanz, Empathie und Dokumentation, und so wird nachvollziehbar, wie die verliebte Erzählerin Luan doch rein professionell in seine Heimat begleitet, wo schließlich in einem Massengrab die verschwundene Ehefrau aufgefunden wird. Das Dorf wird im Aleida Assmanns Sinne für Luan zu einem traumatischen Ort61, wo einige festgehaltene Erinnerungen weder erzählbar noch darstellbar sind. Die gefrorene Zeit ist zweifelsohne ein Gedächtnisroman und verweist auf die Inhalte und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses. Rahofer betrachtet den Roman aber auch als eine Art Gegengedächtnis. Trotz der Erscheinung von sogenannten »Reisetagebüchern deutscher Mädchen am Balkan« in der deutschsprachigen Literatur, gäbe es nämlich immer noch einen blinden Fleck im Kollektivgedächtnis und im Diskurs über die Jugoslawienkriege. Genau dieser blinde Fleck sei von Kim mit einer Reflexion auf die Art und Weise des Erzählens angesprochen worden.62 In Kims Roman spielen die Erinnerungen an das Opfer Fahrie eine äußerst wichtige Rolle. Je mehr und genauere Informationen der Mann über seine Frau erwähnen kann, desto erfolgreicher kann die Suche sein: »[…] und je weniger du weißt, desto unwahrscheinlicher erscheint es dir, Fahrie jemals wieder zu sehen, desto schuldiger fühlst du dich; als läge es in deiner Macht, sie mit jener erfolgreich beantworteten Frage einen Schritt aus der vermeintlichen Gefangenschaft zu führen.« (18)

Die Erinnerungen, die Angaben und die beschriebenen Merkmale werfen die Frage der Identität auf, wo sie beginnt und wo sie endet. Dabei bedeutet Identität eine Reihe von Daten, an die man sich erinnern kann:

61 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck, 1999, 329. 62 Rahofer, 2011, 165-168.

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»Identität laut Fragebogen ist klar bemessen, sie setzt sich zusammen aus Geschlecht, Alter, Krankheit, Kleidung, Augenzeugenberichten und Zufallsbegegnungen. Im Sprechen unternehmen wir den Versuch, die verschwundene Person einzukreisen, festzuhalten, festzulegen. Vielleicht ist es ja wahr: Die Einzigartigkeit eines Menschen, seine Identität?, ist tatsächlich unsterblich, sie kann noch lange nach seinem Tod gefunden werden […].«(14)

Erinnerungen und Gedächtnis sind dementsprechend sehr wertvoll, unter anderem auch deswegen, weil die Identität der Verstorbenen nur durch sie erhalten bleibt. Welche Rolle den Erinnerungen zugeschrieben wird, zeigt folgendes Zitat: »Gedächtnis [hat] doch einen direkten Draht zur Unsterblichkeit. […] ich wünsche mir ein vollgestopftes Gedächtnis voller Einzelheiten unmittelbarer Art, du sagst, es ist unmöglich ohne Erinnerungen zu leben […]. Du liegst mit geschlossenen Augen, unerbittlich Bildern ausgesetzt; du bist nicht nur gezwungen, einen Moment wieder und wieder zu deuten und zu hinterfragen, sondern auch Gegenwart und Zukunft; in solchen Momenten lebst du nicht im Augenblick, sondern im Gewesenen, dann versuchst du, die Gegenwart aus Elementen zu formen, die du der Vergangenheit entleihst, und selbst im Alltag gibst du vor, gewesen zu sein, klammerst dich an Einzelheiten, die dich das Gegenwärtige abschieben lassen: Du sparst deinen Lohn für ein Haus, das nicht mehr euch gehört, Fahrie und dir, du notierst Angebote für eine Reise nach Istanbul, Fahries Lieblingsstadt, du wirfst alle paar Stunden einen Blick auf die Uhr und stellst dir vor, was sie jetzt gerade machen würde, machen würde – dir bleibt nichts anderes übrig als zu warten.« (19)

Das Leben von Luan scheint durch seine Erinnerungen bestimmt zu sein, er lebt in seiner eigenen Welt, die er durch eine Mischung von Gegenwart und Vergangenheit konstruiert. Aber genau die Erinnerungen geben ihm Hoffnung, wodurch er sein Leben fortsetzen kann. Der Mediziner, dessen Aufgabe es ist, die Überreste der verstorbenen Menschen zu identifizieren, erstellt eine Verbindung zwischen Abbildung und Wirklichkeit. Durch diese Verbindung entsteht eine Übertragung von einem Zeichensystem ins andere. Im Text wird das folgenderweise ausgedrückt:

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»Der Fund ist nicht die Person sondern ihr Rest. Das Innerste, wenn man so möchte, andererseits das Äußerste, im Sinne von Letzte, Allerletzte, und doch sprechen sie von Identität, die Vermissenden und die Suchenden, meinen vollkommene Übereinstimmung mit, zugleich innere Einheit der Person, die Ebenen vermischen sich, scheinbar untrennbar: Es lässt sich nicht vermeiden, die Leiche wird zum Individuum […], doch nur solange das menschliche Fragment nicht gesehen wurde, solange das Totsein eine Abstraktion, eine Idee bleiben darf.« (14)

Wie Rahofer im Sinne von Barthes formuliert, sind es die Fotographien, die eine Leiche am besten abbilden, besser als die Überreste, denn sie markieren, sie vergegenwärtigen sogar die Vergangenheit der Abwesenden.63 Im Roman wird das folgenderweise formuliert: »Identität ist […] Übereinstimmung mit dem Davor der Erinnerung, das danach drängt, bei Leerstellen zu schwindeln, Lücken zu füllen, unerträglich das unvollständige.« (126) Eben damit ist das Verhalten des Mediziners zu erklären, der den Protagonisten davon abrät die Leiche zu besichtigen: »Er erlaubt dir, einen Blick auf die Leiche zu werfen, rät aber davon ab. Du bittest darum, den Sargdeckel zu entfernen.«64 In Bezug auf die Erinnerungen des Ehemannes kann es von Bedeutung sein, ob er sich an seine lebendige Frau erinnern kann, mit der er in seiner eigenen Welt »weiterleben kann«, oder an die Überreste, die an sich keine Identität mehr aufzeigen können. Dieser »Identitätsverlust« und die Beisetzung, wodurch er sein Lebensziel verloren hat, konnten dazu beitragen, dass er sich das Leben genommen hat. Durch die Identifizierung verliert er nämlich die Hoffnung, dass seine Frau noch am Leben ist und damit auch den Sinn seines Lebens. Seit der Entführung Fahries stagniert das Leben von Luan, es besteht aus einer ständigen Suche, wobei er sich »weder erinnern, noch vergessen kann« (34), da er bei der Entführung nicht dabei war, er hat es nicht miterlebt, die Geschehnisse wurden ihm nur vermittelt. Die Vergangenheit kann aber nicht vergehen und deswegen bleibt sie stets gegenwärtig, sie bleibt also die »gefrorene Zeit«. »[E]s ist nicht dein Leben, das eingefroren ist, sondern deine Zeit, gefrorene Zeit, die nicht zählt, von der du dir wünschst, sie

63 Rahofer, 2011, 172-173. 64 Ebd.

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würde endlich vergehen, dabei vergeht sie, da gefroren, unendlich langsam.« (32) So beschreibt die Protagonistin die Situation von Luan. Luans Stimme erscheint nur durch Noras Rede, so werden das Vermissen und die bedeutungslos gewordene Gegenwart verstärkt. Es entsteht eine Entfremdung von der Gegenwart: »Deine Vergangenheit verweigert sich der Gegenwart; […] du bist unfähig, das Erinnern zu kontrollieren und zu verstauen, eine im Übergedächtnis verlorene Welt. Aber dein Gedächtnis erlischt allmählich, du hast es schon seit langem beobachtet, die Frage bleibt: Was bist du dann noch.« (33)

Das Gedächtnis hängt mit seinen Medien zusammen und Luans Existenzgrundlage ernährt sich aus der Forschung nach der Frau und das wandelt sich in Selbstquälerei um: »mit den Buchstaben, den Wörtern formen sich Bilder, Szenen, die dich nicht einschlafen lassen« (36). So zeigt sich auch die Funktion und Bedeutung des Bildes als Gedächtnismedium. Wie die Erinnerungsprozesse im Roman inszeniert werden, beschreibt Rahofer folgenderweise: »Kims Rhetorik der Erinnerung changiert zwischen einem antagonistischem und reflexiven Modus des Gedächtnisses, welche nicht nur gängige Vergangenheitsnarrationen unterwandern, sondern auch die raumzeitliche Dimension des kollektiven Gedächtnisses beobachtbar machen.«65

Der Roman wird so gestaltet wie ein Film im Kino, die Geschehnisse werden meistens in chronologischer Reihenfolge wie cuts präsentiert. Die sprachliche Darstellung ist fragmentarisch. Durch diese Form entsteht in der Sprache eine gewisse Verfremdung, die zu Bedeutungsverschiebungen führt, wodurch das Bildgedächtnis der Leser gestört wird. Das Interview mit dem Frage-Antwort-Schema gibt keine Möglichkeit zum Ausdrücken des Verlustes, bringt aber das Scheitern und die Unzugänglichkeit der Sprache zum Vorschein. Das wird auch durch die unbeantworteten Fragen verstärkt: »die Beschreibung liegt dir auf der Zunge, doch sie Befriedigt

65 Rahofer, 2011, 177.

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dich nicht; dann versuchst du Konturen nachzuziehen.« (56) Die kursiven Einschübe und übertragene Bedeutungen, die diese Erscheinungen verstärken den Text. Luans Rede kommt allein durch die homodiegetische Erzählerin zum Vorschein. Sie fühlt sich in Luans Erinnerungsprozess und Traumabewältigung ein. Die Ich-Erzählerin beobachtet ihn, durch ihre Gedanken und Selektion von Informationen erfahren wir über den Krieg, den Luan selber nie erlebt hat. Durch ihre Nach-Erzählung werden das generationsspezifische Wissen, die Rituale des Trauens, Bewältigens, kollektiven Erinnerns im Kosovo zur Sprache gebracht, bis Nora das Ende der Geschichte vorprojeziert: »dir wird klar, dass du nicht weißt, wie das Aufhören funktionniert: wie du das Vermissen beendest.« (79) Mit dem Selbstmord von Luan entlarvt sich seine indirekte Rede nachträglich als Du-Anrede an einen Toten, der nicht mehr antworten kann.66 Die gefrorene Zeit lässt sich als sprachliche Ver-Handlung bezeichnen, die den Akt des Aussagens beobachtet und praktiziert. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass zwischen der Beschreibung und dem Erschaffen der Wirklichkeit eine Verbindung besteht. Wie Nora selbst es formuliert, »jeder Satz […] eine Handlung, jedes Wort wird verwendet: Identität zu stiften, Identität anzusprechen, nagt an der Substanz, da anstelle eines Menschen gesprochen wird, das Stapfen in unbekannten Fußspuren immer Nummern zu groß; die Fremdperspektive entfremdet zusätzlich.« (15) Luans Geschichte wird auch zu der ihren, durch das gegenseitige Anvertrauen entsteht ein Pakt zwischen »Komplizen« (15). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in dem Roman nicht der Versuch im Zentrum steht, das Undarstellbare darzustellen, sondern weist permanent auf Leerstellen, Pausen hin und macht darauf aufmerksam, dass es Undarstellbares gibt, da die Essenz von Traumata nicht darstellbar ist: So kann auch Luan nicht mal eine konkrete Beschreibung über das Aussehen von Fahrie geben: »Zeigst an, dass es keine passenden Wörter mehr gibt, gleichzeitig suchst du, hangelst nach richtigen Sätzen. Die Pause bleibt, weil sie eine Leerstelle ist. Solange es keine wahren Worte gibt, muss diese Stelle ausgelassen bleiben – […].« (20)

66 Rahofer, 2011, 177-178.

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2.6 Z WISCHEN N ÄHE UND F ERNE . Z WISCHEN V ERTRAUTEM UND U NBEKANNTEM . Z U J UDITH H ERMANNS S OMMERHAUS SPÄTER Der Literaturkritiker Volker Hage hat anlässlich der Buchmesse 1999 im Spiegel die Wiederkehr des Erzählens bejubelt: »Nachdem nahezu 20 Jahre lang in der erzählenden deutschen Literatur wenig Bewegung, wenig Schwung war […], zeigt sich bei einer Reihe jüngerer deutscher Autoren aus Ost und West, männlichen wie weiblichen Geschlechts, ein vitales Interesse am Erzählen, an guten Geschichten und wacher Wahrnehmung.«1 Der Erzählband Sommerhaus später2 von Judith Hermann beginnt mit einer Erzählung, in der das Erzählen selbst thematisiert wird: »Ist das die Geschichte, die ich erzählen will? Ich bin nicht sicher«, fragt sich die IchErzählerin aus Hermanns Erzählung Rote Korallen, bevor sie mit der Geschichte über ihre verstorbene Großmutter und deren rote Korallen beginnt – allerdingst erst nachdem sie mit dem Erzählen schon längst begonnen hat. Denn der erste Satz handelt nicht von der Problematik des Erzählens, sondern von dem Verlust eines Korallenarmbandes und des Geliebten durch einen Besuch bei einem Therapeuten. (11) Charakteristisch für die Erzählungen ist, dass die Einblicke in persönliche Befindlichkeiten nüchtern wie zurückhaltend sind und die Darstellungen alltäglicher Lebenssituationen realistisch wirken. In äußerst verknappter Sprache seziert die Autorin ihre vertraut-unvertraute Umgebung nur mehr mit den ungerührten Blicken scheinbar Unbeteiligter, wobei diese sich selbst in diese Umgebung miteinbeziehen und dadurch zu kühlen Beobachtern von sich selbst werden. Dabei bedient sie sich altmodischer Erzählstrategien, aber nicht unbekümmert. Vielmehr erzeugt Hermann mit ihrer fast erklärungsfreien Erzählung bewusst ein narratives Gegengewicht zum allseits konstatierten Informationszeitalter. Diese Konkurrenz zwischen Information und Erzählung wurde in

1

Hage, Volker: Die Enkel kommen. In: Der Spiegel, Nr.41 vom 11. Oktober 1999, 244.

2

Hermann, Judith: Sommerhaus später. Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer, 1998. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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dem Essay Der Erzähler3 von Walter Benjamin herausgearbeitet, der meinen folgenden Ausführungen als Grundlage dient. Hermanns Figuren sind routinierte Metropolitaner, deren Lebensmittelpunkt zumeist Berlin ist, die sich aber auch in ländlichen Provinznestern und auf tropischen Inseln mit eben diesem großstädtischen Selbstbewusstsein bewegen. Ihre vorwiegende Beschäftigung besteht darin, ihre Zeit als Freizeit, ihr Leben als Vergnügen zu gestalten. Sie verkehren in Künstlerund Theaterkreisen, streifen exzessiv und ruhelos durch nächtliches Großstadtleben und ihre Erholung davon suchen sie im ländlichen Idyll. Die Figuren Hermanns reagieren auf ihre Umgebung mit einer seltsamen Unvertrautheit und Einsamkeit, eine Art Unverbindlichkeit herrscht zwischen Freunden und Liebespaaren. In der titelgebenden Geschichte Sommerhaus später wird aus der Erinnerungsperspektive eines Ich von unerwiderter Liebe, der Angst von der Ereignislosigkeit und einem Lebensgefühl jenseits aller Visionen erzählt. Die Ich-Erzählerin, deren Namen man nicht erfährt, lernt Stein, einen Taxifahrer ohne festen Wohnsitz, kennen und beginnt mit ihm eine Liaison. Weil sie seine ungewöhnliche Lebensweise fasziniert, nimmt sie ihn für eine Zeit bei sich auf. »Er war nicht das, was man unter einem Obdachlosen vorstellt. Er war sauber, gut angezogen, nie verwahrlost, er hatte Geld, weil er arbeitete, er hatte eben keine eigene Wohnung, vielleicht wollte er keine.« (141) Sie führt Stein in ihren Freundeskreis ein, der aus Leuten um die dreißig besteht. Als Teil der Berliner Kultszene folgen diese unbekümmert ihren künstlerischen Ambitionen und haben sich einem unbeschwerten und erlebnisorientierten Dasein verschrieben. Obwohl die Ich-Erzählerin nach kurzer Zeit ihr Interesse an Stein verliert und ihn wieder vor die Tür setzt, verbringt er weiterhin viel Zeit mit ihr und ihren Freunden. Weil er aber den Code der Gruppe nicht beherrscht, bleibt er für sie ein Außenseiter. »Er bekam ihn nicht hin, unseren spitzfindigen, neurasthenischen, abgefuckten Blick.« (143) Zwar nimmt Stein an all den Unternehmungen der Freunde teil, fährt mit ihnen aufs Land, geht mit ihnen ins Theater und zu Lesungen, doch beteiligt er sich selten an ihren Gesprächen, hört meistens nur zu. Und

3

Benjamin, Walter: Der Erzähler. (1937) In: W.B.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Bd.I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.

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während die anderen einfach immer nur da sitzen, ihre Zeit totschlagen und sich betrinken, sucht er andere Aktivitäten. (143) Weil er sich dennoch wohl zu fühlen scheint, begibt er sich auf die Suche nach einem Haus in der Umgebung von Berlin, das der Gruppe ein gemeinsames Zuhause bieten soll. Dabei stehen seine Begeisterung, sein Engagement und seine Ausdauer, die er bei dieser Suche nach einem Landhaus entwickelt, im Gegensatz zu dem von Gleichgültigkeit geprägten Verhalten der Ich-Erzählerin und ihrer Freunde. »Haus. Ich erinnere mich. Stein und sein Gerede von dem Haus, raus aus Berlin, Landhaus, Herrenhaus, Gutshaus, Linden davor, Kastanien dahinter, Himmel darüber, See märkisch, drei Morgen Land mindestens, Wochen in der Gegend rumgefahren, suchend. Wenn er dann zurückkam, sah er komisch aus, und die anderen sagten: ›Was erzählt der bloß. Das wird doch nie was.‹ Ich vergaß das, wenn ich Stein nicht sah. Wie ich ihn auch vergaß.« (139)

Für die Ich-Erzählerin ist der einstige Liebhaber zur Langweile geworden, weil er so viel von dem Haus erzählt und ständig das Gefühl des Immergleichen, Sesshaften und Behausten vermittelt, dem sie sich bewusst entzieht: »Ich wiederhole nicht. Ich kann sagen – er war nicht meine Art.« (143) Steins Suche ist zunächst ergebnislos und kommt ihr als Zeitverschwendung und Ereignislosigkeit vor. Der Liebhaber, der eine kurze Zeit lang ihren Hunger nach Erlebnissen und Abenteuern lindern konnte, wird ihr gleichgültig. Als er ihr dann die Nachricht bringt, dass er das Haus endlich gefunden habe, fährt sie in der Hoffnung auf ein neues Erlebnis doch mit ihm los, um sich den Realität gewordenen Traum Steins anzusehen. Vorübergehend gelingt es ihr sogar, Steins Aufgeregtheit zu teilen: »[…] – ohne, daß ich das wirklich gewollt hätte – verstand ich Stein, seine Begeisterung, seine Vorfreude, seine Fiebrigkeit.« (147) Doch ihr Interesse verschwindet in dem Moment, als sie das Haus erblickt. Die »emphatische Geste«, mit der ihr Stein stolz das Haus präsentiert, erscheint ihr mehr als unangemessen. »Das Haus sah aus, als würde es jeden Moment lautlos und plötzlich in sich zusammenfallen.« (148) In ihrer augenblicksorientierten Haltung gelingt es der Ich-Erzählerin einfach nicht, in dem Haus das zu sehen, was es sein könnte, sondern sie sieht nur eine »Ruine« (Ebd.). Auf Steins Zukunftspläne reagiert sie wieder desinteressiert:

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»Ich sagte: ›Was – hier‹. ›Na alles!‹, sagte Stein, ich hatte ihn noch nie so unverschämt erlebt. ›See märkisch, Kastanien auf dem Hof, drei Morgen Land, ihr könnt euer gottverdammtes Gras hier anbauen und Pilze und Hanf und Scheiße. Platz genug, verstehst du? Platz genug! Ich mach euch hier ’nen Salon und hier ’n Billiardzimmer und ’n Rauchzimmer, und jedem seinen eigenen Raum und großer Tisch hinterm Haus für Scheißessen und Dreck, und dann kannste aufstehen und zur Oder laufen und dir das Koks einfahren, bis dir der Schädel platzt‹ […]. Ich sagte: ›Stein, hör auf.‹« (150)

