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German Pages 760 Year 2013
Geschichte der ungarischen Literatur
Geschichte der ungarischen Literatur Eine historisch-poetologische Darstellung
Herausgegeben von Ernő Kulcsár Szabó
isbn 978-3-11-018422-8 e-isbn 978-3-11-024110-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort des Herausgebers Editorische Hinweise I I.1
XI
XVII
Ältere ungarische Literatur (Péter Ötvös) 1 Einführung: Charakteristik der älteren ungarischen Literatur 1 I.2 Die Anfänge: Literatur in lateinischer Sprache 3 I.2.1 Literatur in ungarischer Sprache. Zwischen Oralität und Schriftlichkeit: Halotti beszéd (Die Grabrede) 7 I.2.2 Das erste lyrische Gedicht in ungarischer Sprache: Ómagyar Mária-siralom (Die altungarische Marienklage) 10 I.2.3 Historische Epik 14 I.2.4 Das Problem der ritterlich-höfischen Dichtung in Ungarn. Das sogenannte virágének (Blumenlied) 16 I.2.5 Ein Beispiel für die frühe Satire: die Cantilena des Ferenc Apáti 18 I.2.6 Preislied der Familiares: das Lied des László (Ladislaus) Geszti 20 I.3 Der Humanismus in Ungarn 22 I.4 Erasmus von Rotterdam in Ungarn und die Türkenfrage. Gattungen der Propaganda der Reformation 29 I.4.1 Gattungen der historischen Epik im 16. Jahrhundert 37 I.4.2 Die Leser und das Schrifttum in der Reformation: Gáspár Heltai (Kaspar Helth, um 1500–1574) 39 Exkurs 1: Leibarzt und Hofhistoriker: János Zsámboky (Johannes Sambucus) 42 I.4.3 Versuch zur Selbsterkenntnis im Dienst der neuen Kirche: Péter Bornemisza (1535–1584) 43 I.5 Der erste große Lyriker auf ungarischem Boden: Bálint Balassi (1554–1594) 48 I.5.1 Der Nachfolger von Balassi und Begründer seines literarischen Kultes: János Rimay (um 1570–1631) 54 Exkurs 2: Über die Auslandsstudien ungarischer Studenten. Wege zur europäischen Bildung 59 I.6 Europäischer Horizont und ungarische Ferne: Albert Szenci Molnár (1574–1634) 61 Exkurs 3: Martin Opitz in Siebenbürgen 67
VI
I.7 I.8 I.9 I.10 I.10.1 I.10.2 I.11
II II.1 II.2 III III.1 III.1.1
III.1.2 III.2 III.2.1 III.2.2 III.2.3
III.2.4 III.2.5 III.2.6
III.3
Inhalt
Kontroversliteratur, Theologie und Volkserziehung: Péter Pázmány (1570–1637) 70 Dichtung, Politik und Treue zum Vaterland: Miklós Zrínyi (1620–1664) 75 Gelehrte höfische Barockdichtung: István Gyöngyösi (1629–1704) 80 Memoirenliteratur: Miklós Bethlen (1642–1716) 83 Bekenntnisse und Denkschrift des Fürsten Ferenc Rákóczi II. (1676–1735) 87 Der treue Diener: Kelemen Mikes (1690–1761) 89 Die Ausstaffierung der Worte und die neue Formkultur in der ungarischen Dichtung: Ferenc Faludi (1704–1779) 91 Die dichterische Sprache als Ausdrucksmittel. Klassizismen, Rokoko, Empfindsamkeit (István Fried) 96 Auf dem Weg zur Ausdifferenzierung des literarischen Systems. Klassizismen in Ungarn 96 Polemiken um die Literatursprache. Die Spracherneuerung 115 Kunstzentrierte Entfaltung des Literarischen. Die klassische ungarische Literatur 1825–1890 (Pál S. Varga) Klassizismus und Romantik 133 Schaffung einer lyrischen Sprechweise durch Deformation archaischer Redeweisen: die Lyrik von Ferenc Kölcsey (1790–1838) 133 Kölcseys Theorie der Nationalliteratur im Zeichen der Singularität der Großsubjekte 137 Entfaltung der romantischen Literatur 140 Besonderheiten der ungarischen Romantik 140 Paradigmen kollektiver Identität: Hungarus-Intelligenz, Adelsnation und Traditionsgemeinschaft 143 Sprachliche Konstitution des Ichs, der National- und Universalgeschichte durch Umwandlung und Kombination mythischer Topoi: Mihály Vörösmarty (1800–1855) 150 Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit 168 Aufstieg des Romans 177 Expansion und Multiplikation des lyrischen Ichs im Zeichen einer ‚dichterischen Umgangssprache‘: Sándor Petőfi (1823–1849) 183 Die Spätromantik 202
133
Inhalt
III.3.1 III.3.2
III.3.3
III.3.4 III.3.5 III.3.6
IV IV.1 IV.2 IV.3.1 IV.3.2 IV.4.1 IV.4.2 IV.5 IV.6 IV.7 IV.8 V
V.1 V.1.1 V.1.2 V.2
VII
Von Sándor Petőfi zu János Arany: Auswirkung der ,passiven Resistenz‘ – Rückzug des Lyrischen 202 Volkspoesie, Intertextualität, Architextualität als Vorgegebenheit nationaler Epik und singulärer Selbstaussprache: János Arany (1817–1882) 208 An der Grenze der Beherrschbarkeit der Sprache. Ironische Kritik der Durchsetzung romantischer Subjektivität: János Vajda (1827–1897) 234 Im Spannungsfeld von Romanze und Tendenzroman: Mór Jókai (1825–1904) 236 Der historische Roman als Verschmelzung historischer Horizonte: Zsigmond Kemény (1814–1875) 248 Spätromantische Deformation der romantischen Menschheitsdichtung: Imre Madách (1823–1864) 256 Die Wende zur Moderne 1882–1895 (György Eisemann) 264 Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit und Veränderung der künstlerischen Wahrnehmungsweise 264 Die Wende der kleinepischen Gattungen zur Moderne 266 Anekdotismus, Historie und Multikulturalität in Werken von Kálmán Mikszáth 267 Detektivstory und Reportage in der Hochliteratur 272 Einflüsse des Naturalismus 275 Feuilletonnovelle – dramatische Novelle 277 Narration und Subjektivität 279 Kunst, Mythos, Medialität 280 Verdoppelung, Verwandlung, Phantastikum 281 Lyrik nach János Arany 284 Ästhetisierung der Sprache. Klassische Moderne zwischen Metaphysik des Artistischen und Neusituierung des Subjekts (um 1895–1932) (Csongor Lőrincz) 292 Jahrhundertwende: Gesellschaft, Kultur, Politik. Lebensweltliche Muster und Paradigmen der literarischen Kommunikation 292 Anschlüsse an die Moderne – Konzepte der Modernität 296 Die Zeitschrift Nyugat (1908–1941) 299 Strömungen der Lyrik zwischen Spätromantik und unpersönlicher, ‚remedialisierter‘ Dichtung. Die beiden Hauptstränge der klassisch-modernen Lyrik in der ungarischen Literatur 307
VIII
V.2.1 V.2.1.1
V.2.1.2 V.2.2 V.2.2.1 V.2.2.2 V.2.2.3 V.2.3 V.3 V.3.1 V.3.1.1 V.3.1.2 V.3.1.3 V.3.2 V.3.2.1 V.3.2.2 V.3.2.3 VI
Inhalt
Ichhafte und subjektivitätszentrierte Lyrik 310 Symbolismus und Aufwertung des innovativen dichterischen Subjekts: zwischen etablierter Rolle und Auflösung der instituierten Sprechsituation 310 Das unglückliche Bewusstsein der Dichtung: die auf sich zurückreflektierte lyrische Individualität 319 Ästhetizistische und gegenständliche Dichtung 321 Im Zeichen des Schönen: Ästhetizismus und das artistische Subjekt 321 Erneuerung und Umdeutung der lyrischen Spätromantik 331 Antike Dichtungstradition und Neoklassizismus der Gegenwart 340 Das Ich als Dichter und die Stimmen der Gemeinschaft 344 Wege des Erzählens zwischen Naturalismus und polyphonen Narrationsmodi 346 Simulative und kausale Erzählwelten 349 Naturalismus und realistische Versöhnung im Sog der Sprachspiele 349 Kultur, Erziehung und narrative Identitätsfindung 355 Psychologische Prosa 358 Metaphorische und diskursive Erzählmodi 358 Jenseits des Psychologismus 358 Spannungen der Poetik der Erinnerung und erzählerischer Identitätsmodelle 369 Intellektualistische Prosa 375
VI.8
Materialisierung der Sprache: Strömungen der Historischen Avantgarde 1915–1929/1938 (Zoltán Kékesi) 381 Fünf Zeitschriften – fünf Strategien 381 Die aktivistische Frühavantgarde (1915–1920) 386 Die Literatur der materialisierten Sprache (1920–1926) Intermediale Experimente 397 Die Medialisierung der Wahrnehmung 403 Drama und Theater nach 1920 407 Die Dichtung und die Medialisierung der Wahrnehmung um 1926/27 410 Wege aus der Avantgarde 414
VII VII.1
Medialisierung des Literarischen (Ernő Kulcsár Szabó) Die Spätmoderne (1931/32–1960/1970) 419
VI.1 VI.2 VI.3 VI.4 VI.5 VI.6 VI.7
419
392
Inhalt
VII.2
VII.2.1 VII.2.2 VII.2.2.1 VII.2.2.2 VII.2.3 VII.3 VII.3.1 VII.3.2
IX
Medialisierung der Sprache, Desanthropologisierung, ‚Biologisierung‘ und ‚Technisierung‘ des Blicks vom Text: Lyrik in der Spätmoderne 430 Strömungen und Interferenzen 436 Unsichtbare Bilder und Verflüchtigung des Bekenntnishaften 443 Lőrinc Szabó (1900–1957) 445 Attila József (1905–1937) 455 Abklang und Kontinuitätsbruch: Wege der Lyrik bis zur Wende der 1960er zu den 1970er Jahren 465 Laterale Strukturbildung und konfigurative Ich-Konzepte: Erzählprosa in der Spätmoderne 476 Sándor Márai (1900–1989) 486 László Németh (1901–1975) 493
VIII.A
Im Sog des Schrifttextes. Der literalistic turn in der ungarischen Nachmoderne ab 1960/1970 (Péter Szirák) 502 VIII.A.1 Herausbildung eines neuen Sprachverhaltens und Erneuerung der literarischen Diskursregeln. Übergangsperiode 1960–1986 502 VIII.A.2 Wege der Erzählprosa 506 VIII.A.2.1 Der neue Horizont der Parabelhaftigkeit (Géza Ottlik und Miklós Mészöly) 506 VIII.A.2.2 Die Neuschreibungen der Parabel: Reduktion, Diskontinuität, Selbstspiegelung, Intertextualität, Medialisierung 514 VIII.A.2.3 Uminterpretieren der Gattungen und Diskurse: Familienroman und Erinnerungsroman 526 VIII.A.2.4 Zitationstechnik und rewriting: postmoderne ‚Flicktexte‘ 533 VIII.A.2.5 Fragmentiertheit und Montage: die (post)moderne Kurzgeschichte 540 VIII.A.2.6 Multiplikation der Rollen und Perspektiven: Erinnerungsroman und autobiographischer Roman 542 VIII.A.2.7 Der neue historische Roman – im Netz von Texten 548 VIII.B VIII.B.1 VIII.B.2 VIII.B.3 VIII.B.4
Zwischen Sprachkritik, Neuer Sensibilität und ‚Poesis memoriae‘. Lyrik nach 1960/1970 (Zoltán Kulcsár-Szabó) 555 Epochenwandel? 555 Lyrik und Sprachkritik 561 Medialität 572 Poesie der Materialfehler 580
X
Inhalt
VIII.B.5 VIII.B.6 IX IX.1 IX.1.1 IX.1.2 IX.1.3 IX.2 IX.2.1 IX.2.2 IX.2.3 IX.3
Subjektivität 582 Perspektiven der Dichtkunst nach 1989
589
Wege der Moderne: Drama und Theater (Gabriella Kiss) 600 Theater als Kunst: Herausbildung des Regietheaters 600 Jenseits der Meininger 601 Die schauspielpädagogische Funktion des bürgerlichen Lachtheaters 603 Wege der Kunsttheater-Bewegung 607 Vision und Wirklichkeit: jenseits der historischen Theateravantgarde 616 Theaterexperimente um 1920 617 Politisches Theater: die Tradition der doppelt metaphorischen Dekodierung 618 Das Politische Schreiben: Neoavantgarde und „Zensur“ 622 Vollendung und Ende des postbürgerlichen Illusionstheaters 625
Biogramme Zeittafel
629 646
Ungarische Literatur in deutscher Sprache Bildnachweis
696
Namensregister Titelregister
697 715
Zeitschriftenregister
741
666
Vorwort des Herausgebers Die vorliegende – derzeit selbst in Ungarn nicht verfügbare – Darstellung der ungarischen Literaturgeschichte verfolgt einen wirkungsgeschichtlich ‚gesteuerten‘ Vorgang historisch-poetologischer Veränderungen in der literarischen Schreibweise und Kommunikation. Diese werden in zwei Leitaspekten verankert: Untersucht werden einerseits der Wandel der literarischen Sprachverwendung (einschließlich der in ihr implizierten historisch-anthropologischen Subjektkonstrukte), andererseits die Formen historischer Kulturtechniken, die der Literatur die jeweiligen Bedingungen von Vermittlung zwischen Produktion und Rezeption zur Verfügung stellen. Hierbei liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der breiter verstandenen Moderne, einer Epoche, in welcher der ungarischen Literatur ein höchst produktiver und singulärer Umgang mit europäischen Themen und Horizonten sowie eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vorgeschichte gelang. Neben diesem methodologischen Angebot wird möglicherweise zum ersten Mal ein systematisches Bild von der Geschichte der ungarischen Literatur vermittelt, das von ideologischen und kulturellen Verzerrungen weitgehend frei ist. Die Darstellung dieser gut 800-jährigen Geschichte erfolgt hier in klarer Gliederung des literarischen Gesamtgeschehens und wird zugleich – um der besseren Übersichtlichkeit gerecht zu werden – durch einen in Nachschlagewerken üblichen Ausstattungsapparat (Anlagen, Register, Zeittafel usw.) ergänzt. Literaturgeschichtsschreibung war schon immer – sowohl vom eigenen Anspruch als auch von den äußeren Erwartungen her – ein mit Sicherheit zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. „Die bisherigen Literaturgeschichten“ – schrieb René Wellek 1970 – „sind entweder Kulturgeschichten oder Sammlungen kritischer Aufsätze. Die eine Art ist keine Geschichte der Kunst, die andere keine Geschichte der Kunst“ (Wellek 1973, 515–517, hier 515). Unlängst sah sich auch Stephen Greenblatt genötigt, angesichts der nachhaltigen Herausforderung des Literarischen einzuräumen, daß es eine komplexe, unvermeidliche und entscheidend wichtige Verflechtung unserer eigenen literarischen Normen und Interessen mit denen, die die Textspuren der Vergangenheit geformt haben, gibt. In der Literaturgeschichte geht es immer um die Beziehung zwischen den Bedingungen, die das literarische Werk für diejenigen, die es schufen, möglich machten, und den Bedingungen, die es für uns selbst möglich machen. Insofern ist Literaturgeschichte immer die Geschichte der Möglichkeit von Literatur. Aus diesem Grund gibt es keine einzelne, isolierte Literatur-‚Geschichte‘, und es wäre schwierig sich vorzustellen, wie eine solche Geschichte aussehen sollte. (Greenblatt 2000, 29)
Seitdem philologische Disziplinen ganz ohne Ursprünge und Endzwecke der philosophisch „enthaupteten“ Geschichte (Kittler 2001, 137) auskommen müssen, ist die von den hegemonialen Strukturen großer Erzählungen befreite Literatur-
XII
Vorwort
geschichtsschreibung geneigt, Kontingenzen des Peripherischen, Fragmentierten, Partialen, Episodischen und Anekdotischen zu entdecken und ‚enthierarchisierte‘ Diskurse historischer Darstellung anzusteuern. Das heißt, der methodologische Überdruss an den großen Erzählungen, die als einheitliche sinnbildende Systeme seit dem linguistic turn nach und nach in Misskredit geraten sind, mündete spätestens in den 1980er Jahren – deutlich angeregt vom ‚postmodernen‘ Disseminations- und Heterogenitätsdenken – in eine grundsätzliche Skepsis gegenüber jedweder theoretischen Hierarchiebildung. An die Stelle scharfer Grenzziehungen zwischen Zentralem und Peripherem, zwischen der Autorität des Kanonisierten und der Fragilität des Kontingenten drang somit ein gegen Systemzwang vermeintlich immunisierter ‚fröhlicher Positivismus‘, der nicht mehr um den Preis der Auslöschung der Subjektivität nach ‚objektiven‘ Ereigniszusammenhängen sucht, sondern sich vornehmlich einer möglichst heterogenen Datenerfassung, das heißt der Archivierung von kulturellen Ereignissen diversen Ursprungs verpflichtet fühlt. In der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung aktiviert dieses Vorgehen einen archivierenden Blick, der die ‚zugänglichen‘ Daten auf ein nach eingebautem Zufallsprinzip zu betätigendes System hin zu erfassen sucht, das dem Interpreten ermöglichen sollte, Ereigniszusammenhänge jenseits aller subjektiven Bezugnahme als etwas verbindlich Identisches wahrzunehmen und ganzheitlichen Ordnungsprinzipien zuzuordnen. Diese Umstände sollten mithin der Interpretation dazu verhelfen, unverbindliche Sachverhalte zu entdecken und im selben Akt sogar asystematische Konstellationen der Dinge zu erschließen. Obwohl einem prozedural derart ‚aufgeweichten‘ Positivismus neuerer Art die unaufhebbaren Differenzen der Identität der Dinge weniger entgehen mögen und – infolge der ins System eingebauten Kontingenz – sogar der Horizont des Immer-Anders-Möglichen offen bleiben mag, kann dennoch auch dieses Modell die Folgen der ausgebliebenen Selbstsituierung des archivierenden Blickes nicht eliminieren. Denn selbst Momentaufnahmen wie A New History of French Literature (1989), die sich von den kleinsten Einzelmomenten auf ein mögliches Totalgeschehen zubewegen, vermögen nicht glaubhaft zu machen, dass sich die äußerst weit gefasste Optik ihres kulturell kodierten Blickes über das Problem der eigenen wirkungsgeschichtlichen Situiertheit hinwegsetzen könnte. Auch wenn sie vorgibt, nach dem Zufallsprinzip durch Entgrenzung erweiterte und sogar sich durchkreuzende epistemologische Felder der (Kultur-)Geschichte unvoreingenommen und ohne selektive Vorentscheidungen zu durchstreifen, bleibt ihre erkenntnistheoretische Prämissenbildung gleichwohl in den Koordinaten der herkömmlichen Subjektproblematik insoweit gefangen, als sie die Frage nach der Medialität jeder verstandenen Wahrnehmung ständig unproblematisiert lässt. Es bleibt dabei nämlich die sprachlich-mediale Vermitteltheit der
Vorwort
XIII
Erfahrung ausgeblendet, die jeden zugänglichen Überrest der kulturellen Vergangenheit „erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandelt“ (Koselleck 1979, 204 bzw. 282) und auf diese Weise zu einem Dokument macht. Und zwar zu einem solchen, dem jede Möglichkeit entzogen wird, als eine unwillkürlich hinterlassene Spur zutage zu treten, weil es – indem es von dem Überrest vermittelt zeugt – nur etwas zur Erfahrung bringt, das nicht mit ihm (und deshalb auch nicht mit sich selbst) identisch ist. Denn die archivierenden Techniken der „dichten Beschreibung“ (Geertz), welche Spuren einer konfigurativen Bewegung kultureller Impulse, Tauschakte und Transformationen erfassen sollen, werden von einer Lesart betätigt und gesteuert, die die Bedingtheit der Interpretierbarkeit von Spuren nur innerhalb einer formalen Struktur der Subjektivität wahrnimmt. Gerade deshalb verdeckt sie jene Vorentscheidung, welche die Archivierung zu einer ‚horizontunabhängigen‘ Spurensicherung erklärt, die die cartesianischen Defizite der Subjektivität dadurch wettzumachen glaubt, dass sie alle lesbaren Spuren als eine quantitative Vielfalt epistemologischer Gleichwertigkeiten vor den interpretierenden Blick führt. Eine Literaturgeschichte also, deren Darstellungen sich nach kulturgeschichtlichen Momentaufnahmen richten, deren Ausgangspunkt die jeweilige Faktualität der einzelnen Daten ist, läuft unausweichlich Gefahr, statt einer auch anders möglichen Erstellung von Ereigniszusammenhängen gegenüber offen zu bleiben, in die traditionellsten Sackgassen histori[sti]scher Interpretation zu geraten. Denn indem sie die lesbaren Produkte vergangener Diskurse als Überreste einer kulturellen Tradition versammelt, schließt sie im Prinzip – wie dies in A New History of French Literature der Fall ist – weitere mögliche Daten zwar nicht aus, lässt sich jedoch die Chance entgehen, die Partialität des historischen Verstehens nicht einfach mit den begrenzten Möglichkeiten des Subjektes zu erklären, sondern von der Zugehörigkeit jedes Verstehens zur unabschließbaren Geschichtlichkeit des Verstandenen herleiten zu können. Von einer wirkungsgeschichtlichen Erfahrung nämlich, die einen nicht formaloptischen Einblick in die Seinsweise des Historischen gewährt, der die Geschichte sozusagen als eine richtig oder falsch erfassbare Welt vergangener Gegenständlichkeit aufzuspüren hat, sondern in der Wirklichkeit der Zeitlichkeit etwas erst erfassen kann, indem er sich verstehend in sie einfügt. Da begegnet die Geschichte nicht mehr als aufzulösendes Rätsel unbefragter Daten, sondern im Horizont einer temporalen Erfahrung (zwischen Unbekanntem und Vertrautem), welche die Einsicht nahelegt, dass die (historische) ‚Wiedererweckung‘ jeglichen Textsinnes immer schon nur über aktiv mitwirkende aktuelle Verstehensinteressen möglich ist. Damit erklärt sich dann eines der rätselhaftesten (und zugleich faszinierendsten) Phänomene der Literaturgeschichte, dass bestimmte klassische Texte einer Literatur sogar Fragen des Selbstverständnisses der späteren Rezeption beantworten kön-
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Vorwort
nen, an die zur Entstehungszeit des Werkes sein Autor aus epistemehistorischen Gründen nicht einmal hätte denken können. Dem angemessen sollte die Darstellung dieser neuen ungarischen Literaturgeschichte, die grundsätzlich einen wirkungsgeschichtlichen Vorgang historisch-poetologischer Veränderungen in der literarischen Schreibweise verfolgt, im Sinne der ständig ins Spiel gebrachten hermeneutischen Differenz gestaltet werden. Zu überbrücken war dabei ein für die literaturgeschichtliche Wirklichkeit (und somit für jede historische Periode wie auch für die Periodisierung überhaupt) jeweils konstitutiver Unterschied, der zwischen den Erfahrungs-, Denk- und Fragehorizonten der vorausgehenden historischen Perioden und denen der jeweiligen Gegenwart notwendigerweise besteht. Der Literaturbegriff also, dessen sich diese neue ungarische Literaturgeschichte bedient, unterliegt einem sachlich geltend gemachten wirkungsgeschichtlichen Konzept, welches sich somit auch dafür eignet, selbst den historischen Wandlungen des ‚Literarischen‘ gerecht werden zu können – von der Mündlichkeit und vom allgemeinen ‚Schreibenkönnen‘ (eruditio, 15.–17. Jahrhundert) über die sich allmählich ausdifferenzierende ‚Belletristik‘ (17.–18. Jahrhundert) und die diskursive Gleichstellung der fiktionalen Literatur bis hin zu artistisch gestalteten, oft selbstreferentiellen Texten des Ästhetizismus der Moderne. Um dies in angemessener Komplexität zu bewerkstelligen, sollte die laufende Darstellung – wie bereits angedeutet – ständig in zwei konsistenzbildenden Aspekten fundiert werden: Verfolgt wurden einerseits der Wandel der Sprachverwendung (einschließlich der in ihr implizierten Subjektkonstrukte), andererseits – soweit dies aufgrund der bezüglichen Grundlagenforschung möglich war – die Formen der Kulturtechniken, welche die jeweilige Vermittlung zwischen Produktion und Rezeption gewährleisten. Mit einbezogen wurden dabei von Zeit zu Zeit Textgruppen, die nicht in jeder literaturhistorischen Periode dem ‚literarischen‘ Korpus zugehörten. Frühe juristische, historische und weitere pragmatische Texte wurden nur dann als der Literatur zugehörig behandelt, wenn sie im Literaturbegriff ihrer Zeit enthalten waren. Genauso wird auf nicht ungarischsprachige Werke vor allem dort nachdrücklich Bezug genommen, wo infolge der territorialen Kriterien der kulturellen Zugehörigkeit die Nationalsprachlichkeit noch nicht zum wesentlichen Maßstab des Literarischen erhoben wurde. Erst nach der parallelen Herausbildung von Kriterien der neuzeitlichen Literarizität (Fiktionalität, Originalität, Innovation), also etwa von den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an, kann mit einem sich verfestigenden Diskurs des Literarischen gerechnet werden, der noch der Moderne ihre institutionellen Koordinaten vorgab und dessen kontinuierliche Geltung erst in Werken der sogenannten Nachmoderne ihre erste Infragestellung erfuhr. In Zweifel gezogen wurden dabei – von Péter Esterházy bis András
Vorwort
XV
Ferenc Kovács – vor allem Kriterien der Originalität und teilweise der (als unmöglich angesehenen) Innovation. Die in dieser Weise in den Vordergrund gerückte Dichtungsgeschichte verläuft aber ganz bestimmt nicht unabhängig von historisch-sozialen Veränderungen: Jeder Erneuerung der ästhetischen Erfahrung gehen Umbrüche in der Wahrnehmung von Wirklichkeit voraus, die nicht selten über neue mediale Techniken der Vermittlung zwischen Mensch und Welt gar den Zugang zur Wirklichkeitserfahrung selbst jeweils anders zeitigen. Diese umfassenden Wandlungen in der Diskursivität historischer Welterfahrung wurden ständig mitberücksichtigt, wobei ‚das Literarische‘ eine gegenseitige diskursgeschichtliche und ästhetische Erweiterung erfahren musste, die übrigens auch über die Grenzen drängt, die nationale und linguistische Konstrukte ‚des Ungarischen‘ ihr setzen wollen. Denn die Kontextualisierung der historischen Paradigmen in den sich nach großen poetologischen Perioden richtenden Prozessdarstellungen verläuft nicht isoliert und zentriert, sondern als Teil der und in Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit der Manifestationsformen des Sprachlichen in den ‚Literaturen‘ der Welt. Auf Autorenporträts einer erzählenden Literaturgeschichte im herkömmlichen Sinne soll hier also zugunsten der dichtungsgeschichtlichen Vorgänge verzichtet werden. Die narrative Darstellung behält jedoch ihre Dominanz insofern, als sie vor allem die verhältnismäßig eigenständige Dynamik wirkungsgeschichtlicher Vorgänge im Bereich des Literarischen zu erfassen hat, indem sie die jeweilige temporale Seinsweise der literarischen Wirklichkeit erschließt und vor Augen führt. Eine einheitliche Darstellung herausragender Klassiker, die über das rein Biographische hinausgeht, bleibt jedoch in den Fällen notwendig, in denen ein Lebenswerk bedeutende wirkungsgeschichtliche Ausstrahlung hat und nachvollziehbare Wirkung auf wichtige Rekanonisierungsvorgänge ausübt. Weitere bedeutende Autoren werden im laufenden Text durch Fettschrift hervorgehoben, je nachdem, wo, wie und in welcher Hinsicht ihre Werke oder Werkgruppen auf wichtige dichtungsgeschichtliche Vorgänge Einfluss genommen haben. Besondere Aufmerksamkeit wird solchen kanonischen Umordnungen gewidmet, die bestimmte Autoren nachweislich dadurch in die Position eines Klassikers gebracht haben, dass sich ihre Werke beim Eintreten neuer Epochenschwellen entweder durch neue Sinngebung durchsetzten oder erneut in der Vordergrund rückten, allerdings durch Aufwertung von Werken, die bis dahin nur eine randständige Position im Kanon innehatten. Wandel dieser Art sind nämlich Teil eines Vorgangs, der grundsätzlich von einem temporal verlaufenden transhistorischen Dialog von Texten in Bewegung gehalten wird und somit nachvollziehbar macht, dass die Wirklichkeit der Literaturgeschichte, die erst in dieser interaktiven Gegenseitigkeit in ihre Existenz tritt, nie in Form eines
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Vorwort
endgültigen und verbindlichen Kanons zum Stillstand kommen kann. Dementsprechend gilt es, das historische Augenmerk ständig und nachdrücklich auf die jeweilige literarische Gegenwart zu richten, denn allein ihre Aktivitäten können eine Interaktion von Heute und Gestern in Bewegung setzen und dadurch die oben beschriebene Gegenseitigkeit in eine lebendige Beziehung der Wirkungsgeschichte verwandeln. Dies gilt besonders angesichts der sich immer schneller ändernden Dispositionen des Funktions-, Speicher- und Gegenkanons im heutigen literarischen Diskurs, die höchstwahrscheinlich Zeichen dafür sind, dass diese Literaturgeschichte selbst Produkt einer in absehbare Nähe gerückten neuen Epochenschwelle sein könnte. Umso wichtiger erschien es uns, sie in einer methodologischen Zwischenposition zu verankern, die die Literaturgeschichte weder einer Beliebigkeit der ideologischen Kanonbildung noch einer rekonstruktiven Historisierung der Tradition preisgibt. Ein besonderer Dank der Verfasser dieses Buches gilt Annamária Gombos (Széchényi Nationalbibliothek Budapest), Christina Kunze (Humboldt-Universität zu Berlin), Dr. Stephan Krause (Universität Szczecin/GWZO Leipzig) und Dr. Tamás Lénárt (Loránd-Eötvös-Universität Budapest). Sie haben durch ihren hohen Sachverstand sehr hilfreich und mit stetigem Engagement zum Gelingen dieses äußerst zeitaufwendigen Unternehmens nachhaltig beigetragen. Der Herausgeber
Literatur Greenblatt 2000 = Greenblatt, Stephen: Was ist Literaturgeschichte? Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kittler 2001 = Kittler, Friedrich: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink. Koselleck 1979 = Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Wellek 1973 = Wellek, René: Zur methodischen Aporie einer Rezeptionsgeschichte. Geschichte, Ereignis, Erzählung. München: Fink (Poetik und Hermeneutik, 5).
Editorische Hinweise Im gesamten Text werden Fußnoten nur sparsam verwendet, auf weiterführende Literatur wird mit einer Kurzform (Autor Erscheinungsjahr, ggf. Seitenzahl) verwiesen. Vollständige Titel der verwendeten Fachliteratur bzw. eine Auswahl der zur jeweiligen Epoche gehörenden Forschungsliteratur finden sich jeweils am Ende der Kapitel. Der Anhang enthält eine Zeittafel mit den wichtigsten Daten und Ereignissen der politischen Geschichte und der Kulturgeschichte Ungarns, kurze Biographien der wichtigsten Autoren der ungarischen Literaturgeschichte („Biogramme“), eine Auswahlbibliographie ungarischer Literatur in deutscher Übersetzung sowie ein Namen-, ein Titel-, und ein Zeitschriftenregister. Im Hinblick auf die langen und engen Beziehungen der deutschen und der ungarischen Schriftkulturen kann die Bibliographie keine Vollständigkeit bieten, die Auswahl konzentriert sich in erster Linie auf die deutschen Übersetzungen der im Band behandelten Werke und Autoren, auf Sammelbände und Anthologien ungarischer Literatur in deutscher Sprache bzw. auf die schon vorliegenden und vollständigeren Bibliographien zu den deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen. Die Auswahlbibliographie lädt das deutsche Publikum zur weiteren Lektüre der vorgestellten ungarischen Autoren ein und legt zugleich Zeugnis ab von den wichtigsten Etappen der deutschen Rezeption ungarischer Literatur. Im Text werden ungarische Personen-, Institutions- und Ortsnamen gemäß der ungarischen Orthographie geschrieben. Vor- und Zunamen werden jedoch in der im deutschen Sprachraum üblichen Reihenfolge gesetzt (in Ungarn steht der Vorname immer [ohne Komma] nach dem Familiennamen). In einigen Fällen werden, dem internationalen Diskurs entsprechend, die deutschen Varianten des Vornamens bevorzugt (z. B. Georg Lukács statt „Lukács György“, aber Ferenc Kazinczy und nicht „Franz Kazinczy“ oder „Kazinczy Ferenc“). Bei Orten mit Namen in mehreren Sprachen steht der ungarische Name nur dort, wo dafür historische Gründe vorliegen, während die anderen Varianten ebenfalls angegeben werden (z. B. steht im Fall des lange Zeit zur ungarischen Krone gehörenden Košice Kassa, Kaschau, heute Košice in der Slowakei, für die österreichische Hauptstadt steht jedoch Wien und nicht, wie in Ungarn üblich, „Bécs“). Die Titel ungarischer Werke werden kursiviert und immer im ungarischen Original angegeben. Es folgen ggf. das Entstehungsjahr und das Jahr der Erstveröffentlichung der deutschen Übersetzung. Liegt eine publizierte deutsche Übersetzung des jeweiligen Werkes vor, steht der deutsche Titel auch kursiv, gefolgt vom Publikationsjahr der deutschen Übersetzung und dem Namen des Übersetzers (z. B. [László Nagy:] Gyöngyszoknya; Perlenrock bzw. [Ferenc Kölcsey:] Kívánság, 1810; Wunsch, 1825, J. Mailáth). Um die Lesbarkeit des Textes nicht zu
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Editorische Hinweise
beeinträchtigen, werden einige Teile eines Titels ggf. weggelassen bzw. im Falle häufig genannter Titel nicht wiederholt. Die Liste der im Text zitierten Werke sowie Angaben zur weiterführenden Forschungsliteratur befinden sich am Ende des jeweiligen Kapitels. In den Literaturangaben bzw. in der Auswahlbibliografie ungarischer Literatur in deutscher Übersetzung werden folgende Kürzel verwendet: „H“ – Herausgeber; „E“ – Einleitung (von); „N“ – Nachwort (von); „B“ – Bearbeitet (von); „Ü“ – Übersetzer. Die Erklärung zur weiteren Abkürzungen (etwa von Zeitschrifttiteln bzw. Sammelbänden) befindet sich in der jeweiligen Literaturliste. Ausschnitte aus lyrischen Texten (und in besonderen Fällen, wie etwa dem Sprachdenkmal Halotti beszéd [Grabrede], aus Prosatexten) der ungarischen Literatur werden auch im ungarischen Original zitiert, um dem deutschsprachigen Leser die Rhythmik und den spezifischen Aufbau des Ungarischen nicht vorzuenthalten. Die deutschen Übersetzungen werden, falls es für die Argumentation des jeweiligen Kapitels nötig ist, durch erklärende Rohübersetzungen ergänzt. Die Orthographie der in ungarischer Sprache zitierten Texte folgt der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung. Dem heutigen Leser schwer zugängliche Schreibweisen und Formen werden generell modernisiert, die zeitspezifischen orthographischen Besonderheiten und Anomalien jedoch beibehalten.
I Ältere ungarische Literatur I.1 Einführung: Charakteristik der älteren ungarischen Literatur Die Eigenart und Dauer der sogenannten älteren ungarischen Literatur ist an sich ein diskussionsbedürftiger Gegenstand. Der Terminus ‚ältere ungarische Literatur‘ umfasst nämlich eine ganze Periode, in der die deutsche Literaturgeschichte schon zwischen älterer und mittlerer Literatur differenziert. Demgegenüber sind die ungarischen literarischen und kulturellen Ereignisse etwa bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eher einheitlich als verschieden zu nennen, da die Literatur vor allem in anderen Diskursen artikuliert wurde, beispielsweise im religiösen, politischen, pädagogischen, historiographischen oder juristischen. Im Mittelpunkt der Diskussionen der 1960er Jahre (die Arbeit an der Ungarischen Literaturgeschichte in 6 Bänden begann in den frühen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, der erste Band erschien 1964, vgl. MIT 1964–1966) stand die Frage, ob mit der Renaissance auch in der ungarischen Literatur eine wesentlich neue Periode begonnen habe (diese Ansicht stützte sich auf Werke und literarische Programme, welche die aktuellen rhetorisch-poetischen Ideale in Europa im Grunde ohne Phasenverschiebung übernahmen) oder ob Charakteristika weiterwirkten, welche die Literatur in Ungarn von den Anfängen bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein als einheitliches Gebilde bestimmten. Die Werke, die von ungarländischen Autoren (aber nicht immer auf ungarischem Gebiet) z. B. in nächster Übereinstimmung mit dem literarischen Programm der neolateinischen humanistischen Dichtung, mit der ars historica der Renaissance bzw. mit dem Programm der petrarkischen Liebesdichtung verfasst wurden, waren wirklich von aktuellem europäischem Rang (auf die hier erwähnten Autoren wird noch näher eingegangen), Janus Pannonius, Johannes Sambucus, Bálint Balassi fanden aber nur wenige, wenn nicht keine oder allenfalls wenig künstlerische Nachfolger. Weil also die Kontinuität der sogenannten Renaissancewerke fehlte, blieben für die ältere ungarische Literatur bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dieselben Merkmale bestimmend. Die sogenannte ältere ungarische Literatur war wesentlich von religiösen Themen und Gattungen beeinflusst, und die religiöse Prägung blieb bis zur Aufklärung bestimmend, also bis zu einer tatsächlich neuen Epoche, die schon ihren Namen von einer führenden Geistesströmung erhielt. Die frühe (lateinische) Geschichtsschreibung, die Predigtsammlungen, theologischen Streitschriften, Gebetbücher, geistlichen Lieder, Psalmenübersetzungen und ‑paraphrasen usw. sind Produkte und Gattungen der sogenannten älteren ungarischen Literatur, nicht mehr aber der Literatur der Aufklärung in Ungarn.
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Die verschiedenen territorialen und ethnischen Einheiten des Vielvölkerstaates wurden unter dem Begriff hungarus subsumiert: Das Hungarus-Bewusstsein war umfassend und klar genug, die staatliche Einheit zu repräsentieren (der Sonderstatus Siebenbürgens wurde aber etwa ab Ende des zweiten Drittels des 16. Jahrhunderts durch transsylvanus deutlich artikuliert). Trotz der politischen Zerstückelung des Landes ab 1541 (nach dem Fall des Königssitzes Buda) bewahrte der Begriff ‚Hungarus‘ seine Gültigkeit bis etwa zur Aufklärung: In die Matrikel ausländischer Universitäten (in Ungarn gab es außer kurzlebigen Gründungen bis 1635 keine ständige Universität) wurde als Nationalität hungarus eingetragen. Das Hungarus-Bewusstsein und damit die lateinische Sprache als Amts- und zugleich Referenzsprache, die in Ungarn bis 1844 erhalten blieb, bildeten die Basis für das Identitätsgefühl mehrerer Volksgruppen des Staates. Latein blieb Referenzsprache, aber in gemischtsprachiger Umgebung war nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Literatur mehrsprachig. Dieselben Autoren verwendeten z. B. oft mehrere Sprachen (Deutsch, Kroatisch, Slowakisch und Ungarisch), um ihre Gedanken in der passenden Kommunikationsform (Predigt, Briefwechsel, Kasualpoesie, Gebet, sogar Nationalepos usw.) genauer zu artikulieren. Erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde massiver Widerwille gegen die mehrsprachige Literatur und deren mehrsprachige Verfasser geäußert; er verstärkte sich in den 1830er Jahren erheblich. Manche Themen, vor allem die Liebe betreffend, erschienen in ungarischer Sprache längere Zeit nur in für die Unterhaltung des ungebildeten Publikums gemeinten, handschriftlich verbreiteten, vorwiegend dichterischen Texten niedrigen Stils. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Terminologie der Minne im Ungarischen noch fehlte: Zu Beginn des 17. Jahrhunderts schrieb z. B. Ferenc Batthyány (um 1570–1625) in deutscher Sprache schöne Liebesbriefe an seine spätere Frau Éva Poppel Lobkowitz, die ausgezeichnet Ungarisch konnte, nach der Heirat aber, deutlich weniger gehobene Formulierungen wählend, ausschließlich auf Ungarisch. Auf Deutsch kannte er nämlich (vermutlich aus eigenen Leseerfahrungen) die Termini der gehobenen Liebe (fin’amors). Auf Ungarisch war er aber auf das Beispiel der schönen Versrede des Bálint Balassi angewiesen: In seinen deutschsprachigen Liebesbriefen (also aus der Zeit vor seiner Heirat) zitiert er mehrere Zeilen aus den Gedichten von Balassi auf Ungarisch. Balassi selbst schickte ihm Gedichte (oder nur Auszüge aus seinen längeren Gedichten) und war über die Verwendung seiner schönen Liebesworte (Eckhardt 1943) informiert. Die ersten Liebesgedichte in ungarischer Sprache, die auf italienischem Muster basierten, wurden erst 1651 in Wien als Begleitgedichte des Epos Obsidio Szigetiana von Miklós Zrínyi (1620–1664) in dem Band Adriai tengernek Syrenája Gróf Zrínyi Miklós (Sirene des adriatischen Meeres Graf Miklós Zrínyi) gedruckt (RMNY Nr. 2360). Die Gedichte, die u. a. aufgrund ihrer
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Liebesthematik und der oft groben Anklage der Frau keine Herausgeber fanden, wurden durch Abschriften verbreitet und im Zuge ihrer handschriftlichen Verbreitung immer wieder variiert, sogar umgedichtet. Das Plagiat war noch unbekannt, die Autorschaft wurde nicht immer bestätigt, der Autor blieb oft anonym. Diese anonymen Schriftwerke gehören aber nicht der Folklore an, sie bilden vielmehr ein populäres Register der – damals als autonomes System noch nicht ausdifferenzierten – ungarischsprachigen Literatur. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die ungarischsprachige weltliche Literatur und deren Leserkreis erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts herausbildeten und dass alle schriftlichen Äußerungen bis zur Aufklärung – sei es die lateinische Kunstdichtung, der humanistische Briefwechsel, die lateinische oder muttersprachliche Predigt, das Gebet, der Reformationsdialog, das Tagebuch oder die Historie – als sogenannte ältere ungarische Literatur zu verstehen und in diesem Rahmen zu interpretieren sind.
I.2 Die Anfänge: Literatur in lateinischer Sprache Schriftliche Quellen über die Ungarn stehen uns bis zum 9. Jahrhundert nicht zur Verfügung, von der ungarischsprachigen Dichtung der Zeit ist ebenfalls nichts erhalten. Die Erforschung der in manchen lateinischen Chroniken erwähnten ungarischen Heldenlieder oder Versepen ist keine Aufgabe der Literaturgeschichte: Ohne schriftliche Überlieferung ist es unmöglich, ihren Inhalt zu rekonstruieren. Die Geschichte der Literatur in Ungarn begann erst im 11. Jahrhundert mit dem lateinischsprachigen kirchlichen und liturgischen Schrifttum, das sich durch den reichen Einfluss der westeuropäischen (vorwiegend der italienischen und deutschen) Kirche entfaltete. Die Deliberatio supra hymnum trium puerorum des Heiligen Gellért (St. Gerhardus), eine auf den Etymologiae des Isidor von Sevilla basierende Exegese von acht Versen aus dem Buch Daniel, ist zusammen mit den Glossen zweier Leser in einem Kodex aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts überliefert (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 211). Gellért, in Venedig geboren und 1030 zum Bischof der Diözese Csanád in Ungarn ernannt, zeigt sich in diesem Werk als ein zeitgemäß gebildeter Geistlicher, dem die Imitation wichtiger ist als die Erfindung. Gellért starb 1046 im Alter von etwa 70 Jahren den Märtyrertod und wurde 1083 gemeinsam mit dem ersten ungarischen König István (Stephan I.) und dessen Sohn Imre (Emerich) heiliggesprochen. Über sein Leben und seine Taten sind zwei Legenden erhalten; sie und weitere Heiligenlegenden z. B. über István (St. Stephan), Imre (St. Emerich) und König László (St. Ladislaus, heiliggesprochen 1192) sind die ältesten literarischen Werke in lateinischer Sprache in Ungarn.
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Die erst im 15. Jahrhundert schriftlich fixierte größere Legende von Gellért kann auf einen (nicht erhaltenen) Urtext aus der Mitte des 12. Jahrhunderts zurückgeführt werden (Nemerkényi 2007). Diese Legende enthält eine für die ungarische Literaturgeschichte äußerst wichtige Bemerkung des Bischofs: Als er einmal, unterwegs zu dem König, in einem Dorf übernachtete, hörte er ein immer lauter gesungenes Lied aus einer Mühle. Eine Frau, die die Mühlsteine drehte, sang auf Ungarisch, wie Gellért seinem Begleiter sagte, die Symphonia Ungarorum. Diese Sinfonie, deren Melodie und Text uns natürlich unbekannt blieb, wurde später, besonders im 20. Jahrhundert, zum Thema mehrerer Musikstücke ungarischer Komponisten. Die frühe Geschichtsschreibung in lateinischer Sprache stand im Interesse der sich bereits herausbildenden Oligarchie. Das erste überlieferte Werk über die ungarische Geschichte ist eine um 1200 entstandene Chronik, die Gesta Hungarorum. Auf dem ersten Blatt der Handschrift ist vermutlich der Anfangsbuchstabe des Vornamens des Autors angegeben: P. magister. Die Forschung ist noch immer nicht einheitlicher Meinung darüber, ob es sich wirklich um einen ‚P. dictus magister‘ oder eine Abkürzung für ‚Praedictus magister‘ handelt. (Im zweiten Falle müsste vorausgesetzt werden, dass mindestens eine Seite der gesta nicht abgeschrieben wurde.) Die so konstituierte Zwischenstellung des Autorenstatus kann mit den Worten von Tivadar Thienemann (dessen grundlegendes Werk über die historischen Kulturtechniken des Schreibens und Lesens noch wiederholt zu Rate zu ziehen sein wird) charakterisiert werden: Durch den Anfangsbuchstaben deckt der Verfasser zwar seine Identität auf, aber nur für das intimste und engste Publikum, denn dieses kann den Anfangsbuchstaben zum ganzen Namen ergänzen; namenlos hingegen bleibt er für die Uneingeweihten und alle, die die rätselhafte Sigle nicht auflösen können. Die Chiffre des Anfangsbuchstaben zeigt besser als alles andere, dass das handschriftliche Werk beginnt, sich mit der Person eines bestimmten Verfassers zu verflechten. Verbirgt sich der Verfasser vorerst noch unter der Maske der Namenlosigkeit, so tut er dies bewusst nach den Regeln und konventionellen Ausdrucksformen der devotio. (Thienemann 1930, 98–99, Ü: Ch. Kunze)
Im Vorwort geht er kurz auf seine Person und sein Programm ein. Er hatte an einer ausländischen Universität – wahrscheinlich in Paris – studiert und war Notar am königlichen Hof von Béla III. (1172–1196). Er könnte vielleicht mit Péter, Bischof von Raab (Győr) oder Péter, Probst von Esztergom (Gran) identisch sein und wurde in der ungarischen Historiographie als Anonymus bekannt. Seine Chronik habe er, so beginnt die Erzählung, auf Wunsch und Anregung eines seiner Mitstudenten verfasst. Schon in dieser Vorrede ist also die auch später so berühmt gebliebene und als Exordialtopos oft verwendete klassische Bescheidenheitsformel zu lesen: Man wage sich nur deshalb an das Schreiben, weil ein Freund oder Gönner eine entsprechende Bitte, einen Wunsch geäußert habe. Dies
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ist ein typisches Merkmal der Sprechsituation einer noch nicht ganz in der Schriftlichkeit ausdifferenzierten Redeweise, in der das Fehlen einer autonomen Autorschaft eng zusammenhängt mit der medialen Installierung des Sprechens, das sich vor allem als mündliche Ankündigung versteht. In Thienemanns Formulierung: „Der Verfasser schöpft die Notwendigkeit des Schreibens nicht aus sich selbst, sie wird von außen an ihn herangetragen; er schreibt seine Arbeit im Dienste anderer. Den Wert seiner Arbeit sucht er daher in der Wirkung auf andere, auf das nahe Publikum“ (Thienemann 1930, 123, Ch. Kunze). Zugleich geben bereits das Schriftliche, die gedruckten Buchstaben die Wahrheitsinstanz an, da sie der oralen Tradition überlegen zu sein scheinen: Selbstbewusst erklärt Anonymus, er halte sich an wissenschaftliche Quellen und weise die falschen Märchen der ungebildeten Volkssänger zurück (das zeugt von einem Traditionsverständnis, das im Zuge der Schriftlichkeit bereits mit einer gewissen Diskontinuität in der Überlieferung, mit einem ‚Traditionskampf‘ rechnet). Dies gelingt ihm aber nicht völlig: In die Gesta, die über die Herkunft, Wanderung, Landnahme und Streifzüge der Ungarn berichten, sind historische Daten, naive Etymologien und sagenhafte Überlieferungen gleichermaßen eingegangen (Jankovits 2006). Die Nachahmung des französischen (bzw. italienischen) Troja-Romans und des Alexanderromans in der Gesta ist hervorzuheben. Anonymus schrieb, wenn auch noch vorsichtig, über die Verwandtschaft der Ungarn mit den Hunnen (die beiden Volksgruppen stammten von den Skythen ab) und verwendete den Namen „Pannonia“ in der Bedeutung von Ungarn. Es ist bemerkenswert, dass diese Benennung, der Name einer römischen Provinz, die sich nicht über das ganze Gebiet des damaligen Ungarns erstreckte (die östliche Grenze – limes – wurde entlang der Donau ausgebaut), später fast spurlos verschwand. Die Wiederbelebung ist den italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts zu verdanken: Der erste Humanist pannonischer Abstammung, der diese Benennung stolz auf sich anwendete, war Janus Pannonius. Die Gesta Hungarorum wurden erst 1747 in Kassa (Kaschau, heute Košice, Slowakei) und noch im selben Jahr in Kolozsvár (Klausenburg, heute ClujNapoca, Rumänien) verlegt (Anonymi Belae regis notarii historia Hungarica de septem primis ducibus Hungariae) und gaben ebenso wie die anderen Geschichtswerke des Mittelalters, die die Landnahme als Kernproblem behandelten, den dichterischen Werken (Aufklärungshistoriographie und romantischen Epen) des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts wesentliche Anregungen. 1283 entstand die später zweifellos wirkungsvollste und lange für ausschließlich authentisch gehaltene Chronik von Simon Kézai (Simon von Kéza). Der Verfasser, ein Kleriker am Hof des Königs László IV. (1272–1290), besuchte italienische Universitäten und hatte vor, ausschließlich schriftliche Quellen für seine Gesta Hungarorum zu verwenden. Sein Ziel war, mit seinem Werk dem Interesse
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des Herrscherhauses und zugleich dem Adelsstand zu dienen und gleichzeitig die ungarnfeindlichen Aussagen ausländischer Geschichtsschreiber energisch zu widerlegen, um die Ungarn gegen die scharfe ausländische Kritik zu verteidigen. Simon Kézai stützte sich auf die These von Anonymus, dass Hunnen und Ungarn von denselben gemeinsamen Ahnen, nämlich von den Skythen, abstammten. Laut Kézai sind aber die Hunnen und Ungarn nicht nur gleicher Abstammung, sie bilden sogar dasselbe Volk. Damit wurde die Geschichte der Ungarn um eine siegreiche Vorgeschichte bereichert und die sogenannte Landnahme im 9. Jahrhundert durch eine wesentlich frühere Anwesenheit des gleichen Volkes im Karpatenbecken legitimiert. Die Hunnen-Geschichte und damit die erste Landnahme im Karpatenbecken sind Kézais eigene Konstruktion, der Einfluss dieser Konzeption auf das Geschichtsbewusstsein der Ungarn sowie auf die europäische Öffentlichkeit blieb längere Zeit maßgeblich. (Die mittelalterlichen Chronikwerke gestalteten sich ohnehin als ein Labyrinth der Entlehnungen, die Geschichtskonzeption der Identität von Magyaren [Ungarn] und Hunnen zeigt die Wechselwirkung der hagiographischen, historiographischen und juristischen Diskurse im mittelalterlichen Bildungssystem.) Diese stolze Legitimation der Ungarn traf jedoch in Europa schon ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Kritik: Die wiederholten Streifzüge der Ungarn wurden nämlich mit den Bluttaten der Hunnen identifiziert. In den Gesta Hungarorum von Simon Kézai ist auch der Kern der später in der Reformationszeit so paradigmatischen Gleichsetzung der Schicksale der beiden auserwählten Völker Israel und Ungarn erstmals zu lesen: „Der Herrgott gab den Magyaren das Land Pannonia zurück, wie er damals zur Zeit Mose den Söhnen Israels sämtliche Länder Kanaans gegeben hatte“. Die beiden Thesen, die doppelte Landnahme der Hunnen/Ungarn und die Gleichsetzung von Israel und Ungarn, hatten dann in der ungarischen Kultur- und Literaturgeschichte eine lange und einflussreiche Karriere. Die Handschrift wurde erst im späten 18. Jahrhundert veröffentlicht, als das Interesse an der Geschichte der Ungarn sehr groß war: Simonis de Kéza: Chronikon Hungarorum, quod ex codice memranaceo nunc primum et ad fidem apographi Vindobonensis et Budensis chronici sparsis quibusdam notis ac variantibus lectionibus excitat Alexius Horányi, Wien 1781. Buda 1782. Einleitung und Beginn der Geschichte der Hunnen (aus dem Lateinischen von Franz Gottschlig): Da es uns sehr am Herzen liegt, die Geschichte der Ungarn zu erforschen, und dies in der Tat mir zusteht, machte ich mich daran, die Siegeszüge dieser Nation, die in verschiedenen Berichten über Italien, Frankreich und Deutschland verstreut sind, in einem Band zusammenzufassen. Ich folgte hierin nicht dem Orosius, der aus Liebedienerei gegenüber Kaiser Otto, den die Ungarn in verschiedenen Gefechten des öfteren hart bedrängt hatten, in seinen Schriften allerlei Ungereimtes ersann und behauptete, die Ungarn stammten von
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bösen Geistern ab. […] Wie sehr das, was Orosius sagt, auch der Natur der Dinge widerspricht und mit der Wahrheit völlig unvereinbar ist, lässt sich auch daran ermessen, dass Geister nicht zeugen können, weil ihnen jenes natürliche Rüstzeug versagt ist, das ihnen Zeugungsfähigkeit und die Kraft zu verleihen vermöchte, richtige menschliche Leibesfrucht hervorzubringen. Woraus sich von selbst ergibt, dass die Ungarn, gleich den anderen Nationen der Welt, ihren Ursprung von Männern und Frauen nahmen. Auch darin wich derselbe Autor ziemlich weit von der Wahrheit ab, dass er allein jene Kriegstaten der Hungarn zu erwähnen scheint, die für diese selbst einen unglücklichen Ausgang fanden, die glücklichen hingegen mit Schweigen übergeht, was klar und deutlich seinen offenkundigen Haß und seine Böswilligkeit beweist. Weil aber ich mich an die Wahrheit halten will, werde ich sowohl die erfolgreichen Unternehmungen aufzeigen, ferner die Herkunft der vorerwählten Nation beschreiben, wo ihre Angehörigen wohnten, wieviel Länder sie eroberten und wie oft sie ihren Wohnort wechselten. (Klaniczay 1978, 43–44)
I.2.1 Literatur in ungarischer Sprache. Zwischen Oralität und Schriftlichkeit: Halotti beszéd (Die Grabrede) Die Grabrede ist die älteste erhaltene Handschrift in ungarischer Sprache. Aufbewahrt wurde sie in einem schon im 13. Jahrhundert gebundenen, 172 Seiten starken lateinischen Sakramentarium des Pressburger Kapitels, dessen Texte für den ungarischen Gebrauch zusammengestellt wurden. Die Grabrede findet sich neben einem lateinischen Sermon, anknüpfend an die Bestattungszeremonie im Anhang des Sakramentariums, auf Seite 136 r und trägt die lateinische Überschrift Sermo super sepulchrum (Rede am Grabe). Während der längeren lateinischsprachigen Zeremonie wandte sich der Priester allein mit dieser Rede (im Kodex 32 Zeilen lang) an die Hinterbliebenen. Die lateinische und die ungarische Grabrede wurden von derselben Hand zwischen 1192 und 1195 in einen Kodex (heute PrayKodex genannt) abgeschrieben. Es handelt sich also nicht um einen Beitext, sondern um einen integralen Teil des ganzen Bandes; die Tatsache überhaupt, dass Die Grabrede in einem Sakramentarium und nicht in einer Predigtsammlung ihren Platz fand, deutet auf eine gewisse Verfestigung des Textes hin. (Der Grabrede gingen seit der Annahme des Christentums ca. zwei Jahrhunderte mündliche Dolmetscher- und Übersetzerpraxis voraus. Sicher hat man während dieser Zeit nicht sehr viele ungarische Texte aufgezeichnet, doch belegt der erste erhaltene Text deutlich, dass die im Lateinischen wurzelnde ‚literarische‘ Sprache in dieser sogenannten ‚zweiten Mündlichkeit‘ bereits voll entwickelt war.) Es ist von besonderer Bedeutung, dass zu dieser Zeit die Grabrede als Gattung nur äußerst spärlich auftaucht. Ihre Verbreitung hängt nämlich sehr eng mit der Reformation zusammen. Muttersprachliche Beispiele aus dem 12. Jahrhundert kann die Forschung bis jetzt nur auf deutschem Sprachgebiet registrieren (Madas 2005). Der 1770 entdeckte und erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Grabrede
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bezeichnete Text besteht aus zwei Teilen: Aus der eigentlichen Grabrede (26 Zeilen) und aus einem Gebet (6 Zeilen). Der lateinische Sermon ist viel ausführlicher und aus theologischer Sicht strukturierter, die ungarische Rede ist also keine enge Übersetzung des Originals, sie war vielmehr für die Laien (idiotae et mulierculae) gedacht. Die Situierung des Todes und des Verstorbenen, das Ansprechen der Anwesenden, die Aufforderung zum Sündenbekenntnis (die oralitätsbezogenen Merkmale der Rede) und die tropologischen Inventionen der Sprache gaben mehrmals den sprachlichen Darstellungsformen der Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ungarn Anregungen (vgl. die Gedichte von Dezső Kosztolányi und Sándor Márai jeweils mit dem Titel Halotti beszéd). So könnte z. B. die berühmte doppelte figura etymologica („halálnak halálával halsz“, „du stirbst den Tod des Todes“) als bedeutendste Überbietung des lateinischen Originals bereits eine Figur darstellen, die in ihrem iterativen Charakter einem Effekt des schriftlichen Modus des Textes gleichkommt. Der erste Herausgeber des Textes, János (Johann) Sajnovics, demonstrierte in den 1770er Jahren eben die Verwandtschaft der ungarischen mit der samischen Sprache und verwendete die Grabrede als Beleg. Erste wortgetreue Veröffentlichung: Sajnovics, Joannes: Demonstratio. Idioma Ungarorum et Lapporum idem esse, Tyrnaviae 1771. Der Text der Grabrede in der grammatisch getreuen Interpretation von Loránd Benkő (Benkő 1980, 55): Látjátok, feleim, szemetekkel, mik vagyunk: isa, por és hamu vagyunk. Mennyi malasztban teremté eleve [úr] mi ősünket, Ádámot, és adta vala neki paradicsomot házzá. És mind[en], paradicsomban való gyümölcsöktől monda neki élnie. Heon tiltá őt egy fa gyümölcsétől. De mondá neki, mért ne ennék: ,isa, [a]ki napon eendel az[on] gyümölcstől, halálnak halálával halsz‘. Hallá holtát teremtve istentől, de feledé. Engede ördög intetének, és evék az[on] tiltott gyümölcstől, és az[on] gyümölcsben halált evék. És az[on] gyümölcsnek oly keserű vala vize, hogy torkukat megszakasztja vala. Nem heon magának, de mind[en] ő fajának halált evék. Haraguvék isten, és veté őt ez munkás világba: és lőn halálnak és pokolnak fésze, és mind[en] ő nemének. Kik azok? mi vagyunk. [A]hogy is ti látjátok szemetekkel; isa, is nem egy ember múlhatja e vermet, isa, mind ahhoz járó vagyunk. Imádjuk urunk isten kegyelmét e lélekért, hogy jorgasson őneki, és kegyedjen, és bocsássa mind[en] ő bűnét! És imádjuk szent asszony Máriát és boldog Mihály arkangyalt és mind[en] angyalokat, hogy imádjanak érte! És imádjuk szent Péter urat, [a]kinek ad[at]ott hatalom oldania és kötnie, hogy oldja mind[en] ő bűnét! És imádjuk mind[en] szenteket, hogy legyenek neki segéd urunk színe előtt, hogy isten ő imádságuk miá bocsássa ő bűnét! És szabadítsa őt ördög üldetétől és pokol kínzatától, és vezesse őt paradicsom nyugalmába, és adjon neki mennyei országba utat, és mind[en] jóban részt! És kiáltsatok urunkhoz hármul: kyrie eleison! Szerelmes barátaim! imádju(n)k e szegény ember lelkéért, [a]kit úr e napon e hamis világ tömlöcéből mente, [a]kinek e napon testét temetjük, hogy úr őt kegyelmével Ábrahám, Izsák, Jákób kebelében helyezze, hogy bírságnap jutva mind[en] ő szentei és önöttei közükön jó felől iktatnia élessze őt! És tibennetek. Clamate ter: kyrie eleison!
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Abb. 1: Halotti Beszéd im Pray-Kodex
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In der Übersetzung von Hans Kolbe: Meine lieben Brüder und Schwestern, seht hier mit Euren eigenen Augen, was wir sind! Wahrlich, wir sind nichts als Staub und Asche. Gott in seiner großen Gnade hat unseren Urvater Adam geschaffen und ihm das Paradies zur Heimstatt angewiesen. Und von allen Früchten des Paradieses dürfe er sich nähren, sagte er ihm, nur die Frucht eines Baumes wurde ihm verboten. Und er sagte ihm, warum er davon nicht essen dürfe. ‚Wahrlich, ich sage dir, an dem Tage, da du von dieser Frucht ißt, stirbst du den Tod des Todes!‘ So wurde ihm sein Tod von Gott, seinem Schöpfer, angedroht, aber er vergaß es. Er gab den Einflüsterungen des Teufels nach und aß von der verbotenen Frucht. Und er aß den Tod von dieser Frucht. Und der Saft dieser Frucht war so bitter, daß er ihm die Kehle zuschnürte. Er aß den Tod, nicht nur für sich, er aß ihn für sein ganzes Geschlecht. Gott zürnte ihm und er verbannte ihn aus dem Paradies in ein qualvolles Leben, und Adam wurde die Quelle des Todes und der Hölle für alle späteren Geschlechter. Aber wer sind diese? Das sind wir, meine lieben Brüder und Schwestern, wie Ihr selbst sehen könnt mit Euren eigenen Augen. O gewiß, jeder von uns muß einmal in die Grube fahren. Gewiß sind wir alle auf dem Wege dorthin. So wollen wir Gott, unseren Herrn, um Gnade bitten für diese arme Seele. Er möge sich seiner erbarmen, ihm gnädig sein und ihm alle seine Sünden verzeihen. Und bitten wir die Jungfrau Maria und den Erzengel Michael und alle Engel, daß sie für ihn beten. Und wir wollen auch den heiligen Petrus bitten, dem die Macht gegeben ist, loszusprechen oder zu verdammen, daß er ihn losspreche von allen seinen Sünden. Alle Heiligen wollen wir bitten, daß sie zu seiner Hilfe vor das Angesicht Gottes treten, damit Gott um ihrer Gebete willen ihm seine Sünden verzeihe – daß Gott ihn befreie von den Verfolgungen des Teufels und den Qualen der Hölle, es ihm gut ergehen lasse und ihn in den Frieden des Paradieses und auf den himmlischen Weg führe. Und dreimal wollen wir zu unserem Herrn rufen: Kyrie eleison! Meine lieben Brüder und Schwestern! Laßt uns beten für die arme Seele dieses Menschen, den der Herr am heutigen Tage aus dem Gefängnis dieser falschen Welt errettet hat. Wir begraben an diesem Tag seinen Körper, drum laßt uns beten, daß Gott mit seiner Gnade ihn in den Schoß von Abraham, Isaak und Jakob aufnehme, daß er ihn am Tage des letzten Gerichts auferwecke und neben die Heiligen und die Auserwählten zu seiner Rechten setze – so wie auch Euch alle! Clamate ter: Kyrie eleison! (Klaniczay 1978, 27–28)
I.2.2 Das erste lyrische Gedicht in ungarischer Sprache: Ómagyar Mária-siralom (Die altungarische Marienklage) Das erste überlieferte ungarische Gedicht ist in einem 596 Seiten (298 Blatt) starken Kodex aufbewahrt (Löwener [Leuvener] Kodex, Bl. 134v). Der ursprünglich zweibändige Kodex wurde 1922 von einer deutschen Kommission zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden an der Bibliothek in Löwen (Leuven) in München gekauft. Seit 1982 gehört er zum Bestand der Ungarischen Nationalbibliothek (Signatur MNy 79). Der Kodex (147x101 mm) ist italienischer Provenienz
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und enthält in der Abschrift von mindestens 10 Händen Predigten (eigentlich Predigtmuster), Andachten und Legenden, an manchen Stellen sogar mit ungarischen Randglossen. Zu dieser Textsorte vgl. die Bemerkung von Thienemann: Der sich festigende Text der Handschrift fluktuiert nicht mehr so wie der ‚entstehende‘ Text der mündlichen Tradition und ist noch nicht so fest wie der durch den Buchdruck vervielfältigte Text; auf dem Weg zwischen diesen beiden vereinigt er in sich die Eigenarten der Textentstehung und -festigkeit. Der sich festigende Text hat vom Text der mündlichen Tradition die Flexibilität geerbt, die es mit sich bringt, dass das handschriftliche Werk genauso wie nichtschriftliche Texte in immer neuer Form vor dem Publikum erscheint; aber das handschriftliche Werk unterscheidet sich darin von der reinen Mündlichkeit, dass die Gestaltänderungen des Textes nicht vergehen wie im Augenblick verklingende mündliche Rede, sondern in der Schrift erhalten bleiben. Gerade dadurch wird es möglich, dass sich die Textformen einander langsam angleichen und dass sich langsam ein fester Text herauskristallisieren kann. (Thienemann 1930, 81–82, Ü: Ch. Kunze)
Laut textkritischen Untersuchungen stammen die lateinischen Texte aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts und sind meist von Dominikanern verfasst. Die ungarische Marienklage wurde gegen Ende des Jahrhunderts (vermutlich schon als Abschrift einer früheren Variante) in den Kodex aufgenommen. Das Gedicht, das 1923 von Robert Gragger, damals in Berlin als Direktor des Collegium Hungaricum tätig, identifiziert wurde, ist eine Paraphrase, eine relativ freie Umdichtung eines bekannten Planctus, dessen Variante Planctus ante nescia … von Godofridus de Santo Victore (gest. um 1194) im Kodex ebenfalls enthalten ist. Die vollständige Form dieses Planctus als Sequenz besteht in der kritischen Ausgabe aus zweimal 13 Strophenpaaren und einer Schlussstrophe, also insgesamt aus 27 Strophen. Das zwölfstrophige ungarische Gedicht geht auf eine andere, noch nicht gänzlich geklärte Fassung (Variante) zurück, möglicherweise ist es auch aus mehreren lateinischen Klagen oder Andachtstexten in Prosa- oder Versform kompiliert. Nach den Angaben der kritischen Ausgabe sind heute 17 handschriftliche Varianten des Planctus ante nescia bekannt. Die Klage war nicht mehr Teil der Liturgie, sie diente vielmehr der individuellen Trauer. Der Text wird hier teilweise zu einem hypertextuellen Übersetzungs- bzw. Kompilationsprodukt: gerade die Wendung der figura etymologica in der fünften Strophe („világnak világa“, „Licht der Welt“) hat kein Äquivalent im lateinischen Original, dafür geht sie auf die biblische Formel der zweiten Strophe zurück („orbat orbem radio“: die Welt wird ihrer Helligkeit, also Christus, beraubt). Der Übersetzer hat sich an diese Wendung erinnert und darüber hinaus das Motiv „lux mundi“ (Joh. 8,12) verwendet. Interessanterweise gelingt dieses Zusammenspiel dem Übersetzer mit einer Figur, die Sichtbarkeit als solche thematisiert, also auf übertragene Weise sogar mit dem Medium der sichtbaren Sprache, der Schrift, in Verbindung stehen kann. Bis zum Ende des Mittelalters kennt die Forschung etwa 90 deutschsprachige Marienkla-
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gen, von denen 26 Bestandteil, d. h. Einlage, verschiedener Passionsspiele waren. 24 dienten der persönlichen Andacht. Keine der Letzteren ist vor dem 15. Jahrhundert verfasst worden; die ungarische Marienklage hingegen stammt aus dem 12. Jahrhundert (Vizkelety 2007). Sie ist das erste lyrische Gedicht in der Muttersprache nicht allein auf dem ungarischen, sondern überhaupt auf dem finnougrischen Sprachgebiet und ist deswegen auch im europäischen Kontext von großer kultur- und literaturhistorischer Bedeutung. Die Transkription und Strophengliederung des altungarischen Textes nach dem Linguisten Gedeon Mészöly (Vizkelety 2007, 73–74): Nem tudtam, mi a siralom. Most siralommal zokogok, bútol aszok, epedek. Zsidók világosságomtól, megfosztanak én fiamtól, az én édes örömemtől. Ó, én édes Uram, egyetlenegy fiam, síró anyát tekintsed, bújából őt kivonjad! Szemem könnytől árad, szívem bútól fárad. Te véred hullása szívem alélása. Világnak világa, virágnak virága, keservesen kínzanak, vas szegekkel átvernek! Jaj nekem, én fiam! édes vagy, mint a méz, de szépséged meggyalázzák, véred hull, mint a víz. Siralmam, fohászkodásom belőlem kifakad, én szívemnek belső búja, mely soha nem enyhül. Végy magadhoz engem, halál, egyetlenem éljen.
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Maradjon meg az én Uram, világ tőle féljen! Ó, az igaz Simeonnak bizony érvényes volt a szava. Én érzem e bú tőrét, melyet egykor jövendölt. Tetőled válnom kell, de nem íly szörnyű valósággal, mikor így kínoznak, én fiam, halálosan! Zsidó, mi téssz törvénytelenül? Fiam miért hal büntelenül? megfogván, rángatván, öklözvén, kötözvén megölöd! Kegyelmezzetek fiamnak, nem kell kegyelem magamnak! Avagy halál kínjával, anyát édes fiával vele együtt öljétek!
Die Altungarische Marienklage in der deutschen Übersetzung von András Vizkelety: Bislang kannte ich kein Weinen, / nun weine ich aber unentwegt, / werde vom Leid verzehrt. // Jude, du nimmst mir / meine Sonne weg, meinen lieben Sohn, / meine süße Freude. // O mein süßer, lieber Herr / mein einziges Söhnlein! / Siehe deine weinende Mutter an, / rette sie aus ihrem Kummer. // Meine Augen sind nass von Tränen, / mein Herz verzagt vor Kummer, / Durch dein rinnendes Blut / erlahmt mein Herz. // Du Licht der Welt, / du Blume aller Blumen, / wirst grausam gepeinigt, / mit Nägeln durchbohrt. // O wehe mir mein Sohn, / der du süß wie Honig bist! / Deine Schönheit wird geschändet, / dein Blut verrinnt wie Wasser. // Meine Klage, mein Flehen / bricht hervor [findet Töne], / mein inneres Leid / verebbt aber nie // Tod, nimm mich weg / und lass meinem Einzigen sein Leben / Es bleibe nur mein Herr lebendig, / den die Welt fürchten soll. // Ach, der Wahrsager Simeon / hatte doch recht! / Ich fühle den Dolch des Schmerzes, / wie er mir einst vorausgesagt hat. // Ich würde mich von dir trennen, / [wenn ich dich dadurch erretten könnte] / damit du, mein Kind, nicht wie ein Geächteter / zu Tode gepeinigt wirst. / Was du tust, Jude, ist gesetzwidrig, / da mein Sohn schuldlos stirbt. / Du erfasst, zerrst, schlägst / und tötest ihn geknebelt [mit Unrecht]. // Gebt Gnade meinem Sohn, / verschont [aber] mich nicht, / oder lasst durch qualvollem Tod / die Mutter zusammen mit ihrem Sohn sterben. (Vizkelety 2002, 13–14)
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I.2.3 Historische Epik Mangels schriftlicher Quellen ist es schwierig, das Verhältnis zwischen den Verfassern und ihren Lesern zu untersuchen, die Bedürfnisse des Publikums sowie die Absicht der Verbreiter und die Art der Verbreitung der epischen Werke des 15. Jahrhunderts genauer zu erfassen. Aus indirekten Erwähnungen haben wir jedoch einige Kenntnis z. B. über die Merkmale und Poetik der ungarischsprachigen epischen Dichtung der Zeit: Der italienische Humanist Galeotto Marzio (1427–1497), der sich mehrfach in Ungarn aufhielt und auf dessen Wirken noch zurückzukommen sein wird, verfasste 1485 ein schmeichlerisches Werk über die vorzüglichen, weisen und scherzhaften Sprüche sowie Taten des Königs Matthias (De egregie, sapienter, iocose dictis ac factis regis Mathiae). Gewidmet wurde es ad ducem Iohannem eius filium, nämlich dem Herzog János (Johannes), Matthias’ Sohn. Im 17. Kapitel des Büchleins (es enthält 32 knappe Kapitel) berichtet Galeotto wieder über eine vorzügliche Tat (dictum sapienter) des Königs, nämlich über sein außerordentliches und beispielhaftes Benehmen bei Tische. Seine Essgewohnheiten werden hier antithetisch vorgestellt: Obwohl er bei Tisch lebhafte Gespräche führte, blieben er und seine Kleidung immer sauber. Galeotto beginnt hier einen interessanten Diskurs über Art und Merkmale dieser Gastmahle: Während dieser feierlichen Mahlzeiten unterhielten sie sich, so Galeotto, oder sprachen über ernste bzw. lustige Dinge oder sangen Lieder (Semper enim in eius convivio disputatur aut sermo de re honesta aut iocunda habetur aut carmen cantatur). Es waren nämlich auch Zitherspieler und andere Musikanten zugegen, die auf Ungarisch die Heldentaten der Ungarn besangen (Sunt enim ibi musici et citharoedi, qui fortium gesta in lingua patria ad mensam in lyra decantant). Von den Heldentaten zu singen, fährt er fort, sei bei den Römern üblich gewesen; die Ungarn hätten diese Gewohnheit als Erbe übernommen. Es gehe immer um eine besonders mutige Tat, die zusammen mit den Begleitereignissen dargestellt wurde. Ungarn liege nämlich inmitten von Feinden und verschiedenen Nationen, wo immer Krieg auszubrechen drohe. Liebeslieder sänge man selten (amatoria autem carmina raro ibi cantatur). Meist würden, immer mit den passenden Gesängen, Heldentaten gegen die Türken aufgeführt. Die Ungarn, seien sie Adlige oder rustici, sprächen nämlich ungefähr auf dieselbe Art, es gebe keinen Unterschied in ihrer Redeweise, die Wörter, die Aussprache und die Betonung seien überall gleich. Diese Mitteilungen über die Sprache und die üblichen Gesänge, die – im Gegenteil zu dem Bericht über die Essgewohnheiten des Königs – sicherlich von jeglicher Schmeichelei frei blieben, sind für die ungarische Kultur- und Literaturgeschichte aus mindestens drei Gründen von eminenter Bedeutung. Erstens sind hier Existenz und Häufigkeit von Lobgesängen über Heldentaten belegt, zwei-
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tens sind (wenn auch nur kurz) die auf Ungarisch gesungenen Liebeslieder erwähnt, und drittens wird auf die territoriale und soziale Einheit der ungarischen Sprache und verbalen Kommunikation hingewiesen. Was nun die Lobgesänge über Heldentaten betrifft, meist über die Sieger im Kampf gegen die Osmanen, stehen uns wichtige, aber leider immer noch wenige Texte zur Verfügung. Das wichtigste und aus poetischer Sicht interessanteste Gedicht ist Szabács viadala (Die Erstürmung von Schabatz) aus den 1470er Jahren. Das zugrunde liegende historische Ereignis ist ein Festungsbau der Osmanen am rechten Ufer der Sau (Száva) in Schabatz (ung. Szabács, heute Šabac, Serbien) zur Sicherung des Flussüberganges. Am 15. Februar 1476 gelang es dem Heer von König Matthias nach etwa einmonatiger Belagerung, die Festung zu erobern. Der Verfasser des ersten ungarischsprachigen epischen Gedichtes stellt die Eroberung der Festung vermutlich als Augenzeuge dar. Der Text ist seit 1871 bekannt, er wurde von Kálmán Thaly zum ersten Mal interpretiert. Der erhaltene Teil des in vier Spalten geschriebenen Heldengesanges besteht aus 150 Zeilen, zumindest die erste Seite der Abschrift fehlt jedoch. Nach den Emendationen im Text zu urteilen, scheint es sich um die Originalfassung zu handeln; das Wasserzeichen zeigt ein Datum vor 1476. Das Gedicht hat zehnsilbige Zeilen mit Paarreimen, ohne strophische Gliederung. Diese Form kommt in der ungarischsprachigen Dichtung des 16. Jahrhunderts überhaupt nicht vor; das Gedicht ist also nicht mit den ungarischen isometrischen Historiengesängen des 16. Jahrhunderts verwandt, es ist kein gesungenes, sondern ein sogenanntes Textgedicht, es vermeidet die grammatischen Parallelismen der gesungenen (oralen) Epik. Zugleich sind die Beteuerungsformeln, wie auch am Ende des weiter unten abgedruckten Ausschnitts, kommunikative Momente des oralen Gedächtnisses, der mündlichen Überlieferung: Der Verfasser-Rezitierer hebt sich dadurch aus dem Kreis des Publikums hervor, dass er mehr weiß, dass er erfahrener, bewanderter und eingeweihter ist als die anderen, die seinen Vortrag hören. Sein Selbstwert vor dem Publikum wächst, wenn er Zeugnis darüber ablegen kann, dass er an vielen Orten unterwegs war und über vieles informiert ist: das Publikum wiederum hört seine Worte mit größerem Interesse, wenn es weiß, dass der Vortragende in Wissen und Horizont geistig über ihm steht. (Thienemann 1930, 52–53, Ü: Ch. Kunze)
Der Dichter nahm wahrscheinlich selbst an der Belagerung teil und kannte die Form der besonders auf deutschem Sprachgebiet üblichen chronikartigen Lieder sehr gut. In dieser Gattung wurde in gereimter Form von aktuellen Ereignissen, von Schlachten usw. berichtet. Eine besondere Form dieses Zeitungsliedes war das Preislied, das legendäre Heldengestalten besang. Die 150 Zeilen des Gesanges zeigen auch ohne die verlorenen Teile einen Kompositionsversuch. Das in Reimpaaren verfasste, nicht strophische Gedicht ist eng mit den zeitgenössi-
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schen deutschen gereimten Zeitungsliedern verwandt. Möglicherweise war der Verfasser deutscher Abstammung; konnte fließend, aber nicht fehlerfrei Ungarisch und war in der Gattung der berichtenden Reimchronik bewandert (Bognár– Horváth 2009). Ausschnitt aus dem Helden-[Historien]gesang Szabács viadala (Die Erstürmung von Schabatz): Halált is vallottak hát némelyek, Király nagy tisztességét mellett Elő egy ifjú Várdai Simon, Kinek anyja énaponkéd sír honn. Bizon ő kegyes úrfiú vala, Ki pattantyú miá ott hala. Más cseh vitéz, Franc főtisztes hadnagy. Kik bizony kegyes Istennél vadnak. Ebbe soha senkinek nincs kétségVagy tisztúlat helén őköt értsék; (Barta–Klaniczay 1963, 131)
In der Übersetzung von Martin Remané: Auch von unsern Männern starben da nicht wenig, / nach Gebühr geehrt von unserm guten König. / Sonderlich des jungen Varday sei gedacht, / dessen Mutter um ihn weint nun Tag und Nacht. / War ein frommer Junker, der sein Leben ließ, / als ihm die Kartätsche jäh den Kopf abriss. / Ehre auch dem Tschechen, der Frantisec hieß, / beide sind gefahren auf ins Paradies, / brauchen nicht zu schmoren, aufgespießt vom Teufel / erst im Fegefeuer! – Nein, da ist kein Zweifel. (Klaniczay 1978, 68)
I.2.4 Das Problem der ritterlich-höfischen Dichtung in Ungarn. Das sogenannte virágének (Blumenlied) Laut Quellen waren die ausländische ritterlich-höfische Kultur und die darauf basierende Dichtung auch in Ungarn nicht unbekannt. Troubadoure und Minnesänger wie Peire Vidal, Gaucelm Faidit und Neidhart von Reuental weilten um 1200 an ungarischen Königshöfen; schriftliche Beispiele ihrer ungarischen Nachfolger sind uns aber nicht überliefert. Für die Existenz einer ungarischsprachigen höfischen Lyrik stehen uns nur äußerst spärliche Quellen zur Verfügung. Dass es eine ungarische höfische Epik gab, belegt ein erst im 16. Jahrhundert aufgezeichneter Text: Die von Péter Ilosvai 1574 in epischer Versform (100 vierzeilige Strophen mit Kolophon, RMNY Nr. 338) bearbeitete Sage über die Taten des Miklós (Nikolaus) Toldi weist manche ritterlich-höfische Motive und Züge auf. Der Held aus dem 14. Jahrhundert wird hier aber letztlich als ungestümer,
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trunksüchtiger und erbarmungsloser Großherr vorgestellt. Die Forschung geht dennoch von einem nicht erhaltenen Heldenepos aus, von einer Art chanson de geste, dessen Motive in der Toldi-Erzählung noch vorzufinden seien. Diese mehrschichtige Überlieferung diente János Arany im 19. Jahrhundert als Vorlage für den Versuch, ein Heldenepos zu rekonstruieren. Ungarische Liebesgedichte, die poetisch mit der ritterlich-höfischen Liebeslyrik verwandt sind, kennen wir, wie gesagt, nicht. Vor 1601 sind uns etwa 1500 ungarische Gedichte (vor 1500 nur 24) bekannt, bis zum Auftritt des ersten Renaissancedichters Bálint Balassi (also bis etwa 1578) können nur elf Gedichte mit Liebesthematik nachgewiesen werden. An dieser Stelle kann wieder auf die schon zitierte Bemerkung des Galeotto Marzio hingewiesen werden: Während der Mahlzeiten von König Matthias wurden nämlich – wenn auch nur selten – ungarische Liebeslieder gesungen. Überliefert sind im Grunde nur Fragmente über „die Sache der Liebe“ in ungarischer Sprache und einige, meist sehr kritische und abwertende Äußerungen der Zeitgenossen. (Es ist jedoch zu erwähnen, dass sich diese Kritiker der Liebeslieder alle eifrig um die Gemeinden ihrer Kirche kümmerten und versuchten, Liedmaterial und Lesestoffe aus der moralischen Sicht ihrer Kirche zu bestimmen.) Die cantilena de amicula wurde als virágének (Blumenlied) ins Ungarische übersetzt; in den meisten Texten (und in allen Kritiken dieser Lieder) kommt die Blume als Metapher vor. Die für die Forschung relevanten Fragmente der Blumenlieder sind in den Stadtprotokollen als Federproben erhalten geblieben. Das Ödenburger Blumenlied (Soproni virágének) wurde von dem Ödenburger Stadtschreiber Johann Gugelweit um 1490 auf den Einband des Stadtprotokolls geschrieben: „Virág, tudjad, tűled el kell mennem / És te éretted kell gyászba ölteznem“ („Blume, wisse, ich muss von dir scheiden / Deinetwegen mich in Trauer kleiden“). Von einem anderen Blumenlied ist eine ganze Strophe erhalten: Es ist ein Tanzlied aus Kremnitz (Körmöcbányai táncszó), am Rande eines Stadtprotokolls der Stadt Kremnitz (ung. Körmöcbánya, heute Kremnica, Slowakei) um 1505 als Federprobe aufgezeichnet. Jüngst wurden überzeugende Parallelen zwischen dem erotisch erhitzten Spottgedicht an eine Frau und Liedern des Neidhart von Reuental aufgezeigt. Interessanterweise wurden diese beiden ungarischen Federproben von deutschsprachigen Stadtschreibern auf in deutscher Sprache geführten Protokollen notiert. Die Poetik der ungarischen Liebesgedichte vor Bálint Balassi, d. h. der literarische Rang der sogenannten Blumenlieder, wurde in der jüngsten ungarischen Literaturgeschichte heftig diskutiert und unter verschiedenen poetischen und literatursoziologischen Gesichtspunkten beurteilt. Die Primärtexte sind nur spärlich erhalten, für die literaturhistorische Forschung eigentlich ungenügend, die zeitgenössischen Äußerungen über die Gattung, die uns schon in größerer
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Zahl zur Verfügung stehen, sind ohne Ausnahme kritisch und abwertend. In der ungarischen (aber nicht nur in der ungarischsprachigen) Dichtung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit existierten drei Formen von Liebesgedichten: Die lateinisch-humanistische, die ungarischsprachige vagante sowie die humanistisch-petrarkische. Von den beiden letzteren ließ sich auch Bálint Balassi inspirieren. Der Typ der sogenannten vaganten Dichtung lässt sich in zwei Untergattungen teilen: die Satire und das Blumenlied. Das sogenannte Blumenlied kann noch nach dem Verhältnis zwischen Publikum und Text (Zuhörer und Redegegenstand) differenziert werden, nämlich in ritterlich-höfische und moralisch wertlose, populäre Dichtung. Ob es eine höfische Liebesdichtung in ungarischer Sprache gegeben hat, lässt sich mangels erhaltener Texte nicht zweifelsfrei bestimmen. Für eine solche Dichtung spricht, dass die Terminologie der hohen Liebe von Bálint Balassi ohne ungarischsprachige Vorläufer kaum vorstellbar scheint. Der Humanist und Philologe János Sylvester (um 1504–1552), der an den Universitäten von Krakau und Wittenberg studierte und 1541 das Neue Testament ins Ungarische übersetzte (RMNY Nr. 49), gab seinem Werk einen Anhang, der nicht nur zur Information der zeitgenössischen Leser diente, sondern auch für die Literaturgeschichte von großem Interesse ist. Darin thematisiert er die möglichen Bedeutungsschichten der Sprache zum ersten Mal auf Ungarisch: Er weist darauf hin, dass in der Heiligen Schrift nicht alle Worte ad litteram zu verstehen seien, die meisten hätten nämlich auch übertragene Bedeutungen. Als Beispiele für diese in den lateinischen Schulpoetiken schon allgemein bekannte und gründlich ausgelegte These nahm er die ungarischen Blumenlieder: Wenn er aber für dieses erhabene Thema (die Heilige Schrift) eine so niedrige Gattung hervorhebe, spreche er nicht über den Inhalt, sondern vielmehr über den Ausdruck, über die ‚Ausstaffierung‘ der Rede. Diese Behauptung von Sylvester hatte Interpretationen zur Folge, wonach das Blumenlied dem genus sublime, also der erhabenen Gattung, angehöre. Die Diskussion über die höfische und niedere ungarische Liebesdichtung gelangte schließlich zu der Schlussfolgerung, dass in der ungarischen Dichtung des Mittelalters die populären, liturgischen, vaganten Gedichte ebenso zu finden gewesen seien wie das antikisierend-gebildete Register, dass die höfische Epik und die ritterlich-höfische Lyrik aber fehlten (Horváth, Iván 1982).
I.2.5 Ein Beispiel für die frühe Satire: die Cantilena des Ferenc Apáti Das Gedicht von 14 Strophen weist wichtige Merkmale der Kunstpoesie und damit die frühe schriftliche Fixierung des Textes auf: Es hat ein Akrostichon, das die fast vollständige lateinische Namensform des Verfassers angibt (FRANCWSCSAPATI).
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Das Verstecken des Namens hatte am meisten Sinn, als das Schriftwerk noch zum Vorlesen bestimmt war und durch die lebendige Mündlichkeit auf das Publikum wirken wollte. Der breitere Kreis der Zuhörer hatte den so bescheiden versteckten Namen noch nie gehört, für sie blieb der Verfasser immer in völliger Namenlosigkeit, aber der kleinere Kreis der Lesekundigen konnte seine Identität in Erfahrung bringen, wenn er die Anfangsbuchstaben der Zeilen zusammensetzte. […] Wer seinen Namen in den Zeilenanfängen versteckte, webte sein Monogramm unauslöschbar in seine Arbeit ein. Auch ein späterer Kopierer konnte seinen Namen nicht löschen, er konnte nicht einmal am Text so leicht etwas ändern, konnte die Gedichte nicht kürzen oder ergänzen, ohne dass das Akrostichon den unbefugten Eingriff verraten hätte. Die Verteidigung gegen unberufene Kopisten und die dauerhafte Verwebung des Namens mit dem Text der Arbeit waren natürlich zweitrangige Motive bei der Anwendung von Akrosticha und traten erst in der späteren, entwickelteren Schriftlichkeit in den Vordergrund, als das ursprüngliche Motiv des Namensversteckens, die Demut, bei den Schreibern und Lesern schon in Vergessenheit geraten war. (Thienemann 1930, 99–100, Ü: Ch. Kunze)
Die letzte (vierzehnte) Strophe kann gleichzeitig als Kolophonparodie verstanden werden: Hier sind nämlich, nachdrücklich negativ, die Herren Äbte erwähnt, auf Ungarisch apát urak – laut Akrostichon hieß der Verfasser Apáti (Abt = apát). Die Versform ist im 16. Jahrhundert sehr selten: a12(6,6)a12(6,6)a12(6,6)a6. Das Metrum ist zu dieser Zeit nur bei Balassi belegbar, der in dieser Form drei Gedichte schrieb, die allesamt Anbetungen sind. Der terminus post quem des Gedichtes ist der Bauernaufstand in Ungarn von 1514, dessen blutige Folgen in der neunten Strophe bereits thematisiert werden (Barta–Klaniczay 1963, 139): Sámsonnak alejtá az pór önnönmagát. Látod nagy haragját, nem tiszteli urát; Fogjad meg szakállát, vedd csak el jószágát, Megalázza magát.
In der Übersetzung von Martin Remané: Bauer, weigerst du dich, deinen Herrn zu ehren, / wagst du wie ein Simson dreist aufzubegehren, / packt man dich beim Bart und nimmt dir, was dein Eigen! / Schnell wirst du dich beugen! (Klaniczay 1978, 77)
Im Gedicht werden fast alle Schichten der Gesellschaft satirisch verspottet, wie Adlige, Hofleute, Priester, Bauern, junge Frauen und Studenten. In der 12. und 13. Strophe wird schließlich das Lob der Vergangenheit (laudatio temporis acti) formuliert, ein Topos, der zwar nicht gänzlich neu war, jedoch durch die historischen Ereignisse an Aktualität gewonnen hatte. Er behielt seine Bedeutung noch jahrhundertelang bei und bildet die Basis für die „Klage Ungarns“ (Querela Hungariae), die im 16. Jahrhundert Verbreitung fand (Barta–Klaniczay 1963, 139):
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Az régi jó kerályok míglen országlának, Igazak valának az szegény országnak; Az szent koronának híven szolgálának, Avval áldozának. Tennie kellene ezt az nagy uraknak! Nagy sok lika vagyon erdőn az ravasznak, Nincs birodalma rajta agaroknak, Halál az nyulaknak. Gute Fürsten gab es in vergangenen Zeiten, / die gerecht sich zeigten auch den armen Leuten / und der heiligen Krone, über die sie wachten, / gern ihr Opfer brachten. // Doch die Herrn von heute sind von großem Dünkel, / haben wie die Füchse vielerlei Schlupfwinkel / wo sie von den Hunden, die nur Hasen fassen, / sich nicht kriegen lassen. (Klaniczay 1978, 77)
Die metaphorische Redeweise (Füchse, Hunde, Hasen) ist besonders auffallend und poetisch. Die erste satirische Dichtung in ungarischer Sprache bietet also sowohl in ideengeschichtlicher als auch in poetischer Hinsicht wichtige Ansatzpunkte für das spätere literarische Schaffen in Ungarn (Gerézdi 1962, 95–96).
I.2.6 Preislied der Familiares: das Lied des László (Ladislaus) Geszti Dem fragmentarisch erhaltenen Lied von Geszti fehlen eine, vermutlich aber sogar zehn Strophen: Das Akrostichon in den sechs erhaltenen Strophen ergibt nämlich den Bruchteil des Namens ESTIPG, im Kolophon sind aber der Name des Verfassers und die genaue Jahreszahl (1525) sowie die Umstände und die bedrückenden Verhältnisse des Landes ausführlich angegeben (Barta–Klaniczay 1963, 139–140, Ü: Verfasser): Geszti László diák szerzé ez éneket, Magyarország vala nagy fő szükségben, Az végek valának mind elveszendőben, Ezerötszázhuszonöt esztendőben. Der Scholar Ladislaus Geszti verfasste dieses Lied / als Ungarn sich in äußerster Not befand / als die Grenzfestungen schon alle gefallen waren / im Jahre fünfzehnhundertfünfundzwanzig.
Das strophische Gedicht wurde in der am häufigsten genutzten ungarischen Strophenform des 16. Jahrhunderts verfasst (a11a11a11a11) und weist Elemente der Kunstdichtung wie Akrostichon und Kolophon auf. Seine große Bedeutung für die Kultur- und Literaturgeschichte Ungarns besteht darin, dass die erste
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überlieferte Strophe (nach Rekonstruktion mit Hilfe des Akrostichons die zweite [G], eher wohl aber die elfte [LADISLAUSG]) einen häufig verwendeten Topos enthält: Ez vég pusztaságról megemlékeznétek, […] el ne vesznétek, Az régi jó nevet megelevenítenétek, Az kereszténységnek jó vérti lennétek. Denkt an die Verwüstung der Grenzburgen / […] verliert euch nicht / ihr sollt den alten guten Namen wieder beleben / und starker Panzer der Christenheit sein.
Hier wurde der lateinische Topos des propugnaculum / clypeus Christianitatis (Bollwerk oder Vormauer des Christentums), damals schon seit etwa 70 Jahren bekannt und in der europäischen Öffentlichkeit ab dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts eifrig verbreitet, zum ersten Mal in einem ungarischen Gedicht formuliert. Der Erfinder dieser Eigenschaft der tapferen Ungarn war der ungarische König Zsigmond (Sigismund, 1368–1437, ab 1433 auch römischer Kaiser), der sich selbst den Titel advocatus et defensor ecclesiae verlieh, verbreitet wurde der Topos aber – parallel mit dem der fertilitas Hungariae / Pannoniae, also des Reichtums des Landes – von Enea Silvio Piccolomini. Enea Silvio, der Bahnbrecher des Humanismus in Österreich, wurde 1442 von König Friedrich IV. zum poeta laureatus gekrönt und zu seinem Sekretär bestellt. Er war ab 1447 Bischof von Trient und ab 1458 Papst Pius II. In seinen Briefen verband er den Topos propugnaculum Christianitatis propagandistisch mit der fertilitas Pannoniae / Hungariae, stärkte damit das Selbstbewusstsein der heldenhaften Ungarn und hatte die Absicht, sie zum Kampf gegen die Osmanen zu motivieren. Die europäische Öffentlichkeit betrachtete diese Eigenschaft der Ungarn und auch den Reichtum des Landes zunächst mit Sympathie; der schon mehrfach erwähnte Galeotto Marzio schrieb, die Theiß (der Fluss Tisza) enthalte ein Drittel Fisch und nur zwei Drittel Wasser (Tibiscum, quem Titiam vocant, non valde latum, sed profundum, ut fama sit apud accolas duas illius fluvii partes esse aquas, tertiam vero pisces, op. cit. 6. Kapitel). Die beiden Topoi übten äußerst fruchtbare und lang anhaltende Wirkung aus: Der fertilitas-Topos wurde bald im Interesse der Schicksalsparallele der Juden und Ungarn, der beiden auserwählten Nationen, verwendet. Der Bollwerk-Topos hatte eine wechselvolle Geschichte – ab dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts trifft man auch die entgegengesetzte Bedeutung der früher so lobenden Charakteristik der Ungarn an (Verräter, und nicht Verteidiger des Christentums) –, lieferte aber weiterhin ein überzeugendes Argument für die Kampfbereitschaft gegen die Osmanen.
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I.3 Der Humanismus in Ungarn Der humanistische Gedanke erschien in Ungarn bereits zur Regierungszeit der Anjou-Dynastie, also im frühen 14. Jahrhundert. Schon Lajos (Ludwig I., der Große genannt, König von Ungarn von 1342 bis 1382) kannte und würdigte Petrarca, schrieb sogar Briefe an ihn und versuchte, in Ungarn ebenfalls eine Universität zu gründen. Nach Prag (1348), Krakau (1364) und Wien (1365) wurde relativ früh und im Zusammenhang mit diesem Bildungsprogramm Mitteleuropas 1367 in Pécs (Fünfkirchen) die erste Universität auf ungarischem Boden gegründet. Papst Urban V. (von 1362 bis 1367 in Avignon, dann bis 1370 in Rom) bewilligte jedoch die Gründung einer theologischen Fakultät in Pécs nicht. Die wichtigste Fakultät wurde hier die juristische mit besonderem Nachdruck auf dem Kirchenrecht. Ohne theologische Fakultät konnte die Universität aber nur etwa zehn Jahre existieren. Auch König Zsigmond (Sigismund) hatte reges Interesse an der italienischen Kultur, und sein Hof in Buda (er verlegte 1404 den königlichen Hof dorthin) war ein Repräsentationsort europäischer Kultur. 1395 unternahm auch er einen Versuch, in Ungarn, diesmal in Óbuda (Altofen, lat. Aquincum), eine Universität zu gründen. Auch diese Bildungsstätte war relativ kurzlebig, ab 1420 ist uns keine Nachricht mehr über ihre Existenz bekannt. König Zsigmond (Sigismund) berief 1418 den damals schon weitbekannten Humanisten und Pädagogen Pietro Paolo Vergerio (1369–1444) nach Buda. Vergerio, Schüler Petrarcas, hatte am Konstanzer Konzil teilgenommen und folgte der Einladung des ungarischen Königs nach Ungarn: Mit ihm begann hier das humanistische Interesse überhaupt und damit auch jenes an der humanistischen Bildung. Ein Freund, der Erbe seiner Bibliothek und treuer Anhänger seiner Ideen war János (Johannes) Vitéz (um 1400–1472), ein Adliger slawonischer Abstammung, der von König Matthias sowohl in der kirchlichen als auch in der weltlichen Verwaltung ansehnliche Würden verliehen bekam. Vitéz studierte in Wien und wurde ab 1439 in der königlichen Kanzlei in Buda beschäftigt; um 1440 gründete er die erste akademische sodalitas auf ungarischem Boden. Als Protonotar formulierte er die diplomatischen Briefe des Königs. Pro studio wollte er nach Italien reisen, „wegen der Unsicherheit der Landstraßen“ kehrte er aber in Zagreb (Agram) um. Nach Vergerios Tod 1444 wurde Vitéz zum Kanzler und zum Bischof von Várad (Wardein, heute Oradea, Rumänien) ernannt, 20 Jahre später (ab 1465) wurde er Erzbischof von Esztergom (Gran), erhielt also die höchste kirchliche Würde in Ungarn. Zum Centenarium der ersten Universität in Ungarn gründete der mächtige König Matthias 1467 in Pozsony (Pressburg, heute Bratislava, Slowakei), die Universität Academia Istropolitana und ernannte Vitéz zum Kanzler. Vitéz konnte nicht in Italien studieren, obwohl dies – wie er berichtet – sein größter Wunsch war. Er schickte aber auf seine Kosten ungarische Studenten an italie-
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nische Universitäten, unter anderen seinen Neffen, den wir nur mit seinem Dichternamen kennen: Janus Pannonius. Vitéz konnte die aggressive Politik König Matthias’ gegen Böhmen nicht unterstützen, wies den König hingegen leidenschaftlich auf die osmanische Gefahr hin und geriet auf diese Weise in die Opposition. 1472 wurde er verhaftet, später unter ständige Aufsicht gestellt; er starb im selben Jahr. Er lud auch den deutschen Buchdrucker Andreas Hess nach Buda ein; aus seiner Werkstatt ging das erste in Ungarn gedruckte Buch, die Chronica Hungarorum, hervor, sie erschien jedoch erst nach Vitéz’ Tod 1473 (RMNY Nr. 2). Das Werk ist eine Variante der im 14. Jahrhundert zusammengestellten ungarischen Chronik und besteht aus zwei Teilen: Die Hunnengeschichte wurde in 24, die Geschichte der Ungarn in 246 Abschnitten behandelt. Vitéz schrieb für den Reichsverweser János (Johann) Hunyadi nach dessen Konzepten wichtige Briefe und begründete damit die humanistische Briefliteratur in Ungarn. Er studierte vor allem die Briefe und die Anweisungen für die ars dictaminis von Cicero und verfasste das erste lateinisch-humanistische Epistolarium ungarischer Provenienz. 78 seiner Briefe aus der Zeit 1445–1451 wurden von einem Kanonikus aus Wardein veröffentlicht und mit Anmerkungen versehen. Diese Briefe sind thematisch, und nicht chronologisch geordnet (epistola familiaris, Flugschriften sowie diplomatische Briefe). Sprachlich trat Vitéz der barbarischen (bäuerlichen) Latinität entgegen, inhaltlich beschäftigte er sich angstvoll mit dem bedrohlichen Schicksal seiner Heimat und verfasste verzweifelte Briefe z. B. an den Papst, um Hilfe für Ungarn im Türkenkrieg zu erbitten. In seinen Briefen betrachtete er den eigentlich so stolz verwendeten Topos des propugnaculum / clypeus Christianitatis schon etwas ungeduldig und kritisch: Seiner Meinung nach waren die Ungarn wegen des ständigen inneren Zwiespalts nicht immer in der Lage, das europäische Christentum zu verteidigen. Zum medial-semiöffentlichen Status der humanistischen Briefliteratur vgl. Thienemann: Der Humanismus lebte mit halber Seele noch in der vornehmeren, untergehenden Welt der Handschriftlichkeit, manchmal betrachtete er die stürmische Vulgarisierung der Wissenschaften sogar mit Abneigung. Die Humanisten schrieben großteils für Mäzene und lebten von der Gunst von Mäzenen, wie die professionellen Verfasser der handschriftlichen Werke. Die enge Verbundenheit mit der Handschrift zeigt auch ihre bevorzugte literarische Form: der familiäre Brief, der eine größere Öffentlichkeit schon von vornherein ausschließt. Zwar verbreiteten sich diese Briefe in Kopien genauso wie andere handschriftliche Arbeiten, mehr noch, indiskrete Adressaten ließen – da die Handschrift noch nicht ausreichend von den gedruckten Buchstaben unterschieden war – die an sie gerichteten Briefe oft sogar drucken. (Thienemann 1930, 144, Ü: Ch. Kunze)
Vitéz’ Neffe, der Sohn seiner Schwester, dessen Auslandsstudien und kirchliche Karriere in Ungarn er großzügig förderte, war Janus Pannonius (1434–1472). Für den Gebrauch der Bezeichnung ‚Pannonia‘ finden sich (abgesehen von Anony-
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mus in seinen Gesta) längere Zeit kaum Beispiele; ausschließlich die italienischen Humanisten verwendeten den römischen Namen ‚Pannonia‘ anstelle von ‚Hungaria‘. In ihren Briefen an König Matthias gaben sie ihm immer den Ehrennamen „Rex Pannoniae“. Im Sprachgebrauch der Humanisten wurden die Termini ‚Hungaria‘ und ‚Pannonia‘ gleichgesetzt: „Jener Teil von Europa, der jetzt Hungaria heißt, wurde von den Alten Pannonia genannt“ – begann Ransano (Petrus Ransanus, 1428–1492) seine kurze Beschreibung Ungarns (Epithoma rerum Hungarorum, Viennae, 1552). In der ungarischen Geschichte von Antonio Bonfini (1427–1502, Rerum Ungaricarum decades, Basel, zunächst 1543, erweitert 1568) wurden die beiden Namen schon synonym verwendet. Die Humanisten wussten natürlich, dass die Grenzen der römischen Provinz nicht mit denen der Hungaria zusammenfielen (die östliche Grenze, der Limes, war nämlich die Donau), sie erweiterten den Begriff bald auf das gesamte Gebiet des historischen Ungarns. Janus Pannonius (sich selbst nannte er meist Johannes Pannonius, in der Literaturgeschichte ist er oft nur als Janus bekannt) begann 1447, im Alter von 13 Jahren, seine Studien in Italien, wo er mit einer kurzen Unterbrechung elf Jahre verbrachte. Danach kehrte er, bereits promoviert, nach Ungarn zurück. Er besuchte die berühmte Schule des Guarino da Verona in Ferrara und studierte dann noch vier Jahre die beiden Rechte in Padua. In seiner Zeit in Ferrara war er schon ein geübter Dichter, seine liebste, poetisch aber schon fertig vorgefundene Gattung war hier das Epigramm. Sein Vorbild war Marcus Valerius Martialis, der in zwölf Büchern 1200 Epigramme verfasst hatte. Inhaltlich bezogen sich Janus’ Epigramme auf Erlebnisse in der Schule und auf körperliche und geistige Schwächen seiner Mitstudenten und Bekannten; sie lassen sich in drei Kategorien einteilen, nämlich in satirische, erotische und panegyrische, d. h. lobende Epigramme. Mit dieser äußerst beliebten Kurzform konnte er gleichzeitig loben und spotten, baute meist auf Wortspielen auf und karikierte seine Bekannten, Freunde und Mitstudenten. Das Epigramm De Silvia (Über Silvia) diente z. B. einer scharfen und sehr geistvollen Belehrung (V. Kovács 1972, 74): Ex te concipio, meretrix mihi, Silvia, dicis, Silvia, non magis hoc dicere, crede, potes; Quam si per spinas incedens, Silvia, densas, Dixeris: ista meum, laesit iniqua, pedem.
Aus dem Lateinischen von Volker Ebersbach: Silvia, du, eine Dirne, behauptest: ‚Ich bin von dir schwanger.‘ / Silvia, sage das doch, glaube mir, lieber nicht laut! / Das ist, als gingest du, Silvia, mitten durch Hecken und klagtest: / ‚Ach, dieser elende Dorn hat mir den Schenkel zerschrammt!‘ (Klaniczay 1978, 57)
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Anlässlich des Heiligen Jahres 1450 betrachtete er den Pilgerstrom nach Rom mit Skepsis und erklärte in Frageform, dass das wirkliche Seelenheil nicht ortsgebunden sei (V. Kovács 1972, 112): Deridet euntes Romam ad Iubillaeum Hispani, Galli, Sclavini, Teutones, Hunni, Clavigeri petitis limina sancta Petri. Quo ruitis stulti, Latios ditare Telonas? Salvari in patria siccine nemo potest?
Aus dem Lateinischen von Volker Ebersbach: Verspottung der Pilger zu den Jubiläumsfeierlichkeiten in Rom / O ihr Spanier, Gallier, Slawen, ihr Deutschen und Ungarn / strömt zum heiligen Dom Petri, des Pförtners, herzu. / Toren! Was rennt ihr, die römischen Tempel noch weiter zu füllen? Kann denn keiner sein Glück finden im eigenen Land? (Klaniczay 1978, 58)
Sein Mitstudent und Freund in Ferrara, der wiederholt erwähnte Galeotto Marzio, befand sich ebenfalls unter diesen Pilgern. Janus ärgerte sich über die falsche Frömmigkeit eines Humanisten wie Galeotto und bedachte ihn mit scharfer Kritik (V. Kovács 1972, 114): Galeotti peregrinationem irridet Cur et tu, cur, poeta cum sis, Parnasi tamen arce derelicta, Cum capsa, Galeotte, cum bacillo, Romanam peregrinus is in urbem? Hoc plebs credula gentium exterarum, Hoc larvas solitum timere vulgus, Hoc turbae faciant hypocritarum. […] Dilectis, age, dic valere Musis, Sacras rumpe fides, et alma Phoebi Claudo carmina da fabro Deorum. Nemo religiosus et poeta est.
Aus dem Lateinischen von Volker Ebersbach: Verspottung der Pilgerfahrt Galeottos / Warum, frage ich, hast denn du, ein Dichter / dich geschlichen vom Gipfel des Parnassus, / mit dem Stab, Galeotto, und dem Quersack / ausgerüstet, um auch nach Rom zu pilgern? / Das ist Sache des frommen fremden Pöbels / und des Volkes, das vor Gespenstern Angst hat, / das ist die Sache des großen Heers der Heuchler! / […] / Sag den Musen ade, die heiligen Saiten / reiß entzwei! Die Gesänge des Apollo / gib dem hinkenden Waffenschmied der Götter! / Wer den Pfaffen sich beugt, der ist kein Dichter. (Klaniczay 1978, 58)
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Die These („Nemo religiosus et poeta est“, „Wer den Pfaffen sich beugt, der ist kein Dichter“) ist eine ziemlich radikale Ansicht für einen ultramontanus, d. h. eines Humanisten aus einem Land nördlich der Alpen: Der Humanismus jenseits den Alpen blieb nämlich immer christlich, der Gedanke in Italien war aber viel freier und nicht streng religionsgebunden. Glaube an Götter, wer mag! – schrieb Janus anlässlich des Todes von Laurentius Valla (De Laurentio Valla) und vertrat selbstbewusst das heidnische Erbe des italienischen Humanismus. Stolz (aber mit der affektierten Bescheidenheit eines Humanisten) wies er, schon aus Italien heimgekehrt, darauf hin, dass er fähig sei, die lateinisch-italienische Kultur auch in einem weit entfernten und barbarischen Land zu pflegen (V. Kovács 1972, 191): Laus Pannoniae Quae legerent omnes, quondam dabat Itala tellus, Nunc e Pannonia carmina missa legit. Magna quidem nobis haec gloria; sed tibi maior, Nobilis ingenio, patria facta, meo.
Aus dem Lateinischen von Stephan Hermlin: Lob Pannoniens / Das, was jedermann las, gab einst italische Erde, / Nun bringt Pannonien auch eigene Lieder hervor. / Ruhm wird ihnen zuteil. Doch größerer Ruhm sei gespendet, / Edles Vaterland, dir, das diese Lieder gebar. (Klaniczay 1978, 59)
Im ausgehenden Winter 1455 verbrachte Janus einige Monate in Wardein im Kreis seines Onkels János Vitéz. In seinem Briefwechsel wurde er damals schon als custos Varadiensis erwähnt, erhielt also in jungen Jahren eine kirchliche Würde. Vor seiner Rückfahrt nach Padua verfasste er ein Abschiedsgedicht, das von der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung schon seit Jahrhunderten hoch geschätzt wird. Auch die jüngste Forschung ist der Meinung, dass die schönste seiner Elegien eben dieser Abschied von Wardein sei (Abiens valere jubet sanctos reges Varadini). In sieben Strophen beschreibt er die Freude auf die Fahrt; auf ihn warten nämlich neue Erlebnisse an der Donau. Die erste Strophe soll hier zitiert werden (V. Kovács 1972, 324): Omnis sub nive dum latet profunda Tellus, et foliis modo superbum Canae dum nemus ingravant pruinae, Pulchrum linquere Chrysium iubemur, Ac longe dominum volare ad Istrum. Quam primum, o comites, viam voremus.
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Aus dem Lateinischen von Volker Ebersbach: Während unter dem tiefen Schnee die ganze / Erde ruht und der bleiche Reif den hohen / Wald gerade wie weißes Laub belastet, / müssen wir von dem schönen Körös hin zur / Donau, unserer stolzen Herrin eilen. / Auf denn, Freunde, so schnell wie möglich vorwärts! (Klaniczay 1978, 61)
Der Refrain, „Quam primum, o comites, viam voremus“ („Auf denn, Freunde, so schnell wie möglich vorwärts!“) stammt von Catull, das Gedicht wird aber schon jeher als die schönste Kundgabe inneren Erlebens in lateinischer Sprache in der ungarischen Literatur bewertet. Janus’ Gedicht liegt nachweislich eine Beschreibung Paduas zugrunde, die aus dem damaligen Schulunterricht wohlbekannt war. Die überzeugenden Parallelen zwischen den beiden Stadtbeschreibungen (Padua und Wardein) sind zwar sehr wichtig, aber nicht unerwartet, findet sich doch in Lobgedichten auf Städte und Länder regelmäßig die unmittelbare Verbindung zwischen antiker Epideixis und neulateinischer Poesie. Für das Städtelob bot die spätantike Theorie genaue Vorschriften; der panegyrische Stil beeinflusste auch die Lyrik: Die meisten lyrischen Themen entstammen epideiktischen Topoi. Die Themen waren also vorgegeben und dienten der Schulübung. In der epischen Dichtkunst versuchte sich Janus schon in Italien mit der zeitgebundenen Festrede, mit dem Panegyrikon. An dem Lobgedicht auf den berühmten Lehrer Guarino da Verona, der sein ganzes Können der Erziehung der Jugend widmete, arbeitete er jahrzehntelang; es ist ohne Zweifel sein Hauptwerk in dieser Gattung. Für Panegyrici auf Menschen wurde durch die Technik der formula laudis das Lob von drei Zeitstufen (temporibus tribus) vorgeschrieben, nämlich das der Taten der Ahnen, der Jugend (Bildung, Studien usw.) sowie des Mannesalters. Janus kannte wohl die poetischen Anweisungen der Gattung und folgte dem Schema: In diesem Gedicht, das über 1.000 Zeilen umfasst, werden nicht nur die Studien und die späteren Verdienste Guarinos dargestellt, sondern auch seine Werke und bekannt gewordenen Studenten aufgelistet. Das Lob auf Guarino ist ein Lob des Humanismus selbst. Janus hob die Neubewertung der griechischen Kultur nachdrücklich hervor und würdigte die klassische Latinität. In den 1460er Jahren schrieb Janus einen impulsiven Brief an Galeotto (der Brief ist nicht datiert), in dem er seinem Freund vorwarf, fast alle seiner lateinischen Bücher schon verliehen und mitgenommen zu haben, ihm blieben in seiner Bibliothek nur die griechischen. Mit scheinbarem Ärger schrieb er über diesen Leseeifer seines Freundes und bemerkte nicht ohne Spott, es sei noch ein Glück für seine Bibliothek, dass Galeotto und seine engeren Freunde nicht Griechisch könnten. Sollten sie aber einmal auch die griechische Sprache erlernen, müsste er mit hebräischen Codices eine neue Privatbibliothek gründen.
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Dieser Brief ist für uns nicht nur deshalb interessant, weil Janus zu jener Zeit nicht Hebräisch las, sondern auch, weil Galeotto und seine Freunde in Italien kein Griechisch konnten. Janus hingegen sammelte griechische Handschriften und war damit unter den Ersten, die die Wichtigkeit der gerade erst wiederentdeckten griechischen Philosophie und Kunst verstanden. Er stand in engem, freundschaftlichem Kontakt mit Marsilio Ficino (1433–1499), dem princeps academiae in Florenz, der Platon übersetzte und kommentierte. Janus schickte ihm Elegien, Ficino widmete Janus den Kommentar De amore zu Platons Gastmahl. Sie waren im gleichen Alter (der um sechs Jahre ältere Galeotto gehörte jedoch noch einer älteren Generation an) und begeisterte Verehrer der Philosophie von Platon. Es ist Konsens in der ungarischen Forschung, dass die Rezeption und Mitgestaltung von führenden Geistesströmungen in Ungarn niemals so aktiv und fruchtbar war wie in dieser Zeit. Nach seiner Rückkehr aus Italien wurde Janus 1459 Bischof von Pécs und Vertreter des Königs an der hohen Kurie. In Pannonia schrieb er dann vorwiegend Elegien, in dieser Form wurde er zum größten neolateinischen Dichter der Zeit. In diesen Elegien verwendete er parallel das literarische Modell der ovidischen Klagelieder (Tristia) und die neuplatonische Philosophie. In seiner Dichtung traten in wohlbekannten poetischen Formen zum ersten Mal auf pannonischem Gebiet innere Gefühle und Erlebnisse zum Vorschein, obwohl das Wesen seiner Poetik nicht in der Individualisierung liegt, sondern in der gelehrten Auseinandersetzung (imitatio und aemulatio) mit den Texten vorbildhafter Dichter. Das innovative Moment der Imitation besteht im gleichzeitigen Vorhandensein des Selbsterlebten und des literarisch Vorstrukturierten (Jankovits 2002). In dem Gedicht Ad animam suam wird z. B. die philosophische Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ganz im Sinne des italienischen Neoplatonismus behandelt. Der Schluss, d. h. die peroratio, des Gedichtes (V. Kovács 1972, 370): Quidsi te cogent immitia fata reverti, Quidlibet esto magis quam miserandus homo. Tu vel apis cultos, lege dulcia mella, per hortos, Vel leve flumineus concine carmen olor. Vel silvis pelagove late; memor omnibus horis, Humana e duris corpora nata petris.
Aus dem Lateinischen von Volker Ebersbach: Doch wenn das Schicksal dich unnachgiebig zur Rückkehr beordert, / werde, was immer du willst, nur nicht ein elender Mensch! / Fliege als Biene durch Gärten und sammle den süßesten Honig, / stimme dein schüchternes Lied an als ein Schwan auf dem Fluss, / lebe verborgen in Wäldern und Meeren, bedenke es immer, / dass der menschliche Leib sprosste aus sprödem Gefels! (Klaniczay 1978, 63)
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Janus, der sich stets nach Italien sehnte, fiel in Ungnade (gemeinsam mit seinem Onkel lehnte er die Machtpolitik König Matthias’ ab) und starb während der Flucht im Alter von 38 Jahren. Soweit uns bekannt ist, schrieb er ab 1468 keine Gedichte mehr. Seine italienischen Freunde Ficino und Galeotto überlebten ihn, Ficino veröffentlichte sein Hauptwerk (Theologia Platonica de immortalitate animorum) zehn Jahre nach Janus’ Tod, Galeotto weilte wiederholt kürzere Zeit in Buda, wo er auch als Bibliothekar in der Bibliotheca Corviniana angestellt wurde. Als nach der Heirat Matthias’ mit Beatrix von Aragon aus Neapel (1476) der italienische Einfluss am Hof wirklich spürbar wurde und sich in Buda ein platonischer Kreis zu formieren begann, lebte Janus Pannonius nicht mehr. Nach dem Tod von Vitéz und Janus wurden ihre Büchersammlungen in der königlichen Bibliothek aufgestellt. Diese Bibliothek, die Bibliotheca Corviniana, war eine der berühmtesten Fürstenbibliotheken der Zeit, sie umfasste in etwa 2.000 Kolligatbänden 4.000 bis 5.000 Werke, vorwiegend Handschriften. Nach der päpstlichen Bibliothek war sie die zweitgrößte Büchersammlung ihrer Zeit. Laut jüngeren Forschungen enthalten aber die Corvina-Codices nicht die ältesten und auch nicht die besten Texte: Für die Bibliotheca Corviniana wurden Texte abgeschrieben, die in den italienischen Humanistenbibliotheken zugänglich waren. Den Reichtum und den inhaltlichen Wert machte die große Zahl der griechischen Werke aus, die teils ins Lateinische übersetzt wurden. Als König Matthias 1490 in Wien starb, stand die Bibliothek auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung: Handschriften, die für die Corviniana noch in Arbeit waren, gerieten dann in Besitz anderer Herrscher, vorwiegend der Familie Medici. Die Bibliothek in Buda wurde in den schweren Kriegszeiten nach der Niederlage bei Mohács (1526) ausgeraubt. Die Janus-Philologie begann in Wien: 1512 wurde hier zunächst der GuarinoPanegyricos veröffentlicht, 1514 erschienen dann zehn Elegien von ihm ebenfalls in Wien. 1518 gab Beatus Rhenanus Janus’ Gedichte in Basel heraus, eine Gesamtausgabe plante erst der Siebenbürger Sachse Adrianus Wolphardus, die Sammlung seiner Ausgabe (Bologna, 1522) war aber auch nicht vollständig abgeschlossen. Die erste kritische Ausgabe wurde 1784 von Graf Sámuel Teleki herausgegeben: Poemata quae uspiam reperiri potuerunt omnia I–II. Utrecht.
I.4 Erasmus in Ungarn und die Türkenfrage. Gattungen der Propaganda der Reformation Die textkritische Bibelübersetzung von Erasmus Rotterodamus (1516) gab den Interpretationen und dem Textverständnis in lingua vulgaris rege Impulse. Die Bibel, eigentlich das Neue Testament, sollte allgemein zugänglich sein, auch die
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idiotae et mulierculae müssten die Schrift verstehen. Darüber hinaus wurde die Literarizität auch auf transzendente Weise autorisiert und aufgewertet: Im 16. und 17. Jahrhundert, in diesem neuen protestantischen und katholischen Mittelalter, strömte alle geistige Bildung aus dem religiösen Leben, und hierin gibt es keinen Unterschied zwischen den protestantischen partikularen Kulturen und dem einheitlichen Reich der römischen Kirche. Der Weg hin zu den Gütern der Bildung führte nur durch die Religion: auch das Schreibenkönnen gewann seine Heiligung durch seine transzendenten Züge. ‚Wenn du liest, spricht Gott mit dir‘, sagt Rimay am Anfang seines handschriftlichen Gebetbuches. Die gesamte ungarische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts ist tatsächlich vom religiösen Geist durchdrungen, sie ist auf unsichtbare Weise Klosterliteratur, sie enthält geistig in sich das Evangelium, wie es ihr die alte und die neue Religion gleichermaßen zur Aufgabe gemacht hatten. (Thienemann 1930, 155, Ü: Ch. Kunze)
Humanismus und Bibelübersetzung gehören in der Geschichte der literarischen Kommunikation eng zusammen und fördern ihre Publizität im Zeichen der transzendenten Autorität: Dass der Humanismus in der ungarischen und deutschen Literatur zuerst in gedruckten Buchstaben die Stimme erhebt, ist mehr als reiner Zufall: es ist ein augenfälliges Zeichen für den inhaltlichen Zusammenhang, mit dem die tiefreichendsten, in der Religion entspringenden Wurzelfasern des Humanismus am gedruckten Buchstaben haften. Die Religion drückt in dieser Zeit ihr Verhältnis zum gedruckten Buchstaben am treusten aus: ebenso groß wie die Bedeutung, zu der sich das geschriebene oder gedruckte Wort im Leben der Gesellschaft aufschwingt, ist die Funktion der Bibel im religiösen Leben. Die Bibel ist die Verherrlichung des geschriebenen Wortes: „der Biblizismus und die litteratura sind Geschwistererscheinungen“, ferner: „Gott hat sich den gedruckten Buchstaben zum Mittel für seine Äußerungen erwählt – das ist das Alpha und Omega des reformatorischen Glaubens –; aus der Heiligen Schrift spricht Gott zu uns. (Thienemann 1930, 145, 148–149, Ü: Ch. Kunze)
Diese Disposition ist schon vollständig vom Ideal des festen Textes, seiner abgeschlossenen, gar kanonischen Gestalt beherrscht. Nach der Inspiration von Erasmus begann auch in Ungarn die gelehrte, auf humanistischer Bildung und Kenntnis basierende Übersetzung des Neuen Testaments. Benedek Komjáti, der von 1527 bis 1529 in Wien studierte, wurde Praeceptor (Privatlehrer) bei der Familie Perényi. Obwohl er den höfischen Dienst gar nicht anstrebte (mit ihm begann die Hofkritik in ungarischer Sprache), war er eine Zeit lang Erzieher des jungen János Perényi. 1533 übersetzte er hier auf Wunsch der Witwe von Gábor Perényi, die nur Ungarisch sprach und las, die Briefe des Apostels Paulus (Epistolae Pauli lingua hungarica donata, Krakau, 1533. RMNY Nr. 12). Gábor Pesti (gest. nach 1548), sein Kommilitone in Wien, erwarb humanistische Bildung und war ebenfalls ErasmusAnhänger. Nach Janus Pannonius nannte er sich Gabriel Pannonius, und in der Verwirrung nach der schweren Niederlage bei Mohács (1526) konnte er einen Kodex aus der Bibliotheca Corviniana retten, der die Abschriften der Epigramme
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von Janus Pannonius enthielt. Er nahm den Kodex nach Wien mit und übergab ihn dort seinem Professor, dem Humanisten Alexander Brassicanus, womit er großen Einfluss auf die Janus-Philologie der Nachwelt ausübte. Sein erstes Werk war die Übersetzung der vier Evangelien, er ließ es 1536 zur Ehre der ungarischen Sprache und Kultur in Wien veröffentlichen (Novum Testamentum seu quattuor evangeliorum volumina lingua Hungarica donatus, RMNY Nr. 16). Im selben Jahr erschien seine Äsop-Übersetzung (Aesopi Phrygis fabulae Gabriele Pannonio Pesthinio interprete, RMNY Nr. 17). Aus einer lateinischen Äsop-Ausgabe um 1530 nahm er 185 fabulae in seinen Band auf. Alle Fabeln wurden mit Erklärungen von dreizeiligen Gedichten versehen. Im lateinischen Vorwort zu den ungarischsprachigen Fabeln fasste er sein humanistisches Programm folgendermaßen zusammen: „Ich sehe, dass fast alle Menschen, fast alle Nationen der Erde eine wunderliche Vielfalt der Übersetzungen besitzen, nun frage ich, ist es mir nicht erlaubt, die Sprache und den Geist der Unsrigen mit meinen geringen Kräften zu pflegen?“ Für die Pflege der Sprache arbeitete er noch an einem Vokabular: Eine fünfsprachige Nomenklatur ergänzte er mit ungarischen Wörtern (Nomenclatvra sex lingvarvm, Latinae, Italicae, Gallicae, Bohemicae, Hungaricae et Germanicae, Wien, 1538. RMNY Nr. 21). Der philologisch, sprachphilosophisch und rhetorisch hoch gebildete János Sylvester (um 1504–1551) übersetzte dann das gesamte Neue Testament ins Ungarische. Ab 1526 studierte er in Krakau, ab 1529 in Wittenberg, wo auch Mátyás (Matthias) Bíró Dévai (?–1545), sein Mitstudent und Freund, der erste ungarische Reformator, weilte. Die unterschiedlichen Karrieren der beiden Freunde zeigen zwei mögliche Wege der intellektuellen Orientierung in der ersten Hälfte des konfessionell und politisch äußerst intensiven 16. Jahrhunderts: Dévai wurde evangelischer Prediger und aktiver Verbreiter der Ideen der Reformation an verschiedenen Orten und Gemeinden, Sylvester blieb in der katholischen Kirche und wurde 1534 Schulrektor im Dienste der Familie Nádasdy in Sárvár. Als Wittenberger Student würdigte er Melanchthon als Praeceptor, Luther wird in seinen Werken nicht erwähnt. Er verfasste die erste ungarische Schulgrammatik in usum puerorum (Grammatica Hungarolatina, Sárvár, 1539. RMNY Nr. 39), den ersten Versuch einer systematischen Grammatik der ungarischen Sprache. Die Bedeutung dieses Werkes liegt in der erstmaligen Grammatisierung der ungarischen Sprache. Diese grammatischen Ausführungen stellten jedoch nur Vorarbeiten für sein Hauptwerk dar, für die gelehrte Übersetzung des Neuen Testaments (Sárvár, 1541. RMNY Nr. 49). Es erschien mit Unterstützung des Magnaten Tamás Nádasdy, der für die Bücher von Sylvester in Sárvár eine eigene Offizin einrichten ließ. Während der textkritischen Übersetzung des Neuen Testaments fielen Sylvester zwei Eigenarten der ungarischen Sprache auf: Erstens die Fähigkeit zur quantitierenden Dichtung, zweitens der häufige Gebrauch übertragener Wörter, d. h. von
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verba translata. Die Widmung des Neuen Testaments ist an das ungarische Volk gerichtet, und zwar in Distichen, zum ersten Mal auf Ungarisch in klassischer Metrik; über die verba translata gab er im Anhang seiner Übersetzung eine Erklärung. Er wies hier auf die möglichen metaphorischen Bedeutungen der ungarischen Wörter in der Heiligen Schrift hin, und als Exempel verwendete er, wie schon erwähnt, in diesem erhabenen Thema eine so niedere Gattung, die sogenannten Blumenlieder in ungarischer Sprache, ohne ein konkretes Beispiel (oder wenigstens ein incipit) zu erwähnen. Er lobte nicht den Inhalt dieser Lieder, sondern ihre Sprache, den edlen Ausdruck der Liebessache. In Ungarn verbreitete sich zunächst die lutherische Lehre, und zwar mit den regionalen Schwerpunkten Westungarn, Zips (Oberungarn) und Siebenbürgen, hier vor allem bei den Siebenbürger Sachsen. Die Rezeption reformatorischer Ideen erfolgte bis zur Jahrhundertmitte über Lehrer und Prediger, die in Wittenberg studiert hatten. Die wichtigste Universität für ungarische Studenten wurde im 16. Jahrhundert Wittenberg, wo nicht Luther, sondern Philipp Melanchthon den entscheidenden Einfluss auf sie ausübte. Melanchthon – ain cleine, magere, unachtbare person – suchte anfangs nach einer Synthese von Humanismus und Reformation, er war mit dem platonisch-hermetischen Gedankengut der Florentiner Akademie vertraut: Sein Onkel, Johannes Reuchlin, der sicherlich an den satyrischen Epistolae obscurorum virorum mitarbeitete, hatte bei Pico della Mirandola in Florenz studiert. Die ungarischen Studenten, die zwar ausgezeichnet Latein konnten, aber der deutschen Sprache noch nicht mächtig waren, lehrte Melanchthon (in der deutschen Geschichtsschreibung auch Praeceptor Germaniae genannt) sonntags die Bibelexegese in lateinischer Sprache, und zwar in seiner Wohnung. Im 16. Jahrhundert studierten etwa 1.200 Studenten aus Ungarn an der Universität Wittenberg, die meisten waren Melanchthon-Anhänger. Unter ihnen konnten nur wenige einen akademischen Grad erlangen, die Mehrzahl der Studenten kehrte vor dem Abschluss der Studien wieder nach Ungarn zurück. 1538 erschien (zusammen mit einem lutherischen Katechismus) die Chronica de introductione Scytharum in Ungariam et Judaeorum de Aegipto von András (Andreas) Farkas (Krakau. RMNY Nr. 25), die in 355 Zeilen die Parallelen im Schicksal der beiden auserwählten Völker, nämlich des jüdischen und des ungarischen, in ungarischer Sprache thematisiert. Farkas konnte im Vergleich zum Reichtum Kanaans den schon bekannten Topos der fertilitas Pannoniae ausgezeichnet zur Geltung bringen, er versuchte sogar mit einer naiven Etymologie die Ähnlichkeit der beiden Länder zu untermauern: ‚Pannonia‘ stamme von dem lateinischen Wort panis (Brot), habe also immer Überfluss an Brot gehabt (nach dem heutigen Forschungsstand stammt Pannonia aus dem Illyrischen pen ~ morast). Die Parallelen wurden stark betont, die Geißel Gottes und die Sünden der jüdischen wie der ungarischen Nation erklärt. Durch Gottes Zorn seien die
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Juden durch die Babylonier, die Ungarn durch die Türken streng bestraft worden. Diese Auffassung wurde für mehrere Jahrhunderte wesentlicher Bestandteil des Selbstbildes der ungarischen Nation: Die Strafe Gottes kam nicht nur in den propagandistischen Schriften der Reformation vor, sondern auch in dem schon erwähnten Nationalepos Obsidio Szigetiana des Grafen Miklós Zrínyi (Wien, 1651), und erscheint sogar noch in der von Ferenc Kölcsey verfassten Nationalhymne (1823): Das Volk habe schon mehr gelitten, als es eigentlich verdiene, es habe bereits für die Vergangenheit und für die Zukunft gebüßt. In Wittenberg wurde die neue Geschichtsauffassung der Reformation relativ früh ausgearbeitet: Der Berliner Historiker und Astrologe Johann Carion (1499– 1537) veröffentlichte 1532 sein historisches Werk (Weltchronik), das wesentlichen Einfluss auf die ungarische Geschichtsschreibung ausübte. Melanchthon wirkte daran mit, aber sein Anteil ist nicht mehr zu rekonstruieren. Für Carion war das Studium der Geschichte kein Selbstzweck, sondern ein Weg, die Durchsetzung des göttlichen Gesetzes zu erkennen. Nach dieser Konzeption der Weltgeschichte erschienen auch auf Ungarisch biblisch orientierte Geschichtswerke. Das Wittenberger Geschichtsdenken in der Vermittlung durch ‚heimische‘ Prediger wurde in rhetorisch-poetologische Kontexte der poetisierten Sprechsituationen apokalyptischer Selbstprüfung, sakralen Nationalgebets und der gerichtlichen Verteidigungsrede versetzt. András Batizi, der ebenfalls in Wittenberg studiert hatte, fasste 1544 die Weltchronik Carions in Versform in ungarischer Sprache zusammen (RMNY Nr. 108. 1). Die erste ungarischsprachige Weltchronik von István Bencédi Székely aus dem Jahre 1559, Krónika ez világnak jeles dolgaitól (Chronik von den vornehmlichen Geschehnissen der Welt, Krakau. RMNY Nr. 156), basiert ebenfalls auf Carions Chronik. Die beiden Chroniken enthalten die wichtigsten Grundsätze der sogenannten Wittenberger Geschichtsschreibung, d. h. die 6.000 Jahre und die vier Monarchien der Weltgeschichte, die zwei Antichristen, nämlich den Papst und den Türken, sowie den bedrohlich nahen Weltuntergang. Gáspár Károlyi (1530–1591), Prediger in Gönc, der später als Erster die Bibel vollständig ins Ungarische übersetzte, ließ 1563 ein Prosawerk ganz im Sinne dieses Wittenberger Weltbildes veröffentlichen: Két könyv minden országoknak és királyoknak jó és gonosz szerencséjeknek okairul (Zwei Bücher über die Ursachen des guten und des bösen Schicksals aller Länder und Könige, Debrecen. RMNY Nr. 192). Károlyi studierte in Wittenberg, wo er die Geschichtsphilosophie von Carion und Melanchthon kennenlernte. Bemerkenswerterweise bezog der Kalvinist Károlyi sein gesamtes historisches Arsenal (die vier Königreiche, die apokalyptischen Spekulationen, das Schuldbewusstsein) aus der Wittenberger Geschichtsauffassung. Seine wichtigste Schlussfolgerung bestand in der These, dass der Sultan die ungarische Nation auf Gottes Geheiß bestrafe. Der baldige Weltuntergang sei schon durch verschiedene Zeichen (monstra) angekündigt worden,
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„denn gleich wie unter den Juden die Propheten wenig Achtung hatten, haben die Diener Gottes auch in Ungarn wenig Achtung. Deshalb hat Gott uns das Land weggenommen, uns die Fürsten weggenommen, uns die Freiheit weggenommen“. 1523 wurden die ersten Märtyrer des neuen Glaubens in Brüssel verbrannt, im selben Jahr wurde im ungarischen Reichstag ein Gesetz über die Todesstrafe gegen die ‚Lutheraner‘ verabschiedet. In Ungarn kam es aber nie zur blutigen Verfolgung, Königin Maria von Habsburg, die Gattin König Lajos’ (Ludwig) II., hegte nämlich gewisse Sympathien für die beginnende Reformation und lehnte die Todesstrafe ab. In den deutschsprachigen Zentren des Königreichs Ungarn, in der Zips in Oberungarn, unter den Siebenbürger Sachsen und in Westungarn konnten sich die lutheranischen Lehren relativ frei verbreiten. Der Augsburger Religionsfrieden 1555 garantierte einen Konsens zwischen dem König und den ungarischen protestantischen Ständen. In der ersten Phase der Reformation in Ungarn, die etwa bis zum Ende der 1550er Jahre andauerte, standen die symbolischen Werke der protestantischen Kirchen wie die Katechismen und Bekenntnisschriften noch nicht fest. Erst in der zweiten Phase, während der 1570er Jahre, trennten sich die protestantischen Richtungen voneinander, und ihre Kirche spaltete sich in drei markante Konfessionen, nämlich in die lutherische, die kalvinistische und die antitrinitarische. Die geographische Grenze zwischen der lutherischen und der kalvinistischen Richtung war etwa das oberungarische Komitat Gömör: Östlich davon war die Mehrheit der Bevölkerung kalvinistisch, westlich davon lebten vorwiegend Lutheraner. Der Antitrinitarismus verbreitete sich in den 1560er Jahren durch ausländische Theologen und Wanderhumanisten vor allem in Siebenbürgen, die führenden heimischen Würdenträger der sich neu bildenden Kirche gelangten erst nach mehrfachem Konfessionswechsel zu dieser radikalen Theologie. 1568 wurde den vier Konfessionen in Siebenbürgen Religionsfreiheit genehmigt. Dieser Beschluss des siebenbürgischen Landtags in Torda (Tohrenburg, heute Turda, Rumänien) sorgte für eine konfessionelle Toleranz, die im Europa des 16. Jahrhunderts beispiellos blieb. Auf dem Gebiet unter türkischer Herrschaft konnte sich die Reformation relativ frei verbreiten: Die weltlichen Würdenträger der katholischen Kirche verließen ihre dortigen Dienststellen, und die osmanischen Behörden verfolgten nicht das Ziel, die ungarische Bevölkerung zu islamisieren. Daher wurden die antikatholischen (d. h. protestantischen) konfessionellen Bestrebungen nicht behindert, sogar die Antitrinitarier aus Siebenbürgen missionierten hier erfolgreich. Die türkischen Behörden akzeptierten die Konfessionen der Bevölkerung und stellten sogar Schutzbriefe für Geistliche aus. Zsigmond (Sigmund) Torda Gyalui (um 1510–1569), Student von Melanchthon, humanistisch gebildeter Arzt und Philologe, später Kammerrat, berichtete dem Praeceptor mehrmals von der
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Toleranz der Osmanen. In einem Brief von 1545 schrieb er beispielsweise, dass unter der türkischen Regierung das Evangelium frei verkündet werden könne und der Feind klug genug sei, nicht über öde Wüsten regieren zu wollen. Das Weltbild der Reformation in Ungarn wurde – wie schon erwähnt – vom Alten Testament, konkreter von der Wittenberger Geschichtsauffassung bestimmt. Außer den biblischen Historien und Geschichtswerken eigneten sich besonders die Lieder, die sogenannten Reformationsdialoge und die Komödien dazu, die neuen Ideen propagandistisch zu verbreiten. Die leidenschaftlichen Verfasser der ersten Phase der ungarischen Reformation kamen meist aus dem Franziskanerorden, wie Mihály Sztárai (gest. um 1575), der vor 1526 als Franziskanermönch in Sárospatak tätig war. Nach seiner Bekehrung zur lutherischen Lehre führte er ein äußerst aktives Berufsleben, diente ab 1544 als Prediger und Kirchenorganisator längere Zeit in Transdanubien, gründete etwa 120 protestantische Gemeinden und war zugleich Mitbegründer der später bekannten protestantischen Schule in Sárospatak. Er schrieb sechs religiöse Historien (vier biblische, zwei kirchengeschichtliche) sowie Kirchenlieder. Seine 16 Psalmenparaphrasen dienten ebenfalls der neuen muttersprachlichen Liturgie, und zwar ohne Vorbilder: Mit diesen Paraphrasen schuf er die ersten ungarischen Kirchenlieder. Ebenfalls von ihm stammt das früheste Werk der ungarischsprachigen Dramenliteratur, eine nur fragmentarisch überlieferte Komödie über die Heirat der Geistlichen (Comoedia de matrimonio sacerdotum, Komödie über die Heirat der Geistlichen, Kolozsvár, Klausenburg, heute Cluj-Napoca, Rumänien, 1550. RMNY Nr. 88). Seine satirische Komödie in fünf Akten über das wahre Priestertum, die vermutlich um 1550 entstand, erschien 1559 (Comoedia lepidissima de sacerdotio etc. Magyaróvár, Ungarisch-Altenburg. RMNY Nr. 158). Darin thematisierte er die Aufgabe des wahren Predigers und die totale Untauglichkeit der ungebildeten katholischen Geistlichen. Im fünften Akt erschien sogar der in theologischen Fragen völlig ratlose Papst. Die propagandistischen Dramen von Sztárai waren für Unterrichtszwecke in den Schulen ausgezeichnet geeignet; der Verfasser war in der Dramenpoetik auffallend gut bewandert (Latzkovits 2007). Ein äußerst begeisterter und leidenschaftlicher Verkünder der neuen Lehren war András Szkárosi Horváth. Über sein Leben und Wirken wissen wir nur, dass er 1542–1549 als Prediger in dem damals sehr aktiven ungarischen Weingebiet (Hegyalja, Komitat Zemplén) beschäftigt war. Er verfasste zehn umfangreiche Lieder, und laut Kolophon eines dieser Gesänge kam er vermutlich ebenfalls aus dem Franziskanerorden und trat zum reformierten Glauben über. In der letzten Strophe über Ember szerzésről (Das menschliche Verschaffen) schrieb er nämlich, dieses Lied sei von einem Priester verfasst worden, der früher Mönch war. Mit düsteren Worten machte er den Adel und die römische Kirche für den Untergang des Landes und den moralischen Verfall der Menschen verantwort-
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lich. Die weltliche Obrigkeit diene dem Antichrist (Az fejedelemségről, Über die Fürsten), ebenso die römisch-katholische Kirche. Ganz in Luthers Sinne (vgl. Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523) verurteilt er die schweren Missbräuche der Obrigkeit heftig. Seine Sprache ist voll von Erregung und plebejischer Leidenschaft. In zehn Liedern verwendet er neun verschiedene Strophenformen und stützt sich dabei auf die Metrik der mittelalterlichen Kirchen- und Vagantenlieder (Horváth, János 1953, 54–55). Die peroratio (die vorletzte Strophe und das Kolophon) des 68-strophigen Gedichtes Az fösvénységről (Über den Geiz), dessen Ziel die Beratung (deliberatio) und die Überzeugung war (Barta–Klaniczay 1963, 269): Ébrölj fösvénység! igen elaludtál, Térj istenedhöz beszélj Zacheussal, Beszélj az szentekkel, Szent Pál apostollal, Ne dugd be füledet ezüsttel, arannyal, Mert nem lehetsz részes higyjed az Krisztussal. Mikor írnának ez új esztendőben, Ezerötszázban immár negyvenötben, Fösvénységről költék Tállyán ez énekben, Horvát András hagyá ezt egy jó kedvében, Hogy tanácsot adna mindeneknek ezben.
In der Übersetzung von Martin Remané: Wachet auf, ihr Toren, um dem Geiz zu wehren! / Folget wie Zachäus wieder Gottes Lehren! / Lasst wie der Apostel Paulus euch bekehren, / ehe ihr die Gnade Christi ganz verloren! / Stopft mit Gold und Silber nicht mehr zu die Ohren! // Um euch zu ermahnen, Buße schnell zu üben, / hat Andreas Horvát dieses Lied, ihr Lieben, / fünfzehnhundertfünfundvierzig aufgeschrieben / in der Hoffnung, dass ihr euch von ihm lasst raten, / euch vom Geiz abkehrt und ändert eure Taten! (Klaniczay 1978, 91)
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte sich die Reformation auf dem Gebiet der türkischen Herrschaft durch, in den 1570er Jahren wurden die Positionen der protestantischen Konfessionen durch symbolische Schriften wie Katechismen und Bekenntnisse auch dogmatisch untermauert. Die agitative Rolle der Lieder blieb aber weiterhin wichtig für die reformatorische Propaganda; die meisten Prediger der Zeit verfassten Kirchenlieder für ihre Gemeinden.
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I.4.1 Gattungen der historischen Epik im 16. Jahrhundert Die historische Epik (der Historiengesang) repräsentiert eine äußerst populäre Gattung der älteren ungarischen Literatur: Aus den 100 Jahren von 1530 bis 1630 sind etwa 180 ungarischsprachige historische Werke in epischer Form überliefert. Sie können in drei Untergattungen gegliedert werden, und zwar in Werke von religiöser, weltlich-historischer und Liebesthematik. Die historische Epik mit weltlich-historischer Thematik umfasst eigentlich zwei weitere Erscheinungsformen, und zwar chronikartige Gesänge und Berichte, welche die zeitgenössischen Geschehnisse sachlich darstellen. Die Frequenz der einzelnen Gattungen und damit der Wandel des Lese(r)interesses kann relativ gut erfasst werden: Ab den 1530er Jahren wurden zunächst Historien des Alten Testaments bearbeitet und auf Ungarisch paraphrasiert (z. B. András Farkas, András Batizi, Mihály Sztárai), um die Mitte des Jahrhunderts nahm die Zahl und die Popularität der historischen Berichte wesentlich zu, und im letzten Drittel waren die Historien mit Liebesthematik (‚schöne Historien‘) sehr beliebt. Die Zunahme der Berichte über aktuelle Kampfereignisse, über Belagerungen und Erstürmungen von Festungen sowie über Streifzüge hängt natürlich eng mit der osmanischen Offensive in Ungarn zusammen. Nach der Niederlage bei Mohács (1526), wo auch der 20-jährige ungarische König Lajos (Ludwig) II. fiel, war die Lage des Landes völlig aussichtslos. Diese Schlacht brachte nicht nur für Ungarn, sondern auch für die Habsburgermonarchie wesentliche Veränderungen mit sich. Die ungarischen Stände wählten in einem Jahr gleich zwei Könige, zuerst den mächtigen János (Johann) Szapolyai, der den Ausgang der Schlacht von Mohács mit seinen Truppen aus etwa 200 Kilometern Entfernung erwartet hatte, und einen Monat später Ferdinand von Habsburg, den Erzherzog von Österreich und Bruder der Gattin Ludwigs II. Nach dem Zerfall des ungarischen Königreiches wurde die ausländische (vorwiegend deutsche) Kritik an Ungarn immer lauter. Die – weitgehend negativen – Auswirkungen dieser doppelten Königswahl reichen bis ins 20. Jahrhundert. Nach seiner militärischen Niederlage 1527 floh König János (Szapolyai) zu König Sigismund von Polen und schloss mit den Türken ein Bündnis gegen die Habsburger. Sein Sohn, János Zsigmond (Johann Sigismund) übernahm im Oktober 1556 schließlich unter türkischer Oberhoheit die Herrschaft in Siebenbürgen. In diesem Bündnis sahen die Christen in Europa eine äußerst große Gefahr, und der Topos vom propugnaculum wurde bald in umgekehrter Bedeutung verwendet: Die Ungarn, ehemals Verteidiger des Christentums, wurden nun als Verräter an der christlichen Solidarität betrachtet. Am 29. August 1541 besetzte Sultan Suleiman II. Buda (Ofen), und das Land wurde bald in drei Teile gespalten: in das Königreich Ungarn, in den östlichen Teil des Königreiches, aus dem bis zu den 1560er Jahren das
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Fürstentum Siebenbürgen entstand, und in das Gebiet unter der Türkenherrschaft. Die veränderte Lage im königlichen Ungarn brachte auch Änderungen in der Strategie der Türkenkriege mit sich: Zu Jahresbeginn 1556 richtete König Ferdinand I. den Hofkriegsrat ein, der für alle Belange der Landesverteidigung zuständig war, parallel dazu wurde das Grenzverteidigungssystem in Ungarn neu errichtet. In dieser politisch sehr angespannten und militärisch äußerst aktiven Zeit nahm sich Sebestyén (Sebastian) Tinódi (um 1510–1556) vor, neben Paraphrasen biblischer Historien auch zeitgenössische Ereignisse als rei gestae wirklichkeitsgetreu darzustellen und für die Nachwelt schriftlich zu fixieren. Er stand im Dienste des Magnaten Bálint Török von Enying, der 1541 in Buda von den Türken gefangen genommen und verschleppt wurde (er starb in der Gefangenschaft). Tinódi suchte danach mit wenig Erfolg Hofdienste, 1548 ließ er sich schließlich in Kassa (Kaschau) nieder, kaufte dort sogar ein Haus und begann, in epischer Form Berichte über aktuelle Kriegsereignisse zu schreiben. 1553 wurde er von König Ferdinand I. geadelt, und im nächsten Jahr erschien in Kolozsvár (Klausenburg, Cluj-Napoca, Rumänien) seine Chronik, ein rhetorisch kunstvoll angeordneter Band, dem König gewidmet (RMNY Nr. 109). Als familiaris stand er anfangs an der Seite von König Szapolyai, ab 1553 gehörte er vermutlich der Partei Ferdinands I. an. Um diese Zeit fand er Unterstützung bei Graf Tamás Nádasdy in Sárvár (Nádasdy unterstützte auch die Arbeiten von János Sylvester großzügig), wo er 1556 starb. Neben Berichten über Kriegsereignisse und Heldentaten der Grenzsoldaten enthalten seine Werke – in denen lebendige Oralität, Manuskript und Buchdruck sich auf eigenartige Weise miteinander vermischen – auch plastische Darstellungen der Türkengefahr als trauriger Folge des Zwiespalts und des verlorenen Ruhms, also das Lob der Vergangenheit, auch unter der Verwendung tradierter Klischees (Vadai 2007). Die Glaubwürdigkeit seines dichterischen Ich besteht darin, dass der Vortragende die Tradition treu vorträgt, wie er sie von anderen gehört hat. Nicht in der Originalität, sondern in der Bewahrung der mündlichen Tradition und der wörtlichen Vermittlung liegt sein Verdienst. Was auf späteren Stufen der Entwicklung als Plagiat bezeichnet wird, ist die Tugend des glaubwürdigen unpersönlichen Vortragenden, und was wir heute für Originalität halten, würde seiner Glaubwürdigkeit zur Last fallen und wäre eine Unzulänglichkeit. (Thienemann 1930, 53, Ü: Ch. Kunze)
Tinódi stellt in der ungarischen Tradition die Figur des Autors dar, der zugleich seine Werke für ein nahes Publikum selbst aufführt: Die deutschen Spielmänner und ebenso die ungarischen Fiedler, die in der Zeit der sich entwickelnden Schriftlichkeit die Technik des mündlichen Vortrags professionell aufrecht-
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erhielten und weiterentwickelten, sprechen im Ton der vertrauten Intimität zum Publikum, aber bei ihnen beginnt sich die Anrede des Publikums bereits zu stereotypen Formeln zu verfestigen. Diese Formeln erwecken in einem fürs Lesen bestimmten Text den Anschein, als fiele der Verfasser aus seiner Rolle und wandelte sich für einen Augenblick zum Vortragenden: diese Verschmelzung von Verfasser und Vortragendem ist manchmal auch in der Zeit der gedruckten Literatur zu beobachten. […] Die Schriftlichkeit löscht dieses unmittelbare Verhältnis zwischen Verfasser und anwesendem Publikum Schritt für Schritt aus: wir treffen es nur dort an, z. B. in Pázmánys Predigten, wo die Schrift noch unmittelbar im Dienst des gesprochenen Wortes steht. (Thienemann 1930, 61, Ü: Ch. Kunze)
I.4.2 Die Leser und das Schrifttum in der Reformation: Gáspár Heltai (Kaspar Helth, um 1500–1574) Heltai war der einzige Stadtbürger unter den Predigern, die ihr ganzes Können der Reformation widmeten. Er war sächsischer Abstammung, wurde um 1500 in Heltau bei Szeben (Hermannstadt, heute Sibiu, Rumänien) geboren und starb 1574 in Kolozsvár (Klausenburg, heute Cluj-Napoca, Rumänien). Nachdem er das katholische Priesteramt abgelegt hatte, immatrikulierte er sich als Altstudent im Februar 1543 an der Universität Wittenberg. Im folgenden Jahr wurde er zum Pfarrer der sächsischen Gemeinde in Klausenburg ernannt. Seine Muttersprache war Deutsch (Siebenbürger Sächsisch), Ungarisch begann er erst nach 1536 zu lernen. Den Bedürfnissen der ungarischen Leser folgend, wurde er zum ungarischen Schriftsteller. Neben seinem kirchlichen Amt betätigte er sich erfolgreich als Unternehmer: Er erkannte den Mangel an ungarischsprachigem Lesestoff und trat dem Druckereiunternehmen des Georg Hoffgreff (gest. um 1559) als Mitarbeiter bei. Die deutschsprachigen Leser der Stadt konnten ihre deutschsprachigen Lesestoffe aus Deutschland und Österreich anschaffen, die Bücherproduktion der Honterus-Offizin in Brassó (Kronstadt, heute Braşov, Rumänien) stand ihnen ebenfalls zur Verfügung, ungarische Werke aber fehlten. Die ungarische Leserschaft der Stadt Klausenburg nahm ab den frühen 1550er Jahren wesentlich zu (vor allem durch die Einwanderung aus dem Temeser Banat), und Heltai reagierte relativ schnell auf das neue Lesebedürfnis. Ab 1551 schrieb er ausschließlich in ungarischer Sprache. In diesem Jahr führte er – freilich mit der Bewilligung des Magistrats – den lutherischen Glauben in der Stadt ein. Eifrig suchte er Gelehrte, die ihm bei der Übersetzung des Alten sowie des Neuen Testaments behilflich sein konnten. In etwa 15 Jahren, d. h. von 1551 bis 1565, gab die Offizin neun Bücher des Alten Testaments und das Neue Testament in der Übersetzung von Heltai heraus. Heltai sorgte in diesen Jahren für die Verbreitung der Wittenberger Ideen und für die Vertiefung der individuellen Frömmigkeit. Sein erstes Werk (A részegségnek és tobzódásnak etc., Dialog über die Gefahren der Trunkenheit und Schwelgerei, Klausenburg, 1552. RMNY Nr. 98) basiert auf den strengen
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Ausführungen des impulsiven Reformators Sebastian Franck (Von dem grewlichen Laster der Trunckenheit etc., Augsburg, 1531) und paraphrasiert sie in Dialogform. Damit erschien eine populäre und wegen ihrer Überzeugungskraft häufig verwendete Gattung der lutherischen Propaganda, nämlich der Reformationsdialog, auf Ungarisch. Sebastian Franck und Heltai stützten sich gleichermaßen auf Luthers Theologie und verfassten ihre Werke zur Belehrung und Erbauung der Gemeinden, wobei Heltai, anders als Franck, auf die mündliche Verbreitung setzte und nicht zum Lesen biblischer Texte aufforderte. Heltai war ein eifriger Schriftsteller, Übersetzer und Buchdrucker: Im Ungarn des 16. Jahrhunderts wurden etwas über 800 Druckwerke verlegt (die Hälfte davon auf Ungarisch), 30 Prozent davon stammen aus in Heltais Offizin in Klausenburg. Er übertrug als Erster zeitgenössische deutsche Texte ins Ungarische, u. a. die Fabelsammlung von Sebastian Brant. 1566 erschien in Klausenburg seine stilistisch sehr gewandte Überarbeitung Száz fabula (Hundert Fabeln, RMNY Nr. 219). Damit war der Grundstein für die unterhaltende ungarische Kurzprosa gelegt. Heltai schätzte die moralische und überzeugende Kraft von Tierfabeln sehr, für sein eigenes Werk gilt jedoch seit jeher die 99. Fabel als bedeutend (Egy nemes emberről és az ördögről, Von einem Edelmann und dem Teufel), deren Figuren eben nicht Tiere, sondern Personen einer christlich-moralischen Erzählung sind. Die Hauptfigur, ein Edelmann, stellt den Teufel als Verwalter an, der als Lohn für seine Arbeit nur das verlangt, was die Leibeigenen des Edelmannes ihm freiwillig und von Herzen anbieten. Als die beiden ein Jahr später durch das Dorf reiten und eine Bäuerin angesichts ihres Peinigers wünscht, der Teufel möge ihn holen, nimmt sich dieser seinen angebotenen Lohn. Heltai hat jede Fabel mit einer Auslegung (Sinn der Geschichte) versehen, hier lautet diese (Barta–Klaniczay 1963, 414): Ennek a fabulának sem szükség igen hosszú értelmet megjedzenünk. Mert minden ember jól veheti eszébe, hogy inti e fabula az urakat, nemes népöket és kazdagokat, hogy kegyetlenek ne legyenek a szegényekhöz és semmi törvéntelenséget ne műveljenek rajtok. Mert a szegények megkeserödnek és megbúsulnak a nyomorúságokban és fohászkodnak az Úristenhöz. És az Úristen meghallgatja fohászkodásokat és megbüntöti a kegyetleneket az ő törvéntelenségökért és nyomorgatásokért.
In der Übersetzung von Géza Engl: Es ist wohl nicht nötig, den Sinn dieser Fabel weitläufig zu erklären, denn jedermann kann daraus entnehmen, dass hier die Herren, die Adeligen und Reichen ermahnt werden, nicht grausam zu den Armen zu sein und nichts Gesetzwidriges an ihnen zu verüben. Denn die Armen werden in ihrem Elend bekümmert und verbittert und beten zum Herrn, und der Herr erhört ihr Gebet und straft die Grausamen für ihre Gesetzwidrigkeiten und Missetaten. (Klaniczay 1978, 107–108)
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Die letzte (100.) Fabel in der rhetorisch zweifellos sorgfältig komponierten Sammlung ist eine wohlbekannte politische Parabel, die auch in den Briefwechseln führender Politiker und Staatsmänner der Zeit oft zitiert wurde: Eine Lerche hat ihr Nest im Kornfeld. Während sie auf Futtersuche ist, hören ihre Jungen den Bauern sagen, er wolle Freunde bzw. Verwandte bitten, das Feld abzuernten. Die Jungen fürchten sich, doch die Mutter beruhigt sie: Solange der Bauer auf die Hilfe anderer baue, bestehe noch keine Gefahr. Erst als der Bauer ankündigt, selber mähen zu wollen, bringt die Lerche ihre Jungen in Sicherheit. Auch hier ist keine weitläufige Erklärung nötig, denn es werden die Möglichkeiten einer Befreiung des Landes thematisiert. Im Frühjahr 1570 veröffentlichte Heltai auf Anregung des Fürsten János Zsigmond (Johann Sigmund) ein Werk über das Wesen und die schreckliche Verfolgung der spanischen Inquisition (Háló etc.; Netz, mit dem der Papst, der verkörperte Teufel auf der Erde, die frommen Christen in Spanien erwischt und tötet, Kolozsvár/Klausenburg. RMNY Nr. 288). Es handelt sich hierbei um eine Übersetzung aus dem Lateinischen (Sanctae inquisitionis Hispaniae artes); der Verfasser versteckte sich hinter dem Pseudonym Reginaldus Gonsalvius Montanus und war angeblich ein aus dem Orden ausgetretener Dominikanermönch. Nach heutigem Forschungsstand kann als Verfasser entweder Antonio del Corro oder Casiodoro de Reyna identifiziert werden. Die beiden arbeiteten entschieden an der theologischen Begründung der religiösen Toleranz. Durch Ergänzungen und Beifügungen von Heltai bekam aber die Schrift, die eigentlich die Verfolgung von zehn Märtyrern darstellte, antitrinitarischen Charakter, und die Toleranzideen des Originals wurden sorgfältig ausgeklammert. Heltai verfolgte nämlich ein anderes Ziel: In diesem Werk wurden das Bild des nationalen Herrscherideals (János Zsigmond) und das Lob des Antitrinitarismus eng miteinander verknüpft. Dies war Heltais erste antitrinitarische Bekenntnisschrift (im selben Jahr erschienen im Übrigen in Siebenbürgen auffallend viele antitrinitarische Druckwerke). Selbstbewusst verkündet er hier die These, dass die Geheimnisse des Glaubens – im Gegensatz zur Auffassung der Trinitarier – zu verstehen und zu erlernen seien (Ü: Verfasser): „Gott wolle nicht, dass der Christ Narr bleibe!“ (Balázs 1993). Der frühere katholische Priester und spätere Luther-Anhänger Gáspár Heltai trat 1559 zum Kalvinismus und 1568 zum Antitrinitarismus über. Gemeinsam mit Ferenc Dávid, Superintendent der Kirche, förderte er eifrig die Entfaltung der reformatorischen Ideen in Klausenburg und damit auch in Siebenbürgen. Die heftige, bald feindliche Verbreitung der immer neuen Lehren und Religionsdogmen sowie die streitbaren Kontroversen der Theologen wurden schließlich auf fürstlichen Wunsch gebremst: Der Fürst ermahnte die Theologen durch einen Brief des Kanzlers Mihály Csáky an Péter Melius Juhász (um 1536–1572), die groben Schimpfereien und Lästerungen zu unterlassen. Dieser Brief datiert vom 15. Feb-
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ruar 1570 in Gyulafehérvár (heute Alba Iulia, Rumänien). Der neue Fürst István Báthori erließ am 17. September 1571 eine strenge und formal jede Konfession betreffende Verordnung. Dadurch gerieten die Auslegungen dogmatischer Thesen, die Aufarbeitungen religiöser Themen sowie die Streitigkeiten der Theologen in den Hintergrund. Auch Heltai wandte sich moralisch lehrreichen Themen zu und mied offene Kritik an anderen Konfessionen. So übersetzte er z. B. die romanhaften Erzählungen Der sieben weisen Meister ins Ungarische (RMNY Nr. 314) und ließ das Werk noch zu seinen Lebzeiten veröffentlichen. In den 1570er Jahren nahm die Bücherproduktion der Andreas Komlós/Lupinus/Lupulus-Offizin in Debrecen (1569–1575) wesentlich zu; hier wurde bereits vorwiegend populäre und für den Geschmack der breiten Leserschaft geeignete unterhaltende Literatur gedruckt, die sogenannten Kolportagen und Groschenhefte. Auch an der ungarischen Geschichte hatte Heltai reges Interesse. Sein letztes Werk, das erst 1575, ein Jahr nach seinem Tod, in Klausenburg erschien, war eine Überarbeitung des vollständig erst 1568 in Basel gedruckten Geschichtswerkes von Antonio Bonfini (RMNY Nr. 360). Der Druck wurde von seiner Witwe fertiggestellt. Heltai bearbeitete Bonfinis Werk in seiner Übersetzung relativ frei, er kürzte es wesentlich und strich Bezüge auf antike Ereignisse und katholischreligiöse Züge rigoros. Die Stadt Klausenburg wurde zum Zentrum der religiösen Dissidenten: Ab dem Ende der 1560er Jahre fanden hier italienische, polnische und deutsche Antitrinitarier Zuflucht. Ihr hiesiges Wirken und ihre Missionstätigkeit in Siebenbürgen und auf den ungarischen Gebieten unter der Türkenherrschaft bilden eine wichtige Epoche in der ungarischen (genauer in der siebenbürgischen) Kultur- und Kirchengeschichte. Die Bedeutung des Antitrinitarismus in Siebenbürgen wurde sowohl in der internationalen als auch in der ungarischen Forschung bereits ausführlich behandelt, auch seine internationalen Beziehungen sind relativ gut erfasst (Pirnát 1987). Die Ansiedlung der Jesuiten in der Stadt Klausenburg 1581 kann als wichtiges Ereignis für die Machtfrage der politischen Parteien betrachtet werden.
Exkurs 1: Leibarzt und Hofhistoriker: János Zsámboky (Johannes Sambucus) Zsámboky wurde 1531 in Nagyszombat (Tyrnau, heute Trnava, Slowakei) geboren und studierte 22 Jahre lang an verschiedenen Universitäten in ganz Europa. Die wichtigsten Bildungsstätten dieser langen Auslands- und Studienreise waren Wien (1541/42), Wittenberg (1545), Ingolstadt (1549), die Schule des berühmten Professors Johannes Sturm in Straßburg (1550) und Paris (ab 1551). In Paris wurde er 1552 zum magister artium promoviert. Nach einem kurzen Aufenthalt in
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Ungarn ging er mit Unterstützung des Erzbischofs Miklós (Nikolaus) Oláh nach Italien und studierte bis 1557 in Padua. In diesem Jahr kam er zum ersten Mal an den Wiener Hof, und als Angestellter am Hofe kehrte er zunächst nach Italien, später nach Paris zurück. Schließlich verbrachte er einige Zeit in den Niederlanden und schloss in Antwerpen Freundschaft mit dem berühmten Drucker Christoph Plantin. Während seiner Studienreisen konnte er eine reiche Bibliothek humanistischer Prägung zusammenstellen. Ab 1564 lebte Sambucus in Wien und wurde 1565 zum Hofhistoriographen ernannt. Er zählt zu den bekanntesten neulateinischen Dichtern in Europa. Seine Emblemata (Antwerpen, 1564) übten beträchtliche Wirkung auf die deutsche, französische und englische Literatur aus, der Einfluss ist sogar in manchen Werken von Shakespeare nachzuweisen. Sein Fortuna-Begriff, die Unerkennbarkeit der Fortuna, lässt sich auf Petrarca zurückführen. In den Jahren 1565–1581 veröffentlichte er 36 Druckschriften und hatte auch vor, eine Geschichte Ungarns zu verfassen. 1568 ließ er die Rerum Hungaricum decades des italienischen Humanisten Antonio Bonfini vollständig bei Frobenius in Basel veröffentlichen. Ab 1572 bemühte er sich erfolglos um eine Bibliothekarsstelle an der Wiener Hofbibliothek. Aus existentiellen Gründen war Sambucus gezwungen, der Hofbibliothek wertvolle Handschriften aus seiner Bücherei zu verkaufen. In dieser Weise gelangten 530 Handschriften noch zu Sambucus’ Lebzeiten in den Besitz der Hofbibliothek. Kurz vor seinem Tod 1584 in Wien verfasste er eine Autobiographie, die von humanistischem Bewusstsein geprägt ist. Nach seinem Tod wurde seine Privatbibliothek, die laut Inventar 2.618 Bände umfasste, von der Hofbibliothek erworben.
I.4.3 Versuch zur Selbsterkenntnis im Dienst der neuen Kirche: Péter Bornemisza (1535–1584) Bornemisza wurde in Pest geboren, seine Familie ging nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen 1541 nach Nordungarn, in das sogenannte königliche Ungarn. Schon mit sechs Jahren musste er also den Verlust der Heimat erleben und konnte sich von diesem Druck auch später nicht befreien: Sein Leben kann als eine Art seelische und physische Emigration charakterisiert werden. Er musste dreimal ins Gefängnis, war unruhig, unsicher und auch im Glauben verzweifelt. Im Alter von 20 Jahren begann er seine Auslandsstudien. Die humanistische und theologische Bildung erwarb er in Wien, Padua und Wittenberg. Bevor er seine Studienreise antrat, verfasste er ein Abschiedsgedicht, das einzige weltliche in seinem Schaffen. Dieses sechsstrophige Gedicht (die verwendete Strophenform, a12a12x13, war im 16. Jahrhundert höchst selten) enthält bereits die wichtigsten Bausteine des Querela-Topos, also der Klage Ungarns. Gleich-
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zeitig wurde die Motivation des Exils klar angegeben (Barta–Klaniczay 1963, 462): Siralmas énnéköm tetüled megváltom Áldott Magyarország, tőled eltávoztom; Vajjon s mikor leszön jó Budában lakásom! Az Fölföldet bírják az kevély nímötök, Szerémségöt bírják az fene törökök. Vajjon s mikor leszön jó Budában lakásom! Engömet kergetnek az kevély nímötök, Engöm környülvettek az pogán törökök. Vajjon s mikor leszön jó Budában lakásom! Engöm eluntattak az magyari urak, Kiízték közőlök az egy igaz Istent. Vajjon s mikor leszön jó Budában lakásom! Legyön Isten hozzád, áldott Magyarország, Mert nincsen tebenned semmi nagy uraság, Vajjon s mikor leszön jó Budában lakásom! Ez éneköt szörzék jó Husztnak várában, Bornemisza Pétör az ő víg kedvében. Vajjon s mikor leszön jó Budában lakásom!
In der Übersetzung von Martin Remané: Ach, welch großer Jammer! Scheiden muss ich, scheiden! / Dich, mein teures Ungarn muss fortan ich meiden! / Ob mein Heim in Buda je ich wiederseh’? // Hochmütige Deutsche raubten uns den Norden, / und in Syrmien hausen wilde Türkenhorden! / Ob mein Heim in Buda je ich wiederseh’? // Grad entschlüpft den Deutschen, die mich wollten fangen, / wäre ich den Türken fast ins Garn gegangen. / Ob mein Heim in Buda je ich widerseh’ // Kann auch unsre eignen Herren nicht mehr lieben, / weil sie unsern wahren höchsten Herrn vertrieben. / Ob mein Heim in Buda je ich wiederseh’? // Helden gibt es keine mehr in unserm Lande. / Möge Gott es ändern, enden unsre Schande! / Ob mein Heim in Buda je ich wiederseh’? // Peter Bornemisza, just vom Feind vertrieben, / hat auf Huszt, der Feste, dieses Lied geschrieben. / Ob sein Heim in Buda er je wiedersieht? (Klaniczay 1978, 109–110)
In Wien, wo er sich als Petrus Abstemius in die Matrikel der Universität eintrug, übersetzte (eigentlich: überarbeitete) er die Tragödie Elektra von Sophokles ins Ungarische. Die freie Übertragung wurde 1558 von Raphael Hofhalter in Wien verlegt (Tragődia magyar nyelven az Sophocles Electrájából, Tragödie in unga-
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rischer Sprache von Sophokles übersetzt, RMNY Nr. 144). Die Anregung dazu bekam Bornemisza von dem berühmten Altphilologen Georg Tanner, der sich in seinen Vorlesungen monatelang mit der Auslegung der Tragödie beschäftigte, sowie von seinen Mitstudenten, den adeligen Herren in Wien, die von ihm irgendein Spiel auf Ungarisch verlangten. Der Professor erklärte das Stück aus moralischer und politischer Sicht, Bornemisza stellte im lateinischen Nachwort die aktuelle Frage, ob man während der Unterdrückung der Heimat dem Herrscher mit Gewaltanwendung Widerstand leisten dürfe. Die Antwort suchte er mit Hilfe der Bibel: Als Motto „der größtenteils ins Ungarische übersetzten Tragödie“ wählte er den Spruch aus dem Evangelium von Lukas (6,25): „Wehe euch, die ihr hier lachet! denn ihr werdet weinen und heulen“. Zwei Holzschnitte auf der Rückseite des Titelblatts machten die Leser auf die Gebote „Du sollst nicht ehebrechen“ sowie „Du sollst nicht töten“ aufmerksam. Die auch zum Lesen gedachte Tragödie ist eine Synthese von reformatorischen und humanistischen Ideen: Neben der politischen Frage, die in einer moralphilosophischen Dimension des Glaubens beantwortet wird, erhält die Sprachpflege besonderes Gewicht. Professor Tanner hatte seinen Studenten nämlich das Erfinden (inventio) und den sprachlichen Ausdruck (elocutio) nach dem Muster der klassischen Lehren als Basis für die Interpretation antiker Schriftsteller empfohlen. Am Ende seiner Ausführungen im Nachwort formuliert Bornemisza (in lateinischer Sprache) die These (Ü: Verfasser): „Es ist allen vernünftigen Menschen wohlbekannt, dass man seit einigen Jahren auf Ungarisch zu schreiben begann und dass wir dieses Bemühen, dem Beispiel Ciceros und aller gebildeten Nationen folgend, Tag für Tag unterstützen und fördern müssen.“ (Latzkovits 2007). Ab 1559 wurde Bornemisza von dem lutherischen Buchdrucker Gál Huszár (um 1512–1575) in Magyaróvár (Ungarisch-Altenburg, heute Westungarn) angestellt, dem er später als Druckergeselle nach Kaschau folgte. 1562 verließen Huszár und Bornemisza die Stadt Debrecen, in der hinterlassenen Offizin arbeiteten die Debrecener weiter und veröffentlichten noch im 16. Jahrhundert über hundert Druckwerke. Eine Zeit lang versuchte Bornemisza in der königlichen Kanzlei zu arbeiten, 1564 beendete er aber die weltliche Karriere und übernahm ein Predigeramt am Hof von János (Johann) Balassi in Zólyom (Altsohl, heute Zvolen, Slowakei). Gleichzeitig wurde er Erzieher des damals bereits zehnjährigen Bálint Balassi (geb. 1554). Bornemisza trat in den Dienst des Grafen Julius Salm, zunächst in Galgóc (Hlohovec, Slowakei) dann in Sempte (Šintava, Slowakei). In dem Verwaltungszentrum des gräflichen Großbesitzes Sempte errichtete er eine Druckerei, in der fast ausschließlich seine eigenen Werke verlegt wurden. Ab 1567 sammelte er seine Postillen für den Druck. Er verfasste als Erster eine vollständige Predigtsammlung auf Ungarisch, die Predigten für alle Feiertage der Kirche (de sanctis und de tempore) enthält; die Arbeit an dieser Sammlung dauerte zwölf
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Jahre (1567–1579). Seine Predigten veröffentlichte er zwischen 1573 und 1579 in fünf Bänden von insgesamt über 7.000 Druckseiten (RMNY Nr. 333; 355; 362; 422; 432), eine Foliopostilla im Jahr 1584 (RMNY Nr. 541). Sie sind von persönlichen Erfahrungen geprägt und von schwierigen psychischen Problemen belastet. Der vierte Band (1578, Sempte) enthält sogar einen Anhang mit Predigten über vielfältige wunderbare Versuchungen, mit Beispielen für die Kraftlosigkeit und Hinfälligkeit des Menschen. 1579 veröffentlichte er diese Predigten in einem Sonderband unter dem Titel Ördögi kísértetek (Über die Versuchungen des Teufels oder über die erschreckliche Widrigkeit dieser vergifteten Welt, RMNY Nr. 433). Mit diesem Werk begannen die psychische Analyse des Menschen und die innere Selbstdarstellung, überhaupt die Entdeckung der Subjektivität in der ungarischen Literatur. Tudok olyan napot, hogy az sátán elkezdette az haragra, az szorgalmatosságra, az bujaságra való indítást, és azokban ugyan oktalanul megbolondított volna, ha az Úr hozzám nem tért volna. Mert aznap jobbágyim ellenem felrohantak, és morgottak velem és bocsóztak és kőttözettek ok nekül, feleségem is azonba megháborított igen apró dolog miatt, és hol egyik, hol másik gyermekim szófogadatlanságokkal […] Ezek után mindjárt kocsisom, szolgáim és más gyermekim, azután szakácsom: az apró gyermecskék rívtak, sívtak reám, és ki betegségbe esett bennek. Azon napon könyvnyomtatóim reám részegedtek és velem ketődtek, könyvkötőim bocsóztak etc. (Barta–Klaniczay 1963, 496)
In der Übersetzung von Géza Engl: Ich erinnere mich am Tage, an denen der Satan mich zum Zorn, zur Geschäftigkeit und Unzucht zu reizen begann, und er hätte mich darin ganz irrsinnig verstrickt, wäre der Herr nicht zu mir gekommen. An diesem Tag kamen meine Fronbauern gerannt, murrten und schimpften mit mir ohne jeden Grund. Auch meine Frau hat mich an diesem Tag wegen einer Kleinigkeit geärgert, desgleichen ärgerten mich meine Kinder […] Gleich danach bekam ich es mit meinem Kutscher, meinen Dienern und meinen anderen Kindern und schließlich mit dem Koch zu tun. Die kleinen Kinder weinten und klagten, und manche wurden sogar krank. An demselben Tag setzten mir meine betrunkenen Buchdrucker zu, die genauso wie meine Buchbinder mit mir zankten und schimpften. (Klaniczay 1978, 111)
Bornemisza fragte sich verzweifelt, ob es überhaupt einen allmächtigen Gott gebe oder ob nur Fabeln über ihn gedichtet würden. Hier kommt bereits eine Art Fiktionskritik zur Geltung, die von Thienemann wie folgt beschrieben wird: Im transzendenten System der Wahrheiten erschien der Dichter von Anfang an mit schlechtem Gewissen vor der Öffentlichkeit. Er konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, dass er den Kredit des geschriebenen Wortes missbrauchte, schließlich bestand ja das Wesentli-
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che der ‚Dichtung‘, die er mitzuteilen hatte, gerade darin, dass sie nicht wahr war und dennoch so mitgeteilt wurde, als wäre sie es. Die große Antipathie, die sich gegenüber dem gedichteten oder erfundenen Vortrag sofort zeigt, wenn sich die Welt von Wirklichkeit und Dichtung trennt, wendet sich gegen die Unwirklichkeit der Dichtung und greift die Fiktion an. ‚Aller Ohren verlangen nur noch darnach, Lügen zu hören und sich an den nichtigen Freuden der Welt zu ergötzen‘, schilt Péter Bornemisza 1578 seine Gläubigen, ‚nach falsch gedichteten Fabeln über den Prinzen Miklós, über die Riesen der Poeten, über Apollonius und andere Nichtigkeiten.‘ Die Fiktion ist also Lüge, Nichtigkeit, Sünde. […] Dieses schlechte Gewissen bringt den Dichter dazu, Zuflucht zu suchen gegen die schweren Beschuldigungen. In unserer alten Literatur können wir sehr gut beobachten, wo überall der Märchenerzähler und Dichter Rückendeckung für seinen außerhalb der Grenzen der Wirklichkeit fallenden Vortrag sucht, […] eigentlich nur, um sein und anderer unruhiges Gewissen zum Schweigen zu bringen und seinen Worten Ansehen zu verschaffen. Er sucht nach Legitimität, weil er sein Handwerk dennoch höher schätzt, als es von Bornemiszas klerikalen und laizistischen Anhängern geschätzt wird. Der gelehrte Schriftsteller brüstet sich schon selbstbewusst mit seiner Arbeit, während der Dichter sich noch immer schützt und zur Selbstverteidigung zu den alten Formeln der Demut flieht. (Thienemann 1930, 202, Ü: Ch. Kunze)
Interessanterweise wird gerade das sich individualisierende und zugleich immer öffentlichere Subjekt (des literarischen Ausdrucks) auf Strategien der Entschuldigung zurückgeworfen, um die Glaubwürdigkeit der Fiktion zu sichern, sie aber auch vor unerwünschten referentiellen Effekten zu bewahren. In seinem Werk stellte Bornemisza die Sünden seiner Zeitgenossen, unter anderen auch die der Magnaten und der kirchlichen Würdenträger, zur Schau und prangerte sie an. Die kirchlichen Behörden forderten ihn auf, seine Aussagen zu widerrufen, doch dazu war er nicht bereit. So musste er seine Stelle in Sempte verlassen und wurde in Wien vor Gericht gestellt und verurteilt. 1582 ließ er in Detrekő (Plavecké Podhradie, Slowakei) eine große Sammlung ungarischer Kirchengesänge veröffentlichen. Für die Sammlung und Veröffentlichung erwähnte er zwei Gründe: Erstens konnte er aus Platzgründen den Foliopostillen keine Gesänge zu den Predigten beilegen, andererseits seien die früher zusammengestellten Gesangbücher nicht mehr greifbar (Énekek három rendbe, különb-különb félék etc.; Verschiedene Gesänge in drei Teilen, RMNY Nr. 513). Der erste Teil enthält Gesänge, die hauptsächlich aus dem Buch Lobgesänge und Gebete in den christlichen Gemeinden von Gál Huszár (1574, RMNY Nr. 353) übernommen wurden, für den zweiten Teil wurden didaktische Texte gesammelt, und der dritte Teil umfasst biblische Historien. Das Gesangbuch enthält insgesamt 276 Lieder und Gesänge, zahlreiche davon sind ausschließlich in dieser Sammlung erhalten.
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I.5. Der erste große Lyriker auf ungarischem Boden: Bálint Balassi (1554–1594) Bálint Balassi wurde in Zólyom (Altsohl, heute Zvolen, Slowakei) geboren, sein Vater, János Balassi (oder Balassa, die genaue Namensform stand noch nicht fest), war ein mächtiger protestantischer Freiherr, Burghauptmann im oberungarischen Bergbaugebiet. Balassi hatte, wie erwähnt, ab 1564 Bornemisza zum Lehrer, danach studierte er in Nürnberg und Italien. Über diese Studienjahre ist uns nichts Näheres bekannt. Nachdem die Familie 1569 wegen der Verschwörungsvorwürfe gegen den Vater nach Polen emigriert war, erschien hier 1572 Balassis Jugendwerk, die ungarische Übertragung des protestantischen Andachtsbüchleins Würzgärtlein für die kranken Seelen (Beteg lelkeknek való füves kertecske, Krakau. RMNY Nr. 318) von Michael Bock, das einzige zu seinen Lebzeiten gedruckte Werk Balassis. Im Laufe seines relativ kurzen, aber stürmischen Lebens ließ er kein Werk mehr veröffentlichen; erst fast 40 Jahre nach seinem Tod erschienen einige seiner Gedichte in einer Anthologie, die uns eigentlich nur als textkritische Hypothese bekannt ist (gedruckt in Bártfa/Bartfeld, heute Bardejov, Slowakei). Die zweite Auflage, gedruckt 1633 in Wien, ist nicht erschienen, sondern ungebunden beim Verleger geblieben. Uns sind zwei gedruckte, aber nicht gebundene Exemplare bekannt, der Band erschien erst 1699 in Nagyszombat (Tyrnau, heute Trnava, Slowakei). Dies ist der katholische Zweig der Editionsgeschichte. Die ersten bereits geordneten Bände mit Balassi-Gedichten erschienen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts; innerhalb von knapp 80 Jahren entstanden zwei katholische, 15 protestantische und zwei sogenannte weltliche Auflagen seiner Gedichte. Aus diesen Druckwerken wurde die Liebesthematik allerdings völlig weggelassen. Seine Liebesgedichte fanden ausschließlich handschriftliche Verbreitung, und eine dieser handschriftlichen (aber natürlich nicht autographen) Sammlungen des 17. Jahrhunderts wurde erst im Spätsommer 1874 entdeckt. Diese Sammlung, laut Titelblatt Balassa Bálint verseinek fragmentumi (Fragmente der Gedichte von Bálint Balassa) wird von der Forschung Balassa-kódex genannt und erschien im 20. Jahrhundert zweimal als Faksimile-Ausgabe. Der Balassa-kódex ist wahrscheinlich die zuverlässigste Quelle und dürfte den Absichten des Verfassers entsprechen (Horváth, Iván 2007). Die Gedichte sind hier nummeriert und in Gruppen geordnet. Der Band beginnt mit dem Eintrag: „Hier folgen verschiedene Liebesgedichte des Bálint Balassi, unter denen auch einige Gesänge zum Lob Gottes und Lieder über das Heldentum zu lesen sind“. Die Sammlung sei eine Abschrift jenes Buches, das Balassi ehemals eigenhändig verfasste. Der Titel des ersten Gedichtes lautet Aenigma (Rätsel): Diese dunkle Allegorie umfasst die ganze Komposition des geplanten Bandes. Die Reihenfolge
Der erste große Lyriker auf ungarischem Boden: Bálint Balassi (1554–1594)
Abb. 2: Bálint Balassi. Das Ölgemälde aus dem 17. Jahrhundert ist das einzige überlieferte Porträt des Dichters
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der Gedichte stellt eine Art pseudo-lyrischer Autobiographie dar, d. h. die ersten 33 Gedichte der Sammlung bilden einen Zyklus. Das Wesen der narrativen Struktur blieb hier gar nicht verborgen: Meist Gelegenheitsgedichte über die Liebe und den Liebeskummer (auffallend häufig mit Akrostichen versehen, die meist die Namen der Geliebten ergeben), endlich das Gedicht Nummer 33: Bocsásd meg Úristen ifjúságomnak vétkét etc. (Herr, vergib die Sünden meiner Jugend), ein Gebet des bußfertigen Sünders vor seiner Heirat. Dem ersten Teil folgt ein weiterer Abschnitt. Die Prosaeintragung vor diesem erklärt die poetische Absicht sowohl der früheren als auch der folgenden Einheit (Kőszeghy–Szentmártoni Szabó 1993, 69, Ü: Verfasser): Ezek az énekek, kiket Balassi Bálint gyermeksígtül fogva házaságáig szerzett […] Ezek után immár akik következnek, azokat mind kiket házasságába, kiket felesígítül való elválása után szerzett. Jobb részre a virágénekeket inkább mint Juliárul, mely nevére azért keresztelte az szerelmesét, hogy a rígi poétákat ebben is kövesse. Kik közül Ovidius Corinnának, Joannes Secundus Juliának, Marullus Neaerának nevezte szeretűjét. Diese sind diejenigen Gedichte, die Bálint Balassi von seiner Kindheit an bis zu seiner Heirat schrieb […] Die folgenden schrieb er während seiner Ehe und nach der Trennung von seiner Frau. Die meisten sind Blumenlieder (virágénekek) über Julia, so nannte er seine Geliebte, weil er dadurch die alten Poeten nachahmen wollte. Denn auch Ovid nannte seine Geliebte Corinna, Joannes Secundus die seine Julia und Marullus die seine Naerea.
Die Überschrift des 34. Gedichts spricht davon, dass jetzt mit Venus’ und Cupidos Hilfe eine neue Liebesgeschichte beginne. Die Falschheit seiner Frau erinnere ihn nämlich an die Wahrheit der Frau, die er, ein Narr, wegen seiner Gemahlin verließ. Die epische Erzählung, d. h. die narrative Handlung, ist damit begründet. Die sieben folgenden Gedichte bis zur Nummer 42 thematisieren die mythologischen Schauplätze der Liebe, weitere 13 bilden eine innere Einheit der inventio poetica. In drei darauf folgenden Gedichten (Nr. 55/56/57) klagt er über die Ungnade seiner geliebten Frau, und im 58. erklärt er den Liebessturm schließlich für beendet. Er listet alle Topoi der lästigen Emigration auf und verabschiedet sich in der letzten, dreizehnten Strophe von Julia (Kőszeghy–Szentmártoni Szabó 1993, 120): Hideg lévén kivől, égvén pedig belől Julia szerelmétül, Jó hamar lovakért járván Erdély földét nem nagy fáradság nélkül, Ezt öszverendelém, többé nem említvén Juliát immár versül. Ez az Juliáról szerzett énekeknek az vége
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In der Übersetzung von Géza Engl: Draußen ist es kalt / doch Liebesgewalt / kann noch Brand in mir entfachen. / Während hier im Land / ich nach Rössern fahnd / mit viel Müh bei den Walachen, / schrieb ich dies Gedicht. / Nochmals tu ich’s nicht: / Will kein Julia-Lied mehr machen. // Dieses ist das letzte der Julia-Lieder. (Balassi 1984, 33)
Das Gedicht Nr. 58 im Kodex hat also eine zentrale Funktion in der pseudobiographisch-geschichtenerzählenden Narration des Zyklus: Es steht für das Ende eines poetisch leidenschaftlich geschilderten Liebesdienstes und die dichterischtopische Ankündigung der Vereinsamung, des äußeren und inneren Exils. Diesem Gedicht folgen dann drei sogenannte post-Julia-Gedichte, von denen zwei (Nr. 59 und 60) genau datiert sind, also nachdrücklich noch zur fiktiv-autobiographischen Erzählung gehören: Im 59. Gedicht sucht er dringend nach einem Heilmittel für seinen quälenden Liebeskummer, die Anfangsbuchstaben der Strophen (Akrostichon) ergeben den Namen SOFIAM (meine Sophie). Das 60. ist dann die derbe Beschreibung eines Liebesabenteuers am Tiefen Graben in Wien. Hier wird im niederen poetischen genus über eine Liebesbeziehung zweier Kameraden mit zwei Wienerinnen gesprochen. Die Wienerinnen Susanna und AnnMaria waren ohne Zweifel Prostituierte, das Gedicht berichtet über eine neue Orientierung, über eine mögliche Dimension der Liebe. Diese Dimension (und damit die Redeweise über die niedrigere Liebe) wird aber zurückgewiesen und abgelehnt, indem der Dichter an eine erhabenere Liebesbeziehung erinnert (Kőszeghy–Szentmártoni Szabó 1993, 124): Többet szólnom dolgunkról nem szükség, Elég, hogy megvolt minden édesség, Ölelgetés, csók, tánc, gyönyörűség, Ékes beszéd, tréfálás, nevetség, Ki ugyan nem elég Bús szüvemnek, mert ég, De versemben itt legyen immár vég.
In der Übersetzung von Heinz Kahlau: Ist es noch nötig, mehr davon zu sagen? / Durch alle Himmel wurden wir getragen. / Gelächter, Tanz, Umarmungen und Küsse, / verliebte Spiele, Spaß und Hochgenüsse. / Wenn solche Pracht / auch Sehnsucht macht – / muß mein Gedicht hier doch sein Ende haben. (Balassi 1984, 35)
Diese Sehnsucht, nämlich die Erinnerung an ein verlorenes Ideal, wird auch im folgenden 61. Gedicht artikuliert: Es ist das berühmte und aus patriotischer Sicht
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meist zitierte Egy katonaének, in laudem confiniorum (Lob der Grenzhüter). Die ältere Literaturwissenschaft interpretierte dieses Lobgedicht als Meister- und Musterstück der Vaterlandsliebe, und man versuchte, auch biographische Züge in die Interpretation einzubeziehen. Mit Recht wurden die poetischen Werte sowie die Harmonie der rhetorischen Komposition dieser cantio militaris hervorgehoben; die männlichen Freuden des Soldatenlebens am Beispiel des Gedichtes sollten aber mit Vorsicht behandelt, Kontext und Gattung berücksichtigt werden: Der Kontext ist die lyrische Pseudo-Autobiographie, die Gattung die Lob-, Prunkoder Festrede. Der Kontext informiert die Leser über Wertverluste, das Lobgedicht hingegen über Werte. Bálint Balassi, der vier in-laudem-Gedichte verfasste (im Kodex Nr. 11, 12, 37, 61), lobt hier Kriegskünste und Kriegstugenden der Grenzhüter mit Hilfe der formula laudis. Türkengefahr und Türkenkriege bleiben unerwähnt, es gibt keine Datierung im Kolophon (wie das in den vorigen beiden Gedichten der Fall war), man findet keinen Bezug auf aktuelle Geschehnisse. Das Lob bezieht sich auf ideale Werte, das Gedicht ist demnach eine laudatio temporis acti, d. h. Lob der Vergangenheit. Die fünf folgenden Gedichte thematisieren den Werteverlust in allen Bereichen: Das 62. ist ein amatorum carmen, teils eine Petrarca-Nachdichtung, es lobt die Schönheit der Jungfrau Margarethe und verletzt dabei erhabene Werte der gehobenen Poetik des Frauendienstes aus der Perspektive eines Voyeurs (Kőszeghy–Szentmártoni Szabó 1993, 129): Hónál fejérb lábát, zöld pázsiton harmat ha néha nedvesíti, Hogy mezítláb járván csak mulatságában szép virágit csipkedi, Akkor bokrok mögül nézvén szerelmétül égek örülvén neki;
In der Übersetzung von Géza Engl: Nackte weiße Füße / lässt mich sehn die Süße / in dem feuchten grünen Gras. / Barfuss gehen, / sich bücken / bei dem Blumenpflücken, / all das tut sie mir zum Spaß. / Duckt sich hinter Zweigen, / um sich halb zu zeigen / ach, welch zündend Spiel ist das. (Balassi 1984, 15)
Diese Position des Dichters außerhalb der dichterischen Ideallandschaft passt nicht in die Poetik der Minne. Es scheint, als ob der Dichter, tief enttäuscht, nun auch die Poetik der höfischen Lyrik zurückwiese. In dem Abschlussgedicht des eigentlich nicht problemlos rekonstruierbaren Zyklus nimmt er Abschied von der Heimat, nachdrücklich von den Grenzhütern (eigentlich von dem früheren Ruhm der braven Burschen) bzw. von seinen Geliebten und der einzigen großen Liebe. In der ersten Strophe, die mit einer Rede an das geliebte Vaterland beginnt, wird der einst effektive, aber zu dieser Zeit schon geschwächte Schutzschild-Topos ungeschwächt in der quondam-nunc-Opposition dargestellt. Das Lob der militäri-
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schen virtutes der Ungarn, dieser in der lateinischen Propagandaliteratur seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts weitverbreitete Topos, taucht in der ungarischen Dichtung nur zweimal auf: zunächst in dem propagandistischen Lied von László Geszti aus dem Jahr 1525 (siehe dort) und gut 60 Jahre später in diesem Abschiedsgedicht Balassis (Kőszeghy–Szentmártoni Szabó 1993, 137): Ó én édes hazám, te jó Magyarország, Ki keresztyénségnek viseled paizsát, Viselsz pogány vérrel festett éles szablyát, Vitézlő oskola, immár Isten hozzád!
In der Übersetzung von Géza Engl: O geliebte Heimat, teures Ungarland! / Schild der Christenheit in starker, sichrer Hand! / Wehrst mit blutigem Schwert den anstürmenden Heiden / leb wohl, Heldenschule, ich muss von dir scheiden. (Balassi 1984, 44)
In den Gedichten zum Lob Gottes, die außerhalb dieser konstruierten Autobiographie erhalten sind, ist die Kommunikationssituation eine wiederholte Hinwendung zu einem gleichzeitig anwesenden und verborgenen Gott, der eine mögliche Form der Totalität bietet: Die zerstreute Seele versucht, die Bruchstücke ihres Wesens zu einer neuen Einheit zu ordnen. Balassi paraphrasierte Psalmen von Buchanan, Bèze und Kochanowski und kannte auch die Bußpsalter Petrarcas. 1589 übersetzte er das Schäferspiel Amarilli von Cristoforo Castelletti (1580) unter dem Titel Szép magyar comoedia (Schöne ungarische Komödie, gedruckt erst 1619 in Debrecen, RMNY Nr. 1172). Damit wollte er eine „neue Form der Komödie“ (gewidmet den edlen und wohlgeborenen Damen Siebenbürgens) in die ungarische Literatur einführen. Im Prolog verfasste er eine Apologie der Liebe (Barta– Klaniczay 1963, 673): Kinek ím megírom, hogy esmerje, ha nem tudja az jámbor. Az szerelem azért semmi nem egyéb, hanem egy igen nagy kívánság, mellyel igyekszünk nemcsak személlét, hanem minden jókedvét is megnyerni annak, az kinek mindenek felett szolgálni, engedni s kedveskedni igyekszünk. Mely indulat az ifjú embernek gyakorta sok jóknak oka, mert ha részeges, elhagyja az részegséget, csak azért hogy az józansággal inkább kedvét lelhetné szerelmének s tisztességes volta miatt gyűlölségben ne essék nála. Ha gondviseletlen és tunya, ottan tisztán jár, frissen, szépen s mindenre gondvisel […] Ha penig tompa elméjű, ottan elmélkedik, mint járjon, s mint szóljon, szép verseket szerezzen, kivel magának szeretőjénél kedvet lelhessen […].
In der Übersetzung von Géza Engl: Für jene also, die es nicht wissen, schreibe ich es: Die Liebe ist nichts anderes als eine große Sehnsucht, mit der wir nicht nur die Person, sondern ihre ganze Zuneigung zu gewinnen
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trachten, der wir über alles dienen, Freude bereiten und zu Gebote stehen möchten. Ein solches Gefühl bringt oft viel Gutes für die jungen Männer. Wer trunksüchtig ist, gibt das Trinken auf, nur um die Liebe mit klarem Kopf genießen zu können und sich nicht unbeliebt zu machen. Wer vernachlässigt und träge ist, wird sich sauber, frisch und wohlgepflegt halten […] Wer trägen Geistes ist, wird sich zu Hause den Kopf zerbrechen, wie er sich betragen, wie er sprechen sollte, wird hübsche Gedichte machen, um auf diese Weise seiner Geliebten Freude zu machen […] (Klaniczay 1978, 142)
Balassi verließ Ungarn noch im selben Jahr. Seinem Abschied verlieh er nicht nur in dem Gedicht Ausdruck (es sagt eigentlich wenig über die Chronologie, in einer lyrischen Pseudo-Biographie ist nämlich auch die Zeit konstruiert), sondern auch durch Nachrichten an wichtige Zeugen seines enttäuschten Lebens, so z. B. an den Großherrn Simon Forgách, den Schwiegervater seiner Geliebten Anna Losonczy, die er in den Gedichten nach seiner Heirat Julia nannte. Er teilte ihm mit, dass er nach Polen gehen und niemals nach Ungarn zurückkehren wolle. Als er drei Jahre später trotzdem zurückkam, wollte er in Ungarn vermutlich eine neue Existenz begründen und im sogenannten langen Türkenkrieg (1593–1606) militärischen Ruhm erreichen. Offenbar suchte er aber bei der Belagerung von Esztergom (Gran) den Heldentod. Er wurde am 19. Mai 1594 verwundet und starb am 30. Mai als miles gloriosissimus.
I.5.1 Der Nachfolger von Balassi und Begründer seines literarischen Kultes: János Rimay (um 1570–1631) Der Protestant János Rimay, eine ambitionierte und vielseitige Person der ungarischen Spätrenaissance, gehörte der Generation an, die die intellektuelle Krise des ausgehenden 16. Jahrhunderts noch miterlebt hatte und neue Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung suchte. Er wollte an höfischen Höfen dienen, sobald es solche Höfe wieder gebe. Mit ihm verstärkte sich die Hofkritik in Ungarn, und gleichzeitig wurde die stoische, tugendhafte Lebenshaltung aufgewertet. Rimay stammte aus einer ungarisch-slowakischen Familie in Nordungarn und wurde um 1570 geboren. Sein Geburtsjahr gab er selbst bei verschiedenen Gelegenheiten (humanistischer Brief oder richterliche Befragung) absichtlich unterschiedlich an, je nach der Wirkung, die er zu erzielen wünschte. Er schloss sich einem Kreis junger nordungarischer Adliger an, in dem schon eifrig über die Werke von Justus Lipsius (1547–1606) diskutiert wurde. (Der Vorsteher dieser wissenschaftsliebenden Gesellschaft war der junge Magnat Mihály Forgách, der kurze Zeit in Wittenberg studierte, als die Universität eine neue Blütezeit erreichte.) Dieser Kreis stand im Briefwechsel mit Lipsius, und dieser äußerte in einem seiner Briefe seine Freude und Bewunderung dafür, dass in einem weiten und ständig von den Türken
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bedrängten Land auch proles Palladias, d. h. Verehrer der Wissenschaften, lebten. Der junge Rimay wollte unbedingt zu diesen Kindern der Pallas Athene gehören und schrieb 1592 in einem rhetorisch kunstvoll ausgeführten lateinischen Brief an Lipsius, dass er sein ganzes Leben ihm und seinen Werken verdanke. Das Interesse an Lipsius’ Briefsammlungen und besonders an seinem Hauptwerk De constantia (1584) war in Ungarn allgemein außerordentlich groß, Rimay, ein Stoiker ex hortu Lipsii, blieb sein ganzes Leben lang dessen Anhänger. Er war Schüler und Dichterfreund von Bálint Balassi und begann kurz nach dem Tod seines Vorbildes, dessen dichterischen und militärischen Ruhm kultisch aufzuwerten. Balassi hatte ihn auf dem Sterbebett mit der Herausgabe seiner Gedichte beauftragt: Dies ist das Testament eines Humanisten: niemals vor Balassi hat ein ungarischer Schriftsteller so für den Erhalt seines Andenkens gesorgt […] Der sterbende Balassi empfindet Verantwortung gegenüber seiner Person und seiner Arbeit: er möchte seinen Namen nicht vergessen sehen wie die alten Anonymi, er will den Nachfolgern in die Erinnerung einmeißeln, dass er hier auf der Erde war. Und dieses Selbstbewusstsein, das in seinem literarischen Testament zum Ausdruck kommt, entspringt der unmittelbaren Nähe zum Tod. […] Das literarische Werk wird Teil des Lebens, was Zeitlichkeit und ununterbrochene Veränderung bedeutet, solange es sich selbst pausenlos ändert und entwickelt; wenn es aber durch die gedruckten Buchstaben zur Reglosigkeit erstarrt, tritt es aus dem Zeitprozess hinaus und wird zum zeitlosen Symbol eines vergangenen Lebens, zur Erinnerung an den, der es geschaffen hat. Da der Schreiber eines Buches für die Unvergänglichkeit schafft, spürt er den Tod sich nahe wie Balassi bei seinem Abschied. Ihm ist bewusst, dass das Leben entflieht; er steht in vertrautem Verhältnis mit allen existierenden Bildern des Vergehens, und wenn er in sein Inneres hinabschaut, erkennt er den Verwandten des Todes in sich. (Thienemann 1930, 188–189, Ü: Ch. Kunze)
1596 ließ er Trauergedichte über den Heldentod der Gebrüder Balassi veröffentlichen (RMNY Nr. 787). Diese Sammlung (als Epicedium bekannt) bewirkt als poetisches Denkmal die Monumentalisierung des sprachlichen Ausdrucks und der Autorschaft von Balassi. Hier lässt sich eine kardinale Wende in der literarischen Kommunikation, in den Funktionen des Schreibens und des Lesens (zwischen den Formationen des ‚nahen‘, oralitätsbedingten und des ‚abwesenden‘, schriftdrucksbestimmten Publikums, wie Thienemann sich ausdrückt), ihrer immanenten Zeitlichkeit aufzeigen. Diese findet zwischen der Form der alten inscriptio und dem neuen textuellen Monument statt: Die Inschrift will sich nicht in die Lüfte schwingen und in unbekannter Ferne Leser sammeln, sondern sie wirkt ortsgebunden durch die Perspektive der Zeiten hindurch und monumentalisiert einen sprachlichen Ausdruck zur Beständigkeit. Auf die Inschrift trifft nämlich Platos Definition zu, dass die Schrift ständig sprechender Ton ist: sie spricht nur zu den Anwesenden, wie die menschliche Stimme, aber nicht nur zu den augenblicklich Anwesenden, sondern zu denen aller Zeiten, wie eine ununterbrochen sprechende, ewig
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klingende Stimme. Bei späteren Schriftwerken sehen wir, dass die Schrift in erster Linie in der Gegenwart auf Abwesende wirkt – die inscriptio jedoch spricht zu Anwesenden durch die Entfernung der Zeiten. Die Inschrift will die Vergänglichkeit besiegen und dient zur Monumentalisierung des sprachlichen Ausdrucks. (Thienemann 1930, 65, Ü: Ch. Kunze)
Das Werk von Rimay bildet eine in sich geschlossene Reihe von sieben Gedichten. Aus der Verbindung der historischen Elemente mit dem mythologischen Apparat ergibt sich die mehrschichtige allegorische Bedeutung des Werkes: Der poeta elegantissimus Balassi sei nicht gestorben, sondern in seinen Werken und besonders in den Werken seines besten Schülers János Rimay für immer lebendig (Ács 2007). Der Nachruhm des Dichters gehörte zu den Grundprinzipien des humanistisch-gebildeten Schaffens. Der strebsame Rimay hatte deswegen auch vor, die poetischen Werke seines dichterischen Vorbildes aus verschiedenen Orten und von verschiedenen Besitzern zu sammeln und sie nach nützlichen und wichtigen Emendationen in einem Band (sicherlich nebst seinen eigenen Gedichten) zu veröffentlichen. Sein Plan wurde letztlich nicht verwirklicht, erhalten sind jedoch – teils fragmentarisch – Empfehlung und Vorrede an die Leser, welche wichtige Informationen über die Komposition der geplanten Gedichtsammlung enthalten. Rimay wollte die Gedichte Balassis in drei Gruppen gliedern: „In dem ersten Teil sind seine eifrigen Bitten an Gott zu lesen, in dem zweiten gemischte Lieder über verschiedene Gelegenheiten, im dritten dann die Liebesgedichte an seine Muse, Julia genannt“. Diese Ordnung stimmt nicht mit der des sogenannten Balassa-kódex überein, sie stammt vermutlich von Rimay selbst. Der geplante Band enthält aber auch Gedichte von Rimay, und aus der Struktur und Reihenfolge dieser Gedichte kann man darauf schließen, dass der Rimay-Teil des Kodexes eng mit der Komposition der Balassi-Gedichte zusammenhängen sollte. Nach der Wiederherstellung der beschädigten Reihenfolge im Kodex kann eine Sammlung von 33 Rimay-Gedichten rekonstruiert werden, unter denen sich zehn Liebeslieder neuerer Manier finden. Die Formkultur seiner Gedichte spiegelt sein Bestreben, das literarische Werk immer nach den Regeln der Rhetorik auszuarbeiten. Dichtung und humanistische Bildung gehörten für ihn eng zusammen: Seine Ansichten über die Kunstpoesie harmonierten mit den neuen poetischen Idealen in Europa: Erst im 17. Jahrhundert begann man damit, artistische, kunstvolle poetische Formen in der Muttersprache anzuwenden. Damit lässt sich erklären, dass die Gedichte oft nur Illustrationen zu den Regeln einer Kunstpoesie sind. Der sprachliche Ausdruck (elocutio) der meisten Gedichte Rimays ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. (Rimays literarisches Schaffen wurde längere Zeit unter dem Begriff Manierismus interpretiert.) Trotz seiner ständigen Hofkritik trat er immer wieder in den Hofdienst: Am Hof Bocskays wurde er sogar intimus secretarius und verfasste nach Konzepten
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diplomatische Briefe, im Dienste des Fürsten Gábor Bethlen wurde er mit diplomatischen Aufgaben betraut. Aus Anlass der vollständigen ungarischen Übersetzung des Fürstenspiegels von Antonio de Guevara (Libro Ilamando Relox de Principes, 1529, András Prágai, Fejedelmeknek serkentő órája, Bártfa/Bartfeld, 1628. RMNY Nr. 1400) legte er in einem Brief an den Auftraggeber György (Georg) Rákóczi seine Ansichten über den idealen Hof und über die richtige Übersetzung dar. Die mustergültigen Vorbilder waren hier Justus Lipsius und Cicero. Seine philosophischen und religiösen Gedichte sind von dem Wunsch nach Beständigkeit bestimmt. Die meisten seiner Gedichte versah er mit längeren moralphilosophischen Ausführungen in Prosaform, die Prosaerklärungen gingen dann in Gedichte als Illustrationen über. Mit dieser Form versuchte er die Gattung der meditativ-philosophischen Dichtung in ungarischer Sprache zu entwickeln. In seiner religiösen Lyrik dominieren Schuldgefühl und Sündenbekenntnis, Traurigkeit und Angst vor den Bedrängnissen der Welt sowie die stoische Zukunftserwartung. Ausschnitt aus dem Gedicht Legyen jó idő csak (Flehen zu Gott): No hát, én lelkem, tűrj, s tanulj reménleni, Hogy tudhass Uradtúl sok jót érdemleni, Mert mint köd után szép szokott az nap lenni, Rajtad is búd után jód úgy fog fénleni. Kegyes Isten, kinek nagy hatalma felnőtt, S irgalma oszlopa tőből még ki nem dőlt, Vigasztald lelkemet, ki búban forrott s főtt, Küldd el is fecskédet, hadd lássak jó időt. (Ács 1992, 120)
In der Übersetzung von Martin Remané: Dulde still und lerne, Hoffnung zu gewinnen, / dass du Gottes Güte so nur kannst verdienen. / Gleich den Nebelschwaden wird dein Gram zerrinnen, / strahlend wie die Sonne wird dein Glück beginnen. // Großer Gott, der alles kann zum Besten fügen, / dessen Gnad’ und Allmacht immerdar obsiegen, / lass mich nicht verkümmern, meiner Not erliegen, / lass am Himmel wieder Deine Schwalben fliegen! (Klaniczay 1978, 145)
Balassi hatte den Niedergang des Landes und den Werteverlust noch als Lob der Vergangenheit dargestellt. Damit versuchte er, den traurigen Verfall aller früheren Werte indirekt noch plausibler aufzuzeigen. Rimay vertrat eine andere Position: Bei ihm erschien die quondam-nunc-Opposition ganz konkret, rhetorisch nicht mehr verborgen. Sein Gedicht, in dem er die Verderbnis der ungarischen Nation beklagt, hatte sowohl poetisch als auch ideologisch außerordentlich großen Einfluss auf die patriotisch-politische Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts in Ungarn (Im Ton des zitierten Gedichtes Legyen jó idő csak etc. [Ács 1992, 173]):
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Ó, szegény megromlott s elfogyott magyar nép, Vizézséggel nevelt hírrel vagy igen szép, Kár, hogy tartatol úgy, mint senyvedendő kép, Elémenetedre nincs egy utad is ép. Kedvelt, böcsült véred lett csúfoltságossá, Szablyádnak bév zsoldja nagy olcsóságossá, Megcsorbult nemzeted változott korcsossá, Neved ékessége utálatságossá. Föld reménségére felnevelt úrfiak Szemétre vettetnek úgy, mint köz tyúkfiak, Zsírokkal hízódnak az idegen fiak, Hozzád nem különbek, mint az ördögfiak. Hazádnak szép vége mindenütt csonkán áll, Sereged szép száma fogy, romol s szállton száll, Ínséged nő s árad, veled egy ágyban hál, Bév étkeid helyett rakódik aptó tál. Ki szánhat? bánd magad nyomorúságidot, Mert nézi s nem érzi az csak romlásodot, Aki építhetné te szép országodot, Könnyen múlatja el csak zálaglásidot. Sem pénz, jószág mostan, s méltó árú posztó Nem indít, hogy szolgálj, megszűkölt az osztó, Csudáld, hogy minden rend nem kóborló s fosztó, Az nagy orv mert kicsint szörnyebb felakasztó. Ó, kedves nemzetem, hazám, édes felem, Kivel szerelmetes mind tavaszom s telem. Keseregj, sírj, kiálts Istenedhez velem; Nálad, hogy szeretlek, legyen ez vers jelem.
In der Übersetzung von Heinz Kahlau: Oh, du armes Ungarvolk, entkräftet und verfallen, / Einst warst du durch Heldentum und Mut gerühmt von allen. / Weh, jetzt mahnst du an gestürzte Heldenbildgestalten, / Keiner deiner Wege blieb dir unversehrt erhalten. // Dein Geblüt, einst hochgepriesen, wird nicht mehr geachtet, / Dein soviel begehrter Säbel wird billig verpachtet, / Deine alte Größe ist entadelt und zertreten, / Dort, wo du einst glücklich warst, wirst du nicht hingebeten. // Deine jungen Herrn, zur Hoffnung für die Welt erzogen – / Wie gerupfte Hähne sind sie auf den Mist geflogen. / Mästen nun mit ihrem Fett die Söhne fremder Schinder, / Die nicht besser zu dir sind als Satans wahre Kinder. // Alle festen Burgen deiner Grenzen sind zerfallen, / Und dein schönes Heer ist nun das schwachste Heer von allen. Treu ist nur die Not geblieben, schläft in deinem Bette, / Deine weitgerühmten Speisen sind entblößt vom
Der erste große Lyriker auf ungarischem Boden: Bálint Balassi (1554–1594)
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Fette. // Keiner hat für dich ein Mitleid, musst dich selbst beklagen, / Der dir auf dem Rücken reitet, hat dich so geschlagen, / Der aus deinem Reichtum soviel Schönheit schaffen könnte, / Macht aus deinen Schätzen seine feile Lebensrente. // Weder Geld noch Grund, noch Tuch, noch Alimente / Sind ein Lohn, der dich zu seinem Dienst verführen könnte. / Und du wunderst dich, dass dich nicht alle Stände plündern – / Alle hängt der große Dieb, die seine Beute mindern. // Vaterland, geliebtes Ungarn, meine lieben Schwäher, / Eure Liebe bringt im Winter mir den Frühling näher, / Klagt und weint und ruft mit mir, den Himmel zu erweichen – / Diese Verse nehmt als Botschaft und als Liebeszeichen. (Klaniczay 1978, 147–148)
In den 1610er Jahren genoss Rimay großes Ansehen und war der maßgebende literarische Theoretiker und Dichter in Ungarn. Obwohl noch zu seinen Lebzeiten bedeutende Änderungen im poetischen Stil der ungarischen Dichtung eintraten, blieb er der Spätrenaissance verhaftet. Gleichwohl übten seine Gedichte mit ihrer virtuosen Technik und Wortfülle große Wirkung auf die ungarische Dichtung des sogenannten Barock aus.
Exkurs 2: Über die Auslandsstudien ungarischer Studenten. Wege zur europäischen Bildung Ab dem 13. Jahrhundert lassen sich an ausländischen Universitäten in zunehmender, wenn auch immer noch geringer Zahl ungarische Studenten nachweisen. Zu dieser Zeit waren die italienischen Zentren der mittelalterlichen Jurisprudenz stark frequentiert, denn sowohl die Kirche als auch der Staat brauchten gebildete Fachmänner für die Administration. Heimgekehrt konnten die Auslandsstudenten mit großzügigen Benefizien und vornehmen Stellen in der königlichen Administration rechnen. Nur wenige Studenten konnten jedoch die Mittel für ihr Auslandsstudium selbst aufbringen. Für die Jahre 1222–1256 kennen wir 205 ungarische Namen aus Padua, in Bologna taucht 1221 der erste ungarische Student – Paulus de Hungaria – auf, in die Matrikel von Bologna wurden im 13. und 14. Jahrhundert insgesamt etwa 110 Namen ungarischer Studenten aufgenommen, die Universität in Ferrara besuchten im 15. Jahrhundert etwa 100 Ungarn. Die Universitätsgründungen in Ostmitteleuropa (Prag, Krakau, Wien) brachten eine neue Periode in der Geschichte der peregrinatio academica: Vor 1520 besuchten etwa 2.000 ungarische (damit auch siebenbürgische) Studenten die Wiener Universität, ungefähr 1.000 waren in Krakau und 200 in Prag immatrikuliert. Die entscheidende Wende bedeutete die Rezeption der reformatorischen Ideen in Ungarn. Im 16. Jahrhundert studierten etwa 1.200 Studenten aus Ungarn an der neu gegründeten Universität Wittenberg, unter denen in den Jahren 1521–1560 430 Schüler und begeisterte Anhänger des Praeceptor Germa-
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niae Philipp Melanchthon waren. Der damals 21-jährige Melanchthon übernahm seine Lehrerstelle 1518 in Wittenberg mit dem Empfehlungsschreiben seines Onkels Johannes Reuchlin: „Ich weiß unter den Teutschen keinen, der über ihn sey, ausgenommen Herr Erasmus Roterodamus, der ist ein Holländer, derselbige übertrifft uns alle im Latein“. Die ungarischen Studenten kamen aus allen Teilen des Landes, aus der ersten ‚Generation‘ zwischen 1529–1541 sind uns 50 Namen bekannt. 27 von ihnen begannen ihr Auslandsstudium in Krakau, vier in Wien, und einige studierten an beiden Universitäten. Das Studium in Krakau bedeutete gewissermaßen eine Vorbereitung für den Aufenthalt in Wittenberg. Zu dieser ersten Generation gehören die bedeutendsten Vertreter der Reformation in Ungarn, z. B. Mátyás (Matthias) Dévai, Imre (Emerich) Ozorai, István (Stefan) Gálszécsi. In Wittenberg wurde 1555 die Vereinigung der ungarischen Nation (coetus) gegründet, sie erreichte ihre Blütezeit im letzten Drittel des Jahrhunderts, als sich der junge Baron Mihály (Michael) Forgách mit seinen ungarischen Mitstudenten dort aufhielt und sogar mit Justus Lipsius im Briefwechsel stand. Zu dieser Zeit unterrichtete auch Giordano Bruno in Wittenberg und vermittelte seinen Studenten wichtige Kenntnisse über die Unendlichkeit des Weltalls. Als Kurfürst Christian I. 1591 starb, begann in Wittenberg die strenge lutherische Restauration; alle Studenten mussten den Thesen einer formula concordiae zustimmen oder 1592 die Universität und die Stadt verlassen. Der Versuch der sogenannten ‚zweiten Reformation‘ in Sachsen unter Christian I. war gescheitert, deshalb wurde die Bildungsstätte der (krypto)kalvinistischen Studenten nach Heidelberg als der Calvinisten fürnehmsten und hauptsitz verlegt. Die früher geringen Immatrikulationszahlen ungarischer Studenten nahmen hier ab 1595 wesentlich zu, sie können in drei Gruppen eingeteilt werden: Von 1595 bis zu Beginn des Jahres 1607 (also bis zum Friedensschluss in Wien und jenem mit den Türken in Zsitvatorok, heute Žitva, Slowakei) findet man in der Matrikel der Universität 47 ungarische und siebenbürgische Namen, nach dem sogenannten langen Türkenkrieg bis 1613 besuchten 40 (also jährlich sechs oder sieben neue) Studenten die theologische Fakultät, die dritte Periode dauerte von 1614 bis 1621: Jährlich sind etwa zwölf, insgesamt also 86 ungarische Studenten in Heidelberg registriert. Das Jahr 1614 brachte also eine radikale Wende: In diesem Jahr ließen sich nur noch zwei ungarische Studenten in Wittenberg immatrikulieren, bis 1620 aber niemand mehr aus Ungarn. Damit wurde die Universität in Heidelberg endgültig das wichtigste Zentrum der ungarischen Peregrination. 1614 begannen sogar zwei fürstliche Alumnen ihre Studien hier, 1621 studierten dann elf Studenten mit der Unterstützung des siebenbürgischen Fürsten Gábor (Gabriel) Bethlen. Zu dieser Zeit arbeitete der Fürst schon an der Gründung einer Akademie in Gyulafehérvár (Alba Iulia, Rumänien), seine Unterstützung der Auslandsstudien Begabter stand damit sicherlich in engem Zusammenhang. Die aus Heidelberg
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zurückgekehrten Pastoren hatten wesentlichen Anteil an der Organisation der ungarisch-reformierten Kirche und blieben für die führenden Geistesströmungen in Europa meist offen. Fast alle von ihnen dienten in den wichtigsten Städten und Märkten des Landes, elf davon wurden sogar Superintendenten. 1621 schuf István Nyilas Milotai mit seiner Agenda eine Grundlage für die Liturgie des Gottesdienstes der reformierten Kirche (RMNY Nr. 1251), Albert Szenci Molnár übersetzte die Institution von Calvin (erste Auflage 1536 in Basel: Cristianae religionis institutio) ins Ungarische, sie erschien 1624 in Hanau (RMNY Nr. 1308). Initiative und Unterstützung für diese Übersetzung ging von den Fürsten Bethlen und György (Georg) Rákóczi (nach Bethlens Tod Fürst von Siebenbürgen) aus. Nach ihrer Rückkehr nach Ungarn standen die Heidelberger in ständiger Korrespondenz miteinander und mit ihrem berühmten Professor David Pareus. Pareus, der eifrig an der Union der protestantischen Konfessionen arbeitete, wurde von den ungarischen Studenten allgemein sehr geschätzt. 1614 ließ er die Schrift Irenicum veröffentlichen, in der er sich für die Einheit der Protestanten gegenüber der sogenannten Gegenreformation der katholischen Kirche aussprach, wobei er weder im Sinn hatte, den Kalvinismus infrage zu stellen, noch seine theologische Position zu ändern. Für das Einigungswerk schlug er drei Wege vor: gemäßigte Schriften, Glaubensgespräche und eine Synode. Diese Unionspolitik, die von den Lutheranern schroff abgelehnt wurde, erreichte ihren Höhepunkt im Jubiläumsjahr 1617. Pareus’ Studenten verbreiteten seine Ideen in Ungarn und trugen damit wesentlich zur Herausbildung des heimischen kalvinistischen Institutionssystems bei. Nachdem Heidelberg und seine Universität im September 1622 zerstört wurden, verlegte sich die peregrinatio hungarica nach Holland, in erster Linie nach Franeker. Schon 1623 immatrikulierten sich sechs ungarische Studiosi an der dortigen Universität. An den niederländischen Universitäten, die ihre Blütezeit im 17. und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erlebten, herrschte ein verhältnismäßig tolerantes Klima: Unter Mennoniten und Remonstranten zeigte sich ein großes Interesse auch für den Sozinianizmus; die Reformen der kirchlichen Gemeinden und des Unterrichts sowie die Entwicklung der Wissenschaften übten große Anziehungskraft aus.
I.6 Europäischer Horizont und ungarische Ferne: Albert Szenci Molnár (1574–1634) Die sprachtheoretische und sprachkünstlerische Fundierung des reformatorischen Erziehungsprogramms gründete auf der Einsicht, dass der Sprache im Verhältnis des Menschen zu Gott eine zentrale Rolle zukomme (zahlreiche Bibel-
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übersetzungen, grammatische Poetiken, Lehrbücher für Rhetorik und kirchliche Rhetoriken erschienen). In Szenc (heute Senec, Slowakei) als Sohn eines protestantischen Müllers geboren (daher der Name: Müller = ung. Molnár), wurde Albert Szenci Molnár zum wirkungsmächtigsten Verbreiter der konfessionellen und wissenschaftlichen Forderungen der reformierten (helvetischen) Kirche in Ungarn. Wir verfügen über zuverlässige Quellen über seine Studien und Bildung: Kein anderer der frühen ungarischen Literaten strebte so sehr nach dem positiven Urteil der Nachwelt wie er. Ab 1596 begann er ein lateinisches Diarium mit wenigen ungarischen Eintragungen – teils retrospektiv – zu führen (während dieser Zeit studierte und wanderte er schon seit fast sieben Jahren im Ausland). Sein Diarium vel adversaria mea (heute in der Teleki-Sammlung in Marosvásárhely, Neumarkt, Tărgu Mureş, Rumänien) gibt nur wenig Auskunft über das Innenleben des Autors, es handelt sich vielmehr um eine Auflistung seiner Studienorte, seiner Mitstudenten und schriftstellerischen Aufgaben in verschiedenen Jahren. Trotz der größtenteils dürftigen Eintragungen ist das Tagebuch von großer kulturhistorischer Bedeutung: 21 Jahre lang (bis Mai 1617) trug Szenci Molnár Notizen von unterschiedlichem Umfang in sein Büchlein ein und berichtete so über seine Begegnungen mit den führenden intellektuellen Bewegungen der Zeit (Szabó 2003). Sein größtes Verdienst bestand in der Vermittlung zwischen europäischem und ungarischem protestantischem Gedankengut. Als 12-Jähriger war er Schüler der bekannten Schule in Gönc (Göncinum, Weingebiet), wo der Prediger Gáspár Károlyi schon an seiner Bibelübersetzung und -ausgabe arbeitete. Albert Szenci Molnár verbrachte mehr als anderthalb Jahre dort und wurde auch mit der Arbeit an der Bibelübersetzung vertraut: Mit den Korrekturfahnen wurde er des Öfteren in den Druckort Vizsoly (Visolinum bei Gönc) geschickt. In der Widmung der von ihm redigierten und vermehrten Ausgabe der Bibel (Hanau, 1608. RMNY Nr. 971) sprach er bewegt davon, dass er bereits als Kind an dieser Arbeit teilhatte und schon damals beschloss, zur Ehre der Kirche die Bibel noch einmal verbessert zu veröffentlichen. (Die noch weiter ergänzte Auflage wurde 1612 in Oppenheim herausgegeben: RMNY Nr. 1037) Nachdem sein Praeceptor in Gönc gestorben war, besuchte er die Schulen in Debrecen, Nagybánya (Frauenbach, heute Baia Mare, Rumänien) und wieder in Debrecen; am 8. November 1590 kam er schließlich in Wittenberg an. Im folgenden Jahr hielt er sich gerade in Dresden auf, als der Christianissimus Elector Christian I. starb. Mit seinem Tod musste die Hoffnung auf die sogenannte zweite Reformation in Sachsen aufgegeben werden. Im Mai 1592 verließ auch Szenci Molnár Wittenberg und kam noch im selben Monat in Heidelberg an. Ein Jahr später wechselte er nach Straßburg, wo er bis Ende 1596 studierte. Im selben Jahr unternahm er eine längere Studienreise durch die Schweiz und Italien (in Genf traf er auch Bèze, der damals 78 Jahre alt war),
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und ab dem Jahresende setzte er seine Studien in Heidelberg fort. In Straßburg und Heidelberg lernte er den lateinischen Humanismus kennen, auf dessen Basis er sein umfangreiches Programm gestaltete. Er war sein Leben lang bestrebt, die ungarische Bildung mit dem europäischen Wissensstand in Einklang zu bringen. Die städtische Kultur in Deutschland und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Universitäten hatten tiefe Wirkung auf ihn ausgeübt. In Heidelberg konnte er genau verfolgen, wie die Liturgie der deutschen reformierten Kirche gestaltet und gefestigt wurde. So fasste er den Plan, seiner Kirche in Ungarn mit den eigenen Erfahrungen zu dienen. Ein Beispiel für seine Vorbereitung aus dem vorwiegend auf Lateinisch geführten Tagebuch (Szabó 2003, 65, Ü: Verfasser): 1598. In Heidelberg, als ich im Kollegium im äußersten Elend lebte, begann ich den Tag folgendermaßen: Am 1. Januar um vier Uhr aufgewacht sang ich noch im Bett Psalmen auf Ungarisch, Deutsch und Lateinisch. Um fünf Uhr stand ich auf, las Psalmen aus dem Psalter, machte Feuer im Ofen an und betete. Vor acht Uhr hörte ich dem Predigt des Herrn Tossanus zu etc.
Nach gescheiterten Heiratsabsichten und nachdem er eine schwere psychische Krankheit überstanden hatte, machte er einen kurzen Besuch in Ungarn, im Sommer 1600 kehrte er aber wieder nach Heidelberg zurück. Nach Aufenthalten in Herborn und in Frankfurt am Main arbeitete er 1603 in Altdorf an seinem lateinisch-ungarischen und ungarisch-lateinischen Wörterbuch, wo er sich mit dem von den ungarischen Studenten hochgeschätzten Georg Rem (Rehm) eng anfreundete. Rem, eifriger Förderer der deutsch-ungarischen wissenschaftlichen Beziehungen, hatte sicherlich keinen geringen Anteil an dem Plan dieses Wörterbuchs: Dictionarivm Latinovngaricum […] Item vice versa Dictionarivm Vngarolatinvm, Nürnberg, 1604 (RMNY Nr. 919). Als Vorbild kann das 1535 in Straßburg veröffentlichte deutsch-lateinische Wörterbuch des Petrus Dasypodius gelten. Das besondere Novum von Szenci Molnárs Arbeit besteht darin, dass dem Wörterbuch zum ersten Mal ein ungarisch-lateinischer Teil mit eigenem Titelblatt beigefügt wurde. Albertus Molnar Szenciensis Ungarus, bonarum literatum studiosus widmete das lateinisch-ungarische Verzeichnis Kaiser Rudolf II. Mit der lateinischen Widmung macht er dem Kaiser seine Aufwartung in Form eines rhetorischen Lobes der deutschen Kultur (Szenci Molnár 1971, 453; Ü: Verfasser): Wer hat den Buchdruck erfunden? Die Deutschen! Wer hat die schönen Formen der Gegenstände in Kupfer gestochen? Die Deutschen! Wer hat die Malerei, die in Griechenland einst blühte, wieder lebendig gemacht? Die Deutschen! Wann wurde die Uhr erfunden? Nicht zur Zeit des deutschen Reichs? […]
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Der ungarisch-lateinische Teil ist vier ungarischen Magnaten (István Báthori von Ecsed, Zsigmond Rákóczi, Szaniszló Thurzó und Sebestyén Thököli) gewidmet, mit ihm verfolgt Szenci Molnár ganz andere Absichten. Als dringende Mahnung werden hier mehrere Zeilen aus der tadelnden Rede des Enea Silvio Piccolomini über den Verfall der Sitten und Tugenden der einst so tapferen Ungarn zitiert. Die Rede, die er als Sekretär Kaiser Friedrichs III. um 1434 vor ungarischen Gesandten hielt, wurde später als Nr. 78 in seine Briefsammlung aufgenommen. „Die Lage des Landes wurde leider zum schweren Schaden der ganzen Christenheit zerstört, erschüttert, vernichtet und aller früheren Macht beraubt“ beginnt das Zitat, und die Häufung rhetorischer Ausrufe und Fragen machen die Mahnung noch nachdrücklicher: „O dieses einst so reiche Land! Goldene Provinz! Zierde der Länder! Wie hast du deinen Glanz verloren? Wohin ist deine prächtige Farbe verschwunden? Wo ist die Kraft deiner Einwohner etc.“ Dieser Tadel wurde an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wieder aktuell und unterstrich Szenci Molnárs Absicht, das Gewissen der Adressaten (und der Nutzer des Wörterbuches) wachzurütteln. Das Werk wurde Kaiser Rudolf II. im Oktober des Jahres in Prag überreicht. Szenci Molnárs poetisch-rhetorisches und grammatisches Interesse sind in dem Wörterbuch deutlich erkennbar, das zu seinen Lebzeiten noch in zwei deutlich erweiterten Auflagen erschien (1611 Hanau, RMNY Nr. 1012; 1621 Heidelberg, RMNY Nr. 1239). Mit unermüdlichem Fleiß arbeitete er weiter an seiner Psalmenübersetzung: „Am 9. März 1606 habe ich begonnen, den Psalter zu französischen Melodien passend zu übersetzen“; am 23. September war er schon mit der Paraphrase des Genfer Psalters fertig. Dieser, auch unter der Bezeichnung Hugenottenpsalter bekannt, war 1562 von Clément Marot und Théodore de Bèze herausgegeben und sehr bald ins Deutsche übersetzt worden: Bis 1565 bearbeitete Ambrosius Lobwasser alle Psalmen auf Deutsch, 1573 wurde seine Übersetzung veröffentlicht. Szenci Molnár konnte nicht oder nur gebrochen Französisch (als er 1596 den betagten Bèze in Genf besuchte, verstand er seine Predigt nicht), weshalb er sich auf Lobwassers Übertragung stützte. 1607 erschien in Herborn das Psalterium Ungaricum (RMNY Nr. 962), in dem Szenci Molnár (eigentlich nach französischen Muster durch deutsche Vermittlung) die ungarische Verskunst radikal erneuerte (Szigeti 2005). Die ungarische Dichtung vor Szenci Molnár war zunächst dominant isometrisch gewesen, d. h. bei invariabler Reimtechnik und Silbenzahl waren Monoreime und Isozeilen charakteristisch. Bereits Bálint Balassi war es gelungen, die Isostrophen (die dreizeilige a19a19a19) durch Heterometrik (a6a6b7c6c6b7d6d6b7) wesentlich beweglicher zu gestalten. Szenci Molnár kannte und verwendete die sogenannte Balassi-Strophe, er kannte selbstverständlich die Melodien des Hugenottenpsalters und die metrischen Vereinfachungen Lobwassers. Indem er in der Übersetzung meist Lobwassers Versmaßen und Reimtechnik folgt, führte er neue
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Strophenformen in die ungarische Dichtung ein. Die Psalmenlektüre hat er also sowohl mit Blick auf die Poetik der Sprechsituation als auch auf die strophische Dichtungstradition praktiziert und mit Fragen nach der Übersetzbarkeit des Heiligen Textes verbunden. Hinter diesem hohen Grad von literarischer Bewusstheit steht ein denkbar gesteigerter Anspruch, dessen Auftritt von epochaler Bedeutung ist: Bei Szenci Molnár, Apáczai, Misztótfalusi, Páriz Pápai, bei den Ungarn, die im Ausland studiert hatten und in der Nähe von Druckereien wohnten, scheint zuerst der Gedanke auf, der von Bessenyei bis Vörösmarty und János Arany zur Leitidee der ungarischen Literatur wird: dass die Literatur um der Literatur willen zu pflegen sei, dass es eine ungarische Literatur geben solle, die das geistige Niveau der Nation in die Höhe hebt. Die Literatur ist nun an der großen Wende der geistigen Entwicklung angelangt, an der die Erscheinungen ihre innerste Wahrheit aufdecken. Die Schrift wirft jeden Ballast von sich, der an ihr haften geblieben ist, als sie Mittel war im Dienst anderer, nichtliterarischer Ziele, und sie findet in ihrem eigenen Inneren zu literaturschaffendem Vermögen. Von nun an wird geschrieben und gedruckt, um diese ihr innewohnende, mächtige menschenformende, gesellschaftsgestaltende geistige Kraft ans Licht zu bringen. Die Schrift hat von neuem ihr Ziel entdeckt: die Literatur. Diese Literatur, die ihre eigenen Wege geht, kehrt auf die Wege der Historie, der Theorie, der Kritik und unterscheidet sich immer mehr von anderen Schriftwerken, die im Dienst heteronomer Ziele vor der Öffentlichkeit der Presse erscheinen. Auf der Spur folgt ihr die Schwester des Denkens: Die Sorge und mit ihr die Tradition einer großen Vergangenheit und die Verantwortung für eine fernen Zukunft lasten auf den Schultern der Literatur. Gemeinsam mit der volljährig gewordenen Literatur ist die Literaturgeschichte herangewachsen. Nach Ferenc Toldys klassischer Definition entstand die Geschichte der Literatur, ›als mit dem Schwinden der Illusionen jeder unvoreingenommene Landsmann zu der Überzeugung kommen musste, dass es für unsere Selbsterhaltung keinen anderen Weg gibt, als das Selbstbewusstsein der nationalen Bildung in der Vergangenheit und seine Anhebung in der Zukunft mit all unserer Kraft‹. (Thienemann 1930, 160, Ü: Ch. Kunze)
Das Psalterium Ungaricum widmete Szenci Molnár Kürfürst Friedrich IV., Landgraf Moritz von Hessen (der angeblich Ungarisch konnte) sowie der reformierten Kirche, ihren huldvollen Predigern, Lehrern und Studenten in Ungarn und Siebenbürgen. Hier verkündete er sein Programm (Imre 2009): Miulta tanúságnak kévánságából idegen országban élek, és látás hallásnak okáért néha veszedelmekbe is forgok, gyakran kérem azt az Úr Istentől, hogy az ő kegyelmes akaratjából avagy vigyen föl idein ez bűnszaporító világból az ő mennyei akadémiájában és bölcsességgel bővelkedő paradicsomában; avagy ez földen életemet az Krisztusért szent lelkével úgy vezérelje, hogy senkinek ne legyek botránkozására, hanem az híveknek seregiben élhessek egyebeknek hasznokra és az ő felséges nevének dicséretire. Innet vagyon, hogy ez híres Akadémiákban főtanítók közt forogván nem kapok ez világon gazdagító tudományokon, hanem olyakat kévánok, melyekkel legtöbbeknek használhassak az mi nyomorgó hazánkban. (Szenci Molnár 1984, 11)
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In der Übersetzung von Géza Engl: Seitdem ich aus Lerneifer in einem fremden Land lebe und von dem Wunsche erfüllt, zu sehen und zu hören, mich manchmal in Gefahr begebe, flehe ich oft zu dem Herrn, er möge mich nach seinem gnadevollen Willen aus dieser sündenmehrenden Welt rechtzeitig an seine himmlische Akademie und in sein an Weisheit reiches Paradies entführen oder mich in meinem Erdenleben für Christus durch seinen Heiligen Geist so lenken, daß ich niemandem zum Ärgernis werde, vielmehr in der Schar der Gläubigen leben könne zum Nutzen der anderen und zum Lobe seines heiligen Namens. Daher kommt es, dass während ich auf den berühmten Akademien mit den obersten Lehrern Umgang pflege, mir das Herz nicht nach den die Welt bereichernden Wissenschaften steht, sondern nach dem, womit ich unserem darbenden Vaterland am meisten nutzen kann. (Klaniczay 1978, 149–150)
Dem Psalter wurde ein schmaler Katechismus für den Unterricht kleiner Kinder beigefügt, ebenfalls für den Schulunterricht bestimmt war die Nova grammatica Ungarica (Hanau, 1610. RMNY Nr. 995). Im Jahr darauf heiratete Szenci Molnár in Oppenheim; vor der Heiratspredigt wurde der 33. (Wol auff ihr heiligen und frummen etc.), nach der Predigt der 128. (Selig ist er gepreiset der Gott für Augen helt etc.) Psalm in der Übersetzung von Lobwasser gesungen. Mit seiner Familie ging Szenci Molnár nach Ungarn, wo er zunächst am Hof Ferenc Batthyánys die Bücher der berühmten Batthyány-Bücherei in Güssing ordnete und später ein Predigeramt in Komárom (Komorn, heute Komarno, Slowakei) antrat. Im Frühling 1615 reiste die ganze Familie aus Ungarn (Tyrnau/Nagyszombat, heute Trnava, Slowakei) nach Beuthen (heute Bytom, Polen) in Schlesien, zu einem Verwandten seiner Frau, dem angesehenen Staatsmann und Wissenschaftler Tobias Scultetus. Martin Opitz, der die Beuthener Schule besuchte, war zu dieser Zeit Erzieher von Scultetus’ Sohn Hieronymus Kaspar. Über Kontakte zwischen Szenci Molnár und Opitz in Beuthen ist nichts bekannt, drei Jahre später aber verbrachten beide eine längere Zeit in Heidelberg, und von dieser Zeit an standen sie in regelmäßigem Briefverkehr. Vermutlich trat Opitz seine Professur in Gyulafehérvár (Alba Iulia, Rumänien) 1622 auf Szenci Molnárs Anregung an. Mit Unterstützung des Fürsten Gábor Bethlen kehrte Szenci Molnár nach Heidelberg zurück, wo er eifrig an Übersetzungen nützlicher kirchlicher Werke arbeitete. Im Jubiläumsjahr 1617 veröffentlichte er die Kirchenpostille oder Auslegung der sonntäglichen Evangelien seines Heidelberger Professors Abraham Scultetus in Oppenheim auf Ungarisch (Postilla Scultetica, RMNY Nr. 1144). Es war seine erste Prosaübersetzung, die seiner reformierten Kirche Musterpredigten bieten sollte. Im folgenden Jahr übersetzte er die Evangelische Jubel-Jahrs-Predigt des Abraham Scultetus (Jubileus esztendei prédikáció, Oppenheim, 1618. RMNY Nr. 1166). 1621 erschien die ungarische Übersetzung von Heinrich Bullingers Werk Christliches Bättbüchlin in Heidelberg (Imádságos könyvecske, RMNY Nr. 1238), 1624 wurde Calvins Hauptwerk, die Institutio religionis
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christianae, in Szenci Molnárs ungarischer Übersetzung in Hanau gedruckt. Diese Übersetzung war gleichzeitig Szenci Molnárs größtes literarisches Unternehmen (Az keresztyéni religióra és igaz hitre való tanítás, RMNY Nr. 1308). Über seine letzten Jahre stehen uns nur noch spärliche Informationen zur Verfügung. 1625 kehrte er nach Ungarn zurück, war zunächst in Kaschau tätig und lebte von 1630 bis zu seinem Tod in Klausenburg. Seine letzte Arbeit war eine Übersetzung der deutschen Fassung des lateinischen Werkes De incertitudine rerum humanarum discursus von Georg Ziegler (Riga, 1598). Szenci Molnár nutzte die dritte Auflage der deutschen Übersetzung (Leutschau, 1618) und ließ seine ungarische Version 1630 in Leutschau drucken (Dicursus de summo bono, RMNY Nr. 1483). Gegen Ende seines Lebens entwickelte er zunehmendes Interesse an der Verinnerlichung des Glaubens, in dem er auch das bonum fand. Mit seinen ungarischen Werken (meist Übersetzungen) diente er den Bedürfnissen seiner reformierten Kirche, lateinisch war er aber – gleich seinen humanistisch gebildeten Zeitgenossen – auch in der spielerisch-virtuosen Dichtung bewandert. Martin Opitz, „der Vater der deutschen Dichtung“, erwähnte sein Verdienst für die ungarische Kultur in einem seiner lateinischen Briefe mit größter Anerkennung: „In Klausenburg ist jetzt Albert Molnár, dieser hoch gebildete Mann, dem Ungarn zu mehr Dank verpflichtet ist als allen anderen, die sich unter euch mit den schönen Wissenschaften beschäftigten“ (an Martin Schödel, Paris, 24. Mai 1630).
Exkurs 3: Martin Opitz in Siebenbürgen Gábor (Gabriel) Bethlen, der Fürst von Siebenbürgen, konnte Anfang 1622 erreichen, dass der siebenbürgische Landtag den Beschluss zur Gründung einer Akademie fasste. Bethlen schickte seinen Gesandten zu Herzog Johann Christian von Brieg, um sich eruditos, probos, orthodoxos viros für die Akademie empfehlen zu lassen. Die Anfrage zur Empfehlung wurde durch einen Kaschauer Handelsmann übermittelt. In Kaschau war eben jener Peter Alvinczi (1570–1634) tätig, der früher als Hofprediger am Hof Bocskays gewirkt hatte und später Ratgeber und Seelsorger des Fürsten Bethlen wurde. Seine schlesischen Beziehungen waren wohl bekannt, und diese waren vermutlich der Grund für die Anfrage. Der Herzog von Brieg empfahl dem Fürsten vier Gelehrte für die Professur: Kaspar Kirchner, Jakob Kopisch, Johann Origanus und Martin Opitz. Opitz, der keinen Hochschulabschluss vorweisen konnte, begab sich als Erster auf die Reise und kam im Mai 1622 in Gyulafehérvár (Weißenburg/Alba Iulia) an. Hier wurde er von einem seiner Kollegen vorgestellt als in Collegio Albano poësos et oratoriae professor doctissimus. Er legte seinen Schülern (und dem Fürsten) tatsächlich die Standardwerke von Cicero, Horaz und Seneca aus. Als er sich an dem Fürstensitz
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aufhielt, gab es dort nicht einmal eine Druckerei, und der junge Dichter fühlte sich in der Stadt sehr unwohl und gesellschaftlich vereinsamt. Auch das fehlende Verständnis der Sprache belastete ihn, wie er verschiedentlich in Briefen und anderen poetischen Gattungen äußerte. In Siebenbürgen war nämlich Ungarisch Amtssprache, nicht Latein wie in Ungarn: Wenn z. B. eine sächsische Stadt in Siebenbürgen ein Amtsgeschäft beim Fürsten zu erledigen hatte, war die Sprache Ungarisch. Im sogenannten königlichen Ungarn ist eine andere Tendenz festzustellen: Auch die Städte, die ihre inneren Angelegenheiten immer auf Deutsch erledigten, traten mit dem Palatin auf Latein in Verbindung. In den zwölf Monaten seines Aufenthaltes als Professor in Siebenbürgen setzte Opitz auch seine dichterische Tätigkeit fort. Eine geplante Inschriftensammlung (Dacia antiqua) scheiterte zwar, doch entstand hier sein großes Lehrgedicht Zlatna oder von Ruhe des Gemüts, das von den Zeitgenossen als dichterisch-philosophisches Meisterwerk anerkannt wurde. Das Gedicht Zlatna, ein Werk von 532 Verszeilen – in der Erstausgabe von 1623 noch 568 Zeilen – wird von einer Widmung (An Den WolEdlen Herrn Herrn Heinrich von Stange) in Prosaform eingeleitet und ist mit gelehrten Kommentaren versehen. Die Widmung erschien ab der zweiten, von Opitz selbst kontrollierten Auflage leicht verändert, das Gedicht wurde in wesentlichen Punkten emendiert. Es entstand während des Dreißigjährigen Krieges im Exil (im Jahr der Besetzung Heidelbergs, als Szenci Molnár dort schwer litt) und versucht die Möglichkeit aufzuzeigen, wie „ein Privat Person“ in einem fremden Land die „Leutseligkeit“ beibehalten kann. Bei „seiner Erlustierung“ fallen dem Verfasser Dinge ein, die er nicht verschweigen will und die er „vermöcht in seine reime zu bringen“. Dieser seelische Zustand bzw. die von diesem Zustand implizierte Redeweise erinnert an das damals von einem breitem gelehrten Publikum rezipierte große Werk De constantia libri duo (Leiden, 1584) des Justus Lipsius (deutsche Erstauflage 1599, ungarische Übersetzung von János Laskai, Debrecen, 1641. RMNY Nr. 1876). Kapitel III des zweiten Buches (Welches der Gaerten rechte gebrauch sey?) wurde tatsächlich zum Allgemeingut und zur Metapher der moralischen Haltung in Notfällen. In der Widmung von Opitz wurden das contrarium zwischen locus amoenus und locus desertus und die Position des Dichters genau aufgezeigt: Das keines Menschen zustand so wiederwertig vnd böse sey / das er nicht bißweilen sich vmb etwas erholen vnd ergetzen könne / habe Ich auch an mir selbst erfahren. Dann ob mir wol verwiechenes Jahr als Ich in Siebenbürgen wohnete Lufft / Wasser vnd alles wessen vnsere Dürfftigkeit nicht entberen kann schienen zuwieder sein / ja auch deß Volckes daselbsten sitten / Sprachen / reden vnd gedancken meiner Natur gantz entgegen waren; habe Ich doch auch in jenen örtern gefunden / was wir zu zeiten in diesen vergebens suchen. (Opitz 1968–1990, Bd. II/1, 65)
Europäischer Horizont und ungarische Ferne: Albert Szenci Molnár (1574–1634)
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Diese Gedanken übernahm Opitz in Das Buch von der Deutschen Poeterey (Breslau, 1624): „Von dieser Deutschen Poeterey nun reden / sollen wir nicht vermeinen / das vnser Land vnter so einer rawen vnd vngeschlachten Lufft liege / das es nicht eben dergleichen zue der Poesie tüchtige ingenia könne tragen / als irgend ein anderer ort vnter der Sonnen.“ Weihnachten 1622 musste er fern der Heimat verbringen, „in diesem wilden Orth, da niemals keine Gunst / Gewesen, noch seyn wird zu einer freyen Kunst“ (Lobgesang über den freundenreichen Geburtstag unsers Herren und Heyland Jesu Christi). Im Gedicht Als er auß Siebenbürgen sich zurück anheim begab (1623) nimmt sich sein valedicit folgendermaßen aus: „Der rawen Menschen Art die jetzund bey dir wohnen / Die aller Tugend Feind / vnd jhr mit Hasse lohnen / Die zwingt mich dass ich dir muss geben gute Nacht“ (Opitz 1968–1990, Bd. II/2, 746). Opitz sprach auch nach einem halben Jahrzehnt abwertend über eine Konsensmöglichkeit zwischen Deutschen und Ungarn, denn „Der Vnger redet fast / dem Deutschen vbel nach“ (Lob des Krieges Gottes Martis, in: Opitz 1968–1990, Bd. IV/ 1, 129–180). In seinem Gedicht Ad Copium spricht er davon, dass er seinen Hunnen in der Schule aus den Werken von Cicero und Horaz vorliest. Die erwähnte Integration der hunnischen Geschichte in die ungarische zur Legitimation der dynastischen Interessen der Arpadenkönige hatte dafür gesorgt, dass Hunnen und Ungarn gemeinhin als verwandt angesehen wurden. Diese historische Konzeption bildete dann die Basis der ungarischen Geschichtsschreibung und zahlreicher dichterischer Werke bis tief in das 18. Jahrhundert hinein. Damit konnte aber gleichzeitig die europäische Propaganda die Grausamkeit des Hunnenkönigs Attila („Attila mit seiner Scyten hauffen hat der Römer bestes Land, Daciam verwüstet und ausgeraubt“, Zlatna, V. 93–97) auf die Ungarn übertragen. Wenn Opitz über das barbarische Volk, über die raue Menschenart sowie über Sitten, Sprachen, Reden und Gedanken „des Volkes“ sprach, meinte er die Ungarn, die ungarische Nation. In der historischen und geographischen Literatur der Humanisten wurde noch keine weitere Präzisierung innerhalb des Hungaria-Begriffes vorgenommen. In der großen Cosmographia von Enea Silvio Piccolomini bekam Siebenbürgen verständlicherweise noch keinen Sonderstatus, sondern wurde als Teil des totius Regni Hungariae betrachtet. Die antikisierende Bezeichnung ‚Pannonia‘ hatten, wie gesagt, die Humanisten eingeführt und verbreitet. Im 16. Jahrhundert wurden ‚Hungaria‘ und ‚Pannonia‘ synonym verwendet: „universa Pannonia, tota Pannonia“ etc. Den Topos der Hofkritik fand Opitz in der Tradition, aber allzu direkt und heftig durfte er die höfische Welt natürlich nicht zurückweisen. In seinen Widmungen sprach er dem Fürsten die Funktion des Mäzens und sich selbst die Stellung des Hofdichters zu. Mit historischen Beispielen belegte er die These, dass sich Dichtung nur bei großzügiger Förderung entfalten
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könne. Die erste Sammelausgabe von Opitz’ Gedichten (Straßburg, 1624) wurde ohne sein Wissen veröffentlicht; hier handelt es sich nicht um den üblichen Bescheidenheitstopos der Veröffentlichung vor allem von Erst- und Jugendwerken „ohne das Wissen des Autors“, sondern um eine nachgewiesene Tatsache. Es ist nicht mehr auszumachen, wann Opitz Kenntnis von der Straßburger Ausgabe erlangte, seine ablehnenden Worte in der Widmung eines Exemplars dieser Auflage an Herzog Georg Rudolf von Liegnitz sind aber wohlbekannt: hos adolescentiae suae lusus ab aliis collectos et editos. Er selbst lehnte eine Neuauflage der Straßburger Ausgabe seiner Gedichte ab und zog eine Überarbeitung in Betracht. Opitz emendierte den Text der Straßburger Sammelausgabe hauptsächlich per detractionem, d. h. durch Auslassung. Das Gedicht Zlatna hatte in der Erstausgabe 1623 und in der Straßburger Ausgabe (1624) einen Umfang von 568 Zeilen (Alexandriner), ab der Breslauer Ausgabe (1625) war es per detractionem auf 532 Zeilen gekürzt. Die Zeilen 345–351 waren z. B. stark aktuell politisch geprägt (Opitz 1968–1990, Bd. II/1, 83): Bald trifft sich eine Stunde / Wann der Fürst mucken hat / so geht der Feld zu grunde Der hoch am Brette war / vnd kriegt ein newer gunst / So bloß vom Glücke kömpt / nicht von verdienst vnd kunst / Die hier dahinten steht. Wie wann ein Kind am rande Deß Meeres niedersitzt / bawt bald ein Hauß von sande / Bald reist er wieder ein; so pflegt er hier zu gehen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Worte auf Fürst Gábor Bethlen bezogen. Es sind schwere und tadelnde Worte. Es finden sich hier Züge der traditionellen humanistischen Hofkritik, aber auch der Ehrgeiz und die persönliche Gekränktheit eines jungen Späthumanisten. Es gab Gründe genug, diese Zeilen auszulassen – ein Hofdichter kann schließlich nie wissen, wann er den geschmähten Hof wieder braucht.
I.7. Kontroversliteratur, Theologie und Volkserziehung: Péter Pázmány (1570–1637) Péter Pázmány, der führende Theoretiker der katholischen Erneuerung in Ungarn, stammte aus einer protestantischen Adelsfamilie und wurde am 4. Oktober 1570 in Várad (Wardein, heute Oradea, Rumänien) geboren. Im Alter von zwölf Jahren konvertierte er unter dem Einfluss des eifrigen Jesuitenpaters und KoranÜbersetzers István Arator Szántó (1541–1612) zum katholischen Glauben. (In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts begann auch in Ungarn – selbstver-
Kontroversliteratur, Theologie und Volkserziehung: Péter Pázmány (1570–1637)
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Abb. 3: Péter Pázmány. Stahlstich nach einer Zeichnung von Tivadar Dörre
ständlich als Folge des Konzils von Trient – die Zeit der gewaltigen Konversionen zum Katholizismus.) Ab 1585 besuchte Pázmány das Jesuitengymnasium in Kolozsvár (Klausenburg, heute Cluj-Napoca, Rumänien), 1587 trat er in die Societas Jesu ein. Die Novizenzeit absolvierte er in Krakau, den dreijährigen philosophischen Kurs schloss er dann in Wien ab. In den Jahren 1593 und 1597 studierte er Theologie am Collegium Romanum und lernte dort Roberto Bellarmino, den geistigen Führer der Gegenreformation, kennen, der einen großen Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung ausübte. 1596 wurde er in Rom zum Priester geweiht und begann seine Tätigkeit als Präfekt im Grazer Konvikt. In diesem Jahr trat Erzherzog Ferdinand – der spätere Kaiser Ferdinand II. – in Innerösterreich
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die selbständige Regierung an und begann sogleich, mit besonderer Schärfe die Gegenreformation durchzuführen: Im Herbst 1598 erließ er eine Weisung, wonach alle Protestanten innerhalb von 14 Tagen das Land zu verlassen hätten. In dieser unruhigen Zeit wurde Pázmány 1598 zum Lehrer der Philosophie an der neu gegründeten Grazer Jesuitenuniversität ernannt. 1601 wirkte er kurze Zeit in Ungarn und wies in der ersten seiner polemischen Schriften die Konzeption des Werkes von István Magyari energisch zurück. Magyari (gest. 1605) war Hofprediger bei der Familie Nádasdy in Sárvár und veröffentlichte 1602 sein Hauptwerk ebenda: Az országokban való sok romlásoknak okairól (Über die Gründe des Verfalls der Länder [der ungarischen Krone], RMNY Nr. 890). Das Werk basiert auf der geschichtsphilosophischen These der Reformation, dass die Eroberung Ungarns durch die Türken und damit der politische und moralische Verfall des Landes die Folge der Abwendung von der wahren Religion sei. Pázmány verfasste 1603 eine Antwort auf Magyaris Werk und stellte in einer meisterhaften rhetorischen Argumentation die These auf, dass die Gründe für den allgemeinen Niedergang ausschließlich in der neuen Religion der Lutheraner zu suchen seien (Felelet az Magyari István sárvári prédikátornak, Antwort an István Magyari, Prediger von Sárvár, Nagyszombat/Tyrnau, RMNY Nr. 905). Im selben Jahr wurde Pázmány wieder nach Graz berufen, wo er an der Universität vier Jahre lang Theologie unterrichtete. Er setzte die Polemik gegen die Werke protestantischer Autoren fort und stellte daneben ein Gebetbuch zusammen, das von den ungarischen Katholiken über Jahrhunderte benutzt werden sollte (Graz, 1606, Keresztyéni imádságos könyv [Christliches Gebetbuch]. RMNY Nr. 945). Am 23. Juni 1606 schlossen Erzherzog Matthias und István Bocskay in Wien Frieden, im ersten Artikel des Vertrags wurde den ungarischen Ständen und königlichen Städten freie Religionsausübung zugesichert. Mit dem Frieden in Zsitvatorok zwischen den Vertretern Erzherzog Matthias’ und Sultan Achmeds I. am 11. November 1606 war der sogenannte lange Türkenkrieg beendet. Esztergom (Gran), Eger (Erlau) und Kanizsa blieben in türkischem Besitz (der Sitz des Erzbischofs zu Esztergom war schon 1543 nach Nagyszombat/Tyrnau verlegt worden). Der auf 20 Jahre abgeschlossene Frieden wurde 1616 und 1625 erneuert. Vor diesem außen- und innenpolitischen Hintergrund sind die vorsichtigen, aber trotzdem aktiven konfessionellen und politischen Pläne Péter Pázmánys zu verstehen: Im Gegensatz zu Ferenc Forgách (1607–1615 Erzbischof von Esztergom) vertrat Pázmány nicht die militante Erneuerung der katholischen Kirche. In seinen lateinischen und ungarischen Werken polemisierte er gegen protestantische Prediger und agitierte für den katholischen Glauben. 1609 griff er wieder den angesehenen Péter Alvinczi in einem in Briefform verfassten Werk, Alvinci Péter uramhoz iratott öt szép levél, an (Fünf schöne Briefe an Herrn Péter Alvinci Graz, RMNY
Kontroversliteratur, Theologie und Volkserziehung: Péter Pázmány (1570–1637)
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Nr. 980). Diese rhetorisch kunstvoll aufgebaute Polemik erinnert an die Position der Dunkelmänner: Ein fiktiver protestantischer Prediger bittet Alvinczi um Hilfe bei seiner Diskussion mit den Katholiken. Pázmány lässt den Prediger durch seine Unkenntnis und seine derbe Volkssprache lächerlich erscheinen (Balázs 2006). Pázmánys Hauptwerk wurde 1613 veröffentlicht: Isteni igazságra vezérlő kalauz (Wegweiser zur göttlichen Wahrheit, Pozsony/Pressburg. RMNY Nr. 1059). Das über 1.000 Seiten starke Werk enthält katholische Kirchenlehre im Sinne Bellarminos, und der Verfasser legte dazu einige seiner früheren Schriften wie die Widerlegung des Credos des großen Johann Calvin (RMNY Nr. 984) und die überarbeitete Fassung der Öt szép levél, diesmal unter dem Titel Öt levél (Fünf Briefe), bei. Pázmány widerlegt hier systematisch die nichtkatholischen Lehren und gibt den Protestanten die Schuld an der Glaubensspaltung. (Der Kalauz wurde dann zusammen mit den Öt levél 1623 nochmals in Pressburg veröffentlicht, Alte Ungarische Drucke Nr. 1293). Inzwischen betrieb Pázmány weiter sehr erfolgreich die Konversion hochadeliger Familien (1629 trat z. B. Ádám Batthyány, damals schon Oberhaupt der mächtigen Adelsfamilie, auf sein Einwirken zum katholischen Glauben über), bis 1637 waren dann die meisten Magnatenfamilien katholisch geworden. Nach dem Tod des Erzbischofs Ferenc Forgách wurde Pázmány 1616 (nachdem er den Jesuitenorden deswegen verlassen hatte) zum Erzbischof von Gran ernannt. Er sah eine große Gefahr im Priestermangel, deshalb gründete er 1623 ein Priesterseminar (auch Pazmaneum genannt) in Wien, das dort heute noch existiert. Zur spirituellen Vertiefung der Gläubigen übersetzte er 1624 De imitatione Christi libri quattor (Kempis Tamásnak Krisztus követéséről négy könyvei, Wien, RMNY Nr. 1297), das Werk der mittelalterlichen devotio moderna des Thomas von Kempen. Den Höhepunkt seiner bildungspolitischen Tätigkeit bildete ohne Zweifel die Gründung der katholischen Universität in Nagyszombat/Tyrnau 1635, deren Rechtsnachfolger die heutige Loránd-Eötvös-Universität in Budapest ist. Bereits 1558 wurde die Stadtschule von Tyrnau unter kirchliche Aufsicht gestellt, 1561 wurde hier ein Jesuitenkollegium gegründet, und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war die Stadt ein Zentrum der katholischen Erneuerung. Pázmány stiftete 100.000 Gulden aus seinem Privatvermögen für die Einrichtung der Universität, deren Unterricht zunächst an der philosophischen und theologischen Fakultät begann. Die juristische Fakultät wurde 1667, die medizinische erst 1769 eingerichtet. Im Gründungsbrief vom 12. Mai 1635 legte Pázmány sein Programm bezüglich der Bildung der katholischen Theologen sowie der Nation dar: Die Errichtung einer Universität für die Wissenschaften würde der katholischen Kirche sowie der ehrbaren ungarischen Nation am meisten dienen. Die Universität in Tyrnau wurde von den Jesuiten geleitet, und der Unterricht war damit nach einem einheitlichen Lehrplan der Jesuitenuniversitäten, nämlich nach der Ratio atque institutio studiorum Societatis Jesu (1599), gestaltet. An der philosophischen Fakultät fand das
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Grundstudium statt, auf ihm basierte die theologische Ausbildung. Pázmány hatte die Absicht, die jungen Adeligen für das dreijährige Studium der artes zu gewinnen. Laut Vorschriften der Ratio Studiorum wurden im ersten Jahrgang Logik, im zweiten Physik, im dritten Ethik und Mathematik unterrichtet. Die Universität hatte das Recht, akademische Grade zu verleihen: Die Studenten konnten im vierten Semester den Baccalaureatus, im sechsten den Magistergrad erwerben. An der philosophischen Fakultät wurden im ersten Studienjahr 1635/36 56 Studenten, im zweiten (1636/37) bereits 106 registriert, der Unterricht der Theologie begann im Studienjahr 1638/39 mit 17 Studenten. Nach der Auflösung des Ordens wurde die Universität 1777 nach Buda, später nach Pest verlegt. Ein Jahr nach der Universitätsgründung und vor seinem Tod veröffentlichte Pázmány die große Sammlung seiner Predigten (Pressburg, 1636, RMNY Nr. 1659). Das über tausend Seiten starke Werk ist seine letzte Arbeit: Es enthält 101 Predigten aus 30 Jahren, und allein die Drucklegung dauerte vier Jahre. Die Predigten basierten auf der Morallehre der Kirche. Nach Pázmánys Überzeugung wird das Vertrauen zu Gott mit Aktivität und aktiver Lebenshaltung verbunden, durch den Willen und das gute Werk kann für das Seelenheil des Menschen gesorgt sein. Seine Predigten sind rhetorisch sorgfältig aufgebaut und inhaltlich den Werten der Zuhörer angepasst. Die ästhetischen Möglichkeiten der volkssprachlichen religiösen Prosa bzw. der Erfolg bei der Vermittlung der religiösen Lehren dürfte wesentlich von der (sukzessiven) Entfaltung und Verknüpfung logisch-rhetorischer und stilistischer Fähigkeiten abgehangen haben. In der Tropologie der Predigtpraxis, die aus der jesuitischen rhetorischen Lehre hervorging, gliedert sich die Erfahrung nach Formen, die mit dichter Bedeutung versehen sind. Thienemann: „Der in der lebendigen Mündlichkeit verwurzelte Stil macht Luther oder Péter Pázmánys Predigten und Miklós Zrínyis Prosa so lebenskräftig und unmittelbar: sie schreiben den Satz noch so nieder, als sprächen sie zu den Anwesenden, als wären die Leser Zuhörer“ (Thienemann 1930, 114, Ü: Ch. Kunze). Damit hängt zusammen, dass er sich in seinem Kalauz gegen den Biblizismus der Reformation und die Überbewertung des Buchstabens wandte, sich aber vollkommen bewusst war, welche geistigen Energien durch den Buchdruck zum Leben erwacht waren. Seine Bücher und Flugschriften gehören nicht in die intimere Welt der Handschriftlichkeit, sondern sind für die laute und lärmende Öffentlichkeit der Druckerfarbe bestimmt, um dort unter namenlosen und unbekannten Buchlesern eine gemeinsame Meinung zu schaffen, um zu überzeugen und der Kirche Gläubige zu rekrutieren. Sie wenden sich vor allem an das vervielfachte Publikum, das von den Wogen der Reformation zum selbstständigen Lesen mitgerissen worden war (Thienemann 1930, 152, Ü: Ch. Kunze).
Auszüge aus der Predigt von der Mäßigkeit im Essen und Schlafen (in der Übersetzung von Géza Engl):
Dichtung, Politik und Treue zum Vaterland: Miklós Zrínyi (1620–1664)
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Denn was kann der Kranke schon für Freuden haben in einem noch so prächtig eingerichteten Palast, wenn er sich darin Tag und Nacht quälen muss; während der arme, aber gesunde Mensch in seinem bescheidenen Heim in wohltuendem Schlaf liegt. Was nützen ein gedeckter Tisch, die verschiedensten Speisen, ausgesuchte Weine, wenn der Mensch vom Anblick der Speisen angewidert wird, und der Doktor ihm nur gekochtes Wasser zu trinken erlaubt; während der kräftige Bursche mit Genuss seinen Speck essen und sich den sauern Wein süß schmecken lassen kann. Was nützt das Gold, was nützen Taler und eine dicke Börse dem im Bett siechenden Kranken, der alle seine Schätze hingeben würde, um sich von den fürchterlichen Schmerzen loszukaufen? (Klaniczay 1978, 158–159)
I.8 Dichtung, Politik und Treue zum Vaterland: Miklós Zrínyi (1620–1664) Miklós (Nikolaus) Zrínyi stammt aus einem jahrhundertelang in Kroatien ansässigen Geschlecht italienischer Herkunft (de Brebirio) und wurde am 1. Mai 1620 auf Schloss Ozaly (heute Ozalj, Kroatien) geboren. Er war der Urenkel des gleichnamigen Türkenkriegers, der die Burg Sziget (heute Szigetvár, Südwestungarn) 1566 gegen die Übermacht der Türken verteidigte. Seit dem 5. August jenes Jahres hatte Sultan Suleiman II. die Festung belagert. Als der betagte Sultan am 5. September starb, verheimlichte der Großwesir seinen Tod, damit die Truppen weiterkämpften. Am 8. September unternahm Zrínyi mit 600 Soldaten einen Ausfall, um die unvermeidliche Übergabe zu verhindern. Er wurde gefangen genommen und enthauptet. Kaiser Maximilian stand inzwischen mit seinem Heer bei Győr (Raab, heute in Westungarn). György Zrínyi, der Enkel des Helden von Sziget und Vater der Gebrüder Miklós (Nikolaus) und Péter, den Erzbischof Pázmány ebenfalls zum katholischen Glauben zurückführte, starb 1626. Nach seinem Tod übernahm Pázmány die Vormundschaft über Miklós und den jüngeren Péter. Die beiden Jungen wurden im Folgenden an den Batthyány-Höfen erzogen. Für die Erziehung war Éva Poppel Lobkowitz, die protestantische Ehefrau von Ferenc Batthyány, zuständig. Miklós Zrínyi studierte 1628–1634 an den Jesuitenkollegien in Graz, Wien und Nagyszombat/Tyrnau. Pázmány, der Vormund, äußerte mehrere Male, dass der Verstand des jungen Miklós für philosophische Fragen gar nicht geeignet sei. 1637 unternahm der junge Graf eine Studienreise in Italien und wurde in Rom von Papst Urban VIII. persönlich empfangen. Im selben Jahr richtete er seinen Hof in Csáktornya (Čakovec, heute Kroatien) ein. 1641 wurde die Erbschaft aufgeteilt: Péter (kroatisch auch Petar Zrinski genannt) bekam die Besitzungen an der Adria, Miklós die nördlichen auf ungarischem Gebiet. 1646 heiratete er Eusebia Mária Draskovich, die er in seinen lyrischen Werken Viola nannte (sie starb 1650). 1647 wurde er zum Ban von Kroatien ernannt und war Generalkom-
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mandeur der Festungen an den Flüssen Kulpa und Mur. In den Jahren 1645–1648 verfasste er sein dichterisches Hauptwerk, das Epos Obsidio Szigetiana (Burg Szigets Not). Der Band, der auch das Epos enthält, erschien 1651 in Wien unter dem Titel Adriai tengernek Syrenája Gróf Zrínyi Miklós (Sirene des adriatischen Meeres Graf Miklós Zrínyi, RMNY Nr. 2360). 1652 heiratete er seine zweite Frau Eva Maria Löbl, die seine Mobilia, unter ihnen auch die Bibliothek, nach ihrer zweiten Heirat nach Mähren mitnahm. In den nächsten Jahren beschäftigte er sich mit geschichtsphilosophischen und militärpolitischen Abhandlungen wie Mátyás király életéről való elmélkedések (Gedanken über das Leben des Königs Matthias, 1656) und Az török áfium ellen való orvosság (Arzneimittel wider das türkische Opium, 1660). Im Jahr 1662 wurde sein Sohn Adam geboren, und er ließ seine Bibliothek katalogisieren (zu Geschichte und Bestand der Bibliothek vgl. Klaniczay–Kovács, 1991). 1663 wandte sich Miklós Zrínyi gemeinsam mit dem Palatin (Ferenc Wesselényi), dem Landesrichter Ungarns (Ferenc Nádasdy) und dem Erzbischof von Gran und Primas von Ungarn (György Lippay) an die Rheinische Allianz mit der Bitte, Hilfstruppen gegen die Türken nach Ungarn zu senden. 1664 kämpfte Zrínyi mit der Unterstützung von Truppen der Rheinischen Allianz erfolgreich gegen die Türken, über die Kriegserfolge wurde die europäische Öffentlichkeit schnell benachrichtigt. Die Burg Kanizsa, die westliche Festung des Osmanischen Reichs, wurde belagert, aber nicht eingenommen. Am 1. August desselben Jahres führte Raimund Graf Montecuccoli, der Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres in Ungarn, die christlichen Truppen zum Sieg über die Osmanen. Insgesamt standen 25.000 Mann gegen 120.000 bis 130.000 Türken unter Großwesir Ahmed Köprili im Kampf. Die Verluste der Türken waren gewaltig, auch die Koalitionstruppen verloren 4.000 Mann. Dieser Sieg verhinderte den Vormarsch der Türken nach Österreich und führte unmittelbar zu dem Frieden, der am 10. August in Vasvár (Eisenburg) zu unvorteilhaften Bedingungen geschlossen wurde: Die wichtigen Festungen Érsekújvár (Neuhäusel, Nové Zámky, Slowakei) und Várad (Wardein) wurden den Türken überlassen. Der Vertrag wurde auf 20 Jahre geschlossen und endete mit der zweiten Belagerung Wiens durch die Türken 1683. Miklós Zrínyi, der diesen dem militärischen Erfolg nicht entsprechenden Frieden ablehnte, starb am 18. November 1664 an den Folgen einer Jagdverletzung. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt, es gab keine Augenzeugen. Das dichterische und politische Lebenswerk Zrínyis ist nicht an Konfessionen gebunden, er rühmt die christliche Solidarität und behandelt die Schicksalsfragen der ungarischen Nation. Der Band Adriai tengernek Syrenája enthält neben dem Epos auch lyrische Gedichte. Die Harmonisierung der irdischen und himmlischen Herrlichkeit steht im Heldenepos und in den Heldenepigrammen im Vordergrund. Die theologische und ästhetische Ideologie der betörenden
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Abb. 4: Adriai tengernek Syrenája, Titelblatt, Wien, 1651
Perfektion brauchte rhetorische Kunstgriffe, die Auslösung zielgerichteter gesellschaftlicher Aktivität bedingte die Simulationsmuster in der poetisierten historiographischen Arbeit. Die Lyrik des Syrena-Bandes ist von den Eigenheiten des locus melancholicus gekennzeichnet; in den Gedichten verweisen öde Landschaften und ein einsames Redesubjekt aufeinander: Die Traurigkeit der Landschaft
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bedeutet das Alleinsein dessen, der in ihr Betrachtungen anstellt. Kennzeichnend sind ferner der Wettkampf lyrischer und epischer Gattungen und die Vermittelbarkeit der perfektiösen Zeiterfahrung (die Differenz zwischen willentlicher Planung und ungewollter Wirkung in der ästhetischen Erfahrung). Der Titel spielt auf Tasso und Marino als ‚Sänger des tyrrhenischen Meeres‘ an. Der Band beginnt mit zwei Liebesidyllen, die dem Vorbild von Marino folgen (es sind die ersten gedruckten Liebesgedichte in ungarischer Sprache). Das Epos, das darauf folgt, enthält 15 partes (Gesänge), nach dem Epos sind weitere Gedichte zu lesen: eine tragische mythologische Allegorie (Arianna sirása, Klage der Ariane), eine dialogische fantasia poetica, ein Echo-Gedicht (A vadász és Echo, Der Jäger und Echo), ein Trauergedicht, eine religiöse Hymne (Feszületre, Ans Kreuz) sowie religiös-patriotische Epigramme. Der Syrena-Band wurde mit einer ars poetica (Peroratio) abgeschlossen. Die Komposition war nach dem Schema des Mannesalters angeordnet: In der Jugend schreibt man Gedichte über die Liebe, später steht man im Dienste des Vaterlandes und verlangt nach irdischem Ruhm, endlich kommt der Tod, den allein der gute Ruf überlebt. Die Invokation des Epos spricht die Jungfrau Maria an: Der Autor bittet sie um Kraft, seinem Helden, der sein Leben für Christus und für die Heimat opferte, in würdiger Weise gerecht zu werden. Die Handlung beginnt in der himmlischen Sphäre: Der Herr ist erzürnt, weil er dem auserwählten ungarischen Volk Reichtum und wahren Glauben geschenkt hat, dieses sich aber durch seine sündhafte, verdorbene Lebensweise als der Wohltaten unwürdig erwies. Die Türken verkörpern die strafende Geißel Gottes. Hier soll an das geschichtsphilosophische Werk von András Farkas von 1538 erinnert werden, in dem Gottes Strafe für die sündhafte Lebensführung durch eine Schicksalsparallele mit dem jüdischen Volk erklärt wurde. Die Handlung wird durch die Mächte des Himmels und der Hölle weitergeführt: In der ersten pars wendet die Furie Alekto den türkischen Sultan Suleiman II. gegen Ungarn. (Das Erscheinen der Furie Alekto ist ein gemeinsames Motiv bei Vergil, Tasso und Zrínyi.) In der zweiten pars wendet sich der Hauptmann Zrínyi mit einem Bittgebet vor dem Kreuz Christi an Gott: Er bittet den Herrn darum, ihm zu gestatten, die Sünden des ungarischen Volkes auf sich zu nehmen und es mit der Aufopferung seines eigenen Lebens von der Strafe zu erlösen. Christus, der sich dreimal vom Kreuz herunterbeugt, nimmt dieses Opfer an. Damit wird Zrínyis Heldentat als Tat des zweiten Erlösers antizipiert. Dieser Vorgriff weiht den Burghauptmann Zrínyi zu einem epischen Helden, der sein künftiges Schicksal erkennt und auf sich nimmt. In der zweiten großen Einheit (partes 6–10), die mit dem ersten Sturm schließt, sind vielfältige Episoden, wunderbare Elemente, allegorische Beschreibungen und Aufzählungen zu lesen. Der Leser gelangt immer mehr zu der Überzeugung, dass die Türken nicht gegen die sündigen Ungarn, sondern gegen eine moralisch motivierte christliche Truppe kämpfen. Die Tapferkeit des
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wahren Christen und die heftige Wut eines Heiden stoßen z. B. im Zweikampf zwischen Deli Vid und Demirhám aufeinander. Die dritte große Einheit (partes 11– 15) zeigt den moralischen Sieg der Ungarn: Im türkischen Lager herrschen Zwietracht und Uneinigkeit. Khan Deliman tötet Wesir Rusztán, der ihn verhöhnt; Amirassen, der Mohr, erweist sich als nicht glaubwürdig usw. In der Brieftaubenepisode der 13. pars fangen die schon beunruhigten Türken das Hilfsgesuch der Ungarn zufällig ab und erfahren daraus die unhaltbare Lage der Festung Sziget. Der Zufall spielt hier eine entscheidende Rolle, da das türkische Heer bereits seinen Rückzug eingeleitet hat. Die Türken entschließen sich zu einem letzten Angriff. Hauptmann Zrínyi wendet sich mit einer ermutigenden Rede an die Soldaten, und sie stürmen auf den Feind zu. Zrínyi stirbt den Märtyrertod durch die Kugel; niemand konnte ihn in einem Zweikampf besiegen. Der Tod der Verteidiger wird zu einem eindeutigen Triumph: Ihre Seelen hebt Gabriel in den Himmel vor Gottes Angesicht (Kiss 2007). Sultan Suleiman starb im Lager an Altersschwäche, in dem Epos wird er jedoch von Zrínyi selbst getötet. Der Tod des Sultans und die Standhaftigkeit Zrínyis wurden der europäischen Öffentlichkeit schon im 16. Jahrhundert durch zahlreiche deutschsprachige Flugblätter bekannt gemacht. Die epische Überlieferung begann 1571, als der siebenbürgisch-sächsische Christianus Scheseus den Verfall Ungarns in den Jahren 1540–1571 und die Belagerung Szigets in lateinischen Hexametern bearbeitete (Ruinae Pannonicae, Szeben/Hermannstadt/Sibiu, Rumänien). Ein episches Gedicht in kroatischer Sprache verewigte die Tugend der Verteidiger (Brne Krnarutić: Vazetje Sigeta grada, Venedig, 1584, gewidmet dem Sohn Georg des Helden von Sziget). In der Wittenberger Anthologie ZrínyiAlbum (De Sigetho Hungariae propugnaculo, 1584) bewerten lateinische Epigramme, Elegien, Prosaschriften und Illustrationen im Geiste des Humanismus den moralischen Sieg der Helden von Sziget. Neben diesen Schriften dienten auch wichtige poetische Vorlagen der Dichtung von Miklós Zrínyi: Gerusalemme liberata von Tasso sowie die Werke von Ariost, Marino und Scipione Herrico. Az török áfium ellen való orvosság (Heilmittel gegen das türkische Opium) ist ein polemisches Manifest zur kritischen Lage des Landes, das aller früheren Werte und Verbündeten verlustig gegangen und noch immer von den Türken bedrängt ist. Die Überschrift lautet: „Tu dem Ungarn nichts!“ Die Voraussetzung für die Souveränität Ungarns sah Zrínyi in der Vertreibung der Türken, und dies möglichst aus eigener Kraft. Er dachte an die aktive Vereinigung der inländischen Kräfte und an die Hilfe deutscher Reichsfürsten und Frankreichs. Sein Ideal war ein starkes nationales Königtum mit einem modernen Heer. In seinem Werk Tábori kis tracta (Kleiner Lagertraktat, 1646) unterbreitet er auf der Basis ausländischer Quellen Vorschläge zur Regelung des Militärwesens, die Schrift Mátyás életéről való elmélkedések (Gedanken über das Leben des Königs Mat-
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thias, 1656–1657) ist ein Fürstenspiegel und wurde nach der antiken Gattung der commentarii verfasst. Zrínyis politische und militärwissenschaftliche Prosaschriften wurden im 17. Jahrhundert im sog. Bónis-Kodex handschriftlich überliefert. Der Kodex ist eine autorisierte Druckvorlage der gesammelten Abhandlungen, die István Vitnyédi, der Vertraute und Sekretär von Zrínyi, um 1663 abschrieb. Das Áfium ist das einzige Werk, das als Mahnschrift schon zu Lebzeiten Zrínyis in handschriftlichen Kopien verbreitet wurde. Es wurde erst 1705 während des Rákóczi-Aufstandes gedruckt. Ausschnitt aus dem Áfium (Kovács, Sándor Iván 1985, 214): Fegyver, fegyver, fegyver kévántatik és jó vitézi resolutio! Ezenkívül én semmit sem tudok, sem mondok. Avagy azért magyarok, evvel oltalmazzuk meg magunkat, avagy vitézül haljunk meg mindnyájan, mert non datur aliud medium. Elfussunk? Nincs hova, sohun másutt Magyarországot meg nem találjuk, senki a maga országábúl barátságunkért ki nem megyen, hogy minket helyheztessen belé: az mi nemes szabadságunk az ég alatt sohun nincs, hanem Pannoniában. Hic vobis vel vincendum vel moriendum est.
In der Übersetzung von Hans Kolbe: Ich rufe dreimal: Waffen! Waffen! Waffen! Das brauchen wir und einen heldischen Entschluß! Sonst sage ich nichts und sonst weiß ich auch nichts. Ungarn! Entweder retten wir uns damit, oder wir gehen alle heldenhaft unter, denn non datur aliud medium [es gibt keinen dritten Weg]. Sollen wir denn davonlaufen? Wir wissen ja nicht wohin. Ungarn ist hier, wir finden es nirgendwo anders. Niemand wird sein eigenes Vaterland aus Freundschaft zu uns verlassen, damit wir uns darin niederlassen können: Unsere geliebte Freiheit finden wir nirgends unter dem Himmel als in Pannonien. Hic vobis vel vincendum vel moriendum est [hier müßt ihr siegen oder sterben!]. (Klaniczay 1978, 179)
Dieses Werk hatte ebenfalls großen Einfluss auf die rhetorisch-patriotische Dichtung im Ungarn des 19. Jahrhunderts; Mihály Vörösmarty etwa paraphrasierte diese Gedanken in seinem Szózat (Mahnruf): „itt élned, halnod kell!“ (In der Übersetzung von Hans Leicht: „hier musst in Segen oder Fluch / du leben, sterben hier“).
I.9 Gelehrte höfische Barockdichtung: István Gyöngyösi (1629–1704) Gyöngyösi wurde 1629 in Ungvár (heute Ushgorod, Ukraine) in einer protestantischen adligen Familie geboren. Er besuchte die Schule in Sárospatak, deren Rektor damals der berühmte Pädagoge Comenius (Jan Amos Komenský, 1592–
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1670) war. In der Schule lernte er die Regeln der klassischen Poesie kennen und erwarb besondere Fertigkeit in der ungarischsprachigen Dichtung. In den Jahren 1656–1663 versah er auf der bedeutenden Burg Fülek (Filakovo, Slowakei) seinen Heeresdienst, 1663 trat er als intimus secretarius in den Dienst des Palatins Ferenc Wesselényi. Seine politische Überzeugung passte sich immer den Auffassungen seiner Gönner an; er war der bedeutendste Vertreter der FamiliarisDichtung in Ungarn. Sein Hauptwerk Márssal társalkodó Murányi Vénusz (Die Venus von Murány im Wettstreit mit Mars, RMK Bd. 1. Nr. 1014) entstand 1664, er widmete es dem Palatin Ferenc Wesselényi und dessen Frau Mária Szécsi. Es besteht aus drei Teilen, enthält 977 Strophen und erzählt von der Liebe und Ehe des königstreuen Ferenc Wesselényi und der schönen Witwe Mária Szécsi, die zu György Rákóczi, dem Fürsten von Siebenbürgen, hielt und die Festung Murány (Muráň, Slowakei) gegen die königlichen Truppen verteidigte. Die Themenwahl ist schmeichlerisch und entspricht nicht der Gattung Epos. Gyöngyösi verwendet isometrische Strophen mit Haufenreim (a12a12a12a12), der sprachliche Ausdruck ist jedoch sehr differenziert und diskursiv vielschichtig gestaltet (Gyöngyösi 1998, 40–41): Auszug aus dem Teil II: Te is azért, Múzsám, serkenj fel ezekkel, Indulj Parnassusban az szép napkelettel, Pegasus kútjábúl mosdjál friss vizekkel, S láss kezdett munkádhoz nem álmos szemekkel. Csudálatos dolog szerelem mivolta, Melynek tüze miatt lett sokaknak holta, Azkit Ferencben is Cupido úgy olta, Hogy gyötrelmes neki minden óra folyta. Azelőtt elméje hányatott Murányért S nagy erősségnek győzése módjáért, Most lángoz az szíve annak asszonyáért, Tüzének nagyobban ég nagyobb okáért. Nem látta soha is, mégis ég érette, Íly ösmeretlenül miként szerethetne? Hiszem az szerelmet az látás szerzette, S hogy szeressen az szű, az szem cselekedte.
In der Übersetzung von Martin Remané: Munter, meine Muse, wach auch du nun auf, / schwing dich mit der Sonne zum Parnaß hinauf, / mach dich an die Arbeit frohgemut und lenke / an den Brunnen deinen Pegasus zur
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Tränke! // Weihe dich der Liebe, dieser Zaubermacht, / ob sie auch schon vielen Unglück hat gebracht, / zugefügt auch Ferenc hat Cupido Wunde, / die ihn unerträglich schmerzt noch Stund um Stunde. // Nur die Festung Murány wollte er zuvor / kühn im Sturm erobern, doch dann war der Tor / jener Macht verfallen, – wollte wie von Sinnen / selbst die schöne Herrin dieser Burg gewinnen. // Ach, ein Rätsel war es, das kein Mensch erriet! / Denn nur für ein Traumbild war sein Herz erglüht! / Niemals hatte Ferenc dieses Weib gesehen! / Kann denn Liebe wirklich dergestalt entstehen? (Klaniczay 1978, 190)
In der Vorrede wird die Position eines Hofdichters genau vorgestellt: Gyöngyösi weist hier anhand von Beispielen aus der klassischen antiken Literatur nach, dass die Taten großer Persönlichkeiten ohne Dichter und Historiker sicherlich in Vergessenheit gerieten. In der Zeit zwischen 1664 und 1693 ließ er kein Werk im Druck veröffentlichen. Das Epos Porábúl megéledett Főnix (Der aus seiner Asche wiedererstandene Phönix, oder Gedenken des János Kemény, Lőcse/Leutschau/Levoca) entstand zwischen 1665 und 1670 und verfolgte unverkennbar politische Absichten. In diesem Epos behandelt Gyöngyösi in drei Büchern das tragische Schicksal des Siebenbürger Fürsten János Kemény (1607–1662, Fürst ab 1661) und nutzte dazu die um 1657 verfasste Autobiographie des Fürsten. Fünf Jahre der Geschichte Siebenbürgens (von 1657 bis 1662) werden hier vorgestellt. Die Themenwahl war schon weit mehr für ein Epos geeignet: Der Fürst von Siebenbürgen versucht sich gegen die Türken zu wenden, mit denen das Fürstentum schon Jahrhunderte lang in einer wirksamen Symbiose lebt, aber die kaiserlich-königlichen Truppen sind ihm dabei nicht behilflich. Der Zweck der Historie war (ebenso wie der der Venus von Murány), den guten Ruhm der Hauptfiguren zu überliefern und das Wohlwollen der posteritas zu erlangen. Gyöngyösis bekanntestes und meistgelesenes Werk ist jedoch ohne Zweifel der Csalárd Cupido (Der trügerische Cupido, 1695), in welchem er eine ‚geschickte Erotik‘ zum Vorschein brachte: Das Werk stellt die Opfer sündhafter und schmerzlicher Liebe so dar, dass immer die Erotik dominiert. Unter dem Vorwand, die Jugend vor den Versuchungen unkeuscher Liebe warnen zu wollen, stellt Gyöngyösi Freude am Ehebruch dar. Seine Werke hatten großen Erfolg vor allem wegen des gekünstelten sprachlichen Ausdrucks, und Gyöngyösi galt bis weit ins 19. Jahrhundert als der größte Dichter ungarischer Sprache (Jankovics 2007). Eine mehrsträngige, polyphone, verzweigte, nicht auf ein Ziel gerichtete epische Struktur, syntaktische Mehrdeutigkeit und ein auf Scharfsinn gebauter Argumentationsgang setzen antike und christliche Bildungselemente bzw. die aus der Tradition des Heldenepos bekannten Bestandteile der Gattungen, Reimstrukturen, Bilder und Gesprächssituationen in veränderte Wirkungsbereiche. Die Welt gleicht einem Labyrinth – auf diese Betrachtungsweise stützt sich die Narrative, die einen Lebensweg voller Meta-
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morphosen erzählbar macht, der sein Ziel verfehlt hat und in einer Kommunikationskatastrophe mündet. Im Sommer 1704 starb Gyöngyösi im Alter von 75 Jahren im Dienst des Fürsten Ferenc Rákóczi II. in Rozsnyó (Rosenau, heute Rožňava, Slowakei), er hinterließ zahlreiche, auch in Abschriften verbreitete und deswegen immer wieder variierte poetische Werke.
I.10 Memoirenliteratur: Miklós Bethlen (1642–1716) Memoiren wurden vor allem verfasst, um Taten politischer Würdenträger im staatlichen Dienst in Siebenbürgen zu legitimieren. Umfangreiche Autobiographien entstanden hauptsächlich in der Gefangenschaft und im Exil, sie stellten die Laufbahn und das Können des Autors genau dar. Die Memoiren entwickelten sich zu einer führenden Gattung in der ungarischen (aber nicht nur ungarischsprachigen) Literatur (Szávai 1988). Unter den zahlreichen politischen Schriften erlangte die Autobiographie des János Kemény (1607–1662) eine besondere Stellung. Er geriet als Fürst von Siebenbürgen in osmanische Gefangenschaft und wurde in die Burg Tschufut-Kale bei Bachtschyssaraj verschleppt. Hier begann er die Geschichte seines Lebens niederzuschreiben, die erst im 19. Jahrhundert gedruckt wurde. Miklós Bethlen schrieb seine Memoiren ebenfalls im Gefängnis, er war aber nicht von den Türken, sondern von den kaiserlichen Truppen gefangen genommen worden. Miklós (Nikolaus) Bethlen wurde am 1. September 1642 in Kisbun in Siebenbürgen (heute Boiu, Rumänien) geboren. Sein Vater János Bethlen (1613–1678) Kanzler von Siebenbürgen, ist auch als Geschichtsschreiber bekannt: Er verfasste ein Werk über die Geschichte Siebenbürgens vom Tod des Fürsten Gábor Bethlen (1629) in vier Büchern (Rerum Transylvanicarum libri quatuor, Szeben/Hermannstadt/Sibiu, 1663). Die Schule besuchte sein Sohn Miklós zunächst in Gyulafehérvár (Alba Iulia), wo ihn Pál Kereszturi, der berühmte Pädagoge und Hofprediger des Fürsten, unterrichtete. In Kolozsvár (Klausenburg/Cluj-Napoca) war er ab 1658 Schüler von János Apácai Csere (1625–1659), dem Verfasser der 1655 in Utrecht erschienenen Magyar enciklopédia (Ungarische Enzyklopädie, RMNY Nr. 2617). Hier war der Ehrgeiz des enzyklopädischen Wissens am Werke: Transparenz der Sprache und weltumfassende Harmonie in der Ideologie der Pansophie, die biblische sprachtheoretische Variante des Mythos vom goldenen Zeitalter im christlichen Humanismus. Sprachstudien auf Basis der Grammatik werden benötigt, um die ursprüngliche Transparenz der Sprache zurückzugewinnen und die Ordnung der Dinge sichtbar zu machen: die Geheimnisse von Erde und Himmel im System der Ähnlichkeiten. In Analogie zum Hebräischen können die anderen, von der
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Ursprache stammenden Sprachen untersucht werden, in ihnen das System der Bezeichnungen, die Gesichter von Schöpfung und Erlösung. Alle Sprachen der Welt schaffen und tragen gemeinsam das Bild der Wahrheit. Von Apácai Csere erwarb Bethlen wichtige Kenntnisse in den Naturwissenschaften sowie in der Philosophie des Descartes. 1661 begab er sich ins Ausland: Wien, Heidelberg, Leiden und hauptsächlich Utrecht waren die wichtigsten Stationen seiner peregrinatio academica. Der 19-jährige Adlige (er wurde erst 1696 in den Grafenstand erhoben) machte zunächst nur negative Erfahrungen. Über seine persönlichen Erfahrungen, Eindrücke und Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen informiert er ausführlich in seiner Élete leírása (Beschreibung des eigenen Lebens), in der nur diejenigen Geschehnisse dargestellt wurden, die eng mit seiner Person zusammenhängen. Im November 1664 besuchte er den „damals berühmtesten ungarischen Herrn“ Miklós Zrínyi (dieser Besuch hing mit einer diplomatischen Aktivität zusammen, über die Bethlen allerdings schweigt) und nahm auch an jener Jagd teil, bei der Zrínyi von einem Eber getötet wurde. Bethlen wunderte sich über die suspekten Umstände dieses tragischen Falls: „Ein Wunder, dass so ein heldenhafter Mann den Eber weder anschoss noch stach, obgleich er den Stutzen und das kurze Schwert bei sich hatte“, schrieb er später in seiner Autobiographie. Während der Fahrt zu dieser Jagd erzählte Zrínyi eine Geschichte (eigentlich den ersten überlieferten politischen Witz auf Ungarisch), die Bethlen (wegen des politischen Inhaltes) in seine Autobiographie aufnahm (Bethlen 1955, Bd. 1, 206): Egyszer egy embert az ördögök visznek volt; találkozék egy barátja szemben véle. Kérdi: Hová mégy, kenyeres? Nem megyek én, hanem visznek. Kik s hová? Felelé: Az ördögök a pokolba. Mond emez: Jaj szegény, ugyan rosszul vagy, kinél rosszabbul nem lehetnél. Felelé: Rosszul bizony, de mégis lehetnék én ennél is rosszabbul. Melyre imez álmélkodva: Hogy lehetnél rosszabbul, hiszen a pokol mindennél rosszabb. Felelé: Úgy vagyon az, de most mégis ők visznek engemet, noha pokolba, de a magok vállán, hátán, hogy már nyugszom addig; s hát ha megnyergelnének s magokat is vélem vitetnék, mégis úgy is csak azon pokolba mennék, hiszem rosszabbul volnék úgy ennél is. Applicálá Magyarország s Erdélyre, és a törökre, németre.
In der Übersetzung von Géza Engl: Einmal entführten die Teufel einen Mann. Ein Freund kam ihm entgegen und fragte: wohin gehst du, Bruder? Ich gehe nicht, man trägt mich. Wer und wohin? fragt darauf der Mann. Die Teufel in die Hölle. Worauf der andere: Oh, du Armer, dir geht es aber schlecht, schlechter könnte es dir wahrhaftig nicht mehr gehen. Darauf antwortete der Mann: Es geht mir wahrlich schlecht, aber es könnte mir auch noch schlechter gehen. Darüber staunte der Freund: Wie könnte es dir schlechter ergehen, ist doch die Hölle das allerschlechteste. Das stimmt zwar, gab der Mann zurück, aber jetzt tragen sie mich, wenn auch in die Hölle, aber auf ihren Schultern und Rücken, so dass ich bis dahin ruhen kann; würden sie mich
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satteln und sich von mir tragen lassen, würde es mir, auch wenn wir in derselben Hölle landeten, noch schlechter ergehen. – Er bezog die Fabel auf Ungarn, Siebenbürgen, die Türken und die Deutschen. (Klaniczay 1978, 226)
Es sei sein Schwanengesang (cygnea cantio) gewesen, schrieb Bethlen, Zrínyi ahnte natürlich nicht, dass er nur drei Stunden später tot sein würde. Mit weiteren diplomatischen Aufgaben beauftragt, reiste Bethlen im Januar 1665 nach Venedig. Nach dem Frieden von Vasvár (Eisenburg) im August 1664 verbündeten sich die ungeduldigen Magnaten gegen den kaiserlich-königlichen Hof und fassten den weittragenden Plan, mit Hilfe von Frankreich die Unabhängigkeit des Landes zu erkämpfen. Bethlen führte also geheime Verhandlungen in Venedig, schwieg über diese Aktivität aber wieder und sprach nur von den Sünden und Sündern der Stadt. Heimgekehrt, wurde er im staatlichen Dienst angestellt, und nach dem Verrat der Wesselényi-Verschwörung informierte er die europäische Öffentlichkeit im Namen des Siebenbürger Fürsten. Mit seinem Reformentwurf Moribunda Transsylvania (1688) bezweckte er, den Sonderstatus und die Religionsfreiheit Siebenbürgens zu sichern. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert war er schon völlig von der Idee des Transsylvanismus überzeugt: Die Zukunft des Landes gedachte er unabhängig von Ungarn zu verwirklichen. Die politische Absicht eines selbständigen Fürstentums legte er in der Flugschrift Columba Noe (1704) dar. Sie wurde abgefangen, und Bethlen wurde wegen Majestätsbeleidigung zunächst zum Tod, später zu lebenslanger Haft verurteilt. Von 1704 bis 1708 verbrachte er vier Jahre im Gefängnis in Szeben (Hermannstadt/Sibiu), danach wurde er samt seinem Diener, dem Koch und dem Kutscher auf eigene Kosten nach Wien begleitet. Während der Fahrt blieben sie fünf Wochen in Eszék (Essegg/Osijek, heute in Kroatien), wo Bethlen seine umfangreiche Lebensbeschreibung zu verfassen begann, die er 1710 in seinem 68. Lebensjahr in Wien beendete. Die Előljáró beszéd (Vor-Ansprache) ist eine philosophische Abhandlung über die Stellung und den Stellenwert des Menschen, im ersten Buch wird die Selbstanalyse im Beichten durchgeführt, das zweite ist demgegenüber weniger persönlich, sondern etwas chronikartig geordnet. Er widmete das Werk seiner zweiten Frau, geb. Julia Teleki, und seinem Sohn József (Josef), es erschien erst 1858–1860 in zwei mächtigen Bänden. Seine 697 datierten und vier undatierten Briefe wurden 1987 ebenfalls in zwei Bänden veröffentlicht (Jankovics 1987). Über den Gottesglauben, die politischen Ziele, die Bildung sowie die moralischen Werte Bethlens geben uns aber nicht die Briefe, sondern seine Selbstdarstellungen in seiner Autobiographie und Imádságoskönyve (sein Gebetbuch, angefangen ebenfalls im Exil) am besten Aufschluss. Eben die leidenschaftliche Selbstanalyse und die zeitgemäß moderne Bildung sind die wesentlichsten Züge des monumentalen Werks, die Wirkung Descartes’, dessen Philosophie er hauptsächlich von Apácai Csere
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kennengelernt hatte, ist auffallend. Das prädestinierte ‚Ich‘ erweitert seine Grenzen in Richtung der Körperlichkeit und der eigenen Geschichtlichkeit: Es gewinnt einen Lebenslauf mit neuer Perspektive; das neue biographische Bewusstsein wird reflexiv; und während der Mensch sich seines ‚Diener‘-Willens aus der Perspektive der Gnadenlehre bewusst wird, werden ihm auch seine aus Sicht der Gnadenlehre unwesentlichen Lebensfelder und Verhaltensformen bewusst. Ihm wird bewusst, dass sich Autobiographie durch die Simulation bereits gegebener Verhaltensmuster und Erzähltechniken realisiert. Miklós Bethlen starb nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft am 17. Oktober 1716 als freier Mann in Wien. Seine Kusine, die Gräfin Kata Bethlen (1700–1759), hatte ein schweres Leben; nach einer Zwangsheirat 1717 (sie war eifrige Anhängerin der reformata religio, ihr Mann László Haller jedoch katholisch) und dem baldigen Tod ihres ersten Mannes verwitwete sie bald auch in ihrer zweiten Ehe und nannte sich seitdem Árva Kata Bethlen (Kata Bethlen die Waise). Zwei katholisch getaufte Kinder wurden ihr weggenommen, vier andere starben sehr früh. Sie vertiefte sich in die Religion, gründete eine beträchtliche Privatbibliothek (sie erwarb auch die wichtigsten pietistischen Bücher in ungarischer Übersetzung) und förderte die Bildung begabter Schüler. Der Katalog ihrer Bücherei – fast ausschließlich ungarischsprachige Werke in 442 Bänden – wurde von dem gelehrten Prediger Péter Bod zusammengestellt; die Bücher wurden 1849 durch einen Brand vernichtet. Kata Bethlen begann 1744 ihre Lebenserinnerungen zu schreiben und arbeitete daran bis zu ihrem Tod. Der Zweck dieser Memoiren war die Rechtfertigung der Motivation ihrer Handlungen und die Verteidigung der reformierten Religion, weshalb ihre persönlichen Kränkungen im Mittelpunkt stehen. Ihre Gebete, die auch in die Lebensbeschreibung aufgenommen wurden, erschienen noch zu ihren Lebzeiten (Védelmező erős pais; Fester Schild zur Verteidigung, Szeben/Hermannstadt, 1759); die fragmentarisch gebliebenen Memoiren erschienen kurz nach ihrem Tod: Gróf Bethleni Bethlen Kata életének maga által való rövid leírása (Die kurze Lebensbeschreibung der Gräfin Kata Bethlen von Bethlen von ihr selbst, Kolozsvár/Klausenburg, 1762). In diesem Werk sind die drei Redefiguren der weiblichen pietistischen Autobiographie prägend: der in die autobiographische Perspektive geratene Glaubensstreit, die Mitteilung über den Alltag und die religiöse Demut, die sich auf göttliche Verfügungen beruft. Die in die Autobiographie eingefügten Seufzer und Gebete unterbrechen nicht einfach den Gang der Ereignisse. Diese Exkurse bewirken vielmehr, dass die Aufzeichnung der selbstbezüglichen – also biographischen – Beobachtungen nur in Bezug auf Redetaten des Bekenntnisses möglich ist.
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I.10.1 Bekenntnisse und Denkschrift des Fürsten Ferenc Rákóczi II. (1676–1735) Der Staatsmann, Heerführer, Politiker und Schriftsteller Fürst Ferenc Rákóczi, der zweite dieses Namens, stammte aus einer mächtigen Adelsfamilie, die sogar drei Fürsten von Siebenbürgen hervorbrachte. Geboren wurde er am 27. März 1676 in Borsi auf Schloss Rákóczi; seine Mutter Ilona Zrínyi war die Tochter des wegen Verschwörung hingerichteten Péter Zrínyi, sein Vater Ferenc I. wurde zum Fürsten Siebenbürgens gewählt, verstarb aber noch vor der Thronbesteigung in jungem Alter. 1682 bekam er den türkenfreundlichen Imre (Emerich) Thököly zum Stiefvater, der ab 1683 einen Aufstand gegen den kaiserlichen Hof anführte. Der junge Ferenc hatte keine gute Beziehung zu ihm. Seine Mutter verteidigte die Burg von Munkács (Mukacseve, Ukraine); nach der Kapitulation 1688 wurde sie mit ihren beiden Kindern (Julianna und Ferenc) nach Wien verschleppt. Der damals 12jährige Ferenc wurde von der Familie getrennt und in das berühmte Jesuitenkollegium Neuhaus (Jindřichuv Hradec, Tschechien) geschickt, wo er königstreu und weit entfernt von den ungarischen Beziehungen seiner Familie erzogen werden sollte. Zwei Jahre später studierte er schon an der Universität Prag, danach hielt er sich im Palais Aspremont in Wien auf, das dem Mann seiner Schwester gehörte. Nach einer Kavalierstour in Italien stattete er Ungarn einen kurzen Besuch ab: Die Rákóczi-Besitzungen fand er in elendem Zustand, er konnte nur gebrochen Ungarisch und wurde im Land äußerst zurückhaltend empfangen. Bald heiratete er die Fürstin Charlotte Amalia von Hessen-Rheinfels und geriet damit in Verwandtschaft zur französischen Königsfamilie. Der Wiener Hof sah in dieser Heirat (und damit in den französischen Beziehungen) eine große Gefahr. Rákóczi wusste dies und kehrte wieder nach Ungarn zurück. Seine Briefe, die er betreffs der französischen Hilfe an König Ludwig XIV. schrieb, gelangten durch Verrat in die Hände des Kaisers, und er wurde 1701 wegen Majestätsbeleidigung verhaftet. Er floh nach Polen und traf dort mit ungarischen Emigranten zusammen, die mit der Hilfe Frankreichs die Unabhängigkeit des Landes zu erkämpfen suchten. Als in Nordungarn 1703 ein Aufstand ausbrach, übernahm Rákóczi die Führung. 1704 wurde er zum Fürsten Siebenbürgens, 1705 im Landtag von Szécsény zum Fürsten Ungarns gewählt. Er stellte die Union Siebenbürgens und Ungarns her und erklärte 1707 auf dem Landtag in Ónod das Haus Habsburg für abgesetzt. Die Aufständischen und der patriotische Adel sahen in ihm den neuen ungarischen König, den Mathias rex redivivus. In diesen Jahren führte Rákóczi einen regen Briefwechsel und verfasste zahlreiche publizistische Werke, schrieb militärwissenschaftliche Abhandlungen, historische Aufzeichnungen und Gebete. Nachdem 1711 ohne seine Zustimmung ein Waffenstillstand vereinbart worden war, ging er in die Emigration, zunächst nach Danzig (Gdańsk, Polen), später nach Frankreich, wo er
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sich längere Zeit inkognito aufhielt. Er hoffte auf die Hilfe des mächtigen Königs Ludwig XIV., musste aber nach dessen Tod (1715) die Vergeblichkeit seiner Hoffnung einsehen. Er zog sich als Laienbruder in das Kamaldulenserkloster zu Grosbois zurück und verbrachte seine Zeit mit Meditationen und mit dem Lesen jansenistischer Werke (ein Drittel seiner Bücherei bestand aus jansenistischen Büchern). In der tiefen Verinnerlichung in Grosbois begann er 1716, seine lateinischsprachigen Bekenntnisse (Confessio peccatoris) zu schreiben. Anschließend arbeitete er an seinen französischsprachigen Memoires (Erinnerungen), die die Forschung heute für seine wichtigste literarisch-politische Leistung hält. Im Herbst 1717 verließ er Frankreich und fuhr mit politischen Plänen auf dem Wasserweg in die Türkei. Im Friedensvertrag von 21. Juli 1718 zwischen Österreich und der Türkei in Passarowitz (Požarevac, Serbien) hatten sich die Türken zur Toleranz gegenüber den Christen in den türkisch besetzten Gebieten verpflichtet. Sie boten ab 1720 auch den ungarischen Emigranten in Rodosto (Tekirdağ, Türkei) einen Aufenthaltsort. Rákóczi lebte hier mit seinem Hof noch 15 Jahre und vertiefte sich in die zu dieser Zeit äußerst wirkmächtigen Lesestoffe des Jansenismus. Er war der erste ungarische Schriftsteller, der auch in französischer Sprache schrieb (die Sympathie für das Französische und die französische Bildung war früher bei den ungarischen Magnaten selten). Die Mémoires du Prince Francois Rakoczy (Erinnerungen des Fürsten Rákóczi) erschienen 1739 in Den Haag. Rákóczi thematisiert in diesem Werk Gründe und Geschichte des Aufstandes und versucht, dessen Scheitern zu verstehen: Letzen Endes erklärt er die ungarischen Stände, vor allem den Klerus und die Aristokratie, für schuldig. Seine Confessio peccatoris (Bekenntnisse eines Sünders, geschrieben 1716–1719) sind lateinisch verfasst und geben wichtige Auskünfte über die Laufbahn des Fürsten, besonders aber über seine seelische und psychische Entwicklung. Hier fallen auf: Die aporetische Natur der Betrachtungen in der jansenistischen Variante des ‚einsamen Gesprächs‘; in der Rede, die sich an das transzendente ‚Du‘ richtet, werden Lebensereignisse behandelt, die die typischen Irrungen einer von Gott losgesagten Existenz beispielhaft machen, weniger jene, die die Lebensgeschichte des Autobiographen unverwechselbar individuell machen. Ferenc Rákóczi II., Fürst von Siebenbürgen und Ungarn, der geliebte Herr und Vater der Emigranten in Rodosto, starb am Karfreitag 1735 im Alter von 59 Jahren. Sein treuer Diener Kelemen (Klemens) Mikes schrieb aus Anlass seines Todes (Klaniczay 1978, 244): „Es ist Karfreitag, und wir müssen den Tod sowohl unseres himmlischen als auch unseres irdischen Vaters beweinen.“
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I.10.2 Der treue Diener: Kelemen Mikes (1690–1761) Kelemen (Klemens) Mikes wurde 1690 geboren und stammte aus einer Szekler Adelsfamilie in Zágon (Zagon, Rumänien). Sein Vater, Pál (Paul) Mikes, war Offizier im Kurutzenheer des Imre (Emerich) Thököly. 1700 trat seine Mutter samt ihrem zehnjährigen Sohn Kelemen zum katholischen Glauben über. Die umfassende Schulbildung erhielt Mikes im Jesuitenkollegium in Klausenburg, kurz danach kam er als Page zum Fürsten Ferenc Rákóczi II., dem er 1711 in die Emigration folgte. Von Oktober 1717 bis Dezember 1758 schrieb er 207 fiktive Briefe an seine Muhme Gräfin P. E. Die Briefe sind genau datiert, die Adressatin jedoch ist eine fiktive Tante. Somit sind diese Briefe ausschließlich literarisch auszulegen. Sie geben kein vollständiges Bild davon, was den Emigranten widerfuhr; über den zeitgeschichtlichen Hintergrund und über die Gewohnheiten der Türken wird man jedoch relativ gut unterrichtet, wobei die Beschreibungen der Türkei nicht von Mikes stammen, sondern aus französischen Reiseberichten. Seine Briefe sollten eigentlich der Unterhaltung seiner Gefährten in Rodosto (Tekirdağ, Türkei) dienen. Die fiktive Gräfin E. P., die liebliche Tante, ist eine wunderbare Gesprächspartnerin. Sie hat Humor, versteht Hinweise auf literarische Bezüge und liebt das Wortspiel sowie das Kompliment. Der Brief ist eine genuin handschriftliche Form, er ist nur an einen Menschen gerichtet und schließt die größere Öffentlichkeit im Grunde aus. Kelemen Mikes, dieser Inbegriff eines von seinem Publikum weg ins Exil getriebenen Schriftstellers, hat mit vielleicht unbewusster, aber zweifellos richtiger Intuition die Form der Fiktion gewählt, die mit der größten Suggestion dann wirkt, wenn sie handschriftlich auf den Tisch des Lesers kommt. (Thienemann 1930, 130, Ü: Ch. Kunze)
Die Briefsammlung besteht teils aus Erinnerungen in Briefform, teils bietet sie aber schon durch die Wiederholung und Variierung bestimmter Motive die Möglichkeit, als Roman gelesen zu werden. Im Briefwechsel kommen die Ideale und Gefühle von Mikes genau zum Vorschein: Zärtlichkeit, Freundlichkeit, literarische Gewandtheit und Liebe. Insbesondere eröffnete Mikes aber mit der ironisch-distanzierten Modalität des Erzählens neue Wege für die spätklassizistische und frühromantische Prosa in ungarischer Sprache. Auszug aus seinem 37. Brief vom 28. Mai 1720 aus Rodosto (Mikes 1966, 55–56): Már mi itt derék házas, tüzes emberek vagyunk, és úgy szeretem már Rodostót, hogy el nem felejthetem Zágont, de tréfa nélkül édes néném, mi itt igen szép kies helyt vagyunk, a város elég nagy, és elég szép, a tenger parton lévő kies, és tágas oldalon fekszik, az is való, hogy Európának éppen a szélyin vagyunk, lóháton innét Constancinápolyban két nap könnyen el lehet menni, tengeren pedig egy nap, az bizonyos, hogy sohult a fejedelemnek jobb lakó helyt nem adhattak volna.
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Abb. 5: Kelemen Mikes. Das überlieferte Ölgemälde aus dem 18. Jahrhundert ist vermutlich eine Kopie eines zwischen 1707 und 1711 verfertigten Porträts
In der Übersetzung von Géza Engl: Wir sind schon richtige angesiedelte Leute, und ich habe Rodosto so liebgewonnen, daß ich Zágon nicht mehr vergessen kann. Aber, Spaß beiseite, geliebte Tante, wir sind hier an einem recht schönen, anmutigen Ort. Die Stadt ist ziemlich groß und auch schön, sie liegt auf dem angenehmen ausgedehnten Hang an der Küste. Und es stimmt auch, dass wir am äußersten Rand von Europa sind. Man kann zu Pferd in zwei Tagen von hier nach Konstantinopel kommen, zur See an einem Tag. Fest steht, dass man dem Fürsten nirgends einen besseren Wohnort hätte geben können. (Klaniczay 1978, 240)
Nach dem Tod von Zsigmond (Sigmund) Zay, dem letzten aus der adligen Gefolgschaft des Fürsten Rákóczi, wurde Mikes im Herbst 1758 von der Pforte zum Führer der ungarischen Emigrantenkolonie von Rodosto ernannt. Am 20. Dezember des Jahres datierte er seinen letzten (207.) Brief an die „treue Muhme“, in dem er sich von ihr verabschiedet und den er mit einem andächtigen Gotteslob beschließt (Mikes 1966, 300):
Die Ausstaffierung der Worte und die neue Formkultur: Ferenc Faludi (1704–1779)
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Az első levelemet amidőn a nénémnek írtam, huszon hét esztendős voltam, eztet pedig hatvan kilencedikbe írom, ebből ki veszek 17 esztendőt, a többit a haszontalan bujdosásba töltöttem, a haszontalant nem kellett volna mondanom, mert az Isten rendelésiben nincsen haszontalanság, mert ő mindent a maga dicsőségére rendel etc. Als ich meinen ersten Brief an Euch, liebe Tante, schrieb, war ich siebenundzwanzig, und diesen schreibe ich mit neunundsechzig. Davon rechne ich 17 Jahre ab, die weiteren habe ich heimatlos und unnütz verbracht. Unnütz hätte ich nicht sagen sollen, denn in Gottes Fügung ist nichts unnütz, denn er verfügt alles zu seinem eigenen Ruhm […]. (Klaniczay 1978, 250)
1759 erhielt Mikes von den Behörden der Kaiserin Maria Theresia die Erlaubnis, in einen Briefwechsel mit seinen Angehörigen in Siebenbürgen zu treten. Aus den Jahren 1759–1761 sind fünf Briefe erhalten geblieben, die er an seine Verwandten über seine Erlebnisse in der Türkei schrieb. Bemerkenswerterweise übernahm er darin längere Passagen aus den fiktiven Briefen. Auf dem gleichen Wege erhielt er auch die Antwortschreiben. Die Verwandten ermunterten ihn, um Gnade zu bitten und dann heimzukehren, doch war dies vergebens. Mikes hatte es schon 1741, kurz nach der Thronbesteigung Maria Theresias, versucht, doch die Antwort fiel kurz und streng aus: ex Turcia nulla redemptio (aus der Türkei gibt es keine Wiederkehr). Die literarischen Verweise in den Briefen zeigen Mikes’ wichtigste Lesestoffe auf. Er war besonders in der französischen Literatur und Kultur bewandert, seit den 1720er Jahren begann er auch französische Werke ins Ungarische zu übersetzen. Insgesamt übersetzte er zwölf Prosawerke im Umfang von 6.000 handschriftlichen Seiten. Aus literarischer Sicht ist besonders die Übertragung der Novellensammlung Journées amusantes der zu jener Zeit hochgeschätzten Mme de Gomez (1684–1770) hervorzuheben. Mikes nahm zunächst Passagen aus ihrem Werk in seine Briefe auf, dann sammelte er sechs Geschichten der Schriftstellerin unter dem Titel Mulatságos napok (Vergnügliche Tage). Die Briefe aus der Türkei erschienen erst 1794 in Szombathely (Steinamanger), die Mulatságos napok sogar erst 1879 im Druck. Die meisten Werke von Mikes sind aber auch heute nur als Handschriften zugänglich.
I.11 Die Ausstaffierung der Worte und die neue Formkultur in der ungarischen Dichtung: Ferenc Faludi (1704–1779) Im Unterschied zu Mikes vertrat Ferenc Faludi nicht die verinnerlichte Selbstdarstellung, sondern die sogenannte ständisch-adelige Rokoko-Literatur. Faludi wurde in Németújvár (Güssing, heute Österreich) geboren, studierte in Kőszeg
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Ältere ungarische Literatur
(Güns) und Sopron (Ödenburg), trat 1720 in die Societas Jesu ein und wurde 1725 zum Doktor der Philosophie promoviert. In Graz und Wien studierte er fünf Jahre lang Theologie und unterrichtete danach von 1736 bis 1740 in Wien, Graz und Linz. Von 1740 an verbrachte er fünf Jahre in Rom, wo er Beichtvater der ungarischen Pilger war. Diese Jahre in Rom waren entscheidend für seine literarische Tätigkeit: Er lernte nicht nur Italienisch, sondern erwarb auch Kenntnisse in den literarischen Gattungen und der Poetik seiner Zeit. Aufzeichnungen über die Literatur und seine Lesestoffe in seinem Omniarium zeigen ein reges Interesse an moralisch-didaktischen ebenso wie an unterhaltenden Darlegungen. Seine in Rom verfassten Prosaübersetzungen wurden nach seiner Heimkehr, 1748 und 1750 in Nagyszombat (Tyrnau/Trnava) veröffentlicht. Az istenes jóságra és szerencsés boldog életre oktatott Nemes ember (Der zur göttlichen Güte und zum glücklichen, zufriedenen Leben erzogene Edelmann) und dessen Fortsetzung, die Nemes asszony (Die zur göttlichen Güte und zum glücklichen, zufriedenen Leben erzogene adelige Frau), sind Übersetzungen der italienischen Fassungen der lateinisch geschriebenen Werke von William Darrel (1651–1721). 1750 erschien Faludis Übersetzung der Hofkritik El oraculo manual des Baltasar Gratian (Bölcs és figyelmetes udvari ember) ebenfalls in Nagyszombat. Den Erwartungen seines Ordens entsprechend, schrieb er auch zwei Schuldramen für die Jugend. 1747– 1750 war er Professor in Nagyszombat und gleichzeitig Direktor der Universitätsdruckerei. Ab 1753 lebte er als Direktor des Jesuitengymnasiums und dessen Bibliothek vorwiegend in Pozsony/Pressburg (heute Bratislava, Slowakei). 1778 stellte er noch einen Novellenband mit dem Titel Téli éjszakák (Winternächte) zusammen. Diese Prosakompilation basiert vorwiegend auf der 1666 erschienenen deutschen Übersetzung der Noches de invierno des Spaniers Antonio de Eslava. Nach der Auflösung des Jesuitenordens 1773 lebte Faludi auf den Besitzungen der Batthyánys und war aktiver Teilnehmer von geselligen Zusammenkünften. In dieser seiner zweiten Schaffensperiode schrieb er vor allem weltliche Werke, und besonders in der Lyrik führte er eine neue Formkultur ein. Seine Gedichte sind tatsächlich die ersten modernen Gedichte in ungarischer Sprache. Er schrieb nach deutschen Mustern anakreontische Verse, war jedoch ein Schüler der musikalischen, spielerischen Arkadendichtung der Italiener. In seiner arkadischen Dichtung wurde der Wortklang besonders hochgeschätzt. Er schrieb das erste Sonett in ungarischer Sprache und zwar über das Thema des Pfeiferauchens: A pipárul (Über die Pfeife). Seine elegante und musikalische Lyrik hatte großen Erfolg und fand bis weit ins 19. Jahrhundert hinein viele Nachahmer (Sárközi 2007). Der hoch gebildete Ferenc Faludi, der ausgezeichnet Italienisch, Französisch und Deutsch konnte, starb 1779 in Rohonc (Rechnitz, heute Österreich) in bitterer Armut.
Literatur
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II Die dichterische Sprache als Ausdrucksmittel. Klassizismen, Rokoko, Empfindsamkeit Der Beginn der neuen Literaturepoche wurde von Zeitgenossen und der unmittelbaren Nachwelt unterschiedlich festgelegt: Teils wurde die Herrschaft Maria Theresias (1740–1780) als diejenige Periode betrachtet, welche die Herausbildung einer modernen ungarischen Literatur und einer literarischen Kultur ermöglichte; daneben wurde aber auch ein engerer Zeitraum genannt: Im Zuge des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) kamen ungarische Soldaten in die westeuropäischen Länder, wo sie auf neue Kulturströmungen trafen, die ihnen ihre konservative Haltung als Folge der Abgeschlossenheit ihrer Heimat zu Bewusstsein brachten. Nach Ansicht Ferenc Toldys (1805–1875), ‚Vater der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung‘, war 1772 das Jahr der Wende. Toldy verband dieses Jahr mit der Veröffentlichung zweier Werke, nämlich des klassizistischen Schauspiels Ágis tragédiája (Die Tragödie des Agis) von György Bessenyei sowie seines nach Voltaires Vorbild verfassten Epos Hunyadi. Die Betonung des Jahres 1772 und der einzigartigen Leistung Bessenyeis blieb in der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung auf lange Zeit hin bestehen. Die Gründe dafür sind z. T. in der Einseitigkeit der kulturgeschichtlichen Forschungen und andererseits in der verzerrten Perspektive einer lediglich auf ungarischsprachige Werke reduzierten Anschauungsweise von Literatur zu suchen. Die romantische und später die positivistische Konzeption des 19. Jahrhunderts erforschte die unmittelbare Vorgeschichte des eigenen National- und Literaturbegriffes und meinte, diese in György Bessenyeis Kulturprogramm in Bezug auf die Ungarischsprachigkeit gefunden zu haben.
II.1 Auf dem Weg zur Ausdifferenzierung des literarischen Systems. Klassizismen in Ungarn Wegen seiner ethnozentrischen Fragestellungen, jedoch in Zusammenhang mit den Voraussetzungen des Sprachnationalismus und einer auf das Nationale fixierten Perspektive berücksichtigte Bessenyei nicht, dass die ungarische Literatur (wie auch die anderen Literaturen der Habsburgermonarchie) ihre Ziele in einem multikulturellen und mehrsprachigen Kontext formulierte und eben dort die Voraussetzungen für ihre Existenz zu schaffen suchte. Darüber hinaus wurde versäumt, die ungarische Literaturgeschichte in der Dialektik von Diskontinuität und Kontinuität zu analysieren, obwohl es angemessen scheint, dass – abweichend von den slawischen Literaturen – die ungarische Literatur und Kultur der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht unter
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dem Stichwort nationalen Erwachens diskutiert wurde. Die üblicherweise als ‚Sprachnationalismus‘ bezeichnete Erscheinung kam (abgesehen von einzelnen Vorläufern) ab den 1820er Jahren stärker zur Geltung, wobei die ungarische Literaturgeschichte – Aufklärung, Klassizismen und die lange als ‚Sentimentalismus‘ bezeichnete Empfindsamkeit – lediglich in literarischen Veröffentlichungen diskutiert wurde. Das lateinische Schrifttum wurde, abgesehen von einigen Dissertationen, bis in die 1860er Jahre nicht berücksichtigt, obwohl ein Teil der Werke ungarischer Dichter des 18. Jahrhunderts die ‚Neolatinität‘ bereicherte und die lateinische Sprache nicht allein in den Wissenschaften Verwendung fand, sondern auch Gattungen älterer Epochen (das Epos, das Gedicht in der Tradition des Horaz’schen carmen, das Gelegenheitsgedicht, das Epigramm und die Elegie) aktualisiert und modernisiert wurden, sodass sie Dichtern wie etwa Dávid Baróti Szabó, Miklós Révai, die vom Lateinischen zum Ungarische wechselten, als Beispiel dienen konnten. So wurde über die Antike und die sie vermittelnde neolateinische Dichtung (etwa über die Gedichte Jacopo Sannazaros, des polnischen Sarbievius sowie des auch von Herder geschätzten Jacobus Balde) die später stark national geprägte Terminologie bekannt gemacht, die ab den 1780er Jahren in der ungarischen Lyrik Eingang fand (beispielsweise Topoi wie die ‚entarteten Söhne‘, ignavae proles). Hierzu ist festzuhalten, dass die lateinischsprachigen Epen des 18. Jahrhunderts zu geschichtlichen Themen Ungarns gemeinsam mit der lateinischsprachigen ungarischen Geschichtsschreibung als Quellen für ungarische Werke zu geschichtlichen Fragen sowie für das ungarische Selbstverständnis dienten. Die ‚nationale Thematik‘ der letzten beiden Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ist aber ebenfalls Gegenstand der lateinischsprachigen Lyrik; Miklós Révai etwa hebt in einem seiner lateinischen Gedichte hervor, wie wichtig die Bewahrung der Nationalsprache und der Nationaltracht ist, und in den letzten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts finden beide Themen in der ungarischen Lyrik, in epischen Gedichten und Pasquillen lebhaften Widerhall. Mit der Wende der Forschung in den 1960er Jahren (und der Wiederaufnahme der Komparatistik in die ungarische Literaturwissenschaft) konnten Fragen der Stil-, Ideen- und nicht zuletzt Rezeptionsgeschichte behandelt werden, die z. T. von der früheren, einseitigen Quellenforschung verdeckt und z. T. durch die stark missverständliche Auffassung einer ‚Verspätung‘ bzw. einer Phasenverschiebung der ungarischen Literatur in Bezug auf die westeuropäischen Literaturen falsch interpretiert wurden. Die positivistische Einflussforschung führte beinahe alle ungarischen Werke der Epoche auf zumeist deutsche und teilweise französische ‚Originale‘ zurück; und die Übersetzungsbewegung dieser Epoche wurde verstanden als ein in der Entwicklung verspätetes, den ‚westlichen‘ Literaturen nachstehendes Bemühen um eine ‚Europäisierung‘ der Hochliteratur und um die Erschaffung einer Literatur anhand ‚westlicher‘ Muster. Die neuere Forschung hob
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Die dichterische Sprache als Ausdrucksmittel
dagegen nicht nur hervor, dass zu dieser Zeit in Ungarn eine andere Auffassung von ‚Originalität‘ und ‚Nachahmung‘ herrschte als in den westeuropäischen Literaturen, sondern auch, dass sich der Literaturbegriff ebenfalls allmählich aus seiner Verbindung zur Wissenschaft löste, d. h. von einer rhetorisch geprägten Auffassung, die der Literatur meist die Rolle zuschrieb, edle und weise Gedanken auf würdige Art zu präsentieren und Wissenschaft veranschaulichend zu vermitteln. Im Zuge neuerer Forschungsergebnisse wurde immer fraglicher, welche ‚westeuropäische‘ Literatur es jeweils war, die als zu befolgender ‚Idealtyp‘ der ‚Entwicklung‘ diente. Die deutsche Auffassung der 1930er Jahre vom ‚Kulturgefälle‘ zwischen der deutschen Literatur und den damals als südosteuropäisch bezeichneten Literaturen erwies sich – nicht zuletzt aufgrund der politischen Färbung und Intention – als irreführend. Aus heutiger Sicht lässt sich vielmehr feststellen, dass die Sprache der Literatur ab dem Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr als Nationalsprache aufgefasst wird, wobei der Literaturbegriff auch gravierende Umwandlungen erfährt. Während die historia litteraria des 18. Jahrhunderts, vom ersten Versuch Dávid Czvittingers (Specimen Hungariae Literatae …, 1711), über die Lexika von Péter Bod (Magyar Athenas, 1766; Ungarischer Athenas) und Elek Horányi (Memoria Hungarorum et provincialium scriptis editis notorum I–III, 1775–1777) bis zum magistralen Werk von Pál Wallaszky (Conspectus Reipublicae Litterariae in Hungaria ab initiis Regni ad nostra usque tempora, zweite, erweiterte Ausgabe 1808) die Gesamtheit der schriftlichen Kultur erfassen wollte (d. h. alles, was auf dem Gebiet des Königreichs Ungarn verfasst und publiziert wurde), konzentriert sich die im 19. Jahrhundert entstandene Literaturgeschichtsschreibung meist auf belletristische Werke in ungarischer Sprache und nimmt lateinische oder die schöne Literatur bloß stilistisch berührende Werke (sowie Geschichtsschreibung oder Predigtliteratur) nur der älteren ungarischen Literaturepoche auf. Diese Ausdifferenzierung der schönen Literatur korreliert mit der völligen Umwandlung bzw. Umstrukturierung des kulturellen Institutionssystems. Zu dieser Zeit werden die nationalen Institutionen gegründet bzw. umstrukturiert, die als Fundament der kulturellen Modernisierung dienen: 1777 zieht die königliche Universität von Nagyszombat (Tyrnau/Trnava, Slowakei) nach Buda (später nach Pest), ihr Bildungsmodell entfernt sich immer mehr von dem der humanistischen Universität (wobei Latein bis 1844 die offizielle Sprache Ungarns bleibt); 1802 werden auf Privatinitiative Graf Ferenc Széchényis die Nationalbibliothek und 1808 das Nationalmuseum gegründet. Jahrzehntelang wird über die Gründung der Ungarischen Wissenschaftlichen Akademie und des nationalen Theaters debattiert (Erstere nimmt ihre Tätigkeit schließlich um 1830 auf, Letzteres wird 1837 unter dem Namen Pesti Magyar Színház [Pester Ungarisches Theater] eröffnet). Die Ausdifferenzierung bringt selbstverständlich die Umstrukturierung der regionalen
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und sozialen Gliederung der literarischen Teilsysteme mit sich. Die früheren literarischen Zentren, die hauptsächlich Unterrichtszentren und Druckereien waren, verlieren an Gewicht, ihre Rolle übernehmen Buda und Pest, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Großstädten werden. Die Produktion von Literatur deutet in Richtung einer Professionalisierung: Die dilettantischen, auf Mäzenatentum basierenden literarischen Formationen löst der unabhängige Intellektuelle ab, der von den Einnahmen für schriftstellerische und kritische Publikationen lebt und gerade dadurch legitimiert wird, dass seine Tätigkeit von den ‚nationalen‘ Institutionen der Kultur finanziert wird. Die finanziellen Quellen zu diesen nationalen Institutionen stammen zwar meist von privaten Mäzenen, gerade diese Institutionen schaffen jedoch die Voraussetzung für die Entstehung des selbständigen Status des Schriftstellers im 19. Jahrhundert. Einen wichtigen Teil der Strukturierung des Institutionssystems bildet die Differenzierung der Teilsysteme der Presse. Anfänglich ist dieses Gebiet ebenfalls von sprachlicher Vielfalt gekennzeichnet. Die Zeitschriften berücksichtigen entweder die Sprache der Zielgruppe (wie z. B. die bis ins 20. Jahrhundert ununterbrochen herausgegebene Pressburger Zeitung, 1764–1929, die den Ansprüchen des deutschen Bürgertums entsprach) oder wählten eine Vermittlungssprache, um so ein breiteres Publikum erreichen zu können (wie die auf Lateinisch erschienenen Ephemerides Budenses, 1790–1793). Schöne Literatur erhielt wenig Raum in der ungarischen Tagespresse um 1780; Versuche zur Gründung selbständiger literarischer Zeitschriften endeten gewöhnlich mit einem Fiasko oder die Blätter erschienen nur kurze Zeit, so beispielsweise das Kaschauer Magyar Museum (Ungarisches Museum, 1788–1793), die Zeitschrift Orpheus (1790–1792), herausgegeben von Ferenc Kazinczy, oder die Pressburger Diétai Magyar Múzsa von Mihály Csokonai Vitéz (Ungarische Muse, zwischen November und Dezember 1796 erschienen 11 Ausgaben; diéta [lat. dietas] bezieht sich auf den ungarischen Landtag, der zu dieser Zeit in Pozsony [Pressburg, heute Bratislava, Slowakei] zusammengerufen wurde). In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lässt sich die Ausdifferenzierung in diesem Bereich besonders gut erfassen: einerseits erhielten die ursprünglich als Beiblätter erschienenen Literaturspalten mehr und mehr Autonomie, andererseits bildete der Diskurs über Literatur einen organischen Teil dieser immer selbständiger werdenden Zeitschriften. Eines der wichtigsten Organe der Bemühungen um die Schaffung eines kritischen Diskurses war die monatlich erscheinende Tudományos Gyűjtemény (Wissenschaftliche Sammlung, 1817–1841), in der zwar im Zeichen eines breiteren Wissenschaftsbegriffes Artikel zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen veröffentlicht wurden, die jedoch die Entstehung eines kritischen Diskurses maßgebend beeinflusste und somit eines der wichtigsten Foren der literarischen Ausdifferenzierung wurde.