Die Bereitschaft Steins, sein Leben mit ihr zu teilen, – die Schlüssel zu dem Haus hat er ihr schon in die Hand gedrückt (147) – löst bei ihr eine Abwehr aus, die ihr auch die körperliche Nähe zu Stein plötzlich unangenehm werden lässt. »Er legte seine Hand langsam an mein Gesicht, ich zuckte zurück.« (151) Das zukunftsorientierte Denken und seine Suche nach Nähe sind für sie Indizien einer Beständigkeit, die sie in ihrer Furcht vor Langweile und Wiederholung nicht zulassen will. Steins Anderssein, das sie in der Vergangenheit noch fasziniert hatte, kippt ins Bedrohliche, weil es eine Verbindlichkeit vermittelt, die ihr genauso fremd zu sein scheint wie die Vorstellung von einem Leben jenseits des Hier und Jetzt. Die irritierende Konfrontation mit seiner so ganz anderen Lebensvorstellung ruft in ihr dennoch etwas wach: »Ich verstand nichts. Sehr fern verstand ich doch etwas, aber es war noch viel zu weit weg.« (151) Die Postkarten, die sie fortan regelmäßig von Steins neuer Landadresse erhält, helfen ihr, dieser fernen Ahnung näher zu kommen. Stein berichtet darin von den Fortschritten der Instandsetzung und signalisiert ihr immer wieder, dass er sie erwarte: »Den Efeu schneid ich, wenn du kommst, du weißt, du hast die Schlüssel immer noch.« (155) Mit wachsendem Interesse und größer werdender Aufmerksamkeit liest sie diese Karten: »[…] ich wartete, wenn sie einen Tag ausblieben, war ich enttäuscht.« (155) Durch die Postkarten Steins beginnt das Gefühl von Fremdheit zu schwinden, das sie noch in der Anwesenheit von Stein hatte. Er wird ihr vertrauter, eben weil er real abwesend ist. Dennoch zögert die Ich-Erzählerin ihre Entscheidung, ihm aufs Land zu folgen, immer wieder hinaus. »Stein schrieb oft …wenn du kommst. Er schrieb nicht: ›Komm.‹ Ich beschloß auf das ›Komm‹ zu warten und dann loszufahren.« (155) Die Ausreden, hinter denen sie ihre Unentschlossenheit verbirgt, entlarven die fundamentale Widersprüchlichkeit der eigenen Le-

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benshaltung. In der Verweigerung, immer das Gleiche zu wiederholen, blockiert das Leben der Ich-Erzählerin, denn ihre Unentschlossenheit wiederholt sich auch. Weil sie im Unterschied zu Stein keine eigene Version eines gelingenden Lebens besitzt, sieht sie letztlich auch keinen zwingenden Anlass, der Belanglosigkeit ihres Daseins ein Ende zu machen. Eines Tages erreicht sie dann auch der letzte Brief Steins, der aber nicht das erwartete »Komm«, sondern nur einen Zeitungsartikel beinhaltet hat, der darüber berichtete, dass das Haus inzwischen angebrannt sei und der Berliner Besitzer vermisst werde und eine Brandstiftung nicht ausgeschlossen sei. (156) Unausgesprochen und dennoch unmissverständlich gibt Stein der IchErzählerin mit diesem Bericht zu verstehen, dass er das Haus als Zeichen seiner Enttäuschung über ihr Fernbleiben absichtlich angezündet hat. An der Visionslosigkeit und Entschlusslosigkeit der Ich-Erzählerin zerbricht nunmehr auch seine Vision von einem gelingenden Leben. Steins Mitteilung erschüttert aber ihre Gleichmütigkeit nicht: »[Ich] legte den Briefumschlag zu den anderen Karten und dem Schüsselbund. Ich dachte, ›Später‹.« (156) In diesem »Später« steckt nichts von Verheißung, noch verspricht es Veränderung. Zukunft wird hier lediglich als geeigneter Verschiebebahnhof für Konflikte wahrgenommen. Die Lethargie, mit der alles nur einfach hingenommen wird, ist der Ausdruck einer Lebensmüdigkeit, in der die Abwesenheit von Liebe und Begehren in Ermangelung von Wünschen und Sehnsüchten gar nicht erst als Verlust erfahrbar wird. In ihrer Augenblicksorientiertheit kennt die Ich-Erzählerin so auch weder Glück noch Verzweiflung. In Sommerhaus später wird dem Erzählten durch die Erzählweise eine Intensitätverleiht. Das Geschehen wird mit »der größten Genauigkeit erzählt, der psychologische Zusammenhang des Geschehens wird dem Leser nicht aufgedrängt.«4 Erinnernd dokumentiert das erzählende Ich in knappen, einfachen Sätzen das Erlebte nüchtern und unsentimental, ohne es zu erklären und zu rechtfertigen und auch ohne die Fremdheit zu benennen, von deren Atmosphäre die Geschichte durchdrungen ist. Als sprachliche Anverwandlung erlebter Fremdheit kommt diese in ihrer Unausgesprochenheit indes umso eindringlicher zum Ausdruck. Gerade weil die IchErzählerin sich auf eine reine Wiedergabe der Ereignisse beschränkt, und

4

Ebd. 391.

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ihr eigenes Verhalten wie auch das Steins bar jeden Urteils und bar jeder Erklärung rekapituliert, wird der Mangel an Vertrautheit und Nähe sichtbar. War die Weitergabe von Erfahrung einst das, was Erzählen im emphatischen Sinne ausgezeichnet hat5, scheint Erzählen heute eher dem Überfluss gegenwartshörigen Erlebens und dem Mangel an kontinuierlicher Erfahrung geschuldet zu sein. Da es Hermann in ihrer Erzählung Sommerhaus später doch gelingt, diesen Mangel literarisch erfahrbar zu machen, entpuppt sich ihr Erzählen wiederum als ein Erzählen in eben jenem emphatischen Sinne, von dem Walter Benjamin dachte, »daß es mit der Kunst [dieses] Erzählen[s] zu Ende geht.«6 Auch in Sonja, einer anderen Erzählung Hermanns, dreht sich alles um das Verhältnis von Vertrautheit und Fremdheit, Nähe und Ferne. Darin lässt der Ich-Erzähler, ein Berliner Künstler, seine Liebesgeschichte mit Sonja Revue passieren: Er lernt Sonja auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Berlin kennen. Ihre Sprödigkeit und die Hartnäckigkeit, mit der sie ihn umwirbt, irritieren und faszinieren ihn gleichermaßen. Obwohl er seine Freundin Verena in Hamburg liebt und diese sogar heiraten will, verbringt er fortan seine Berliner Nächte mit Sonja, die ihm zu einem seltsamen Abenteuer wird. »Wir zogen von einer nächtlichen Bar in die nächste, tranken Whiskey und Wodka, und manchmal löste sich Sonja von meiner Seite, setzte sich an einen anderen Platz an der Bar und tat so, als würde sie mich nicht kennen, bis ich sie unter Lachen zurückrief. […] Ich fühlte mich durch ihre seltsame Attraktivität geschmeichelt, ich beobachtete sie mit beinahe wissenschaftlichem Interesse. Manchmal, denke ich, hätte ich mir gewünscht, sie mit einem dieser Verehrer verschwinden zu sehen. Sie aber blieb in meiner Nähe […].« (69)

Die magische Anziehungskraft, die Sonja auf den Ich-Erzähler ausübt, ist ihrer vexierbildhaften Ausstrahlung geschuldet, die permanent zwischen Anhänglichkeit und Distanziertheit wechselt. Gerade weil sie anders auf ihn reagiert, als er es gemeinhin von Frauen gewöhnt ist, inspiriert sie ihn. Sie wird ihm, dem Künstler, als »Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein

5

Ebd. 386.

6

Ebd. 385.

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mag« zur auratischen Muse.7 So begehrt er Sonja auch nicht als Geliebte aus Fleisch und Blut, sondern sein Begehren gilt ausschließlich ihrer geheimnisvollen Unerreichbarkeit. »Sie ging mir nicht auf die Nerven, weil sie viel zu eigensinnig und zu zäh war. Ich bemerkte nicht, daß Sonja dabei war, sich in meinem Leben zu verhaken. Sie war für mich in diesen Nächten eine kleine, müde und von irgend etwas besessene Person, die mir auf ihre seltsame Art Gesellschaft leistete.« (67)

Als der Ich-Erzähler schließlich erkennen muss, dass Sonja nicht von »irgend etwas« besessen ist, sondern von dem Wunsch, ein »ganz normales« Leben mit ihm zu führen, verfällt für ihn augenblicklich ihre Aura: »Sonja sagte: ›Ja. Heiraten. Wir werden dann Kinder kriegen und alles wird gut.‹ Ich fand sie unglaublich blöd. Ich fand sie lächerlich und blöd und nichts schien mir absurder, als gerade Sonja zu heiraten und mit ihr Kinder zu bekommen […].« (77) Von der Sehnsucht nach Normalität und Liebe beseelt, zerstört Sonja den sie umgebenden Zauber und damit zugleich auch das Begehren des Ich-Erzählers. Dessen Begehren schlägt indes in eine Angst vor eben jener Vertrautheit um, deren Aufrechterhaltung ihm doch bisher notwendige Voraussetzung war, um Sonja überhaupt nah sein zu können: »ich hatte Angst vor der plötzlich so naheliegenden Möglichkeit eines Lebens mit einer seltsamen, kleinen Person, die nicht sprach, die nicht mit mir schlief, die mich anstarrte, großäugig, von der ich kaum etwas wußte, die ich wohl liebte, letztendlich doch.« (79) Doch statt sich auf das Wagnis einzulassen, die befremdliche Nähe zu ihr in eine vertrauensvolle Nähe zu verwandeln, macht der Ich-Erzähler seiner Hamburger Freundin Verena »einen atemlosen Heiratsantrag« (79). Damit verliert er Sonja zwar als reale Person, denn sie verschwindet nun endgültig aus seinem Leben. Ihre Abwesenheit aber ruft wiederum die Sehnsucht nach ihr umso stärker wach. Denn gerade weil Sonja aus dem Leben des Ich-Erzählers getreten ist, hat sie für ihn jene geheimnisvolle Aura zurückgewonnen, die er doch einzig an ihr begehrt. Der realen Absenz Sonjas verdankt er damit auch erst die eigentliche Erfüllung seiner

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Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit (1936). In: Benjamin, Walter: Illuminationen, 142.

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Liebe. Zu ihrer Konservierung eignen sich so auch seine erzählten Erinnerungen hervorragend. »Heute denke ich, daß ich in diesen Nächten glücklich war. […] Vielleicht waren diese Nächte auch einfach nur kalt und in zynischer Weise unterhaltsam. Heute aber kommen sie mir so wichtig vor und verloren, daß es mich schmerzt.« (70) Hätte die Verwirklichung seiner imaginierten Liebe zu Sonja nur zu dem Verlust dieser Liebe geführt, kann der reale Verlust von Sonja diese imaginierte Liebe in der Erinnerung bewahren. Der Ich-Erzähler in Sonja versucht erzählend Vergangenheit wiederzubeleben. Die Grenzen zwischen Wirklichem und Imaginärem verschwimmen. Verlorene Zeit wird einerseits wiedergefunden, andererseits dringt aber diese erinnerte Zeit letztlich selbst als verlorene und nicht wiedergutzumachende in das Bewusstsein ein. Die Erzählung ist so nicht zuletzt auch Spiegelung einer Wirklichkeit, in der Reales und Imaginäres längst keine eindeutig voneinander zu unterscheidenden Sphären mehr sind. Dort wo man sich der Authentizität einer medial vermittelten Realität nicht mehr zuverlässig versicheren kann, verliert diese nunmehr die Schärfe ihres Umrisses. Das veränderte Verhältnis des Subjekts zu einer Wirklichkeit, deren realer Gehalt in der Gewissheit ihrer medialen Konstruierbarkeit immer ungewisser erscheint, manifestiert sich zugleich auch in einem ebenso veränderten Verhältnis zum Fiktionalen. Mit der medientechnologischen Ausstattung im Gepäck ist es inzwischen ein leichtes, Realität zu simulieren, sei es auch nur um zu zeigen, wie schmal der Grat zwischen Sein und Schein, Wirklichem und Fiktionalem doch ist.8 Je nachdem welchen Standpunkt man einnimmt, lässt sich mittlerweile über das, was wahr und was nicht wahr ist, mehr oder weniger streiten. Hermann gehört schon generationsbedingt der Fraktion der weniger Streitbaren an. Ihre Erzählungen zeigen, dass ihnen das Vexierbildhafte der Wirklichkeit – wenn auch nicht egal – so doch eher normal erscheint. So gleichen ihre Erzählungen einem Spiel mit den Sphären von Realität und Fiktion, in dem die Verflechtungen von Wirklichem und Imaginärem, Erinnertem und Erlebtem zwar durchaus problematisch reflektiert werden, diese Problematik aber nichts Krisenhaftes zu bedeuten scheint. Die Art und Weise wie Hermann reales Erleben

8

Vgl. Hammel, Eckard: Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien. Essen : Die Blaue Eule, 1996.

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und reale Befindlichkeiten in eine Literarizität der Unsentimentalität und Klaglosigkeit überführt, sagt viel über das Befinden einer neuen Generation aus, die ihre Hoffnungen nicht mehr an sozialen Utopien, sondern an den Stabilisierungsmöglichkeiten innerhalb einer Gegenwart misst, die im Grenzbereich von Realisierung und Fiktionalisierung gleichermaßen unzumutbar wie zumutbar scheint.

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2.7 E INE NEUE P OETIK DES S EXUELLEN UND DES P OLITISCHEN IM W ERK VON M ARLENE S TREERUWITZ Der Wandel der Sexualität in der westlichen Kultur ist seit Jahren ein unerschöpfliches Thema der sozialhistorischen Sexualwissenschaft. Dabei werden nicht nur die bereits bekannten Gegenstände des Sexualitätsbereiches diskutiert, sondern kritische sexualwissenschaftliche Artikel beobachten und beschreiben eine grundlegende Transformation der Sexualität, die im Sinne einer »Umkodierung und Umwertung«1 verstanden wird. Verlust, Verschwinden und Auflösung sind dabei die am häufigsten verwendeten Stichwörter und zugleich die Schlüsselwörter des sexuellen Wandels. Die Gegenwart kann nach Volkmar Sigusch als Umbruchszeit aufgefasst werden, die die Sexualität zerlegt und sie neu zusammensetzt.2 Sowohl die Vertreter der Repressionshypothese des Sexuellen, etwa Theoretiker wie Max Weber, Norbert Elias, Herbert Marcuse und Wilhelm Reich, als auch die Anhänger der Thesen von Michel Foucault, die auf den diskursiven Konstruktcharakter des Sexuellen hingewiesen haben, sind darin einig, dass das Geschlechtsleben der abendländischen Gesellschaft immer tief in einem Regelsystem verankert war. Sexualität ist demnach in unterschiedlichem Maße mit theologischen, medizinischen und rechtlichen Vorschriften und Verboten verbunden.3 Foucault betont in seinem Band Der Gebrauch der Lüste, dass bereits seit dem 4. Jahrhundert schriftliche Belege zu finden sind, die »sexuelle Aktivität [als] an sich gefährlich und kostspielig […] und […] eng an der

1

Sigusch, Volkmar: Kritische Sexualwissenschaft und die Große Erzählung vom Wandel. in: Schmidt, Gunter/Strauß, Bernhard (Hg.): Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Stuttgart: Psychosozial Verlag, 1998, 4.

2 3

Ebd. Köppert, Anush: Sex und Text. Zur Produktion/Konstruktion weiblicher Sexualität in der Gegenwartsliteratur von Frauen um 2000. Tübingen: Stauffenburg, 2012, 87.

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Verlust der Lebenssubstanz gebunden«4 beschreiben. In den frühmittelalterlichen Reglementierungen des Sexuellen trat ein Hass auf den Körper hinzu, der sich gegen die sinnliche Lust niederschlug.5 Die religiöse Sexualmoral wurde von der Angst der Menschen bestärkt, wurde als Gewissen verinnerlicht und galt als Regel- und Verbotsammlung6 für den ehelichen Umgang mit Sexualität seitens der Kirche. Das Schamgefühl, das schlechte Gewissen und die sexuelle Angst bestimmten das Geschlechtsleben der Menschen für mehrere hundert Jahre. Immer mehr gehörte das Sexuelle zu einem Bereich des Problematischen und der Prüderie. »Der Akzent der Sexualität verschiebt sich in der Epoche vom 16. bis zum 19. Jahrhundert immer stärker auf das Widerwärtigste, Abstoßende und zugleich Mysteriöse.«7 Die bürgerliche Sexualmoral im 18. Jahrhundert war geprägt durch die allgemeine Unwissenheit über Sexualität, die dann, wie Thomas Laqueur es beschreibt, eine bedeutende Wende erlebte: »[Z]ugleich [begann] die Bedeutung von individueller Vernunft, Beherrschung, Transparenz, Sensibilität, Transparenz und Bildung größer [zu] werden«8. Gesellschaftlich erhält der wissenschaftliche Sexualitätsdiskurs Vorrang, das Unheimliche, das Krankhafte und das Pathologische des Sexuellen lösen das Sündenhafte im Geschlechtlichen ab. Als weitere bedeutende Etappe in der Konstitution der Sexualität des 19. und 20. Jahrhunderts gilt die Verschie-

4

Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. übersetzt v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. [Histoire de le sexualité. Vol. 2. L’usage des plaisirs. Paris 1984] Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, 161.

5

Deschner, Karlheinz: Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte des Christentums. 4.Aufl. München: Heyne, 1980, 67.

6

Über das Geschlechtsleben der Menschen haben die bedeutendsten spätantiken Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen, wie Hieronymus (347-420 n. Chr.), Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.), Bonaventura (1221-1274 n. Chr.) und Thomas von Aquin (1225-1274 n. Chr.) überraschend detailliert und negativ geschrieben. Mit der hohen Bewertung der Jungfräulichkeit haben sie das Geschlechtliche in den Bereich der Sünde verwiesen. Vgl. Köppert: 2012, 88.

7

Van Ussel, Jos: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualwissenschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1970, 51.

8

Laqueur, Thomas Walter: Die Einsame Lust. Eine Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung. Berlin: Osburg, 2008, 244.

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bung der Sexualität in die Sphäre des Bewussten. Die Spaltung in einen »normalen, gesunden« und einen »krankhaften« Sexualtrieb (Richard von Krafft-Ebing, Sigmund Freud) schrieb die Sexualität dem medizinischen Bereich zu. Eine unkontrollierte leidenschaftliche Hingabe zum sexuellen Vergnügen verband sich nicht nur mit einer sündhaften Ungezügeltheit der Lust und damit auch der Angst vor psychologischen Erkrankungen, wie Hysterie, Neurosen, moralischem Schwachsinn und Depression bzw. Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich durch die 68er-Bewegung ein entspannterer Umgang mit der Sexualität durchgesetzt bzw. wurde die Sexualitätsdebatte durch die feministische Bewegung öffentlich auf politischer Ebene ausgetragen. Das Sexuelle begann, in alle politische Bereiche zu wirken: »[D]as Politische spiegelt und konzentriert sich (…) im Sexuellen«9. Der Sexualitätsdiskurs ermöglicht es, die Position der Frauen innerhalb des sexuellen Bereichs politisch zu verbessern. Die letzten Jahrzehnte ist der Wandel der Sexualität durch die Vervielfältigung des sexuellen Verhaltens und der sexuellen Normen ein Leitthema der Sozio- und Sexualwissenschaften geworden. Alte und neue Themen werden in einem Spannungsverhältnis diskutiert wie z.B. Sexualität und Moral, Sexualität und Reproduktion, Sexualität und Gewalt oder ganz neue Gegenstände sind Cybersex oder Sexualität und Immigration. Die aktuellen Forschungen beschreiben diese Entwicklungen als grundlegende Transformation der Sexualität, mit Siguschs Worten als »Umkodierung und Umwertung«10, indem die Gegenwart »[Sexualität] zerlegt und sie neu zusammen [setzt]«11. Ein wichtiger Effekt dieser Prozesse ist die Inszenierung des Sexuellen, die in Szene gesetzte private Sexualität. Veranstaltungen wie Loveparade, Christopher Street Day-Parade und Talkshows inszenieren und dekonstruieren Sexualität: Geschlechtsidentität wird zur Maskerade, Heterosexualität scheint nicht mehr als normativ zu gelten. Diese Inszenierungen können sowohl dezidiert politisch sein, als auch ihr unpolitisches Wesen betonen.

9

Bührmann, Andrea: Das authentische Geschlecht. Die Sexualitätsdebatte der Neuen Frauenbewegung und die Foucaultsche Machtanalyse. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1995, 115-116.