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Die dichterische Sprache als Ausdrucksmittel
Mit neueren Forschungen zur Stil-, Ideen- und Rezeptionsgeschichte können wir davon sprechen, dass ab den 1770er Jahren auch in der ungarischen Literatur das Bemühen um die Schaffung eines vollständigen Gattungssystems in Prosa und Lyrik spürbar ist, das sich erst in den 1830er Jahren vervollständigt. (Die Forschung schließt die ‚Vorgeschichte‘ des ungarischen Romans mit dem Jahre 1836.) Aber gerade die Analyse der Klassizismen in Zusammenhang mit dem Beginn der Rezeption von Ideologemen der Aufklärung scheint zu beweisen, dass man – wenn auch die bedeutenden Dichter von Pope bis Voltaire, Rousseau bis Gessner oder Wieland bis Goethe ins Ungarische übersetzt wurden und György Bessenyei Popes Essay on man aus dem Französischen adaptierte, Ferenc Kazinczy die französischen Schriftsteller anfangs auf Deutsch las – in der Geschichte der ungarischen Literatur auf eigenständige Rezeptionsprojekte stoßen und zur jeweiligen deutschen oder französischen Strömung eventuell keine ungarischen Gegenstücke aufzeigen kann. Es ist jedoch eindeutig erkennbar, auf welche Art und Weise die ungarischen Dichter die Strömungen des 18. Jahrhunderts ihren literarischen Bedürfnissen anpassen. Als Folge des schulischen Poetik- und Rhetorik-Unterrichts wird in der ungarischen Literatur die Tradition des Spätbarocks genauso verwendet, mitempfunden und als etwas Eigenes erlebt wie das Rokoko, die Klassizismen und sogar die neueren Entwicklungen des Neoklassizismus. In der Architektur zieht sich das Barock bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, das sogenannte ‚Bauernbarock‘ sogar bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Forschung betonte die ‚Stilsynthese‘, insbesondere bei Mihály Csokonai Vitéz, einem äußerst bedeutenden Dichter seiner Zeit. In der Lyrik dieser Epoche (bei Bessenyei zudem in Abhandlungen und Prosa) scheint der europäische Horizont auf, oft gleicht auch die Terminologie derjenigen anderer europäischer Literaturen; beispielsweise wenn es um die Hinterfragung des Seins, Betrachtungen über die – eher überzeitlich verstandenen – Antinomien der Beziehung von Mensch und Natur oder die quälenden Probleme der Einsamkeit und der Vergänglichkeit geht. Wo das verwendete Muster philologisch nachweisbar ist, kann eher von ‚Übertragung ins Ungarische‘ einschließlich ‚Einbürgerung‘ von Personennamen, geographischen Bezeichnungen und geschichtlichen Ereignissen bzw. von Adaption die Rede sein, wobei der eventuell fremd klingende Satzbau als Beweis für das ursprünglich nicht ungarische ‚Original‘ dienen kann. (König Lear wurde beispielsweise von einem Übersetzer als Fürst Szabolcs adaptiert und auf diese Weise mit einer vorchristlichen magyarischen Führergestalt verknüpft.) Um zur Problematik von Originalität und Nachahmung zurückzukehren: Die ungarischen Klassizismen des 18. Jahrhunderts verlangten konsequent imitatio und correctio. Imitatio bedeutet teils die Nachahmung der Natur, aber auch imitatio veterum, die Befolgung eines Regelsystems, das sich auf antiker Grundlage in der Neolatinität mehrerer Jahrhunderte formte und somit nicht nur die Schul-
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bildung, sondern auch den davon ableitbaren ‚schulmäßigen Klassizismus‘ schuf. Diese Art des Klassizismus verlangte eine normative Poetik und erlaubte oder verbot, je nach Gattung, strikt das erhabenere oder niedrigere Genus der elocutio. Dichtung solle in erster Linie Wissen vermitteln, und dichterisches Können sei durch Üben erlernbar. Mit Hilfe der schulischen Bildung entstanden im Sinne dieser Auffassung und unter Berücksichtigung der Mahnung aus der Horaz’schen Ars poetica (delectare – prodesse) mehrere ‚Erstlinge‘ – teils in lateinischer Sprache – von Dichtern dieser Periode und des 19. Jahrhunderts. Nicht nur Csokonai begann seinen dichterischen Weg gemäß den Vorschriften des ‚schulmäßigen Klassizismus‘, Mihály Vörösmartys Laufbahn nahm in ähnlicher Weise ihren Anfang. Es reichte jedoch nicht, sich auf die regelgemäß ausgeführte imitatio zu beschränken; die Aufgabe des Dichters lag ebenso in der steten Vervollkommnung, die mit Hilfe der correctio verwirklicht werden kann. So bearbeiteten die Dichter dieser Epoche ihre Werke immer wieder oder schrieben sie neu, sie formten Prosawerke in Gedichte um. Hier ist an erster Stelle Ferenc Kazinczy zu nennen, der nicht nur seine Verse, sondern auch seine erfolgreichen Bücher und Reisebeschreibungen wie die Gessner-Übersetzung (1788) und die ungarische Bearbeitung des empfindsamen Romans Adolphs gesammelte Briefe von Albrecht Christoph Kayser ständig umschrieb sowie das Werk Bácsmegyeynek öszveszedett levelei (1789; Gesammelte Briefe Bácsmegyeys) als Konsequenz der in den 1810er Jahren veränderten Stil- und Sprachauffassung vollständig neu fasste. Wenn die Werke eines verstorbenen Dichters zur Drucklegung vorbereitet wurden, erlaubten sich die Zeitgenossen, Formulierungen, die sie als nicht angemessen empfanden, gemäß ihren sprachlich-dichterischen Vorstellungen zu ‚korrigieren‘ (also das Werk zu ‚säubern‘). So verfuhr auch Ferenc Kazinczy – mit Csokonais Einverständnis – mit den empfindsamen Gedichten des jung verstorbenen Dichters Gábor Dayka. Der schulmäßige Klassizismus verlangte zwei Arten von Gedichten: den sententia- und den pictura-Typus. Der sententia-Typus ist die Verdichtung einer These, ein Beispiel für die Diskursivität und Argumentationstechnik der Dichtung, wobei sich die Rhetorizität in starker Gebundenheit artikulieren kann und die Pointe von der conclusio getragen wird. Im Falle des pictura-Gedichts ist der Verfasser weniger gebunden, obwohl auch hier die Horaz’sche Empfehlung ut pictura poesis Geltung hat und der gesteigerte Bedarf an ‚Mimesis‘ nicht zu vernachlässigen ist. Während aus den Gedichten des sententia-Typus später die Gedankenlyrik erwuchs, konnte der pictura-Typus Ausgangspunkt für die lyrischen Varianten von Beschreibung sein (Landschaftsdichtung, Jahres- und Tageszeitengedichte, Beschreibung einer Person usw.). Wenn man die bedeutenden Dichter betrachtet, spielt der schulmäßige Klassizismus lediglich bei Bessenyei keine sonderlich große Rolle.
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Der schulmäßige Klassizismus begleitete Mihály Csokonai Vitéz (1773–1805) sein ganzes Leben hindurch, umso mehr, als die von der Forschung als ‚aufgeklärter Klassizismus‘ bezeichnete, eher weltanschaulich als poetisch abweichende Dichtung die extrem stark betonten Gedanken und Ideen der Aufklärung mit ähnlichen rhetorischen Mitteln wie der schulmäßige Klassizismus zum Gegenstand des Verses macht. Die Forschung erwähnt in diesem Zusammenhang vor allem Voltaire, dessen Gedankenlyrik, etwa über die Probleme des Seins und Nichtseins oder über die Bestimmbarkeit des menschlichen Daseins, Einfluss auf die Dichtung von Bessenyei und Csokonai ausübte. Csokonais Gedankenlyrik zeigt anschaulich, wie aus den Versen des sententia- und pictura-Typus im Einklang mit der Idee der correctio die Dichtung des ‚aufgeklärten Klassizismus‘ wuchs. Bereits die Erstfassungen der Gedichte Az estve (1785, 1792, 1794; Der Abend) und Az álom (1785, 1794; Der Traum) deuteten darauf hin, wie der Dichter die schulmäßige Auffassung hinter sich ließ und mit anthropologischen Fragen der Aufklärung in Berührung kam. Durch die Ergänzung, Umschreibung und Vervollkommnung der Gedichte schuf er die Version der ungarischen Aufklärungsdichtung, die die markantesten Errungenschaften des aufgeklärten Klassizismus als lyrische Adaption der europäischen Philosophie (in erster Linie der Werke von Rousseau, D’Holbach und Voltaire) präsentiert. Sie eignete sich die Konzeptionen sowohl der Literatur der ‚theologischen Physik‘ als auch der ‚großen Kette des Seins‘ (z. T. in Folge ähnlicher Bestrebungen Bessenyeis) an und schuf adäquate ungarische Bilder in der philosophischen Lyrik. Die ungarische Version des Neoklassizismus wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet; ihre Popularisierung steht in enger Verbindung mit dem Goethe-Kult Ferenc Kazinczys (auch wenn dieser von Goethe vorwiegend jambische freie Verse aus der Zeit vor der Klassik übersetzte, wie zum Beispiel Prometheus, Ganymed, Das Göttliche). Zur näheren Analyse der Entstehung und des Charakters des ungarischen Neoklassizismus müssen wir uns den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zuwenden, um die geschichtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des ungarischen literarischen Lebens sowie jene Vorgänge zu skizzieren, die auf die Entwicklung der ungarischen Kultur einwirkten. Die Herrschaft Maria Theresias war insofern entscheidend in der Entwicklung der Monarchie, als der Sieg Preußens Überlegungen zur Verbesserung des Staates und zur Modernisierung des Verwaltungssystems anregte, um die Länder mit ihren sehr unterschiedlichen Traditionen zu vereinheitlichen. Die möglichst organische Eingliederung der ‚Adelsrepublik‘ Ungarn (und Kroatiens sowie Galiziens) in den ‚übernationalen‘ Staat der Habsburger begann bereits während der Zeit Maria Theresias und fand in den zentralisierenden und bürokratischen Bestrebungen Josephs II. (1780–1790) ihre Fortsetzung. Die Königin versuchte, ihre ungari-
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schen Untertanen zu gewinnen und ließ zu diesem Zweck eine Leibgarde aus jungen ungarischen Adligen zusammenstellen. Diese Leibgardisten lebten in Wien und waren zu ihrem unmittelbaren Dienst verpflichtet. Zu ihnen gehörte nicht nur György Bessenyei, sondern auch Ábrahám Barcsay und Sándor Báróczi. Sie kamen als junge Männer nach Wien, dienten dort zunächst als Leibgardisten und betätigten sich später literarisch, sodass sie als ‚Schriftsteller der Leibgarde‘ in die ungarische Literaturgeschichte eingingen. In Wien besuchten sie französische Theater, nahmen an den Festen des Fürsten Miklós Esterházy (an Ereignissen der Fêtes galantes in Ungarn) teil, fanden Zugang zu deutschen und französischen Büchern und machten Bekanntschaft mit den europäischen Literaturen, deren Beispiele sie dazu anregten, sich über die Situation der ungarischen Sprache und Literatur in Europa Gedanken zu machen. György Bessenyei (1747?–1811) zeichnete sich in allen Gattungen aus: Er verfasste seine Schauspiele im Zeichen des französischen Klassizismus, und seine Hinwendung zur Antike – wie in Ágis tragédiája (1772; Die Tragödie des Agis) – befolgt die Ästhetik des französischen Dramas (ohne jeglichen Bezug zu Gottsched). Zum Gegenstand seiner Schauspiele wählte er die ungarische Geschichte, wobei in allen diesen Werken die Art der Regierungstätigkeit, die Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen, die ‚Humanität‘ der Staatslenkung artikuliert wird, vgl. etwa Hunyadi László tragédiája (1772; László Hunyadis Tragödie), Buda tragédiája, 1773 [1771]; Budas Tragödie). Sein in Prosa verfasstes Lustspiel A Filozófus (1777; Der Philosoph) nimmt die Spuren von Philipp Néricault Destouches auf. Bessenyeis Bedeutung besteht nicht so sehr in der neuartigen Dramaturgie, sondern zeigt sich in der Art des Diskurses auf der Bühne bzw. in der Inszenierung der sprachlichen Ausdrucksformen der Empfindsamkeit und des Humors. Seine essayistische Prosa dokumentiert einerseits seinen philosophischen, auf Spinoza rekurrierenden, deistisch, materialistisch inspirierten Skeptizismus, andererseits reflektiert sie die Situation der ungarischen Bildung. Die Nation ist seines Erachtens an ihrer Sprache zu erkennen; jede Nation ist mit Hilfe ihrer eigenen Sprache weise geworden, niemals durch eine fremde. Damit legte er die grundlegende Richtung der Sprachbewegung fest. Bessenyei plädierte für ‚Federkriege‘, d. h. für die Rechte der literarisch-philosophischen Kritik, und gehörte zu denen, die das literarische Leben entwarfen und bestimmten. Sein akademisches Vorhaben zielte bereits auf die institutionalisierten Formen der Sprachregelung und des wissenschaftlichen Lebens. In seinen philosophischen und beschreibenden, teils selbstreflexiven Gedichten verwendet er anstelle der schwerfälligen gleichreimenden zwölfsilbigen Vierzeiler-Strophen den paarreimenden Zwölfsilber. In dem Roman Tariménes utazása (1930 [1802– 1804]; Die Reise des Tarimenes), der auch die Entwicklung des Verfassers widerspiegelt, vereinigt er die verschiedenen Romanvarianten der Aufklärung wie Reiseroman, Staatsroman oder die Geschichte des edlen Wilden, wobei sowohl
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der Einfluss Spinozas als auch der Sensualismus eine äußerst wichtige Rolle spielen. Bessenyei hatte nicht vor, das feudalistische System zu ändern, und bezeichnet die Teilnahme am kulturellen Leben als Aufgabe des Adels. Ábrahám Barcsay, ein lyrischer Dichter, der Episteln an seine Dichterkollegen richtete, war einer der Ersten, die auf die Probleme der Kolonien aufmerksam wurden. In seinem Gedicht A kávéra (?/1814; Auf den Kaffee) artikuliert sich in epigrammhafter Knappheit das Schuldbewusstsein eines aufgeklärt Denkenden, den die kolonialistischen Aktivitäten der Engländer beunruhigen. Sándor Báróczi gab in seinen Übersetzungen von Prosawerken (z. B. Contes moraux von Marmontel, 1775) das Vorbild für eine differenziertere Handhabung des Stils. Ferenc Kazinczy wusste diese elegante Prosa zu schätzen. 1790 verfasste Báróczi eine Flugschrift zum Schutz und zur Verbreitung der ungarischen Sprache, dies gehört jedoch bereits zur Chronik der Geschehnisse nach Joseph II. Die zehnjährige Herrschaft Josephs II. fand in der Öffentlichkeit nur teilweise Zustimmung, was in der vorangehenden Zeit kaum möglich gewesen wäre. Durch Toleranzpatent, Patent zur Aufhebung der Leibeigenschaft, Eingriffe in den inneren Aufbau der katholischen Kirche und seine Kulturpolitik gelang es ihm zeitweilig, den aufgeklärten Adel und die ‚josephinische‘ Intelligenz auf seine Seite zu ziehen. Es waren in erster Linie die Protestanten, die ihm die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs zu verdanken hatten. Die Aufhebung der kontemplativen Orden trieb zahlreiche Mönche und Priester an den Rand der Existenz. Nach den Schriftstellern adliger Herkunft aus der Leibgarde Maria Theresias traten nun Dichter hervor, die als Priester oder Lehrer tätig waren und teilweise zu den immer lauteren und besser organisierten Gegnern Josephs II. gehörten. Der ‚stille‘ Pauliner Pál Ányos, der sich über die Einsamkeit beklagte, ereiferte sich in einem gereimten Pamphlet über Joseph und übte heftige Kritik am Toleranzpatent. Joseph II. regierte unduldsam und ohne Rücksichtnahme auf die verschiedenen Traditionen in seinen Ländern, ‚vom Schreibtisch aus‘. Am Anfang seiner Herrschaft lockerte er zunächst die Zensur, später hingegen verschärfte er sie wieder. Zwischen 1780 und 1790 erreichte auch Ungarn eine der österreichischen Situation vergleichbare ‚Broschürenflut‘. Und obwohl manche Pamphlete Spott auf Joseph II. artikulierten, formulierte die Mehrheit Gedanken, die später in der ungarischen Nationalbewegung wiederkehren sollten. Die Umstellung von der dahin offiziell verwendeten lateinischen Sprache hin zum Deutschen zur Verbesserung des Verwaltungssystems wurde als Versuch der Germanisierung angesehen. Die Umgehung des Reichstages, das Ausbleiben der Krönung und andere Verordnungen schränkten die Rechte des Adels ein und erregten daher Missfallen. Die gegen Joseph eingestellten Adligen warfen dem Herrscher Vertragsverletzung vor und planten um 1789, einen anderen König zu wählen; ein möglicher Kandidat war Karl August von Weimar. Die freieren Publikationsmöglichkeiten und der Bedarf
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nach der Formung der öffentlichen Meinung riefen die erste ungarischsprachige Zeitung ins Leben, deren Chefredakteur der in Göttingen ausgebildete evangelische Pfarrer Mátyás Rát war. Die Zeitung Magyar Hírmondó (Ungarischer Landbote) erschien von 1780 bis 1788 in Pressburg (Pozsony/Bratislava) und die Fortsetzung – der Magyar Merkurius (Ungarischer Merkur) – 1788/89 in Pest. In dieser Zeitung wurde im Jahre 1782 ein Aufruf zur Sammlung ungarischer Volkslieder und alter Lieder veröffentlicht, den Rát und Miklós Révai formulierten, möglicherweise als Reaktion auf die Initiative Herders. Von 1792 bis 1803 erschien Magyar Hírmondó (Ungarischer Landbote) dann in Wien. Die interessanteste Zeitung waren die von 1789 bis 1791 zuerst einmal und dann später zweimal wöchentlich erscheinenden Hadi és Más Nevezetes Történetek (Kriegs- und andere namhafte Geschichten). Sie können als Sprachrohr der Reformbewegung des Adels gelten und berichteten auch über die Französische Revolution. Von 1786 bis 1834 wurde in Wien die Zeitschrift Magyar Kurir (Ungarischer Kurier) herausgegeben, die von 1786 bis 1789 ein literarisches Beiblatt mit dem Titel Magyar Musa (Ungarische Muse) hatte. In den 1780er Jahren bot sich auch Gelegenheit, literarische Zeitschriften zu veröffentlichen. In Kassa (Kaschau/Košice) gaben drei Dichter die Zeitschrift Magyar Museum (Ungarisches Museum) heraus: der josephinische Ferenc Kazinczy, der als Schulaufseher die entsprechende Politik Josephs II. umsetzte und sich bemühte, den Wortschatz für eine Prosa der Empfindsamkeit auszuarbeiten, daneben aber auch mit den ungarischen Möglichkeiten des Liedes und der Ode experimentierte, János Batsányi, als radikaler Denker bekannt, aber eher antijosephinisch gesinnt, der die Französische Revolution mit einem Gedicht begrüßte und in den 1790er Jahren radikale Gedichte verfasste, und Dávid Baróti Szabó, der dichtende Priester, der ebenfalls zum antijosephinischen Lager gehörte und dessen beste Gedichte eine flexiblere Variante des schulmäßigen Klassizismus aufweisen. Die Zusammenarbeit erwies sich jedoch als kurzlebig: Kazinczys vorgesehenes Vorwort wurde von Batsányi neu geschrieben, wobei dieser die josephinischen Bezüge abschwächte und die Einleitung ebenso glättete wie Passagen, die sich nachdrücklich für die Publikation von Rezensionen einsetzten. Im Zuge seiner Redaktionstätigkeit bevorzugte er anstelle von Kazinczys bereits zusammengestelltem Übersetzungsprogramm (Kazinczy übersetzte Werke von Klopstock und interessierte sich für die Übertragung von Wielands Grazien ins Ungarische) andere Facetten der Empfindsamkeit (wie etwa die Dichtung von Pál Ányos). Kazinczy schied schließlich aus der Redaktion aus und gab von 1790 bis 1792 eine Zeitschrift heraus, als deren Titel er seinen Freimaurernamen Orpheus benutzte. Neben der Zeitschrift war noch ein dichterischer Almanach mit dem Titel Helikoni virágok (1791; Blumen von Helikon) geplant, von dem jedoch nur ein einziger Band erschien. Die Unternehmungen auf dem Zeitschriftensektor blieben teils aufgrund
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mangelnden Publikumsinteresses unvollständig, teils führten der Tod Josephs II., die Rücknahme der Mehrheit seiner Maßnahmen, die landesweite Euphorie im Jahre 1790 und später die Krönung von Leopold II., sein Tod 1792 bzw. der negative Einfluss der weltgeschichtlichen Ereignisse insgesamt zu einer gänzlich neuen Situation. In der landesweiten Euphorie wurden die (poetischen) Stimmen derjenigen laut, die den Triumph der ungarischen Nationalbewegung feierten und in ihren Gedichten ungarische Symbole wie Krone, Tracht und Sprache thematisierten. Anders als die Werke, die fast den Tod der Nation prophezeiten (wie die allegorische Ode A ledőlt diófához [1790; An einen umgestürzten Nussbaum] von Baróti Szabó), zielten sie auf die Weiterführung des von Bessenyei initiierten nationalsprachlichen Kulturprogramms ab. Sogar Kazinczy, der 1789 ein Gedicht des Horaz über das Staatsschiff ins Ungarische übersetzte (wobei bezeichnenderweise nicht die Nation, sondern der Staat als gefährdet dargestellt wird), übertrug 1790 die Hamlet-Version des deutschen Theaterdirektors Friedrich Ludwig Schröder ins Ungarische – und dies mit einer Anspielung auf das Phänomen des Thronraubes, welcher Staat, Nation und Individuum gefährdet. Im Vorwort zur Übersetzung schlägt Kazinczy einen nationalistischen Ton an, der weder in seinen früheren noch in seinen späteren Schaffensphasen zu finden ist. Diese Art, die eigene Verpflichtung gegenüber dem Josephinismus durch ein Tarnungsmanöver zu verdecken, kann als eine Episode in Kazinczys dichterischer Tätigkeit angesehen werden. Die unter Joseph II. eingeführten Bestimmungen, welche die Existenz der Intellektuellen erleichtert hatten, wurden allmählich revidiert. Die gleichsam als Vermittlungsinstanz des Wiener Hofes fungierende Statthalterei mit Sitz in Buda (Ofen) verstärkte ab 1792 die Zensur stark, stellte die Einfuhr von ausländischen Büchern vor immer größere Schwierigkeiten und erließ 1798 eine Verordnung, die sowohl ausländische Druckerzeugnisse untersagte als auch die Tätigkeit der Lesekabinette verbot. Der Interventionskrieg und die Herrschaft von Franz I. löschte die Hoffnung auf die Fortsetzung der notwendigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt kulturellen Reformen aus. In Pest-Buda (Pest-Ofen) waren zwei Institutionen tätig, die als Bewahrer der ungarischen Bildung und Kultur fungierten. Die Universität, die 1777 aus Tyrnau (Nagyszombat/Trnava) nach Buda (Ofen, 1784 nach Pest) übersiedelte, stand mit Professorenkollegium und Studentenschaft für die Multinationalität Ungarns (hier unterrichtete z. B. der Franziskaner und kroatische Dichter Matija Petar Katančić, hier studierte der serbische Priester und Dichter Lukijan Mušicki). Die Universitätsdruckerei in Pest-Buda (Pest-Ofen) gab Bücher in fast allen Sprachen Ungarns heraus, erhielt das Privileg für die Veröffentlichung von Büchern in kyrillischer Schrift und zählte serbische, rumänische, kroatische und andere Korrektoren (wie zum Beispiel den rumänischen Geschichtswissenschaftler Petru Maior) zu ihren Mitarbeitern. Zu erwähnen ist daneben auch die Statthalterei, die ohne
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Rücksicht auf Muttersprache und Nationalität Beamte und Intellektuelle beschäftigte. Bis in die 1820er Jahre entstanden zunächst nur beschränkt, später aber immer stärker und unter ungarischer Beteiligung serbische, slowakische, deutsch-ungarische Intellektuellenzirkel in Pest-Buda (Pest-Ofen), die alle als Vorläufer einer mehrsprachigen, polykulturellen Konstellation und des serbischen, slowakischen, ungarischen und deutsch-ungarischen Geisteslebens des Reformzeitalters angesehen werden können. Nachrichten über die französischen Ereignisse erreichten auch Ungarn; die mehrheitlich in die Illegalität gedrängten Freimaurer hielten weiterhin ihre Versammlungen ab und trafen sich regelmäßig. Mit dem geringen Umfang der realisierbaren kulturellen Aktivitäten konnten die Anhänger der Reformbewegung aber kaum zufrieden sein. Eine Facette dieser kulturellen Tätigkeit war z. B. das ungarischsprachige Theater. Im Jahr 1784 führten Laienkünstler in Pest Heinrich Ferdinand Möllers Graf von Waltron in ungarischer Sprache auf. Ebenfalls 1784 wurde die Magyar Játszók Társasága (Gesellschaft Ungarischer Amateurschauspieler) gegründet, die 1785 drei Aufführungen präsentierte. Darauf fanden im Oktober 1790 Theateraufführungen in Buda (Ofen) und Pest statt, aber das ungarischsprachige Schauspiel, für das das deutschsprachige zu dieser Zeit noch eine übermächtige Konkurrenz darstellte, erhielt erst vom 5. Mai 1792 bis zum 10. April 1796 eine länger anhaltende Aufführungsmöglichkeit in Pest-Buda. Bei der Ausgestaltung der Spielpläne prallten zwei Auffassungen aufeinander: einerseits die elitäre Konzeption von Ferenc Kazinczy (der neben Hamlet Lessings Miss Sara Simpson, später Emilia Galotti und Goethes Stella und Clavigo sowie Molières Lustspiele übersetzte) und andererseits die beim Publikum beliebten Rührstücke in der Tradition Kotzebues sowie Ritterdramen, insbesondere solche mit Ungarnbezug. Die populärste Oper in diesem Jahrzehnt war die Zauberflöte, deren Übersetzung Csokonai und Batsányi unternommen hatten; Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Liedtexte als Einlage in einem komischen Epos (die Umdichtung des ehemaligen Paulinerpriesters Ferenc Verseghy) verwendet. Ab den 1790er Jahren setzte eine geheime Konspirationstätigkeit ein, an deren Spitze der ehemalige Lemberger Naturwissenschaftler und spätere Geheimagent Ignác Martinovics stand. Martinovics unterschied die Mitglieder der Bewegung nach einer adelig-reformorientierten und einer radikaleren Gruppe. Der von ihm formulierte und mit Hilfe der Mitglieder durch Abschriften verbreitete ‚Katechismus‘ hatte sich die Umgestaltung Ungarns und der ungarischen Gesellschaft zum Ziel gesetzt. Dies war der erste Entwurf, der die Föderalisierung Ungarns anstrebte. Der Bewegung (die von der Geschichtsschreibung als ‚Jakobinerbewegung‘ bezeichnet wurde, obwohl sich die Mehrheit der Teilnehmer nicht als Jakobiner empfand) schlossen sich die meisten bedeutenden ungarischen Dichter an, so Kazinczy und der wegen seiner Millot-Übersetzungen ins
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innere Exil gezwungene Priester und Dichter Ferenc Verseghy, der erste ungarische Goethe-Übersetzer (Das Veilchen, 1784) und Übersetzer der Marseillaise. Die Bewegung wurde bald aufgelöst, die fünf Anführer 1795 zum Tode verurteilt und exekutiert. Die erwähnten Dichter wurden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt: Kazinczy verbrachte sieben, Verseghy acht Jahre im Gefängnis. Obwohl Batsányis Teilnahme nicht bewiesen werden konnte, verbrachte auch er wegen seiner radikalen Verse und seiner Apologie ein Jahr im Kufsteiner Kerker. Die Reformvorhaben der 1780er und 1790er Jahre wurden auf diese Weise ad acta gelegt, und die bis dahin geschaffenen existentiellen Voraussetzungen für die Literatur in den erwähnten Zeitschriften und ihre in Kazinczys Briefwechsel formulierte ‚Institutionalisierung‘ wurden zwangsweise modifiziert. Als Konsequenz daraus mussten Rolle und Position von Literatur und Sprache geklärt sowie Fragen in Bezug auf die Ablösung des Literaturbegriffs von der Wissenschaft und die allmählich auszuarbeitende Autonomie der Dichtung behandelt werden. In den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurde bereits lebhaft über die dichterische Sprache, die Übersetzung, die Prosodie sowie die Hierarchie der Kunstgattungen diskutiert, dennoch sahen sich Anfang des 19. Jahrhunderts diejenigen, die die Zukunft der ungarischen Literatur beeinflussen wollten, mit einer neuen Situation konfrontiert. Der aus der Gefangenschaft entlassene Kazinczy zog Konsequenzen bezüglich der bis dahin durchgeführten Experimente zur Begründung der Literatur und griff einerseits auf eigene Vorüberlegungen zu Empfindsamkeit und aufgeklärtem Klassizismus, andererseits auf Gedanken zur Literatur von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zurück. Diese Reflexion findet sich hauptsächlich in Kazinczys Briefen, Polemiken und in der als Manuskript erhaltenen sogenannten Tübinger Preisschrift von 1808, in der er mit literatur- und sprachgeschichtlichen Argumenten für die Einführung der ungarischen Sprache als Amtssprache im Königreich Ungarn plädiert. Gegen Ende der 1780er Jahre sah auch Kazinczy die Voraussetzungen für die moderne Literatur in der Prosa der Empfindsamkeit realisierbar. Von den bereits erwähnten zwei Übersetzungen waren es nicht die ästhetisch wertvolleren Idyllen Gessners (obwohl diese durchaus geschätzt und erfolgreich waren), sondern die ungarische Übersetzung von Kaysers Wertheriade, die durch stilistische Wendungen, den Wortschatz sowie durch die Situationsbeschreibung, die Mentalität und gesellschaftliche Etikette präsentierte, nicht nur literarisches Aufsehen erregte. Die Übersetzung zielte zugleich auf die Mehrschichtigkeit der Kommunikation und auf die sprachliche Adäquatheit gesellschaftlicher Kontakte. Noch weiter ging József Kármán (1769–1795), der gemeinsam mit seinem Freund Gáspár Pajor die Zeitschrift Urania (1794–1795) herausgab und den empfindsamen Roman Fanni hagyományai (1794–1795; Fanny’s Nachlass, 1880) veröffentlichte. Das sowohl sprachlich als auch mentalitätsgeschichtlich bedeutende Werk illustriert,
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wie sich die Sprache des Pietismus in einer Liebesgeschichte desakralisieren und poetisieren lässt. Die biblischen Bilder und Topoi dienen hier zur Untermalung der emotionalen Irrfahrten, und die im Pietismus realisierte direkte Innerlichkeit verbindet die in sich gekehrte Person, Welt und Natur mit der Leidensgeschichte des einsamen Individuums. Fanny betrachtet die Umwelt in Tagebuch und Briefen gefühllos, ist aber selbst hauptsächlich zu emotionalen Reaktionen fähig und erlebt daher die Emotionslosigkeit und Gleichgültigkeit der Adligen besonders intensiv. Von der Urania erschienen 1794 und 1795 lediglich einige Nummern; die Zeitschrift fand keinen starken Widerhall, teils wegen der ungünstigen äußeren Umstände, teils wegen Kármáns frühem Tod. Obwohl die Zeitschrift zu Beginn des 19. Jahrhunderts (meist ohne Angabe des Namens) einige Male erwähnt wurde, musste sie bis in die 1840er Jahre auf die literaturgeschichtliche Entdeckung und Würdigung warten, obwohl über die gesamte Zeit ein Mitarbeiter der Urania noch am Leben war, nämlich der Ästhetikprofessor Lajos Schedius von der Pester Universität (der in Pest-Buda [Pest-Ofen] den Neohumanismus der Göttinger Universität verbreitete, den er sich in Chr. G. Heynes Seminaren angeeignet hatte). Kármán gehörte zum Pester protestantischen Adel und war Anhänger von Schedius; er sah die Voraussetzungen für die Entfaltung der ungarischen Literatur ähnlich wie Csokonai nicht in fleißiger Übersetzungstätigkeit, sondern in der Schaffung von Originalwerken. Die Anhänger der Übersetzertätigkeit mit Kazinczy an der Spitze vertraten hingegen die Ansicht, dass eine ungarische Literatur, die über ein differenziertes und vollständiges Gattungssystem verfügen sollte, mit Hilfe von Übersetzungen hervorragender Werke vorzubereiten sei. Kármáns und Csokonais Bemühungen in Richtung Originalität waren dieser literarischen Bestrebung teilweise entgegengesetzt (sowohl der Großteil der Urania-Schriften als auch einige von Csokonais Werken lehnen sich an ‚fremde‘ Stoffe an). Bei Csokonai finden sich jedoch auch widersprüchliche poetische Ansichten: Teilweise skizziert er die Figur eines weltschöpferischen Poeten (die Forschung setzte hier Prätexte von Kant und Rousseau voraus), andererseits ist bei ihm eine Auffassung von Originalität spürbar, die sich abkapselt, mit sich selbst begnügt sowie die von auswärts kommenden (literarischen) Impulse zurückweist (Kazinczy wird gerade nicht bei Csokonai, sondern im Zuge seiner ‚spracherneuernden‘ Bemühungen auf solche Arten des Verständnisses von Originalität stoßen). Kármán schreibt in seiner programmatischen Abhandlung A nemzet tsinosodása (1795; Die Verfeinerung der Nation): „Die Geschichtsbücher der Menschheit beginnen überall mit der Poesie; immer war es die Dichtung, die die Nationen aus der Wildheit führte und zähmte.“ (Kármán 1981, 22, Ü: Verfasser) Bei Csokonai erscheint dieser Gedanke folgendermaßen (aus einem Brief an Ferenc Koháry; Csokonai 1999, 70, Ü: Verfasser):
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Die Arbeit müssen wir mit Poesie und schönen Wissenschaften beginnen […] Auch die Moral einer für Kriege geborenen Nation können wir erst dann ändern, wenn wir ihren Geschmack versüßen. So verfuhren all die anderen Nationen, die letztendlich bis zu den erhabenen Wissenschaften gelangt sind.
Die erste Ansicht kann als allgemeingültig angesehen werden, auch wenn Kazinczy schon zu dieser Zeit eine eigene, souveräne Meinung vertrat. Anstelle der ‚uralten‘ kriegerischen Werte sollte die Bildung als Gradmesser dienen. Seit Bessenyei wird diese Ansicht von den schriftgewandten Intellektuellen verlangt. András Dugonics (1740–1818) schrieb 1788 den für die Entwicklung der ungarischen Prosa bedeutenden Erfolgsroman Etelka. Die Handlung des vom Verfasser selbst später als ‚Schlüsselroman‘ bezeichneten Werkes vollzieht sich an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, im Zeitalter der Fürsten Árpád und Zoltán. Der Roman kommt der Auffassung der Zeitgenossen entgegen, Altes und Volkstümliches gleichzusetzen, er verewigt Volksbräuche und Sitten und legt den Fürsten volkstümliche Redewendungen in den Mund (Dugonics sammelte dazu Sprichwörter). In den Figuren der bösen Berater konnten die Zeitgenossen einige konkrete Personen des öffentlichen Lebens wiedererkennen. Der Erfolg des Romans verdankte sich jedoch nicht bloß den ‚tagespolitischen‘ Anspielungen einer sich selbst aufwertenden ungarischen Charakterologie, sondern auch der Tatsache, dass die Zeitgenossen die Darstellung des Schriftstellers zum überwiegenden Teil als historisch verbürgt annahmen. Dugonics vertrat eine synkretistische Abstammungslehre; ähnlich wie einige Historiker sah er keinen Gegensatz zwischen der ‚skythischen‘ und finno-ugrischen Abstammungstheorie der Ungarn. Er verarbeitete auch Positionen der im 18. Jahrhundert konstituierten Wissenschaft der Finno-Ugristik (im Gegensatz zu Ábrahám Barcsay, der die Theorie der Verwandtschaft mit den Lappen eindeutig zurückwies). Anfang des 19. Jahrhunderts betrachtete Ferenc Kazinczy (1759–1831) die in den 1780er Jahren vertretenen Positionen der Empfindsamkeit als überholt und überarbeitete, wie bereits erwähnt, bis in die 1810er Jahre seine Übersetzungen grundlegend. Die Ausgabe der Gedichte Gábor Daykas (1813) und das Vorwort zu diesem Band zeugen ebenfalls davon, dass die Empfindsamkeit z. T. an den aufgeklärten Klassizismus angepasst wurde, wobei sich Kazinczy andererseits in Richtung des Neoklassizismus orientierte. Während er vor seiner Gefangenschaft lediglich ein einziges kurzes Gedicht Goethes übersetzt hatte, wurde er nach seiner Freilassung der erste große Goethe-Anhänger in Ungarn. Die 1790 begonnene Werther-Übersetzung vollendete er nicht, doch interessierte er sich sehr für Goethes Dichtung und die aus ihr ableitbare Lehre. Vor seiner Gefangenschaft scheint er die niederländische Malerei geschätzt zu haben, nach den Kerkerjahren hingegen wurden Raffael bzw. Correggio seine Lieblingsmaler, und in seiner Auf-
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fassung von der Antike spielte Winckelmanns Hinwendung zur griechischen Antike eine immer größere Rolle. All dies wird in erster Linie in seinem Briefwechsel erkennbar. Sehr charakteristisch ist die Art seiner Empörung, als er einige Zeilen von Sándor Kisfaludy, einem Dichter des Spätpetrarkismus, liest und diesem Goethes Elegien als Vorbild für die Verewigung der intimen Momente der Liebe entgegenstellt. Die Werke der antiken Kunst stellten für ihn das Ideal im Sinne der imitatio veterum dar. Kazinczy war der Autor, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am markantesten Überlegungen der bildenden Kunst vertrat; dies jedoch nicht mehr im Sinne von ut pictura poesis, sondern vielmehr die Wechselseitigkeit von Literatur und bildender Kunst betonend. Er träumte von bibliophil ausgestatteten Büchern, fertigte präzise Pläne an und bereicherte die von ihm herausgegebenen Bücher mit Stichen, die er wiederum mit großer Sorgfalt auswählte. Trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten machte er oft Besuche in Wien, um dort Stiche zu erwerben. Und auch wenn er sich keine Originale der Meisterstücke leisten konnte, kaufte er wenigstens Kopien derselben, um sie zu Hause bewundern zu können. Ein charakteristischer Vergleich, mit dem er seine Übersetzungskonzeption untermauerte, lautete: Solange keine Meisterwerke geschaffen werden, begnügt man sich mit dem Gipsabguss (auch in Goethes Haus waren Gipsabgüsse zu finden). Kazinczy war gegen die Gründung einer Akademie der Wissenschaften zur Sprachregelung; er plädierte für die Verantwortung des Dichters für Sprachnormierung und -pflege, betonte statt des Gewohnten die Wichtigkeit des Ungewohnten und scheute nicht vor sprachlichen Fremdartigkeiten zurück. Dies gehört jedoch bereits zu seinen mühevollen Versuchen auf dem Gebiet der Spracherneuerung. Zunächst soll darauf eingegangen werden, wie die Dichtung auf die politische Wende von 1794/95 reagierte. Mihály Csokonai Vitéz (1773–1805) praktizierte und pflegte bereits früher politische Dichtung, deren vielleicht interessantestes Stück der Békaegérharc (1791; Froschmäusekrieg) ist. Csokonais satirische Phantasie (und die anderer ostmitteleuropäischer Dichter) wurde nicht nur von antiken Vorbildern angeregt, sondern auch von Blumauer, dem österreichischen Dichter der Aufklärung. Csokonai schloss an die travestierenden Traditionen des heroisch-komischen Epos an und entnahm der Studentendichtung seiner Geburtsstadt Debrecen vielfältige sprachliche Anregungen zur Wiedergabe antiker Themen. Sowohl die Teilnehmer an den französischen Kriegen als auch der ungarische Adel sind Gegenstand seiner harten, ja gar vernichtenden Kritik, zu der auch die Selbstreflexion, die Kritik und Geringschätzung seiner eigenen Arbeit und Tätigkeit gehören. Csokonai experimentierte auch später mit dem heroisch-komischen Epos, wie z. B. in Dorottya (1798–1804; Dorothea), das einerseits aus den weit verbreiteten Hänseleien gegenüber alten Frauen erwuchs, die auch der Dichter selbst gern pflegte, andererseits aber ein erfolgreiches Werk der karneva-
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listischen Weltsicht darstellt. Der Krieg der Amazonen (die Zeitgenossen erwähnten das Epos mit gutem Recht gemeinsam mit der ersten Fassung des Werkes Dĕvin des Tschechen Šebestian Hnĕvkovský, 1805) spielt in einem klein- und mitteladeligen Milieu und schildert eine Lebensform und -auffassung, die gerade durch die Karnevalisierung ihre Kehrseite fokussiert. Gegen Ende des Werkes erscheint der Dichter selbst als jemand, der von den Geschehnissen, die mit dem Kunstgriff des deus ex machina enden, letztlich ausgespart bleibt. Noch wichtiger sind jedoch Csokonais Hinwendung zum Rokoko – über deren italienische ‚Inspiration‘ (Metastasio) viel geschrieben wurde – sowie das Fragment gebliebene Schauspiel A méla Tempefői (1793; Der träumerische Tempefői) mit dem bezeichnenden Untertitel: Az is bolond, aki poétává lesz Magyarországon (Auch der ist verrückt, der in Ungarn zum Poeten wird). In diesem Schauspiel werden nicht nur die Adligen aufs Korn genommen, die für die ungarischsprachige Kultur unsensibel sind und sich nicht für das Mäzenatentum einsetzen (dies unternahmen Bessenyei, Kazinczy und Berzsenyi), es wird auch die ‚angewandte Dichtung‘ lächerlich gemacht; ein deutschstämmiger Drucker erhält bezeichnenderweise den Namen Betrieger. Diesen werden Figuren gegenübergestellt, die der heimischen Kultur verpflichtet sind. Das Schicksal des Dichters, der den Mäzenen und Subskribenten ausgeliefert ist, konnte im Stück selber jedoch nicht gelöst werden, und somit blieb das Schauspiel unvollendet, obwohl der geplante Ausgang der Geschichte (mit einem Happy End) bekannt ist. Csokonai hatte die adäquate Form für seine Philosophie des Glücks gefunden. Einerseits brachte er in seiner Anakreontik die poetische Umdeutung der zum Rokoko umgefärbten antiken Tradition zur Geltung, andererseits zeigt der am Ende seines Lebens aus früheren Gedichten zusammengestellte Band Lilla (1803–1805) mit dem Untertitel Érzékeny dalok III. könyvben (Empfindsame Lieder in III Büchern) Csokonai als Dichter der Stilsynthese. Diese Art der Empfindsamkeit war keine bloße Weiterführung der von Edward Young und James Hervey geprägten Lyrik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (die ihrerseits durch den Göttinger Hainbund beeinflusst wurde), sondern ein weltliterarisches Unternehmen, dessen dichterisch-geschichtliche Bedeutung aus den aufeinanderprallenden Strömungen der sich neu formenden, in den Neoklassizimus hineinreichenden Lyrik besteht. Im Band findet außer der ‚stilistischen Ambivalenz‘ der Empfindsamkeit (die „süße Betrübnis“ ist Gegenstand und Tonlage mehrerer Gedichte) eine Öffnung des Dichters in Richtung des Orients statt; als sich Csokonai mit Háfiz beschäftigt, glaubt er nicht den eigenartigen Fremden zu entdecken, sondern den ‚Anderen‘, den auf das westliche Vermächtnis bauenden ‚Östlichen‘, wie die anakreontische Versform des Gedichts A Háfiz sírhalma (1800; Der Grabhügel des Háfiz) beweist. An prominenter Stelle als vorletztes Stück im Band wurde das äußerst wichtige Gedicht A pillangóhoz (1802, 1805; An
Auf dem Weg zur Ausdifferenzierung des literarischen Systems
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Abb. 6: Mihály Csokonai Vitéz. Stahlstich nach einer Zeichnung von Henrik Petz
den Schmetterling) positioniert. Es ist eines der hervorragendsten Gedichte im Werk Csokonais, das eine vorangehende Version der Goethe’schen Metamorphose, des Gedankens von „Stirb und werde“ allegorisiert und das Mythologem der Psyche einflicht. Daneben wird das von Ovid bis D’Holbach reichende Motiv der Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling, vom Sich-Einpuppen bis zum Erwachen in einem neuen Leben zum Prätext erklärt und somit zum Symbol der dichterischen Unsterblichkeit geformt. Der in drei Einheiten aufgeteilte Gedichtzyklus wurde von Csokonai selbst als „poetai roman“ (poetischer Roman) bezeichnet, der über das Entstehen eines Gefühls, nämlich der Liebe, und über das Glücksversprechen bis hin zum Verlust der Hoffnung reicht. Das letzte Stück des Gedichtzyklus heißt A reményhez (1802, 1805; An die Hoffnung, 1970) und zeigt Verführung und Treulosigkeit der personifizierten Hoffnung mit Hilfe von Bildern des Gartens und des Verwelkens. Die Kombination von kunstvollen dichterischen Techniken und virtuosen Reimen deutet auf die Einwirkung musikalischer Formen hin. Zu Lebzeiten Csokonais wurden die Gedichte hauptsächlich in Form von Abschriften verbreitet, und vor allem die volkstümlichen, kürzeren und sangbaren Lieder wurden ins Slowakische und Serbische, Békaegérharc (Froschmäusekrieg) sogar ins Rumänische übersetzt.
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Csokonais Gedichtzyklus Lilla ist laut Vorwort zugleich als literarische Debatte mit dem Gedichtzyklus A kesergő szerelem (1801; Die klagende Liebe) von Sándor Kisfaludy (1772–1844) zu verstehen, auf den der ebenso erfolgreiche Band A boldog szerelem (1807; Himfys auserlesene Liebeslieder, 1829) folgte. Kisfaludys Unternehmung kann als ein spätes Stück des ostmitteleuropäischen Petrarkismus verstanden werden, von Petrarca übernommene Gedanken und Verszeilen lassen sich eindeutig bestimmen. Ihr Erfolg kam in erster Linie durch die plastische Darstellung der allgemeinen Befindlichkeit und des Gefühlshaushalts einer durchschnittlichen adeligen Mentalität zustande. Kisfaludy gelang es, dafür eine Versform zu finden, die das in Ungarn ungebräuchliche PetrarcaSonett ersetzen konnte, nämlich die sogenannte Himfy-Strophe (Himfy war sein Pseudonym als Künstler): Acht- und siebensilbige Zeilen wechseln sich ab, die letzten beiden Zeilen der Strophe umfassen sieben Silben; dies mit folgender Reimformel: a-b-a-b-c-d-c-d-e-e. Die Gedichtzyklen Kisfaludys waren nicht nur für die ungarische, sondern auch für die tschechische Literatur von Bedeutung; sie wurden außerdem ins Deutsche und Slowakische übersetzt. Die Halotti versek (1804; Totengedichte), die Csokonai bei der Beerdigung einer Gräfin vortrug, waren sein letztes großes Werk und zugleich sein dichterisches und programmatisches Vermächtnis, das die Breite seiner Poetik (er öffnet sich auch zur nordischen Dichtung hin), den dichterischen Versuch einer Situierung des Ichs in der Welt, die von den Religionen in Anschlag gebrachte Metaphysik des Trostes und die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis in gleicher Weise offenbart. In einem einsamen dichterischen Werk vom Ende des 18. Jahrhunderts, den Kufsteini elégiák (1795; Kufsteiner Elegien) von János Batsányi (1763–1845), stoßen wir auf eine signifikante und besondere Art des Schreibens in einer bestimmten Gattung; der seiner Freiheit beraubte Dichter findet nämlich gerade hier zu dem zutiefst persönlichen Gefühl, das seinen revolutionär wirkenden Versen trotz Berufungsbewusstseins fehlte. In dem Gedicht A látó (1791; Der Seher, 1970) wird durch die starke Diskursivität nicht die Verpflichtung, sondern die Präsenz des lyrischen Ichs, die objektive Inszenierung der Figur des Sprechenden ersichtlich. In seinen Elegien distanziert sich der Gefangene von der antiken Gattung, und die Gefangenschaft in der Welt wird in der Darstellung der persönlichen Sensibilität transparent. A rab és a madár (1795; Der Gefangene und der Vogel) zeigt den Gegensatz von Gefangenschaft und Freiheit an der Reaktion der leidenden Persönlichkeit. Der Bedarf nach der Rolle des Nationaldichters und die lyrische Artikulation der dichterischen Persönlichkeit befähigte Batsányi zur Übersetzung von Ossians Gedichten, wobei er bei seinen Nachdichtungen die Intonation seiner eigenen klagenden Elegien verwendete.
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II.2 Polemiken um die Literatursprache. Die Spracherneuerung So war der ungarische Neoklassizismus trotz ‚neoklassizistischer Wende‘ Fortsetzung und Neubeginn in einem und eröffnete eine flexiblere poetischere Version des aufgeklärten Klassizismus. Andererseits stand der Klassizismus in unmittelbarem Zusammenhang mit der Umstrukturierung des Sprach- und Bildungsideals und auch mit dem, was die Forschung in erster Linie als ungarisches und tschechisches Beispiel (im Gegensatz zum serbischen und slowakischen) für ‚Spracherneuerung‘ anführt. Die Differenzierung der Sprachauffassung kann mit den diversen in Bezug auf die ungarischen Grammatiken und auf die Sprache gültigen Hypothesen in Verbindung gebracht werden, mit dem Bekanntwerden des Herder’schen Sprachromans, der Adaptierung der Ansichten von Adelung und teils von Jenisch und nicht zuletzt mit all dem, was früher in der deutschen Literatur im Interesse der Hochsprache geschah. Seit den 1770er Jahren wurde die Finno-Ugristik wissenschaftlich begründet, doch erst von den 1790er Jahren an bekamen Überlegungen zum System der ungarischen Sprache und der Sprache als Werkzeug im Gegensatz zu ihrer ästhetischen Funktion besondere Bedeutung. Im Zuge der ‚prosodischen Debatte‘ kam es zur Akzeptanz der ‚quantitierenden Metrik‘, die wie in den antiken Sprachen durch eine regelmäßige Aufeinanderfolge langer und kurzer Silben gekennzeichnet ist (die Konsequenz in Richtung der Gattung in Ungarn waren die Beliebtheit der Ode, die Integration der griechischen und römischen Variante des Epigramms in Form von Xenien sowie die Aufnahme des Hexameters, des Distichons und der griechisch-lateinischen Strophenarten in die Prosodie des ungarischen Verses). Gleichzeitig sorgten die vor allem aus Göttingen heimkehrenden Studenten für die Akzeptanz der neohumanistischen Auffassung, die der neoklassizistischen Ästhetik als Basis diente, wie beispielsweise an den zur Bewerbung auf den Lehrstuhl für Ästhetik an der Pester Universität im Jahre 1791 eingereichten Arbeiten deutlich wird. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand zwischen Miklós Révai und Ferenc Verseghy eine Debatte über die synchrone oder diachrone Begründung und Möglichkeit einer normativen Auffassung des Sprachsystems statt; die Dichter waren sich nicht einig, aus welchem regionalen Sprachgebrauch die ungarische Hochsprache erschaffen werden könne, und auch bezüglich des geplanten Rechtschreibsystems gab es heftige Diskussionen. Dazu kam noch das Problem der Wortbildung: Haben auf diesem Gebiet die Sprachwissenschaftler oder aber die Dichter das Vorrecht? Keiner der bedeutenderen Dichter kann als Purist bezeichnet werden, jedoch blieb die Art und Weise der Wortschöpfung bzw. der ‚Sprachpflege‘ und der ‚Sprachverschönerung‘ ebenso ein Diskussionsthema wie die Problematik der ‚Sprachregelung‘ und die Beziehung zwischen Hochsprache und Volkssprache (Provinzialismen als Quellen der Spracherweiterung). Neben
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den ‚hauptberuflichen‘ Sprachwissenschaftlern (Révai und Verseghy) beschäftigte sich auch Ferenc Kazinczy mit dem Anschluss an den europäischen ‚Sprachbund‘, indem er für eine Übernahme fremder sprachlicher Erscheinungen (Germanismen, Gallizismen, Gräzismen) im Sinne der Stil- und Spracherneuerung plädierte, und von ihm stammen die folgenden beiden Verszeilen (Berzsenyihez, 1809, An Berzsenyi, [Kazinczy 1998, 150]): Ne kérdd, törvénnyel eggyez é, nem -é? Eggyez, ha szép; mert törvényt ez teszen. Frag nicht, ob zum Gesetz es stimmt, ob nicht; / Es stimmt, was schön ist, Schönheit ist Gesetz. (Ü: H. Becker, vgl. Becker 1948, 71)
Dabei konnten die Schönheitsauffassungen, z. B. bei Kisfaludy, Kazinczy und Berzsenyi, recht verschieden sein. In seiner eigenen Übersetzungstätigkeit ließ Kazinczy das Prinzip der genera dicendi zur Geltung kommen; die bürgerlichen Figuren in Goethes Egmont beispielsweise kamen anders zu Wort als die Personen in Molières Lustspielen, Letztere sprechen in volkstümlichen Wendungen, den erhabenen Figuren (zum Beispiel in seinen Klopstock-Übersetzungen) verlieh Kazinczy eine leicht affektierte Sprache. In der Gedichtsammlung Tövisek és virágok (1811; Dornen und Blüten) verhöhnte er die Gegner der Spracherneuerung, die Puristen, die eine antiquierte Sprache verwendeten und der kulturellen Eigenständigkeit anhingen. Er kritisierte alles, was ihm nicht ‚klassisch‘ genug schien, und alle, die den Ansprüchen der correctio nicht Genüge taten und die strengen Vorschriften des Gattungssystems nicht einhielten. Csokonais Lebenswerk akzeptierte er nur teilweise, und in den 1820er Jahren konstatierte er unmissverständlich das Vorwärtsstreben der Romantik. Ähnlich wie Goethe betrachtete er die Poesie und Kunst der griechischen Lyrik als literarisch-kulturellen Höhepunkt; er hob Goethes Iphigenie aus den Werken seiner Zeitgenossen heraus (zudem fing er an, das Werk zu übersetzen). Sowohl seine übertriebene Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten als auch ein zu enges Sprachverständnis und seine kritischen Rezensionen lösten heftige Diskussionen aus, und gegen Ende der 1810er Jahre sah Kazinczy ein, dass eine Vermittlung zwischen den verschiedenen Sprachauffassungen notwendig wurde. In der Abhandlung Ortológusok és neológusok nálunk és más nemzeteknél (1819; Orthologen und Neologen bei uns und anderen Nationen) verkündete er die Versöhnung zwischen den divergierenden Lagern und bedankte sich bei beiden Parteien für die Schaffung der Hochsprache. Kazinczy, den vor allem seine Reisebeschreibungen und seine autobiographischen Werke zu einem bedeutenden Autor seiner Zeit machten, folgt in seiner Autobiographie Pályám emlékezete (1828; Erinnerungen an meine Laufbahn) einer von Goethe vermittelten Auffas-
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sung: Das Leben des Einzelnen ist Teil der Geschichte, die zeitgenössischen Dichter und ihre Fehden sind integrativer Teil der Durchsetzung von Literatur und tragen zur Herausbildung eines künstlerischen Verhaltens bei. Fogságom naplója (1931 [1820er Jahre]; Tagebuch meiner Gefangenschaft) konnte zu Lebzeiten nicht erscheinen. Die Figur des idealistischen Leidenden wird hier so dargestellt, dass uns der Alltag des Kerkerdaseins plastisch vor Augen steht. Die Chronik der 2.387 Tage von seiner Festnahme bis zur Freilassung ist der poetische Roman eines denkenden Schöpfers, der die literarischen und künstlerischen Beispiele nie zu vergessen vermag und die Literatur als seine Berufung auffasst. Dezső Kosztolányi, ein Dichter des 20. Jahrhunderts, schrieb zu Recht, dass Kazinczy kein einziges Meisterwerk vorzuweisen habe, dass aber sein Leben selbst das Meisterwerk sei. In den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts existierte die ungarische Literatur unter ungünstigen Verhältnissen. Die Napoleonischen Kriege brachten dem von der Landwirtschaft lebenden Land zwar eine Zeit lang Wirtschaftskonjunktur, die Deflation des Jahres 1812 warf jedoch die ökonomische Entwicklung stark zurück. Trotz seiner absolutistischen Herrschaft versuchte Franz I. den Adel für die Finanzierung der Ausgaben der Napoleonischen Kriege zu gewinnen; das geistige und kulturelle Leben wurde durch strenge Zensur und Spitzeltum gelähmt; zwischen 1812 und 1825 berief der Herrscher den Reichstag nicht ein. Dennoch blieb Napoleons Aufruf von 1809, Ungarn solle die Unabhängigkeit erklären (den Text der Proklamation redigierte wahrscheinlich Batsányi), ohne Reaktionen. Das Angebot der Franzosen traf auch bei denen nicht auf Interesse, die heimlich oder offen zur Opposition gehörten. Das Land hatte kein intellektuelles Zentrum; in der winzigen nordöstlichen Ortschaft Széphalom repräsentierte Kazinczy durch seine verschiedenen Korrespondenzen das Kulturleben Ungarns. Dennoch gab es Fortschritte bezüglich der Hebung der geistigen Kultur. Graf Ferenc Széchényi vermachte der Nation 1802 seine reiche Bibliothek und initiierte damit die Gründung der Nationalbibliothek, der 1808 die Stiftung des Nationalmuseums folgte; die beiden Institutionen wurden zu wichtigen Instanzen der ungarischen kulturellen Bewegung. Ab Mai 1806 erschien die neue Zeitung Hazai Tudósítások (Inländische Berichte) in Pest-Buda (Pest-Ofen), die ab Mai 1808 das Recht erwarb, neben inländischen auch ausländische Nachrichten zu veröffentlichen, und seit diesem Datum den Titel Hazai s Külföldi Tudósítások (In- und ausländische Berichte) führte. Ihr Redakteur veröffentlichte ab 1817 ein Beiblatt mit dem Titel Hasznos Mulatságok (Bekömmliche Vergnügungen), das von der Horaz’schen Tradition des utile dulci (das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden) abwich und der literarischen Publizistik Raum bot. Dieses Beiblatt spielte durch die Veröffentlichung verschiedener, an die Redaktion geschickter und aus verschiedenen Regionen stammender Volkslieder und
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Abb. 7: Kazinczys erste Begegnung mit Károly Kisfaludy. Lithographie nach einer Zeichnung von Soma Orlai Petrich, 1860
durch Veröffentlichung von Beiträgen, die über ähnliche Bestrebungen (zum Beispiel von der serbischen Volksdichtung, die europaweit Berühmtheit erlangt hatte) berichteten, in der Geschichte der ‚literarischen Volkstümlichkeit‘ eine wichtige Rolle. Ebenfalls im Jahre 1817 erschien die Zeitschrift Tudományos Gyűjtemény (Wissenschaftliche Sammlung), die anfangs literarischen Polemiken Raum bot und deren landeskundliche, volkstümliche und dialektologische Beiträge bis heute angesehene Werke der ungarischen Ethnographie geblieben sind. Während in den Jahren vor 1807 das ungarischsprachige Theater von regionalen Gruppen aus Kolozsvár (Klausenburg/Cluj-Napoca, heute Rumänien) bestritten wurde und das moralische und patriotische Theater die Programmpolitik der von Baron Miklós Wesselényi geleiteten Klausenburger Bühne (1797–1809) bestimmte, existierte ab 1807 eine zweite feste Schauspielgruppe, die bis 1812 in Pest spielte. Nach einem Wechsel nach Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) 1818 kam die Truppe im folgenden Jahr nach Pest zurück. Wandertruppen verbreiteten das ungarischsprachige Schauspiel, während in Pest-Buda (Pest-Ofen) das deutsche Theater dominierend blieb. 1812 wurde das wohl größte und vielleicht prachtvollste deutsche Theater in der Region gebaut, zu dessen Eröffnung Beethoven die Ouvertüre König Stephan, op. 117 komponierte. Als erstes Stück
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wurde das im Jahre 1792 verfasste Drama Stephan I. König von Ungarn von Franz Xaver Girzik (einem deutschen Schauspieler tschechischer Herkunft) aufgeführt, das Schauspiel wurde von József Katona, dem Schöpfer des ungarischen Nationaldramas, ins Ungarische übertragen (1813). Obwohl die nationalen Narrative gerne deutsch-ungarische Gegensätze auf dem Gebiet des Theaters konstruierten, gab es in Wirklichkeit eine enge Zusammenarbeit zwischen den ungarisch- und deutschsprachigen Truppen. Im Interesse des Erfolgs setzten die deutschen Truppen Schauspiele mit ungarischen Themen auf ihr Programm, und einige eingebaute Lieder wurden unter dem begeisterten Applaus der Zuschauer von Gastschauspielern auf Ungarisch gesungen. Girzik trat auch in den Aufführungen des ungarischen Ensembles auf, wenn in einem Stück eine Figur mit fremd klingendem Akzent gefragt war. Kotzebue blieb auch weiterhin der populärste Autor sowohl auf der deutschen als auch auf der ungarischen Bühne. Anhand seines Schauspiels Bélas Flucht wurde die erste ungarische Oper verfasst und im Jahre 1822 in Klausenburg (Kolozsvár/Cluj-Napoca) uraufgeführt. Librettist war Sándor Kisfaludy, Komponist József Ruzitska. Bis in die 1840er Jahre war ein Lied aus diesem Schauspiel beinahe so populär wie eine ungarische Hymne (Hunnia nyög letiporva; sírnak a bús magyarok …; Hunnia leidet niedergestampft; es weinen die kummervollen Ungarn …). 1802 wurde Vincenz Ferrerius Tuček, dessen musikalische Lustspiele zuvor in Prag und Wien aufgeführt wurden, als Dirigent in das Pester deutsche Theater eingeladen. In seinen Werken, die aus tschechischen bzw. slawisch-österreichisch-ungarischen Melodien komponiert sind, zeichnet sich eine ‚musikalische Sprache‘ Mitteleuropas ab. In dieser Zeit erscheinen serbische Themen im ungarischen Schauspiel. Anhand von Zeitungsberichten stellte der Schauspieler István Balog ein Schauspiel mit dem Titel Czerny György avagy Belgrád megvétele a töröktől (1812; György Czerny oder die Befreiung Belgrads von den Türken) über den ersten serbischen Aufstand zusammen. Im Schauspiel sangen die ungarischen Schauspieler serbische Volks- und Stadtlieder auf Serbisch, und im Kreise der Zuschauer fanden sich sogar serbische Händler aus Pest. Da das Schauspiel großen Erfolg hatte, nahm das ungarische Theaterensemble zwei weitere Stücke mit serbischem Bezug in sein Repertoire auf, und Joakim Vujić begann mit der Organisation von serbischen Schauspielen: Zur ersten Aufführung, an der neben serbischen Theaterliebhabern auch ungarische Schauspieler teilnahmen, kam es im August 1813 in Pest. An den Aufführungen des ungarischen Ensembles war als delectans actor auch József Katona (1791–1830) beteiligt, dessen Bánk bán (1820 [1815–1819]; Banus Bánk 1858; erste Aufführung: Kaschau [Košice/Kassa] 1833; 1861: die Uraufführung der Oper Bánk bán von Ferenc Erkel) an ungarischen Nationalfei-
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ertagen noch heute gern gespielt wird. Das Werk bündelt weltliterarische Motive von Hans Sachs bis George Lillo, weicht jedoch in wesentlichen Punkten von Franz Grillparzers thematisch ähnlich gelagertem Werk Ein treuer Diener seines Herrn (1828) ab. In der Tragödie Katonas (vor allem in der ersten Fassung) fühlt man noch das Erbe der populären Ritterdramen wie die Mittel ungarischer und deutscher zeitgenössischer Schauspielkunst zur Darstellung von seelischen Zuständen (dies zeigen auch die Bühnenanweisungen). Daneben lassen sich dramaturgische Traditionen der anspruchsvollen deutschen Dramen nachweisen, wie etwa die intriganten Figuren bei Lessing (Emilia Galotti) und Schiller (Kabale und Liebe). Diese könnten durchaus als Vorläufer Katonas aufgefasst werden. In der ungarischen Literatur finden wir diese Figur im Roman von Dugonics und in einer Erzählung von József Kármán, um ihr dann im Werk Bánk bán in der Figur des ‚herumtreibenden Ritters‘ wieder zu begegnen. Die am moralisch verkommenen Hof der Königin durch hinterlistige Verführung bedrohte reine Frau (die Melinda in diesem Schauspiel) kann ebenfalls mit dem Motivkreis der geschändeten unschuldigen Frauenfiguren in Verbindung gebracht werden. Das in sprachlicher Form ausgedrückte Dilemma des Haupthelden, nämlich der persönliche Konflikt zwischen den Forderungen der Gemeinschaft und denjenigen des Privatlebens, ist vielleicht ein Erbe des französischen klassizistischen Dramas. Hinzu kommt die starke Spannung des Konfliktes zwischen ungarischen und fremden Elementen. Eine Interpretation, die dem Werk Bánk bán xenophobe Tendenzen zuschreibt, greift dennoch zu kurz; zwar stammte die Königin aus Meran, und ihr Bruder, der Verführer, wurde wahrhaftig zum Hassobjekt des ungarischen Adels. Doch auch die Frau des Banus ist nichtungarischer Herkunft, und in einem Nebenstrang der Handlung nehmen die Ungarn Spanier auf. Die Hauptfigur des Werkes ist ein tragischer Held, der die ‚aus den Fugen geratene‘ Geschichte wieder ‚zurechtrücken‘ soll. Als Palatin und Vertreter des Königs steht er zwischen der fremden Königin und ihrem Hof und den verschwörerischen Adligen, denen Unrecht getan wurde. Der Bauer Tiborc, der für das landesweit vorherrschende hoffnungslose und dürftige Dasein steht, und Otto, der Melinda schändet und somit die Ehre des Haupthelden zutiefst verletzt, stellen ihn vor ein Dilemma: Als Vertreter des Königs kann er Gertrudis, die Königsrechte besitzt, nicht angreifen; eine Rache auf privater Ebene ist in seiner Position ebenso wenig denkbar. Eine ‚richtige‘ Lösung gibt es nicht, so ersticht der Palatin im vierten Aufzug die Königin, von der er eine Erklärung für das landesweit vorherrschende Unrecht verlangt, und wird dadurch als Recht übende Instanz ungewollt zum Mörder. Gertrudis ist keineswegs vollständig unschuldig am Vergehen Ottos, insbesondere ist sie verantwortlich für die aussichtlose Lage des Landes. All dies spricht Bánk, der mit seiner Tat den
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Verschwörern zuvorkam, natürlich nicht von seinen Sünden frei, obwohl deren Anführer, der Banus Petur, gerade durch Bánk zu Zurückhaltung und zur Bezähmung seiner Erregung angehalten wurde. Bánk ist überzeugt, aufgrund der vielfachen Schuldigkeit der Königin gerettet werden zu können. Die Verschwörer und Bánk stehen auf dem Boden des ungarischen Rechts, zumindest behaupten sie dies. Die Klagen des Bauern Tiborc als Kontrast zum höfischen Prunk dienen in der gemeinsamen Szene mit Bánk zur dramatischen Beschreibung der Verelendung. Trotz allem wird der von Petur angeführte Aufruhr schnell niedergeschlagen. Bei der Interpretation des Werkes wird oft eine Parallele zu Shakespeares Hamlet gezogen, da sich auch Bánk nur zögernd zum Handeln entschließt und darauf hofft, dass er die aus den Fugen geratenen Dinge doch noch zurechtrücken kann. Im Konflikt zwischen öffentlichem und privatem Leben und der Frage, welchem Unrecht zuerst abzuhelfen sei, vermag er zunächst keine Entscheidung zu treffen. Trotzdem macht ihn nicht dieses Zögern zum tragischen Helden, sondern die Unauflösbarkeit seiner Situation, die er in dem von vielen Kritikern heftig diskutierten fünften Aufzug mit Bestürzung erkennt. In diesem Aufzug kehrt König Andreas II., von dem Gerechtigkeit erwartet wird, aus dem Kampf in Galizien zurück. Die Geschehnisse gehen jedoch dem Urteil des Königs voraus, der des Mordes an Gertrudis verdächtigte Petur wird bereits getötet, und während des Aufzuges kristallisiert sich zusätzlich heraus, dass die Anhänger des geflohenen Herzogs Otto die heimkehrende Melinda ebenfalls getötet haben. Mit seinen letzten Worten verdammt Petur den hinterhältigen Mörder. Bánks Schicksal scheint sich zu erfüllen: Er kann weder die Harmonie des öffentlichen Lebens noch die des Privatlebens wiederherstellen. Sein ungewollter Mord fällt auf ihn zurück, und Melindas ‚Buße‘ ist in Wirklichkeit das Auslöschen der Unschuld – der unschuldigste Tod der Bühnenwelt kann all die Geschehnisse nicht wiedergutmachen. Der König verzeiht Bánk nicht, er erkennt lediglich, dass die wahre Bestrafung darin besteht, dass er ihm das Leben lässt, während er auch Gertrudis’ Anteil an der Eskalation der Ereignisse erkennen muss. Im Schauspiel wird niemandes Problem gelöst, jeder belädt sich in dem falsch aufgefassten Machtkampf mit Schuld. Der Gerechtigkeit ausübende König ist während der ganzen Zeit lediglich passiver Zuschauer, seine abschließenden Worte spiegeln seine Resignation wider. In der Frage, welcher literarischen Richtung Bánk bán zuzuordnen sei, herrscht in der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung keine Einigkeit. Das Aufzeigen romantischer Züge, die der ungarischen Romantik vorausgehen, scheint nicht besonders überzeugend, da ‚gotische‘ Elemente sowie die fragmentierte, archaisch wirkende Sprache eher auf die Verwandtschaft des Bánk bán mit Dramen des Sturm und Drang hinweist. Es handelt sich um ein Werk, das
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mit Emilia Galotti und Kabale und Liebe verglichen werden kann und Problemstellungen der Aufklärung aufweist. In erster Linie kann das Verständnis der Persönlichkeit im Werk sowie die Art der Herr-Diener-Beziehung, wie sie zwischen dem Palatin Bánk und dem Bauern Tiborc inszeniert wird, aus der Anthropologie der Aufklärung abgeleitet werden. Der elitäre, naturfeindliche Luxus des Regierenden und die höfische Verdorbenheit stehen der von Bánk, Melinda und Tiborc repräsentierten, manchmal naiven Natürlichkeit gegenüber. Der intrigante Biberach spornt Otto geradezu an, diesen Gegensatz auszunutzen, und diese Dichotomie vermag der König nicht zu verstehen. Die Geschehnisse des 13. Jahrhunderts betrachtet das Schauspiel aus dem Blickwinkel des frühen 19. Jahrhunderts, und vor dem Hintergrund der Erfahrungen und Lehren der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege werden die durch Handlungsmöglichkeiten und Zweckmäßigkeit gebotenen Verhaltensformen einander gegenübergestellt: die begründete Unzufriedenheit und der Aufruhr der Anhänger von Petur, Bánks Verantwortungsgefühl und seine Zwangssituation und nicht zuletzt diejenigen, die unter den Folgen einer schlechten Regierung und den geschichtlichen Ereignissen und Zuständen zu leiden haben. Die Königin hat ebenfalls das Potential zur tragischen Heldin: Sie ist von Hochmut besessen und begeht kleinliche Intrigen, obwohl sie zur Herrscherin befähigt ist; als Fremde in Ungarn rechnet sie nicht mit den Traditionen des Landes und wird von absolutistisch-dynastischen Bestrebungen geleitet, die sie letztlich zum Opfer all dieser Faktoren machen. Als Schauspiel hatte Bánk bán seine eigene Wirkungsgeschichte: Es dauerte einige Jahrzehnte, bis es in den literarisch-dramatischen Kanon der Nation aufgenommen wurde, wobei das Drama später als obligatorische Lektüre und Stück zu verschiedenen Feierlichkeiten dem nationalen Narrativ zum Opfer fiel und einseitig als revolutionäres und/oder politisches Stück verstanden wurde. Aus dem Schauspiel selbst ist eindeutig ersichtlich, dass die Zweckmäßigkeit der revolutionär-revoltierenden Lösung zurückgewiesen wird und das Liebesdrama dem politischen Bühnenwerk gleichrangig ist. Als aktiver Schauspieler hatte Katona die Möglichkeiten einer Inszenierung (mit nicht geringer Vitalität) vor Augen, daher sind bei der bloßen Lektüre des Textes eindeutige Mängel und nur mühsam verstehbare Passagen zu finden. Katona veröffentlichte im Jahre 1821 eine Abhandlung über die (sogar im Verhältnis zu Lyrik und Epik) unvorteilhafte Lage des ungarischen Dramas mit dem Titel Mi az oka, hogy a Magyar Országban a Játékszíni Költő-Mesterség lábra nem tud kapni? (Was ist der Grund dafür, dass im ungarischen Lande die dichterische Schauspielkunst nicht Fuß zu fassen vermag?), in der er die Antwort auf diese Frage folgendermaßen formulierte: Das ungarische Theaterensemble hat kein ständiges Haus, wo die Schauspiele aufgeführt werden können, und die nationa-
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le Prahlerei, die Beschränktheit der gedruckten Werke, die Zensur, kaum existierende Rezensionen und die mangelhafte Wertschätzung der Dramen machen eine erfolgreiche Theaterarbeit unmöglich. Katona schrieb diese Zeilen, als neben ihm auch ein anderer Schriftsteller, zugleich einer der ersten Vertreter der romantischen Malerei in Ungarn, nämlich Károly Kisfaludy (1788–1830), seinen Siegeszug als Dramenverfasser begann und 1819 mit mehreren Schauspielen großen Erfolg hatte. A tatárok Magyarországban (1809; Die Tartaren in Ungarn, 1823) und Ilka (1823 [1819]) könnten gerade wegen jener nationalen Prahlerei kritisiert werden, die Katona verurteilte. Ein Publikum ohne differenzierten Geschmack im Blick, wiederholte Kisfaludy in seinen pseudo-historischen Trauerspielen die Rührstücke und ‚Ritterdramen‘ der vorangehenden Literaturepoche. Viel wertvoller ist sein erstes Lustspiel A kérők (1817; Die Brautwerber), welches das Biedermeier der auf dem Lande lebenden Adeligen thematisiert – dies mit Figuren wie den konservativeren, jedoch gutmütigen Älteren, dem mit lateinischen Worten prahlenden Juristen, den die Ausländer nachäffen, und den Jüngeren, die die freie Partnerwahl bei der Heirat befürworten und sich der Angelegenheiten der ungarischen Sprache, Bildung und Kultur annehmen und sie vertreten. Die Heiratskomödie geht wie beispielsweise Molières und Goldonis Schauspiele durch Missverständnisse, Irreführungen und Täuschungen ihrem beruhigenden Abschluss zu. A kérők diente lange Zeit als Vorbild der Komödie im Allgemeinen; Károly Kisfaludys Bestrebungen liefen teils parallel zu den Bemühungen des tschechischen Lustspielautors Jozef Kajetan Tyl und des Serben Jovan Sterija Popović und waren Vorbild für den mehrsprachigen slowakischen Autor Ján Chalupka, der neben einem ungarischsprachigen Lustspiel (A vén szerelmes, 1835; Der alte Verliebte) auch mehrere slowakischsprachige verfasste. Kisfaludy wurde zu einem der effektivsten Organisatoren der Literatur der 1820er Jahre. Sein Almanach Aurora (1821–1836) steht bereits im Zeichen einer neuen literarischen Epoche; seine populären Lieder wurden landesweit gesungen, seine in antiker Metrik gehaltene Elegie Mohács (1824) rief in der Formulierung „die Vergangenheit sei jetzt nur Beispiel“ zu einem „ruhmreichen Sein“ auf. Kulturübergreifende Aspekte brachte der serbisch-ungarische Autor Mihály Vitkovics [Mihailo Vitković] (1778–1829) in die ungarische Literatur ein, in dessen Haus sich die Vertreter der Pester serbischen und ungarischen Intelligenz begegneten. Vitkovics war Anhänger Kazinczys und vermittelte den ungarischen Lesern die serbische Volks- und Stadtlyrik, wobei er den serbischen Liedern eine Form des akzentuierenden Rhythmus verlieh. Er verfasste auch Verse in serbischer Sprache, übersetzte Kármáns empfindsamen Roman Fanni hagyományai unter dem Titel Spomen Milice (1816; Milicas Gedächtnis) und wirkte mit seiner Zweisprachigkeit für die Annäherung der beiden Literaturen.
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Abb. 8: Titelblatt und Notenbeilage des Taschenbuchs Aurora
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Die Entfaltung des Neoklassizismus in der ungarischen Lyrik wurde von Dániel Berzsenyi (1776–1836) verwirklicht, dessen Lebenswerk mit dem Hölderlins verglichen wurde, obwohl sich Berzsenyi in erster Linie auf Schiller (und anfangs auf Matthisson) bezog. Während seiner Schuljahre am Soproner (Ödenburger) Lyzeum vermittelten ihm die Lehrer, die die Göttinger Universität besucht hatten, ein neohumanistisches Verständnis der Antike sowie das Winckelmann’sche Ideal der Griechen, dennoch zeugen seine ersten bekannten Gedichte eher von Horaz und von der ungarischen neolateinischen Odendichtung des 18. Jahrhunderts. Die adlige Lebensauffassung, deren Erhabenheit einem Horaz’schen Ideal des Lebens entlehnt wird, ist keinesfalls als Selbstgefälligkeit zu bezeichnen, sondern wird eher durch die Präsentation eines aus dichterischen Topoi zusammengesetzten Situationsbewusstseins zur Lyrik. Mit großer Sicherheit handhabt Berzsenyi die verschiedenen antiken Strophenarten und bewegt sich von einem idealisierten freien, odenhaften Tonfall zunehmend hin zu nicht weniger odenhaften Texten, in denen aber bereits die Krisenzeichen dieses Genres erkennbar sind. Beinahe von Anfang an beschäftigte er sich mit akzentuierenden Gedichten und unternahm den Versuch, aus Gemeinplätzen des Rokoko und der Empfindsamkeit eine persönliche Lyrik zu erschaffen, doch dies gelang ihm erst, als er die Topoi der Jahreszeiten-Gedichte des schulmäßigen Klassizismus und die sprichwortartigen sententia-Verse zum Ausdrucksmedium für die Erschütterung des lyrischen Ichs umformte. In A közelítő tél (zwischen 1805 und 1808; Der nahende Winter, 1970) verwendet er die Methode der ‚Sinngebung durch Negation‘ (Berzsenyi 1979, 74): Nincs már symphonia,’ s zöld lugasok között Nem búg gerlicze, és a‘ füzes‘ ernyein A’ csermely’ violás völgye nem illatoz, […]
In der Übersetzung von Stephan Hermlin: Fort ist alle Musik, Taubengegurr verging / Dort, wo Lauben gegrünt. Unter dem Weidendach / Liegt der Bach ohne Veilchen, […] (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 46)
Parallel dazu modifizierte Berzsenyi auch die von Horaz entlehnten Bilder. Das Lob der Kriegstugenden verband er mit dem Ideal der Unterstützung von Wissenschaft und Kunst, und der moralische Appell an die Ungarn, angesichts der europäischen Veränderungen standhaft zu bleiben, wird mehrdimensionaler formuliert als bis dahin üblich. In A magyarokhoz II. (zwischen 1805 und 1808; An die Magyaren, 1970) verleiht er der aus der antiken Mythologie entlehnten Metapher unter Einbeziehung der europäischen Ereignisse noch stärkere Konturen; der
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Dichter spricht über den nationalen Geist, als müsse er erweckt werden, und differenziert nun feiner die Möglichkeiten der moralischen Tat (Berzsenyi 1979, 75): […] Nem sokaság, hanem Lélek ’s szabad nép tesz csuda dolgokat. Ez tette Rómát föld’ urává, Ez Marathont ’s Budavárt hiressé.
In der Übersetzung von Uwe Greßmann und Stephan Hermlin: […] Die Menge nicht vollbringt sie, die Wundertat / Der Geist ist’s nämlich, Volk, das zur Freiheit fand. / So wurde Rom zur Weltbeherrscherin, / Das brachte Marathon Ruhm und Buda. (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 42)
Um 1810 entstehen in knapper Folge Berzsenyis dichterische Episteln, die den aufklärerischen Glauben an die Vernunft und die Überzeugung wissenschaftlicher Richtigkeit offenbaren – mit der ergänzenden Anregung, die Vorteile des Stadtlebens zu nutzen. Das antike Metrum wird von zehn- bzw. elfsilbigen reimlosen Jamben abgelöst. Von einer Wende können wir auch in der Hinsicht sprechen, dass die dichterischen Motive der 1810er Jahre einer grundlegend neuen Anschauungsweise Platz machen: Die anhand von mythologischen Beispielen dargestellten Szenen einer ruhmreichen Vergangenheit (als Gegengewicht zur ‚entarteten‘ Gegenwart) verschwinden aus dieser Lyrik; wir treffen nicht einmal die Glorifizierung von Tugenden im Kampf. Im Gegensatz dazu werden die kulturelle Tätigkeit sowie Unterstützung der Künstler und Künste als Tugenden gewertet. Die frühere Erkenntnis, dass der ‚Heimkehrer‘ sein Ithaka nicht wiedererkennt, formt sich nun zum Bild der auf die Erschaffung wartenden Welt der Kultur um. Die Änderung im dichterischen Verständnis der Persönlichkeit wird durch das in Distichen verfasste Epigramm Napoleonra (1814; Auf Napoleon, 1970) zum Ausdruck gebracht. Hier wird nicht das Tragische der geschichtlichen Figur dargestellt, sondern deren Sturz als unabwendbare Folge der Hybris (Berzsenyi 1979, 114): Nem te magad győztél, hanem a‘ kor‘ lelke – szabadság, Mellynek zászlójit hordta dicső sereged. […] A’ melly kéz föl emelt, az ver most porba viszontag: Benned az emberiség’ űgye boszulva vagyon.
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In der Übersetzung von Uwe Greßmann und Stephan Hermlin: Du hast gesiegt? Nimmermehr! In des Zeitalters Brust war’s das Herz, die / Freiheit; dein ruhmreiches Herz trug ja das Banner für sie. / […] / Arm, der gen Himmel dich trug, jetzo schleudert er dich in den Staub hin, / Und durch den Sturz wird bestraft, wer eine Menschheit betrog. (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 43)
Auf die geistige wie prosodische Stilwende folgte nach und nach ein Verstummen Berzsenyis. Als Reaktion auf die Kritik an seinem 1813 erschienenen Gedichtband (Berzsenyi Dániel versei, Gedichte von Dániel Berzsenyi) wandte er sich gegen einige seiner Dichterzeitgenossen. Er distanzierte sich von dem bis dahin verehrten Kazinczy und nahm dessen Vorschlag bezüglich der Hochsprache nicht an, sondern bestand auf seinem eigenen transdanubischen Dialekt. In den 1820er Jahren trat er mit ein paar bedeutenden Gedichten sowie ästhetisch-kritischen Abhandlungen in Erscheinung. Die Romantik und die allmählich auftauchenden ungarischen Romantiker betrachtete er mehr oder weniger verständnislos, die Beschäftigung mit Schiller und Jean Paul führte ihn weg von Kazinczys klassizistischem Ansatz. Sein Neoklassizismus baut auf der These einer ‚harmonischen Mitte‘und besteht durchgehend auf dem durch Winckelmann vermittelten Ideal der Griechen. Berzsenyis ästhetisches Hauptwerk ist Poetai harmonistika (1833; Dichterische/ Poetische Harmonistik; der Begriff ‚Harmonistik‘ wurde von Jean Paul entlehnt), in ihm bringt er diese Prinzipien folgendermaßen zum Ausdruck: „Jede Harmonie sieht Verschiedenheiten vor und formt verschiedene Teile zum harmonischen Ganzen.“ (Berzsenyi 2011, 344, Ü: Verfasser). Dichtung ist hier Idealisierung, das poetische Schöne sowohl nützlich als auch zweckdienlich. In diesem Rahmen verweist der Autor auf die Epik von Voss’ Luise und Goethes Hermann und Dorothea und setzt sich mit der epischen Strategie der ungarischen Romantik auseinander. In Modifizierung von Schillers Dichtertypologie behauptet er, das Naive, AntikGriechische sei hochwertig, die sentimentale Schiller’sche Beschreibung jedoch Ausdruck der Selbstverteidigung. Er bezieht auch in der Debatte zwischen Goethe und Schiller über die Schluss-Szene des Egmont Position und bekräftigt das statische Erhaben-Schöne Goethes im Gegensatz zum lediglich Farbhaften. Die zur Elegie hin tendierende Ode A poesis hajdan és most (1832?; Die Poesis einst und heute) erblickt im Schönen das Wahre, Großartige und Gute und sieht in diesem Schönen den Anfang der Welt, die in der Antike ihre Vollendung findet. Die Gegenwart sei für die ‚heilige Poesie‘ nicht empfänglich; den antiken Dichtern, die als Ideal präsent werden, könne man lediglich nachtrauern. Der Gegensatz zwischen Alt und Neu (Damals und Jetzt), und das damit zusammenhängende platonisierende Weltbild wird jedoch in dieser Lyrik überholt, insofern die Grenzgänge zwischen den Wertsystemen mit einer Metaphorik dargestellt werden, die
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Abb. 9: Dániel Berzsenyi. Stahlstich von Josef Axmann nach einer Zeichnung von Miklós Barabás, 1859
die zeitlichen Dimensionen des Übergangs erfassbar macht (Horác, 1799?; Horaz [Berzsenyi 1979, 26]): Míg szólunk, az idő hirtelen elrepűl, Mint a’ nyíl ’s zuhogó patak.
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In der Übersetzung von Uwe Greßmann und Stephan Hermlin: Lebe! Jetzt gerad flieht tückisch die Zeit dahin, / Pfeilhaft oder den Fluten gleich. (Vajda– Klaniczay–Szabolcsi 1970, 44)
Der Gegensatz zwischen Gegenwart und Vergangenheit akzentuiert also nicht nur den apodiktischen Kontrast zwischen dem alten Schönen und der jetzigen ‚Stummheit‘, sondern macht darauf aufmerksam, dass mit der Hilfe der Poesie der alte Ruhm („a szent poézis és a dicső erény“ – „die heilige Poesie und die glorreiche Tugend“, vgl. A poesis hajdan és most) in der Gegenwart wieder erlebt werden können. Somit wird, als vielleicht wichtigste poetische Errungenschaft Berzsenyis, die Erfahrung des Verlustes als Problem der Vermittlung zwischen Signifikant und Signifikat thematisiert. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden auf dem Gebiet der Versepik bedeutende Werke. Kurz nach der Freilassung von Ferenc Verseghy (1757–1822) erschien in anonymer Form das komische Epos Rikóti Mátyás (1804; Matthias Rikóti), das die Wurzeln der komischen Epen von Boileau und Pope aufgreift. Die wenig handlungsreiche Geschichte des unwissenden Dorfkantors wird in der Diskussion der Querelle des anciens et des modernes dargelegt; gegenüber dem sich entfaltenden ungarischen Neoklassizismus werden evolutionistische Gedanken zum Ausdruck gebracht. Die antiken Dichter werden als außerordentliche Vertreter einer früheren, geschichtlich-kulturellen Stufe gewertet, die Werke der ‚Alten‘ seien lediglich der ‚Anfang‘ gewesen, als Fortsetzung seien die neuen ‚Erfindungen‘ zu betrachten, mit deren Hilfe die erzieherische Rolle von Kultur und Literatur zum Ausdruck gebracht werden kann. Das komische Epos mit seiner uneinheitlichen Tonlage lebe von der Möglichkeit der Travestie und versetze die griechischen Götter aus der Erhabenheit in das Komische herab; auch werden diejenigen Verfasser von Idyllen verspottet, die ihre Dorfgeschichten in die Antike zurückversetzen. Die Wichtigkeit des ‚gemäßigten Geschmacks‘ wird hervorgehoben und der Unterschied zwischen ‚Dichter‘ und ‚Versemacher‘ betont (hier kann auf ähnliche Ansichten von Csokonai und Kármán verwiesen werden). Verseghys Epos wurde von den Zeitgenossen mit Unverständnis aufgenommen, erst die späte Literaturgeschichtsschreibung vermochte ihm einigermaßen Gerechtigkeit zu verschaffen, ganz im Gegensatz zu Lúdas Matyi (1804, 1815; Der Gänse-Hias, 1944) von Mihály Fazekas (1766–1828), das bis heute Lesestoff in der ungarischen Grundschule ist. Der Dichter bearbeitet in Hexametern das bekannte Volksmärchen vom Bauernjungen, dem der Gutsherr auf dem Markt seine Gänse wegnimmt, der danach die Welt bereist und breit gefächertes Wissen erwirbt und schließlich den ungerechten Gutsherrn dreimal verprügelt. Das anti-
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Literatur
ke Metrum bedeutet kein Hindernis für die volkstümliche Darstellung, das Märchen enthält zahlreiche Gedanken und Ideen der Aufklärung: Mit Hilfe der Selbsterziehung kann man sich aus den niederen Gesellschaftsschichten emporarbeiten, Bildung, Wissen kann frei machen. Fazekas weicht von den Traditionen des komischen Epos ab und hält sich auch nicht an die der Travestie, sondern erschafft eine Variante des volkstümlichen epischen Gedichts, das in der ungarischen Literatur in den 1840er Jahren seine Fortsetzung finden sollte. Lúdas Matyi wurde zu einem der meistbearbeiteten Werke der ungarischen Literatur; mehrere erfolgreiche Volksstücke, Schauspiele, Opern entstanden auf seiner Grundlage.
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III Kunstzentrierte Entfaltung des Literarischen. 1 Die klassische ungarische Literatur 1825–1890 III.1 Klassizismus und Romantik Der Wandel der Konventionen des Lesens und Schreibens von literarischen Texten erreichte in den 1810er Jahren einen Grad, den man als literarhistorisch bedeutend bezeichnen kann. Die Veränderung der rezeptiven und produktiven Konventionen zeigt sich in erster Linie an der sich ändernden Beurteilung der beiden größten Dichter der Jahrhundertwende bzw. des Anfangs des neuen Jahrhunderts, nämlich von Mihály Csokonai Vitéz und von Dániel Berzsenyi. Csokonais Dichtkunst folgte im Grunde den Konventionen klassizistischer Poetik, doch weist sie angesichts der bleibenden weitverbreiteten Präsenz spätbarocker Kultur auch Merkmale der Barock-Rokoko-Poetik auf; besonders galt das für die Alltagspraxis des literarischen Schaffens (Gelegenheitsdichtung). Waren in Csokonais Werk auch Spuren des Individuellen oder Nationalen anzutreffen, so wurden sie bei ihm nicht zu dominanten Faktoren der dichterischen Produktion.
III.1.1 Schaffung einer lyrischen Sprechweise durch Deformation archaischer Redeweisen: die Lyrik von Ferenc Kölcsey (1790–1838) Ferenc Kölcsey, der seit 1808 unter dem Einfluss von Ferenc Kazinczys neoklassizistischer Poetik stand, trat in einer Rezension, die er 1815 verfasste, aus dieser Position heraus (Csokonai Vitéz Mihály munkájinak kritikai megítéltetések, 1815– 1817, Kritische Beurteilung des Werks von Mihály Csokonai Vitéz). So sehr er auch bemüht war, die klassizistischen Normen seines Meisters auf Csokonai anzuwenden (in erster Linie die Gattungsnorm bei der Abgrenzung der sprachlichen Register), so rückte er Csokonais Werk letztlich dennoch aus dem ursprünglichen Kontext und beurteilte es aus der mittlerweile aufgewerteten Perspektive der dichterischen Individualität und Originalität (Csetri 1990, 241). Für diese Rezension war einerseits die Unvereinbarkeit der verschiedenen Normen, andererseits die Umdeutung der klassizistischen Konventionen charakteristisch. In Kölcseys Augen waren die ‚tändelnden Lieder‘ die originellsten Äußerungen
1 Der Verfasser dieses Kapitels bedankt sich bei Katalin Blaskó und Walter Fanta für die Hilfe, die sie bei der sprachlichen Gestaltung des deutschen Textes geleistet haben.
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Abb. 10: Ferenc Kölcsey. Zeichnung von Johann Ender, dem Maler der Familie Széchenyi, 1836
von Csokonais Individualität; dass er die volkstümlich inspirierte Lyrik auch dazu rechnete, bedeutete schon das erste Zeichen nationaler Identifizierung. Die Hochschätzung von Csokonais Volksliedern wäre dennoch nicht ohne Kazinczys Billigung der Volksdichtung zustande gekommen (noch im Geist des Neoklassizismus), zu der er sich nach Goethe bekannte (Csetri 1990, 247). Berzsenyis Dichtkunst in Horaz’scher Tradition lyrischer Selbstdarstellung hat mit den sich herausbildenden Konventionen substanziell mehr zu tun als die von Csokonai. Das hob Kölcsey in seiner Kritik hervor (Berzsenyi Dániel versei, 1817, Dániel Berzsenyis Gedichte), in der er Berzsenyi zu den subjektiven Dichtern rechnet und denen gegenüberstellt, die Inspiration aus ihrem Gegenstand schöpfen. Ein weiteres Novum dieser Rezension war, dass sie die auf klassischen Reminiszenzen aufbauende Dichtkunst von Berzsenyi nach dem nationalen Charakter der Literatur beurteilt. Hier setzte sich zum ersten Mal in der ungarischen Literatur die Herder’sche Hypothese durch, nach der jede einzelne Nation einen unterschiedlichen dichterischen Geist besitze bzw. nur die Nationen, die einen
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eigenen dichterischen Geist besäßen, über eine vollwertige, auf die ganze Nation wirkende Dichtung verfügten. Die ungarische Dichtung rechnete Kölcsey nicht zu diesen; Berzsenyi beurteilte er positiv, weil er zu denen gehöre, die am meisten getan hätten, um die fremden Muster der wahren Dichtung (zumindest einem engen, gebildeten Kreis) vertraut zu machen. Durch gewisse Forderungen im Sinne der klassizistischen Poetik (z. B. nach Entsprechung von Gattung und Versform) wirkte die Rezension noch widersprüchlicher als die vorige, weswegen diese Forderungen mehr wie Enklaven in einem Text zu werten sind, der im Wesentlichen nach anderen Kriterien geschrieben wurde. Die widersprüchliche Verbreitung der neuen literarischen Normen zeigt sich in der Aufnahme der Rezensionen. Der Gesichtspunkt der individuellen Originalität – der einen neuen Horizont eröffnete – blieb im Grunde genommen ohne Widerhall; die heftige Reaktion der zahlreichen Anhänger Csokonais bezeugt, dass dessen Dichtkunst, die verschiedene Varianten des Klassizismus und die populäre Barock-Rokoko-Tradition auf hohem Niveau vereinigte, selbst dann zur Konservierung eines früheren Geschmacks führte, wenn sie selbst durch zahlreiche Elemente darüber hinaus wies. Das Prinzip der Individualität als Parameter ästhetischer Wertung fand auch im Fall der Berzsenyi-Rezension keinen Widerhall. Die literarische Öffentlichkeit war für den nationalen Aspekt vor allen neuen Prinzipien am meisten empfänglich und reagierte deswegen abweisend auf die Vorrede der Rezension, die die ungarische Dichtung wegen des Mangels an originalem Geist verurteilte; Berzsenyi selbst hingegen nahm hinter den kritischen Bemerkungen, die von den klassizistischen Konventionen herrührten, die Anerkennung aus der neuen Perspektive nicht wahr. (Als Folge der Rezension verstummte er als Dichter; entfaltete aber in den 1820er Jahren eine bedeutende poetologische Tätigkeit: Er fasste seine ganzheitliche Poesie-Auffassung mit neohumanistischem Ursprung zusammen.) Gleichzeitig trat Kölcsey selbst als Lyriker auf; seine Lyrik bewegt sich nun tatsächlich im Spannungsfeld von Klassik und Romantik – ihre Wurzeln reichen jedoch in die vorklassische Periode. Seine ersten Gedichte knüpfen an die Populärdichtung des Spätbarock an, dessen größten Erneuerer Mihály Csokonai Vitéz er als junger Mann vergöttert hatte; unter dem Einfluss von Ferenc Kazinczy, dem Doyen der ungarischen Klassik, löste er sich 1808 aus dieser Tradition und vernichtete alle seine bisherigen Gedichte. (Mit dieser Geste können einige hyperkritische Äußerungen in seiner Csokonai-Rezension erklärt werden.) Durch diesen Bruch gelangte er zur Dichtung als Selbstausdruck des modernen Subjekts. Die neuen Herausforderungen vermittelten sich aus der Poesie der Empfindsamkeit. Seine neue Lyrik steht in der existentiellen Spannung zwischen Ideal und Realität, Sehnsucht und Unerfüllbarkeit, Erhabenheit der Seele und Hinfälligkeit des Leibes. Kölcsey versucht zugleich, dieses Erlebnis mit der
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formalen Disziplin der Klassik auszudrücken (Kívánság, 1810; Wunsch, 1825, J. Mailáth; A Phantasia, 1811; An die Phantasie, 1825, J. Mailáth; A Holdhoz, 1811, An den Mond; A költő, 1813, Der Dichter). Dies gelingt ihm am besten in den Andalgások (1811, Träumereien); den Zielpunkt des Fernwehs bildet hier eine Alpenlandschaft, die vom Genius des Griechentums mit Hilfe der Dichter der Gegend vergeistigt ist. Die klassische Form scheint jedoch dem existentiellen Individualitätsprinzip zu widersprechen; die Folge ist eine emotive, bildhafte Sprache (Ideál, 1813; Ideal; Élet, 1814; Leben). Mit der Schwächung der klassischen Ausdrucksweise verblassen auch die Ideale, und die Unbegreiflichkeit der widersprüchlichen Seelenvorgänge dringt vor (Elfojtódás, 1814; Erstickung, 1850, G. Stier). Der Genius wird umgedeutet: Von ihm bekommt das Genie die Eingebung, welche die Freiheit gegenüber dem Zwang des Schicksals eröffnet (Géniusz száll …, 1813, Steigt ein Genius …). Um den Widerspruch zwischen individuellem Erlebnis und generalisierender Sprache aufzulösen, begann sich Kölcsey im Kontext einer Gemeinschaft zu äußern. Diese Wende zeigt sich zuerst thematisch: Das Vaterland, das früher als ödes Gegenbild der idealen Landschaft erschienen war, wurde jetzt zum Hauptgegenstand der Begeisterung (Rákos Nymphájához, 1814; An die Nymphe von Rákos, 1856, o. Ü. – auf der Rákos-Wiese in der Nähe von Pest fanden vom 13. bis zum 16. Jahrhundert die Reichstage statt, die den König wählten). Das Gedicht Fejdelmünk hajh … (1817; Weh unser Fürst!, 1850, G. Stier), das an den Freiheitskampf von Rákóczi gemahnt, tritt schon mit der Poesie jener Zeit in Dialog. Kölcsey kehrte also zur öffentlichen Dichtung der vorklassischen Periode zurück, dieses Verhältnis wird jedoch reflektiert: Er findet die Möglichkeit des Selbstausdrucks in der Deformation der alten Dichtersprache (Borbély 1995, 65). Diese Historisierung der poetischen Rede im Rahmen der nationalen Traditionen gehört schon in den Umkreis der Romantik. Das wirkungsreichste Gedicht Kölcseys, Hymnus (1823; Hymne, 1854, K. Kertbeny; 1961, C. D’Acy; von Ferenc Erkel 1844 vertont; ungarische Nationalhymne), das nach dem Hinweis des Untertitels „Aus des ungarischen Volkes gewitterschweren Jahrhunderten“ stammt, beruht auf der verbreiteten These aus der Türkenzeit, Gott bestrafe das Ungarntum für seine Sünden. Der Redner, ein Wanderprediger, fleht als Fürsprecher der Nation um Gottes Gnade unter Berufung auf eine Epoche jahrhundertelangen Leidens (siehe dazu: Dávidházi 1996). Das Gedicht Vanitatum vanitas (1823; Vanitatum vanitas, 1897, I. HechtCserhalmi) spricht die Tradition der frühneuzeitlichen weltlichen Vanitas-Literatur an (siehe dazu: Borbély 1995, 58–63). Die Vergeblichkeit und Winzigkeit aller menschlichen Bestrebungen und Weisheiten werden jedoch nicht aus der jenseitigen Perspektive, sondern aus dem Blickwinkel des ‚Weisen‘ dargestellt. Durch
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seine Argumentation löst der Redner seine eigene Position selbst auf; die Ironie wendet sich gegen das selbstgefällige absolute Subjekt. Die Erkenntnis der Traditionsbedingtheit der Dichtkunst führt naturgemäß zur Volkspoesie; durch Stilisierung des Volkslieds schafft Kölcsey eine eigentümliche Ausdrucksform in der Liebeslyrik (Bú kél velem, 1821, Gram erwacht mit mir; Esti dal, 1824; Abendlied, 1882, J. Steinbach; Hervadsz …, 1825; Du verwelkst …, 1970, A. Bostroem). Er stellte in dieser Art auch das alte Thema des Fernwehs gelungen dar (Csolnakon, 1822; Lied im Kahn, 1828, Gy. Tretter). Alte Themen werden durch epische Distanzierung neuartig zum Ausdruck gebracht, wie die ideale Liebe (Endymion, 1824); Volkspoesie und epische Distanz wird in der Gattung der Ballade vereinigt (Dobozi, 1821; Dobozi, 1828, Gy. Tretter; A csákányi vérmenyekző, 1823, Die Bluthochzeit zu Csákány). An Hymnus knüpfen zwei bedeutende Rollengedichte der Spätperiode an, Zrínyi éneke (1830; Zrínyis erstes Lied, 1850, G. Stier) und Zrínyi második éneke (1838; Zrínyis zweiter Gesang, 1850, G. Stier; 1961, C. D’Acy). Beide gestalten das zu Kölcseys Zeit weit verbreitete Thema der Gegenüberstellung von ruhmvoller Vergangenheit und verfallener Gegenwart; das Ich der Gedichte ist jedoch der Held und Dichter der Türkenzeit, der hier als Fürsprecher der Nation auftritt. Beide Gedichte sind Dialoge; im ersten gibt Zrínyi seine Position unter Wirkung der anklagenden Fragen eines Wanderers am Ende auf, im zweiten fleht er das Schicksal an, das aber die Sünden der ungarischen Nation satt hat und sie zum Untergang verurteilt. Die Generation der Romantik war von Kölcseys Dichtkunst tief beeinflusst. Die spätere Rezeption wurde von der herausragenden Rolle der Hymnus geprägt; nur wenige seiner Gedichte wurden in den nationalliterarischen Grundkanon aufgenommen, diese üben jedoch eine starke und dauernde Wirkung aus. Trotz seiner Bedeutung spielte das essayistische Werk von Kölcsey, das in drei Jahrzehnten (1808–1837) geschaffen wurde, in der ungarischen Literatur nie eine ähnlich zentrale Rolle wie die Poesie. Als Lyriker wurde er durch seine Rolle als Dichter der ungarischen Nationalhymne aufgewertet. Daneben stellte es sich als hinderlich heraus, dass seine Kritiken dem herrschenden Geschmack widersprachen und die philosophischen Essays sich nicht der cartesianisch-kantischen Tradition anschlossen.
III.1.2 Kölcseys Theorie der Nationalliteratur im Zeichen der Singularität der Großsubjekte Kölcsey hatte im Reformierten Kollegium in Debrecen eine gediegene klassische Bildung erhalten, der konservative Geist der Schule blieb ihm jedoch fremd.
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Deshalb schloss er sich 1808 Ferenc Kazinczy an, der sich um die Erneuerung der ungarischen Literatur bemühte und mit seinem Programm für eine neue, der Herrschaft des Schönen unterworfene Literatursprache eine landesweite Diskussion auslöste. Diese verschärfte sich 1813, als konservative Literaten ein Pamphlet gegen Kazinczy veröffentlichten (Mondolat – das Wort ist eine misslungene Ableitung der Sprachneuerer aus ‚sagen‘ bzw. ‚Satz‘ und bedeutet ‚Rede‘). Kölcsey verfasste mit seinem Freund Pál Szemere Felelet a Mondolatra (1815, Antwort auf ‚Mondolat‘), die an Schärfe des Tons das Pamphlet noch übertraf. Die beiden angeführten Kritiken Kölcseys, von der Öffentlichkeit als Verkörperungen der Ideen Kazinczys aufgefasst, lösten eine heftig ablehnende Reaktion aus und entschieden damit den Wettstreit um die Kanonisierung der Dichter zugunsten der Gegner von Kazinczy. Kölcsey hielt es in seiner Funktion als Kritiker für nötig, Prinzipien der literarischen Kritik festzulegen. In Jegyzetek a Kritikáról és Poesisről (1816, Anmerkungen über Kritik und Poesie) betont er einerseits die Möglichkeit allgemeiner Gesetze des Schönen, andererseits die wechselseitige Bedingtheit von poetischem Talent und ästhetischer Gelehrtheit. In der Absicht, Gesetzmäßigkeiten im Bereich der literarischen Ästhetik zu vermitteln, übersetzte er ab 1820 die Fragmente über Handlung, Gespräch, und Erzählung von Johann Jakob Engel. In der Abhandlung Ízlés (1823, Geschmack) gelangt er nach einer historischen Übersicht zu der Folgerung, dass Subjektivität im ästhetischen Urteil unvermeidlich sei. Als Redakteur der Zeitschrift Élet és Literatura (Leben und Literatur) publizierte er die Kritik Körner Zrinyijéről (1826, Über Körners Zrínyi); Körners Werk verurteilte er darin wegen der Unvereinbarkeit des epischen Themas mit der Gattung des Dramas. In der Rezension der Komödie A leányőrző (1827, Mädchenwächter) von Károly Kisfaludy spiegelt sich die Verunsicherung des Kritikers, insofern er eher die Gattung als das Werk selbst betrachtet. 1830 äußerte sich Kölcsey das letzte Mal zu theoretischen Fragen der Kritik. Gegen seine früheren Zweifel plädierte er nun für die Möglichkeit und Notwendigkeit objektiven kritischen Urteils, um den Kritikai lapok (Kritische Blätter), dem Organ der jüngeren Generation, Schwung zu verleihen. Schon als Student hatte Kölcsey intensive philosophische Studien getrieben, um moralische und ästhetische Urteile begründen zu können. Die metaphysische Gewissheit Descartes’, zu der er auf dem Weg des griechischen Idealismus gelangt war, wurde durch D’Holbach und Kant erschüttert. In seinem Essay Görög filozófia (1823, Griechische Philosophie) rechnet er mit der Voraussetzungslosigkeit der griechischen Philosophen ab; das theoretische Denken sei von der ihm vorangehenden mythischen Tradition nicht zu trennen. Andererseits wendet er sich gegen die herrschende Tradition der europäischen Philosophie, die entgegengesetzten Positionen des Rationalismus und des Empirismus hätten
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sich gegenseitig zerstört und den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik aus den Angeln gehoben. Gewissheit als unentbehrliches geistiges Gut verknüpft Kölcsey mit Religion, und er betont die Inkompetenz der Philosophie in Fragen des Glaubens. In seiner Abhandlung Töredékek a vallásról (1814–1827, Fragmente über Religion) geht er von einer Uroffenbarung aus und erklärt die Verschiedenheit der Religionen mit der kulturellen Differenzierung der Menschheit. Die Abhandlung behandelt das Verhältnis zwischen den Religionen bzw. die Geschichte des Christentums mit besonderer Berücksichtigung der Reformation. Die religiöse Intoleranz sei eine anthropologische Anlage, die aber durch Aufklärung beseitigt werden könne. Aufklärung der Vernunft und des Herzens wird nach Pierre Bayle unterschieden und die Klärung der religiösen Fragen – dadurch auch die Vereinigung der Konfessionen – von Letzterer erwartet. Gegen Charles Villers argumentierend, verurteilt Kölcsey die Reformation gerade wegen ihres rationalistisch-empirischen Zugangs zu Fragen des Glaubens. Die Autorität der Kirche sei so in einer Epoche verletzt worden, in der die Völker Europas ihre ursprüngliche Wildheit noch nicht abgestreift hätten. Die Klärungsprozesse im Christentum hätten sich ohne Reformation in weniger Konvulsionen vollzogen. Bei der Erörterung von Entwicklungsfragen der europäischen Literaturen erhielt der Evolutionsgedanke eine zentrale Rolle. Die Abhandlung Nemzeti hagyományok (1826, Nationale Traditionen), deren Voraussetzungen von Herder und den Brüdern Grimm stammen, wendet die von Friedrich Schlegel eingeführte Typologie der organischen griechischen und der anorganischen lateinischen Entwicklung an. Kölcsey beurteilt die Möglichkeit einer organischen Entwicklung skeptisch. Der Verlust eigener Mythologien bzw. die Vernachlässigung eigener poetischer Traditionen zugunsten fremder Muster würden unüberbrückbare Klüfte aufreißen. Eine Alternative könne die gemeinsame europäische Kultur bieten; die nationale Trennung der Kulturen – angesichts der Sprachen, die den Grund der Literaturen ausmachen – verhindere jedoch die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Literatur. In diesem Dilemma spricht sich Kölcsey schließlich für „nationale Literaturen“ aus. Der Essay Mohács (um 1830, Mohács) richtet die Aufmerksamkeit anlässlich des 300. Jahrestages der größten Katastrophe in der Geschichte Ungarns auf die Bedeutung des historischen Gedächtnisses nationaler Gemeinschaften. Ein weiterer historischer Essay Történetnyomozás (1833, Geschichtsfahndung) auf den Spuren von Schillers Antrittsrede in Jena über Universalgeschichte vertritt den Standpunkt der Historiker, welche die disparaten Ereignisse der Vergangenheit auf die Gegenwart beziehen. Die stärkste Wirkung übte Kölcsey mit der These aus, eine Nation könne erst eine vollwertige Literatur besitzen, wenn dieser die Volkspoesie zugrunde liege, denn sie sei die einzige Form der Dichtung, in der sich die poetische Eigentümlichkeit einer Nation bewahrt. Diese These diente im 19. und noch im 20. Jahrhundert der
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einflussreichen literarischen Volkstümlichkeits-Bewegung als Argumentationsgrundlage.
III.2 Entfaltung der romantischen Literatur III.2.1 Besonderheiten der ungarischen Romantik Bei der Aufnahme von Kölcseys Rezensionen von 1817 und bei der Wirkung, die sie auf das literarische Bewusstsein ausübten, spielte der Strukturwechsel innerhalb der literarischen Öffentlichkeit eine Rolle. Obwohl die Zeitschrift Erdélyi Muzéum (Siebenbürgisches Museum, 1814–1818), deren Redakteur Gábor Döbrentei Kölcsey zur Abfassung der Csokonai-Rezension auffordert hatte, noch einen breiten Literaturbegriff beherzigte, musste der Redakteur auf Leser Rücksicht nehmen, die Literatur des ästhetischen Genusses wegen lasen. Nachdem 1814 Kazinczys negative Kritik an Sándor Kisfaludy erschien, einen der populärsten Dichter der Zeit, ging die Auflage der Zeitschrift stark zurück. Darum suchte Döbrentei Kölcsey zu bewegen, die Schärfe seiner Csokonai-Rezension zu mildern; nachdem dieser dazu nicht bereit war, sah sich Döbrentei schließlich gezwungen, die Veröffentlichung zu verweigern. Kölcseys Rezensionen erschienen darauf in Tudományos Gyűjtemény (Wissenschaftliche Sammlung), einer 1817 gegründeten enzyklopädischen Zeitschrift. Deren Charakter bestimmte der Wandel im Bildungsideal des Adels: Jetzt setzte sich die Tendenz durch, die sich seit einem halben Jahrhundert angekündigt hatte, beschleunigt durch den misslungenen Adelsaufstand gegen Napoleon 1809, die statt militärischer Tüchtigkeit bei der nationalen Selbstbestimmung des Adels die Bildung in den Mittelpunkt rückte. Während die Csokonai-Rezension von der Leserschaft, die seine Lyrik mochte, heftig abgelehnt wurde, bemängelte die Redaktion der Tudományos Gyűjtemény, die der nationalen Kultur verpflichtet war, die Berzsenyi-Kritik wegen ihrer kritischen Bemerkungen über die ungarische nationale Poesie. Das Bildungsmodell in Tudományos Gyűjtemény, stark vom Nationsdiskurs geprägt, war in den ersten anderthalb Jahrzehnten der Zeitschrift für jede Erscheinung der europäischen Bildung offen und folgte den Akzentverschiebungen im nationalliterarischen Diskurs. Hier erschien 1818 der Text, der als erster dem Unterschied zwischen ‚altem und neuem Dichten‘ Rechnung trug. Der Verfasser József Teleki (der am besten vorbereitete Gegner Kazinczys in der Spracherneuerungsdebatte) rekurriert, Schiller, Bouterwek, August Wilhelm Schlegel und Jean Paul folgend, auf die gegensätzliche Typologie der griechischen und der neueren christlichen Dichtung. Er kommt in der Abhandlung zu der Schlussfolgerung, die auf der Opposition von ‚fremd‘ und ‚vertraut‘ basiert und mit der Position der westeuropäischen Früh-
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romantiker identisch ist, dass die moderne Dichtung – allen Anstrengungen der Franzosen zum Trotz – notwendigerweise romantisch sei, weil „das alte Dichten der Denkweise der neueren Nationen nicht entspricht“; deswegen begrüßt er, dass die „heimische Poesie“ vom „französischen Joch, unter dem sie wie mehrere andere Nationen leide“, befreit werde (69 f.). Die Abhandlung enthält den Gegensatz zwischen der Simplizität der griechischen Harmonielehre und der gedanklichen Komplexität der weniger harmonischen modernen Dichtung ebenso wie die frühromantische These von der „unendlichen Annäherung“ (Teleki József: A régi és új költés külömbségeiről. In: Tudományos Gyűjtemény 1818.2, 48–73; Über die Unterschiede zwischen alter und neuer Dichtung). Einen wichtigen Schritt zur Verbreitung des romantischen Geschmacks und zu seiner literarischen Emanzipation tat Károly Kisfaludy, der als Dramatiker, Lyriker und Maler im literarischen Leben schon in den 1810er Jahren eine wichtige Rolle gespielt hatte. Kisfaludy gab in Pest nach dem Muster der westeuropäischen Musenalmanache ein Taschenbuch unter dem Titel Aurora heraus. In dessen Programm verkündete er Originalität im nationalen und individuellen Sinn sowie ästhetische Autonomie und fixierte den Literaturbegriff in der Bedeutung von ‚schöner Literatur‘. Er bezog aber zugleich mehrere Medien in die ästhetische Kommunikation ein und realisierte typisch romantische Synästhesien, indem er neben Gedichten und Novellen auch Kupferstiche und Noten publizierte, die oft miteinander verknüpft waren. Aurora stellte einen Wendepunkt in der Herausbildung eines ungarischen Lesepublikums dar; die Zeitschrift wurde zum ersten Organ der unterhaltenden ungarischsprachigen weltlichen Literatur, das regelmäßig auf der Basis freien Verkaufs erschien; damit wurde einem selbständigen literarischen Pressewesen der Weg geebnet. Von 1825 an versammelte sie im Zeichen der ästhetischen Autonomie und der nationalen und individuellen Originalität die neue Dichtergeneration hinter sich. Zur Befestigung der neuen Richtung rief József Bajza 1830 die Kritikai lapok (Kritische Blätter, 1831–1836, erschien jährlich) ins Leben, die seiner Absicht nach ein dem Gedanken der ästhetischen Autonomie verpflichtetes Organ der prinzipienfesten Kritik sein sollte (Aurora publizierte keine Kritiken). Die wichtigste Bestrebung Bajzas bestand darin, die Literatur im Zeichen des neuen Geschmacks zum Forum der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu machen. Die Zeitschrift entwickelte sich aber wegen Bajzas scharfem polemischem Stil zu einem Forum von Literaturdebatten. Die Rolle eines selbständigen literaturkritischen Organs im Sinn der Programmatik der Romantik fiel zuerst Pál Szemeres Blatt Élet és Literatura (Leben und Literatur, 1826–1833, erschien jährlich, seit 1830 unter dem Titel Muzárion) zu, dessen wichtigster Mitarbeiter sein Freund Ferenc Kölcsey war. Dem Taschenbuch Aurora trat Felsőmagyarországi Minerva (Oberungarische Minerva, erschien vierteljährlich) entgegen, von Graf József
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Dessewffy herausgegeben und den klassizistischen Geschmack präferierend; dieses Organ konnte die immer stärker werdende Position von Aurora und den Vertretern der neuen Richtung aber nicht gefährden. Das Netzwerk der Konventionen um die sich entfaltende literarische Romantik weist in Ungarn aus mehreren Gründen ein abweichendes Bild von der englischen und deutschen Frühromantik auf, aus denen sie hervorgegangen war. Die Epochenschwelle selbst ist schwer festzulegen, da sich die Anhänger der ‚neuen Dichtung‘ – trotz der Typologie Telekis – nicht im Gegensatz zur Klassik definierten und in ihrer Praxis oft die poetischen Mittel des Klassizismus verwendeten. Damit steht im Zusammenhang, dass die ‚zweite Reihe‘ der Dichtkunst von der romantischen Poetik nahezu unberührt blieb – für diese Dichtkunst ist vielmehr das Verschmelzen von Konventionen des Klassizismus und der Empfindsamkeit charakteristisch (Szegedy-Maszák 1995, 125). Es besagt einiges, dass auch József Bajza, einer der führenden Lyriker der Aurora, diesen Typus von Lyrik vertrat. Die Popularität dieser Dichtkunst bestätigt sich in ihrer kontinuierlichen Präsenz bis zum letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts (Mihály Tompa, Gyula Reviczky) und darin, dass sie sogar den im Grunde romantischen Dichter Sándor Petőfi nicht unberührt ließ. Zur Eigentümlichkeit der ungarischen Romantik zählt auch, dass dem Anspruch ‚Expansion des schaffenden Ichs‘ und ‚Unbegrenztheit der schöpferischen Phantasie‘ in der ungarischen Literatur von Anfang an der von Herder und der englischen Common-Sense-Philosophie inspirierte Gedanke der Prägung des Genies durch sprachlich-kulturelle Tradition das Gegengewicht hält, obwohl der Anspruch des schaffenden Ichs und der schöpferischen Phantasie früh in Erscheinung tritt: József Katona bezeichnet die Zensur in seinem Aufsatz von 1821 nicht als Hindernis bei der Verbreitung der Gedanken, sondern bei der Entfaltung des dichterischen Ichs. Gábor Döbrentei, der, Kants Kritik der Urteilskraft folgend, das Genie als geistiges Talent definiert, „durch das die Natur für die schönen Künste die Regeln festsetzt“, verbindet die beiden Begriffe der Originalität, den der individuellen Schöpfung und den der Nationalliteraturen, miteinander und stellt fest, dass das Genie erst dann Bedeutendes schaffen könne, wenn es in eine eigene, selbständige dichterische Tradition (die aber ihren Höhepunkt noch nicht erreicht habe) hineingeboren sei, die es neu gestalte (Eredetiség ’s jutalom tétel. In: Erdélyi Muzéum, 1814.1, 142–162; Originalität und Preisausschreiben). Der Umstand, dass die nationale Originalität eine so wichtige Stellung in der ungarischen Romantik einnimmt, hängt mit der Besonderheit der ostmitteleuropäischen gesellschaftlichen Entwicklung zusammen. In der Relation von Modernisierung und Nationalisierung der Gesellschaft hat sich hier – im Gegensatz zur westeuropäischen Tendenz – Letztere als dominant erwiesen. Die Entfaltung der
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Erfahrung jener Entfremdung, die der bürgerlichen Lebensform entspringt und wegen der späten und langsamen Ausbreitung der städtischen Lebensform in Ungarn sowieso schwach aufgetreten war, wurde durch die nationale Ausrichtung der Literatur gehemmt. Die religiöse Inspiration, der in der westeuropäischen Frühromantik ebenfalls eine zentrale Rolle zugefallen war, wurde einer historischen Teleologie untergeordnet, die den Rahmen der Entfaltung der Nation bildete und ihren typischen Ausdruck im Topos ‚Gott der Ungarn‘ fand. Es kann solchen Akzentverschiebungen zugeschrieben werden, dass die ungarische literarische Romantik nicht vom Kult des Übernatürlichen und der irrationalen Seelenkräfte durchdrungen war, sie kündigte das Programm der dichterischen Entschlüsselung der Sprache der Natur nicht an – ebenso wenig konnte sich auch die Tatsache, dass Herders Kulturanthropologie ins Zentrum der philosophischen Reflexion rückte bzw. dass die Volkstümlichkeit, die auf der Herder’schen These von der Autonomie der nationalen Kulturen basierte, zu einer selbständigen Bewegung entwickeln (siehe dazu: Szegedy-Maszák 1995, 120–123).
III.2.2 Paradigmen kollektiver Identität: Hungarus-Intelligenz, Adelsnation und Traditionsgemeinschaft Das Interesse der westeuropäischen Romantik, in der eigenen Vergangenheit die organische Einheit zu suchen, fand seinen Gegenstand fast notwendigerweise in der ritterlich-katholischen Kultur des Mittelalters. Wenn ähnliche Bestrebungen in der ungarischen Literatur auch auftauchen (Beispiele von protestantischen Schriftstellern mit Sympathie für den Katholizismus als organisches historisches Gebilde liegen vor; man denke an Kölcseys Abhandlung über die Religion oder das Interesse für Ludwig den Großen, den ‚Ritterkönig‘ und seine Zeit), richtete sich die Suche auf die eigene ‚organische‘ Vergangenheit und nationalen Wurzeln. Dabei mochte eine Rolle spielen, dass in der ungarischen Literatur als ‚romantisch‘ geltende Thesen eine entscheidende Position einnahmen, als in England die Auffassung durchdrang, dass „a nation must revert to the ancient spirit of its own“, und „the living and creative spirit of literature is its nationality“ sei (Zitat aus Blackwood’s Edinburgh Magazine 4 (1818), 266, zit. nach Wellek 1963, 153), und sich das Denken über die organische Vergangenheit der Dichtung auch im deutschen Sprachraum in die volkstümlich-nationale Richtung wandte. Die größte Wirkung erzielten in Ungarn Friedrich Schlegels literaturhistorische Vorträge mit ihrer nationalen Grundlegung (Geschichte der alten und neuen Literatur, 1812–1815). Diese Wirkung hängt offensichtlich auch damit zusammen, dass Schlegel, der während seines halbjährigen Aufenthaltes in Ungarn 1809
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Kenntnisse über die ungarische Literatur erworben hatte, in seinen Vorlesungen ein kurzes Kapitel den ungarischen Heldenliedern widmete („Gewiß ist es, daß die Ungarn in ihrer Stammsprache eine eigenthümliche Heldenpoesie auch schon in sehr alten Zeiten besessen haben“, Zweyter Theil, Zehnte Vorlesung, 50–55). Einen ähnlichen Einfluss übte die auf dem Gegensatz zwischen Naturpoesie und Kunstpoesie aufbauende Sicht der Dichtungsgeschichte seitens der Brüder Grimm aus, die die Wirkung von Herders kulturellem Relativismus verstärkte und auf dem Prinzip der Singularität der Völker als Großsubjekte beruhte. Diese Akzentverlagerung brachte es mit sich, dass die Prämissen der Frühromantik mit ihrer Betonung des Individuums, der Natur und der Religion zumeist im Rahmen sprachlich-kultureller und nationaler Präliminarien erschienen. All die Bestrebungen im Sinne des ‚nationalen‘ Charakters der Literatur waren indessen nicht einheitlich. Im ethnisch vielfältigen Ungarn blieb bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unbestimmt, in welchem Maß die Sprache als Kriterium der Nationalliteratur gelten durfte. Während der beiden vorangegangenen Jahrhunderte hatten in der ungarischen Literatur Latein oder Deutsch schreibende Literaten ohne ungarische Sprachkenntnisse eine Rolle gespielt, die als Bewohner von Hungaria ein starker Patriotismus mit Ungarn – mit dem ungarischen Staat (‚Hungarus‘-Patriotismus) – verband; dies vertraten sie, meistens als Autoren von historiae litterariae, auch in ausländischen Foren (Tarnai 1969, 80– 84). Mit der Verengung des Literaturbegriffs bildete sich ein Typus von Dichtung heraus, der in seiner Sprache nicht ungarisch war, in seiner Selbstbestimmung aber – und dadurch auch in seinen Themen, Gattungen und Formen – der ungarischen Literatur angehörte; er unterschied sich von der ‚ungarischen‘ Literatur Ungarns außer durch die Sprache in einigen speziellen Merkmalen, z. B. betrachtete die deutschsprachige Literatur nicht den landnehmenden Árpád, sondern den staatsgründenden Stephan oder König Matthias als zentrale Figuren der ungarischen Geschichte (Tarnói 1998). Diese integrative Tendenz war in erster Linie für die Literatur der in Ungarn lebenden Deutschen charakteristisch, die damit ihre Identität gegen die Deutschen im ‚Altreich‘ bestimmten. Die Entfaltung der ungarischen Literatur auf Deutsch (Slowakisch, Rumänisch, Serbisch) wurde dadurch gestört, dass der Sprache wie überall in Ostmitteleuropa im Prozess der Vereinheitlichung des Nationalbewusstseins auch in Ungarn seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle zufiel. Das Schicksal der Staatsgemeinschaft (und dadurch letzten Endes das Schicksal des Königreichs Ungarn als Staat) wurde dadurch besiegelt, dass die Nationalsprachen in den nationenbildenden Prozessen der ostmitteleuropäischen Großregion zentrierend wirkten und die ethnischen Gruppen des Landes sich zunehmend aufgrund der Sprache als Nation definierten; es wurde unvermeidlich, dass dies auch mit der ungarischen Sprache geschah.
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Die nationskonstituierende Rolle der ungarischen Sprache war selbst in dieser Situation noch nicht eindeutig, denn sie war in zwei weiteren Konzepten von ‚Nation‘ mit unterschiedlichen Funktionen konnotiert. Das Nationalbewusstsein des Adels, der im Feld der Kultur und Literatur bis jetzt Hauptakteur war, knüpfte sich an die ‚Herkunft‘. Dieser Begriff insinuierte die Bedeutung, die Mitglieder der Nation seien Abkömmlinge der freien Gemeinschaft der Vorfahren, die einst die Landnahme vollzogen hatten. Zwar verengte sich die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft; Simon Kézai, der in seiner Chronik am Ende des 13. Jahrhunderts das Narrativ der nationalen Herkunftsgemeinschaft schuf, schloss aus ihr die Bauernschaft aus. Die Ahnen der Bauern wären in Knechtschaft geraten, weil sie sich feige geweigert hätten, das Vaterland mit Waffen zu verteidigen; aus diesem Grund hätten sie ihre Freiheit verloren. Die Nation erfuhr in dieser Weise eine Gleichsetzung mit dem Adel. Andererseits erweiterte sich in dieser Argumentation die Herkunftsgemeinschaft, nämlich durch die Inkorporation jener ‚Fremden‘, die an der Verteidigung des Vaterlandes teilnahmen, die dadurch Teil des Adels und zugleich der Nation geworden waren. In dieser Auffassung von Nation ist das Element ‚Ursprung‘ zugleich Quelle für Machtlegitimation. Dem Staat wird wohl eine Rolle zugewiesen, diese ist jedoch der der Herkunftsgemeinschaft untergeordnet. Der Adel, Erbe der Landnehmer, übertrug einen Teil seiner Macht dem Herrscher, blieb aber Quelle und Hüter der Macht. Die Heilige Krone symbolisiert also die Macht der Nation als Herkunftsgemeinschaft, der Adel kann dem Herrscher die Macht jederzeit nehmen, die Untertanen sind in Wahrheit auch Untertanen des Adels. Dies ist kurz gefasst das traditionelle Nationsbewusstsein des ungarischen Adels vom 13./14. bis ins 19. Jahrhundert. (Eine der wichtigsten Ursachen für Konflikte innerhalb der gemeinsamen österreichisch-ungarischen Geschichte bestand eben darin, dass der Gedanke der Staatsgemeinschaft in beiden Reichshälften der Monarchie in einer grundsätzlich unterschiedlichen Weise ausgeprägt war. Während auf der österreichischen Seite die Dynastie über alles gesetzt war, waren auf der ungarischen Seite die Person und die Familie des Herrschers prinzipiell der Freiheit des Adels untergeordnet.) Nation als Traditionsgemeinschaft hingegen bedeutete, jeder sei Mitglied der Nation, der an der gemeinsamen Kultur teilhabe und dadurch an dem Vorrat an Erfahrung und Wissen, der mit der Kultur vererbt wird. Diese Tradition, die ursprünglich die ganze Gemeinschaft, wie sie ins Karpatenbecken gelangt war, umfasste, beschränkte sich immer mehr auf die Bauernschaft, so wurde sie auch inhaltlich enger, da der höher gebildete Adel immer mehr unter westlichen kulturellen Einfluss geriet und der Klerus, der das religiöse Element der Bildung vertrat, von vornherein einem ‚fremden‘ kulturellen Muster gefolgt war. Der Nationsbegriff, der auf der Tradition beruht, begann aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das Nationsbewusstsein einer Intellektuellengruppe zu prägen,
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die – nach Herder, den Brüdern Grimm und nach den Wiener Vorträgen von Friedrich Schlegel – eine eigentümliche sprachlich-kulturelle Matrix zur Grundlage der Nation erklärte. Die drei Formen des Nationsbewusstseins existierten über Jahrhunderte nebeneinander und ineinander verflochten. Dem ungarischen Adel war – wenn auch in unterschiedlichem Maße – bewusst, dass er Mitglied der Traditionsgemeinschaft war. Andererseits bedachte auch die Intelligenz mit Hungarus-Bewusstsein, dass das Prinzip der Staatsgemeinschaft im Nationsbewusstsein des Adels seiner Freiheit untergeordnet ist (Szűcs 1997). Die Rolle der Sprache war dem Nationsbewusstsein, dem zufolge Nation Traditionsgemeinschaft bedeutet, nur natürlich. Hier stand der Begriff der Nation von Haus aus in engster Verbindung mit dem der Sprache und der von ihr erhaltenen kulturellen Tradition. (Den Widerspruch zwischen der sprachlich-ethnischen Vielfalt Ungarns und der nationsbildenden Rolle der gemeinsamen kulturellen Tradition versuchte Ferenc Pulszky in einer Abhandlung von 1838 aufzuheben, in der er das gemeinsame historische Gedächtnis und das daraus entspringende Gefühl der Solidarität für den Sinn der Tradition hielt.) Desto weniger natürlich musste die nationskonstituierende Rolle der Sprache dem Nationsbewusstsein des Adels erscheinen. Seine nationale Identität – seine Einheit, Freiheit und Ursprungsgeschichte – war vielmehr an die lateinische Sprache gebunden. Dazu noch gelangte die finno-ugrische Verwandtschaft des Ungarischen zu der Zeit ans Tageslicht, als der Faktor ‚Sprache‘ für die Definition von ‚Nation‘ wichtig wurde. Die These von der finno-ugrischen Verwandtschaft drohte dem Herkunftsbewusstsein eine Grundlage zu entziehen, nämlich die von der hunnisch-ungarischen Verwandtschaft. Der Adel geriet in eine Zwangssituation, als sich der Prozess der Einführung des Ungarischen als Amtssprache nach dem Tod Josephs II. beschleunigte. Die Anerkennung der nationskonstituierenden Rolle der ungarischen Sprache unterstützte im Nationsbewusstsein des Adels paradoxerweise ‚Herders Prophezeiung‘, demnach wären die Ungarn „jetzt unter Slawen, Deutschen, Wlachen und andern Völkern der geringere Theil der Landeseinwohner, und nach Jahrhunderten wird man vielleicht ihre Sprache kaum finden.“ (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Dritter Theil, Sechzehntes Buch, 1791). Diese Mahnung bewegte den Adel dazu, den Verderb der Nation – den er bis jetzt mit dem Niedergang des alten Kriegsruhmes erklärte – mit der Vernachlässigung der Nationalsprache zu begründen. Je mehr die ungarische Sprache in seinem Bewusstsein zum bestimmenden Faktor der Nation wurde, desto mehr rief in ihm die Möglichkeit des Verschwindens der ungarischen Sprache das Schreckgespenst des Todes der Nation hervor. Ins Nationalbewusstsein des Adels war die ungarische Sprache jedoch nicht als das Medium der ‚eigentümlichen‘ kulturellen Überlieferung eingetreten (als das sie im traditionsgemeinschaftlichen Nationsbewusstsein erschien), sondern als die ‚Sprache der
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Urväter‘, eine wichtige Garantie für die Identifikation mit der Herkunft. Die Eigentümlichkeit der Sprache spielte dabei keine Rolle, die Vertreter dieser Konzeption traten etwa für die Übersetzung von Werken aus der westeuropäischen Kultur ein; die Bildung wird national, behaupteten sie, auch und gerade wenn ihre Sprache die Sprache der Urväter wird. Die nichtungarischsprachige Intelligenz mit Hungarus-Bewusstsein war also an einem Scheideweg angekommen: Der Entscheidungszwang bestand darin, eine nationale Identität entweder aufgrund der Muttersprache oder aufgrund des traditionellen Hungarus-Patriotismus zu wählen, der von nun an von der ungarischen Sprache (‚Sprache der Nation‘) nicht mehr abtrennbar war. Die überwiegende Mehrheit der Vertreter dieser Gruppe löste das Problem im Sinn ihrer sprachlichen Identität und identifizierte sich mit der serbischen, slowakischen, rumänischen Literatur. Diese Literaten übernahmen im Verhältnis der nationalen Kulturen in Ungarn eine dissimilative, zentrifugale Funktion. Diejenigen jedoch, die sich für die deutsche Sprache und Kultur entschieden, wurden früher oder später zu Fremden in der eigenen Heimat, wie der Fall des „in Wien gebürtige[n] Schriftsteller[s] Leopold Aloys Hoffmann“ zeigte, „des ersten Lehrstuhlinhabers der Pester Germanistik, der nach einem knappen Jahrzehnt Ungarn, die Wahlheimat, verlassen zu müssen glaubte“ (Tarnói 1998, 319–320). In den 1810er und besonders in den 1820er Jahren spielten zweisprachige Literaten eine wichtige Rolle, die an der Grenze von Staatsgemeinschaft und Herkunftsgemeinschaft standen und zu ungarischen Mitarbeitern des großen Unternehmens von Joseph Freiherr von Hormayr wurden, des Archivs für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst, bzw. des Taschenbuchs für die vaterländische Geschichte. Sie – vor allem Aloys Freiherr von Mednyánszky (Alajos Mednyánszky) und Johann Freiherr von Mailáth (János Majláth) – blieben der Tradition der Hungarus-Intelligenz treu, sie unterstützten die Positionen des ungarischen Adels und verteidigten die Würde ihrer Heimat vor dem Ausland. Sie verwendeten ihre deutsche Sprache und ihre umfassende Kenntnis der deutschen Kultur und österreichischen Geschichte dazu, das historische Narrativ der ungarischen Adelsnation und die ungarische Literatur für österreichische und deutsche Leser zugänglich, akzeptabel und rezipierbar zu machen. Der Transit zwischen den Sprachen bedeutete für sie keine große Schwierigkeit. Typisch ist, dass Mednyánszky seine ungarische Volkssagensammlung, eine wichtige Quelle, zuerst auf Deutsch publizierte (Erzählungen, Sagen und Legenden aus Ungarns Vorzeit, 1829; ungarisch: Elbeszéllések, regék ’s legendák a’ magyar előkorból, 1832, A. Nyitske – P. Szebényi). Zugleich trat er schon 1817 entschlossen dafür ein, dass sich die nichtungarischen Nationalitäten Ungarns die Sprache der Nation – das Ungarische – aneignen sollen. Mailáth ließ, der Tradition der HungarusIntelligenz des 17. und 18. Jahrhunderts folgend, 1825 in Stuttgart eine Antholo-
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gie erscheinen, welche die Schätze der ungarischen Literatur in deutscher Übersetzung populär machen wollte (Magyarische Gedichte). Die Auflösung des Archivs und das Ende der Tätigkeit von Mednyánszky und Mailáth fielen zeitlich mit der sogenannten Pyrker-Debatte zusammen, die das Ende der Hungarus-Identität und der deutschsprachigen ungarischen Literatur bedeutete. János László Pyrker (Johann Ladislav Pyrker) wurde in der Nähe von Székesfehervár (Stuhlweißenburg) geboren, wo er von Benedek Virág und Pál Ányos, bedeutenden ungarischen Geistlichen und Dichtern der Epoche, unterrichtet wurde. Pyrker, der nicht nur als Geistlicher, sondern auch als Dichter bekannt war, hatte mit der ungarischen Literatur wenig zu tun. Sein poetisches Schaffen „steht im Kontext der Wiener Romantik und der epischen Mode der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um 1820 gehörte er dem Kreis um Matthäus v. Collin und Joseph v. Hormayr an, den Protagonisten der Nationalromantik in Österreich“; seine Erfolge erntete er „mit den neo-virgilischen Staatsepen“ Tunisias (1820) und Rudolph von Habsburg (1824); es „wird hier in einem legitimistischen Sinne die historische Sendung der Habsburger-Monarchie besungen und religiös beglaubigt, vor dem Hintergrund eines deutsch-nationalen […] Patriotismus“ (Kohlhäufl 1999). Das Archiv feierte Pyrker für die Tunisias und Rudolphias in höchst lobenden Tönen, wie sie einem gleichsam österreichischen Nationalhelden zustehen. Die ungarische Pyrker-Debatte entzündete sich daran, dass Ferenc Kazinczy, zu der Zeit der Doyen der ungarischen Literatur, 1830 die Perlen der heiligen Vorzeit, ein Werk von Pyrker aus dem Jahr 1821 mit alttestamentarischer Thematik, ins Ungarische übertrug. Für diejenigen, die in den Kategorien des Hungarus dachten, stand außer Zweifel, dass es sich bei dem Ungarndeutschen, zweisprachigen, aber in deutscher Sprache dichtenden Pyrker um einen ungarischen Dichter handle. Kazinczy begründete die Übersetzung damit, dass das Werk eines Dichters, der durch „Geburt“, „Erziehung“ und „Zunge“ ein Ungar, also „dem Gefühl nach immer ein Unsriger“ sei, endlich auch auf Ungarisch erklingen müsse. (Mit den gleichen Worten bezeichnete János Mailáth in der bereits erwähnten literaturgeschichtlichen Einleitung zu den Volksballaden den von Geburt deutschsprachigen und in deutscher Sprache dichtenden Johann Paul Köffinger als einen ungarischen Dichter, der „durch Erziehung, Wohnort, Amt der Unsere“ sei.) Kazinczy wurde darauf von eben dem Ferenc Toldy angegriffen, der unter dem Namen Franz Karl Joseph Schedel als deutscher Bürger der Stadt Ofen geboren wurde, aber die Hungarus-Identität seiner Eltern, den neuen Entwicklungen entsprechend, zugunsten der herkunftsgemeinschaftlichen Identität aufgab, deren integraler Bestandteil die Ungarischsprachigkeit war (siehe dazu: Dávidházi 2004, 58–59). Und obwohl Toldy Kazinczy als Begründer der modernen ungarischen Literatur betrachtet und ihm kultische Ehre bezeugt hatte, war er nun als Kritiker ein bedingungsloser Anhänger und Verfechter von Mihály Vörösmarty
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geworden, dem ersten Vertreter einer Nationalepik auf Basis des erneuten adeligen Nationalbewusstseins. Nach der von ihm vertretenen Anschauung sind Sprache und Nation als Herkunftsgemeinschaft voneinander untrennbar: Die Sprache ist eine der wichtigsten Komponenten der Herkunft; wer nicht in der „Sprache unserer Ahnen schreibt“, kann kein ungarischer Dichter sein. Pyrker, der Geburt nach Ungar, war demnach aus der ungarischen Literatur desertiert und hatte damit Verrat an der eigenen Nation begangen, und Kazinczy – mit seinem unbestrittenen Ansehen – hatte diese Untat durch seine Übersetzung legitimiert. Im Hintergrund des Zusammenstoßes stand, dass Pyrkers Epen in Bezug auf die österreichische Staatsideologie dieselbe Funktion erfüllten wie jene von Vörösmarty im ungarischen Zusammenhang; die beiden Narrative schließen einander aus. Gegen Toldy meldete sich Károly György Rumy zu Wort, gleichfalls ein Ungarndeutscher, der jedoch an der Hungarus-Identität festhielt. Rumy hielt es für ein glückliches Zusammentreffen, wenn ein ungarischer Dichter sich in deutscher Sprache äußere, weil er damit ein größeres Publikum ansprechen könne. Die nächstliegende Frage formulierte er allerdings nicht: Warum und inwieweit es sich bei denen, von denen er spricht, um ‚ungarische‘ Dichter handle. Dies machte sich Toldy zu Nutze, als er in seiner Replik auf Mednyánszky und Mailáth die ‚Karte Pyrker‘ ausspielte; in ihrem Falle sei „das Objekt der Begierde das Ungarische, die deutsche Sprache bloß ein Mittel“. In seiner Argumentation erhält jedoch die einigende Rolle der Sprache für die Nation den Hauptakzent. Das heißt, die Sprache erscheint als Attribut der Einheit der Gemeinschaft: „Unser wichtigstes Palladium ist die Sprache“. Im Hintergrund der Debatte zwischen Rumy und Toldy zeichnet sich klar der Gegensatz zwischen den Prinzipien der Staatsgemeinschaft und der Herkunftsgemeinschaft ab. „Hätte der geniale Pyrker anstatt die Perlen der biblischen Vorzeit zu dichten und statt Karl V. und Rudolph von Habsburg zu besingen, den párduczos, buzogányos Árpád [Árpád mit Panterpelz und Keule] oder Táksony, oder gar Etzel besungen, die hunnische Geißel Gottes, vielleicht in eben so schlechten Hexametern besungen, als seine deutschen Hexameter bewunderungswürdig sind“ – schreibt Rumy in seiner Replik, – dann würde ihm Toldy „gewiß Weihrauch bis zum Ersticken gespendet und seine magyarischen Epopeen einer deutschen Übersetzung würdig erklärt haben!“ (Karl Georg Rumy: Patriotische Rüge, In: Spiegel für Kunst, Eleganz und Mode, 1831.33 (23. April 1831), 257–263). Toldy und seine Gesinnungsgenossen vermochten das kaum anders zu lesen denn als Lobpreisung der zum Ruhm der Habsburger-Dynastie und ihres Gründers verfassten Versepen auf Kosten von Zalán futása (Zalans Flucht), dem Grundwerk der ungarischen Herkunftsgemeinschaft aus der Feder Mihály Vörösmartys. (Dies bezeugen auch die galligen Epigramme Vörösmartys gegen Pyrker.)
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III.2.3 Sprachliche Konstitution des Ichs, der National- und Universalgeschichte durch Umwandlung und Kombination mythischer Topoi: Mihály Vörösmarty (1800–1855) Um in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückzugreifen: Der zunehmende Argwohn der ungarischen Jesuitenprovinz gegenüber dem Haus Habsburg hatte ihre Intelligenz allmählich dem ungarischen Adel angenähert; infolgedessen geriet das lateinsprachige Jesuitenepos unter den Einfluss des Narrativs der ungarischen Nation als Herkunftsgemeinschaft. Heimatverlust und Heimaterwerb als Leitmotiv des vergilianischen epischen Modells wird schon im Epos von László Répszeli (Hunnias, sive Hunnorum e Scythis Asiatica egressus, 1731) auf die Hunnen und Ungarn adaptiert: Die Hunnen verlassen ihre Urheimat Skythien und erobern das Karpatenbecken mit Hilfe des Schicksals – und Jupiters. Attila, der in den älteren Jesuitenepen als Führer der bösen Kräfte erschien, wird jetzt zum frommen Ahnen der christlichen ungarischen Könige. Den Namen eines Habsburgers finden wir in diesem Werk nicht mehr (Szörényi 1993). Die Akzente verschieben sich nach 1746: In diesem Jahr wird die jahrhundertelang verschollene Gesta Hungarorum des anonymen Verfassers (Anonymus) aus dem 12. Jahrhundert gefunden und publiziert. Die Hauptfigur dieser Chronik ist nicht mehr der legendäre Hunnenkönig, sondern Árpád, der Führer der landnehmenden Ungarn um 900. Die Popularität Árpáds nimmt rasch zu, das Motiv Landverlust–Landerwerb wird modifiziert: Nachdem der Hunnenkönig Attila sein Reich verloren hatte, gerieten seine Abkömmlinge auf jahrhundertelange Wanderschaft und kehrten dann als rechtmäßige Besitzer des Karpatenbeckens unter Führung von Árpád zurück. Diese Wende wird vom Wechsel der Sprache begleitet: in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen die ersten Versuche zu einem Árpád-Epos in ungarischer Sprache. Es gelang jedoch lange nicht, ein vollkommenes Epos zu erschaffen. Das berühmteste Fragment stammt vom Mihály Csokonai Vitéz, der sich zu Anfang des neuen Jahrhunderts am Nationalepos versuchte. Wenn den Verfassern der Jesuitenepen das klassische Epos ein ausschließliches Muster geboten hatte, so brachte die Loslösung der Gattung von der lateinischen Sprache die Einwirkung des Nichtklassischen, d. h. des ossianischen Kanons der Heldenepik, mit sich. Die wichtigste Folge dieser Einwirkung war eine Verschiebung der Akzente: Neben der Entstehung der Nation wurde auch ihrem Verfall besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Verschiebung führte unvermeidlich zur Lyrisierung der Gattung, ihrer Bestimmtheit durch eine elegische Grundstimmung. In Ungarn war die neue Akzentuierung besonders aktuell: die allgemeine Einstellung des Adels, die Gegenwart als Untergang des ehemaligen Ruhmes der Nation zu beurteilen, wurde vom Versagen der ungarischen Truppen gegen Napoleon (1809) verstärkt.
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Abb. 11: Árpád wird auf den Schild gehoben. Kupferstich von Michael Hoffmann nach der Zeichnung von Károly Kisfaludy. Erschienen 1826 in Aurora mit einem Gedicht von Mihály Vörösmarty (Vörösmarty 1998, 127, Ü: Ch. Kunze): Nézz Árpádra, magyar, ki hazát állíta nemednek; Nézd, s tiszteld képét Álmos fejedelmi fiának. Őt magas Ung mezején vérontó férfiak, és bölcs Hadvezetők szabadon választván harcos urokká, Bátor örömriadás közepett pajzsokra emelték. […] Sieh auf Árpád, Magyare, der Heimat schuf deinem Geschlechte, / Ehren sollst du das Bild dieses fürstlichen Sohnes des Álmos, / Den auf dem Felde von Ung die blutvergießenden Mannen / Und die ruhmreichen Heerführer frei zum Feldherrn erwählten, / Ihn unter kühnem Jubel auf ihre Schilde erhoben. […]
Der Dichter János Batsányi hatte schon 20 Jahre zuvor die Übersetzung der Gesänge Ossians mit der Absicht begonnen, seine Nation auf den vergangenen Ruhm aufmerksam zu machen. Vörösmartys Epos ist von dieser ossianischen Tradition tief beeinflusst. Der unmittelbare Vorläufer ist das Landnahme-Epos A székelyek Erdélyben (1823, Die Sekler in Siebenbürgen) von Sándor Aranyosráko-
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si Székely, das davon ausgeht, dass die Hunnen bei ihrem Rückzug aus dem Karpatenbecken die Sekler als Wachmannschaft zurückgelassen hätten. Versepik bedeutete für Vörösmarty nicht in erster Linie Nationalepos. Seine dichterische Laufbahn begann im Zeichen der subjektiven Romantik. Das Thema Nation erscheint in seiner Epik zunächst als Ausdruck der Historizität des Menschen, es wird also – etwa im Sinne von Herders Geschichtsphilosophie – mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins assoziiert und der Zeitlosigkeit der kindlichen Unschuld oder der Liebe gegenübergestellt. Dafür steht das Kleinepos Délsziget (Südinsel), das ein Jahr nach Zalán futása (1826) entstand. Der Hauptheld dieses Werkes ist der Sohn des Hunnenkönigs, der unter märchenhaften Verhältnissen auf einer Insel im Stillen Ozean lebt. In seinem Wesen vereinigt sich die Lebensform von paradiesischen Menschen, Titanen und Feen, er ist der Herr der Naturkräfte, besiegt den Tod und bekommt von Gott die Aufgabe der Neugründung des verlorenen heiligen Heimatlandes. Der Weg des Jungen in die Geschichte führt über die Sünde, die durch die körperliche Liebe symbolisiert wird. Er verliert die Gnade Gottes, muss den Abgrund des Leidens und der Verlassenheit erfahren, um seine historische Aufgabe erfüllen zu können. Endlich wird er durch ein Gotteskind erlöst und tritt in die Geschichte ein. In diesem Kleinepos hat Vörösmarty gezeigt, wie die vergilianische Tradition des Epos in romantischer Weise modernisiert und damit als Rahmen für ein Nationalepos verwendet werden kann. Diese Technik der Mischung und der souveränen Bearbeitung unterschiedlicher literarischer und religiöser Traditionen ist für das Epos Zalán futása (1826; Zalans Flucht, 1900, Gy. Kosztka) nicht minder charakteristisch. Schon die Themenwahl beweist, dass Vörösmarty erschaffen wollte und nicht rekonstruieren. Die historischen Quellen bestätigen, dass die ungarische Landnahme um 900 ein langwieriger, allmählicher Prozess war, den zahlreiche kleinere Schlachten begleiteten. Die Zalán-Episode selbst, deren historische Wahrheit übrigens nicht beweisbar ist, wird von Anonymus nur flüchtig erwähnt. Die Konzeption eines Epos erforderte jedoch einen zentralen Zusammenstoß der Parteien. Für Vörösmarty war an der Zalán-Episode nicht der slawische Fürst selbst wichtig, sondern die Tatsache, dass er Bulgaren und Griechen um Hilfe bat. Dieser Umstand bot Vörösmarty die Gelegenheit, ein internationales Heer zu imaginieren, gegen das Árpád und seine Ungarn heroisch kämpfen konnten. Darin liegt auch der Grund, warum Vörösmarty das wichtigste Motiv, das mit der Zalán-Legende verknüpft ist, nicht verwendete, da es mit dem heroischen Epos nicht in Einklang gebracht werden kann. Die Sage vom weißen Ross ist unheroisch, sie erzählt von einem Missverständnis: Der slawische Fürst betrachtet das weiße Ross, das er von Fürst Árpád bekommen hat, als Geschenk der ihm huldigenden Ungarn und bedankt sich mit Erde, Gras und Wasser. Die Ungarn verstehen das Gegengeschenk als
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Abb. 12: Mihály Vörösmarty. Aquarell nach einer Zeichnung von Miklós Barabás, gedruckt von Josef Axmann, 1836
einen symbolischen Handelsabschluss und halten sich von nun an für Besitzer des Gebiets. Vörösmarty geht also weder von der historischen Wahrscheinlichkeit noch von der poetischen Tradition aus. Er unterwirft beide Komponenten seiner epischen Komposition. Die Verbindung von Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit manifestiert sich in diesem Epos durch den Standort des Erzählers. Er ist ein Sohn der vergehenden Zeit, sein Ton ist von universalem lyrischem Mitleid erfüllt, die Aufmerksamkeit auf den Verfall gerichtet (Horváth, János 1925). Die Gegenwart betrachtet er – ein Vertreter der ossianischen Tradition – als ein
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Zeitalter des Untergangs einstiger nationaler Größe („Ruhm unsrer Vorzeit, wo harrst du noch aus in nächtlichem Dunkel? […] Dichtes Gewölk überschattet dich und das unbekränzte Gespenst des bittren Vergessens.“) Diese lyrische Grundstimmung führt in der Darstellung der beiden Parteien und Hauptfiguren zu einem widersprüchlichen Ergebnis. Das Auftreten der Griechen an der Seite der Verlierer ist selbst schon von symbolischer Bedeutung: Eine ehemals ruhmreiche Nation ist in die Fänge des Untergangs geraten. Von den beiden Haupthelden schwebt die Figur des mit einem Pantherfell bekleideten Árpád im Nebel der abstrakten Majestät; die Vorgänge in der Seele Zaláns, der vom Schicksal dazu verurteilt ist, Heimat und Ruhm zu verlieren, sind demgegenüber detailliert und lebendig dargestellt. In den Schlachtbeschreibungen wendet sich der Erzähler oft melancholisch dem Andenken der gefallenen Helden zu – egal auf welcher Seite sie ihr Leben geopfert haben. Der idealen, zeitlosen Liebe wird die an Zeit und Geschichte gebundene Liebe gegenübergestellt. Die Tochter des alten ungarischen Helden Huba, die schöne, ranke Hajna (vgl. hajnal, „Morgenröte“), begegnet während eines Waldspaziergangs dem Sohn der Morgenröte, den sie noch aus der märchenhaften Urheimat kennt. Der Junge ist sofort in sie verliebt, aber Hajna, die vielleicht seine Gefühle gerne erwidern würde, widersteht der Versuchung. Sie hat sich mit der Geschichte, mit dem jungen Helden Ete verlobt, um ihm und der Heimat ruhmvolle Nachfahren zu gebären. Diese Liebe ist von Vergänglichkeit bedroht; Ete ist ja in Gefahr, selbst ein Opfer der Schlacht zu werden; es muss der feenhafte Sohn der Morgenröte in der Welt der Helden sterben. Die Handlung selbst folgt dem klassischen Modell des Epos; sie spielt auf zwei Ebenen, im Himmel und auf der Erde. Die himmlische Handlung, die den Gang der irdischen Ereignisse bestimmt, beruht weder auf der klassischen noch auf der christlichen Mythologie. Vörösmartys Absicht war es, die Illusion der ursprünglichen ungarischen Mythologie zu wecken, deshalb schuf er im Zeichen des romantischen Orientalismus selbst eine Mythologie. Als Quelle dient der Dualismus von Gut und Böse in der altpersischen Religion. Der gute Gott Ahura Mazda wurde mit dem ungarischen Gott Hadúr (Herr der Heere/Herr des Kriegs) ersetzt, der Name der bösen Kraft Ahriman mit dem ungarischen Wort „ármány“ (List, Intrige) identifiziert. (Tatsächlich stammt das Wort vom deutschen „Armmann“.) Die heidnische Mythologie ermöglichte dem Dichter, seine Philosophie mit der lyrischen Grundstimmung des Werks in Einklang zu bringen. Hadúr ist nicht der Gott der Ungarn, sondern ein Gott des unbeständigen Glücks, also der römischen Göttin Fortuna ähnlich. Menschen und Völker werden vom Glücksrad gehoben und gesenkt, die heutige Gnade Gottes bedeutet für morgen nichts. Die irdische Handlung besteht aus klassischen Elementen des Epos: Kriegsrat, Heerschau, Zwiespalt innerhalb der feindlichen Partei, Provokation des Feindes, Begräbnis der Gefallenen, Kriegslist, Rache, persönlicher Zusammenstoß der größten Helden. Die Handlung wird
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durch Zaláns Hochmut in Gang gebracht; er bestreitet die Verwandtschaft zwischen Hunnen und Ungarn und damit deren Recht auf das Land. Den Ungarn bleibt keine andere Wahl als der bewaffnete Kampf. Die Geschehnisse des entscheidenden Tages laufen auf zwei Schauplätzen ab. Am Ufer der Theiß stoßen die beiden Hauptheere zusammen, parallel dazu stellt der Erzähler den Aufstand der Bauern am Bodrog (einem Nebenfluss der Theiß) dar. Die Teilung der Handlung hat die Funktion, beiden ungarischen Heerführern Gelegenheit zu Heldentaten zu verschaffen: Ete, der junge Held, wirft den Aufstand nieder, Árpád, die symbolische Führerfigur, tötet Viddin, den größten Helden im Heer von Zalán. Mit dem Sieg, mit dem Töten haben die Ungarn die Unschuld der Urheimat endgültig verloren; sie sind zu Gestalten der schrecklichen und vergänglichen Geschichte geworden. Zalán futása wurde von Ferenc Toldy sofort nach seinem Erscheinen als Synthese der Entwicklung der ungarischen Literatur kanonisiert. Er bejubelte es als eine Spitzenleistung der ungarischen Nationalliteratur; Vörösmarty sei es gelungen, die klassische Tradition des Epos durch die Subjektivität der Romantik zu modernisieren. Nach Zalán futása hatte Vörösmarty den Plan zu einem neuen, umfassenden Epos, das die Ursprungsgeschichte der ungarischen Nation in archaischer Weise in die mythische Vorzeit zurückversetzen sollte; er kehrte also ins Grenzgebiet von mythischer und historischer Zeit zurück. Aus dem Material dieses unvollendeten Unternehmens sind einige – teils fragmentarische – Kleinepen entstanden; außer dem erwähnten Délsziget noch Tündérvölgy (1825, Feental), Magyarvár (1827, Ungarburg), und A Rom (1830, Die Ruine). Das Mythische und das Historische (nämlich das, was für Vörösmarty als das Historische galt) wird verflochten: Die Hauptfigur in Tündérvölgy etwa ist Csaba, der Sohn des Hunnenkönigs Etzel; er sucht das Feental auf, um seine Geliebte in die irdische Welt zurückzubringen, nachdem sie von seinem Nebenbuhler getötet und vom Feenfürsten ins Feental fortgerissen wurde. Mythologische Motive verschiedener Herkunft werden hier im Rahmen des Topos von Orpheus und Eurydike kontaminiert. Das widersprüchliche Verhältnis des Erzählers zum sprachlich-literarischen Erbe spiegelt sich in der Formulierung der Originalität seines Werkes. Im Geist der Frühromantik, die dem Dichter die Fähigkeit beimaß, die Geheimschrift der Welt entschlüsseln zu können, bezeichnet er sein Gedicht als ein Lied, das kein Ohr gehört, kein Auge gesehen, das er als eine Schrift auf dem Tisch seiner Seele gefunden habe. Diese Formel, die mit dem Anspruch der absoluten Originalität auftritt, beruht selbst auf einem Zitat aus der Bibel, durch das der sakrale Kontext der dichterischen Selbstbestimmung gebildet wird. Die wenig reflektierte dichterische Haltung erklärt jenes besondere Vertrauen gegenüber der dichterischen Sprache, die zur Entstehung der bedeutendsten Texte der ungarischen Romantik führte. Es ist jedoch ein konsequentes Ergebnis, dass Vörösmarty den
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Höhepunkt in jenen lyrischen Werken erreicht hat, die von der Erschütterung dieses Vertrauens zeugen, da sie die Unvereinbarkeit von existentieller Erfahrung und tropischem Charakter der Sprache repräsentieren. Das Märchendrama Csongor és Tünde (1830; Csongor und Tünde, 1904, H. Gärtner; 1985, F. Fühmann), das ein letztes Mal zur vorhistorischen Welt des Mythos zurückkehrt, lehnt sich vorbehaltlos an den Vorrat poetisch-mythischer Topoi an. Bei der Auswahl der Topoi wird durch das Einbeziehen der Volkspoesie ein neues Feld eröffnet. Das weitverbreitete Thema des Werkes ist durch eine ungarische ‚schöne Historie‘ von einem Königssohn namens Argirus und einer Feenjungfrau (um 1580) vermittelt, deren Hauptmotiv bis zur griechischen Mythologie zurückzuführen ist und sich mit Tausendundeiner Nacht berührt. Die Historie des Argirus hat bis ins 19. Jahrhundert zahlreiche, teilweise populäre Ausgaben erlebt; die folklorisierten Versionen gelangten dank der aufstrebenden Sammlungsbewegung bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ans Tageslicht. Bei der Wahl der Gattung spielten außer Shakespeares Sommernachtstraum die auf Wiener Bühnen populären Zauberpossen, in erster Linie die Werke von Ferdinand Raimund, eine entscheidende Rolle; Vörösmartys Stück verbindet Volks- und Hochsprache, Possenspiel und humanes Stück, Ernst und Komik. Man kann auch mit dem Einfluss der Zauberflöte rechnen (das Libretto erschien 1804 in ungarischer Sprache). Die Geschichte, deren Grundlage die Liebe der Fee und des sterblichen Mannes ist, spielt nicht in geschichtlicher Zeit, aber auch nicht in der Zeitlosigkeit, aus der die südländische Fee des Arpaden-Epos kam. (Der mögliche geschichtliche Zusammenhang wird durch die Bestimmung bezeichnet, nach der das Stück „aus der Zeitalter der heidnischen Kumanen“ stammt – ‚Kumane‘ und ‚Hunne‘ waren nach damaliger Auffassung identisch). Die zentrale symbolische Figur des Stücks ist – wie oft in der Epoche der Romantik – die Nacht, die die Zeit als letztes Wesen des Seins verkörpert; sie bestimmt sich als das Dunkel und das Nichts, aus dem die existierende Welt ausgeströmt ist und wohin sie zurückkehren wird; das Dasein des Menschen sei nur ein kurzes Zwischenspiel. Damit ist gemeint, dass eigentliches Sein außerhalb der mit Vergänglichkeit belasteten Zeit nicht möglich sei. Das erkennt Tünde, die Fee, die sich gegen das Schatten-Dasein der Zeitlosigkeit auflehnt, einen irdischen Mann wählt und dadurch die Vergänglichkeit auf sich nimmt. So vereinigen sich im Paar Csongor und Tünde himmlische und irdische Liebe – überhaupt: endlich und endlos, fehlbar und ideal. In seiner Weise bringt dieses Werk die grundsätzliche Ambition der Romantik zur Geltung, die sich auf die Abschaffung des anthropologischen Dualismus richtet. In diesem Kontext entfaltet sich das Narrativ: Tünde pflanzt im Csongors Garten einen ‚Lustbaum‘ – der den Himmel mit der Erde verbindet; die schönste Frucht des Baumes ist die Liebe, aber die Früchte, die in der Nacht reif werden, werden durch die Zauberei der
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bösen Hexe Mirígy („Drüse“) geplündert. Die Liebenden suchen einander in symbolischem Raum und symbolischer Zeit. Csongor kommt an einer Weggabelung an; er weiß nicht, welcher Weg zum Glück führt. Drei Wanderer, denen er begegnet, bieten ihm Reichtum, Macht und Wissen. Was sich der Kaufmann, der Fürst und der Gelehrte als Lebensziel erwählt, reizt Csongor indessen nicht, denn alle drei Güter enthalten keinen Bezug zum Himmel. Sein abweisendes Urteil wird hinterher bestätigt: Er sieht später die drei Wanderer als Unglückliche wieder. Der zeitliche Rahmen ist von einem das ganze menschliche Leben symbolisierenden Tag gesetzt, der den Protagonisten zur Verfügung steht, einander zu finden. Zuerst treffen sie sich im Reich der Morgenröte, hier ist es aber noch verboten, einander anzusprechen; zu Mittag hingegen, als ihre Liebe in Erfüllung gehen könnte, lässt Mirígy Csongor in einen Traum fallen, und Tünde versucht vergebens, ihn zu wecken. Sie versäumen also die ihnen bestimmte Stunde, was einen tragischen Ausgang andeutet. Der Gattungscharakter des Märchendramas erlaubt aber ein solches Ende nicht: Csongor und Tünde finden sich nachts – in der alles auflösenden Nacht „wacht nur die Liebe allein“. Csongor und Tünde werden von Balga und Ilma, zwei einfältigen Bauernfiguren, begleitet (wie Tamino und Pamina von Papageno und Papagena in der Zauberflöte); Ilma fällt eine Schlüsselrolle zu: Tünde nimmt sie zu sich, damit sie zwischen den zwei Welten, der Erde und dem Himmel, vermittelt. Die triviale Lebensauffassung der beiden Begleiter bedeutet das niedrige, komische Gegenbild zur idealen Welt der Protagonisten. Eine ähnliche Kontrapunkt-Funktion haben auch die VolksmärchenGestalten der drei tollpatschigen Teufelsburschen; sie spielen aber auch eine symbolische Rolle: Csongor überlistet sie und ergattert ihre Zaubergegenstände; dadurch kommt zum Ausdruck, dass der Mensch die überirdischen Mächte nicht nur passiv erduldet. Csongor und Tünde zeigt Verwandtschaft mit zahlreichen Texten der Epoche, die sich als romantische Menschheitsdichtung interpretieren lassen; mit den Ahnen von Mickiewicz, mit Manfred von Byron und mit dem Prinzip des ewig Weiblichen im Faust. Dadurch ist das Märchendrama ein wichtiger Vorfahr eines ungarischen Werkes, das am Ende der Geschichte dieser Gattung entstand, nämlich Az ember tragédiája (1861; Die Tragödie des Menschen) von Imre Madách. Vörösmarty verfasste etliche weitere Dramen, die in den Anfängen des Nationaltheaters eine wichtige Rolle spielten, aber weder in der weiteren Geschichte der ungarischen Literatur noch in der ungarischen Theatergeschichte Bedeutung erlangten. In der Dichtung Csongor und Tünde basiert das Aufeinandertreffen des Irdischen und des Himmlischen auf der Harmonievorstellung, dass diese beiden Prinzipien aufeinander angewiesen sind. Im Medium der Lyrik kommt dieses harmonische Verhältnis nicht zustande; die grundsätzliche und unüberwindliche Erfahrung des Ichs in der Lyrik von Vörösmarty ist das asymmetrische bzw.
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disharmonische Verhältnis des himmlischen und des irdischen Prinzips (Martinkó 1975). Es betrachtet sowohl das individuelle als auch das nationale Dasein aus der Perspektive dieser paradoxen Anthropologie. Der eigentliche Gegenstand solcher Gedichte ist die Gestimmtheit des lyrischen Ichs, die universelle Berührtheit und Anteilnahme – die wichtigsten Inspirationen erhielten sie von Shakespeares dramatischen Monologen. Obwohl auch im Hintergrund der synkretistischen Mythologie der lyrischen Gedichte die feste Überzeugung steht, dass der Sprechende durch die souveräne Umwandlung und Kombination der mythischen Vorstellungen der elementaren Erfahrung des lyrischen Ichs von der ursprünglichen Zwiespältigkeit des Menschen Ausdruck gibt, dient diese Sprache nicht der Herstellung einer auch außerhalb des Ichs geltenden Weltdeutung; ihr Ziel ist das Zustandebringen einer rhetorischen Konstruktion, welche die Gestimmtheit des lyrischen Ichs dem Rezipienten mitteilbar macht. Wenn das Ich sich nie vollständig auf sich selbst bezieht, sich von der Außenwelt nie radikal loslöst, also die Selbstobjektivierung nie als Substitut für Weltbezug, als reines Scheinen wirken lässt, vermeidet es auch, dem heteronomen Sein unterworfen zu sein. In der Liebeslyrik drückt das disharmonische Verhältnis die Asymmetrie von Mann und Frau aus: Das Weibliche trägt als Synekdoche das Himmlische in sich und bringt es auf die Erde mit. („Das Mädchen kommt in seiner jungen Anmut, den Himmel in den reinen blauen Augen.“) Das Mädchen ist sich dessen nicht bewusst, nur der Mann, „der Sohn der Erde“, der durch die Liebe am Himmlischen teilhaben könnte; das Mädchen aber, das von seinem eigenen metaphysischen Rang nichts weiß, versteht den Sinn der Zuneigung des Mannes nicht (Földi menny, 1825, Himmel auf Erden). So kann das Himmlische dem Mann durch Phantasie, Erinnerung oder Traum dargestellt werden; der Sprechende des Gedichts Helvila halálán (1826, Zum Tod von Helvila) erwartet gerade vom Traum die Erfüllung der Liebe jenseits des Todes. Das andere Helvila-Gedicht formuliert in seiner neuplatonischen Art den Sinn hinter dem irdischen Schein-Dasein als Traum (Helvilához, 1828; An Helvila, 1970, G. Deicke). Die spätere Liebeslyrik drückt wiederum die Kritik dieser romantischen Liebesphilosophie aus; das Gedicht A merengőhöz (1843; An eine Trübsinnige, 1854, K. Kertbeny; An die Sinnende, 1970, G. Deicke) stellt den Kreis, der dem Menschen gegeben wurde, als begrenzt dar und die Sehnsucht, aus dem Kreis auszubrechen, als selbstgefährlich (Vörösmarty 1998, 425): Ábrándozás az élet megrontója, Mely, kancsalúl, festett egekbe néz. […] Egész világ nem a mi birtokunk;
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Amennyit a szív felfoghat magába, Sajátunknak csak annyit mondhatunk. Die Träumerei wird bitter uns belohnen, / die weit in die gemalten Himmel blickt. […] Die ganze Welt ist doch nicht mein und dein: / Soviel das Herz für sich vermag zu fassen, / nur soviel wird auch unser Eigen sein. (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 65–66, Ü: G. Deicke)
Die Kritik an der romantischen Geste der Selbstvergöttlichung des Menschen, die Kölcsey in seinem Vanitatum vanitas ironisch formulierte, wird hier in einem stoischen Ton zum Ausdruck gebracht. Der programmatische Anfang des Gedichtes Földi menny (Vörösmarty 1998, 138) Mennyet kell a földön is keresni Mennyet, a föld úgyis elveszendő […] Man soll auch auf der Erde den Himmel suchen, / die Erde ist ja dem Untergang geweiht […] (Ü: K. Blaskó)
legt nicht nur die Richtung der Liebeslyrik fest. Vörösmartys mythologisierende Ausdrucksweise enthält lyrische Reflexionen auf die historischen Erfahrungen der Jahrhundertmitte, in denen das lyrische Ich, seinen Stoff aus dem universellen mythologischen Repertoire auswählend, immer neue Narrative schafft. In diesen Gedichten ist nur die ursprüngliche und unauflösbare Widersprüchlichkeit des Menschen gleichbleibend. Das mythologische Motiv des Gedichts Gondolatok a könyvtárban (1844; Gedanken in der Bibliothek, 1857, K. Kertbeny; 1970, G. Deicke) entfaltet sich aus einer inneren Diskussion. Die ersten Worte des lyrischen Ichs vermitteln ein polarisiertes Bild über das Verhältnis von Bildung und Fortschritt; die Vorstellung des auf Lumpenpapier gedruckten Buches (die Weisheit, die dem Fortschritt dient, ist auf Lumpen von Unseligen und Verbrechern gedruckt) als Synekdoche der Wirkung der Kultur begründet die These, dass die moderne Gesellschaft die Entfernung zwischen Wohlstand und Elend nicht mindert, sondern eher steigert. Das lyrische Ich lässt die letzten destruktiven Schlussfolgerungen nicht zu (Vörösmarty 1998, 455): De hát ledöntsük, amit ezredek Ész napvilága mellett dolgozának? […] Oh nem, nem! amit mondtam, fájdalom volt, […]
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Doch solln wir stürzen, was Jahrtausende / beim Tageslichte der Vernunft erschufen? […] O nein, niemals! Der Schmerz nur sprach aus mir. (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 68, Ü: G. Deicke)
Dem polarisierten Bild folgt die Vorstellung der Fortschrittes in synkretistischer mythologischer Sprache: Die Metapher der Baustelle, die die Vorstellung des Fortschrittes in sich trägt, ruft den Topos von Babel hervor. Der Text rückt aber den Topos von seiner ursprünglichen Bedeutung weg: Der Mensch hat durch das in ihm seit der Schöpfung wirkende himmlische Prinzip die natürliche Bestrebung, „durch die Himmelspforte zu blicken“, und so zeigt der Babel zerstörende göttliche Eingriff die paradoxe Struktur der geschaffenen Welt. Ähnlich erweist sich die Sehnsucht des Menschen nach dem Gott-Werden im Epigramm Napoleon (1833; Napoleon, 1970, G. Engl) als Hybris (Vörösmarty 1998, 241): Nagy volt ő s nagysága miatt megdőlnie kellett; Ég és föld egyaránt törtek elejteni őt: Tűrni nagyobbat irígy lőn a sáralkatu ember, S tűrni hasonlót nem bírtak az istenek is. Weil er zu groß war, mußte die eigene Größe ihn stürzen, / Himmel und Erde vereint wirkten für seinen Verderb. / Den, der herausragt, zu dulden vermag kein irdischer Neider, / Und wenn er Göttern gleicht, dulden die Götter ihn nicht. (Vörösmarty 1984, 15, Ü: G. Engl)
Der teleologische Vorgang, der durch die Entfaltung der Humanität die Nationen vereinigt, zeigt sich als Episode der zyklischen Weltgeschichte – was an das Modell von Giambattista Vico erinnert: Nachdem die Menschheit die göttliche Höhe erreicht hat, löst sie sich wieder in Nationen auf und beginnt wieder „zu dulden und zu lernen“. So liefert der Mythos von Sisyphos den Hintergrund des Babel-Topos. Aber der Sprechende fragt im Gedicht nicht nach Grund oder Sinn dieses Kreislaufes; das ist das erste Zeichen dafür, dass sich die sinnverleihende Fähigkeit der mythologisierenden Sprache in Vörösmartys Lyrik als beschränkt erweist. Der Sprechende bringt am Schluss des Gedichtes wieder die Metapher der Baustelle und des Aufstiegs ins Spiel, ohne dass sein Blick über den möglichen Endpunkt des Aufstiegs hinausginge. Er beschränkt den Kreis der vernünftigen menschlichen Aktivität, einerseits indem er – mit Hinweis auf den Publikumsbegriff in Herders Humanitätsbriefen bzw. auf den Grundgedanken in Fichtes Patriotismus-Dialog – die Nation als den breitesten Kreis bezeichnet, auf den die Aktivität der einzelnen Menschen direkt wirken kann, andererseits indem er die Zielvorstellung, die sich an den Aufstieg anknüpft, löscht. Dementsprechend besteht die Aufgabe des Menschen nicht darin, an der Vergöttlichung der Menschheit zu arbeiten, er soll vielmehr den Aufstieg seiner Nation befördern; alles, was
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jenseits dieser Aufgabe liegt, befindet sich zugleich jenseits des Horizonts des Menschendaseins. Dadurch steht dieses Gedicht der Anthropologie des nahezu gleichzeitig entstandenen Gedichtes A merengőhöz nahe: „Egész világ nem a mi birtokunk“ („Die ganze Welt ist doch nicht mein und dein“, Ü: G. Deicke). Die Situation des Einzelnen in Relation zur Menschheit und Nation wurde schon in Szózat (1836, Zuruf, 1842, G. Steinacker; Aufruf, 1939, H. Leicht) ähnlich beschrieben (Vörösmarty 1998, 328–329).
Hazádnak rendületlenűl Légy híve, oh magyar; Bölcsőd az s majdan sírod is, Mely ápol s eltakar. A nagy világon e kivűl Nincsen számodra hely; Áldjon vagy verjen sors keze; Itt élned, halnod kell. Ez a föld, melyen annyiszor Apáid vére folyt; Ez, melyhez minden szent nevet Egy ezredév csatolt. Itt küzdtenek honért a hős Árpádnak hadai; Itt törtek össze rabigát Hunyadnak karjai. Szabadság! itten hordozák Véres zászlóidat, S elhulltanak legjobbjaink A hosszu harc alatt. És annyi balszerencse közt, Oly sok viszály után, Megfogyva bár, de törve nem, Él nemzet e hazán. S népek hazája, nagy világ! Hozzád bátran kiált: „Egy ezredévi szenvedés Kér éltet vagy halált!” Az nem lehet hogy annyi szív Hiában onta vért,
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S keservben annyi hű kebel Szakadt meg a honért. Az nem lehet, hogy ész, erő, És oly szent akarat Hiába sorvadozzanak Egy átoksúly alatt. Még jőni kell, még jőni fog Egy jobb kor, mely után Buzgó imádság epedez Százezrek ajakán. Vagy jőni fog, ha jőni kell, A nagyszerű halál, Hol a temetkezés fölött Egy ország vérben áll. S a sírt, hol nemzet sűlyed el, Népek veszik körűl, S az ember millióinak Szemében gyászköny űl. Légy híve rendületlenűl Hazádnak, oh magyar: Ez éltetőd, s ha elbukál, Hantjával ez takar. A nagy világon e kivűl Nincsen számodra hely; Áldjon vagy verjen sors keze: Itt élned, halnod kell. Von Lieb und Treu zum Vaterland / bleib, Ungar, stets erfüllt. / Es gibt dir Kraft, und wenn du stürzt, / den Hügel, der dich hüllt. // Die weite Welt gibt anderswo / nicht Raum noch Heimat dir. / Hier mußt in Segen oder Fluch / du leben, sterben hier. // Dies ist der Boden, wo so oft / das Blut der Väter rann, / die Namen, die dir heilig sind, / knüpft ein Jahrtausend dran. // Hier hat einst Árpád und sein Heer / ertrotzt sich dieses Land, / hier brach ein Sklavenjoch entzwei / von Hunyads starker Hand. // Freiheit, dein blutig Banner hat / hier oft im Sturm geweht. / Es hat der lange Kampf und Streit / die Besten hingemäht. // So lebt, vom Schicksal heimgesucht, / in Zwietracht oft verrannt, / vermindert zwar, gebrochen nicht, / dies Volk in seinem Land. // Und Völkerheimat, Erdenrund! / Es ruft dich unsre Not: / Ein tausendjähr’ges Leid fragt jetzt / nach Leben oder Tod. // Es kann nicht sein, daß so viel Blut / so ganz umsonst verrann, / in Bitterkeit manch treues Herz / brach manchem guten Mann. // Es kann nicht sein, daß Geist und Kraft, / so guten Willens voll, / wie unter eines Fluches Last / umsonst verkümmern soll. // Noch kommen wird und kommen muß / einst eine beßre Zeit, / nach der inbrünstiges Gebet / aus aller Herzen schreit. // Vielleicht auch, wenn er
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kommen muß, / kommt heldisch groß der Tod, / wo überm Leichenfelde dann / das Land im Blut verloht. // Und Völker stehen um das Grab, / in dem ein Volk versinkt, / in aller edlen Menschen Aug / die Trauerträne blinkt. / Von Lieb und Treu zum Vaterland / bleib, Ungar, stets erfüllt. / Es gibt dir Kraft, und wenn du stürzt / den Hügel, der dich hüllt. // Die weite Welt gibt anderswo / nicht Raum noch Heimat dir. / Hier mußt in Segen oder Fluch / du leben, sterben hier. (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 58–60, Ü: H. Leicht)
Das Gedicht, entstanden 1836, in der Periode des verschärften Konflikts zwischen der Reformbewegung des ungarischen Adels und dem konservativen Absolutismus, ruft zur Treue gegen das Vaterland auf, gründend auf der Annahme, dass die Menschheit aus Nationen besteht und der Mensch nur über seine eigene Nation Teil der Menschheit zu werden vermag; als eigene Vergangenheit und Zukunft kann er nur die Vergangenheit und die Zukunft seiner Nation erleben. Das Gedicht Szózat, das im Sinne von Kölcseys Essay Mohács an das kollektive historische Gedächtnis der Nation appelliert, prophezeit die Zukunft der Nation als Alternative zwischen Aufstieg oder Tod. Sie fügt sich in ein säkularisiertes heilsgeschichtliches Narrativ ein: Der Sprecher erwartet das Urteil der großen Welt als „Völkerheimat“ über „[d]ie Qual von tausend Jahren“. Im heilsgeschichtlichen Narrativ erhalten durch den Topos des sinnvollen Opfers beide Möglichkeiten ihren Sinn zugewiesen („Es kann nicht sein, daß so viel Blut / Sinnlos verrann zu Schmach“). Diese Sprache eröffnet nicht nur die Aussicht auf „bessre Zeit“, sondern auch auf „Tod in großem Stil“, welcher der Menschheit den Verlust vermittelt, den sie durch das Verschwinden einer Nation erleidet: „Und Völker stehen um das Grab, / In dem ein Volk versinkt, / In aller edlen Menschen Aug / die Trauerträne blinkt.“ Die letzte Perspektive der Menschheit wird in diesem Gedicht durch das profanisierte heilsgeschichtliche Narrativ verborgen wie durch den Topos des Emporsteigens im Schluss des Gedichtes Gondolatok a könyvtárban. (Szózat wurde, vertont von Béni Egressy, neben Kölcseys Hymnus zum kultischen Nationallied.) Der eingeschränkte Sinngehalt geriet jedoch durch jedes historische Ereignis in Bedrohung, das die Erfahrung der anthropologischen Dissonanz wieder zum Erwachen brachte und die sich daran anknüpfende mythologische Sprache in Gang setzte. 1846 erstickte die Wiener Regierung die nationale Erhebung des polnischen Adels in Galizien dadurch, dass sie seine eigenen Bauern gegen ihn aufhetzte. Der ungarische Adel interpretierte die Ereignisse als Mahnung, die Literatur ließ sich anregen, eine der bedeutendsten Reaktionen war der Roman Magyarország 1514-ben (Aufstand der Kreuzfahrer, eigtl. „Ungarn 1514“) von József Eötvös, der den Bauernkrieg von György Dózsa im 16. Jahrhundert aktualisiert, welcher zum Verfall des Landes geführt hatte. Vörösmartys Gedicht Az emberek (1846; Die Menschen, 1939, H. Leicht; 1971, F. Fühmann; Vörösmarty 1984, 51–53) wurde aber nicht vom politischen Kontext der Ereignisse inspiriert. Es setzte
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vielmehr die immer wiederkehrende Schlussfolgerung, nach der „es keine Hoffnung gibt“ („Nincsen remény!“), in die mythologische Perspektive des Brudermords von Kain und des Menschen als „Drachenzahn-Saat“ („sárkányfog-vetemény“). Die paradoxe Anthropologie setzt eine paradoxe Rhetorik in Gang: Den Menschen, diesen „Wahnsinnsschlamm mit Gottesangesicht“ („Ez őrült sár, ez istenarcu lény“) charakterisiert ursprünglich ein „verruchter Bund“ zwischen „Verstand und Bosheit“ („Istentelen frígy van közötted, / ész és rosz akarat!“, Vörösmarty 1998, 494–495); der Sprecher des Gedichts weist in seiner gehetzten Argumentation auf einige emblematische historische Ereignisse und Erscheinungen hin, von den Gesetztafeln Moses’ über die Massenseuchen und die Französische Revolution bis zu dem Elend, das den Wohlstand begleitet (die Ereignisse in Galizien kommen in einer Anspielung vor), um zu beweisen: Das Gesetz verursacht genauso Leid und Zerstörung wie die Ungesetzlichkeit, der Frieden genauso wie der Krieg, die Wissenschaft genauso wie die Unwissenheit. Im Gedicht wird weder Gott noch das Schicksal erwähnt, so stößt das mythologische Narrativ an seine Grenzen; Sünde und Strafe, Hybris, Hochmut usw. erweisen sich nicht länger als geeignete Interpretationsmuster; die mythologische Sprache verstummt am entscheidenden Punkt. Die blutige Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfes bedeutete für Vörösmarty ein Geschehen jenseits jeder möglichen Sinngebung. Das Gedicht Előszó (1853 oder 1854; Vorrede, 1939, H. Leicht; Vorwort, 1970, G. Deicke), dessen historischer Bezug an Az emberek kaum heranreicht, beschwört die Tradition der Apokalypse. (Die Bedeutung des Titels ist ungeklärt; vielleicht dachte sich Vörösmarty das Gedicht als Vorwort zur Neuaufführung seines 1841 verfassten Dramas Az áldozat [Das Opfer], Vörösmarty 1998, 515–516): Midőn ezt írtam, tiszta volt az ég. Zöld ág virított a föld ormain. Munkában élt az ember mint a hangya: Küzdött a kéz, a szellem működött, Lángolt a gondos ész, a szív remélt, S a béke izzadt homlokát törölvén Meghozni készült a legszebb jutalmat, Az emberüdvöt, melyért fáradott. Ünnepre fordúlt a természet, ami Szép és jeles volt benne, megjelent. Öröm-s reménytől reszketett a lég, Megszülni vágyván a szent szózatot, Mely által a világot mint egy új, egy Dicsőbb teremtés hangján üdvözölje. Hallottuk a szót. Mélység és magasság
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Viszhangozák azt. S a nagy egyetem Megszünt forogni egy pillantatig. Mély csend lön, mint szokott a vész előtt. A vész kitört. Vérfagylaló keze Emberfejekkel lapdázott az égre, Emberszivekben dúltak lábai. Lélekzetétől meghervadt az élet, A szellemek világa kialutt, S az elsötétült égnek arcain Vad fénnyel a villámok rajzolák le Az ellenséges istenek haragját. És folyton-folyvást ordított a vész, Mint egy veszetté bőszült szörnyeteg. Amerre járt, irtóztató nyomában Szétszaggatott népeknek átkai Sohajtanak fel csonthalmok közől; És a nyomor gyámoltalan fejét Elhamvadt várasokra fekteti. Most tél van és csend és hó és halál. A föld megőszült; Nem hajszálanként, mint a boldog ember, Egyszerre őszült az meg, mint az isten, Ki megteremtvén a világot, embert, E félig istent, félig állatot, Elborzadott a zordon mű felett És bánatában ősz lett és öreg. Majd eljön a hajfodrász, a tavasz, S az agg föld tán vendéghajat veszen, Virágok bársonyába öltözik. Üvegszemén a fagy fölengedend, S illattal elkendőzött arcain Jókedvet és ifjuságot hazud: Kérdjétek akkor ezt a vén kacért, Hová tevé boldogtalan fiait? Als ich dies schrieb, da war der Himmel klar, / auf dieser Erde Wipfeln grünten Zweige, / und emsig ging der Mensch der Arbeit nach: / Es schuf die Hand, es wirkte klug der Geist, / Vernunft entflammte, Hoffnung trieb das Herz, / der Frieden, von der Stirn den Schweiß sich trocknend, / gedachte nun den schönsten Preis zu bringen: / Das Menschenheil, um das er sich geplagt. / Zur Feier rüstend, brachte die Natur, / was schön und edel war, ans Tageslicht. // Vor Freud und Hoffnung zitterte die Luft / im Wunsch, die heil’ge Botschaft zuzusenden, / und mit der Stimme einer bessern Schöpfung / zu grüßen neu und glorreich alle Welt. / Das Wort ertönte. Und es hallte wider / in Höhn und Tiefen. Und das Universum / hört’ auf zu kreisen einen Augenblick. / Es wurde still, die Stille vor dem Sturm. / Da brach es los. Und eine Schreckenshand / spielte mit Menschenköpfen wie mit Bällen, / zerstampft vom Wetter, brachen Menschenherzen, / von seinem Atem starb das Leben ab, / erlosch auch die erhabne
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Welt des Geistes, / und auf des Himmels finstres Angesicht, / mit wildem Zucken zeichneten die Blitze / den Zorn der aufgebrachten Götter ein. / Das Ungewitter brüllte immerfort, ganz wie ein toll gewordnes Ungeheuer. / Wohin es schritt, in seiner Schreckensspur / stiegen aus Knochenbergen röchelnd auf / die letzten Flüche der zerrißnen Völker, / und hilflos legt das Elend nun sein Haupt / in Schutt und Asche der zerstörten Städte. / Jetzt herrschen Winter, Stille, Schnee und Tod. / Die Erde aber ist jählings ergraut; / doch nicht allmählich wie friedliche Menschen, / nein, über Nacht ergraut, wie einstmals Gott, / der, als die Welt er schuf und dann den Menschen, / halb Gott im Wesen und noch halb ein Tier, / erschauderte ob seiner düstren Schöpfung / und vor Entsetzen grau ward, müd und alt. // Bald kommt der Lenz gegangen, ein Barbier, / die graue Erde nimmt dann die Perücke / und legt den Blumen Samt und Seide an. / Von ihren starren Augen taut der Frost, / mit Düften und mit grell geschminkten Wangen, / täuscht Freude sie und frische Jugend vor. / Ihr aber fragt die alte Sünderin: / Wo tat sie die erschlagnen Söhne hin? (Vajda–Klaniczay–Szabolcsi 1970, 70–71, Ü: G. Deicke)
Das Eingangsbild fügt sich in den Rahmen des säkularisierten heilsgeschichtlichen Narrativs: eine Beschreibung des Strebens nach „Menschenheil“ voller Grandezza, wobei menschliches Streben und die Natur im Frühling im Moment der „Feier“ dargestellt werden. Die Beschreibung zeigt eine Verwandtschaft mit dem Babel-Topos im Gedicht Gondolatok a könyvtárban, aber Vörösmarty, der ursprünglich auch hier die Metapher des Turmbaus verwendete, strich diesen Topos im Nachhinein, da das Gedicht später auf die Eliminierung des Zusammenhangs zwischen Sünde und Strafe und überhaupt jeder Möglichkeit kausaler Geschichtsschöpfung gerichtet war. Nicht das „Menschenheil“ bricht an, sondern der Sturm bricht los, der die Menschheit vernichtet. Die Zerstörung hat aber nicht nur keine Ursache, sondern auch keine apokalyptische Folge: Es entstehen weder ein „neuer Himmel“ noch eine „neue Erde“ – das Jetzt von „Winter, Stille, Schnee und Tod“ ist endgültig, der darauf folgende Frühling bringt nur eine scheinbare Erneuerung. Dem Zerfall der Kausalität ist auch Gott selbst ausgesetzt. Während das Gedicht Az emberek die mythologische Perspektive der ursprünglichen Dissonanz des Menschen verdeckt, stellt das Gedicht Előszó dar, dass auch Gott nicht mehr als ein Leidtragender am schrecklichen Ergebnis seiner Schöpfung ist: Die in ewigen Winter gehüllte Erde „ist jählings ergraut; / doch nicht allmählich wie friedliche Menschen, / nein, über Nacht ergraut, wie einstmals Gott, / der, als die Welt er schuf und dann den Menschen, / halb Gott im Wesen und noch halb ein Tier, / erschauderte ob seiner düstren Schöpfung / und vor Entsetzen grau ward, müd und alt“. Die Auflösung der kausalen Ordnung führt zu semantischen Brüchen; die verschiedenen mythologischen Vorstellungen widersprechen sich zuweilen, auch die Vorstellung vom Menschen als halb Gott, halb Tier lässt sich nicht mehr auf den Ausgangspunkt des Gedichtes zurückbeziehen. Die Preisgabe des heilgeschichtlichen Narrativs bedingt den ironischen Schluss: Der Sprecher nennt die Erde eine alte Kurtisane, die sich vom Frühling, vom Friseur, eine
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Perücke und Parfüm verschafft, um sich für jung auszugeben, nachdem sie alt geworden ist und ihre Kinder umgebracht hat. Das Gedicht endet also mit der allgemeingültigen Destruktion des Topos vom sinnvollen Opfer. Vörösmarty konnte sich aber mit dem Verlust der sinngebenden Sprache nicht abfinden. Sein letztes vollendetes Gedicht, A vén cigány (1854; Der alte Zigeuner, 1856, A. Dux; 1971, G. Deicke) lässt sich als Kampf um die Wiedererwerbung dieser Sprache lesen. Das Gedicht entspringt der gleichen Erfahrung des Kataklysmus wie Előszó, auch in ihm zeigen sich kaum Bezüge zur historischen Situation. Lediglich einige wenige Bilder bergen ferne Hinweise auf zeitgenössische Ereignisse (auf den Krimkrieg, also abseits vom ungarischen Freiheitkampf), aber diese Ereignisse dienen einmal mehr nur als Anlässe, um die Gestimmtheit auf das Individuelle zum Ausdruck zu bringen, so wie im Fall des Gedichts Az emberek die Ereignisse in Polen. Für den zeitgenössischen Leser trugen auch der Titel und das sich im Refrain wiederholende Zeugma („Herz voll Kummer, Becher voller Wein“) eine aktuelle Bedeutung; am Beginn der 1850er Jahre war die Fröhlichkeit unter Tränen („sírva vigadás“) eine charakteristische Lebensform – das Verdrängen des Traumas von 1849 in durchzechten Nächten, wobei den Rausch, der alles vergessen lässt, neben dem Wein die Zigeunermusik bot. Das Gedicht beginnt mit der genrebildartigen Situation „sich weinend vergnügen“ („sírva vigadás“): Der Sprecher ermutigt den Musiker mit einer etwas derben Ansprache: „Spiel, Zigeuner, hast den Lohn vertrunken“. Dadurch wird aber nur der Kontrast unterstrichen, denn sofort folgt ja die Verallgemeinerung: „Stets war dieses Leben so auf Erden: / Einmal Frost wollt’s, einmal Flamme werden“; schon in der zweiten Strophe kommt die gnomische Formulierung des universalen Verlustes („die Menschensaaten wurden zunichte“), und der Sprecher ruft den Musiker zum Ausdruck dieses Schmerzes auf: „Stimm ins Lied des Sturms ein“ – die Beschreibung der Wut des Sturmes beschwört das Gedicht Előszó. Unter dem Einfluss des sich steigernden Rausches wird die innere Wahrnehmung auf halluzinatorische Weise sinnlich; dies aber befreit die Sprache nicht, im Gegenteil, dem Sprecher wird die Trennung der Erfahrung und der zur Verfügung stehenden Sprache bewusst gemacht. Die Strophe, die die Verbalisierung der suggestivsten Erfahrung versucht, zählt bloß die zur Verfügung stehenden Topoi auf, ohne eine Wahl zu treffen: „Woher kam der Seufzer, zag, verhalten, / was will dieser Schrecken, dieses Jagen, / und was hämmert am Gewölb des Himmels? / Mahlen Höllenmühlen diese Klagen? / Engelsturz, Herzbruch, verrückte Seelen, / geschlagne Heere oder kühnes Sehnen“ (Vörösmarty 1984, 60, Ü: G. Deicke; und Ch. Kunze). In der darauffolgenden Strophe werden aus dem Repertoire – wiewohl in konjunktivischer Form – bereits bestimmte Topoi ausgewählt; auf die paradoxe anthropologische Erfahrung verweisen die Zwillingsfiguren von Kain und Prometheus – des Sünders und des Heros: „Als ob wieder des empörten Menschen / wildes Keuchen
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in der Wüste klänge, / niedersauste Brudermörders Keule, / schwelln der ersten Waisen Grabgesänge; / und wir hörn des Geiers Flügelschlagen / und, unsterblich, des Prometheus Klagen.“ (Vörösmarty 1984, 60). Die Arche Noah als Topos, der das Paradox auflöst, wird überhaupt nicht mehr vom Zweifel an der Sagbarkeit begleitet; der zerstörende Sturm erscheint im Rahmen dieses Topos als Mittel der Reinigung und die Arche als Metonymie einer neuen Welt. Das Gedicht dreht damit den destruktiven Erzählverlauf des Gedichts Előszó um und kommt bei der Prophezeiung der „Feier“, die am Ende der Erzählung stattfindet, an. Die kosmische Situation der Feier lässt sich letztlich dem Punkt des Neubeginns gleichsetzen, der im Gedicht Gondolatok a könyvtárban den Höhepunkt der Babel-Episode bildet; doch stellt sich die Frage gar nicht, wo die neu beginnende „Feier“ im kosmischen Kreislauf ihren Platz hat. Dem Sprecher gelingt es, die Sprache, die von der Herrschaft des Nichts befreit, zurückzuerobern und durch sie, dem alten Zigeuner ähnlich, in einem rauschhaften Moment möglichen Trost zu erlangen. Die erhöhte sprachliche Intensität, die für diese Gedichte charakteristisch ist und vielleicht als größte Leistung der ungarischen Romantik betrachtet werden kann, erwies sich als nicht fortsetzbar. Sándor Petőfi gestaltete seinen dichterischen Stil gegen diese Sprache, die Ausdrucksweise der Lyrik in der nächsten Periode wurde von János Arany bestimmt, der der Romantik klassizistische Züge verlieh. Den monumentalen Kampf, den die Lyrik Vörösmartys führte, um die Tiefen der Existenz auszudrücken, versuchte János Vajda fortzusetzen und zu modernisieren; aber erst Endre Ady sollte bewusst an Vörösmartys Versuch anknüpfen, das moderne lyrische Subjekt zu konstituieren.
III.2.4 Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit Vörösmarty war in den 1830er und 1840er Jahren nicht nur der bedeutendste ungarische Dichter, er spielte auch bei der Veränderung des literarischen Betriebs eine zentrale Rolle. Der Aurora-Kreis, zu dessen Kern außer ihm seine zwei Freunde József Bajza und Ferenc Toldy gehörten, festigte seine Position im literarischen Leben. Neben der Debatte um Pyrker trug dazu die Diskussion um die Gründung des „Ungarischen Conversations-lexicons“ bei. Der Buchhändler Otto Wigand wollte 1830 nach dem Muster des deutschen Brockhaus ein allgemeines Lexikon herausgeben, mit der Redaktion beauftragte er Gábor Döbrentei, der sich mittlerweile von der romantischen Richtung entfernt hatte. Die Autoren des Aurora-Kreises wollten sich der Unternehmung anschließen, wurden aber von Döbrentei daran gehindert. Im Namen der jungen Schriftsteller griff ihn Gyula Fenyéry in der Zeitschrift Tudományos Gyűjtemény an; er wies zugleich
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auf die fachlichen und personellen Mängel des geplanten Lexikons hin. In die Debatte mischte sich in der Zeitschrift Kritikai Lapok auch József Bajza ein, er griff Döbrentei in scharfem Ton an. Döbrentei rief Graf József Dessewffy zu Hilfe, im Vertrauen darauf, dass der Aristokrat durch sein Ansehen die Argumente der jungen Schriftsteller entkräften könne. Bajza reagierte mit dem Argument, der gesellschaftliche Rang spiele in der Literatur keine Rolle. Mit Bajzas Artikel fand die Diskussion ihr Ende, das Lexikon erschien 1831–1834 in 12 Bänden unter dem Titel Közhasznú Esmeretek Tára (Sammlung gemeinnütziger Kenntnisse). Die Vorhaltungen der jungen Schriftsteller erwiesen sich freilich als begründet: Das Werk blieb unter dem angestrebten Niveau (und war damit auch kommerziell nicht erfolgreich). Nicht nur prinzipiell wies die Debatte über die Lexikon-Frage hinaus, sie spielte auch im Kampf um Positionen im sich herausbildenden System der Literaturinstitutionen eine Rolle. Döbrentei, der ein Vertrauter von István Széchenyi war, welcher die Gründung der Akademie der Wissenschaften initiierte, hatte gute Chancen, Sekretär der neuen Akademie zu werden. 1831 bekam er den Posten auch; die junge Generation konnte erst 1835 Ferenc Toldy an seine Stelle setzen. Das Taschenbuch Aurora hatte mittlerweile im literarischen Leben eine so bedeutende Stellung erlangt, dass sich nach dem Tod des Gründers Károly Kisfaludy (1832) zwei Gruppen bzw. Verlage um die Weiterführung stritten. So erschienen zwischen 1832 und 1834 zwei Almanache unter diesem Titel (die „GegenAurora“ wurde von Ferenc Kölcseys Freund Pál Szemere herausgegeben; sie druckte u. a. Kölcseys Essay Mohács ab). In der Debatte zeichneten sich neue Gesichtspunkte innerhalb der Strukturierung der Institutionen des literarischen Lebens ab. Einerseits ging es um das finanzielle Interesse der Verlage – die Herausgabe von Aurora bedeutete Gewinn –, andererseits um das Urheberrecht. Bajza wollte Aurora dem früheren Verlag wegnehmen, weil dieser nicht respektierte, dass literarische Werke als geistiges Gut unveräußerliches Eigentum des Verfassers zu bleiben hatten und durch das Honorar, das der Verlag bei Erscheinen im Almanach den Autoren bezahlte, von diesem nicht erworben wurden. Die Bajza–Vörösmarty–Toldy-Gruppe erwarb das ausschließliche Recht zur Herausgabe von Aurora, ein eher moralischer Sieg; der Almanach verlor angesichts der rasanten Entfaltung literarischer Öffentlichkeit an Zuspruch und wurde 1837 eingestellt; die Gruppe rief eine neue Zeitschrift unter dem Titel Athenaeum ins Leben. Athenaeum war jedoch kein ausschließlich literarisches Blatt, insofern ist nicht nur Aurora ein Vorläufer. István Széchenyi, die führende Persönlichkeit der liberalen adeligen Reformbewegung, gab 1832 ein Nachrichtenblatt mit dem Titel Jelenkor (Gegenwart) heraus. Dieses konnte aufgrund der Zensur nicht zu einem wirklichen politischen Nachrichtenblatt werden, seine Beilage Társalkodó (Conversationsblatt) aber – eine Zeitlang auch von Bajza redigiert – wurde zum
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Sprachrohr liberaler Ansichten und des Reformprogramms von Széchenyi (hier publizierte er u. a. 1835 seine Artikelserie zugunsten des ungarischsprachigen Theaters). Das Blatt wurde schnell populär und erschien in einer Auflage von 4.000 Stück. In der Popularität von Széchenyis Blatt deutet sich an, wie umfassend sich das historisch-gesellschaftliche Umfeld der ungarischen Literatur in den 1830er Jahren verändert hatte. Für diese Bestrebungen, angeregt noch von den aristokratischen Gruppierungen der Jahrhundertwende, welche die Notwendigkeit der Reformen Josephs II. akzeptiert hatten, aber gegen seine Vorstellungen von einem einheitlichen Gesamtreich Widerstand leisteten, war der Absolutismus von Franz I. nicht günstig. Dessen System geriet 1822 in eine Krise: Die enormen finanziellen Belastungen der napoleonischen Kriege wollte der Herrscher in bedeutendem Umfang auf den ungarischen Adel abwälzen, die meisten Komitate verweigerten die Durchführung der Verordnungen des Herrschers offen. Franz I. war gezwungen, den ungarischen Reichstag nach 13 Jahren Pause einzuberufen. Die Frage der gesellschaftlichen Modernisierung kam damit vor den Reichstag. Für die Neubesprechung der Reformvorschläge von 1790 wurde eine Kommission gegründet, aber inhaltliche Entscheidungen fielen nicht. Zur Wende kam es im Jahr 1830, als das Reformprogramm von István Széchenyi unter dem Titel Hitel (Kredit) erschien. Széchenyi kam eine Schlüsselrolle dabei zu, der Literatur die Verpflichtung zur gesellschaftspolitischen Wirkung zu übertragen. Er hatte in seiner Jugend an den napoleonischen Kriegen teilgenommen, dann die weltanschauliche Krise der Epoche miterlebt; in seinen Tagebüchern gestaltete er seine Jugend im Sinne Byron’schen Heldentums aus. Aus England kehrte er von dem dort erfahrbaren Fortschritt tief beeindruckt nach Hause und entschloss sich, seine einflussreiche Position zu nutzen, um gesellschaftliche Reformen auch in Ungarn durchzusetzen. Seine Schrift Hitel zielte nicht nur auf die Umwandlung der adeligen Grundherrschaft in bürgerliches Eigentum, sondern kündigte ein umfassendes Programm an, das auch der Kultur eine prominente Rolle zuwies. Gegen Széchenyi bezog József Dessewffy Position (1831), der auch in der Literatur zugunsten der konservativen Seite auftrat; dies bot Széchenyi Anlass, seine Ansichten ausführlicher darzulegen (Világ, 1831; Erhellung; Stádium, 1833; dass Stádium von der Zensur nicht zugelassen wurde, steigerte die Popularität, es erschien in Leipzig). Auf dem Reichstag von 1832 organisierte sich die Opposition, die die Reformen forcierte, zu einem eigenen politischen Lager, dessen Anführer Miklós Wesselényi wurde. Da für das Programm der Reformer keine Presseerlaubnis bestand, bot die lithographierte Zeitung Országgyűlési Tudósítások (Reichstagsberichte) von Lajos Kossuth eine eingeschränkte Öffentlichkeit. Auf den Reichstagen von 1832–1836 erlitten die Anhänger der Reformen eine Niederlage. Der Hof wies den Großteil der Vorschläge zurück, und nach dem
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Schließen des Reichstages ließ man die jungen Abgeordneten festnehmen und leitete einen Prozess gegen die Anführer der Opposition ein. Wesselényi und Kossuth kamen ins Gefängnis (ihre Befreiung erreichte erst der nächste Reichstag im Jahr 1839). In dieser Situation war ein Blatt mit gemischtem Profil als Organ moderner gesellschaftlicher und literarischer Bestrebungen von sehr großer Bedeutung. Das Athenaeum (es erschien zweimal wöchentlich) war in der Lage, fast alle bedeutenden ungarischen Dichter an sich zu ziehen. In ihm fanden sämtliche wichtigen Ideen der Epoche Aufmerksamkeit; es beschäftigte sich mit Hegels Philosophie ebenso ausführlich wie mit Tocquevilles Buch über die amerikanische Demokratie, die aktuellen Gesellschafts- und Staatstheorien wurden vorgestellt, Prinzipienfragen der Geschichtsschreibung, neueste naturwissenschaftliche Entdeckungen und Lehren der modernen Pädagogik – mit besonderer Berücksichtigung der Frauenerziehung – fanden Aufnahme; regelmäßig publizierte man ethnographische, sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge. Hier wurde auch die Debatte über das Verhältnis von Kosmopolitismus und Patriotismus geführt, die den Schluss von Vörösmartys Gedicht Gondolatok a könyvtárban motivierte. Auch die schöne Literatur kam nicht zu kurz (Vörösmarty publizierte die meisten seiner Gedichte hier), neue Richtungen waren vertreten und junge Talente wurden gefördert. Das Athenaeum räumte der neuen Volkstumsliteratur Platz ein, und das erste Gedicht von Sándor Petőfi erschien hier. 1837, im Jahr der Eröffnung des Pester Ungarischen Theaters (des späteren Nationaltheaters), wurde eine neue Rubrik mit dem Titel Ungarische Bühnenchronik eröffnet, die neben der regelmäßig erscheinenden Theaterkritik auch dramaturgische Aufsätze brachte. Man engagierte hauptberufliche Redakteure und zahlte ein regelmäßiges Honorar; die Auflagenhöhe lag zwischen 1.000 und 1.500 Exemplaren. Bajza stellte die Kritikai lapok (Kritische Blätter) ein, stattdessen begründete er den Figyelmező (Beobachter), die kritische Beilage des Athenaeum (1840 dem Hauptblatt einverleibt). Der Figyelmező war das erste Organ einer regelmäßigen kritischen Rundschau zur ungarischen Literatur; der führende Kritiker war Gusztáv Szontagh (1793–1858), ein Philosoph (er schuf die ungarische Version von W. T. Krugs Harmonie-Philosophie). Die wichtigste Bestrebung von Szontagh bestand in der Durchsetzung des Romans; er vertrat den Standpunkt, dass es nunmehr keine andere Gattung mehr mit ihm aufnehmen könne, und er beurteilte die sich entfaltende ungarische Romanliteratur in diesem Licht. Der Figyelmező schenkte daneben auch der Entwicklung der ungarischen Dramatik gebührende Beachtung. Das Athenaeum konnte einerseits wegen der zunehmenden Politisierung des Lesepublikums nicht mit dem von Lajos Kossuth 1841 gegründeten Blatt Pesti Hírlap (Pester Blatt) Schritt halten, andererseits auch nicht mit den immer populäreren Modeblättern, so wurde es 1843 eingestellt.
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Bei der Umformung der Institutionen brachte die Gründung der Ungarischen Gelehrtengesellschaft (Magyar Tudós Társaság) und der Kisfaludy Társaság (Kisfaludy-Gesellschaft) einen Wendepunkt mit sich; auch die Gründung des Pester Nationaltheater übte eine bedeutende Wirkung aus. Die Gründung einer Akademie der Wissenschaften hatte György Bessenyei schon 1781 vorgeschlagen (Egy tudós társaság iránt való jámbor szándék, Frommer Wunsch nach einer Ungarischen Gelehrtengesellschaft), und schon am Anfang des Jahrhunderts wurden in erster Linie auf Initiative von Graf Ferenc Széchényi nationale wissenschaftliche Institutionen gegründet. Sein Sohn István bot 1825 ein Jahreseinkommen seiner Landgüter für die Gründung der Akademie; 1827 trat das Gesetz „über die aufzustellende Gelehrtengesellschaft oder ungarische Akademie für die Kultivierung der heimischen Sprache“ in Kraft. Die ursprüngliche Zielsetzung der nach französischem und italienischem Muster ins Leben gerufenen Ungarischen Gelehrtengesellschaft (seit 1858 Ungarische Akademie der Wissenschaften) war die Kultivierung der ungarischen Sprache durch Schöpfung von Originalwerken, Herausgabe von Übersetzungen und Urkunden sowie Versorgung des nationalen Theaterwesens mit Stücken. Sie gab Rechtschreibregeln und Wörterbücher heraus, gründete einen Preis für die Prämierung von Originalwerken und begann mit den Serien Ausländische Bühne bzw. Originale Bühne; in der ersteren wurden Werke von Shakespeare, Molière, Voltaire, Lessing, Goethe, Schiller in ungarischer Übersetzung, in der anderen Dramen von Ede Szigligeti, Lőrinc Tóth, Mihály Vörösmarty u. a. publiziert. Die Akademie begann ihre Tätigkeit mit sechs Klassen; zur Förderung der ungarischen Wissenschaften wurde die Zeitschrift Tudománytár (Wissenschaftsmagazin) gestartet, die nach anfänglichen Schwierigkeiten zum Forum der modernen Sozial- und Naturwissenschaften in Ungarn wurde. Die Förderung des literarischen Lebens machte sich die Kisfaludy-Gesellschaft zur Aufgabe, die sich als „Magyar Szépirodalmi Intézet“ (Institut für ungarische Belletristik) definierte. Ihre Gründer riefen sie im Jahr 1836 ins Leben, ursprünglich für die Aufstellung eines Denkmals für Károly Kisfaludy und zur Herausgabe seiner Werke. Die Sammlung von Geldmitteln ergab aber mehr, als für den Zweck nötig war; den Überschuss verwendete man auf Vorschlag Ferenc Toldys für die Prämierung von theoretischen und dichterischen Werken. In diesem Geist veranstaltete die Gesellschaft Lesungen und schrieb jährlich Preise aus; Letztere wurden für die 1840er Jahre richtungsweisend. Die Gesellschaft gab auch bedeutende Reihen heraus, so 1846 die „Hellenische Bibliothek“ (die Werke von Äsop, Pythagoras, Isokrates enthielt); Kisfaludys Gesamtwerk erschien als erster Teil der „Nationalen Bibliothek“ (Nemzeti Könyvtár). Mit dem 1842 eingeleiteten „Ausländischen Romanmagazin“ (Külföldi Regénytár) setzte sie sich die Verbreitung der zeitgenössischen europäischen Romanliteratur zum Ziel (als erste er-
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schienen die Werke von Balzac, Dickens und Cervantes), und in der Reihe „Ästhetische Klassiker“ gab sie klassische Werke der Ästhetik heraus (Poetik und Rhetorik von Aristoteles, Ars poetica von Horaz, die Abhandlung über das Erhabene von Longinos und die Rhetorik des Anaximenes). Die Gesellschaft begründete 1846 eine kritische Zeitschrift (Magyar Szépirodalmi Szemle [Ungarische Literaturschau]), die neben Rezensionen auch theoretische Aufsätze und Artikel zur ausländischen Literatur brachte; die nötige Nachfrage bestand aber nicht, sodass sie ein Jahr später eingestellt wurde. Literaturschaffende und Politiker stimmten darin überein, dass das Theater für den Zusammenschluss der Nation ein wirksameres Medium bilde als gedruckte Literatur. Die ungarische Dramenproduktion vermochte aber bisher keinen der Lyrik oder der Verserzählung vergleichbaren Rang einzunehmen. Durch ihre rasche Entwicklung begann auch die Romanliteratur das Drama hinter sich zu lassen. Das bedeutendste dramatische Werk, József Katonas Bánk bán, konnte aus Gründen der Zensur bis 1833 nicht auf die Bühne gebracht werden; so verdankte das ungarische Theaterleben seinen Aufschwung in erster Linie Károly Kisfaludy, wie auch die Wende, dass Singspiele, dramatisierte Heldenspiele und ungarische Adaptationen im Repertoire vom Drama verdrängt wurden. Die Entwicklung des Theaterlebens wurde auch dadurch behindert, dass sich in PestBuda, das sich immer mehr zum kulturellen Zentrum entwickelte, bis dahin keine ständige ungarische Schauspieltruppe hatte halten können bzw. noch kein ungarischsprachiges Theater ins Leben gerufen worden war. Den Wendepunkt brachte das Jahr 1833, als ein 1828 in Kaschau gegründetes Ensemble, eines der bedeutendsten im Land, mit Unterstützung des Komitats Pest nach Buda zog. Die Entwicklung wurde auch dadurch beschleunigt, dass István Széchenyi die Gründung eines nationalen Schauspielhauses forcierte und förderte, damit der Aristokratie eine Unterhaltung von nationalem Geist geboten werde. Das Pester Ungarische Theater (Pesti Magyar Színház) wurde schließlich 1837 von öffentlichen Spenden auf einem vom Herzog Antal Grassalkovich gespendeten Grundstück in Pest erbaut. Auf Initiative seines ersten Direktors József Bajza wurde es 1840 in das Nationaltheater (Nemzeti Színház) umgewandelt. Zu Beginn setzte man hauptsächlich deutsche Rührstücke (meist von Kotzebue und Raupach) auf das Programm, aber auf Bajzas Initiative erhielten auch französische Dramatiker (Scribe, Dumas, Hugo) immer größeren Raum. Das Theater tat sehr viel für die Bekanntheit klassischer Dramenliteratur, vor allem Shakespeares; diesem dienten immer mehr und immer bessere Übersetzungen (die besten Dichter und Schriftsteller betätigten sich als Übersetzer; Vörösmarty übersetzte Julius Cäsar und König Lear). Zur Förderung der ungarischen Dramenliteratur wurde unter der Leitung des Dramendichters und früheren Schauspielers Ede Szigligeti im Jahr 1835 die Pester Dramatikergesellschaft (Pesti Magyar Drámaíró Egyesület) ge-
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gründet. Neben Katonas Bánk bán, das von dem Pester Ensemble in jenem Jahr erstmals aufgeführt wurde, genügten die Stücke von Vörösmarty und Szigligeti höheren Ansprüchen. Szigligeti war der Dichter, der das Volksstück auf der ungarischen Bühne einbürgerte. Durch die Eröffnung des Theaters gerieten das ungarische Drama und das dramaturgische Denken ins Spannungsfeld der Medien Literatur und Bühne. Vörösmarty, der selbst mit zahlreichen Dramen zum Betrieb des Pester Ungarischen Theaters beitrug, sprach sich in seinen dramaturgischen Schriften zugunsten von Bühnengerechtheit und Bühnenwirkung des Dramas aus (Elméleti töredékek, 1837; Theoretische Fragmente). Bajza teilte seine Ansichten und war deshalb darum bestrebt, im Repertoire dem romantischen französischen Drama, das auf Bühneneffekte baut, einen Vorrang zu sichern. Nachdem er seinen Posten als Direktor abgegeben hatte, unterstützte er diese Position weiterhin als Theaterkritiker im Athenaeum. Angegriffen wurde sie von Imre Henszlmann, dessen Dramenverständnis von der Literatur her kam und der als Sinn des Dramas – in erster Linie unter dem Einfluss der deutschen Frühromantik und Hegels, die er während seiner Studien in Deutschland kennengelernt hatte – die Individualität der Persönlichkeit betrachtete, also den dramatischen Charakter. Im Zeichen dieser Auffassung bemängelte er nicht nur das von Victor Hugo geprägte zeitgenössische französische Drama als oberflächliche Effekthascherei, er lehnte auch das klassische griechische Drama und seine modernen Nachfolger ab. Henszlmann, der sich wie die deutschen Romantiker für Shakespeare begeisterte, übte auch daran Kritik, dass diesem im Repertoire kein prominenterer Platz eingeräumt wurde (Drámai jellemek, 1842, Dramencharaktere). In seiner Antwort sprach sich Bajza dafür aus, das Drama in erster Linie aus der Perspektive der Bühne zu beurteilen; unter Berufung auf Shakespeares dramaturgische Praxis lehnte er es ab, Charakter und Wirkung gegeneinander auszuspielen, und ordnete den Charakter der wirkungsbestimmenden Handlung unter (Shakespeare, francia színművek s az Athenaeum, 1842, Shakespeare, das französische Schauspiel und das Athenaeum). Infolge des Strukturwandels der literarischen Öffentlichkeit begannen literarische Debatten den Alltag zu bestimmen. Das betrifft schon die Debatten um Pyrker, Aurora und das Conversationslexikon; zugleich aber kehrten die Diskussionen um das Urheberrecht wieder, da diese Frage trotz zahlreicher Bemühungen bis 1852 von keinem Gesetz umfassend geregelt wurde. Die erste Plagiatsdebatte fand noch in den 1820er Jahren statt. Ferenc Kölcsey hatte 1816 mit Blick auf die Geschichtlichkeit der Sprache die Ilias neu zu übersetzen begonnen; 1821 erkannte er mit Bestürzung in der frisch erschienenen Ilias-Übersetzung von Ferenc Vályi Nagy seinen eigenen Text. Es stellte sich heraus, dass Ferenc Kazinczy, dem er den übersetzten Teil zugesandt hatte, diesen Vályi Nagy für
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Studienzwecke weitergereicht hatte – doch Vályi übernahm ihn unverändert, da er besser war als seine eigene Übersetzung. Kazinczy, der letzte Vertreter eines älteren Verständnisses von Öffentlichkeit, verstand Kölcseys Empörung nicht. Aus dem Fall entstand eine öffentliche Polemik; die jüngere Generation gab einstimmig Kölcsey Recht. Die Frage des Urheberrechts leitete Ferenc Toldy in seinen Aufsätzen von 1833 und 1840 aus den bürgerlichen Eigentumsprinzipien ab, die Kisfaludy-Gesellschaft konzipierte 1844 einen umfassenden Gesetzesentwurf, der den Radius der zu schützenden Werke über literarische Veröffentlichungen hinaus auf Theater- und Musikaufführungen bzw. Werke der bildenden Kunst ausdehnte. Die Schutzfrist legte er mit 50 Jahren fest, für den Fall der Verletzung des Urheberrechts stellte der Gesetzesentwurf Sanktionen in Aussicht, mit all dem sollte jede Regelung ausgeschlossen werden, die noch dem ständischen Prinzip verpflichtet war. Obwohl der Entwurf die Unterschrift des juristisch hochgebildeten späteren Innenministers von 1848 Bertalan Szemere trug, verweigerte der Monarch die Unterzeichnung mit Rücksicht auf das allgemeine österreichische Urheberrechtsgesetz (Gesetz zum Schutze des literarischen und artistischen Urheberrechts), das gerade vorbereitet wurde. Es wurde 1846 verabschiedet, aber in Ungarn erst 1852 eingeführt. Vor dem Hintergrund der Entwicklung von Pest-Buda, das sich rapide ungarisierte und zu einem wirklichen literarischen Zentrum wurde, weisen all diese Vorgänge auf die Sonderstellung der Literatur als eines sozialen Subsystems mit eigenen Institutionen hin. Die Literatur erwarb sich ein größer werdendes Leserpublikum und wachsendes gesellschaftliches Ansehen, der Beruf des Dichters oder Schriftstellers wurde – wenn auch oft in Verbindung mit dem Journalismus – zu einer selbständigen Erwerbsquelle, das Mäzenatentum verschwand, der Verlag von Büchern und Zeitschriften wurde zur geschäftlichen Tätigkeit. Die Herausbildung institutioneller Autonomie für die Literatur als soziales Subsystem war gleichzeitig und zunehmend mit Reflexionen über die Gesellschaft verbunden. Im Hintergrund standen soziale und politische Veränderungen in rascher Folge: Der Reichstag von 1839/40 erhob die wichtigsten Reformen zum Gesetz. Die politische Arena war in diesem Jahrzehnt einerseits von der Debatte unter den Reformern, andererseits vom Kampf zwischen den Reformern und den Konservativen geprägt. Erstere entzündete sich am Konflikt zwischen István Széchenyi und Lajos Kossuth; Széchenyi wollte die Reformen in Kooperation mit der Wiener Regierung ausführen, Kossuth zufolge war eine Veränderung nur gegen den habsburgischen Absolutismus aussichtsreich. Die Reformpolitiker mussten zugleich aber der konservativen Seite gegenüber Einigkeit beweisen, etwa als diese 1846 eine programmatische Erklärung veröffentlichte. Sie führte zur Veröffentlichung der Oppositionserklärung (Ellenzéki nyilatkozat) im Jahr 1847, zu deren Verfassern nicht nur wichtige spätere Repräsentanten der 1848er
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Regierung (László Szalay, Lajos Batthyány), sondern auch Persönlichkeiten gehörten, die gleichermaßen als Schriftsteller und als Politiker galten (József Eötvös, Zsigmond Kemény). Die typischen publizistischen Plattformen der literarischen Öffentlichkeit waren in diesem bewegten Jahrzehnt jene Modeblätter, deren Zielpublikum das städtische Bürgertum war, obwohl die Leser größtenteils dem Kleinadel, der die bürgerliche Lebensform übernommen hatte, und der Intelligenz adeliger Herkunft angehörten. Die Auflagenhöhe der Blätter lag zwischen 1.000 und 1.500 Exemplaren. Den französischen Blatt-Typus bürgerte die deutschsprachige Zeitschrift Spiegel für Kunst, Eleganz und Mode im Jahr 1828 ein (von 1848 bis zu ihrer Einstellung 1852 erschien sie in Wien); das erste ungarischsprachige Modeblatt war Regélő (Erzähler, 1833–1841). Aus literarischer Sicht war ihre Beilage Honművész (Heimatkünstler), die sich der Sache des Pester Ungarischen Theaters annahm, von Bedeutung; sie führte sogleich nach ihrer Begründung eine regelmäßige Theaterkritik ein. Den typischen Modeblatt-Typus der 1840er Jahre vertrat das Regélő pesti divatlap (Unterhaltendes Pester Modeblatt, 1842–1848), das die Literatur als Teil des gesellschaftlichen Lebens behandelte und im Zusammenhang mit Theater, Kunstausstellungen und Mode präsentierte. Das Ziel des Blattes bestand darin, die politischen Reformansätze mit der Modernisierung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens zu verknüpfen. Die Ausrichtung auf Literatur trat 1844 stärker in den Vordergrund, als zunächst János Erdélyi, der führende ästhetische Denker der Zeit, und später sein Schwager Imre Vahot die Redaktion übernahmen. Dieser engagierte Sándor Petőfi als Mitredakteur; der Titel wurde zu Pesti divatlap (Pester Modeblatt) geändert. Petőfi verpflichtete sich, seine Gedichte ausschließlich in diesem Blatt zu publizieren. Die Zeitschrift charakterisierte eine starke nationale Orientierung, die sich nicht nur in den literarischen Texten, sondern auch in den Mode-Abbildungen äußerte. Der größte Rivale des Pesti divatlap wurde das Blatt Életképek (Genrebilder, 1843–1848), gegründet von Adolf Frankenburg, einem Beamten der Statthalterei. Die Literatur-Rubrik war besser als die von Vahots Blatt, weil die besten Autoren der Zeit für sie gewonnen wurden, für die man sogar ein eigenes kritisches Beiblatt (Irodalmi Őr, Literarische Wache) herausgab, dessen Profil János Erdélyi und Imre Henszlmann prägten. Die Position erfuhr eine weitere Stärkung, als Petőfi, nachdem er mit dem Pesti divatlap gebrochen hatte, und sein Kreis von jungen Schriftstellern, die Gruppe der „Zehn“ (Tízek társasága), sich auch den Életképek verschrieben (1846). Das führte zugleich zu einer hochgradigen Politisierung des Blattes, sodass Frankenburg – der immer noch Beamter in der Statthalterei war – die Verantwortung nicht länger tragen konnte und die Redaktion Mór Jókai, einem jungen Schriftsteller der Gruppe der „Zehn“, überließ. Der
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politische Kurs des Blattes radikalisierte sich im Zuge von 1848 weiter, was auch Jókai nicht mehr vertreten wollte. Seinen Abgang konnte das Blatt aber nicht lange überleben; als die ungarischen Truppen 1848 Buda aufgeben mussten, wurde es eingestellt. Das dritte charakteristische Modeblatt des Jahrzehnts war das Blatt Honderű (Heimatsfrohmut, 1843–1848). Sein Redakteur Lázár Petrichevich Horváth setzte sich zum Ziel, mit seiner Zeitschrift die Unterstützung der ungarischen Aristokratie für die Literatur zu gewinnen. Die Rolle des Blattes im literarischen Leben war davon bestimmt, dass es als Opposition zur Bewegung der Volkstums-Literatur auftrat – da dies jedoch zugleich eine Konfrontation mit Petőfi bedeutete, der als führende Gestalt der ungarischen Literatur der Zeit galt, war das Schicksal der Zeitschrift bald besiegelt.
III.2.5 Aufstieg des Romans Die Prämissen der Romantik in der Literatur erfuhren, nicht unabhängig von den zeitgenössischen Tendenzen in Westeuropa, in der Dekade nach 1840 einen Wandel; daraus resultierende Konsequenzen überschneiden sich. Eine typische Veränderung (die Parallelen zum Aufstieg der französischen Romantik nach 1830 bzw. zur Entwicklung im deutschen Vormärz aufweist) war die Politisierung der Literatur. Jókai gedachte dessen in folgender Weise: Wir waren alle Franzosen. Wir lasen nichts anderes als Lamartine, Michelet, Louis Blanc, Sue, Victor Hugo, und Béranger, und wenn wir einem englischen oder deutschen Dichter die Gnade erwiesen, dann waren das Shelley und Heine, selbst Verstoßene ihrer Nationen, und nur in ihren Sprachen Engländer und Deutsche, aber in ihrem Geist Franzosen. (Jókai 1993, 95, Ü: K. Blaskó)
Diese Veränderung innerhalb der ungarischen Literatur kam nicht als Gegenwirkung auf die ‚reaktionäre‘ Strömung der Romantik zuvor zur Geltung (eine Romantik, die als solche interpretiert werden könnte, gab es in der ungarischen Literatur nicht). Sofern es sich bei der Veränderung um eine Gegenreaktion auf die Bestrebungen der Romantik bis dato handelte, richtete sie sich einerseits gegen die Auffassung von der ästhetischen Autonomie der Poesie als in sich selbst ruhendem Zweck, andererseits gegen das Sich-Abschließen in der nationalen Vergangenheit. Aber sie bedeutete nicht selten auch die Abrechnung der Dichter mit dem eigenen früheren Weltschmerz, der in der ungarischen Romantik in den 1830er Jahren stark präsent gewesen war. Diese neue Tendenz wertete viele bisher bestimmende Charakteristika der romantischen Literatur – besonders die Neigung zum Phantastischen und Exotischen – ab, dadurch bahnte sie der Pro-
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saliteratur den Weg zu Verfahren des Realismus (die auf Erweckung von Realitätseindrücken gerichtet waren). Während sowohl der Weltschmerz als auch die Tendenzliteratur die breiteren Perspektiven der Romantik bewahrten, gewann ab den 1830er Jahren parallel zu ihnen das Biedermeier, die gezähmte Romantik, immer mehr an Raum. Das Biedermeier erhielt auch von der nicht romantischen zweiten Reihe der Literatur Unterstützung; in der Prosaliteratur begünstigte auch diese Tendenz die Verbreitung der realistischen Züge. Schließlich trat in den 1840er Jahren die Bewegung der Volkstums-Literatur massiv in Erscheinung, die erst spät und nur partiell mit der Tendenz der Politisierung der Literatur in Berührung gekommen war; sie entsprang einem Programm der Ablehnung von universellen poetischen Mustern und der sprachlichen-kulturellen Originalität der ungarischen Literatur. Die Gesellschaftsbezogenheit der Literatur hing mit dem Aufstieg des Romans zusammen; der romantische Roman entfaltete sich in Ungarn in den 1830er Jahren. Das erste Exemplar der „neuen Welle“ des Romans, das allgemein Aufmerksamkeit erregte, war András Fáys A Bélteky-ház (1832, Die Béltekys), der verschiedene westeuropäische Romanmuster (Bildungsroman, Familienroman, Gesellschaftsroman) im Zeichen des Reformprogramms von Széchenyi in sich vereinigte. Er stellt die Konfrontation zweier Generationen einer ungarischen Adelsfamilie – mit Vater und Sohn im Mittelpunkt – als Vertreter des Konservativismus bzw. der Reformbewegung dar. (Fáy war selbst von 1832 bis 1836 Abgeordneter im Reichstag, er spielte auch später eine wichtige Rolle im öffentlichen Kulturleben.) Das Publikum ging über den Roman wegen seiner Sprachund Konstruktionsmängel bald hinweg – zu Gunsten des Romans Abafi (1836; Abafi, 1838, G. Treumund) von Baron Miklós Jósika, den die zeitgenössische Kritik und das Leserpublikum einstimmig zum Ausgangspunkt der ungarischen Romangeschichte kanonisierten (Hites 2007a). Das Werk, das in Siebenbürgen (in Jósikas Heimat) spielt, kombiniert ähnlich wie der Roman von Fáy mehrere Muster; es verwendet die Form von Walter Scotts historischem Roman (in erster Linie die authentische Milieu-Darstellung). Es geht um die Geschichte eines heruntergekommenen jungen siebenbürgischen Adeligen, der sich zum Besseren wandelt. Der historische Roman basiert trotz seiner spektakulären äußeren Handlung auf einer prämodernen Auffassung von Geschichte, der Autor wollte, dass der Leser des 19. Jahrhunderts die Veränderung von Olivér Abafi als Parabel liest. Er wollte dabei zwar den psychologischen Ansprüchen, die man an den modernen Roman stellte, entsprechen, hielt jedoch Charakter und menschliche Reaktionen in verschiedenen Situationen für unabhängig von den historischen Gegebenheiten und im Grunde genommen für Konstanten. Die psychologische Darstellung von Abafi führt zuweilen – trotz der Absicht des Autors – über dieses Ziel
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hinaus; der Erzähler beginnt gar an der Verbalisierbarkeit psychischer Zustände zu zweifeln und über seine eigene Rolle als Konstrukteur der Geschichte zu reflektieren. Andererseits deutet schon die Charakterentfaltung als Parabel auf den Verzicht romantischer Expansion, also auf Verwandtschaft mit der Anschauung des Biedermeiers. Jósika wurde durch den Wandel in der Struktur der literarischen Öffentlichkeit ein produktiver Schriftsteller; er passte seine schriftstellerische Produktion der zunehmenden Nachfrage nach seinen Romanen mit wachsendem Erfolg an. Obwohl auch in den Werken von Fáy und Jósika aktuelle Fragen des gesellschaftlichen Fortschritts auftauchten, löste erst der Roman A falu jegyzője (1845; Der Dorfnotar, 1846, J. Mailáth) von Baron József Eötvös (1813–1871), dem bedeutendsten Prosaschriftsteller des Jahrzehnts, eine Tendenzliteratur-Debatte in Ungarn aus. Die Laufbahn von Eötvös vor dem Erscheinen des Dorfnotars verlief charakteristisch für einen Vertreter der jungen Generation. Dem Roman, der in politischer Hinsicht eine offene Stellungnahme in der aktuellen Diskussion der Zentralisten und der Munizipalisten bedeutete, ging A karthausi (1839; Der Karthäuser, 1842, H. Klein) voran, der repräsentative Weltschmerz-Roman. A karthausi, der im Frankreich Louis Philippes spielt und dessen Protagonist ein junger französischer Aristokrat ist, umfasst alle wichtigen Merkmale von Weltschmerzliteratur. Die Grundschicht des Romans trifft die Amoralität der französischen Gesellschaft des Bürgerkönigtums. Der Held wird von seinen sich verdichtenden Erfahrungen überzeugt, dass die Revolution statt des erwarteten Glücks selbst für ihre Nutznießer nur Leid bringt, weil die Befreiung des Individuums dieses in den moralischen Ruin treibt. („In einer Zeit, in der man alles erwarten darf und für die Erfüllung der Erwartungen alles tun darf, benötigen Menschen mit großer Leidenschaft auch große moralische Kraft, um nicht verdorben zu werden.“) Die neue Ordnung wollte die Menschen vom Elend befreien, sie hat sie jedoch in noch größeres Elend gestoßen. Von seinen Enttäuschungen sucht Gusztáv auf Reisen Linderung, aber die Europareise erzeugt eine gegenteilige Wirkung in ihm. Die eigene Erfahrung des Autors ist im Urteil der Hauptfigur zusammengefasst: „Ich habe ganz Europa bereist, von Skandinavien bis Spanien, von Russland bis zur Britischen Insel: Die Heimat der freien Sitten und der Zufriedenheit habe ich nirgends gefunden.“ Er beginnt ein wüstes Leben, nimmt an Orgien teil, aber dies nährt nur weiter seinen Ekel und Selbsthass. Doch die Unzulänglichkeit des Menschen gegenüber ethischen Werten und Normen würde seinen Weltschmerz noch nicht unheilbar machen. Die Handlung (das Liebe-Motiv im Roman ist von Werther und Heloïse beeinflusst) verstärkt jedoch konsequent die Überzeugung, dass man, ob man seine Handlungen auf das Gute oder das Schlechte richtet, stets nur Leid verursacht, dass die Wendung zum Tragischen unvermeidlich ist. Diese Erkenntnis lässt Gusztáv seinen Glau-
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ben an Gott verlieren. In dem Zustand, in den ihn seine Erfahrungen gebracht haben, mag der einzige Trost nach so viel Verlust darin bestehen: Er sucht Trost in der Vergessenheit und in der Verachtung der Lebensfreuden, deren ihn sein Mißgeschick beraubt; in der Verachtung der Welt, […] wo der ermüdende Tag, je länger er anhält, um so größere Schatten hat, und wo er, wenn sein Herz zuweilen gleichsam mit freudiger Überraschung sich von seinen Freunden nicht vergessen, oder was noch schlimmer, nicht verkannt sah, nur zu bald die herbe Erfahrung machen mußte, daß er getäuscht worden. Er sucht Trost in der Verachtung des Lebens, wo ihn der große Haufe seiner Tugenden wegen, sein Selbstbewußtsein seiner Vergehen halber zur Rechenschaft gezogen, wo das Herz mehr noch als Tantalusqualen erlitten – denn das Wasser floß nicht ab, es linderte jedoch seinen brennenden Durst nicht; die Früchte entzogen sich ihm nicht, allein sie waren bitter – und wo er am Ende einsah, daß er nicht einmal hoffen dürfe, ohne später dafür zu büßen. Er sucht Trost in der Verachtung der Menschen, dieses unglückseligen fluchbeladenen Geschlechtes, das zum Dulden zu schwach, Widerstand zu leisten zu feige ist, das seine Unterdrücker nur hassen und deren Beispiel nachahmen kann. Er sucht Trost darin, Alles zu verachten, gleich mir, und in die Einsamkeit sich zurückzuziehen, wie jener sterbende Römer das Antlitz mit dem Mantel verhüllend, damit die Welt seine letzten Schmerzenszuckungen nicht gewahre, damit der Anblick so vielen heillosen Treibens die letzten Empfindungen seines stockenden Herzens nicht verbittere – in die Einsamkeit sich zurückzuziehen, gleich mir, und als Endresultat der langen Lebenserfahrungen mit zerrüttetem Gemüthe in die Worte der heiligen Schrift auszubrechen: Verflucht der, der auf Menschen baut! (Eötvös 1842. Bd. I, 193–194, Ü: H. Klein)
Der Held in A karthausi zieht sich in ein Kloster zurück und zeichnet sein Leben für einen Freund auf. Am Anfang des Romans steht er also von den zwei Auswegen, die der Weltschmerz bietet, dem negativen näher: Er spricht zuerst als Ungläubiger, der vor der drückenden Erkenntnis des Elends und der Niederungen des Lebens und der Welt ins Kloster flüchtet und voller Ungeduld den erlösenden Tod erwartet; seinen einzigen Trost findet er im Gruß der Karthäuser, memento mori! Das Schlusskapitel bietet jedoch eine unerwartete religiöse Wende. Als Gusztáv dem Tod bereits sehr nahe ist, trifft ihn die Erleuchtung, dass der Grund seiner Leiden seine Selbstsucht war; „dies Herz – sagt er über sich – wäre nach solchen Qualen, vom Schicksal auferlegt, vielleicht erbaut worden, wenn es sich selbst vergessend nur für ein Ziel oder für ein Wesen in wahrer Liebe hätte aufopfern können.“ Diese Einsicht weckt in ihm das Vertrauen, dass die menschliche Geschichte doch ihren Zweck erreicht, selbst wenn noch viele Generationen kommen müssen, bis dieser Zweck erreicht ist. Andere fanden keinen Ausweg aus dem Weltschmerz – der Tragödiendichter Zsigmond Czakó (1820–1847), in dessen Drama Leona schon die ganze Welt, sogar die Natur als sinnlose, amoralische Kraft auftritt, verübte mit der Waffe seines Freundes vor dessen Augen Selbstmord durch Kopfschuss. An seinem Tod nahmen beinahe alle jungen Schriftsteller Anteil; doch erwies sich für die vom Welt-
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schmerz betroffene Generation der Weg von Eötvös – und von István Széchenyi, der eine ähnliche Wende erlebte – als beispielgebend. A falu jegyzője entfaltet sich aus der letzten Einsicht in A karthausi. Eötvös, der als Politiker ein Anhänger des Zentralismus war und die Unreformierbarkeit des ungarischen Komitatssystems für das größte Hindernis der Entwicklung der Gesellschaft hielt, benutzte die Popularität der Gattung Roman, um die aktuelle öffentliche Debatte zu beeinflussen. Dieses Ziel vor Augen, brach er mit dem von Jósika erfolgreich angewandten Romantypus, der eine moralische Parabel durch abenteuerliche Handlung, Anekdoten und genreartige Figuren anziehend machen wollte. Eötvös sah die günstigste Möglichkeit, Interesse zu erwecken und wachzuhalten, in der Kriminalgeschichte; sowohl die gesellschaftliche Reflexion als auch die von anderen Romantypen übernommenen Elemente (Liebesgeschichte, Abenteuer, Landschafts- und Milieubeschreibung) integrierte er in diese Gattung. Erreicht wird dies, indem der Kriminalfall einen politischen Anlass hat: Im Vorfeld von Neuwahlen im Komitat lässt die Frau des konservativen Vizegespans Sámuel Réty die Adelsurkunde und andere Dokumente des populären liberalen Rivalen – Dorfnotar Jónás Tengelyi – stehlen, um seine Neukandidatur für den Posten zu verhindern. Im Hintergrund der Untersuchungen entblößen sich das mittelalterliche System der Justiz und ihr korrupter Geist. Der Verdacht wird auf den wohlhabenden Bauern Viola gelenkt, der einst aus Protest gegen die Grausamkeit des Leibeigenensystems zum Mörder und dann zum Strauchdieb (betyár) geworden ist. Die beiden Fäden der Handlung sind verknüpft, indem Viola, dessen Familie Tengelyi aufgenommen hat, die Dokumente aus Dankbarkeit von Macskaházy, dem Anwalt der Frau des Vizegespans, der den Diebstahl organisiert hat, zurückstiehlt. Dabei wird Viola erneut zum Mörder; er tötet den Anwalt. Der Verdacht wird diesmal auf Tengelyi selbst gelenkt, der ins Gefängnis gesperrt wird. Viola, der weiß, dass er den Wohltäter seiner Familie nur retten kann, wenn er den Mord gesteht, wird von den Gendarmen (pandúr) ergriffen und erschossen, bevor er sich freiwillig ergeben kann. Die Frau des Vizegespans begeht Selbstmord, als ihre Mitschuld zur Gewissheit wird; die Unschuld von Tengelyi bestätigt sich, aber er ist es müde, in den Schmutz gezerrt zu werden, und zieht sich zurück. Die Reminiszenz an den glücklichen Ausgang und die Möglichkeit der Aussöhnung beschwört nur die Liebesheirat zwischen dem Sohn des Vizegespans und der Tochter von Tengelyi herauf. Eötvös selbst war sich des gespannten Verhältnisses zwischen der ästhetischen Autonomie der Literatur und der Tendenzliteratur bewusst, er versuchte aber diese Spannung nicht aufzulösen. Sie wird durch die Reflexionen des Erzählers sogar eher bewusst verschärft; der Text oszilliert durchgehend zwischen Erschaffung und Abschaffung der Wirklichkeitsillusion. Einerseits sind Schauplatz, Figuren und Geschichte realistisch und typisch, andererseits betont der
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Erzähler nachdrücklich und wiederholt, dass all dies Produkte seiner eigenen Phantasie sind. Die Geschichte gestaltet er willkürlich und fordert den Leser gar auf, sie umzuschreiben, wenn ihm eigene Erfahrungen eine entgegengesetzte Meinung nahelegen. Während die Satire als herrschende ästhetische Qualität bei der Darstellung des Gesellschaftlichen fungiert, bestimmt Ironie die Selbstreflexion des Erzählers, die die Glaubwürdigkeit der Darstellung betrifft. Der durch diese Ironie geweckte Zweifel muss jedoch nicht nur die eigene Erfahrung überwinden, sondern auch die kathartische Wirkung, auf deren Erweckung die Erzählweise der Geschichte hinaus will (Hansági 2006). Um den Roman entstand eine Debatte: János Erdélyi und Ferenc Pulszky, welche der Tendenzliteratur ablehnend gegenüberstanden, vertraten die Meinung, dass er poetische Ansprüche erfülle, weil das Wesentliche an ihm – im Gegensatz zur Intention des Autors – nicht seine Tendenzhaftigkeit sei, sondern die Katharsis, die er im einzelnen Leser auslöse. (Eine Merkwürdigkeit besteht darin, dass Erdélyi begonnen hatte, die Ästhetischen Feldzüge von Ludolf Wienbarg, dem Theoretiker des Jungen Deutschlands, zu übersetzen, seine Bemerkungen über den Roman, die den Anhängern der Tendenzliteratur als Basis für ihre Argumente hätten dienen können, aber nicht übersetzte.) Ferenc Toldy folgend, der den Roman in seiner Literaturgeschichte von 1864 als Zerrbild der ungarischen Gesellschaft bezeichnete, wurde die gesellschaftspolitische Komponente in der späteren Rezeption zum ausschließlichen Kriterium bei der Beurteilung des Romans. Obwohl eine solche Lektüre zur Aufwertung des Romans in der marxistischen Periode führte, rückte sie A falu jegyzője an die Peripherie des ungarischen Roman-Kanons; seine Rekanonisierung wurde erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts eingeleitet (Z. Kovács 2002, Hansági 2006, Devescovi 2007). Auf die Gegenströmung gegen den Tendenzroman wirkte die erheblich wachsende Nachfrage nach Unterhaltungsromanen fördernd; einige Jahre nach Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris erschienen die Romane Magyar titkok (1844/45, Ungarische Geheimnisse) von Ignác Nagy bzw. Hazai rejtelmek (1846/47, Heimische Geheimnisse) von Lajos Kuthy, die die Poetik des Abenteuerromans und Gegentechniken gegen die Wirklichkeitsillusion geltend machen. Die jüngere Rezeptionsgeschichte hat diese Romane neu entdeckt und schätzt an ihnen die Rolle, die Literarizität, Allusion und Parodie zukommt (Imre 1996, 177–196). Eötvös versuchte sich auch in der Gattung des historischen Romans. So wie im A falu jegyzője die Kriminalgeschichte dient im Roman Magyarország 1514-ben (1847; Der Bauernkrieg in Ungarn, 1850, A. Dux; Aufstand der Kreuzfahrer, 1976, I. Szent-Iványi [eigtl. Ungarn 1514]) der historische Rahmen der Kodierung von aktuellen gesellschaftspolitischen Positionen. Zu diesem Thema kam Eötvös durch die in weiten Kreisen der ungarischen Gesellschaft verbreitete Besorgnis bezüglich der Folgen der Verhinderung des Reformprozesses. Der historische
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Roman setzte seinen Weg im folgenden Jahrzehnt weder in die von Eötvös noch in die von Jósika aufgezeigte Richtung fort; die Gattung vollendete Zsigmond Kemény, dessen Romanpoetik die Verknüpfung der psychischen Prozesse der Figuren mit den historischen Kontexten als unabdingbar betrachtete.
III.2.6 Expansion und Multiplikation des lyrischen Ichs im Zeichen einer ‚dichterischen Umgangssprache‘: Sándor Petőfi (1823–1849) Was die Romantik in der ungarischen Literatur ausmacht, formte sich durch das Auftreten von Sándor Petőfi in endgültiger Weise neu; Volkstumsdichtung und Tendenzliteratur kulminierten in seiner Dichtkunst. Sein erster Band A helység kalapácsa (1844; Der Dorfhammer, 1938, L. Landgraf) zeigt einen programmatischen Bruch: In Form einer Epos-Parodie geschrieben, an burlesken Elementen reich, betreibt die triviale Dorfgeschichte nicht bloß eine Demontage des romantischen Nationalepos Zalán futása, sondern auch der nach ihm entstandenen schwülstigen Erzählliteratur, die in erster Linie Dichtung à la Ossian forcierte, und lief sogar gegen die herrschende Literaturauffassung Sturm. Trotz allem reklamiert Petőfis Dichtkunst die Kontinuität der Romantik für sich, indem das unbegrenzbare, ständig über sich hinauswachsende und eigengesetzliche Individuum als der Grundcharakter gewahrt bleibt, dessen Sein der Unbeständigkeit nachgeordnet ist. Das romantische Vertrauen zum sprachlichen Selbstausdruck ist auch für ihn charakteristisch, aber das offenbart sich weniger als Glaube an die Herrschaft über die Sprache, als vielmehr im souveränen Verhältnis zur dichterischen Tradition. Petőfi wählt, formt und kombiniert willkürlich die verfügbaren poetischen Sprechweisen. A helység kalapácsa ist selbst auch ein Beispiel für diese souveräne poetische Attitüde; die Hauptfunktion der parodistischen und burlesken Elemente, mithin die Absenkung der Erwartungshaltung bei der Leserschaft, besteht darin, die Freiheit des Erzählers und seine Überlegenheit gegenüber der Tradition zum Ausdruck zu bringen. Die kritische Aufnahme des Werkes bestätigt den erfolgten Bruch. Die Kritik, die Ferenc Kazinczy folgend die literarischen Register scharf getrennt halten wollte und das Triviale scheute, stempelte dieses Werk als bäurisch ab. Sie reagierte damit sensibel auf die Gefahr, die der etablierten Literaturauffassung der 1830er Jahre durch den Dorfhammer drohte. Petőfis Gedichtband (Versek, 1844, Gedichte) legte seine Absicht offen, die Grenze zwischen den literarischen Registern zum Einsturz zu bringen. Der Dichter und seine Kritiker prallten vor allem im Hinblick auf den Volkstums-Bezug aufeinander: Während die Kritiker im Sinne des romantischen Geschmacks urteilten (der Prämissen der Klassik aufnahm, die Literatur als Teil der Elite-Kultur betrachtete, Volksdichtung als ästhetisch indifferenten Rohstoff einschätzte und höchstens
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ihre Exotik oder ihren Unterhaltungswert anerkannte), bildete in Petőfis Volkstums-Liedern die Sprechweise der Volksdichtung die Basis der lyrischen Selbstaussage. Im ,niedrigen Stil‘ ist die provozierende Absicht offenbar, aber das ist nicht das Wesentliche an ihm. Dieses verbirgt sich vielmehr in der evokativen Kraft der Sprache des Volkslieds und in ihrem Potential, Situationen von großer Natürlichkeit zu erschaffen. Hinzu kommt die der romantischen Anschauung entsprechende Kompositionsweise, das der Natur entnommene Anfangsbild und den affektiven Zustand zur Widerspiegelung zu bringen. Petőfi schreibt eben keine künstlichen Volkslieder; das romantische Individuum gestaltet, von der Volkslied-Poetik ausgehend, seine eigene Sprechweise. Damit hebt es zugleich die Poesie aus der für die kulturelle Elite reservierten Enklave heraus, in der sie von der herrschenden Literaturauffassung eingesperrt wurde. Aus der Literatursprache, nach Kazinczys Spracherneuerungsprogramm von der Umgangssprache scharf getrennt, übernahm Petőfi nur Elemente, die sich reibungslos in die von der Volksdichtung inspirierte ‚lyrische Umgangssprache‘ einfügten. Die Wende erfolgte auch im Bereich des Versrhythmus: Petőfi verwendete in diesen Gedichten keine fremden Rhythmusformen, sondern ausschließlich den taktbetonten Rhythmus der ungarischen Volkslieder. Dieses poetische Programm brachte schließlich die Erfüllung der Forderungen Kölcseys, der die Rückkehr zur Volksdichtung als Überbleibsel der ursprünglichen Dichtung der Sprachgemeinschaft verlangt hatte, weil er darin die einzige Möglichkeit für die Erschaffung einer Literatur sah, die nicht nur die wenigen Gebildeten, sondern die ganze – als Traditionsgemeinschaft gemeinte – Nation anspricht. (Dies gilt selbst unter der Voraussetzung, dass Kölcsey das erwünschte Ziel durch die ,Veredelung‘ – Stilisierung – des Volksliedes erreichen wollte.) Der außerordentliche Publikumserfolg von Petőfi ist ohne die Verwandlung von Begriff und Sprache der Dichtung nicht zu denken; die Trennwand zwischen Schriftlichkeit und Oralität konnte er natürlich nicht durchstoßen, dennoch gingen einige seiner Volkstumslieder in die Folklore ein. Petőfis schauspielerische Ambitionen waren mit daran beteiligt, dass er als Sprechweise des romantischen Individuums den Ton der Volksdichtung fand. Viele seiner frühen Gedichte waren von der Bestrebung inspiriert, sich in den verschiedenen Persönlichkeitstypen aufzulösen. Das bewegte ihn anfangs zur Darstellung von Genrefiguren (Csokonai, 1844; Csokonai, 1848, A. Vilney; A tintásüveg, 1844; Die Tintenflasche, 1970, M. Remané; Szomjas ember tűnődése, Des Durstigen Kümmernis, 1864, Th. Opitz; Grübelei eines Durstigen, 1938, L. Landgraf; Megy a juhász szamáron …, 1844; Der Schäfer auf dem Esel sitzt, 1848, A. Vilney; Auf dem Esel trabt der Hirt, 1973, G. Steiner; usw.); in diesen Gedichten erscheinen Sprecher und Figur noch getrennt voneinander. In seiner Situationslyrik aber überdecken sich die beiden Subjekte (Befordultam a konyhára, Hab’ ich in die
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Abb. 13: Sándor Petőfi. Daguerrotyp, vermutlich von Gábor Egressy, um 1847. Das einzige authentische Porträt des Dichters
Küche mich gewandt, 1848, o. Ü.; Neulich in die Küche kam ich, 1955, G. Steiner – E. Gáspár; Ezrivel terem a fán a meggy …, Lange treibt der Weichsel …, 1849, K. Kertbeny; Tausend Weichseln sind des Baumes Zier, 1955, G. Dieballa; A faluban utcahosszat …, Im Dorfe die Gasse entlang, 1889, K. Kertbeny; Durch das Dorf folgt mir der Reigen, 1955, L. Neugebauer; Lánggal égő teremtette!, 1843/44; Gott strafe alles nach Treugebühr!, 1849, K. Kertbeny; Himmelkreuzundungewitter!, 1955, J. Steinbach; usw.). Diese Rollengedichte wirken durch ihre Sprache; die charakteristische Ausdrucksweise verleiht der sprechenden Figur Plastizität. Die Volksdichtung bot Petőfi die vollkommene Auflösung des lyrischen Ichs in einer eigenartigen Sprachlichkeit; in seinen Volkstumsgedichten hören wir nicht
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mehr die Stimme einzelner Typen, sondern die Stimme eines Ichs, das vom Horizont der spezifischen Lebenswelt eines Großsubjekts, d. h. einer (im Herder’schen Sinne gemeinten) primären sprachlich-historischen Gemeinschaft umgeben ist (Margócsy 1999). So lässt sich nicht entscheiden, ob diese Gedichte zum Bereich der Erlebnis- oder der Rollenlyrik gehören. Ihr Ziel ist auch nicht individueller Gefühlsausdruck oder Rollenspiel, sondern ein starkes Identifikationsangebot an den Rezipienten. Das lyrische Ich im Volkstumslied vermag jeder beliebige ungarischsprachige Rezipient als seinen eigenen Selbstausdruck zu erleben, das ist das Besondere an ihm. Dafür gab es in der ungarischen Literatur seit der spätbarocken populären Dichtung beziehungsweise seit Mihály Csokonai Vitéz kein Beispiel. Das Potential dieser Sprechweise schöpfte Petőfi in seinem epischen Gedicht János vitéz (1844/45; Der Held János, 1850, K. Kertbeny; Held János, 1958, M. Remané) aus. Es beginnt auch als einfache – diesmal traurige – Dorfgeschichte; die Liebe von Jancsi Kukorica, einem Findelkind, das Schafhirte wurde, und der unter ihrer Stiefmutter leidenden Waise Iluska nimmt ein tragisches Ende. Während Jancsi sich mit Iluska unterhält, verlaufen sich seine Schafe; der Hirtenknabe wandert in seinem Kummer in die weite Welt hinaus, und Iluska stirbt wegen der harten Behandlung durch ihre Stiefmutter. Die realistische Geschichte wendet sich in ein Volksmärchen: Jancsi wird durch eine Reihe von wundervollen Abenteuern zum Helden; er rettet den französischen König und dessen Tochter vor den Türken; dann kommt er ins Feenland, wo er mit seiner auferstandenen Geliebten an der Seite zum Fürsten gewählt wird. Die Einheit der Erzählung wird durch die stilisierte Sprache der Volksdichtung gewahrt, die selbst die phantastischsten Märchenelemente mit einer Natürlichkeit vorträgt, als wären sie selbstverständliche Realität. Das Märchen als Gegenteil der empirischen Wirklichkeit erlaubte es Petőfi, dem Anspruch auf Idealisierung, die unter den Regeln der Kritik zu seiner Zeit an erster Stelle stand, auf seine eigene Art zu genügen. Er vermochte in einer poetischen Sprache jenseits der hohen Register mit Verwurzelung in der Volksdichtung ein Werk zu schaffen, das höchsten ästhetischen Maßstäben entsprach. Die Erzählung stellte für den gehobenen literarischen Geschmack in erster Linie durch die Illusion von Oralität eine Provokation dar, weil sie mit ihrer imitierten gesprochenen Sprache in impliziter Weise die Leserschaft als Zuhörerschaft adressierte. Einer der Kritiker sah sogar ausschließlich die bäuerliche Leserschaft als Zielgruppe. Die moderne Rezeption dieses Werkes bestimmte, dass es in den Grundschulkanon Eingang fand; damit gehört seine Sprache zur Grundschicht muttersprachlichen Bewusstseins in Ungarn. Die auf der Volksdichtung basierende poetische Sprache verwirklichte eine typische Bestrebung der Romantik, nämlich die nach dem ‚künstlich Natürlichen‘.
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Petőfi war (entgegen der Annahme Heines) kein naiver Dichter, er setzte nur die Unmittelbarkeit der Volksdichtung, von den Brüdern Grimm als ,Naturpoesie‘ bezeichnet, mit vollem künstlerischen Bewusstsein um. Diese ‚bewusste Spontaneität‘ bleibt für ihn auch dann charakteristisch, wenn er – im Zeichen der proteischen Veränderlichkeit des romantischen Subjekts – die volkstümliche Sprache verlässt. Selbst der Name Petőfi ist mit Blick auf das Verhältnis zwischen dem biographischen und dem dichterischen Ich vielsagend (Margócsy 1999). Er publizierte nie unter seinem eigentlichen Namen (Petrovics). Hinter dem Pseudonym Petőfi steckt ein bewusst konstruiertes dichterisches Ich; er verwendete es nicht, wenn er sich nicht sicher war, ob die Gedichte in das konstruierte Bild passten (seine ersten volkstümlichen Lieder publizierte er z. B. unter dem Namen Pál Pönögei Kis). Das Petőfi-Ich sucht sich die alltäglichsten Lebenssituationen als Anlass für seine Äußerungen, dennoch besticht die Originalität der Sprache und die ungezwungene persönliche Art; stets vermag sie attraktive Identifikationsangebote zu bieten (István öcsémhez, 1844; An meinen jüngeren Bruder Stephan, 1864, Th. Opitz; An meinen Bruder Stefan, 1970, M. Remané; Egy estém otthon, 1844; Ein Abend zuhause, 1849, K. Kertbeny; Ein Abend daheim, 1970, M. Remané; A jó öreg kocsmáros, 1845; Der gute alte Wirt, 1849, K. Kertbeny; 1970, M. Remané – in diesem Gedicht geht es um seinen Vater; Egy telem Debrecenben, 1844; Ein Winter in Debreczin, 1849, K. Kertbeny; Ein Winter in Debrecen, 1970, M. Remané; A négyökrös szekér, 1845; Das Ochsenviergespann, 1849, K. Kertbeny; Auf dem Ochsenwagen, 1970, G. Steiner; usw.) Das konstruierte dichterische Ich wurde wegen der unmittelbaren persönlichen Sprache so sehr mit dem biographischen Ich gleichgesetzt, dass die Identifizierung von Leben und Dichtung, von lyrischem Ich und Petőfi bis zuletzt nichts erschüttern konnte. Sie wurde zur Basis der Interpretation der Lebensgeschichte und des lyrischen Lebenswerkes, und ihre Elemente sind bis heute in weiten Kreisen bekannter als manche der bedeutenden Gedichte Petőfis. Zugleich bereitete das konstruierte dichterische Ich von Anfang an Verlegenheit, da es keine konstante Identität aufweist – Zerrissenheit und Widerspruch gehören zu seinem Wesen. (Schon das zeitgenössische Publikum konnte nicht verstehen, „wie das Lied eines Menschen zweierlei sein kann“ – Nem ért engem a világ [1846; Die Welt versteht mich nicht, 1849, K. Kertbeny; 1970, M. Remané; Ü: Verfasser]). Die Phasen der Rezeption erfuhren ihre Gliederung dadurch, dass von Zeit zu Zeit jeweils eine andere Ich-Variante als der „richtige Petőfi“ galt (Margócsy 1999). In der Weltschmerz-Lyrik entsteht die Illusion der Gleichheit von Biographie und Lyrik, indem die Rollenhaftigkeit in der Sprache des Ichs ganz verblasst. Das lyrische Ich im Gedichtzyklus Felhők (1846; Wolken, 1854, A. Dux; 1970, M. Remané) erscheint im Unterschied zu den Volkstumsliedern extrem subjektiv.
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Es fasst die Welt als Korrelat ihrer eigenen Gestimmtheit auf. Negative Lebensweisheiten werden hier durch Tropen ausgedrückt, die in den Assoziationen des mit sich entzweiten Ichs wurzeln. Als Ausgang erscheint ein Bild, das aus der eigenen empirischen Sphäre des Ichs stammt und durch Metaphern und Gleichnisse verallgemeinert ist (Petőfi 2001, 473, 475, 489, Ü: K. Blaskó): Annyit sem ér az élet, Mint egy eltört fazék, mit a konyhából Kidobtak, s melynek oldaláról Vén koldus nyalja a rászáradt ételt! Das Leben ist nicht einmal so viel wert, / wie ein zerbrochener Topf, der aus der Küche / rausgeschmissen wurde und von dessen Seite / ein alter Bettler das angetrocknete Essen ableckt! Emlékezet! Te összetört hajónk egy deszkaszála, Mit a hullám s a szél viszálya A tengerpartra vet … – – Gedächtnis! / Brettstück unseres zerbrochenen Schiffes, / das durch den Zwist von Welle und Wind / an die Meeresküste gespült wird … Szeretője-e vajon a testnek a lélek? S mint szeretőkhöz illik, együtt enyésznek? Vagy a lélek a testnek csak barátja? S ugy tesz, mint rendesen a barát: Elhordja magát, Midőn amazt pusztulni látja? Ist wohl die Seele die Geliebte des Körpers? / Und wie es bei Geliebten gehört, verfallen sie gemeinsam? / Oder ist die Seele nur Freundin des Körpers? / Und tut sie, was Freunde gewöhnlich tun: / sie macht sich davon, / wenn sie den anderen untergehen sieht?
Die Gedichte – nach den Fragmenten von Shelley – erwecken absichtlich den Eindruck der Unvollständigkeit; der ausgesprochene Teil deutet auf das nicht Ausgesprochene hin, er beschwört als Synekdoche die unendliche Negativität der Welt. Nicht nur die versteckte Selbstironie, auch die programmgemäße Überschreitung zeugt von der Reflektiertheit der Stimmungen und von der Konstruiertheit der scheinbar spontanen Sprache. Petőfi inspirierte zum Schreiben des Zyklus Felhők – neben Heines Nordsee-Zyklus und Lenaus Schilfliedern – hauptsächlich Byrons Dichtkunst, in erster Linie Manfred, und nachdem er mit der Mode des
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Byronismus konfrontiert wurde, brach er mit dem „Welthass“, um die Originalität seines dichterischen Ichs zu bewahren (Világgyűlölet, 1846, Welthass). Auch nach dem Felhők-Zyklus bleibt die Priorität des Ichs im Verhältnis zur Welt konstant erhalten – also die romantische Annahme, dass die Welt nur in der Art und Weise existiere, wie sie das Ich wahrnimmt. Den wichtigsten Zug innerhalb der Dichtkunst Petőfis bilden die Folgerungen aus dieser vom Ich ausgehenden Welterfahrung. Dieses Ich ist nach wie vor nur im Sinne der ipseité mit sich selbst identisch, es bewahrt also seinen proteischen Charakter – wie es die Ars Poetica unter dem Titel Dalaim (1846; Meine Lieder, 1849, K. Kertbeny; 1970, M. Remané) auch programmatisch formulierte. Das Gedicht stellt sechs verschiedene Gestimmtheiten und dementsprechend sechs verschiedene Sprechweisen dar; die Einheit des Ichs garantiert außer der grammatikalischen Person nur die episch-anekdotische, temporalisierte Verbindung der Lebenssituationen, die als Grundlage für die verschiedenen Gestimmtheiten dienen. Die Souveränität des Ichs illustriert auch die semantische Variabilität der Topoi. Um nur einige Beispiele zu unterschiedlichen Modifikationen des Topos Sonne zu zitieren: „So wie am Schlachtgefild der wunde Held / verblutet sich und sinkt die Sonne fern“ (Falun, 1845; Im Dorfe, 1849, K. Kertbeny; Auf dem Lande, o.J., M. Farkas, Am Dorfe, 1938, L. Landgraf; Petőfi 1938, 114) – „Wie der Sonne Bild sich badend schmiegt / in den Fluss, von seiner Flut gewiegt, / schmiege, Liebste, dich an meine Brust!“ (Rózsabokor a domboldalon, 1847; Dort auf dem Hügel, 1858, K. Kertbeny; Wie der Rosenbusch am Hügel, 1973, G. Steiner; Wie der Rosenbusch, 1970, M. Remané; Petőfi 1981, 245) – „Auch die Sonne möchte gar / wie ein Irrer fort sich machen, / der verfolgt sich wähnt von Drachen / oder einer Teufelsschar“ (Vasúton, 1847; Auf der Eisenbahn, 1973, M. Remané; Petőfi 1981, 250) – „blickt die Sonne auf ihr Reich vom Erdenrande / nun zum letzten Male / mit erzürntem Strahle, / und indem sie sinkt in eine andre Zone, / fällt von ihrem Haupt die blutigrote Krone.“ (A puszta, télen, 1848; Die Puszta, 1850/51, A. Buchheim – O. Falke; Die Puszta im Winter, 1952, L. Fulda, 1973, G. Steiner; Petőfi 1973, 58) – „Lächelnd blickt die Sonne nieder / auf die Erde, sanft und lind, / liebevoll wie eine Mutter / auf ihr eingeschlafnes Kind.“ (Itt van az ősz, itt van újra …, 1848; Wieder ist der Herbst gekommen …, 1970, M. Remané; Petőfi 1981, 311). Die Wechselbeziehung zwischen Ich und Welt mit Priorität des Ichs entfaltet sich in den Landschaftsgedichten. Für diese Gedichte ist charakteristisch, dass das lyrische Ich in der ausgewählten Landschaft sein eigenes Korrelat sucht und findet. Einerseits ist in der realistischen Beschreibung der Landschaft die subjektive Gesinnung in die Natur projiziert präsent, andererseits bringt in den Reflexionen das lyrische Ich die lautlose, nur von ihm verstandene Sprache der Natur zum Ausdruck. Im Gedicht Az alföld (1844, Das ungarische Flachland, 1854, K. Kertbeny; Tiefland, 1970, M. Remané) lässt sich die Stimme des Gefühls der
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Freiheit und der Unendlichkeit hören, ausgelöst durch die endlose Öde, die den (als romantische Schablone naheliegenden) ‚wildromantischen‘ Karpaten entgegengestellt wird; das lyrische Ich des Gedichtes A Tisza (1847, Theiß wild, 1854, A. Dux; Die Theiß, 1970, G. Stier) erkennt hingegen im geheimnisvollen Fluss die paradoxe Erfahrung der Gleichheit und der Nichtgleichheit mit sich selbst. Nachdem sich das lyrische Ich mit der stillen, vertrauten Theißlandschaft innig vereinigte und im feierlichen Moment der Vereinigung die lautlose Rede der Natur zu hören wähnte, zeigt die ‚unbekannte‘ Theiß ihr schreckliches Gesicht: „Rasend kam die Theißflut angerollt, / als ob sie die Welt verschlingen wollt!“ (Petőfi 1981, 181, Ü: M. Remané). Auch mehrere Liebesgedichte basieren auf dieser Wechselbeziehung zwischen dem lyrischen Ich und der Landschaft. Bei diesem Gedichttypus wird deutlich, dass die romantische Parallele zwischen Natur und psychischem Zustand ihren Ursprung in der Volksdichtung hat; das Lied, das Petőfi seiner künftigen Frau zueignete, basiert auf solchen Parallelen (Petőfi 2001, 584). Reszket a bokor, mert Madárka szállott rá. Reszket a lelkem, mert Eszembe jutottál, Eszembe jutottál, Kicsiny kis leányka, Te a nagy világnak Legnagyobb gyémántja! So wie der Zweig erzittert, / schwingt sich der Vogel darauf, / zittre auch ich, steigt dein Bildnis / vor meiner Seele auf. / Dein muß ich immerdar denken, / Mädchen, Herzliebste mein, / bist dieser schönen Erde / herrlichster Edelstein. (Reszket a bokor, mert …, 1846; Es zittert der Strauch, weil …, 1849, K. Kertbeny; So wie der Zweig erzittert …, 1970, M. Remané; Petőfi 1981, 156)
Eine eigenartige Wende ist für das Gedicht Szeptember végén (1847; SeptemberAusklang, 1973, M. Remané) charakteristisch, das mit einer konventionellen Parallele zwischen Herbstlandschaft und Vergänglichkeit beginnt (Petőfi 2001, 745): Még nyílnak a völgyben a kerti virágok, Még zöldel a nyárfa az ablak előtt, De látod amottan a téli világot? Már hó takará el a bérci tetőt. Még ifju szivemben a lángsugarú nyár S még benne virít az egész kikelet, De íme sötét hajam őszbe vegyűl már, A tél dere már megüté fejemet.
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Wie freundlich vorm Fenster die Blumen noch blühen, / die Pappel, sie trägt noch ihr sommerlich Kleid! / Doch siehst du im Norden schon Schneegewölk ziehen, / und hoch in den Bergen, da hat’s schon geschneit. / Noch fühl ich durchpulst mich vom Sommer wie immer, / der Säfte der Jugend mich noch nicht beraubt, / doch zeigen die Schläfen schon silbernen Schimmer, / der Rauhreif des Winters sinkt sacht auf mein Haupt. (Petőfi 1981, 240, Ü: M. Remané)
Der Sprecher bezieht die Inspiration der Landschaft auf sich selbst und schildert die Vision von seinem eigenen nahen Tod. Da er aber als Jungverheirateter zu seiner Frau spricht, zerrüttet die Dynamik des Liebesgefühls den melancholischen Einklang von Landschaft und Ich; der Sprecher zeigt sich nicht mehr von seinem Ende betroffen, sondern davon, dass nach seinem Tod ein anderer Mann seine junge Frau bekommen könnte. Das Bild der Herbstlandschaft mit ihrer melancholischen Eingebung verschwindet, und der junge Ehemann legt, die Gespensterklischees der romantischen Grabdichtung deformierend, von seiner Liebe und Treue, die sich auch jenseits des Todes erhalten werden, Rechenschaft ab: „Doch willst du nicht länger die Witwentracht tragen, / dann wirf deinen Schleier getrost auf mein Grab! / Ich steige herauf aus dem finsteren Schragen / und hole ihn mir in die Grube hinab.“ (Auch bei der Wirkungsgeschichte dieses Gedichts spielte die Biographie in eine zentrale Rolle; Petőfi schrieb das Gedicht auf der Hochzeitsreise, seine Witwe heiratete wirklich bald nach seinem frühen Tod wieder.) Die Haltung des Sprechers in dem ein Jahr später entstandenen Gedicht Itt van az ősz, itt van újra … (1848; Wieder ist der Herbst gekommen …, 1970, M. Remané) ist ebenso davon bestimmt, dass er seine junge Frau anspricht (biographischer Kontext: das Kind des Ehepaares Petőfi wurde einen Monat nach der Entstehung des Gedichts geboren); auf ihr beruht das Gleichnis, nach dem die Sonne als Mutter auf die Erde als ihr Kind hinunterschaut. Die Herbstlandschaft gewinnt also diesmal nicht durch Vergänglichkeit ihren Sinn, sondern durch das Bild des einschlafenden Kindes, dem das Bild des Frühlings als Vorstellung des Erwachens folgt (Petőfi 2001, 1073–1074): Itt van az ősz, itt van ujra, S szép, mint mindig, énnekem. Tudja isten, hogy mi okból Szeretem? de szeretem. Kiülök a dombtetőre, Innen nézek szerteszét, S hallgatom a fák lehulló Levelének lágy neszét.
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Mosolyogva néz a földre A szelíd nap sugara, Mint elalvó gyermekére Néz a szerető anya. És valóban ősszel a föld Csak elalszik, nem hal meg; Szeméből is látszik, hogy csak Álmos ő, de nem beteg. Levetette szép ruháit, Csendesen levetkezett; Majd felöltözik, ha virrad Reggele, a kikelet. Aludjál hát, szép természet, Csak aludjál reggelig, S álmodj olyakat, amikben Legnagyobb kedved telik. Én ujjam hegyével halkan Lantomat megpenditem, Altató dalod gyanánt zeng Méla csendes énekem. – Kedvesem, te űlj le mellém, Ülj itt addig szótlanúl, Míg dalom, mint tó fölött a Suttogó szél, elvonúl. Ha megcsókolsz, ajkaimra Ajkadat szép lassan tedd, Föl ne keltsük álmából a Szendergő természetet. Wieder ist der Herbst gekommen, / schön, wie er mir immer schien. / Fragt mich nicht, aus welchem Grunde, / doch, weiß Gott, ich liebe ihn. // Auf dem Hügel unter Bäumen / sitze ich und schau umher, / seh und hör die Blätter fallen, / leise seufzend, mehr und mehr. // Lächelnd blickt die Sonne nieder / auf die Erde, sanft und lind, / liebevoll wie eine Mutter / auf ihr eingeschlafnes Kind. // Denn die Erde ist nur müde, / ist nicht etwa sterbenskrank, / schließt die Augen nur zum Schlummer, / schläft nur einen Winter lang. // Hat im Herbst die schönen Kleider / nur zum Ausruhn abgetan, / schmückt sich neu, wenn sie am Himmel / sieht den Frühling leuchtend nahn. // Schlafe bis zum Frühlingsmorgen, / überschlaf des Winters Nacht, / liebe Erde, träume glücklich, / träum von neuer Blütenpracht. // Leis laß ich die Saiten klingen, / schlafe, schlafe, bist so müd! / Mag mein Lied im Traum dich grüßen / zärtlich wie ein Wiegenlied. // Liebste, setz dich mir zur Seite, / schweig und lausche dem Gesang, / bis er wie des Windes Flüstern / ferne überm See
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verklang. // Willst du auf den Mund mich küssen, / tu es sanft und lautlos nur, / laß uns nicht im Traum aufstören / die entschlummernde Natur! (Petőfi 1981, 311–312, Ü: M. Remané)
Diese Gedichte beleuchten Petőfis Gattungsverständnis. Das Gedicht Szeptember végén beschwört die klassischen Attribute der Elegie, aber in der zweiten Strophe kommt es zu einem Tonwechsel, und der Schluss wirkt extrem rhapsodisch gesteigert. Das Gedicht Itt van az ősz, itt van újra … erhebt sich von liedartiger Intonation zum Ton der Ode als Feier des Daseins (Németh G. 1972). Alle diese Gedichte entstanden im Zeichen des Vertrauens in die Möglichkeit des Sprechens. Gleichzeitig gelangt schon das reflektierende lyrische Ich des Zyklus Felhők zum Zweifel an seiner eigenen Subjektivität (Petőfi 2001, 497): Vagy tán valólag a világ nem ilyen? Ily szomorúnak én látom csupán? Én látom így csak, keresztülnézvén a Kétségbesésnek sötét fátyolán? Ist wohl die Welt in Wirklichkeit doch anders? / Seh’ ich nur darin so viel Leid und Weh? / Ausschliesslich ich allein, weil ich sie immer / durch der Verzweiflung dunklen Schleier seh’?
– es tritt aber auch für das Recht auf subjektive Sichtweise ein: Mindegy … elég, hogy én kétségbeestem, Elég, hogy én elkárhozott vagyok, Hogy engem éles, égő körmeikkel Tépnek, szaggatnak a rosz angyalok! Gleichviel … genug, dass ich da steh’ verzweifelt, / genug, dass ich vom Schicksal bin verdammt, / dass mich mit scharfen glüh’nden Krallen / die bösen Geister martern allesamt! (Mért vagyok én még a világon, 1846; Was bin ich auf der Welt noch, 1867, Th. Opitz; Warum weil’ ich auf Erden noch?, 1938, L. Landgraf; Petőfi 1938, 164)
Die Legitimität der subjektiven Weltanschauung des Dichters wird durch das romantische Prinzip garantiert, dem zufolge sie keine willkürliche Konstruktion ist, sondern eine Nachricht aus den Sphären des Daseins, vom Dichter vermittelt, der durch den Traum, die Vision und die Phantasie unwillkürlich ihr Medium wird. Das Gedicht Álmos vagyok és még sem alhatom … (1845; Schläfrig bin ich …, 1938, L. Landgraf), in dem Angstvisionen aneinandergereiht werden, schließt mit der Reflexion (Petőfi 2001, 450):
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Ily szörnyeket lát lázas képzetem. Elkergetném s el nem kergethetem. Mindenki alszik, csak magam vagyok Nem alvó. Csend van, csak fogam vacog. Scheusale sieht mein fiebernd Hirn wie nie. / Vergeblich such’ ich zu verscheuchen sie. / Rings schlummert alles, wach bin ich nur hier. / Still ist es, nur die Zähne klappern mir. (Petőfi 1938, 137, Ü: L. Landgraf)
Bezweifelt wird höchstens die Verbalisierbarkeit derartiger Erfahrungen (Az éj, 1847; Die Nacht und der Mond, 1858, K. Kertbeny; Die Nacht, 1938, L. Landgraf; Minek nevezzelek? 1848; Wie soll ich dich nennen? 1854, K. Kertbeny; Wie könnte ich dich nennen? 1970, M. Remané). Petőfi begreift die Poesie trotz dieses Zweifels als „Grammatik der Mysterien der Welt“ (Úti levelek Kerényi Frigyeshez, 1847; Reisebriefe an Frigyes Kerényi, 1973, G. Engl – H. Engl), auch später gelangt er nicht zur Erfahrung des Gegensatzes zwischen der sprachlichen Willkür des Subjekts und der objektiven Wirklichkeit, sondern trifft auf die Verschiedenheit der konstituierten Welten. Die archaische, durch die Romantik aktualisierte Parallele zwischen Dichtung und Schöpfung, die auf der Vorstellung von der Außergewöhnlichkeit der Dichterpersönlichkeit beruht, liefert eine Bestätigung für die dichterische Subjektivität. Das Gedicht Homér és Osszián (1846; Homer und Ossian, 1973, G. Steiner) feiert die beiden Dichterfiguren mit dem gleichen Enthusiasmus als Schöpfer zweier einander entgegengesetzter Welten, und Képzetem (1845; Meine Phantasie, 1858, K. Kertbeny; 1970, M. Remané) behauptet von der eigenen Phantasie, dass „Da, wo der Schöpfer beendet / einst seine Schöpfung, erschafft / eine bessere Erde / ihre allmächtige Kraft“ (Petőfi 1981, 87, Ü: M. Remané; „S ott, hol már megszűnik / Az isten világa / Uj világot alkot / Mindenhatósága“, Petőfi 2001, 375). Die Wahl der Sprache und die Selbstsicherheit des sprachlichen Ausdrucks spielen in Petőfis politischer Dichtung eine verstärkte Rolle. Auch diese Sprechweise entstammt dem Modell des eigengesetzlichen Individuums. Der Sprecher des Gedichtes Sors, nyiss nekem tért … (1846; Kampfeslust, 1849, K. Kertbeny; Mein Schicksal, schaff mir Raum, 1970, M. Remané) verweist auf die Messias-Rolle und findet die seiner Persönlichkeit würdige Aufgabe in der Selbstaufopferung für das Heil der Menschheit. Im Gedicht Egy gondolat bánt engemet … (1846; Bester Wunsch, 1849, K. Kertbeny; Ein Angsttraum quält mich …, 1970, M. Remané) wird sowohl das Ziel als auch die Art und Weise der Selbstaufopferung konkretisiert: Das Ziel ist die Weltfreiheit und ihre Verwirklichung der Heldentod, der den Sprecher in der die ganze Welt umfassenden siegreichen Schlacht gegen die Tyrannei ereilen wird. (Dieses Gedicht bot später am meisten Anlass, Dichtung und Leben zu verbinden: Durch Petőfis Tod auf dem Schlachtfeld wurde das Gedicht als Prophezeiung des eigenen Schicksals interpretiert.) Obwohl die Bilder
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der Schlacht, in der das Schicksal der Menschheit entschieden wird, noch nicht unmittelbar die Apokalypse beschwören, eröffnet dieses Gedicht eine Reihe von revolutionären Visionsgedichten, in denen sich die Vorstellung geschichtlicher Teleologie – nach den Ideen und Utopien der Französischen Revolution konstruiert – in das für die Romantik charakteristische, säkularisierte heilsgeschichtliche Narrativ fügt. Die Ideen der Französischen Revolution und des utopistischen Denkens lernte Petőfi in erster Linie bei Saint-Just (Esprit de la Revolution), Lamartine (Histoire des Girondins), Cabet (Histoire de la révolution, Voyage en Icarie) und Louis Blanc (Histoire de dix ans) kennen. Der zentrale Begriff der auf diese Autoren zurückzuführenden Konstruktion ist die ‚Wohlfahrt aller‘ (bonheur commun), und die Freiheit ist das Mittel, dieses Ziel zu erreichen; das Ziel kann jedoch nur in einem die ganze Welt umfassenden kriegerischen Zusammenstoß zwischen der Tyrannei und den Unterdrückten erreicht werden. Auch in Petőfis Tagebuchnotizen spiegeln sich solche heilsgeschichtlichen Erwartungen; einer Eintragung vom 17. März 1848 zufolge ist die Geschichte der französischen Revolutionen „das neue Evangelium der Welt, in dem die Freiheit, der zweite Erlöser der Menschheit, ihre Worte verkündet“. (Ferenc Deák, der als erfahrener Politiker revolutionäre Gedanken ablehnte, äußerte Bedenken dagegen, dass die Jugend Lamartines Buch „zur Bibel macht“.) Die „Epoche der Wohlfahrt aller“ erscheint im säkularisierten biblischen Narrativ als das Erreichen des gelobten Landes; Petőfis Gedicht A XIX. század költői (1847; Die Dichter des 19. Jahrhunderts, 1854, A. Dux; 1970, M. Remané) stellt die Gegenwart als Zeit der Wanderung durch die Puszta dar, die Dichter als MosesFiguren, jene, die die Gegenwart hochleben lassen, als falsche Propheten, am Schluss werden die Merkmale des säkularisierten Kanaan aufgezählt (Petőfi 2001, 600–601): Ha majd a bőség kosarából Mindenki egyaránt vehet, Ha majd a jognak asztalánál Mind egyaránt foglal helyet, Ha majd a szellem napvilága Ragyog minden ház ablakán: Akkor mondhatjuk, hogy megálljunk, Mert itt van már a Kánaán! Erst wenn jeder gleichberechtigt / Platz nehmen darf am Tisch der Welt, / erst wenn jeder gleichermaßen / sein Teil vom Überfluss erhält, / wenn durch die Fenster aller Hütten / das Licht der Bildung Einzug fand, / erst dann ist’s Zeit für uns zu rasten, / erreicht ist das Gelobte Land. (Petőfi 1981, 178, Ü: M. Remané)
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In diesem Gedicht wird die neue Rolle des lyrischen Ichs fixiert. Die Stimme des Propheten ist als die Sprechweise der außergewöhnlichen Persönlichkeit und des Volksführers bestimmt. In Gedichten wie diesen hat sich kaum etwas von der sprachlichen Unmittelbarkeit und Natürlichkeit der frühen volkstümlichen Lieder erhalten. Sie bewegen sich im literarischen Register des ‚hohen Stils‘ und sind von einer starken Rhetorizität charakterisiert. Nicht mehr das Volk als Großsubjekt im Herder’schen Sinne vertritt das Subjekt dieser Gedichte, sondern die Gesellschaftsklasse, an deren Spitze es als Wortführer tritt (vgl. A nép nevében, 1847; Im Namen des Volkes, 1970, M. Remané). Voll entfalten sich die Prophetenrolle und das Apokalypse-Narrativ im Gedicht Az ítélet (1847; Das jüngste Gericht, 1852, Vasfi – Benkő; Das Gericht, 1973, G. Steiner). Es ist die Prophetie eines blutigen Entscheidungskampfes über das Schicksal der Menschheit, dem Jüngsten Gericht gleichgesetzt, die typische romantische Vorstellung des „säkularisierten Himmelreiches“: Nach dem letzten Triumph der Guten „kezdődik az élet, / az örök üdvösség“ („beginnt das Leben, die ewige Seligkeit“), aber dafür wird es die Menschheit „nicht nötig mehr […] haben, / sich um den Himmel zu sorgen: / zur Welt schwebt der Himmel hernieder“ („… s érette a mennybe röpűlnünk / Nem lesz szükség, mert a menny fog a földre szállni“). Das Pathos der Prophetie wird auch durch die Hexameterform unterstützt, die im literarischen Bewusstsein der Zeit mit dem Epos verbunden war. Das lyrische Ich löst sich in der gewählten prophetischen Sprechweise auch in dieser Periode nicht ganz auf. Obwohl das legendär gewordene Epigramm Szabadság, szerelem (1847; Die Liebe, die Freiheit, 1849, K. Kertbeny; Freiheit und Liebe, 1970, M. Remané) zwischen dem Ich des Geliebten und dem Ich des Freiheitshelden ein hierarchisches Verhältnis aufstellt (Petőfi 2001, 591: „Szerelmemért föláldozom / Az életet, / Szabadságért föláldozom / Szerelmemet“, „Für meine Liebe / könnt’ ich das Leben, / doch für die Freiheit / die Liebe selbst geben“ – Petőfi 1981, 167, Ü: M. Remané), sind im Gedicht Beszél a fákkal a bús őszi szél … (1847; Der traurige Herbstwind, 1880, M. Farkas; Der Herbstwind flüstert …, 1970, M. Remané) die verschiedenen miteinander unvereinbaren Gestimmtheiten und Sprechweisen der Persönlichkeit gleichzeitig und parallel präsent (Petőfi 2001, 742): Vérpanoráma leng előttem el, A jövendő kor jelenései, Saját vérök tavába fúlnak bé A szabadságnak ellenségei! … Egy kis mennydörgés szívem dobogása, S villámok futnak által fejemen, S keblemre hajtva fejecskéjét, alszik Kis feleségem mélyen, csendesen.
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Vorüber seh ich ziehen schon im Geiste / die Schreckensbilder zukünftiger Zeit, / der Freiheit Feinde sehe ich ersaufen / im eignen Blut ohne Barmherzigkeit! / Mein Herz, es hämmert in der Brust rachlüstern, / und Blitz und Donner mir im Schädel gellt… / In meinen Arm ihr Köpfchen friedlich schmiegend, / schläft meine kleine Frau, entrückt der Welt. (Petőfi 1981, 236, Ü: M. Remané)
Die Selbstreflexion des lyrischen Ichs führt zugleich – mehr als im Zyklus Felhők – zum Zweifel an der gewählten, diesmal prophetischen Sprechweise. Der Sprecher des Gedichts Világosságot! (1847; Licht!, 1970, M. Remané) würde sich, nachdem er auf die Gewissheit der jenseitigen Perspektive des Menschendaseins mit Hamlet’scher Geste verzichtet hat, auch mit der Perspektive der zeitlichen Zweckmäßigkeit der Geschichte begnügen; aber er ist auch auf diesem Gebiet der Qual der Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden Sinnschemata unterworfen. Das mögliche Ziel, das Glück der Menschheit, wird durch die Sonne metaphorisiert, die am Horizont noch nicht erschienen ist; aber diese Assoziation erweist sich bloß als Möglichkeit, gegen sie tauchen auch andere Vorstellungen als potentielle Deutungen der Geschichte auf (Petőfi 2001, 630). De hátha ugy vagyunk, Mint a fa, mely virágzik És elvirít, Mint a hullám, amely dagad Aztán lesímul, Mint a kő, melyet fölhajítnak, Aztán lehull, Mint a vándor, ki hegyre mászik, S ha a tetőt elérte, Ismét leballag. Vielleicht gleicht unser Schicksal nur / dem Baum, der blüht / und fruchtlos welkt, / der Woge, die im Sturm anschwillt / und schon in sich zusammenbricht, / dem Stein, der hochgeschleudert ist / und haltlos gleich herunterfällt, / dem Wanderer, der den Berg erstiegen hat / und dann vom Gipfel / stumm heruntertrottet. (Petőfi 1981, 190–191, Ü: M. Remané)
Das Gedicht zeugt, Vörösmartys Előszó ähnlich, von der Erschütterung des Vertrauens in die sinnstiftende Leistung der dichterischen Sprache. Der Zweifel und die Unsicherheit bezüglich der Interpretierbarkeit der Geschichte erfahren in einem lyrisierten epischen Gedicht volle Entfaltung, das schon im Titel auf das profanisierte biblische Narrativ hinweist: Az apostol (1848; Der Apostel, 1870, Th. Opitz; 1973, M. Remané). Szilveszter (Silvester), der Hauptheld der Geschichte mit Assoziationen zur Dickens’schen Elendsromantik, reift infolge der Verhältnisse zum Revolutionär, er schreibt ein aufrührerisches Buch,
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wird deswegen ins Gefängnis gesperrt, verübt dann ein misslingendes Attentat auf den König – und wird hingerichtet. Die Weltgeschichte, in den prophetischen Gedichten ohne Bedenken mit dem heilsgeschichtlichen Narrativ verbunden, fällt nunmehr interpretatorischer Ungewissheit anheim, wie sie schon in dem Gedicht Világosságot! formuliert wurde (Petőfi 2001, 1009): Világtörténet! mily csodálatos könyv! Mindenki mást olvas belőle. Egyiknek üdv, másiknak kárhozat, Egyiknek élet, másiknak halál. Egyikhez így szól s kardot ad kezébe: ‚Eredj és küzdj! nem küzdesz hasztalan, Az emberiségen segítve lesz.‘ Másikhoz így szól: ‚tedd le kardodat, Hiába küzdenél, Mindig boldogtalan lesz a világ, Mint ezredévek óta az.‘ Weltgeschichte! Welch wunderbares Buch! / Jeder liest etwas anderes daraus. / Dem einen Heil, dem anderen Verderben, / Dem einen Leben, dem anderen Tod. / So spricht sie zum einen und gibt ihm ein Schwert in die Hand: / ‚Geh und kämpfe! Du kämpfst nicht umsonst, / Der Menschheit wird geholfen.‘ / So spricht sie zum anderen: ‚Lege dein Schwert ab, / Du würdest umsonst kämpfen, / Die Welt wird immer unglücklich sein, / So wie sie es seit Jahrtausenden war.‘ (Ü: K. Blaskó)
Szilveszter bekennt sich in metaphorischer Sinnstiftung zum Fortschritt in der Geschichte und zur Sinnhaftigkeit des persönlichen Opfers: „Weinbeeren sind nur winzig kleine Früchte, / doch einen Sommer währt es, bis sie reifen“ („A szőlőszem kicsiny gyümölcs, / Egy nyár kell hozzá mégis, hogy megérjék“); die Erde ist die „Frucht des Weltalls“, die „Menschenseelen“ wie Sonnenstrahlen zur Reife bringen; sie braucht „Jahrtausende, ja Jahrmillionen“, um reif zu werden, aber „dann werden alle, alle Menschen / sorglos bis an ihr Ende schmausen können“ (Petőfi 1981, 293, Ü: M. Remané): A föld is egy gyümölcs, egy nagy gyümölcs, S ha a kis szőlőszemnek egy nyár Kell, hány nem kell e nagy gyümölcsnek, Amíg megérik? ez belékerül Évezredek vagy tán évmiljomokba, De bizonyára meg fog érni egykor, És azután az emberek belőle Világvégéig lakomázni fognak. (Petőfi 2001, 1009)
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Der ‚Apostel‘ Szilveszter gründet also seine Pläne, die dem Heil der Menschheit dienen sollen, auf die persönliche Interpretation der Geschichte (die Geschichte ‚gibt ihm das Schwert in die Hand‘); der Schluss lässt freilich die Beurteilung seiner Rolle offen. Er fällt als Revolutionär, und es bleibt unentschieden, ob er mit seinen Taten zum Fortschritt beigetragen hat oder nicht, ob vorteilhafte Veränderungen überhaupt als Zeichen allgemeinen Fortschritts gewertet werden können oder bloß Ausdruck temporärer Verbesserungen sind. Die historischen Ereignisse von 1848 aktivieren innerhalb von Petőfis Dichtkunst trotz aller Zweifel und relativierenden Tendenzen die biblisch-prophetische Sprechweise. Das Gedicht, das den Titel Ezernyolcszáznegyvennyolc (1848; Achtzehnhundertachtundvierzig, 1958, L. Landgraf; 1970, M. Remané) trägt, wertet das Jahr der Revolutionen zunächst als Morgenstern der Freiheit, der nach der Nacht der Knechtschaft aufdämmert, dann bringt es das profanisierte – gegen das Christentum gestellte – biblische Narrativ ins Spiel (Petőfi 2001, 1066): Nagy idők. Beteljesült az Írás Jósolatja: egy nyáj, egy akol. Egy vallás van a földön: szabadság! Aki mást vall, rettentőn lakol. Régi szentek Mind elestek, Földúlt szobraik kövébül Uj dicső szentegyház épül Die Prophezeiung der Schrift / hat sich erfüllt: eine Herde, ein Pferch. / Eine Religion gibt es auf Erden: Freiheit! / Wer anderes bekennt, wird schrecklich büßen. / All die alten / Heiligen sind gefallen, / aus den Steinen ihrer umgestürzten Statuen / entsteht eine neue, glorreiche Kirche. (Ü: Ch. Kunze)
Die Idee der Weltfreiheit erfährt zugleich eine Veränderung: Die Sache der ungarischen Freiheit rückt in den Mittelpunkt. Die Veränderung nimmt ihren Ausgang vom legendär gewordenen Nemzeti dal (1848; Aufruf, 1850, A. Buchheim – O. Falke; Nationallied, 1970, M. Remané), das zu mobilisieren vermag, indem es an jene dichterische Tradition anschließt, welche die Nation wegen des Verlusts des einstigen Ruhmes und der Freiheit schmäht. Aus dieser Tradition stammt auch der Topos vom „Gott der Ungarn“ im Gedicht, an den die Eidesformel im Refrain appelliert: „Schwören wir beim Gott der Ungarn: / Nimmermehr / beugen wir uns den Tyrannen! / Nimmermehr!“ (Ü: M. Remané, modifiziert). Die Legende besagt, Petőfi habe das Gedicht am 15. März, am Tag des Revolutionsausbruchs, auf der Treppe des Nationalmuseums stehend vor der begeisterten Masse rezitiert (Petőfi 2001, 891):
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Talpra magyar, hí a haza! Itt az idő, most vagy soha! Rabok legyünk, vagy szabadok? Ez a kérdés, válasszatok! – A magyarok istenére Esküszünk, Esküszünk, hogy rabok tovább Nem leszünk! Auf, die Heimat ruft, Magyaren! / Zeit ist’s, euch zum Kampf zu scharen! / Wollt ihr frei sein oder Knechte? / Wählt! Es geht um Ehr und Rechte! / Schwören wir beim Gott der Ahnen: / Nimmermehr / beugen wir uns den Tyrannen! / Nimmermehr! (Petőfi 1981, 271, Ü: M. Remané)
Der Topos vom Gott der Ungarn, der auf die in der Reformationszeit verbreitete Parallele zwischen dem ungarischen und dem jüdischen Volk zurückgeht und um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit heidnischen mythologischen Assoziationen durchtränkt wurde, erhält während des Freiheitskampfes eine zentrale Rolle. Die Ungarn erkennen sich als das auserwählte Volk der Weltfreiheit, und der ungarische Freiheitskampf kommt immer deutlicher in einen apokalyptischen Rahmen zu stehen (Petőfi 2001, 1060): Föl hát, magyar nép, e gaz csorda ellen, […] Föl egy hatalmas, egy szent háborúra, Föl az utósó ítéletre, föl! Auf denn, Magyaren, gegen diese Horde, / […] auf zum gewaltigen, zum heil’gen Kriege, / es breche an der Tag zum Weltgericht! (Élet vagy halál! 1848, Leben oder Tod, 1938, L. Landgraf; Petőfi 1938, 343)
Der letzte apokalyptische Kampf im Gedicht Az ítélet nimmt beim Einmarsch der russischen Truppen konkrete Gestalt an. „Der Russe kommt, der Russe kommt, / Er ist wirklich schon da. / Das Jüngste Gericht ist also gekommen“ (Ü: K. Blaskó) („Jön az orosz, jön az orosz, / Itt is van már valóba’. / Eljött tehát az utósó / Ítélet“ Petőfi 2001, 1115–1116), stellt der Sprecher des Gedichtes Föl a szent háborúra (1849; Der letzte Kampf, 1850/51, A. Buchheim – O. Falke; Auf zum heil’gen Krieg, 1938, L. Landgraf) fest und betet zum Gott der Ungarn um den Sieg. Die wachsende Bedrohung der ungarischen Nation aktualisiert nun einen weiteren Topos innerhalb der dichterischen Tradition nationaler Selbstanklage, nämlich den Topos vom Tod der Nation, der jetzt allmählich alle heilsgeschichtliche Rhetorik verdrängt. Der Sprecher des Gedichts, das nach der Eroberung von Buda durch die Österreicher geschrieben wurde, neigt noch zu der Meinung: „heilig unsre Sache,
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drum ist Gott mit uns“ („Szent az ügyünk, velünk van az isten“), aber er erlaubt sich auch die Bemerkung: „oder auch mit ihnen nicht, schenkt er uns keine Gunst“ (Ü: K. Blaskó; „Vagy velök sincs, ha mivelünk nincsen.“ Buda várán ujra német zászló!, 1849, Wieder die deutsche Fahne auf der Burg von Buda!, Petőfi 2001, 1095). Darauf folgt das Motiv der Gottverlassenheit: „Ich sage ja, der Ungar gewinnt jetzt, wenngleich Himmel und Erde das Gegenteil wollen!“ (Ü: K. Blaskó), („Bizony mondom, hogy győz most a magyar, / Habár ég s föld ellenkezőt akar!“ Bizony mondom, hogy győz most a magyar, 1849; Der 15. März 1849, 1868, Th. Opitz; eigtl. „Ich sage ja, der Ungar gewinnt jetzt“, Petőfi 2001, 1100). Ein letztes Mal kommt die private Lebenssphäre zum Ertönen (Pacsirtaszót hallok megint …, 1849; Ich höre wieder Lerchengesang, 1864, Th. Opitz; Ich hör die Lerche wieder singen, 1970, M. Remané), dann bringt in Szörnyű idő (1849; Furchtbare Zeit, 1868, Th. Opitz; Zeit des Entsetzens, 1970, M. Remané) die Drohung mit dem Tod der Nation die Prophetie vom „Himmel auf Erden“ zum Schweigen: „Vielleicht hat der Himmel geschworen, den Ungarn auszurotten“ (Ü: K. Blaskó; „Talán az ég / megesküvék / Hogy a magyart kiirtja“, Petőfi 2001, 1118). Mit dem Vertrauen in den Sieg der (ungarischen) Freiheit geht nicht nur die heilsgeschichtliche Perspektive verloren, sondern zugleich auch der Glaube an die Vermittelbarkeit von Erfahrungen. Während der Sprecher von Bizony mondom, hogy győz most a magyar die Verheißung aussprach: „Ich besinge dann deinen großen Triumph, / Freiheit, und die heiligen Toten, / deren Blut dein Taufwasser war / und deren Röcheln dein Wiegenlied“ (Ü: K. Blaskó; „Megéneklem majd diadalmadat, / Szabadság, és a szent halottakat, / Akiknek vére volt kereszvized, / S halálhörgése bölcsőéneked“, Petőfi 2001, 1100), hält Szörnyű idő das Erzählen der Ereignisse für unmöglich. Nicht die Verbalisierung der Visionen, die aus der Tiefe des persönlichen Bewusstseins stammen, sondern die Verbalisierbarkeit der gemeinsam erlebten historischen Erfahrungen wird durch das Fehlen des narrativen Musters zum Problem (Petőfi 2001, 1118–1119): S ha lesz ember, ki megmarad, El tudja e gyászdolgokat Beszélni, mint valának? S ha elbeszéli úgy, amint Megértük ezeket mi mind: Akad-e majd, Ki ennyi bajt Higgyen, hogy ez történet? És e beszédet nem veszi Egy őrült, rémülésteli, Zavart ész meséjének?
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Wenn aber einer übrigbleibt, / dann nennt man, was er drüber schreibt, / erfundene Geschichten. // So wahr auch ist, was er erzählt, / wie man zu Tode uns gequält, / als Märchen gält / es aller Welt / und fänd nur taube Ohren, / man hörte ihn gewiß nicht an / und dächte nur: Der arme Mann / hat den Verstand verloren. (Petőfi 1981, 343–344, Ü: M. Remané)
Petőfi war der Versuch, den Zusammenbruch zu erzählen, nicht mehr vergönnt; aus Vörösmatrys Előszó wird klar, wie nahe die Sprache angesichts des Kataklysmus, wenn sie keine Verbindung zu tradierten Narrativen mehr herstellen kann, der „Erzählung eines verrückten, angsterfüllten und verstörten Hirns“ kommt (wobei Vörösmarty das Gedicht Szörnyű idő nicht kennen konnte, weil es erst 1868 erschien). Die Gestalt Petőfi spielt in der ungarischen Kulturgeschichte eine besondere Rolle. Sein Kultus begann sich schon zu Lebzeiten herauszubilden, und nach 1849 nahm er außerordentliche Dimensionen an. Seinen Tod konnte die öffentliche Meinung schwer akzeptieren; selbst aus Sibirien trafen ,Nachrichten‘ über ihn ein. Noch am Ende des 20. Jahrhunderts erfuhren höchst fragwürdige ,Forschungsergebnisse‘ große Publizität: Petőfi sei 1849 nicht gestorben, man glaubte sein Grab in der sibirischen Ortschaft Barguzin aufgefunden zu haben. Jahrzehntelang tauchten Schein-Petőfis auf (Thema des kurzen Romans von Gyula Krúdy ÁlPetőfi, 1922, Der Pseudo-Petőfi), sein Geist war in den 1850er Jahren ein beständiger ,Gast‘ bei modischen Geistesbeschwörer-Séancen; aus dem Jenseits diktierte er auch Gedichte. Das säkularisierte biblische Narrativ seiner Dichtkunst wirkte auf sein Nachleben zurück; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er häufig als Prophet oder Evangelist der (ungarischen) Freiheit heraufbeschworen oder sogar als Paraklet, als Fürsprecher der ungarischen Nation bei Gott (Dávidházi 1996).
III.3 Die Spätromantik III.3.1 Von Sándor Petőfi zu János Arany: Auswirkung der ,passiven Resistenz‘ – Rückzug des Lyrischen Infolge der Niederschlagung des Freiheitskampfes und der absolutistischen Reaktion fand ein Bruch im Prozess der Herausbildung der ungarischen Literatur als eines eigenen gesellschaftlichen Teilsystems statt. Zwischen 1849 und 1854 befand sich Ungarn im Belagerungszustand, die Macht übte das Militär aus. Der größte Teil der intellektuellen Elite verließ das Land: István Széchenyi lebte zurückgezogen in einer Irrenanstalt in Döbling bei Wien, wohin er nach einem
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Nervenzusammenbruch im Jahr 1848 gebracht worden war; Lajos Kossuth emigrierte, ebenso viele andere führende ungarische Politiker. Von den Schriftstellern war Petőfi gestorben, Vörösmarty hatte sich zurückgezogen, János Vajda, der am Freiheitskampf teilgenommen hatte, wurde für ein Jahr ins kaiserliche Heer eingezogen, viele (unter ihnen Mór Jókai und János Arany) waren gezwungen unterzutauchen, viele konnten nicht oder nur unter Pseudonym publizieren; der Chance auf eine schriftstellerische Laufbahn als Grundlage einer eigenen Existenz gingen sie verlustig. Die meisten Zeitschriften wurden eingestellt, die Tätigkeit der Kisfaludy-Gesellschaft ruhte bis 1860, die Ungarische Akademie der Wissenschaften konnte ihre Arbeit bis 1858 nur eingeschränkt, unter behördlicher Kontrolle, fortsetzen. Die 1848 abgeschaffte Zensur wurde zwar nicht wieder eingeführt, doch stattdessen kam es zu einer Art Vorzensur, der polizeilichen Kontrolle vor der Verbreitung der gedruckten Presseprodukte. Das Pressegesetz von 1852 schuf die rechtliche Basis für den schrittweisen Wiederaufbau der literarischen Öffentlichkeit. In ihrem Ausmaß wie in ihrem Spielraum eingeschränkt, war diese Öffentlichkeit vom Verlangen nach Aufarbeitung des kollektiven Traumas bestimmt. Der Prozess setzte zunächst im Bereich der Politik ein. Justizminister Anton Schmerling versuchte Ferenc Deák, den einzigen der führenden Politiker von 1848, den die kaiserliche Regierung zu akzeptieren bereit war, zur Zusammenarbeit zu bewegen. (Deák war in der Regierung von 1848 Justizminister gewesen, hatte sich aber für die österreichisch-ungarische Aussöhnung eingesetzt, weswegen er sich im Januar 1849 aus der Politik zurückzog.) Deák wies die Aufforderung mit folgenden Worten zurück: „Nach den traurigen Ereignissen jüngstvergangener Zeiten, unter Verhältnissen, wie sie jetzt noch bestehen, ist es mir unmöglich, bei den öffentlichen Angelegenheiten thätig mitwirken zu wollen.“ Nach dieser Antwort, in der Ostdeutschen Post öffentlich gemacht, verbreitete sich in weiten Kreisen die Haltung ‚passiver Resistenz‘. Sie bestand in der Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit der kaiserlichen Regierung und wurde durch zwei Komponenten geprägt: Einerseits ging es, wie schon Deáks Brief zeigt, um die Demonstration der moralischen Überlegenheit des Verlierers gegenüber dem Sieger, andererseits um die Wiederherstellung der jahrhundertealten Verfassungsordnung im Königreich Ungarn, der Grundlage der nunmehr mit Gewalt unterbrochenen historischen Kontinuität und kollektiven Identität. So formulierte es Deák in seiner programmatischen Schrift: [W]ie wir der Krone bei der Versöhnung mit der Nation und bei der Sicherstellung ihrer Rechte mit Freude und Opferbereitschaft eine hilfreiche Hand reichen, so werden wir der Bestrebung der Macht, die Nation ihrer unvergänglichen und rechtmäßigen Selbständigkeit zu berauben und Österreich einzuverleiben, widerstehen, zwar nicht mit Gewalt, aber neutral ‚per vim inertiae, per passivam resistentiam‘.
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Bei der Aufarbeitung des Traumas war die Bewertung der Rolle Ungarns in der Revolution von 1848/49 unumgänglich. Als Erster nahm sie Zsigmond Kemény in seiner Broschüre Forradalom után (1850, Nach der Revolution) vor. Kemény, der 1849 ebenfalls ein Anhänger der Aussöhnung zwischen Österreich und Ungarn gewesen war und in den 1850er Jahren als Redakteur der Zeitung Pesti Napló (Pester Journal) Deáks Politik unterstützt hatte, wälzte jede Verantwortung für die radikale Unabhängigkeitspolitik, die zur Absetzung der Habsburger führte, auf Lajos Kossuth persönlich ab, der unfähig gewesen sei, die Realität korrekt einzuschätzen. Kemény entwarf ein Porträt von Kossuth, das einer Karikatur gleichkam. [Er verfasste später auch eine nüchternere Analyse: Még egy szó a forradalom után (1851, Noch ein Wort nach der Revolution). In der öffentlichen Debatte wirkte der Sündenbock-Mechanismus ebenfalls, allerdings richtete er sich nicht gegen Kossuth, sondern gegen den Heerführer Arthur Görgey, der, um sinnloses Blutvergießen zu vermeiden, im August 1849 vor den russischen Besatzungstruppen kapituliert hatte. Eine weitere Variante der Aufarbeitung des Traumas bestand in der Auffassung, das Opfer sei nicht vergebens gewesen. Angesichts der an verlorenen Freiheitskämpfen reichen ungarischen Geschichte war dies kein neuer Gedanke; Mihály Vörösmarty hatte ihn sehr prägnant im Gedicht Szózat (1836) formuliert: „Es kann nicht sein, dass so viel Blut so ganz umsonst verrann, / In Bitterkeit manch treues Herz / Brach um die Heimat manchem guten Mann“ (Ü: H. Leicht, modifiziert). 1861, im Krisenjahr des Neoabsolutismus, rief János Arany in einem ermutigenden Gedicht den Topos offen in Erinnerung, er bestärkte die allgemeine Erwartung, das Blutopfer von 1848/49 werde schließlich seinen Sinn offenbaren (Arany 2006. Bd. I, 384): Az nem lehet, hogy milliók fohásza Örökké visszamálljon rólad, ég! És annyi vér - a szabadság kovásza – Posvány maradjon, hol elönteték. Laß, Himmel, nicht Millionen von Gebeten / so ungehört zergehn in deinem Schoß! / Ist so viel Blut der Opfer denn vonnöten, / sinnlos versickernd, wo man es vergoß? (Magányban, 1961; In der Einsamkeit, 1984, A. Bostroem; Arany 1984, 51)
Die mit tagebuch- und berichtartigen Elementen durchsetzten Novellen von Mór Jókai (Forradalmi és csataképek 1848–49-ből, Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849; Egy bujdosó naplója, Tagebuch eines Flüchtlings) geben schon 1850 den Anstoß zu dieser Interpretation, die sich dann in seinem späteren, schon nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich geschriebenen Roman A kőszívű ember fiai (1869; Die Baradlays, wörtlich: Die Söhne des Menschen mit dem steinernen Herzen) vollständig entfalten wird.
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Die Verantwortung für die Nation und die unbedingte Achtung der Gesetzlichkeit und der moralischen Reinheit prägten durch die passive Resistenz den Habitus der literarischen Intelligenz; es bildete sich der Anspruch auf die strenge Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Illusion heraus – was durch die Wirkung des sich in ganz Europa verbreitenden Positivismus verstärkt wurde. Die Sinnhaftigkeit des Blutopfers des Freiheitskampfes erfuhr durch den Ausgleich von 1867 ihre Bestätigung; die literarische Intelligenz interpretierte ihn als Verwirklichung der Ziele von 1848, trotz der markanten Unterschiede. Die gesellschaftlich nachteilige Folge der passiven Resistenz bestand in einem Sich-Absperren. Obwohl die führende Intelligenz sich den westlichen – in erster Linie englischen – Mustern der Modernisierung verschrieb, wurden die Modernisierungsbestrebungen der österreichischen Regierung in weiten Kreisen abgelehnt, da sie als diktatorisch empfunden wurden und die lokalen Verhältnisse ignorierten. Dadurch geriet die gesellschaftliche Modernisierung selbst in ihren Augen unter Verdacht. Für den Konflikt sind das Flugblatt Rückblick auf die jüngste Entwicklungsperiode Ungarns (1857), das die ungarische öffentliche Meinung Alexander Bach zuschrieb, und die Reaktionen, die es auslöste, charakteristisch. (In Wahrheit war Ministerialrat Bernard Mayer der Verfasser der Broschüre.) Nach der Argumentation im Rückblick, der in erster Linie die nach der Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfes entstandene negative Beurteilung von Österreich im Ausland verändern wollte, könne der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg des Reiches nur durch die vollständige Zentralisierung erreicht werden, als deren größtes Hindernis die feudale Verfassung Ungarns zu betrachten sei, die ihm eine Sonderstellung garantiert. Die Broschüre, die auf dem traditionellen imagologischen Topos der ‚barbarischen Ungarn‘ basiert, will nachweisen, dass sich der österreichische zivilisatorische Einfluss in Ungarn seit der Abschaffung der ungarischen Verfassung frei entfaltet habe und das Land daher eine nie gesehene Entwicklung erlebe, was „die braven Ungarn“ mit großer Dankbarkeit entgegennähmen. Die Schrift, die in 200 Exemplaren erschien, wurde in Ungarn in weiten Kreisen bekannt, da István Széchenyi sie 1859 in einem Pamphlet angriff (Ein Blick auf den anonymen Rückblick von einem Ungarn). Die Schrift Széchenyis, die die klassischen und Swift’schen Mittel der Satire verwendet, nannte nicht nur Bach einen Lügner und machte ihn lächerlich, sondern kehrte auch die Beschuldigung der Barbarei um und richtete sie gegen die rachsüchtige österreichische Macht; sie griff auch den Nimbus des Hauses Habsburg an. Széchenyi publizierte seine Schrift anonym in deutscher Sprache in London, von dort wurde sie ins Land geschmuggelt. Nachdem die Geheimpolizei die Identität des Verfassers ermittelt hatte, flüchtete er vor den Belästigungen der Behörden in den Selbstmord. Gegen den Rückblick protestierte auch Imre Madách mit seiner im Stil von Aristophanes geschriebenen Komödie A civilizátor (1861, Der Zivilisator).
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Innerhalb der literarischen Intelligenz schwächten Selbstdisziplin und Respekt vor den Tatsachen und Umständen die Bereitschaft zur Initiative, sie weckten das Missbehagen gegenüber der Literatur als Fiktion. Dies traf hauptsächlich auf die subjektivste Gattung, die Lyrik, zu. Schriftsteller, die sich im Dunstkreis von Ferenc Deák befanden, gerieten in Konflikt mit jenen – vor allem mit Mór Jókai, dem populärsten Schriftsteller der Zeit –, die der Literatur eine tröstende und ermutigende Rolle zuordneten und wenig Distanz zum Erbe der Romantik hatten. Dessen ungeachtet verschaffte der ungarischen Literatur der 1840er und 1850er Jahre eben die Romantik, die beide Dekaden durchzieht, Kontinuität. Das zeigte sich am allermeisten in der Wirkung von Petőfi. Diese Wirkung verlief in zwei Richtungen. Eine Gruppe von Dichtern wollte Petőfis Initiative fortsetzen, nach der das lyrische Ich, von der Poetik der Volkslieder ausgehend, seine eigene Sprechweise ausbildet. Während Petőfi dies mit dem Anspruch auf Erneuerung der literarischen Umgangssprache tat, gingen die neuen Lyriker, auch von der österreichischen Landschaftsdichtung angeregt, von der dichterischen Tradition und Mundart einzelner Regionen aus (Kálmán Lisznyai: Palóc dalok, 1851, 18522, Paloczenlieder; Újabb palóc dalok, 1858, 18592, Neue Paloczenlieder; László Szelestey: Kemenesi cimbalom, 1854, Das Zymbal von Kemenes). Die Landschaftsdichter, die die Leser an Petőfi erinnerten und ihr frustriertes Nationalgefühl stärkten, genossen in den 1850er Jahren große Popularität. Dies wurde dadurch weiter gesteigert, dass sich eine eigenartige multimediale Form des literarischen Lebens herausbildete, die der oralen Tradition der Poesie entstammte, nämlich der mit Zigeunermusik, Tanz und Feiern begleitete Vortragsabend („dalidó“), der zum allgemeinen Brauch des ‚Feierns unter Tränen‘ („sírva vigadás“) der 1850er Jahre passte. Die von der nationalen und moralischen Verantwortung der Literatur beziehungsweise von den ästhetischen Prinzipien der 1840er Jahre motivierte Kritik eröffnete einen heftigen Angriff gegen die Landschaftsdichter. Den Hintergrund des Angriffs bildete eine Lyrikfeindlichkeit, die auf der Ablehnung von Illusion und Subjektivismus beruhte; die konkrete Argumentation war gespalten, als Folge der früheren Einschätzungen der Volkstumsliteratur. János Erdélyi, zuvor deren Haupttheoretiker, ergriff für die Volkstumsdichtung Partei, wie sie sich in Petőfis Dichtkunst vollendet hatte, und traf einen Unterschied zwischen Volkstum als poetischem Prinzip und dem schädlichen ,stofflichen‘ Volkstum, das in Äußerlichkeiten der Volksdichtung zu Tage trat (Népköltészet és kelmeiség, 1853, Volksdichtung und Stofflichkeit). Ferenc Toldy wiederum erblickte in der Landschaftsdichtung die Bestätigung seiner seinerzeitigen Ablehnung der Dominanz des Volkstums (Visszapillantás múlt évi irodalmunkra, 1855, Rückblick auf unsere Literatur des vergangenen Jahres).
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Petőfi übte auf die Lyrik des Jahrzehnts zugleich auch durch die ,EffektAbscheu‘ einen bedeutenden Einfluss aus. Gegenüber den Fortsetzungen seines Subjektivismus repräsentierten die Initiativen, die die Mittelbarkeit des lyrischen Selbstausdrucks vertraten, die objektive Lyrik erschaffen und die Romantik ‚klassizisieren‘ wollten, eine ausgeprägte Richtung. Die einzige erfolgreiche und beständige Unternehmung der literarischen Öffentlichkeit, die ansonsten nur stockend wieder in Gang kam, war das täglich erscheinende Nachfolgeblatt der Modeblätter Hölgyfutár (Damenkurier, 1849– 1864), das weder an die Richtung noch an die Qualität Ansprüche stellte. Seinen Erfolg verdankte es neben der Erzählprosa im Feuilleton in erster Linie den Landschaftsdichtern, deswegen rückten die Dichter, die dem ablehnend gegenüberstanden, bald vom Blatt ab. Die typische Erscheinung der Zeit repräsentierte ein Redakteur wie Sándor Szilágyi, der als Sohn eines Mitarbeiters des Regierungsblatts und als Freund des Pester Gardekommandanten leicht zu Druckgenehmigungen kam. Die Zeitschriften, die er herausgab (Magyar Emléklapok [Ungarische Gedenkblätter], Magyar Írók Füzetei [Hefte ungarischer Schriftsteller], Pesti Röpívek [Pester Flugblätter], 1850), in denen die besten Schriftsteller der Zeit publizierten (oft im Geist der Revolution und des Freiheitskampfs), erlebten nur wenige Nummern, die Polizei verbot ein Blatt nach dem anderen. Gegen die kurzlebigen literarischen Zeitschriften wurde die Vasárnapi Ujság (Sonntagszeitung, 1854– 1921), nach dem Muster der englischen Bildungszeitschriften (vor allem von Dickens’ House Words) ins Leben gerufen, zum bestimmenden Organ der literarischen Öffentlichkeit. Der herrschenden Anschauung der Zeit entsprechend, spielte die fiktionale Literatur im Blatt eine untergeordnete Rolle (obwohl dort alle bedeutenden Schriftsteller publizierten) – ihr Rückgrat bildeten populäres Wissen vermittelnde Schriften; das Ziel war die Erhöhung des allgemeinen Bildungsniveaus. Zsigmond Keménys Essay Eszmék a regény és dráma körül (1853, Gedanken um den Roman und das Drama) demonstriert die Veränderungen im literarischen Bewusstsein am besten. Die Zeit des Subjektivismus inspirierter Ästheten sei abgelaufen, argumentierte er; die adäquate Gattung einer nüchternen, verschiedene Wahrheiten erwägenden und analysierenden Zeit sei der Roman, der für seine ästhetische Minderwertigkeit durch ein realistischeres und reicheres Bild vom Leben entschädige. Pál Gyulai, der führende Kritiker der Zeit, verteidigte in einer Polemik gegen Kemény die poetischeren epischen Gattungen, vor allem den Versroman, indem er sich auf die Rückständigkeit in Ungarn berief, aber er gestand ein, dass mit dem realistischen Prosaroman keine Gattung konkurrieren könne (Szépirodalmi Szemle, 1854, Belletristische Rundschau), er, der einen der besten realistischen Romane des Jahrzehnts verfassen sollte (Egy régi udvarház utolsó gazdája, 1857, Der letzte Besitzer eines alten Herrenhauses).
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III.3.2 Volkspoesie, Intertextualität, Architextualität als Vorgegebenheit nationaler Epik und singulärer Selbstaussprache: János Arany (1817–1882) Die aktivste und bewussteste Gestalt der Periode der Spätromantik innerhalb der ungarischen Literatur war János Arany. Arany hatte von Beginn seines öffentlichen Auftretens an ein reflektiertes Verhältnis zur Romantik; das poetische Grunderlebnis, von dem er ausging, war die Tradition oraler Volksdichtung, die Grundschicht seiner literarischen Bildung stammte aus der Zeit vor der Romantik, ihre wichtigsten Komponenten waren die Werke von Vergil und Horaz und die populäre spätbarocke ungarische Dichtung des 18. Jahrhunderts. Für seine dichterische Praxis ist von Anfang an der Dialog mit den verschiedenen Schichten der Texttradition charakteristisch, er erkannte die bedeutungsgestaltende Rolle der einzelnen Gattungen und machte sie sich zunutze. Bei seinem ersten Werk, in dem er die politischen Kämpfe der 1840er Jahre darstellt, handelt es sich um eine literarische Parodie. Az elveszett alkotmány (1845, Die verlorene Verfassung) stellt als Aeneis-Parodie ein kompliziertes Gefüge von Anspielungen auf Tasso, Ariost, Milton und Vörösmarty her, die Protagonisten des mythologischen Apparats gestaltete er nach Oberon und Titania aus Shakespeares A Midsummer Night’s Dream und färbte sie mit Elementen des Volksglaubens aus der ungarischen Volksdichtung (Szörényi 1989, 164–165). Die Entwicklung seiner Laufbahn wurde durch eine Debatte um 1840 bestimmt, die die Frage betraf, ob die Gattung des Epos noch zeitgemäß sei. Arany fand, das klassische Epos habe seine Aktualität verloren, moderne Versepik könne man nur auf der Grundlage eines im Volk überlieferten Heldenmythos schaffen. Die Überzeugung gewann in den 1840er Jahren dadurch an Boden, dass auf Initiative von János Erdélyi auch die Kisfaludy-Gesellschaft die Volkstums-Literatur unterstützte. 1846 schrieb sie folgende Preisaufgabe aus: „Es soll eine dichterische Erzählung verfasst werden, in gebundener Rede, deren Protagonist eine historische Persönlichkeit darstellt, die im Volksmund lebt, zum Beispiel König Matthias, Miklós Toldi, Ritter Kádár usw. Form und Geist sollen dem Volkstum entsprechen.“ János Arany kannte die Sage von Miklós Toldi aus seiner Kindheit als orale Tradition; Toldi war Heerführer unter Ludwig I. dem Großen, dem Ritterkönig im 14. Jahrhundert, und in seiner engeren Heimat Gutsherr gewesen. Die Volkssage bot sich für eine Bearbeitung in bäuerlicher Erzählweise an, wie bei Petőfis A helység kalapácsa. Toldis Gestalt erscheint darin als jemand von ungehobeltem Benehmen, der über außerordentliche Körperkraft verfügt, viel isst und trinkt und seine Gemütsbewegungen und Sinnlichkeit nicht beherrschen kann; so wird er auch in der Bearbeitung des 16. Jahrhunderts (Péter Ilosvai Selymes) darge-
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Abb. 14: János Arany. Stahlstich nach einer Photographie von Ede Ellinger, 1880, mit einem Epigramm des Dichters (Ü: Ch. Kunze): Hogy melyik arcképem választom rajzai közzől? Fényképíró úr! A botos és kalapost. Mint maradó vendég ül s áll a többi nyugodtan, Menni csak egy készül: útja van: ez leszek én! Welches meiner Porträts ich wähle aus all diesen Bildern? / Aber Herr Photograph! Dies hier mit Stock und Hut! / Sitzen und stehen die anderen doch wie verweilende Gäste, / Einer nur macht sich auf: Er hat zu tun: das bin ich!