10 Sigusch, 1998, 4. 11 Ebd.

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Für meine Arbeit ist es daher wichtig zu betonen, dass in der europäischen Kultur und Gesellschaft eine in der Öffentlichkeit realisierte Inszenierung der Sexualität existiert. Diese belegt einerseits die Funktionalisierungsmöglichkeit der Sexualität und andererseits ihre Instrumentalisierbarkeit. Beabsichtigt ist in diesem Zusammenhang, der Funktion der Sexualität explizit in der Literatur von Frauen nachzugehen, der Frage, ob es sich im jeweiligen Text um eine diskursive Konstruktion oder eine Dekonstruktion des Sexuellen handelt. Sigusch spricht in diesem Kontext von der »kopernikanische[n] Wende«12 des Geschlechterdiskurses, kraft derer »nicht mehr der Mann im Mittelpunkt [steht], sondern die Frau, nicht mehr das Sexuelle, sondern das Geschlechtliche«13. So muss man von einer methodischen Unmöglichkeit ausgehen, eine nicht geschlechterdifferenzierende Auseinandersetzung mit dem Sexuellen anzustreben. Da der literarische Text durch die Darstellung der Sexualität auch die Geschlechterverhältnisse und die gesellschaftspolitische Positionierung der Geschlechter mit transportiert, hat gerade die feministische Literaturwissenschaft schon lange dafür gekämpft, die literarische Auseinandersetzung mit der Sexualität an den Prozess des Gender Mainstreaming anzuschließen. Laut Anusch Köppert kann der kulturelle Wandel der Sexualität auch Veränderungen im literarischen Umgang mit ihr dort vermuten lassen, wo die Überwindung des Geschlechtlichen bzw. der Geschlechterdifferenz zu verzeichnen ist. Diese Überwindung ist aber nicht mit einer feministischen Gleichheit der Geschlechter gleichzusetzen.14 Zwar ist Elfriede Jelinek überzeugt, es gäbe keine weibliche Sprache des Obszönen15, es sind aber gerade die zeitgenössischen Autorinnen, die sich die Sprache des Sexuellen zu eigen machen, sobald sie sie für die Darstellung einsetzen. So stellen die Autorinnen eine

12 Ebd. 5. 13 Ebd. 14 Köppert, 2012, 17. 15 »Ich wollte eine weibliche Sprache für das Obszöne finden. Aber im Schreiben hat der Text mich zerstört – als Subjekt und in einem Anspruch, Pornographie zu schreiben. Ich habe erkannt, daß eine Frau diesen Anspruch nicht einlösen kann, zumindest nicht beim derzeitigen Zustand der Gesellschaft.« (Löffer, Sigrid. »Ich mag Männer nicht, aber ich bin sexuell auf sie hingewiesen. Gespräch mit Jelinek«, in: Profil 13, 1989. , 83-85)

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Distanz vom politischen Schreiben und der These her, Literatur sei ein diskursiver Ort für die Verhandlung der Gesellschaftsverhältnisse: »Man kann nicht fordern, dass ein Roman oder eine Literatur politisch zu sein habe«16, so Juli Zeh. Stattdessen versuchen die Autorinnen die Darstellung der Sexualität zu funktionalisieren, zu instrumentalisieren und zu inszenieren, ohne die Binarität der Geschlechter dabei zu reproduzieren oder von ihr auszugehen. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, dem Sexualitätsdiskurs in der Gegenwartsliteratur von Autorinnen, konkret am Beispiel von Jessica, 30.17 der österreichischen Schrifstellerin Marlene Streeruwitz nachzugehen. Es wird gefragt, ob der literarische Text, wenn er Sexualität produziert, sich als »Gegendiskurs«18 begreift, indem er eine literarische, ihre subversive Kraft entfaltende Dekonstruktion des Sexuellen hervorbringt. Laut Marlene Streeruwitz wird die Frau sowohl in den literarischen Werken als auch auf der Bühne zum Objekt gemacht, und man trifft im alltäglichen Leben überall auf Unterdrückung, deshalb muss es »in einer nicht patriarchalen Poetik zuerst einmal ums Leben gehen […]«19: »Es geht um die Bildung einer Solidargemeinschaft aller, die diesen Blick auf sich kennen.«20 Sie versucht schonungslos zu zeigen, wie die Welt ist, und nicht im Sinne der alten Frauenbewegungen, wie die Welt sein sollte. Im Roman Jessica, 30. steht dieser Blick im Mittelpunkt. Jessica arbeitet als Journalistin und hat eine Affäre mit dem verheirateten Politiker Gerhard. Mittels eines langen Gedankenstroms ist sie im ganzen Roman auf der Suche nach richtigen Verhaltensweisen, sogar nach der richtigen Sexualität. Sie kann

16 Zeh, Juli: Wir trauen uns nicht. In: Die Zeit 11. 1. 2004. 17 Streeruwitz, Marlene: Jessica, 30. Roman. Frankfurt am Main: Fischer, 2004. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.) 18 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Duisburg: Unrast, 1993, 151. 19 Streeruwitz, Marlene: Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetik Vorlesungen. Frankfurt am Main: Fischer, 1998, 22. Zitiert nach Kocher: 2008, 77. 20 Ebd.

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nicht ertragen, allein zu leben, deshalb gesteht sie lieber ihrem Geliebten alles zu: »[…] der Gerhard, der ist ja ein Pausenfüller, weil es besser ist zu grinsen, wenn jemand fragt, ob es einen gibt, und das ist ja auch praktisch, es wäre praktischer, wenn ich bestimmen könnte, wann er Zeit hat, es ist einfacher so als ganz allein, da würden sich alle interessieren und ich hätte ja auch das Gefühl frigid zu sein, und das habe ich ja ohnehin und dann wäre es bestätigt und vielleicht sollte ich doch noch eine Analyse anfangen, oder vielleicht ist etwas mit meinen Hormonen nicht in Ordnung, wenn es mir nicht so wichtig ist, weil ich immer lieber verliebt bin und dann erst Sex und ohne Gefühle nicht so interessiert, […].« (39)

Brüche im Gedankenstrom, fehlende Punkte und Assoziationen charakterisieren ihre Denkweise. Sie schwankt zwischen den Anforderungen der patriarchalen Ordnung und ihren eigenen Träumen. Für Jessica spielt die Sexualität – aber nicht Lust – eine enorm große Rolle, weil sie glaubt, dass sie der Gesellschaft den Eindruck einer nicht frigiden jungen Frau vermittelt. Lust gehört laut Konstanze Fliedl zu den »bedrohten Species unter den Gefühlen«21 in den Texten von Marlene Streeruwitz. Im Gegensatz zu den Werken von Elfriede Jelinek wird Lust nicht als die zwangsläufigen Grenzüberschreitungen innerhalb der Gesellschaft präsentiert, sondern funktioniert als individuelles und gesellschaftliches Phänomen, dessen Grenzen in der Gesellschaft nicht fest verankert sind. Sexualität erscheint im Roman auf mehreren narrativen Ebenen, sie ist sowohl ein bedeutender Teil des Gedankenstroms der literarischen Figur Jessica im ersten Kapitel als auch eine sexuelle Handlung im zweiten Kapitel, das Thema des Zeitungsartikels, den Jessica im dritten Kapitel schreiben soll. Laut Köppert fungiert der literarische Text hier als ein polemischer Ort, der einen Raum für das Wissen über das Sexuelle bietet, der narrative Text lässt sich als eine kritische Abhandlung über die populären

21 Fliedl, Konstanze: Ohne Lust und Liebe. Zu Texten von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Hg. von Pierre Béhar. Wien/Bern: Peter Lang, 2003, 222-237, 223.

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Themenbereiche der Gegenwartskultur wie Orgasmus, Selbstbefriedigung und Perversion lesen.22 Jessicas Gedanken über Sexualität werden im ersten Teil von Autoerotik und Orgasmusfixierung bestimmt. Masturbation – »[E]s lebe die Onanie« (6), wie es auf der 2. Seite des Romans heißt – wird mit weiteren Selbstkontrolle-Handlungen in Verbindungen gebracht wie Essen, Laufen und Abnehmen. »[W]enn ich laufen war, und ein gutes Gewissen habe ich auch und wenn ich mir noch abgewöhnen könnte, gleich nachher wieder zu essen, dann wäre das Ergebnis auch noch besser, aber ich esse dann wiederum aus gutem Gewissen, weil ich mir das leisten kann, und warum habe ich dann in der Nacht diese Schoko-MapleWalnut-orgie gemacht, ein gutes Gewissen hatte ich da nicht, ganz sicher nicht, ich bin zufrieden, wenn ich, es ist mein Recht, mich zu befriedigen, mein sehr gutes Recht, aber ein gutes Gewissen, das haben sie nur in Cosmopolitan, aber da triumphieren sie auch über die Männer, mit ihren Dildos.« (20)

Wegen ihrem schlechten Gewissen scheitert das Bild der unabhängigen Postfeministin und Jessica distanziert sich von den Frauen aus der Zeitschrift Cosmopolitan, obwohl sie sich bemüht, sich selbst als moderne postfeministische Frau zu deuten. Durch Diät, Onanie und körperliche Aktivität richtet sie sich selbst zu. Sexualität bekommt in dem Roman neben Fortpflanzung einen Platz im Konstituionsprozess des Selbst, der sexuelle Akt dient auch als Präventionsmaßnahme. Der Sex erhält die Funktion eines gesunden Zustands. Das Ziel – in Form von Autoerotik – wendet sich hier in die vom Text suggerierte perfekte Form des Körpers. Der narrative Gedankenlauf verläuft im ersten Kapitel parallel zu dem tatsächlichen Lauf der Protagonistin. Der Leser erhält selektive Einblicke in ihre Welt und ihre Persönlichkeit. Zwischen zwei Kommata liest man Überlegungen über ihre Zukunftspläne, ihr Äußeres und ihre Sexualität. Schon der Titel präsentiert »die unverwechselbare Diktion von Marlene Streeruwitz«23, die Vorliebe für Kürze. Schon

22 Köppert, 2012, 130. 23 Scalla, Mario: Formvollendete Fragen. Über das Verhältnis von literarischer Form und gesellschaftlicher Aktualität in den Texten von Marlene Streeruwitz.

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im Titel erscheint das erste Komma, nach dem auch das Alter von Jessica angegeben wird. 30 kann als ein wichtiges Indiz für den Generationenbegriff gelesen werden. Nach der These von Köppert stellt man in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft die Frage nach der Übereinstimmung des Alters von Autorinnen und Autoren und ihren Protagonistinnen und Protagonisten und definiert so die Selbst- und Fremdbestimmung eines Generationsbildes. In den letzten Jahrzehnte wurden in der Gegenwartsliteratur immer neue Generationsprojekte entworfen wie Generation Ally, Generation Golf, Generation Berlin, Generation Kinderlos.24 Julia Roth stellt fest, dass bei diesen jungen Autorinnen und Autoren eine starke Selbstbezogenheit erscheint und beobachtet dabei, dass »[p]olitische Handlungsfähigkeit von vornherein ausgeschlossen [wird], man bleibt lieber bequem.«25 In den Generationsbüchern werden eher die kollektiven Erfahrungen dokumentiert, der Wunsch nach Veränderungen wird nicht formuliert. Marlene Streeruwitz war doch älter als ihre Protagonistin, als sie den Roman schrieb, trotzdem kann der Text als Generationsentwurf von Frauen um die Dreißig gelesen werden. Jessica reflektiert immer wieder den Zwang, einem gleichartigen Kollektiven anzugehören: »[E]s ist sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie, sie möchte eine richtige Tussenriege und alle sollen so sein, wie die ideale Leserin, 30, attraktiv, unabhängig und gut verdienend, aber dann müsste sie auch etwas zahlen, aber sie Mäuschen.« (14) Mit der Generationsfrage wird kritisch umgegangen, Jessica fragt sich selbst, ob sie nur ein »Ally-McBeal-Klon« (70) sei und sieht ein, dass sie dem Drang eines Ideals des Generationsbildes moderner deutscher Frauen nicht entkommen kann. Ally McBeal26 entspricht den Wünschen und Vor-

In: Bong, Jörg / Spaht, Roland / Vogel, Oliver (Hg.): »Aber die Erinnerungen davon.« Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz. Frankfurt am Main: Fischer, 2007, 152. 24 Köppert, 2012, 122. 25 Roth, Julia: Sie wollen uns erzählen. Über Texte, die gerne »wir« sagen. In: Polar 1, 2006, 163-166, hier: 164. 26 Ally McBeal ist eine TV-Serie aus den USA. Die FOX-Serie Ally McBeal lief in deutscher Erstausstrahlung ab 1998 auf dem Sender VOX. Ally McBeal dreht sich um die gleichnamige Titelfigur: Ally ist eine erfolgreiche und egozentrische Anwältin, die in einer Kanzlei in Boston arbeitet.

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stellungen von Jessica, sie gilt als Vorbild für die Generation Ally27. Die Frauen dieser Generation – ebenso wie Jessica – distanzieren sich von den Feministinnen der siebziger und achtziger Jahre, aber auch das neue Bild der postfeministischen Frau bekommt Risse: Jessica dachte, dass sie wie ihre Mutter das haben wird, was »sie schon mit 30 gehabt hat, den Job, das Kind, nur der Mann hat gewechselt.« (48) Dagegen hat sie: »keinen Job, kein Kind und die Männer sind Wechselbälger« (48). Das unabhängige, attraktive, sexy Bild einer postfeministischen Frau zerfällt im Text, indem sie für ihre finanzielle Unabhängigkeit und für den sportlichen, attraktiven Körper kämpfen muss. Die Anziehungskraft des schlanken Körpers verstärkt den intensiven Anpassungsdrang der Protagonistin. Durch diese Anpassungsbereitschaft wird aber das traditionelle Geschlechtsmuster in das Weibliche eingeschrieben, die Herrschaft des Männlichen bleibt gesichert. Claudia, an die Jessica morgens beim Joggen immer denkt, wird als Vertreterin des »antifeministischen Postfeminismus«28 dargestellt: sie ist finanziell abgesichert, sie hat das perfekte Äußere und repräsentiert Erfolg: »[S]ie kann sich das nur nicht vorstellen, nichts machen, das ist eine unerklärte Zeit für sie« (37), »es ist ihr sehr wichtig, dass die ganze Redaktion so aussieht, wie sie«. (14) Für Jessica beherrscht Claudia eine Lebenskunst, die aus Organisationsebenen besteht, die mit Sex, Laufen und kontrolliertem Essensverhalten besetzt sind. Die Erwartung, sich der Chefredakteurin Claudia anzupassen wird nicht als Kritik an der Gesellschaft und den Medien definiert, sondern als Wunsch, sich dem neuesten Bild einer souveränen und attraktiven Frau anzunähern.29 Neben Laufen und Diät spielt Sexualität zwangsläufig in der minutiösen Beschreibung des weiblichen Alltags eine große Rolle. Alexandra Pontzen stellt bezüglich der Orgasmen von Streeruwitz' Protagonistinnen fest, dass sie lediglich »psychologisches Indiz einer gelungenen Manipulation«30

27 Kuhlmann, Katja: Generation Ally. Frankfurt am Main: Eichborn, 2005. 28 Köppert, 2012, 127. 29 Ebd. 128. 30 Pontzen, Alexandra: Beredete Scham. Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Hg. v.

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sind. Begründet stellt sie die Frage, ob eine zweigeschlechtliche Lust in Streeruwitz’ Texten überhaupt möglich ist, wenn sogar die aufgeklärteren Männerfiguren brutal und rücksichtslos sind. In dem politischfeministischen Aufklärungsprogramm von Streeruwitz scheint in jedem Fall Platz für Männer vorgesehen zu sein, denn wie sie in dem DossierInterview selbst sagt: »Ich halte Feminismus ja für eine logische Entwicklung einer aufmerksamen Analyse, ich glaube, dass auch jeder aufmerksame Mann das ergreifen muss.«31 Die zentrale männliche Figur des Jessica, 30. ist Gerhard Hollitzer, ein verheirateter Politiker der ÖVP und Regierungsmitglied, mit dem die Titelheldin eine langzeitige Affäre hat. Anscheinend sind Gerhard aber sexuelle Aktivitäten mit der freiberuflich als Journalistin tätigen Jessica nicht genug. Seine Sexgelüste befriedigt er zusätzlich einerseits durch sadomasochistische Praktiken mit Jessicas Freundin Mia, andererseits zusammen mit anderen Parteikollegen während mit Parteigeldern finanzierter Sexpartys mit slowakischen Prostituierten. Aus dem Buchmanuskript von Mia erfährt Jessica, dass ihr Geliebter Gerhard Mia drei Tage lang an ein Bett gefesselt und nicht freigelassen hat. Im zweiten Teil des Romans tritt Jessica als eine weibliche Figur auf, die ihre durch Laufen, kontrollierte Diät und Onanie gesteuerte Selbstsicherheit verloren hat, und sie fragt sich selber, ob sie das Recht hat, Gerhard auf Mia anzusprechen: »[M]ir ist peinlich, wenn er da stünde und feststellen müsste, dass man ihm nicht vertraut, dass man ihm nicht mehr vertraut, da wäre ich fertig, das würde mich fertig machen, das wäre mir peinlich, weil ich als enge Person da stünde, uncool, und ich bin erschreckt, ich bin einfach verschreckt, dass er sich verletzt fühlen könnte, dass diese Verdächtigungen ihn treffen könnten.« (93)

Als Gerhard endlich bei ihr eintrifft, kommt es sehr schnell zum Oralsex, während Gerhard mit seiner Frau telefoniert. Zuerst versucht Jessica den

Bettina Gruber, Heinz Peter Preußer. Würzburg: Königshausen&Neumann, 2005, 21-40, hier: 37. 31 Höfler, Günther A.: Marlene Streeruwitz – Werkbiographische Aspekte als Versuch einer Näherungslüge. In: Marlene Streeruwitz (= Dossier 27). Hg. v. Günther A. Höfler, Gerhard Melzer. Wien, Graz: Droschl, 2008, 13.

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Akt wegen des Anrufs abzubrechen: »[H]ör einmal, wenn du telefonieren musst, dann kann man dir halt keinen blasen, hej, nicht so, nicht den Kopf so drücken, ich beiß ja noch hinein.« (148) Jessica bleibt im Gegensatz zu dem der Situation ausgelieferten Gerhard angekleidet, was zeigt, dass sie sich im Sexualakt als dem Mann überlegen erlebt. Sie versucht die Kontrolle zu übernehmen und will die Szene Mia und Gerhard nachspielen, doch packt er sie an den Haaren und nach dem Akt gibt er ihr sogar die Schuld daran: »Issi. Mäuschen. Das war eine Notsituation und du hast mich so aufgeregt. Das war alles deine Schuld.« (151) Im zweiten Kapitel ist eine nivellierende Perspektivierung des Sexuellen zu beobachten, der Geschlechtsakt kann durch die männliche Dominanz und die Unterordnung von Jessica auch als Vergewaltigung verstanden werden. Dieses Ausgeliefertsein ruft aber in ihr sexuelle Lust hervor und die detaillierte Vorstellung der Szene zwischen Mia und Gerhard wirkt auf sie anziehend. Die Überwindung der Grenze eines handelnden Selbst führt hier zu einem grundlegenden Wandel in Jessicas Wahrnehmung des Sexuellen. Jessicas voyeuristische Partizipation an der Beziehung zwischen Mia und Gerhard verweist eindeutig auf die untergeordnete Bedeutung des Anderen und markiert den Selbstbezug, denn Sex als Fetisch wird zu einer Selbstpraktik. Sie beansprucht für sich eine männlich konnotierte Schaulust, ihre sexuelle Begierde begleitet und kommentiert wie Denkblasen folgendes Monologisieren: »ein bisschen lutschen, und er muss ihn gewaschen haben, der riecht frisch gewaschen, der schmeckt nach Seife, ein bisschen schmeckt der nach Seife, aber alles ist besser als Käsekrainer, [...] ich lasse schon nicht los, das Pimpi kann ja nichts dafür, an wem es dranhängt, und solange ich dran herumlutsche, da gehört er schon mir, [...] hör einmal, wenn du telefonieren musst, dann kann man dir keinen blasen, [...] der kommt ganz einfach, der spritzt jetzt gleich und ich möchte nicht, aber wenn ich, eine Szene, der schlägt einen, das ist einer, der schlägt zu, [...] er soll mich auslassen, ich werde ihn noch verletzen, [...] der macht das jetzt wirklich, Hilfe, und er schmeckt staubig, bah und dann scharf, [...] lass mich los, ich will weg und ich kann doch nicht in den Schwanz beißen, [...] der versteht das nicht, [...] der kennt das nicht, dieses Gefühl, angespannt, leér, widerlich, und eine Wut, und der Geschmack, [...] und er hat gewonnen, er hat es sich dann am Ende doch wieder genommen, aber wenigstens hat er mich nicht einmal richtig angefasst, das bisschen am Busen Herumfummeln, das gilt nicht und zwischen den Beinen her-umrühren, [...] das gilt

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schon überhaupt nicht [...] ich werde weinen, [...] ich fühle mich elend, [...] ich will ihn schlagen, und warum habe ich ihn nicht in den Schwanz gebissen, aber die Vorstellung davon, das ist ja wirklich ekelhaft, pfui, das ist ja scheuftlich, [...] und wie kommt dieser Kerl zu dieser Potenz, das ist, [...] und eigentlich wollte ich, eigentlich, wie kommt das, ich will doch gar nicht, ich kann das nicht wollen und doch, es gibt so einen Strom, vom Nabel weg in irgendeine Tiefe und dem folgend könnte ich es jetzt machen und was bedeutet das, wie ist dieser Masochismus in mich hineingekommen, wieso würde mir das absolut gefallen und mich in so einer Art beschmutzen.« (147-150)

Die Entdeckung der Ausschweifungen führt die Protagonistin offensichtlich aus Rache zu dem Entschluss, die Exzesse ihres Liebhabers an die Öffentlichkeit zu bringen. So begibt sie sich im letzten Romanteil mit dem Flugzeug nach Hamburg, um der »Stern«-Redaktion entsprechende Materialien anzuvertrauen und ihn gesellschaftlich bloßzustellen. Die Unschuld des Opfers ist abgelegt, Jessica begehrt den Untergang Gerhards und laut Kocher sündigt sie auf diese Weise.32 Jessica ist keine widerständige Persönlichkeit, sie will sich in der Welt, in der sie lebt, völlig assimilieren. Sie bemüht sich derart um eine perfekte Mimikry, dass sie kaum noch Subjekt ist. Sie ist eine Stimme, die ihren Körper immer wieder verneinen muss. Ihr Gedankengefüge – Jessica denkt permanent – verhindert ihr einen klaren Blick, muss irgendwann zusammenbrechen. Jessicas introspektive Selbstbeobachtung, die auf einige Stunden reduziert ist, erscheint als Selbsttherapie, die ihr in ihrer prekären Lage zu einem anderen Lebenswandel verhelfen soll. Noch bevor sie sich mit der Denunzierung Gerhards »ein neues Leben« (237) verspricht, zieht sie folgende Lebensbilanz: »mein liebes Issilein, deine Zukunft ist gerade, wenn du dir nicht bald etwas überlegst, die Mama hat heute nur, was sie schon mit 30 gehabt hat, den Job, das Kind, nur der Mann hat gewechselt, und ich habe keinen Job, kein Kind und die Männer sind Wechselbälger, seit dem Alfred nur noch irgendwelche und die Beziehungs-

32 Kocher, Ursula: Diskursdomina auf Trümmerfeld. Marlene Streeruwitz und der weibliche Blick auf die Welt. In: Bannasch, Bettina/Waldow, Stephanie (Hg.): Lust? Darstellung von Sexualität in der Gegenwartskunst von Frauen. München: Wilhelm Fink, 2008, 77-92, hier: 81.