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stellt. In seinem Toldi (1846; Toldi, 1855, M. Kolbenheyer) wollte Arany ähnlich wie Petőfi, von der Volksdichtung ausgehend, die Grenze zwischen dem hohen und dem volksnahen literarischen Register aufheben, aber ohne den gehobenen literarischen Geschmack herauszufordern. Deswegen vermied er bewusst den bäuerlichen Ton; Toldis Kraft und Jähzorn versah er mit einer anderen Funktion, dem ‚Geist des Volkstums‘ wollte er durch die Übernahme von sprachlichen, rhythmischen, kompositorischen und erzähltechnischen Besonderheiten der ungarischen Volksepik Rechnung tragen. Seine Muster waren die Epen von Homer, sie betrachtete er im Sinne von Herder und Winckelmann als Volksepen, in denen „sich die Einfachheit mit poetischer Erhabenheit paart“. Er suchte dem gehobenen Geschmack einerseits durch zahlreiche Reminiszenzen aus der Weltliteratur entgegenzukommen (neben Homer Firdausīs Schāhnāme, das Nibelungenlied, die Chansons de Guillaume, aus dem 19. Jahrhundert Esaias Tegnérs Frithiofs saga usw.), andererseits unterfütterte er die Taten des Helden, ähnlich wie im Roman, mit wohldurchdachten psychologischen Motivationen. Die Entwicklung von Toldis Charakter entspricht dem Muster von Tegnérs Epos: Der Held, der sich nicht beherrschen kann, begeht ein Verbrechen, dann wird er durch Selbstüberwindung zur reifen Persönlichkeit und dadurch fähig, eine historische Tat zu vollbringen und Gottes Vergebung zu erlangen. Im Hintergrund zeichnet sich auch der Weg vom Sündenfall über den Tod und die Erlösung zur Auferstehung ab. Auf einem ländlichen Adelssitz lebt die Witwe von Lőrinc Toldi mit ihrem jüngeren Sohn Miklós, den der ältere Sohn György zur Existenz als Bauer gezwungen hat, während er selbst am königlichen Hof ein luxuriöses Leben führt. Der offene Konflikt bricht aus, als György auf Besuch nach Hause kommt und Miklós sein Erbe von ihm einfordert; daraufhin ohrfeigt ihn der Bruder und stachelt seine Soldaten an, Miklós zu schikanieren. Dieser verliert die Beherrschung und schleudert einen Mühlstein auf die Soldaten, von denen einer stirbt. Arany verbindet ähnlich wie Vörösmarty Bilder der antiken und der christlichen Mythologie und zieht auch Motive des ungarischen Volksglaubens heran (Hoppál 1981). Im Bild der Verfehlung wird der Topos felix culpa zitiert. Miklós muss aus dem mütterlichen Haus flüchten, das ihm paradiesischen Schutz gewährt hat, damit er durch Gottes Gnade zum Helden werden kann und den tschechischen Ritter, der das Reichswappen geraubt hat, besiegt. Bevor er allerdings den Königshof, den Schauplatz des Entscheidungskampfs – und damit der Sündenvergebung – erreicht, gerät er in ein Schilfdickicht, im ungarischen Volksglauben mit der Unterwelt gleichzusetzen. Seine abenteuerlichen Taten – er muss im Schilfdickicht gegen Wölfe und bei Pest gegen einen Stier kämpfen – setzen ein vielfältiges System mythologischer Bilder in Bewegung. Aber im Unterschied zu den Epen von
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Vörösmarty erscheinen diese Motive nicht offen; ob sie assoziiert werden, bleibt meist dem Leser zu entscheiden. Aranys Werk ist nicht nur durch die Vollendung des Prinzips des ,künstlich Natürlichen‘, das heißt durch bewusste Erweckung des Eindrucks von ,Naturpoesie‘, mit Petőfis Dichtkunst verwandt. Die sprachliche Leistung in Toldi stellt eine weitere Entsprechung zu Petőfi dar, da sie ebenso in der Sprache der Volksdichtung wurzelt. Bei Petőfi Grundlage für den Selbstausdruck des modernen Subjekts, deckt Aranys metaphorische Sprache der ungarischen Volksdichtung hingegen das Ordnungsprinzip der Weltanschauung einer archaischen Gemeinschaft auf. Die in der Metaphorik liegenden Ähnlichkeiten baut er zu einem Netz aus und schafft so eine autonome epische Dimension, eine einheitliche Anschauungswelt (Barta 2003). Die Welt des Werkes stellt also eine projizierte Welt dar, deren Zusammenhang von den wesentlichen Ähnlichkeiten in der Lebensanschauung der Figuren gebildet wird. In dieser Sprache steht nicht die ‚bildliche Rede‘ dem ‚eigentlichen Sinn‘ gegenüber; die Tropen sind umkehrbar, die Motive des Ähnlichkeitsverhältnisses erklären sich gegenseitig. Der moderne Leser hat keine Schwierigkeiten, sich in dieses Universum zu versetzen, weil die Tropen meistens durch die semantische Erweiterung der lexikalisierten Metaphern der ungarischen Gemeinsprache entstehen, so ist ihre Anschauungsgrundlage für den modernen Leser leicht zugänglich. Auch das Mythische ist nicht durch mythologische Topoi, sondern durch Ähnlichkeiten und phraseologische Wendungen präsent. Miklós versteckt sich nach der Mordtat im Schilfdickicht; der Erzähler erreicht durch Gleichnisse, dass der Leser die Flucht mit dem Tod und das Schilfdickicht mit der Unterwelt assoziiert. Miklós’ Stern ist „in Trauer versunken“, „[s]ein Ruf wird begraben, als wäre er gestorben“, „[e]r stirbt aber nicht, nur so etwa, wie jemand, der sich tief versteckt“. Der Protagonist selbst kommentiert seinen Geheimbesuch im Elternhaus mit folgenden Worten: „[I]ch komme in der Nacht wie die Geister“. Die im Schilfdickicht besiegten Wölfe geraten durch Gleichnisse einerseits mit dem Teufel, andererseits mit dem boshaften Bruder György in semantische Verbindung. Miklós’ Sieg über sich selbst symbolisiert die zweite Tat, die Bezwingung des Stiers; der Erzähler hat den Helden vorher mehrmals mit einem Stier verglichen (an anderer Stelle erhält der Stier menschliche Eigenschaften). Der Sturm wird durch alltägliche Metaphern wie das Donnerwetter als „himmlischer Krieg“ und der Blitz als „Zorn Gottes“ zur Offenbarung göttlicher Kraft; wenn der Erzähler Miklós’ zerstörerische Kraft mit Donnerwetter („himmlischer Krieg“) vergleicht, stattet er ihn mit einem göttlichem Attribut aus, er mag dann durch diese Eigenschaft zum sakralen Helden irdischer Kriege werden. Der Erzähler, der Toldis Gestalt, wie er im Prolog sagt, aus dem Abstand von „neun bis zehn Menschenaltern“ wachruft, löst sich selbst in dieser sprachlichen Welt auf und erweckt den Anschein eines homodiegeti-
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schen Erzählers; nur die sprachlich-ethnographischen Fußnoten, die mit dem Namen des Autors signiert sind (und einen modernen Leser voraussetzen), deuten auf die Entferntheit der Erzählerposition. Die sprachliche Eigentümlichkeit in Toldi, wie sie in der Tropik zur Geltung kommt, hängt mit dem Sprachkonzept von Herder zusammen, der in den Idiomatismen der einzelnen Sprachen die reine Offenbarung der für sie charakteristischen Denkweise sah und wegen der Bewahrung dieser Eigenarten die Volksdichtung so hochschätzte. Toldi ist als ein typisch ostmitteleuropäisches Werk zu bezeichnen, das diese Einheit von Sprache und Dichtung im Herder’schen Sinne realisiert. Deswegen muss es in Übersetzung seines wichtigsten ästhetischen Wirkungsfaktors entbehren, ein Grund für die ungünstige Rezeption im Ausland. (Hebbel fand es nicht „tiefsinnig“ und der Kritiker der Revue des deux Mondes nicht modern genug.) Die Kritik in Ungarn nahm Toldi mit einheitlicher Begeisterung auf. (Petőfi begrüßte den Autor mit einem Gedicht und schloss Freundschaft mit Arany.) Die positive Rezeption bedeutete nicht nur den Erfolg von Aranys Programm einer literarischen Sprache auf volkspoetischer Basis und einer Versepik, die sich auch auf die Romanpoetik stützt, sondern sie stand auch damit im Zusammenhang, dass die Zeitgenossen das Werk allegorisch lasen, als Antwort auf die gesellschaftlich-ideellen Herausforderungen der 1840er Jahre. Der Aufstieg Toldis, aus dem Adelsstand ins bäuerliche Leben gestoßen, bestätigte die demokratischen Bestrebungen, die das Bauerntum in den konstitutionellen Rahmen der Nation integrieren wollten, der bislang vom Adel gebildet war. Dies war auch für die Entwicklung des Nationalbewusstseins von Bedeutung. Auch das Bild des unverdorbenen Bauerntums, das den Nationalcharakter treuer bewahrt als der Adel, wurde durch die Gegenüberstellung von Miklós und György bekräftigt. Die spätere Rezeption des Werks bestimmte, dass es im 20. Jahrhundert neben Petőfis János vitéz zum Grundtext des Kanons in der Grundschule wurde, was es zu einem bis heute prägenden Faktor des ungarischen Sprachbewusstseins werden ließ, aber die Dynamik möglicher Bedeutungszuordnungen beschränkte. Der Erfolg spornte Arany an, Toldi fortzusetzen. Als Rahmen der Fortsetzung bot sich die Dreier-Gliederung der chanson de geste an (enfance, chevalerie, moniage), die schon die Bearbeitung von Ilosvai im 16. Jahrhundert charakterisiert (Szörényi 1989, 166–167). Arany fand den Stoff für eine Bearbeitung geeignet, der den Helden im Alter zeigt. So entstand die Verserzählung Toldi estéje (1848–1854; Toldis Abend, 1856, M. Kolbenheyer). Moniage − der gealterte Held entzweit sich mit dem Hof, zieht sich zurück, dann wird er durch eine Gefahr für das Land wieder gerufen –, dies hielt Arany für geeignet, die Versepik als Volksdichtung auf dem Weg ihrer modernisierenden Annäherung an den Roman weiterzuführen. Die Handlung stellt eine Variation der Handlungselemente des
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ersten Teils dar: Der alte Toldi hat sich in sein Dorf zurückgezogen, er gräbt eben sein eigenes Grab, als er die Nachricht erhält, dass ein italienischer Ritter das Reichswappen geraubt habe. Diesmal ist es von Bedeutung, dass der Fremde ein Italiener ist: Toldi hatte sich zuvor mit König Lajos entzweit, da dieser an seinem Hof eine fremde, nämlich die italienische Kultur eingeführt hatte. Toldi besiegt den Italiener und erreicht die Entschuldigung des Königs, aber die Jungen, die der neuen Kultur und Mode folgen, beginnen den altmodischen Helden zu verspotten, der im Jähzorn drei von ihnen totschlägt, aus Erregung aber auch selbst stirbt. Eines der romanartigen Momente besteht darin, dass der Gegensatz zwischen den Wahrheiten, die der König bzw. der Protagonist vertreten (Fortschritt nach westlichem Muster bzw. Verteidigung des nationalen Charakters gegen fremden Einfluss), selbständige Perspektiven generiert. Auch die Perspektive des Erzählers erscheint, er will den Streit jedoch nicht entscheiden, sondern verfolgt ihn in subjektiver Reflexion. Lyrisch anmutende Reflexion rührt von der Unentscheidbarkeit des Streits; die Ambivalenz des Erzählers kommt durch Humor (im Sinne von Jean Paul) zum Ausdruck. Die Subjektivierung der Erzählung bestimmt auch die Tropik. Die Tropen begleiten diesmal nicht die Anschauung der Figuren, sondern die Einstellung des Erzählers; sie verstärken die humorvolle-elegische Gestimmtheit in Verbindung mit der Vergänglichkeit. (Der mittlere Teil der Trilogie – Toldi szerelme, 1850–1879, Toldis Liebe – stellt Toldi als Soldaten im Feldzug von König Lajos gegen Neapel dar und erzählt Toldis Liebe mit tragischem Ende; dieser Teil eröffnet auch eine neue – heldische – epische Dimension, da der Entstehungsprozess sich in die Länge zog, vermochte sich diese Dimension nicht einheitlich zu verwirklichen.) Die Subjektivierung in Aranys Versepik setzte sich nach 1849 fort. Schon von früher kannte er Byron, von ihm stammt auch das Motto von Az elveszett alkotmány – „Oh, thou world! Thou art indeed a melancholy jest“; nach 1849 übernahm er von Byron auch das Gattungsmuster des Versromans. Den ersten Gesang von Bolond Istók (dt. etwa: Der dumme August; bolond = närrisch, verrückt, Istók = Koseform von István) schrieb er 1850; er plante vier Gesänge, aber nur die ersten beiden wurden fertiggestellt. Der erste Gesang schließt an Petőfis A helység kalapácsa an und erzählt eine triviale Dorfgeschichte. Es geht um die Geburt eines Kindes, dessen Vater unbekannt ist; seine Großmutter stirbt vor Schande; sein Großvater, ein Feldhüter, schafft für das Begräbnis und für die Taufe durch Betrug Geld herbei. Das Kind selbst lässt die trunksüchtige Taufpatin auf dem Heimweg in einen Graben fallen und vergisst es dort; Wanderzigeuner finden und verkaufen es einem Hehler für ein Pferd. Durch die Themenwahl ironisiert Arany sein eigenes früheres Programm: Der Held und die Geschichte gehören der ‚niedrigen‘ Sphäre an, ohne Hintergrund aus der Sage – die Gestalt des närri-
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schen Burschen ist nur durch ein Sprichwort überliefert. Der Erzähler erklärt freilich, sein Werk sei nicht auf das Epische, sondern auf das Lyrische gerichtet: Er habe einen Stoff voller Humor gesucht, einen Anlass, um lyrische Reflexion zur Niedrigkeit und Nichtigkeit des Lebens und Künstlichkeit und Nutzlosigkeit der Literatur anzubringen. Ähnlich wie Hippolyte Taine Byrons Don Juan charakterisierte, „ergriff er eine Waffe gegen alle menschliche und poetische Konvention“ (Imre 1988). Es geht in erster Linie um die Ironisierung des souveränen Verhältnisses des romantischen Dichters zur poetischen Texttradition: Zum Äußersten getrieben und dadurch parodiert ist die Willkürlichkeit der literarischen Reminiszenz – von der Bibel angefangen über Homer bis zu den Landschaftsdichtern. Der erste Gesang von Bolond Istók löste bei der Kritik kein Echo aus. Sie verzeichnete Arany als Dichter des Toldi und konnte mit dem ‚devianten‘ Werk nichts anfangen. Die erste Anerkennung erfuhr Bolond Istók seitens Gyula Reviczkys, eines Vertreters der gegen Ende der 1870er Jahre auftretenden Dichtergeneration; er verstand den Humor in Aranys Verserzählung als die lyrische Tonart, die der modernen Zeit am meisten entspreche. Aufgrund der Wirkungslosigkeit des ersten Gesangs verzichtete Arany auf die Fortsetzung; 1856–1863 verfasste er zwar einige Strophen zum zweiten Gesang, fertig stellte er ihn aber erst 1873. Die Art, in der er die Schuljahre von Istók erzählt, unterscheidet sich von der des ersten. Die humorvolle Gestimmtheit entstammt der Erinnerung, da der Erzähler Istók, der wegen seiner künstlerischen Begabung lebensfremd – ‚närrisch‘ – ist, als sein eigenes jugendliches Alter Ego betrachtet. Der elegische Humor steht der Tonart des Werkes Toldi estéje näher als der des ersten Gesangs. Die Erfolglosigkeit hielt Arany nicht ab, auf dem Gebiet der Versepik weiter zu experimentieren. Das bedeutendste Ergebnis ist A nagyidai cigányok (1851/52, Die Zigeuner von Nagyida). Obwohl Arany für das an der Volksdichtung Wesentlichste das ihr eigene poetische Muster hielt, war er selbst auch nicht unempfindlich für das ‚bäuerliche‘ Register, für das ‚niedrig Komische‘. Die Lebensanschauung der Zigeuner als die Möglichkeit einer autonomen epischen Dimension, einer einheitlichen Anschauungswelt tauchte in Bolond Istók am Ende des ersten Gesangs auf. Während Az elveszett alkotmány das klassische Epos aus der subjektiven Perspektive parodierte, geschah das in Die Zigeuner von Nagyida, dem Untertitel nach ein „Heldengedicht“, dadurch, dass ein ‚Heldenepos der Zigeuner‘ nach der kollektiven Anschauung mit dem Attribut ‚heldisch‘ unvereinbar ist. Die Zigeuner stehen in der europäischen Literatur der Romantik emblematisch für Freiheit und Außergesetzlichkeit, und so bedeutet Freiheit nach Aranys Auffassung das Fehlen der für die hohe Kultur charakteristischen Affektkontrolle. Das wird zum zentralen Element, auf dem die einheitliche
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Anschauungswelt des Werkes basiert. Arany knüpfte mit dem ‚bäuerlichen‘ Ton an die Karneval-Tradition der Volkskultur an, die die Formen der hohen Kultur im niedrigen Register wiederholt und lächerlich macht (Milbacher 2000). Die Handlung des Werkes basiert auf einer historischen Anekdote: Als Ungarn Mitte des 16. Jahrhunderts mit Ferdinand I. von Habsburg und Johann Zápolya zwei Könige hatte, betraute Ferenc Perényi, ein Anhänger von Zápolya, Zigeuner mit der Verteidigung der Burg von Nagyida (heute Vel’ká Ida, Slowakei). Die Zigeuner verteidigten die Burg, aber sie riefen den abziehenden Deutschen nach, weh wäre ihnen, wenn das Schießpulver in der Burg nicht ausgegangen wäre. Pucheim, der Anführer des deutschen Heers, kehrte darauf um, nahm die Burg ein und ließ die Zigeuner köpfen. Der Gattung der komischen Verserzählung entsprechend ließ Arany den tragischen Schluss weg; die entscheidende Schlacht wird, allerdings mehrfach in Unsicherheit getaucht, als Traum Csóris, des Zigeunerhauptmanns, erzählt. Nachdem die Zigeuner vor Freude über die Einnahme der Burg den ohnehin knappen Lebensmittel- und Getränkevorrat konsumiert und das Schießpulver verschossen haben, schlafen alle ein, mit Ausnahme, wie der Erzähler behauptet, ihres Anführers. Sobald der Leser Verdacht schöpft (da sich in der Beschreibung der Schlacht eine Menge von traumhaft unmöglichen und grotesken Momenten finden, die mit dem realen Eindruck des ersten Gesangs nicht im Einklang stehen), stößt er auf zahlreiche Elemente, die nicht aus dem Traum des Zigeunerhauptmanns stammen können (mythologische und literarische Anspielungen, Namen der gegnerischen Soldaten usw.). Der Erzähler klärt den Leser hinterher durch die paradoxe Mitteilung auf, der Zigeunerhauptmann „hat nur geträumt, was ihm passiert ist“. Die einheitliche epische Dimension wird gesichert, indem sich der Erzähler wie in Toldi mit der Anschauungsweise der Figuren identifiziert, die nun durch das Fehlen der Affektkontrolle geprägt ist. Die Sprache und Tropen des Erzählers werden von Ausdrücken aus der animalischen Sphäre bzw. der Lebensform der Zigeuner geprägt. Dem sehnlichsten Wunsch des Zigeunerhauptmanns entsprechend hätte das Haus einen Boden, der mit Goldsand gestampft wäre, Perlen würden hinter die Tür gekehrt, Flicken auf der Hose wären aus Samt, in homerischen Personifizierungen geht die Nacht im Mantel der Diebe und der Traum kommt barfuß, um die Feiernden einzuschläfern. Während sich die Welt der Zigeuner in einem vorzivilisatorischen Zustand befindet, vertreten die Deutschen die Überzivilisiertheit. Als die Zigeuner übermütig in die Luft schießen, glaubt der deutsche Feldherr (sein Name ist hier Michael Puk), es handle sich um eine unbekannte Kriegskunst. Die Kanonen des deutschen Heeres versinken in Folge einer wirklichkeitsfremden und auf Theorie basierenden Strategie im Sumpf. Die Kritik verharrte diesmal nicht im Schweigen, Ferenc Toldy stellte mit Bedauern fest, dass nunmehr auch Arany dem ‚bäuerlichen Geschmack‘ zum
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Opfer gefallen sei, das Werk sei „die traurige Aberration einer ungewöhnlich schönen Seele“. Arany reagierte auf die Kritiken mit dem Gedicht Vágtat a ló … (Das Pferd galoppiert …); unter dem vor den Wagen gespannten und sich dann losreißenden „edlen Hengst“ muss man sich Pegasus vorstellen. Das Gedicht ist, wie aus dem Untertitel hervorgeht, eine „Erinnerung an die Zigeuner von Nagyida“ („Emlékezés a nagyidai cigányokra“). Der Interpretation gab Arany selbst eine neue Richtung, als er in den in 1863 geschriebenen Strophen des zweiten Gesanges von Bolond Istók auf ‚die Zigeuner‘ zurückkam. Demnach sei das Werk die bittere Parodie des Freiheitskampfes von 1848/49: „Nach einem Kampf, der ein Weltwunder war, kam der verzweifelte Lacher Nagyida“. Die Kritik setzte für ein Jahrhundert diese allegorische Bedeutung fest: Der Zigeunerhauptmann wurde mit Lajos Kossuth, dem ‚großen Träumer‘, identifiziert und in der nationalcharakterologischen Formel der Zigeuner die Parodie des ungarischen Nationalcharakters entdeckt. Die neuere Rezeption betont daneben die gattungsgeschichtliche Rolle des Werkes, die Provokation des herrschenden literarischen Kanons und die Innovation durch den unzuverlässigen Erzähler (Barta 1983, Hódosy 1995, Szilasi 1996, Milbacher 2000). Arany rechnete mit der Gattung des klassischen Epos also endgültig ab; er verwies jedoch auf zwei Eigenschaften des Epos, die zeitgemäß und für den Roman weniger charakteristisch sind. Die eine besteht im Nationalen, das er für den leitenden Gedanken seiner Zeit hielt, die andere liegt im über dem Einzelwesen herrschenden Fatum, dessen moderne und demythologisierte Darstellung seiner Meinung nach die neuzeitliche Tragödie schon verwirklicht hatte. (Primär dachte er an Shakespeares Tragödien, von denen er selbst mehrere ins Ungarische übersetzte, u. a. Hamlet). Arany gehörte zu denjenigen, die die Nation als Traditionsgemeinschaft auffassten, er sah im Nationalen des Epos nicht bloß das Thematische (wie in Vörösmartys Zalán futása), er wollte vielmehr auch die Poetik des nationalen Epos aus der Tradition erschaffen, wobei er der Originalität der schöpferischen Phantasie ablehnend gegenüberstand. Den Brüdern Grimm folgend, setzte er die Sage mit dem Gedächtnis des Volkes gleich und vertrat die Meinung, dass das moderne Epos in diesem – in poetischer Form existierenden – kollektiven Gedächtnis wurzeln und die Tradition der Volkssage den Erwartungen und Bedürfnissen des modernen Menschen entsprechend bearbeiten müsse; so könne es zur Herausbildung des modernen Nationalbewusstseins beitragen. Im Zusammenhang mit dem kollektiven Gedächtnis unterschied er die historische und die für die Sage charakteristische Variante der Glaubwürdigkeit: Demnach ist für die Dichtung nicht entscheidend, was historisch authentisch ist (gegenüber der Rekonstruierbarkeit der Geschichte war er ohnedies skeptisch), sondern was das kollektive Gedächtnis als gemeinsame Vergangenheit aufrechterhielt (Naiv epo-
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szunk, 1856, Unser naives Epos). Deswegen griff er in seinem letzten großen versepischen Unternehmen auf die Geschichte der Hunnen zurück. Ihm war bewusst, dass die Geschichtswissenschaft die Verwandtschaft der Ungarn und Hunnen unter Berufung auf die finno-ugrische Sprachverwandtschaft seit dem 18. Jahrhundert bestritt; für ihn war entscheidend, dass die ungarische Volkssagentradition das Bewusstsein der Verwandtschaft bis ins 19. Jahrhundert aufrechterhielt. (Übrigens waren sich auch die Historiker nicht einig, Amadé Thierrys Werk Histoire d’Attila et des ses successeures, das Arany kannte, behandelte die hunnischungarische Verwandtschaft als Faktum.) Einen Grund, nicht Árpád, sondern Etzel und seine Zeit zu wählen, fand Arany darin, dass Anonymus, der Verfasser der Gesta, der Árpád in den Mittelpunkt stellt, die Volkssagentradition bewusst mied, während Simon Kézai, dessen Gesta den Hauptakzent auf die Geschichte der Hunnen legen, sich oft auf sie stützte. Auch Aranys weltliterarische Muster gehören nicht zum Kreis des klassischen Epos-Musters. Neben der Ilias (für ihn ein ,Volksepos‘) folgte er Firdausīs Schāhnāme und dem Nibelungenlied, die kompositorische Funktion des Schicksals und die Auswirkung eines Bruderzwists auf eine ganze Nation nahm er als Muster. Er schloss sein Werk auch thematisch an das Nibelungenlied an, so wollte er es in die europäische Hunnen-Tradition einfügen. Das Konzept des als Trilogie geplanten Werkes beruht auf der Wirkung des Fatums. Etele (Etzel) wird durch die Schicksalhaftigheit der Umstände dazu bewegt, seinen Bruder Buda (Bleda) zu töten. Das Volk vergibt ihm, aber die Nemesis kann nicht versöhnt werden. Es wird ihm prophezeit, dass sein Reich zerfallen, aber ein noch unbekannter Sohn es wiederherstellen werde. Die Handlung bestimmt, dass Rika, eine seiner Frauen, ein Kind zur Welt bringt, während Etele in der Ferne Krieg führt. Etele glaubt, dass dieses Kind, Csaba, das prophezeite Kind sei, deswegen zieht er es und Rika in allem vor, gegenüber Ildikó (Krimhilde) und Aladár, dem Sohn, den er mit ihr hat. Rika fällt diesem Konflikt zum Opfer, deshalb verbannt Etele Ildikó. Als diese wieder zurück darf, tötet sie Etele aus Rache. Csaba und Aladár bekämpfen einander; für eine Zeit erscheinen Aladár und Ildikó als Sieger (Ildikó rächt sich auch an ihren Brüdern), aber im Bruderzwist wird das Hunnenreich aufgerieben. Zum Schluss stellt sich heraus: Der prophezeite Sohn ist nicht Csaba, sondern Árpád, dessen Abkömmling, der das Reich der Hunnen zurückerwirbt. Von der Trilogie wurde nur der erste Teil unter dem Titel Buda halála (1863/ 64; Budas Tod, 1879, A. Sturm; Budas Tod, 1913, Carl Mauer) abgeschlossen. Die Handlung wird dadurch in Bewegung gesetzt, dass Buda (hier ist er der ältere Bruder) die Macht auf eine göttliche Eingebung hin mit Etele, seinem Bruder, teilt. Hadúr, der Gott der Hunnen, beabsichtigt die Macht über den Erdkreis auf Etele zu übertragen – das symbolisiert das Schwert Gottes, das ein Hirtenjunge
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findet und zu Etele bringt. Hadúr knüpft das Schicksal von Etele und seinem Volk an die Bedingung, er müsse imstande sein, sich selbst zu überwinden. (Das Moment erscheint auch schon in Toldi.) Budas Persönlichkeit wird durch die Intrige von Detre (Dietrich), den Streit zwischen den Frauen der beiden Herrscher und den Gegensatz, der sich aus den unterschiedlichen Charakteren der Brüder ergibt, langsam korrumpiert, und so stiftet er eine Verschwörung gegen seinen Bruder an. Das bereitet der Selbstüberwindung von Etele ein Ende, der sich bis jetzt an seinen Eid als Mitherrscher gehalten hatte, obwohl das eigene Volk und das Ausland zunehmend in ihm, dem charismatischen Herrscher, den Alleinherrn der Hunnen sah. Er rettet Buda bei einer Jagd sogar das Leben, d. h. er widersteht der Versuchung, den Bruder sterben zu lassen. Aber schließlich tötet er ihn im Zweikampf. Diese Tat macht ihn der Weltherrschaft unwürdig und setzt den Niedergang der Hunnen in Gang. Arany wollte im Unterschied zu Vörösmarty aus der ungarischen Volkstradition eine mythologische Sphäre erschaffen, dabei leistete ihm Arnold Ipolyis 1854 erschienenes Werk Magyar Mythologia (Ungarische Mythologie, nach dem Muster der Brüder Grimm) Hilfe. Arany wollte aber keinen epischen Apparat konstruieren, er lässt zwar Hadúr auftreten, doch die Handlung bewegt nicht direkt er, sondern die religiösen Vorstellungen der Figuren. Sie kommen mit der göttlichen Sphäre nur durch Träume, Visionen und Ahnungen in Berührung – den Hunnen erscheinen die Gestalten der hunnischen, den Germanen die Gestalten der germanischen Mythologie. Durch das Fehlen der unmittelbaren Verbindung ist die Beziehung zwischen Mensch und Gott in Unsicherheit getaucht (Németh G. 1982). Während Etele im entscheidenden Moment richtig handeln kann, weil er während der Jagd, als ein Büffel seinen Bruder angreift, in dem Tier ein Wesen der Unterwelt sieht und die Szene als göttliche Prüfung interpretiert, löst den Grundkonflikt des Werkes aus, dass Buda nicht sicher ist, ob er Gottes Wort, das ihn auffordert, die Macht zu teilen, richtig verstanden hat. Ein anderer Grund für den mörderischen Bruderzwist besteht darin, dass trotz der zahlreichen wunderhaften Zeichen keiner von beiden Hadúrs Befehl versteht. Buda will Eteles Alleinherrschaft verhindern, während Etele sie aus eigener Kraft erwerben möchte. Die metaphysische Unsicherheit hat einen sprachlich-rhetorischen Hintergrund: Die Protagonisten wollen sich selbst und den Gegner vom eigenen Recht durch Beispiele überzeugen, aber zwischen den – dem eigenen Lebenskreis entnommenen – Beispielen und dem zu Beweisenden besteht kein notwendiger Zusammenhang. Buda belegt die Richtigkeit der Machtteilung mit den Argumenten (Arany 2006. Bd. II, 659): „Még terebélyesebb a fa, ha két águ […] Nem gondolom azzal fénynek apadását / Egy fáklya tüzéről ha gyujtani mását“ („Der Baum ist noch mehr ausgebreitet, wenn er zweiästig ist“ … „Ich glaube nicht, dass das Licht schwindet, / Wenn die Flamme der Fackel eine andere anzündet“; Ü: K. Blaskó). Etele
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argumentiert für seine eigene expansive Strategie: „Hatalom, mint a víz, vagy apad, vagy árad, / Soha középszerbe tespedve nem állhat“ („Die Macht wie das Wasser schwindet entweder oder wächst, / Sie kann nie in der Mitte stockend stehen bleiben“). Detre, der ‚zynische Rhetor‘, ‚beweist‘ den beiden Brüdern einzeln, indem er sich an ihre Argumentation anpasst, dass die geteilte Macht zum Konflikt führt. Der Grund für die Relativität der Gesichtspunkte in Buda halála hat also eine rhetorische Basis: Die beiden Brüder stellen die Zuverlässigkeit der rhetorischen Leistung der Sprache nicht infrage, deswegen werden sie zu Gefangenen der eigenen Sprache. Die Geschichte des tragischen Bruderzwistes erhält in der Mitte des Werkes ihr Gegengewicht durch eine Einlage aus einer Volkssage, der Sage vom Wunderhirsch. Sie wird bei einem Festschmaus von einem Sänger vorgetragen, vor der Eskalation des Bruderzwistes. Die Sage funktioniert als verkehrte mise en abyme. Die Herkunftsgeschichte über Hunor und Magyar, die Urväter der Hunnen und der Ungarn, erzählt die erfolgreiche und durch sakrale Kräfte unterstützte gemeinsame Landnahme zweier Brüder (Blaskó 2000, 133). Der Erzähler in Buda halála löst sich in der Geschichte genauso auf wie der Erzähler in Toldi, Distanz wird hier auch durch gelehrte Autor-Fußnoten geschaffen. Das Werk wurde von der Kritik zurückhaltend aufgenommen; es enttäuschte die zeitgenössischen Erwartungen in mehrfacher Hinsicht. Es ließ den in Vörösmartys Epos besungenen „alten Ruhm“ nicht wieder aufleben und widerstand auch der allegorischen Interpretation – trotz der Aktualisierung des populären Topos vom Untergang der Nation aus innerer Uneinigkeit. Die größte Schwierigkeit bei der allegorischen Interpretation erwächst aus der Zweideutigkeit der Rolle der Germanen: Da sie im hunnischen Reich fremd geblieben sind, tragen zu dessen Auflösung bei, aber Detre, der bewusst einen Keil zwischen die beiden Herrscher schlägt, verfolgt das Ziel der Befreiung seines Volks. Die Figur repräsentiert also zugleich die deutschen Interessen, die den ungarischen entgegengesetzt sind, und das durch das Habsburgerreich in seiner Freiheit eingeschränkte ungarische Volk. So sehr sich das Werk vom klassischen Epos gelöst und romanartige Züge angenommen hat, konnte es doch im mittlerweile vom Roman bestimmten literarischen Feld kein ernsthaftes Interesse wecken. So wie Vörösmartys Zalán futása als Epos der Nation im Sinne der Herkunftsgemeinschaft seinen kanonischen Rang nicht bewahren konnte, konnte Buda halála die vom Autor bestimmte Rolle des repräsentativen Texts der Nation als Traditionsgemeinschaft nicht erfüllen. Das romantische Programm des nationalen Epos verschwand dadurch endgültig von der Tagesordnung der ungarischen Literatur. Aranys Dichtkunst geriet hauptsächlich wegen seiner Auffassung von Subjektivität in einen Gegensatz zur Romantik. Für die romantische Dichtung hatte
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Subjektivität den Glauben an die Freiheit des Selbstausdrucks zur Folge, für Arany bedeutete sie Zwang zur persönlichen Reflexion, welche die Möglichkeit der Identifikation mit dem Volk als Großsubjekt nimmt. Dieser Zwang zur Reflexion, infolge der Krise nach 1849 verstärkt, stellte die Subjektivität in Aranys Versepik her und erwies sich für seine Lyrik als bahnbrechend. Diese Lyrik, aus dem Verlust der kollektiven Sprechweise entstanden, macht fast notwendig einen Bogen um das Volkstum; der Lyrik-Tradition der klassischen Literatur verpflichtet, will sich Arany nicht im Selbstausdruck verwirklichen wie der romantische Dichter, der souverän über die Texttradition verfügt. In seinen Gedichten passt sich die eigene Erfahrung schon im Voraus an die gewählte Sprechweise an, und das Individuelle kommt als Deformation der heraufbeschworenen Texttradition zur Geltung. Aranys Lyrik weist noch einen Unterschied zur Romantik auf, sie basiert nämlich – ähnlich wie die zeitgenössische europäische Lyrik – auf dem Gegensatz von Realem und Idealem. Wird die entzauberte Welt auch nicht abgelehnt, so stellt die Dichtung Aranys doch den mühseligen Aufstieg von der empirischen Welt in die ideale Welt der Poesie dar. Die Frage nach dem existentiellen Status dieser idealen Welt berührt sie nicht; wenn diese überhaupt thematisiert wird, dann als Traum. Und obwohl der in der Romantik übliche metaphysische Aspekt des Traums in ihr gelöscht ist, gelangt sie auch nicht zur Baudelaire’schen ‚leeren Idealität‘. In einem einzigen Gedicht geht es um die Ahnung der Nähe zu einer „nicht bekannten Welt“, in Dante (1852; Dante, 1854, K. Kertbeny). Hier ist der dichterische Traum eine Botschaft, die auf romantische Weise von jenseits der Erfahrung rührt. Wie er in einem späteren Gedicht das generelle Wesen der Religionen als Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele bezeichnet (Honnan és hová? 1877; Woher und wohin? 1935, L. Szemere), erblickt Arany die generelle Eigenartigkeit der Poesie darin, den Menschen aus der Fremdheit der Objektivität in die ideale Innerlichkeit der dichterischen Sprache zu ziehen. Wenn in Aranys Lyrik das Vertrauen zur Sprache zur Geltung kommt, betrifft das nicht die Möglichkeit des Selbstausdrucks, sondern diese ursprüngliche Idealität der dichterischen Sprache. Die eine Art des Verhältnisses zur idealen dichterischen Welt besteht darin, als Dichter der ‚sentimentalen‘ Zeit die ideale Welt der Dichtung der ‚naiven‘ Zeit heraufzubeschwören, die andere darin, unter dem Einfluss der desillusionierten Wirklichkeitserfahrung auf die Darstellung des Idealen zu verzichten und es nur mittelbar, durch die ‚Vollendung‘ der Komposition des Gedichts, zur Geltung zu bringen. Zwischen der individuellen Gestimmtheit und der Komposition vermitteln die lyrischen Gattungen, die Arany nach ‚Tonarten‘ unterscheidet; seine beliebteste Gattung ist die elegische Ode (elegiko-óda), die Tonart, die von der resignierten Reflexion persönlichen Verlusts ausgehend zu verallgemeinernden
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Tropen gelangt. Die intensive Energie, die am Gedichtanfang die Gestimmtheit ertönen lässt und das Gedicht konstituiert, hält nicht immer bis zur ‚Vollendung‘ durch, in solchen Fällen endet das Gedicht in Stereotypen (Balzsamcsepp, 1857; Balsamtropfen, 1880, A. von Sponer), oder bleibt Fragment (Ha álom ez élet …, 1849, Wenn das Leben ein Traum ist …; Még ez egyszer …, um 1878, Noch das eine Mal …). Der Sprecher des Gedichts Letészem a lantot (1850; Ich lege die Laute nieder, 1855, D. Dudumi; Ich lege meine Laute nieder, 1984, A. Bostroem) erklärt das Verkümmern der idealisierenden Kraft seiner Dichtkunst mit dem Verlust der Rolle als ‚Dichter der Gemeinschaft‘. Die elegische Reflexion richtet sich auf diesen zweifachen Verlust, die Erkenntnis der Unwiderruflichkeit bewirkt den Ausgang in Art einer Ode. Das Paradoxe in dem Gedicht, in dem es um das Verstummen der Poesie geht, löst er auf, indem er das Ideale, auf dessen Darstellung er verzichten musste, durch die Harmonie, die im Rhythmus, in der Strophengliederung, im Refrain und in der stilisierten Sprache des Gedichts erscheint, zur Geltung bringt. Die Verlusterfahrung der ‚sentimentalen‘ Zeit wird der Dichtung der ‚naiven‘ Zeit im Gedicht Ősszel (1850; Im Herbst, 1854, K. Kertbeny; 1984, M. Remané) gegenübergestellt; die beiden Weltzustände werden hier mit Homer und mit Ossian verknüpft. Der Antagonismus zwischen den durch sie geschaffenen Welten (was auf Petőfis Gedicht mit der gleichen Thematik hindeutet) erhält seine lyrische Bedeutung durch die elegische Gestimmtheit des Sprechers und durch die Reflexion darauf (ähnlich wie bei Werther, der seinen gegensätzlichen Gemütslagen entsprechend einmal Homer, einmal Ossian liest). Den Sprecher, der unter dem Einfluss des „schwermütigen Herbsttages“ steht, würde das Bild des Landes, „dem stets der Himmel strahlend lächelt“, „schmerzen“, trotzdem beschwört er, während er im Refrain abermals Ossian anruft, durch mehrere Strophen die heitere griechische Welt, bevor er sich der rauen Welt Ossians ergibt. Der odenartige Abschluss der symmetrischen und geschlossenen Komposition deutet einmal mehr darauf hin, dass sich die Ablehnung des Bilds der idealen homerischen Welt und die Anziehung des „nebelgrauen, düstren Liedes“ des Ossian aus dem Verlust der kollektiven Eingebettetheit der Dichtung ergibt. Die Geister der keltischen Helden rufen Ossian aus dem Jenseits (Arany 2006. Bd. I, 163): Nincs többé Caledonián Nép, kit te felgyujts énekeddel. Kein Volk mehr in Caledonien, / das du mit deinem Lied entflammen könntest. (Ü: K. Blaskó)
Das Gedicht Évek, ti még jövendő évek … (1850; Ihr Jahre, ihr Zukunftsjahre …, 1880, A. von Sponer; Oh Jahre, Zukunftsjahre …, 1935, L. Szemere) von einem Motto
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Byrons ausgehend („My hair is gray, but not with years“), knüpft lyrische Reflexionen an das Erscheinen der ersten grauen Haare. In den elegischen und odenartigen Teilen werden diesmal entgegengesetzte Argumentationen verwendet. Das Ich, das die Erfahrung des Altwerdens erleidet, spricht in der Rolle des Kreditgebers und stellt seine Forderungen durch Metaphern aus der Finanzwelt an die schwindende Zeit. Das reflektierende Ich weist diese Sprache aber zurück und schreibt das Näherkommen des Alters und Todes zuerst in das Bild des reif gewordenen Weizens und der Ernte, dann verweigert es auf ironische Weise auch diese Metaphorik, es nennt die Sünde Tugend und die Strafe Lohn, und auch das Wegbleiben des ‚Gewinns‘ leitet es aus diesem verkehrten Verhältnis ab. Die Absurdität wird am Ende des Gedichts durch den deformierten Topos des Schicksalsrads vollständig; das Schicksalsrad ist hier nicht das Emblem der Unbeständigkeit des Glücks, sondern das Bild eines undurchschaubaren Mechanismus, der den Einzelnen eine Zeitlang wie ein Staubkorn trägt und dann abwirft. Die entgegengesetzten Positionen des empirischen und des rhetorischen Ichs bringt in der letzten Strophe auch eine Selbstansprache-Formel zum Ausdruck. Selbstausdruck durch Deformation konventioneller poetischer Topoi realisiert sich am markantesten im Gedicht Visszatekintés (1852; Rückblick, 1861, K. Kertbeny; 1984, M. Remané) durch Topoi des im Boot ausgesetzten Kindes, des Gartens und des in die Falle geratenen Wilds und durch einen elegisch-odenartigen Ton vermischt mit Humor; odenartige Verallgemeinerung erfolgt durch Beschwörung stoischer Seinsauffassung (Szörényi 1972). Arany versuchte sich im Selbstausdruck auch im Lied. Das ist in der Lyrikgeschichte von Bedeutung, da das Lied zur Jahrhundertmitte durch Petőfis Wirkung auf das Volkstum einschränkt war. Die Gestimmtheit des Gedichtes A lejtőn (1857, Auf abschüssigem Weg) entstammt der Erfahrung des Transzendenz-Verlusts, seine Gleichnisse bleiben bis zuletzt im Radius alltäglicher Erfahrung – der in seinem Zimmer sinnende Sprecher beschwört den Topos vom Leben als Wanderfahrt (Arany 2006, Bd. I, 359): S minél messzebb haladok, Annál mélyebb a sötétség; Vissza sem fordulhatok. Nem magasba tör, mint másszor – Éltem lejtős útja ez; Mint ki éjjel vízbe gázol S minden lépést óva tesz. Je weiter ich komme, / Desto tiefer die Finsternis; / Ich kann mich nicht wenden. / Steigt nicht empor, wie sonst – / Der abschüssige Weg meines Lebens; / Als ob wer des Nachts ins Wasser watet / Und jeden Schritt mit Vorsicht setzt. (Ü: K. Blaskó)
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Die dichterische Methode ist charakteristisch für die Zeit nach der Romantik: Im Gedicht fehlt jeder direkte Hinweis darauf, dass das Wasser das Reich der Toten ist; das unerwartete Gleichnis, von der Gedichtsituation gelöst, geleitet den Leser über die literarische Bedeutung hinweg – ähnlich wie bei C. F. Meyers Das Spätboot. Arany verwirklichte die Mittelbarkeit des Selbstausdrucks durch verschiedene Varianten der Objektivierung. Dazu gehören seine Allegorien, die zu Selbstsymbolen werden (A rab gólya, 1847; Der gefangene Storch, 1861, K. Kertbeny; 1935, L. Szemere; Pusztai fűz, 1852; Die Weide auf der Pussta, 1935, L. Szemere), und dazu gehört die Gattung des dramatischen Monologs – in der europäischen Literatur von Robert Browning praktiziert – im Gedicht Az örök zsidó (1860; Der ewige Jude, 1880, A. von Sponer; 1935, L. Szemere). Das Verbergen des mythologischen Bezugs ist auch für dieses Gedicht charakteristisch; bloß der Titel und eine Andeutung in der letzten Strophe („Szegény zsidó … Szegény szívem“, „armer Jude, mein armes Herz“, Ü: K. Blaskó, Arany 2006, Bd. I, 379) ergeben die Identifizierung des Sprechers in seiner Ruhelosigkeit mit Ahasver, dem Protagonisten der apokryphen Legende, und regen an, das Gedicht als Monolog des unerlösten und sich nach erlösendem Tod sehnenden Menschen zu lesen (Aranys Gedicht steht unter den vielen Bearbeitungen des Themas im 19. Jahrhundert den Gedichten Song for the Wandering Jew von William Wordsworth und Der ewige Jude von Johann Ludwig Wilhelm Müller am nächsten). Der Objektivierung des Selbstausdruckes dient auch das lyrisierte Genrebild. Der Sprecher des Gedichtes Kertben (1851; Im Garten, 1935, L. Szemere) wird bei der Gartenarbeit Zeuge dabei, wie ein junger Mann in seiner Nachbarschaft den Sarg für seine gestorbene Frau zimmert. Der Sprecher passt sich zunächst der Gleichgültigkeit an, die den Trauerfall umgibt (Arany 2006, Bd. I, 185): Nem volt rokon, jó ismerős sem; Kit érdekel a más sebe? Sie war keine Verwandte, auch keine gute Bekannte, / Wer interessiert sich für die Wunde des Anderen? (Ü: K. Blaskó)
Dann aber verrät er, dass sich seine Einstellung unter dem Einfluss des Beobachteten verändert hat; nach der Wiederholung der Anfangszeile „Kertészkedem mélán, nyugodtan“ („Ich gärtnere verträumt, ruhig“) sagt er nicht mehr, dass er „an den Bäumen fummelt“ („Gyümölcsfáim közt bíbelek“), sondern dass er „die Wunden der Bäume verbindet“ („A fák sebeit kötözöm“). Der Schluss des Gedichts verallgemeinert ironisch den Topos Garten und Gärtner: Die Welt wird als Garten dargestellt, in dem die Menschen Raupen und der Gärtner der Tod sind. Das ist eine ironische Paraphrase von Vörösmartys Vers „Der Mensch tut der Erde weh“,
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Az emberek); aber diese Ironie zeigt sich im Spiegel des Verses, wo er sich verrät, mehr als Ablehnung der konkreten und generellen Anteilnahme, die dem Sprecher Leid zufügt. Die Objektivierung des Selbstausdrucks steigert sich bei der Ballade, der Gattung an der Grenze zwischen Lyrik und Epik, die auch dramatische Elemente enthält. Die Ballade fügte sich in Aranys Dichtungskonzeption, sie ist ja eine traditionelle Gattung der ungarischen Volksdichtung, die sich in Ungarn im 14. Jahrhundert einbürgerte, aber durch ihre französische Herkunft in ganz Europa ähnliche Merkmale trug; darum konnte sie auch aus der Balladendichtung anderer Völker angereichert werden. (Arany schöpfte nicht nur aus der ungarischen, sondern auch aus der schottischen Volksballade, aber er übersetzte auch die Balladen von Moore und Goethe.) Aus der Sicht der spätromantischen Poetik galt (mit Goethes Ausdruck) die „mysteriöse Behandlung“ als das Wichtigste. Aus der mysteriösen Behandlung und der für die Ballade charakteristischen elliptischen Konstruktion entstanden oft Leerstellen, die den Rezipienten zu einer in der ungarischen Literatur bisher unbekannten Aktivität stimulierten. Rätselhaftigkeit oder Offenheit mögen Charakteristika der Ballade sein, manchmal klärt sich die Funktion von Textelementen erst bei der zweiten Lektüre aus der Kenntnis des Textganzen. Von den frühen Balladen Aranys hebt sich das Werk A varró leányok (1847; Die Nähmädchen, 1861, K. Kertbeny; Die Näherinnen, 1908, A. Handmann) hervor, in dem die dramatische Form das Verstehen erschwert. Fünf Mädchen unterhalten sich über einen näherkommenden Umzug; das erste Mädchen hält ihn für einen Hochzeitszug, aber während der Zug immer näher kommt, entdecken die anderen vier immer mehr Momente, die zu einer Hochzeit nicht passen, bis dem ersten Mädchen bewusst wird, dass man den Sarg ihres Bräutigams bringt. Die Ballade konzentriert sich nur darauf, wie sich eine unreflektierte Einstellung des Bewusstseins unter dem Einfluss der sich häufenden Erfahrungen plötzlich verwandelt; äußere Umstände werden nicht angesprochen (der Erzähler äußert sich nicht einmal). Nach 1849 thematisierte Arany in seinen Balladen am häufigsten das Verhältnis zwischen Sünde und Gewissen. Die Sühne des Bauern, der mit falschem Eid Boden erwirbt, wird in die volkstümliche Welt des Aberglaubens transponiert (A hamis tanú, 1852; Der falsche Zeuge, 1908, A. Handmann; Der Meineid, 1926, H. Lüdeke); der Erzähler erzählt die Geschichte auch aus dieser Perspektive, und wie in Toldi und in Buda halála erfährt man nur aus einer erklärenden Fußnote, dass es hinter dem Text auch einen anderen Erzähler gibt. Ein volkstümliches Genrebild prägt die Sicht des Erzählens in der Ballade Ágnes asszony (1853; Frau Ágnes, 1854, M. Szegfi; 1933, L. Szemere); sie erzählt die Geschichte einer Frau, die Komplizin ihres Geliebten beim Mord an ihrem
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Abb. 15: Illustration von Mihály Zichy zur Aranys Ballade Ágnes asszony
Mann war. Die Frau gerät in die Falle ihres eigenen Leugnens: Da sie ihre Sünde nicht gesteht, kann sie sich ihrer nicht entledigen, sie wäscht ihr Bettlaken vergeblich, bis es zerfetzt ist, und den Blutfleck erkennt sie noch Jahre später (Eisemann 2010, 11–14). Der unsicheren Perspektive entspricht der Stoßseufzer, der sich im Refrain wiederholt (Arany 2006. Bd. I, 282): „Oh! irgalom atyja, ne hagyj el“ („O barmherziger Gott, verlass mich nicht“, Ü: K. Blaskó). Durch die Veränderung des Kontexts kann man nicht wissen, inwiefern der Satz zur Sicht der schuldigen Frau, zur Sicht der Richter, die sie wegen ihres Geisteszustands von der Strafe freisprechen, oder zur Sicht des Erzählers gehört. Schon in Ágnes asszony wird Shakespeares Wirkung sichtbar (Lady Macbeth sieht ständig die Blutspuren auf ihrer Hand). An tyrannischen Herrschern sind König Johann (dieses Drama hat Arany auch übersetzt), Richard II. und Macbeth als Intertexte präsent. Die Ballade V. László (Ladislaus der fünfte, 1861, K. Kertbeny; 1940, H. Leicht) ist eine Anspielung auf Richard II., der den Typus des ausgelieferten Königs vertritt. Der Protagonist ist Ladislaus V. (von Habsburg), der minderjährige König von Ungarn und Böhmen, der aus Angst vor den Brüdern Hunyadi sein Versprechen brach, Ladislaus Hunyadi hinrichten und seinen jüngeren Bruder Matthias ins Gefängnis sperren ließ – er selbst starb ein Jahr später unter ungeklärten Umständen. (Nach zeitgenössischen Gerüchten ließ ihn Georg Po-
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diebrad vergiften, der Ansprüche auf die tschechische Krone erhob; auf dem ungarischen Thron folgte ihm Matthias Hunyadi.) Die elliptische Struktur hängt diesmal mit ihrer ursprünglichen Funktion in der Ballade zusammen: Es wird vorausgesetzt, dass der Leser die Geschichte kennt. Es geht um Ladislaus’ schlechtes Gewissen infolge der tyrannischen Tat, der junge Herrscher ist indessen selbst Opfer; er fürchtet die Vergeltung und halluziniert. Den Rahmen der Ballade bildet der immer wieder abgebrochene Dialog zwischen dem König auf der Flucht vor der Hunyadi-Partei und seinem tschechischen Begleiter; nur ein zweideutiger Hinweis des Begleiters deutet an, dass er den König vergiften wird. Die Thematik des Tyrannen nuanciert das Werk A walesi bárdok (1857–1861; Die Waleser Barden, 1880, A. von Sponer; Die Barden von Wales, 1984, A. Bostroem), jene am wenigsten elliptische Ballade Aranys, die zuerst Kanonisierung erfuhr. Der Stoff rührt von Sagen rund um die englische Eroberung von Wales im 13. Jahrhundert. König Edward I. besucht das unterworfene Land, er verlangt von den walisischen Barden, seine Taten zu preisen, und da keiner von ihnen bereit ist, schickt er alle Barden auf den Scheiterhaufen. Assoziiert man mit Ladislaus V. und Matthias Hunyadi den regierenden habsburgischen Herrscher und Lajos Kossuth, so verdankt das Gedicht A walesi bárdok die außerordentliche Popularität vom ersten Erscheinen bis heute einer allegorischen Interpretation. Arany begann die Ballade aus Anlass des Ungarn-Besuchs von Franz Joseph 1857 zu verfassen, als die ungarischen Dichter aufgefordert waren, Begrüßungsgedichte zu schreiben. So wurde die Bedeutung festgelegt, die (ungarischen) Dichter würden der tyrannischen Macht sogar um den Preis ihres Lebens widerstehen, ein Dichter (Kálmán Lisznyai), der gegen gute Bezahlung ein Begrüßungsgedicht verfasste, zog sich allgemeine Verachtung zu. Eine neuere Interpretation sieht auch Edward ähnlich wie König Ladislaus V. in der Opferrolle, da er glaubt, in Wales gefeiert zu werden, weil er die inneren Streitigkeiten beendete; erst durch die schweren Beschuldigungen der Barden wird ihm bewusst, dass ihn in Wales nur Hass verfolgt. Wie Ladislaus V. wird auch Edward zum Gefangenen seiner eigenen Tyrannei; er rechnet nicht mit dem einheitlichen Widerstand der Barden und wird vom Wahnsinn befallen, als er seinen eigenen Befehl vollziehen muss, die 500 Sänger hinzurichten (Arany 2006. Bd. I, 356): Áll néma csend; légy szárnya bent, Se künn, nem hallatik: ‚Fejére szól, ki szót emel!‘ Király nem alhatik. Ha, ha! elő síp, dob, zene! Harsogjon harsona:
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Fülembe zúgja átkait A velszi lakoma … De túl zenén, túl síp-dobon, Riadó kürtön át: Ötszáz énekli hangosan A vértanúk dalát. Still wird’s sofort an jedem Ort / aus Angst vor strengen Strafen. / Den Tod bringt schon ein lauter Ton! / Der König kann nicht schlafen! // ‚Ha, Pfeifen, Trommeln, Musik herbei / und schmetternde Posaunen! / Laßt nicht das Festgelag von Wales / den Fluch ins Ohr mir raunen!‘ // Doch über Pfeifen und Trommeln hinweg / und durch das Hörnerklingen / hört man fünfhundert Barden laut / das Lied der Märtyrer singen. (Arany 1984, 49, Ü: A. Bostroem)
Diese Lesart wird von Textparallelen mit István Széchenyis Ein Blick unterstützt, wo Franz Joseph als Gefangener der Umstände und seiner eigenen falschen Ideologie charakterisiert ist (Milbacher 2006). Die ethische Intransigenz der Dichter ist das Thema der Ballade Szondi két apródja (1856; Szondi’s Pagenpar, 1879, A. von der Haide; Szondi’s Pagen, 1984, M. Remané). Nach dem Fall der Burg von Drégely (1552) geraten die beiden Pagen des Burgkapitäns, der den Heldentod erlitt, in türkische Gefangenschaft; der Bote von Ali Pascha bittet die Jungen erst, dann befiehlt er ihnen, den neuen Herrn zu preisen, sie würdigen ihn jedoch keiner Antwort und singen weiter das Lob des Helden Szondi. Die poetische Besonderheit liegt im Scheindialog: Der türkische Diener, der aus der Position der Macht spricht, ist gezwungen, den Faden der von den Pagen gesungenen Geschichte aufzunehmen, er erkennt die Tapferkeit von Szondi sogar an, damit er mit ihnen einen Dialog einleiten kann, aber auch so unterliegt er ihnen. Die scharf getrennten Sprachen der beiden Seiten lassen die Unmöglichkeit des Dialogs nicht nur zwischen zweierlei dichterischen, moralischen und politischen Haltungen, sondern auch zwischen den zwei Kulturen und Religionen vermuten (Szörényi 1989, 196). Alternative Bedeutungsbildung initiiert die Ballade Bor vitéz (1855; Bor, der Held, 1861, K. Kertbeny; Ritter Bor, 1970, A. Bostroem) am stärksten. Dem Thema der Gespensterballade Lenore von Bürger folgend, verdankt diese ihre Bedeutungsoffenheit der malaiischen Form Chamissos, dem Pantum (in den vierzeiligen Strophen wiederholen sich die 2. und 4. Zeile in der nächsten Strophe in der 1. und 3. Zeile). Held Bor fällt in einer Schlacht, seine Verlobte soll nach dem Willen ihres Vaters mit jemand anderem verheiratet werden, aber das Mädchen widersetzt sich und folgt ihrem Bräutigam in den Tod. Die zentrale Szene der Ballade ist die Gespenster-Hochzeit um Mitternacht in einer Waldkapelle. Der wechselnde Kontext der wiederkehrenden Zeilen lässt unentschieden, ob die Hochzeit stattfindet oder die Vision des Mädchens ist, das unter dem Eindruck
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des Verlusts verrückt wurde. Die Relativierung überschreibt die romantische Tradition der Gespensterdichtung. Arany zog 1860 aus einer Kleinstadt der Provinz in die Hauptstadt und wurde ein Akteur des Kulturbetriebs (1860–1865 als Zeitungsredakteur), zog sich aber 1877 zurück. Der Gruppe der im Sommer dieses Jahres entstandenen späten Gedichte, Lyrik und Balladen, gab er den Titel Őszikék (Herbstblüten). Von subjektiver Reflexion im Spannungsfeld von Fremdheit und Erinnerung geprägt, bewegt die entfremdende Seinserfahrung der modernen Großstadt den Sprecher zur Beschwörung und Befestigung der Kindheitsidentität des Ichs, doch fesseln Zwangsläufigkeit und Unwiederbringlichkeit die Erinnerung. So gewinnt der Sprecher seine Identität nicht als Subjekt der Erinnerungen, sondern aus dem Akt des Sich-Erinnerns. Die Gedichte werden durch das Ich, das durch die Erinnerung seine Identität konstruiert, als sprachliche Rolle zum Zyklus organisiert. In der Rezeption erfolgte aber bald die Identifizierung dieser Rolle mit dem Autor, obwohl es schon im zweiten Gedicht des Zyklus (Epilogus; Epilog, 1970, A. Bostroem) zur Relativierung dieser Rolle kommt. Das Gedicht besteht aus drei gleich langen Abschnitten mit der gleichen (bzw. variierten) Anfangszeile: „Az életet már megjártam“ („Meinen Lebensweg bin ich gegangen“). Dem Ich des ersten Abschnitts entgegengesetzt, das von der Erfüllung seiner bescheidenen Wünsche und von seiner selbstbewussten Position als Außensteher im großstädtischen Leben in alltäglicher Sprache Rechenschaft ablegt, berichtet das Ich des zweiten Abschnitts von der Vernachlässigung der Pflicht, vom verpatzten Leben und von der unverdient erhaltenen Anerkennung durch einen klassischen Topos: „S pályám bére / Égető, mint Nessus vére“ („brennt der Lohn / wie ein Nessushemd mich“). Das Ich des dritten Abschnitts dagegen spricht in der Rolle des Opfers, das durch das – als Zwingherr personifizierte – Leben an der Erfüllung seiner Wünsche gehindert wurde (Arany 2006, Bd. I, 431–433). Az életet már megjártam. Többnyire csak gyalog jártam, Gyalog bizon’ … Legfölebb ha omnibuszon. Láttam sok kevély fogatot, Fényes tengelyt, cifra bakot: S egy a lelkem! Soha meg se’ irigyeltem. Nem törődtem bennülővel, Hetyke úrral, cifra nővel: Hogy’ áll orra Az út szélin baktatóra.
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Ha egy úri lócsiszárral Találkoztam s bevert sárral: Nem pöröltem, – Félreálltam, letöröltem. Hiszen az útfélen itt-ott, Egy kis virág nekem nyitott: Azt leszedve, Megvolt szívem minden kedve. Az életet, ím, megjártam; Nem azt adott, amit vártam: Néha többet, Kérve, kellve, kevesebbet. Ada címet, bár nem kértem, S több a hír-név, mint az érdem: Nagyravágyva, Bételt volna keblem vágya. Kik hiúnak és kevélynek – Tudom, boldognak is vélnek: S boldogságot Irígy nélkül még ki látott? Bárha engem titkos métely Fölemészt: az örök kétely; S pályám bére Égető, mint Nessus vére. Mily temérdek munka várt még! … Mily kevés, amit beválték Félbe’-szerbe’ S hány reményem hagyott cserbe’! … Az életet már megjártam; Mit szivembe vágyva zártam, Azt nem hozta, Attól makacsul megfoszta. Egy kis független nyugalmat, Melyben a dal megfoganhat, Kértem kérve: S ő halasztá évrül-évre. Csöndes fészket zöld lomb árnyán, Hova múzsám el-elvárnám,
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Mely sajátom; Benne én és kis családom. Munkás, vidám öregséget, Hol, mit kezdtem, abban véget … Ennyi volt csak; S hogy megint ültessek, oltsak. Most, ha adná is már, késő: Egy nyugalom vár, a végső: Mert hogy’ szálljon, Bár kalitja már kinyitva, Rab madár is, szegett szárnyon? Meinen Lebensweg, den langen, / bin ich meist zu Fuß gegangen, / ja, zu Fuß, / höchstens fuhr ich Pferdebus. // Oh, ich sah viel stolze Wagen, / Räder, Böcke, reich beschlagen, / doch – mein Eid! – / Nie empfand ich dabei Neid! // Wer darin saß, war mir gleich. / Stolz der Herr, die Dame reich, / rümpft die Nase / über mich / dort auf der Straße. // Ritt vorbei ein Stutzer keck / und bespritzte mich mit Dreck, / nicht ein Wort / sagt ich, wischte stumm es fort. // Doch am Rande dort und hier / blühte manches Blümchen mir, / wenn ich’s pflückte, / merkt ich, daß mir vieles glückte. // Auf dem Weg, den ich gegangen, / konnt ich vieles nicht erlangen, / manchmal mehr, / als ich suchte. Meist war’s schwer. // Titel gab es ungebeten, / Ruhm, nicht immer zu vertreten. / ’s wär schon was, / hätt ich nur an Ehrung Spaß. // Die mich stolz und eitel hießen, / glaubten glücklich mich zu wissen. / Glück im Leben / wird’s nie ohne Neider geben. // Wenn der Zweifel mich verzehrt, / ob mein Lied des Strebens wert, / brennt der Lohn / wie ein Nessushemd mich schon. // Wieviel Arbeit lag vor mir, / und wie wenig schafft ich hier, / halb und kaum … / Wie oft narrte mich ein Traum! // Bin des Lebens Weg gegangen. / Was ich liebend gern umfangen, / bracht mir’s nimmer, / das verweigert es immer! // Ruh und Unabhängigkeit / und für meine Lieder Zeit / wollt ich bitten, / doch man hat es nicht gelitten. // Nur ein kühles Nest im Garten, / meine Muse zu erwarten, / mir verschrieben, / drinnen ich und meine Lieben. // Frohes Alter, rege Hände, / wie am Anfang, so am Ende: / ’s wär das Ganze, / daß ich wieder propfe, pflanze! // Käm es jetzt, es käm zu spät, / da es bald zur Ruhe geht. / Kannst du singen, / fliegen, selbst aus offnem Bauer, / Vogel mit gestutzten Schwingen? (Arany 1984, 56–58, Ü: A. Bostroem)
Die Gedichte in Őszikék aktualisieren das strukturbildende Verfahren der früheren Lyrik Aranys, nämlich den Aufstieg von der Wirklichkeit des Alltags in die Idealität der Dichtung. Die Gedichte tragen die Trivialität des Objekts, das die Erinnerung – oder manchmal die alltägliche Erfahrung – anbietet, zur Schau, damit verstärken sie den Kontrast, der zwischen dem Objektiven und dem Idealen, zwischen Wirklichkeit und Dichtung erscheint. Der Sprecher des ersten Gedichtes des Zyklus mit dem Titel A lepke (Der Falter, 1903, L. Doczi) bemerkt das im Straßenstaub flatternde kurzlebige Insekt und zieht eine Parallele zwischen ihm und sich selbst, weil er die Welt aus der Perspektive des Menschen
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betrachtet, der für sich eine Grabstätte sucht. Ein Bauernwagen, der in der Hauptstadt auftaucht, setzt das Erinnern in Bewegung (Vásárban; Auf dem Jahrmarkt, 1956, G. Engl); aus der Erinnerung daran, wie er als Kind einmal in die Welt ging, wird auf das Leben die Geschichte des verlorenen Sohnes projiziert (A vándor cipó, Der Wanderwecken), und auf die Őszikék als Dichtung, die ihre Stimme verloren hat, wird durch die Erinnerung an die Kürbisglocke reflektiert, das ehemalige Kinderspielzeug, „A mely ugyan nem ada hangot / De máskép vígan működék“ („das zwar nicht tönte, / Doch andererseits gut funktionierte“, Naturam furca expellas …, Arany 2006. Bd. I, 433, Ü: K. Blaskó). Dieses Gedicht mit seinem Anschein von Anspruchslosigkeit verweist konzentriert auf die ästhetische Komposition des Zyklus. Der Titel stammt aus der Epistel von Horaz, die das Dorfleben im Gegensatz zum städtischen Leben lobt, der Form nach ein Sonett, geht das Gedicht im Einklang mit dem humorvollen Ton aus der 8–4–2-Zeilen-Gliederung hervor, d. h. es verstummt (Eisemann 2010, 287). Die Einheit der Poetisierung eines alltäglichen Gegenstands der Erinnerung und der Seinserfahrung verwirklicht das Gedicht A tölgyek alatt (Unter Eichenbäumen, 1984, M. Remané) durch die ständige semantische Erweiterung des Motivs in besonders deutlicher Weise. Als Gegenstand bieten sich die Eichenbäume auf der Margareteninsel an, wo das Gedicht geschrieben wurde; von hier wendet sich die Erinnerung zu den Eichenwäldern der Kindheit, und nachdem das Motiv mit der Innigkeit der Erinnerung aufgefüllt wurde, vermag es den sich nähernden Tod zu besänftigen (Arany 2006, Bd. I, 456–458): A tölgyek alatt Szeretek pihenni, […] Egyszerüen bár, Tölgy lenne a fejfám! Unter meinen Eichen / ruh ich allzu gerne, / […] / will ich, daß aus Eiche / Sarg und Kreuz sein soll … (Arany 1984, 67–69, Ü: M. Remané)
Das lyrische Ich erscheint mehrmals durch ein Alter Ego in ein Genrebild transponiert, vorrangig in Tamburás öreg úr (Der alte Herr und seine Zither, 1984, G. Engl), das die Gestalt eines musizierenden Bettlers beschwört. Die Strophen können als ars poetica gelesen werden, sie binden die individuelle Leistung des Dichters an die performative Seite: Was an der Musik des alten Herren das Seine ist, ist nicht die Melodie, sondern die Art und Weise der Aufführung. Wenn er zuweilen ein Lied dichtet, vergisst er hinterher, dass er selbst es schuf, und er weiß nicht mehr, ob er es „geträumt oder gehört hatte“ (Ü: K. Blaskó, Arany
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2006, Bd. I, 436). „Geträumt“ ist der emblematische Ausdruck der Idealität der Dichtung, „gehört“ der ihrer kollektiven Herkunft. Die späten Balladen sind durch die Trivialität der Themenwahl mit der Lyrik in Őszikék verbunden. Steigerung der Rätselhaftigkeit sowie Vergrößerung der Entfernung zwischen dem Erzähler und der erzählten Geschichte ist das Merkmal des Balladesken in ihnen, mehrfach durch das Einsetzen eines sekundären Erzählers erreicht. Die Geschichte einer schwanger gewordenen und verlassenen Bauerntochter erzählt ein Landwirt den in seinem Hof Mais schälenden Mädchen (Tengeri-hántás; Das Maisschälen, 1935, L. Szemere). Die Geschichte der Tochter des Grafen, die mit dem Kanzleischreiber entflieht und deswegen vom Vater verbannt wird, trägt ein Bänkelsänger vor (A kép-mutogató; Der Sänger der Bilderballade auf dem Jahrmark, 1926, H. Lüdeke; eigtl. Der Bänkelsänger). Zahlreiche irrationale Vorstellungen des Volksglaubens vermischen sich entsprechend dem Bewusstseinshorizont des sekundären Erzählers mit realen Elementen der Geschichte. Im Gedicht A kép-mutogató erfährt der Graf vom Tod seiner Tochter, als sie ihm beim Tischerücken erscheint; in Tengeri-hántás behandelt die irrationalen Erscheinungen der Geschichte sogar der primäre Erzähler als wahrhaftig, obwohl seine Rolle sonst auf die Darstellung der Umstände des Erzählens eingeschränkt ist. In einzelnen thematisch verwandten Balladen (Vörös Rébék; Rebekka, die Hexe, 1935, L. Szemere; Tetemre hívás; Das Bahrgericht, 1933, L. Szemere) gibt es nur einen Erzähler, bei dem sich nicht feststellen lässt, ob er sich innerhalb oder außerhalb der Welt des Werkes befindet, somit auch nicht, ob die Elemente des Volksglaubens der Realität oder dem Bewusstsein der Figuren entsprechen. Das Visionäre ist in der Ballade Híd-avatás (Brückenweihe, 1935, L. Szemere) zwar eindeutig ein Produkt des Bewusstseins des Protagonisten; der Totentanz aber als Vision des Jungen, der sich gerade umbringen will, wird von der Rahmengeschichte geschieden zum Tableau der Dekadenz im modernen Großstadtleben. Im Gedicht Népdal (Volkslied) kommt die Verdrängung der Geschichte durch extreme Reduktion zum Ausdruck; der Eifersuchtsmord ist im Bild eines Bootes auf der Donau beschworen, von dem Hochzeitsmusik zu hören ist. Im Zyklus Őszikék sind zahlreiche Fragmente und Improvisationen enthalten, die vom täglichen Bedürfnis der Poetisierung des Abstiegs im Leben zeugen; wie das in einer Passage des Zyklus als ars poetica ausgesprochen wird (Arany 2006, Bd. I, 446): A lantot, a lantot Szorítsd kebeledhez Ha jő a halál; Ujjod valamíg azt Pengetheti: vígaszt Bús elme talál.
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Drück, noch wenn der Tod kommt, / die Laute, die Laute / an dich: denn du weißt, / solang du in Übung / bleibst, löst sich, was Trübung / war, tröstlich im Geist. (Mindvégig; Stirb singend, 1984, Ü: M. Bieler; Arany 1984, 62)
Die Kanonisierung von Aranys Lebenswerk war davon bestimmt, dass das Herder-Grimm’sche Programm von Nationaldichtung in der Reflexion der Kritik einen immer stärker politischen Nebenton erhielt und immer mehr als Hindernis bei der Verbreitung von Modernität nach westeuropäischen literarischen Mustern galt. Den offiziellen Kanon festigte Pál Gyulai, mittlerweile zum zentralen Akteur im literarischen Betrieb geworden, in seiner Gedenkrede auf Arany (1882). Er behandelte Petőfi und Arany im Rahmen der Tradition der Volkstumsliteratur als Zwillingsfiguren, die einander ergänzen – er stellte Petőfi als jungem Lyriker Arany als reifen Epiker gegenüber. Damit schränkte er die Wirkung beider stark ein; Aranys subjektive Epik und seine Lyrik rückte er an den Rand des Kanons. Die Kanonisierung Aranys erfuhr dadurch Komplikationen, dass er in seinem Gedicht Kozmopolita költészet (1877, Kosmopolitische Dichtung) auch selbst gegen die Grenzenlosigkeit der Dichtung Stellung bezog. Er berief sich auf die Herder’sche Poesieauffassung seines früheren Gedichts A költő hazája (1851; Des Dichters Heimat, 1935, L. Szemere). In diesem hatte er den gemeinsamen Horizont von Dichter und Rezipient auf der Grundlage des vertrauten muttersprachlich-kulturellen Musters bestimmt und die Möglichkeit einer von sprachlichkultureller Vorausgesetztheit unabhängigen universalen Poesie abgelehnt. Im Gedicht Kozmopolita költészet ergänzte er noch, man werde durch Verkündung von abstrakten Ideen kein „Weltdichter“, die bedeutendsten Dichter der Weltliteratur erreichten durch die Darstellung der vollständigen Welt ihrer Nation Größe. Der neueren Dichtergeneration waren die Voraussetzungen dieser Herder’schen Auffassung der Poesie nicht mehr zugänglich. Sie beurteilten Arany im Licht des offiziellen Kanons nationalistischer Politik. Das aber wirkte auch auf sie selbst zurück: Das Herder’sche Programm nationaler Dichtung zu verwerfen, hatte nicht nur die Ablehnung des nationalen Charakters der Poesie zur Folge, sondern auch die Vernachlässigung der Sprachlichkeit der Poesie. Jenő Komjáthy etwa, ein Lyriker der jungen Generation, der die Unzeitmäßigkeit des nationalen Standpunktes aufs Entschiedenste vertrat (Kritikai szempontok, 1887, Kritische Standpunkte) und ins Zentrum seiner Poesie allgemeine Daseinsfragen stellte, betrachtete die Sprache (nach Ferenc Kazinczy) als bloßes Mittel in den Händen des Dichters. Diese ,Sprachvergessenheit‘ charakterisiert bis Dezső Kosztolányi die ungarische Lyrik (Kosztolányi kehrte zu Aranys Auffassung zurück und verband bewusst die sprachliche Vorausgesetztheit der Poesie mit ihrem nationalen Charakter; Szegedy-Maszák 1994). Gyula Reviczky reagierte auf das Kozmopolita költészet mit dem Gedicht Arany Jánosnak (1878, An János Arany)
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und begnügte sich nicht mit der Ablehnung von Aranys Programm der Nationalpoesie, sondern ordnete Arany mit Bolond Istók unter die kosmopolitischen Dichter ein und initiierte damit die Revision der offiziellen Kanonisierung des Lebenswerks von Arany. Die Generation von Reviczky wertete dementsprechend auch Petőfi um und brachte ihm als Dichter des Volkstums statt als Dichter des Selbstausdrucks moderner Subjektivität Wertschätzung entgegen.
III.3.3 An der Grenze der Beherrschbarkeit der Sprache. Ironische Kritik der Durchsetzung romantischer Subjektivität: János Vajda (1827–1897) Der bedeutendste Vertreter der spätromantischen ungarischen Lyrik neben János Arany ist János Vajda. Er versuchte in den 1850er Jahren, den Selbstausdruck der lyrischen Subjektivität in Petőfis Volkstums-Tradition in der Gattung des Lieds zu verwirklichen, aber seine Lyrik entfernte sich sowohl von der Sprache des Volkstums als auch von der Unmittelbarkeit des Selbstausdrucks. In dem Lied A váli erdőben (1875; Im Wald von Vál, 1970, M. Remané) erfährt die Sehnsucht nach der Naturidylle ihren Ausdruck in sprachlicher Distanzierung, durch die Deixis „dort“ und die unpersönliche konditionale Verbform „es wäre gut“ („Es wäre gut, dort zu ruhen“). Die Wörter „ist“, „hier“ und „ich“ – die lyrische Situation und das lyrische Subjekt – sind im Gedicht nicht präsent. Mit Vörösmartys Spätdichtung verbindet Vajdas Lyrik die Problemhaftigkeit des Verhältnisses zwischen der Erfahrung und deren sprachlichem Ausdruck. Im Gedicht Végtelenség (1875, Unendlichkeit) ersetzt er die Vorstellung des Jenseits durch die Unvergänglichkeit der Materie, verbunden mit der Demontage jener christlichen und antiken Topoi (Himmelreich, Hölle, Fegefeuer, ewiger Jude, Prometheus), die auch noch die romantische Lyrik auf ihre souveräne Art und Weise verwendete. Infolge dieses Verlusts verlegt sich der Ausdruck der Erfahrung in eine interrogative Form, aber die Beantwortung der Fragen wird von vornherein dadurch unmöglich, dass auch den Fragen die demontierte Sprache anhaftet. Die Unzulänglichkeit der Sprache versucht das Gedicht schließlich mit einer Menge von Gleichnissen und Metaphern zu kompensieren, die keine Verbindung miteinander aufnehmen; die Kontingenz äußert sich in der semantischen Inkongruenz der verknüpften Tropen (Vajda 1977, 259). Nem gondolád-e meg, hogy az idő Az örökkétartó idő kohója Mindent megolvaszt; a kínt, a gyönyört, A menyországot, poklot egyaránt? Hogy ezeket úgy összekeveri,
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Ki-kicseréli, mint álomtalan Játékos a kártyát, melyet kiosztott? Bedachtest du denn nicht, dass der Schmelzofen / der Zeit, der ewigwährenden Zeit alles / zusammenschmilzt, das Leid und auch die Freude, / den Himmel und die Hölle gleichermaßen? / Dass er all dies so miteinander mischt, / es immer wieder austauscht, ganz wie ein / schlafloser Spieler das verteilte Blatt? (Ü: Ch. Kunze)
In Vajdas Versroman Alfréd regénye (1875, Alfreds Roman) führt die Abrechnung mit den literarischen Konventionen als Gattungsmerkmal zur Selbstliquidierung der Romantik (Tamás 1965, 48). Das Werk erzählt die Geschichte einer aus Eifersucht verübten Rache als eine groteske Vision. Im Gegenteil zu Arany, der im Werk Bolond Istók in erster Linie das souveräne romantische Verhältnis zur Texttradition parodierte, karikiert Vajda die romantische Willkür der Bildschöpfung durch die Verbindung von dislozierten oder inkongruenten semantischen Feldern. Auch hier geht es darum, biblische Topoi zu demontieren, indem der Garten Eden und die Apokalypse parodistisch gewendet erscheinen. (Der Protagonist borgt sich vom Tod seine Sense und rottet die ganze Menschheit aus, damit er und seine Geliebte der neue Adam und die neue Eva werden können.) An diese Bestrebung knüpft sich das Gedicht A kárhozat helyén (1872, An der Stelle der Verdammnis), mit Heines entromantisierenden Gesten verwandt, für die das Doppelspiel von romantischem Ton und ironischer Erwiderung charakteristisch ist (Eisemann 2007). Die ersten vier Strophen des Gedichts schreiben die Untreue der Geliebten in das Narrativ des Sündenfalls und der Verdammnis und steigern ihre Folgen ins apokalyptische Übermaß: „Üres a végetlen mindenség, / ki van rabolva a világ!“ („Leer ist das unendliche All / und ausgeraubt ist diese Welt“, Ü: Ch. Kunze). Hier verbirgt der Sprecher, dass er selbst das Narrativ von der Verdammnis dem Ereignis zugeordnet hat: Die Gegenstände des Zimmers, das Schauplatz der Untreue war, bringen es als Zeugen zum Ausdruck. In den zwei Schlussstrophen des Gedichtes spricht der Sprecher sein vorheriges Selbst ironisch an und enthüllt es so, während er auch die Szene des Sündenfalles auf parodistische Weise überschreibt: … „itten veszett el / A második paradicsom. / Szép Éva, téged csábitott el / Ott egy kigyó, itt egy majom“ („hier ging / Das zweite Paradies verloren. / Schöne Eva, dich verführte / Dort eine Schlange, hier ein Affe“). Die Diskrepanz zwischen dem erfahrenden und dem reflektierenden Ich zeigt sich hier noch schärfer als in Aranys Gedicht Évek, ti még jövendő évek … Die Sagbarkeit subjektiver Erfahrung wird oft durch Erinnerung mittelbar oder in Zweifel gezogen. In einem Zyklus rund um das Thema der erinnerten Jugendliebe (Gina emléke, Erinnerung an Gina) erfolgt der Wechsel zwischen dem Subjekt in der Erinnerung und dem sich erinnernden in ähnlicher Weise wie in Aranys Zyklus Őszikék. In Vajdas Gedichten wird das sich erinnernde Subjekt
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durch die Dynamik des Erinnerns und des Vergessens in den Vordergrund gestellt: Das Erinnerungsbild kann die Erfahrung der Vergangenheit nicht wachrufen, nur deren Spur, die sie im Subjekt hinterlassen hat. Daraus entstand das Lied Husz év mulva (1875; Nach zwanzig Jahren, 1970, M. Remané), das das lyrische Ich von vornherein als Subjekt der Erinnerung darstellt. Es grenzt sich auch von der romantischen Naturdichtung ab: Die Wechselbeziehung zwischen der Landschaft und dem Ich fehlt – der Sprecher deutet durch die sprachliche Form des Gleichnisses an, dass das Landschaftselement das bewusst ausgesuchte Bild der sich erinnernden Gestimmtheit ist (Vajda 1977, 267). Mult ifjuság tündér taván Hattyúi képed fölmerül. És ekkor még szivem kigyúl, Mint hosszu téli éjjelen Montblanc örök hava, ha túl A fölkelő nap megjelen … Taucht vor mir auf das ferne Reich / Der Jugend – und im Sternenschein / Dein schönes Bildnis schwanengleich. // Dann, wie nach langem Wintertod, / Erwacht mein Herz und brennt vor Weh, / So wie im kalten Morgenrot / Erglüht des Bergfirns ewiger Schnee. (Vajda– Klaniczay–Szabolcsi 1970, 149, Ü: M. Remané) [Wörtlich: Auf dem entschwindenden See der verflossenen Jugend / Taucht dein Schwanenbild auf. // Und da flammt mein Herz noch auf, / Wie in der langen Winternacht / Der ewige Schnee des Montblanc, wenn jenseits / Die aufgehende Sonne erscheint …]
III.3.4 Im Spannungsfeld von Romanze und Tendenzroman: Mór Jókai (1825–1904) Mór Jókai übte in der Geschichte des ungarischen Romans eine große und zugleich widersprüchliche Wirkung aus. Seine Popularität überstieg bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die aller anderen ungarischen Schriftsteller, die Kritik behandelte ihn jedoch von Anfang an mit Abneigung. Das Paradoxe an Jókais Romanen hängt mit ihrer historisch-poetischen Funktion, mit der Plastizität der Gattung Roman zusammen (Bachtin 1989, 210–215). Den europäischen Roman der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägten textbildende Verfahren wie Realitätsbezug im Sinn der geltenden Konventionen, Verhüllung der mythischen Strukturen, Handlungskomposition aufgrund sozialer und psychischer Motivierung, Darstellung von Alltäglichkeit, Einschränkung der Präsenz des Erzählers und Stimmverlust der Erzählersprache usw. Die Kritik lehnte Jókai
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Abb. 16: Jókai in seiner Wohnung in der Bajzastraße. Aufnahme: Mór Erdélyi, 1892
ab, da sie seine Werke an dieser Romanpoetik maß und die Anwesenheit von Gattungsmerkmalen verurteilte, die mit der englischen Tradition der Romanze (romance) eines Walter Scott assoziiert sind (Szilasi 2000, 245–246). Jókai verdankte seinen Erfolg jedoch der Tatsache, dass das Publikum seine Werke als Romanzen lesen konnte. Er selbst räumte in seinen Gattungsreflexionen dem englischen Tendenzroman Präferenz ein, die ‚Tendenz‘ indessen, die er zur Geltung bringen wollte, konnte sich am besten in der Gattung der Romanze entfalten, die dem Alltäglichen das Außerordentliche gegenüberstellt und die weitverzweigte Handlung durch die Berufung des außerordentlichen Helden zusammenhält. Die Funktion der Abenteuer besteht in der Demonstration des Charakters des Helden. (Die Rezeption schrieb den Abenteuern lange keine über sich selbst hinausweisende Funktion zu, deswegen wurden zahlreiche Texte Jókais als ‚Abenteuerroman‘ taxiert.) Die Anwesenheit der mythischen Strukturen ist durch ein reiches System kulturhistorischer Allusionen sichtbar gemacht und durch eine polarisierte Wertestruktur verstärkt. Das lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass der Sinn der Berufung des Helden die Grenzen der empirischen Welt übersteigt (Szilasi 2000, 106–110). Die Erzählstruktur, in erster Linie auf die Berufung des Helden gerichtet, kann auch die Funktion der Vermittlung von gesellschaftlichen Ideen erfüllen. Zum Erfolg des Romantypus trug der sequen-
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zielle Charakter der Romanzen-Abenteuer bei, die den Ansprüchen an Fortsetzungen in Zeitschriften entsprachen (Szajbély 2010, 250). Jókai genügte den geltenden Konventionen der Realitätsdarstellung, doch die Erfahrung von 1848/49 bekräftigte ihn darin, dass die realistische Anschauung der Welt es nicht vermöge, die Fülle des Seins („den goldnen Überfluss der Welt“) zu begreifen. Seine romantische Attitüde kann also nicht bloß als Verankertheit in einer überholten Schreibweise interpretiert werden, sondern auch als Kritik an der realistischen Schreibweise bzw. als eine vom Realismus abweichende Beurteilung der romantischen Expansion des Subjekts. Der Roman Egy magyar nábob (1853/54; Ein ungarischer Nabob, 1856, A. Dux) weicht primär durch die anekdotische Handlungsstruktur von der kanonischen Poetik des Romans ab. Schon der Plot selbst ist anekdotisch: Béla Kárpáthy, ein verschuldeter junger Aristokrat, strebt nach dem Erbe seines 70-jährigen kinderlosen Onkels, um seiner Lebensform die finanzielle Basis zu erhalten. Aber der alte Herr heiratet und bekommt einen Sohn, so geht der Neffe leer aus. Das Ziel der anekdotischen Handlungsstruktur besteht darin, den Erwartungsgrad zu senken und damit die konventionelle Ordnung der Kausalität zu untergraben. Indem der zu erwartende Ausgang unterbleibt und der unglaubwürdige Ausgang eine glaubhafte Erklärung bekommt, erhält die Anekdote ihre Pointe. Bei der anekdotischen Gestaltung des Plots spielt der Kredit eine Rolle, den der junge Kárpáthy von einem französischen Bankier erhalten hat, welcher die bürgerliche Gesellschaft vertritt und einen schrecklichen Verlust verbuchen muss, da er auf das wahrscheinlichste Szenario gesetzt hat. Beglaubigung erfährt die Heiratsgeschichte aus der Gestalt des Romanzenhelden Graf Rudolf Szentirmay, einer Nebenfigur. Nachdem er sich von seinem Byron’schen Weltschmerz erholt hat, findet dieser seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit entsprechend seine Aufgabe im Aufbau der Nation. (Der Leser konnte diese Figur leicht mit István Széchenyi identifizieren, der referenzielle Bezug wird vom Text bestätigt: Szentirmay erscheint in einer Episode in der Gesellschaft von Széchenyi und von Miklós Wesselényi, einer weiteren emblematischen Figur der 1830er Jahre.) Szentirmay übersteigt die Welt des Alltags, trotzdem bewegt er sich natürlich in ihr, so wird er zum Maßstab der alltäglichen Figuren. Béla, der sich sogar seines ungarischen Namens schämt (er lässt sich Abellino nennen) und das Vermögen der ungarischen Aristokratenfamilie im Ausland verschwendet, muss als unpatriotisch gelten, während „Graf Jancsi“ (der Nabob) nach Szentirmays Beispiel mit seinem Vagabundenleben bricht, zum Fortschrittsförderer wird und eine Familie gründet. Der Lesekode der Anekdote bietet sich schon im ersten Kapitel an, mit einer wüsten Feier des Nabobs. Die Vergnügung besteht aus einer Reihe von groben
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Späßen, die einen schonungslosen Ausgang wahrscheinlich machen – sich dann aber in der Sphäre burlesker Komik auflösen. Das unwahrscheinlichste Moment des anekdotischen Plots – Fanny Mayer, die junge und tugendhafte Bürgerstochter, heiratet den alten Grafen – erhält eine sorgfältige Motivation aus einer Variation der Nouvelle Héloïse: Fanny verliebt sich in Rudolf Szentirmay, nachdem dieser bereits die Frau geheiratet hat, der er die ideelle Wende seines Lebens verdankt. Fanny heiratet den alten Kárpáthy, damit sie Szentirmay, der Kárpáthy oft besucht, näher sein kann; sie bringt dem alten Grafen ein Kind zur Welt, stirbt aber aus hoffnungsloser Liebe. In dem als Fortsetzung konzipierten Roman Kárpáthy Zoltán (1854; Zoltán Kárpáthy, 1856, E. Glatz) wird der pointierte Schluss des vorherigen Textes wieder aufgeschnürt – unter Ausnutzung der einzigen Unsicherheit. Abellino ficht das Erbschaftsrecht des jüngsten Kárpáthy mit der Begründung an, dass der natürliche Vater des Jungen nur Szentirmay sein kann. Diese Annahme wird im zweiten Roman pointiert widerlegt: Zoltán heiratet Szentirmays Tochter. Der Roman Kárpáthy Zoltán bietet die Möglichkeit einer Leseart als Romanze noch klarer, indem hier der Protagonist als außerordentliche Figur der bedeutungsvollen historischen Ereignisse der 1840er Jahre auftritt und seine Lebensgeschichte mit der Gestalt von Miklós Wesselényi verbunden ist, der in dem vorherigen Roman bloß episodisch erschien. Eigentümlichkeiten, die auf den Entwicklungsroman hinweisen, fügen sich aber in das Erscheinungsbild der Romanze, der Protagonist ist von Kindheit an mit der Außerordentlichkeit des Romanzenhelden ausgestattet. Einen markanten Schritt in Richtung der Poetik der Romanze unternimmt Jókai im Roman Szegény gazdagok (1860; Die armen Reichen, 1873, K. Kertbeny; Die schwarze Maske, 1971, H. Weissling). In dieser Geschichte wird die Romanze in einen Gesellschaftsroman eingeschoben, in dem es um die Eheschließung einer enterbten Adelstochter (Henriette Lapusa) geht. Die beiden Geschichten werden durch den männlichen Protagonisten als Doppelgänger miteinander verbunden: Er ist im Gesellschaftsroman als geachteter siebenbürgischer Baron präsent (Lénárd Hátszegi) und in der Romanze als Waldbandit mit einer schwarzen Maske („Fatia Negra“), eine Inkarnation des Satans auf mythischer Ebene – mit dem Widerpart, dem Rechtsanwalt (Vámhidy Szilárd), der mit der Bekämpfung der Räuberbande beauftragt ist (Szilasi 2000, 119). Die Identität der Protagonisten wird im Text nirgends offen ausgesprochen, aber wie für Jókai typisch erfolgt die Füllung der Leerstelle aus der Intention des Erzählers sehr suggestiv. Am Schluss erhält der Roman Übergewicht gegenüber der Romanze: Nach dem Selbstmord des Protagonisten findet die junge Witwe ihr Glück nicht, obwohl sie den Rechtsanwalt, ihren ehemaligen Geliebten, heiraten könnte. Es zeigt sich eben im Spiegel der Romanze die Kleinlichkeit des Lebens der absteigenden ständischen Gesellschaft; der zweifache Gattungskode Roman / Roman-
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ze ergibt einen das Werkganze treffenden Doppelsinn. Die Gedankensphäre der späteren Romanze-Romane trägt hier der Rechtsanwalt, der trotz der Diskrepanz der Rollen – Anwalt und Held – die Identität wahrt. Gattungsvielfalt ist bestimmend in dem 1850 publizierten Erzählband Forradalmi és csataképek 1848–49-ből (1850; Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849, [1850], o.Ü.), der Episoden des ungarischen Freiheitskampfes enthält. Die Erzählungen weisen zahlreiche Gattungsinterferenzen auf; die meisten verwenden den Kode kleinepischer Gattungen (Märchen, Ballade, Legende, Anekdote), je nach der Prosaerzählung. Jókai drückte die historische Erfahrung aus Deutungsschwierigkeiten nicht im Roman, sondern in einem Erzählzyklus aus (Fábri 1998, 26). Im Zyklus bildet sich kein durchlaufender Sinn heraus – die Interpretation der Ereignisse hängt von der erzählerischen Gattung ab, die historischen Erzählstoffe nehmen in jeweils unterschiedlichen Erzählformen Gestalt an. In einer Erzählung, teilweise als Märchen kodiert, kämpfen die Bräutigame zweier Schwestern gegeneinander und sterben auf dem Schlachtfeld; hier erscheint die Historie als versöhnendes und ausgleichendes Prinzip (Két menyasszony, Zwei Bräute). In der balladesken Erzählung, in der ein serbisches Mädchen von ihrem eigenen Bruder getötet wird, weil sie nicht imstande ist, ihren Geliebten, der in der gegnerischen ungarischen Armee kämpft, in die Falle zu locken, ist die Historie Träger des Fatums, dem man selbst durch den kleinsten Irrtum zum Opfer fällt (A vörössipkás, Der Leutnant mit der roten Mütze). In der legendären Erzählung funktionieren Zufälle als Epiphanie der transzendenten Kraft hinter der Historie; nach der Weissagung einer Zigeunerin wird die österreichische Armee nur dann eine Niederlage erleiden, wenn sie gegen Tote in den Kampf zieht; am Tag der Schlacht senkt sich ein dichter Nebel über das Feld, die österreichische Armee hält die Grabsteine des Friedhofes für den Gegner und erleidet eine Niederlage – der Erzähler beschwört am Schluss den Topos der Gottheit herauf, die sich in der Nebelsäule niederlässt und ihr auserwähltes Volk in Schutz nimmt (A tarcali kápolna, Die Tarcaler Kapelle). In der anekdotischen Erzählung wird der Historie bloß ein Sinn zugeordnet, den der ‚Held‘ nicht kennt, woraus ihm zunehmend Übel erwächst (A szerencsétlen szélkakas; Der unglückliche Wetterhahn, 1985, V. Thies). In dem Erzähltyp, der sich an der Publizistik orientiert, wird Historie als Vereitelung kollektiver Zielsetzungen dargestellt, und dies wird mit Irrtümern und moralischen Verstößen der Protagonisten erklärt (A gyémántos miniszter, Der Minister mit den Diamanten). In der Erzählung, die sich am historischen Roman orientiert, wird die Ausrottung einer zahlreichen ungarischen Adelsfamilie durch rumänische Landsturmmänner erzählt; hier werden die historischen Zielvorstellungen als illusorisch und ihr Versagen als notwendig dargestellt (A Bárdy-család, Die Familie Bárdy).
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20 Jahre später stellte Jókai die Geschichte der Revolution und des Freiheitskampfes auch in einem Roman dar (A kőszívű ember fiai, 1869; Der Mann mit dem steinernen Herzen, [1869], o. Ü.; Die Baradlays, 1958, B. Heilig). In ihm hebt sich der Romanze-Charakter fast bis zum Epos, der Gattung des Mythos, mit einem einheitlichen Sinn der Historie. In der Romanze verschmelzen, wie in Jókais Romanen häufig, zahlreiche Gattungselemente. Den Rahmen bildet der Familienroman: Obergespan Kazimir Baradlay, dessen Herz zu Stein wurde („im pathologischen Sinne und auch nach biblischer Ausdrucksweise“), bestimmt in seinem Vermächtnis das Schicksal seiner Söhne; sie sollen als Diplomat, Soldat bzw. Beamter zur Stütze des alten Regimes werden. Seine Frau (deren Name Maria auf die Schutzpatronin von Ungarn hindeutet) schwört sich heimlich, gegen das Vermächtnis zu handeln, und ruft alle drei Söhne aus dem Ausland nach Hause, damit sie ihre patriotische Pflicht erfüllen. Ödön kommt aus dem diplomatischen Dienst aus Sankt Petersburg zurück, Richard und Jenő findet der Ruf der Mutter in Wien in den Tagen der Revolution – Richard wird mit seiner Eskadron gegen die revolutionäre Menge kommandiert, während Jenő, der die aufwühlenden Ereignisse vermeiden möchte, sich ins Haus seiner Geliebten Alfonsine zurückzieht, das ein Treffpunkt der Wiener Hofbeamten ist. Richard und Ödön werden im Freiheitskampf, indem sie ihre Mission durchführen, zu Romanzenhelden mit Anklängen auch an das Epos. Richard passiert mit seiner Reiterschar die Karpaten und erlebt dabei eine Odyssee, er besiegt schließlich in einer Schlacht Otto Palvicz, seinen alten Gegner. Ödön ‚besiegt‘ hingegen Richard, seinen jüngeren Bruder, der ihn im Kriegsrat bei den Vorbereitungen der Belagerung von Buda als feig bezeichnete – der Bruderzwist soll durch ein eigentümliches Duell gelöst werden. Den Sieg erlangt, wer die belagerte Burg früher erreicht. Beim Sturm auf die Burg, der vom Erzähler mit der Befreiung der Titanen verglichen wird, gelingt es Ödön nicht nur, seine Ehre wiederherzustellen, sondern er rettet auch seinen tollkühnen Bruder. Jenő bewegt sich in der Welt des Epos und der Romanze, in der seine Brüder heimisch sind, mit der Fremdheit der mittelmäßigen Romanfigur. Auf den Befehl seiner Mutter kehrt er heim, er verzichtet sogar auf den Posten des Botschaftssekretärs in Sankt Petersburg, der ursprünglich Ödön zugedacht war, und er bricht auch mit Alfonsine, die nach der Meinung ihrer Mutter eine Verräterin ist. Auch nach seiner Rückkehr meidet er große Ereignisse; er passt auf Ödöns Kinder auf, während dieser auf dem Schlachtfeld sein Leben riskiert. Aber seine Berufung erfüllt paradoxerweise auch er. Er wird aus Versehen anstelle Ödöns – der in die Gefangenschaft der russischen Besatzungsarmee geraten und entflohen ist und sich dann den österreichischen Behörden ergeben hat – vor das Kriegsgericht geladen, denn die behördliche Vorladung wird irrtümlich an „Eu-
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gen“ (Jenő) statt „Edmund“ (Ödön) adressiert. Jenő, der den Blick für das praktische Leben verloren hat, deckt den Irrtum nicht auf; er wird statt seines Bruders hingerichtet. Die Romanze erfüllt sich im Schicksal von Ödön und Richárd. Der Erzähler steigert die sie betreffenden unheilverkündenden Erwartungen bis zum Äußersten, vereitelt ihre Erfüllung aber durch das Einschieben von unerwarteten Wendungen. Die Helden, mit denen sich der Leser am meisten identifiziert, werden gerettet, ihr Schicksal gleicht die Tragik der großen Geschichte des Freiheitskampfs aus (Nyilasy 2005, 81). Diese Wirkung wird durch die These der moralischen Überlegenheit der Verlierer verstärkt, dem geistigen Erbe des Jahrzehnts des passiven Widerstands. (Richard gelobt dem im Duell unterlegenen Ottó Palvicz, sein außereheliches Kind, von der Mutter Alfonsine Plankenhorst ins Findelhaus gebracht, in Obhut zu nehmen.) Das in der Romanze in den Vordergrund gerückte System religiös-mythologischer Allusionen verleiht auch der tragischen historischen Erfahrung einen klaren Sinn. So sehr die Erzählung den Verlauf der Historie Kräften jenseits menschlicher Erkenntnisse und Absichten zuschreibt (Fábri 1998, 31), suggeriert sie doch, das Blutopfer sei nicht vergebens gewesen. Der Schluss stellt auf die Entstehungszeit des Romans bezogen die hoffnungsvolle Gegenwart als Frucht der tragischen Vergangenheit dar und festigt das erschütterte Vertrauen in die Vorsehung wieder. Der Erzähler will die Sinnbildung der Erzählung in Art der Romanze durch klare Lenkung des Lesers erreichen. Die starke Lesersteuerung ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Episodische, anekdotische Szenen, die die Helden gleichzeitig erheben und einander nahe bringen, initiieren ein admiratives-sympathetisches Leserverhältnis; der seine Helden aus inniger Nähe betrachtende Erzähler schafft durch phatische Gesten eine direkte Verbindung mit dem Rezipienten; diese Beziehung festigt er in ausgezeichneten Momenten der Erinnerung durch Verbformen in der ersten Person Plural. Die Glaubwürdigkeit des Erzählens stellt er her, indem er dem (zeitgenössischen) Leser bekannte, leicht identifizierbare wirkliche Geschehnisse einbaut und Figuren auftreten lässt, die große Ereignisse aus der Perspektive des kleinen Mannes betrachten (Szajbély 2010). Die Lesersteuerung erscheint auf dem Gebiet der mythischen Sinnbildung eingeschränkt. Biblisch-mythologische Allusionen im Geist des Epos manifestieren sich in Gleichnissen, in metaphorischer Gleichsetzung einzelner Handlungselemente mit mythischen Geschichten oder in speziellen kompositorischen Lösungen. Die von ihnen wachgerufenen transzendenten Elemente sind nicht als Elemente der Romanwelt anwesend, sondern bloß als Aufforderungen, der Leser möge die Ereignisse der Romanwelt mit solchen Vorstellungen verbinden. Diese Allusionen weben so ein dichtes Netz um den Leser, er vermag sich von ihrer bedeutungsbildenden Wirkung kaum zu befreien.
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All dies zielt auf das Zustandekommen des konsensualen Narrativs des Freiheitskampfes ab, mit der These des sinnvollen Opfers im Mittelpunkt, auf dass sich der Freiheitskampf in der vom Roman initiierten Art und Weise ins kulturelle Gedächtnis einprägen möge. Die Epos-Funktion steht damit in Verbindung: die mythischen und religiösen Allusionen des Erzählens dienen dem Zweck, den Text in möglichst vollständigem Sinn zur Schöpfung und Fundierung einer Tradition werden zu lassen (Bényei 2002). Der Roman A kőszívű ember fiai knüpft damit an die zeitgenössischen Bestrebungen nach Schöpfung eines Nationalepos an; in dem literarischen Feld, das vom Roman bestimmt war, konnte dieser Roman mit Epos-Allusion den an das Nationalepos gestellten Erwartungen besser entsprechen als das in Richtung Roman deformierte Epos Buda halála von János Arany. Die spätere Rezeption wirkt trotz kritischer Distanz tautologisch: Der Horizont der Rezipienten wird vom kollektiven Gedächtnis bestimmt, das unter dem Einfluss des Romans entstand. Auch die weiteren Romane von Jókai, die 1848/49 thematisieren, vermochten diese Wirkung nicht zu überschreiben (Politikai divatok, 1862–1864; Andere Zeiten, andere Menschen, 1969–1973, o. Ü., eigtl. Politische Moden; Enyim, tied, övé, 1875 o. Ü.; Mein, dein, sein, 1875; Egy az Isten, 1877; Die nur einmal lieben, 1878 o. Ü., eigtl. Gott ist Eins; Akik kétszer halnak meg, [1881]; Zweimal sterben, 1881, o. Ü.). Sie ironisieren die Erzählverfahren der Romanze und des Epos, die Heldenrolle erweist sich in diesen Texten als Maske, hinter dem Anschein der Romanze halten sich Konspiration und Manipulation verborgen (Fábri 1998, 31). Die Poetik der Romanze findet ihre Vollendung im Roman Fekete gyémántok (1870; Schwarze Diamanten, 1871, E. Glatz; neu bearbeitet 1963 von H. EnglSchade). Iván Berend, der Romanzenheld, steht auch diesmal im Dienst einer aktuellen Tendenz: Er will die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft als ehrenhafter Unternehmer und in nationalem Rahmen befördern. Bei der Verwirklichung seiner Ziele findet er sich einem hemmungslosen internationalen Finanzkapital gegenüber, das auch von der katholischen Kirche unterstützt wird, in der Hoffnung, der päpstlichen Macht finanzielle Unterstützung leisten zu können. Iván Berend ist ein Musterexemplar des Romanzenhelden: Als Ingenieur entwickelt er eine Technologie zum Löschen von Grubenbränden, als Grubenbesitzer kümmert er sich um den Wohlstand und um die Gesundheit seiner Arbeiter, als ehemaliger Offizier ist er ein hervorragender, waffengeübter Kämpfer und besiegt im Duell seinen aristokratischen Herausforderer, bei einer Jagd rettet er eine Komtesse, die hoffnungslos in ihn verliebt ist usw. Das Romanze-Narrativ basiert auf der Gewissheit des Siegs moralischer Werte. Der Vertreter des internationalen Finanzkapitals (Félix Kaulman) macht sich schuldig, durch einen unlauteren Wettbewerb den Bankrott von Iván Berends Unter-
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nehmen ausgelöst und Evila, die Braut eines der Arbeiter Berends, verführt zu haben. Péter Szaffrán, der verlassene Bräutigam, inzwischen für einen höheren Lohn in Kaulmanns Bergwerk gewechselt, sprengt es aus Rache in die Luft. Kaulmann macht Konkurs. Das mythologische Allusionssystem wird bei der Beschreibung der Löschung des Grubenbrands explizit. Zuerst kommt die Rhetorik der Wiener Boulevardpresse zum Einsatz, wenn in der Berichterstattung Berend als Gegen-Prometheus bezeichnet wird. Damit verbinden sich bei der Beschreibung der Szene der Brandlöschung antike und biblische Tropen des Sieges über unterweltliche und dämonische Kräfte. Jókai verwendet das Verfahren (das in seinem nächsten Werk noch ausgeprägter präsent ist), die mythologischen Allusionen nicht im Erzählertext, sondern in den Reflexionen der Augenzeugen unterzubringen. Der Erzähler identifiziert sich also nicht direkt mit der mythischen Interpretation, trotzdem bestimmt er für den Leser eine eindeutige Deutungsrichtung. Das nächste Kapitel, in dem die technische Entwicklung als Fortsetzung der Schöpfung und Iván Berend als Auserwählter bezeichnet wird, baut darauf auf, dass die Leser den mythischen Kontext angenommen haben. Der Schluss des Romans ist auch den Merkmalen der Romanze gemäß gestaltet. Berend hat sich gleich am Beginn der Geschichte in Evila verliebt, aber auf sie verzichtet, als er erfährt, dass sie die Verlobte von Szaffrán ist. Sie kehrt nach dem Tod ihres Verführers und ihres Bräutigams als einfache Arbeiterin in das Bergwerk zurück, und sie können sich endlich finden. Ähnlich wie bei Fekete gyémántok verflechten sich Tendenz und Romanze auch im Roman Eppur si muove, És mégis mozog a föld (1872; Wir bewegen die Erde, 1875, o. Ü.), einer Apotheose der Geburt nationaler Wissenschaft. Die Utopie des technischen Fortschritts, die sich im nationalen Rahmen entfaltet, wird im Roman A jövő század regénye (1872–1874; Der Roman des künftigen Jahrhunderts, 1879, o. Ü.) dargestellt. Während Jenő Baradlay ein Beispiel für die Entfremdung der ,Roman‘-Figur vom Alltag im Textfeld der ‚Romanze‘ darstellt und Iván Berend den Sieg des Romanzenhelden über die prosaische Welt symbolisiert, handelt es sich bei Mihály Timár, dem Protagonisten des Romans Az arany ember (1872; Ein Goldmensch, 1873, K. Kertbeny; unter Verwendung einer alten Übersetzung 1956, H. Weissling) um die entgegengesetzte Figur. Die Merkmale des Romanzenhelden in sich tragend, geht er der Möglichkeiten zur Entwicklung im Feld des Romans innerhalb der modernen Gesellschaft verlustig. In der Kritik der romantischen Expansion der Persönlichkeit schlägt Jókai damit einen vom realistischen Roman abweichenden Weg ein: Der Expansion wird im Roman nicht von der Außenwelt ein Riegel vorgeschoben, die allseitige Entfaltung des Individuums stößt an die Schranken der Individualität selbst. Dieser Umstand kann freilich mit der moder-
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nen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht werden, insofern sie eine Welt der isolierten Individuen ist. Die Berufung des Helden entwickelt sich zwischen den Polen Erfolg und Glück; Erfolg ist die Zielvorstellung des sich verwirklichenden Individuums und Glück die der Persönlichkeit, die sich im Miteinandersein findet. Erfolg ist Leistung des Individuums, es erreicht ihn durch die Instrumentalisierung der Kräfte der ihm gegenüberstehenden Welt. Durch seine Fähigkeiten zwingt es die ihm gegenüberstehenden Kräfte in den Dienst seiner Ziele. Glück ist die Leistung von autonomen Persönlichkeiten aneinander, es lässt den Anspruch des Individuums auf absolute Selbstgeltung sinnlos werden. Mihály Timár, der Held des Romans, lebt sein Leben als einfacher Schiffskommissar auf der Donau. Die Reihe der Romanzen-Abenteuer beginnt damit, dass er einmal auf dem Schiff, das einem Komáromer Weizenhändler gehört (Atanáz Brazovics), einen vornehmen türkischen Herrn befördert, der samt seiner Tochter (Timéa) und seinem in Weizensäcken versteckten Vermögen vor den türkischen Behörden flieht, sich aber auf dem Schiff vergiftet, weil er Angst hat, entdeckt zu werden. Timár bringt das Schiff über alle Gefahren hinweg, im Kampf gegen die Naturkräfte wird er sich seiner außerordentlichen Fähigkeiten bewusst, als er das Schiff im Sturm rettet. In menschlicher Hinsicht zeigt sich diese Fähigkeit, als er sich der türkischen Behörden, die dem Schiff nachjagen, entledigt. Im Zivilleben, wo er selber auch Getreidehändler wird, meistert er auf diese Weise Situationen; durch die Instrumentalisierung von Rivalen und Geschäftspartnern sammelt er sein außerordentliches Vermögen an (nachdem das Schiff gestrandet ist, verkauft er den nassen Weizen zu einem guten Preis an die Armee; er behält das Vermögen, das er in den Säcken gefunden hat; Brazovics, seinen größten Rivalen, richtet er zugrunde, seinen Gegner schickt er als seinen eigenen Agenten nach Brasilien usw.; Nyilasy 2005, 109). Sein Erfolg ist so groß, dass er glaubt, auch das Glück nach dem individualistischen Erfolgsrezept erreichen zu können. Er nützt aus, dass ihm Timéa zu Dank verpflichtet ist, weil er sie vor der Verfolgung der türkischen Macht gerettet hat. Timár heiratet Timéa, das instrumentale Verhältnis kann aber nicht zu einer Beziehung werden, die auf der Gegenseitigkeit autonomer Persönlichkeiten basiert. Timárs Hemmungslosigkeit stößt das Mädchen ab (obwohl sie von seinen unmoralischsten Schritten – etwa dass er sich ihr Vermögen ‚geborgt‘ hat – nicht einmal weiß). Timár hingegen kann keine echte Partnerschaft eingehen, weil ihm das Geheimnis von Timéas Schatz das Bewusstsein ununterbrochen wach hält, dass er auch sie als Instrument benutzt. Das Verständnis zwischen ihnen wird auch dadurch gestört, dass Timéas Rollenbewusstsein als Frau, trotz ihrer Bekehrung zum Christentum, vom Islam geprägt ist, deswegen wird sie von ihrer Umgebung, einschließlich Timárs, missverstanden.
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Auf Partnerschaft beruhendes Glück vermag Timár nur um den Preis zu erlangen, die Rolle abzulegen, der er seinen Erfolg verdankt. Die Chance bietet sich auf der Insel in der unteren Donau („Niemandsinsel“), die er aus der Zeit als Schiffskommissar kennt, wo eine Frau, die sich enttäuscht aus der Zivilisation zurückgezogen hat, mit ihrer Tochter Noémi lebt. Timár verliebt sich in das Mädchen und pendelt fortan zwischen Komárom und der Insel. Von der psychischen Belastung des Doppellebens will er sich durch Selbstmord befreien, daran hindert ihn ein Zufall. Sein Gegner, der alles über ihn weiß und durch Erpressung seine Dokumente ergattert hat, ertrinkt im Plattensee; nachdem der Leichnam irrtümlich mit Timár identifiziert wird, kann dieser endgültig auf die Insel ziehen. Das ausschließende Verhältnis von Erfolg und Glück bedeutet die Unrealisierbarkeit des romantischen Modells der allseitigen Entfaltung der Persönlichkeit. Der Selbstmord würde sich in dieser Formel als falsche Verallgemeinerung erweisen, nämlich als Ablehnung nicht bloß der einen, für die Persönlichkeit unhaltbar gewordenen Rollenmöglichkeit. Andererseits stellt für Timár das auf der ‚Niemandsinsel‘ gefundene Glück kein vollständiges dar: Er muss auf die Disposition seines Ichs zur Selbstverwirklichung verzichten. Mythische Topoi – wie Midas (schon im Titel des Romans aktualisiert), verfluchter Schatz, Insel der Glücklichen, Stellvertreter-Tod des ‚Dämons‘ – werden in die realistische Textwelt eingegliedert, bewahren jedoch ihre über die Ebene der Realität hinausreichende mythische Konnotation; an den kritischen Punkten der Handlung wird die Kausalität aufgehoben und eine analogische Denkweise durch Symbolik eingeführt, wie etwa die vom Mond, der in irgendeiner Form bei jeder Schicksalswende des Haupthelden erscheint (Barta 1975, 89). Die mythischen Allusionen werden oft durch tropische Formeln relativiert, wie im Roman A kőszívű ember fiai (sie werden als Bildteil aus Metaphern und Gleichnissen verwendet). Stärkere Betonung liegt auf dem Transfer mythischer Bezüge aus dem Volksglauben in das Bewusstsein der Figuren: Die Protagonisten deuten Naturerscheinungen – Mond, Komet, Nebel – als ihr Leben beeinflussende Zeichen, die ihre Wirkung magisch ausüben (das Zeichen des Mondes auf den Säcken, die den Schatz bergen usw.). Die Selbstdeutung und Situationsanalyse der Figuren basiert auf mythisch-religiösen Narrativen des Volksglaubens, die sich mit solchen Zeichen verbinden. (Der Transfer des Aberglaubens in das Bewusstsein der Figuren ist verwandt mit dem Verfahren, das János Arany in seinen späten Balladen verwendete.) Die Leser sind nicht gezwungen, sich die mythischen Deutungen der Figuren zu eigen zu machen, deswegen können Zufälle – die auch hier eine wichtige Rolle erhalten – als Epiphanien interpretiert werden, die die Geltung der Kausalität begrenzen, oder als Ereignisse, in denen sich die Kontingenz realer Geschehnisse zeigt. Sie sind also Leerstellen mit existenziellem Bezug, die der Leser füllen muss.
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Jókai war von früh an bestrebt, das ungarische Nations-Narrativ in Richtung eines auf das Gesamtreich bezogenen kollektiven Bewusstseins zu öffnen. Das zeigt sich schon in den Erzählungen mit der Thematik 1848/49. Die beiden jungen Offiziere in der Novelle Két menyasszony (Zwei Bräute), die im Novellenband Forradalmi és csataképek 1848–49-ből erschien, bilden ein bis zur Vertauschbarkeit symmetrisches Paar. Sie sind die Vorbilder des ,Epos‘-Heldenpaares Richárd Baradlay und Ottó Palvicz im Roman A kőszívű ember fiai, in dem nicht Österreicher und Ungarn einander gegenüberstehen, sondern Gute und Böse. Der Roman Az új földesúr (1862; Der neue Gutsherr, 1876, o.Ü.) verkündete zu seiner Zeit in provokativer Weise die Versöhnung: Der Roman spielt in der Zeit der ‚passiven Resistenz‘, Ádám Garanvölgyi, ein ‚alter Gutsherr‘, verzichtet auf alle seine Neigungen, von Rauchen und Jagd bis zum Prozessieren, weil er bei all dem mit fremden Behörden in Kontakt treten müsste. Er bekommt einen neuen Nachbarn, Ritter von Ankerschmidt, der bis kurz zuvor noch gegen die Ungarn gekämpft hat. Unter Wirkung seiner Tochter, sie ist in den Neffen von Garanvölgyi, einen verhafteten Offizier der ungarischen Freiheitsarmee, verliebt, wird Ankerschmidt jedoch zum begeisterten ungarischen Patrioten, dementsprechend gibt auch Garanvölgyi seine feindliche Einstellung gegenüber den Österreichern auf. Az új földesúr gehört noch zur Romanze-Linie mit einer starken Lesersteuerung. Der Roman Sárga rózsa (1891; Die gelbe Rose, 1895, I. Hecht-Cserhalmi; 1953, H. Weissling) erzielt hingegen eine Vermehrung der Gesichtspunkte, ähnlich wie Aranys Verfahren in Toldi estéje. Die Erzählerposition ist davon geprägt, dass Jókai den Roman zu der Zeit schrieb, als er Material zu den Bänden über die ungarische Tiefebene und über die Puszta von Hortobágy für die repräsentative Publikationsreihe Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild sammelte. Jókai fühlte sich stark an die Gesamtreich-Konzeption des Werkes gebunden, nachdem ihn Kronprinz Rudolf 1884 mit der Redaktion der Bände über Ungarn beauftragt hatte. Die Grundlage des Romans ist eine Dreiecksgeschichte in der Hortobágy-Puszta, der Wettstreit zwischen dem Pferdeknecht und dem Rinderhirten um Klárika, die „gelbe Rose“, die Tochter des Tscharda-Wirts. Nur an der Oberfläche besteht eine Verwandtschaft zum Volksstück; die beiden Männerfiguren tragen allegorische Bedeutungen. Sándor Decsi, nach der ungeschriebenen Hierarchie der Puszta zur Oberschicht der Pferdehirten (Tschikosch, csikós) gehörend, ist ein echter ‚ungarischer Typus‘, Repräsentant traditioneller nationaler Tugenden – Tapferkeit, Kraft, reine Moral –, während Ferkó Lacza, sein Antagonist, der zur niedrigeren ‚Kaste‘ der Rinderhirten (gulyás) gehört, auch mit der modernen Welt vertraut ist. Er laviert und sagt selten die Wahrheit; seine Lügen sind zwar größtenteils harmlose Späße, täuscht er doch eine Krankheit vor, um vom Militärdienst enthoben zu werden. Während Sándor als Soldat dient, beginnt Ferkó dessen Verlobter Klárika den Hof zu machen. Der Konflikt wird
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durch ein ‚Puszta-Duell‘ mit Fokosch (fokos = Stock mit Axtgriff) beendet, eine Paraphrase des Zweikampfes der Eposhelden (diese Assoziation wird dadurch verstärkt, dass Decsi vor dem Duell von einem neuen Freiheitskampf phantasiert, in dem er als Soldat seinen Rivalen besiegen könnte). Perspektivische Relativität erlangt der Text durch den Auftritt eines österreichischen Malers, der mit ausländischen Tierhändlern eintrifft; das Alltagsleben der Einheimischen in der Puszta ist aus der Perspektive des Malers exotisiert, dadurch wird die Opposition aus Fremd und Eigen vertauschbar. Durch die Relativierung der Perspektive schafft der Erzähler Distanz zur Gestalt des Pferdehirten, er betrachtet sogar die ‚nationalen Tugenden‘ mit versteckter Ironie und lässt so das Dilemma offen, das die beiden Protagonisten allegorisch vertreten. Entsprechend der kanonisierten modernen Romanpoetik entfalten sich die Handlungen der Figuren konsequent aus ihrem Charakter und aus den Situationen; der Text verzichtet jedoch keineswegs auf die metaphorische Handlungsabwicklung. Die zentrale Metapher im Titel verweist nicht auf mythisches Milieu; die sonderbare Blume, ebenso wie das Mädchen aus der weiten Fremde zum Tscharda-Wirt geraten, wird durch Parallelisierung, für Volkslieder typisch, zum Symbol der Liebe des Mädchens. (Sándor verliert die Rose, die er vom Mädchen erhalten hat, mehrmals und findet sie wieder; die andere, die Ferkó bekommen und an seinem Hut getragen hat, zerquetscht er nach dem Duell.) Während der Gesamtreich-Kontext, der die Puszta-Geschichte des Romans Sárga rózsa (Gelbe Rose) umgibt, den Erfolg des von Kronprinz Rudolf unterstützten groß angelegten Unternehmens suggeriert, zeugen A cigánybáró (1885; Der Zigeunerbaron, 1886, o. Ü.), der als gemeinsame österreichisch-ungarische kulturelle Leistung gegen Jahrhundertende betrachtet wird, und seine österreichische Rezeption davon, dass keine wirkliche Aussicht auf das Zustandekommen eines Narrativs gemeinsamer Identität bestand. Ignaz Schnitzer, der Autor des Librettos, strich die aus ungarischer Perspektive wesentlichen Elemente und füllte den Text mit aktuellen österreichischen Bedeutungen auf. Der Unterschied ist kaum kleiner als der zwischen den ungarischen und österreichischen Bearbeitungen der Bánk-bán-Thematik (Forgács 2008).
III.3.5 Der historische Roman als Verschmelzung historischer Horizonte: Zsigmond Kemény (1814–1875) Im Unterschied zur Romanzenpoetik Jókais bedeutete die Schreibweise von Zsigmond Kemény die Alternative im Einklang mit an den Roman gestellten zeitgenössischen Anforderungen – sie übertraf sie sogar. Die Neuheit seiner Erzählungen ist die Unterwerfung des erzählerischen Gesichtspunkts unter den der
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handelnden Personen. Die Erzählung Két boldog (1852, Zwei Glückselige) spielt im 16. Jahrhundert, zur Zeit der türkischen Besetzung Zentralungarns, und thematisiert das Zusammentreffen der beiden Kulturen durch die Freundschaft zwischen einem türkischen Pascha und einem jungen kalvinistischen Adeligen aus Siebenbürgen. Beide glauben unerschütterlich an die ausschließliche Richtigkeit der eigenen Religion und der eigenen Annahmen, und beide streben danach, den Freund für die ‚richtige‘ Weltanschauung zu gewinnen. Daran lassen sie sich auch von den Schlägen nicht hindern, die sie innerhalb der eigenen Welt erleiden müssen (den Pascha entmachtet der Sultan und lässt ihn erdrosseln, den ungarischen Adeligen verurteilt der Fürst von Siebenbürgen zu sieben Jahren Gefängnis). Der Erzähler lässt die Figuren in der Sprache ihrer Kultur sprechen; wenn er von ihnen erzählt, verwendet auch er diese Sprache; er hat keine eigene Stimme, sondern begnügt sich mit der ironischen Wirkung aus der Gegenüberstellung der beiden Perspektiven. Kemény gelangt in der Erzählung Alhikmet, a vén törpe (1852, Alhikmet, der alte Zwerg) und im Kleinroman Ködképek a kedély láthatárán (1853, Nebelbilder am Horizont des Gemüts) durch das Auftreten des homodiegetischen Erzählers zur Aufhebung der selbständigen Erzählerposition. Der erste Text erzählt aus der Perspektive des Bräutigams, wie zwei Familien einen Besitzrechtsstreit durch Heirat lösen; er bietet die ironische Kritik der romantischen Expansion der Persönlichkeit. Das Rückgrat der Erzählung bildet eine Orientreise (die Requisiten des romantischen Exotismus erscheinen lässt), auf welcher der Erzähler die wahre Liebe kennenlernt; aber nachdem er auch mit der idealen Frau eine Enttäuschung erleben muss, akzeptiert er die Vernunftehe mit dem mittelmäßigen Mädchen aus der Nachbarsfamilie. Die Besonderheit der Erzählung besteht darin, dass zwischen dem realen Milieu der Geschichte und der Märchensphäre der Reise keine Grenzlinie gezogen werden kann. Die Reise wird durch einen Abend vorbereitet, an dem ein ‚Zauberer‘ sein Publikum mit Erscheinungen wie Mesmerismus, Telehypnose usw. unterhält, die aus der wissenschaftlichen Perspektive des 19. Jahrhunderts ambivalent sind. Der Ich-Erzähler erinnert sich aus einer Distanz von mehreren Jahren zurück, auch nachträglich besinnt er sich nicht auf den Unterschied von ‚real‘ und ‚irreal‘. Der Text ironisiert dadurch nicht nur die Romantik, sondern auch die für den Realismus charakteristische Annahme der Ausschließlichkeit kausaler Erklärungen. Der Kurzroman Ködképek a kedély láthatárán lässt ähnlich wie die Erzählung Két boldog eine Erzählweise zu, die durch die Konfrontation entgegengesetzter Ideen verschiedene Gesichtspunkte generiert. Der ideelle Konflikt zwischen einem von den Ideen der Revolution enttäuschten französischen Emigranten (Villemont Randon) in Siebenbürgen und einem siebenbürgischen Grundbesitzer, der die Gesellschaft im Zeichen der Ideen der Aufklärung reformieren will (Eduárd Jenő),
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spielt bloß eine untergeordnete Rolle; im Mittelpunkt steht auch nicht die Geschichte der Ehe zwischen dem ungarischen Grafen und der Tochter des französischen Emigranten (Stephania), die mit Scheidung endet, weil der Konflikt der beiden Männer auf sie projiziert wird. Den Fokus der Erzählung bilden vielmehr die Ehe des Sohnes des französischen Emigranten (Florestan) und ihr tragisches Ende. Der größte Teil des Romantextes setzt sich aus Gesprächen zwischen seiner Ex-Frau (Cecil) und ihrem Bekannten zusammen, der primäre Erzähler des Kurzromans ist dieser Mann (Várhelyi, Eduárd Jenős Freund). Die beiden Ehe-Geschichten fügen sich in seinem Bewusstsein zu einem Ganzen zusammen; er allein gelangt zu einer Bewertung der im Hintergrund verlaufenden ideellen Konflikte, entsprechend seiner eigenen Voreingenommenheit. Kemény formte den Erzähler zu einer Figur um und antizipierte damit ein zukunftsweisendes Erzählverfahren (Szegedy-Maszák 1989, 178–180). Der Kurzroman Férj és nő (1852, Ehemann und Ehefrau) schreibt der Erzähltheit des Geschehenen aus anderer Sicht Bedeutung zu; Thema ist die Krise der narrativen Identität. Im Mittelpunkt steht Albert Kolostory, der junge Abkömmling einer alten ungarischen Aristokratenfamilie, die ihre Herkunft von der Landnahme ableitet (wie die gesamte ungarische Adelsnation), es stellt sich jedoch heraus, dass die Familientradition nicht authentisch ist. Kolostory glaubt an die Chance, durch Anpassung an moderne Verhältnisse seine Identität wechseln zu können; er wird Fürsprecher liberaler Gedanken und heiratet eine Bürgerstochter. Aber je weiter er sich von seiner ursprünglichen Identität entfernt, desto stärker wirken traditionelle Narrative auf ihn; die Begegnung mit einer Gräfin, die in ihrer Verhaltenskultur aristokratische Züge wahrt und bei der sich die mittelalterliche Familientradition als authentisch erweist, wird schicksalshaft für ihn. Da die Gräfin von ihm ein Kind erwartet, kann er dem Skandal nur durch Scheidung und Heirat entgehen. Um sich scheiden lassen zu dürfen, müsste er zum protestantischen Glauben konvertieren; er kann auf das katholische Bekenntnis als letzte narrative Basis seiner ursprünglichen Identität aber nicht verzichten und begeht Selbstmord (Kunkli 2005). Kolostory hält nicht einfach an seinen traditionellen Identitätsnarrativen fest: Gegenüber der nüchtern-beschränkten Welt des Bürgertums kommt auch der Wunsch nach Expansion der Persönlichkeit zum Ausdruck; der Kurzroman konfrontiert damit die Welt der Romantik und die des Biedermeiers (SzegedyMaszák 1989, 156). Der Kurzroman Férj és nő initiiert einen charakteristischen Romantypus: Im folgenden halben Jahrhundert entstehen mehrere auf eine Figur beschränkte Kurzromane, die Erschütterung und Verlust der identitätsbildenden Narrative thematisieren (Pál Gyulai: Egy régi udvarház utolsó gazdája, 1857, Der letzte Herr eines alten Herrenhauses; János Asbóth: Álmok álmodója, 1878, Träumer von
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Träumen; Gyula Reviczky: Apai örökség, 1884, Väterliches Erbe; Kálmán Mikszáth: Beszterce ostroma, 1894, Der Graf und die Zirkusreiterin, 1955, M. Schüching, G. Engl, H. Weissling, eigtl. Die Belagerung von Beszterce; Géza Gárdonyi: Az öreg tekintetes, 1902, Der alte gnädige Herr; vgl. dazu Kunkli 2009). Das Interesse an der Spannung zwischen dem Bewusstsein der Figuren und ihrer wirklichen Situation lenkte Kemény in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre auf den historischen Roman. Dass diese Gattungsvariante in den Vordergrund geriet, ist der Übergangssituation zu verdanken, die zwischen der Geschichtsschreibung und der Literatur entstand. Diese Übergangssituation ergab sich einerseits daraus, dass die Historie entsprechend ihrer neuen Bedeutung im 19. Jahrhundert die Gegenwart als Teil des historischen Prozesses darstellte und ihr deswegen eine erhöhte Bedeutung zuschrieb, andererseits daraus, dass sich die Geschichtsschreibung als Wissenschaft von der Literatur, von der sie ihre narrativen Werkzeuge empfing, noch nicht emanzipiert hatte (Bényei 2007, 47– 111, vgl. Koselleck 1989, 51–54). Dass der historische Roman mit überragendem Publikumsinteresse rechnen konnte, ergab sich auch aus der Interpretationsnot gegenüber der Katastrophe von 1849 (siehe Jókais Deutungswillen in den Novellen des Bandes Forradalmi és csataképek 1848–49-ből). Kemény, der schon in seinen Broschüren versucht hatte, das historische Geschehen auszulegen, sah das Spezifikum des historischen Romans in der Darstellung der Lebenswelt einer Epoche darin, das der Vergangenheit Eigene, deren Fremdheit, im Verhältnis zur Gegenwart zu bewahren und damit eine wahre historische Perspektive zum Verständnis der Gegenwart zu bieten. Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung, die sich in Richtung der positivistischen Wissenschaftlichkeit verschob, hielt Kemény für den historischen Roman Wilhelm von Humboldts Konzept der Geschichtsschreibung aufrecht, nach dem der Historiograph die Menge der historischen Daten und Ereignisse „zu einem Ganzen verarbeiten muss“. Kemény sah in der Schaffung einer fiktiven Figur oder eines Handlungselements die Möglichkeit, historische Ereignisse und Tendenzen in den Fokus zu stellen (Hites 2007b, 137). Die so entstandenen fiktiven Gestalten boten zugleich die Möglichkeit, im Spiegel des Andersseins der dargestellten Epoche die charakterformende Wirkung der Geschichte zu zeigen. Kemény hielt die siebenbürgische Geschichte zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges für das historische Verständnis der Gegenwart für maßgeblich. Für zwei Romane entnahm er das Thema einer Chronik aus dem 17. Jahrhundert, die er selbst herausgab (Siralmas magyar krónika – Traurige ungarische Chronik – von János Szalárdi, Schreiber des siebenbürgischen Fürsten György Rákóczi I., 1664). Der Roman Özvegy és leánya (1857, Die Witwe und ihre Tochter) nach einer vom Chronisten aufgezeichneten tragischen Liebesgeschichte geht der Spur des widersprüchlichen Prozesses der Entfaltung der modernen autonomen Persönlich-
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keit nach. Den Hintergrund des Romans – er handelt im Jahr 1636 – bilden die konfessionellen Verhältnisse in Siebenbürgen. Fürst György Rákóczi I. und die Mehrheit des Adels gehörten der reformierten Kirche an, es war auch die römisch-katholische Kirche anerkannt (nur der kämpferisch protestantenfeindliche Jesuitenorden war des Landes verwiesen worden). Die Handlung beginnt mit der Verschlechterung des früher guten Verhältnisses zwischen einer kalvinistischen und einer katholischen Familie. Der Vater der kalvinistischen Sára Tarnóczy hat ihre Hand Kelemen versprochen, dem jüngsten Sohn der katholischen Familie Mikes. Aber nach dem Tod des Vaters wird die Witwe – die ihr Mann der Gesellschaft der Familie Mikes zuliebe vernachlässigt hat – vom religiösen Fanatismus erfasst, und sie verweigert Sára dem ‚falschgläubigen‘ Kelemen. Die Familie Mikes nimmt das Verbot nicht ernst, und Kelemens Bruder und Onkel entführen das Mädchen. Sie wickeln den Mädchenraub wie ein Schauspiel ab und rechnen damit, dass Sára freiwillig mit ihnen mitgeht und ihre Mutter schnell vergibt. Sára leistet aber bei der Entführung Widerstand, und die Witwe erstattet beim Fürsten Anzeige. Bei der Vernehmung sagt Sára aus, dass sie Kelemen nicht liebe; sie gibt nicht preis, dass sie sich in seinen Bruder János verliebt hat, sie verrät nicht, einst in einer inszenierten Liebesgeschichte Held Francisco gespielt, sich in den ihr unbekannten Schauspieler verliebt und erst jetzt erfahren zu haben, dass ‚Francisco‘ mit János Mikes identisch ist. Da Sára ihre Liebe zu János aus Scham und Schande verschwiegen hat, verurteilt der Fürst die Entführer zur Hinrichtung und zum Verlust ihrer Güter; dazu erlässt er einen Haftbefehl gegen Móric, den dritten Bruder, weil er als Jesuit nach Siebenbürgen zurückgekehrt ist. Die Witwe jubelt, ihre gebrochene Tochter willigt in die Ehe mit einem alten, reichen Protestanten ein, den ihre Mutter für sie ausgewählt hat. Die Mikes-Söhne werden begnadigt, dank Móric, der einst auf einer Jagd inkognito das Leben des Fürsten gerettet hat und sich jetzt zu erkennen gibt. János aber, der seit dem Mädchenraub Sára liebt, kehrt vergebens zurück; das Mädchen begeht kurz nach ihrer Hochzeit Selbstmord. János sucht daraufhin in einer Schlacht den Tod. Die Witwe stirbt plötzlich, nicht auf den Tod der Tochter hin, sondern auf die Nachricht von der Rehabilitierung der Mikes-Söhne. Die Hauptfiguren des Romans befinden sich in einer Grenzsituation. Obwohl ihre Welt nicht mehr die statische Welt des Mittelalters ist, deuten sie die Ereignisse als Wiederholungen vorgegebener Muster (Gönczy 2000); sie sind also nicht fähig, selbständige Entscheidungen zu treffen. Die Witwe verschleiert ihre eigenen Motivationen und Absichten vor sich selbst durch verzerrte biblische Szenen, die sie als Parallele der Ereignisse zitiert. Ihre Tochter lebt in der Welt der Rittergeschichten, János folgt den Vorschriften des Ritterkodex. Frau Tarnóczy gelangt nicht zur Einsicht in die Unbrauchbarkeit der Bibel als Handlungs-
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muster; die Verliebten versuchen nach der Wende der Geschichte ihr Leben zu steuern, da ist es allerdings schon zu spät. Die Neuartigkeit von Keménys Erzählweise besteht darin, dass er auf die Lesersteuerung verzichtet und die Stimme des Erzählers den Stimmen der Figuren unterordnet. Der Leser kann dem Handlungszusammenhang großenteils aus den Absichten, Motivationen und Reaktionen folgen, die im Verhalten, in den Dialogen bzw. direkten oder indirekten Monologen der Figuren zum Ausdruck gebracht werden (Szegedy-Maszák 1989, 215–217, 224). Schon in den Broschüren, die Kemény nach 1849 schrieb, beschäftigte ihn das Verhältnis zwischen menschlichem Handeln und Geschichte. In seiner ersten Broschüre konzentrierte er, indem er Kossuths Politik kritisierte, die Aufmerksamkeit auf die Gefahr, die der voluntaristischen Illusion der Lenkbarkeit der Geschichte entspringt. Er bezeichnete den Fanatismus, der mit der Unüberschaubarkeit der Umstände nicht rechnet, als „Schwärmerei“. Die komplizierte Situation in Siebenbürgen im Dreißigjährigen Krieg erwies sich als besonders geeignet für eine Geschichte, in der die individuelle Geschichte durch die vom Individuum nicht überschaubare kollektive Geschichte bestimmt ist (Sőtér 1987, 514). Das Milieu des Romans A rajongók (1859, Die Schwärmer) entspricht dem des früheren Romans, allerdings spielen die historischen Verhältnisse eine noch entscheidendere Rolle – der Umstand, dass Zentralungarn von den Türken besetzt war, im nordwestlichen Königreich die katholischen Habsburger, in Siebenbürgen protestantische Fürsten herrschten. Im Hintergrund steht die Vorgeschichte jenes Feldzugs, den Fürst György Rákóczi I. gegen Ferdinand III. um die Glaubensfreiheit der Protestanten im Königreich führte; die Situation wurde dadurch weiter kompliziert, dass in Siebenbürgen vier Konfessionen (römischkatholisch, reformiert, lutherisch, unitarisch) anerkannt waren, daneben waren weitere Religionsgruppen, u. a. die Sekte der Sabbatarier, präsent. Der Grundkonflikt des Romans beruht auf der Rivalität zweier Parvenüs; der Aufstieg weckt in beiden die Überzeugung, dass es in ihrer Macht liege, die Umstände ihrem Willen unterzuordnen. Der eine, István Kassai, Berater des Fürsten, hofft darauf, dass er seinen Gegner Simon Pécsi, der den verbotenen Sabbatariern angehört, die historisch-religiösen Umstände nutzend mit legalen Mitteln vernichten kann. Letzterer versucht zu verhindern, dass seine fanatischen Glaubensgenossen das offene Auftreten des Fürsten gegen die Sekte provozieren. Kompliziert wird es, da Elemér, Kassais Neffe, den der kinderlose Ratsherr als seinen Erben betrachtet, Pécsis Tochter Deborah liebt. Zahlreiche nicht einkalkulierte Umstände machen Kassai einen Strich durch die Rechnung. Der wichtigste ist, dass er, während er Elemér zum Kapitän der Festung ernennen lässt, welche die militärische Oberherrschaft über die Güter von Pécsi ausübt, nicht damit rechnet, dass sein Neffe wohl kaum gegen Deborahs Vater auftreten
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wird. Der Höhepunkt des Konflikts ist für beide Parteien unvorhersehbar: Bei der Versammlung der Sabbatarier geht die Hölle los, und die Fanatiker töten den unbewaffneten Elemér, den sie für einen Feind halten, obwohl er kommt, um Pécsi vor der drohenden Gefahr zu warnen. In A rajongók spielen der Gesichtspunkt der Figuren und die inneren Monologe eine noch wichtigere Rolle als in Özvegy és leánya (Szegedy-Maszák 1989, 252–253). Die Zusammenhänge der Handlung – und somit die Geschichtsinterpretation des Erzählers – werden nur indirekt, durch die Wechselwirkung von Handlungen und Meinungen alltäglicher Figuren dargestellt, die nicht imstande sind, die Beziehungen zwischen ihren Taten und der Geschichte zu durchschauen. Ähnlich wie bei der Witwe des früheren Romans haftet das Bewusstsein der Figuren an traditionellen religiösen Narrativen, wodurch ihre Handlungen der Steuerung entgleiten und individuellen Motivationen folgen. Die Sabbatarier erklären die Geschehnisse aus biblischen Analogien und verschleiern dadurch die wirklichen Zusammenhänge (Bényei 2007, 350). Selbst die nüchternsten Figuren deuten die durch ihre Taten ausgelösten, geschichtlich bedingten Folgen als Schläge des Schicksals. Diesen gegenüber glaubt Kassai, geschichtliche Prozesse steuern zu können; die Mechanismen jedoch, die er in Bewegung setzt, verselbständigen sich und richten sich gegen ihn. In Zord idő (1862; Rauhe Zeiten, 1867, Th. Opitz), dem dritten bedeutenden historischen Roman von Kemény, verstärkt sich die Erfahrung der Unbeherrschbarkeit der Geschichte in unmittelbarer Anknüpfung an das Erscheinen des modernen Geschichtsbegriffs. Hier nun lässt Kemény Ereignisse aufleben, die um ein Jahrhundert früher zu datieren sind, nämlich in die Zeit der dreifachen Teilung Ungarns (1541). Ferdinand von Habsburg erhebt Anspruch auf die ungarische Krone und bestürmt die Burg von Buda. Der Adel will, sogar mit türkischer Unterstützung, den ‚Nationalkönig‘, den Säugling Johann Sigismund krönen; während seiner Unmündigkeit soll seine Mutter Isabella die Regentschaft führen. Isabella ruft den Adel zum Aufstand auf; die Hauptfiguren des Romans, der Kopist Barnabás und der Lautenspieler Elemér, die als Erzieher von Dora, Tochter der siebenbürgischen Adelsfamilie Deák, dienen, werden von dieser Familie bewaffnet und in den Krieg geschickt. Der von seinen Instinkten geleitete wilde Barnabás wird dadurch von Dora entfernt, dem sanften Elemér hingegen die Gelegenheit geboten, sich trotz seiner niedrigen Herkunft Doras als würdig zu erweisen. Der Aufstand wird jedoch abgeblasen, denn Buda ist vor Ferdinand beschützt und der Weg für die Türken freigemacht. Anscheinend wenden sich die Geschehnisse zum Guten, aber die Pläne scheitern: Die Türken werden aus Verbündeten zu Okkupanten. Isabella, die selbst den Bund mit dem heidnischen Türken fürchtete, wird samt waffenfähigem Adel verjagt; die Königin zieht nach Siebenbürgen, um die Unabhängig-
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keit Ungarns zu sichern. Elemér und Barnabás werden gefangen genommen, Ersterer mit Hilfe von Istán Werbőczi befreit, seinem Verwandten, vorher Isabellas Kanzler, nun der von der türkischen Behörde eingesetzte Richter in Buda. Barnabás fühlt sich von Elemér betrogen, da dieser ihn im Stich gelassen hat; er läuft zu den Türken über. Elemérs Geschick scheint sich endgültig zum Guten gewendet zu haben, er wird Werbőczis Sekretär, schwört Dora, die inzwischen mit ihrer Familie nach Buda gekommen ist, ewige Treue, aber er wird in einer Straßenunruhe durch eine Spahi-Truppe getötet, deren Anführer Hamscha Beg alias Barnabás ist. Werbőczi erwirkt beim Pascha, den Verantwortlichen zu bestrafen; Hamscha Beg-Barnabás wird enthauptet. Dora zieht sich nach Siebenbürgen zurück und wird zur Hofdame der Königin. Die Figuren des Romans sind der Geschichte ausgeliefert. Die Politiker, ob sie gutgläubig auf Rechtmäßigkeit vertrauen oder ihre Züge berechnen, beschleunigen unbewusst den individuellen und kollektiven Untergang. Der ideelle Hintergrund dieser Entfaltung liegt in der Wandlung der Geschichtsauffassung. Der Grundsatz ‚historia magistra vitae‘ wird als nicht mehr gültig behandelt und durch den Begriff der linearen, unberechenbaren Geschichte abgelöst (Hites 2004, 43–45). Letztere Auffassung vertritt eine Romanfigur, die zu Isabellas Hofrat gehört und außerhalb der Interessenskreise steht; ihre Deutungsposition steht der des heterodiegetischen Erzählers nahe (Sőtér, 1987, 529). Eine nachträgliche Lehre wird jedoch vermieden, denn die Perspektive des Erzählers ist überwiegend der der agierenden Figuren unterworfen. Das Erscheinen des modernen Begriffs der ‚Geschichte‘ schließt grundsätzlich aus, dass man den Roman als Allegorie der Gegenwart des Autors lesen kann (Hites 2004, 94). Trotzdem ließ sich zur Zeit der Entstehung des Romans die in ihm enthaltene Kritik leicht an einer Haltung dem Haus Habsburg gegenüber festmachen, und auch in der Rezeptionsgeschichte des Romans blieb lange die allegorische Lesart bestimmend. Ihr zu entgehen gelang nicht der Literaturgeschichtsschreibung, sondern dem postmodernen historischen Roman der 1990er Jahre, in Bezug auf Zord idő in erster Linie László Darvasis Roman A könnymutatványosok legendája (1999; Die Legende von den Tränengauklern, 2001, H. Eisterer), der das Primat der Sicht der Figuren radikalisierte und dadurch die kausalen Zusammenhänge der Geschichte zur Zeit der Türkenherrschaft auflöste und die Lücken mit magischmetaphorischen Elementen füllte (Szilágyi 1994). Die Rezeption des Werkes von Zsigmond Kemény hatte zur Folge, dass seine Popularität mit der von Jókai nicht einmal annähernd vergleichbar ist. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden aber nicht nur seine historischen Romane aufgewertet, sondern auch seine zu Anfang der 1850er Jahre verfassten Kurzromane und Erzählungen, deren Erzähltechnik beachtenswert ist.
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III.3.6 Spätromantische Deformation der romantischen Menschheitsdichtung: Imre Madách (1823–1864) Während Kemény die statische Geschichtsauffassung mit der modernen konfrontierte und zum Objekt der Kritik erhob, ließ Imre Madách in seinem Hauptwerk Az ember tragédiája (1862 [1861], Die Tragödie des Menschen, 1865, A. Dietze; 1933, J. Mohácsi; bearbeitet 1977 von G. Engl) den modernen Geschichtsbegriff, der auf dem Grundsatz des Fortschritts basiert, und das historische Narrativ, das sich auf Zukunftserwartung gründet, zum Objekt der Ironie werden. Der Autor, der vom literarischen Leben seiner Zeit abseits stand, brachte seine Erfahrung in einer der repräsentativen Gattungen der Romantik ein, der dramatisierten Menschheitsdichtung. Das „dramatische Gedicht“, entstanden 1859/60, setzt sich aus 15 Bildern zusammen. Es beruht auf der mittelalterlichen Mysterien-Tradition; seine Handlung wird durch das Ringen Gottes und des Teufels um die menschliche Seele in Gang gesetzt. Der Gegenspieler Gottes ist Luzifer, der sich als Urprinzip der Verneinung für den Mitbeteiligten an der Schöpfung hält und seinen Anteil fordert. Gott verflucht zwei Bäume im Garten Eden und überlässt sie ihm. Luzifer will auf diesem archimedischen Punkt Fuß fassen, um das Werk des Herrn, das der Vernunft entbehrt, zu stürzen (1. Bild). Adam und Eva essen von der Frucht des Wissens, der Weg zum Baum des ewigen Lebens wird von einem Cherub versperrt. Sie verlassen Eden, das ihnen „fremd und öd ward“ (2. Bild). Luzifer verspricht die Zukunft zu zeigen, die sie erwartet (3. Bild); dies geschieht in elf Traumbildern. Ausgestattet mit aller Macht herrscht Adam als Pharao in Ägypten. Um die fehlende Unsterblichkeit zu ersetzen, lässt er durch Sklaven eine Pyramide errichten, die seinen Namen verewigen soll. Durch die Liebe zur Frau eines totgepeitschten Sklaven (Eva) wird ihm das Leiden des Volkes begreiflich; er verlangt von Luzifer, eine Gesellschaft der Freiheit zu schaffen (4. Bild). Luzifer verwirklicht diese Gesellschaft im antiken Athen: Als Feldherr Miltiades kämpft Adam für das Wohl und um die Freiheit des Volkes, das ihn – aufgehetzt und bestochen von einem Demagogen – des Verrates beschuldigt und zum Tode verurteilt (5. Bild). Adam, seines Zieles verlustig gegangen, will im üppig schwelgenden Rom der Kaiserzeit als Römer Sergiolus „trunken hin zum Hades“ taumeln. Die wilden Orgien, wo seine bevorzugte Mätresse Julia (Eva) ist, lassen jedoch nichts als Leere in ihm zurück. In der Heilsverkündigung des Apostels Petrus findet er schließlich einen neuen Lebenssinn (6. Bild). Aus Palästina kommend, muss jedoch der Kreuzritter Tankred (Adam) in Konstantinopel erleben, dass die Lehren, für die er kämpfte, in eitlen Disputen ihres Sinnes beraubt werden, und die Kirche zu einer Institution erstarrt ist, die fanatisch alle Häretiker verfolgt und vernichtet. Tankreds Liebe zu Isaura (Eva) kann auch keine Erfüllung finden,
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denn sie wird von ihrem Vater, ebenfalls Kreuzritter, ins Kloster gezwungen (7. Bild). In der Gestalt Keplers lebt Adam in Prag am Hof Kaiser Rudolfs; er ist genötigt, das Geld mit der Erstellung von Horoskopen zu verdienen. Seine Frau Barbara (Eva) betrügt ihn mit einem Höfling, da er ihr, eingesponnen in seine Ideen, nicht genügend Aufmerksamkeit widmet (8. Bild). Die Szene in Paris, ein „Traum innerhalb des Traumes“ (den der sich mit Wein tröstende Kepler träumt) inszeniert die leitenden Ideen der bisherigen Geschichte. Die Schlagworte ‚Freiheit‘, ‚Gleichheit‘, ‚Brüderlichkeit‘ – ergänzt durch das der Vernunft – vertritt Adam als Danton, der letztlich auch selbst Opfer der revolutionären Maschinerie wird, denn er will eine junge Aristokratin, die er liebt, samt ihrem Bruder für die nüchterne Zukunft retten. Die Aristokratin wird von einer wilden Revolutionärin getötet, die mit Danton eine Nacht verbringen will. Beide weiblichen Figuren sind Verkörperungen von Eva (9. Bild). „Wer Gottes Funken, sei’s mit Blut und Dreck beschmiert, verkennt, ist blind“ – kommentiert Kepler seinen Traum und predigt seinem Lehrling begeistert die Zukunft (10. Bild). Die erwartete Zukunft wird in London gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart: In der kapitalistischen Gesellschaft, die durch eine bunte Szenenreihe dargestellt wird, ist der Mensch zur käuflichen Ware erniedrigt. Luzifer demonstriert dies, indem er Adam die Liebe des Bürgermädchens Eva kauft. Adam kanzelt sich selbst als Versager ab; er habe „die stärkste Schraube der Maschine“, die Pietät, verworfen (11. Bild). Als Gegenbild folgt die Gesellschaft der Phalanstère, wo die Menschen in einer von Gelehrten streng überwachten Arbeitsteilung und Lebensgemeinschaft leben. Die Vorratskammer der Erde ist bald erschöpft, so „lebt was nützlich ist“; Kunst und Philosophie werden als unwissenschaftlich bezeichnet und verboten. Der Wissenschaft bleiben 4.000 Jahre, die sich abkühlende Sonne zu ersetzen; der Gelehrte beschäftigt sich dennoch mit der künstlichen Herstellung von Leben, um die Natur von der menschlichen Fortpflanzung auszuschließen. Als Adam Eva begegnet und sie zur Frau begehrt, ist es dann der Gelehrte, der sie auf ihre Ehetauglichkeit hin untersucht und zu einem negativen Resultat gelangt (12. Bild). Letzte Zuflucht bietet Adam der Weltenraum, wo er seine Seele vom Staub der Erde zu befreien hofft. Das Grauen vor der physischen Vernichtung lässt ihn jedoch zurückschrecken. Als Luzifer ihn schon besiegt glaubt, erkennt Adam, dass das Dasein ohne Liebe und Kampf wertlos ist, und kehrt, dem Erdgeist gehorchend, zur Erde zurück (13. Bild). Seine Hoffnung aber, die Wissenschaft rette die Erde, scheitert; ihn erwartet die totale Verwüstung. Die Sonne scheint kaum mehr, Adam begegnet einem Robbenfänger am Äquator, der alle seine Nachbarn erschlagen hat, und seiner Frau (Eva), die sich Adam aus Gastfreundschaft anbietet (14. Bild). Mit diesem letzten Bild vor Augen erwacht Adam aus dem Traum. Verzweifelt über das Geschaute rebelliert er gegen Gott mit der
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Abb. 17: Illustration von Mihály Zichy zu Madáchs Tragödie des Menschen (15. Bild)
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einzigen freien Entscheidung, die ihm jetzt noch bleibt: dem Entschluss, seinem ihm von Gott geschenkten Leben ein Ende zu machen. In diesem kritischen Moment teilt ihm Eva mit, dass sie neues Leben in sich trägt. Adam fällt vor dem Herrn in den Staub und bestürmt ihn mit seinen quälenden Fragen. Er will wissen, ob es eine jenseitige Fortsetzung der irdischen Existenz gibt; ob die Menschheit sich Gottes Thron nähern wird oder sich im Kreis dreht; ob der Hochgesinnte seinen Lohn findet. Der Herr gibt ihm keine Antwort. Wenn Eva den für die Vernunft unzugänglichen Sinn des Daseins als Gewissheit erlebt, muss sich Adam indessen mit einer vagen Ahnung begnügen, ohne den Gedanken an das grausame Ende überwinden zu können. Er verpflichtet sich zum Weiterleben unter dem Gotteswort: „Ich sage dir, Mensch, kämpfe und vertraue!“ Die aus Episoden bestehende Geschichtskonstruktion bleibt bis zur letzten Szene zweideutig. Adam sieht in jedem Misserfolg eine neue Herausforderung, die ihm zur Erreichung des letzten Ziels, der Verwirklichung des Glücks der Menschheit, verhelfen soll. Demgegenüber interpretiert Luzifer, das Geschehen mit ironischen Bemerkungen kommentierend, die Misserfolge, die Adams Erwartungen der Zukunft gegenüber vereiteln, als sich häufende Beweise für die Zwecklosigkeit der Geschichte und für die Unfähigkeit des Menschen zur geistigen Entwicklung. Das Werk gilt als nachromantische Umdeutung der im 19. Jahrhundert europaweit verbreiteten Gattung der Menschheitsdichtung (Horváth, Károly 1978). Die Vorstellung, die Geschichte sei eine endlose Vervollkommnung der Menschheit, hatte in Ungarn infolge des Scheiterns des Freiheitskampfes besonders stark an Einfluss verloren. Um diese Erfahrung auszudrücken, bot keine einheitliche Weltanschauung einen Rahmen, auch die romantische Ironie nicht, nur die relativierende Ironie der Nachromantik (vgl. Nemoianu 1984, 165). Zur Darstellung wandte sich Madách auf die dialogische Tradition der europäischen Literatur (Buch Hiob, sokratischer Dialog, menippische Satire usw.) (Imre 1972). Die Intention des Werks besteht jedoch trotz aller Relativität darin, die Möglichkeit eines Daseinssinns im Spannungsfeld einander widersprechender Wahrheiten zu bewahren. Die vielfältige Rezeptionsgeschichte des Werkes ist reich an Polemik, die Vertreter von Fortschrittsideen aller Art (Hegelianer, Liberale, Marxisten) verhielten sich ablehnend bis rechtfertigend. Die Kritik war bestrebt, die mannigfaltigen Einwirkungen der europäischen Literatur und Philosophie – oft ohne Berücksichtigung des neuen Kontexts – zu erforschen. Obwohl das Werk als dramatisches Gedicht den Kriterien der Schaubühne kaum entspricht, wird es weltweit oft und mit Erfolg aufgeführt.
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IV. Die Wende zur Moderne 1882–1895 IV.1 Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit und Veränderung der künstlerischen Wahrnehmungsweise Die Verortung der Anfänge der modernen ungarischen Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts ist eine relativ neue Entwicklung in der Wirkungsgeschichte dieser Periode. Mit dem Todesjahr von János Arany (1882) liegt die Epochengrenze nun wesentlich früher; bislang galt die Gründung der wichtigsten ungarischen Literaturzeitschrift des 20. Jahrhunderts, des Nyugat (Westen), im Jahre 1908 als symbolisches Datum für die Wende. Der Grund für die Neudatierung liegt in einer veränderten Betrachtungsweise in der ungarischen Literatur- und Kulturwissenschaft am Ende des Jahrtausends – in ihrem Aufschluss zur internationalen Moderneforschung – und infolgedessen in der kanonischen Verstärkung neu interpretierter, bis dahin kaum erörterter Texte. All dies bezieht sich vor allem auf die Prosawerke dieser Epoche, da in den zwei Jahrzehnten nach dem Abschluss von János Aranys Lebenswerk in der ungarischen Literatur keine neuen, vergleichbar hervorragenden lyrischen Leistungen hervorgebracht wurden. Eine eingehende Untersuchung der Prosa ergab jedoch überraschenderweise immer neue Hinweise auf die Aktualität der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund gedrängten oder in ihrer Interpretation aus politisch-ideologischen Gründen beeinflussten Texte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr die literarische Öffentlichkeit eine grundlegende Erweiterung, vor allem durch den Aufschwung des Verlagswesens und die zahlenmäßig starke Zunahme der Wochen- und Tagesblätter und der Zeitschriften. Von diesem Zeitpunkt an gewann die Belletristik an Boden, eine für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Entwicklung: die Entstehung einer vorwiegend städtischen Leserschaft in einem zuvor noch nie dagewesenen Umfang. Die Hauptstadt von Ungarn erwarb dadurch eine ganz und gar führende Rolle im ‚Warenaustausch‘ von Kunstwerken. Bis zur Mitte des Jahrhunderts lebte die Leserschaft größtenteils auf dem Lande, während nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) die multiethnische Bevölkerung in Budapest, das einen rapiden Anstieg der Einwohnerzahl zu verzeichnen hatte, zur wichtigsten Basis des literarischen Lebens, zu seinem ‚Konsumenten‘ wurde. Diese Bevölkerung (Deutsche, Juden, Südslawen) eignete sich die ungarische Sprache an und betrachtete sich immer mehr als einen Teil der ungarischen Kultur (Németh G. 1981, 18–42). Die vielerlei Geschmäcker und Traditionen sowie die tiefe sozial-künstlerische Schichtung dieser Bewohnerschaft drückten auch der Formierung der ungarischen Moderne ihren Stempel auf. Budapest, in
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seinem architektonischen Eklektizismus stark umstritten, entwickelte sich zu einer der vielfarbigsten und am meisten florierenden Großstädte im Europa der Jahrhundertwende und näherte sich allmählich der kulturgeschichtlichen Bedeutung Wiens, des Zentrums der Region, an (Wunberg 1995; Schutte‒Sprengel 1997). (Ein typisches populäres Werk des Zeitalters war Der Zigeunerbaron [1885], eine Operette von Johann Strauss, Ignaz Schnitzer und Mór Jókai.) Die Zeit um den 1000. Jahrestag der Landnahme – das Millennium (1896) – war von Bauarbeiten und Investitionen größeren Ausmaßes geprägt. Auf dem Gebiet des Musiklebens ragten die von Franz Liszt gegründete Musikakademie, das Opernhaus, in dem u. a. Gustav Mahler, Arthur Nikisch und Hans Richter unter Vertrag standen, und später Musikwerke von Béla Bartók, Zoltán Kodály, Leo Weiner und Ernő Dohnányi heraus. Die bildkünstlerische Moderne stellte zu dieser Zeit der Impressionismus dar (József Rippl-Rónai, Pál Szinyei-Merse). Damit ist erklärlich, dass sich einige bedeutende Künstler wie die französischen ‚Nabis‘ aus der Hauptstadt zurückzogen und getreu ihrem Programm in Naturnähe, auf dem Lande, in Nagybánya (Baia Mare/Frauenbach) eine Malerschule gründeten (Simon Hollósy, Béla Iványi-Grünwald, Károly Ferenczy und andere). Die modernisierenden Kunstrichtungen in Ungarn suchten und fanden natürlich durch die Großstadterfahrungen Anknüpfungspunkte zu ähnlichen Bestrebungen im damaligen Europa. Diese neue Erfahrung am Ende des Jahrhunderts, die „rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfasst, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen“ (Simmel 1995, Bd. 7, 117), kollidierte in der späten Lyrik von János Arany auf höchstem Niveau mit der Poetologie der romantischen Tradition. Auch in der Dichtkunst von Arany offenbart sich, dass das Trauma des ‚Großstadterlebnisses‘ die frühere ‚organische‘ Zusammenhangsordnung der Welterfahrung auflöst und dass an ihre Stelle ein Fluss von einander schnell überschreibenden Informationen und ihre Perzeption tritt. Das heißt, die Sensation der ‚künstlichen‘ Medien und der Zeichen löst die ‚natürliche‘ Unmittelbarkeit der Perzeption des Daseinsgeschehens ab, d. h. sie zertrümmert „die Aura im Chockerlebnis“ (Benjamin 1969, 164). Dadurch ändert bzw. rekreiert sich beispielsweise immerfort die Grenze zwischen den als Äußeres und Inneres erkannten Sphären. „Baudelaire definiert den Fortschritt als ‚progressive Abnahme der Seele, progressive Herrschaft der Materie‘ […], ein andermal als ‚Atrophie des Geistes‘“ (Friedrich 1992, 42). Selbst die Erinnerung, eines der ausgezeichneten, sich selbst erhaltenden Medien des modernen Subjekts, das gegenüber der Außenwelt eine individuelle Innerlichkeit trägt und sich ausdrücken will, ist nicht in der Lage, stabil-autonome Identitätskonturen zu bewahren, da sich ihre Inhalte aus zwei vollkommen verschiedenen, miteinander ringenden und einander korrigierenden Ich-Wahrnehmungen konstruieren: Einesteils sind sie äuße-
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ren (geschichtlich-gesellschaftlichen) Ursprungs, anderenteils erscheinen sie als durch eine eigene Sphäre erschaffen. Dementsprechend gehört die Spannung zwischen der individuellen und überindividuellen Determiniertheit der Sprache zu den grundlegenden Zügen auch der ungarischen literarischen Moderne.
IV.2 Die Wende der kleinepischen Gattungen zur Moderne Die erweiterte Pressepublizität und die Veränderungen in der Perzeptionsweise – im Zusammenhang mit dem Wandel der Vermittlungs- und Publikationsforen der Literatur und der Beschleunigung des ‚Konsum‘-Tempos – erschienen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts als ein spezifischer gattungsbestimmender Faktor, vor allem auf dem Gebiet der Kleinprosa. In den Tages- und Wochenblättern wurden regelmäßig belletristische Schriften, zumeist Kurzgeschichten, veröffentlicht. Den Umfang dieser Werke (‚Feuilletonnovellen‘) begrenzten zwar nicht vollständig, aber doch mehr oder weniger die verfügbare und auszufüllende Blattfläche und Seitenzahl. So wurde das bisher langsamere, umständlichere und ausführlichere Tempo der Erzählungen und überhaupt die gesamte romantische Poetik der Novellen z. T. aufgrund der Verlags- und Käuferanforderungen durch eine Reihe von für die moderne Novellistik besonders typischen Verfahren – Reduktion, Konzentration, Verschweigen, Fragmentarität, Dramatik und Metaphorisierung (Dekoration-Stilisation), durch die auffällige Intertextualität und den GleichnisCharakter (auf das Märchen, den Mythos, die Legende alludierende Kompositionsweise) – abgelöst (Thomka 1986). Die Hervorhebung der Diskursivität zu Lasten der Geschichte (Narrativität, vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 17–19) entspringt so nicht nur einer immanenten gattungsgeschichtlichen Formierung, sondern auch einer Veränderung der Vermittlungsmedien, ebenso, wie auch die ,Vorgeschichte‘ der deutschen literarischen Moderne, insbesondere bestimmte Texte von E.T.A. Hoffmann, Hebbel, Kleist und anderen, oder die Kalendergeschichten und die Formen des Schwanks sich nicht ausschließlich als Resultat des Selbstprinzips des sprachlichen Mediums zu einer Kurzgeschichte entwickelten, die sich von der klassischen Novelle unterschied und von Goethes Definition der Gattung („eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“) entfernte (vgl. Durzak 1980). Im Rahmen dieser Veränderungen knüpft die Wende zur Moderne in der ungarischen Prosaliteratur in hohem Maße – und auf den ersten Blick vielleicht überraschend – an die insbesondere ihre eigene Medialität reflektierende Gattung der Anekdote an. Der Begriff ‚Anekdote‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie: „nicht herausgegeben“, d. h. mündlich (verbal) verbreitete Texte. Die Bezeichnung der Gattung weist auf eine Vermittlung in Form der gesprochenen Rede hin, während der Text natürlich schriftlich publiziert wird.
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Die literarische Anekdote signalisiert dieses Paradoxon unentwegt, d. h. ihre Sprache und ihr Stil nutzen aus, dass die Geschichte zwar auf dem Papier zugänglich ist, ihre ‚eigentliche‘ Bedeutung dennoch aus einem anderen Medium, aus dem Sprachlaut herauszuhören ist. Die Aufgabe des Lesers ist es somit, von der ‚sichtbaren Sprache‘ zu abstrahieren und eine orale Form der Mitteilung anzunehmen. Die moderne Anekdote verschärft also die Spannung zwischen der Aura des Gesprächs und der Praxis der schriftlichen Vervielfältigung. Das Verhältnis zwischen den Medien Schrift und Stimme bleibt weiterhin auch in der Relation zwischen der materiellen und immateriellen Dimension der Sprache charakterisierbar. Die aus der sichtbaren Schrift gefolgerte Stimme ist nämlich allein durch die Kenntnis des als nichtmaterial gespeicherten kulturellen Kontextes hörbar, der die mentalen Regeln der Erzählung und der Rezeption der Anekdote enthält. Die Stimme – die gesprochene Rede – kann durch die Zeichen der publizierten Schrift (Buchstaben) aus den materiell unkodierten Bereichen eines kollektiven Gedächtnisses abgerufen (oder neu erschaffen) werden. Da die Erzählung der Anekdote eine markant dialogische Situation zur Neuerzählung einer Geschichte voraussetzt, ist sogar eine spezifisch ‚effektorientierte‘ Gestaltung haltbar, deren Mechanismus sich gleichfalls auf das Gespräch stützt. Ihr charakteristischer Abschluss, die Pointe, ist keine Wende, die eine neue Perspektive bietet, sondern erfüllt eine gebotene Vorerwartung, als passende Geste bzw. als Verlautbarung an seine breitere kulturelle Umwelt.