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problematik und keine Aussicht auf eine Festigkeit, Job kriegt man keinen mehr.« (48)

Die erzählten Sexualakte im Roman bilden eine groteske Ansammlung körperlicher Segmente und sexueller Fragmente. Sexualität wird entweder in der Vergrößerung bzw. der Heranziehung der Körperteile oder in den Gewalt- und Vergewaltigungssituationen durchgeführt. Ein solcher Umgang mit dem Sexuellen macht Sexualität in ihrer Symbolhaftigkeit begreifbar. »[A]ber es geht ums Geld, …, das ist dann vielleicht das Symbol für die Gefühle, oder nein, das ist das Symbol für Sexualität« (214). In diesem Kontext spricht Sigusch über eine »generelle Banalisierung des Sexuellen«33. Laut seiner These sind das Geschlechtliche und das Sexuelle nicht nur dissoziiert, sie liegen auch ineinander34, und so nimmt das Sexualverhalten eine zentrale Rolle innerhalb der Identitätsbildung von Jessica ein. Die Subjektivierung wird aus dem Inneren der Protagonistin gesteuert. Nach Diät und Laufen entscheidet Jessica, dass sie die Affäre des Politikers mit der Prostituierten aufdeckt und damit startet sie ihre JournalistinnenKarriere. In diesem Kontext kann das Urteil von Dagmar Lorenz, dass »Jessica [...] keineswegs Opfer, sondern Pionierin[...] [ist], die sich aus der Verstrickung mit dem Anerzogenen und Vorprogrammierten lös[t] und in ihre empirisch verifizierbare Wirklichkeit vorst[ößt]«35, nur wundern. Tatsächlich bleibt die Titelheldin bis zum letzten Romansatz verstrickt, und zwar in

33 Sigusch Volkmar: »Vom König Sex zum Selfsex. Über gegenwärtige Transformationen der kulturellen Geschlechts- und Sexualformen«, in: Schmerl, Christiane /Stefanie Soine / Marlene Stein-Hilbers / Brigitta Wrede (Hg.): Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften. Opladen: Leske und Budrich, 2000, 229-250, hier: 246. 34 Sigusch, Volkmar: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt am Mai: Campus Verlag, 2005, 40. zitiert nach Köppert, 2012, 138. 35 Lorenz, Dagmar C.G.: Feminismus als Grundprinzip und Autorenposition bei Marlene Streeruwitz. In: »Aber die Erinnerung davon.« Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz. Hg. v. Jörg Bong, Roland Spahr, Oliver Vogel. Frankfurt am Main: Fischer, 2007, 51-73, hier: 57.

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die eigene Gespaltenheit. Auch wenn sie im Flugzeug auf dem Weg nach Hamburg megalomane Phantasien über einen Regierungssturz produziert, bleibt ihr Bewusstsein gespalten und eine endgültige Erkenntnis aus36: »ich selber auch missbrauchen kann, wenn es mir passt, dann kann ich das auch, ich habe auch nicht eher aufgehört, bevor ich nicht gekommen bin, und auch wenn eigentlich ich gedemütigt worden bin, weil ich so schwanzgeil war und ihn nicht in Ruhe gelassen habe, aber gehabt habe ich es ja doch, und er hat mir nachgeben müssen, und er war schließlich auch geil genug für das Ganze, und ich habe ihn gehabt, fast gegen seinen Willen, [...] im Nachhinein hätte ich es lieber nicht so gehabt, oder doch, eigentlich weiß ich das gar nicht.« (229)

Mit dem geplanten Artikel über Sexualität macht sie auf das Potenzial des Funktionierens der Sexualität aufmerksam und konfrontiert sich mit dem Bild der steigenden Sexualisierung der europäischen Öffentlichkeit. »[J]etzt muss ich schauen, dass ich ein paar Projekte in Gang bringe und dass wieder ein Geld aufs Konto kommt, das mit dem Sex, das ist das Sicherste, ich muss mir nur gut überlegen, wie ich es der Claudia verkaufe.« (33) Mit dem Aufstieg als Journalistin schafft der Text eine weitere Ebene des Sexuellen: der Text konstruiert neben Spaß, Vergnügen und Liebe einen neosexuellen Übergang zum Funktionellen und Symbolhaften des Sexuellen: »Sex wird da wirklich mit Geld gleichgesetzt, Sex darf nur haben, wer sich erhalten kann, da waren wir weiter, da gab es die Pille und eine Portion Gummis und da wurde nicht darüber geredet, das war schon netter, es ist wenigstens ein bisschen um Vergnügen gegangen.« (190) »Sex war immer das Ornament zu den Nullen auf den Konten.« (19) Darüber hinaus, so Köppert, entsteht die Möglichkeit, Sexualität in ihrer Funktion als selbsttechnologisches Instrumentarium auftreten zu lassen.37 Es lässt sich feststellen, dass Sexualität in dem Roman über die Grenze ihres konventionellen diskursiven Rahmens des Erotischen und Pornogra-

36 Pelka, Artur: Zur Trivialität des Eros: Das »Dingsbums« in Marlene Streeruwitz’ Partygirl. und Jessica. 30. In: Moser, Doris/ Kupcszynska, Kalina (Hg.): Die Lust im Text: Eros in Sprache und Literatur. Wien: Praesens, 2009, 335-350, hier: 339. 37 Köppert, 2012, 140.

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phischen hinausgeht, sie wird im Hinblick auf ihre Funktion zum Gegensand des Literarischen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in Jessica, 30. ästhetische Strategien und Effekte entwickelt werden, die nicht nur das selbstkonstruierende Potential des Sexuellen repräsentieren, sondern auch durch die Dekonstruktion der Homogenität des weiblichen Subjekts die Vielseitigkeit der Weiblichkeit unterstreichen. Als Marlene Streeruwitz nach der Schreibmotivation gefragt wurde, lautete die Antwort: »Verdrängen oder Nicht-verdrängen? Und da ist Schreiben für mich eine Anti-Verdrängungsstrategie.«38 Beim Lesen ihrer Texte wird es schnell klar, dass die Autorin diese Anti-Verdrängungsstrategie auch im Hinblick auf das Öffentliche beziehungsweise auf das Politische praktiziert und dabei versteht die »bekennende Feministin« das Private und Politische ohnehin als untrennbar miteinander verbunden. In einem Interview antwortete Marlene Streeruwitz auf die Frage, ob politisch engagierte Schriftsteller Einfluss auf die Gesellschaft ausüben können, daher so: »Schon durch diese Frage entsteht der doch sehr seltsame Eindruck, etwas könne unpolitisch sein. Gleichgültig, ob ich nun eine persönliche Einstellung zur österreichischen Situation habe oder nicht, wird alles, was ich schreibe, in diesen allgemeinen Text eingeschrieben und damit politisch.«39 Insbesondere eignet sich als Primärtext der im Jahre 1999 erschienene Roman Nachwelt.40, in dem die Autorin die permanente Wechselwirkung des Privaten und Politischen anhand von Figurenkonstellationen und Handlungsmustern illustriert. Schon der Titel spricht – gefolgt von dem Streeruwitz-Wahrzeichen, dem Punkt - deutlich die Themen an: wie Nele Hempel herausstellt, wird in der Gegenwart die Welt als »jetzt« und »hier« definiert, rücken aber vorangegangene, historische Ereignisse ins Zentrum, dann werden wir automatisch zu Menschen der »Nachwelt«. Gleichzeitig

38 »USER HANDBOOK« zur österreichischen Erstaufführung von »Waikiki Beach.«, hg. von Theater Phönix, Linz 22.4.1993. 39 Lorenz, Dagmar/ Kraft, Helga: Schrifsteller in der zweiten Republik Österreichs: Ein Interview mit Marlene Streeruwitz, 13. Dezember 2000, in: German Quarterly 75 (2002), H.3, 227. 40 Streeruwitz, Marlene: Nachwelt. Ein Reisebericht. Roman., Frankfurt am Main: Fischer, 1999. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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bedeutet der Begriff »Nachwelt« in diesem Sinne natürlich die Bewahrung einer Person oder ihrer Ideen für die Zeit nach ihrem Tod, was offensichtlich eng an die Diskurse von Idealisierung, Mythisierung und Ideologisierung anknüpft und wahrheitsorientiertes Erinnern oftmals zugunsten einer verzerrten, kathartisch-kollektiven Erinnerung verhindert. In Nachwelt. wird einerseits das Private mit dem Politischen verkoppelt, andererseits wird die Konstruktion von Erinnerung mit der Shoah direkt in Verbindung gesetzt. In Nachwelt. ist ebenfalls die kunstvolle Konstruktion verschiedener Zeitebenen zu beachten, die alle simultan präsent und gleich wichtig in den Roman integriert werden, wodurch es sich bei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ebenfalls – wie beim Diskurs des Privaten und Politischen – um untrennbar miteinander verknüpfte Entitäten handelt.41 In Nachwelt. reist die Wienerin Margarethe Doblinger im Jahre 1990 nach Kalifornien, um für eine Biographie über Anna Mahler zu recherchieren, die Tochter ihrer berühmten Eltern, Gustav Mahler und Alma MahlerWerfel. Während ihrer Reise durch die Neue Welt versucht sie deren Vergangenheit zu verstehen. Im Folgenden wird gezeigt, wie in dem Roman ein allumfassendes Zeitkontinuum konstruiert wird: Die Vergangenheit ist verankert in den Erinnerungen an die und den Gedanken zur Shoah; die Gegenwart besteht aus zehn Tagen in Kalifornien, die einerseits durch die Suche nach der Vergangenheit bestimmt werden, andererseits auch mit den Anforderungen der Routine des Alltags angefüllt sind wie Schlafen, Essen, Autofahren, Beziehungsprobleme. Die Zukunft bedeutet für sie, bewusst mit den Forschungen aufzuhören und Los Angeles, die Quelle ihrer Recherchen zu verlassen und sich gleichzeitig zu entscheiden, das Buch über Anna Mahler niemals zu schreiben. Ihre Rückkehr nach Wien wird nicht eindeutig mit Freude geschildert, da sie das komplizierte Verhältnis noch lösen muss, doch ist die Vorfreude auf ihre Tochter Friedericke stärker, die Tochter, die für Margarethe die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinheitlicht. Bei Margarethes Kalifornienreise erscheint die Zukunft als Ausblick, von Anfang an steht fest, dass es sich um eine Art Zeitvakuum

41 Hempel, Nele: Die Vergangenheit als Gegenwart als Zukunft. Über die Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung in Texten von Marlene Streeruwitz. In: TEXT+KRITIK 164, Marlene Streeruwitz. Zeitschrift für Literatur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, X/04, 49.

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handelt, denn ihre Rückreise nach Wien ist stets als Zukunft in den Text eingeschrieben.42 Der Roman beginnt damit, dass die Protagonistin einen neuen Namen erhält, wobei es sich nicht nur um eine geschickte Illustrierung ihrer Suche nach einer neuen Identität handelt, sondern vor allem auch um das für die Gegenwart relevante Resultat einer Erinnerung: Manon, Margarethes wichtigste Kontaktperson in Los Angeles und beste Freundin der verstorbenen Anna Mahler, nennt Margarethe verkürzt und französisiert »Margaux«. Obwohl sie impliziert, dass sie Margarethe einfach keinen »schönen Namen gefunden habe« (7), lässt sich eher vermuten, dass der Name für Manon, »die nicht nach Wien wollte aus Angst, diese Sprache wieder hören zu müssen. Deutsch hören zu müssen. Wienerisch. Die nicht einmal die Sprache ertragen konnte« (382), der Inbegriff des Deutschen ist – man denke beispielsweise an Goethes Gretchen oder an Celans Todesfuge: »Dein goldenes Haar, Margarethe.«43 Margarethe, die der unmittelbaren Nachkriegsgeneration angehört, ist als Wienerin mit dem deutschen Namen gleichzeitig eine Repräsentantin der Gegenwart wie auch der Vergangenheit. Sie ist eine Art Botschafterin für das Vertraute und das Entfremdete. Während einerseits emotionale Erinnerungen aus der Kindheit zur Trauer darüber führen, dass in Amerika echte »Vanillekipferl« oder typischer »Erdäpfelsalat« nicht zu bekommen sind, sind es andererseits die faktischen Erinnerungen, die den Exilanten für immer von seiner früheren Heimat trennen. Nach Jahrzehnten in Amerika haben sich die Emigranten dort eine zweite Heimat geschaffen und dazu gehört auch, trotz Multikulturalität in den USA, dass sie in der Landessprache kommunizieren, linguistisch gesehen sind die aber in einem Zwischenraum, denn ihr Englisch ist nicht frei von dem deutschen Akzent oder ihr Deutsch ist oft veraltet. Diese Hybridexistenz lässt sich sowohl positiv als auch negativ interpretieren: Im positiven Sinne könnte sie die Verkörperung einer neuen Existenz sein, einer Möglichkeit, durch Adaption an andere Lebensumstände neue Verbindungen einzugehen. Im negativen Sinne könnte sie andererseits eine Markierung des ewigen »nicht mehr« und »noch nicht« darstellen, eine Art Heimatlosigkeit sein. Auf je-

42 Ebd. 50. 43 Hempel, 2004, 50.

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den Fall kann festgestellt werden, dass in der Sprache der Emigranten ein Verweis auf ihre Vergangenheit festgeschrieben ist. Konkrete Erinnerungen sind Gegenstand der Interviews, die Margarethe mit unterschiedlichen Bekannten Anna Mahlers führt und die die Handlung des Romans in Form von Tonbandmanuskripten unterbrechen. Dabei sind nicht die konstruierten Erinnerungen von echter Relevanz, sondern die Art und Weise, wie Margarethe auf die erzählten Geschichten reagiert und wie in diesen Erinnerungen die Zeitgeschichte mit bearbeitet wird. Während sie mit den Berichten von Überlebenden der Shoah konfrontiert wird, mischen sich in Margarethes Kopf in einer Art Bewusstseinsprosa Gedanken über die Opfer mit Margarethes eigenen Erinnerungen an die Vergangenheit. Als sie den fast 88-jährigen, sehr gebrechlichen Albrecht Joseph, einen von Anna Mahlers Ehemännern, ein kleines Steifftier streicheln sieht, das ihn immer begleitet hat und niemand ihm hat wegnehmen können, denkt Margarethe an ihre eigene Kindheit zurück: »Was hätte sie zum Mitnehmen gehabt? Damals. Ihr fiel nichts ein. Sie hatte immer alles weggeworfen. […] Alles. Es hatte damals geheißen, es wäre besser, sich aller Erinnerungen zu entledigen. Und mit dem Leben weiterzumachen. […].« (18) Im Archiv der UCLA-Bibliothek findet Margarethe einen Text von Franz Werfel, und ihre Gefühle für die und Gedanken an die Opfer kommen verstärkt zum Vorschein: »Werfel hatte in der Ansprache auch gesagt, es müsse vergessen werden. Durfte einer das sagen. Hatte einer das Recht dazu, der das noch sagen konnte. Ein Recht zu reden hatten doch nur die Toten. Hier durften doch nur die Toten ihre Stimmen heben. Und weil sie es nicht konnten, durfte keiner etwas sagen. Wie konnte sich einer da hinstellen und ›vergessen‹ sagen. Und vergessen wohin.« (169) Diese Textstelle scheint auch deswegen besonders interessant, weil nach 1945 Österreichs politisches und gesellschaftliches Programm in Hinblick auf seine Nazivergangenheit tatsächlich »Vergessen« hieß. Margarethe diagnostiziert die Ästhetik des Vergessens und auch den Konflikt zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration im eigenen Elternhaus. »Ihre Eltern hatten es nie beklagt. Hatten nie gesagt: ›Ach, wäre es doch nicht geschehen.‹ […] Aber die Eltern. Denen war die Geschichte mit den Juden. Die war ihnen peinlich. Irgendwie. Und sie hätten es schon lieber gehabt, es wäre nicht geschehen. Aber nicht wegen der Menschen. Sondern weil es schiefgegangen war. Die

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Sache mit den Juden. Da schwieg man eben darüber. Eben peinlich. Und außerdem. Es war eben geschehen. Und wenn sie denn getan hätte. Sie wüßte ja nichts. Könnt das nicht beurteilen. Es wären ja nicht alle Juden Genies gewesen. Wie heute so getan würde.« (170)

Schuld wird nicht nur niemals zugegeben, sondern sogar im engsten Familienbereich an die Person außerhalb des Täterkreises weitergereicht: an das Kind, an die nächste Generation: »Und sich nicht mundtot machen lassen. Von diesen Gebeten, die die Nonnen ihnen schon im Kindergarten beigebracht hatten. Zu beten für alle, die im Krieg gewesen. Als wäre die Wahrheit des Mörders gleich schrecklich wie die Wahrheit des Gemordeten. Oder vielleicht noch schrecklicher. Der Gemordete wurde schließlich in die ewige Seligkeit aufgenommen. Der Mörder mußte immer noch beichten gehen. Bereuen. Und sie hatte die kleinen Hände gefaltet und gebetet.« (290)

Marlene Streeruwitz fordert nicht nur in ihren Werken eine Poetologie, die die Würde der Opfer der Shoah bewahrt, sondern es ist auch ihr persönliches Programm, nicht fiktional mit dem Thema der Shoah umzugehen: »Ich kann (…) keinen Primärbeitrag leisten, und ganz entschieden darf ich das auch nicht, ich darf das auch nicht in meiner Literatur. Auf Nachwelt. bezogen verwende ich authentische Interviews als Berichte aus jener Zeit und erfinde nicht selbst Geschichten, die in diese Zeit hineinragen.«44 In der Form und in dem Inhalt der Streeruwitz’schen Texte wird ganz deutlich, dass die Autorin einen großen, ethischen Wert auf die Bewahrung der Würde der Opfer legt. Streeruwitz konzentriert sich auf einen Bereich der Thematik, über den sie authentisch berichten kann – ihre Kindheit im Österreich der Nachkriegszeit, im Österreich des Vergessens und im Österreich der jungen Generation mit Fragestellungen. Beim Entlarven der Schuld der Eltern entblößt sie gleichzeitig die patriarchale Vater-Autorität als Symptom der nationalen Niederlage.45 Die Verkoppelung des vermeintlich Politischen mit dem vermeintlich Privaten wird hier ganz besonders deutlich:

44 Lorenz/Kraft: Schriftsteller in der zweiten Republik Österreichs, 2002, 228. 45 Nele., Die Vergangenheit als Gegenwart als Zukunft, 53-54.

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»Hatten auf die Kinder hinuntergelächelt. Was wißt ihr schon. Sich dabei abgewandt. Und. Im Abwenden war das Schreckliche in den Gesichtern zu lesen gewesen. Und sie hatte es auf sich bezogen. Die Person, die nichts wusste. Auf sich und das Schlechte, das in einem wohnte. Aber es war deren Schuld gewesen. Die hatten sich diesen Mann und diese Partei geholt. Die waren in den Krieg gezogen. Die hatten zugesehen, wie die Nachbarn abgeholt worden, und waren dann in die Wohnungen gegangen und hatten sich die Kaffeehäferln geholt und nachher keine zurückgegeben. Und der Vater. Der hatte sich an den Frauen gerächt. An der Mutter. An ihr. In der Kleinfamilie. Da konnte der Vater schon seine politische Wut austoben. Der Wut freier Lauf. Dafür gab es die Kleinfamilie ja.« (291)

Beim Autofahren erinnert sich Margarethe an diese Erlebnisse und plötzlich wird der Leser in die Gegenwart zurückgerissen, wenn ihre Gefühle für den Vater mit den Gefühlen für den Mann, der sie nicht auf der Reise begleiten wollte, vermischt werden: »Und weil ihr Vater gegen die Russen verloren hatte, saß sie jetzt in Los Angeles und heulte, weil ein Wiener Internist nicht mitgekommen war. Nicht nachgekommen. Das war alles lächerlich. Sie fuhr die Sony Studios entlang. Weiße Mauern. Taghell erleuchtet. Sie fuhr weiter.« (292) Margarethes Gedanken und Gefühle in der Gegenwart, ihre Erfahrungen in der Vergangenheit und ihre Erwartungen von Veränderungen in der Zukunft verschwimmen permanent in jeder möglichen Lebenssituation. Durch die Vermischung der Zeitebenen wird ihr klar, dass es ihr unmöglich ist, die Biographie über Anna Mahler zu schreiben. Obwohl sie sämtliche Informationen über Anna Mahler recherchiert hat, kann sie sich doch kein objektives Bild von ihr machen. Erst am Ende kommt sie aber darauf, die Forschung scheitert nicht wegen ihrer Unfähigkeit, sondern weil sie niemals genug über Anna Mahler herausfinden kann, damit sie ein authentisches, absolut sicheres Bild über derer Leben geben kann. Es gibt zu viele sich widersprechende Geschichten, und Margarethe hat den Eindruck, dass diejenigen, die ihr diese Geschichten erzählt hatten, zu viele eigene Wünsche und Lebensansichten auf ihre Berichte über Anna Mahler projizierten.46

46 Ebd. 54.

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»Margarethe war glücklich. Sie musste nicht mehr diese vielen Wirklichkeiten in Sätze zwängen. Urteile. Diese Leben anderer ausdeuten. Wie war sie auf die Idee gekommen. So etwas machen zu wollen. Die Idee war auf einmal lächerlich. Das mussten andere machen. Andere, die sich sicherer waren. Sie konnte ja nicht einmal über ihr eigenes Leben Auskunft erteilen.« (371)

Stilistisch folgt Streeruwitz’ Roman Nachwelt. ihren früheren Romanen Verführungen. und Lisas Liebe., indem die fragmentarische, oft von Punkten unterbrochene Rede sowie die Eigenständigkeit des Nebensatzes auch hier wieder eine ganz eigene Sprache schaffen. Der Roman wird im Untertitel als Reisebericht. bezeichnet und er enthält ausführliche Beschreibungen der für einen Touristen neuen und fremden Umgebung, vom Strand über Cafés bis zu Straßenbeschreibungen. Obwohl die Beschreibungen der Außenwelt oft zu ausführlich sind, bewirkt die Fülle von kurzen, unvollständigen Sätzen, dass die Bilder, die für den Leser kreiert werden, doch wieder nur fragmentarische Szenenausschnitte sind. Der Themenwechsel und die untypische Grammatik veranschaulichen deutlich die Simultanität von Ereignissen im normalen Leben, das ebenfalls keine logische Ordnung kennt, das einfach passiert. Es wird deutlich, dass in dem Reisebericht eigentlich eine Dekonstruktion des Genres vorgenommen wird, und dass der Leser nicht den exotischen Ort erleben, sondern sich auf die Reise nach Innen mitbegeben soll. Dem Wunsch nach Exotik, dem »Sich-Verlieren« im Glanz einer anderen Welt, hält Streeruwitz immer unerbittlich die Wahrheiten der eigenen Existenz entgegen: »Wegen tiefverankerter Hoffnungskultur ist Österreich Modell für eine nicht aufgeklärte Welt. Ich setze meine strengen Sprachkonstellationen gegen die ansässige Geistesverfassung. Denn Gott-Kaiser-Vaterland hängt noch immer über allem. Die Leute gehen mit Unterwerfungssehnsüchten ins Theater, die nur Klassiker befriedigen. Da ist die Welt noch in Ordnung.«47

Marlene Streeruwitz wurde, ebenso wie Jelinek und Bernhard vor ihr, schnell zu der Kategorie Schriftsteller gezählt, die in Österreich gemeinhin als »Nestbeschmutzer« bezeichnet werden. Mit kritischer Stimme und ihrer

47 Bartens, Gisela: Ein lustbetontes Spiel. In: Kleine Zeitung, Graz, 13.5.1995.

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realistischen Poetologie besteht sie darauf, dass Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft tatsächlich eine einheitliche Dimension der Zeit bilden und dass eine würdevolle Zukunft nur dann möglich ist, wenn in der Gegenwart verantwortungsvoll und ethisch korrekt mit der Vergangenheit umgegangen wird.