IV.3.1 Anekdotismus, Historie und Multikulturalität in Werken von Kálmán Mikszáth Die ungarische Rezeptionsgeschichte hielt den Anekdotismus – die vorigen Erwägungen außer Acht lassend – lange Zeit als Gegenbegriff zur Moderne in Evidenz. Die Werke von Kálmán Mikszáth (1847–1910), dem herausragenden Meister der Gattung, interpretierte sie deshalb zum Beispiel innerhalb der geschichtlichen Beziehungsordnung der Romantik und des Realismus. Indem Mikszáths Kunst in ihrer Geschichtenführung auf eine straffe Struktur verzichtete und zum Offenen hin gelöst war – z. B. gerade durch die Figurierung der ‚romantischen‘ und ‚realistischen‘ Elemente – und damit über beide Richtungen des 19. Jahrhunderts hinausging, trug sie viel dazu bei, dass die spätere moderne (Gyula Krúdy) und postmoderne (Péter Esterházy) Prosa an Boden gewann. Seine Bedeutung wird deshalb im Licht der postmodernen ungarischen Literatur besonders gut sichtbar (vgl. Eisemann 1998; Hajdu 2005). Nicht die Fachwissenschaft war es jedoch, die bei Mikszáth zuerst Züge entdeckte, die neu verstanden und fortgesetzt werden konnten, sondern die Belletristik. Termelési
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Abb. 18: Kálmán Mikszáth. Ölgemälde von Gyula Benczúr, um 1911
regény (1979; Ein Produktionsroman, 2010, T. Mora,) von Péter Esterházy zum Beispiel lässt Kálmán Mikszáth im Budapest der 1970er Jahre als eine Gestalt auftreten, die der Erzähler als „seinen Meister“ in den erwähnten poetischen Verfahren und hauptsächlich auf dem Gebiet der Anwendung der Ironie anerkennt. Im Zeichen dieser Ironie wird in diesem Werk auch Egri csillagok (1901; Sterne von Eger, 1958, M. Schüching), ein historischer Roman von Géza Gárdonyi, einem ebenfalls populären Verfasser um die Jahrhundertwende, wachgerufen,
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dessen Buch zur schulischen Pflichtlektüre gehört und vom heldenhaften Kampf der Ungarn gegen das Osmanische Reich erzählt; er dient hier als Grundlage für die Travestie der schematischen ‚Produktions‘-Gattung der 1950er Jahre. Auf dem ungarischen Literaturfestival „Das große Buch“ (2005) wurde Gárdonyis Roman übrigens zum beliebtesten Buch Ungarns gewählt. Die multikulturellen Beziehungen ergänzt sein anderer historischer Roman mit psychologischem Charakter (A láthatatlan ember, 1902; Ich war der Hunnen Untertan, 1959, H. Weissling). Kálmán Mikszáth erstürmte die Spitze der ungarischen Literatur mit zwei Novellenbänden, die die anekdotische Darstellung mit einem für die ‚großstädtische‘ Erfahrung zu dieser Zeit bereits als fremd empfundenen kulturellen Kode verbinden (A tót atyafiak, 1881, Slowakische Landsleute; A jó palócok, 1882; Die guten Hochländer, 1882, A. Silberstein; Ungarische Dorfgeschichten, 1890, L. Neugebauer). Die im Paloczenland im damaligen Oberungarn spielenden Geschichten sind gerade durch die Hinweise auf ihre Regionalität in der Lage, die Modalität der Erzählung als eine gegebene – vom Ton der Großstadt abweichende – Konstante des kulturellen Kontextes zu artikulieren. Der Erfolg der Bände nahm internationale Ausmaße an und wurde im Ausland zumeist mit den Werken von Thomas Hardy (Wessex-Romane) und Bret Harte (California Stories) verglichen. Der Redestil im Novellenband A tót atyafiak experimentiert mit ironisch-parodistischen (Az aranykisasszony, Das Goldfräulein), tragischen (Az a fekete folt, Der schwarze Fleck), sentimentalen (Lapaj, a híres dudás; Lapaj, der berühmte Sackpfeifer, 1999, A. Oplatka) und humoristischen (Jasztrabék pusztulása, Jastrabs Untergang) Modalitäten; Verfahren der romantischen Narration, die an die Texte von Mór Jókai und Charles Dickens erinnern, werden weitergeformt, u. a. durch die Verschmelzung der Stimme des Erzählers und der der Figuren in einer indirekten freien Rede, durch die Vertauschung der subjektiven und objektiven Perspektive zur wirkungsvollen Gegenüberstellung der epischen Perspektive und der dramatischen Szene. Der Band A jó palócok aber enthält bereits offen aufeinander reflektierende Kurzgeschichten und setzt auch dadurch die Permanenz des darin hörbaren ‚Tons‘ durch. Dieser reich stilisierte Ton ist jedoch nicht individuellen Ursprungs: Die Diktion, die sich auf eine gemeinsame Wertordnung und Erinnerung der Region beruft, ist sogar mit der Narration des Mythos oder des Märchens vergleichbar. Die Figuren des Zyklus treten weniger als Einzelgestalten auf, sondern vielmehr als mythische Archetypen, als Vertreter des Schicksals und der Erinnerung der alten Dorfgemeinde (Tímár Zsófi özvegysége, Zsófi Tímárs Witwenschaft; A Péri lányok szép hajáról, Das herrliche Haar der Schwestern Péri; Az a pogány Filcsik, Filcsik, der Heide). Der Zyklus führt märchenhafte, folkloristische, parabelhafte und balladistische Formelemente nacheinander an und bietet die Möglichkeit, diese auch als Roman zu lesen. Diese Möglichkeit präsentieren auch andere Werke mit den in dieser Epoche populären sonstigen Regionsgeschichten, darunter Az én
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falum (1898, Mein Dorf) von Géza Gárdonyi, das aber – neben der feinen Plastizität seiner Genrebilder – nur wenig über die realitätsbezogene Darstellung des soziokulturellen Zustandes einer ‚Landschaft‘ hinausgeht. Die Gattung der regionsbezogenen Erzählung wendet Mikszáth auch in seinem Kurzroman A gavallérok (1897; Die Kavaliere, 1954, H. Weissling) an und verbindet sie mit der ironischen Behandlung der Schemata des ‚Reiseromans‘ der Aufklärungszeit. Gerade diese Doppelheit dekonstruiert zugleich die Traditionen dieser Gattung, da sie die territorialen Unterschiede nicht lediglich aus der überlegenen Perspektive des ‚Reisenden‘ sehen lässt, sondern auch Licht auf die Einseitigkeit der Perspektive des Berichterstatters wirft. Die Position des IchErzählers bleibt nämlich unreflektiert, der Erzähler strebt keine Selbstidentifizierung an. („Wer bin ich? – das ist die Frage, die der Reisende nicht stellt.“ – liest man später in Hahn-Hahn grófnő pillantása [1991; Donau abwärts, 1992, H. Skirecki], Péter Esterházys Werk über die Donauregion). Die Trauungszeremonie im Roman schafft ferner – durch das Rollenspiel, die Kostümierung und Maskierung – eine Karnevalsatmosphäre, die ähnlich einem wunscherfüllenden Traum die Innerlichkeit und das Schicksal der Beteiligten inszeniert und auch auf anthropologischer Ebene die Maskierung als eine Form des Selbstausdrucks darstellt. Die Maskierung tarnt ihren Träger nämlich nicht nur, sie offenbart auch seine Sehnsüchte: Sie zeigt ihn als jemand anderen und legt zugleich seine Gesinnung offen. Die Maskerade bleibt für den Besucher lange Zeit undurchschaubar, sodass er die Überlegenheit des Beobachters verliert. Nicht er ‚entlarvt‘ letztlich den Betrug, sondern er wird vielmehr selbst als naiver Zuschauer des Schauspiels entlarvt, als ein Mittel der Ortsansässigen für die Zeremonie. Ebenfalls deutliche Anzeichen für die Modernisierung der romantischen Sichtweise zeigen sich im Kreis der historischen Erzählungen von Mikszáth. Den historischen Horizont in diesen Werken eröffnet nicht lediglich die Perspektive des Rückblicks, keine einfach mit einigem historischen Index versehene Handlung, sondern eine moderne Gegenüberstellung der als ‚Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten‘ aufgeführten Erfahrungen. Diese zeitliche Sicht ist auch dort noch wahrnehmbar, wo sich der Text nicht entschieden der Gattung des historischen Romans zuordnen lässt, da die Gegenwart und die Vergangenheit nie voneinander getrennt sind, sondern einander vielmehr stets erschaffen. Der Roman Beszterce ostroma (1894; Der Graf und die Zirkusreiterin, 1955, M. Schüching – G. Engl – H. Weissling) etwa lässt Mittelalter und Neuzeit, feudale und bürgerliche Welt in den Konflikten zwischen einem Burgherrn, der ein archaisches Gutsherrenleben führt, und seiner Umwelt aufeinandertreffen. Graf István Pongrácz, charakterisiert von einer durch zeitlich-historische Konfrontationen geformten Ironie, ist ein Sonderling, der als Typ auf die Gestalt des Don Quijote verweist. Der Anachronismus der adligen Tugenden und Prinzipien isoliert ihn,
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aber seine Heterotrophie stellt auch seine Umwelt in ein kritisches Licht. Die bürgerliche Welt weist somit keine Wertüberlegenheit gegenüber der adligen Vergangenheit auf: Die wechselseitige Fremdheit beider schafft vielmehr die Möglichkeit, einander zu interpretieren. Ebenso bricht der Roman Új Zrínyiász (1898; Neue Zrinias) mit der aufklärerischen Idee des historischen Fortschritts. Einer der Haupthelden im Kampf gegen die Eroberung durch die Türken im 17. Jahrhundert, der aus Szigetvár stammende Miklós Zrínyi, ersteht der Fiktion nach auf, erscheint unerwartet im Ungarn des Jahrhundertendes und macht durch seine grotesken Abenteuer auf die Relativität der Wertordnung der verschiedenen Epochen aufmerksam. Auch der Kurzroman A beszélő köntös (1889; Der sprechende Kaftan, 1966, E. Székács) spielt während der türkischen Besetzung; hier wird das Schicksal der Figuren durch die unterschiedliche Auslegung bestimmter Schriftzeichen – auf Kleidungsstücke aufgenähter geheimnisvoller Muster und ihrer Fälschungen – in der christlichen und muslimischen Kultur bestimmt. Der Text spielt auch poetisch auf die ethischen und sprachlichen Probleme – auf die moderne Relativität – der Relation von Original und Kopie an und bringt dadurch einerseits die Offenbarungen eines möglichen Dialogs vollkommen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Sphären, andererseits den zerstörerischen Mangel an gemeinsamen ‚Lesarten‘ ins Spiel. A fekete város (1910; Die schwarze Stadt, 1953, H. Weissling – G. Harmat) zeigt am auffälligsten von allen Werken Mikszáths, wie sich die Historizität auf eine Spiegelung der Topoi der Temporalität und der Multikulturalität – als Zeit und Raum –, auf eine auseinander erfolgende Perzeption stützt. Die Vorvergangenheit gewinnt durch die frappant unterschiedliche Beziehungsordnung der ethnischen Vielfalt eine historische Perspektive, parallel dazu zeichnen sich die nationalen Identitäten in einer abwechselnden Verkettung von Zusammenarbeit und Konflikten ab. Schauplatz des Romans, der an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert während des Freiheitskampfes gegen die Habsburger spielt, ist ebenfalls das damalige Oberungarn, das Komitat Szepes und seine überwiegend von Ungarndeutschen bewohnte Stadt Lőcse (Leutschau). Der Konflikt ist dadurch als historisches Geschehnis zu betrachten, dass sich die gemeinsame Vergangenheit der Stadt und des Komitats – die auch durch den Ursprung bestimmte Identität – von selbst umkehrt. Die Vorfahren des Vizegespans des Komitats, Pál Görgey, der mit der Stadt Lőcse in einen Konflikt gerät, waren Deutsche, sie siedelten die Sachsen im damaligen ungarischen ,Oberland‘ an. Die in Lőcse lebenden Sachsen aber wollen ihre Legitimität unter Berufung auf eine alte königliche Urkunde aus dem 14. Jahrhundert neu festlegen und die Grenzen ihrer Siedlung erweitern; nun sehen sie sich mit Görgey konfrontiert. Der Vizegespan schießt nämlich infolge eines Konflikts auf den Richter von Lőcse, der ums Leben kommt, da der Senat ihn absichtlich verbluten lässt, um sich eine
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Rechtsgrundlage zur Vergrößerung des Stadtgebiets zu verschaffen. Die Wendungen der Handlung ermöglichen mehrere, einander zuweilen ausschließende Interpretationen, und die Figuren zerfallen in widersprüchliche Rollen. Der spätere junge Stadtrichter Antal Fabriczius beispielsweise ist in Görgeys Tochter Rozália verliebt, verurteilt diesen jedoch – ohne zu wissen, dass es sich um Rozálias Vater handelt – am Schluss zum Tode. In der anekdotischen Struktur des Textes dominiert teils eine groteske, teils eine idyllische Modalität, die am Ende durch die Hinrichtung von Pál Görgey eine unerwartete, aber nicht unvorbereitete tragische Entwicklung nimmt. Dies steht im Einklang damit, dass die Poetik des Romans durch die Spannung zwischen dem notwendigerweise geschlossenen Rahmen der Handlungsstruktur und der Offenheit der anekdotischen Erzählweise bestimmt wird. Schließlich können die doppelten Rollen – und die dementsprechend offene Struktur – nicht länger aufrechterhalten werden, die geheimen und verborgenen Zusammenhänge der Geschichte werden offenbar, und weder der groteske noch der idyllische Ton können bestehen: Dieser Moment beendet den Roman. Die konfliktfreien sprachlichen und kulturellen Bindungen der Nationalitäten leiden am Schluss ebenfalls: Die Verschlechterung des freundschaftlichen Verhältnisses wird dadurch wirkungsvoll markiert, dass die erste längere deutschsprachige Einlage im Medium der bis dahin ungarischsprachigen Kommunikation nichts anderes ist als eine streng amtliche Verlesung eines Gesetzesartikels, der das Todesurteil des Vizegespans untermauert. (Der deutsche Text des sächsischen Gesetzbuches „Zipser Willkühr“ trägt als Hinweis auf die harmonische Vergangenheit des Zusammenlebens die Spuren der ungarischen Rechtsschreibung.) Lőcse erscheint durch all das als eine moderne Figurierung des romantischen Stadttopos, in der die Unterschiede zwischen zentraler und peripherer Lage relativ werden. Die umfassende ,große Erzählung‘ der Geschichte verschwindet, um ihren Platz einer aus der Sicht des Konflikts Stadt–Komitat beschreibbaren, von dort aus interpretierbaren Ereignisreihe zu überlassen. Der Konflikt zwischen den Kurutzen und den Labantzen, sogar zwischen den Ungarn und den Türken verliert gleichermaßen das heldenhafte Pathos des Freiheitskampfes; an seine Stelle tritt eine Auffassung, die die Repräsentation nationaler Interessen relativiert.
IV.3.2 Detektivstory und Reportage in der Hochliteratur Mit dem Namen Kálmán Mikszáths kann auch einer der größten Welterfolge der ungarischen Literatur verknüpft werden: Szent Péter esernyője (1895; Sankt Peters Regenschirm, 1898, O. Krücken). Der Roman erzählt die Geschichte über Nachforschungen zu einer verborgenen Erbschaft und einer damit verbundenen Lie-
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besromanze; die populären Gattungstraditionen der abenteuerlichen Detektivgeschichte und der romantischen Legende werden synthetisiert. Der Titel nennt das Emblem des Textes, dessen zweifache Interpretation die beiden Handlungsfäden zusammenfasst und beleuchtet. Die Legende von Sankt Peters Regenschirm und die Ermittlungen des Erben György Wibra nach dem beträchtlichen Vermögen seines Vaters bieten ein Spiel der Spiegelung von zwei ganz unterschiedlichen – Züge einer hagiographischen Auffassung und einer Detektivstory aufweisenden –, aber dennoch wechselseitig lesbaren, meisterhaft behandelten Fiktionsmodellen (Imre 1996, 293–309). Dies wird vor allem durch Verfahren erreicht, die später in der postmodernen Literatur radikalisiert wurden, wie beispielsweise durch das von seinem eigenen ‚Ursprung‘ unabhängig werdende Lesen von Spuren, durch den Bezug der Fiktionen aufeinander und durch den einfallsreichen, kontextabhängigen Wechsel der Rollenkreise. Veronika Bélyi erkennt z. B., dass sie selbst eine der Figuren in der Geschichte ist, die man ihr am Ende erzählt: Sie ‚trägt sich‘ also in eine ihr bis dahin fremde Ereignisreihe ‚ein‘. Eine Lockerung der Grenzen zwischen Fiktion und Außenwelt ist zugleich nur in Bezug auf die Figuren und ihre Umwelt wahrnehmbar und erstreckt sich nicht auf den Leser des Romans. Die postmoderne Literatur wird das Außenstehen des Lesers später entschieden infrage stellen – so traf Szent Péter esernyője mit der genannten Lösung genau die Erwartungen des Publikums seiner Zeit. Der Erfolg des Romans charakterisiert gut den herausragenden kanonischen Rang von Mikszáths Lebenswerk, er vereint in der modernisierenden ungarischen Literatur beinahe als Einziger den poetischen Innovationsbedarf der Moderne mit der Popularität des aus der spätromantischen Epik (z. B. aus den Werken von Jókai) schöpfenden Stils. Eines der Werke der ungarischen Literatur, das auffällig die oben erwähnte Veränderung der Publizierungskanäle reflektiert, ist der Reportroman A Nosztyfiú esete Tóth Marival (1908; Die Geschichte des Jungen Noszty mit der Mari Tóth, 1989, A. Oplatka). In seiner Form kommt nämlich der Gegenüberstellung zwischen Medien der Schrift und Rede eine sehr wichtige Rolle zu. Die Poetik des Romans führt – selbstreflexiv – auch auf thematischer Ebene die geschichtenformende Fähigkeit einerseits der massenhaften Vervielfältigung der gedruckten Texte und der Intimität der Handschrift, andererseits der mit diesen beiden Medien verbundenen Redeformen auf. Bereits dadurch, dass der Erzähler selbst die traditionelle – und hier abgelehnte – Erzählweise aus dem Märchen herleitet, während er die Schriftlichkeit des Reports betont. Aber da die anekdotische und märchenhafte Erzählweise auch in diesem Werk nicht fehlt, lassen sich aus dem Text zweierlei Geschichten – eine sich auf zwei Ebenen entfaltende Handlungsreihe – herauslesen: Die eine setzt sich aus einer Reihe unterschiedlicher Schriftakte und die andere aus parallelen Redeformen zusammen. Die ästhetische
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Abb. 19: Die historische Tarock-Partie. Auf dem Ölgemälde von Artúr Ferraris, 1894, sind u. a. Mór Jókai, Kálmán Tisza, Kálmán Mikszáth, Baron Frigyes Podmanitzky und Lajos Csernátony zu sehen
Wirkung des Werks ist größtenteils von der Relationalisierung dieser beiden Medien durch den Leser abhängig. Durch die schriftlichen Elemente – die mit der „toten Hand“ des Heiligen Königs Stephan geschriebene, d. h. für gefälscht gehaltene Urkunde und Signatur, die Wechselfälschung, die Ausfüllung der Schecks, die Briefe und Briefreste, die Zeitungsanzeigen, die politischen Entwürfe und sonstigen Aufzeichnungen – entwickelt sich eine beigeordnete Struktur der Handlung, die im Gegensatz zu den als verbal markierten Äußerungen des Erzählers und der Figuren (Anekdoten, Legenden, Gerüchte und viele Dialoge) steht. Durch diese Doppelheit aber kann eine exponierte Liebesgeschichte als Mitgiftjagd und zugleich als Ausdruck eines aufrichtigen Gefühls beschrieben werden. Der Geldjäger Feri Noszty verliebt sich schließlich wirklich in die reiche Mari Tóth, aber die Beweiskraft der früheren schriftlichen Dokumente besiegt die Zuneigung, die sich zwischen den jungen Leuten entwickelt, und macht eine Heirat unmöglich. Deshalb kann die Tatsache, dass es nicht zu einer Heirat kommt (die Beschämung des Noszty-Clans), gleichzeitig auch als ein Scheitern der Familie Tóth interpretiert werden. In der Handlung des ‚Reportromans‘ siegt folglich die Schrift über die Rede. Das erscheint nicht als eine nebensächliche Aufzeichnung, sondern als eine verselbständigte Macht, gewissermaßen signali-
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sierend, dass die Grapheme nicht lediglich als Spiegel der Phoneme, sondern als eine mit diesen gleichrangige Konstante der Sprache fungieren können. Der Roman thematisiert und poetisiert ferner mit einem ganzen Arsenal von Redeweisen sehr subtil die sozialen, kulturellen, politischen und Nationalitätenverhältnisse und behandelt die Mentalität der Gentryschicht und die der bürgerlichen Welt gleichermaßen ironisch.
IV.4.1 Einflüsse des Naturalismus Die Funktion des Beobachters und Berichterstatters, die der Erzähler im NosztyRoman übernimmt, ist in der Epik am Ende des 19. Jahrhunderts keine seltene Entwicklung und hängt mit der Sichtweise einer der wichtigen Richtungen der Moderne, des Naturalismus, zusammen (Bori 1989). Die zur Analogie der damaligen ‚sachverhaltsklärenden‘ positivistischen Wissenschaftlichkeit und zum ‚Versuchsroman‘ Zolas ausgestaltete Poetik des Naturalismus trug durch einen – vom Anekdotismus grundlegend verschiedenen – sachlichen Stil zur Geschichte der ungarischen Epik bei. Diese Richtung entfaltete sich vor allem auf dem Gebiet der Kleinprosa, unter Nutzung der Kompositionsmöglichkeiten des Novellenzyklus. Mit dem an die ganzheitliche Konzeption von Zola erinnernden mehrbändigen Romanfluss mit der Generationen überspannenden Beschreibung einer biologischen Determination experimentierte einzig und allein Zsigmond Justh (1863– 1894) in seiner unvollendeten Serie A kiválás genezise (1893–1895; Die Genese der Selektion), die aber kaum beachtenswerte poetische Innovation aufweist. Ein als ‚Auftakt‘ des ungarischen Naturalismus berühmt gewordenes Werk ist der Band Nyomor (1884; Elend) von Sándor Bródy (1863–1924). Wie schon der Titel andeutet, beschäftigt sich der Zyklus mit den Schattenseiten der Gesellschaft und mit der städtischen Armut, aber auf eine von den bekannten französischen und deutschen Modellen ganz differenzierte Weise. Beispielsweise setzt sich der Ton einer romantischen Liebesleidenschaft ebenso durch wie die mit satirisch-ironischen Nuancen assoziierte Erzählung des Zustandes des Ausgeliefertseins. (Eine spezifische Verbindung des Naturalismus mit der spätromantischen Sentimentalität wurde übrigens bereits im Roman Anatole von István Toldy [1844–1879] geboten, der in französischer Umgebung spielt und 1872 erschien.) An manchen Stellen treffen wir auf eine beinahe schon parodistische Umkehrung einer sentimentalen Fabel, die vor den naturalistischen Kulissen eine besondere Wirkung hervorruft. In der Erzählung Egy tragédia (Eine Tragödie) zum Beispiel kommt ein habitueller sentimentaler Sprachgebrauch in Verbindung mit der Mästung und dem Tod eines Schweins vor. Der stilistische Eklektizismus ist ein beliebtes Verfahren von Bródy: das ist auch in seinen
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Romanen – so in der von Maupassant inspirierten Karrieregeschichte A nap lovagja (1902; Der Held des Tages, o. Ü., 1913) – wahrnehmbar, aber besonders sein späterer Rembrandt-Zyklus (Rembrandt, 1925) zeigt auffallend synkretistische Züge. Der Zyklus geht ähnlich wie Rilkes Todesauffassung, seine im Lichte des Todes erlebte Lebenserfahrung, auf die einzelnen Episoden in Rembrandts Leben ein und bricht bereits mit dem naturalistisch-ästhetischen Programm. Neben den verschiedenen sprachlichen Schichten – Mundart, Stadtslang, mythischer Wortgebrauch, das Malerische der Sezession – tauchen auch Zeichen der Avantgarde (Expressionismus, Surrealismus) auf, zusammen mit dem ‚lebensnahen‘ Aktivismus des Bruchs mit der Fiktion, dem ‚persönlichen‘ Auftritt des Verfassers. Ein anderer bedeutender Novellenzyklus des ungarischen Naturalismus ist das 1886 erschienene Werk Tantalus (1886) von Elek Gozsdu (1849–1919). Die mythische Anspielung auf das unbefriedigte Verlangen von ‚Tantalos‘ metaphorisiert das im sozialdarwinistischen Sinn aufgefasste Gesetz des ‚Daseinskampfes‘, das als Herrscher auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie dargestellt wird und hier die thematische Einheit – das wiederkehrende Schema – der Novellen bildet. Mehrere Erzählungen in dem Band sind von Rahmen umgeben: Der Erzähler trifft jemanden, der ihm die bisherige Geschichte seines Lebens erzählt. Die Struktur soll den Eindruck der Objektivität erwecken und dem positivistischen Beobachtungsideal entsprechend die Notwendigkeit der Verkettung der Schicksalsereignisse ‚wissenschaftlich‘ beweisen. Die Hauptfigur in der Novelle Az étlen farkas (Der hungrige Wolf) teilt die Menschen ähnlich wie Raskolnikows Theorie (Dostojewski: Schuld und Sühne) in ‚Starke‘ und ‚Schwache‘ ein; den Ersteren sei auch das Morden gestattet, wobei der Mangel an Gewissen als Kriterium für die ‚Größe‘ gilt. Doch auch diese Figur ist nicht fähig zu rebellieren und kommt gesetzmäßig und schmählich zu Fall, später wird aus dem Protagonist ein einfacher Dieb, während der Erzähler seine Amoralität nicht kommentiert, sondern gewissermaßen für eine natürliche Erscheinung hält. Die damalige russische Literatur übte großen Einfluss auf Gozsdu aus: sein Roman Köd (1882; Nebel), dessen Thema der zeitgenössische ungarische Schriftsteller László Márton in einem Drama wiederaufnahm, ist auch als Turgenjew-Paraphrase lesbar. Die Gozsdu-Novellen berufen sich mitunter auch auf den Spleen von Baudelaire, z. B. zitiert er nicht nur im Buchtitel französische Dichter, sondern auch in seinem Motto, und deutet so die Mentalität seines Helden an. Die Novellistik István Tömörkénys (1866–1917) verbindet die naturalistischen Tendenzen mit dem Regionalismus – die Stadt Szeged und ihre Umgebung sowie die Uferregion der Theiß werden thematisiert – und mit einer Nostalgie für die dörflich-bäuerlichen Landschaften. Seine Texte kennzeichnen die Erzählerposition kaum: Der Narrator tritt in den Hintergrund und ist nur als sachlicher
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Augenzeuge zugegen, zugleich ist seine Sicht – wie bei Mikszáth – dennoch Teil der heraufbeschworenen Welt (Betyárlegendák, 1898, Betyarenlegenden; Vízenjárók és kétkezi munkások, 1902, Schiffer und Handarbeiter; Napos tájak, 1908, Sonnige Landschaften; Egyszerű emberek, 1912, Einfache Menschen). Seine Werke, die reportartig soziale Probleme ansprechen, bedienen sich ebenfalls der zweischichtigen Erzählweise. Seine charakteristischen Figuren gestaltet er nach den Gattungserwartungen der Genrebilder, die als archetypisch angesehenen Züge der Schäfer, Pferdehirten, Wegelagerer und Feldhüter werden dabei verstärkt. In den anekdotischen Beschreibungen der Sonderlinge setzen sich teils der idyllische oder humorvolle Stil des Volksmärchens, teils der balladistische Stil des realistischen Genrebilds durch. In ihnen erscheinen die romantische Vorahnung, der mythische Volksglaube, die Rätselhaftigkeit der Welt der Fischer und zuweilen das Gefühl einer Macht des unvermeidlichen Schicksals (Tiszai legenda, Legende der Theiß). Die Fatalität – aus naturalistischer Sicht: Determination – ist in den tragisch gestimmten Novellen Tömörkénys als eine Folge der Armut wahrnehmbar, die unglücklichen Zufällen ausgeliefert ist (Megöltek egy legényt, Ein Bursche wurde getötet; Valér a földbe megy, Valér geht unter die Erde). Stellenweise tauchen bei ihm infolge der Lyrisierung volkskundlicher Elemente auch impressionistische Züge auf (Hajnali sötétben, Im Dunkeln des Morgengrauens). Diese stilistische Vielfalt weist ebenfalls darauf hin, dass die Entstehung der modernen Prosa weniger in Bezug auf deklarierte Richtungen charakterisierbar ist, sondern vielmehr hinsichtlich der Sprachlichkeit der Erzählweise (Németh G. 1985).
IV.4.2 Feuilletonnovelle – dramatische Novelle Sind die Werke István Tömörkénys ohne die oben genannten Merkmale der Feuilletonnovelle nicht charakterisierbar, so kann das Gesamtwerk von Zoltán Thury (1870–1906) unter die typischsten Äußerungen der Gattung eingeordnet werden. Einen seiner Bände gab Thury mit einem diesbezüglichen rhematischen Titel heraus (Tárcanovellák, 1894; Feuilletonnovellen). Am charakteristischsten für seine Novellen ist die sachlich-beschreibende, nach Objektivität strebende Methodik des Naturalismus, die illusionslose Knappheit, die radikal verschärfte Thematisierung des Ausgeliefertseins der kleinen Menschen im Daseinskampf. Die gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen besetzen bei ihm nunmehr vollkommen die Welt der menschlichen Innerlichkeit; so sehr, dass sie die letzten Reste des Anscheins von Unabhängigkeit immer wieder vernichten. Die Inhalte der Subjektivität werden zumeist eliminiert, die Figuren reproduzieren als Subjekte lediglich die ihnen von der Macht vorgeschriebenen Verhaltensmuster und
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Normen. In den besten Novellen Zoltán Thurys wird nur das im modernen psychologischen Sinn genommene Verhalten (behavior) der quasi zu einer Marionette gewordenen (Diákok, Schüler) oder selbstzerstörerisch und vergeblich revoltierenden Figuren (Szerencsétlenség, Unglücksfall) zum Ausdruck gebracht. Der Text sieht so fast vollständig vom Allwissen des in die Seele blickenden Erzählers ab und führt die Geschehnisse einzig in einer Art dramatischer Inszenierung auf. Thury hat damit nicht nur die dramatische Novelle, einen der am weitesten verbreiteten Novellentypen des Jahrhundertendes, weiterentwickelt, die sich an den medialen Rahmen der Feuilletonnovelle sehr gut anpasst; sein tragikomischer Ton, ja sogar seine schon karikaturartige und stark reduzierte Ausdrucksweise nehmen die Sichtweise der absurden Literatur gewissermaßen vorweg. Im Text von Diákok etwa werden die Personen im perfekt formalisierten Herr-Diener-Verhältnis mehrfach ausgewechselt: Dieselben Figuren gelangen einmal in eine Macht-, einmal in eine Unterstellten-Position. Aber in beiden Fällen befolgen sie widerstandslos die Regeln ihrer Rollen und machen von der Gestik der gebieterischen Überlegenheit ebenso Gebrauch wie von der des demütigen Gehorsams. Ein herausragender Meister der dramatischen Novelle war István Petelei (1852–1910), bei dem, ähnlich wie bei Gozsdu, Turgenjews Einfluss auffällt. Seine Geschichtenführung verlässt sich auf komplex ausgearbeitete Dialoge und bringt gemeinsam mit der stellenweise Bühnenanweisungen gleichenden Knappheit der Rede des Erzählers seine im tragischen Ton konzipierten Werke der Gattung Ballade näher (Vidéki emberek, 1898; Ländliche Leute). Der verschärfte Gegensatz zwischen Einzelidentität und Schicksalszwang schlägt auch bei ihm mehrmals in die Atmosphäre der Tragikomik um, mehr als einmal einhergehend mit einer schon grotesken Bedeutungslosigkeit der Subjektivität (Árva Lotti, Lotti, die Waise; Az alku, Der Handel). Die Atmosphäre einer Region und eines ureigenen kulturellen Kolorits – der siebenbürgischen Landschaft – ist auch in seinen Texten wahrnehmbar. Vor allem im Medium der Visualität: Zur wildromantischen Suggestion der siebenbürgischen Landschaft und zur geschlossenen Atmosphäre des Kleinstadtmilieus trägt die unvollständige Struktur der Dialoge, die moderne Poetik des Verschweigens bei. Auf die Gegenüberstellung von Sichtelementen und Sprachlauten stützt sich eine der hervorragendsten Erzählungen Peteleis (Őszi éjszaka, Herbstnacht), in der die Anthropomorphisierung der Natur ein zerstörendes und im Sterben liegendes Gesicht auf die Landschaft zeichnet. Die Parallele Mensch–Natur begünstigt den Selbstausdruck der Innerlichkeit nicht, im Gegenteil: Das Bild der Umgebung gewinnt in der Sprache der Figurenrede mit vernichtender Kraft die Oberhand. Der Anblick, der Tod suggeriert, verwandelt die menschliche Rede schließlich in einen unartikulierten Schrei. Die Poetik ähnlicher medialer Widerstreite gewinnt später in den Novellen von Dezső Kosz-
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tolányi – z. T. unter Verwendung der sezessionistischen Stilsprache – ihren bekanntesten und auf subtilste Weise modernen Ausdruck.
IV.5 Narration und Subjektivität Neben der Verbreitung der naturalistischen Stilelemente und der anekdotischen, analytischen und dramatischen Gattungsentwicklungen erschienen in der ungarischen Prosa des Jahrhundertendes auch Züge, die auf eine viel radikalere Weise die Neuheit der modernen Erzählprosa aufweisen: den Bruch der Einheit des Subjektes, die Auslöschung der Realitätsreferenzen und ihre Übertragung in den ästhetischen Hermetismus, die ‚lyrische‘ Assoziativität der inneren Monologe, die Auflösung der kausalen Handlungsstruktur, die metaphorische Anpassung der narrativen Segmente, die wichtige Funktion der Stilisierung, Bildhaftigkeit, Modalität (Dobos 1995, 73–87), die Erschütterung oder das Verschwinden der Metaposition des Erzählers sowie die Intertextualität, die den Rezipienten zu Aktivität ermutigt, an das Zusammenspiel der Zitate appelliert und die ‚Originalität‘ relativiert. Diese Bestrebungen versuchte die Literaturgeschichte lange Zeit traditionell entlang der nach Stilen oder ästhetischen Programmen beschreibbaren Richtungen (Symbolismus, Sezession, Impressionismus) zu charakterisieren. Aber die poetische Praxis und heute aktualisierbare Interpretationen überschreiben diese Unterscheidungen nach den bereits genannten Aspekten von der Subjektkonstruktion bis hin zur Form der Diskursivität. Darum soll vor der Behandlung des Gesamtwerks der in der Zeitschrift A Hét (Die Woche) und später auch im Nyugat publizierenden Autoren auf eines der in den vergangenen beiden Jahrzehnten am augenfälligsten ‚neu entdeckten‘, mehrmals veröffentlichten und in zahlreichen Studien interpretierten Werke eingegangen werden (vgl. z. B. Pozsvai 1998), das noch in den 1870er Jahren verfasst wurde: auf den Kurzroman Álmok álmodója (1878; Träumer der Träume) von János Asbóth (1845–1911). Der Text ist imstande, vor allem durch die Verbindung komplexer narrativer Formen, ferner durch die verschiedenartigen Gattungsformationen (Brief, Tagebuch, Biographie), die vielseitigen modal-stilistischen Register (sentimentale, ironische, pathetische Redeweise) und die modernisierende Auffassung des Subjekts bis heute eine bleibende Wirkung auszuüben. Diese Verfahren stellen das Werk vor allem durch eine Dekonstruktion des romantischen Entwicklungsromans in den Horizont der Moderne. Die Hauptfigur Zoltán Darvady sehnt sich nach einem romantischen Schicksal und stellt sich einen von Anfang bis Ende dauernden, irgendwo beginnenden und irgendwo ankommenden Lebensweg vor. Darvady lebt im Zauber seiner ‚Träume‘ vom Anfang und Ende. Und obgleich er immerfort in der Möglichkeit einer
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Entfaltung enttäuscht wird, verzichtet er dennoch nicht auf eine teleologische Steuerung seines Daseins und stürzt sich in immer neue ‚Träume‘. Seine ständigen Misserfolge führen schließlich zu einer bereits ironischen Einstellung, da er in einem schablonenhaft-didaktischen moralischen Befehl der gesellschaftlichen Nützlichkeit und der Betätigung nach Bestätigung für seine Bestrebungen sucht. Diese Ironie stützt sich in hohem Maße auf die poetische Funktion von Gasttexten, auf das Verhältnis von zitierter und zitierender Textstelle, auf die zwischen diesen beiden zustande kommende Bedeutungsmodifizierung, deren Rezeption eine erhöhte Aktivität erfordert. Auch generell erhalten die Verweise auf die europäische Kunst und Geschichte und auf die unmittelbare Umwelt in diesem in Venedig spielenden Roman eine bedeutende Rolle. „Du bist Venedig!“ lautet der erste Satz im Roman, er regt gewissermaßen einen Dialog mit der italienischen Stadt an, deren Anblick, im Medium konkreter sinnlicher Erfahrungen, im Licht der alltäglichen Eindrücke die Perspektive der diesbezüglichen ‚großen Narrativen‘ bricht. Ein wichtiges Merkmal der Sprache des Textes ist ihre Musikalität: Viele Sätze und Wendungen sind als Index ihres eigenen artistischen Modus nach prosodischen Rhythmusformeln lesbar. Die Schopenhauer’sche Resignation als ‚Desillusion‘, als Erfahrung der mit dem Verschwinden der romantischen gesellschaftlichen Aufgaben funktionslos werdenden Subjektivität, ist ebenso in dem Roman Apai örökség (1884; Väterliches Erbe) von Gyula Reviczky (1855–1889) erkennbar. Der zweiten Ausgabe, die nur drei Jahre später erschien, gab der Autor einen anderen Schluss: In der einen begeht die enttäuschte Hauptfigur Selbstmord, in der anderen bleibt ihr weiteres Schicksal unbekannt. Der Grund für die Abweichung liegt in der positivistischen Hervorkehrung der Prinzipien der Erblehre in der zweiten Version, wo sich auch die biologische Determination nicht nur des ‚väterlichen‘, sondern auch des lebensunterstützenden ‚mütterlichen‘ Erbes durchsetzt.
IV.6 Kunst, Mythos, Medialität Die vorigen Zeichen der Auffassung vom Individuum erscheinen äußerst spektakulär in den Werken der Epoche, die die Wirkung der französischen Literatur widerspiegeln, insbesondere auf dem Gebiet der ‚analytischen‘ Prosa, der Gleichniserzählung und der damit mit Vorliebe assoziierenden modernen mythopoetischen Verfahren. Die Anzeichen eines intensiven Interesses an der französischen Kultur weist zum Beispiel die Prosa von Zoltán Ambrus (1861–1932) auf, der viel aus der Schreibkunst von Gustav Flaubert, Anatole France und aus den Kulturansichten von Renan und Taine schöpfte. Sein vielfältiger Stil, der stark intellektuell gefärbte, essayistische Einlagen verwendet und vom sezessionisti-
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schen Pomp bis zur naturalistischen Beschreibung, vom Sentimentalen bis zum Satirischen reicht, setzt sich sowohl in seinen mit mythologischen Intertexten operierenden Märchennovellen als auch in seinen Künstlerromanen durch (Midás király, 1891/92; König Midas; Solus eris, 1901; vgl. Bürger 1992). Durch die Gegenüberstellung der ‚künstlerischen‘ und der ‚bürgerlichen‘ Dimension formt er, typisch für die Sichtweise der klassischen Moderne, eine nur ästhetisch erschaffbare hermetische Welt der seelischen und geistigen Werte, die auf das ‚alltägliche Leben‘ verzichten muss und aus ihm herausgehoben ist, und gleichzeitig ihren tragischen Verlust. Sein Roman Midás király entfaltet aus einem in der Moderne mehrfach bearbeiteten Mythologem die Geschichte eines Talents, das „Gold macht“, das Reichtum erlangt und zugleich die „Lebendigkeit des Lebens“ durch den Zauber der Werke ersetzt und sich auf diese Weise selbst zerstört. Die Erzählung des Schicksals des Kunstmalers ebnet ferner einem bildlichen Sehenlassen und einer Poetik den Weg, die sich auf die Interpretation bildkünstlerischer Werke stützt. Der Roman stellt, kombiniert mit an die Gattungen Tagebuch und Brief geknüpften philosophisch-essayistischen Einlagen, in betont unterschiedlichen Medien (von der Ausstellung bis hin zum geheimen Atelier), aus den Perspektiven der verschiedenen Figuren die den Historismus der Sezession repräsentierenden Malereien der fiktiven Hauptfigur vor. Durch all das ist der Midas-Mythos im Roman in der Lage, den Ästhetizismus der Jahrhundertwende wie auch seine Kritik zu artikulieren (vgl. Bohrer 1983). Das Werk von Zoltán Ambrus erschien erstmals 1891 und 1892 in der Tageszeitung Magyar Hírlap (Ungarisches Blatt) in Fortsetzungen und wurde 1906 als Band herausgegeben. Der Unterschied zwischen den beiden Publikationsweisen beeinflusste die Rezeption des Werkes stark. Die Fortsetzungspublikation nutzte nämlich die durch eine Segmentierung beeinflussbaren Operationen des Lesens, ihre pro- und retrospektiven Aspekte, gründlich aus. Die durch die Unterbrechungen des Textes erzeugte Appellstrukur verblasste jedoch in der Buchpublikation. Daraus erklärt sich, dass der Publikumserfolg der Buchausgabe weit hinter dem Interesse zurückblieb, das durch die Fortsetzungspublikation geweckt wurde. Im Fall von Mikszáths Werken ist kein solcher Unterschied erkennbar, da der Autor sorgsam die Besonderheiten der Publikationsformen beachtete: Falls er es für notwendig erachtete, überarbeitete er den Text grundlegend.
IV.7 Verdoppelung, Verwandlung, Phantastikum In A Hét wurden am Ende des Jahrhunderts viele Werke der Prosaepik veröffentlicht, die das Verhältnis von Sprache und subjektiver Identität am augenfälligsten modernisierte, u. a. ein Großteil der Novellen von Károly Lovik (1874–1915)
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und Viktor Cholnoky (1868–1912). Die besten dieser wegen ihrer Themen als ‚psychologisch‘ bezeichneten Erzählungen führen die Anregungen der romantischen Literatur fort, die die cartesianische Fixiertheit des Ichs und der Welt oft durch die Formen der Phantastik verunsichert (vor allem durch den Einfluss der Werke von E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe). Die Verdoppelung der Persönlichkeit (manchmal der Auftritt von Doppelgängern), ihr durch das von der Geburt bis zum Tode beschreibbare Schicksal nicht identifizierbare Wesen, ist oftmals durch eine ‚Irrealität‘ artikulierbar, die über den alltäglichen Rahmen der Wahrnehmung hinausgeht. Die Besonderheit der Phantastik ist nämlich nicht lediglich durch die Anwesenheit furchterregender und geheimer Elemente erklärbar, sondern durch die Unentschiedenheit des Verhältnisses zwischen realen und irrealen Elementen, also die Dramatik des Doppelsinns (Todorov 1970, 42–45). Die Erfahrung, dass sich das menschliche Dasein nicht in eine Einheit fassen lässt, löste die lineare Logik der Narrative und ihre rational-kausale Kontinuität auf, verstärkte den widersprüchlich-aporetischen Charakter der Erzählung und spitzte das disharmonische Verhältnis zwischen Ich und Sprache zu. Der Titelheld in der Novelle Olivér lovag (1905; Ritter Oliver) von Viktor Cholnoky beispielsweise ist ein Gespenst, genauer eine Leiche, die sich von der Totenbahre erhebt und an ihrem alten Feind, dem Nachbarn Bischof Bulcsú (Bultschu) rächt. Bulcsú stirbt auf der ‚realen‘ Ebene der Fiktion, aber sein Tod tritt durch ganz und gar ‚irreale‘ Ereignisse ein. Diese Ereignisse aber sind eine auffällige Aufhebung der Figurenidentitäten, sogar eine Vertauschung der Charakterzüge, d. h. derjenigen Elemente der kulturellen Tradition, die das ‚Ich‘ bestimmten. Die Familie des Ritters Olivér ist französischer Herkunft, sein Urahn ist der „große Roland“, der legendäre Held. Bischof Bulcsú aber bewahrt neben all seinem christlichen Glauben die Kampfentschlossenheit seiner heidnischen Vorfahren in sich. Beide Figuren erkennen also sich selbst als ein durch die kulturelle Wende erschaffenes Wesen. Aber die im Bischof lebende heidnische Kraft hat den französischen Ritter besiegt und ihm seinen Besitz weggenommen. Olivér trug sich mit Rachegedanken, und am phantastischen Schluss tötet er den Bischof, indem er aus seinen eigenen Traditionen heraustritt und die heidnische Vergangenheit des Feindes zu Hilfe ruft. In der Nacht nach seinem Tod bricht er nämlich in Begleitung ungeheuerlich wilder Hunnenhunde gegen Bulcsú auf. Bulcsú stirbt tags darauf tatsächlich, während sich auch an seinem Körper ein auf die historische Vergangenheit hinweisender Identitätswechsel vollzieht: Bei einem Gespensterspuk wurde das irritierend ehrbar graue Haar und der Bart des Bischofs durch sein eigenes Blut wieder braun gefärbt, während das dunkle Haar des Ritters weiß wurde. Also wird nicht die innere Integrität der Persönlichkeit weiter geformt, sondern zwischen den persönlichkeitsbildenden Symbolen baut sich eine gewisse Relation auf, deren Veränderungen das Schicksal des Subjekts
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schreiben. Ein ähnliches Verhältnis zwischen Symbol und Geschichte ist charakteristisch für viele Novellen Viktor Cholnokys (Amenhotep; Az alerion-madár vére, Das Blut des Alérion-Vogels), in denen die Einzelschicksale durch eine Ordnung des Wandels der kulturell-sprachlichen Zeichen als eine Reihe von phantastischen Wendungen eines über dem Subjekt stehenden Mediums festgelegt werden. Eine Lesart, die auf all das reagiert, kann auch auf die zyklische Anlage der ansonsten selbständigen Trivulzió-Novellen aufmerksam werden. Amanchich Metell Trivulzió ist eine für die Multikulturalität der österreichisch-ungarischen Monarchie charakteristische, auch in seinem Namen vielfarbige, auf mehrere Nationalitäten hinweisende Figur. Die Geschichten des Abenteurers lassen sich in vielerlei Hinsicht mit den späteren berühmten Novellenserien Szindbád von Gyula Krúdy und Esti Kornél von Dezső Kosztolányi in Verwandtschaft bringen. Die Texte Cholnokys sind durch die Reflexion auf die ,sichtbare Sprache‘, auf das Medium der Schrift sogar imstande, zu zeigen, dass die Sinnschicht der Erzählung (Diskursivität) nicht unabhängig von der Anordnung der Buchstaben (z. B. von der Einfügung einer den Redegang zerbröckelnden Kapitelnummer) ist: […] Hier unterbrach ich die bereits beim dritten Grog angekommene Geschichte von Amanchich Trivulzió und III. fragte ihn: – Ich hoffe, Ihr habt bis morgen früh zu Abend gegessen? (Taddeusz lovag vacsorája, Ritter Taddeus’ Abendessen, Cholnoky 2001, 29–30, Ü: Verfasser).
In diesem Satz gelangt die mit einem Schriftzeichen erfolgende Gliederung durch die Unterbrechung der Rede in Äquivalenz. Die drastisch eingeschriebene Materie der Kapitelnummer jedoch weist auch auf den immateriellen Sinnkreis der Rede hin, ohne die eine Erinnerung unmöglich ist. Dass das schriftliche Medium Einfluss auf die Entstehung eines Narrativs hat, taucht in der modernisierenden ungarischen Literatur auch in der Perspektive der Phantastik als häufige Erfahrung auf. Der Ich-Erzähler in Károly Loviks Novelle A halál kutyája (1903; Der Hund des Todes) ist ein Journalist, der für sein Blatt über gesellschaftliche Konflikte – Streiks, Demonstrationen – berichtet. Er merkt, dass dort, wo er erscheint, blutige Kämpfe ausbrechen und Todesfälle passieren. Diesmal berichtet er über einen Streik auf dem Lande, indem er die Züge der Grausamkeit auf das ‚Gesicht‘ der Umgebung schreibt. Langsam stellt sich heraus, dass er nicht lediglich aus den Vorzeichen auf die Katastrophen folgert, sondern dass gerade seine Anwesenheit – seine journalistische Tätigkeit – der geheimnisvolle Grund für die Katastrophen ist. Er lernt die Legende
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vom Hund des Todes kennen: wem sich dieses Tier nähert, der wird bald sterben. Im Traum sieht er sich als Hund des Todes, kurz darauf kommt es zu einem Kampf zwischen den ausgerückten Ordnungskräften und den Streikenden, in dessen Folge gerade die Menschen sterben, mit denen der Journalist am vorigen Tag Kontakt hatte. Der unerklärbare, sich allein durch mediale Vermittlungen entfaltende Zusammenhang zwischen den drei Ebenen (Legende, Traum und ‚Wirklichkeit‘) bildet folglich die phantastische Handlung und ihre gleichzeitige Aufzeichnung. Was der Reporter aus den unheilvollen Vorzeichen ‚herausliest‘, bringt er zu Papier, verleiht ihm im Grund genommen ‚Gesicht‘ durch seine Berichterstattung. Die Aufzeichnung der Information ist eine ‚teuflische‘ Kraft: sie materialisiert die unheilvollen Zeichen und ermöglicht damit ihre Umkodierung sowohl in das Subjekt (Traum) als auch in die äußere Handlung (Salvenfeuer). Die Werke von Lovik assoziieren das Phantastische mehrmals mit den Elementen des Wahnsinns, wobei die gewohnten Konturen der Subjektivität weiter aufgelöst werden (Egy orvos naplójából, Aus dem Tagebuch eines Arztes). All das wird zuweilen auch durch die Klischees des romantischen Märchens ergänzt (Nathanael). Die Komposition des Novellenzyklus erscheint in seinem Lebenswerk (Egy elkésett lovag, 1915; Ein verspäteter Ritter), obgleich sich die Erinnerungstechnik dieses Bandes auf eine weniger moderne Weise, eher nach dem nostalgischen Erklärungscharakter des sentimentalen Tagebuchs, entfaltet. Dass die klassisch-moderne Formenlehre der Prosaliteratur der dem Auftritt des Nyugat vorangehenden Jahrzehnte praktisch nach über einem halben Jahrhundert des rezeptionsgeschichtlichen Schweigens erneut in den kritischen Horizont gelangte, bedeutet für die Kanonisierung zweifellos einen Nachteil. Dieser Nachteil kann aber zum Vorteil werden, wenn die erneute Interpretation der Periode weniger mit der ideologischen Bürde ringen muss, die der Rezeption vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt wurde. Diese Art der Kanonisierung jedoch konnte die Kinderkrankheit der ‚Entdeckungs‘-begeisterung nicht umgehen, die vor allem bei Viktor Cholnoky und später bei Géza Csáth wahrnehmbar ist. Die Forschungen der letzten Jahre lassen aber zunehmend das Gefühl hinter sich, ‚zu spät gekommen‘ zu sein, und setzen eine ‚Nachträglichkeit‘ der Erfahrungen der gesamten Moderne durch.
IV.8 Lyrik nach János Arany Die Historizität der ungarischen Lyrik weist am Ende des 19. Jahrhunderts ein sehr widersprüchliches Bild auf. Einerseits tauchen Stilzeichen des Symbolismus
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und Impressionismus auf, die mit neuen europäischen Strömungen zusammenhängen, andererseits geht die Dichtkunst dieser Periode – neben partiellen Erneuerungen in ihrer Gesamtheit – wenig über die Ausdrucksweise der romantischen Poetik hinaus und kehrt zumeist zur sentimental-religiösen Diktion der ersten Hälfte des Jahrhunderts zurück. Der herausragendste Dichter der beiden Jahrzehnte nach Aranys Tod ist János Vajda, der in der Mitte des Jahrhunderts zu dichten begonnen hatte und von dem bereits die Rede war. Aktualität gewinnt seine Lyrik allerdings weniger durch ihre symbolistischen Elemente, sondern eher aus der Perspektive der modernen Baudelaire’schen Allegorie, selbst wenn er sich zu Beginn seiner Laufbahn auf die Formen der Volkstümlichkeit stützte. Der volkstümliche Stil, der sich – im Einklang mit den Ansichten von Pál Gyulai, einem namhaften Kritiker seiner Zeit – auf Petőfi und Arany berief, kann um die Jahrhundertwende bereits als anachronistische Richtung gelten, was jedoch seiner Popularität keinen Abbruch tat (Mihály Szabolcska, Andor Kozma, Miklós Bárd, Lajos Pósa). Diese Dichter vermeinten, die städtische Entfremdung durch eine Aufrechterhaltung und Idealisierung der Gewohnheiten und Geschmacksformen der ländlichen und dörflichen Völkergemeinschaft zu überwinden. Die eine Zeitlang allgemein beliebte, aber bald in Vergessenheit geratene Dichtkunst von Sándor Endrődi, Gyula Rudnyánszky, Árpád Zempléni und Emil Ábrányi versuchte ebenfalls, den Sentimentalismus und den Ton des Biedermeiers fortzuführen. Unter den Anhängern von Arany kamen der assoziative Wagemut von József Kiss und die elegische Feinheit von Gyula Vargha den sich in der Zeitschrift Nyugat durchsetzenden, modernen ästhetischen Prinzipien am nächsten (S. Varga 1994). Neben Vajda hebt die Rezeptionsgeschichte zwei Dichter als Vorbereiter der ungarischen literarischen Moderne hervor: Gyula Reviczky und Jenő Komjáthy. Die neuartigen Züge in der Lyrik Reviczkys (1855–1859) sind aber eher nur auf thematischer Ebene – durch Verweise auf bestimmte ,großstädtische‘ Erfahrungen – nachweisbar. Seine Gefühlsdichtung steht der sentimentalen Version der Romantik näher als den kühneren Bildhaftigkeiten des Symbolismus. In seiner spezifischen ‚Humorphilosophie‘, die sich auf die christliche Liebesreligion und die Ansichten von Schopenhauer, Jean Paul, Renan und Tolstoi stützte, verband er die Anteilnahme mit Zügen der Resignation. Er veröffentlichte zwei Gedichtbände (Ifjúságom, 1883; Meine Jugend; Magány, 1889; Einsamkeit), in denen er die Gattungen Lied und Ode mit einem elegischen oder pathetischen Ton assoziierte und seine Verse oft in straffen jambischen Zeilen zu einem Liederzyklus organisierte (Emma; Perdita). Die sich vom volkstümlichen Stil entfernende Liedform lernte er vor allem aus der Dichtkunst von Heine und Lenau, während er hinsichtlich der Musikalität und Formdisziplin Verlaine nahe steht.
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Abb. 20: Christus vor Pilatus. Das Ölgemälde von Mihály Munkácsy, 1881, wurde später als erster Teil der Christus-Trilogie bekannt
Das lyrische Ich im Band Ifjúságom gerät oft in Situationen der moralischen Wahl, es preist die Tugend einer Unabhängigkeit, die sich auf Verzicht und innere Werte beruft, die ihm zur Stärkung seiner Subjektivität und seines autonomen Selbstbewusstseins dienen. Die Konfrontation mit der Außenwelt führt zuweilen zur Inszenierung eines Kampfes mit Satan selbst, zu einer Art dialogisch-apostrophischer Diktion (Sátán, Satan). Demgegenüber sind die Jesus apostrophierenden Verse grundlegend monologisch (Jézus Pilátus előtt; Jesus vor Pilatus; I.N.R.I.). In seinem Band erscheinen östliche Philosophie und die Stimme des Buddhismus als Ausdruck des Verlangens nach einer sich aus der Welt zurückziehenden Vernichtung (Nirvána). Magány bildet aus den zur Gattung Epitaph (Grabvers) gehörenden Werken einen kurzen Zyklus. Aber die Anrede der verstorbenen Schöpfer (József Katona, János Arany, Iwan Turgenjew) bietet dem Sprecher ebenfalls Gelegenheit, die Perspektive seines eigenen Ichs durchzusetzen, wobei er sich kaum von den heraufbeschworenen Lebenswerken beeinflussen lässt. Der Band enthält die bis heute bekanntesten Verse Reviczkys, darunter die Elegie (Magamról, Über mich), die unmittelbar Schopenhauers Ansichten („die Welt ist nur eine Laune“) wiedergibt, und die aus der griechischen Mythologie schöpfende Rhapsodie (Pán halála; Pans Tod). Letztere handelt vom Wandel zwischen antiker und christlicher Kultur und wurde zu Recht Reviczkys berühmtestes Werk; in ihm ergänzen sich die dialogischen Szenen sehr wirkungsvoll mit der kosmischen Vision.
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A homályból (1895; Aus dem Dunkel), der einzige Band von Jenő Komjáthy, der lange mit Reviczky zusammen erwähnt wurde, aber eine ganz andere Diktion verwendet, steht der symbolistischen Ausdrucksweise im Grunde genommen näher, obgleich seine metaphysisch geprägte Dichtung ebenfalls sehr viel vom Prophetismus und manifestierenden Charakter der Romantik bewahrt. Seine fließenden Verse brachte Mihály Babits in Verwandtschaft mit dem Stil von Shelley. Sie konzentrieren sich auf allgemeine Daseinsfragen, ihre Hauptgattung ist daher die Ode bzw. ihre rhapsodische und hymnische Variante. Komjáthys künstlerisches Weltbild wurde durch die Philosophie Spinozas, Schopenhauers und Nietzsches und die Theosophiebewegung des Gnostizismus geformt. Seine Bestrebungen trugen vor allem in Bezug auf die eine gedankliche Abstraktheit anstrebende symbolistische Rhetorik zur Erneuerung der ungarischen poetischen Sprache bei. Die Formdifferenz und Monotonie des Großteils seiner Werke mindert jedoch das Niveau seiner poetischen Leistung. A homályból stellt in der Geschichte der modernisierenden ungarischen Lyrik erstmals den Versuch an, eine der charakteristischen Formen der Epoche zu schaffen: eine Bandkomposition, die über den bloßen Sammlungscharakter hinausgeht. Der eigenhändig edierte Band ist natürlich eine alte Erscheinung, aber das Werk Komjáthys führt alle wesentlichen Komponenten der lyrischen Rede – ihre Motivik, ihren Stil, ihr Bildliches, ihre Reihe der Ich-Formen – über den Stellenwert ihres Vorkommens hinaus. Das Gedichtbuch organisiert er so zu einem einheitlichen Kunstwerk, das über die Details hinausgeht, und umgekehrt: Den einzelnen Gedichten lässt er über die Werkgesamtheit ein Mehr an Bedeutung angedeihen. Sein Verfahren ist in der Relation zwischen der Einleitung zum Band (Dichtung des Titelgebers) und dem Band als Ganzem wahrnehmbar. Bereits die erste Zeile enthält auch die im späteren Verlauf grundlegende Polarität: „Ki fény vagyok, homályban éltem“ („Licht bin ich, im Dunkel lebte ich“, Komjáthy 1995, 7, Ü: Verfasser). Gegenüberstellungen von Licht und Dunkelheit, Vergangenheit und Gegenwart, Ich und Nicht-Ich kommen durchgängig vor und signalisieren die wichtigsten Charakteristika des lyrischen Ichs: seine heuristische Selbsterkenntnis, die sich aus der Verborgenheit löst, sein lichtartiges Wesen, das das Universum (den Kosmos) durchdringen will, und den Charakter der zeitlichen Gegenüberstellung dieser Veränderung. Die Komposition des Buches wiederholt im Grunde genommen die Struktur des Eröffnungsgedichts, in dem die Rede auf das Verborgensein, die Einsamkeit und die Qualen kommt sowie auf eine ekstatische Verwandlung, die durch eine von selbst eintretende Wende zustande kommt, auf das Sichergießen ins Universum und die ‚Gottwerdung‘ des durch das Licht symbolisierten Ichs: Jelenések (Erscheinungen), Újjászületés (Wiedergeburt), Diadalének (Triumphgesang).
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Der moderne Charakter von Komjáthys Lyrik liegt in erster Linie im poetischen Ausdruck der erwähnten gnostischen Spaltung (Ich–Nicht-Ich). Damit artikuliert sich nämlich von Fall zu Fall eine Teilung der Persönlichkeit, die sich im dialogischen Verhältnis der grammatischen Formen ‚ich‘ und ‚selbst‘, ‚ich‘ und ‚du‘ sowie ‚ich‘ und ‚er‘ bzw. ‚sie‘ ausdrückt. Der etymologisierende Wortgebrauch, die Alliterationen, die zuweilen anachronistischen Ausdrücke und die ungewohnten Wortzusammensetzungen suchen das ‚Geheimnis‘ des menschlichen Daseins und der Glückseligkeit in der Sprache selbst und vermeinen, es in ihrer dichterischen Neugestaltung zu finden: Du bist des Lebens, nicht des Todes! Durch alle Weltenräume flog es, Das hohe, hehre Wort. Du bist, und wirst nimmer zu nichte, Du gehst entgegen dem Gotteslichte, Dort ist dein Heim und Hort. (Du bist, ein deutschsprachiges Gedicht von Komjáthy, Komjáthy 1995, 253)
Diese Dichtung wurde bereits von der Mitwelt vor allem wegen ihrer mystischen Bezüge für eine absolut ungewohnte Einzelerscheinung gehalten. Die literarische Wirksamkeit Komjáthys blieb im öffentlichen literarischen Leben fast bis zu seinem Tod beinahe unbekannt, erst das Erscheinen seines Gedichtbandes und das positive Echo lenkten die Aufmerksamkeit auf ihn. Es entwickelte sich sogar kurzzeitig ein lebendiger Kult um ihn, hauptsächlich im Kreis der Dichter, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zu schaffen begannen (Mihály Babits, Dezső Kosztolányi, Gyula Juhász). Danach ließ das Interesse an ihm nach; erst am Ende des 20. Jahrhunderts zeigte die ungarische Literaturwissenschaft Ansätze zu einer Neuinterpretation. Da sein Gesamtwerk eine solch spezifische Version der symbolistischen Mythopoetik repräsentiert, ist es leicht in eine allegorische Perspektive zu setzen. Welch unerwartete Entwicklungen die Neuinterpretation der ungarischen Moderne im Kanon der Epoche bewirkt, signalisiert auch das zunehmende Fachinteresse an der lange kaum gelesenen Dichterin Minka Czóbel (1855–1947). Etliche Momente in ihrer Lyrik scheinen hinsichtlich der Form der Moderne heute bereits komplexer vorhanden zu sein als in den Werken Komjáthys und vor allem Reviczkys. Die Dichterin leistet besonders auf dem Gebiet der Bildhaftigkeit, der Visualität (Ekphrasis), literarisch Herausragendes, indem sie beispielsweise den Anblick und die Vision – die optische Wahrnehmung und die Einbildungskraft – in eine wechselseitig metaphorisierende, poetisch ausgearbeitete Verbindung bringt. In ihrem Band Maya (1893) experimentiert sie auch mit freien Versen bzw.
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rhythmischer Prosa; zuweilen sind Visualität und Malerei auf selbstspiegelnde Weise Thema dieser Gedichte (Képtár; Gemäldegalerie). A virradat dalai (1896; Die Lieder der Morgendämmerung) dekonstruieren die romantische Parallele zwischen Natur und Mensch einerseits hinsichtlich der Entfremdung des Individuums, andererseits hinsichtlich der nichtkommunizierbaren Originalität. Selbst die ‚eigene Seele‘, d. h. auch das innerlichste Ich, wird für den Sprecher in der ästhetizistischen Tragikauffassung unzugänglich, eine Disharmonie zwischen der Sprache und dem Ich – die von Hofmannsthal im „Chandos-Brief“ formulierte Krise des subjektzentrierten Ausdrucks – nimmt er ebenfalls als einen Verlust wahr. Zugleich bleiben viele ‚naturbeschreibende‘ Gedichte von Minka Czóbel im Kreis der sentimentalen Moralität der Epoche, obgleich in ihnen auch die sinnliche Schwelgerei, die zuweilen ‚morbide‘ Dekorativität, die märchenhaft-mythische Irrealität, die teils sublimierte, teils verblüffend offene Erotik der Sezession erscheint (A szerelem evolutiója, Die Evolution der Liebe; Donna Juana). Im Band Opálok (1903; Opale) verstärkt sich zugleich die Poetik der sprachlichen Selbstpräsentation, die sich von der Annahme der Objektivität der Dinge entfernt und dem farbenprächtigen und visualitätsschaffenden Bildlichen des Impressionismus zuwendet. So löst sich – ganz in Schopenhauers Sinn – das Subjekt von der Sicht, dass die Schönheitsanbetung der „wunschlosen Glückseligkeit“ auch als buddhistische Unpersönlichkeit artikuliert werden kann. Damit jedoch vollzieht der Band auch einen wichtigen Schritt in Richtung der sachlichen Dichtkunstauffassung (Régi ház, Altes Haus). Der anspruchsvollste Band von Minka Czóbel, Az erdő hangja (1914; Der Ton des Waldes) enthält eines ihrer meistanalysierten Werke, den Zyklus Tükrökről, szobákról (Über Spiegel und Zimmer). Die poetische Sprache repräsentiert auch hier nicht die niemals in der ‚wahren‘ Wirklichkeit, sondern nur in ihren Spiegelbildern wahrnehmbare äußere und innere Welt, sie betrachtet vielmehr das Spiel der dynamischen ‚Spiegelung‘ der Zeichen und Bedeutungen als Eigenfunktion. Dementsprechend werden die Stabilität des Ichs und der symbolistische Charakter der Bilderschaffung eliminiert, um die allegorischen Bezüge zu bestärken. Aber damals herrschte in der ungarischen Lyrik hinsichtlich der Repräsentation der Moderne bereits der Kanon des Nyugat und dessen symbolistisch-ästhetische Verssprache, und das allegorisierende Artistikum von Minka Czóbel blieb von der wirkungsvoll durchgesetzten Konzeption der Zeitschrift her praktisch unbemerkt. Die Gründung der Minka-Czóbel-Gesellschaft durch junge Studenten um die Jahrtausendwende ist eine Fortsetzung ihrer nach den 1970er Jahren durch Sándor Weöres angeregten Neubewertung. Neben all dem bietet die ungarische Lyrik vom Ende des 19. Jahrhunderts nur wenige Möglichkeiten dazu, ihren Kanon an der Jahrtausendwende ähnlich intensiv neu zu positionieren wie den der Prosaliteratur. Das Auftreten der Dichter
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des Nyugat scheint viel ‚revolutionärer‘ gewesen zu sein als die Lyriker des Jahrhundertendes. Auch hat die Poetik der modernen ungarischen Lyrik – eine einerseits im Zeichen des Symbolismus (Ady), andererseits der Objektivität (Babits) angekündigte Bestrebung – aus heutiger Perspektive keinen solch radikalen Bruch mit der Sprache der Romantik vorgenommen, wie es sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen darstellte. Zweifellos ist das Verhältnis von Romantik und Moderne hinsichtlich ihrer Kontinuität oder Trennung ein wiederkehrendes Dilemma auch für die internationale Forschung. Und obgleich die genannten Verschiebungen des Kanons auf eine nunmehr zeitgemäßere Rezeption der Historizität der Moderne weisen, konnten sie keine Leistung zutage fördern, die mit der damals voll entfalteten Dichtkunst von János Vajda gleichrangig wäre. Das Auftreten von Ady, Babits und Kosztolányi kann folglich in der Geschichte der ungarischen Lyrik – zumindest hinsichtlich des poetischen Niveaus – nach wie vor als Wende angesehen werden (vgl. MIT 2007. Bd. 2).
Literatur Benjamin 1969 = Benjamin, Walter: Ein Lyriker im Zeitalter d. Hochkapitalismus. 2 Fragmente. H/N: Tiedemann, Rolf. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bodnár 1988 = Bodnár, György: A ‚mese‘ lélekvándorlása. A modern magyar elbeszélés születése. Budapest: Szépirodalmi. Bohrer 1983 = Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. H: Bohrer, Karl Heinz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983 (Edition Suhrkamp, 1144 = N.F., 144). Bori 1989 = Bori, Imre: A magyar irodalom modern irányai. Bd. 2. Naturalizmus 1. Újvidék: Forum. Bürger 1992 = Bürger, Peter: Prosa der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1013). Cholnoky 2001 = Cholnoky, Viktor: Összegyűjtött művei. H: Szántai, Zsolt; Urbán, László. Szeged: Szukits. Dobos 1995 = Dobos, István: Alaktan és értelmezéstörténet. Novellatípusok a századforduló magyar irodalmában. Debrecen: Kossuth Egyetemi (Csokonai könyvtár, 4). Durzak 1980 = Durzak, Manfred: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen. Stuttgart: Reclam. Eisemann 1998 = Eisemann, György: Mikszáth Kálmán. Budapest: Korona (Klasszikusaink). Friedrich 1992 = Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. N: Stackelberg, Jürgen von. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB (Rowohlts Enzyklopädie, 420). Hajdu 2005 = Hajdu, Péter: Csak egyet, de kétszer. A Mikszáth-próza kérdései. Budapest: Gondolat; Szeged: Pompeji (deKON-KÖNYVek, 32). Imre 1996 = Imre, László: Műfajok létformája XIX. századi epikánkban. Debrecen: Kossuth Egyetemi (Csokonai könyvtár, 9).
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V Ästhetisierung der Sprache Klassische Moderne zwischen Metaphysik des Artistischen und Neusituierung des Subjekts (um 1895–1932) V.1 Jahrhundertwende: Gesellschaft, Kultur, Politik. Lebensweltliche Muster und Paradigmen der literarischen Kommunikation Die Schwierigkeiten in der Entwicklung des ungarischen Bürgertums, seine vergleichsweise schwache Rolle in der politischen Führung des Landes (entgegen dem Adel) bis zur Jahrhundertwende haben seiner kulturellen und intellektuellen Orientierung insofern keinen Abbruch tun können, als diese Schicht, im Allgemeinen die Mittelklasse (darunter die Intellektuellen und gebildeten Beamten bzw. Angehörige des Kleinadels), auf dem Weg in das neue Jahrhundert immer mehr zur Trägerin der neuen kulturellen und künstlerischen Inhalte avancierte. Auch Angehörige des Kleinadels (oft Beamte adliger Herkunft) verstanden sich immer mehr als Intellektuelle. Die liberale Gesinnung der politischen und gesellschaftlichen Führer des Landes im Zuge des Ausgleichs von 1867 zwischen Österreich und Ungarn, der das dualistische Staatssystem ermöglichte, das entsprechende soziale und kulturelle Klima und der wirtschaftliche Aufschwung ebneten letztlich der Etablierung des Bürgertums in einem breiten Spektrum den Weg. Allerdings geschah diese Ausdifferenzierung in enger Verzahnung mit Figuren und Verschiebungen in Selbstverständnis und Rollenmustern der Adelsgesellschaft, aber auch in den sozialen Milieus etwa des Kleinbürgertums, der Handwerkerschaft und der ausgebildeten Angestellten, so ist eine teleologische Betrachtung der Entwicklung des Bürgertums nicht unproblematisch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ungarn war das Zentrum der kulturellen Modernität, der künstlerischen Modernismen und der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Modernisierung weitgehend die Hauptstadt Budapest (zu diesem dreifachen Begriffsraster vgl. Calinescu 1995, zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung und ihrem Einfluss auf die Kulturalität um die Jahrhundertwende vgl. Lackó 1994, zur Moderne und ihren Strömungen in der ungarischen Kultur und Literatur nach 1900 vgl. Szegedy-Maszák 1995, 151–161; Lukacs 2004). In ihr wandelte sich die Physiognomie des Lebens am schnellsten und umfassendsten in die Richtung der neuen kulturellen und technischen Lebensstile und prägenden soziologischen Verhältnisse (vgl. Lukacs 2004; Gyáni 2008).
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Der Großteil sowohl der bürgerlichen Gesellschaftsschichten als auch der Arbeiterklasse lebte am Anfang des neuen Jahrhunderts in Budapest. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts war die Bevölkerung von Budapest alles andere als homogen, weder sprachlich (es gab große deutschsprachige Schichten) noch gesellschaftlich (auch territorial, zwischen Pest, Ofen und Altofen). Der rasante Bau von Mietskasernen und -häusern – wie im Wien und Berlin der Gründerzeit – führte innerhalb weniger Jahrzehnte zur Vervielfachung der Bevölkerung in der Hauptstadt. Doch darf dieser Vorrang der Hauptstadt nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in verschiedenen Regionen des östlichen Teils der Monarchie wichtige Stätten der sich etablierenden bürgerlichen Schichten und ihrer Kultur entstanden sind und bei der Entwicklung der künstlerisch-literarischen Phänomene, zumindest bei der kulturell-mentalitätshaften Bewusstseinsbildung der Künstler und der Autoren Pate gestanden haben. In der Gesellschaftsschicht des Kleinadels – der wichtigsten sozialen Trägerin der Kulturinhalte und Literaturproduktion beinahe im ganzen 19. Jahrhundert –, in seiner kulturellen Profilierung hat die fiktionale Literatur in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer mehr Interesse gefunden, neben dem traditionellen Vorrang von Jura und Geschichte (vgl. Gyáni 1999). Wir können hier nicht zu der viel diskutierten Frage Stellung nehmen, inwieweit in der politisch-gesellschaftlich-kulturellen Struktur der Monarchie – vor allem im ungarischen Teil – deren Zusammenbruch bereits (zumindest partiell) vorprogrammiert gewesen sei. Tatsache ist jedoch, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1914 die Chance eines differenzierten urbanistischen Umfelds durchaus und zwar in produktiver Weise gegeben war. Die bürgerliche Gesellschaftsschicht, ihre Kultur florierte auch außerhalb von Budapest, z. B. in Nagyvárad und Kolozsvár (Oradea/Großwardein und Cluj-Napoca/Klausenburg, heute Rumänien), Kassa (Košice/Kaschau, heute Slowakei) und Szabadka (Subotica/MariaTheresianopel, heute Serbien) – um nur Städte zu erwähnen, die 1919/20 von Ungarn abgekoppelt wurden. Die Impulse der Sozialisationsinstanzen der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur in der Provinz waren beträchtlich, entstammten doch alle maßgeblichen Innovatoren der ersten Nyugat-Generation der Literaten diesen Provinzzentren. Die soziokulturelle Bewusstseinsbildung im Zuge der bürgerlichen Kultur auf dem Lande hat tiefe Spuren im Schaffen, in der literarischkulturellen wie weltanschaulichen Mentalität der Autoren hinterlassen, wie das wohl am eindrücklichsten im autobiographischen Werk des Kaschauer Autors Sándor Márai, Egy polgár vallomásai (1934; Bekenntnisse eines Bürgers, H. Skirecki), dargestellt wird. Die jüdischstämmige Bevölkerungsschicht spielte übrigens auch in der Provinz eine wichtige Rolle, in Großwardein etwa waren 22 Prozent der Bevölkerung Juden (vor dem Ersten Weltkrieg). Das kulturelle Potential der Assimilationsprozesse im Falle des Judentums hat sich freilich besonders in Budapest
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hervorgetan, was z. B. die Verknüpfung der großstädtischen Kultur mit der literarischen Produktion, die Beziehungen zwischen literarischer und wissenschaftlicher Kultur anbelangt (vgl. Békés 2004). So sind die Parallelitäten zwischen der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Modernisierung und dem ästhetischen Modernismus in der Kultur Ungarns um 1900 doch mehr als bedingt. Fast alle bedeutenden Literaten der wichtigsten Literaturzeitschrift Nyugat (Westen) – wie auch viele Maler – stammten vom Land und haben unter Berufung eben darauf die international-oberflächliche Kulturalität Budapests oft scharf verurteilt (nach 1919 war dies auch politisch motiviert, mit Verweis auf die kulturelle Erosion der abgekoppelten Gebiete, aber auch Ungarns selbst). Das großstädtische Leben und seine Mentalität zogen sie nur bedingt an. Wenn Budapest zu einem literarischen Zentrum gemacht werden sollte (gleichsam das Programm von Kölcsey und seiner Freunde aus der Reformzeit wiederaufnehmend), so löste dieses Vorhaben auch Widerstand aus. Zwischen ‚Kulturträger‘ und ‚Kunstträger‘ (G. Benn), zwischen gesellschaftlicher und künstlerischer Moderne gab es mitunter eine tiefe Kluft – die womöglich nur in diesem Teil der Monarchie charakteristisch war (dieser Gegensatz war für Kafka, Rilke oder Musil bei Weitem nicht im selben Maße von Belang). Viele Romanfiguren von Gyula Krúdy etwa halten sich nur zeitweise in der Hauptstadt auf, ansonsten schreiben sie in ihren Reflexionen dem Land eine besondere existentielle, gesinnungshafte und ethische Würde zu. Von den drei wichtigsten Romanen von D. Kosztolányi spielt nur der letzte (Édes Anna, s. u., Kap. V.3.2.1) in Budapest (die beiden anderen in seiner Heimat, im damaligen Südungarn), seine Hauptprotagonistin jedoch ist ein Dienstmädchen, das es aus der Gegend des Plattensees in die Hauptstadt verschlägt. Dasselbe gilt in vielerlei Hinsicht auch für Mihály Babits. Dennoch sind dies teilweise selbstinterpretierende Reflexionen und mitunter auch keineswegs unpolitische Gesten der Kunstschaffenden, haben sie die meisten ihrer Werke doch in Budapest geschaffen. Ihr Leben und ihre Erfahrungen in der Hauptstadt waren für ihr ästhetisches Verhalten unleugbar prägend. Oft hat man die Metaphern des Landes keineswegs nur referentiell zu nehmen (etwa für einen Konservatismus), sie sind häufig Interpretanten für etwas anderes, z. B. für eine intellektuelle Vertiefung gewisser Lebensinhalte und einschneidender Erlebnisse, für eine Lebensart, die das Moderne nicht nur in der unreflektierten Innovation sucht, oder auch für eine Praxis des Erinnerns (z. B. bei Krúdy), die das Ehemalige zu reflektieren versucht. In diesem Sinne ist die räumliche Beziehung Budapest–Land unter Umständen der Moderne eine syntagmatische Metapher für die zeitliche Relation des Modernen und des von ihm verabschiedeten (aber auch geschaffenen) Alten oder Gewesenen. Sie versucht diese grundlegend temporale Erfahrung (etwa das Verhältnis zur Überlieferung auch der Moderne) zu artikulieren. Die Problematik der litera-
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rischen Kommunikation in der Moderne ist in Ungarn also von einer Kulturalität und den dazu gehörenden Kulturpolitiken nicht zu trennen. Bevor man bestimmte Äußerungen vieler Schriftsteller vorschnell referentialisiert, muss man darauf achten, dass vieles, was sie aufrufen, eigentlich nur Interpretanten ihrer Erfahrungen der Modernität sind, die ihnen in der Großstadt besonders intensiv zuteil wurden. (Sonst wird man nicht erklären können, warum viele von ihrer Gesinnung her scheinbar konservative Kunstschaffende in der ästhetischen Praxis profunde Innovatoren waren, hingegen viele andere, die die sozial-wirtschaftliche Modernisierung enthusiastisch begrüßten, künstlerisch wenig Neues brachten.) Auffallend ist jedoch, wie stark etwa die verschiedenen Romanfiguren immer noch in die stratifikatorischen – von der Modernisierung eigentlich aufgelösten – Gesellschaftsformen ein-, also an angebbare soziale (Sub)systeme gebunden sind. Freilich werden diese Formen in den Erzählwerken zunehmend phantasmagorisch und die ihnen zugrunde liegenden Ordnungen verfremdet. Die hier zugrunde liegenden sozialen und politischen Entwicklungen haben ihre Schattenseiten bereits in der zeitgenössischen Empfindung gezeigt und ein gewisses Unbehagen in der Kultur bzw. Gesellschaft und Politik hervorgebracht. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts standen die liberale Verfassung und das nationale – auf historischer Basis stehende – Identitätsbewusstsein, zumindest dessen Ideologie, noch in einer Symbiose. Die Legitimation des dualistischen politischen Systems hat in Ungarn die Kombinierung des Liberalismus mit der (staats)nationalistischen Ideologie geliefert – eine Verknüpfung, die in Zisleithanien so nicht praktikabel war. An der Jahrhundertwende wurde das Konzept der Nation, das auf der historischen Tradition des Staates begründet wurde, allmählich durch den ethnischen Volksbegriff abgelöst. Der Liberalismus geriet in Defensive gegenüber dem immer aggressiveren Nationalismus und verschiedenen Radikalismen, deren Zielscheibe nebst dem ethnischen, religiösen und kulturellen Pluralismus des Landes auch der Kosmopolitismus von Budapest abgab (vgl. hierzu Gyáni 2008, 66–68; Lukacs 2004). Die neuen Sprachen der Moderne setzen – etwa infolge der gesellschaftlichen Mobilität und Umschichtung im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung und später der historisch-politischen Veränderungen (nach 1919) – der Übersetzbarkeit der kulturellen Informationen Schranken. Das Interkulturelle war ja in der Monarchie mit dem Transkulturellen auf eine besondere Art verwoben, was Prozessen zu verdanken ist, die sich als mehrfach kulturüberschreitend erwiesen (dafür sind gewisse Romane von Gyula Krúdy das beste Zeugnis, auch wenn 1919 zu keinem nennenswerten Wandel in seiner Poetik geführt hat). Da sind z. B. die verschiedenen Staatsgründungen und -bildungen, die einerseits im Spannungsfeld mehrerer kultureller und politischer Traditionen erfolgten, andererseits aber auch starke kulturbeeinflussende Bestrebungen hervorriefen, deren Scheitern
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eine komplexe, durch keine ‚Landkarte‘ erfassbare Kulturlandschaft geschaffen bzw. weitergestaltet hat. Fast sämtliche Autoren dieser Periode waren im Übrigen tief erschüttert von dem politischen – historisch bis 1989 beispiellosen – ‚Ausverkauf‘ Ungarns (Ausdruck von John Lukacs) an die Nachfolgestaaten und vor allem über den Verlust an kulturellen Beziehungen und Kontinuität. Insgesamt hat die Monarchie eine ambivalente Bewertung ex post erhalten (vgl. Vajda 1993; Gerő 2007), die sich in vielfältiger Weise in der Literatur niederschlug bzw. artikulierte (zum Gedenken an die Monarchie in der Literatur nach 1919 vgl. Szegedy-Maszák in Gerő 2007, 154–170). Von der bitteren Kritik an der Monarchie von dem Historiker Gyula Szekfű (Három nemzedék, 1919/20; Drei Generationen,) über Dezső Szabós Roman Az elsodort falu bis zu resignierten Äußerungen folgender Art reicht das Spektrum der Stellungnahmen zur historisch-kulturellen Katastrophe: Lieber Laci, Sie brechen heute nach Gastein auf, wo der alte Franz Joseph so viel gute Zeit verbrachte, als wir noch glaubten, daß wir alle ewig leben würden. Der alte Herr geht nicht mehr nach Gastein; ob Sie dort seiner Spukgestalt begegnen? … Wir alle sind, lieber Laci, mit Franz Joseph gestorben. Es ist sonderbar, doch wahr, daß dieser alte Mann, der des Ungarischen kaum mächtig war, die nie wiederkehrende Glanzperiode der ungarischen Literatur bedeutete. Überstolz waren wir auf unsere Literatur, wir prahlten mit unseren zahllosen Talenten, und wir glaubten daran, daß die ungarische Literatur sich gerade so auf ihre Unsterblichen berufen kann wie die Literaturen des Auslands. Vielleicht blieb niemand, außer dem einzigen Ady, von unserer Periode übrig, und auch er nur deswegen, weil er rechtzeitig starb … Krankheiten, Armut, Verfolgungen, gezwungenes Märtyrertum haben den Schriftkundigen die Lust am Schaffen genommen … (Krúdys Brief an Lajos Hatvany zitiert bei Vajda 1993, 90)
V.1.1 Anschlüsse an die Moderne – Konzepte der Modernität Prägend für die Modernität der Künste in Ungarn war der Umstand, dass die Moderne in Musik, bildender Kunst und Literatur ungefähr zur gleichen Zeit erschien, wofür neben den Literaten u. a. die Namen von Béla Bartók und Zoltán Kodály, ferner József Rippl-Rónai und die Schule von Nagybánya (Baia Mare/ Neustadt, heute Rumänien) anzuführen sind. Diese Parallelität bzw. wechselseitige Erhellung und Befruchtung zeigte sich übrigens im Werk vieler Literaturund Kunsttheoretiker, von Lajos Fülep bis Leó Popper, dem früh verstorbenen Jugendfreund und überlegenen Mitdenker von Georg Lukács. Auch der Freudianismus, die Psychoanalyse und die neueren literarischen Strömungen treten fast zeitgleich auf – im Jahre 1910 erscheint Lélekelemzés (Psychoanalyse), das erste umfassende Werk von Sándor Ferenczi. Das psychoanalytische Gedankengut oder verwandte Aspekte haben vielerlei Spuren in der
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Literatur hinterlassen, in der aktuellen Periode vor allem in der Erzählkunst (in zentralen Werken von Csáth, Krúdy, Babits, M. Kaffka, Kosztolányi und anderen; vgl. Csaba Pléh in: MIT 2007. Bd. 2, 771–790). Die narrative Behandlung z. B. der Kinderpsyche wird zu einem wichtigen Signifikationsrahmen mancher Texte – hier verbinden sich die Thematisierung der Jugend als Emblem und Bewegkraft des Modernismus (Assmann 2007) und der unberührten Potentialität der (kindlichen) Seele. Mehrere Bildungs- und Erziehungsromane – die Verwirrungen des ungarischen Törleß darstellend – bei Babits und Kosztolányi (aber auch Móricz: Az Isten háta mögött, s. u., Kap. V.3.1.1) stehen in einer interessanten Spannung zur mehrheitlich zurückblickenden, vergangenheitsbehafteten narrativen Perspektive bei Krúdy, die hier nicht näher beleuchtet werden kann. Diese Spannung zeugt gleichwohl von der Komplexität der Zeitauslegung in der modernen ungarischen Erzählprosa. Ferner entwickelte sich die ungarische Wissenschaftlichkeit bis 1918 in einem breiten und zudem interdisziplinären Austausch zwischen den internationalen Orientierungen und den ungarischen Traditionen, oftmals auch im Werk ein und desselben Autors (dafür steht als einer der Wichtigsten Melchior Palágyi). Dieser Kontinuität tat der Pariser Friedensvertrag Abbruch, indem wichtige Städte, Bildungsstätten, Regionen und mit ihnen eine Reihe von internationalen geistigen Verbindungen für Ungarn verloren gingen. Im gesellschaftlichen Bereich kann man natürlich nicht umhin, vor allem in Budapest auf die Rolle der Kaffeehäuser hinzuweisen, die als Orte vielfacher Begegnungen zwischen Literaten, Wissenschaftlern, Ärzten und LeserInnen fungierten und einer ausdifferenzierten gesellschaftlichen Kultur Ausdruck verliehen (vgl. Lukacs 2004). Zur berühmten Gruppe „Vasárnapi Kör“ (Sonntagskreis) und der kurzlebigen Zeitschrift Szellem (Geist) zählen neben Lukács u. a. Béla Balázs, die Kunsthistoriker Lajos Fülep und Charles de Tolnay, die Essayistin Emma Ritoók, der Kunstsoziologe Arnold Hauser und der Soziologe und Politologe Karl Mannheim (neben Béla Bartók, Zoltán Kodály, dem Systemtheoretiker Béla Zalai, Michael Polanyi u. a.). Überhaupt bildet sich eine breitere literarische Öffentlichkeit dank der sich etablierenden Presse aus (zu Beginn des neuen Jahrhunderts ragt z. B. der Pester Lloyd hervor, herausgegeben vom Vater des späteren NyugatRedakteurs und Publizisten Ignotus), und man kann die Tatsache nicht stark genug betonen, dass viele Schriftsteller auch Journalisten waren, von Kosztolányi bis Márai (etwa die Gattung der Kurzgeschichte beim Ersteren sowie die Verknüpfung der scharf beobachteten empirischen Details und Sprachnuancen mit verallgemeinernd-diskursiven Folgerungen in der Schreibkunst des Zweiten lassen sich ohne den journalistischen Hintergrund nicht angemessen verorten). Gleichzeitig verschieben sich die Denkhorizonte die literarische Traditionsbildung sowie das autopoietische System ‚Literatur‘ überhaupt betreffend. Alle
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Richtungen setzen jeweils auf ihre eigene Weise auf die „Inklusion des Publikums im Kunstsystem“ (vgl. Luhmann 1986), in der Unterschiedlichkeit ihres Traditionsverständnisses und Kulturkonzeptes aber verfahren sie nicht selten auf diametral entgegengesetzte Weise: Die Vertreter einer ästhetizistischen Moderne rechnen mit der Exklusivität des Literarischen in Anbetracht seiner immanenten Überlieferungslogik bzw. seiner Verankerung mal in der weltliterarischen, mal in der nationalsprachlichen und -historischen Tradition; die Begründer der soziologisch-politischen bzw. metaphysischen Zeitschriften Huszadik Század (Zwanzigstes Jahrhundert) und Szellem denken primär in internationalen und weniger einzelsprachgebundenen Kontexten; die Avantgardisten möchten jegliche funktionale Geschlossenheit des Literatursystems aufgeben, wobei sie dieses freilich umso mehr ausweiten; die volksliterarische Richtung will im Interesse der Einbeziehung unterer Gesellschaftsklassen den exklusiven Bildungskode im Literatursystem abbauen. Die Einseitigkeiten der meisten dieser Strömungen lassen sich auch auf die Ungleichheiten der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in Ungarn zurückführen. Wichtig ist hier, dass all diese Richtungen und Modellbildungen in der Inanspruchnahme verschiedener Traditionen ihrerseits auf das temporale Zwitterding ‚Modernität‘ reagieren, das die Ausdifferenzierung des Literatursystems sowohl vorantreibt als auch blockiert. Insofern das Literarische seine Einlösung in der Gegenwart nicht als solche darreichen, sondern angesichts einer offenen Zukunft nur versprechen oder präsentieren kann, ist es sowohl auf seine eigene funktionale Schließung als auch auf ihre Öffnung angewiesen. Erst in den ersten anderthalb Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts sind die institutionellen Aspekte der literarischen Kommunikation in dem Maße abgesichert und die Infrastruktur des literarischen Feldes komplett, dass das in der Moderne verkörperte Versprechen des Neuen mit der Autonomisierung des Literatursystems einhergehen kann. (Diese beiden Momente werden zu wechselseitigen, untrennbaren Interpretanten füreinander.) Auf Letztere sind nämlich auch diejenigen angewiesen, die sie gewissermaßen brechen wollen. Solche Institutionen sind primär Zeitschriften, von denen der Nyugat (Westen) wohl die herausragendste ist, insofern in ihm viele wichtige literarische Publikationen erschienen (obzwar ihre Hegemonie auch fraglich ist). Der Erfolg des Nyugat ist zu einem großen Teil der institutionellen und kanonisierenden Tragweite der Literaturkritik zu verdanken, diesem Dispositiv wurde vor Nyugat etwa von der Zeitschrift A Hét (Die Woche) zu seinem Funktionieren verholfen. Freilich hat das programmatische Wirken des Nyugat z. B. die poetischen Errungenschaften der Erzählkunst der Novellisten der Jahrhundertwende auch verdrängt. Diese hatten jedoch zu einem früheren Zeitpunkt eine poetologische Modernisierung zumindest in der Prosa erzielt, welche für grundlegende Strukturen der literari-
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schen Kommunikation tiefere Implikationen hätte haben können (vgl. das Kap. IV). Dieses Phänomen ist u. a. auf die traditionelle Vorrangstellung der Lyrik in der ungarischen Literatur, in diesem Fall auf die überall nachhallende Wirkung von Endre Ady, zurückzuführen. Es ist aber durchaus anzunehmen, dass auch vor dem Auftritt der Nyugat-Autoren in der Lyrik vielerlei moderne Züge von der medialen Reflexion der Schreibszene bis zu depersonalisierenden Ausdrucksweisen erprobt wurden, von AutorInnen, deren kanonischer Rang weit hinter dem des Nyugat zurückbleibt (hierzu vgl. Bednanics 2009).
V.1.2 Die Zeitschrift Nyugat (1908–1941) Diese Zeitschrift wurde erklärtermaßen zum Forum der neuen Literatur, legitimiert vor allem durch die Autorität und das Beispiel von Endre Ady, der führenden lyrischen Stimme der modernistischen ungarischen Literatur (zu Nyugat generell vgl. Kenyeres 2001, 32–62; Szabó B. 1998 und Szegedy-Maszák in MIT 2007. Bd. 2, 704–722). Dem Nyugat gelang es, aufgrund einer auf hohem Niveau vertretenen ästhetizistisch-modernen Einstellung und weltliterarischen Orientierung den poetischen, weltanschaulichen und philosophischen Pluralismus am umfassendsten – in der Literaturproduktion, der Kritik und der literarischen Übersetzung – zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Diese Vielfalt gilt auch in (inter) medialer Hinsicht: Das Monopol der Schriftlichkeit wird infolge mehrerer Reflexionen auf die rasante Verbreitung zeitgenössischer Speichermedien infrage gestellt. Ferner wird der Nyugat auch von der Einsicht in die Wichtigkeit der Literaturkritik geprägt: Hier wurde diese auf hohem Niveau praktiziert, in Bezug auf ungarische wie ausländische Werke (etwa die Rolle von Georg Lukács als Kritiker könnte man hier erwähnen, der freilich keineswegs nur im Nyugat publizierte). Vor allem Ignotus (Hugo Veigelsberg), der wichtige literarische Journalist, später gleich beim Beginn von Nyugat dessen Leitpublizist, war ein Kritiker, der vornehmlich die Offenheit, das Sich-Einlassen auf das – neue, unbekannte – Werk als entscheidende Eigenschaft des Kritikers ansah, gewissermaßen unabhängig von Bildungsarsenalen und literarischen Regeln. Mit diesem z. T. utopisch-zivilisatorischen, positivistisch-materialistischen Gedanken hat er den Charakter von Nyugat entscheidend mitgeprägt, seine Person kann als Emblem der wichtigen kulturellen Rolle des assimilierten Judentums betrachtet werden. Er war der Gegenpol zu Mihály Babits, der die Artikulationen des künstlerischen Geistes als abhängig von der (universalisierend gesetzten) Bildungsstruktur erkannte. In seinem Kulturbegriff (von dem der Nyugat stark beeinflusst wurde) sind die traditionelleren Momente des Bildungsgedankens immer noch sehr bestimmend, diesseits des Unbehagens eines Simmel (1911; Die Tragödie der Kultur), das den Konflikt
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Abb. 21: Titelblatt der Zeitschrift Nyugat. Umschlagentwurf von Elek Falus, 1911
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zwischen Anthropologie und Kulturalität betont. Folglich wird auch der Kunstbegriff oft als Bereich des zur Morphe gefestigten Geistes verstanden – der auf einer vorausgesetzten kulturellen Basis steht – und der Kontrollinstanz der Tradition untergeordnet. Diese beiden Positionen des spätpositivistischen Rationalismus und des entdialektisierten Geistes der ‚Bildung‘ halten sich in der Geschichte des Nyugat die Waage, da sie beide in epistemehistorischer Hinsicht dem Ende des 19. Jahrhunderts entstammen (vgl. zu diesem Komplex Kulcsár Szabó, Ernő 2009b). Folglich hat auch die ästhesiologische Wende der Moderne, die entgegen dem humanistisch-rationellen Bildungsdiskurs den unbewussten, nicht steuerbaren Charakter der Körperwahrnehmungen und ihrer Medialität betonte, bis auf einige interessante Signale z. B. den medialen Vollzug der Lektüre-Erfahrung betreffend, keine einschneidenden Risse im Kultur- und Kunstbegriff des Nyugat herbeiführen können (vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 2009b). Dabei waren schon Überlegungen publiziert, z. B. von dem bei Helmuth Plessner zitierten Melchior Palágyi, die sich am Konflikt von Begriff und Sinneserlebnissen abarbeiteten (welcher Konflikt in der Poetologie später zu allegorischen Transpositionen zwischen Sprache, Technik und Wahrnehmung führen sollte). Die Inszenierung von Affekten, die den Körper oder den Leib als Träger benutzen, lässt sich jedoch in gewissen Texten beobachten (z. B. bei Kosztolányi in seinem Roman Pacsirta; s. u., Kap. V.3.2.1). Die Zeitschrift hatte sich den ästhetisierenden Tendenzen der Epoche verschrieben und die Autonomie der Literatur in einem Kult des Schönen begründet, der – wie in der Wiener Moderne – Symbolismus, Impressionismus und Jugendstil gleichermaßen umfasste. Dabei muss man aber betonen: Das ästhetische Paradigma des Nyugat war – im Unterschied zum Wiener Ästhetizismus oder zu den Blättern für die Kunst – nie völlig losgelöst von öffentlich-gemeinschaftlichen Interessen, allgemeinen weltanschauungsformierenden Elementen, die man aufgrund der Zäsur zum Alten, als Versprechen des Neuen formulierte (in dieser Hinsicht ergeben sich Ähnlichkeiten eher mit der Berliner Moderne). Die Fremdreferenz spielte in der Selbstreferentialität des autopoietischen Systems ‚Literatur‘ eine markante, mitunter unterschwellige Rolle (zu diesem Aspekt findet man auch im Werk ein und desselben Autors widersprüchliche Einstellungsformen). Unter den systematischen Kategorien und Leitvorstellungen der neuzeitlichen Kunsttheorie − Originalität, Fiktion und Innovation (vgl. Luhmann 1986) − war das Moment der Fiktion im Kontext auch des Nyugat also von vornherein unterdeterminiert (oder überschattet von den beiden anderen). Dieser Unterschied ist auch auf der Ebene der Sprachauffassung und rhetorischen Selbstpräsentation der Texte zu beobachten (vgl. die vergleichende Analyse von Babits und Hofmannsthal weiter unten). Seltsamerweise wurden gerade die in
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Abb. 22: Jubiläum der Zeitschrift Nyugat. Auf dem Foto sind u. a. Zsigmond Móricz, Mihály Babits, Milán Füst, Dezső Kosztolányi und Frigyes Karinthy zu sehen. Aufnahme: Turul Fotoriport Iroda, 1932
Ein Brief artikulierte Sprachkrise und ihre poetologischen Konsequenzen von den ungarischen Zeitgenossen mehr oder weniger außer Acht gelassen. Dazu gesellen sich einige unterkomplexe Aspekte der zeitlich-historischen Selbstsituierung des Nyugat: Um die angeblich nationalistisch-offiziellen Züge der ungarischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu überwinden, wollte man die Position des Nyugat in einer relativ simplen Gegenüberstellung zu diesen Traditionen, letztlich in einer autoritären Weise, begründen. Dadurch wird die eigene Position der transitorischen Zeiterfahrung der Moderne entzogen und bleibt gerade in der Kontrastierung zur Vergangenheit gefangen (vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 2009a). Gleichwohl haben manche Autoren sich die Einsicht von Nietzsche und Hofmannsthal angeeignet oder in ihren Selbstartikulationen erfahren, dass die synchrone – ästhetische und historische – Konzeptualisierung bzw. Semantisierung des Schönen das Denken des Ganzen aufgeben muss. Der Vergangenheitscharakter und das Transitorische des Schönen haben ihren Stempel auch ihren Werken aufgedrückt. Dabei fielen die einzelnen Reaktionen auf diese epochale Erfahrungsgröße des Ästhetischen wiederum unterschiedlich aus; gerade, dass
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die ästhetische Physiognomie des Nyugat nicht einheitlich war, machte seine Stärke aus. Angesichts des jeweils emphatisch bejahten ‚Neuen‘ der Modernität haben die einzelnen Strömungen bzw. Autoren je andere Bezüge der literarischen Kommunikation mit Nachdruck betont, andere dabei eher unterbestimmt oder homogenisiert. Originalität, Fiktion und Innovation sowie das Verständnis der Tradition, das diese immer schon bedingt, werden in der Vermischung der ästhetischen und historischen Erfahrung der Modernität neu definiert und konfiguriert bzw. verschoben (Jauß 1970, 55). Weder das Verhältnis der drei Kategorien und ästhetischen Aspekte untereinander noch ihre Beziehung zur ihrerseits doppelten Erfahrung der Moderne ist ohne Konflikte und Widersprüche. Diese poetizitätstheoretischen Annahmen und ihre wirkungsgeschichtlichen Relationen zur modernen Traditionsbildung, ihre Zusammenhänge mit dem Janusgesicht der Moderne, lassen sich hier nicht in der reellen Breite der ungarischen Literaturszene des beginnenden neuen Jahrhunderts abhandeln, nur eine grobe Skizze kann gezeichnet werden, die einer Orientierung aus der Vogelperspektive dienlich sein könnte. Man kann sagen, dass die klassisch-moderne Einstellung in der ungarischen Literatur die Modernität mehrheitlich aus dem Gesichtspunkt des ‚Cusaners‘, also diesseits der Epochenschwelle wahrnahm (vgl. Blumenberg 1988, 531–557), sich eher mit Blick auf das Vergehen des Alten als im Verhältnis zum Kommen des Neuen artikulierte (und zwar auf je andere Weise, doch galt das für Babits, Kosztolányi, Krúdy u. a.). ,Innovation‘ blieb also angesichts ihrer erhöhten und radikalisierten modernen Bedeutung doch eine reduzierte Größe der poetologischen Praxis sowie der literarischen Kommunikation im ungarischen Kontext (trotz der vielfältigen Programmatiken). Man sieht das auch daran, dass das mit Baudelaire einsetzende kunstgeschichtliche Paradigma der ‚Anti-Natur‘ (Jauß 1989, 119–156) und der poetologischen Konvertierung der Urbanität in der poetischen Praxis und am ästhetischen Erwartungshorizont der ungarischen Autoren der klassischen Moderne noch am Anfang des neuen Jahrhunderts nicht auffindbar ist. Ferner ist zu bemerken, dass die von der Nyugat-Dichtung und ihren Autoren geschaffene breite Form- und Übersetzungskultur zwar vielerlei Bestände der Tradition der ungarischen und europäischen Lyrik aus dem 19. Jahrhundert aufgenommen und sich angeeignet hat (für alle gilt J. Arany als „unser Meister“), dennoch verlassen die meisten Anspielungen und architextuellen Evokationen nicht den Rahmen der Stilimitation. Merkwürdigerweise ist die ihren eigenen Modernismus verkündende NyugatLiteratur im Grunde von einem konservativen Traditionsverständnis gekennzeichnet. Insgesamt lässt sich sagen, dass der Nyugat mindestens im selben Maße Erbe des 19. Jahrhunderts wie Platzhalter der Moderne ist. Endre Ady, die spektakulärste Erscheinung der neuen ungarischen Dichtung, hat vor allem auf Originalität und Innovation gesetzt, Mihály Babits, der
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entschlossenste Vertreter der ästhetizistischen Richtung dieser Dichtung, hingegen auf Fiktion und Innovation; Originalität blieb diesen in seiner Poetologie nachgeordnet. Ady war empfindlicher für die transitorische Zeiterfahrung der Moderne, auch wenn er diese des Öfteren mit atemporalen mythischen Vorstellungen zu kompensieren suchte. Babits hingegen hat die ästhetische Komponente des Bewusstseins der Modernität zur Alleinherrschaft erhoben, sie von ihrem historischen Index trennen wollen, sie zunächst einem vom Kulturgedanken her erzeugten Konzept, später einem transnationalen, gar religiösen Bildungshorizont zugeschlagen. Beim Erzähler Krúdy wird das Moment der Fiktion aufgewertet im Medium der Erinnerung, die sich auf eine unwiederbringliche Vergangenheit richtet und gerade in den inszenierten anamnetischen Wiederholungen dieser Vergangenheit ihre Fiktionalität womöglich noch potenziert. Die beiden anderen Aspekte des Kunstverständnisses spielen da nur eine sekundäre Rolle. Gerade in der Akzentuierung des abgeschiedenen Schönen gewinnt aber das Ästhetische bei ihm doch einen atemporalen Charakter, indem es von der Gegenwart so gut wie vollständig abgelöst wird. Der Avantgardist Kassák hat sich hingegen Originalität und Innovation aufs Banner geschrieben, die Fiktion dafür so gut wie aus dem Kunstverständnis herausgetrieben und, seiner avantgardistischen Gesinnung treu, auf primäre Bedeutungen – letztlich auf das nur historische, ‚gegenwärtige‘ Schöne – abgezielt. Seine wirklich avantgardistischen Werke hat er aber nicht im Nyugat veröffentlicht (zu Kassák vgl. Kap. VI). Beide Richtungen der frühen ungarischen Moderne, die ästhetizistische wie die avantgardistische Strömung, hatten mehr oder weniger ein instrumentalisierendes Verhalten zur Tradition – diese war für sie entweder eine zu verlassende oder eine zu behaltende Entität, in beiden Fällen eine – hier positive, dort negative – Identifikationsgröße. Für traditionalistische bzw. naturalistische Auffassungen gilt das erst recht. Das literaturhistorische Denken in den 1910er Jahren war bei Babits und dem Philosophen Béla Fogarasi dennoch differenziert genug, um den positivistischen wie geistesgeschichtlichen Historizitätsauffassungen Paroli bieten zu können, bei Letzterem sogar im Zuge gleichsam hermeneutischer Ansichten (vgl. Á. Hansági in Kulcsár Szabó, Ernő−Oraić Tolić 2008, 113–121). Zu einer systematischen Modellierung der Literaturgeschichte, der literarischen Kommunikation sind in den 1920er Jahren dann die Literaturwissenschaftler János Horváth (der auch Kritik am Nyugat übte) und Tivadar Thienemann vorgedrungen. Thienemann hat in seinem Werk Irodalomtörténeti alapfogalmak (1926–1928; Literaturhistorische Grundbegriffe) die Geschichte der Literatur als Geschichte der Kulturtechniken des Schreibens und Lesens begriffen und dargestellt. Horváth hatte vornehmlich, auch durch eine Immanenzvorstellung gestützt, den Fixierungsaspekt, Thienemann hingegen den Vermittlungsaspekt der Medialität des Literarischen im Visier
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(vgl. Kulcsár-Szabó, Zoltán und Lőrincz in Kulcsár Szabó, Ernő−Oraić Tolić 2008, 121–167). Thienemanns Konzept war das praktisch einzige literaturtheoretische und -historische Modell, das – im Unterschied zu Babits und den ‚Essayisten‘ etwa – ohne die Meistererzählungen z. B. des Nationalen bzw. des Internationalen, ohne deren Trennung und dann inszenierte Aussöhnung auskam und die materiellen Aspekte der literarischen Kommunikation ins Licht rückte (eine morphologische Aufmerksamkeit der Geistesgeschichte, wie etwa bei Oskar Walzel, wurde nicht entwickelt). Leider blieb dieser nüchterne Vorstoß ohne Fortsetzung bis zum Zweiten Weltkrieg bzw. wurde von kulturkritischen und idealistischen Diskursen verdrängt, ab 1947 dann praktisch ausgelöscht. Diese und ähnliche Studien sind zuerst in der wichtigen Zeitschrift Minerva erschienen (1922–1944) und überschreiten die Grenzen der in diesem Kapitel behandelten literaturhistorischen Formation. Von der ästhetizistischen Moderne gelang es nur Dezső Kosztolányi, dem hartnäckigen Grübler über Sprache und Übersetzung, das Denken der Tradition vom ,Einfluss‘ loszulösen. Tradition lässt sich für ihn nie ganz vergegenständlichen, da sie primär sprachgebunden ist. Die Balance zwischen der ästhetischen und historischen Komponente des Literarischen wird womöglich nur bei ihm gehalten, so wie er auch die Dichtung der Avantgarde wohlwollend aufnahm (im Gegensatz zu Babits). Während Babits auf die platonische Idee der unveränderlichen künstlerischen Werte, letztlich (immer mehr) auf die Einheit des Schönen, Wahren und Guten setzte, hat Kosztolányi den von ihm bejahten Formgedanken nicht transzendiert, diesen lediglich dem ,Nichts‘ gegenüber verortet. Im einheitlichen Prozess der Weltliteratur, des Werdens zur Weltliteratur, wird für Babits jene Idee gleichsam verkörpert, Kosztolányi denkt hingegen über (Un)Übersetzbarkeit nach (zu diesen Aspekten bei Babits und Kosztolányi vgl. Szegedy-Maszák 1998, 15–46; Bónus 2001, 114–152). Er begreift, dass die Umfunktionalisierung der Tradition in der doppelten Bewegung der Moderne auch die Begriffe von Originalität und Innovation umbesetzt hat (am spektakulärsten in der Avantgarde) und dass gewisse Widersprüche zwischen Traditionsdenken und Modernität für die literarische Praxis von fataler Konsequenz sind. Der katholisch-transnationalen, im Grunde antihermeneutischen und kanonizitätsbezogenen Einstellung von Babits steht die offenere, mehr vermittlungsorientierte Ansicht von Kosztolányi gegenüber, der die rezeptive Aneignung der Texte im Fokus hatte. Er sah im Leser buchstäblich den Ko-Autor und nahm eine radikale Trennung der Rezeption von Literatur und weltanschaulichen Legitimationsgrößen vor. Seine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen (Innovation in diesem Sinne verstanden) bewährte sich in den 1930er Jahren, als der bedeutendste Dichter der Spätmoderne, Attila József, ihn auf eine komplexe Weise für seine eigenen Texte entdeckte. Die Autonomie der Literatur hat sich angesichts der
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Historizität des Schönen für Kosztolányi in seiner auslegungsorientierten Perspektive doch z. T. als relativ erwiesen. Bei ihm wurde die ästhetizistische Selbstreferenz des literarischen Systems (im Vergleich zu Babits) auf eine radikale Fiktionalität hin geöffnet, die das Neue ohne Autorisierung und nicht als Autorität, sondern eher als Gabe oder Ereignis hinnimmt. Denn dieses Ereignishafte ist bei ihm zuweilen eine Art sprachlicher Akt, dessen Unerkennbarkeit genau den fiktionalen Charakter des Literarischen meint, dessen Ereignishaftigkeit hingegen als ‚Neues‘ verstanden wird. Die Autorität der Tradition hat bei Babits als Gegenmittel zur Veraltung der ästhetischen Werte herhalten müssen, was die Neutralisierung der zeitlichen Dynamik und die Festlegung der Tradition (in einer Gegenposition zur ‚Gegenwart‘) zur Folge hatte. Auch die immense literaturpolitische Rolle von Babits (Redakteur bzw. Chefredakteur des Nyugat, Vorsitzender der Baumgarten-Stiftung, deren großzügig dotierter Jahrespreis eine wichtige Finanzierungsquelle für jüngere Dichter war) hat diesen Gedanken bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auf weiten Strecken in der ungarischen Literatur konservieren können. Ferner diente die Verbindung von Geistesgeschichte und Ästhetizismus in den Werken der sogenannten ‚Essayistengeneration‘ (A. Szerb, G. Halász, L. Cs. Szabó) in diesem Sinne einer Selbstvergewisserung der als prekär wahrgenommenen Modernität von neoklassizistischen oder autonomen kulturellen Beständen her. Dennoch war das Verdienst dieser Generation, die Anfang der 1930er Jahre auftrat, die literarischen Ansichten des Nyugat systematisch ausformuliert zu haben, vor allem in den groß angelegten und äußerst wirkungsvollen Werken von Babits (Az európai irodalom története; Geschichte der europäischen Literatur) und Szerb (A világirodalom története bzw. Magyar irodalomtörténet; Geschichte der Weltliteratur bzw. Ungarische Literaturgeschichte) – darüber hinaus war hier die essayistische Tätigkeit von L. Németh prägend. Im ästhetizistischen Paradigma überhaupt ist die Selbstreferentialität des literarischen Systems nämlich keineswegs nur in Abhebung vom Anästhetischen zu verstehen, vielmehr ist da seine Instrumentalisierung gegen die aus der eigenen Seinsweise resultierende Selbstüberbietung (‚Innovationsdrang‘) am Werke. Somit besteht die ästhetizistische Sprachauffassung vornehmlich in der Implementierung einer ‚worthaften‘ Form in der Sprache, welche zum Medium innerhalb des Mediums ‚Sprache‘ ernannt wird. Die Sprachkrise Hofmannsthals ist ja nichts anderes als das Abhandenkommen der Grenze zwischen der medialisierten (‚dichterischen‘) Form und dem (‚prosaischen‘) Rest der Sprache, also der Sprache als Medium (zu diesen Verhältnissen vgl. Lőrincz in Kulcsár Szabó, Ernő–Lőrincz–Molnár 2004, 192–221). (Das ‚Prosaischwerden‘ der ästhetizistischen Sprachauffassung steht in tiefer Relation mit der aporetischen Konstitution des Modernen – dass also diesem seine eigene Selbstüberbietung und allegorische Verdopplung von vornherein eingeschrieben ist. Diese
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Einsicht fehlt am ästhetischen Horizont der Nyugat-Autoren.) Zur radikalen poetologischen Auslotung dieser Vermutung ist aber auch Kosztolányi nicht vorgestoßen. Die Problematik des Ausdrucks von der Unverfügbarkeit des Mediums Sprache her im Wie des poetischen Sprechens zu restituieren – dieser poetologischen Frage kam auch bei ihm keine genügende Relevanz zu. Doch kann man das offene Versprechen der Modernität am ehesten noch in bestimmten Werken von ihm lokalisieren, das Versprechen, das erst ein offenes ist, wenn es als Versprechen genommen und nicht gegen die Vergangenheit oder auch die Tradition ausgespielt wird. Das Motiv des Spiels oder auch die spätere Gastsemantik bei Kosztolányi ist in metapoetischer bzw. autopoietischer Hinsicht so auszulegen: Literatur berührt die Lebenswelt, ist weder völlig getrennt von ihr noch integriert sie sich in die Sozietät und Kultur. Dieser Zwischenstatus der Sprachkunst wiederum legt die Fiktion als Kriterium des Literarischen nahe. Außerdem ist er abbildbar auf den Modernitätsaspekt (in) der Literatur, insofern dieser sich zwischen dem Alten und dem (kommenden) Neuen situiert. Diese Auffassung kam einer Entideologisierung der literarischen Kommunikation unter den Bedingungen der klassischen Moderne im ungarischen Kontext womöglich am nächsten. Merkwürdigerweise wurde sie in der Wirkungsgeschichte stets vom Ästhetizismus von Babits verdrängt, auch noch in der Lyrik der Nachkriegszeit (J. Pilinszky, Á. Nemes Nagy), was damals freilich auch politische Gründe hatte (Kosztolányi war den marxistischen Kulturüberwachern noch suspekter als Babits).
V.2 Strömungen der Lyrik zwischen Spätromantik und unpersönlicher, ‚remedialisierter‘ Dichtung. Die beiden Hauptstränge der klassisch-modernen Lyrik in der ungarischen Literatur Die proklamierte Erneuerung der ungarischen Lyrik im Zuge einer in ihrem Selbstverständnis modernistischen Literaturauffassung fällt in die zweite Hälfte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts (z. T. dank der Gründung der Zeitschrift Nyugat). In dieser Zeit etablieren sich die Poetiken der beiden Hauptströmungen der klassisch-modernen Dichtung in den Werken vor allem von Endre Ady und Mihály Babits, die dann für beinahe zwei Jahrzehnte in der Entwicklung der modernen ungarischen Lyrik bis zur reifen Schaffensphase von Lőrinc Szabó, Attila József und dem späten Kosztolányi richtungsweisend bleiben werden (in gewissen Poetiken auch über den Zweiten Weltkrieg hinaus). Diese Wende in der Lyrik ist – wie fast überall in den europäischen Literaturen – vom Vorbild und prägenden Einfluss der französischen Dichtung, namentlich von Baudelaire, nicht
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zu trennen. Ady hielt sich wiederholt in Paris auf, Babits übertrug mehrere Gedichte aus Les fleurs du mal ins Ungarische. Ihr Verhältnis zu Baudelaire ist hier nicht abzuhandeln, nur so viel ist festzuhalten, dass Ady Baudelaire eher von den Romantikern, von den ‚Symbolisten‘, vom Underground-Poeten J. Rictus bzw. von Verlaine her gelesen hat und sich eine bestimmte Geste von ihm aneignete: eine Entblößung des dichterischen Ichs, die aber bei ihm nicht in eine allegorischironische Präsentation und Veräußerlichung der lyrischen Subjektivität überleitete, sondern vielmehr ihrer rhetorischen Vergrößerung, letztlich der rollenhaften Positionierung der lyrischen Stimme diente (vgl. Szegedy-Maszák 1998, 127–131; Fried in Kabdebó 1999, 66–68). Dieser Effekt hat seine Wurzeln in einem thematisierten Innovationsdrang, der das Pendant der transitorischen und beschleunigten Zeiterfahrung der Moderne darstellt. Gleichzeitig wird das verlorene Ganze der entzauberten Welt in einer mythischen Totalität neu heraufbeschworen und als Berufungsgrund der poetischen Diktion geltend gemacht. Adys Dichtung setzt auf die selbstgesetzgebende Positionierung des dichterischen Ichs als einer integeren referentiellen Größe im Gedicht, letztlich im Rahmen einer Erlebnis- und Konfessionslyrik. Sie erhält die deutlichen sprachpragmatischen Grenzen zwischen dem poetischen Ich und seiner inszenierten Umwelt aufrecht. Dieser Anspruch ist etwa im stark dramatisierten Charakter seiner Lyrik und in der Grenzziehung zwischen dem Ich und einer apostrophierten – sich ihm gegenüber antagonistisch oder anerkennend verhaltenden – Gemeinschaft zu entdecken. Ady hat damit eine Sprechsituation der ungarischen Dichtung inauguriert, die dann über Gy. Illyés bis L. Nagy als kodifizierter und kanonischer Rahmen einer bestimmenden lyrischen Richtung sowie einer Lese- oder Verstehensfigur in Geltung blieb. In diesen wird grundsätzlich von einer Dominanz des empirischen Ichs, von einer Einheit der lyrischen Subjektivität im Gedicht ausgegangen. Immer mehr neigt man heute folglich zur Annahme, dass Adys Dichtung nicht nur als Erneuerung der Lyrik, sondern mit genauso viel Recht auch als Abschluss oder Kulminationspunkt gewisser Entwicklungen der breiter verstandenen Jahrhundertwende anzusehen ist. Die meisten poetologischen und rhetorischen Strategien wie Konzepte seiner Dichtung sind nämlich bereits bei Vajda, Reviczky und Komjáthy festzustellen, außerdem zeigen die Texte vieler (heute z. T. vergessener) LyrikerInnen der Jahrhundertwende Reaktionen auf das Problematischwerden der lyrischen Subjektivität (vgl. Bednanics 2009), die auch – größtenteils nicht überwundene – Dilemmata Ady’scher Gedichte darstellen. Der andere dichtungsgeschichtliche Strang einer stärker entpersonalisierten und ihre Artifizialität exponierenden lyrischen Ausdrucksweise wurde am einschlägigsten von Mihály Babits in Gang gesetzt, der dabei seine Verpflichtung etwa János Arany gegenüber mehrmals betonte. In dieser Poetik wurde der wiederum bei Baudelaire und Mallarmé (und Valéry) entfaltete ästhetizistische Cha-
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rakter der poetischen Gebilde in den Vordergrund gestellt, so wie das in der deutschsprachigen Dichtung bei Hofmannsthal und Rilke, am stärksten aber bei George erfolgte. Das epochale Artikulationsschema dieser Metaphysik des Artistischen wurde bekanntlich in der Rede Nietzsches über die „Rechtfertigung der Welt“ als eines „ästhetischen Phänomens“ geprägt. Die areferentielle Selbstsituierung des lyrischen Sprechens und des Subjekts beglaubigt sich in diesem Dichtungsmodell weitgehend von der Ästhetisierung der Sprache, von der Autorität der artifiziellen Gebilde her. Die poetischen Kompetenzen werden von der Aneignung der Sprachen der dichterischen Tradition abhängig gemacht. Wortmagie, artistischer Ausdruck als künstliche (paradigmatische) Form des Mediums Sprache kanonisieren bestimmte Spracheffekte als symbolisierende Größen von dichterischer Signifikanz. Laut einer bezeichnenden Metapher von Babits sollen seine Sonette „Miniaturaltäre“ sein (Sonette) – wo also der alltägliche Bedeutungs- und Referenzaspekt der Sprache gleichsam geopfert und als Gabe einer artistischen Instanz dargereicht wird. Dieses Moment balanciert gleichsam auch das kontingente und anorganische Zeitbewusstsein der Modernität aus (vgl. Jauß 1970, 14– 15). Die ästhetische Phänomenalisierung der Welt führt in der Poetik von Babits und anderen aber nicht zu einer radikalen Depersonalisierung und Entreferentialisierung des lyrischen Sprechens, sondern ist – wenn auch nicht immer explizit – immer noch an eine individuelle Sprechposition gebunden, wo die ästhetizistische und artistische Haltung gegebenenfalls auch im Dienste der sprachlichen Selbstprofilierung des Subjekts stehen kann. (Die Selbstbeschreibung des Poetischen kommt auch hier ohne außertextliche Referenzen nicht aus – die ungarische Lyrik der klassischen Moderne weicht einem konsequenten Hermetismus à la George aus, die Isolierung des Wortes beschränkt sich auf lexiko-stilistische und tropologische Ebenen, ist letztlich also ornamental gedacht, ohne die tiefschneidende Erfahrung des „kein ding sei wo das wort gebricht“.) Die Desindividualisierung würde den Rechtfertigungsstrategien der ästhetischen Phänomenalität – als einer unilinearen Berufung auf das artistisch substituierte Ganze (der Welt) – nämlich den Boden entziehen. So findet sich die Präsenz der dichterischen Individualität doch als Referenzpunkt in diesem Modell wieder, womöglich nicht ganz losgelöst von den Prämissen der Erlebnisästhetik. In diesem Sinne findet man auch keine vergleichbare Antizipierung einer Sprachkrise im ungarischen Ästhetizismus, wie das bei Hofmannsthal in der drohenden Aushöhlung des Vertrauens in die sprachlichen Setzungen vorgezeichnet wurde (Ein Brief). Zwar scheinen auf den ersten Blick Welten zwischen Ady und Babits, zwischen der Hypertrophik des Ichs und dem artistischen Verhalten eines ‚poeta doctus‘ zu liegen, dennoch wird auch bei Letzteren die rhetorische Instituierung der individuell gedachten poetischen Subjektivität und ihrer sprachlichen Artikulation letztlich nicht hinterfragt (und die Verwandtschaft der beiden also auch an ihrem Hang zur jeweiligen
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Neubesetzung der verlorenen Totalität erkennbar gemacht). Gleichwohl hat die ästhetizistische Richtung der klassisch-modernen Lyrik in den Werken von Miklós Radnóti über Sándor Weöres bis János Pilinszky und Ágnes Nemes Nagy eine reiche Tradition entwickelt, und sogar darüber hinaus grundlegende poetische Errungenschaften bezüglich der Figuren der Formensprache (von der Dynamisierung der Syntax bis zur Motivbehandlung) den späteren Dichtern tradiert.
V.2.1 Ichhafte und subjektivitätszentrierte Lyrik V.2.1.1 Symbolismus und Aufwertung des innovativen dichterischen Subjekts: zwischen etablierter Rolle und Auflösung der instituierten Sprechsituation Die Lyrik von Endre Ady (1877–1919) präsentiert sich ab seinem dritten Band Új versek (1906; Neue Gedichte) als jenes dichterisches Verhalten, das die unverwechselbare Stimme von Ady inauguriert und sich für manche spätere Dichter als maßgeblich erweist. An erster Stelle der dichtungsgeschichtlichen Verortung dieser Lyrik steht generell der Name ‚Symbolismus‘, der zweifelsohne einen ihrer charakterprägenden Aspekte angibt. Manche Figuren des poetischen Sprechens bei Ady sind symbolisch aufgeladen, die von ihrer typographischen Großschreibung bis zu einer inszenierten Detemporalisierung im Sinne der Stetigkeit verschiedene sprachliche Mittel und Verfahren in Anspruch nehmen, um als Symbole artikuliert zu werden. Jedoch stehen sie immer im engsten Verhältnis mit dem sich kundgebenden lyrischen Ich, ihr symboli(sti)scher Charakter rührt von der sprachlich-rhetorischen Omnipotenz des poetischen Ichs her. Sie treten ausschließlich in der inszenierten und semantischen Perspektive des Ichs auf, dessen Verortung die gesamte Sprechsituation des Gedichtes bestimmt. Sie tragen zur Etablierung der Sprechrolle bei, sind deren Strukturmomente, in denen das Ich sich entäußert. Die symbolische Mitteilungsweise meint also keineswegs nur eine bestimmte Artikulationsweise gegebener semantischer Inhalte, einen Modus der Präsentation von Motiven, sondern erstreckt sich auf die Selbstpräsentation des Sprechens, auf die Ebene der Konstitution der dichterischen Subjektivität. In diesem Sinne wird der Charakter des Sprechens selbst symbolisch in der organischen Verbindung der Subjektivität mit dem Entäußerten. Bereits die deiktische Anzeige des Ichs enthält in sich jenes Sehen, das alle inszenierten Momente und Bestände des Gedichtes eigenmächtig beherrscht. Getragen wird die symbolische Ausdrucksweise von einer direktiven Modalität auf der rhetorischen Ebene, die sich als etwas schlechthin Notwendiges präsentiert und überhaupt eine setzende Funktion erhält. Genau dieser – an sich eher an die allegorische Ausdrucksweise gemahnende – Aussage-
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charakter der Rede ist verantwortlich für die symbolische Projektion der inszenierten Gegebenheiten (und nicht so sehr die Art und Weise ihrer Sichtbarmachung). Denn der prädikative Aspekt der Modalität lässt auf wirkungsvollste Weise den motivisch-szenischen Beständen den Aspekt der Zeitlosigkeit in einem mythischen Zug angedeihen (der Gebrauch des Infinitivs kommt des Öfteren vor und wurde als spezifisches Merkmal der lyrischen Rede bei Ady entsprechend oft hervorgehoben; vgl. Horváth, János 1978, 533; Kulcsár Szabó, Ernő 1998, 46–68). Die Arbitrarität der phänomenalisierenden Strategie wird also nicht reflektiert – etwa in der Problematisierung der Bilder als Bedeutungsträger –, so funktioniert die symbolisierende Signifikation ungebrochen weiter, da sie unterstützt wird von der definitiven Rhetorik der Prädikation, die vom lyrischen Subjekt gesteuert wird. Folglich werden die Versuche brüchig, die symbolische Darstellungsweise von Ady – die erst von einer erlebnisästhetischen Normenordnung her deutbar ist – in eine Tradition der Allegorie einfügen zu wollen, da bei ihm die Trennung von Bild und Bedeutung nicht zum dichterischen Problem wird und im Rahmen der anweisenden, identifizierenden und substituierenden definitiven Redegesten auch nicht zu einem solchen werden kann. Die zeitgenössische Feststellung von J. Horváth ist nach wie vor gültig und genau: Das bildliche Sprechen von Ady würde sich erst in eine Allegorie verwandeln, wenn „jedem einzelnen Moment des Bildes ein bestimmtes Moment der Bedeutung entsprechen würde“, folglich „ist das hier nicht mehr eine Dunkelheit der Rede, vielmehr der mithilfe der Rede zum Ausdruck gebrachte dunkle, unbewusste seelische Zustand“ (Horváth, János 1978, 526). Ob symbolische Inkorporation oder analogische Repräsentation: Der lyrische Kode des frühen Ady verschreibt sich einer Tropologie, in der die Bedeutungsübertragung jeweils zwischen einem Gemütszustand und einem naturhaften Bild stattfindet und als solche aufgrund einer gewissen Organizität kontrolliert wird. (Ornamentik und Organizität widersprechen sich bei Weitem nicht in dieser lyrischen, die Spuren des literarischen Jugendstils aufweisenden Ausdruckskonvention.) Diese Anthropomorphismen zeugen von einer Anthropologie, die das symbolische Sehen aus einer naturalisierten Seinsweise des Menschen ableitet (auch die gesetzte Einheit von Eros und Logos als Fundament seiner Liebeslyrik hat damit zu tun). Da das Subjekt sich in diesem Sehen selbst konstituiert, können gleichwohl mythologisch-kulturelle Bedeutungen und Motive in die Struktur des imaginativen ‚Weltschaffens‘ der poetischen Rede einziehen. So gewinnt die deklarative Sprechmodalität der lyrischen Stimme Oberhand in der dichterischen Repräsentation, da sie in eine Poetologie des Wissens mündet und zur verkündenden Sprachstrategie wird. Begründet ist dieses dichterische Verhalten in der homogenisierten Verbindung von Sprache bzw. Text und Subjektivität. Daher weitet sich der symbolische Kode auf die referentielle Dimension dieser Lyrik selbst aus, insofern er ihren epistemologischen Charakter sichert und
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das Verhältnis von Dichtung und Politik, Gedicht und Autobiographie stabilisiert. Jedenfalls stellt die ästhetische Ideologie des Symbolischen ein untilgbares Element der Gedichte und ihrer Rezeptionsgeschichte dar. Freilich lassen sich die organisch stabilisierten und referentiell etablierten Verhältnisse seiner Dichtung in der Weise einer Gegenreaktion auf den prekären sprachhermeneutischen Status des sich als innovativ erachtenden Subjekts der Lyrik zurückführen: Sie sind allesamt prothesenhafte, supplementierende und kompensierende Strategien einer ‚Beglaubigung‘ der dichterischen Zeichenproduktion vom Subjekt her. Dieser pseudo-performative Zug ist der Textur der Gedichte vor allem im Thema des großgeschriebenen ‚Lebens‘ als eines dominanten Interpretanten – nicht bloß Symbols – bei Ady eingeschrieben. Und dieser Zwang sowie die synchrone Erfüllung der Beglaubigung als einer – in symbolisch-organischer Zusammengehörigkeit ‚remotivierten‘ – Instrumentierung und Selbstautorisierung des dichterischen Sprachverhaltens gibt auch das Gesetz der Innovation ab (Uj vizeken járok; Auf neuen Wassern, F. Fühmann). Da das ‚Neue‘ bei Ady immer entweder polemisch zu im Vorverständnis gegebenen (‚ungarischen‘) Zuständen oder später im Sinne einer postulierten Kontinuität verkündet wird, selten aber der Reflexion einer zeitlichen Zäsur entspringt (wie in den Poetiken des „Abschieds“, vgl. Bohrer 1996), so ist sie im Grunde eine Antizipation, die das vom Ich gegebene Recht rückwirkend begründet (laut Horváth ist die Poetik von Ady nicht von der „Erinnerung“, sondern von der „Evozierung“ bestimmt, vgl. Horváth, János 1978, 534). In dieser metaleptischen Genealogie entwirft oder diktiert das Recht oder Gesetz (seine) ei(ge)ne Zukunft. Die viel gepriesene ‚Innovation‘ als Erneuerung der dichterischen Sprache lässt sich nämlich nicht zur Gänze zu einer Figur der Intentionalität des lyrischen Ichs machen, sie ist vordergründig ein Effekt (auf die Zukunft gerichtetes Gebot) der selbstgesetzgebenden Rhetorik dieser Dichtung. Innovation erscheint oft als negative Folie, die in eine instrumentalisierende Perspektive gerückt wird. Dabei handelt es sich womöglich auch um einen Ausgleich auf der Seite der Subjektivität gegenüber einer ‚Entzauberung‘ und dispersiven Effekten der modernen Welt. Es geht im Engeren um eine Legitimierung, die das Subjekt gleichsam dazu beruft, für seine Äußerungen mit seinem eigenen Leben einzustehen – dabei aber im Namen eines übergeordneten, gar ‚mythischen‘ Lebens als eines Ganzen zu agieren und seine Sprechhandlungen zu betätigen. Die symbolische Repräsentation versucht also, das konstitutive Fehlen in der Partitur der lyrischen Rede – ihre irreduzible Angewiesenheit auf die Gegenzeichnung von anderen, den LeserInnen – mithilfe der Berufung auf solche Autoritäten auszufüllen und den referentiellen Indexcharakter dieser Rede zu gewährleisten. Ady schreibt gleichsam unter dem Diktat des ‚Lebens‘, er ist Aufzeichner dieses Diktats – so aber, dass er es gleichzeitig selbst diktiert. (Diesem konstitutiven Aspekt des performativen Handlungsraums seiner Texte
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entspricht auf der Ebene der Diktion das Charakteristikum, dass die Gedichte gleichsam auf ein Hersagen eingerichtet sind und der meditative Zug eines ‚Hinsagens‘ so gut wie gänzlich fehlt.) Diese Zweiheit bildet die Aporie des sich selbst beglaubigenden dichterischen Sprechaktes ab und kennzeichnet das Phänomen ‚Autorschaft von Ady‘. In diesem Zusammenfallen seiner dichterischen Funktionen wird das lyrische Subjekt von Ady dazu autorisiert, sein Sprechen sowohl – im Sinne des Symbolischen – als Innovation zu artikulieren als es auch sprachlich (Rhetorik der Anweisung) und referentiell (Sich-Berufen auf das doppelt verstandene ‚Leben‘) zu begründen. Die sprachliche Macht löst sich in ein Recht auf, präziser: Die Etablierung des Rechts ist das Recht, wobei die von ihm entworfene Zukunft erst in der Wiederholung dieses Rechts konstituiert wird. Das leitet diese Lyrik zu ihrer typischen Wiederholungsrhetorik, die gleichsam aus der Unzugänglichkeit des Rechtsgrundes resultiert und sich selbst reaffirmiert: „[D]ie Selbstwiederholung des Rechts erreicht weder eine Identität noch eine Selbstbegründung, sondern eine grenzenlose Selbstvergrößerung“ (Judith Butler in Haverkamp 1994, 137). Das Symbol des Symbolischen bei Ady umfasst bereits laut Horváth zwei Seiten: „die ungebrochene Kontinuität des Lebens“ im Sinne der naturalen Anthropologie (oben als Antizipation bezeichnet) und die „Zeitlosigkeit“ etwa des Mythischen (das mit dem „Recht“ verflochten ist, vgl. Horváth, János 1978, 535). Diese Aspekte werden in der symbolischen Struktur des sich aufzeichnenden Diktats, in der als organisch präsentierten Verbindung von übergeordnetem zeitlosem Gesetz des ‚Lebens‘ und seiner Wiederholung in der Stetigkeit verschmolzen. Der innovative, sprich: singuläre Zug des Sprachverhaltens von Ady wird von dieser Rechtsetzung, von ihrem Gesetz (artikuliert im symbolischen Komplex ‚Leben‘ oder ‚Zeit‘) abhängig gemacht. Geradezu konträr verhält sich dieser Zug also zu den modernistischen Gesten vieler westeuropäischer Zeitgenossen, die das offene Versprechen der Modernität erst in einer Destruktion und Verlagerung der mythischen Inhalte signieren zu können dachten. Wenn das Gesetz das Singuläre nicht enthalten kann, so wird die ‚Innovation‘ von Ady auf einen Funktionszusammenhang der rechtserhaltenden Gewalt heruntergesetzt, also dem konstativen Modus der Sprache zugeordnet. Wenn die mythische Gewalt „verschuldend und sühnend zugleich“ ist (Zur Kritik der Gewalt, Benjamin 1972– 1991. Bd. II.1, 199), so kommt der entsprechenden sprachlich-rhetorischen Strategie das Privileg zu, durch mit architextueller Signifikanz aufgeladene Redeweisen in einem kollektiven, kulturellen wie politischen Referenzbezirk schalten und walten zu können (zu dieser Strategie vgl. die Bemerkung von Nietzsche: „[M]an erfindet sich das Recht zum großen Pathos, zur Macht, zu fluchen und zu segnen …“, Nietzsche 1980. Bd. 12, 548). Der archaisch-alttestamentarische Stil der Propheten (etwa der Fluch), der häufige Rollendiskurs nach Mustern der
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ungarischen nationalen Vergangenheit, aber vielleicht auch noch das inszenierte Soliloquium seiner religiösen Lyrik ist bei Ady womöglich eine Figur der Instituierung des lyrischen Diktats und stellt seine richtende, ‚verschuldende‘ und ‚entsühnende‘ Autorität dar, die in diesen beiden Funktionen sein(e) Recht(mäßigkeit) affirmiert. (Zu einer dichtungsgeschichtlichen Revision solcher sprachperformativer – in der Sprache von Ady nicht thematisierbarer – Zusammenhänge und der Loslösung der Gerechtigkeit vom Recht kommt es erst in der dialogisierten Lyrik von Lőrinc Szabó und Attila József. Hier könnte etwa das Gedicht des Letzteren mit dem Titel Tudod, hogy nincs bocsánat [Du weißt, es gibt kein Vergeben, Ch. Polzin] signifikant werden, das sich auch als ein Zwiegespräch mit Ady lesen lässt.) Die Garanten der von individuellen Sprechakten erzielten Beglaubigung werden aber langsam brüchig, und ihre sprachliche Bedingtheit sowie ihre disseminativen Bedeutungseffekte treten zunehmend in den Vordergrund. Das geschieht im Werk Adys ab dem Jahr 1912, das als interne Zäsur seines Oeuvres betrachtet werden kann und auch seine kanonische Rezeptionsgeschichte nachhaltig verunsicherte. Der ausschlaggebende Gedichtband trägt den bedeutsamen Titel A menekülő Élet (Das fliehende Leben). In mehreren Gedichten kommen hier poetische Signale vor, die einer modifizierten Sprechsituation entstammen. Eine mehr begrifflich-diskursive, der hypertrophierten Kompetenz der Eloquenz und der Sprache der deklarativen Diktion sowie der gesetzten Allegorien und Symbole entzogene Sprechweise meldet sich. Die Fundierung der dichterischen Rede auf Anthropomorphismen wird gelockert und das Ich mehrmals einer aufgrund der gesetzlichen Konvention nicht zu determinierenden grammatischen Funktion angenähert: „Nincs jogom, hogy emléket hagyjak“ („Ich habe kein Recht, Erinnerungen zu stiften …“, A békés eltávozás; Das friedliche Dahingehen, Ady 1998, 436, Ü: Verfasser). Später kommt es zu einer Befragung des Rollendiskurses, in der seine Geltung aufgehoben, das Rollenphänomen von unverfügbaren Perspektiven von außen abhängig gemacht wird, auch wenn die Beziehung der Figuren und Referenzen hier noch nicht zu einem umkehrbaren Verhältnis wird. Am auffallendsten wird die assertive Direktionalität des Sprechens in eine Verdopplung der szenischen Perspektive des Sehens umgewandelt, indem das Ich zum Gesehenen und in eine Distanzierung eingerückt wird. Sehen und Gesehenwerden kreuzen sich auf chiastische Weise und entziehen dem Ich das Privileg des Blickens. In der Anrede ereignet sich sogar eine Dislokation des sprechenden Subjekts, indem es sich vom angesprochenen Du, von der apostrophierenden Frage auf eine Weise affizieren lässt, die das Sprechen in ein Offerieren, das Ich in ein Objekt und die Sprechsituation in eine wechselseitige Artikulationskonstellation transformiert. Die Beglaubigung der dichterischen Sprechakte wird in solchen Texten von konstativen Identifikationen losge-
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löst und dem angeredeten Du überantwortet. Auch die elegische Modalität verwandelt sich in eine Poetik des Abschieds, in ein Rufen nach einem nunmehr abwesenden Anderen, der dem Ich Identität verleihen könnte. Ein bemerkenswertes Beispiel für die desautorisierende Rede bietet Óh, furcsa Élet (O seltsames Leben), das das Subjekt dahingehend versprachlicht, dass es die Berufungsinstanz ‚Leben‘ nicht mehr als instituierendes Gesetz evozieren kann (Ady 1998, 658, Ü: Verfasser): Be rossz, hogy én egy tréfa, Hiúság, Ady, senki sem vagyok, Wie schlecht, dass ich ein Scherz, / Eitelkeit, Ady, nicht mal ein Niemand bin,
Verantwortlich für die Defiguration des Gesetzes, für das uneigentliche Sprechen ist der Eigenname, dessen singuläre Referenz hier nicht als solche, vielmehr in ihrer Entleerung und Kontingenz gegen die sich als ‚natürlich‘ errichtende rechtliche Konvention aufgeboten wird. Das Subjekt wird hier sowohl vom Zwang im Namen seines eigenen instituierten Gesetzes als auch von der Möglichkeit, in seinem eigenen Namen zu sprechen, getrennt: Das rechtliche Modell des Diskurses löst sich zusammen mit der Selbstbeglaubigung der sprachlichen Position vom Ich auf. Weder der performative Grund der gesetzlichen Instanz oder Autorität noch die konstative Identifizierung der Referenz sind hier als solche vorhanden, sie gleiten vielmehr in eine irreduzible Ambiguität über, die das gegebene Recht auszuhöhlen im Begriffe ist. Dem grammatischen Subjekt der Rede wird die Möglichkeit entzogen, sich selbst im Namen anderer oder umgekehrt: das angesprochene Du im eigenen Namen, letztendlich sich selbst einer übergeordneten Legalität zuzuführen, die vom Sprechakt des Ichs diktiert würde. Nicht per Zufall drängt eine Semantik des Todes und des ‚Nichts‘ ab diesem Band in den Vordergrund, mit der Ady wichtige poetologische Entwicklungen der späteren diskursiv-intellektuellen Lyrik vorwegnimmt (beim späten Kosztolányi, ferner bei Attila József und Lőrinc Szabó). Das ‚Nichts‘ ist fortan aus der Semantik vom ‚Leben‘ nicht wegzudenken, als eine Leere steht es mitunter dem ‚Leben‘ gegenüber, es schreibt sich ihm sogar ein und macht die Unverfügbarkeit des ‚Lebens‘, den Entzug des Rechtsgrundes besonders akut. Die poetische Neusituierung des Subjekts ist ferner bei Ady in einer der Strömungen seiner Rollenlyrik, in den sogenannten ‚Kurutzengedichten‘, zu beobachten. In diesen Texten wird die Aneignung der literarischen Überlieferung für Ady zu einem Problem der textualisierten Rhetorik der Dichtung und zeigt eine bezeichnende thematische Verlagerung von der im Recht diktierten Zukunft (der ‚Innovation‘) auf die rechtsinterne Wiederholbarkeit an, die jegliches ‚Gesetz‘ zu seinem eigenen Gedächtnis macht. Die Metalepse der (in die Zukunft projizierten)
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Abb. 23: Ady-Gedicht. Aufnahme: André Kertész, Paris, 1934
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Bewahrheitung der eigenen Rechtsvorlage des lyrischen Diskurses wird brüchig, was u. a. an der Defiguration der orakelhaften Sprechweise abzulesen ist. Ady schreibt mit dieser Distanzierung und Subversion der rollenhaften Rede gewissermaßen auch eine Tradition von Vörösmarty fort (vgl. Az élő szobor; Die lebende Statue, G. Deicke). Der wiederum bezeichnend betitelte Gedichtband Ki látott engem? (1914; Wer sah mich je?) enthält das Gedicht Sípja régi babonának (Pfeife alten Aberglaubens, G. Deicke), „gesungen einst von einem Ungarn auf der Flucht“. Die deinstituierende Uneigentlichkeit des lyrischen Sprechens ist da in einer Weise am Werke, die in der repräsentierten Stimme der ‚Flöte‘ einen semantischen Zusammenhang setzt, der überhaupt dem sprachlichen Verhalten des rollenhaften Ichs als eine Grundfolie zugrunde gelegt wird. In dieser wird etwa das Recht auf ‚Rache‘ und ‚Gnade‘ angesichts deren widersprüchlicher Resultate außer Geltung gesetzt, folglich lässt sich die ambivalente Konstellation am Schluss als ein Entzug der beglaubigenden Instanzen des lyrischen Diskurses auslegen, die nicht mehr auf der deklarativen Ebene zu finden sind, sondern vielmehr in Inzitamente entäußert werden (in der Ineinanderblendung eines zitierten Volksliedes mit der Aussage am Schluss, sodass die Reimworte des Volksliedes einem ihnen semantisch entgegengesetzten Kontext ‚aufgepfropft‘ werden). Diese jedoch treten als eine Gegenautorisierung des intentionalen Sprechens auf und zweifeln seinen Verkündigungsaspekt an: Intentionalität und Berufungsinstanz kreuzen sich auf eine chiastische Weise, die den instrumentellen Charakter der Rede aufhebt. Der im ‚Flötenklang‘ evozierte ‚Fluch‘ lässt sich nicht nahtlos in das Gelübde am Schluss des Gedichtes verlängern. Genauso wenig gelingt die performative Errichtung einer ‚Grenze‘ gegen das Totem des ‚Blutes‘, der Beziehung zwischen dem Ich und der Heimat – sowohl die Trennung als auch die Verbindung bleiben gleichermaßen in Kraft. In dieser Uneigentlichkeit erscheinen die Rolle und die in ihr sedimentierten semantischen Bestände als eine fiktionale, gleichwohl unhintergehbare Katachrese in der performativen Funktion der Dichtung selbst. So gerät die Poetologie des Wissens nachhaltig in Konflikt mit ihrer eigenen performativen Basis. Die selbstüberbietende, zukunftsoffene Zeitlichkeit der Moderne wird im Gedicht Új s új lovat (Immer wieder ein neues Pferd, H. Kahlau) eindrucksvoll artikuliert (Ady 1998, 840): A végesség: halhatatlanság S csak a Máé a rettenet, Unsterblichkeit ist Endlichkeit, / Der Schreck gehört dem Tag (Ady 1969, 100)
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Die letzte Etappe auf Adys Weg zur Dekonstruktion der Lyrik der Recht-Fertigung bildet fast schon folgerichtig das Gedicht Nem feleltem magamnak (Ich habe mir nicht geantwortet). Dieser womöglich am meisten diskursivierte und einer kontingenten Sprachbewegung überlassene Text von ihm lässt die subjektiven Artikulationshintergründe, die früheren ‚Sangarten‘ und das ‚Prinzip‘ seiner Lyrik allesamt einer Ironie, das ‚Leben‘ seinerseits einem ‚Vergessen‘ unterziehen. Der Text geht darin aber nicht auf, da er überhaupt die Legitimierung einer ‚Antwort‘ als einer reziproken Beziehung zu einer Redeinstanz gegenüber buchstäblich ‚fallen‘ lässt. Das Geständnis als Selbstaussprechen des Subjekts kann keine Sprechsituation etablieren, die auf einer gesetzten quasi-juridischen Konvention beruhen würde. ‚Verantwortung‘ wird dabei nicht so sehr angesichts eines etablierten Rechts, sondern im Kontrast zu einem identifizierbaren Selbst in Zweifel gezogen (ähnlich wie in Óh, furcsa Élet). Sie stellt kein Recht mehr auf einen im Voraus unterschriebenen Vertrag zwischen dem Ich und seiner Sprache im Sinne einer performativen Kompetenz dar, vielmehr entzieht sich das Subjekt des bekennenden Diskurses einer transzendentalen Autorität, selbst wenn diese das Gewissen der Singularität des Subjekts selbst ist. Diese Einzigartigkeit ist im Begriff, sich in der iterativen Dimension des sprachlichen Materials aufzulösen, und lässt die Unmöglichkeit einer ‚Antwort‘ nicht so sehr in sich oder von einer Frage her als angesichts einer vermeintlich sich selbst beglaubigenden singulären Redeinstanz einsehbar werden. Diese erweist sich vielmehr als eine Fiktion, die für das Postulat der ‚Verantwortung‘ als transzendental-referentieller Begründung des Sprechens stumm bleibt. Nicht per Zufall ist dieses späte Gedicht von Ady als Prätext eines der wichtigsten Texte des späten Kosztolányi auf der Schwelle zu einer dialogisierten Lyrik zitiert worden. Ének a Semmiről (s. u., Kap. V.2.2.2.) entdeckt gerade im Ausbleiben der ,Antwort‘ eine virtuelle, von keinem eigenmächtigen Ich kontrollierbare, da überhaupt von einem Zwang der selbstlegitimierenden Rhetorik losgelöste Sprache der Tradition, die sich erst in ihrer nicht beliebig ausführbaren Zitierung freisetzen lässt: „de nem felelnek, úgy felelnek …“; „keine Antwort ist ihre Antwort …“. Oszkár Gellérts (1882–1967) dichterische Anfänge datieren aus derselben Periode wie die von Ady, Babits und Kosztolányi, wenn nicht früher, also unmittelbar nach der Jahrhundertwende. Auch wenn er bei Weitem keinen vergleichbaren Einfluss erzielte, weisen seine Gedichte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert moderne poetologische Phänomene mitunter mit einer Eindrücklichkeit auf, die auch bei den Erwähnten ihresgleichen sucht. Die anfänglich postromantische Ausdrucksweise weicht einem reflexiveren und abstrakteren Sprachgebrauch, in dessen Folge die Desintegration der welthaften und allgemein deiktischen Konstellationen des lyrischen Subjekts hie und da in ihren axiologischen und tempo-
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ralen Konsequenzen besonders pointiert aufgezeigt wird. So nimmt er nicht selten den späteren Ady vorweg, ferner ergeben sich bei ihm auch gewisse Signale in Richtung einer sprachkritischen Poesie. Er war zwischen 1920 und 1940 Hauptmitarbeiter von Nyugat. Der Literaturprofessor und Pädagoge Sándor Sík (1889–1963) hat in seinem facettenreichen lyrischen Schaffen bereits um 1910 elegische und hymnische Sprechweisen erprobt, vorwiegend in der postromantischen Konvention des Ausdrucks vom Selbst (häufig in Ady’scher Manier), jedoch immer in bemerkenswerter Nähe zur dinglich-gegenständlichen Motivik. Dabei werden die lyrischen Koordinaten der Subjekt-Objekt-Beziehung auf der Ebene der Bilder und der Modalität mehrmals verunsichert, hier und da meldet sich sogar ein abstrakter, teilweise depersonalisierter und meditativer Sprachmodus. Dieser Zug wird nicht zuletzt von der religiösen Einstellung dieser Dichtung motiviert, in der manchmal auch eine mystisch gefärbte Sprachskepsis aufkommt. Die humanistischen Kodes der Weltaneignung werden z. T. in Zweifel gezogen, die so wahrgenommene Krise des Eurosubjekts impliziert darüber hinaus auch eine unterschwellige Problematisierung der transzendenten Berufung der Persönlichkeit (die Verzicht und Gelassenheit als christliche Werte in den Vordergrund stellt). Dabei werden spätere Entwicklungen der christlich beeinflussten Dichtung der Nachkriegszeit (vor allem J. Pilinszky) vorweggenommen. Sík erschreibt verschiedene Figurationen des ‚Unendlichen‘, das auf den transzendenten Aspekt nicht zu reduzieren ist, sofern es sowohl eine mystische Erfahrung oder „unser neues Unendliches“ (Nietzsche) als auch eine expressionistische Vision meinen kann. In den 1930er Jahren erfolgt auch eine Befragung der Dichterrolle, die in tonangebenden Richtungen der ungarischen Dichtung ja gemeinschaftlich fundiert werden soll. Bei Sík wird die Verfügbarkeit des Wortes, die Etablierung der kommunikativen Verhältnisse auch im kollektiv zu begründenden Diskurs als mehrdeutig dargestellt (vgl. das häufige gebethafte und psalmodische Sprechen).
V.2.1.2 Das unglückliche Bewusstsein der Dichtung: die auf sich zurückreflektierte lyrische Individualität Gyula Juhász (1883–1937) ist wohl der einschlägige Vertreter der postromantischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Die Thematik seiner ersten Gedichtbände umfasst die Topoi einer vorwiegend an der Romantik geschulten literarischen Gesinnung: die Einsamkeit, den Tod, das Versenken in die eigene Subjektivität, den Kult der Individualität. Gleichzeitig gesellen sich zu diesen Themen Motive eines literarischen Jugendstils, die sich vor allem in Allusionen auf die griechische
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Antike, in den gewählten Versmaßen und in der Häufigkeit verschiedener Bildungselemente sowie in Momenten der Form zeigen. Diesem poetischen Verhalten sind die vielen Landschaftsgedichte, die Künstlerporträts und die Bildbeschreibungen zu verdanken. Am eindringlichsten hat sich seiner lyrischen Sprache die Diktion der Gedichte von Ady aufgeprägt. Der Rückzug auf die eigene Innerlichkeit gewinnt bei Juhász in vermehrten Selbstanreden die Oberhand. Allerdings wird der dichterischen Subjektivität in verstärktem Maße die Vergänglichkeit des empirischen Selbst, die Todeserwartung zugeführt, die, wie erwähnt, zunächst in geläufigen Motiven auftritt (Dahinschwinden der Jugend und der Liebe, Vereinsamung). Nach und nach werden aber die meisten trostspendenden – metaphysisch-ästhetischen wie subjektivitätsgestützten – Garantien (z. B. die innere Unendlichkeit) des zunehmend verdunkelnden Selbst aufgekündigt. Dabei ist etwa das Gedicht A szépség betege (Der Kranke der Schönheit) bezeichnend, welches das ästhetische Prinzip angesichts des „einsamen Leidens“ außer Kraft setzt. „Das schöne Wort ruft umsonst in die Wüste“ – dieser Topos ist bei J. Arany, dem poeta doctus des 19. Jahrhunderts, vorgezeichnet, der die Stimme der elegischen, auf sich selbst zurückreflektierten Subjektivität in die Dichtung einführte. Die politisch inspirierten Gedichte von Juhász betreiben nach 1919 eine Rückbesinnung oder Mythologisierung, die Frühgeschichte der Ungarn betreffend. Das außergewöhnlich metareflexive Gedicht Önarckép (1919; Selbstbildnis) verstimmlicht die Fragen eines fiktiven Augenpaares zu den Gegenständen seines Sehens: Sind es etwa ein „Tanz in der Weinlesezeit auf einem antiken Hügel“, „das Halbdunkel eines verwaisten Frauenklosters“, „neue Titane“ oder doch „der unbekannte Gott“ (Juhász 2002, 507, Ü: Verfasser)? Man hat hier das ganze thematische Spektrum dieser Lyrik vor sich, wobei offen bleibt, welchem thematischen Strang der Vorzug zu geben ist. Indessen sind die „verzweifelten Augen“ einem Selbst zuzuschreiben, dessen Innerlichkeit an keinem der Motive ihre Befriedigung findet. Diese Reflexion der dichterischen Subjektivität angesichts ihrer thematischen Möglichkeiten oder ‚Vorhandenheiten‘ und deren Entleerung, die ihren Ursprung in der unerfüllten Substanzerwartung des Subjekts hat, gemahnt an das poetische Verhalten von Arany (Naturam furca expellas …). Die sogenannten „Anna“-Gedichte gehören für viele Leser an die erste Stelle der ungarischen Liebeslyrik am Anfang des 20. Jahrhunderts, auch wenn die sich später neu formierende Liebeslyrik ihre Vorfahren, wenn schon, wiederum bei Ady gefunden hat. Die „Anna“-Gedichte werden aus der Perspektive der Erinnerung geschrieben, sie dichten über die Unerfülltheit des Liebeserlebnisses, manchmal mit pantheistisch-landschaftlichen Effekten. Sie münden immer mehr in eine ästhetische Sublimierung sowohl des Andenkens als auch des Erinnerten. Juhász bleibt dem von der organischen Natur gesteuerten Kode der romantischen
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Lyrik durchweg verbunden. Trotzdem gibt es einzelne Text(teil)e im letzten Band sowie im Nachlass, die die interpretative Schirmherrschaft des lyrischen Ichs relativieren und einen mittellosen, teilweise entästhetisierten Sprachgebrauch einführen, der sein Echo dann in entscheidenden Texten des späten Attila József haben wird.
V.2.2 Ästhetizistische und gegenständliche Dichtung V.2.2.1 Im Zeichen des Schönen: Ästhetizismus und das artistische Subjekt Die Dichtung von Mihály Babits (1883–1941) verschreibt sich einem reflektierten Ästhetizismus, der sowohl Bestände der Tradition und Richtlinien des Schönen als auch den Status des lyrischen Ichs im Gedicht der dichterischen Erkundung unterwirft. Sie richtet sich primär gegen den dominierenden Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts und ist darauf bedacht, das Erkenntnisinteresse der Dichtung zurückzugewinnen und dieses in den Vordergrund jeglicher dichterischer (Selbst)Reflexion zu stellen. So ist sie auch keine Konfessionslyrik etwa im Sinne von Ady, sondern sichert sich die Exklusivität auf dem anderen Wege einer Metaphysik des Artistischen. Dabei verwendet Babits in seinen ersten Bänden vielfältige Mitteilungsmodi, deren Reichtum auch seiner profunden literarischen und ideengeschichtlichen Bildung bzw. Übersetzertätigkeit zu verdanken ist. So wird die Hauptattitüde seiner Lyrik einen reflexiven Ästhetizismus abgeben, der das Befragen der eigenen Existenz und der Gegenstände unter der Prämisse einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt betreibt. Die Sprechmodi der Bände oszillieren zwischen Vergegenwärtigungen von Landschaften, Dingen, Geschehnissen und Rollen bzw. den ihnen eingeschriebenen kulturell-ästhetischen Konstellationen und den Reflexionsmomenten einer allgemeinen Deutung des Daseins und des (dichterischen) Selbst. In diesem Zusammenspiel sind die wichtigsten kommunikativen und semantischen Charakteristiken seiner frühen Lyrik zu verorten. Babits hat die lyrische Syntax erneuert, sie amplifiziert und dynamisiert, zur Mitteilung abstrakter Befunde geeignet gemacht (dieser Zug wird in der fragmentarischsubversiven Sprechweise eines L. Szabó zum Hauptcharakteristikum). Die aufgeweichte poetische Syntax reißt eine Architektonik des dichterischen Gebildes, seine Komposition, um, die sich im Rahmen fiktiver Situationen strukturieren lässt (so erhalten auch Zitate ihre Funktionen). Angelpunkt dieser Kreuzung wiederum ist das dichterische Ich, das zwischen Gegenständen und Reflexion, Situationen und Strukturen, letztlich zwischen Formen der Kultur und dem Text vermittelt.
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Abb. 24: Mihály Babits und Endre Ady. Aufnahme: Aladár Székely, 1917
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Babits’ Lyrik reagiert in ihrem Grundverhalten auf Aspekte des Bewusstseins der Modernität und versucht diese mit dem ästhetischen Phänomen (im Sinne Nietzsches) zu vermitteln, das in seiner rechtfertigenden Instanz auch den von sich selbst abhebenden Charakter der Moderne zu heilen scheint. Der Verlust der „autoritativen Vergangenheit“ (vgl. Jauß 1970, 53) wird kompensiert durch andere Autoritäten, an erster Stelle durch das Artifizielle. Diese Instanz des Schönen ist von einer Selbstrechtfertigung des dichterischen Selbst – als der Versöhnung vom empirischen und dem transzendentalen Ich – schwer zu trennen. In der tropologischen Praxis seiner Lyrik erhält dieses Verhältnis sein Pendant in der kontrollierten Beziehung von denotativer Benennung und ‚ästhetischer‘ Metaphorisierung, von Referenz und Trope. Die artistische Rechtfertigung von Welt im dichterischen Zeichengebrauch wird umgekehrt in der doppelten – intern auszusöhnenden – Struktur der dichterischen Individualität verbürgt. Az örök folyosó (Der ewige Korridor, L. Szemere) beispielsweise markiert den Schritt vom klassischen Schönen zu einer beauté fugitive, deren areferentielle Seinsweise von der selbstüberholenden Zeitlichkeit her einsichtig gemacht wird, in der es weder retrospektiv noch proleptisch einen Anhaltspunkt für das lyrische Ich gibt. Diese Motivik findet sich auch bei Ady. In beiden Fällen geht es um ein Hören, dem kein Sehen folgen kann, höchstens in Form von ‚inneren‘ Bildern. Das ist gewissermaßen eine inverse Erfahrung im Vergleich zu den Einsichten eines Simmel, der von Benjamin in der Abhandlung über den allegorischen Charakter der modernen Poesie zitiert wird: Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus (Benjamin 1972–1991, Bd. I.2, 539–540).
Nicht die Erfahrung von Bildern, deren Kommunikativität unsicher ist und die gewissermaßen zu beschriften sind (vgl. Benjamin 1972–1991, Bd. I.2, 577, 591), um überhaupt Bedeutung erlangen zu können, ist bestimmend für die Poetologien von Ady und Babits, vielmehr ein Hören von Klängen, zu denen Bilder zu imaginieren wären. Die Logik ihres medialen Wahrnehmungsdispositivs unterscheidet sich von den allegorischen Intentionen eines Baudelaire und dann von Benjamin, bei dem ‚Bild‘ gerade für das Flüchtige der medialen Konstellationen der Moderne steht: „Das, wovon man weiß, dass man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild“ (Benjamin 1972–1991, Bd. I.2, 590). Diese Exteriorität der Bilder wird bei Ady erst zum Symptom, wenn er sich in bestimmten Texten vom mythisch gesicherten symbolischen Kode seiner Lyrik entfernt, der etwa im kanonischen Gedicht Az eltévedt lovas (Der verirrte Reiter, H. Kahlau) hauptsächlich im Modus des Klangs inszeniert wird. Diese Befunde dürften einiges auch
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über die diskurstechnologischen und medienarchäologischen Bedingungen der ungarischen Kulturalität im frühen 20. Jahrhundert aussagen. Für das Ewige wird merkwürdigerweise der zwanghaft selbstüberholende Charakter des Endlichen einstehen; Letzteres wird, wenn auch nicht instrumentell, aber doch nur als Bezugsrahmen eingesetzt. Das heißt, das Subjektkonzept und seine Mitteilungsweise bleiben weiterhin unversehrt, da die selbstüberholende Zeitlichkeit nur formal – als Prozess, nicht auch als eine (Neu)Generierung von abgelösten, dadurch aber gerade wiederkehrenden Momenten – verstanden wird, was auch an ihrer Anthropomorphisierung ablesbar ist (wie bereits bei Ady). Eine beauté fugitive also, der gerade die allegorische Komponente – ihr sich verdoppelnder Charakter – zu fehlen scheint, die etwa als ‚Maskenhaftigkeit‘ zu bezeichnen wäre: Im Bereich des Modischen erscheint das Überschreiten der Grenze des Modernen als ein Prozeß, durch den das eben noch in Geltung Befindliche nicht nur entwertet, sondern ruckartig, ohne die übergängliche Verfallskurve organischer Abläufe, in die Maskenhaftigkeit des Überlebten zurückgestoßen wird (Jauß 1970, 14–15)
Dieses Moment eines möglichen Überlebens wird im Zuge der Artifizialität kompensiert und die Zeiterfahrung letztlich von der Subjektivität her gedacht. Im Schlussgedicht des Bandes – A lírikus epilógja (Epilog des Lyrikers, A. Bostroem) – wird die autotransgressive Instantaneität des modernen Zielbewusstseins als zyklisches, noch mehr aber als räumliches Eingeschlossensein in der Subjektivität ausgelegt, welche die Welt der Dinge nicht zu erreichen vermag. Gerade diese räumlich-isotopische Umdeutung der ‚flüchtigen‘ Zeitlichkeit lässt darauf schließen, dass für Babits die letzte Schranke der Botmäßigkeit der Kommunikation und des weltanschaulichen Erfassens nicht die Sprache oder die entauratisierende Zeitlichkeit darstellt, sondern vielmehr das Identischsein des Subjekts mit seinem Bewusstsein, das seinen Zugriff auf die Dinge beeinträchtigt, die ihm folglich in unaufhebbarer Andersheit – bar geistiger Wesensmäßigkeiten – gegenüberstehen (oder erst in einer ‚sekundären‘ Ästhetisierung in die Ordnung des lyrischen Sprechens einziehen, die wiederum eine transzendentale Kompetenz des Selbst verstärkt). Zwar wird die transparente Korrespondenz von Natur und Seele vor allem im Fragemodus mehrerer Gedichte aufgelockert, gleichwohl verlauten diese Fragen noch im Kontext der Innerlichkeit des Subjekts bzw. ihrer Sprechmodi und entfernen sich nicht radikal von postromantischen Gesten. Da keine Entsubjektivierung vollzogen wird, sind die Gegenständlichkeiten erst im ästhetisierenden Transfer durch das dichterische Subjekt in eine sich vom Benennen trennende sprachlich-tropologische Dimension zu transformieren; in dieser Operation ihrer ästhetischen Rechtfertigung wird das Selbst sich selber beglaubigen, sprich: sein Sprechverhalten, sein Recht auf eben dieses (und kein anderes) begründen.
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Das berühmteste Gedicht des zweiten Bandes, Esti kérdés (1908; Frage am Abend, A. Gesswein), scheint eine Aufwertung der Sprachlichkeit zu vollziehen, neben ‚Frage‘ auch im Moment des ‚Abends‘, das im Prätext des Gedichtes, in der Ballade des äußeren Lebens (1894) von Hofmannsthal, emphatisch als ‚Ein Wort‘ in Szene gesetzt wird („Und dennoch sagt der viel, der ‚Abend‘ sagt“). Sowohl bestimmte Eigenschaften der Syntax als auch die Frage nach dem ‚Wozu?‘ werden von Babits übernommen. Die ‚wir‘-Rede von Hofmannsthal wird in die (Selbst) Anredeform transformiert, folglich bleibt der im Titel angedeutete Sprechakt – eigentlich das Gedicht selbst – an das Subjekt gebunden. Bei Hofmannsthal ging es hingegen um das ‚Vernehmen‘ und ‚Reden‘ der ‚„vielen Worte“, die nicht zu ausweisbaren Subjekten gehören und eher ein Vergessen bzw. eine metonymische Depersonalisierung zeitigen. Erzeugt beim österreichischen Vorgänger die Textualisierung der lyrischen Stimme eine Pluralität von semantischen Perspektiven („und alle Menschen gehen ihre Wege“) und Deteleologisierung („Spiele“) auch im Fragen, so wird die Aufzählung der verschiedenen Lebenssituationen („olyankor bárhol járj a nagyvilágban“ – „während du in der weiten Welt wo immer / herumstreifst …“) für Babits nur in der Orientierung auf den Telos hin relevant („mégis csak arra fogsz gondolni gyáván“ ‒ „wirst insgeheim dich fragen müssen“). Folglich ist die Modalität der Interrogation in der Ballade des äußeren Lebens mehrschichtiger – „Wozu …?“, „Was wechselt …?“, „Was frommt das alles uns und diese Spiele?“ – als der in der Monotonie des „Wozu“ verharrenden ‚Frage am Abend‘. Vor allem hält Letztere an einer Opposition von ‚wörtlicher‘ Wahrnehmung (die Phänomenalität des ‚Abends‘) und Ästhetisierung („samtene Decke“) bzw. kognitiver Symbolisierung („als Beispiel …“) fest, die eine transparente Tropologie des Vergleichs generiert (bei Hofmannsthal ist eine Tendenz zur Entähnlichung zu beobachten: „… und gleichen / Einander nie?“). Das gedankliche Hauptproblem des Gedichtes stellt der selbstannihilierende Modus der Zeitlichkeit dar, der aber wiederum nur als ein formaler Wechsel (Kontingenz nur als Fall oder Beispiel) verstanden wird, artikuliert bezeichnenderweise in einer deiktischexemplifizierenden Anweisung als assertiver Redegeste am Schluss des Gedichtes: „vedd példának a piciny füszálat“ („als Beispiel nimm den Halm“). Hier fehlt das bei Hofmannsthal durchaus anwesende Moment des Todes („totenhaft verdorrte“, „Trauer“), der Effekt eines materiellen Überlebens oder Übrigbleibens, das für eine differenziert gefasste – als Ereignis, nicht als bloße, kalkulierbare Wiederkehr erfahrene – Temporalität unerlässlich ist (vgl. Weber 1988, 594–595; zum Tod bei Hofmannsthal allgemein vgl. Broch 2001, 104). Man sieht, der ‚fugitive‘ Charakter des Schönen wird als sein Strukturmoment und nicht als Medium, Gedächtnis oder lesbare Konstellation verstanden. Der Text von Babits steht auf halbem Wege zu einer reflexiven Lyrik: Er kann, ohne auf empirische Situationen hinzuweisen, keine diskursiven Zusammenhänge setzen. So bleibt er
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als ‚unglückliches Bewusstsein‘ letztlich in den Normen der Erlebnisästhetik gefangen, insofern er an der Vermittlung zwischen dem empirischen und transzendentalen Ich interessiert ist (ein Gegensatz, welcher nicht mehr die primäre Artikulationsfigur bei Hofmannsthal ist) (Babits 1995, 63–65). Midőn az est, e lágyan takaró fekete, síma bársonytakaró, melyet terít egy óriási dajka, a féltett földet lassan eltakarja s oly óvatosan, hogy minden füszál lágy leple alatt egyenessen áll és nem kap a virágok szirma ráncot s a hímes lepke kényes, dupla szárnyán nem sérti a szivárványos zománcot és ugy pihennek e lepelnek árnyán, e könnyü, síma, bársonyos lepelnek, hogy nem is érzik e lepelt tehernek: olyankor bárhol járj a nagyvilágban vagy otthon ülhetsz barna, bús szobádban, vagy kávéházban bámészan vigyázd, hogy gyujtják sorban a napfényü gázt; vagy fáradtan, domb oldalán, ebeddel nézzed a lombon át a lusta holdat; vagy országuton, melyet por lepett el, álmos kocsisod bóbiskolva hajthat; vagy a hajónak ingó padlatán szédülj, vagy a vonatnak pamlagán; vagy idegen várost bolygván keresztül állj meg a sarkokon csodálni restül a távol utcák hosszú fonalát, az utcalángok kettős vonalát; vagy épp a vízi városban, a Riván, hol lángot apróz matt opáltükör, merengj a messze multba visszaríván, melynek emléke édesen gyötör, elmúlt korodba, mely miként a bűvös lámpának képe van is már, de nincs is, melynek emléke sohse lehet hűvös, melynek emléke teher is, de kincs is: ott emlékektől terhes fejedet a márványföldnek elcsüggesztheted: csupa szépség közt és gyönyörben járván mégis csak arra fogsz gondolni gyáván: ez a sok szépség mind mire való? mégis csak arra fogsz gondolni árván: minek a selymes víz, a tarka márvány?