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2.8 P OETIK DER ALTERITÄT S ELTSAME M ATERIE

IN

T ERÉZIA M ORAS

Fremdheit als existenzielle Lebenserfahrung ist das zentrale Thema in dem Prosatext Seltsame Materie.1 Als Schriftstellerin, deren Familie in Ungarn der deutschsprachigen Minderheit angehörte, überschritt Terézia Mora selbst Landes- wie Sprachgrenzen: 1971 in Sopron/Ungarn geboren, siedelte Mora 1990 nach Berlin über, wo sie seit 1998 als freie Schriftstellerin lebt. Ihr mehrfach ausgezeichneter Erzählband zeigt Figuren, die sich als »innere Fremde« empfinden. Es handelt sich dabei sowohl um soziale Außenseiter als auch um Figuren, die in der Fremde leben. In den Erzählungen werden sozial-kulturelle Konstruktionsprozesse von Differenz in den Blick genommen und dabei das »In-der-Fremde-Sein« und »Fremdsein« als Formen des »Andersseins« miteinander verbunden. Gezeigt werden soll im Folgenden, wie sich in Moras Text »ein interkulturelles Potential«2 ästhetisch entfaltet. Die zehn Erzählungen des Bandes spielen alle in einem ländlichen Gebiet an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dass es sich um eine Grenzregion handelt, ist in räumlicher wie in metaphorischer Hinsicht relevant: Erstens erzählen einige Geschichten von dem Versuch, die Landesgrenze zu überschreiten, zweitens stellt sich allen Figuren, die an den Verhältnissen in der Heimat leiden, die Frage nach Gehen oder Bleiben. Am Wichtigsten aber ist, dass drittens, Grenzerfahrungen ein Leitmotiv des Erzählens bilden. Das Personal in Seltsame Materie besteht aus jugendlichen Protagonisten, die meistens namenlos bleiben und die in ihrem sozialen Umfeld mit unterschiedlichen Arten von Gewalt konfrontiert sind. Die Erzählungen handeln von der jeweiligen Lebenssituation und wichtigen Ereignissen im

1

Mora, Terézia: Seltsame Materie. Hamburg: Reinbek, 1999. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

2

Geier, Andrea: »Niemand, den ich kenne, hat Träume wie ich«. Terézia Moras Poetik der Alterität. In: Nagelschmidt, Ilse/Müller-Dannhausen, Lea/Feldbacher, Sandy (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin: Frank&Timme, 2006, 153-177, hier: 154.

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Leben der acht Mädchen bzw. jungen Frauen und zwei jungen Männer, die beginnen, ihr Leben selbst zu gestalten. Alle Erzählungen sind klassische Ich-Erzählungen, sie weisen eine homodiegetische Erzählinstanz und interne Fokalisierung auf. Die erste und die letzte Erzählung sind inhaltlich wie personell verknüpft. In diesem Rahmen werden paradigmatisch das Spektrum der im Erzählband insgesamt dargestellten Fremdheitserfahrungen erfasst sowie deren Chancen und Risiken vermittelt: In der Titelgeschichte Seltsame Materie wird ein Schloss erwähnt, in dem die letzte Geschichte, Ein Schloß, spielt. Die erste handelt von einem Mädchen, das Schauspielerin werden will, um sich von seiner Herkunft zu befreien, letztere von einer Ausreißerin, die das Land verlassen möchte. Als sich die beiden im Schloss begegnen, sind sie sich einig in der Erfahrung allgegenwärtiger Gewalt, unter der alle Figuren aus Seltsame Materie leiden, sie ergreifen jedoch unterschiedliche Wege der Flucht: »Man muß nicht gleich das Land verlassen, sagt das kahle Mädchen zu mir. Es ist nicht das Land, sage ich. Orte sind mir einerlei. Pause. Pause. Pause. Und dann doch: Um mich herum war alles Gewalt. Der kleine zitternde Nasenohrring schaut mich an. Und nickt. Er denkt, das ist nirgends anders.« (246)

Die Schicksale der beiden sind spiegelbildlich im Hinblick auf Aufbruch und Scheitern angelegt: In Ein Schloß zeigt sich, dass die Protagonistin der Titelgeschichte die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule bestanden hat, denn sie ist zum zweiten Mal auf dem Weg (241). Die Perspektive der Ausreißerin vermittelt nun einen neuen Eindruck vom Aussehen des Mädchens, vor allem aber wird die Gefahr, die der begleitende Bruder darstellt, wesentlich deutlicher als in der ersten Geschichte: In Seltsame Materie nämlich erklärt die Erzählerin, dass sie diesen Bruder liebt und bewundert, während er sie offenbar nicht unterstützt, sondern zu bevormunden versucht. Die ersten Sätze: »Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts von hier« (9) werden wenig später als seine Worte erkennbar. Sie vertraut der Ausreißerin an, dass der Bruder ihr nicht von der Seite weiche und so tue, als wisse er nicht, dass sie weggehe (241). Der Bruder will nicht, dass sie sich von ihrer Herkunft und damit auch von ihm

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löst. Während die erste Geschichte mit dem Bild einer Auflehnung endet – die Schwester tanzt mit dem Zigeunerjungen Florian, obwohl ihr Bruder sie deshalb als Nutte bezeichnet (20) –, kündigt sich in der letzten Geschichte ein dramatisches Scheitern an. Die Ausreißerin aus Ein Schloß kann demgegenüber ihren Traum, das Land zu verlassen, offenbar verwirklichen, aber sie tötet zuvor einen Mann, der dies verhindern wollte. Diesem düsteren Szenario auf der Ebene des Plots steht ein Erzählen gegenüber, das als Ausdruck der Hoffnung gedeutet werden kann: Die bereits erwähnte Aufforderung, nichts zu erzählen, steht am Beginn eines Bandes, in dem Figuren von ihrem Schicksal erzählen, für das sich sonst niemand zu interessieren scheint oder das sie verschweigen sollen. Das Erzählen selbst wird auf diese Weise zu einem Signal des Widerstands. Die Analyse des Rahmens, den diese beiden Erzählungen bilden, zeigt bereits mehrere Möglichkeiten, wie in dem Erzählband Selbst- und Fremdbilder verwoben sind, sich gegenseitig ergänzen und korrigieren. Dies kann sich jeweils innerhalb einer Geschichte oder im Zusammenspiel verschiedener Geschichten ereignen. Ein Thema, das vier Geschichten des Bandes – Nummer zwei, drei, neun und zehn – verbindet und damit eine Verknüpfung im Binnenraum des Erzählbandes und zugleich zum Rahmen herstellt, ist das Schicksal der Flüchtlinge. Jede der Geschichten beleuchtet dieses Thema aus dem Blickwinkel anderer Akteure: In der zweiten und dritten Erzählung des Bandes, die im gleichen Zeitraum, nämlich Weihnachten und Silvester spielen, handelt es sich um einen Soldaten, der an der Grenze Dienst tut (STILLE. mich. NACHT), und um ein Mädchen, dessen Großvater Fluchthelfer ist (Der See). Sie lassen unterschiedliche Haltungen der Erzählerin und des Erzählers gegenüber den Flüchtlingen erkennen, aber beide Male auch deren Qual und Schrecken. Dies wird vor allem vermittelt durch die Stereotypisierungen der Reaktions- und Ausdrucksweisen der Flüchtlinge, die Rede von einem »Grabengesicht« (32) oder vom typischen »Flüchtlingsblick« (31), der auf gleiche Erfahrungen der Flüchtlinge schließen lässt. Der Soldat, der Zeuge eines Flüchtlingsdramas mit Toten wird, erwähnt, dass »[d]ie Verwahrten […] seit neuerdings gewisse Rechte [haben], so auch das Recht, nicht gequält zu werden« (27) und verweist damit auf vergangene, noch härtere und ausweglosere Bedingungen. Im Unterschied zu Geschichten über erwachsene Flüchtlinge geht es in der neunten und zehnten Erzählung, Durst und Ein Schloß, um Mädchen, die auf der Flucht sind. In Durst wird dieses Thema noch einmal gedoppelt, da

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das Mädchen, bevor es von zu Hause fortläuft, von einer Ausreißerin aus dem Ort erfahren hat, die es bis dahin nicht wahrgenommen hatte (215). Eine weitere Verbindung zwischen den vier erwähnten Geschichten lässt sich im Motiv des Sehens finden. Auch dieses Motiv verknüpft Binnenraum und Rahmung und ergänzt damit die Verbindungslinie, die sich aus der Flüchtlingsthematik ergibt. Das Motiv erscheint als das Unglück, nicht gesehen, d.h. wahrgenommen zu werden, oder aber unsichtbar zu sein (19, 66, 215). Es ist nicht nur strukturell mit dem Thema Fremdheitserfahrung verbunden, sondern weist einen unmittelbaren Bezug zu unterschiedlichen Facetten von Fremdheitserfahrungen auf, die jeweils positiv oder negativ konnotiert werden können: 1.) Wer als Fremder von seiner sozialen Umwelt in einen exponierten Status gedrängt wird, ist besonders sichtbar, und dies kann eine Gefährdung bedeuten. 2.) Umgekehrt werden Außenseiter vielfach von ihren Mitmenschen ignoriert und von einem normalen sozialen Miteinander ausgeschlossen, so dass sie sich zugleich unsichtbar fühlen. 3). Während »Unsichbarkeit« für soziale Außenseiter und Flüchtlinge auch einen Zuwachs an Freiraum und Handlungsspielräumen bedeuten kann, ist Sichtbarkeit für Flüchtlinge grundsätzlich eher gefährlich.3 Aus den vielfältigen Verbindungen der Erzählungen, den gegenseitigen Bezugnahmen auf der Ebene von Themen, Figuren und Motiven, entfaltet sich vor den Augen der Leserinnen und Leser ein Panorama des beschriebenen sozialen Raums und es entsteht der Eindruck von Multiperspektivität: In verschiedenen, auf einander verweisenden Perspektiven auf ein relativ homogen strukturiertes und territorial begrenztes ländliches Gemeinwesen werden immer neue Einblicke in ein scheinbar schon bekanntes soziales Umfeld und in dessen Mechanismen der sozialen Konstruktion von Alterität, die unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten ihres Erlebens und des Umgangs damit in der alltäglichen Interaktion sowie von Widerstandskosten vermittelt. Die Rahmung wie die Binnenverknüpfungen der Geschichten mit gegenseitigen Verweisen und Spiegelungen lassen sich dabei als eine kompositorische Umsetzung des Verhältnisses von Selbst- und Fremdbild deuten. Die beschriebenen Kompositionsmerkmale des Erzählbandes entsprechen Strukturmerkmalen auf der Ebene der einzelnen Geschichten. In der

3

Geier, 2006, 159.

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Beschreibung des Rahmens wurde schon angedeutet, dass sich Selbst- und Fremdbilder mischen: Die Gedanken und Reden einer Figur geben nicht nur Auskunft über das Bild, das sie sich von ihrer Situation und Person macht, sondern sie zeigen auch, welch großes Gewicht dem Wissen oder auch nur der Vermutung darüber zukommt, wie sie von anderen wahrgenommen wird. In Der Fall Ophelia heißt es: »In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist. Wer bei meiner Mutter in die Privatstunde geht, lernt die Sprache des Feinds. Die muß man doch als erstes wissen, sagt meine Mutter. Und: Mach dir nichts daraus. Wir sind die einzige fremde Familie im Dorf, wenn man das eine Familie nennen kann, diese drei Generationen Frauen, und alle geschieden, erzählt man sich, kommen hierher, Kommunisten wahrscheinlich, christlich auf keinen Fall. Sprechen fremd und beten nicht. Man dreht sich um zu uns und ist ganz still.« (116)

Hier werden Fremd- und Selbstbild ununterscheidbar, weil das vorurteilsbeladene Bild der Außenwelt nicht durch ein Selbstbild korrigiert wird. Während in der Haltung der Mutter Distanz zum Ausdruck kommt – »Mach dir nichts daraus« –, ist eine Abgrenzung für die heranwachsende Protagonistin wesentlich schwieriger. Auch das Mädchen in Durst erklärt, die Frage der anderen als eigene übernehmend: »Bist du wirr im Kopf? Meine Gedanken sind zu schnell. Ich komme mit dem Aufschreiben kaum hinterher. Möglicherweise bin ich tatsächlich wirr im Kopf.« (216) Ob eine Figur Fremdbilder übernimmt oder sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen kann, hängt auch von der Situation ab, in der er sich befindet. Die Ausreißerin macht während ihrer Flucht in Ein Schloß das Motiv für ihr Weggehen sichtbar: »Meine dünnen Hände und Füße hängen aus den weiten Kleidungsröhren. spärlicher schwarzer Flaum bedeckt sie. Ich reibe daran: vier Tage Schmutz. Wie lange habe ich mein Gesicht nicht mehr gesehen. Meine Haare fühlen sich rau an, und wie Pelz und Gefieder zugleich. Für ein Mädchen siehst du reichlich verwahrlost aus. Dabei könntest du hübsch sein, wenn du dir nur ein wenig Mühe geben würdest. Ich habe mir Mühe gegeben, in vielem, es hat bloß nicht gereicht. Schwererziehbar. Du wirst auch nur wie dein Vater werden: feige, asozial. Mein Liebhaber wollte oft, daß ich mich entschuldige.« (244)

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Diese Stelle lässt keine genaue Zuordnung der Stimmen zu und bringt eben damit den Zitatcharakter des Gesagten zum Ausdruck. Die Figur musste dies so oder ähnlich offenbar schon sehr oft hören. Dass die Rede Dritter in den Text integriert und nicht als zitierte Rede deutlich markiert ist, hebt die Bedeutung dieser Fremdbilder für das Selbstbild hervor: Die Figuren haben Mühe, sich von den an sie herangetragenen Fremdbildern abzugrenzen, selbst wenn sie diese bereits als falsche Zuschreibungen erkannt haben. Daneben finden sich in Seltsame Materie aber auch ambivalente Übernahmen von Fremdenbildern bis hin zu »eigensinnigen«, d. h. mit eigenem Sinn versehenen und spielerischen Verwendungen. Dass die Protagonistin in Der Fall Ophelia ihren Badeanzug als »ausländisch und lila« (118) bezeichnet, scheint auf den ersten Blick die Übernahme eines Fremdbildes anzuzeigen. Andere Signale deuten jedoch darauf hin, dass es sich eher um Stolz auf das Anderssein handelt, der sich aus ihren Fortschritten beim Schwimmen speist. Zunächst als gesundheitsförderliche Übung verordnet, wird es ihr zur Überlebenshilfe gegenüber den Zumutungen der Außenwelt. Als die Schwimmbadputzfrau ihr beruhigend versichert, »gegen Fremde wie wir habe sie nichts« (121), erwidert sie die Zuordnung zurückweisend: »Danke, sage ich. Aber das bin ich nicht.« (Ebd.) Umgekehrt setzt sie »die fremde Sprache«, wegen der die Familie in der Gemeinschaft verachtet wird, gezielt ein, als der Pfarrer sie dazu drängen will, ihn zu loben: »Ich verstehe nicht, sage ich in unserer Sprache.« (117) In den meisten Fällen sind solche »Umkehrungen« jedoch weniger ein Zeichen gelingender Emanzipation als Ausdruck von Verzweiflung. Die Mutter in Die Sanduhr erfindet für ihre beiden Töchter fremde Väter, einen Spanier und einen Sänger aus Sizilien, der jetzt in Frankreich lebt. Von diesem Sizilianer soll das Kind sein Gesangstalent haben, das damit zu einem »fremden Einfluss« erklärt wird. Noch dramatischer ist die versuchte Umcodierung des Fremdbildes in der Erzählung Die Lücke. Die Mutter »spricht, wie man hier nicht spricht, nur sie war auf dem Lyceum, und manchmal, wenn man sie zu sehr erbost, drückt sie die Laute durch die Nase, spricht mit Akzent, sollen ruhig alle hören, da ist eine, die ist anders« (83). Dieser trotzige Stolz auf das Anderssein, von der ihr jüngster Sohn als Erzähler der Geschichte spricht, ist jedoch auf Dauer keine Überlebenshilfe. Der sechste Suizidversuch gelingt (111). Der ländliche Raum zeigt sich als ein soziales Gebilde, in dem eine Homogenität im Negativen stabilisiert werden soll: Von Ausgrenzungen

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und anderen sozialen Sanktionen ist jeder bedroht, der als »anders« erscheint oder den Anschein erweckt, gar »anders« sein zu wollen. Der Sohn der Krankenschwester, der den Sohn der Protagonistin schließlich fast umbringt, äußert in Der Fall Ophelia den typischen Vorwurf, die »Fremden« seien deshalb fremd, weil sie sich selbst ausgrenzten: »Warum müßt ihr alles anders machen, nicht in der Kirche, nicht im Bier, nicht in der Badewanne, fünfzigmal quer, fleißig, was Besseres« (119). Dabei wird die Ausgrenzung vor allem von solchen Menschen betrieben, die sich selbst als unterprivilegiert und minderwertig erfahren und darauf achten, dass sich niemand besser stellen kann als sie selbst. Unübersehbar ist auch die Machtlosigkeit der Ausgegrenzten, denn paradoxerweise werden Versuche der Anpassung von der Gemeinschaft nicht anerkannt, sondern gelten als Täuschungsversuche. Das Anderssein der »Fremden« wird also auch dann vorausgesetzt, wenn sich diese angepasst verhalten (122). Der soziale Raum ist insbesondere durch Bildungs- und Kunstfeindlichkeit charakterisiert. In der Geschichte Durst heißt es etwa: »Was denkst du so viel nach, fragt Großmutter, nur Idioten denken so viel.« (123) Die Verachtung und das Misstrauen treffen diejenigen, die sich ein anderes Leben erträumen und dies auch zeigen. Singen und Schauspielen oder das Aufschreiben der eigenen Gefühle werden von der Umwelt überwiegend misstrauisch betrachtet und sind zumeist negativ konnotiert; eine der wenigen Ausnahmen bildet das Tanzen der »kleinen Kreolin« während einer Hochzeit in »Am dritten Tag sind die Köpfe dran. Langsam. Dann schnell«. Denen, die anders sind, bleibt der Ausbruch oder der verzweifelte Rückzug in Räume, in denen das Anderssein verachtet, aber toleriert wird: die Verrücktheit. In der Erzählung Die Lücke finden sich drei unterschiedliche Haltungen: Die Figur der Mutter träumt von einem anderen Leben, findet aber in ihrem Alltag keine Möglichkeit dazu und scheitert. Dem Bruder des namenlos bleibenden Erzählers4 gelingt dagegen die Flucht ins Ausland. Der jüngste Sohn der Mutter sowie dessen Schwägerin ergeben sich resignierend in ihre Lage. Beide durchschauen zwar die Mechanismen, unter denen sie leiden, und insbesondere der junge Mann nimmt wahr, dass ihn diese Situation allmählich immer gewalttätiger werden lässt. Aber beide sind unfä-

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Geier, 2006, 163.