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minek az est, e szárnyas takaró? miért a dombok és miért a lombok s a tenger, melybe nem vet magvető? minek az árok, minek az apályok s a felhők, e bús Danaida-lányok s a nap, ez égő szizifuszi kő? miért az emlékek, miért a multak? miért a lámpák és miért a holdak? miért a végét nem lelő idő? vagy vedd példának a piciny füszálat: miért nő a fű, hogyha majd leszárad? miért szárad le, hogyha újra nő? Als der Abend die sich dehnende Strecke / seine schwarze, sanfte samtene Decke, / die eine riesige Amme bewegt, / behütend sorgsam auf die Erde legt, / daß der zarteste Grashalm nachtumweht / unter der sanften Hülle aufrecht steht, / und faltet kein Blumenblatt auf dem Hügel, / der zarte Falter verliert in der Stille / kein Regenbogenemail an dem Flügel, / und alle ruhn in abendlicher Hülle, / ruhn im Schatten dieser so leichten, linden / Decke, die sie auch nicht als Last empfinden: / während du in der weiten Welt wo immer / herumstreifst / oder döst in deinem Zimmer, / zusiehst im Café den stummen Gebärden, / wenn Gaslaternen entzündet werden, / oder gehst müd mit deinem Hund, von weitem / schimmert der Mond durch das Laub überm Hügel, / oder im Staub der Landstraße entgleiten / deinem schon schläfrigen Kutscher die Zügel, / oder am Schiff sanft schwingend auf des Buges / Wiegen, oder im Coupé eines Zuges, / oder durch eine fremde Großstadt treibend, / kannst du, an manchen Ecken stehenbleibend / staunend sehn nach der langen Gassen fernen / Fäden, den Alleen der Straßenlaternen, / und an der Riva, der Wasserstadt, schauernd, / wo der matte Opalspiegel die Flammen / zerlegt, sinke, um Vergangenheit trauernd / tief woher deine süßen Foltern stammen, / hinab in die längst vergangenen Jahre, / die wie das Licht der Zauberlampe winken, / bisweilen schmerzhaft, dann ins Wunderbare / steigend verblassen, jedoch nie versinken: / dort kannst du den von Erinnerung trägen, / müden Kopf auf die Marmorerde legen, / vor diesen Schönheiten zu deinen Füßen / wirst insgeheim verwaist dich fragen müssen: / Zu welchem Ende gibt es diese Fülle? / nach dem Wozu-dies-alles drängt dein Wissen: / das seidne Wasser, bunte Marmorfliesen, / des milden Abends flügelleichte Hülle? / Wozu das Laub und wozu dieser Hügel, / das Meer, darein der Ackermann nichts sät, / die Fluten, und wozu der Ebbe Frieden, / die Wolken, die traurigen Danaiden, / der Sisyphusstein-Sonne glutgebläht, / wozu Erinnerung opalen Spiegel, / wozu Laternen, Monde überm Hügel? / Endlose Zeit, was soll dies Spiel zunächst? / Als Beispiel nimm den Halm, den zarten dort: / warum wächst Gras, wenn’s wieder doch verdorrt, / warum verdorrt es, wenn es wieder wächst? (Babits 1983, 10–11, Ü: A. Gesswein)
Das Wahrnehmungsmedium Lyrik bleibt einer definierten sprachlichen Strategie unterworfen. Dennoch gibt es Gedichte im ersten Band, die gerade die Korrelationen zum Objekt in Zweifel ziehen: A világosság udvara (Lichthof) präsentiert in der Unsichtbarkeit der Tiefe eines ‚Lichthofs‘ gerade die Unzugänglichkeit von Gegenständen, die zum Abfall geworden sind und aus dem Austausch von Mensch und Welt herausfallen. Das Vergessene und Abgestoßene könnte entlang einer
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Abb. 25: Mihály Babits liest sein Gedicht Esti kérdés im Radio
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allegorischen Logik die formale Zeitstruktur subvertieren, zusammen mit der thematisierten Katachrese von ‚Lichthof‘, wo dieser Restcharakter sich gerade im Namen meldet (Licht vs. Unsichtbarkeit). Die Frage am Ende des Gedichtes über das ‚Warum‘ der Reste ertönt aber im Modus einer auf sich selbst zurückreflektierten Subjektivität, der den Abfall auf latente Weise wiederum in der integrativen Perspektive der lyrischen Stimme als Beispiel herabsetzt. Fekete ország (Das schwarze Land, L. Szemere) verunsichert beinahe auch die Wortreferenzen, zumindest aber die Orientierung an der Gegenständlichkeit und die Voraussetzung des Lichtes. Freilich ist das ‚Schwarze‘ als Gegenpol zum farbigen ‚Sonnenschein‘ zu denken, nicht als eine eigenmächtige Verborgenheit, und so wird es letztlich Gegenstand einer konstatierenden (sogar klagenden) Aussage. Babits’ erste Gedichtbände haben auch mit ihrer Form- und stilistischen Kultur lyrische Inszenierungen und wechselseitige Übersetzungen von Dinglichkeit, literarischen Allusionen, Rollen und abstrakten Redeweisen stattfinden lassen. Ihm gelang es, die allumgreifende Anwesenheit der lyrischen Stimme im Gedicht mit einer gewissen Unpersönlichkeit der Formwerdung und der Abstraktion der poetischen Sachverhalte zu verbinden und zu differenzieren. Er hat rückwirkend die Tradition eines Kölcsey oder Arany maßgeblich aufgenommen, zukunftsbezogen die Sprache der modernen ungarischen Lyrik von Lőrinc Szabó über Miklós Radnóti und Gyula Illyés bis Ágnes Nemes Nagy nachhaltig bestimmt. Nur Dichter wie Lőrinc Szabó und Attila József, bei denen etwa die avantgardistischen Gestaltungsweisen auch in der Tiefenstruktur ihrer Texte eine maßgebliche Rolle spielten, vermochten den Ästhetizismus von Babits endgültig hinter sich zu lassen. Die späteren Gedichtbände erreichen die gedankliche und diskursive Vielfalt der ersten beiden nicht mehr, eine neoklassizistische Beschwörung der ‚Form‘, der ‚Schranken‘, die (in Goethe’scher Manier) doch das ‚Unendliche‘ enthalten sollen, wird dominant (vgl. Németh G. 1985, 282–291; Németh G. 1987). Wichtig wird auch das exponierte Verhältnis zum wertebewahrenden und warnenden ‚Gedicht‘, das sich zeit- und kulturkritisch einerseits von den nihilistischen Tendenzen des Zeitalters trennt, andererseits aber diese aus einer überlegenen Sprechposition aufdeckt. Das geht Hand in Hand mit einem religiösen Gesichtspunkt, der u. a. auch den pazifistischen Ton steuert und sich der Modalität des Gebets bedient. Merkwürdigerweise schreibt sich Babits in einer Zeit die Bewahrung der transzendentalen ästhetischen und transkulturellen Werte aufs Banner, in der sich die bedeutendsten Dichter auch der ungarischen Literatur der Destruktion überlieferter Formen und Sprechmodi der Lyrik verschrieben haben. Das geschieht bei ihm im Namen eines auch essayistisch beteuerten und in der Form eines als Erbe aufgefassten Traditionsgedankens, der zunehmend religiöskatholisch und übernational ausgelegt wird. Die Sprechweise Babits’ artikuliert
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mit einer eigentümlichen Vehemenz das Interesse der Identifikation mit diesem Erbe. So wird im späten Jónás könyve (1937; Das Buch Jona, G. Engl) und in Jónás imája (1939; Jonas Gebet, G. Engl) die neue Rolle des Dichters anhand der biblischen Geschichte in eine sowohl identifikatorische als auch ironische Perspektive gerückt, wobei die Möglichkeit der Ironie von ‚Gott‘ abhängig ist, der einem transzendentalen Fixpunkt gleichkommt. Die Bewegung des offenen Sprechens der indirekten bzw. ausgewiesenen dichterischen Anrede wird eher in Ősz és tavasz között (Zwischen Herbst und Frühling, H. S. Milletich) und Balázsolás (Blasiussegen) mit einer stilistischen und motivischen Differenzierung vollzogen. Eine dynamischere lyrische Mnemotechnik zeichnet Gedichte wie Szelek sodrában (Im Sog der Winde) und Csak posta voltál (Du warst nur eine Postsendung) aus, in denen den Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowohl im Transindividuellen als auch im Ichhaften nachgegangen wird. Die Erinnerungsstrategie dieser Gedichte ist aber sichtlich unilinear: Das Vergangene wird nicht aus einem virtuell-ereignishaften Zukünftigen neu verstanden, eher als eine zeitlich-räumliche Kontingenz des Ankommens oder vielmehr als das Gegenständliche der Über-Lieferung oder eine Art ‚Dauer im Wechsel‘ hingestellt – wofür auch die modal eindeutig definierte Selbstanrede zu bürgen scheint. Csak posta voltál gibt die Destination der historisch-kulturellen Situierung und Prozessualität des Subjekts zwar nicht an, sehr wohl aber die Sendungsinstanz, und vertraut einer überzeitlichen und transkulturellen Kontinuität als einer Erbschaft, die auch das Vergessen als ihr eigenes Strukturmoment letztlich in sich integriert. Wenn die letzte Strophe die übergeordnete Antwort ausspricht, so kommt das Geben der apostrophierenden Sprechinstanz zu. Der Dialog erhält hier lediglich einen regulativen Status – anders als bei Kosztolányi, der in seinem zeitgleich erschienenen Gedicht Ének a semmiről den Effekt des Gebens einer (selbstaufhebenden) Antwort den ,Toten‘ zugeschrieben hat und den Text in Fragen auslaufen ließ (zum Verhältnis der Gedichte von Ady und Kosztolányi vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1998, 64–65). Bei ihm wird mit dem Vergessen und dem Tod ernst gemacht (den artikulierbaren Leben[sgeschichten] geht das ,Nichts‘ und keine transindividuelle und -kulturelle ‚Vergangenheit‘ als sprachliche Legitimierungs- und Verantwortungsinstanz voraus), wo dem eigenen Sprechen auf mehrdeutige Weise Zitate implementiert werden und zwar aus dem Gedicht der Abrechnung mit dem eigenen Dichtertum von Ady, Nem feleltem magamnak (Ich habe mir nicht geantwortet). Kosztolányi entzieht dem lyrischen Sprechen die Möglichkeit der Selbstverantwortung, des Gebens der integrativen Antwort und stellt die Angewiesenheit auf andere Texte und Stimmen auch auf der textuellen Ebene als ambivalent dar. Einen solchen Einschnitt in seiner sprachlich-weltanschaulichen Fundamentierung hätte die das Konzept des ästhetischen Ganzen für den Gedanken der überindividuellen ‚neoklassizisti-
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schen‘ Traditionsbildung austauschende Poetik von Babits schwerlich verkraften können. Dieses Leitkonzept hat bei ihm die Instanz des transzendentalen Selbst und seine Überlegenheit angesichts des Empirischen neu (im Modell einer ‚Kunstreligion‘) gerechtfertigt, also die frühere Rolle und Funktion der ästhetischen Substituierung der Welt umbesetzt. Babits übt seine Wirkung eher in der auf ihre eigene Kontinuität bedachten (Spät)Moderne der unmittelbaren Nachkriegszeit aus. Bei János Pilinszky und Ágnes Nemes Nagy, für die früheren selbstrelativierenden Tendenzen ebendieser Moderne ist er eher im technischen, nicht im weltanschaulichen Sinne relevant (Attila József, Lőrinc Szabó).
V.2.2.2 Erneuerung und Umdeutung der lyrischen Spätromantik Für die Dichtkunst von Dezső Kosztolányi (1885–1936) spielt der Vergangenheitscharakter des Ästhetischen – zu Beginn freilich im Sinne der sezessionistischen Vergänglichkeitstopoi in der Verknüpfung vom Schönen und dem Tod – eine größere Rolle als in der Lyrik von Babits. Daher ist bei ihm die Modalität einer auf sich zurückreflektierten poetischen Innerlichkeit prägend, in deren subjektiver Perspektive die Inhalte und Embleme der ästhetischen Phänomenalisierung der Welt erscheinen. Man könnte sagen, Babits inszeniere das Ansichsein, Kosztolányi hingegen das Fürsichsein des Schönen, das bei ihm dessen verinnerlichte Bestände, seine Vermittlung mit der Subjektivität impliziert. So ist die Poetisierung des autobiographischen Subjekts von vornherein im Schaffen von Kosztolányi maßgebend, in der Form einer lyrischen Autobiographie, in der die Inszenierung der Erinnerung eine Schlüsselrolle spielt. Der Zyklus mit dem Titel A szegény kisgyermek panaszai (1910; Aus einer Kindheit, H. Horvát) spricht gleichsam aus der Perspektive des Dichters als Kind und ist vor allem an der szenisch-bildlichen Vergegenwärtigung der Erlebnis- und Erinnerungsinhalte interessiert (vgl. Király 1986, 22–38). Dabei ist dem Titel gemäß die elegische Sprechmodalität bestimmend, welche eine reflexive Wendung der heraufbeschworenen Erfahrungen und Gegebenheiten ermöglicht, die vor allem in das dunkle Licht der Vergänglichkeit gestellt werden (auch wenn sie idyllisch konnotierte Szenen der Kindheit präsentieren). Dies ist die überwiegende selbstinterpretative Figur des Zyklus, und nur selten kommt es in ihrem Rahmen zur Andeutung semantischer Sachverhalte, die nicht restlos in diese Optik einzubeziehen oder von ihr her zu erklären sind. Diese Eigenart ist bedingt durch den sprachlichen Charakter der Gedichte, der sich in seinem verschönernden Impetus nur beschränkt zur Akzentuierung abstrakt-mehrdeutiger semantischer Felder eignet. Daran wird dieser Sprachmodus natürlich auch von der alles durchdringenden Subjektivierung gehindert. Eine Ausnahme zeigt etwa das expres-
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sionistisch anmutende Gedicht A napraforgó, mint az őrült (Die verrückte Sonnenblume), in welchem durch eine metaphorische Korrelation von ‚Sonnenblume‘ und ‚Schnepfe‘ eine Personifikation auch der ‚Sonne‘ durchgeführt wird, die aber zum Verrücktwerden der ‚Sonnenblume‘ führt und die Bedeutungsträger ihrer eigenen Identität entfremdet. Die andere bestimmende semantische Figur im Zyklus stellt die mehrfach betonte Fremdheit von Ich und Welt dar, Letztere primär als gesellschaftliches Umfeld (andere soziale Schichten) verstanden, aber manchmal auch in einem tieferen Sinne der Verunmöglichung der paradigmatischen Semantisierung von Raum und Zeit (der Traum als Motiv kommt auch häufig vor, wie bei Hofmannsthal). Eines der besten Beispiele dafür ist gleich das Eröffnungsgedicht mit der Verschränkung von Zeitlichkeit, Erinnerung, Bild und Sprechsituation des Zyklus. Das Bild der Parallelität der Gleise als Sinnbild für eine flüchtige und sich selbst aufhebende Zeitlichkeit (der Schnellzug war auch im vorhin erwähnten Gedicht das Schlusselement) meint gleichsam auch ein Unendlichwerden des Raumes. „Unser neues Unendliches“ (Nietzsche), dessen Erfahrung scheint hier durch die Verse von Kosztolányi hindurch. So wird die anthropozentrische Modellierung von Raum und Zeit als Konstituenten eines „Welt-Bildes“ angetastet (vgl. Heidegger 1950, 69–104). Auf einer sprachlichen Ebene, mit einer versteckten Anspielung auf die sprachliche Bedingtheit einer solchen Destabilisierung der Wahrnehmung, wird eine bemerkenswerte Allegorisierung in einem anderen Gedicht des Zyklus mit dem Titel Milyen lehet az élet ott kívül? vollzogen (1910; Wie mag das Leben da draußen sein?). Hier kann zwischen Natur und nichtlebendiger Künstlichkeit nicht mehr unterschieden werden. Doch geht das über die Wiederholung des ästhetizistischen Topos hinaus, da durch die Gespensterhaftigkeit gerade die Opposition Leben – Tod verunsichert und das ‚Auge‘ vom Ich gleichsam getrennt wird. Bereits in diesem Band von Kosztolányi ist sein auffälligster poetischer Zug zu beobachten: eine Verstärkung der akustischen Dimension des Poetischen, die auf dieser Ebene zu einer Remotivierung des Signifikanten führt, gleichsam im Sinne eines poetologischen Kratylismus (für den gewisse Anhaltspunkte auch in seinen sprachtheoretischen Überlegungen nicht fehlen). Ein Vertrauen in die Sprache also, das sich höchstwahrscheinlich konträr zu den soeben erwähnten poetischen Effekten verhält. Dieser grundlegende Aspekt tritt freilich in Widerspruch mit dem anderen Charakteristikum der (sentimentalen) Klage über die Vergänglichkeit bzw. bewirkt dessen Kompensation. Etwa dieser unaufgelöste bzw. nicht wirklich ausgetragene Konflikt ist verantwortlich dafür, dass es Kosztolányi als Lyriker trotz eines umfangreichen Oeuvres nur selten gelungen ist, sich durch markante Texte in die Dichtungsgeschichte einzutragen. Seine nächsten Bände praktizieren unermüdlich diese Art der Lautpoesie weiter, ohne dabei relevante Veränderungen in ihren Sprechmodi durchzumachen. Erwähnenswert
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ist hier der Zyklus A bús férfi panaszai (1924; Mannes Trauerharfe), der eine Reflexion auf das Ich, das A szegény kisgyermek gedichtet hat, betätigt. Auch dank der doppelten (letztlich aber unilinearen) Erinnerungsperspektive ist dieser Band an einer stärker deutenden und abstrakten Sprechweise interessiert, des Öfteren mit dem Anspruch auf eine allgemeine Reflexion des individuellen Daseins. Am wichtigsten ist dabei die prononcierte Zurücknahme der klagenden und sentimentalen Modalität, wie dies Attila József bereits 1929 betonte (und zwar in seiner weitreichenden Kritik an der Poetik von Babits, vgl. József 1995, 233). Das Gedicht mit dem Titel A kalauz (Der Schaffner) etwa bringt eine Figur – „lyukas / emlékeit csörgetve a kezében“ („er lässt seine löchrigen Erinnerungen in der Hand klimpern“) –, die eine mehrdeutige Ineinanderblendung von Trope und Referenz vollzieht. Am Ursprung dieser Figur steht die ungarische Redewendung „keinen löchrigen Groschen wert sein“, und sie markiert eine tropologische Bedingtheit der Erinnerung. Der ‚Schaffner‘ steht somit auch für das erinnernde Ich des Zyklus, und genau in diesem anamnetischen Vorgang, der gerade Vergessen impliziert (‚löchrig‘), kann er sich nicht in eine Metaposition setzen („s olyan, mint egy ember, mint egy utas“ – „er ist wie ein Mensch, ein Reisegast“). Das Subjekt ist – bar aller transzendenten und metaphysischen Garanten – gleichsam ,Gast‘ in seinem eigenen Leben: Die dichterische Artikulation des Subjekts beim späteren Kosztolányi lässt sich vielleicht in dieser Formel zusammenfassen. Diese Erfahrung wird in den spätesten Gedichten im Band Számadás (1935, Rechenschaft) in kardinalen poetischen Zusammenhängen durchreflektiert, in einer Komplexität der dichterischen Sprache, die ihn in die Nähe von Attila József und Lőrinc Szabó rückt (vgl. Németh G. 1985, 292–313; Király 1986). Kosztolányi gewinnt zuletzt doch eine Schlüsselrolle in der Geschichte der ungarischen Dichtung, in ihrer Überprüfung der ästhetizistischen und ichhaften Positionen der Sprachen der (postromantischen) Lyrik. So lässt sich der titelgebende Sonettzyklus Számadás (1933) nicht nur von seinem Anspruch her mit dem Höhepunkt der Lyrik von Attila József, mit Eszmélet (1934, vgl. Kap. VII.2.2.2.), verbinden. In beiden Texten ist eine radikale poetische Abrechnung mit den – in der ungarischen Dichtung so dominanten – kollektivistischen und prophetenhaften Rollen zu beobachten. Das geht einher mit der Verabschiedung bestimmter sprachlicher Paradigmen der dichterischen Anrede, mit der Aufhebung utopisch-eschatologischer Erwartungen und der dazu gehörenden Fundierung der lyrischen Sprechsituation. Kosztolányi (wie József) führt dabei aber auch eine dichterische Polemik gegen die neoklassizistische Selbstisolierung des Ichs aufgrund etablierter ,Werte‘ bei Babits. Statt solcher Politiken der lyrischen Stimme wird die Subjektposition bewusst marginalisiert. Das Ich als Flaneur, der aber dabei auf eine mögliche Teilnahme an fremden Schicksalen achtet, ohne jedoch dieser Teilnahme eine Teleologie aufzuzwingen oder sie durch einen unterstellten Schwur zu begrün-
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den – das ist die paradoxe Aufgabe des poetischen Ichs. Eine mögliche detranszendentalisierte Teilhabe wird im Gedicht Hajnali részegség (Rausch in der Frühe, W. Droste; Kosztolányi 1997, 496–500; Drei Raben 10 [2006], 136–139) angedeutet, in der Beobachtung eines imaginären Festes in den Sternen, an dem sich das sprechende Ich als ein Gast in Szene setzt. Die Verwendung der alltäglichen Konversationssprache und die Bitten um das Erhörtwerden spielen – wie öfters im Band – eine bemerkenswerte Rolle bei der partialen Deinstituierung einer exklusiven lyrischen Sprache. Die Inszenierung führt am Schluss zu einer poetischen Hypothese über das Leben des Ichs angesichts seiner Endlichkeit: „mégis csak egy nagy ismeretlen Úrnak / vendége voltam“ („vielleicht war ich Gast eines unbekannten Herrn“). Das Dasein ist für Kosztolányi ein Sein als Gast – es ist gebunden an eine Partizipation, die für die Vorstellungen des eigenmächtigen und selbstgenügsamen Subjekts unerreichbar, von ihnen her gar undenkbar ist. Kosztolányi definiert die dichterische Sprechsituation als Offenheit für solche Partizipationen (neu), nicht unweit von Rilkes Duineser Elegien. Der Gast befindet sich weder im Heimischen noch im undurchsichtigen Fremden, so ist seine Sprechposition immer schon von einer Distanz (einem Abschied) markiert, gleichwohl präsentiert sie sich als eine Beichte: Diese vollzieht jenes Sprechen, in dem es überhaupt zur Gastlichkeit kommt (und umgekehrt). Das Gast-Sein impliziert eine markante Deteleologisierung und Entfinalisierung sowohl der menschlichen Existenz als auch der Zeitlichkeit von Welt als eines Werdens vor dem Hintergrund (nicht eines positivierbaren ‚Seins‘, sondern) des ‚Nichts‘ – die Affinitäten zwischen Kosztolányi und Nietzsche lassen sich kaum verleugnen. Die Thematisierung des ,Nichts‘ als ursprünglicher Beschaffenheit im Gedicht Ének a semmiről (Kosztolányi 1997, 500–501; Gesang vom Nichts) veranlasst das Ich u. a. zu einer Reflexion über die Sterblichkeit und die historische Erinnerung, die – als ,Wissen‘ – permanent dem ,Vergessen‘ überantwortet wird (und das Gedicht in Fragen münden lässt). Der Text setzt die Poetologie des Wissens parallel zur Destruktion des Stimme-Verleihens für vergangene historische Akteure radikal außer Kraft. Das Herbeizitieren der Toten scheitert: „keine Antwort ist ihre Antwort“. Gerade die Erfahrung des Nichts lässt sich am wenigsten verstimmlichen, sondern nur in einer textuellen Erinnerung ausagieren bzw. als Ungesprochenes andeuten, wo gerade die von Kosztolányi bevorzugten lautlichen Merkmale der Sprache, hier: die Reime, als Zitate eingesetzt werden (aus dem radikalsten Gedicht einer Destruktion der rollenbasierten Ich-Vorstellung von Ady). Die ,Teilhabe‘ von Kosztolányi lässt sich aus der Sicht dieses Gedichtes am wenigsten auf positive Formeln bringen (konträr womöglich auch zum vorigen transzendenzgebundenen Gedicht), sie meint nämlich ein Ausgeliefertsein dem Nichts, dem Vergessen und einem Schweigen (nicht der Stummheit) der Sprache gegenüber. Dabei wird die Opposition von Leben und
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Abb. 26: Dezső Kosztolányi, seine Frau Ilona Harmos und Frau Hatvany mit Katia und Thomas Mann auf einer Soirée bei Baron Hatvany, 1935
Tod, Sein und Nichts nicht unbedingt in einer Ganzheitsvorstellung (Addierung der beiden Pole) verankert. Das großartige Gedicht Halotti beszéd (1933; Grabrede, 1987, A. Kárpáti) nimmt folgerichtig die Tradition der Grabrede oder des Epitaphs auf und spricht von einem Verstorbenen – mit der Zitierung der Anrufung im ersten, gleichnamigen historischen Sprachdenkmal der Ungarn –, der im Text jedoch weder gefeiert noch betrauert, vielmehr in seiner nichtmetaphysischen Kontingenz dargeboten wird (‚der Mensch‘ wird in seiner Singularität als ‚einzigartiges Exemplar‘ definiert). All die Wert-Zeichen überlieferter poetischer Sprechmodi werden hier außer Geltung gesetzt oder einem Vergessen anheimgegeben, wie etwa das „uralte Geheimnis
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seines einzigen Lebens“, das auf die „versteinerte“ Hand des Verstorbenen in einer „Keilschrift“ „gekratzt“ wird. Die Hand selber wird beschriftet, sie ist kein Instrument des Handelns oder der Kognition mehr, gleichzeitig wird das Programm einer Wahrsagung aufgrund der Zeichen der Interpretation auch entzogen. Angesichts dieser Figur des Endes als alleiniger Referenz kann man nur in Zitationseffekten reden, die das Singuläre auch gleich fiktionalisieren. Dem Unvordenklichen (des Todes) gegenüber gibt es nur ein rollenhaftes, uneigentliches Sprechen (vgl. Németh G. 1985, 313). Der Tote wird zu „önmagának dermedt-néma szobra“ („seiner eigenen versteinert-stummen Statue“), die sich „se könny, se szó“ („von keinen Tränen, Worten“), auch von keinem „vegyszer“ („Präparat“, im Sinne der ästhetizistischen Alchemie) „zum Leben erwecken“ lässt. Sowohl der postromantischen Klage als auch der ästhetizistischen Artifizialität sowie dem Vertrauen in eine animierend-orphische Sprache wird da angesichts der Literalität des Todes gekündigt (die sowohl die Entähnlichung der Singularität als auch die Allgemeinheit des Sterbens kundtut und das Sprechen in die Kreuzung von Referenz und Fiktionalität hineintreibt). Diese impliziert eine unmögliche Trauerarbeit als Zeugenschaft, die des Wissens um das Betrauerte beraubt wird (Kosztolányi 1997, 494). Látjátok feleim, egyszerre meghalt és itt hagyott minket magunkra. Megcsalt. Ismertük őt. Nem volt nagy és kiváló, csak szív, a mi szivünkhöz közel álló. De nincs már. Akár a föld. Jaj, összedőlt a kincstár. Okuljatok mindannyian e példán. Ilyen az ember. Egyedüli példány. Nem élt belőle több és most sem él, s mint fán se nő egyforma két levél, a nagy időn se lesz hozzá hasonló. Nézzétek e főt, ez összeomló, kedves szemet. Nézzétek, itt e kéz, mely a kimondhatatlan ködbe vész kővé meredve, mint egy ereklye, s rá ékírással van karcolva ritka, egyetlen életének ősi titka. Akárki is volt ő, de fény, de hő volt. Mindenki tudta és hirdette: ő volt. Ahogy szerette ezt vagy azt az ételt,
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s szólt, ajka melyet mostan lepecsételt a csönd, s ahogy zengett fülünkbe hangja, mint vízbe süllyedt templomok harangja a mélybe lenn, s ahogy azt mondta nemrég: ‚Édes fiacskám, egy kis sajtot ennék‘, vagy bort ivott és boldogan meredt a kezében égő, olcsó cigaretta füstjére, és futott, telefonált, és szőtte álmát, mint színes fonált: a homlokán feltündökölt a jegy, hogy milliók közt az egyetlenegy. Keresheted őt, nem leled, hiába, se itt, se Fokföldön, se Ázsiába, a múltba sem és a gazdag jövőben akárki megszülethet már, csak ő nem. Többé soha nem gyúl ki halvány-furcsa mosolya. Szegény a forgandó tündér szerencse, hogy e csodát újólag megteremtse. Édes barátaim, olyan ez éppen, mint az az ember ottan a mesében. Az élet egyszer csak őrája gondolt, mi meg mesélni kezdtünk róla: ‚Hol volt …‘, majd rázuhant a mázsás, szörnyü mennybolt, s mi ezt meséljük róla sírva: ‚Nem volt …‘ Úgy fekszik ő, ki küzdve tört a jobbra, mint önmagának dermedt-néma szobra. Nem kelti föl se könny, se szó, se vegyszer. Hol volt, hol nem volt a világon egyszer. Seht, Brüder, er ist nun von uns gegangen, / Geprellt sind wir, im eignen Kreis gefangen. / Erinnert euch, ihm fehlten Ruhm und Größe, / Er stand uns bei mit seines Herzens Blöße. / Nur Lehm wird sein / Von seinen Knochen, / Ach, zerbrochen / Ist der Schrein. // Laßt solcherart uns seiner jetzt gedenken: / Natur kann sich nicht zweimal gleich verschenken, / Ihn gibt’s nicht mehr und gab’s auch vor ihm nie. / So wie ein Blatt mehr ist als eines Blatts Kopie, / Wird auch in all der Zeit ihm keiner gleichen. // Aus seinen Augen wird das Leben weichen, / Seht seinen Kopf, seht seine bloßen Hände, / Die sich verliern im Dunst der Nebelwände, / Erstarrt in Stein – / Reliquiensein, / Darauf sind, ornamentengleich verzweigend, / Linien geritzt, sein Lebensrätsel zeigend. // Licht, Wärme war er uns, gleich wer er war. / Ein jeder wußte, riefs, daß: er er war. / Er mochte diese und auch jene Speise, / Sein Mund sprach ganz auf eigne Weise, / Versiegelt von der Stille nun, Nachklang, / Geläute eines Tempels, der versank / Im Wasser tief, noch höre ich ihn sagen: / ‚Ein wenig Käse könnt ich jetzt vertragen …‘, / Seh ihn beim Wein, den er getrunken, / Selig im Tabaksqualm versunken, / Dann wieder rannte er zum Telefon – / Spann seiner Träume farbigen Kokon. / So leuchtete auf seiner Stirn das Zeichen: / Es wird ihm unter Tausend keiner gleichen. // Du
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magst ihn suchen, findst ihn nirgendwo, / Am Kap, in Asien nicht noch irgendwo, / Auch im Vergangnen nicht: Es mehrt sich / Gewesnes, alles wird einmal – nur er nicht. / Gelöscht für immer / Ist seines Lächelns seltsam blasser Schimmer. / Unstetes Feen-Glück, bist zu gehaltlos, / Ein zweites Wunder wird gestaltlos. // Ihr Lieben, dies ist ebenso gewesen, / Wie wir’s in Märchen oft gelesen / Auf ihn auch schien vom Firmament ein Strahl, / Wir gingen ans Erzähl’n: ‚Es war einmal …‘, / Einstürzt’ es, ihn begrabend, auf einmal, / Verweint erzähl’n wir nun: ‚Es war keinmal …‘ / So liegt er, wollte schaffend mehr erreichen, / Als einem Denkmal seiner selbst zu gleichen. / Arzneien, Worte, Tränen – nichts weckt ihn noch einmal, / Er war einmal … ein- oder keinmal. (Kárpáti 1987, 66–67, Ü: A. Kárpáti)
Őszi reggeli (Frühstück im Herbst, B. Struzyk) inszeniert das Schöne im Status des Vergangenseins, in dieser althergebrachten Topik der Lyrik von Kosztolányi, die in den letzthin besprochenen Gedichten mit einer Reflexion des Todes und des Vergessens korreliert bzw. dadurch vertieft wird. Das geschieht nun aber in einer Weise, die über die Tropologie und motivischen Isotopien hinaus die untilgbare und unkontrollierbare Referentialität der Sprache – das uneingestandene Hauptproblem jeglichen Ästhetizismus – auf der Ebene der Inszenierung gleichsam auf implizite Weise in Betracht zieht. Die letzte Zeile – „Ámde túl a fák már / aranykezükkel intenek nekem“ („Jenseits winken jedoch die Bäume mit der Goldhand mir.“) – ruft nämlich unausgesprochen den Tod (die Aussage „ich sterbe“) auf, jedoch ist dieser referentiell-allegorische Effekt in der figuralen Beschreibung mitnichten enthalten (vgl. Molnár in Kulcsár Szabó, Ernő–Lőrincz–Molnár 2004, 303–320). Ferner erinnert einen die Präsentation der Früchte an die Beschreibung Hegels aus der Phänomenologie des Geistes über die Verabschiedung der (antiken) „Kunstreligion“, wo deren zentrale Motivierung – das Zusammenfallen von Darreichen und Dargereichtem (den Früchten) – in der asymmetrisch werdenden Präsentation hinfällig wird (Hegel 1986, 547–548). Bei Kosztolányi meint das auch den Tod des Subjekts, das gleichsam für diese Identität gebürgt hätte. Dieser antizipierte Tod wiederum lässt sich als Bedeutung gewissermaßen nur referentiell benennen (besser: verschweigen), seine Möglichkeit ist ein spektrales Autonomwerden der literalen und übertragenen Bedeutungen je für sich, eine Zäsur oder Lücke in den ansonsten mit Vorliebe praktizierten tropologischen Übertragungen. Der Tod lässt sich nicht restlos übertragen, er ist genau dieser Rest, der in jeder kratylisierenden Sprachmanipulation und Substitution übrigbleibt. ‚Tod‘ ist auch bei Kosztolányi buchstäblich „nur ein verdrängter Name für ein sprachliches Dilemma“ (de Man 1993, 145), in diesem Fall für die nie restlos in Tropen (das heißt auch: in kontrollierbare Bedeutungen) übersetzbare Referentialität der Sprache. Kosztolányi deckt damit Aporien der ästhetizistischen (z. T. auch seiner eigenen) Sprachauffassung auf – nicht zufällig hat Attila József ihn besonders geschätzt und sich in der eigenen Lyrik auf einen komplexen intertextuellen Dialog mit Kosztolányi eingelassen.
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Die Dichtung von Árpád Tóth (1886–1928) verschreibt sich dem Flüchtigen, seien es sinnliche Eindrücke, Gemütszustände oder zeitliche Momente (zu dieser Lyrik, zwischen 1901 und 1928 entstanden, vgl. Tamás 1994, 108–117; Németh G. 1995, 140–147). Sein Impressionismus ist wörtlich zu nehmen, insofern das sensualistische Empfinden in den Gedichten alleinherrschend ist und eine reflexive Vertiefung nur selten vorkommt. Ein bekenntnishafter, sehr oft elegischer und melancholischer, mitunter auch liedhafter Ton regiert in dieser Lyrik, die ansonsten von ornamentischen und organischen Metaphoriken sowie vielfältigen Stilimitationen gekennzeichnet ist. Der Gegensatz des Schönen und des Trivialen, die allgemeine Verschönerung (sogar der Großstadt), eine ästhetisierte Landschaft, eine paronomastische Sprache sind die poetischen Leitkonzepte. Das Beklagen der Vergänglichkeit würde in der Selbstpräsentation der Texte das Auslöschen des Visionären bedeuten, doch wird diese Gefahr von Ton und Anrede kontrolliert, und so intensiviert gerade das Elegische die Imagination. Dies führt zu einem Animismus, die Gegenständlichkeit wird mit Hilfe von imaginativ-anthropomorphisierenden Tropen inszeniert. Ab Mitte der 1920er Jahre tauchen reflexive Elemente im Deuten der eigenen Lebensgeschichte auf. Hier und da lässt sich auch die Zurücknahme der pathetischen Modalität der verschönernden Sprechweise feststellen, während die Ornamentik mit abstrakteren semantischen Inhalten vermittelt wird. Die zwischenmenschliche Entfremdung wird zum Thema, freilich setzen die Poetik des Vergleichs und die allgemeine Anredeform doch eine Gemeinschaftlichkeit auf der metapoetischen Ebene voraus, die so mit dem deklarierten Inhalt in Widerspruch gerät. Die Unterscheidung von ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Rede und die Macht über diese Unterscheidung bleiben unerschüttert (wie in manchen Oeuvres nicht nur der Nyugat-Dichtung). Eine sowohl bildlichkeits- wie musikalitätsorientierte Lyrik beim Siebenbürger Lajos Áprily (1887–1967) repräsentiert eine weitere Ausprägung einer ästhetizistischen Dichtung, die vor allem in der impressionistischen Landschaftslyrik, aber auch in der gleichsam balladesken Inszenierungsweise bestimmter elegisch-narrativer Motive ihre Höhepunkte erreichte. Dabei sind die lyrischen Apostrophen u. a. dank der Ineinanderblendung von gegenständlichen und abstrakten Elementen in einer Weise eingesetzt, die die Zeugenschaft des Lesers nicht immer so stark festlegt, wie das etwa bei Tóth und Juhász der Fall ist. Die technische Überlegenheit der Stimmungserzeugung geht mit der Situierung des lyrischen Ichs in Ady’scher Manier einher – ein weiterer Beleg für die tiefgehende Wahlverwandtschaft der beiden bestimmenden Strömungen der klassisch-modernen ungarischen Dichtung. Die von Anfang an betonte ästhetische Sublimierungsfunktion der Dichtung soll bei Áprily auch in dürftigen Zeiten die ‚Menschlichkeit‘ bewahren.
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Der Siebenbürger Lyriker Jenő Dsida (1907–1938) kultivierte im Gefolge der Nyugat-Dichtung einen poetischen, stark durchästhetisierten Impressionismus. Zugleich scheinen bei ihm hinter der Erscheinungswelt immer wieder transzendente Geheimnisse oder Akteure durch (die religiösen Motive werden manchmal auch mit expressionistischen Mitteln vergegenwärtigt). Diese motivieren auch die Ornamentalisierung, die sich als ein ‚uneigentliches‘ Sprechen zu erkennen gibt. Die Spannungen zwischen der impressionistischen Beschreibung und der metaphysischen Geheimnishaftigkeit sind deutlich – über diesen partiellen Widerspruch hätte dem früh verstorbenen Dsida eine stärker gegenständlich ausgerichtete Lyrik hinweghelfen können, zu der gewisse Signale in der späten Dichtung nicht fehlen und die auch den elegischen Ton, der diese prägt, stärker differenziert hätte.
V.2.2.3 Antike Dichtungstradition und Neoklassizismus der Gegenwart Die frühe Lyrik von Milán Füst (1888–1967) ist vom postromantischen poetischen Kode geprägt, der gegenständlich-deskriptive Beschreibungen mit visionären Motiven kombiniert in einer Sprechweise der explizierten Subjektivität, die auch von Ady beeinflusst wurde (vgl. Rába 1986, 111–134; Schein 2006). Der ästhetisierende Impetus, welcher zu einem charakteristischen klassisch-modernen Ton bei Füst führt, macht sich deutlich bemerkbar (vgl. etwa der Wechsel von gebundenen und ungebundenen Versen). Er rekurriert sowohl auf mythischbiblische als auch auf naturhafte Motive, die einerseits vom ausdrücklich poetisierenden Stil, andererseits vom mehrheitlich homogenen Sprechverhalten des rhetorischen Ichs zusammengehalten werden. Letzteres lässt sich mindestens in zwei Paradigmen konkretisieren: in der elegischen bzw. verkündenden Modalität (‚Mahnung‘ ist einer der häufiger verwendeten Begriffe). Die motivische Inszenierung, die Evokation dichterischer Isotopien wird stets mit einer der Modalitäten, mit der Invokation, die organische Metaphorik mit personifizierenden Effekten verknüpft. Charakteristisch sind bei ihm auch die Oden und feierlichen Apostrophen. Ferner tauchen auf der motivischen Ebene kosmische Konstellationen auf, welche die Nähe zur romantischen Poetik bezeugen. Vertieft werden diese lyrischen Sachverhalte durch einen bekenntnishaften Ton, in dessen Rahmen auch die reflexiven Elemente verbleiben. Dabei handelt es sich meist um Zäsuren in der eigenen fiktiven Lebensgeschichte des lyrischen Ichs, um die Differenz zwischen seiner Vor- und Nachgeschichte, die letztendlich den eigenen Tod antizipiert. Im Grunde meint dies aber nicht eine Endlichkeit und Desintegration des Subjekts, eher das Verhältnis zum verewigenden Potential der Dichtung. Gefragt wird hier also nach den Möglichkeiten des poetischen Überdauerns (vgl.
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die späte Barokk elégia; Barocke Elegie, F. Fühmann) – ein typischer Zug des Ästhetizismus, in dem „die Kommunikation allgemeinmenschlicher Gefühle“ (Jauß 1982, 851) zwar nicht mehr möglich war, jedoch mit der Artistik kompensiert wurde. Das empirische Ich kann sich zwar nicht ins allgemein Menschliche transzendieren (wobei das bei Füst auch vorkommt, einem merkwürdigen Zug der ungarischen Dichtung entsprechend, in der eine wirklich radikale ästhetizistische Isolierung des Wortes, wie bei George und anderen, nicht zu beobachten ist), doch wird dieses mit der dichterischen Verewigung konvertiert. Die stilisierten, sezessionistischen Antiquitätseffekte zeigen auch diesen Sachverhalt an, wie bei Hofmannsthal, doch ist der inszenatorische Charakter bei Füst empirischer (folglich auch weniger unpersönlich) als bei dem Österreicher. Der romantische Hintergrund hindert Füst (wie andere auch) daran, dem poetischen Ich den konsequenten Rückzug in die artifiziellen Gebilde zu erlauben. So wird etwa in Panasz (Klage, F. Fühmann) die Unmöglichkeit der romantischen Sprechweise (Verfluchen, Segnen) konstatiert, die aber nicht zur Überprüfung der ichhaften Äußerung führt, sondern lediglich zu einer Reduktion der poetischen Inhalte auf das Ich, auf seine Sprechposition, die somit intakt bleibt. Damit wendet sich die Lyrik von Füst von vornherein einer gebethaften Sprache zu, in der die Zeugenschaft von Gott in Bezug auf das lyrische Ich in Anspruch genommen wird. Dieser Aspekt rührt primär nicht von der Angewiesenheit der artifiziellen und poetisierenden Sprechsituation auf mögliche Zeugen her (dies wäre ohnehin ein Widerspruch im ästhetizistischen Verhalten), vielmehr entstammt er der auf der thematischen Ebene problematisch gewordenen (post)romantischen Sprechkonvention. ‚Gott‘ erscheint daher als das Versprechen der ‚wahren‘ Rede für das lyrische Ich, das sein eigenes Sprechen immer wieder ‚verfälscht‘ sieht. Füsts Lyrik in Chorform ist vor diesem Hintergrund zu sehen: Auch hier ist die beschwörende Artikulation prägend, zu der das Sprechen im Namen anderer weitere performative Stützen bietet (vgl. Objektiv kórus, 1910; Objektiver Chor). Im Unterschied zur avantgardistischen Chorlyrik löst sich das Ich im Wir nicht auf, seine Perspektive bleibt durchgehend integer und identifizierbar. Freilich geht es dabei um eine Rolle, die vom apostrophischen Aktcharakter fundiert wird und die das Ich sowohl zu entfernen als auch zu retten versucht. So changiert die Chorlyrik von Füst zwischen dem ‚ästhetischen Phänomen‘ des Chors und der Anrede übergeordneter Adressaten und zeigt eine interessante, nicht widerspruchsfreie Inszenierung poetischer Funktionen im Ästhetizismus an. Demzufolge ist es äußerst problematisch, in seinen (damals auf der Bühne erfolgslosen) Dramen das Epitheton ‚dramatisch‘ einer von ‚Menschen wie wir‘ repräsentierten Handlung oder Handlungsweise hinzuzufügen. Im Aggok a lakodalomban (1910; Greise auf der Hochzeit) kommentieren die Figuren das Geschehen nach der Dramaturgie des antiken Chors. Die dramatischen Aktionen in
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Boldogtalanok (1914; Unglückliche) (einem auch von Füst als naturalistisch bezeichneten Stück) können z. B. sexuell-psychologisch motiviert werden, und auch die Figuren sind als soziologische Typen zu identifizieren. Das Dramatische ist aber in diesem Fall vielmehr dem rhetorischen Potenzial der Sprache inhärent, das die Aussagen zum Mittel eines in diesem Sinne überindividuellen Kampfes um die führende Rolle in der jeweiligen Situation macht. Die Diktion artikuliert sich also als ein Prozess der Sprach-Spiele, an dessen Ende einer der Kämpfer statt zu sprechen nur sich umbringen kann (vgl. Schein 2006). Die dichterischen Anfänge von Miklós Radnóti (1909–1945) stehen im Zeichen einer ästhetizistisch-neoklassischen Schreibweise, die primär aus der Wiederbelebung antiker Versformen schöpft (Újmódi pásztorok éneke, 1931; Lied neumodischer Hirten). Das Bukolische verbleibt hier im thematisch-formalen Bereich, es wird nicht etwa zu einem Zusammenspiel von Lebenswelt und poetischer Fiktionalität – als einer Selbstpräsentation des Poetischen (wie das etwa beim frühen George der Fall ist). Radnótis poetologische Geste besteht in seiner frühen Lyrik vor allem in einer Verschönerung der dargestellten Sachverhalte, seien diese Landschaften oder Dinge, das privilegierte Du oder elegische Stimmungen (vgl. Tamás 1994, 232–242; Németh G. 1995, 165–173; Szegedy-Maszák 1998, 171– 188). Auch die zuweilen avantgardistisch inspirierten Bilder und die Dynamisierung der Syntax stehen weitgehend im Dienste der ästhetizistischen Attitüde. Radnóti bedient sich mit augenfälliger Virtuosität überlieferter dichterischer Formen und Motive, poetischer Redeweisen und Versmaße, wobei avantgardistische Gestaltungsmodi (im Sinne eines ‚domestizierten‘ Expressionismus) weniger eine Subversion des Neoklassischen herbeiführen als den Rahmen abgeben für eine (pantheistische) Totalität, die das lyrische Ich und Welt in sich integriert. Die spätere Schaffensphase Mitte der 1930er Jahre bringt eine Vertiefung der poetischen Rede, die vor allem in einer Diskursivierung und Abstrahierung des Sprechens, in einer Mehrdeutigkeit der bildlichen Effekte besteht (ein möglicher Einfluss von A. József und L. Szabó). Diese sind oft nicht mehr als bloße Tropen, als decorum der Rede aufzufassen, sondern zeitigen vielmehr überraschende Referenzen, die einer abstrakten bedeutungsgenerierenden Leistung der Sprache entstammen, keiner direkten Übertragung wahrgenommener Bilder (Tört elégia; Radnóti 1978, 76): […] életem emlékei közt két férfi lóg két durva bitón s apró hajakkal sodrott kötél foszlik a súlyuk alatt.
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[…] in meinen Lebenserinnerungen baumeln / zwei Männer an zwei rohen Galgen / und der aus feinem Haar gedrehte Strick / zerfasert unter ihrem Gewicht. (Elegienfragmente, Radnóti 1979, 34, Ü: M. Bieler)
Dies hat eine Relativierung vermeintlicher Totalitäten zur Folge, seien diese die Identität des Ichs oder das Idyllische der Erscheinungswelt. Das Selbstverständnis der dichterischen Subjektivität bestimmt sich hier immer mehr von der Perspektive des Todes her und deutet thematisch auf die Grenzen der ästhetizistischen Kompetenzen hin. Mehrere Gedichte betonen ihre eigene Fragmentarität, wobei diese wiederum auch transzendiert, d. h. von äußeren Instanzen (etwa dem Chaotischen des Zeitalters) abhängig gemacht wird. (Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Töredék [Fragment] in dem die Möglichkeit des ‚Fluches‘, allgemeiner: der Sprechhandlung, nicht mehr verfügbar ist für das lyrische Sprechen, das somit seine eigene Fragmentarität erfährt.) In seinen späteren Gedichten flicht er oft mehrere Stilkonventionen zusammen, von romantischen Topoi über expressionistische Bilder bis zu Aussagetypen einer ‚Neuen Sachlichkeit‘. Auch wenn Radnótis Lyrik sich auf die semantische – ästhetizistischen Intentionen gegenüber indifferente – Produktivität der Sprache besinnt, die mit der Neuplatzierung des lyrischen Subjekts einhergeht, bleibt sie doch im Banne der transzendental verstandenen Formwerdung gefangen. Das bestimmt auch seine spätesten Gedichte (Ó régi börtönök, 1944; Radnóti 1978, 202): Mi lesz most azzal, aki míg csak él, amíg csak élhet, formában beszél s arról, mi van, – ítélni így tanít. S tanítna még. De minden szétesett. Hát ül és néz. Mert semmit sem tehet. Was jetzt aus dem wird, der von Herzensgrund, / solang er lebt und spricht, auf Form hält und / von dem, was ist, spricht, – so urteilen lehrt? // Noch lehren möchte. Doch um ihn zerbricht’s. / So sitzt und schaut er. Tun kann er ja nichts. (Ihr Kerker einst, Radnóti 1979, 94, Ü: M. Bieler)
Dieses Gedicht kann als Zusammenfassung des dichterischen Reflexionsspektrums beim späten Radnóti gelten – gleichwohl befinden sich in ihm Spuren eines anderen Sprachgebrauchs (vgl. das sparsam-prosaische „So sitzt und schaut er“). Solche Effekte könnten in der Tat eine Fragmentarität der sprachlichen Setzungen bewirken, jenseits von außen kommender Beteuerungen der Unmöglichkeit, Gedichte in ihrer Form zu vollenden. Der Schritt zu einer derart entblößten und unpersönlichen lyrischen Redeweise wird indes bei Radnóti nicht vollzogen. Das gilt auch für Gedichte, wie den Brentanos gedenkenden und etwa in der Weise
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Trakls komplexe Bilder entwerfenden Álomi táj (Traumlandschaft, F. Fühmann), an dessen Schluss die Strategie der Sublimierung sich denn auch bemerkbar macht. Der politische, antifaschistische wie antimilitaristische, Aspekt verstärkt sich im späteren Werk (z. B. in den sogenannten ‚Eklogen‘, in denen eine antike Gattung der politischen Dichtung neu instrumentiert wird). Gleichzeitig wird wiederholt auf den (nahen und gewaltbedingten) Tod des Ichs Bezug genommen, und dies bereits ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Man hätte diese Kundgabe wohl immer schon metaphorisch verstanden, wäre der deportierte Halbjude Radnóti nicht Opfer eines gewaltsamen Todes geworden. So erhalten aber die poetischen Andeutungen des eigenen Sterbens die wörtlichste aller Referenzen: den faktischen Tod des Autors. Man wird die betreffenden Gedichte der späteren Phase wohl nie anders lesen können. Trotz aller Lesedistanz ist die weder ästhetisch noch kognitiv begründbare Suggestion vorhanden, die thanatologischen Andeutungen der Gedichte als Vorwegnahmen des Todes – das empirische Ich vom lyrischen her (und umgekehrt) – zu lesen. Die ‚Rückkehr des Autors‘ scheint nur über seinen Tod zu erfolgen, freilich nicht durch dessen Verkündung, sondern vermöge seines unvorhersehbaren Eintretens, das kein Text wird enthalten können. (Eine ähnliche Referentialität prägt sich übrigens auch der Spätlyrik von Attila József ein, der den eigenen Tod des Subjekts am suggestivsten in seinen Gedichten thematisiert hat. Dennoch wird bei ihm die referentielle Ambiguität des textualisierten Ichs zum Thema – vgl. József Attila [József Attila, hidd el …], József Attila [József Attila, glaub mir] – und ein unabschließbares Zusammenspiel zwischen dem empirischen und lyrischen Ich in Momenten des Textes selbst ermöglicht. Dies befähigt seine Lyrik – wohl im Unterschied zu der von Radnóti – zu einem Widerstand gegen kompensatorische Lektüren, die den an sich sinnlosen und zufälligen Tod ästhetisieren wollen – nicht bloß aus anthropologischen Gründen, sondern um die Mehrdeutigkeit der Texte zu beherrschen. Gerade der Fall Radnóti zeigt aber die untilgbare Referentialität lyrischer Texte an, die jeglichen Ästhetizismus heimzusuchen vermag.)
V.2.3 Das Ich als Dichter und die Stimmen der Gemeinschaft Das lyrische Werk von Gyula Illyés (1902–1983) ist ein groß und umfangreich angelegter Versuch, die konfessionalistische Lyrik des 19. Jahrhunderts in der Moderne neu zur Geltung zu bringen (vgl. Tasi 1993; Kulcsár Szabó, Ernő 1998, 103–131). Diese wird bei ihm vor allem in eine publizistisch-kollektivistische Sprechweise übersetzt, durch eine Literalisierung der Rolle des lyrischen Ichs als des Dichters. Die meisten kommunikativ-poetischen und vor allem rhetorischen Elemente dieser Dichtung sind fast immer in deutlich erkennbarem Zusammenhang mit der gleichzeitig personellen und kollektiven, dadurch quasi-rechtmäßi-
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gen Fundierung des lyrischen Sprechens zu sehen. Die Motivierung der dichterischen Mitteilung ist stets in szenischen Konfigurationen begründet, die aber gleichzeitig als Anlässe der definierten repräsentativen Sprechsituation einer transindividuellen Verkündung etabliert werden. Man könnte sagen, Illyés substituiere das brüchig gewordene Ganze (der Totalität von Welt) für die Gemeinschaft und diese gebe für ihn die Legitimierung seiner Ausdrucksweise ab. Der erste Band Nehéz föld (1928; Schwerer Boden) ist insofern eine Ausnahme, als in ihm auch avantgardistische Gestaltungsweisen bestimmend sind. Nebst einer narrativ-deskriptiven Syntax und einer ästhetizistischen Diktion kommen montageartig-assoziative Bildstrukturen auf, die stets abrupte Perspektivenwechsel zu zeitigen imstande sind. Die wichtigsten Gedichte bilden eine Parataxis aus, die die wechselseitige Übersetzung von Bild(ern) und Diktion sowohl nahelegen als diese streckenweise auch aufheben. Ferner metaphorisiert Szerelem (Liebe, Á. Guilleaume) – inmitten der Sprache der Repräsentierung – die Gedichtverse als Ackerfurchen und als Pflanzen, die auf die Blicke der Angeredeten angewiesen sind. Die Vielfalt der lyrischen Sprechweisen, szenischen Bildmontagen und zitierten Konventionen ist für das weitere Schaffen von Illyés allerdings nicht mehr charakterbildend, wohl auch aus dem Grund, dass diese bereits im ersten Band nicht die allumgreifende Präsenz und Repräsentationsintanz der lyrischen Stimme in Zweifel gezogen haben. Das personifizierte ‚Lied‘ vertritt die ‚reine Stimme‘, die zum ‚Stammeln‘ in Gegensatz gerät und eine Legitimation der Sprechstrategie des lyrischen Ichs ausmacht. Medium und Ziel dieser Dichtung ist die ansprechende Kraft des ‚Liedes‘ („das ich bin“), die sich jedoch mit der Angewiesenheit auf Andere in der repräsentativen lyrischen Stimme nicht verschmelzen lässt. Das lyrische Werk von Illyés scheint sich im Weiteren auf diesen Konflikt nicht mehr einzulassen, welchen Konflikt es mit dem verstärkten Rollenbewusstsein des Dichters – der betonten Zusammengehörigkeit vom Ich und seiner Aussage – zu kompensieren bzw. überspringen versucht. Diese Verschmelzung und die vermeintlich kollektive Befähigung des Sprechens gibt den Grund für den legalitätsorientierten Anspruch ab: „[W]as zuvor Sünde war, wird nun zum Recht!“ (Hősökről beszélek, Von Helden rede ich) Die Lyrik von Illyés ist nicht gewillt, die Grenzen der Gemeinschaft anzuerkennen, diese als eine Grunderfahrung der Moderne zu vollziehen, und wird letztlich von einem nichtliterarischen Anspruch beseelt. (Es gibt vor allem in den 1930er Jahren eine Reihe interessanter Gedichte, die sich von der [kanonischen] Hauptrichtung der Lyrik von Illyés merklich absetzen [A lámpa lehull …, Die Lampe fällt ab …; Örök éjszakában, In ewiger Nacht]. In ihnen wird das lyrische Ich in die Perspektive einer Beobachtbarkeit durch das Du und die Dinge gestellt und das ‚Wir‘Bewusstsein deutlich aufgehoben. Diese Gedichte können als eine originelle wechselseitige Transposition bestimmter Texte eines späten Ady und von Attila
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József gelesen werden und weisen eine Tendenz zur Entpersönlichung auf, die nicht bloß grammatikalisch, sondern in der Vokalität des Ichs selbst stattzufinden im Begriffe ist.) Ab den 1930er Jahren wendet sich Illyés immer mehr in eine volksliterarische Richtung, die gattungsmäßig breite Register des Lyrischen umfasst: elegische Meditation, Landschafts- und Gedankenlyrik, epische und deskriptive Gedichte. Poetische Begründung dieser – kollektive Mentalität und Kulturalität sowie Sprachlichkeit umfassenden – Lyrik ist weiterhin die repräsentative Instituierung der Dichterrolle, die ihren Träger zum Aussprechen transindividueller Referenzen und Wahrheiten befähigt. Gleichzeitig wird die avantgardistische Tradition der Perspektivenwechsel auf der Ebene der Gedankenlyrik weitergetragen bzw. umfunktioniert. Das heißt, die dialogische Annäherung und Entfernung der verschiedenen gedanklichen Standpunkte wird maßgebend – ein poetisches Verfahren, das Illyés vor allem von Lőrinc Szabó übernahm.
V.3 Wege des Erzählens zwischen Naturalismus und polyphonen Narrationsmodi Die erzählerischen Gattungen, vor allem aber ihre Lesarten sind am Anfang des 20. Jahrhunderts in der ungarischen Literatur – trotz der bemerkenswerten modernen Züge der damaligen Novellistik und Kurzprosa (vgl. Kap. IV) – noch weitgehend von den Vorgaben der realistischen Epik bestimmt. In diesen sind die fabularische und kausale, mimetische Ordnung des narrativen Diskurses maßgebend, zusammen mit der stabilen Rolle des Erzählers als eines ‚Chronisten‘ (vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1994, 88–89). Für dieses erzählerische Verhalten geht es nicht nur um eine fiktive Welterschließung oder das Fingieren von Geschichten, sondern vielmehr um die ,Verewigung‘ der erzählten Sachverhalte, die somit in ihrem erinnerungswürdigen Gewesensein andenkenhafte Identifikationsmuster des kollektiven Gedächtnisses, des Bewusstseins von der nationalen Geschichte zur Verfügung stellen. Auch die realistischen Narrationsmodi wurden vom übergeordneten Kode des sich in seiner Lebensgeschichte erkennenden Individuums, des sich in seinem historischen Prozess vergewissernden nationalen Geistes – von einem romantischen Konzept also – geprägt. Die Epik stellte (ob in einer mythischen oder empirischen Weise der Welterzeugung) die Szene der Objektivierung solcher ‚Meistererzählungen‘ dar. In der triadischen Beschaffenheit der literarischen Kommunikation bedeutete dies, dass das Moment der Fiktion gerade in den epischen Gattungen stets unterbestimmt blieb, da die erzählte Geschichte meistens Oberhand über die Art und Weise des Erzählens selbst gewann und autonom aufzutreten trachtete. Diese Emanzipierung der Narrative von der Narra-
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tion, die Verselbständigung der histoire (zu Ungunsten des récit) zu einer gleichsam archetypischen Größe war selbstredend unerlässlich für ihre Etablierung als Trägerin referentieller Inhalte und kultureller Identitätsmodelle. Diese erzählerische Strategie und die von ihr konditionierte Lektüreweise stehen folgerichtig im Dienste der Repräsentation und verfügen über eine instrumentelle Sprachauffassung. Differenziertere Narrationstechniken, wie sie bei Zs. Kemény vorkamen, wurden von der artistischen (Jókai) und der anekdotischen (Mikszáth) Erzählformation so gut wie verdrängt, so kam es auch so gut wie zu keinen Bildungs-, Zeitoder Gesellschaftsromanen in der ungarischen Epik des 19. Jahrhunderts. Auch die ironisch-satirische Erzählweise (mit der Ausnahme von Eötvös, dessen Tradition von der Linie Jósika-Jókai wiederum verdrängt wurde) sowie die Gesprächsprosa (vgl. Der Stechlin) fehlen auffallend im Aufgebot der erzählenden Literatur der Ungarn im 19. Jahrhundert. In diesem literarischen Produktions- bzw. Lektüremodell wird die Narrativität ‚als Inhalt‘ gesetzt, mit homogener Geltung „sowohl für [die] Diskurse als auch [für] Ereignisfolgen“, ist also ideologischen Charakters (vgl. White 1990, 45). So ist es nicht verwunderlich, dass die realistische, von der story kodierte epische Sichtweise sich für die referenzgläubigen Widerspiegelungstheorien des 20. Jahrhunderts (Lukács) als besonders flexibel erwies. Wenn Narrativität als Faktum und nicht als Erzeugnis von Erzähltechniken, dem Text der Geschichte gilt, so wird der fiktionale Charakter der literarischen Kommunikation gleichsam ausgelöscht vor dem Hintergrund einer Entsprechung zu den Autoritäten (dem Recht, der Legalität, der Legitimität; vgl. White 1990, 25), die von der literarischen Fiktion narrativ zu bewahrheiten und aufrechtzuerhalten sind. Die Interpretierbarkeit der Narration als einer archetypischen Geschichte wird immer schon von einer unterstellten Rechtsordnung vorgezeichnet. Die beiden großen Stränge der ungarischen Erzählprosa, die naturalistischrealistische und die ästhetizistische, klassisch-moderne Richtung, wurden also jeweils mit diesem vorprogrammierten Charakter der epischen Lesarten konfrontiert, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Auf ihre Weise haben beide Traditionslinien erkannt, dass Individualität weder von kollektiven Konzepten noch von der Ideenwelt des Bildungsromans her zu erzählen ist (das galt wohl für alle Wege der Epik zwischen Spätrealismus und diskontinuierlich-diskursiver Narration). Sie waren bis zu einem gewissen Grade bereit, die Omnipotenz des Erzählers einzuschränken, der als Richter „Schicksal erblicken [kann], wo immer er will“ (Benjamin 1972–1991. Bd. II.1, 175). Auf diesem Weg kam jedoch keiner der ungarischen Epiker zu einer Poetik der Sprachspiele (Joyce), der Desintegration (Döblin, Gombrowicz) oder der Fragmentarität (Musil). Man sucht auch umsonst nach reflexiven Ich- oder Bewusstseinsromanen, in denen die Subjektivität sich – etwa im inneren Monolog – einem Sprachfluss anheimgeben bzw. in diesem
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veräußerlichen würde. ‚Noetische‘ Romane, also hochgradig intellektuell-metareflexive Erzählwerke (Woolf, Musil, vgl. Žmegač 1990) sind für die ungarischen Erzähler auch nicht charakterprägend. Sie bewahren die narrativitätsorientierten erzähltechnischen Merkmale der Epik und setzen in ihren herausragenden Werken vordergründig auf die Befragung der zeitlichen Seinsweise der menschlichen Individualität, auf ihr temporalisiertes Seinsverständnis (nicht unweit von der Romanpoetik Thomas Manns). In diesem Sinne sind konzeptuelle Modelle des Erziehungsromans auch zu thematischen Brennpunkten auffallend vieler Romane geworden (Babits, Kosztolányi). Keine der beiden Richtungen gibt aber auf radikale Weise den ,Schuldzusammenhang‘ zwischen Schicksal und Charakter auf, jene Vorbedingung der narratologischen Konstitution, laut der Romanfiguren Eigenschaften haben können, aus denen ihrerseits ihre Handlungen resultieren und zu einer erkennbaren Geschichte führen. Figuren ‚ohne Eigenschaften‘ findet man in dieser Epik womöglich so gut wie keine. Damit hängt das Beibehalten traditioneller Erzählrollen zusammen, die für das mehr oder minder transparente Verhältnis zwischen Schicksal und Charakter aufgrund einer schuldzuweisenden Legalität und Autorität bürgen. Doch werden diese Modelle von den herausragenden epischen Werken immer mehr überprüft, es kommt in ihnen zu mehrfachen signifikanten Brechungen in der erzählerischen Vermittlung epischer Inhalte, im Verhältnis von Geschichte(n) und Spielarten des Erzählens. Das Erzählen wird im Zuge der Verabschiedung der spätrealistischen Narrationsmuster immer mehr von den nicht hierarchisierbaren Effekten des Prosaischen, der Ironie und gewisser Sprachspiele durchwaltet. Es kommt wiederholt zu narrationskonstituierenden und -destruierenden Spannungen zwischen mehreren diskursiven Feldern und sprachlichen Rastern. Diese Konflikte lösen die Integrität der Erzählstimme womöglich nicht zur Gänze auf, sie führen jedoch deutlich vor Augen, dass die Erzählstrategien sich jeweils im Spannungsfeld mehrerer Soziolekte (Zsigmond Móricz), als Techniken von Erinnern und Vergessen (Gyula Krúdy) und in Systemen der Einschreibung, Weitererzählung und Intertextualität (Dezső Kosztolányi) konstituieren. Sie sind damit den divergierenden Wirkungen der sprach- und textbedingten Konstellationen der – von vorgängigen Text(möglichkeit)en markierten – Erzählstiftung unterworfen. Diese Momente führen des Öfteren zu bemerkenswerten Transgressionen überlieferter epischer Gattungsschemata. Vor allem praktizieren die Romane von Kosztolányi eine konsequente Befragung der autoritätsgebundenen Auslegung der semantischen Dimensionen narrativer Texte.
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V.3.1 Simulative und kausale Erzählwelten V.3.1.1 Naturalismus und realistische Versöhnung im Sog der Sprachspiele Die Novellistik von Zsigmond Móricz (1879–1942) verhalf, genau wie die von Kosztolányi, der modernen ungarischen Erzählprosa zu ihrer Erneuerung. Er erprobte Schreibtechniken dieser Gattung, die die Verknappung der Handlung mit der motivischen Verdichtung korrelieren ließen. Seine Novellen wie das frühe Romanschaffen sind vom Naturalismus geprägt, des Weiteren ist ihnen eine starke Parabelhaftigkeit eigen. In ihnen geht es vor allem um die oft besonders krassen Lebensumstände auf dem Lande, vornehmlich um soziale Ungerechtigkeiten und Leiden, aber auch um die spezifische Lebensführung und -einsichten der ländlichen Bevölkerung. Doch gibt es mehrere Novellen, die das Zusammenspiel von Naturalismus und Parabel in einem offenen semantischen Horizont des Unvorhersehbaren, seines Eintretens und seiner Reflexion gestalten. Aus heutiger Sicht wirken diese Novellen denn auch moderner als etwa der Romanerstling Sárarany (1911; Gold im Kote, 1921, A. Schwartz), in dem der milieu- und vererbungsbedingte Determinismus der Romangestalten die narrative und semantische Dimension unbeschränkt beherrscht. Die Gattung der Novelle ist zum Durchdeklinieren solcher Determinismen wohl weniger geeignet, und Móricz erweist sich als ein wahrer Meister der kompositorischen Verdichtung und der Retardierung der Handlungsmomente. Seine Novellen sind oft leitmotivisch aufgebaut: Eine sprachliche Äußerung (ein Spruch/Zitat), ein Emblem oder ein bestimmter Effekt werden jeweils in anderen Zusammenhängen wiederholt. Deren Rolle besteht aber eigentlich nicht darin, zu Symbolen zu werden, vielmehr sind sie mit einer Figur bzw. mit deren Weltbild verbunden, gleichzeitig oszillieren sie im semantischen Spektrum zwischen diesen Trägern und den von ihnen auch markierten Momenten der Handlung. In den Texten werden denn öfters verschiedene sprachliche Weltbilder als normenbildende Systeme im Sprachmodus der Narration (sogar thematisch, in indirekter Rede) aufeinander projiziert, deren Kollisionen nicht selten die handlungsgenerierenden oder -interpretierenden Momente darstellen. Der Drang zur Parabel reduziert manchmal die dargetane sprachliche Dispersion auf eine diskursive (Milyen jók az emberek!; Wie gut die Menschen doch sind!) oder auf eine narrative Weise (Sustorgós, ropogós tafotában; In raschelndem, knisterndem Taft, 1954, L. Némethy). Zwar geht es oft um tragische Sachverhalte, doch werden diese in einer deheroisierend-nüchternen Modalität erzählt, deren prosaischer Aspekt auch eine gewisse Ironie mitführt (Tragédia, 1909; Tragödie, 1954, L. Némethy). Ein häufig vorkommendes Motiv bzw. handlungssteuerndes Moment ist das des Kampfes, das den Novellen einen dramatisierten Charakter verleiht. Es geht jeweils um den Kampf
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Abb. 27: Zsigmond Móricz in seiner Wohnung. Aufnahme: Kata Kálmán, Leányfalu, 1937
der Sprachspiele, der Sprechakte oder der verschiedenen Gesten (vgl. A csata; Die Schlacht, 1954, L. Némethy). Etwa A vizit (Der Besuch, 1954, L. Némethy) führt eine agonale Situation im sprachlichen Sinne vor, in der der Vater den sich für seine Tochter interessierenden jungen Mann zuerst sprachlich demütigen und abweisen will, dann aber die in seiner Erzählung inszenierte ‚aufrichtige‘ Sprachgeste in der realen Situation doch nicht vollziehen kann, wird der Vater ja des unumkehrbaren Handlungscharakters der Sprache inne. Ansonsten offenbaren sich in den meisten Texten verborgene Verwandtschaften oder versteckte Antagonismen zwischen den Figuren (die zum narrativen Ausgang führen). Dies
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ist vielleicht das häufigste Handlungsschema bei Móricz. Die besten Novellen von ihm sind womöglich die, die den Überraschungscharakter solcher szenischer Revelationen nicht nur geschickt inszenieren (das tun sie in der Regel), sondern davon absehen, sie auf ein narratives Wissen des Erzählers zurückzuführen oder dem Publikum als (gesteuertem) Sittenrichter anheimstellen (z. B. im Sinne der naturalistischen Milieutheorie oder auch der manchmal didaktischen Verallgemeinerung der topischen Parabel). Gerade in den unkommentierten Abschlüssen oder in der Wiederholung des ‚Leitmotivs‘ am Ende gewinnen seine Novellen einen stark emblematischen Aspekt, der ihre Wiederlektüre ermöglicht. Im herausragenden Stück seiner späteren Novellistik, in Barbárok (1931; Barbaren, 1961, M. Schüching) ist eine epische, fast filmhafte Szenerie bestimmend, die aus der Verkettung von in sich auch novellistisch aufgebauten Episoden besteht und doch ein integrales Ganzes ergibt. Diese aufsplitternde Arretierung des novellistischen Geschehens ist literaturhistorisch betrachtet völlig zeitkonform. Móricz’ kurzer Roman von 1911, Az Isten háta mögött (Herr Bovary, 1999, R. Futaky), ist eine bewusste Variation auf das Thema von Madame Bovary. Seine Auseinandersetzung mit Flaubert entstammt jedoch einer souveränen erzählerischen Haltung, die die Tradition und Schreibweise der realistischen Prosa einer Subversion zuführt, folglich über deren Möglichkeiten in markanter Weise hinausgeht. Die Handlung des Romans spielt in der ungarischen Provinz, entfernt sich aber von der anekdotischen Erzählweise eines Mikszáth, indem der Text vor allem auf szenische Einheiten und ihre mehrdeutig fokalisierte bzw. diskursivierte Erzählung setzt. Diese Poetik verlegt die bedeutungskonstituierenden Effekte der Erzählung von der auktorialen Ebene in den Zwischenraum der zitierten inneren Monologe der Protagonisten und der Kommentare des Erzählers (vgl. die detaillierte Analyse in Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 157–185). Dadurch wird die konforme homodiegetische Perspektive der Romanpoetik des 19. Jahrhunderts aufgelöst und den kontingenten sinnstiftenden Aussagen und Sprachverhalten der Romanfiguren ein breiterer Spielraum gegeben. Bereits dieser erzählpoetische Zug – vollends aber die betonte intertextuelle Anspielung – markiert eine Distanz zur Tradition des Realismus. Die diegetische Attitüde und Kompetenz des Erzählers werden im Zuge einer Entpersönlichung reduziert, indem er eher als Begleiter oder Zeuge – weniger als eigenmächtiger Berichterstatter – der Ereignisse zu seiner Erzählrolle findet. Dieser Aspekt steht in einer mehrschichtigen Korrelation mit dem im Roman geschilderten Geschehen selbst. Es geht in der inszenierten Welt darum, jeweils den eigenen grand récit mit sprachlichen Mitteln zur Geltung zu bringen und zu legitimieren, mit der Sprache so zu handeln, dass dadurch die Ereignisse sich in Geschichten umbilden und entsprechende Bedeutungen erhalten. So kommt der Ebene der Auslegung der Ereignisse durch die Diskurse der Protagonisten eine erhöhte Bedeutung zu. Die
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Interpretationen der Geschehnisse durch die Figuren erhalten somit Vorrang vor den Geschehnissen selbst. Zwar wird die Chronologie des Geschehens nicht angetastet, doch werden die narrativen Einheiten von der szenischen Darstellungsweise umkodiert, sodass sich die diskursive Sinnstabilisation von Schritt zu Schritt verändern kann und der Kampf der Interpretationen bis zum Ende offen bleibt. Der Text ist in diesem Sinne von einem sprachlichen und axiologischen Perspektivismus gekennzeichnet, den der Erzähler nicht restlos zu kontrollieren vermag. Seine Zeugenfunktion ist ferner dem zentralen Ereignis im Roman angemessen, jener Situation, in der die Frau des ungarischen „Herrn Bovary“ (Lehrer Veres) den Maturanden Laci zu einem falschen Zeugnis veranlasst, um sich selbst des peinlichen Verdachts des Ehebruchs zu entheben. Die ganze narrative Verwicklung entfaltet sich als Konsequenz dieses Falschschwurs: Das Prinzip der Geschichte geht also auf diese Sprechhandlung zurück, sie findet ihren Ursprung in einer nichtnarrativen Genealogie. (Das referentielle Bewahrheiten oder Zeugnis dieses Bezeugens wird von zwei Knöpfen des Studenten repräsentiert, mit denen er die zwei Rockknöpfe der Frau ersetzt. Das Zeugnis ist also eine Art Supplement, ein Teil, das sich vom Ganzen loslöst. Dem entspricht auch die buchstäbliche Prothese von Frau Veres (ihr Goldzahn), dem Veres’ ‚Liebesgeständnis‘ gilt, womit er gleichsam den Betrug durch die metaphorische Beziehung Goldzahn–Knopf unterschreibt.) Dieser motivische Effekt der Privation und Supplementierung schreibt sich der narrativen Logik selbst ein: Die Ebene der Handlung erhält ihre Bedeutung nicht so sehr von den bereits stattgefundenen, sondern vielmehr von den noch ausstehenden Ereignissen. So kommt es trotz mehrerer Gelegenheiten schließlich doch nicht zum Ehebruch, so wie auch die Schüler nicht bestraft werden. Die Legitimierung ihres Freispruchs am Ende wird vom Direktor buchstäblich – damit auch die Frage nach der Referenz – dem Zufall überantwortet und dadurch der sowohl ‚passende‘ – als auch ebenso wohl nicht passende – ‚Ausdruck‘ gefunden, den man zuvor vermisst hatte. Der Kampf um Macht wird folglich nicht bloß im Bereich des Sinns, sondern womöglich ursprünglicher auf der ‚performativen‘ Ebene ausgefochten. Im Meineid von Laci wird später der performativen Macht und dem Recht (etwa auf Abnehmen der Beichte) des Schuldirektors der Boden entzogen, indem er das Geständnis verweigert und damit den Befehl des Direktors unmöglich macht. Die Vertreter der subversiven Diskurse im Roman, Frau Veres und Laci, kämpfen auf ihre Weise gegen Autoritäten, genauer: gegen deren performative Macht. (Im Falle der Frau bedeutet das ein genotypisches Sprechen gegen gesellschaftliche Konventionen und Status.) Diese Macht wird vom Roman beim Grund der symbolischen Ordnung lokalisiert, die sich aber von performativen, auf ihre Intentionalität hin nicht völlig verifizierbaren Gegeneffekten wie etwa dem falschen
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Zeugnis untergraben lässt. Lehrer Veres wagt sich nicht auf diese handlungmäßige, performative Ebene des Sprechens, wie er sich mit seinen unverbindlichen, klischeehaften und meistens auf Versöhnung ausgerichteten Sprüchen auch von der referentiellen Dimension fernhält. Gelingen oder Nicht-Gelingen sind keine Kriterien seines Diskurses, nur so vermag er in der symbolischen Ordnung zu verbleiben, sogar zum Direktor befördert zu werden. Diese Zusammenhänge treten jedoch auch in eine Spannung zur empirischen Epistemologie und referentiellen Verifizierung des nichtsprachlichen Ausdrucks, zur naturalistischen Stilkonvention. Wenn der Erzähler seine Rolle von der Figuration des falschen Zeugen nicht ganz befreien kann (da seine Kommentare über die zitierten Äußerungen und Gedanken der Protagonisten an manchen Punkten zweideutig sind und auch ausbleiben, bis zu dem Punkt, wo die beiden Bewusstseinsrealitäten sich nicht voneinander trennen lassen), so wird seine epistemologische und semantische Autorität erheblich reduziert. Sowohl die dispersiven Effekte auf der erzählpoetischen Ebene (die Lockerung des Bands zwischen Fokalisierung und Sprechsituation) als auch die thematisch-architextuellen Zusammenhänge (schablonenhafte Rollen und ihre Nichterfüllung, gleichwohl ihre Wiederholung im Schema der Geschichte) lassen sich vom grundlegenden Fehlen und dessen Supplementen bzw. Kopien in der performativen Struktur des sprachlichen Handelns erklären. Das aber sind Momente, die den realistischen Wertausgleich, seinen Vollzug – wird dieser auch noch so sehr anvisiert im Laufe des Romans – auf eine irreduzible Art und Weise subvertieren: Das Modell der Repräsentation kann sich nicht restlos auf referentielle Werte stützen, da diese nur die wahrheitsgebundene oder kognitive Seite des Diskurses vertreten können, welche sich mit seiner performativen Bedingtheit nie in völligen Einklang bringen lässt. Vielmehr generieren die Prothesen der Überbrückung ihrer gegenseitigen Fremdheit Geschichten, deren Erzähler ihre Autoritäten auf unentscheidbare Weise von beiden Seiten zugleich zu begründen versuchen. Der historische Roman Tündérkert (1922; Zaubergarten, K. Gáspár) hat ein besonders bewegtes Kapitel der siebenbürgischen Geschichte im 17. Jahrhundert zum Thema, den Antagonismus zwischen Gábor Báthory und Gábor Bethlen, der Fürst Siebenbürgens nach Báthory wurde (vgl. Szegedy-Maszák 1980b, 72–102). Das Verhältnis der beiden steht im Vordergrund und gibt den romanhaften Charakter des Textes an, zugleich wird dieser auch der Parabel angeglichen, insofern die beiden Gestalten auch Vertreter von (politisch-historischen und weltanschaulichen) Ideen sind. In ihren Figuren treffen zudem verschiedene Zeitkonzepte aufeinander, die mit dem Rhythmus der Erzählung in signifikante Beziehungen zueinander treten. Auch wenn der Roman die metonymische Textorganisierung nicht verlässt (Metaphorik wird vor allem in der Beschreibung der Gestalten aktiviert), sind die Handlungen doch nicht determiniert und die Figu-
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ren werden mehrdimensionaler, in Abweichung von der naturalistischen Poetik. Báthorys Vereinsamung wird denn auch durch visionäre Elemente mehrdeutig gemacht; in den besten Passagen des Romans sind expressionistische Ineinanderblendungen von Beschreibung und innerer Charakterisierung (der Protagonisten) am Werke. Eine doppelte, ambivalente Charakterisierung der beiden Hauptgestalten ist zu beobachten, die ihre Relation zu einem aporetischen Chiasmus macht: Báthory will etwas Neues bewirken (wobei unklar ist, ob er aus diesem Grund oder wegen seiner menschlichen Schwäche scheitert), Bethlen fügt sich aber der alten Ordnung und kann so erfolgreich sein. Der Untergang Báthorys ist dabei nicht tragisch, sein Tod aber wird mit tragischen Akzenten versehen. Die strukturale Poetik und die Geschichtsauffassung des Romans sind auf die entsprechenden Werke des großen Siebenbürger Erzählers Zs. Kemény zurückzuführen, und Letztere ist im Wesentlichen von einem ambivalenten Skeptizismus gekennzeichnet, der die Möglichkeit nichtkonvergierender Deutungen des (tragikomischen) Historischen nicht ausschließt (so endet der Roman auch ohne jegliche Lehre). Zwar gibt es nur wenige Werke im breiten Schaffen von Móricz, die heute das Interesse der LeserInnen jenseits eines soziographisch-gesellschaftskritischen Horizontes nachhaltig anziehen. Ferner ist die Anwesenheit der nicht wirklich erneuerten fabularischen Ordnung der Romanpoetik des 19. Jahrhunderts in seinen Texten dafür verantwortlich, dass die referentialisierenden Lesarten nicht immer funktional hinterfragt werden können. Doch ist das z. T. auch auf Unzulänglichkeiten der professionellen Rezeption zurückzuführen. Nach dem Nachlassen des Interesses für die soziale Sensibilität sind vor allem die Novellen und Az Isten háta mögött mit neuen, für den Handlungscharakter der Sprache geschärften Augen wiederzulesen. Die Macht der Sprachspiele wird hier in ihrem fundamentalen existentiellen Charakter dargetan, sie wird aber nicht als solche vorausgesetzt, sondern immer unterwegs zu ihrem Gelingen oder Scheitern präsentiert. Móricz’ Aufmerksamkeit für Konflikte, Kämpfe und agonale Situationen, die in einem unentwirrbaren Ineinander von Sprache und nichtlinguistischen Ausdrucksformen stattfinden bzw. ausgetragen werden, kommt in seinen besten Texten auf eine Weise zur Geltung, die für ein Modell der literarischen Kommunikation prägend sein kann. Das Lesen selbst wird zur Austragung der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Sinnstiftungen, Diskursen und Interpretationen. Im berühmt-berüchtigten Roman Az elsodort falu (1919; Das fortgeschwemmte Dorf) von Dezső Szabó (1879–1945) wird die naturalistische Schreibtechnik zu einer zunehmend expressionistischen Bildlichkeit und Syntax, die lebensnahe Inszenierungsattitüde zu einer beinahe physiologischen Ästhetik weiterent-
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wickelt. Das Werk führt hymnische, idyllische, apokalyptische und sarkastische Darstellungsweisen mit einem visionären Symbolismus zusammen, in dem das Pathos und das Tragische, aber auch die Apotheose des letztlich unzerstörbaren Lebens im Mittelpunkt stehen. Das umfangreiche Werk verarbeitet die Traumata des Ersten Weltkrieges und der darauf folgenden historisch-politischen wie soziokulturellen Ereignisse im damaligen Ungarn, (mit den Protagonisten) zwischen dem südöstlichen Rand der (ehemaligen) Monarchie (dem Szeklerland) und Budapest hin- und herwechselnd. Dem Roman ist auch eine ausgeprägte weltanschauliche, vielleicht ideologische, zumindest axiologisch stark verankerte Botschaftstendenz zu eigen. Das Erzählwerk mit dem Titel Kakuk Marci (1922–1937; Marci Kakuk, 1968, A. Csongár) von Józsi Jenő Tersánszky (1888–1969) verkörpert ein narratives Genre, das auf vormoderne Erzähltechniken zurückdeutet (Märchen, Schelmenroman). Die Mittellosigkeit der erzählenden Sprache steht hier weniger im Dienste einer paradigmatisch realistischen Seinsweise, vielmehr präsentiert sie sich als eine mündliche, ‚fabulierende‘ Narration. Die so verstandene Kommunikativität des Erzählens inszeniert Identifikationsmuster, die daran interessiert sind, sich von der als unberechenbar evozierten Welt und der verdorbenen Gesellschaft abzusetzen. Eine Relativität des Ethischen kommt da nicht auf. So erhält dieses Ethos seine Legitimierung von der Idee des ‚natürlichen‘ Menschen, wo Natur aber weder als Ziel gesetzt noch mythologisiert wird.
V.3.1.2 Kultur, Erziehung und narrative Identitätsfindung Die Erzählkunst von Mihály Babits (1883–1941) steht weitgehend im Zeichen der gesellschaftlich-kulturellen Umwandlungen der Jahrhundertwende in Ungarn (vgl. Németh G. 1995, 76–108). Sie geht etwa soziologischen Prozessen nach, die das Selbstverständnis und den Werdegang der jeweiligen Protagonisten maßgebend beeinflussen. Das Historische, das Kulturelle, auch das Politische sind mit dem Selbsterleben der Individuen auf vielfältige Weise verflochten. Dabei werden kulturelle Muster der Narration bestimmend, die nicht bloß ideen- und politikgeschichtlich konkretisierbar sind, sondern die literarische Vermittlung dieser Referenzen immer schon mitprägen – so vor allem Diskurse der Erziehung und der Tradition des Bildungs- und Entwicklungsromans. Fast alle Hauptgestalten seiner Romane sind ‚Zöglinge‘, die sich selbst und die Welt zu entdecken im Begriffe sind. So ereilt Elemér Tábory die Spaltung seiner Persönlichkeit im Romanerstling A gólyakalifa (1913; Der Storchkalif, S. J. Klein) zu seiner Gymnasialzeit: Das vorbildliche ‚Sonntagskind‘ wird nachts von Träumen heimgesucht, die es als einen
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Tischlergehilfen darstellen, in miserablen Lebensverhältnissen vegetierend. Die Hauptproblematik des Romans ist von diesem Doppelgängertum geprägt, von der Qual der nicht aufzuhebenden Verdopplung, die auch eine formelle Relativität herbeiführt. Im Erzähldiskurs des Romans wird dies zunächst so dargestellt, dass Personen, Situationen und Ereignisse der geträumten Welt wiederkehren, diese kopieren und umgekehrt. Auch wenn die beiden Erzählstränge eine wechselseitige Substituierung oder Metaphorisierung erfahren, bleibt die Frage, inwieweit diese Kombination den Erzähldiskurs als solchen – die übergeordnete Metaperspektive Táborys – vervielfachen kann, denn dieser bleibt (seiner sprachlichen Beschaffenheit und narrativen Ausrichtung nach) homogen in beiden Narrationen. Dazu kommt das Vorherrschen auch der Metonymie: Wenn das eine Ich wach ist, schläft das andere und umgekehrt. Die Verunsicherung der Referentialität der Sprache zeigt sich immerhin in sprachkritischen Reflexionen wie „Die Geschichte meines zweiten Ich ist die Geschichte der vergessenen Wörter“. Indes tritt die Destabilisierung der Referenz der Worte in keine relevante Beziehung mit den Übertragungen zwischen den beiden plots. Diese Destabilisierung ist im Grunde in einer einzigen Geschichte gegeben (sie meint einen kognitiven Zustand des Bewusstseins), nicht im Erzähldiskurs selbst. Erinnerung wird also als Fähigkeit, nicht als Dimension verstanden. So stellt die selbstreflexive Artikulation der Geschichte durch den gebildeten Tábory – er ist nicht nur Erzähler, auch Deuter seiner freudianischen Ichspaltung – dem namenlosen Tischlergehilfen gegenüber nicht nur formell eine Exklusivität dar, der Vorzug des Bildungskodes wird vom Wie des Erzählens selbst vorgeprägt. Das Ende bildet wiederum die Metonymie: Der Selbstmord des Tischlergehilfen bedeutet auch den faktischen Tod Táborys, ferner distanziert „der Brief des Autors“ das Geschehen, und verabschiedet die Figur des Erzählers (romantischen Doppelgängergeschichten nicht unähnlich). Timár Virgil fia (1922; Der Sohn des Virgilius Timár, 1923, S. J. Klein) ist ein Bildungs- und Erziehungsroman von beiden Perspektiven aus: von der des Erziehers und des Zöglings. Es geht um das Zeitlichwerden des Individuums, sein Selbsterleben angesichts einer offenen Zukunft, die Entfaltung einer Lebensintensität, die die streng geistige Erziehung zu überborden droht. Der Bruder Timár kann seinen vitalen Schützling Pista immer schwerer im Zaume halten. Der Geist und das Biologische, Vernunft und Leiblichkeit fechten ihren Kampf, im Vordergrund stehen die Rollen des klassisch gebildeten, vor allem an Augustin geschulten Timár, sein christlicher Stoizismus und auf der anderen Seite der sezessionistisch-gebrochenen, auch oberflächlichen Lebensbejahung des eigentlichen Vaters von Pista, Wilhelm Vitányi, des jüdischstämmigen Journalisten aus Budapest (mit dem Pista am Ende abreist, d. h. seine Wahl trifft). Der Roman analysiert oft auf feine Weise die inneren Zweifel Timárs, vor allem den psycho-
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logischen Widerklang seines Wortwechsels mit Vitányi, und weiß die verschiedenen Perspektiven im Erzähldiskurs in eine dialogische Abwägung zu bringen. Babits’ umfangreichster Roman, Halálfiai (1927; Todessöhne), ist ein Familien- und Zeitroman, der das historische Schicksal der Mittelklasse in Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts behandelt. Soziokulturelle Abläufe und Umstände, die ‚Endzeitstimmung‘ des Fin de Siècle werden in den Laufbahnen der verschiedenen Figuren – im Zerfall zweier Familien – gespiegelt. Der auktoriale Erzähler scheint indes ausschließlich mit den narrativen Gegebenheiten beschäftigt zu sein, nicht mit deren sprachlicher Vermittlung. Seine Herrschaft über den Text minimiert alternative Bedeutungsmöglichkeiten, die einem Zusammenspiel von Motiven, Metaphern, Momenten der nichtnarrativen Organisierung des Textes entstammen würden. So machen die diskursiv-kommentierenden Einsprüche des Erzählers das Geschehen und die Figuren oft auf eine allegorische Weise transparent. Die narrative Form entstammt Diskursen des 19. Jahrhunderts, sie beschreibt zuerst das Geschehnis, dann teilt sie mit, was geschah und warum, und dabei wendet sie die erzählerische Weise an. Diese Poetologie des Wissens mündet in eine Theatralität, bei der die Rollen der Protagonisten archetypisch festgeschrieben werden. Die sinngebenden Momente des Erzählens werden meist von einem Abstammungsprinzip gestiftet, noch deutlich diesseits von der Einsicht Nietzsches: „Das Individuum ist das ganze bisherige Leben in einer Linie und nicht dessen Resultat“ (Nietzsche 1980, Bd. 12, 378). Babits geht davon aus, dass Gesellschaft Kultur tradiert und diese Kultur in jeglicher Situation immer schon vorgegeben ist (wenngleich als fehlende, negative Folie). Wie denn kulturschaffende Tätigkeit, vor allem ihre Motivierung, Resultat von Interaktion sein kann, lässt der Roman unbeantwortet – jene Tätigkeit wird vielmehr romantisch verstanden, als Leistung des Individuums. Traditionsgedanke und schöpferische (mitunter auch psychoanalytisch gefärbte) Subjektvorstellung als Individualisierung treten in Spannung. Der Zusammenhang von (Selbst)Erziehung und Bildung wird in den Romanen von Babits zwar vom Gedanken einer Teleologie (etwa auf die vom Staat verbürgte Ordnung hin) losgelöst. Nichtsdestoweniger betrachtet Babits ‚Bildung‘ als eine integere Größe, die nur von außen gefährdet werden kann, von Effekten, die ihr zutiefst fremd sind (wie der Tischler; ferner erscheinen diese Effekte als bloße Parodien des Bildungsgedankens, in Szene gesetzt durch Heuchler, wie Vitányi in Timár Virgil fia, Gyula und seine Tochter in Halálfiai). Eine interne Spannung im Bildungsdispositiv selbst wird in den Romanen wohl nicht thematisiert, z. B. die ab Nietzsche wichtige, auch prekäre Unterscheidung von ‚wissenschaftlichem‘ und ‚gebildetem‘ Menschen. Ferner hätte Babits seinen auf Kontinuität bedachten Kulturgedanken wohl modifizieren müssen, hätte er den grenzüberschreitenden sowie indefiniten Charakter von ‚Bildung im Dienste des
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Lebens‘ angenommen. All diese Momente lassen die Figuren der literarischen Kommunikation bei Babits von den narrativen Kompetenzen mehr oder minder vorgegebener grands récits bestimmen, seine Erzähltexte bleiben transparent auf vorgängige Sujets und Strategien der narrativen Identitätsstiftung.
V.3.1.3 Psychologische Prosa Aus der frühen Erzählkunst Milán Füsts (1888–1967) ragt vor allem der Kurzroman Advent (1920) hervor, der Bewusstseinsinhalte in der Kreuzung zwischen einer Beobachtungskunst à la Malte Laurids Brigge und einem Kafka’schen Prozess zu vermitteln versucht (dabei aber weder das Ich den Dingen vergleichbar stark ausliefert noch die Problematik vom ‚Gesetz‘ auf einer metanarrativen Ebene konfiguriert, eher in einer wiederhergestellten Heilsgeschichte mündet). Sein auch im deutschen Sprachraum bekanntes Erzählwerk, der Roman A feleségem története (1942; Die Geschichte meiner Frau, 1962, M. Schüching), versucht, ein autobiographisches Modell mit Zügen des Bewusstseinsromans zu kombinieren. Zwar muten mehrere Reflexionen als Merkmale einer diskursiven oder auch analytischen Epik an, diese Momente werden aber vordergründig aus dem Verhältnis des Hauptprotagonisten und Ich-Erzählers Kapitän Störr zu seiner Frau Lizzy verständlich. Das heißt, die bedeutungsgenerierenden Verfahren des Romans hängen weitgehend von der Erzählbarkeit und der vorgängigen narrativen bzw. dramatisierten Situierung der reflexiven Inhalte, ihrer Herleitung aus referentiellen Gegebenheiten ab. In diesem Sinne kann letztlich doch nicht von einer genuinen Bewusstseinsprosa beim Ästhetizisten Füst gesprochen werden. Daran ändert auch der Sachverhalt nicht viel, dass die Gestalt von Lizzy in hohem Maße durch die Sichtweise des Kapitäns vermittelt wird und als solche auf der thematischen Ebene nicht fassbar ist. Im Endeffekt wird die Dynamik der Bewusstseinsinhalte meist unilinear auf die intersubjektive Relation zurückgeführt, der Roman verlässt also nicht endgültig den Rahmen der metonymischen Erzählweise.
V.3.2 Metaphorische und diskursive Erzählmodi V.3.2.1 Jenseits des Psychologismus Die Novellistik von Dezső Kosztolányi (1885–1936) ist von der anekdotischen und dramatisierten Tradition der Novelle her nicht zu würdigen. Seine ökonomische Schreibart vollzieht nämlich vor allem eine metaphorische Verdichtung der
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Elemente der Erzählung. Die entromantisierende Tendenz zeigt sich auch an der häufigen Selbstreflexivität bereits in seiner frühen Novellistik (noch vor 1910). Hier ist die Verdopplung der modalen Perspektive der Erzählung kennzeichnend, die Aufspaltung der Erzählstimme in die des Protagonisten und des Erzählers (die verschiedene semantische Gewichtungen ermöglicht). Letzterer ist des Öfteren auch ein unpersönlicher Zeuge des narrativen Geschehens. Von diesem erzähltechnischen Effekt her erscheint das Motiv des Gespensts in vielen Novellen auch nicht umsonst in zentraler Rolle (Az ismeretlen; Der Unbekannte, 1913, S. J. Klein; A cseh trombitás; Der böhmische Trompeter, 1986, H. Skirecki). Bei Kosztolányi gibt es – der ursprünglichen Semantik der ,Novelle‘ entsprechend – nie viel Geschehen in der erzählten Geschichte, meistens kommt es auf eine narrative Wende an, die vor allem das Verhalten und die Persönlichkeit der jeweiligen Hauptfigur in den Vordergrund stellt. In der erzählerischen Vorwegnahme und Vergegenwärtigung dieses entscheidenden Geschehens dynamisiert Kosztolányi nicht zuletzt den Duktus, den Rhythmus und die Syntax der Erzählung (und löst die Linearität somit auf), er führt diese einer temporalen Vielfalt und Mehrdimensionalität zu, die sowohl der Wahrnehmung der Figur als auch der sprachlichen Konditionierung seitens des Erzählers entstammen mag. Dieser Zug wird also bereits in sich mit semantischen Effekten gesättigt. Die erwähnte Wende kündigt des Öfteren den kommenden Tod der Gestalt an, die ‚unerhörte Begebenheit‘ der Novelle stellt letztlich der Tod selbst dar. Das ‚Sein zum Tode‘ beschäftigt bereits den frühen Kosztolányi. In seinem Kommen erscheint der Tod als das einzige Telos, und mit ihm kommt es auf das Provisorische, Vorübergehende an, darauf, wie man sich in ihm als dem Wesensaspekt des Daseins wiederfindet. In der reifen Novellistik wird die psychologisierende Tendenz noch mehr verdrängt, hier kommen die Diskontinuität der Handlung, die Verunsicherung der Kausalität, der Entzug der benennbaren Motivationen der Figuren, im Allgemeinen ein Perspektivismus zur Geltung. Die Symbolisierung verwirklicht sich durch die semantische Schichtung der Narration selbst, nicht so sehr durch die Ausarbeitung identifizierbarer Symbole. In der so gewonnenen Parabelhaftigkeit aber herrscht eine ambivalente Modalität; mehrere Deutungsperspektiven, sogar konträre Interpretationen sind möglich im Zusammenspiel des Referentiellen und des Ironischen (vgl. Caligula). Mehrere Verhaltens- und Rollenperspektiven werden ins Spiel gebracht, aber auch relativiert. Zwischen Narration und Selbstreflexion der Figuren sowie zwischen implizitem Autor und Erzähler treten bedeutungstragende Differenzen auf, die auf der semantisch-tropologischen Ebene von der Interaktion der literalen und metaphorischen Bedeutung modelliert werden. In dieser Metaphorisierung der Erzählgrammatik gelingt es Kosztolányi, das Parabolische von vorgängigen narrativen Wissensformationen loszulösen und es in einem offenen Bedeutungshorizont zu erschreiben.
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Die Romane von Kosztolányi werden als die besten Werke der modernen ungarischen Erzählprosa bezeichnet. Auffallenderweise gibt es bedeutsame Spannungen zwischen den von ihm praktizierten Gattungen, vor allem zwischen einem Großteil seiner Lyrik und seiner Romankunst. Diese Spannungen sind wohl auf eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Sprachauffassung des Autors zurückzuführen, also nicht bloß von Gattungsunterschieden abzuleiten. Während der Lyriker Kosztolányi sich von der klanglichen Ebene der Sprache als Remotivierungseffekt des Signifikanten im Grunde nie getrennt hat, interessieren den Verfasser der Romane die referentiellen Momente der Sprache. Fast alle Romantitel von ihm sind Eigennamen, die die sprachliche Arbitrarität und zugleich ihre referentielle Macht am stärksten exponieren. In diesen Texten werden die Namen auf mannigfaltige Weise mit anderen Bedeutungs- und sprachlichen Momenten verflochten. Ferner werden die meisten im Text repräsentierten Diskurse in ihren referentiellen Verhältnissen inszeniert: So ist z. B. Macht für Kosztolányi von einer sprachlichen Verkleidung nicht zu trennen. Ereignisse der Kommunikation sind immer schon auch Machtereignisse, die von der Referentialität der Sprache sowohl ermöglicht und unterstützt als auch untergraben werden. Sprache lässt sich folglich nur diskursiv und nicht faktisch ,motivieren‘. Die Aufmerksamkeit des Erzählers von Kosztolányi gilt in wesentlichem Maße den von dieser Seinsweise der Sprache hervorgerufenen bedeutungshaften, sprachpragmatischen und machtgenerierenden linguistischen Merkmalen. Gleichwohl interessieren ihn Möglichkeiten und Geschehen der Sprache, die in keiner rechtsgründenden oder rechtserhaltenden Gewalt aufgehen, sondern vielmehr eine Intersubjektivität überhaupt entstehen lassen, die ohne sie nicht denkbar wäre. Zwischen diesen Polen der korrumpierten, da von der Sprache selber bestimmten Kommunikation und einer virtuellen ‚Unschuld‘ ebendieser Sprache erstreckt sich das erzählerische Universum von Kosztolányi. Diese Momente sind jedoch meistens nicht sauber auseinanderzuhalten, werden sie doch in der oder von derselben Sprache ausagiert. Die Unschuld meint hier die Entkleidung der Sprache von den referentiellen Autoritäten, die ansonsten in jedem sprachlichen Akt immer schon am Werke sind. Von diesem Interesse an der verwickelten Beziehung zwischen Sprache und Macht her ist vielleicht auch der Romanerstling Nero, a véres költő (1922; Der blutige Dichter, 1926, S. J. Klein) über den römischen Kaiser Nero zu erklären (vgl. Király 1986, 73–88; Szegedy-Maszák 1995, 176–184). Der Erzähler sucht hier im Rückgriff auf die wohlbekannte Geschichte den Lebenslauf von Nero aufzuschlüsseln, auch durch die Befragung der Identität seines Erziehers Seneca. Unter anderem kann die Diskrepanz zwischen dem Leben von Seneca und seinen Ansichten, die praktische Uneinlösbarkeit seines Stoizismus die Destabilisierung auch von Nero, seinen Antibildungsroman, beleuchten. In der Welt des Romans
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herrscht Relativismus und Nihilismus, sich ausschließende Gesichtspunkte sind gleichermaßen gültig. Freilich wird der Roman zu transparent auf zeitgenössische Kulturkritik geöffnet und die sujethafte Vorlage letztlich auch nicht relevant umgedeutet, die ‚große Erzählung‘ vom Verfall eines Reichs und seiner Kultur bleibt in Geltung. Der Erzähler betreibt eine Verallgemeinerung im Schluss, das narrative Geschehen wird direkt an ein Wissen von der conditio humana angeschlossen. Auch in den wiederholten inszenierten Maskierungen wird die Gestalt von Nero nicht mehrdeutig (er maskiert letztlich die eigene Leere). Doch wird auf der thematischen Ebene immerhin das Problematische der narrativen Modelle der Erziehung registriert und damit die Einheit der Persönlichkeit angezweifelt, auch wenn diese im Rahmen eines allgemeinen Relativismus transzendiert wird. Die bedeutendste Schranke der Macht von Nero wird in der Figur von Britannicus aufgezeigt, der sich auch der Ironie gegenüber als resistent erweist. Auch nach seiner Ermordung kehrt er in Neros Halluzinationen ständig wieder, als ein Rest, den die Ordnung des machtorientierten Diskurses nicht zu absorbieren weiß. Ein Großteil der größenwahnsinnigen Handlungen Neros ist auf diese Blockade zurückzuführen, neben seiner künstlerischen Eitelkeit (ein kritischer Topos des homo aestheticus bei Kosztolányi). Der nächste Roman, Pacsirta (1924; Lerche, 2007, H. Eisterer; dass. Ch. Viragh), widmet sich im Wesentlichen der Problematik der Individualität, die in verschiedene (kulturelle, historische, familiengeschichtliche) Genealogien eingelassen ist, welche all die Handlungs- und Selbstverständnismuster nahelegen bzw. bestimmen, die das (Selbst)Verhältnis dieser Individualität prägen (vgl. Király 1986, 88– 103; Szegedy-Maszák 1995, 185–198; vor allem Bónus 2006). Diese Individualität konkretisiert sich als die ‚hässliche‘ Andere, die Hauptprotagonistin Pacsirta, die durch ihre primär ästhetische Andersartigkeit aus der Ordnung des Diskurses herauszufallen droht und die Genealogien in Zweifel zieht. Dies führt zu eigenartigen Subversionen in der temporalen Konstellation des Textes, die auch das dramatische Modell der Narration (aus dem 19. Jahrhundert) relativieren, das Pacsirta für die Isolation der Eltern verantwortlich machen würde. In Pacsirta als Vertreterin des Hässlichen wird der Selbsterhaltungsdrang der Eltern gleichsam blockiert (vgl. Nietzsche 1980. Bd. 12, 113). Sie hat keine Geschichte, da sie als die Hässliche eigentlich ein ‚Typus‘ ist (Nietzsche), sie wird als solcher gelesen, also inszeniert in der Schuldzuweisung seitens der Eltern. Ihr ‚Charakter‘ wird in ihrer ‚Schuld‘ erzeugt, die ihr ‚Schicksal‘ erst im Nachhinein mitimpliziert. Die Kausalität wird folglich verkehrt, was jedoch auch dem Sachverhalt zu verdanken ist, dass Pacsirta letztlich doch keine Singularität, eher eine Leere oder ein Fehlen darstellt. Ihre Fremdheit wird nicht als solche ‚primär‘ erfahren, um daraus eine Geschichte via Verdrängung zu bilden, sondern sie wird in dieser Geschichte miterzeugt, nur so kommt es zur „Fremdheit des Eigenen“. Pacsirta wird vielleicht
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zum uneingestandenen Anlass für die Eltern, um sich zurückzuziehen und eine Trauerarbeit an ihrer Tochter zu üben, die in den ökonomisch-genealogischen Diskursen – emblematisiert in der archivarischen Arbeit, sogar im Namen von Vajkay, dem Vater – nicht möglich ist. Poetisch werden die Trauerarbeit und die zeitliche Subversion durch ein dichtes Geflecht von Motiven verwirklicht. Ihre Vernetzung und eine im Erzähldiskurs in Gang gebrachte Hybridität von verschiedenen Sprechweisen verkompliziert die Textur des Romans dahingehend, dass der Erzähler ihre Dynamik auch nicht mehr ganz beherrschen kann. Die auktorialen Erzähl- und Sinnintentionen können jederzeit vom oft unbestimmten Spiel der Ironie und von den Tropen der diskursiven Kollisionen und Transpositionen überdeterminiert werden. Die grammatische Wiederholbarkeit, das Spiel mit gegebenen Klischees oder die Entfremdung des Namens relativieren immer schon das narrative Ereignis: Der Roman endet eigentlich nicht, die narrative Orientierung nach oder an einem Ziel wird nichtig. In diesem textuellen Spielraum fehlt auch das Tragische bzw. ist es vom allgemeinen prosaischen Dasein nicht mehr zu unterscheiden. Kosztolányi gibt damit für die Erzählkunst des 19. Jahrhunderts wichtige epische Konstanten auf; er dynamisiert die Erzählfunktionen von einem Dialog der inszenierten Sprachen bzw. den metaphorisch-motivischen Querverweisen, nicht primär von dramatischen Geschehnissen her. Aranysárkány (1925; Der goldene Drachen, 1999, H. Skirecki) bezieht sich mit kritischer Radikalität auf die Tradition des Erziehungsromans, dem etwa bei Babits noch gleichsam elegisch nachgetrauert wird. Zwar wird auch bei ihm die väterliche Autorität infrage gestellt, bei Kosztolányi aber wird darüber hinaus auch die Erziehung als Ausagieren einer sprachlichen Macht entlarvt (vgl. Király 1986, 103–122; Szegedy-Maszák 1995, 199–213; Bónus 2001, 7–36). Dies gilt auch für die narrative Autorität, die zwar keineswegs im Sinne von Joyce, Döblin oder Woolf aufgelöst wird, deren Verlässlichkeit aber nicht zu determinieren ist, steht sie doch buchstäblich zwischen der Geschichte und den handelnden Figuren. In dieser Gleichzeitigkeit der inneren und äußeren Fokalisierung weiß der Erzähler sowohl mehr als auch weniger von den Ereignissen als seine Figuren. Antal Novák, der Hauptprotagonist des Romans, ist Lehrer der Naturkunde und der Mathematik, und bereits diese Fächer geben Hinweise auf seine Sprachauffassung und Weltanschauung. Er deutet die zeigende und die benennende Funktion der Sprache identisch, aber nicht bloß, weil er die sprachlichen Zeichen für transparent hielte, sondern vielmehr um sie auch mit Hilfe der Techniken der Repräsentation abzusichern. Er benutzt Apparate, seine Lieblingsbeschäftigung ist das Durchführen von Experimenten, ferner misst er die Zeit auf vielfältige Weise und ist ein zuverlässiger Wetterprophet. Die zeigende Referenz (Naturkunde) wird mit dem konstruierten Aspekt ebendieser Referenz (Mathematik) verschmolzen. Diese mediengestützte Sprachauffassung von Novák steht in ei-
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nem gewissen Gegensatz zu seinen liberalen Erziehungsprinzipien, gleichwohl zeigt sie deren latente Gewalt auf: Für ihn ist das ‚Spiel‘ eigentlich nur in seiner Zweckmäßigkeit, im Dienste des Lernens annehmbar. Sein Verhalten zur Subversion ist ungeklärt, die Machtkomponente der Erziehung betreibt die Verschleierung der inneren Unsicherheit. Vernunft- und Wissenschaftskritik wird hier (nach gewissen Initiativen der Novellistik zur Zeit der Jahrhundertwende) ins Anthropotechnische gewendet: Eine mächtige Subjektvorstellung wird ihrer Fragwürdigkeit zugeführt. Die sprachlichen Dialoge von Novák sind stark formalisiert. Nicht nur an der machtgesteuerten Situation des Abfragens vom Lehrstoff ist dies zu erkennen, auch seine Dialoge mit den Jüngeren sind wie Geistergespräche oder Mitteilungen von heraufbeschworenen Geistern, an einem wichtigen Punkt – nach dem Ertappen der Tochter bei einem verbotenen Treffen – erscheinen sie gar als Verhör. Am Ende des Romans wird die Seele Nováks, der inzwischen Selbstmord begangen hat, von seiner Tochter heraufbeschworen; diese Situation und dieses Kommunikationsmodell aber werden in den ‚reellen‘ Kommunikationsakten bereits vorweggenommen, die von Novák zeitlebens exekutiert werden. Er zitiert gern Sprüche und Volksweisheiten – in der sprachlichen Macht ist es vordergründig nicht um die Referentialität getan. Die Macht richtet sich nämlich vor allem auf die performative Ebene der Sprache, die sie referentiell kontrollieren, in ihren eigenen Dienst stellen möchte. Verhör, Geisterbeschwörung, Wetterprophezeiung, Zitieren von Sprüchen – Novák versucht den Handlungsaspekt der Sprache sowohl zu verdrängen als auch zu instrumentalisieren, er möchte die referentielle Funktion der Sprache mit ihrer performativen Funktion vereinheitlichen. (Er ist also keineswegs nur an einem cartesianischen Repräsentationsmodell der Sprache interessiert, sein Blick auf diese ist mehrschichtiger, auch wenn er gerade dieser Komplexität entgegenwirken möchte und hieraus die schwerwiegenden Konsequenzen für sein Schicksal entspringen. Die Diskrepanz von Mitteilungsweise und Ansicht oder Prinzip zeigt sich nicht nur an der tatsächlichen Lüge von Novák, ursprünglicher charakterisiert das sein sprachliches Verhalten in nuce: Er sagt meistens nur Sprüche nach, was er selbständig denkt, das sagt er nicht [bei der Festrede des Direktors], in diesem Sinne ist er ein Lügner, besser: ein falscher Zeuge – auch gerade seiner selbst.) Novák ist bereits zu Lebzeiten ein Gespenst bzw. sieht gleichsam Geister, als er nach dem Angriff durch zwei ehemalige Schüler überall zwangsläufig Gerüchte wittert, also halluziniert. Alle an ihn adressierten Mitteilungen nimmt er als versteckte Anspielung auf seine Schande und erfährt dadurch die Ambiguität der Sprache, die sein referentiell-positivistisch-zielgerichtetes Weltbild zunichtemacht (so wie die Kugel seinen Kopf „wie eine Uhr zerstört“ und „die Zeit stillstellt“). Darüber hinaus legt der Roman etwa folgende Beobachtung nahe: das Streben nach Macht, die Kodierung der Sprache durch Macht ist sowohl
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Symptom als auch Kompensation des Nicht-Gelingens der sprachlichen Verantwortung, des Einstehens für den Anderen (Nero, Novák). Zwar wird in diesem Roman die fabularische Ordnung des Erzählens nicht spektakulär unterwandert, jedoch werden die Prozesse der Bedeutungsbildung zunehmend in die kontextuellen Interaktionen verschiedener Diskurse, Idiolekte und zitierter Sprachen versetzt und dort ausgetragen. Das Verhältnis des Erzählers zu diesen diskursiven Kollisionen, zur Dispersität der Sprachwelten ist in diesen beiden Romanen nicht zu determinieren, was darauf schließen lässt, dass sie auch außerhalb seiner Macht stehen. Die integrativen Figuren des Erzählens weichen den Spannungen vom eigenen und fremden Wort, welche die narrative Autorität sowie die Autorschaft relativieren und verschieben. Kosztolányi gibt damit einen virtuellen Weg frei, die zeitlichen Konstellationen des Romans, seine temporalen Momente mit Effekten der Sprache korrelieren bzw. seine zeitdimensionale Schichtung aus dem Ungesagten ebendieser Sprache entspringen zu lassen und sie von einem vulgären (kausalen vs. subjektiven) Zeitverständnis zu befreien. Dadurch kommt die wahre, da von den Sprechenden unkontrollierbare Macht der Sprache in der zwischenmenschlichen Verständigung hervor, die sich wegen der der Sprache innewohnenden Fremdheit immer schon als Missverstehen ereignet. Kommunikation hängt also nur partiell von Intentionen ab, vielmehr entstammt das Missverstehen der Inkompatibilität der einzelnen Sprachspiele. Kosztolányi verfolgt aber auch diejenigen Momente der Verständigung, die plötzlich und unvorhersehbar gelingen und über jegliche Mitteilungskompetenz hinausgehen, da sie des Öfteren eigentlich nichts anderes als Schweigen sind. In der Erkundung dieser Flexibilität der Sprache geht womöglich die Geschichte vom „bulgarischen Schaffner“ von Esti Kornél am weitesten, in der Esti mit den drei ihm bekannten bulgarischen Wörtern so hantiert, dass er den einheimischen Schaffner zu einem langen und emotionsgeladenen Geständnis veranlasst. Esti leiht ihm sein Ohr als Zeuge, sodass es zu einer Beichte kommt, von deren Inhalt man jedoch nichts erfährt. Auch Verstehen kann dem Missverstehen, gar dem Nichtverstehen aufruhen – das aber sind Ereignisse, die Regeln und Wissen der sprachlichen Bestände hinter sich lassen und auf eine Teilnahme angewiesen sind, die nicht der Subjektivität entstammt, sondern vielmehr dem Sich-Einlassen auf das offene, einem prekären Ausgang anheimgegebene Sprachgeschehen. Der Roman Édes Anna (1926; Anna, 1963, I. Kolbe) nimmt einen Mordfall zum Anlass der erzählten Geschichte: Ein Dienstmädchen ermordet nach einigen Monaten Anstellungszeit das Ehepaar, bei dem es arbeitet (vgl. Halász 2006; Bónus 2007). Hier beschäftigt Kosztolányi eine Tat, die vollkommen unvorhersehbar und scheinbar ohne nennbare Intentionen erfolgt (im Unterschied zum Angriff auf Novák). Der Erzähler ist hier in seinem Wissen über diese Figur, über ihre
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Seelentiefen seltsam eingeschränkt, man erfährt nur von gewissen primär-leiblichen Reaktionen von Anna. Alle Erklärungsversuche der Tat werden als partielle und parteiische – gerade nicht unironisch – dargestellt, die meist mehr von den Vorurteilen und Wertsystemen der Beschuldigenden Zeugnis ablegen als von Anna selbst. Überhaupt wird die psychologisierende Auslegung latent angezweifelt (ohne psychoanalytische Lesarten auszuschließen), da die Tat von Anna in keinerlei kognitivem, geschweige denn organischem Verhältnis zu ihr zu stehen scheint. Dass dabei immer schon moralisch-ethische, weniger kausale Bedeutungen im Spiel sind, zeigt die Szene vor Gericht: jegliche Erklärung kann erst im Nachhinein stattfinden, und das heißt, ‚Geschichte‘ wird immer schon von Rechtsordnungen und nicht nur via zeitliche Determinierung erzeugt. Die ganze Textur des Romans kippt in eine unheimliche Mehrdeutigkeit oder gar Bedeutungslosigkeit um, besteht man auf dem Fehlen jeglicher kausaler Erklärung. So wird man aber auch die Deutung des Arztes Moviszter – hebt sie sich noch so sehr ab von den anderen, da sie scheinbar weniger egoistisch ist – nur als eine mögliche Alternative im Streit der Interpretationen gelten lassen, hat man in ihr noch so überzeugt die Meinung von Kosztolányi gespiegelt gesehen. In diesem Falle rekurriert man auf die Autorität des Autors; gerade diese wird aber buchstäblich von einem ironischen Effekt im letzten Kapitel überschattet (in dem Kosztolányi selber erscheint). Anna ist Kosztolányis Version einer Romanfigur ,ohne Eigenschaften‘, sie ist ein Gespenst oder Wiedergänger von anderen, ein unheimlicher Gast (sie lernt Gesten von Frau Vizy, der sie manchmal als das frühere Dienstmädchen Katica erscheint, Letzteres erscheint selbst als ‚wiederkehrendes Gespenst‘ nach dem Mord). Folglich ist die ‚tiefenpsychologische‘ Problematik zwischen anderen und Anna zu verorten (nicht bloß in der Psyche der Letzteren, von der man ohnehin nicht viel weiß). So ist sie aber von der Sprache nicht zu trennen: Die ganze Krise von Anna ist am ehesten noch in der Entfremdung ihrer (sprachlichen) Singularität zu suchen (vgl. die Bemerkung von Moviszter über sie als „Maschine“). Anna ist sowohl seitens der Gesellschaft als auch der Sprache selber einer Gewalt unterworfen – erst in der duzenden Anrede des Polizisten erkennt sie ‚ihre‘ eigene Sprache wieder. Das Problem der Macht entpuppt sich einmal mehr als ein Problem der Sprache, diesmal auch in dem Sinne, dass eine bestimmte sprachliche Gewalt sowohl Individualität auslöscht, also ihre Geschichte unkenntlich macht, als auch immer schon den Schuldzusammenhang unterstellt, ihr also eine bestimmte Narrativität aufzwingt (Benjamin vom Richter: „in jeder Strafe muß er blindlings Schicksal mitdiktieren“, Benjamin 1972–1991. Bd. II.1, 175; das Problem von Frau Vizy besteht vielleicht darin, dass sie keinen Grund finden kann, Anna zu bestrafen). Anna war eigentlich immer schon verurteilt, ihre Geschichte ist somit von vornherein vorgezeichnet (aber nicht metaphysisch, wie bei Kafka, sondern durch eine sprachliche, jedoch nicht
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in allen ihren Zügen intentionierte Gewalt). Sie war das Gespenst ihres eigenen verurteilten Rechtssubjektes (vgl. auch den palindromischen Effekt ihres Namens). All das wird jedoch erst nachträglich, in den Versuchen der Erklärung ihrer unbegründbaren Tat konstruiert. (Sprachliche) Gewalt als Möglichkeit und Unmöglichkeit der Erzählung; zu dieser Einsicht kommt Kosztolányi in seinem letzten Roman. Die beiden Novellenzyklen Esti Kornél (1933) und Esti Kornél kalandjai (1935; Die Abenteuer des Kornél Esti, 2006, Ch. Viragh) stellen die am meisten intellektualisierte Erzählgattung bei Kosztolányi dar. Ihre partielle Fragmentarität wird im Grunde von keinem textuellen Prinzip, eher von der Existenz der Hauptfigur motiviert. Der Titelprotagonist und inszenierte Erzähler mehrerer Episoden ist selber Schriftsteller, ein thematisches Alter Ego von Kosztolányi, seine Hauptthemen geben etwa die Inkommensurabilität von Leben und Literatur, den nicht zu erklärenden Zufall und die Effekte des eigenen inszenierten Sprechverhaltens ab. Immer mehr geht es in diesen Geschichten darum, hinter den Ereignissen und Taten nach keinen Tätern zu suchen und dabei den Begriff der Verantwortung zu verschieben. Ein Relativismus löst das Denken in Gegensätzen ab (ähnlich wie bei Musil), auch wenn die poetische Beschaffenheit der Texte davon nicht radikal erfasst wird. Kosztolányi erreicht hier eine markante Desubstantialisierung des Subjekts, am eindrücklichsten wohl in der Geschichte von der Witwe, der und deren Familie Esti zu helfen versucht (vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 85–87). Das tut er auf eine moralisch kaum vorbildliche Weise: Er lügt, stellt sich mal überlegen, mal ausgeliefert, ist mal frech, mal nett usw. Die ‚Wahrheit‘ kann sich in keinem metaphysischen Gewand mehr präsentieren, das Subjekt besteht nicht mehr in der Verdopplung von ‚Verhaltensweise‘ (‚Form‘) und ‚Wesen‘ (‚Inhalt‘), diese Opposition ist hier nun außer Kraft. Das so freigelegte Potential des Sprechens lässt sich von solchen transzendierenden Vorstellungen nicht mehr identifizieren, denn es besteht nur aus „Höflichkeit“, aus einem „sich als indifferent gebenden Wort“, das zu jemandem im geeigneten Augenblick gesagt wird als „die Rechtfertigung seines Lebens“. So ist „das gute Wort“ „mehr als die gute Tat“, die zu zweifelhaften Resultaten führen kann. Sprechen als Handeln war eigentlich auch schon bei Krúdy ein Thema und wird später auch bei Márai relevant sein, doch befindet sich die „Höflichkeit“ von Esti – als (erst dem Rufen des Anderen antwortende) Sprache – bereits außerhalb des Horizonts des Ästhetizismus auf der Schwelle zur Spätmoderne. Auch an dieser Dezentrierung des Subjekts sieht man die profunde Nähe zu Nietzsche, der unermüdlich gegen den Gegensatz der ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Welt ankämpfte. Kosztolányi erprobt Möglichkeiten der Sprache, die von keinem linguistischen Konventionalismus (auch der ,Sprachspiele‘) und keinen Modellen der Entsprechung und der Aussage erfasst werden können. Von diesem freigesetzten
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Geschehen der Sprache (das bar der Täter und Schuldigen ist, folglich taugen die Figurationen des ,Schicksals‘ für den Lebenslauf der Figuren nicht mehr) her könnte auch die jeweils sehr diskrete Anspielung auf das Transzendente oder Göttliche beim späten Kosztolányi funktionaler erklärt werden. Das Göttliche stellt hier das Versprechen einer Instanz dar, die das deteleologisierte und von referentiellen bzw. quasi-juridischen Autoritäten losgelöste Sprachereignis bezeugen könnte. Diese Werke (und einige späte Gedichte) Kosztolányis weisen sich, zusammen mit gewissen ästhetischen Ansichten ihres Autors, von den vergleichbaren Leistungen der klassischen Moderne als die herausragendsten aus. Die von bzw. in ihnen artikulierte Modellierung der literarischen Kommunikation nimmt in sich Komponenten auf, die bei den meisten seiner Generationsgenossen überhaupt nicht in den Blick gerieten. Vor allem in seinen Romanen Pacsirta und Édes Anna zog Kosztolányi überlieferte Lesarten des Romans in Zweifel (mit der entleerenden deteleologisierten Wiederholung des Genealogischen bzw. der radikalen unmotivierten Zäsur des Fabularisch-Narrativen) und gab damit den Blick für dehumanisierte Effekte der Sprache frei. Kosztolányis Sensibilität für das verwickelte Zusammenspiel zwischen der Referentialität und der – u. U. auch den Täter fiktionalisierenden – Performativität der Sprache erschließt Dimensionen des Literarischen, die dessen Interpretierbarkeit einer Offenheit anheimgeben, die etwa die tragischen und negativen Akzente wiederum auch aufhebt. Interpretation ist für Kosztolányi nicht so sehr Identifikation der Bedeutung, sondern ein unabschließbarer Prozess der Übersetzung zwischen Sprachmodi, die füreinander nie völlig transparent sein können. Seine Zweifel an kulturellen und diskursiven Autoritäten entstammen z. T. diesen Einsichten in die bedeutungsstiftende, gleichwohl unverfügbare (weil sich von diesen Bedeutungen wiederum auch trennende) Produktivität der Sprache. Auch wenn er auf einer gewissen Ebene seiner Sprachauffassung die ästhetizistische Phänomenalisierung, ein symbolisierendes Sprachkonzept und den Glauben an den artistischen Ausdruck vom Selbst nicht aufgab, war er derjenige Autor, der die Sprache, das Denken über sie kompromisslos in den Vordergrund des literarischen, sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetischen Nachdenkens gerückt hat (allein dieser Zug sichert ihm seinen exklusiven Platz im ungarischen Schrifttum seiner Zeit; vgl. die Sammlung seiner Essays über die Sprache, die Übersetzung und das Literarische mit dem Titel Nyelv és lélek [Sprache und Seele]). Die Sprache ist für Kosztolányi – wie für Humboldt, dessen Renaissance sich damals anbahnte – etwas, ,was nie fertig‘ und immer schon einen Schritt weiter ist als seine Benutzer, dessen Relativität von seiner singulären weltbildenden Absolutheit nicht zu trennen ist. Dieses (auch auf Arany zurückweisende) Sprachkonzept verhalf ihm dazu, Bereiche und Effekte der literarisch intensivierten Sprache zu erkunden, die
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ethische Aspekte der Intersubjektivität sowie die Zeitlichkeit der Individualität oder den möglichen transzendenten Aspekt ihres ambivalenten Selbstverständnisses beeinflussen bzw. überhaupt prägen. An gewissen Punkten ging er gar über die Tradition der klassischen Moderne hinaus und gehört damit der zweiten Welle ebendieser Moderne an, die grundlegende Zusammenhänge der literarischen Kommunikation neu definierte. Die von ihm gewonnenen sprachlichen und semantischen Horizonte sind der Anlass für das Romanschaffen von Márai, Ottlik und Esterházy, Autoren, die immer schon am Erbe von Kosztolányi weiterschreiben – eines der interessantesten Kapitel der intertextuellen Produktivität in der ungarischen Literatur. Der wahre Kosmopolit Jenő Heltai (1871–1957) zeigt in seinen Erzählwerken einen zweischneidigen Relativismus des modernen Lebens auf, in dem der Zufall (das Spiel) und die programmierte Wiederholung (die ewige Wiederkehr) auf manchmal ununterscheidbare Weise verflochten werden. So entfaltet sich eine ironische Erzählweise, die ihre Effekte nicht selten in der Kontrastierung inkompatibler Sprachwelten und Sprechmodi, dem Sagen und dem Ungesagten erzeugt. Die Leseerwartungen von gewissen narrativen Konventionen sind vor der Ironie auch nicht gefeit, der Abbau und der überraschende Wiedereintritt der narrativitätsorientierten Lesefiguren tun deren klischee- und zitathaften Charakter kund. Die Novellistik von Géza Csáth (1887–1919), einem nahen Verwandten von Kosztolányi, ist anfangs von einem reduzierten schriftstellerischen Arsenal und Schreibtechniken im Sinne eines fast minimalistischen Realismus und von didaktischen Momenten gekennzeichnet, sie tendiert aber immer mehr zur Schilderung des Grotesken, Irrationalen (etwa des Halluzinatorischen infolge von Drogenkonsum), Phantastischen und der Gewalt. Oft breitet sich ein ironischer Schein über die narrativen Gegebenheiten aus, äußerst selten kommt es jedoch zu einer sprachlich-diskursreflektierenden Motivierung dieser Ironie (eine Ausnahme bildet Apa és fiú [Vater und Sohn] mit der Kontrastierung der Wissenschaftssprache und der Motivik allgemeinmenschlicher Gefühle). Der romantischen Erzählprosa ähnlich, aber mit deutlichen Einflüssen der zeitgenössischen Psychoanalyse wird bei Csáth dem Traum eine verstärkte fiktional-szenische Funktion zugeschrieben, doch verbleibt auch die Traumrepräsentation unter der sprachpragmatischen Kontrolle des Erzählers, d. h. die Grenze von Realität und Fiktion wird narrationstechnisch erkennbar scharf gezogen.
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V.3.2.2 Spannungen der Poetik der Erinnerung und erzählerischer Identitätsmodelle Gyula Krúdy (1878–1933) ist der wohl populärste Erzähler der klassischen Moderne, sein Lebenswerk umfasst Hunderte von Erzählungen und ca. 70 Romane. Sein unverwechselbarer sezessionistisch-dekorativer und postromantischer Stil hat sich zuerst in seinen sogenannten Sindbad-Novellen gezeigt, die alle Merkmale seines Sprachgebrauchs versammelten (zu Krúdys Erzählkunst vgl. Fülöp 1986, 259–291; Gintli 2005; Fried 2006). An erster Stelle steht da der ästhetisierendstilisierende, neoromantische wie impressionistische Zug, der sowohl an der Häufung der Bilder als auch an der elegischen Modalität, generell an einer epikolyrischen Diktion, an einem quasi altertümlichen, gar magischen Stil zu beobachten ist. In dieser Weise wird die fiktionale und symbolträchtige Form des Erzählens, im Sinne der ästhetizistischen Fiktionalisierung des ,Wirklichen‘ (konträr zur romantischen Aktualisierung des Fiktiven) betont (zur Figur der ,umgekehrten Mimesis‘ vgl. Žmegač 1993, 45–57). Diese Texte sind Kompositionen der Erinnerung, ihr Thema ist fast ausschließlich die Vergangenheit (einer bestimmten Monarchie und des ungarischen Lebensstils an der Jahrhundertwende). Die Infragestellung der Integrität und Kontinuität des Individuums, die Betonung der Rolle des Traumes ist beim Lieblingsautor Sándor Ferenczis bereits in den frühen Sindbad-Novellen zu erkennen, ein Aspekt, der sich in der Entwicklung der erzählerischen Schreibtechniken von Krúdy verstärkt. Dazu trägt auch die allgemeine Ereignislosigkeit, der Mangel an Handlung bei, da dieser Erzählmodus vor allem an der standbildhaften Vergegenwärtigung, am Zeichnen von emblematischen Figuren und einer stimmungshaft-atmosphärischen (weniger narrativen) Inszenierungsweise, ferner auch an einer realistischen Detailkonzentration interessiert ist. Krúdys Texte bewahren die auktoriale Form des Erzählens, auch wenn die Erzählerfunktion nicht selten auch an Figuren abgegeben wird. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers ist ebenfalls charakteristisch, das Spiel zwischen den Perspektiven des Erzählers und den Figuren wird des Öfteren auch bedeutungstragend (und verknüpft sich mit dem lyrischen Ton). Daneben ist ein reflexiver Sprachgebrauch für seine Prosa bestimmend, ohne jedoch intellektualistischpsychologisierend zu werden. Dabei tauchen auch bekenntnishafte Elemente sowie anekdotische Storys in den Texten auf. Das allgemeine poetische Ziel von Krúdy besteht wohl in der epischen Objektivierung von lyrischen Lebensstimmungen und Erfahrungen, die aber stets in der gebrochenen Perspektive der Erinnerung erscheinen. Eine integrale oder systematische Deutung der Figuren, Geschehen und Erzählinhalte wird nicht angestrebt. Das ermöglicht u. a. die berühmte Krúdy’sche Ironie, die auch in interessante semantische Spannungen mit dem elegischen Ton des Eingedenkens zu treten vermag (die Ironie zeigt auch
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zunehmende Tendenz im Oeuvre). Unter diesen Voraussetzungen erschließt sich diese heterogene Erzählwelt, in der stimmungsvolle Episoden, idyllische Szenen, banale, triviale, gar vulgäre Momente, romantische Abenteuer, irreale, sogar phantastische Geschehnisse in unmittelbarer gegenseitiger Nähe vorkommen. Die Sindbad-Novellen sind auf der thematischen Ebene von der Rückkehr ihres Hauptprotagonisten an ehemals besuchte Orte bestimmt, an denen er seine Erinnerungen zu evozieren, manchmal sogar die ehemaligen Taten wieder zu agieren versucht. Das Reisen als Motiv bedeutet hier sowohl die Mnemotechnik als auch den Fluss der Erinnerung selbst. Sindbad wird sowohl mit der Unveränderlichkeit des Lebens auf dem Lande als auch mit der Unmöglichkeit der erneuten Inszenierung seiner selbst konfrontiert. Er ist im Grunde ein Schauspieler, der nach einer passenden Rolle sucht, dessen Lügen (an die Frauen) von der Zeit mit dem Vergangenheitscharakter abgestempelt werden. Erst in der zunehmenden Entfernung von Rolle und Subjekt, wo etwa die Fotografie öfters als Index des Vergangenseins erscheint, wird das Dahineilen der Zeit registriert und nicht in der Problematisierung der Narrativität als Modell des Selbstverständnisses oder in unvorhergesehenen Effekten einer mémoire involontaire. Nicht der Zusammenhang von Erinnern, Gedächtnis und Vergessen wird als solcher zum thematisch-poetischen Brennpunkt gemacht, sondern ein Stillstellen der Zeit bzw. eine Vergänglichkeit wird reflektiert – diese beiden schließen sich bei Krúdy keineswegs aus, sondern lassen sich in ein zyklisches Zeitkonzept integrieren. Diese Eigenschaften prägen auch den ersten berühmten Roman A vörös postakocsi (1913; Die rote Postkutsche, 1966, Gy. Sebestyén). Őszi utazások a vörös postakocsin (1917; Herbstliche Reise in der roten Postkutsche, 1966, Gy. Sebestyén) wurde in der zweiten Auflage (1925) vom Verfasser an vielen Stellen modifiziert, was zu bedeutsamen semantisch-metanarrativen Verschiebungen und motivischen Umbesetzungen führte (vgl. hierzu Török 2004). Eine Differenz wird so in das Verhältnis von Geschichte und Narration eingeführt. Interessant sind die reflexiven Bemerkungen des Erzählers in der zweiten Auflage, die dem Text zusätzliche Informationen beigeben, also auf die Spuren von Lesern (der ersten Auflage) verweisen, für welche die gemeinsame Sprache, die früher noch vorauszusetzen war, nicht mehr in Geltung ist. Die zeitlichen Veränderungen sowohl der sprachlichen Kompetenzen der Gesellschaft als auch der Ordnungen des historischen Gedächtnisses werden so reflektiert. Die Zäsur des Modernen wird damit zu einer palimpsestartigen textuellen Bewegung zwischen den beiden Fassungen des Romans, welche Dynamik seine Auslegung mitprägt. Ansonsten ist in diesem Roman nicht so sehr eine Praxis des Erinnerns maßgebend, vielmehr eine Aufhebung von Zeit, eine Erstarrung des Vergangenen, die sich auch auf die Gegenwart erstreckt (vgl. Kap. 6). Die technisch-mediale Bedingtheit des Erinnerns wird in den Bildbeschreibungen
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anvisiert, wobei das Bild auch Medium von Erstarrtheit ist. Diese Ausdehnung bewirkt den Anschein der Erinnerung. Das irreale Alter der Figuren, die märchenhaften Züge des Erzählens tragen auch zur Enttemporalisierung bei. Im 11. Kapitel hingegen betont die Aussage von Alvinczy das Vergessen, wiederum in einer konstatierenden Perspektive: „Alle Erinnerungen sind falsch“. Der Topos der Vergänglichkeit wird größtenteils noch im Zuge der postromantischen Tradition heraufbeschworen („Herbstliche Reise“), doch wird dieser vom Reisen als Metapher für die Zeit („Herbstliche Reise“) auch in eine temporale Schichtung übertragen. So ist der Satz von Alvinczy auch doppeldeutig, er kann nämlich die Hinfälligkeit der Erinnerung angesichts der Erstarrung wie die unüberbrückbare zeitliche Zäsur bedeuten. Nicht unwahrscheinlich ist jedoch auch die Lesart, nach der die Erinnerungen immer nur Bilder des erstarrten Vergangenen ergeben, daher falsch sind – doch die Beziehung zum Erinnerten eigentlich nicht problematisieren. Signifikant ist ebenfalls, dass die Bedingtheit der Erinnerung durch den Anderen, anders als bei Proust, nicht in den Vordergrund treten kann. Der Roman Napraforgó (1918; Sonnenblume) zeigt eine Wende zumindest am semantischen Horizont der Epik von Krúdy, eine Vertiefung bestimmter Motive an, die am Ausgang des Ersten Weltkrieges auch nicht ganz verwunderlich ist. Der Untergang der alten Welt wird hier in Szene gesetzt (im Tod des Herrn Pistoli), mitsamt der Debatte zwischen den VertreterInnen des Alten und des Neuen (Pistoli und Álmos versus Fräulein Maszkerádi und Kálmán). Nicht selten kommt auch die Ironie, nicht bloß die Nostalgie, in der Behandlung der ländlichen Welt der Nyírgegend als Raum des Alten zum Zuge. Traditionelle Erzählmodalitäten, auch der apokalyptische Ton werden verabschiedet: Im Monolog von Pistoli kurz vor seinem Tode wird der Abbau von Wertakzenten im Verhältnis zur aktuellen Welt ausdrücklich durchgesetzt. Dem entspricht die Abwesenheit einer integrierenden narrativen Perspektive im Roman. Die Autonomisierung der einzelnen Geschichten wird so weit getrieben, dass dem Text eine mosaikartige, sogar novellistische Ordnung eigen ist (auch wenn die Geschichte doch abgeschlossen wird). Mit dieser partiellen Fragmentierung der erzählerischen Ordnung geht eine Ambivalenz im narrativen Wissen selbst einher, indem legenden- und sagenhafte Geschichten in die Erzählung eingeflochten werden. Dies führt zur Verdopplung der Identität der Figuren, die auch in intersubjektivem Sinne gilt – auch dafür steht die mehrdeutige Metapher im Titel. Die wechselseitige Abhängigkeit der Figuren wird auf derselben metaphorischen Achse aber auch zu einem Daseinssymbol ausgebaut: das Leben im Wind, wo die Integrität des Individuums problematisiert wird. Damit korrelieren Reisen und Warten als weitere Daseinsmetaphern, die ja explizit temporale Aspekte aktivieren. Stadt und Land sind keine starren Gegensätze, die sich gegeneinander ausspielen ließen; in der Metaphorik der Bewegung werden sie z. T. auch verflüssigt. (Diese Dynamisierung beherrscht
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die Poetik der bildlichen Assoziationen und Vergleiche im Roman, die nicht selten zu weitreichenden motivgesteuerten semantischen Effekten führt. Interessant ist in poetologischer Hinsicht die Ineinanderblendung des Bildlichen von der Metapher im Titel mit der metonymischen Relation, die in derselben Vorstellung des Heliotrops aufkommt und der mosaikartigen, parataktischen Ordnung des Erzählens entspricht. Das Kombinatorische [die ikonischen Züge der Metapher] tritt mit dem Syntagmatischen [den diskreten Erzähleinheiten] in ein Spiel, in dem die mannigfaltigen visuellen Assoziationen nicht zur Totalisierung der epischen Bedeutung, eher zu deren Vervielfältigung beitragen.) Das Novellenpaar Utolsó szivar az Arabs Szürkénél (Die letzte Zigarre im ‚Arabischen Schimmel‘, 1988, H. Weissling) und A hírlapíró és a halál (Der Journalist und der Tod, 1988, H. Weissling) führt die außerordentlich verdichtete metaphorische Bedeutungskonstitution (etwa einer Gastsemantik im Sinne des Todes) mit einer Reflexion der Sprache zusammen, die als ein Spiel mit Regeln erscheint, das immer schon Nichtverstehen erzeugt. Die jeweilige ‚Wirklichkeit‘ der Figuren ist von ihrem Sprachspiel kodiert, hängt schlichtweg von diesem ab. Das Schematisieren der Sprache ist auch für das Nichterkennen der Individualität verantwortlich; darüber hinaus kann diese von ihm ausgelöscht oder unkenntlich gemacht werden. Krúdy gelingt eine Funktionserweiterung der narrativen Semantik von nichtnarrativen Sprachkonstellationen her, die die Endlichkeit des Subjekts auch in einem neuen Licht – losgelöst etwa von einer individuellen ‚Charakterologie‘ als vermeintlicher ‚Vorgeschichte‘ – erscheinen lässt. Der Roman Boldogult úrfikoromban (1929; Meinerzeit, 1999, Ch. Viragh) betreibt eine Summierung und gleichzeitig Überbietung der Erzählkunst des Autors (vgl. Sepeghy 1999). Das Gespräch (in einem Restaurant) wird hier vollends zum Medium des Epischen. Alle Bezeichnungs- und Präsentationsstrategien werden als sprachliche Akte kundgetan und treten in diskursive Verhältnisse zueinander, die auch verschiedene Welten (der ehemaligen Monarchie) zur Geltung bringen. Die narrative Position bestimmt sich von der doppelten Perspektive der Erinnerung her: die Figuren erinnern sich an ihre „verstorbene Jugendzeit“ (vor 1914), die Geschehnisse am Ort – die auch eine Reinszenierung derselben Jugendzeit umfassen – werden aber aus der Nachträglichkeit, anhand von Legenden, die sich auf diesen bestimmten Tag beziehen, erzählt. Der Autor wird zum Aufzeichner und Nacherzähler von Legenden, von oralen Überlieferungen, deren referentieller Status unsicher ist. Das Verhältnis des Erzählers zum Wahrheitsgehalt der Gesagten bleibt des Öfteren offen und ambivalent – das Sujet wird vom Erzählmodus getrennt, ihm gleichzeitig aber auch angenähert (da es um das Gespräch geht). Für den Epiker der Erinnerung ist Anamnesis vom Zitieren nun nicht mehr zu trennen; die ästhetizistische Erzählkonvention wird in einen Zwischenraum von mehreren Sprachen und Soziolekten transponiert und von deren Spannung ge-
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prägt (die auch die aktantialen Kollisionen bedingt). Denn die Interaktionen der Diskurse werden hier zum wichtigsten bedeutungsstiftenden Merkmal der epischen Textorganisierung, das sich in ironischen Effekten entlädt. Narration wird zu einem textuellen Spiel, da sich in der mehrfach gebrochenen Vermittlung der Erzählinhalte (doppelte Erinnerung, zitierte Klischees usw.) auch die Identitäten der Figuren verdoppeln und in eine Art theatralische Maskierung übergehen (die Handlung des Romans spielt in der Faschingszeit). Die Evokation von Vergangenheit ist keine neutrale oder auch nur kognitive Operation, sie ist vielmehr eine theatralische Inszenierung, gar ‚Performanz‘. Gleichwohl bleibt dieser Aufführung der zeitliche Index eingeschrieben: die Figuren möchten im Tanz, der spontan im Restaurant stattfindet, gleichsam ihr früheres Selbst heraufbeschwören. Nichts anderes haben sie freilich zuvor in ihren verbalen Äußerungen versucht: sich ständig in eine Vergleichsrelation mit dem früheren Selbst (oder dessen Rolle?) zu setzen. Dieser Präsentationsmodus des individuell Erinnerten wird mit der fiktionalisierenden Tendenz der Vergegenwärtigung oral überlieferter Inhalte so verknüpft, dass dadurch sowohl der Anschein des zeitlich Abgeschiedenen als auch der Effekt seiner Verewigung entsteht. In diesem Spiel von Aktualisierung und Erinnerung wird ersichtlich, dass ‚storyhafte‘ Erlebnisse im Grunde erst nachträglich, in erzählter Form erlebbar werden. Krúdy betreibt zweifelsohne eine Narrations- bzw. Fiktionskritik: Herr Pista stellt eine Allegorie des Erzählers dar, seine Tätigkeit ist eine theatralische Aktion, er agiert als Regisseur und als Schauspieler zugleich. Außerdem trägt die sowohl interne als auch externe Fokalisierung des Erzähldiskurses, seine oft verwirrende Vermengung mit Zitaten, die den Protagonisten zugeschrieben werden (aber vielleicht nur von der Legende), zur Ambiguisierung der narrativen Momente bei, und diese heterogene Modalität erzeugt die Ironie, die auch mit einer metanarrativen Funktion versehen wird. Dabei wird mehrmals die Zufälligkeit der Sprache dargetan; im Falle von Äußerungen der Figuren, die scheinbar nicht intentional erfolgen, ist zumindest ihre Intention nicht zu identifizieren, und sie werden von der Erzählstimme auch demonstrativ nicht erklärt. Diese sprachliche Kontingenz wiederum hat freilich einen doppelten Index: Sie kann referentiell gelesen und als Moment der erzählten Situation (etwa als Zeichen von Trunkenheit) gewertet werden, als deren ‚Leerstelle‘ wiederum kann sie gleichermaßen Effekt der überlieferten ‚Sage‘ oder gar der aktuellen Erzählung sein. In dieser virtuellen Trennung von Geschehen und Narration wird die inszenierte, zitierte Erinnerung selbst subvertiert und zwar von der Gegenwart her; gleichwohl kann das auch den Kurzschluss des zitierenden Diskurses bewirken. Es geht da nicht so sehr um das Erinnerte, um sein Betrauern oder Feiern. Vielmehr wird es zu einem Anlass zur Selbstpräsentation von fingierten Identitäten und Rollen. Die Poetik des Vergleichs kippt in die Vielfalt sprachlich ausagierter und kopierter Rollenzuschreibungen um. Der Ästhetizismus von Krúdy
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wird konsequent zu seinem Ende getrieben: Die artistisch gestiftete Formwerdung in der Sprache weicht einem diskursiv-semantischen Spiel, in dem Literatur als Muster für das Leben gilt, jedoch nicht von einem Verhalten des Ästheten her, sondern vielmehr dank der hybriden Potentialität der Sprache. Zwar kann diese Art von Kommunikativität auch als Gemeinschaftsstiftung oder zumindest als Anspruch auf diese betrachtet werden, doch konkretisiert sich diese eher als die Möglichkeit des Spiels mit auf literarisch-fiktionale Weise erzeugten Identitäten und Rollen(zitaten). Die epische Textorganisierung ist hier weder von einem referentiellen noch von einem narrativen Wissen mehr abhängig: Alle fabularischen Muster – auch als petits récits der kulturell-interethnischen Geschichte der Donaumonarchie (vgl. Orosz 2008) – erscheinen notgedrungen als Zitate. Die intertextuelle ‚Fortsetzung‘ dieses Romans und anderer Texte von Krúdy in Márais Sindbad-Roman (Szindbád hazamegy; Sindbad geht heim, M. Bieler) ist denn auch eine angemessene Antwort auf die immanente Poetik der Werke des Älteren. Die Erzählprosa von Margit Kaffka (1880–1918) stellt eine Mischung der herrschenden narrativen Stilkonventionen der Jahrhundertwende dar. Realistische Züge kombinieren sich mit elegischen Stimmungen, einem vornehmlich visuellen Impressionismus und dem sezessionistischen Kult des Wortes, der Literatur als Kompensation für eine defiziente lebensweltliche Befindlichkeit versteht. Ihr wichtigstes Werk, der Roman Színek és évek (1911; Farben und Jahre, I. SzentIványi), schildert verschiedene gesellschaftliche und generationsbedingte Umwälzungen der Jahrhundertwende (u. a. die weniger positiven Erlebnisse in der Großstadt) bzw. reflektiert mehrere narrative Schemata und Zeitkonzepte im persönlichen Schicksal der Ich-Erzählerin. Die homodiegetische Erzählung findet aus der Perspektive einer vorwiegend kontemplativen Erinnerung statt, in der die Diskontinuität der narrativen Ordnung zwar vorherrschend, jedoch einer konstativen Beziehung zu den Ereignissen untergeordnet ist. So tritt die Ambiguität der erinnerten Lebensgeschichte nicht in der Narration selbst zutage, sondern nur auf einer thematischen Ebene der (tiefen)psychologischen Abläufe. Weder ein Perspektivismus noch die Relativität des Erzählens ist zu beobachten, gleichwohl können gewisse reflexive Aspekte in dieser Prosa als Vorboten der psychologisierenden Epik von László Németh betrachtet werden. Die Novellistik von Gyula Szini (1876–1932) widmet sich vor allem dem Irrealen wie Träumen, Lebensillusionen oder Gespenstern, wie es sich als Ereignis und als Angewohnheit im Alltäglichen zeigt. Sein Sprachgebrauch ist dementsprechend sowohl von realistischen Zügen als auch von in ihrer Referentialität ambivalenten, in ihrem Zitatcharakter reflektierten Textpassagen geprägt, der Diskurs des auktorialen oder Ich-Erzählers von inneren Monologen und reflexiven Gedankengängen
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subvertiert. Im Kontrast zu Csáth etwa übt das Irrationale seine Wirkung nicht nur in der Subjektivität bestimmter Individuen aus, sondern wird stärker in Bezug auf seine situations- und narrationsschaffenden Effekte inszeniert. Folglich berührt das Irreale auch die Pragmatik und die Wertungsmodalitäten des erzählenden Diskurses und lässt die Geschichten etwa in einen offenen, gar unauflösbaren Ausgang münden. In einer Entnarrativierung und Sprachkritik des epischen Diskurses geht Tücsökdal (Grillenlied) womöglich am weitesten: ein innerer Monolog, der die Ausdruckskonvention der ästhetizistischen Subjektivität bewusst vom Prosaischen her entfremdet und die erzählerische Geschichtsbildung einer deteleologisierten Kontingenz überantwortet. Die Novellistik und die Romane von László Cholnoky (1879–1929) lassen sich zwar auf weiten Strecken als Reflexion des Niedergangs einer gesellschaftlichen Schicht und seiner Konsequenzen lesen (ähnlich wie Halálfiai von Babits oder bestimmte Texte von Krúdy), doch übersteigen seine Texte diese referentielle Ebene und entwickeln einen Sprachgebrauch, der die denotativen Eigenschaften des Erzähldiskurses immer mehr mit surrealen Momenten und einer ironischen Pointierung überspielt. Das Zusammenspiel der letzten beiden Sprachmodi und ihre selbstreflexiven Signale eröffnen einen ambivalenten Bedeutungsraum der Erzählungen. Seine an E.T.A. Hoffmann geschulte Imagination stellt die Wiederkehr der Toten und unheimlicher Gespenster in den Vordergrund und entwirft Szenen der Gastlichkeit etwa, die im Lebenslauf der Protagonisten einschneidende Wenden zeitigen (meistens verursachen sie ihren Tod). Die innere Zerrissenheit und multiple Persönlichkeit der Figuren paart sich nicht selten mit einer tiefgehenden Unbestimmtheit ihrer referentiellen Verhältnisse, die meist auch einer enigmatischen Symbolisierung den Weg bahnt (so auch in den Kurzromanen Prikk mennyei útja; Prikks Weg in den Himmel, und Bertalan éjszakája; Bartholomäusnacht). Einen Generator der Mehrdeutigkeit seiner Texte stellt die mehrschichtige und dereferentialisierte Modellierung von Zeit dar, die z. B. Krúdy oft nicht unterlegen ist. Die prekären temporalen Verhältnisse der Modernität und ihre Auswirkungen auf die Individualität werden in den Texten Cholnokys in einer Weise inszeniert, die von kompensatorischen Zügen noch weitgehend frei ist (welche Züge sich sogar in den späteren Esti-Novellen von Kosztolányi stellenweise entdecken lassen).
V.3.2.3 Intellektualistische Prosa Der Literaturgelehrte Antal Szerb (1901–1945) behandelt in seinen Romanen vorwiegend kulturhistorische und -kritische Motive. Utas és holdvilág (1937; Reise
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im Mondlicht, 2011, Ch. Viragh) ist ein Anti-Bildungsroman der lebensgeschichtlichen Zäsur des Erwachsenwerdens, geschrieben in einem konfessionalistischen poetischen Rahmen und zugleich in eine historische Perspektive gestellt. Im Zuge von Spengler wird hier dem Kulturgedanken nachgetrauert, indem seine politisch-kollektivistische Gefährdung aufgezeigt wird. A Pendragon legenda (1934; Die Pendragon-Legende, 2004, S. Großmann-Vendrey) konstituiert sich aus einem kulturgeschichtlichen Stoff und ist zudem mit reichen literaturhistorischen Bezügen versehen. Es handelt sich dabei eigentlich um einen Detektivroman, der sich gleichzeitig auch als Essay lesen lässt. Im ironischen Verhalten, in der distanzierten (von einer überlegenen Position des neoklassizistischen Kulturgedanken her getriebenen) Reflexion bestimmter mythischer Vorlagen kann man auch eine gewisse geistige Verwandtschaft zu Thomas Mann entdecken. Frigyes Karinthy (1887–1938) ist vor allem als Verfasser einer umfangreichen literarischen Parodiensammlung (Így írtok ti, 1912; So schreibt ihr) bekannt. In diesem Werk finden sich parodistische Allusionen und Travestien, die das ganze stilistische Spektrum nicht nur der Nyugat-Literatur, ihrer Dichter und Erzähler (der damaligen literaturhistorischen Gegenwart) abdecken. Sie machen indirekt darauf aufmerksam, wie gekünstelt vieles im Nyugat-Paradigma war. Dem Prosaschriftsteller Karinthy verdankt man u. a. zwei negative Utopien (Utazás Faremidóba, 1916; Die Reise nach Faremido; Capillária, 1922; Capillaria, 1999, H. Skirecki), in denen eine ironische Vernunft-, Wissenschafts-, Kultur-, gar Phallozentrismuskritik mit zusätzlicher antimilitaristischer Wucht getrieben und das Unorganische als eine höherwertige Entität dem Anthropomorphen gegenüber dargetan wird. Das beste Erzählwerk Karinthys ist ohne Zweifel aber die autobiographische Erzählung Utazás a koponyám körül (1936; Reise um meinen Schädel, 1985, H. Skirecki), in der die Geschichte seiner Hirnkrankheit und seiner Operation geschildert wird. Der Problemkomplex ‚Gehirn‘ wird in seinem kulturellen, anthropologischen und wissenschaftlichen Bedeutungszusammenhang reflektiert und Realität von Imagination auf beinahe ununterscheidbare Weise durchwaltet. Gelegentlich ist nicht einmal auszumachen, ob gewisse Reflexionen nüchternen oder krankhaften Zuständen entstammen. Das Autorsubjekt und die mit ihm identische Hauptfigur zerfallen in der Kreuzung mehrerer Diskurse und in deren unvorhersehbaren referentiellen Kollisionen und Effekten (Medizin, Detektivroman, öffentliche Meinung, Familie, literarische Vorlagen, Träume). Die Krankheit ruft durch die Zufälligkeit des ‚Ichs‘ die Narrativen hervor und verunmöglicht sie zugleich. Karinthy betreibt auf seine Weise eine Abrechnung mit der artistischen Verschönerung des dehumanisierten Wirklichen, andererseits betont er das ‚Rollenhafte‘ auch des Organischen, d. h. die Unmöglichkeit seiner neutralen Betrachtung. Auch dieses Werk markiert eine virtuelle Endfigur des Ästhetizismus der Nyugat-Literatur.
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VI Materialisierung der Sprache: Strömungen der Historischen Avantgarde 1915–1929/1938 VI.1 Fünf Zeitschriften – fünf Strategien Das Ziel meiner Zeitschriften war es nicht, Schriftstellerpersönlichkeiten zu hätscheln; während die Zeitschrift Nyugat (Westen) darauf abzielte, ‚Riesen zu erziehen‘, wandte sich unsere Bewegung der Erziehung der Leser zu. […] Die Politik meiner Zeitschriften war es nicht, eine neue und exklusive Gruppierung der Schriftsteller und der Künstler zu gründen, sondern eine Verbindung zwischen der Künstlergesellschaft und der Öffentlichkeit zu stiften.
So schrieb Lajos Kassák (1887–1967), die Leitfigur der ungarischen Avantgarde, rückblickend in seinem 1955/56 zusammen mit Imre Pán (1904–1972) verfassten Buch Izmusok (Die Ismen, Kassák–Pán 2003, 257, Ü: Verfasser). Kassák, dessen schriftstellerisches, künstlerisches und herausgeberisches Werk in der Geschichte der ungarischen Literatur und Kunst zum Inbegriff der Avantgarde wurde, gründete zwischen 1915 und 1929 fünf Zeitschriften, die unterschiedliche Versuche verkörperten, Literatur und Kunst unter wechselnden historischen Umständen gesellschaftlich zu verorten. Wenige Jahre nach der Gründung der Zeitschrift Nyugat (Westen), der wichtigsten literarischen Institution der klassischen Moderne in Ungarn, erschien am 1. November 1915 Kassáks Zeitschrift A Tett (Die Tat). Wie bereits der Name dieser ersten Zeitschrift der ungarischen Avantgarde anzeigt, war es in allen seinen späteren Unternehmungen die ‚soziale Tat‘, die im Mittelpunkt seines Interesses stand. Die fünf Zeitschriften, A Tett (Die Tat, 1915/ 16), Ma (Heute, 1916–1919 in Budapest, 1919–1925 in Wien herausgegeben), 2x2 (1922), Dokumentum (Dokument, 1926/27) und Munka (Arbeit, 1929–1938) waren für Kassák alle (partei)unabhängige Institutionen einer linken Avantgarde, unterschieden sich aber in ihrer Strategie, eine Öffentlichkeit zu erreichen bzw. zu ‚erziehen‘. Die erzieherische Strategie der Zeitschrift A Tett und der Budapester Ma richtete sich nach Kassáks pädagogischen Vorstellungen an die Aufklärung der ‚Jungarbeiter‘, d. h. der Jugendlichen der städtischen arbeitenden Schicht, in denen es das Bewusstsein des neuen und ‚aufrechten Menschen‘ zu erwecken galt. Kassák, ein Selfmademan, der den langen Weg vom Eisenarbeiter bis zum freien Schriftsteller und zur autoritären Leitfigur der Avantgarde aus eigener Kraft zurücklegte, „erblickte in einer noch nicht vorhandenen Gruppe seine gesellschaftliche Basis – in einer gebildeten Arbeiterschaft nämlich, die unter der menschenformenden Wirkung der aktivistischen Kunst hätte zustande kommen müssen“ (Forgács 1999, 20). Nachdem die Zeitschrift A Tett 1916, mitten im
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Abb. 28: Titelblatt der Zeitschrift MA
Weltkrieg, wegen ihrer „internationalen Nummer“ verboten wurde, gründete Kassák die Zeitschrift Ma, die ab 1919 mit dem Untertitel „Aktivistische Kunstzeitschrift“, später „Aktivistische Zeitschrift für Gesellschaft und Kunst“ erschien. Die Jahre zwischen 1915 und 1920 werden in der Geschichte der ungarischen Avantgarde nach dem Untertitel des Ma ‚Aktivismus‘ genannt. Mitarbeiter in diesen Jahren waren u. a. die SchriftstellerInnen Sándor Barta (1897–1938), Erzsi Újvári (1899–1940), und János Mácza (1893–1974), die Maler Béla Uitz (1887– 1972) und Sándor Bortnyik (1893–1976) sowie die Schauspielerin Jolán Simon (1885–1938). Neben Veröffentlichungen expressionistischer Gedichte, Dramen und Novellen, in denen sich ein starkes soziales Sendungsbewusstsein äußerte, betrieb die Gruppe einen Ausstellungsort und veranstaltete aktivistische Aben-
Fünf Zeitschriften – fünf Strategien
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de.1 Alle Bereiche waren wichtige Teile eines inoffiziellen Bildungsprogramms im Zeichen einer revolutionären Avantgarde. Ironisch genug ist, dass dieses Bildungsprogram gerade in der 1919 ausgerufenen Räterepublik nicht aufrechterhalten werden konnte. Kassák, der als Mitglied des Schriftstellerdirektoriums eine tätige Rolle in der Räterepublik spielte, geriet bald in schwere Auseinandersetzungen mit den politischen Leitern der Räterepublik, vor allem mit Béla Kun. Die Frage war, ob die Avantgarde ihre Autonomie gegenüber der politischen Macht sowie gegenüber einer Auffassung von Kunst und Literatur als reine Agitation bewahren könne und dürfe (vgl. Deréky 1996, 57; Forgács 1999, 16). Infolge dieser Auseinandersetzung wurde die Budapester Ma am 1. Juli 1919 eingestellt. Die ungarische Avantgarde-Literatur war in ihrer besten Periode – zwischen 1920 und 1926 – Exilliteratur. Nach dem Niederschlag der Räterepublik flohen Kassák und seine Mitarbeiter vor dem Terror des Horthy-Regimes im März 1920 nach Wien, wo die sozialistische Regierung den ungarischen Emigranten Zuflucht bot. Hier änderte sich für Kassák auch das Gefüge jener Öffentlichkeit, in der Literatur und Kunst ihre soziale Aufgabe zu erfüllen hatten. Das in Wien neu gegründete und bis 1925 herausgegebene Ma, dieses ‚Who’s Who‘ der Avantgarde der Zeit (Deréky 1996, 58), trat im Kontext einer internationalen Literatur- und Kunstszene auf und wurde ein europaweit bekanntes Blatt für die Avantgarde (mit einigen mehrsprachigen Heften und mit Autoren und Künstlern aus mehreren Ländern, u. a. aus Deutschland, Frankreich und Russland). Obwohl die Öffentlichkeit eine ganz andere war als zwischen 1915 und 1919 in Ungarn, wo eine gesellschaftliche Schicht wenigstens eine Zeit lang unmittelbar erreich- und erziehbar zu sein schien, gab noch diese gleichzeitig vereinzelte und weltweit vernetzte – da in den engen Kreisen der ungarischen Wiener Emigration erscheinende und doch im Diskurs internationaler Avantgarde sich äußernde – Unternehmung Kassáks das Ideal der ‚sozialen Tat‘ nicht auf: In die ‚Weltströmung‘ der Avantgarde sich einzubinden, hieß noch in den frühen 1920er Jahren, an das Prinzip der ‚Kunstwende = Weltwende‘ zu glauben. Die Wende in der Kunst, d. h. der Auftritt einer ‚neuen Kunst‘, solle notwendig eine Wende in der Gesellschaft herbeiführen – so dachten die Avantgardisten vom Expressionismus der 1910er bis zum Konstruktivismus der frühen 1920er Jahre.