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hig, etwas zu verändern – weder der Sohn, der sich nachträglich eingesteht, dass das Anderssein der Mutter keine Verrücktheit war (78), noch Maria, die sich damit beruhigt, dass ihr die Strukturen, unter denen sie leidet, wenigstens vertraut sind: »Du gehst umsonst weg, wenn du dann nicht weißt, wohin mit dir. So ist das, sagt meine Schwägerin Maria. Angst und Gewalt. Die Männer haben Panik, die Frauen haben Panik, alle. Gewalt ist gut, das hat Umrisse. Eine Ohrfeige, damit kann man leben. Das kennen wir.« (101) Über eine derartige Anpassung zwischen selbstverleugnender Bereitschaft und Zwang schreibt Erving Goffman: »Dennoch halten auch die am stärksten benachteiligten Gruppen, wenigstens über kurze Strecken, ihre Bereitschaft zur Kooperation aufrecht – ein Umstand, der dadurch an Sichtbarkeit verliert, daß ihre Mitglieder manchen Normen gegenüber offenkundigen Widerwillen zur Schau tragen, während sie die restlichen doch befolgen. Vielleicht steht hinter der Bereitschaft, die gegebenen Verhältnisse zu akzeptieren, die nackte Tatsache, daß ein Individuum eben in einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung stehen muß und die realen oder eingebildeten Kosten befürchtet, die eine Aussonderung als Abweichung nach sich würde.«5

Seltsame Materie zeigt, dass es nicht der Leidensdruck allein ist, der die Figuren den Ausbruch wagen lässt. Sie träumen darüber hinaus von einem anderen Leben und wollen dabei besondere Eigenschaften oder Talente entwickeln. Es sind Figuren, die wie Maria sagt, »wissen, wohin mit sich.« Die Widerstandskosten, die aus dem Versuch der Auflehnung oder einem Ausbruch entstehen, werden in dem Erzählband deutlich thematisiert und reichen von sozialer Ausgrenzung bis zu einer Umkehr von Täter- und Opferrolle. Für die Ausreißerin in Ein Schloß geht es etwa immer wieder um die existentielle Frage: »Was ist mir meine Freiheit wert?« (233, 236, 249) Die Antwort darauf ist zunächst eine Duldung von Zumutungen – von dem Mann, den sie ihren Liebhaber nennt, und dem Schlosswärter. Als letzterer ihr den Pass stiehlt, sieht sie keinen anderen Weg, als diese Freiheit mit Gewalt zu erkämpfen. Die distanzierte, unsentimentale Schilderung vermit-

5

Goffman, Erving: Interaktion und Geschlecht. Hg. und eingeleitet von Hubert A. Knoblauch. Mit einem Nachwort von Helga Kotthoff. Frankfurt am Main: Campus, 1994, 66.

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telt an dieser Stelle, dass das Mädchen seine Tat nicht bereut: »Ich halte die Leiter für ihn. Er klatscht aufs Parkett wie eine Melone. Die Leiter liegt unter seinem Nacken, sein Kehlkopf stülpt sich vor. Der gerissene Hals eines Vogels. Er trägt meinen Paß in einer Tasche am steifen Bein. Er hätte ihn mir geben sollen.« (249) Eine solche lakonische, Empfindungen aussparende Erzählhaltung prägt den Band Seltsame Materie auch insgesamt.6 Selbst wenn die Figuren unmittelbar von Gewalt betroffen sind, wirken sie eher wie deren Zeugen als deren Opfer. In Durst heißt es beispielsweise: »Der Stiefvater kommt und schlägt mir ins Gesicht. Meine Haare sind gelb. Sie fallen mir in den Mund. Ich beiße darauf. Sie knirschen wie Sand.« (208) Die Erzählerinnen und Erzähler erscheinen als Chronisten fremden und eigenen Lebens, die kaum einen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und ihrer Wirklichkeitswahrnehmung, geschweige denn zu der ihrer Angehörigen haben. Dies trifft selbst für die wenigen Figuren zu, die in ihrer Familie eine Art Geborgenheit erleben, wie etwa das Mädchen in der Erzählung Die Sanduhr. Es dominiert ein gleichförmig nüchtern-beschreibender Ton, während emotionale Betroffenheit und Reflexionen über die eigenen Empfindungen weitgehend fehlen. Diese Erzählhaltung entspricht den dargestellten Gefühlen der Fremdheit: Den Figuren, die sich als Fremde empfinden oder als Menschen, die von anderen zu Fremden und Außenseitern gemacht werden, eignet eine Art ethnologisch-distanzierter Blick auf ihr Umfeld. Katja Stopka erklärt: »die Landstriche wie die Menschen – seien es Familienangehörige oder Nachbarn – [werden] mit einer Schonungslosigkeit als Fremde betrachtet, die jeder Vorstellung von Geborgenheit und Vertrautheit den Garaus machen: eine ›seltsame Materie‹, der nur wenig Tröstendes zugebilligt wird.«7

6

Tráser-Vas, Laura: Terézia Moras Seltsame Materie: Immigrantenliteratur oder Minderheitenliteratur? In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15/2004,

1-10,

hier:

4.

http://www.inst.at/trans/15Nr/05_08/traser15.htm

(18.09.2013) 7

Stopka, Katja: Aus nächster Nähe so fern. Zu den Erzählungen von Terézia Mora und Judith Hermann. In: Harder, Matthias (Hg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg: 2001, 147-166, hier: 152.

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Doch der »fremde« Blick richtet sich gerade nicht nur auf die Anderen. Im Unterschied zu einem »Forscher« auf fremdem Terrain wird das Eigene als fremd wahrgenommen – und dies bezieht die eigene Person mit ein. Auch wenn die detaillierte Beschreibung der bäuerlich-dörflichen Gemeinschaft in Seltsame Materie mit ihrer genauen Betrachtung der Körper wie der Gerüche und Empfindungen durchaus einen eigenen Reiz entfaltet, der vereinzelt als eine Romantisierung des »archaischen« Raumes kritisiert8 wurde, dominiert deutlich die Darstellung von Fremdheit und Gewalterfahrungen. Die Erzählhaltung spiegelt, dass Gewalt als selbstverständlich, als allgegenwärtig und »normal« wahrgenommen wird. Daher scheinen sich die Erzählerinnen und Erzähler teilweise im Nachhinein gar nicht darüber zu wundern oder gar empört darüber zu erregen, dass Gewalt gegen sie keine oder fast keine Reaktionen in ihrem sozialen Umfeld auslöst: Die Mitglieder der jeweiligen Familien zeigen sich desinteressiert an der Gewalt untereinander ebenso wie an der Gewalt, die den eigenen Nächsten vom Dritten angetan wird. Nachdem das Mädchen in Der Fall Ophelia den Angriff im Schwimmbad überlebt hat, weil sie den Täter austrickste, sagt die Mutter lediglich: »Du hättest ihn nicht so erschrecken sollen« (129). Umgekehrt führt der Wechsel aus der Täter- in die Opferrolle dazu, dass die Charaktere Moras auf empathisches Verstehen und nicht auf Identifikation hin angelegt sind. Da die wichtigsten Figuren keine Auskunft über ihre Gefühle und Motivationen geben, kommt das Leiden an der Gewalt also nicht durch Einblicke in die emotionale Innenwelt zum Ausdruck. Es vermittelt sich, indem gezeigt wird, dass die Figuren von einem anderen Leben oder vom eigenen Tod oder auch dem anderer Menschen träumen und einige schließlich den Ausbruch wagen. Darüber hinaus weisen auffällige Verschiebungen im Tempus der Erzählungen auf das Leiden der Figuren hin: Was auf den ersten Blick als gleichzeitiges Erzählen erscheint, wird in den meisten Fällen allmählich als späteres Erzählen erkennbar. Dass Vergangenes als gegenwärtig dargestellt wird, spiegelt, dass dieses unbewältigt ist und eine emotionale Belastung für die Figuren darstellt. Im Zentrum der vorgestellten Texte stehen Fremdheit, Sprache, Grenzen, Distanz und Empathie im Rahmen inter- und intrakultureller Begeg-

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Geier, 2006, 166.

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nungen. Verhandelt werden also klassische Begriffe einer interkulturellen Forschung, welche um die Brüche, die Verständnisschwierigkeiten und -probleme weiß, die sowohl mit Phänomenen des »In-der-Fremde-Seins« wie des »Sich-Fremd-Fühlens« einhergehen. Die Erzählungen zeigen Alterität als Form der Stigmatisierung und weisen auf Widerstandskosten hin. Sie führen sie aber auch als Form der Selbstbehauptung vor: Hin und wieder gelingt es den Außenseiterfiguren, ihrer »Fremdheit« positive Aspekte abzugewinnen. In Seltsame Materie werden mit unterschiedlichen narrativen Mitteln eine Vielfalt an Erscheinungsformen von »Fremdheit« sowie die soziale Konstruktion von Differenz, die Mechanismen ihrer Zuschreibung und die möglichen Formen des Umgangs damit vorgeführt. Moras Text bietet keine unmittelbar »politischen« Aussagen. Die Autorin vermeidet es insbesondere strikt, ihre Texte und deren Figuren zu Botschaftern einer interkulturellen Begegnung werden zu lassen; naive Vorstellungen von Sprache als sprichwörtliche »Brücke« der Verständigung finden sich in ihrem Werk nicht. Terézia Moras ethisch-ästhetisches Programm lässt ihre Texte vielmehr zu einem Beispiel »engagierter Literatur« im besten Sinne des Begriffes werden und zeigt dabei, was Literatur leisten kann: Ihre »Poetik der Alterität« thematisiert die Konstruktion von Differenz, die Konstitution von Selbst- und Fremdbildern und macht dabei die Fremdheit »Anderer« erfahrbar.

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2.9 »V ON UNS GAB ES KEINE S PUREN .« E RINNERUNGSSTRATEGIEN IN Z SUZSA B ÁNKS D ER S CHWIMMER Der Roman Der Schwimmer (2003) von Zsuzsa Bánk beschreibt die ziellose Reise einer Familie durch Ungarn um 1956.1 Zwar handelt es sich um eine bikulturell geprägte Autorin, deren ungarische Eltern erst nach der Revolution nach Deutschland kamen und so könnte der Roman aufgrund der emotional gefärbten Ebene einer autobiographischen Analyse unterzogen werden, doch stehen die Formen der Erinnerung und des Gedächtnisses im Roman im Mittelpunkt meiner kulturwissenschaftlichen Überlegungen. Nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, verkauft der Vater Haus und Hof, um mit seinen Kindern bei Verwandten in anderen Teilen des Landes unterzukommen. Ihre Aufenthalte sind aber immer nur von kurzer Dauer, schnell müssen sie weiterreisen. Vor ihren Erinnerungen und vor der Heimatlosigkeit flüchten sich die Geschwister Isti und Kata in Traumwelten. Besonders Isti verliert bei seinen Ausflüchten aus der Realität immer mehr den Bezug zu dieser. Das Schwimmen lässt sich als Leitmotiv des Romans lesen. Beim Tauchen versinken Isti und sein Vater in Erinnerungen. Das Schwimmen wird zu einem Instrument des Vergessens, im Wasser flüchtet die Familie vor der Realität. Es ist zugleich aber auch Symbol für das Selbständig-Werden und das Handeln in einer Gesellschaft, die schon lange vor allem resigniert hat. Anhand der fragmentarischen Erinnerungen der Familie soll den Formen und Strategien der Erinnerungsstränge in Bánks Roman mit Hilfe der modernen Gedächtnisforschung nachgegangen werden. Zwischen Erinnern, Fantasie und Realität Seit den 1980er Jahren sind Erinnerung und Gedächtnis als Paradigmen in verschiedene wissenschaftliche Diskurse eingegangen. Erinnerungen sind manchmal tückisch, kommen nicht, wenn man sie braucht und tauchen dann auf, wenn sie gerade nicht erwünscht sind; manchmal narren sie uns

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Bánk, Zsuzsa: Der Schwimmer. Frankfurt am Main: Fischer. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

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und manchmal fallen sie dem Vergessen anheim, doch eines sind sie in jedem Fall: lebensnotwendig. Erinnerungen sind identitätsbildend und -stabilisierend, sie bieten dem Menschen den Referenzrahmen, anhand dessen er die Gegenwart beurteilt und die Zukunft erwartet, alle Eindrücke und Erfahrungen werden immer auf die Vergangenheit zurückbezogen.2 Im Roman Der Schwimmer sind das Erinnern, die Fantasie und die Realität im Handlungsgeschehen Zustände, die fließend voneinander übergehen. Geschichten von unterschiedlichen Zeiten werden von der Erzählerin fragmentarisch und lückenhaft erzählt, Budapest aber als Ausgangspunkt der Erinnerungen bleibt unverändert und wird als Erinnerungsort präsentiert. Die Kulisse spiegelt die Stimmung von Kata wider. »Budapest war grau. Wo ich hinsah, sah ich nichts als Mauern, Türen, Wände […]. Ich wollte weg. Ich wünschte, meine Mutter würde uns abholen und zurückbringen.« (17) In ihrer Sehnsucht nach ihrer Mutter verschlägt es die Kinder auf Bahnhöfe. »Ein Bahnhof ist der beste Ort für einen Anfang« (167). Kata und Isti wünschen sich an einen schöneren, fröhlicheren Ort und beginnen ihre Fantasiereisen am Bahnhof. Der Bahnhof fungiert in der Migrationsliteratur häufig als ein neues Zuhause, verfügt vom Charakter totaler Offenheit, wo jeder mit jedem sprechen kann, wo alles neu beginnen kann. »Mein Zug fuhr einem hellen Mond entgegen« (19). Der helle Mond steht im Kontrast zu tristen, grauen, verregneten Stadt. Die Kinder sehnen sich nach ihrem Zuhause, das durch die Gleise und die Züge mit ihnen verbunden bleibt. »Ich stellte mir einen langsam in die Nacht fahrenden Zug vor und mich als einzigen Fahrgast. Pest entglitt ich auf diese Weise oft.« (19) Kata will aus der Stadt fliehen, so wie ihre Mutter, die ihre Reise auch am Bahnhof begonnen hat und mit der sie über Züge und Gleise verbunden bleibt. Oft träumt sich Kata von ihrem Alltag weg, der von Erinnerungen an die Mutter und Verlustängsten geprägt ist. »Ich ging ins Bett, um zu träumen, um am nächsten Morgen mit einem Bild, mit einem Gefühl aufzuwachen, das ich ansonsten vergeblich suchte« (29). In ihrer unterkühlten und reizarmen Umwelt fehlt es Kata an positiven Gefühlen, Gefühle wie Zuneigung, Liebe und Verständnis, die sie mit ihrer Mutter verbindet. Sie ver-

2

Vgl. Klein, Stefan: Erinnern Sie sich? ZEIT-Magazin Nr. 12, 12.März 2009. S. 25.

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sucht mit Träumen ihre Gefühle und Erinnerungen zu verarbeiten und zu ertragen. »Für mich gab es nur Zeiten, die ich ertragen, und Zeiten, die ich kaum ertragen konnte«. (7) Das Ertragen ist der Lebensinhalt von Katas Verwandten. »Irgendwann gehe es allein ums Ertragen, fuhr Anna fort, um nichts anderes mehr« (264). Es geht um das Ertragen des unterdrückenden politischen Systems und der patriarchalischen Verhältnisse. Es geht aber auch um das Aushalten von negativen Gefühlen und Erinnerungen. Diese Haltung führt dazu, dass die Verwandten vor allem resigniert haben, keiner will etwas an der schlechten Situation ändern. »Aber fürs Ertragen sei Kálmáns Frau nicht gemacht […]. Auch sie hätte es ertragen müssen, wie es ihr bestimmt war« (264). Katalin bricht aus dieser allgegenwärtigen Resignation aus, um in den Westen zu gehen. Sie lässt das politische System und das patriarchalische System hinter sich, um mit einem modernen Selbstbewusstsein ein neues Leben zu beginnen. René Kegelmann verweist in seiner Analyse des Romans auf die thematischen Besonderheiten im interkulturellen Beziehungsgeflecht zwischen Ungarn und Deutschland während und nach der Revolution. Laut ihm gibt es drei Zeitebenen innerhalb des Romans, die sich permanent ineinander mischen: das Revolutionsjahr 1956, in dem die Mutter nach Österreich flieht. Das Alter der Kinder ist nicht konkret angegeben, aber aufgrund mehrerer Hinweise im Text lässt sich herstellen, dass Kata etwa 6 und Isti der kleine Bruder 4 Jahre alt sind. Das nächste Datum ist 1961/62, als die Großmutter ihre Tochter im Westen besucht und die Kinder das erste Mal mehr über die Flucht ihrer Mutter erfahren. Die Geschichte endet zirka 1968, als Isti schon gestorben ist und Kata nach 12 Jahren ihre Mutter besuchen kann.3 Die Zeit wirkt im Handlungsverlauf verquer. Für Kata hat sie nach dem Verlust der Mutter den Rhythmus verloren: »Es war, als habe jemand alle Uhren zum Stehen gebracht, als liefe die Zeit für uns nicht weiter« (17). Die Sehnsucht und die Verlustängste verschleiern den realen Zeitablauf.

3

Kegelmann, René: Zu Formen fragmentarisierter Erinnerung in Zsuzsa Bánks Roman Der Schwimmer. In: Germanistische Studien VI (2007) 163-172. Hier: 167. http://nemet.ektf.hu/files/publ/gs_2007_kegelmann_r.pdf

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Später kommt Kata allerdings zu der Erkenntnis: »Das Komische war: Unser Leben ging weiter, obwohl meine Mutter uns verlassen hatte. Der Morgen kam, es wurde Nacht, und daß es so war überraschte mich nicht mehr. […] Mir kam es so vor, als würden wir etwas Unrechtes tun, als dürfte die Zeit nicht vergehen. Nicht so.« (25) Das Leben und der Alltag gehen zwar weiter, aber die Zeit hat etwas »Unrechtes« (25) bekommen. Sie bemerkt, dass sie der Zeit einen Sinn geben muss, anfangen muss etwas zu tun und auf eigenen Beinen zu stehen. Es gibt eine Verbindungen zwischen Körperbildern und den unterschiedlichen Erinnerungsprozessen der Romanfiguren, in dem die Erinnerung im Buch körperliche Spuren hinterlässt. Bei Kata wird ein unstrukturierter Zeitbegriff präsentiert, und es geht um ein individuelles Zeitempfinden, das jedoch einen Riss bekommt, indem die Mutter weggeht. So wie ihre Mutter will sie Spuren hinterlassen. Denn »von uns gab es keine Spuren«. (39) In der rückblickenden Erzählperspektive von Kata bleibt die Zeit ungeordnet: »Ob Jahre oder Monate – einen Unterschied macht es nicht, auch nicht, ob alles so zusammenhangt, wie ich mich erinnere, ob es uns wirklich so gegeben hat, wie ich es denke, uns oder die anderen« (207). Für Kata ist der Zeitverlauf zu dieser Zeit belanglos. In ihrer Erinnerung vermischen sich Traum und Realität, die sie nicht differenzieren kann und von der sie nachher nicht mehr weiß, ob wirklich alles so geschehen ist. In ihrem Artikel, »Vier Formen des Gedächtnisses« wird von Aleida Assmann die Unbeständigkeit des Gedächtnisses betont, dass »[…] Erinnerungen zum Flüchtigsten und Unzuverlässigsten gehören, das es gibt, indem sie die vielen möglichen Fehlleistungen, die beim Erinnern auftreten, empirisch austesteten und sorgfältig klassifizierten.«4 In Der Schwimmer wird eine sehr fragmentarische und lückenhafte Darstellung der Geschichte vorgestellt, die Erinnerungen der einzelnen Romanfiguren sind fragmentarisch in sich, ergänzen einander zwar, bleiben aber trotzdem nur Bruchstücke der ganzen Nachrevolutionsgeschichte. Diese fragmentarische, fehlende Chronologie erscheint als ein Bild der wirklichen menschlichen Erinnerung, wo manches erinnert und manches vergessen wird.

4

Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen Wissen Ethik. 13 (2002) 2. 184.

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Das Erinnern Die Erinnerungen sind also flüchtig und labil und treten vor allem nur als ein Auszug der Geschichte auf, so auch Aleida Assmann: »Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher. Erst durch Erzählungen erhalten sie nachträglich eine Form und Struktur, die sie zugleich ergänzt und stabilisiert.«5 Die von Assmann erwähnten »ausgeschnittenen und unverbundenen Momente« bilden zusammen die fragmentarische Geschichte von Der Schwimmer. Das Erinnern ist im Roman auf vier verschiedenen Ebenen anzuordnen. Die oberste Ebene ist als kulturelles Gedächtnis zu lesen, die durch identitätsrelevante Inhalte die Revolution 1956 darstellt. René Kegelmann macht in Bezug auf die nationale Geschichte darauf aufmerksam, dass in Bezug auf dieses historische Ereignis der Text mit einem bikulturellen Gedächtnis arbeitet6, weil sich Deutschland und Ungarn »anders« erinnern, die »gesellschaftlichen Langzeitgedächtnisse«, die den Gemeinschaften Identität absichern, mit anderen speziellen Speichermedien funktionieren.7 Die darunterliegende Ebene aus ihrer Erinnerung ist die des kollektiven Erinnerns im Handlungsgeschehen, wie sich die Familie an die eigene Geschichte innerhalb der Geschichte Ungarns erinnert. Durch die Flucht der Mutter bilden sie eine abgegrenzte Gemeinschaft von ungarischen Familien, die die Revolution auf der eigenen Haut erlebt haben. Die Ebene der kollektiven Erinnerung unterscheidet sich von der individuellen Ebene dadurch, dass sie nicht auf Vernetzung und Anschlussfähigkeit ausgelegt ist, sondern auf Abgrenzung, häufig auch als »Gegen-Gedächtnis« zu dem anderer Gemeinschaften.8 Dabei kann der Großmutter eine entscheidende Rolle zugeschrieben werden. Sie bringt immer wieder neue Informationen über die Mutter an die Kinder und Verwandten heran und lässt sie so nicht in Vergessenheit geraten. Die unterste Ebene ist das individuelle und isolierte Erinnern, das Tau-

5 6

Ebd. Kegelmann, 2007, 164. Kegelmann lehnt sich an Carmine Chiellinos Begriff des interkulturellen Gedächtnisses. Vgl. Chiellino, Carmine: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: Metzler, 2000.

7

Assmann, 2002, 189.

8

Ebd.

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chen. Beim Tauchen setzen sich Isti und der Vater mit ihren Erinnerungen auseinander. Hier geht es mir auch um eine Unterscheidung zwischen individuellem und kommunikativem Gedächtnis, letzteres kommt laut meiner These in den Erinnerungsstrategien von Kata vor. Die in Deutschland erschienenen Rezensionen über den Roman rücken den politischen Kontext (das völlig erstarrte Ungarn zwischen 1956 und 1968) in den Mittelpunkt und deuten ihn als Motivation für die Flucht der Mutter. Im Roman selbst wird nicht darauf hingewiesen, dass die Mutter politisch engagiert gewesen sei, doch das kollektive »Gegen-Gedächtnis«9 als Abgrenzung zu dem anderer Ungarn kommt zum Vorschein. Die Großmutter ist die Verbindung zur Mutter im Westen. Erst von ihr, die etwa 5 oder 6 Jahre später ihre Tochter im Westen besucht hatte, erfahren die Kinder konkrete Details über die Mutter und ihre Freundin Vali, über die Zeit im Lager und die Begegnung mit den Brüdern Pál und Árpád, die Arbeit in einer Fabrik irgendwo in Deutschland. Neben der kollektiven Erinnerungsgemeinschaft der Flüchtlinge werden auch durch den Blick der Großmutter, die das erste Mal im Westen ist, kulturell geprägte und zu Klischees neigende Beschreibungen geliefert, wo das kulturelle Gedächtnis über Ungarn in Deutschland nicht über Paprika, Puszta und Pálinka hinausreicht (160). Dieses kulturelle Gedächtnis, das nach Aleida und Jan Assmann zur Sicherung identitätsrelevanter Inhalte von Gemeinschaften geschaffen wird10, kann auch laut Kegelmann aufgrund zahlreicher realistischer Details in Bezug auf die ungarische Realität als ein bikulturelles Gedächtnis der 50er und 60er Jahre gelesen werden.11 Das Tauchen – Form des Erinnerns Harald Welzer bezeichnet das individuelle Gedächtnis als die »temporale Feedbackmatrix unseres Selbst«12. Erinnerung macht uns zu dem, was und wer wir sind: »Im Fall des menschlichen Gehirns haben wir es bei dem,

9

Ebd. 185.

10 Ebd. 189. 11 Kegelmann, 2007, 172. 12 Welzer, Harald: Gedächtnis und Erinnerung. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 2007, 57.

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was unser Bewusstsein und unser Gedächtnis bewegt […] mit sozial und kulturell gebildeten Bewusstseins-, Gedächtnis- oder Willensinhalten, die unsere Wahrnehmung von Welt (und damit auch das, was wir erinnern) nach Kriterien von Sinn und Bedeutung selektieren, [zu tun].«13 Der Prozess des Tauchens versinnbildlicht das isolierte Erinnern. Nach dem Verlust seiner Frau fällt Kálmán oft in eine Art Trancezustand. »Nicht einmal den Hund hörte er dann, der laut vor ihm bellte. Meinen Bruder Isti und mich schaute er an, als seien wir Fremde. Wir nannten es tauchen.« (8) Mit einem Bild seiner Frau in der Hand zieht Kálmán sich in diesen Dämmerzustand zurück. Es bleibt offen, ob dies ein Zustand ist, in den sich der Vater aktiv hineinbegibt, oder ob es ein unbewusster Ohnmachtszustand ist. Auch offen bleibt, ob sich der Vater während des »Tauchens« seinen Erinnerungen entzieht oder sich diesen stellt. Es wird aber deutlich, dass der Vater sich ausschließlich beim »Tauchen« mit seinen Erinnerungen auseinandersetzt, in einer bestimmten Art und Weise. Im Kollektiv kann er keine Erinnerungen zulassen. »Isti drängte Großmutter, und sie fing an von unserer Mutter zu erzählen. Mein Vater verließ beim ersten Wort das Haus« (126). So zieht er sich von der Konfrontation mit seiner Frau zurück, er lässt keinen an sich heran. Auch um seine Kinder kann er sich nicht richtig kümmern. Er und seine Kinder haben »etwas wie eine stille Abmachung getroffen, die uns verband. Unser Vater nahm uns mit, er suchte Häuser für uns, in denen sich irgendwer um uns kümmerte, und Isti und ich, wir fragten dafür nicht länger, wann unsere Mutter zurückkommen würde oder wann wir zu ihr fahren würden« (240). Der Vater interessiert sich nicht für die Sehnsüchte seiner Kinder, er lehnt das gemeinsame Erinnern, die Interaktion zwischen den sich erinnernden Personen ab, weil er selbst nicht mit seinen eigenen Erinnerungen und Ängsten umgehen kann. Das Schwimmen – Form des Vergessens und Flucht aus der Realität Das Schwimmen ist eine Grenzüberschreitung von einer bekannten Materie in eine unbekannte. Dabei lässt man die alltägliche Landwirklichkeit hinter sich und kann sich dem Wasser mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten hin-

13 Ebd. 155.

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geben. Das Schwimmen ist die Suche nach Orientierung und Verortung. Im Wasser finden Kata, Isti und Kálmán einen Rückzugsraum vor der tristen Realität, er ist unbeschwert und beim Schwimmen schleicht sich Familiengefühl ein. »Und dann schwammen wir hinaus, diesmal nebeneinander, auf gleicher Höhe, unser Vater kein bisschen schneller als Isti und ich« (224). Beim Schwimmen findet die Familie zusammen. Besonders Isti findet Zugehörigkeit im Wasser. Er will Schwimmer werden und macht das Wasser zu seinem Element, in dem er seine ganz eigene Welt kreiert. Mit jedem Gang ins Wasser verliert er mehr und mehr den Bezug zur Realität und es scheint als könne er sich mit jedem Rückgang an Land immer weniger in seine Umwelt rückintegrieren. Isti entfremdet sich zunehmend von seiner Familie. »Isti sah keine Gesichter mehr, er konnte sie nicht erkennen« (242). Wie auch unter Wasser alles trüb ist, sieht er auch an Land nicht mehr klar. »Isti hatte sich eine Fischwelt vorgestellt, aus Heinen und großen Fischen, und er wunderte sich, dass er jetzt nicht einen einzigen sehen konnte.« (80) Wie auch die Fische, sieht er die Menschen nicht. So beginnt Isti seine Welt zu hören. »In diesem Sommer fing Isti an, Dinge zu hören, die keinen Laut von sich gaben.« (72) »Wenn es still war, hörte er dem Wasser und den Fischen zu, die man nicht sehen aber hören könne, wie es mir Isti erklärte.« (84) Es wird deutlich, dass Isti nur noch in seinem Kopf lebt, er führt eine freiwillige Amnesie durch14, er konstruiert sich seine eigene Realität, in der er nur noch hört, was er hören will oder vorgibt zu hören. Diese Realität erschafft sich Isti um zu vergessen, die Erinnerungen an seine Mutter, die Verlustängste und seine Sorgen. Betrachtet man das Verhalten mit Assmanns Theorien zum kollektiven Gedächtnis, so entfernt sich Isti umso weiter von seinen Erinnerungen, je weiter er sich von seiner Familie entfernt, die diese Erinnerungen mit ihm teilt. Erinnerungen sind das Produkt von Kommunikation und Interaktion. Isti kommuniziert nicht mehr und will so seine Erinnerungen und Ängste vergessen. Vor allem will er die Gefühle und Empfindungen, die er mit diesen verbindet, nicht mehr ertragen müssen. »Isti sagte, er wolle das Weinen verlernen, er wolle aufhören damit« (230)

14 Le Goff, Jacques: Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer, 1992, 7.

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Besonders wichtig für das Erinnern sind Emotionen, mit denen die erlebte Situation verbunden ist: je stärker die Emotionen – positiv oder negativ – desto stärker die Erinnerung.15 Isti aber unterdrückt seine Gefühle, will das Erinnern verlernen. Sein Ziel scheint es zu sein, eine vollständige Metamorphose zu durchleben, vom Landleben über Amphibie bis zum Schwimmer. Das Wasser weitet sich über Istis ganzes Leben aus. Er kehrt nur noch physisch aus dem Wasser zurück, nicht aber psychisch. Das Landleben ist für ihn nicht mehr existent. Dies wird auch deutlich dadurch, dass er später mit Kleidung ins Wasser steigt. Isti scheint die Flucht aus der Realität zu gelingen. »Vielleicht hatte sich Isti sogar von allem verabschiedet, was er bislang gewesen war oder was wir bisher gewesen waren.« (180) Er wird in der realen Welt fremd. »Ich wußte nicht mehr, ob er schlief und träumte oder ob er wachte, und ich sollte es ihm sagen, aber wenn ich erklärte, du bist wach, wir reden doch, deine Augen sind offen, fing Isti an zu weinen und fragte, warum lügst du, ich schlafe doch.« (242) Isti kann Traum, Realität und Fantasie nicht mehr unterscheiden, wie auch das Wasser und Land Elemente geworden sind, zwischen denen er nicht mehr differenzieren kann. Um vergessen zu können, hat er die Realität gegen eine Traumwelt eingetauscht. Die Realität ist ihm egal geworden. »Isti war es jetzt gleichgültig, was geschah, mit uns, mit ihm, mit mir. Er nahm die Dinge, wie sie kamen.« (189) Auch gegenüber seiner Mutter zeigt er Gleichgültigkeit. »Kata Ringlos hörte auf zu sein, weil Isti es so wollte.« (189) In der Welt, die er sich erschaffen hat, existiert er nur alleine, ohne Erinnerungen an die Mutter, die keinen Platz in der neuen Realität hat. Zuletzt findet Isti den Tod im Wasser, welches ihn so lange seelisch hat überleben lassen. Es ist eine Erinnerung an seine Mutter, die ihn einholt. »Er habe sie übers Wasser laufen sehen, seine Mutter, und er habe ihr bloß folgen wollen.« (277) Die überhöhte, Jesus gleiche Darstellung der Mutter zeigt, was für einen Stellenwert sie noch immer in Istis Leben hat. Sie steht für das Heilige und Gute, das Isti in seinem Leben braucht, deshalb will er ihr folgen, und findet den Tod auf dem zu dünnen Eis.

15 Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, 160.

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Das Schwimmen – Form des Selbstständig-Werdens Man kann davon ausgehen, dass man über einen wesentlich größeren Erinnerungsvorrat verfügt als den, auf den man sich im täglichen Leben bezieht, da nur ein minimaler Anteil kommunikativ umsetzbar ist. Vieles bleibt im Unterbewussten und wird erst durch Anstöße von außen ins Bewusstsein gerückt. Erinnerungen sind kein Spiegel, keine Abbildung der Realität, sondern werden ständig selektiert und modifiziert.16 Kata reflektiert ständig ihre Erinnerungen, ihr Gedächtnis entsteht in der Kommunikation, es ist dynamisch. Aleida und Jan Assmann sprechen vom kommunikativen Gedächtnis statt vom individuellen, um die Bedeutung der Interaktion zu betonen.17 Diese Interaktion erhält aber auch eine andere Form: Nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, beschließt der Vater, dass die Kinder schwimmen lernen sollen. Schwimmen bedeutet, sich in der Gesellschaft behaupten zu können, sich seine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten. »Niemand konnte schwimmen, wenigstens nicht dort, wo wir gelebt hatten. Nur mein Vater.« (20) Die Bewohner des Dorfes nehmen alles so hin wie es kommt, ohne zu reflektieren oder sich aufzuraffen etwas zu ändern. Kata und Isti sollen ohne ihre Mutter selbstständig werden und auf eigenen Beinen stehen. Der Schwimmer kämpft immer allein und besonders gegen sich selbst. Er lässt seine Erinnerungen und Sorgen zurück und wird unbeschwert. Die Grenzüberschreitung ist der Sprung aus der resignierten, politisch unterdrückten Gesellschaft in eine freiere bessere Welt. So kann man sagen, dass all die Bewohner und Verwandten, die vor ihrem Leben resigniert haben, gescheiterte Schwimmer sind. Die Grenze könnte dabei auch die geographische Grenze Ungarns sein und die unbekannte Materie der Westen. In der Figur des Schwimmers wird der Unterschied zwischen kommunikativem und individuellem Gedächtnis deutlicher. Kata und Isti gehen auf andere Art mit den Erinnerungen um, und werden auf unterschiedliche Weise zu Schwimmern. Isti im Wasser und in seinen Träumen und Kata an Land.

16 Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses, 186. 17 Ebd. 184.

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Isti schwimmt um zu vergessen, um die Erinnerungen, die ihn umgeben, auszublenden. Dabei flüchtet er vor seiner Umwelt und vor seiner Familie. Er schwimmt von seinen Erinnerungen davon, wird aber zuletzt doch von der am meist belastenden Erinnerung an die Mutter eingeholt, die ihm letztlich den Tod bringt. Kata wird zur Schwimmerin in der Gesellschaft. Sie lernt mit den Erinnerungen, Sorgen und Verlustängsten umzugehen. An ihnen reift sie zu einer selbstbewussten Person heran, die ihr Leben in die Hand nehmen will und es ihrer Mutter gleichtun und aus der Resignation und Unterdrückung ausbrechen und schwimmen will. Ihr kommunikatives Gedächtnis bringt ihr bei, mit den kollektiven und sogar den kulturellen Erinnerungen umzugehen.

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2.10 J ULI Z EHS D IE S TILLE IST EIN G ERÄUSCH ALS G EDÄCHTNISMEDIUM UND R EISEERZÄHLUNG ÜBER B OSNIEN -H ERZEGOWINA Als Folge des »spatial turn« der Kulturwissenschaften und des Interesses an Raumkonzeptionen kam es zu einer Auseinandersetzung mit Reiseliteratur. Der Reisebericht ist eine »hybride Gattung«,1 denn ihn kennzeichnet »ein eigentümliches Oszillieren zwischen Fiktion und Diktion, ein Hin- und Herspringen, das es weder auf der Produktions- noch auf der Rezeptionsseite ermöglicht, eine stabile Zuordnung zu treffen.«2 Narratologisch gesehen sind die Repräsentationen des Fremden im Reisebericht Plot-Elemente. Bei der besonderen Verbindung von »loci« (Reisestationen) und »imagines« (Identitätsbilder) spielt neben dem kulturellen Wissen auch das kulturelle Gedächtnis eine wichtige Rolle. Eine Fokussierung auf die von den »postcolonial studies« aufgezeigte Verbindung von Macht und Kultur hat sich bei Reiseliteratur wie bei Romanen über fremde Weltregionen als besonders ertragreich erwiesen. Auch der Reiseerzählung ist eine »hohe Bedeutung bei der Herausbildung imperialer Einstellungen, Referenzen und Erfahrungen«3 beizumessen. Andererseits wird in der Reiseliteratur aber auch das dialektische Moment im Revidieren und Modifizieren der Alteritätskonstruktionen und in der Verschränkung der Selbstund Fremdbildlichkeit aufgezeigt. Besonders bei männlichen zeitgenössischen Autoren lässt sich eine »eurozentrische Pose des Alles-Verstehens und des intellektuellen Vereinnahmens«4 beobachten, die auf einer Wahrnehmung, Beurteilung und Erzeugung des Fremden nach eigenkulturellen

1

Kohl, Stephan: Reiseromane / Travelogues. Möglichkeiten einer »hybriden« Gattung. In: Maack, Anegret / Imhof, Rüdiger (Hg.): Radikalität und Mäßigung. Der englische Roman seit 1960. Darmstadt 1993, 149-168.

2

Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist 2001, 38.

3

Said, Edward: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a. M. 1994, 14.

4

Lützeler, Paul Michael: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur, in: ders. (Hg.): Schriftsteller und »Dritte Welt«. Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen 1998, 7-30, hier 21.

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Wertvorstellungen beruht. In kulturgeschichtlicher Perspektive weist Reisen eine enge Beziehung zu kriegerischen Konflikten auf; durch die Fremdheit des Schauplatzes erscheint die Bedrohung des Individuums oder der Gemeinschaft noch existentieller. Etwa im Ersten Weltkrieg gingen »Krieg« und »Reiseliteratur« eine enge Verbindung ein. Sieht man von Peter Handkes Sommerlichem Nachtrag (1996) ab, stellt Juli Zehs Die Stille ist ein Geräusch5 die erste breitenwirksame literarische Auseinandersetzung eines deutschsprachigen Autors mit BosnienHerzegowina nach dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens dar. Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung musste das Werk die Erinnerung an die Reiseerzählungen Handkes und die damit einhergehende Polemik wachrufen. Zwangsläufig trat Zeh damit in den politisch und medial stark aufgeladenen und in literarischer Hinsicht bislang von Handke besetzten Diskurs über den Zerfall Jugoslawiens ein. Dies war, so könnte man meinen, ein nicht ungeschickter Coup einer jungen Autorin, die nach ihrem preisgekrönten Debütroman Adler und Engel (2001) bereits als »Fräuleinwunder« gehandelt wurde, um sich als Schriftstellerin und Intellektuelle an der Schnittstelle von Literatur und Politik zu etablieren. In den Massenmedien und von der Politik kamen gerade bei diesem Thema die »Balkanismen« als hegemoniale Muster diskursiver und narrativer Art verstärkt zur Anwendung. Danach steht der Balkan für barbarisch, aggressiv, halbzivilisiert, halborientalisch, halbentwickelt und intolerant.6 Dieser »mediopolitische Diskurs«7 bildet den Hintergrund zu den literarischen Texten über den Jugoslawienkrieg. Dabei wurde für den erwünschten Erkenntnisgewinn auch vor Zeh schon eine »Suspendierung des ›Verstehens‹« verlangt:

5

Zeh, Juli: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt nach Bosnien. Frankfurt a. M. 2002. (Zitiert mit Seitenangabe im Text.)

6

Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 470-493.

7

Link, Jürgen: Luftkrieg und Normalismus. In: Wende, Waltraud »Wara« (Hg.): Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen. Würzburg 2005, 388-401, hier 392.

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»Im Hinblick auf den postjugoslawischen Krieg sollte eigentlich eine Art invertierter phänomenologischer Reduktion gelingen, und man sollte die Vielzahl der Bedeutungen in Klammern setzen, den Reichtum der Spektren des Vergangenen, der uns erlaubt, eine Situation zu ›verstehen‹. Man sollte der Versuchung zu ›verstehen‹ widerstehen, und es sollte eine Geste gelingen homolog zu jener, den Ton eines Fernsehgeräts abzustellen.«8

In diesem Sinne will auch Zehs Erzählung einer Reise verstanden werden, die mit Zug, Bus und Mietauto samt Hund Othello über Leipzig, Wien, Maribor und Zagreb nach und durch Bosnien-Herzegowina führt. Der Text ist eine in 24 Kapitel unterteilte Reiseerzählung, die eine vermutlich nicht fiktive Reise mit fiktionalen Mitteln und narrativen Verfahren darstellt. Als durchgehende Strategie sticht das Erzählen im Präsens mit Verzicht auf Vor- und Rückblenden ins Auge. So kann der Eindruck entstehen, als gäbe es nahezu keinen zeitlichen Abstand zwischen dem Erleben und dem Erzählen, zwischen Welt und Sprache, als gäbe es keine Instanz einer retrospektiven Sinnstiftung. Dieses Hintanstellen der narrativen Überformung der Erfahrungen signalisiert den Anspruch auf Unmittelbarkeit, den Wunsch, sich über das Sein der Welt »erstaunen« zu lassen: »Ich bin wieder Kind und wachse heran innerhalb weniger Stunden, staunend darüber, wie die Welt ist« (S. 46). Auch die Idee einer vorbereitenden Planung war von der Erzählerin mit einer Mischung aus Ignoranz und Fatalismus im Vorfeld verworfen worden: »Es gibt eben Dinge im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann« (10). Ohne die Erzählerin wirklich als »kindlich« bezeichnen zu wollen, gibt es in dieser gewollten Naivität mit eingeschränktem Überblick und geringem Abstand vom Geschehen doch Übereinstimmungen mit dem Typus einer »kindlichen Erzählfigur«.9 Zählt etwa Ingrid Bachers Erzählung Sarajewo 96 (2001) zu jenen Werken über den Zerfall Jugoslawiens, die eine »Selbstfindung im Licht

8

Žižek, Slavoj: Zynismus als Form postmoderner Ideologie. in: Frankfurter Rundschau, 17.8.1995.

9

Finzi, Daniela: Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Literatur. Tübingen 2013, 195f.

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des Anderen«10 unternehmen, so ist Juli Zeh bemüht, Bosnien-Herzegowina und seine jüngere Vergangenheit gerade nicht als Projektionsfläche für innerdeutsche Diskurse und Werte fungieren zu lassen. Das Gemeinsame, nicht das Trennende, wird in den Vordergrund gestellt, jegliche Dichotomisierung zwischen Eigenem und Fremdem und jeglicher Balkanismus wird vermieden. Etwaiges Fremdheitspotential von Land und Leuten wird vom erlebenden und erzählenden Ich weitgehend entschärft. Fremde Bräuche erscheinen nicht fremdartig, sondern höchstens ungewohnt. Die Fremdartigkeit wird vielmehr im eigenen Verhalten entdeckt: »Schon wieder vergesse ich, die Schuhe auszuziehen« (34); oder das Fremde wird im eigenen Körper situiert, wenn der Rucksackreisenden nach ihrer ersten Übernachtung im bosnischen Travnik die Augen »wie Fremdkörper im Gesicht« (75) sitzen oder wenn sie in Sarajevo durch die Straßen geht, »als hätte jemand« ihren »Körper ausgeliehen, um eine Weile damit herumzulaufen« (75). Die in Mostar abgeschickte Postkarte oder – im Adressfeld wird lediglich »Deutschland« eingetragen – »Flaschenpost« lautet: »Bin in Mostar. Hier ist es nicht anders als anderswo« (52). Dieser Versuch der Reisenden, eine Differenzierung zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu unterlaufen, geht jedoch insofern nicht auf, als sie von den verschiedenen Menschen, die sie trifft, stets als Deutsche und meist als »Aus-Deutschland-wieschön« (83) wahrgenommen und immer wieder mit ihrem Fremdbild konfrontiert wird: »Wenn jemand mit Hund ein Restaurant betreten will, sagt Dario, weiß man sofort: Das ist ein Deutscher. Oder wenn jemand davon ausgeht, es habe sich auf dem Balkan um einen Krieg aus Völkerhass gehandelt.« (31) Mit der Ankunft in Sarajevo, mit der »Autopsie« der kesselförmigen Anlage der Stadt und mit der Lektüre über den Bosnien-Krieg kommt die Reisende schließlich nicht umhin, jenes Moment, das sie von den Menschen rundherum trennt, anzuerkennen:

10 Bachmann-Medick, Doris: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: dies (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen u. a. 2004, 262-296, hier 266.

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»Ich kenne das Gefühl nicht, durch alles, was man für sich braucht, einem anderen etwas wegnehmen zu müssen, Nahrung, Wasser, Kerzen, Brennholz, Öl. Jede Zigarette, jede Tasse Kaffee wird zu einer, die jemand anderes trinkt oder raucht. Wenn man gemeinsam etwas zu bewachen hat, ist selbst der Schlaf gestohlen aus einem Topf, der allen gehört.« (75)

Zahlreiche Hinweise des Textes unterstützen die Vermutung, dass die Haltung des anfänglichen Nichtwissens über das Reiseland, seine Geschichte und den Krieg eine strategische Entscheidung der Autorin für ihre Erzählfigur ist, dass sie sich selbst aber ausführlich mit der Tradition der Reiseliteratur und mit den Kritikpunkten der postkolonialen Literaturtheorie auseinandergesetzt hat.11 Der Text ist nicht nur eine Reiseerzählung über Bosnien-Herzegowina, sondern auch eine Auseinandersetzung mit diesem Genre. So spielt gleich die einführende Bezeichnung des Reiselandes als »Herz« der »Finsternis« auf Joseph Conrads 1899 erschienene Erzählung Heart of Darkness an; und so heißt es am Ende des Textes: »Wer die Hölle überleben will, muss die Temperatur annehmen« (263). Die Vertrautheit der Autorin mit Formen-, Tropen- und Topoi der Abenteuer- und Reiseerzählungen, wie sie sich im Zuge der kolonialistischen Expansionsbewegungen herausgebildet und inzwischen ihre Unschuld verloren haben, lässt sich auch an der Schilderung der Ankunft in Mostar erkennen: »Ich sehe alles gleich zugleich, die ganze Stadt auf einen Blick, als hätte ich rund um den Kopf einen Kranz von Augen, jedes zweite mit Röntgenfunktion.« (43) Abgewandelt und parodiert wird hier der »koloniale« Blick, die olympische Perspektive. Anstatt sich in einer vertikalen Ordnung zu verorten und den totalen Überblick zu suggerieren, setzt sich die Reisende dem visuellen »overkill« aus, ohne die einzelnen Momentaufnahmen in ein Bild fügen zu können. So ist es nicht verwunderlich, dass auch das narratologisch zentrale Moment von Abenteuer- und Kolonialerzählungen, die Kontaktaufnahme,12 Eingang findet. Auf der Zugfahrt von Maribor nach Zagreb »nicken und lä-

11 Finzi (s. Anm. 9), 197. 12 Scherpe, Klaus: Die First-Contact-Scene, In: Neumann, Gerhard / Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, 149-164.

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cheln« der Erzählerin zwei Mitreisende zu: »Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen gelungen, auch wenn es erst mal Kroaten sind« (13). Und als sie Dario, den sie nach Jajce begleitet, kennen lernt, heißt es: »Ich starre Dario an wie einen Außerirdischen. Mein erster Bosnier, mein erster echter Bosnier. Er sieht gut aus« (22). Einen unverzichtbaren Bestandteil der traditionellen Reiseliteratur stellen Landschaftsbeschreibungen dar; und wie ungeplant und arbiträr der gesamte Reiseverlauf auch anmutet, ist es wohl kein Zufall, dass die Erzählerin die bosnische Landschaft ausgerechnet mit Afrika vergleicht. Abgegriffene Bilder werden dabei vermieden, um mit Sarkasmus und überraschenden Metaphern das spontan Erblickte ohne Pathos in Poesie überführen zu können.13 Der fragmentarischen Kurzskizze, die in der Beschreibung der geschauten Landschaften und Dinge dominiert, entspricht auf visueller Ebene das Verfahren des Schnappschusses und auf narratologischer die Unmöglichkeit geschlossener Erzählbögen. Srebrenica wird nur S. genannt, was den Effekt der Leere verstärkt.14 Dieser Stadt steht der volle Name nicht mehr zu. Schon den Weg nach S. zu finden, erweist sich als beinahe unmöglich; die Karten führen in falsche Richtungen, Hinweisschilder gibt es nicht. Die Stadt selbst liegt jenseits der Zeit: »Wenn die letzten Tage von Srebenica vor sechs Jahren stattgefunden haben – was haben wir heute? Die hinterletzten Tage von S.?« (232) Der Ort wird unter dem Blick der Betrachterin zwischen Glasfronten und Betonfassaden zusammengepresst. Die erzählerische Verweigerung wird hier zugespitzt und der Fokus vom Wie der Darstellung auf das Was gelenkt, das jedoch in einer Negation besteht: »Es gibt nichts zu sehen und davon reichlich. Kaum Autos. Keine Geschäfte, keine Parks, keine Cafés. Keine Häuserfronten.« (233) Es ist eine Stätte der Leblosen, des Nicht-Mehr, der wortlosen Geschichten. Nur einzelne Blickkontakte mit den Bewohnern kommen zustande, die aber nicht in Begegnungen überführt werden, einzelne visuelle, akustische oder olfaktorische Wahrnehmungen, die außer der Unmöglich-

13 Rakusa, Ilma: Ein Augenschein im versehrten Land. Juli Zeh reist nach Bosnien und schildert ihre Eindrücke. In: Neue Zürcher Zeitung, 17. 9. 2002. 14 Thomas, Katja: Poetik des Zerstörten. Zum Zusammenspiel von Text und Wahrnehmung bei Peter Handke und Juli Zeh. Saarbrücken 2007, 109 f.

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keit, etwas wahrzunehmen, nichts bezeichnen. Was zu erzählen verweigert wird, dies freilich erschließt sich für den Leser ohne Kenntnisse des Massakers sowie der Lebensbedingungen in der »Enklave« nicht. Als durchgängiges Verfahren sticht die akustische Schilderung der Landschaft ins Auge oder besser: ins Gehör. Die »Stille«, die Eingang in den Buchtitel gefunden hat, durchzieht den Text in ganz unterschiedlicher Weise: als Herzschlag, als Wind oder als die eigene Stimme beim Denken. Dafür wird der Text von einem sprudelnden Quell an Reizen geflutet: »Ich fühle mich wie einer, der am Ufer eines Flusses sitzt und mitzuschreiben versucht, wie viel Wasser vorbeifließt – und was für welches.« (71) Diese Reize werden synästhetisch miteinander verwoben.15 So werden Geräusche nicht nur beschrieben, sondern lautmalerisch in den Sätzen hörbar und fühlbar gemacht wie »das Geräusch von Taubenfüßen, die hart über das Aluminiumfensterbrett kratzen« oder »das elektrische Sirren der Hitze« (138). Die Reisende erlebt Bosnien-Herzegowina aber auch schmeckend, riechend und tastend: »die Gerüche, welche mich anfallen von allen Seiten, vermischen sich zu Gestank« (44). Diese gesamtkörperliche Wahrnehmung, die Literatur zu einem »Element im Spiel des MateriellLeiblichen«16 macht, lässt sich als Kritik an der Tradition der westlichen Zivilisation lesen, Wirklichkeit primär visuell zu konstituieren. Auch dies ist eine Distanzierung von der eurozentrischen Pose der Vereinnahmung. Eine mehrdimensionale sinnlich-rezeptive Wahrnehmung ermöglicht eine Erkenntnis jenseits projektiver Verkennung. Um etwas über den Krieg und seine Ursachen zu erfahren, ist die Reisende, die alles Ausfragen vermeidet, auf das Mitteilungsbedürfnis ihrer Gesprächspartner angewiesen. Dass Stimmen unaufgefordert zu Wort kommen, bleibt die Ausnahme. Dazu angehalten, ihre Fragen zu formulieren, wird sich die Reisende bestimmter Vorannahmen bezüglich des Krieges, seiner Ursachen und seiner Folgen bewusst. Dieses Spiel mit Wahrnehmungsmodi und Verschiebungen nimmt einen zentralen Platz im Text ein. Auch hierbei lassen sich konstruktivistische und systemtheoretische Erkenntnistheorien erkennen. Sowohl in Sarajewo als auch in Mostar äußert die Erzählerin ihre Überraschung über die unabhängige Existenz der jewei-

15 Ebd. 111-115. 16 Neumann, Gerhard / Weigel, Sigrid: Einleitung, in: dies., 2000, 9-16, 15.

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ligen Stadt; solche Passagen verweisen in ihrer Überspitztheit auf die Wahrnehmung als Konstruktionsvorgang. Bereits zu Beginn wird dem Hund das Reisevorhaben dargelegt: »Vor etwa acht Jahren, als du noch klein warst, fragte mein Bruder einmal, wo die Städte Moslemenklavebihac und Belagertessarajevo liegen. […] Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist.« (11)

Dies verweist auf den Trugschluss, dass das, was medial nicht präsent ist, gar nicht existiere, und auf jene die Wirklichkeit konstituierende Kraft, die »Mental Maps« zukommt.17 Die für den Bosnien-Krieg dominante »mentale Landkarte«, so wird zu Recht suggeriert, ist eine massenmedial vermittelte, welche die Raumvorstellungen unweigerlich mit Bildern vom Krieg verschmelzen lässt, die bestimmten Opfer-Täter-Narrativen entsprechen. All das versucht der Text zu vermeiden, auch wenn es der Reisenden nicht immer gelingt. Dass dieses Scheitern eingestanden oder ironisch aufgelöst wird, nimmt den Lesenden für die Autorin ein. Wo jedoch dieses Eingeständnis fehlt, bleibt der Text mitunter in seiner Flapsigkeit banal. In Sarajevo, dem »Setzkasten europäischer Erinnerungsstücke«, verlieren sich für die Erzählerin sämtliche Gegensätze, die sie aber mit »Moslems und Christen, Kathedrale und Synagoge, Westen und Osten, Verwahrlosung und Eleganz« (67) doch wieder herstellt. Der darauf folgende Entschluss, »System in die Sache« (64) zu bringen und das Wahrnehmen und Erleben einem Fragenfilter zu unterziehen, könnte angesichts der »Banalität der Beobachtung« nicht besser motiviert sein. Dabei handelt es sich um Fragen, die einer anderen Taxonomie als der intersubjektiv nachvollziehbaren entsprechen und die einmal mehr die Naivität und Unfokussiertheit der Reisenden inszenieren: »Wo wachsen die Melonen. Wie grün ist der Neretva-Fluss. Warum war hier Krieg. Wer hasst wen und wie sehr« (67) – »Warum gibt es keinen McDonald’s?« (70) Im Gespräch mit der UNO-Mitarbeiterin werden die jugoslawischen Parameter auf deutsche umgelegt, womit der hegemoniale, nicht etwa ethnische, Charakter des Krieges aufgezeigt wird, denn Zeh spielt damit auf den

17 Finzi (s. Anm. 9), 201.

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deutschen Föderalismus und die verspätete Nationbildung der Deutschen an:18 »›Ich bin am Rhein geboren‹, sage ich, ›und lebe in Sachsen. Meine Eltern sind Schwaben, die Mutter wohnt in Bonn, der Vater in Berlin, während mein Bruder in München wohnt und bald nach London zieht.‹ […] ›Wenn die Bayern mit Hilfe der Schwaben gegen Sachsen und Berliner um die Grenze zu streiten beginnen, auf welcher Seite soll ich kämpfen?‹« (212)

Zeh verfolgt eine doppelte Strategie. Zum einen lässt sie Vertreter unterschiedlicher Nationalitäten – Kroaten, Bosnier, Serben (ausschließlich Männer) und Deutsche – zu Wort kommen und das Erklärungsmodell eines jeden als partikular erscheinen. Zum anderen wird in den Reflexionen der Erzählerin über das Gehörte und Erfahrene die Widerlegung des ethnischen Kriegserklärungsnarrativs betrieben. Dabei übt sie Kritik an der blinden Zusammenführung von Augenzeugenschaft, Wirklichkeit und Wahrheit. »Am Ort des Verbrechens zu stehen«, so die Erkenntnis der Erzählerin, »ändert nichts« (158). Einzig einen Berg, der ihren Blick erwidert, lässt sie am Ende ihrer Aufzeichnungen in ironischer Verkehrung der Fetischisierung dieser vermeintlichen Wahrheitsgarantie als Augenzeugen gelten. Mit der Figur der verständnislosen Journalistin, die über kritisches Infragestellen nur lachen kann, wird demonstriert, dass jedes Verstehen weniger vom Objekt, als vom Verstehenden selbst abhängt: »Sie ist still. Endlich. Noch eine halbe Minute Gelächter und ich hätte behauptet, Serben, Moslems und Kroaten seien eine Erfindung Westeuropas.« (143) Problematisch wird es dann, wenn das subjektive Wahrnehmen und Interpretieren als objektive Berichterstattung mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftritt, der von einer breiten Öffentlichkeit auch zugestanden wird. Diese »dicke Journalistin« personifiziert geradezu die Medien, denn mit ihrem massigen Körper verstellt sie ganz Bosnien: »Ich drehe mich um, der Türrahmen wird ausgefüllt von der dicken Journalistin […]. Sie lässt Sonne, Himmel und ganz Sarajevo hinter ihrem Rücken verschwinden.« (76) Diese Körperfülle der Journalistin muss allegorisch für die Massenmedien herhalten, die den Blick auf das Land verstellen, von dem sie berich-

18 Ebd. 201.

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ten. Auch die Schilderung des feinfühligen und kultivierten Franzosen Monsieur Pescaran, dem in Mostar stationierten Presseoffizier der SFOR, bleibt reichlich eindimensional und dabei den traditionellen Stereotypen verhaftet. Zehs vorsätzliche Vermeidung ethnischer oder religiöser Stereotypen in der Figurendarstellung entspricht womöglich einem »Balkanismus« mit umgekehrten Vorzeichen, der die Trennlinien zwar nicht innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens zieht, aber ebenfalls auf einer binären Matrix basiert. Der Gestus der Unvoreingenommenheit und der Unwissenheit kann auf den Versuch zurückgeführt werden, den Anderen nicht in einer exotischen Andersheit festzuschreiben und problematische Traditionslinien des Genres sowie stereotype Balkanbilder zu unterlaufen oder zu überwinden. Diese Intention und die Erkenntnis, dass Wahrnehmung und Repräsentation Bosnien-Herzegowinas nicht den innerpolitischen Prämissen Deutschlands unterliegen, verdienen sicherlich würdigende Beachtung. Mit dem Bemühen, keine Täter-Opfer-Narrativen voranzutreiben und dem damit einhergehenden Verzicht auf Schuldzuweisungen, womit er als Versuch »politisch korrekter« Literatur lesbar wird, kann der Text aber auch als Desavouierung der Opfer verstanden und kritisiert werden.

3. De/Konstruktion von Alterität (Schluss)

Nicht nur die im Rahmen dieser Studie notwendige Einschränkung auf bestimmte Fragehorizonte und ausgewählte Autorinnen, sondern auch die Aktualität und die gesellschaftspolitische Relevanz von Gender- und Migrationsthematik machen an dieser Stelle ein abschließendes Resümee geradezu unmöglich. Darüber hinaus ist diese Arbeit nicht primär ergebnisorientiert im Sinne einer Alteritätsästhetik angelegt, sondern möchte ein Diskussionsfeld eröffnen, an das weitere Arbeiten angeschlossen werden können. Insofern bietet die hier entworfene Poetik der Alterität keinen Normenkatalog, der stilistische und sprachliche Kennzeichen, ästhetische Verfahren, Motive, Themen festlegt. Eine Prämisse der Arbeit bestand darin, sie mithilfe von Denkformen der Mischung, des Gewebes, der Vernetzung, die in den Cultural-, Postcolonial- und Gender Studies entwickelt wurden, voranzutreiben. Barbara Frischmuth, E. S. Özdamar, Ágota Kristóf, Terézia Mora, Anna Kim, Zsuzsa Bánk, Marlene Streeruwitz, Elfriede Jelinek und Judith Hermann setzen sich in jeweils unterschiedlicher Weise mit verschiedenen Formen von Alterität auseinander. Sie reflektieren dabei die Schwierigkeiten, diese literarisch zur Darstellung zu bringen. Ihre Werke lassen sich als Allegorien der Unmöglichkeit lesen, das jeweils thematisierte Andere kohärent und eindeutig in klaren Konzepten zu fassen und entsprechend zu repräsentieren. Weder die Bildersprache, noch das fremde Land oder der brutale Krieg, und auch nicht die sozialen Außenseiter sind präzis zu definieren und werden daher auch nicht als schlüssige Andersheiten inszeniert. »Andersheit« funktioniert in allen behandelten Werken als ein symmetrischer Entwurf, der im Verlauf der Beschreibung kollabiert. Sie wird zuerst als absolut gesetzt, dann aber wird sie dekonstruiert. Die Auseinander-

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setzung mit Alterität lässt sich im Umgang mit der literarischen Form und Gattung (Streeruwitz, Kim, Kristóf), in der inhaltlichen Reflexion (Frischmuth, Özdamar) und im Gebrauch von diskursiv verfügbaren Ideologien (Mora, Bánk, Hermann, Jelinek) beobachten. Einige Mechanismen, durch die das »Andere« verarbeitet und dekonstruiert wird, lassen sich anhand der Textanalysen ansatzweise benennen: referentielle Vervielfältigung des Subjekts, Schwächung der Autorfunktion, terminologische Permutation, Fragmentierung, intratextuelle Einbettungen, Verdoppelungen, Heterogenität der Gattung, Hybridisierung der Stilformen, Montage und Collage, Polyphonie unterschiedlicher Erzählstimmen, metaphorische Codierung. Bei allen acht Lektüren lassen sich vergleichbare Ergebnisse formulieren: Die Problematik der Repräsentation von Alterität hat jeweils poetologische Konsequenzen. Die Texte sind alle mehr oder weniger hybrid. Sie bewegen sich zwischen Reisebericht, Autobiographie, Tagebuch, Roman, Bilderbuch, Bildungsroman und sekundären Textsorten (z. B. Gedichten). Der Text verzweigt sich in verschiedene Haupt- und Subformate, Erzählstimmen und Zitate und löst sich stilistisch, fremdsprachlich und typographisch auf. Man könnte sagen, das Schwinden der Differenz kommt zustande durch die Auflösung der generischen und narrativen Geschlossenheit des Textes. Die Unmöglichkeit, Alterität literarisch zu konfigurieren, äußert sich in erster Linie formal. Wie schon in Kapitel 1 erläutert, finden Lektüren, die am literarischen Text die Konstruktion und Dekonstruktion von Alterität und Differenz zu beobachten beabsichtigen, bei verschiedenen Theorien Ansätze: Narratologie, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Diskursanalyse und Postkolonialismus. Zu hoffen ist aber auch, dass diese Lektüren ihrerseits Rückwirkungen auf die theoretische Ebene haben und so zur Theorieentwicklung beitragen. Diese theoretischen Konsequenzen der Textanalysen können freilich hier nicht explizit elaboriert werden, sondern sind als Perspektiven weiterer Forschungsarbeit zu verstehen. Anschluss kann diese Forschung bei der Hypothese finden, dass die Auseinandersetzung mit Alterität als eine spezifisch postkoloniale Form der Wahrnehmung und der Darstellung, als poststrukturalistische Ästhetik und Poetik der Alterität gelesen werden könnte, auch wenn es einzugestehen bleibt, dass bei allen Bemühungen, das Andere auch in die eigene Arbeits- und Denkweise zu übernehmen, sich immer wieder Momente und Positionen der Fixierung und hierarchischen Dichotomisierung in den Reflexionsprozess einschleichen. Doch können diese

D E/K ONSTRUKTION

VON

A LTERITÄT (S CHLUSS ) ǀ 197 197

Lektüren zu einer Differenzposition führen und eine »Systemlücke« öffnen. Die Differenz, von der aus wir operieren, konstruiert durch den Abstand zum Objekt und in Anlehnung an Denkformen der Mischung keinen festen Ort, sondern ist ein bewegter Prozess, der als Deutung instabil ist. Eine derartige Differenzperspektive macht Alteritätskonstellationen neu lesbar.

4. Bibliographie

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Stefan Hajduk Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit Juli 2016, 516 S., kart., 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3433-4 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3078-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

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Literaturwissenschaft Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3179-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2502-8 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2502-2

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 1 Juli 2016, 216 S., kart., 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3415-0 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3415-4

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