1 Im literarischen Gedächtnis bleiben nur Texte und (ihre) Lesarten; man sollte aber nicht vergessen, dass die Avantgarden u. a. auch Strategien und Medien verwendeten, bei denen der Schwerpunkt auf dem – meistens öffentlichen aber momentanen – Ereignis lag: Den futuristischen Skandalen, den dadaistischen Performancen oder den surrealistischen Séancen entsprachen in der ungarischen Avantgarde die aktivistischen Abende des Kassák-Kreises oder die politischen Theateraufführungen des Kreises um Ödön Palasovszky (ausführlicher s. u.). Beide fanden z. T. an den Schauplätzen der sozialdemokratischen Bewegung statt.
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Abb. 29: Propagandaabend der Zeitschrift MA. In der Mitte Lajos Kassák und Andor Németh, Wien, 1922
Kassák blieb bis zum Ende seiner Emigration in der österreichischen Hauptstadt, die für die meisten Emigranten eine zwar wichtige, aber vorläufige Station auf dem Weg nach Paris, Berlin oder Moskau war. In Kassáks Entscheidung für Wien äußerte sich das Paradox zwischen dem angestrebten Internationalismus und dem Beharren auf der muttersprachlichen Öffentlichkeit (vgl. György 1986, 68). Wien war noch nah genug, um die ungarische Öffentlichkeit in Budapest und in den Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, u. a. in den Städten Pressburg (Bratislava/Pozsony), Kaschau (Košice/Kassa), Neusatz an der Donau (Novi Sad/Újvidék), Klausenburg (Cluj-Napoca/Kolozsvár) oder Großwardein (Oradea/Nagyvárad) zu erreichen, aber bereits zentral genug, um sich ins Netzwerk der internationalen Avantgarde einschalten zu können. Dies galt auch umgekehrt: In Wien, wo Kassák mehr Kontakte zu der Berliner Avantgarde als zu den Kreisen der österreichischen Literatur- und Kunstszene ausbaute, konnte er die internationale Öffentlichkeit schon erreichen und noch die Unabhängigkeit seiner Bewegung gegenüber den deutschen, holländischen, russischen u. a. Richtungen bewahren. Wien war also für Kassák der einzig mögliche Ort für eine im Grunde ungarischsprachige, aber internationale Avantgarde (vgl. György 1986).
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Kassáks Entscheidung für Wien teilten nicht alle Mitarbeiter des Ma-Kreises: Sándor Barta, János Mácza, Béla Uitz u. a., die den Autonomieanspruch der Avantgarde gegenüber der offiziellen Politik als ‚bürgerlich‘ ansahen, gingen bald andere Wege. Béla Uitz gründete mit Aladár Komját (1891–1937) die kommunistische Zeitschrift Egység (Einheit, 1922/23), Barta die beiden Zeitschriften Akasztott Ember (Der Gehenkte, 1922/23) und Ék (Keil, 1923). Mácza, Barta und Újvári zogen 1923 und 1925 weiter nach Moskau.2 1922 erschien in Wien das einzige Heft der Zeitschrift, die Kassák mit Andor Németh (1891–1953) zusammen herausgab. 2x2 wandte sich mehr an die ‚innere‘ literarische Öffentlichkeit der ungarischen Emigration und an die Leserschaft in Westungarn sowie in den Nachbarländern als an die internationale Kunstszene. Den beiden Herausgebern „schwebte die Gründung eines Nyugat-ähnlichen, gemäßigt modernistischen Blattes in Wien vor, das, dem großen Vorbild ähnlich, auch zum Sammelbecken aller modernistischen und avantgardistischen Literaten werden sollte“ (Deréky 1996, 66). Das baldige Scheitern der Zeitschrift bewies die Enge der literarischen Öffentlichkeit, die die beiden Herausgeber ansprechen wollten. Doch zeigt dieses Unternehmen auch, wie ambivalent Kassáks Einstellung gegenüber der Zeitschrift Nyugat tatsächlich war (zu dieser Ambivalenz vgl. Forgács 1999, 25–26). Es ist in dieser Hinsicht vielsagend, dass der Mitherausgeber dieser Zeitschrift gerade jener Andor Németh war, der sich – nicht anders als Tibor Déry (1894–1977) – erst nach 1919 Kassák anschloss, d. h. nicht zu den Budapester Aktivisten gehörte, aus einem anderen und eher bürgerlichen gesellschaftlichen Hintergrund kam und politisch nicht radikal war (vgl. Deréky 1996, 60). Waren A Tett und die Budapester Ma ‚aktivistische‘ Zeitschriften mit einem sozialen Erziehungsprogramm und die Wiener Ma eine Zeitschrift für die internationale Avantgarde, so war das 1926 nach Kassáks Rückkehr aus dem Wiener Exil in Budapest gegründete Dokumentum ein „wie man es heute sagen würde, LifestyleMagazin für die linke Schickeria“ (Deréky 1996, 77). Diese Zeitschrift, die „keine Kunstzeitschrift“ sein, sondern „einen gesellschaftsbezogenen Querschnitt des heutigen Weltbildes“ geben wollte (Dokumentum, Mai 1927, 1, Ü: Verfasser), zielte auf eine Leserschaft ab, die gebildet, aufgeschlossen und nicht zuletzt wohlhabend genug war, um sich für Zeiterscheinungen wie Sport und Mode, Radio und Grammophon, Massen- und Kinderpsychologie, Luftfahrt und Massenproduktion, die moderne Stadtplanung und das Bauhaus-Design, Jazz und Zwölftonmusik, die surrealistische Dichtung und den russischen Avantgarde-Film zu interessieren. Konnte es 1919 noch geschehen, dass der Kongress der Jungarbeiter eine Grußbot-
2 Barta fiel um 1938 dem Stalinismus zum Opfer, seine Frau Ujvári starb 1940, Mácza unterrichtete bis zu seinem Tod (1974) an verschiedenen Moskauer Kunsthochschulen.
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schaft an Kassák mit der Aussage sandte, dass die Jungarbeiter Ungarns die „neue Kunst“ schätzten und förderten (vgl. Deréky 1996, 58), so konnten Kassák und seine Mitarbeiter jene Schicht, die sich eine Zeitschrift wie Dokumentum hätte leisten können, 1926/27 nicht erreichen. Nach dem fünften Heft musste die Zeitschrift eingestellt werden. Das Unternehmen erwies sich in der literarisch und politisch immer konservativer eingestellten Öffentlichkeit des damaligen Ungarn als „exterritorial“ (Andor Németh). Die Kontinuität jener Moderne, die die Zeitschrift Ma vor dem und im Exil vertrat, war nicht fortzusetzen. „Die kurze Laufbahn des Dokumentum“ bewies für Kassák, „dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung unserer früheren Bewegung vernichtet sind“ (Kassák–Pán 2003, 244; Ü: Verfasser). Laut der rückblickenden Erzählung des alten Kassák von 1955/56 konnte aber um 1928 doch noch etwas passieren, was zur Gründung einer neuen Zeitschrift führte: „Junge Arbeiter kamen, um mich zu begrüßen und um meine Hilfe zu bitten. Die Gesandtschaft der jungen Druckereiarbeiter bat mich, für sie eine Zeitschrift zu gründen […]“ (Kassák–Pán 2003, 245). Diese Zeitschrift trug bereits in ihrem Namen die Bescheidenheit jener Jahre, die nicht mehr vorbehaltlos an die großen Utopien glauben konnten, die die Avantgarden der 1920er entflammt hatten. Bei der Gründung der Munka (Arbeit) ging Kassák bereits davon aus, dass „wir uns weder an die ehemalige Leserschaft des Nyugat noch an die der Ma wenden können, da beide zerfallen sind“ (Kassák–Pán 2003, 245; Ü: Verfasser). War für die Budapester Ma die Zeitschrift Nyugat noch der starke und gute Gegner, der zu überwinden war, und für die Wiener Ma die internationale Avantgarde der „Rohstoff“, den es zu „bearbeiten“ galt, so „hatte die Munka keinen Rohstoff, keine Anhänger, keine Gegner, keine Öffentlichkeit im künstlerischen, gesellschaftlichen und philosophischen Sinne […], mit einem Wort: sie hatte keine Möglichkeiten“ (Kassák–Pán 2003, 244; Ü: Verfasser). Der Munka-Kreis bedeutete noch Anfang der 1930er Jahre ein wichtiges geistiges Milieu für eine Generation junger Schriftsteller und Künstler (István Vas [1910–1991], Dezső Korniss [1908–1984], Ernő Schubert [1903–1960], Sándor Trauner [1906–1993] und Lajos Vajda [1908– 1941]) und zeigte vor allem auf dem Gebiet der Soziofotografie folgenreiche Ansätze. Den eigentlichen Auftrag der Zeitschrift definierte aber Kassák – bis zu ihrem Verbot im Jahr 1938 – bereits im Rahmen der Arbeiterbewegung. Die Gründung der Zeitschrift bedeutete somit das Ende einer Literatur- und Kunstbewegung.
VI.2 Die aktivistische Frühavantgarde (1915–1920) „Der Schwerpunkt des Programms der Zeitschrift A Tett liegt nicht auf dem künstlerischen Produkt, auf dem Wie des Machens […], sondern auf dem Künstler als sozialem Wesen!“ (zit. nach Forgács 1999, 13) – schrieb Kassák in seiner Replik auf
Die aktivistische Frühavantgarde (1915–1920)
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Mihály Babits’ Artikel, den der Dichter des Nyugat 1916, kurz nach der Gründung der Zeitschrift A Tett, verfasste. Diese „mit außerordentlich ärmlichen Argumenten“ (Kulcsár-Szabó, Zoltán 2007, 225) geführte Debatte kreiste darum, ob die Autoren der Ma-Gruppe mit Recht einen Anspruch auf etwas Neues erheben, wenn sie Gedichte mit freien Versen veröffentlichen. Die Scheidelinie verlief natürlich nicht zwischen einem einfachen Ja oder Nein, die Frage war nicht, ob die Avantgarde tatsächlich etwas Neues schuf oder nicht, sondern ob das ‚Neue‘ als literarischer ‚Selbstzweck‘ oder als Mittel zur ‚sozialen Tat‘ aufgefasst wurde. In dieser Debatte gerieten zum ersten Mal eine klassische, d. h. traditionsgebundene, Moderne und eine Avantgarde, die die Ablehnung u. a. der literarischen Tradition zur ästhetischen und ideologischen Grundhaltung erhob, in Konflikt. Die Avantgarde kam in Ungarn – anders als in Frankreich, Italien oder Deutschland – mit wenigen Ausnahmen aus der kulturellen und gesellschaftlichen Peripherie, d. h. aus einer Arbeiterschaft, die aus der elitären Kultur ausgeschlossen war, und blieb – wiederum anders als in Frankreich, Italien oder Deutschland – bis zum Ende ihrer Geschichte an der Peripherie der ungarischen Kultur. Die Debatte zwischen klassischer Moderne und aktivistischer Avantgarde brach also erst 1916 aus, obwohl die Manifeste und Veröffentlichungen u. a. der Futuristen in den literarischen Kreisen in Ungarn bereits viel früher bekannt waren. Dezső Kosztolányi und Mihály Babits haben 1909 und 1910 selbst über Marinetti und die Futuristen geschrieben, und die beiden Autoren der ,mit wohlmeinender Nachsicht‘ geschriebenen Artikel hielten eine scharfe Ablehnung dieser radikalen Richtung nicht für wichtig. Marinetti war seinerseits überzeugt, die Autoren der Zeitschrift Nyugat hätten um 1908 eine ähnliche Wende in der ungarischen Literatur durchgeführt wie die Futuristen in Italien. Erst 1915/16, „nach dem Auftreten und nach den ersten lauten Manifesten des Kassák-Kreises wurde in der ungarischen Literatur der Unterschied zwischen Moderne und Avantgarde allgemein verständlich“ (Deréky 1996, 56). Vor 1915/16 war diese Grenze noch nicht unüberschreitbar, sogar Kassák schrieb seine frühen, noch im Zeichen des Naturalismus entstandenen Novellen für den Nyugat. Die Veröffentlichung dieser frühen Werke im Hauptorgan der Moderne bedeutete für den jungen Autor eine bedeutende Anerkennung, und der Redakteur Ernő Osvát (1877–1929) blieb lebenslang ein wichtiges Vorbild für ihn.3 Das – allerdings harmlose – Missverständnis zwischen Marinetti und den Nyugat-Autoren war seitens der Letzteren laut der überzeugenden Argumente der Kunsthistorikerin Éva Forgács erst möglich, da es
3 Noch in seiner Autobiographie Egy ember élete (1927–1935; Das Leben eines Menschen) widmet er Osváth wichtige Abschnitte und schrieb auf seinen Tod 1929 ein Gedicht mit dem Titel Emlékezzetek rá! (Erinnert euch an ihn!).
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im damaligen Ungarn schlicht „außerhalb alles Vorstellbaren lag“, dass „der Skandal Mittel einer politischen Attacke sein kann, überhaupt dass das geschriebene Wort eines Künstlers in eine konkrete politische Gefahrenzone führen kann“ (Forgács 1999, 9). Die Nyugat-Autoren nahmen also die politischen Zielsetzungen der Futuristen nicht ernst. Das Auftreten der Ma-Gruppe, d. h. einer SchriftstellerGruppe, die von außerhalb der elitären Kultur kam und eine verbindliche und verbindende literarische Tradition nur mangelhaft kannte, war aber an sich eine politische Tat, die die Grenzen des „Vorstellbaren“ überschritt. Ein anderer Autor, der die Manifeste der Futuristen in Ungarn rezensierte, war Dezső Szabó (1879–1945), der die Eröffnungsworte zur ersten Nummer der Zeitschrift A Tett schrieb. Szabó, der spätere Autor des umstrittenen Romans Az elsodort falu (1919; Das fortgeschwemmte Dorf) und weiterer, in den 1920er Jahren entstandener und durch die Rassenideologie berührter Schriften, veröffentlichte in den Jahren vor 1915 eine Reihe wichtiger Aufsätze, die noch einen vielgelesenen, begabten, leidenschaftlichen und zeitgemäß denkenden Schriftsteller erkennen lassen. In diesen Artikeln setzte sich Dezső Szabó kritisch mit den vom 19. Jahrhundert ererbten positivistischen Mustern der Bildung, des Unterrichts und der Wissenschaften auseinander. Szabó interessierte sich für den ,erziehenden Wert‘ der Literatur und formulierte den stark an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen erinnernden Gedanken, Bildung könne unter Umständen sogar schädlich sein. Der Gedanke einer ‚kritischen‘ Erinnerung, den Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, 1874) ausarbeitete, taucht in einem Aufsatz von 1912 in der folgenden Form auf: Die Literaturgeschichte wird im Zeitalter der literarischen Massenprodukte „gleichzeitig gewinnen und verlieren […], und das, was sie verliert, wird nicht ihr kleinerer Gewinn sein. […] Man wird einsehen müssen, dass ein Teil der menschlichen Vergangenheit verloren gehen muss, dass es unmöglich und nutzlos sei, alles zu kennen, nur deshalb, weil es war“ (Szabó, Dezső 1912, 162, Ü: Verfasser). Nietzsches Schriften wurden bereits früher u. a. im Umkreis der Zeitschrift Nyugat gelesen, es war aber Dezső Szabós Lesart, die für Kassák und die Autoren der Ma maßgebend wurde (vgl. Kiss 1982, 244–252). Ein anderer Kerngedanke in Dezső Szabós Schriften um 1910–1915 war der von der ,Krise des Individuums‘, der ein wichtiges Bindeglied zwischen Dezső Szabó und Kassák darstellte: „Der Künstler, der Dichter, wird wieder Arbeiter sein unter den Arbeitern, Kämpfer unter den Kämpfern“, schrieb Szabó 1915 in seiner Einleitung zur Zeitschrift A Tett.4
4 Kassák distanzierte sich dann sehr bald von Szabó, die (kurzlebige) Zusammenarbeit der beiden Autoren beschränkte sich auf Szabós Einleitung.
Die aktivistische Frühavantgarde (1915–1920)
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In der Dichtung der Aktivisten zeigten sich aber bald auch die Schwierigkeiten, die sich für einen Dichter ergaben, der nur ‚Arbeiter unter den Arbeitern‘ sein wollte. Die Schwierigkeiten waren zweierlei: Erstens ließen sich dichterische Sprache und politische Strategie der Aktivisten in der Tat nie vereinen, d. h. die Sprache der Manifeste und der Dichtungen konnte die ‚soziale Aufgabe‘ im Sinne einer Erziehung der lesenden Arbeiterschaft und der Verkündigung politischer Ziele nie wirklich einlösen. Zweitens konnte diese dichterische Sprache die „Last der Vergangenheit“ (Nietzsche), d. h. der literarischen Tradition, nicht allzu leicht loswerden. Noch die Hauptwerke der aktivistischen Dichtung vor 1920 tragen deutliche und bedeutende Spuren einer Verssprache, die in erster Linie von Endre Ady ausgearbeitet und von späteren Interpreten als „Hypertrophik des Ichs“ (Gábor Halász) beschrieben wurde. Kassáks frühe Dichtung entstand parallel zur deutschen Aktionslyrik und zum expressionistischen Ideal des ‚Menschen‘ und versuchte sich Muster der lyrischen Rede anzueignen, die die Erfahrung eines ‚zersplitterten Ichs‘ vermitteln und/oder einem unpersönlichen und erweiterten Ich eine Stimme verleihen können. Trotzdem schwanken noch die bedeutendsten Gedichte seiner frühen Schaffensperiode, u. a. Mesteremberek (1915; Handwerker, A. Gáspár) und Örömhöz (1915; An die Freude, I. Rübberdt), beide im Band Hirdetőoszloppal (1918; Mit der Litfaßsäule) erschienen, zwischen der ‚Hypertrophik‘ des lyrischen Ichs und einer nicht ich-bezogenen Wahrnehmung. Letztere bedeutet eine literarische Technik, die durch nichtsprachliche oder nichtsemantische Elemente (futuristische Geräusche wie „Fu-u-ujjjiii … bum bururu-u … bumm … bumm“) und simultane Blickwinkel (expressionistischer ‚Reihungsstil‘) nicht subjektbezogene Wirkungselemente in die lyrische Rede mit einbaute. Sprach- und Subjektauffassung bedingten sich in diesem poetologischen Paradigma gegenseitig. Im Gegensatz zur Literatur der klassischen Moderne versuchte die Avantgarde die selbstreferentielle Verselbständigung der literarischen Texte zu vermeiden und verlagerte den Schwerpunkt vom Bezeichnenden auf das Bezeichnete. Die ‚Wirklichkeitszitate‘ wie z. B. die futuristischen Geräusche oder die alltäglichen Gesprächsfetzen in Apollinaires poèmes-conversations sollten also für eine Gleichsetzung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, Literatur und Wirklichkeit, sorgen. In der allgemeinsten Formel zur Sprachoder Zeichenauffassung der Avantgarde ließe sich sagen: Die Dinge selbst als Zeichen zu behandeln, heißt, die Zeichen zu ‚desemiotisieren‘. Die Bedeutungsbildung einer zufälligen, irrationalen und alogischen Wirklichkeit zu überlassen, hieß aber auch, das Subjekt aus dem Mittelpunkt des Werkes zu entfernen: „Das Subjekt war nicht mehr in der Lage, diese neue Form der Bedeutungsbeilegung in seiner Gewalt zu haben.“ (Kulcsár Szabó, Ernő 1991, 34). Dieses Wegrücken des Ichs aus dem poetologischen Mittelpunkt des Gedichts erfolgte dann in der frühen Avantgarde der 1910er Jahre – von Apollinaire bis zu den deutschen
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Expressionisten – in erster Linie durch die Vervielfachung der Textperspektiven des Gedichts. Kassáks frühe ‚Aktionslyrik‘ versuchte, durch verwandte Techniken die Kluft zwischen (dichterischer) Sprache und Wirklichkeit zu überbrücken; die Aneignung neuer poetischer Techniken blieb aber widersprüchlich. In Kassáks beiden frühen Gedichtbänden (Eposz Wagner Maszkjában, 1915; Epos in Wagners Maske; Hirdetőoszloppal, 1918; Mit der Litfaßsäule) erscheint das Ich zwar oft als Teil einer von außen her wahrgenommenen gegenständlichen Welt, seine zentrale Position wird aber mit dem Bewusstsein seines Vorrangs – wie der Name ‚Avantgarde‘ bereits sagt – neu stabilisiert (vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 142– 143): s ó lásd! az én részeg, utcai nyelvem is, ki most / elsőnek dobja be magát az új földre und o sieh! auch mein trunkener Gassenjargon, der jetzt / als erster vorschnellt ins Neuland (Az örömhöz; An die Freude; Deréky 1996, 282–283, Ü: I. Rübberdt)
Die veränderte Auffassung des Ichs gründete beim frühen Kassák mehr auf politische Ansprüche als auf die Erfahrung einer verfremdeten Wirklichkeit und einer Überforderung der menschlichen Wahrnehmung. Selbst die Stimmführung des Gedichts konnte noch die traditionelle Geschlossen- und Gehobenheit der lyrischen Rede bewahren: Statt einen ‚trunkenen Gassenjargon‘ zu sprechen, spricht das Gedicht Örömhöz im Ton einer dichterischen Sprache, die noch vielfach aus der Tradition romantischer Dichtung schöpfte.5 Im Gedicht Mesteremberek sind das sprechende Ich und die im Titel benannte Gemeinschaft selbst jener ‚Stoff‘, der, noch ohne Gestalt und ohne Worte, der Welt entrückt darauf wartet, aus neuen Stoffen eine neue Welt zu bauen (Kassák 1970, I. 46): De mi már távol vagyunk mindentől. Ülünk a sötét bérkeszárnyák alján: szótlanul és teljesen, mint maga a megbontatlan anyag. […]
5 Dass gerade Walt Whitman für Kassák noch wichtiger als die Futuristen oder die Expressionisten war (vgl. Deréky 1992, 40, Forgács 1999, 18), zeigt an, dass eine Tradition der Romantik in seiner frühen Dichtung durchaus noch gegenwärtig ist. Whitman verkörperte für Kassák den Selfmademan und Tatmenschen mit Sendungsbewusstsein, der er selbst war. Bereits im ersten Heft der Zeitschrift A Tett erschien z. B. eine Übersetzung von Apollinaires Le musicien de Saint-Merry von Tivadar Raith (1893–1958; vgl. Deréky 1996, 56) – es ist aber vielsagend, dass die Dichtung eines Apollinaire in der ungarischen Literatur erst durch die Übersetzungen der sogenannten ‚dritten Generation‘ des Nyugat sowie ihrer Fortsetzer (István Vas, Miklós Radnóti, György Rónay, László Kálnoky und György Somlyó) bekannt wurde.
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Holnap azbesztből, vasból és roppant gránitból életet dobunk a romokra […] Hatalmas felhőkarcolókat építünk majd és játéknak az Eiffel-torony mását. Doch alldem sind wir schon weit entrückt. Wir sitzen unter den dunklen Zinskasernen / wortlos und voll, wie der ungelöste Stoff selber. / […] / Morgen werfen wir aus Asbest, Eisen und ungeheurem Granit ein Leben auf die Ruinen / […] / Gewaltige Wolkenkratzer bauen wir dann und das Ebenbild des Eiffelturmes zum Spielzeug.
Das Gedicht ist (ich bleibe in der Metaphorik des Textes): Gesang und Gestalt dieses noch „wortlosen und vollen Stoff[es]“ (beginnt es doch mit den Worten: „Wir sind …“) und gleichzeitig Gesang einer Dichter-Avantgarde, die in den letzten beiden Zeilen des Gedichts vor den Handwerkern singt: s örüljenek az új költők, akik az idők új arcát éneklik előttünk: / Rómában, Párisban, Moszkvában, Berlinben, Londonban és Budapesten und die neuen Dichter sich freuen, die das neue Gesicht der Zeit vor uns singen: In Rom, Paris, Moskau, Berlin, London und Budapest (Kassák 1923, 8, Ü: A. Gáspár)
Die Zeitstruktur der Utopie, die 1915 in den Gedichten Mesteremberek oder Örömhöz gegenwärtig ist, wird zwar erschüttert in dem langen Gedicht Máglyák énekelnek (1920; 1919 Epos [eigl. „Scheiterhaufen singen“], Auszug, P. Deréky – B. Frischmuth), das die frühe Periode der ungarischen Avantgarde abschließt, die aktivistische Verssprache jedoch bleibt bewahrt. Das bereits in Wien veröffentlichte Máglyák énekelnek ist ein 3.500 Verse langes Gedicht über Ausrufung und Niederlage der Räterepublik. Dieses den „neuen Dichtern“ im Andenken an die Toten gewidmete Gedicht arbeitet mit einem Verfahren, das die Rede der Massen in die Äußerungen des lyrischen Ichs einwebt, sodass das Gedicht ein Gefüge revolutionärer Stimmen wird. Diese ‚Wirklichkeitszitate‘, die eine ungewöhnlich dichterische, sprachliche Dynamik aufweisen, sollen im Leser den Eindruck erwecken, die Dynamik des Gedichts wäre kontinuierlich mit den wirklichen Stimmen der Straße verbunden, „d. h. die Darstellung der Revolution wäre eins mit der sprachlichen Dynamik der Revolution“ (Kulcsár-Szabó, Zoltán 2007, 245). In diesem Sinne erhält Máglyák énekelnek das Verständnis des Gedichts als ‚reine Aktion‘ noch aufrecht. Erscheinen in Kassáks Máglyák énekelnek Figuren als Mitglieder einer Gemeinschaft ohne besondere individuelle Merkmale (der Sohn, die Mutter usw.), so verändert das gleiche Verfahren die gattungspoetischen Möglichkeiten auf dem Gebiet des Dramas nicht weniger tiefgreifend. Es gehört zu den allgemeinen Grundzügen der dramatischen Texte der Avantgarde, dass die dramatischen Figuren ihre stabilen individuellen Merkmale verlieren – in den Dramen von János
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Mácza oder Sándor Barta treten Figuren auf mit Namen wie „A“, „B“, „X“ (János Mácza: A fekete kandúr, 1921; Der schwarze Kater) oder „Erste Person“, „Zweite Person“, „Dritte Person“ (Sándor Barta: Beszélgetők, 1921; Sprechende). Die expressionistischen Dramen der jungen Dichterin Erzsi Újvári kehren die traditionellen Muster um, nach denen in Literatur und Theater Frauengeschichten erzählt werden: Im Mittelpunkt dieser in engen und geschlossenen Räumen spielenden Dramen (Vándorlás, 1918; Wanderung; Bábjáték, 1921; Puppenspiel) stehen nach Unabhängigkeit strebende Frauen (die „Frau“, das „Mädchen“). Die Dialoge büßen in dieser Dramenliteratur ihre gattungsbedingte Funktion zunehmend ein, eine Welt der dramatischen Geschichte vorstellbar zu machen: Statt sich in die Welt der dramatischen Geschichte hineinzuversetzen, ist es laut Mácza die Aufgabe des Zuschauers, seine passive Einstellung loszuwerden. Das Theater solle ein „zur Tat reizendes Leben“ sein (Mácza 1918, 11). Beide genannten Entwicklungen berühren tiefgreifend die den Dramen zugrunde liegende Subjektauffassung. Das unverwechselbare Individuum wird aus dem poetologischen Mittelpunkt der Gattung entfernt, und der Zuschauer, dieses ‚cartesianische Ich‘ des bürgerlichen Theaters mit festgelegtem Blickpunkt, wird aus der Dunkelheit des Zuschauerraums hinausgetrieben (vgl. Schuller 2007 a, 33). Auf Letzteres komme ich noch im Zusammenhang mit dem Theater der 1920er Jahre zurück.
VI.3 Die Literatur der materialisierten Sprache (1920–1926) „Meine Literatur wurde nicht von Büchern, sondern vom Leben angeregt. […] Nach dem Ende der ungarischen Revolutionen ist in mir der Humanismus gestorben – auch das humanistische oder biblische Pathos musste also in meiner Literatur sterben“, sagte Kassák in einem Interview, das Andor Németh nach dem Erscheinen seines Bandes Világanyám (1922; Die Welt, meine Mutter) mit ihm führte (Németh 1922, 7, Ü: Verfasser). Dieser Gedichtband enthielt neben Kassáks frühen Gedichten die erste Gruppe der „Nummerierten Gedichte“, die zwischen 1921 und 1931 in mehreren Bänden erschienen (Új versek, 1923; Neue Gedichte; Tisztaság könyve, 1926; Buch der Reinheit; 35 vers, 1931; 35 Gedichte) und um 1920–1922 eine Wende in der Lyrik der ungarischen Avantgarde markierten. Das auffälligste Zeichen dieser Wende war in der Tat der Verzicht auf das Pathos, das sich in Kassáks Gedichten vor 1920 aus dem Sendungsbewusstsein des Aktivisten-Dichters nährte und den Glauben an politische Utopien verkündete. In einem Artikel beschrieb Andor Németh Kassáks neue Gedichte mit den Worten: „[D]as Pathos ist aus diesem Weltbild verschwunden“ (zit. nach Deréky 1991, 43). Nicht zufällig lässt sich daher in Kassáks Lyrik ab 1920 ein starker Einfluss des – vor allem deutschen – Dada (Goll, Huelsenbeck, Schwitters) nachweisen.
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Ein unterscheidendes Merkmal dieser Richtung war nämlich innerhalb der Avantgarde die ironische Zurückweisung aller großen Utopien, die für die Selbstbestimmung der Futuristen oder Expressionisten noch wesentlich waren. In den literarischen Texten des Dada war es nicht nur eine Frage der Inhalte oder Absichten, ob sie als Vermittlungsstellen einer Utopie gelesen werden konnten. Es war vielmehr die Sprachverwendung, die eine solche Schreib- und Lesart von vornherein ausschloss. Die Texte der Dada-Autoren überließen die Bedeutungsbildung der kontingenten Wirklichkeit der Dinge auf eine Weise, die die Herstellung konsistenter Bedeutungszusammenhänge, die solche Botschaften benötigten, unmöglich machte (Kulcsár Szabó, Ernő 2000). Die Art und Weise dadaistischer Bedeutungsbildung gründete sich – von Duchamp bis Schwitters – auf die Begegnung ‚gefundener Materien‘. In dieser Begegnung nicht zusammengehörender Bruchstücke einer (z. B. gesprochenen) Wirklichkeit öffnete sich ein freier Raum für Zufall, Chaos und Anarchie, aber auch für Humor, Spiel und Ironie. Der Einfluss des Dada zeigt noch alle Widersprüche und Brüche in Kassáks Oeuvre, die später durch die Autorität seines Lebenswerks verdeckt wurden. Während seine Dichtung noch bis in die späten 1920er Jahre den Einfluss des Dada bewahrte, mussten seine frühen dadaistischen Zeichnungen, die in der sogenannten DUR-Mappe 1924 noch ein letztes Mal auftauchen, bereits um 1921/22 jenen ‚Bildarchitekturen‘ weichen, die die strenge Welt der Konstruktivisten vertraten.6 Kassák war das Beispiel einer internationalen und politisch durchaus engagierten Dada-Bewegung durch die Berliner Szene bekannt, trotzdem wählte er in seinen Manifesten und ‚Bildarchitekturen‘ die strenge und autoritäre Richtung der Konstruktivisten. Éva Forgács zeigte, dass den Hintergrund seiner Entscheidung für die strenge, autoritäre und monumentale Richtung u. a. sein zwiespältiges Verhältnis zu den bestehenden Werten jener klassischen Kultur bildete, der er gegenüberstand. Kassák entschied sich für die Richtung innerhalb der Avantgarde, die in Monumentalität und Kräftedemonstration mit der klassizisierenden Kunst des bestehenden offiziellen Wertesystems wetteifern und eine Alternative zu dieser bieten konnte. In Kassáks Lesart ist der Konstruktivismus einen klassische, ausgewogene, über Individuen und Nationen stehende Struktur, an die keine Frivolität heranreichen kann. (Forgács 1999, 25–26)7
6 In der Literaturwissenschaft ist die Beurteilung des Einflusses des Dada auf Kassáks Lyrik bzw. der Zwiespalt in seinem Oeuvre um 1921/22 bis heute umstritten, vgl. zuletzt Deréky 2001, 10–11. 7 Interessanterweise ist für Kassáks frühe Bildarchitekturen die sterile Behandlung der Bildfläche nicht charakteristisch: Auf den geometrischen, aber instabilen Gebilden sieht man die ungeschickt-mühsame Bearbeitung der Oberfläche, was diesen Gemälden, den ersten abstrakten Bildern der ungarischen Kunst, einen besonderen Reiz verleiht (vgl. Andrási 1987).
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War die Kunst der – in erster Linie russischen – Konstruktivisten politisch verpflichtet und in den Dienst der Revolution gestellt, so schloss auch der Dada – insbesondere in den Berliner Jahren nach 1918 – eine politisch engagierte Kunstpraxis durchaus nicht aus, nur war die politische Kunst, die in der Geschichte der Moderne zum ersten Mal gerade im Berliner Dada entwickelt wurde, nicht auf große Utopien fixiert. Die politische Kunst des Dada war nicht utopistisch, sondern strategisch und nicht repräsentativ, sondern – mit einem heutigen Wort – interventionistisch. In der ungarischen Avantgarde waren es auf dem Gebiet der Literatur in ersten Linie Sándor Barta und Tibor Déry, die eine Zeit lang einen politisch engagierten Dada zu vertreten versuchten; es war aber im Fall des Ersteren ein Zuviel an Utopie, im Fall des Letzteren ein Mangel an politischer Strategie, was einem mit dem Berliner Dada verwandten Projekt im Wege stand. In Sándor Bartas Manifesten (Tisztelt hullaház!, 1921; Hohes Leichenschauhaus!) um 1921/22 erschienen jene ironische Verfahren, die in den Manifesten Huelsenbecks oder Tzaras zur Entleerung der Gattungsmerkmale führten (vgl. Kulcsár-Szabó, Zoltán 2007, 226). Der Text Az őrültek első összejövetele a szemetesládában (1922; Die erste Zusammenkunft der Verrückten im Mülleimer) ist eine dadaistische Parodie des Kassák-Kreises (vgl. Deréky 2000) und gleichzeitig eine Parodie der Gattung der Manifeste. Barta wählte aber nach 1922 bald den Weg einer agitativen Kunst (Idő kristálya: Moszkva, 1923; Kristall der Zeit: Moskau, Auszüge, P. Deréky – B. Frischmuth). Auf Déry werde ich in anderem Zusammenhang noch zurückkommen. Lag den beiden Anti-Kunst-Konzepten ein Begriff der Materie zugrunde, unterschieden sie sich trotzdem stark in ihrer Auffassung und Behandlung der Materien. Die Konstruktivisten behandelten die ‚materiellen Elemente‘ als ein rationales System, in dem sich alle Elemente (Farbe, Oberfläche, Stoff usf.) in eine hierarchische Ordnung einfügten (mit der Linie als dem rationalen Element par excellence an der Spitze). Dada setzte im Gegenteil auf das Heterogene, das Hybride und das Nicht-Hierarchische in der Zusammensetzung ‚gefundener‘ Materien. In Kassáks Selbstverständnis verknüpften sich beide Auffassungen. Im Wortschatz seiner Manifeste und Selbstdeutungen herrschte eine Metaphorik vor, die Gedichte und andere, nichtsprachliche Kunstwerke als aus verschiedenen ‚Bauelementen‘ zusammengesetzte Bauwerke verstand (noch 1926 in Tisztaság könyve, s. u.). Kassáks „Nummerierte Gedichte“ arbeiteten mit wiederkehrenden Elementen (wie Weg, Tor, Rot, Papagei, Esel, Hand, Augen usf.), die Kassák ‚Bauelemente‘ nannte. Statt sich zu einem ‚Bauwerk‘ zusammenzusetzen, lassen sich aber die wiederkehrenden Elemente der „Hundert Gedichte“ in ihrer Bedeutung nicht fixieren. Kassáks Gedichte geben freien Raum für das Alogische, das Nicht-Rationale, das Kontingente, infolge dessen die Bedeutung dieser ‚Bauelemente‘ immer wieder – manchmal sogar innerhalb eines Gedichts – verschoben wird.
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Was soll jedoch ‚Materie‘ im Fall der Literatur und insbesondere der Lyrik überhaupt heißen? Die Gedichte der Dadaisten behandelten die Sprache und die Schrift als Materien – Erstere im Sinn eines Inventars fertiger (Nicht-)Verständigungsmittel, Letztere im Sinn eines Inventars aufschreib(un)fähiger Buchstaben. Kassáks Verssprache verweist auf Bruchstücke und Redewendungen der gesprochenen Sprache und entfremdet den alltäglichen Sinn dieser ‚gefundenen Materien‘ meistens dadurch, dass die ursprüngliche Metapher in eine andere, wörtliche Bedeutung umgesetzt und damit de-figuiert wird. Zum Beispiel vermittelt um 1920 das Gedicht 0x0=0, das die Reihe der „Hundert Gedichte“ gleichsam einleitete, die Grunderfahrung einer nicht (mehr) zielgerichteten Bewegung mit einem Verfahren, das die alltägliche Redewendung „az utak kettéválnak“ („die Wege trennen sich“) umsetzte (Kassák 1970, I. 133, Ü: Verfasser): Vágyaink előtt az utak ketté fűrészelik önmagukat Vor unseren Wünschen zersägen sich die Wege
Die Buchstaben werden in dieser Lyrik das Medium, in dem solche sprachlichen Bruchstücke der Wirklichkeit als sinnentleerte Materien gezeigt und neu aufgeladen werden können. Konnten futuristische Geräusche („Fu-u-ujjjiii … bum bururu-u … bumm … bumm“ im Band Eposz Wagner Maszkjában, 1915) noch auf eine Wirklichkeit bezogen werden, so haben dadaistische Buchstabenhaufen („buh buh bu-u-uh buuuuh/papalango ah-e-au“, 23, in Gáspárs deutscher Übersetzung das 18. Gedicht, 1923) keinen referentiellen Sinn, d. h. Wirklichkeitsbezug mehr. ‚Materie‘ dieser Literatur sind die sinnentleerten Buchstaben selbst, deren alogische Verknüpfung zur selbstreferentiellen Metapher einer Dichtersprache wird, in der aus einem Buchstaben nur ein Buchstabe kommt, und wirkliche Monde, Dichter und Bürger einen nur äußerst unsicheren referentiellen Status haben (Kassák 1970, I. 170): Aaaa bbbB B megette A-t A újra szülte B-t de a szegény költő sem bírta tovább beakasztotta magát felesége parázsládájába s most reális holdak között él s nagy vajaskenyér kilátások között mint az okos emberek […] bu bu bu-u-u buuuu papalango á-e-au óó a polgár csak egyszerű P betű […]
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A a a a / b b b B / B fraß A auf / A gebar B wieder / doch der arme dichter ertrug es auch nicht länger / hängte sich in die glutenkiste seiner frau / und jetzt lebt er unter reelen monden und großen butterbrotaussichten wie die gescheiten leute / […] buh buh bu-u-uh buuuuh / papalango ah-e-au / o o / der bürger ist ein einfacher buchstabe B […] (Kassák 1923, 40, Ü: A. Gáspár)
Anstatt ‚Arbeiter unter den Arbeitern‘ zu sein, ist der postaktivistische Dichter nur Buchstabe unter den Buchstaben, egal ob diese auf Bürger oder andere gescheite Leute referieren. Kassáks Lyrik der frühen 1920er Jahre schwankt also zwischen der Zerstörung der Sprachlichkeit (d. h. areferentiellen Buchstabentrümmern wie „papalango ah-e-au“) und der Freisetzung sprachlicher Bedeutungen, die dem Leser einen breiten Interpretationsspielraum eröffnet. Der Leser wird diese Lyrik erst rezipieren können, wenn er anzunehmen bereit ist: „[D]ie Wörter sind nicht dazu da, Inhalte zu schleppen wie die Lastenträger“ („a szavak nem azért vannak, hogy tartalmakat hurcoljanak mint a zsákhordók“, 12. Gedicht; Kassák 1970, I. 141; [Nummerierte Gedichte] 12; Kassák 1989, 73, Ü: R. Pietraß), und wenn er imstande ist, sich auf das freie Spiel dieser Buchstabensprache einzulassen. Die hundert „Nummerierten Gedichte“ bieten noch durch die kontextuelle Unfixiertheit ihrer ‚Elemente‘ dem Leser die Möglichkeit, die sich kreuzenden, entzweienden oder auch ‚zersägenden‘ Wege der Bedeutungsbildung zu begehen und sich als Leser spielerisch zu erproben. Die gleiche Poetik der sinnentleerenden und -freisetzenden Buchstaben ist das Grundprinzip von Kassáks dichterischem Hauptwerk, des langen Gedichts A ló meghal és a madarak kiröpülnek (1922; Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus, R. Stauffer).8 In diesem Gedicht, das durch zahlreiche (strukturalistische [Hankiss 1971] und hermeneutisch-dekonstruktivistische [Kulcsár Szabó, Ernő 2000]) Interpretationen zum Klassiker der modernen ungarischen Lyrik geworden ist, verarbeitet Kassák seine Wanderungen durch Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Das Gedicht, das frühere Interpretationen mit Apollinaires Zone (1912) und Cendrars’ Pâques à New York (1913) und La prose du transsibérien (1913) in Verbindung brachten, überlässt die Vermittlung des Biographischen einer Sprache, die nicht nur die narrative Botschaft, sondern auch jedweden fixen Bedeutungsinhalt des Gesagten eliminiert. Der Tag der Abfahrt wird z. B. in Zeilen ‚wiedergegeben‘, in denen sich referentielle und referentiell undeutbare, metaphorische Aussagen
8 Das Gedicht Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus sowie zwanzig „Nummerierte Gedichte“ sind in Andreas Gáspárs (1897–1955) deutscher Übersetzung 1923 im Band Ma-Buch. Gedichte von Ludwig Kassák beim Verlag Der Sturm erschienen.
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kreuzen, um sich dann zuerst als rein zufällig („besser gesagt“) und schließlich als sinneliminierend zu erweisen (Kassák 1970, I. 152, 163): éreztem mindennek vége / keresztülszaladt rajtam egy vörös sínpár s a tornyokban harangoztak / galambok bukfencesztek a háztetők felett / jobban mondva galoppoztak a napkocsin / a ferenciek új harangja szinte énekelt már / aki aludni készül fényesítse ki az ólómrudakat / az órák fehér juhászkutyákon kísértenek / éreztem mindennek vége ich fühlte alles ist zu ende / mich überrollten rote schienen / und von den türmen läutete man / tauben schlugen über den hausdächern purzelbäume / besser gesagt galoppierten auf sonnenkutschen / die neue glocke der franziskaner sang beinahe schon / wer schlafen will der poliere das bleigestänge / die stunden geistern auf weissen schäferhunden / ich fühlte alles ist zu ende
Diese dadaistische Technik der sich kreuzenden sprachlichen Kodes lässt das Gedicht in einer Aussage enden, die die sinnentleerte Stimme den Dingen überlässt und nur den bloßen Eigennamen kundgibt: madarak lenyelték a hangot / a fák azonban tovább énekelnek / ez már az öregség jele / de nem jelent semmit / én KASSÁK LAJOS vagyok / s fejünk fölött elröpül a nikkel szamovár vögel verschlucken die stimme / allein die bäume singen weiter / das ist schon ein zeichen des alters / aber das bedeutet nichts / ich bin LAJOS KASSÁK / und über unseren köpfen fliegt der vernickelte samowar (Deréky 1996, 315, 331, Ü: R. Stauffer)
VI.4 Intermediale Experimente Die Jahre 1921/22 waren nicht nur die Zeit der entschiedenen Hinwendung zur strengen Welt der Konstruktivisten, sondern auch die Zeit spielerischer Experimente in den Bild- und Schriftmedien. Kassáks frühe Zeichnungen und ‚Bildarchitekturen‘ erschienen zuerst in verschiedenen Ma-Veröffentlichungen, d. h. in einem sprachlichen Kontext, in dem verschiedene Möglichkeiten intermedialer Verflechtungen erprobt werden konnten.9 Zeigt die sogenannte Mappe Ma–1 (1921) mit den ‚Bildarchitekturen‘ und den ersten sieben „Nummerierten Gedichten“ eher die (ungelösten) Widersprüche in seinem Schaffen um 1921/22 auf, experimentierte Kassák in der Veröffentlichung des 18. Gedichts mit den ver9 Für diese Veröffentlichungen wurde die Form einer ‚Mappe‘ gewählt, die sechs oder sieben Bilder enthielt und bei den russischen Konstruktivisten zur selbständigen Publikationsform wurde (Passuth 2003, 127 ff.). Ähnliche Veröffentlichungen hatten u. a. auch Sándor Bortnyik und László Moholy-Nagy.
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Abb. 30: Lajos Kassák: 18. Gedicht. MA, 1921
schiedenen Verknüpfungsmöglichkeiten sprachlicher und bildlicher Rezeptionsmodi. Das 18. Gedicht ist in zwei typographisierten Textvarianten erschienen, die im Text unterschiedliche ‚Verknüpfungsknoten‘ herstellen und damit dem Leser unterschiedliche Lesarten anbieten: In der Zeitschriftenpublikation breitet sich der Text als Flächengebilde aus, sodass alineare Verknüpfungsmöglichkeiten seitlich zwischen den länglichen Spalten eröffnet werden. Im Ma-Bilderbuch (1922), einer eigenständigen Veröffentlichung des 18. Gedichts, werden Druckgraphik und Typographie durch Zeichnung und Handschrift ersetzt. Obwohl diese beiden manuellen Techniken im Zeitalter der Schreibmaschine und der Photographie eher rückschauend wirken, ist dieses Buch jedoch ein interessantes (inter)mediales Experiment: Im Ma-Bilderbuch sind nämlich Bild und Schrift denselben einfachen medialen Bedingungen unterworfen, nämlich einer manuellen Bild- und Schrifttechnik. Damit wurde die alte Hierarchie der schriftlichen und bildlichen Zeichen gleichsam auf technischem Weg aufgelöst (vgl. Kékesi 2006a, 67 ff.). Und das ist es, was laut dem Konstruktivisten El Lissitzky durch die medientechnische Erfindung des Lichtdrucks, d. h. der Koppelung des alten Buchdrucks mit der neuen Technologie der Fotografie, mediengeschichtlich gerade passiert. Laut Lissitzky werden im Lichtdruck die Herstellung von Schrift und Bild demselben fotografischen Vorgang unterworfen: Konnten im Zeitalter Gutenbergs die Inhalte in
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Abb. 31 a–b: Lajos Kassák: 18. Gedicht. Ma-Bilderbuch, 1922
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Abb. 31 c–d: Lajos Kassák: 18. Gedicht. Ma-Bilderbuch, 1922
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den beiden Medien nicht mit derselben Technologie gedruckt werden, so wird laut El Lissitzky im Zeitalter der ‚dematerialisierten‘ Drucktechnologie gerade die Hierarchie von Schrift und Bild destruiert, die durch Gutenbergs Erfindung eingeführt wurde.10 Diese geschichtliche Entwicklung war für ihn Teil einer umgreifenden ‚Dematerialisierung‘ der Medien. (Auf die Frage der ‚Dematerialisierung‘ komme ich in anderem Zusammenhang noch zurück.) Die materiellen Eigenschaften des Mediums Buch waren für Kassák wichtig genug, um in seinem Band Tisztaság könyve (Buch der Reinheit) noch 1926 einen „aus verschiedenen Materien zusammengesetzten Gegenstand“ zu sehen, den wir „mittels unserer taktilen und optischen Sinne wahrnehmen“ (Kassák 1926, 13, Ü: Verfasser). Das Buch, in das er Gedichte, Novellen, Manifeste und Bildreproduktionen aufnahm, sollte – unabhängig von jedwedem literarischen oder bildlichen Inhalt – als ein „gegenständliches und stoffliches Werk“ eines „mit Eisen, Zement und Glas arbeitenden Baumeisters“ erscheinen. Ein „Buch der Reinheit“ ist aber dieser Band auch deshalb, weil er die heterogenen Inhalte wie die Gedichte und die Bildreproduktionen sorgfältig absonderte und nicht zuließ, dass sie sich zu einem hybriden Durcheinander verknüpfen. Dieses Buch entstand also viel mehr im Zeichen des Konstruktivismus als die spielerischen Seiten des Ma-Bilderbuches. Seine Definition des Mediums Buch – ein „Gegenstand“, den wir „mittels unserer taktilen und optischen Sinne wahrnehmen“ – verweist trotzdem auch auf die frühe Fassung des Gedichts A ló meghal és a madarak kiröpülnek zurück. 1922 veröffentlichte er das Gedicht zuerst auf den Seiten der Zeitschrift 2x2 in einer typographisierten Form ohne Zeilenbrüche, in der er statt Interpunktion auf die Mittellinie der Buchstaben gesetzte Sternchen verwendete, um eine taktil-optische Wirkung hervorzurufen. Ein anderes beachtenswertes Experiment war Der Amokläufer (1922; Az ámokfutó, in ungarischer und deutscher Fassung) von Tibor Déry, der nach 1920 in Wien im Kreis der Ma-Gruppe tätig war und im Laufe des Jahrzehnts eine Reihe von Gedichten, Novellen und Dramen veröffentlichte, die den Einfluss des Expressionismus, des Dada und später des Surrealismus zeigten. Der erst 1985 aus dem Nachlass des Schriftstellers herausgegebene Text Amokläufer ist ein langes Gedicht im Stil der expressionistischen Gedichte des frühen Ivan Goll (vgl. Seregi 1998, 400) mit aus Zeitungen ausgeschnittenen, eingeklebten Pressefotos. Als Umschlag wurde zu dieser Text- und Fotomontage eine Mappe verwendet, in der Abonnenten die Zeitungen geliefert bekommen hatten. Mit Umschlag und Fotomontage nahm also Déry Bezug auf das neue Medium der Illustrierten, deren erst damals einsetzende massenweise Verbrei-
10 S. El Lissitzkys Aufsatz Unser Buch (1926/27).
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Abb. 32: Aus: Amokläufer, ein illustriertes Gedicht von Tibor Déry. Wien, 1922
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tung das ganze Feld der populären Text- und Bildmedien veränderte. Der Umschlag des Amokläufers stellt den Leser auf die Modi des alltäglichen Medienkonsums ein. Die Text- und Bildmontage mit aus Illustrierten ausgeschnittenen Fotos widerspricht aber den Erwartungen des Lesers auf eine mal schockierende, mal humorvolle Weise. Damit ist Der Amokläufer in der ungarischen Literatur einzigartig in dem Versuch, die Bezugnahme auf das mediale Umfeld explizit zu machen und strategisch auszuloten.
VI.5 Die Medialisierung der Wahrnehmung Das Paradebeispiel eines „Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“11, die „Telefonbilder“, industriell hergestellte „Gemälde“ von László Moholy-Nagy sowie seine ersten Fotogramme und sein „Typofoto“, sind alle 1922 entstanden. Im selben Jahr begann Moholy-Nagy, an dem erst 1930 beendeten berühmten Licht-Raum-Modulator zu arbeiten. 1922 erscheint in Wien das Buch neuer Künstler (Új művészek könyve, in deutscher und ungarischer Ausgabe), eine fast „ausschließlich in Bildern erzählte“ (Éva Forgács) Geschichte der internationalen Avantgarde von etwa 1907 bis zu den frühen 1920er Jahren.12 Die beiden Herausgeber Kassák und Moholy-Nagy mischten Bilder über technologische Erfindungen wie Wolkenkratzer und Flugzeuge unter die Reproduktionen. Der Endpunkt der Entwicklungslinie, die das Buch neuer Künstler entwarf, waren die Experimente von Viking Eggeling und Hans Richter auf dem Gebiet des abstrakten Films. Die medialen Veränderungen, die die neuen Bildtechnologien herbeiführten, wurden trotzdem erst ab Mitte des Jahrzehnts eine wichtige Frage für die Schriftsteller, Künstler und Theoretiker im Umkreis der ungarischen Avantgarde. Waren technologische Erfindungen und Kunst im Buch neuer Künstler noch im Zeichen der Überzeugung nebeneinander gestellt, gingen Technologie und Avantgarde Hand in Hand auf dem Weg des geschichtlichen Fortschritts, so wurde im Laufe des Jahrzehnts diese Interpretation immer fragwürdiger. László Moholy-Nagy (1895–1946), der 1919 nach Wien floh und 1920 nach Berlin übersiedelte, war zwischen 1922–1925 Berliner Mitarbeiter der Zeitschrift Ma. Moholy-Nagy entwickelte ab 1923 als Lehrer des Weimarer und später des Dessauer Bauhauses ein theoretisches Werk, das auf dem Gebiet der Kunst- und Medientheorie wichtige und folgenreiche Ergebnisse aufwies. Die zahlreichen 11 Vgl. Walter Benjamins berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). 12 Eine ähnliche Zusammenfassung war wenig später das Buch Kunstismen (1924) von Hans Arp und El Lissitzky.
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Artikel, die Moholy-Nagy in deutscher und ungarischer Sprache verfasste, und seine beiden Bücher, die als Lehrbücher für den Unterricht im Bauhaus gedacht waren (Malerei, Fotografie, Film, 1925; Von Material zu Architektur, 1929), entwarfen ein utopisches Denken, das aus der Praxis der Arbeit mit verschiedenen Medien und Materialien hervorging und Einsichten bot, die jenseits aller Utopie auf den verschiedensten Gebieten – vom Design bis zur Medientheorie – lange Zeit verwendbar und einleuchtend blieben.13 Für Moholy-Nagy war – wie früher für die Avantgarde-Dichter der 1910er Jahre (s. o.) – die Grunderfahrung einer Überforderung der menschlichen Sinneswahrnehmung unter modernen Umständen ein wichtiger Ausgangspunkt. Kunst ist laut Moholy-Nagy ein Erziehungsmedium der Wahrnehmungsfähigkeiten, das dem Menschen zu Hilfe kommt, wenn er sich an die Herausforderungen seiner selbstgeschaffenen Welt anzupassen versucht. Diese Auffassung setzt eine Anthropologie voraus, die davon ausgeht, die organischen Fähigkeiten des Menschen seien nicht auf eine naturgegebene Umwelt festgelegt, sondern veränderten sich ständig, indem sie versuchten, sich in die geschaffene – d. h. menschliche, aber sich vom Menschen unaufhaltbar entfremdende – Welt einzufügen. Statt eine sinnlich ausgeglichene Erfahrung zu bieten, zwingt die Kunst den Menschen, seine Wahrnehmungsgrenzen zu überwinden.14 In seinen Büchern und Schriften setzt sich Moholy-Nagy jedoch häufig für die „Wiederherstellung“ der als natürlich verstandenen „Grundlagen“ der Wahrnehmung bzw. – im Zeichen einer „Vervollkommnung“ des Sehens – für eine organisch erreichbare Ganzheit menschlicher Fähigkeiten ein. Seine Bücher hatten in diesem Sinne ein umfassendes Erziehungsprogramm zum Ziel, das – vom Tasten bis zum Sehen – den ganzen organischen Aufbau des Menschen umfasste. (Dieser Zwiespalt zwischen Natürlichkeit und Medialisierung zeigt sich im Diskurs der Avantgarde um das Theater und um das Kino, auf beide wird zurückzukommen sein.) Um ihren anthropologischen Auftrag erfüllen zu können, sollte die Kunst durch die Indienstnahme moderner Technologien die Standards moderner Wahrnehmungsbedingungen erst erreichen, d. h. jene Bildmedien verwenden, die im Gegensatz zu Materialien wie Öl oder Marmor nur noch eine „amaterielle Materialität“ (El Lissitzky) besitzen.15 Die beiden „amateriellen“ Bildmedien der Zeit,
13 Am Ende seines Lebens systematisierte er noch im postum erschienen Buch Vision in Motion (1947) das Lehrprogram des ‚New Bauhaus‘ in Chicago, das er 1937 mitbegründet hatte (ab 1939 School of Design, ab 1944 Institute of Design). 14 Diese Auffassung steht im Hintergrund seiner aus ungewöhnlichen Blickwinkeln aufgenommenen Fotografien, z. B. 1929 vom Berliner Funkturm. 15 Ich beziehe mich auf El Lissitzkys Aufsatz K. und Pangeometrie in dem Europa-Almanach (1925, Herausgeber: Carl Einstein, Paul Westheim).
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Abb. 33: Graphik von El Lissitzky mit einer Aufnahme der neuen Weichsel-Brücke. Aus: Buch neuer Künstler, 1922
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Fotografie und Film, die auf einer lichtempfindlichen Schicht die ‚immateriellste‘ aller Erscheinungen, das Licht selber, einfangen können, stehen im Mittelpunkt des Buches Malerei, Fotografie, Film und laut Moholy-Nagy am vorläufigen Endpunkt moderner Kunstentwicklung. Diese schonungslose Verknüpfung von Kunst und Technik nahm sich Ernst Kállai (1890–1954), der in den 1920er Jahren in Berlin tätig war (und u. a. als Redakteur der Bauhaus-Zeitschrift arbeitete), zum Ziel. Er löste 1927 mit dem Aufsatz Malerei und Fotografie eine Debatte aus, die vielleicht „den höchsten Rang innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung um die Fotografie in den 1920er Jahren“ (Wolfgang Kemp) einnimmt und den medialen Unterschied zwischen den sinnlich-materiellen und den technisch-immateriellen Bildern betraf. Die „eigentliche Grenze zwischen Malerei und Fotografie“ liegt laut Kállai in der „stofflichen Verschiedenheit der Malmittel und der lichtempfindlichen Platten“ (Kállai 1999–2003. Bd. 4, 53). Gegenüber der „Entstofflichung“ – oder Dematerialisation – des Bildes nahm Kállai eine kritische Position ein. Während die „Faktur“, d. h. die künstlerisch bearbeitete Materialschicht des Gemäldes, dem Betrachter eine sinnlich unmittelbare Erfahrung des Materials bietet, bestehe in der „Stofflosigkeit“ der Fotografie die Gefahr einer Verarmung und Abzehrung der Sinne. Moholy-Nagy antwortete 1927 mit einem kurzen Beitrag über die „Lichtfaktur“ der Fotografie und 1929 mit den „Sinnesübungen“ des Buches Von Material zu Architektur, das unter den Tastübungen u. a. Fotografien (!) aufführte. Moholy-Nagy sah die wahrnehmungstechnische Wirkung der Fotografie gerade in der „Erziehung“ des Tastsinnes, in einer Umwandlung der „Tastkultur“ und verwies auf die (virtuelle) Tastempfindung, die die Lichtbilder auslösen. Er sprach über „Faktur“ im Fall einer Flugzeugaufnahme von einem gemähten Roggenfeld oder einer Aufnahme von einer vom Wind gekräuselten Wasserfläche. Die Wahrnehmung richtet sich in diesen Fällen nicht auf die Tastwerte ‚realer‘ gegenständlicher Gegebenheiten, sondern auf eine nur medial zugängliche Wirklichkeit (des Bildes), die auf keine in sinnlicher Unmittelbarkeit erfahrbare Welt zurückzuführen ist (vgl. Kékesi 2006 b). Die Fotografie ruft also Wahrnehmungsmodi hervor, die eine nur medial vermittelte Erfahrung voraussetzen.16
16 Nicht anders verfährt sein Licht-Raum-Modulator, eine elektrisch bewegte Metall- und Glaskonstruktion, die das einfallende elektrische Licht ‚moduliert‘, um dem Betrachter Raumgebilde ohne ‚real‘-materielle Volumen anzubieten.
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VI.6 Drama und Theater nach 1920 Das Bühnenbild und der Zuschauerraum standen im Mittelpunkt der Entwürfe von Moholy-Nagy und Farkas Molnár (1897–1945) Ende der 1920er Jahre. Wie viele andere Vertreter der Theater-Avantgarde, wollten beide das bürgerliche ‚Guckkastentheater‘ überwinden und die Beziehung zwischen Bühne und Zuschauer unmittelbarer machen. Beide arbeiteten mit mobilen Stühlen und Bühnenteilen (Moholy-Nagy 1925; Moholy-Nagy–Molnár–Schlemmer 1925). Für Moholy-Nagy standen die sinnlich-optischen Reize im Mittelpunkt des Theaters; statt sich in eine Geschichte einzufühlen, solle der Zuschauer an einem „totalen“ Bühnenspiel aus „Licht, Raum, Oberfläche, Bewegung, Ton und Mensch“ teilhaben. Der Mensch ist in seinem Verständnis – wiederum typisch für das Theater der Avantgarde – kein „Zentrum mehr“, sondern nur eines unter den vielen gleichrangigen Wirkungselementen des Theaters (Moholy-Nagy 1927, 6). In diesem Sinne spricht man von der Dezentrierung des Menschen und der Dehumanisierung des Theaters in der Avantgarde. In Budapest bildeten sich zwischen 1920 und 1927 einige wichtige Zentren der Avantgarde. Neben einigen Zeitschriften17 war es aber vor allem das Gebiet des Theaters, auf dem bedeutende Versuche gemacht wurden. Die beiden wichtigsten Gestalten waren dabei der Dramatiker und Theatermacher Ödön Palasovszky (1899–1980) sowie der Kritiker Iván Hevesy (1893–1966).18 Sie gaben ab 1922 Vorstellungen in einem Arbeiterheim (zusammen mit Alice Madzsar) und gründeten 1925 das erste avantgardistische Theater in Ungarn, das Zöld Szamár Színház (Theater Grüner Esel, nach einem Gemälde von Sándor Bortnyik), um Möglichkeiten zu gemeinsamen Auftritten zu schaffen, ohne sich in die bestehenden institutionellen Rahmen eingliedern zu müssen. Palasovszky und seine Mitarbeiter (Farkas Molnár als Direktor, Iván Hevesy als Conférencier, Sándor Jemnitz als Komponist, Sándor Bortnyik als Bühnenbildner und Gyula Illyés als Übersetzer) veranstalteten zwei Abende mit Texten aus Jean Cocteaus Les Mariés de la Tour Eiffel (1921; Die Hochzeit auf dem Eiffelturm) sowie aus Ivan Golls Gedichten Der
17 Unter anderen: Magyar Írás (1920–1927, Ungarische Schrift, Herausgeber: Tivadar Raith), IS (1924/25, AUCH, Herausgeber dieser einzigen ungarischen dadaistischen Zeitschrift waren: György Gerő [1905–?], Imre Pán, Árpád Mezei [1902–1998]), 365 (1925, Herausgegeber: Aladár Tamás [1899–1992]); Új Föld (1927; Neuland, Herausgegeber: Aladár Tamás, Zsigmond Remenyik [1900–1962], Sándor Bortnyik), sowie 100% (Herausgegeber: Aladár Tamás), vgl. dazu ausführlicher Deréky 1996, 74–76. 18 Iván Hevesy war ein vielseitiger und aufgeschlossener Kritiker, der in der Zwischenkriegszeit auf mehreren Gebieten, in der Literatur, der Kunst, im Film und der Fotografie, wichtige Beiträge leistete.
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neue Orpheus (1918) und Paris brennt (1921). Ein „Schreibmaschinenorchester“, Jazz-Läufe und Phonographenstimmen wurden in der Aufführung eingesetzt (vgl. Jákfalvi 2007, 109–110). Nachdem das Zöld Szamár nach zwei Aufführungen verboten wurde, veranstalteten Palasovszky und seine Mitarbeiter zwischen 1925 und 1928 Abende an wechselnden Orten unter verschiedenen Namen wie Új Föld (nach der gleichnamigen Zeitschrift), Cikk-cakk esték (Zickzack-Abende), Rendkívüli Színpad (Außerordentliche Bühne) und Prizma (Prisma). In diesen Aufführungen, deren Schauplätze sich außerhalb der Institutionen des bürgerlichen Theaters befanden, lag der Schwerpunkt nicht auf den ästhetischen Ansprüchen im traditionellen Sinne, sondern vielmehr bei den gemeinschaftlichen Möglichkeiten des Theaters (vgl. Jákfalvi 2007, 108). Palasovszky wandte sich u. a. der Gattung des Kabaretts zu, um eine unmittelbare Verständigung mit den Zuhörern ausbauen zu können. Sein „Weltbild-Kabarett“ oder „Problemtheater“ provozierte eine offene Diskussion mit den Zuhörern über aktuelle Fragen der Politik, der Gesellschaft oder auch der Kunst (vgl. Kocsis 1973, 326). Es ging also nicht um die einseitige Übermittlung politischer Botschaften. Palasovszkys dramatische Texte (Izzólámpa-Punalua, Glühlampe-Punalua; Zrí-Punalua, Zri-Punalua; beide 1926), auch „Massendramen“ genannt, waren eigentlich Vorlagen zu großen Massenspielen, zu dadaistischen Festen im öffentlichen Raum. Zum Beispiel hätten das Drama Zrí-Punalua große Menschenmengen auf den beiden Seiten und an den Brücken der Donau aufführen sollen. Diese Dramen teilten mit Palasovszkys anderen Theaterarbeiten die Absicht, das öffentliche und gemeinschaftliche Ereignis als das konstitutive Element des Theaters zu behandeln und sich vom Vorrangsprinzip des dramatischen Textes zu lösen. Es war vor allem Tibor Déry, der mit seinen 1926 geschriebenen Dramen (Óriáscsecsemő, Der Riesensäugling; Mit eszik reggelire?, Was möchten Sie frühstücken?; A kék kerékpáros, Der blaue Radfahrer) die wichtigsten Beispiele einer dadaistischen und surrealistischen Dramenpoetik schuf. In diesen Dramen löst ein spielerischer Umgang mit Autor- und Zuhörerschaft den düsteren Ernst der frühen expressionistischen Dramen von Mácza oder Újvári ab. Zu seinem Drama Mit eszik reggelire?, in dem „Autor“ und „Zuhörer 1, 2, 3, 4“ selbst auftreten, schrieb Déry ein Vor- oder Nachwort und entwarf die Grundzüge einer Dramenpoetik, in der die Geschehnisse auf der Bühne gleichzeitig Zitate einer alltäglichen Wirklichkeit und Zeichen eines alogischen und irrealen Sinnzusammenhangs sind. Déry folgt hier der poetologischen Grundüberzeugung der Avantgarde, dass es im Werk nichts gibt, was nicht nur sich selbst bedeute – auch dann, wenn es sich in die vorhandenen alltäglichen (und literarischen) Rahmen der Interpretation nicht einfügen lässt. Die Zeichen auf der Bühne sind in diesem Sinne ‚desemiotisiert‘ – das Engelhaar ist ein Engelhaar und nicht mehr:
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In meinem Stück stellt das Bühnenbild die Seiten einer Zeitung dar. Man soll darin kein Symbol suchen. Immer und überall denke ich nur das, was ich sage. (Auch in meinen Gedichten.) ‚Engelhaar hängt vom Himmel‘ – sagt eine der Figuren. Es hat keinen verborgenen Sinn. Es bedeutet nur, dass Engelhaar vom Himmel hängt – mit all den Konsequenzen, die sich aus dem Sein und aus der Nähe der Engel sowie aus der Stellung ihres Haares ergeben. Dass das Bühnenbild die Seiten einer Zeitung darstellt, ist genauso oder genauso wenig möglich wie das ganze Stück, und ist nur innerhalb des Werkes gesetzmäßig. Es erreicht aber auf jeden Fall seine Wirkung und schafft eine Zeitungsatmosphäre sowie die Vorstellung eines irrealen Raumes. Die Handlung ist ort- und zeitlos; es ist zufällig, ob der Boxkampf in Philadelphien oder der Mord in Berlin passiert, das eine nach dem anderen. Es könnte auch umgekehrt passieren. […] Sowohl der Anfang als auch das Ende ist zufällig. Oder man könnte auch sagen: wie die Tageszeitung hat es weder Anfang noch Ende (Déry 1976, 98–99, Ü: Verfasser).
Das Bühnenspiel ist also die Fortsetzung einer (medial vermittelten) Wirklichkeit, in der reale Sinnzusammenhänge aufgehoben sind.19 Ein anderes wichtiges Verfahren dieser Umwandlung des dramatischen und des theatralischen Zeichensystems war die Verwendung von Masken und Puppen, z. B. in Dérys Dramen: Auf der rechten Seite [der Bühne] spielen die Schauspieler im Straßenkleid und ohne Maske, auf der linken Seite mit Maske und mit buntem Kartonblatt, das ihren Körper bedeckt und ihren zufälligen Namen und zufälligen Beruf zeigt wie eine Visitenkarte. Die Maske, diese Formel des menschlichen Gesichts, ist bei allen die gleiche; hinter dem Karton sieht man nur die puppenhaften Bewegungen der Hände und der Beine. (Déry 1976, 100; Ü: Verfasser)
Nicht nur, dass die Masken bei allen Figuren die gleichen sind, ihre Identität ist von vornherein rein zufällig und äußerlich. Die Zweiteilung der Bühne in Dérys Drama verweist auf eine grundlegende Zweiheit des Avantgarde-Theaters. Das Theater der Avantgarde schwankte zwischen den beiden Extremen der Mechanik und der Befreiung des Körpers. Richtete Ersteres die Aufmerksamkeit des Zuschauers durch die Mechanik der Bewegungen und der Stimme (u. a. bei Ödön Palasovszky) auf die Äußerlichkeit der Identität, so versuchte das Letztere, durch eine neue ‚Sprache‘ der Bewegungen den Körper von
19 Im Hintergrund dieser Poetik stand auch die veränderte Einstellung zur Frage einer ‚erkennbaren‘ Wirklichkeit. Die Wirklichkeit sei – laut einem Aufsatz, den Andor Németh in der Zeitschrift Dokumentum im selben Jahr veröffentlichte – eine „treibende Menge von Beziehungen“, die man erst erkennen kann, wenn man sich mit ihr „vermengt“, und die man „berühren, stoßen und bewegen soll“, da man erst durch „ihren Widerstand spürt, dass es sie gibt“ (Németh 1973, 179). Hier wird die (cartesianische) Grundstruktur eines Erkennens aufgegeben, bei dem das neutrale Subjekt einem Objekt der Erkenntnis gegenübersteht.
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den eingefleischten Normen des klassischen Bühnenspiels zu befreien. Moderne Tanz- und Bewegungskunst waren in dieser Hinsicht wegweisend: Alice Madzsar (1885–1935), Valéria Dienes (1879–1978) und Olga Szentpál (1895–1968) haben in Ungarn die Methoden weiterentwickelt, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts von Bess Mensendieck, Raymond Duncan und Jacques Dalcroze ausgearbeitet wurden. Diese Versuche, in denen ‚Natürlichkeit‘ und ‚Gesundheit‘ Schlüsselbegriffe waren, spielten eine wichtige Rolle in der Anerkennung der genderspezifischen Unterschiede in der Körperkultur (vgl. Schuller 2007 b, 119–121).
VI.7 Die Dichtung und die Medialisierung der Wahrnehmung um 1926/27 In den Debatten um das Medium Film sind die gleichen Grundmuster der Natürlichkeit und der Medialisierung zu beobachten. 1926/27 wurde im Umkreis der ungarischen Avantgarde eine Reihe wichtiger Aufsätze veröffentlicht, die sich mit dem Avantgarde-Kino auseinandersetzten.20 György Gerő veröffentlichte in der Zeitschrift Dokumentum einen kurzen Aufsatz über den Film sowie die Reproduktion eines Ausschnittes aus seinem seitdem verschollenen Werk, dem „ersten ungarischen Avantgarde-Film“ (Kassák–Pán 2003, 236; Ü: Verfasser, sowie Peternák 1991, 12), den der junge Dichter 1926 oder 1927 in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Jolán Simon drehte. War der Film für Béla Balázs (1884–1949), Autor des grundlegenden Buches Der sichtbare Mensch (1924), das Medium, in dem die natürlichen Grundlagen des menschlichen Selbstausdruckes hätten wiederhergestellt werden können (vgl. Kékesi 2006 c, 170), so definierte Gerő 1927 den Film und seinen eigenen radikalen Versuch als die Gesamtheit „antipsychischer Bewegungen“: Der Film ist keine Reproduktion menschlicher Handlungen. […] Auf einem Filmstreifen, der sich vor uns dreht, gibt es keine Autos, keine Menschen oder andere Gegenstände, nur die Umwandlungen des weißen und des schwarzen Lichtes, die verschiedene Formen annehmen. Auch dann, wenn diese Formen wirklichen Gegenständen ähnlich sind, folgen ihre Bewegungen und ihr Leben anderen Gesetzen. (Peternák 1991, 91–92; Ü: Verfasser)
Dieses Interesse am Medium Film um 1926/27 ließ auch die literarischen Schreibund Lesemodi im Umkreis der Avantgarde nicht unberührt. Andor Némeths
20 Im Umkreis der ungarischen Avantgarde waren es Ernő Kállai, Iván Hevesy und Lajos Gró (1901–1943), die nach und neben Béla Balázs die ersten Versuche zu einer Theorie des Films schrieben. Lajos Kassák rezensierte Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1926) und Walter Ruttmanns Berlin: Die Sinfonie der Großstadt (1927). In der Zeitschrift Dokumentum wurde 1927 Walter Benjamins Aufsatz über den russischen Film abgedruckt.
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Gedicht Eurydice útja az alvilág felé (1927; Der Weg Eurydices in die Unterwelt, P. Deréky–B. Frischmuth), das „schönste automatische Gedicht der ungarischen Literatur“ (Karafiáth 1999, 66), verdichtete die Erfahrung kinetographischer Bilder in die Metapher des „Unheimlichen“,21 in dem Wirkliches und Scheinhaftes nicht mehr zu unterscheiden sind und alles Menschliche leblos, alle Augen blind, alle Münder stumm werden (Németh 1973, 61): ez a kétségbeesetten felrántott száj Asta Nielsen arcáról csurog a vazelin Conrad Veidt kitépi a szemét véres vattát ragaszt a szemére dieser in verzweiflung aufgerissene mund vom gesicht der Asta Nielsen tropft vaseline Konrad Veidt reißt sich die augen heraus er klebt sich die höhlen mit blutiger watte zu (Deréky 1996, 477; vgl. Kékesi 2007)
In einem anderen 1927 geschriebenen Gedicht reduzierte Andor Németh alles für innere Leseraugen Sichtbare auf einen „Schwarzen Stern“ (so der Titel des Gedichts, Fekete csillag), der am nächtlichen Himmel nichts Sichtbares ergibt, und auf ein Weiß, das alles Sichtbare in sich auflöst und jeden Wirklichkeitsbezug verwirrt (Németh 1973, 54–55; Deréky 1996, 471; Ü: P. Deréky–B. Frischmuth): Nem látod jól mert fehér fehérrel keverve fehér / […] Ha a fehérség forog azt mondjátok hózivatar dühöng / Ha a fehérség elcsendesedik azt mondjátok tehén Du siehst es kaum denn weiß und weiß gibt weiß / […] Angesichts des weißen Wirbels sagt ihr es tobt ein Schneesturm / Angesichts des weißen Stillstandes sagt ihr Kuh
Das Gedicht beginnt mit einer Deixis („Ez tehát a tehén Chagall jégszínű tehene“, „Das ist also die Kuh die eisfarbene Kuh Chagalls“), es bleibt aber unentscheidbar, ob dieses „Das“ auf ein Bild, eine (verstellte) biblische Geschichte („Akiket egyiptomi József megszámolt egy a hét tehenek közül“, „die der ägyptische Josef in seinem Traum gelesen hat eine der sieben Kühe“) oder einen ‚realen‘ Sachverhalt verweist. Dieser dreifache Bezugsrahmen, den man intermedial, intertextuell und pragmatisch nennen könnte, wird im Weiteren auf eine irritierende Weise in sich verschränkt und de(kon)struiert. Alltägliche Gesprächsfragmente erwecken zwar den Anschein einer ‚realen‘ Sprechsituation,22 es bleibt aber unsicher, ob sich das ‚Gespräch‘ vor einem Bild oder einem ‚realen‘ Sachverhalt vollzieht. Die Kuh, die bei Chagall angeblich ein Symbol für das Leben schlecht21 Ich beziehe mich hier auf den Begriff Sigmund Freuds, den er 1919 in seinem berühmten Aufsatz Über das Unheimliche ausarbeitete. 22 Depragmatisierte Gesprächsfragmente kommen zu dieser Zeit u. a. in den Gedichten Attila Józsefs vor.
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hin sein soll, steht hier für etwas Kommendes und Erwartungsvolles, büßt aber ihren referentiellen (oder pragmatischen) und symbolischen Status schrittweise ein. Eine (kohärent) metaphorische (oder symbolische) Sinngebung wird bereits dadurch erschwert, dass die Elemente des intertextuellen (biblischen) Bezugsrahmens verstellt und ineinandergewürfelt ins Gedicht gelangen. Noch wichtiger ist aber, dass der Text ständig zwischen metaphorischer (oder symbolischer) und wörtlicher Bedeutung hin- und herschwankt, sodass sich das Sinnbild einer Versprechung in einen alltäglichen Wiederkäuer Mindenütt ígérik a tehenet / A tehén pedig csendesen kérődzik amit ígért azt rágja meg Überall wird ihr Kommen prophezeit / Wiederkäuend still ist die Kuh sie kaut an dem was sie versprochen hat
oder eine Prophezeiung in einen Wetterbericht verwandeln kann: Fényes szemét most lehúnyja mindjárt havazni fog / Ausztriában már elakadtak a vonatok Sie schließt jetzt ihre Funkelaugen gleich schneit es / In Österreich sind die Züge bereits steckengeblieben
Das Gedicht ist letztendlich eine (De-)Figurationsmaschine, die mythische Symbole und symbolbeladene Bildelemente u. a. in umgangssprachliche Schimpfworte transformiert: Tegnapelőtt hívtalak: a telefonba nevettél mint egy tehén Vorgestern habe ich dich angerufen du lachtest am Telefon wie eine Kuh
Der Gedichtabschluss oder das Endergebnis ist somit eine sinnentleerte Aussage Tenyerem világít a sötétben tenyerem mutatja az utat / Ahol a tehén táncol ott van a kanyarulat Meine Handflächen leuchten im Dunkeln sie zeigen den Weg / Dort wo die Kuh tanzt ist die Kurve,
die durch die Handfläche und die ausgestreckten Finger den im Titel vorkommenden Stern noch einmal heraufbeschwört und als Sinnbild eines Versprechens oder einer Wegweisung endgültig entleert.23
23 Verwandte sinnentleerende Gedichtabschlüsse findet man in Kassáks dadaistisch geprägten Gedichten der 1920er Jahre.
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Statt literarischer Beschreibungen von Bewegungsbildern ist es die literarische Inszenierung einer medial umgesetzten Sinneswahrnehmung, die in Kassáks Gedichten um 1926/27 auffallend ist. (In diesen Jahren schrieb er Kritiken zu Filmen wie Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin und Walter Ruttmanns Berlin: Die Sinfonie der Großstadt.) In dem 66. Gedicht (1926; 66., E. Gáspár – H. Suchny) erscheint die Vorstellungstätigkeit des Ichs als eine mediale Umsetzung, die die Erinnerung eines Du durch eine Spur ersetzt, die das akustische Signal – die Geräusche der Schritte – in ein optisches umsetzt (Kassák 1970, 201; Deréky 1996, 341): Egy kéz jeleket ír a falra a tárgytalan nyugtalanság üzeneteit hol vagyok én hogy nem látlak téged csillagvándorlás emlékezetemben világítanak lépteid Eine hand schreibt zeichen an die wand botschaften der objektlosen unruhe / wo bin ich dass ich dich nicht sehe sternenwanderung / in meiner erinnerung läuten deine schritte
Sind der zweite und dritte Vers die „Zeichen“ oder „Botschaften“ selbst, die eine Hand an die Wand schreibt, so ist die Erinnerung des Anderen, d. h. die ganze Vorstellung des Ichs, das Ergebnis einer Inskription, die außerhalb des und losgelöst vom Ich stattfindet. Ein von außen her gesteuertes Vorstellungsvermögen, in dem sich alle Signale in ein optisches umwandeln, stellt das Subjekt im Zeitalter moderner Bildmedien dar. So ist es durchaus verständlich, dass die Rede, die im Gedicht erklingt oder „läutet“, nicht mehr auf das sprechende Ich zurückzuführen ist. An einer anderen Stelle: […] fogaim között széttörik a kiáltás hullámok amik körbevesznek […] zwischen meinen zähnen bricht sich der schrei wellen die mich umlaufen
wandelt sich der alte expressionistische Schrei in akustische Wellen um, die das Ich umgeben. Durch diese Umschaltung vom Inneren des Ichs auf das Äußere der Akustik wird der Klang in seinem Ursprung undefinierbar. Solche medialen Verfahren gelangen im 66. Gedicht und in Kassáks besten Gedichten um das Ende der 1920er Jahre, vor allem im 70. und 71. Gedicht, nur ansatz- und ausnahmeweise. Ab etwa 1930, vor allem mit den Gedichten des Bandes Földem, virágom (1935; Mein Land, meine Blume), kehrte Kassák schließlich zu einer klassischen Lyrik mit einfachen poetologischen Mitteln und einer konfessionellen Redesituation zurück, die er in seiner ganzen weiteren dichterischen Laufbahn bewahrte. Das Malen gab er um 1930 für ein Vierteljahrhundert, bis zu den 1950er Jahren, auf.
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Materialisierung der Sprache
VI.8 Wege aus der Avantgarde Am Ende des Jahrzehnts traten jedoch die Dichter Lőrinc Szabó (1900–1957) und Attila József (1905–1937) mit Gedichten hervor, die durch die Lyrik der Avantgarde inspiriert waren. Lőrinc Szabó, der aus dem Umkreis der Zeitschrift Nyugat kam und das Programm der Avantgarde nie völlig akzeptierte, veröffentlichte in den 1920er Jahren zwei Gedichtbände, die seine Wende zur Spätmoderne im Band Te meg a világ (1932; Du und die Welt) vorbereiteten und gleichzeitig Bezüge zu der Dichtung der Avantgarde aufwiesen. In den Gedichten des Bandes Fény, fény, fény (1925; Licht, Licht, Licht) arbeitete er eine simultane Technik aus, die an den ‚Reihungsstil‘ der deutschen Expressionisten erinnert.24 Die syntaktischen und pragmatischen Brüche, die in den Gedichten des Bandes Fény, fény, fény eine diskontinuierliche Wahrnehmung ergeben, gehen auf die Erfahrung zurück, dass die Einheit eines in sich ruhenden Ichs fragwürdig geworden ist: „És amire nézek, az vagyok“ („Und was ich anblicke, das bin ich“), „Minden vagyok, semmi se vagyok“ („Ich bin alles, ich bin nichts“). Aus dieser Einsicht entspringt eine Erfahrung des Ichs, die nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit diskontinuierlich erlebt: „s most minden pillanatban én teremtem újra őt“. Dieses Ich, das „sich und die Welt immer wieder erschafft“ (Kisértetek, Gespenster; Szabó, Lőrinc 2000, 111, Ü: Verfasser), schwankt in den Gedichten des Bandes zwischen Ekstatik und Hektik, der Vereinigung mit der Welt und einer brüchigen Selbsterfahrung (Óda a genovai kikötőhöz, Ode an den Hafen in Genova). Die Gedichte des Bandes A Sátán Műremekei (1926; Meisterwerke des Satans) lösen sich von der expressionistischen Poetik des früheren Bandes, entwerfen aber eine ‚materialistische‘ Poetik, in der es um die Ökonomie des Geldes und eine Gesellschaft geht, die auf der ungleichmäßigen Verteilung des Geldes aufbaut. Die Ökonomie des Geldes wird – laut der einleuchtenden Analyse von Zoltán Kulcsár-Szabó (Kulcsár-Szabó, Zoltán 2004, 188–190) – zur metapoetischen Grundfigur der Gedichte. Denn die Anthropomorphisierung des Geldes geht mit einer Des-Anthropomorphisierung des Menschlichen einher, die ihrerseits auf dem Warenwert des Menschen beruht (Wild West Európa, Wild West Europa), d. h. die Allegorien des Geldes beruhen auf einem semiotischen ‚Tauschwert‘, den die bildlichen und die begrifflichen Elemente in der Ökonomie der Zeichen innehaben (Grand Hotel Miramonti, Gy. Buda). Ein anderer bedeutender Dichter der ungarischen Spätmoderne, Attila József, schrieb zwischen 1924 und 1928 eine Reihe von Gedichten (Keserű; Bitter, Ch. Rácz – B. Frischmuth; Néha szigetek; Manchmal Inseln, Ch. Rácz – B. Frischmuth; Én
24 Lőrinc Szabó war gleichzeitig ein kundiger Übersetzer der Gedichte von Ernst Stadler und Gottfried Benn.
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dobtam; Ich warf, Ch. Rácz – B. Frischmuth; Ekrazittömeg; Ekrasitmasse, Ch. Rácz – B. Frischmuth; Riának hívom; Ich nenne sie Ria, Ch. Rácz – B. Frischmuth; József Attila [József Attila, hidd el ...]; József Attila [József Attila, glaub mir ...] Ch. Rácz – B. Frischmuth; A rák; Der Krebs, Ch. Rácz – B. Frischmuth; A bőr alatt halovány árnyék; Fahler Schatten unter der Haut, Ch. Rácz – B. Frischmuth), in denen eine surrealistisch (und teilweise dadaistisch) inspirierte Poetik ausgearbeitet wurde. Attila József war nie ein Anhänger des Kreises um Lajos Kassák, diese Gedichte weisen jedoch eindeutige Spuren des Einflusses von Kassáks „Nummerierten Gedichten“ auf. Dieser Einfluss lässt sich u. a. auf der Ebene einer dichterischen Lexik greifen, die mit wiederkehrenden Wörtern und Zeilen arbeitet, die jedoch keine fixe und stabile Bedeutung erhalten, sondern immer wieder rekontextualisiert werden. Die Verschiebung des Bedeutungszusammenhangs erfolgt durch defigurative Techniken, die bereits in Kassáks postaktivistischen Gedichten eine zentrale Rolle spielten: „Röntgenfényből faragták, átsugárzik a falakon és a szavaimon“ (Riának hívom, „Aus Röntgenstrahlen wurde sie geschnitzt, sie durchleuchtet die Wände und meine Worte“, Deréky 1996, 254–255, Ü: Ch. Rácz – B. Frischmuth), wobei die wörtliche und die metaphorische Bedeutung des Wortes „átsugárzik“ die ursprüngliche Metapher (Ria sei aus Röntgenlicht geschnitzt) entgleisen lässt. Solche defigurativen Techniken unterstreichen den Zufall, der jedweder Benennung innewohnt („Riának hívom őt / De éppúgy mondhatnám sónak, vagy villámnak is“, „Ich nenne sie Ria / Genausogut könnte ich sie Salz oder Blitz nennen“), und sich u. a. auch in der alogischen (oder scheinbar logischen) Syntax zeigt („A lélek hullámhossza éppen a magasságom, ezért van az, / hogy csóknak mondjuk a szédítő naprendszereket“, Én dobtam; „Die Wellenlänge meiner Seele ist genau meine Größe, das ist, damit wir die schwindelerregende / Sonnensysteme Kuß nennen können“, Ich warf, Deréky 1996, 260–261, Ü: Ch. Rácz – B. Frischmuth). Diese defigurative Technik sorgt auch dafür, dass die alltäglichen und ‚unpoetischen‘ Sprachfragmente, die in den Gedichten den pragmatischen Rahmen des Sprechens anzeigen sollten, ihre ursprüngliche Bedeutung einbüßen. Infolge dieser Depragmatisierung erscheinen die alltäglichen Sprachfragmente als gefundene und fertige Elemente (oder sprachliche ‚Realitätszitate‘), in denen sich die Sprache in ihrer Materialität zeigt. Diese Dichtung – die Dichtung einer materialisierten Sprache – ist voll von Bildern, die nicht einmal für innere Leseraugen sichtbar sind und sich selbst auslöschen. Geht es bei Andor Németh um „schwarze Sterne“ und „eisfarbene Kühe“, die am schwarzen Himmel oder im Schneegestöber nichts Sichtbares ergeben, so begegnet man in den Gedichten Attila Józsefs z. B. einem „durchsichtigen Löwen“, der „zwischen schwarzen Wänden“ lebt (Fahler Schatten unter der Haut, Deréky 1996, 278–279; Ü: Ch. Rácz – B. Frischmuth). Diese berühmte Anfangszeile des Gedichts A bőr alatt halovány árnyék lässt sich nur unter der Bedingung einer eigentümlichen ,Blindheit‘ lesen:
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Literatur
Man versucht entweder, den Vers wörtlich zu lesen und sich das Bild vorzustellen, und lässt das Bild sich selbst auslöschen, oder man versucht, der Zeile eine metaphorische Bedeutung zu geben, und vergisst auf diese Weise alles für das innere Leserauge Sichtbare (vgl. Kulcsár-Szabó, Zoltán 2004). Es ist dabei einerlei, ob das eine oder das andere gilt, denn es bleiben nur die bildlosen Buchstaben des Textes, die man lesen kann. Diese Gedichte von Attila József überlassen die Benennung eines Ich einer Sprache, in der es nur eine materielle Stelle – z. B. ein Pronomen oder einen Eigennamen – ein- oder aufnehmen kann („József Attila, hidd el, hogy nagyon szeretlek“, „Attila József, glaub mir daß ich dich wirklich liebe“; József Attila; József Attila; Deréky 1996, 262–263; Ü: Ch. Rácz – B. Frischmuth). Ruft man sich noch einmal die letzten Zeilen von Kassáks A ló meghal … in Erinnerung („ich bin LAJOS KASSÁK“), so kann man sagen, dass die spätmoderne Textualisierung des Subjekts in der späteren Dichtung von Attila József oder Lőrinc Szabó eine ihrer Quellen in der Avantgarde der 1920er Jahre hatte.
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VII Medialisierung des Literarischen VII.1 Die Spätmoderne (1931/32–1960/1970) „Die literarischen Erneuerungen nehmen in einer Epoche einen ganz anderen Verlauf als in einer anderen …“, erklärt der Dichter Lőrinc Szabó 1934 in einem Zeitungsgespräch. Was er zur Stützung seiner Beobachtung kurz darauf hinzufügt, mag dichtungsgeschichtlich wohl die entscheidende Eigenart der 1930er Jahre treffen: „Heute schalten sich außerliterarische Kräfte einer gerade vor dem Ausbruch befindlichen Revolution nicht mehr in die Literatur ein.“ (Szabó, Lőrinc 2008, 110‒111, Ü: Verfasser). Der konkrete Wortgebrauch darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Szabó dabei nicht so sehr einem vom soziokulturellen Umfeld losgelösten Literaturgeschehen seinen Sonderwert attestieren will, sondern vielmehr darauf aufmerksam macht, dass geläufige Formen des literarischen Selbstverständnisses, durch die das unerschöpfliche innovative Potential der Moderne bislang vorrangig in soziostrukturellen Wandlungsprozessen fundiert war, für die Orientierung in der literarischen Wirklichkeit der 1930er Jahre grundsätzlich unzureichend seien. Dies war nicht deshalb der Fall, weil die Auswirkungen der Letzteren auf die Literatur im thematisch-referentiellen Bereich geringer ausfielen: Nach dem Zerfall der Donaumonarchie sollte nämlich eine ganze Reihe von Fragen der historischen, nationalen und kulturellen Identität generell neu gestellt werden, die in die literarischen Texte proportional sogar in höherem Anteil Eingang fanden als in den Jahrzehnten der bürgerlichen Modernisierung. In der Tat war die soziokulturelle Selbstreflexion der Literatur der Nachkriegszeit tief und nachhaltig durchdrungen von den traumatisierenden Wirkungen der allgemein als ungerecht empfundenen ‚Friedensdiktate‘ von Versailles und Trianon (1920). Dass wohl keine der poetologisch sowie im Weltbild sonst stark divergierenden Richtungen der literarischen Öffentlichkeit sich von den kollektiven Ressentiments und der gedrückten Stimmung nicht betroffen fühlte, fand seine Erklärung zunächst darin, dass im Hinblick auf die historische Einmaligkeit der Nachkriegszeit emotional ein weitgehender Konsens bestand. Die allgemeine Befindlichkeit stand nämlich am stärksten unter dem Eindruck der Einsicht, dass „Ungarn seit dem 16. Jahrhundert keinen gleichartigen Verlust erlitten hatte“ (Romsics 1982, 98, Ü: Verfasser). Jedoch erst in den 1930er Jahren wurde ersichtlich, dass die territoriale Zerstückelung des Landes – infolge derer die vormalige Mittelmacht nun zwei Drittel ihres Hoheitsgebiets an die Nachbarn abzutreten hatte und „eine gewaltige Anzahl ethnischer Ungarn sich […] über Nacht in fremden Staaten wieder[fand]“ (Diner 2000, 100) – mit einer tieferen und länger anhaltenden Krise der (zumal kollektiven) Identitätsfindung einherging. Auch zu Beginn der 1940er Jahre fühlte sich die Bevölkerung noch umgeben von feindlich
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gesinnten Nachbarn, die nach damaligem Wortlaut als „Wächter“ einen „Käfig von Geiseln“ umstanden. Die historisch-politische Lage erschien umso aussichtsloser, als nun offen zutage trat, dass durch die politische Neugestaltung des mitteleuropäischen Raumes den neuen Staaten, die aus der Habsburgermonarchie zumeist um den Preis der ‚geokulturellen‘ Verstümmelung der Region hervorgingen, nun die Rolle zufiel, eine auf die Interessen der Siegermächte zugeschnittene politische Stabilität zu sichern. Dass es den Siegermächten indes allerdings nicht primär um eine längerfristige Friedensstiftung gegangen sein mag, kam angesichts des Zerfalls der ‚zukunftsträchtigen‘ Vielvölkerstaaten spätestens in den 1990er Jahren klar zum Vorschein. Die jüngsten politischen Ereignisse in dieser Region legen die bittere Einsicht nahe, dass paradoxerweise selbst das in ziemlicher Unkenntnis der regionalhistorischen Verhältnisse vollbrachte Friedenswerk es war, das zum wiederholten Aufflackern schlummernder Kräfte des alten ethnisch-territorialen Streitpotentials führte. Umso merkwürdiger mutet die Tatsache an, dass zumeist gerade diejenigen Werke, die sich im Nachhinein dichtungsgeschichtlich als federführend erwiesen, selten auf referentielle Inhalte dieses historischen Zusammenbruches zurückgriffen. Das heißt gleichwohl nicht, dass sogar literaturhistorisch bedeutende Werke – etwa Dezső Szabós Az elsodort falu (1919; Das fortgeschwemmte Dorf) oder Dezső Kosztolányis Édes Anna (1926; Anna Édes, 1929, St. J. Klein; Anna, 1963, I. Kolbe) bzw. Babits’ großes Gedicht Dal az esztergomi bazilikáról (1924; Gesang von der Basilika zu Esztergom) – auf die Thematisierung der folgenschweren historischpolitischen Ereignisse verzichtet hätten. Dezső Szabós Roman gilt als erstes groß angelegtes Experiment mit den Möglichkeiten der expressionistischen Prosa in ungarischer Sprache, Kosztolányis Werk gehört zu den prachtvollsten und sublimsten psychologischen Romanen seiner Zeit, während die feierlich-gehobene Diktion von Babits – indem der Text die überzeitliche Gerechtigkeit höherer Kräfte wie Natur, Kultur und Religion beschwört – ein spätes Zeugnis fürs Sprachvertrauen der klassisch-modernen Gedankenlyrik der Stimme ablegt. Alle drei greifen Themen ihrer unmittelbaren Gegenwart (d. h. der 1910er bzw. der ersten Nachkriegsjahre) auf, und zwar so, dass sogar die politische Wirklichkeit der Zeit in ihre Thematik und Handlungsstruktur nachdrücklichen Eingang findet. Dass die dichtungsgeschichtlich wirkungsstärksten Werke also nicht unter direktem (thematischem) Einfluss des sich in die kollektive Erinnerung tief einschreibenden Traumas der Nachkriegszeit entstanden, heißt zugleich gerade nicht, dass Werken, deren Thematik und Handlung dieser epochalen Erfahrung entstammten, in der ästhetischen Bedeutungsbildung nur Nebenwerte zukämen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass, wie sich in der Wirkungsgeschichte der gesamten ungarischen Moderne zeigt, keines der drei erwähnten (und bereits zu ihrer Zeit angemessen hoch geschätzten) Werke nachhaltiges Erneuerungspoten-
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tial entfalten konnte. Allein diese ausgebliebene (oder zumindest dichtungsgeschichtlich sehr geringfügige) Wirkung spricht nun ex negativo dafür, dass nicht nur die Entstehung, sondern bereits die früheste Phase der literarischen Spätmoderne anders nachzuzeichnen ist, als es in der vorausgehenden, wirkungsgeschichtlich unreflektierten Praxis der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung zumeist üblich war. Sie suchte diesen – für die zeitgenössischen Akteure der Literatur sich noch nicht im vollen Umfang erschließenden – Widerspruch zu überbrücken, indem sie in die artikulierte Beschreibung der Epoche eine scheinbar brauchbare (weil eben nicht literaturfremde) Kategorie des Neuen Klassizismus einführte (siehe u. a. Tamás 1977, 435, 465, 486‒487). Mag nun dieser Begriff stilgeschichtlicher Herkunft in der Literaturgeschichtsschreibung jahrzehntelang noch so zufriedenstellend funktioniert haben, ist bei näherem Hinsehen kaum mehr zu übersehen, dass die ‚Dehistorisierung‘ solcher Stilkategorien (wie auch die des hierzu parallel verwendeten Neuen Realismus bzw. der Neuen Gegenständlichkeit) die wichtigsten poetologischen Anregungen der Epoche gerade dadurch verfehlte, dass sie etwas nur scheinbar Literarisches zum Hauptantrieb der damaligen literarischen Prozesse erklärte. Indem sie nämlich unter Klassizität zumeist eine auf ‚überzeitliche‘ humanistische Muster und Ideale zugeschnittene, sachlich-stilisierte Redeweise und (statt Bildlichkeit der Phantasie) eine eher grammatisch gesteuerte Rhetorik verstand, verortete sie die literaturhistorische Eigenart der Epoche letztlich doch nicht in Prinzipien der Textgestaltung, sondern deckte sie vornehmlich in künstlerischen Haltungsmodi auf. Das wiederum heißt, dass dieses Vorgehen den sogenannten literarischen Neuklassizismus vorzüglich über humanistische Wertindexe in Erfahrung brachte, anstatt ihn als eine Art dominierenden Mitteilungsmodus von Texten auszuweisen. Dieser methodologische Fehlschritt der ideologisch kontrollierten Literaturgeschichtsschreibung war eigentlich einer späten Anlehnung an die Staiger’sche Stillehre zu verdanken, die eigentlich Goethe folgend davon ausging, dass – weil „das Wesen des Menschen [auch] im Bereich des dichterischen Schaffens erscheint“ (Staiger 1971, 179) – bestimmten humanen Verhaltensformen und modalen Einstellungen klar auszumachende sprachliche Mitteilungsmodi anhafteten. Umsonst definierte also die Literaturgeschichtsschreibung diese Periode der späten Moderne über literaturgerechte Schlüsselbegriffe. Sozusagen selbstverschuldet konnte ihre Praxis nicht mehr verhindern, dass anstelle des innovativen Potentials der postavantgardistischen Textgestaltung fortdauernd die Verhaltensmodi eines dem Werk hinzugedachten Subjektes zum Gegenstand der literarischen Wertung wurden. Der unvermerkte Tausch von Mitteilung und Verhalten bewirkte so eben eine flagrante Gleichstellung von Stimme und Phänomen, als wäre das textuelle Sprachereignis erst in einem phänomenalen Akt der Ver-
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stimmlichung des Schriftlichen erfassbar, die dem Rezipienten allein durch eine imaginäre Zurückverwandlung des Schrifttechnischen ins Menschliche zum Verständnis der (humanen) Botschaft verhülfe. Eine solcherart kurzgeschlossene Form der literarischen Kommunikation konnte dann den Anschein erwecken, als wäre die Literaturinterpretation bloß Sache eines korrekt durchzuführenden ‚Verstimmlichungsaktes‘ des Textuellen, um die ursprünglich menschliche Mitteilungsabsicht ohne Umstände zu erreichen. Unabdingbar entstand somit der irreführende Anschein, als käme die unverwechselbare literaturhistorische Eigenart der Zeit authentisch erst im Anthropologischen zum Tragen. Der Preis also, mit dem eine mehr oder weniger plausible literaturhistorische Darstellung der 1930er Jahre erkauft wurde, schlug methodologisch schwer zu Buche: Die scheinbar literaturgerechten stilgeschichtlichen Kategorien eigneten sich nämlich augenscheinlich nicht dazu, das Eindringen außerliterarischer Wertungsformen in die Literaturgeschichte zu unterbinden. (Exemplarisch dafür ist, dass ähnliche Fehlschlüsse nicht selten auch heute dem wissenschaftlichen Literaturverständnis unterlaufen: „Der Neuklassizismus ist übrigens ein zwiespältiges Phänomen: Er speist sich einerseits aus der neukonservativen Sinnesart der offiziellen Öffentlichkeit der 1920er Jahre und versucht andererseits, gegen die irrationalen Rassenmythen eine Art Schutz zu bieten.“ Veres 1999, 77, Ü: Verfasser) Dementsprechend entging der so fundierten Epochendarstellung auch die Möglichkeit, die wirkungsgeschichtliche Dynamik und sprachpoetische Komplexität der literarischen Vorgänge der 1930er Jahre adäquat zu erschließen. Trotz ihrer methodologisch-theoretischen Schwächen ist die überlieferte Epochendarstellung nicht in jeder Hinsicht verfehlt. In der historischen Rekonstruktion des künstlerischen Epochenbewusstseins richtete sie sich sogar nach ausschlaggebenden Dokumenten der Zeit, die für die wirkungsgeschichtliche Deutung der spätmodernen Epochenschwelle um die Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren besonders ins Gewicht fallen. Der Grund aber, warum das Konstrukt der ‚Klassizisierung‘ als Epochenbezeichnung einer kritischen Prüfung nicht standhält, besteht darin, dass die maßgebenden Texte, die – insbesondere die Schriften von Mihály Babits, Gábor Halász und allen voran László Németh – zur Fundierung dieser Bezeichnung jahrzehntelang zitiert wurden, bereits von ihren Ausgangslagen her nicht dazu taugten, den Neuklassizismus als eine angemessene und operationalisierbare Epochenbezeichnung auszuweisen, und zwar nicht nur aus jenem morphologischen Grunde, dass die Klassizitätsbegriffe von Babits (siehe Babits 1978. Bd. 2, 139), Halász (siehe Halász 1977, 483) und Németh – infolge ihrer intentionalen Verschiedenheit – sich nicht aufeinander abstimmen lassen. Denn während keinem von ihnen ein jeweils eigenes und plausibles Klassizitätskonzept abzustreiten ist, gehen diese Konzepte bereits hinsichtlich des literarischen ‚Worinseins‘ vom Klassizistischen weit
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auseinander. Indem es nämlich Babits dabei insbesondere um eine Art zeitloses Maß geht, zu dem jede Innovation schließlich als (von sich differierende) Devianz zurückkehrt, hält Halász an einer Klassizität fest, die die (späte) Romantik nicht umgeht, sondern überwindet. Németh hingegen weist ihr in der Umgestaltung des klassisch-modernen Bezugs von Werk und Autor besondere Bedeutung zu: Das erste Viertel des Jahrhunderts war eine expansive Epoche, es war erobernd, war voller Gier, stürzte Grenzsäulen und stiftete eine reiche Verworrenheit. Dies Ausbreiten, wie wir es an den Epigonen des Nyugat sahen, ist nicht mehr zu steigern […] Die Ästhetik des Ignotus war damals eine ‚Individualitätsästhetik‘: sie suchte die freie (mitunter zügellose) Bewegung des Geistes zu rechtfertigen; die unsere ist eine Werkästhetik, sie zwingt dem Schriftsteller Gesetze des Schaffens auf und geht bis hin zur Ablehnung der schriftstellerischen Individualität. (Németh 1970, 350, Ü: Verfasser)
Es darf dabei jedoch nicht unvermerkt bleiben, dass in den Beobachtungen, die in den literarischen Vorgängen ‚klassizisierende‘ Züge in der Literatur der 1930er Jahre verzeichneten, epochal neue Erfahrungsgehalte ihren Niederschlag gefunden haben. Denn selbst im Wortgebrauch von László Németh bezeugen Formeln und Ausdrücke (Regel, Gesetz) die zunehmende Einsicht, dass sich das bislang immer schneller weiterrollende Rad der Moderne in den späten 1920ern bereits wesentlich langsamer dreht und auch die frühere Dynamik der literarischen Innovationswucht allmählich nachlassen oder sogar zum Stillstand kommen könnte. Was sich hier im zeitgenössischen Epochenverständnis klar ausspricht, ist die Kenntnis davon, dass auch die ungarische Literatur an einer Epochenschwelle ankam, die die bislang dominierenden Vorgänge der literarischen Moderne fundamental umprägen wird. An den hinsichtlich des angeblichen ‚Dynamikverlusts‘ übereinstimmenden Positionen zur ‚neuen Klassizisierung‘ ist ja genau abzulesen, dass in den ersten Signalen der bevorstehenden Epochenschwelle, die damals zeitgleich überhaupt in Erfahrung gebracht werden konnten, sich noch nicht das paradigmatisch wirklich Neue geäußert hat. Was nämlich in der allerersten Phase dem zeitgenössischen Betrachter noch verschlossen blieb, erwies sich erst später als konstitutiv für die neuen Strukturen der ästhetischen Erfahrung, die eigentlich erst nach Abschluss der historischen Avantgarde mit voller Kraft zum Durchbruch kam. Dem zeitgenössischen Blick entrückt war gerade das zentrale wirkungsgeschichtliche Moment, das wohl die gesamte spätmoderne Wende eingeleitet hat: Es war nämlich derjenige tiefgreifende Wandel, den Status und Zeitstruktur des Neuen um die Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren überhaupt erfuhren. Es kam den zitierten Reflexionen zu jener Zeit nicht von ungefähr darauf an, die noch unscharf konturierten Strukturen und die moderateren Impulse der
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neuen Literatur von der Zeitlichkeit her zu erfassen. Schließlich orientierte sich die ganze ungarische Literatur spätestens seit 1895 auch am zentralen Wertbegriff der europäischen Moderne, der ursprünglich selbst bei Rimbaud und Baudelaire primär und eminent temporal geprägt wurde. Ohne eine verbindliche Definition der Moderne einführen zu wollen, lohnt es sich, an Gianni Vattimos treffende Beobachtung zu erinnern: Die Moderne ist jene Epoche, durch die das moderne Sein ein Wert wird, ja sogar der grundlegende Wert, auf den alle anderen bezogen werden. […] [D]er Glaube an den Fortschritt […] identifiziert sich ganz einfach mit dem Glauben an den Wert des Neuen. (Vattimo 1990, 109)
Was sich hier aber zur Meldezeit der Spätmoderne nicht wirklich und sofort ermitteln ließ – und auch von späteren Forschern der europäischen Moderne des Öfteren missachtet wurde –, war ein eigenartiger und zumeist unvermerkt eingetretener ‚Täuschungseffekt‘ des Literarischen selbst. Gegen jeden Anschein ging es hier nämlich entscheidend nicht um eine Art Erschöpfung der Moderne, die sich – angesichts der in ganz Europa nachlassenden Wucht der Erneuerung – leicht mit einer vom Überdruss an Innovation bewirkten zeitlichen ‚Rückwendung‘ oder mit einer Umkehrung der früheren Orientierung, d. h. mit einer Neuentdeckung von bewährten ‚Wertformen‘ der Vergangenheit hätte erklären lassen. Der grundlegende zukunftsträchtige Wandel ging dabei in viel tieferen Schichten, und zwar vor allem im Status des Neuen selbst vonstatten. Dass die Moderne zu dieser Zeit eben nicht im Abstieg begriffen war, zeigt sich bereits in ihrer flexiblen Fähigkeit, sich zeitlich wieder einmal weit (voraus)wirkend zu ‚regenerieren‘ und auch strukturell neu zu bilden. Dies war grundsätzlich derjenigen semiotischen Dynamik zu verdanken, die die ästhetische Erfahrung des klassisch-romantischen Zeitalters bereits zu Baudelaires Zeiten vom Anspruch auf einen ‚zeitlosen‘ Bestand abkoppelte und die Zeitstruktur des neuen (Nicht-MehrZeitlos-)Schönen gerade dadurch umbildete, dass sie seinem Status nunmehr eine unaufhörliche (allegorische) Wandelbarkeit aufprägte. Das in dieser Weise mit dem Neuen sozusagen wesensgleich verschaltete Zeitlich-Schöne verschaffte sich somit eine eigenartige kinetische Permanenz, die sich nicht mehr aufhalten ließ, weil ihre zentrale Bewegungsform mit einer sich von sich ständig abscheidenden ‚allegorischen‘ Differierung ineins fiel. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass zu dieser Zeit „das Neue in Opposition [nicht zum Alten, sondern] zum Immergleichen“ stehe (Benjamin 1991, 681). Die in die Zeitstruktur des Schönen im Sinne eines nicht mehr stabilisierbaren semiotischen Zeichenbezugs eingeschriebene Allegorie, die sich in Walter Benjamins Zentralpark als die „Armatur der Moderne“ (Benjamin 1991, 681) enthüllte, fing um die Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren an anders zu funktionieren.
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Wieso ihre eigene „Armatur“ die Moderne von nun an anders als zuvor bediente, lässt sich auf weiterführende, breitere wirkungs- und denkgeschichtliche Gründe zurückführen. Bekanntermaßen vollzog sich zwischen Wittgensteins Sprachpragmatik und Heideggers Hermeneutik gegen Ende des ersten Drittels des Jahrhunderts eine Art linguistic turn, infolge dessen die Sprachlichkeit unwiderruflich selbst in die Grundform des Seinsverstehens Eingang fand. Damit ist das Sprachliche, die Grundverfassung des menschlichen Daseins, sprachlich zu sein, so wesentlich und beherrschend geworden, daß sogar die Metaphysik, die Lehre von dem, was Sein heißt, in einen neuen Zusammenhang gerückt worden ist. Die Sprache ist Sprachgeschehen, ist Ereignis. (Gadamer 1993, 343)
Die so in den Blick geratene Spracherfahrung erwies sich für die Literatur der postavantgardistischen Zeit besonders als offenbarend, weil in ihr die allein literaturspezifische Eigenart aller Wortkunst erst recht neu erhellt wurde. Dementsprechend rückte nämlich die ‚schöpferische‘ Leistung des Sprachlichen in den Vordergrund, nach dem das Wort nicht einfach dazu da ist, das Gewusste und Gemeinte mitzuteilen, sondern auch als materielle Schrift- und Klangwirklichkeit, in deren Element alle menschliche Verständigung sich allererst als Ereignis des Sprachlichen vollzieht. Sprache ist dabei kein pures Mittel der praktischen Kommunikation mehr, wo das Wort den Anderen sozusagen nur als Überbringer von Botschaften zu erreichen hat, sondern vielmehr die unhintergehbare Verfassung des Menschlichen, die jeder Selbstbehauptung schlechthin vorausgeht. In diesem Horizont wird die (jeweils individuelle) ‚Aussprechbarkeit‘ der vielfältigen neuen Welterfahrung sehr bald zu einem Problem der Sprache, in der sich der von der spätromantischen Subjektivität her verstehende Mensch in seiner ehemals singulären Identität immer weniger wiedererkennt. „Die Sprache spricht“, erschließt Heideggers berühmte Maxime diese veränderte Situiertheit; „[d]er Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht“ (Heidegger 1993, 32‒ 33). Daraus folgt sozusagen mit zwingender Kraft, dass es für das sprachliche Subjekt der postavantgardistischen Texte nun erheblich erschwert wurde, unbekümmert Positionen einzunehmen, die für die Sprachkünstler des klassischen Ästhetizismus zumeist noch als Möglichkeiten einer ‚eigenmächtigen‘ Textgestaltung der artistischen Wortmagie mit bestimmter Selbstverständlichkeit zur Verfügung standen. Diese Rolle neu zu beleben, gelang nicht einmal in Gestalt eines eher verhaltenen ‚Operateurs‘ der Sprache, der bereits bei Mallarmé zwar kein virtuoser Wortkünstler mehr war, jedoch die Sprachbewegung immerhin noch unter ‚kalkulatorischer‘ Kontrolle hielt. In grober Vereinfachung kam es im weiteren Verlauf der literarischen Moderne größtenteils darauf an, wie diese epochale Erfahrung des „Wohnen[s] im Sprechen der Sprache“ (Heidegger 1993, 33) – bis hin zu Paul de Mans genauso berühmt gewordener Gegenmaxime („Die
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Sprache verspricht (sich)“ [de Man 1988, 21]) – wahrgenommen, bearbeitet und beantwortet wurde. Die umfassende Erfahrung der neuen und vor allem sprachlich wahrnehmbaren Situiertheit hat das künstlerische Denken über Subjekt, Kunstwerk und Literatur schlechthin tief beeinflusst. Allerdings stand dies immer im Zusammenhang damit, wie in der poetischen Gestaltung der Texte zur erst später im Humanismus-Brief in Worte gefassten Einsicht des Freiburger Philosophen – „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden“ (Heidegger 1967, 342) – Stellung genommen wurde. Parallel zur oben skizzierten episteme-historischen Aufwertung der medialen Unhintergehbarkeit der Sprache verschaffte sich eine unumgängliche Konsequenz des gerade anlaufenden technischen Zeitalters weitreichende Geltung, indem sie angesichts der neuen Aufzeichnungstechniken (Film, Grammophon, Schreibmaschine usw.) suggerierte, dass selbst die (vorher als organisch angesehene) menschliche Wahrnehmung zuvörderst technisch und materiell konditioniert sei. Der neue performative Status des ästhetischen Sprachgeschehens verband sich somit bald mit der erweiterten Erfahrung einer bislang unbekannten Form des Medialen überhaupt. Besonders förderlich war für diese Neuorientierung der Literaturbetrachtung, dass gegenüber etwa dem klassisch-modernen Babits, der sich aller Technisierung des Literarischen grundsätzlich verschloss, mehrere Klassiker der ungarischen Moderne wie Kosztolányi, Kassák, Attila József oder Lőrinc Szabó dezidiert die Überzeugung teilten, dass technisch-mediale Faktoren bereits am Entstehen des Kunstwerkes beteiligt sein können, welche jenseits des Bewusstseins einer selbstgenügsamen Subjektivität agieren. Seit Beginn der 1920er Jahre vertiefte die Aufwertung der sprachlichen und der technisch-materiellen Medialität nun die Einsicht, dass auch die ästhetische Erfahrung der Literatur selbst eine doppelt vermittelte ist und als solche grundsätzlich überlieferten Konzepten zuwiderläuft, welche die eigentliche humane Leistung des Literarischen im einzig wahren (weil direkt erfolgenden) Selbstausdruck der Seele und ihrer jeweiligen modalen ‚Gestimmtheit‘ fundierten. Angesichts der Medialisierung der Wirklichkeitserfahrung und der Gegenseitigkeit der neuen medialen Wechselwirkungen von Technik, Sprache und Wahrnehmung sind diese neuen dichtungsgeschichtlichen Konstellationen als Produkte und zugleich Erzeuger einer künstlerischen Episteme anzusehen, der zum ersten Mal ein völlig neues Potential mechanischer Aufzeichnungssysteme zur Verfügung steht. Dieses Potential legte dann weitere verborgene diskursive Kontrollinstanzen frei und weitete die Vorherrschaft der medialen Kulturtechniken mit einer Effizienz aus, die geeignet war, die Leistung anthropologischer Wahrnehmungssysteme in den unterschiedlichsten Formen und Bereichen nicht nur zu simulieren oder zu überbieten, sondern sie – nach nichtanthropologischen Prämissen – auch zu konstituieren.
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Anhand des so gewonnenen Horizonts wird einsichtig, wie eine Sprachlichkeit, die die Übermacht des Gedanklichen (zwischen Mallarmé und Valéry, Yeats und Pound, Hofmannsthal und Benn bzw. Babits und Attila József) aufhebt, allmählich nicht nur die humanideologische Tradition vom Menschen als ‚Ebenbild der Gottheit‘ kritisch erhellt, sondern möglicherweise auch die anthropologischen Prämissen des Eurosubjektes revidiert, das wohl seit der Aufklärung aller Deutung der Dinge zugrunde lag. Denn wirkungsgeschichtlich betrachtet erscheint diese Erfahrung an demselben Punkt, an dem Versuche, die literarische Textpartitur im Sinne eines stabilisierten Sinnganzen zur Rede zu bringen, immer öfter an der ungewöhnlichen Kontingenz der neuen Verbindung von Medium und Gedanke, Realem und Symbolischem, Materie und Information scheiterten. Für die neuen dichtungsgeschichtlichen Vorgänge gilt aber zunächst festzuhalten, dass sich im Anschein der zurückgegangenen Dynamik kein Kraftverlust der zentralen „Armatur“ der Moderne andeutete, sondern vielmehr ein tiefer gehender Wandel in ihrer Zeitstruktur. Denn trotz der noch präsenten Avantgarden stehen die späten 1920er Jahre nicht mehr unter der poetologischen Dominanz einer ständig vorwärts wirkenden ‚kinetischen‘ Kraft der zwingenden Innovationspflicht. In den Kunstwerken der frühen 1930er Jahre gewinnen dann anders erzeugte Strukturen die Oberhand, die nicht mehr die von sich ständig differierende Dynamik der Allegorie nachbilden, sondern in denen sich vielmehr ‚statische‘ Bewegungsformen der temporalen Interferenz und der spannungsgeladenen Dezentrierung abzeichnen. Äußerst treffend vermerkt Gottfried Benn hierzu 1952 im Rückblick: „[E]s [ das Gedicht, E. K. Sz.] ist in der Lage, ohne Zeit zu operieren, wie es die Formeln der modernen Physik seit langem tun.“ (Benn 1989, 555). In der Auflösung der allegorischen Zeitstrukturen kündigte sich definitiv ein neues Verhältnis von Sprache und Werk-Subjekt – und mitunter auch von Tradition und Innovation – an. Sprache tritt dabei immer weniger als Äußerung eines allmächtigen Sprechers oder als Vollzugsmedium individueller Intentionen in Erscheinung: Selbst das Sich-Verstehen des Subjekts erfolgt hier erst als sprachliches Verhalten, weil die Sprache nicht einfach der eigenen Identitätserfahrung vorausgeht, sondern bereits sozusagen ‚mitdenkend‘ am Entstehen des Sagbaren mitwirkt. „Nicht nur wir denken“, schreibt Dezső Kosztolányi 1931, die Sprache denkt auch. Die Sprache ist unser Mitarbeiter, unser gleichrangiger Mitverfasser. [Den]jenigen, die […] sie unterschätzen und die eigenen Gedanken viel zu hoch schätzen, […] lässt sie die Gedanken verloren gehen, während, wenn sie mit der Sprache vorsichtig umgingen, die Sprache ihre Gedanken nicht nur zur Geltung kommen lassen, sondern ihnen eventuell auch welche verleihen würde. (Kosztolányi 1999, 111, Ü: Ch. Kunze)
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Infolge der oben aufgeführten anthropologischen Phänomenalisierung des Sprachereignisses geriet gerade dieses neue (wohlgemerkt: für die gesamte neuzeitliche Literarizität konstitutive) Verhältnis von Subjekt und Sprachlichkeit aus dem Blickfeld der früheren Literaturgeschichtsschreibung. Doch allein dieser poetologisch geltend zu machende Zusammenhang lässt erkennen, dass die verschiedenen sprachpoetischen Impulse der ersten Jahrzehnte mit denen der neuen Epochenschwelle erst innerhalb einer (und derselben) Werkstruktur ‚statisch‘ interferieren können, wenn sich das sprachliche Subjekt des Textes – indem es die Selbstgenügsamkeit des puren Sich-Aussprechens preisgibt – denselben Regeln unterwirft, die die aktuelle Formwerdung steuern. In diesem wirkungsgeschichtlich neuen Verhältnis von Subjekt und Sprachlichkeit gelangt die sprachkünstlerische Leistung des Subjektes so zur Vollendung, dass das Subjekt eines Sprachgeschehens teilhaftig wird, welches das Kunstwerk zu einem Ort der die Worte vom Subjekt trennenden sprachlichen Existenz macht. Indem das Subjekt, sozusagen in das Sprachereignis involviert, auch selbst an der Verwandlung ins Gebilde teilhat und sich in dieser Gegenseitigkeit primär sprachlich konstituiert, büßt es jene Stabilität seiner Identität ein, die ihm die Tradition der Klassischen Moderne kurz zuvor noch anthropologisch versichern konnte. Sehr exemplarisch zeigt sich diese poetologisch durchgeführte Umsituierung des herkömmlichen/überkommenen Subjektkonzeptes in der Lyrik von Attila József und Lőrinc Szabó, deren Texte immer weniger die Illusion erwecken, dass die lyrische Aussage mit dem puren Sprechen-Lassen einer Stimme anthropologischer Herkunft gleichzusetzen wäre. Selbst der Entstehungsakt des Kunstwerkes kann dabei mit der Umkehrung des klassischen produktionsästhetischen Modells erfolgen: „Ein Gedicht“, mahnt Valéry 1939, „ist tatsächlich eine Art Maschine, die mit Hilfe der Worte den dichterischen Zustand hervorbringen soll“ (Valéry 1987, 165). Dem angemessen, vollziehen die par excellence spätmodernen Texte niemals einen Mitteilungsakt der Veräußerlichung ‚innerer‘ Inhalte, sondern fördern eine strukturell eher statische Bewegung der Bedeutungseffekte zutage. Diese gibt Raum für eine Interpretation, die, anstatt linear vorangetrieben zu werden, in der konfigurativen Gegenseitigkeit strukturbildender sprachrhetorischer und grammatisch-syntaktischer Impulse verankert ist. Das Auftauchen neuer Bedeutungsbezüge verläuft in dieser Struktur nicht so sehr über vertikale Verbindungen von Bezeichnendem und Bezeichnetem, sondern die Sinnmöglichkeiten werden durch ein grundsätzlich horizontales Wechselspiel von mehreren Signifikanten und durch Oszillation unstabilisierbarer rhetorischer Figuren ins Spiel gebracht. Infolge einer solchen ‚Abwesenheit‘ des äußeren Referenzbezugs übernimmt diese neue, horizontale Semantik zunehmend die Regelung auch im Bereich der Strukturbildung. Denn wo der Text selbst die Welt der Dinge zeitgleich schafft, auf die er sich bezieht, geht auch das Subjekt der Texte selbst aus der aktuellen
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Konfiguration von (erzähl)grammatischen und rhetorisch-lyrischen Sprachfiguren erst hervor und nicht umgekehrt. Damit sind generell zwei anthropologische Grundmuster der literarischen Aussage selbst in Gefahr, obsolet und dichtungsgeschichtlich zeitfremd zu werden, nämlich die auktoriale Erzählstruktur des Epischen sowie die Bekenntnisstruktur des Lyrischen. Die in der spätmodernen Dichtkunst so zu Ehren gebrachte Sprachlichkeit verhalf dem Wort eigenartigerweise über seine Autarkie zu einer strukturell neuen Dynamik, die vornehmlich in seiner semantisch-materiellen Gravitation und seinem unaufhaltsamen wirklichkeitsstiftenden Potential zur Transparenz kommt. Indem keine der beiden an die ‚kinetische‘ Permanenz der Klassischen Moderne und der Avantgarden erinnert, sind sie zugleich weder konstant noch bewegungslos. Wie umfassend die seit der Romantik ungewohnte Aufwertung der ‚Autarkie‘ von Wort und Sprache war, kündigt sich auch in der Tatsache an, dass selbst Kosztolányi, der anfangs auch vom sprachkritischen Denken Hofmannsthals angesteckt war, bereits in den 1920er Jahren eine völlig entgegengesetzte Position einnahm und zu einem der konsequentesten Verfechter der Sprachverklärung wurde. „Millionen und Abermillionen unserer Vorfahren“, schreibt er 1932, die längst zu Staub zerfallen sind, haben sie [die Sprache] von Mund zu Mund weitergegeben. Jetzt ist sie bei uns angekommen, aus der Ferne von Jahrtausenden. Sie pulsiert in uns, sie führt die Vergangenheit weiter und strebt in die Zukunft. Welch eine Geschichte verbirgt sich in jedem ihrer Worte. Welch uralter, edler Stammbaum breitet sein Laub über ihr aus. Welch ein Gesetz hält ihre Sätze zusammen. (Kosztolányi 1999, 156, Ü: Ch. Kunze)
Über diese generell verklärte Sprachlichkeit spricht sich dann zwar auch die traumatische Betroffenheit von der kollektiven Identitätskrise der Nachkriegszeit indirekt, zumeist jedoch mit höherer künstlerischer Geltung aus als in Werken, die die Ungerechtigkeit und die erschütternden Folgen der historischen Nemesis unmittelbar thematisieren. Bei Kosztolányi rückt dieser Zusammenhang bereits 1919 mit ungewöhnlichem Nachdruck in den Vordergrund, als seine Publizistik betont, dass „[u]nsere Sprache […] die einzig lebende Wirklichkeit [ist], die uns selbst diejenigen nicht nehmen können, die das Land zerstückelt haben“ (Kosztolányi 1999, 36, Ü: Verfasser). Mit wirkungsgeschichtlicher Ausstrahlung – etwa noch auf Péter Esterházy vorausdeutend – tritt die sprachliche Verfasstheit des Menschen im voluminösen Werk von Sándor Márai in Erscheinung, in welchem die ungarische Spätmoderne zum ersten Mal ein deutliches Zeugnis davon ablegt, dass das Subjekt des literarischen Schreibens nicht primär an einem bestimmten topo- oder geographischen Ort der Wirklichkeit platziert sei. Sprachlich zu sein heißt in Egy polgár vallomásai (1934; Bekenntnisse eines Bürgers, 1996), dass weder das Subjekt der Wortkunst im Raum noch der Raum im
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Subjekt verortet ist: „Wenn ich“, gesteht sich der (autobiographische) Protagonist an einer wichtigen Stelle gegen Ende des Geschehens, mit etwas wie ungeordnetem ‚Heimweh‘ im seelischen Gepäck, an einer Schiffsreling lehnte oder aus einem Zugfenster schaute und mir schwärmerisch die Schönheiten der Welt pries, dann erinnerte mich eine traurige innere Gewißheit daran, daß mich diese Landschaften in Wirklichkeit nichts angingen und ich mich nirgendwohin sehnte. Vaterland hatte ich nur eines, das Sprachgebiet, wo man Ungarisch redet. Ein Mensch, der an den Buchstaben gebunden ist, hat kein anderes Vaterland als die Muttersprache. (Márai 2000, 379)
VII.2 Medialisierung der Sprache, Desanthropologisierung, ‚Biologisierung‘ und ‚Technisierung‘ des Blicks vom Text: Lyrik in der Spätmoderne Das Erbe, das die spätmoderne Lyrik zeitlinear antrat, war unmittelbar zwar das der klassischen (oder im Rückblick: der historischen) Avantgarden, systematisch betrachtet aber gehört es zu einer Periode, die zeitlich mit dem allmählichen Abklang der klassischen Moderne zusammenfiel. Im Vergleich zur temporalen Verlaufsstruktur der kontinentalen – etwa der französischen und deutschen – Moderne war dieses Erbe von tiefen dichtungsgeschichtlichen Widersprüchen durchdrungen, erwies sich jedoch im Nachhinein gerade in seiner Zwiespältigkeit als gedeihlich. Denn indem Babits’ klassisch-moderne Lyrik von der allegorischen Armatur der Moderne abgekoppelt war und gegenüber der neuen Spracherfahrung auch Kassáks klassische Avantgarde eher zurückwich, gingen die neuen Subjektkonstrukte und die attraktivsten Formen des lyrischen Sprachgebrauchs der 1930er Jahre aus einer Kontinuität hervor, die die dichtungsgeschichtliche Kluft zwischen der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit zwar nicht ausfüllen konnte, in der zeitlichen Neusituierung des Lyrischen jedoch wichtige morphologische Veränderungen zeitigte. Der lyrischen Äußerung verbaute dieses offene Erbe nicht den Weg, sich sogar dahingehend neu zu gestalten, dass sich die Stimme des Gedichts von ihrem anthropologischen Sprechersubjekt sowie die Bedeutung von der im Text intendierten Mitteilungsabsicht trennte. Die StimmeSubjekt-Spaltung durchbricht – allerdings ohne die anthropologische Perspektivik der Mitteilung zu zerstören – sogar den im Übrigen unverrückbaren Horizont der Babits’schen klassischen Moderne, insbesondere dort, wo der Produktionsakt des Textes sich selbst umkehrbar macht: „Nem az énekes szüli a dalt: / a dal szüli énekesét.“ (Forró csontok a máglyán, 1932, Babits 1999, 408; „Nicht der Sänger ists, der ein Lied gebiert: / Das Lied gebiert seinen Sänger“, Im Fegefeuer mit ächzenden Knochen, 1981; Babits 1983, 42, Ü: R. Pietraß). Elf Jahre zuvor grenzt
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Lajos Kassáks Gedicht womöglich mit noch prägnanterer Schärfe die Materialität des lyrischen Wortes gegen den ‚spekulativen‘ Sinn/Inhalt ab: kerüld a virágos hátuljú szamarakat és a nagyon szép asszonyokat / a szavak nem azért vannak hogy tartalmat hurcoljanak mint a zsákhordók ([Számozott költemények] 12., 1921, Kassák 1970. Bd. 1, 141) meide Esel mit blumigen Hintern und sehr schöne Frauen / die Wörter sind nicht dazu da Inhalte zu schleppen wie die Lastenträger ([Nummerierte Gedichte] 12, 1987; Kassák 1989, 73, Ü: R. Pietraß)
Mit besonderem Nachdruck wiederholt Kassák die obige Unterscheidung der historischen Avantgarde auch in seinen programmatisch-literaturkritischen Schriften. „Die Worte des neuen Gedichts sind keine grauen Lastenträger des Sinnes“, schreibt er 1927, „sondern sie sind Stoff, der sich nach den Gefühlen des Dichters gestalten lässt“ (Kassák 1927, 210, Ü: Verfasser). Es ist dabei jedoch nicht zu übersehen, dass dieser programmatischen Offenbarung starke produktionsästhetische Prämissen anhaften. Denn der poetologische Ursprung des als Medium verstandenen neuen Gedichts, das „nichts mitzuteilen hat“ (Kassák 1927, 210, Ü: Verfasser), geht schließlich doch im anthropologischen Bereich des Schaffens auf. Entweder untersteht es dabei einem Subjekt, das sich bei Babits als geistige Substanz sozusagen ins poetische Material ‚einformt‘, oder es gilt als materielles Kunstgebilde, das wiederum etwas Innerlich-Subjektives, nämlich das nichtmaterielle „kosmische Gefühl der dichterischen Lebensbeschwörung“ (Kassák 1927, 210, Ü: Verfasser) zu veräußerlichen hat. Der grundlegende dichtungsgeschichtliche Widerspruch der klassischen sowie der avantgardistischen Moderne bestand offensichtlich also darin, dass beide zwar (wenn auch getrennte Wege einschlagend) ein Abrücken von der literarischen Tradition des späten 19. Jahrhunderts einklagten, zugleich aber das tradierte Übertragungsmodell der lyrischen (und auch der literarischen) Kommunikationsstruktur völlig unberührt ließen. Tatsächlich waren in der Vielstimmigkeit der lyrischen Tradition der ersten Jahrzehnte meist intuitiv oder unwillkürlich entworfene Möglichkeiten enthalten, deren poetisches Potential sich erst mit voller Relevanz entfaltete, als diejenigen dichterischen Einstellungen prononciert zu Wort kamen, die nicht mehr unter dem Druck des permanenten Erneuerungszwangs standen und (im Gegensatz zu den Diktaten mancher streitsüchtiger Protagonisten der Klassischen Moderne, wie etwa denen von Ignotus) die Vergangenheit nicht mehr als eine generell verwerfliche Last hinstellten, welche die neue Generation der Dichter einfach abzuwälzen hätte. Dass die Erneuerungen in den 1920/30er Jahren sich mit langsamerem Tempo vollzogen, erklärt sich nicht nur aus den Systemdifferenzen
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zwischen den vorgezogenen dichterischen Ausdrucksformen der Hochmoderne und der nachavantgardistischen Periode, sondern auch aus den dimensionalen Unterschieden, die sich hinsichtlich der Tiefe und der Ausbreitung zwischen beiden auftaten. Denn spätestens um die Wende der 1920er zu den 1930er Jahren zeichneten sich Veränderungen in der Struktur der lyrischen Texte ab, die weit über die thematisch-motivischen Erneuerungen oder über die kulturelle oder sozialkritische Umwertung überlieferter künstlerischer Rollenmuster hinausgingen und von denen die gesamte poetische Gestaltung tiefer und komplexer betroffen war als zur Zeit des angehenden Ästhetizismus. Dass sich der literarische Epochenwandel um die Wende der 1920er zu den 1930er Jahren anders vollzog als um die Jahrhundertwende, zeigt sich in exemplarischer Weise gerade darin, dass die innovativen Texte der beginnenden Spätmoderne sich nicht mehr in klarer Absetzung zur vorausgehenden Periode situierten – wie es etwa für Endre Adys Új versek (1906; Neue Gedichte) noch als spektakulär und prononciert verbindlich galt. Vielmehr fügen sich die dichtungsgeschichtlich wirkungsstärksten Texte, die die Spätmoderne sozusagen einleiteten, in eine temporale Vernetzung von form- und sprachpoetischen Interferenzen ein, die in ihrer doppelt ausgerichteten Zeitlichkeit nicht nur pure voraus- oder rückwirkende Effekte ermöglichte, sondern die dialogische Gegenseitigkeit der beiden gewissermaßen zu einem der wichtigsten wirkungsgeschichtlichen Qualitätsmerkmale der Periode nach 1929/30 erhob. Diese sich poetologisch immer komplexer artikulierende Einstellung zur Tradition der vorausgehenden Paradigmen der Moderne äußert sich einerseits darin, dass aktuelle Werke der angehenden Spätmoderne ausgerechnet auf Texte der unmittelbaren Vergangenheit zurückgreifen, in denen sich bereits zu ihrer Zeit mehr oder weniger definitive Anzeichen einer sich anbahnenden poetischen Wende oder zumindest – auch wenn sie erst später umgesetzt wurde – vorzeitige Signale einer solchen abzeichneten. Auf eigenartige Weise entstanden dadurch äußerst beredte Verbindungen zwischen Texten der früheren Moderne und denen der 1930er Jahre, die hinsichtlich der temporalen Systematik poetischer Modelle des 20. Jahrhunderts einander zwar ziemlich fremd sind, deren Aussagekraft jedoch gerade dadurch enorm an Bedeutung gewann, dass beide auf völlig unerwartete Weise in einen Dialog traten, der gerade in seiner Gegenseitigkeit jeweils einen Horizont auf ihre ‚systemfremde‘ Lesart eröffnete. Es kommt gewiss nicht von ungefähr, dass in der Rückschau der dichtungsgeschichtlichen Rezeption das klassisch-moderne Subjekt von Endre Adys Száz hűségű hűség (1912; Treue hunderter Treuen), seine selbstgenügsame Omnipotenz zum ersten Male teils kritisch revidierend, plötzlich in die Nähe der Ich-Konstrukte von Lőrinc Szabós zwei Jahrzehnte später entstandenen Gedichten rückt, in denen sich die Welt überhaupt erst für eine
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sogar im Selbstverstehen geteilte und grundsätzlich dezentrierte Subjektivität als (er)fassbar erweist. Infolge der Unmöglichkeit, diese Subjektivität im Akt des Lesens anthropologisch nachzubilden, wird die Lektüre mit einer primär sprachlichen Situiertheit konfrontiert, in welcher die Rezeption des Textes sich der Worte nicht mehr als Mittel bedienen kann. Es geht dabei einerseits gewiss nicht darum, dass die ‚vergleichenden‘ Lektüren von Száz hűségű hűség und Szabós Az Egy álmai (1931; Die Träume des Einen, 2006, Ch. Kunze) oder Tao Te King (1931) im Nachhinein (miteinander quasi ‚verschmolzen‘) irgendeinen ‚gemeinsamen‘ Sinn ergäben. Hier begegnet vielmehr eine literaturhistorisch konstitutive Eigenart der 1930er Jahre, die sich in den neuen Formen der wirkungsgeschichtlichen Gegenseitigkeit äußert. Denn erst über diese gleichzeitige und wechselseitige Aktivierung der den früheren und neueren Texten jeweils einzeln eigenen Potentiale wird ersichtlich, dass die dichtungsgeschichtliche Dynamik der Moderne diesmal selbst einer anderen Steuerung unterliegt als in den ersten Jahrzehnten. Ähnliches trifft auf die wirkungsgeschichtlichen Begegnungen auch im Bereich der sprachlich-strukturellen Gestaltung der lyrischen Texte zu. Die ungewohnten Techniken und Kunstgriffe der Versgrammatik, die bei Ady um 1912 ebenfalls vorbildlos auftauchten (Seregesen senkik jönnek, In Scharen kommen Niemanden), erfahren in den 1930er Jahren eben in Attila Józsefs zeugmatischer Grammatisierung der Satzstrukturen eine einzigartige Neubelebung ([Íme, hát megleltem hazámat …], 1937; [So fand ich mir nun eine Heimat …], 1963, A. Gosztonyi; 2005, D. Muth); „Költőnk és Kora“, 1937; „Dichter und die Zeit“, 2005, D. Muth; „Künstler und sein Kreis“, [unveröff.], Ch. Kunze). Möglicherweise noch tiefer gehen Verbindungen, die zwischen den lyrischen Paradigmen der Hochmoderne und der Spätmoderne manchmal allein auf der Ebene der formtechnischen Gestaltung markiert sind, jedoch bemerkenswerte Beispiele dafür liefern, dass sich im Wandel historisch-poetischer Formen der Lyrik engere Konfigurationen von Altem und Neuem abzeichnen als bloße – durch mechanische Ablösung eintretende – Substituierungen des einen durch das andere. Exemplarisch sind dabei insbesondere die Fälle, in denen Texte konträrer Klassiker gerade durch ihre vielfache Bezugnahme auf dasselbe (meist auf wiederholt auftauchende Fragen und Kernpunkte des Humandiskurses der Moderne) wechselseitig an der Verfestigung einer neuen Epochenschwelle beteiligt sind. So weist Endre Adys Nem feleltem magamnak (1916; Ich habe mir nicht geantwortet) wie auch Kosztolányis Ének a Semmiről (1934; Gesang vom Nichts) anlässlich einer zu ziehenden Lebensbilanz eine Konfrontation mit der inneren Dialogstruktur des humanen Selbstverstehens auf. Dem dichtungsgeschichtlichen Systemunterschied entsprechend, öffnen sich dabei zwei gegensätzliche Blickwinkel auf die (jeweils sprachliche) Erschließbarkeit derselben Frage, nämlich der Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens,
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das angesichts der säkularisierten Welterfahrung über keine Jenseitsgarantien mehr verfügt. Den beiden von der Lebenswelt her unterschiedlich motivierten Fragestellungen ist gemeinsam, dass dieselbe existentielle Seinsfrage am Horizont der Zeit angesiedelt ist, und zwar am Horizont einer unhintergehbaren Temporalität, die gerade als Endlichkeit so etwas wie das menschliche Schicksal überhaupt erst ermöglicht. Erst jedoch eine aufmerksame Lektüre, die auch innere sprachpoetische Verbindungen gewahrt, wird einleuchtend erläutern können, warum sich Kosztolányis Gedicht, das nachdrücklich die Hinfälligkeit aller künstlerischen Wahrheit affirmativen Charakters in Erfahrung bringt, gerade auf einen Text von Ady bezieht, in welchem sich die selbstgenügsame Subjektivität das Ausbleiben des eigenen Selbstverstehens in klar affirmativer Rede wie folgt eingesteht: Bizony, lelkem, Én az Életet elejtem, Én magamat már elrejtem. Ki nem ‚fejtem‘; Megint rossz szó. Elfelejtem. Ezt és mindent. Nem feleltem Magamnak. (Nem feleltem magamnak, Ady 1998, 880) Seele, gewiss / das Leben lasse ich / schon längst verstecke ich mich. // Ich ‚löse‘ es nicht: / Wieder falsch, vergesse ich / dies und alles. Ich habe mir nicht / geantwortet. (Ü: Ch. Kunze)
Unmissverständlich wird bei Kosztolányi nicht nur das Klangbild des Vorläufertextes nachgezeichnet, sondern Ének a Semmiről macht von derselben dreifachen Reimbindung Gebrauch, derer sich die aussagekräftigsten Verse der affirmierenden Vergewisserung im Scheitern des Selbstverstehens bei Ady bedienen. Auffallend ist diese teils formgleiche Übernahme des Ady’schen Dreireimes, weil Kosztolányis Text somit gleich in der Eröffnungsstrophe engen Bezug auf die summativ-kategorische Mitteilung der Schlussverse von Nem feleltem magamnak nimmt: Amit ma tartok, azt elejtem, amit ma tudtam, elfelejtem, az arcomat kezembe rejtem (Ének a Semmiről, Kosztolányi 1997, 500) Was ich heut halte, lasse ich / was ich heut wusste, vergesse ich, / verberg in den Händen mein Gesicht. (Ü: Ch. Kunze)
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Wirkungsgeschichtlich betrachtet, ist ein so klarer Fall von ‚Weiterschreiben‘ eines fremden Hypotextes gewiss nicht dem Zufall zu verdanken, zumal in Kenntnis der biographischen Tatsache, dass Kosztolányi Adys Form- und Schreibkunst nicht sonderlich schätzte. Die zentrale Einsicht des lyrischen Subjekts in Nem feleltem magamnak, auf die Ének a Semmiről markiert zurückgreift, legt nahe, dass selbst Ady in der Selbstbezogenheit dieses Subjekts spätestens um 1916 die allererste Barriere erblickte, an der das ästhetische Selbstverständnis des klassischmodernen Ichs scheitert. Dass das lyrische Subjekt des späten Kosztolányi, der mit den berühmten Számadás-Sonetten (1934; Rechenschaft) definitiv sein sezessionistisches Frühwerk hinter sich gelassen hatte, gerade an diesem Punkt polemisch an Ady anschließt, liegt nicht nur daran, dass Adys plötzliche Kritik an der eigenen Schreibpraxis („megint rossz szó“ – eigtl. „wieder ein falsches Wort“) dazu auch sprachlich sozusagen einlädt. Entscheidend ist vielmehr, dass das Weiterschreiben des Vorläufertextes weit über all die Möglichkeiten hinausgeht, die im selbstkritischen Blickfeld des Ady-Textes subjekthistorisch überhaupt enthalten sind. Gerade aus diesem Grund lässt sich festhalten, dass das ‚intertextuelle‘ Weiterschreiben am Ady’schen Text dichtungsgeschichtlich hier nicht zu einem puren ‚Wiederschreiben‘ wird. Denn Ének a Semmiről bringt hierbei nicht nur die Hinfälligkeit vom Reflexionspotential der affirmativen Bekenntnislyrik in Erfahrung, sondern lässt auch die grundsätzliche Unmöglichkeit einer Bekenntnislyrik erkennen, deren Ich-Konstitution auf die unmittelbare Selbstaussprache eines solitären Subjektes abzweckt. Kosztolányis Gedicht ist – im Gegensatz zu seinem Hypotext – eben deshalb poetologisch stark von dem Wissen geprägt, dass zwar jedem aktuell entstandenen Text jeweils ein anderer Text vorausgeht, der die erneut auftauchende Frage einmal authentisch beantwortet hat. Die ursprüngliche Frage bedarf notwendigerweise einer neuen Antwort, weil sie sich – mittlerweile in einen neuen Horizont gerückt – trotz ihrer identischen Form nicht nur anders stellt, sondern auch etwas anderes betrifft. Die eigentliche künstlerische Leistung der aktuellen Antwort – und gerade dies ist bei Kosztolányi der Fall – kann sogar darin bestehen, dass sie dieselbe Erfahrung ins Positive wendet, die zur Zeit der ursprünglichen Frage nur als Scheitern am ,selben‘ Problem festzuhalten war. In spätmoderner Erhellung einer klassisch-modernen Frage heißt dies, dass, während das Ausbleiben von Antworten um 1916 Adys in Wissensgewissheit verankerter Poetik den Boden zu entziehen drohte, es bald – spätestens jedoch jenseits der Epochenschwelle von 1929/30 – zum Anlass für die Herausbildung neuer Subjektkonstrukte werden konnte. Eben deshalb räumt die in Ének a Semmiről anders vernehmbare ,stumme‘ Antwort die Möglichkeiten eines neuen Selbstbezugs des Subjektes ein, in welchem das Selbstverstehen des Ichs nicht mehr in sich selbst, d. h. nicht mehr in einer isolierten Selbstreferenz aufgeht. Mit dieser inneren Teilung des
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Verstehensaktes, in den für das Subjekt des jeweiligen Selbstverständnisses eine notwendige Entzweiung von sich (eine Differenz / ein Differieren von sich) eingeschrieben ist, kommt eine durch die Frühwerke von Attila József und Lőrinc Szabó in den 1920er Jahren initiierte Wende zu ihrer Vollendung. Hinsichtlich der dichtungsgeschichtlichen Bedeutung rückt Ének a Semmiről damit nachträglich in die Nähe von Rilkes Kalckreuth-Requiem (1908), in dessen berühmten Versen das neue Konzept vom Ich zum ersten Mal den klassisch-modernen Horizont des solitären Bewusstseins durchbricht: „Wer spricht von Siegen? / Überstehn ist alles“. In der eigenen Omnipotenz tief getroffen, ergeht es in Kosztolányis vorletzter Strophe dem Subjekt der (Selbst)Anrede ähnlich: Ha félsz, a másvilágba írj át, verd a halottak néma sírját, tudd meg konok nyugalmuk írját, de nem felelnek, úgy felelnek, bírjuk mi is, ha ők kibírják. (Ének a Semmiről, Kosztolányi 1997, 501) Die Angst sollst du ins Jenseits tragen, / ans stumme Grab der Toten schlagen, / nach ihrer Ruhe Balsam fragen, / keine Antwort ist ihre Antwort, / wir halten’s aus, wenn sie’s ertragen. (Ü: Ch. Kunze)
VII.2.1 Strömungen und Interferenzen Dass sich die Lyrik um die Wende der 1920er zu den 1930er Jahren in einem umfassenden sprachlich-poetischen Wandel befand, machte sich – was übrigens selten der Fall ist – auch an der Horizontbewegung ihrer zeitgenössischen Rezeption bemerkbar. Denn während die literaturkritischen Auseinandersetzungen um die Erneuerungen der lyrischen Hochmoderne etwa zwei Jahrzehnte zuvor primär und am heftigsten auf Inhalt, Weltbild und Geschmack bezogen ausgetragen wurden, erfolgt die rezeptive Erfassung und Bewertung innovativer Ansätze nun eher auf einer weniger referentialisierbaren Ebene und rückt somit – zumindest in den Schriften der maßgeblichen Protagonisten dieser literarischen Periode – deutlich näher an die sprachpoetische Gestalt des Werkes heran, in der sich exemplarisch das Lyrische äußert. Diese beginnende Aufhebung äußerer Referenzbezüge der dichterischen Aussage (die im Diskurs der 1930er Jahre noch bei Weitem nicht mit einer generellen Verselbständigung der ‚Textpartitur‘ einhergeht) gilt als eines der unmissverständlichen Signale dieser Epochenschwelle, die ein neues Literaturverständnis begründet: Literarische Kommunikation wird inhaltlich nicht mehr mit der Übermittlung von Ideen und Gemüts-
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zuständen gleichsetzt und formell nicht mehr mit einer einwegigen Übertragung von Botschaften verwechselt. Mit erstaunlicher Genauigkeit ermittelt Gábor Halász bereits 1934 einen der gravierendsten poetologischen Umbrüche, der sich später für den Großteil der gesamten Lyrikproduktion, auch im weiteren Verlauf der spätmodernen Periode bis in die 1960er Jahre, als bestimmend und charaktergebend erwies. Anlässlich einer Auswahl der Gedichte von Lőrinc Szabó betont er, dass die neue Dichtkunst in den 1930er Jahren wohl selbst die überkommenen Muster der ästhetischen Erfahrung vom Lyrischen überbieten könne: Nicht von der Stimmung im Hintergrund des Satzes geht hier, wie (noch) bei Ady, die Wirkung aus, nicht einmal von den eigenständigen, vollendeten, mit Genuss im Munde geführten Worten, wie bei vielen anderen Dichtern, sondern es wirkt die Konstruktion selbst und die sich ins Gedächtnis einprägende, endgültige Ordnung und Sicherheit der Satzteile. (Halász 1981, 727, Ü: Verfasser)
Diese Passage spricht nichts Geringeres aus als die Möglichkeit, dass selbst die beinahe 100-jährige Kontinuität einer Poesie, in deren Tradition das Lyrische unbekümmert mit der (metaphorischen) Bildhaftigkeit identifiziert wurde, sehr bald einen gewaltigen historischen Bruch erfahren könnte. Die bereits sowohl bei Babits als auch bei Kassák in Erfahrung gebrachte Impersonalwerdung der lyrischen Rede galt hierbei nun als eines der deutlichsten Vorzeichen für jene Lockerung der Verbindung von Sprechersubjekt und Mitteilung, in der die verbindliche poetologische Basis der – bei Halász zumeist als ‚spätromantisch‘ bloßgestellte – Bekenntnislyrik in den kommenden Jahrzehnten allmählich aufgeht. Aus der Vielstimmigkeit der späten 1920er Jahre ragen einzelne Muster des Lyrischen heraus, die – während die Mehrheit der Dichter auch in den 1930er Jahren weiterhin am Nyugat-Erbe weiterschreibt – mit einiger Prägnanz bereits signifikante Sonderformen der entpersönlichten Aussage vorwegnehmen, um durch Aufhebung des Innovationszwangs neue Formen der dichterischen Originalität bereitzustellen. Es mag zwar das Vorhaben, die Originalität der unverwechselbaren lyrischen Äußerung gerade um den Preis der verstummten Innerlichkeit aufrechtzuerhalten, etwas merkwürdig anmuten, für die Nachkriegsgeneration der Lyriker nahm dieser – ohnehin leicht zu entschärfende – Widerspruch jedoch keine antagonistische Gestalt an. Denn die Originalität der Stimme war zunächst von einem personifizierbaren Rollensubjekt der Rede abgekoppelt, was wiederum heißt, dass das Individuelle an der Mitteilung nicht so sehr von einer quasi-biographisch nachvollziehbaren Situation des Einzelnen herrührt, sondern sich in der Originalität der modalen (und verstechnischen) Interferenzen der lyrischen Mitteilung äußert. Es ist dabei daran zu erinnern, dass die spätmoderne Poetik von Attila József und Lőrinc Szabó die traditionelle Mitteilungsstruktur der
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Gedichte (zumindest im Bereich der textuell anfangs noch als anthropologisch ,simulierten‘ Rede) gerade dadurch erneuerte, dass das Sprechersubjekt zum Wahrheitsgehalt des selbst Gesagten gleichzeitig verschiedene modale Positionen einnehmen konnte. Eben diese dialogischen Bewegungen der diversen Stimmlagen schaffen die Grundlage dafür, dass in die poetisch-rhetorische Struktur des Gedichts sogar systematisch verschiedene Äußerungsmodi des Lyrischen in Form von Interferenzen Eingang finden. Spätromantische Inwendigkeit, klassisch-modernes Soliloquium und spätmoderne Diskursivierung der Stimme ordnen sich in dieser Weise – als Paradebeispiele der Teilung von Modalitäten – bereits im ersten Teil von Lőrinc Szabós Ne magamat? (1931; Nicht mich selbst?) in ein und demselben Gefüge, wo der primäre Effekt der ‚Umgangssprachlichkeit‘ nun in einer äußerst ökonomischen Komplexität der effektvollen Stimmenführung aufgeht: mit akarsz most, Egyetlen Ember? Hallgass, magány! Nem hallgatok! A nagy is csak sok kicsi. Hát nem mibennünk fáj a világ, ha vannak sebei? Már roskadok, s egy terhemet is ki veszi, ki veszi le? Mi közöm az olyan világhoz, amelynek hozzám nincs köze? (Ne magamat? Szabó, Lőrinc 2000, Bd. 1, 257) was willst du jetzt, Einziger Mensch? / Schweig, Einsamkeit! // Ich schweige nicht! Auch das Große / ist nur viel Kleines. / Schmerzt nicht drinnen in uns die Welt / wenn sie verwundet ist? / Ich kann nicht mehr, doch nimmt mir jemand / auch nur eine Last? / Was geht mich eine Welt an, / die sich nicht mit mir befasst? (Ü: Ch. Kunze)
Die anthropologisch allerdings fehlerfrei nachvollziehbare Individualität der Mitteilung resultiert hier augenfällig nicht aus einer ‚geradlinig‘ ausgehaltenen Einzelstimme. Dass der Text dieses Gedichtes in anthropologisch ausgerichteten Lektüren traditionell zumeist als bekenntnishafte Aufschreibung eines ‚aufgewühlten Seelenzustandes‘ gedeutet wurde, lässt sich wohl damit erklären, dass die Vielstimmigkeit der (imitierten) Rede hier mit geringfügigem poetologischen Risiko noch einer einzigen Person zugeordnet werden konnte. Bei näherem Hinsehen handelt es sich indes um eine dramatische Inszenierung von textuellen Effekten, die sich schließlich nicht konsequent auf einen ‚psychologischen‘ Ruhepunkt bringen lassen, an dem die sogenannten Seelenvorgänge etwa ‚auflösend‘ abklingen. Vielmehr bleibt der konfliktvolle Endeffekt der mo-
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dalen Konfigurationen als eine eigenartige Gleichwertigkeit von Ekel, Tod und Sich-Wehren unauflösbar in der Schwebe: „és a harc rémületes; /undorodj s halj meg, tiszta szív, / de míg bírsz, védekezz!“ („und schrecklich ist der Kampf, / ekle dich, stirb, reines Herz, doch / kämpfe, solang du kannst.“) Dass sich die freiere Bewegung der modalen Interferenzen verschiedener Aussageregister hier offenkundig aus einer losen Verbindung von Rede und Sprechersubjekt speist, fällt semantisch umso paradoxer aus, als das Gedicht – zumindest in anthropologischer Sicht – ausdrücklich die Einschränkung jeglicher individueller Souveränität verklagt. Angesichts solcher poetologischer Wandlungen – selbst im Bereich der auch anthropologischen Lektüren standhaltenden spätmodernen Texte – kam bereits 1928 einer Beobachtung Attila Józsefs enorme Bedeutung zu, der in Bezug auf die vom Wirkungsbereich des psychologisch-autobiographischen Subjektes befreiten und somit selbständig agierenden Texte bemerkte, dass „dem System des Kunstwerks eine [menschliche] Intuition des Systems nicht vorausgeht“ (József 1995, 31, Ü: Verfasser). Diese beträchtliche Erweiterung des Spielraumes von stilistischen, formtechnischen Interferenzen und modalen Konfigurationen war vornehmlich jenem beginnenden Horizontwandel der ästhetischen Erfahrung zu verdanken, in welchem die grundsätzliche Unzugänglichkeit des Ursprungs von Bedeutungen in neuer Form wahrgenommen wurde. Strukturell neu an dieser Erfahrung ist der Blickwinkel selbst, der die ästhetisch-poetischen Effekte der semantischen Unstabilisierbarkeit der lyrischen Mitteilung einfängt. Der in anthropologisch referentialisierbaren Positionen verankerte Blick des Gedichtes, der traditionell in einer massiv empathischen Grundstruktur der ‚sich hineinversetzenden‘ ästhetischen Erfahrung fundiert war, wird allmählich in poetologischen Bezugsrahmen der Rede verortet, in denen die semantische Konsistenz der lyrischen Aussage (als etwas sprachlich Beziehbares) immer weniger auf Anthropomorphismen der Nachvollziehbarkeit angewiesen ist. Das ‚Rätselhafte‘ der Bedeutung liegt dabei nicht mehr im dunklen Labyrinth der Seele – wie etwa bei Ady („a lelkem ódon, babonás vár“, A vár fehér asszonya; „Meine Seele, die alte verwunschene Burg“, Die weiße Burgfrau, 1965, H. Kahlau), und das Semantisch-Flüchtige rührt nicht mehr von der schicksalhaften Einmaligkeit des Individuums, dem unwiederholbaren Wunder der Persönlichkeit oder den unzugänglichen Geheimnissen des einzelnen Menschen her – wie beim späten Kosztolányi („… itt e kéz, / […] s rá ékírással van karcolva ritka / egyetlen életének ősi titka“, Halotti beszéd; „… seht seine bloßen Hände / […] darauf sind ornamentengleich verzweigend / Linien geritzt, sein Lebensrätsel zeigend“, Grabrede, Kárpáti 1987, 66, Ü: A. Kárpáti). Es konzentriert sich vielmehr unverschlossen – sozusagen auf das sprachliche Ereignis rekurrierend – um den rhetorisch ‚inszenierten‘ Ort der Aussage. Dies wiederum heißt, die diffuse Bedeutungsbildung und die Unzugänglichkeit ur-
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sprünglicher Mitteilungsintentionen resultieren nicht primär aus anthropologischen Umständen, sondern sind sprachlicher Herkunft. Allein diese neue ästhetisch-poetische Erfahrung der lyrischen Spätmoderne tut dem kommunikativen Ereignis der Kunst nun keinen Abbruch, sondern hängt als Rezeptionsakt aufs Engste mit der Leistung der (lyrischen) Sprache selbst zusammen. Denn im Zuge der Rekurrenz auf den Ursprung der Rede wird bei Szabó und József das Ich immer mehr als sprachliche Funktion ermittelt werden können. Damit lässt sich auch erklären, dass in der lyrischen Praxis der Spätmoderne die primär textuelle (und also medial ins Werk gesetzte) Leistung der Sprache grundsätzlich anders gewertet wird als in jener der klassischen und der avantgardistischen Moderne. Im Vergleich zur anfänglichen Neigung zur Sprachkritik bei Ady, Kassák oder beim frühen Kosztolányi (die sich übrigens nur teilweise nach Mauthner oder Hofmannsthal richteten) wendete sich die Sprachbetrachtung der Nachkriegsgeneration eher ins Gegenteilige. Attila József räumte dem sprachlichen Formgebungsprinzip ein schöpferisches Primat ein, und auch für Lőrinc Szabó galt die begreifliche Form der Welt als Ergebnis und Folge sprachlicher Diskurse. Jenseits der dichtungsgeschichtlichen Epochenschwelle um 1930 bildet sich somit eine neue Struktur der Hauptströmungen der ungarischen Lyrik heraus, in welcher dieses neue Sprachvertrauen, dem nicht mehr am Hang zur Transparenz einer instrumentalen Sprachlichkeit gelegen ist, zu einem der wichtigsten Kriterien der Unterscheidung zwischen Texten erhoben wird. Damit bahnt sich eine in poetologischer Hinsicht erneuerte Praxis an, die es vorzieht, die Unzulänglichkeit der Sprache nicht zu denunzieren, sondern ihr – die Bedeutungsbildung überlassend – zu entsprechen. Denn erst infolge dieses epochalen poetologischen Wandels ist es in der ungarischsprachigen Dichtkunst möglich, dass „so viel Lächeln, so viel Umarmung zerschellt, / bleibt hängen am Dornengestrüpp der Welt“ (Attila József: Téli éjszaka, 1932; Winternacht, József 2005, 185, Ü: D. Muth) und dass sich sogar das Lächeln vom Gesicht trennen lässt (ders.: Majd …, 1937; Bald …, D. Muth, 2005). Natürlich sind diese Merkmale der im Wandel befindlichen lyrischen Redeweise nicht in allen relevanten Stilrichtungen der 1930er Jahre vorhanden. Am weitesten entfernt sind sie alle jedoch vom ästhetizistischen Individualitätskult und von den zierlichen Klängen der Sezession sowie von der avantgardistischen Wucht der Desemiotisierung. Neben der neuen Modalität der Rede/Subjekt-Spaltung ist jedoch sowohl den sachlicheren Registern der freien Verse (Gyula Illyés [1902‒1983]) als auch der in gebundenen Versformen entpersönlichten Rede (Miklós Radnóti [1909‒1944]) die konfigurative Vorgehensweise eigen, Interferenzen von verschiedenen dichtungsgeschichtlichen Stilrichtungen und mehrstimmigen Sprachmodalitäten zusammenzufügen und die poetischen Strukturen in einer Wechselseitigkeit der formgebenden Impulse zu verankern. Der Komple-
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xitätsgrad solcher Strukturen ändert sich dabei je nach der sprachlich-rhetorischen Verselbständigung der vom Subjekt unterschiedlich distanzierten Stimme und Redeweise. Da die Stimme/Subjekt-Distanz sowohl bei Illyés als auch bei Radnóti nicht selten lediglich wiederbelebte Muster der von sich entfernten Rede rollenlyrischer Art nach- oder abbildet, sind hier komplexeren Strukturbildungen bereits von der eigenen poetischen Praxis her jedoch manche Grenzen gesetzt. Einige Mängel weist auch die Wirkung von teilweise verwandten Konfigurationen auf, wo die stilistisch-figurativen Interferenzen entweder eine reserviert-herbe Modalität der subjektgebundenen (wenn auch nicht subjektbezogenen) Aussage unterbinden wie etwa bei Zoltán Jékely (1913‒1982) oder wo – z. B. bei István Vas (1910‒1991) – eine ins Grundregister der Rede integrierte Kontrollinstanz der reflexiven Begrifflichkeit spannungsvoll der impulsiven Vielstimmigkeit entgegenwirkt. Beinahe ähnlich ergeht es den spielerischen Effekten im äußerst individuellen Klangbild der Lyrik von Jenő Dsida (1907‒1938), wo die Souveränität des Artistischen nicht immer aus der Autonomie des in Gang gesetzten Sprachgeschehens hervorgeht, sondern – wie zumeist auch bei Kosztolányi – eher dem virtuosen verstechnischen Können des Redesubjektes unterliegt, das die Sprache sozusagen von außen her „zu Wort kommen lässt“. Bereits vor der Wende der 1920er zu den 1930er Jahren bilden dabei die Gedichte von József Erdélyi (1896‒1978) eine dichtungsgeschichtlich rätselhafte Ausnahme. Von seinem ersten Gedichtband Ibolyalevél (1922; Veilchenblatt) an übt seine Dichtung sogar auf seine angesehensten Zeitgenossen – von Kassák über Lőrinc Szabó bis József – bedeutende Wirkung aus. Nicht selten finden seine verstechnisch-syntaktischen Erneuerungen selbst ins Innerste von mittlerweile klassisch gewordenen Gedichten der ungarischen Spätmoderne Eingang, während seine Lyrik an sich – trotz ihrer klaren Anknüpfung an Kölcseys Ansätze – eher als fremdartiger Einschluss in der modernen Literaturgeschichte erhalten blieb. Unter anderem wurde selbst die als höchst originell eingestufte chiastischwidersprüchliche Abschlussformel von Lőrinc Szabós berühmtem Semmiért Egészen (1931; Alles für nichts, 1987, A. Bostroem; [unveröff.] Ch. Kunze) von Erdélyis Végzés (1922; Vollbringen) geprägt: „És én majd elvégzem magamban, / hogy zsarnokságom megbocsásd“ steht bei Lőrinc Szabó („… ich kläre dann mit mir, dass du mir / die Tyrannei verzeihen kannst“, Ü: Ch. Kunze), während die sprachlich äußerst ungewöhnliche Wendung bei Erdélyi ursprünglich wie folgt lautet: „A világot magamban el- / végezem.“ („Die Welt ich in mir selbst voll- / bringe.“) Eigenartig ist jedoch, dass seine Poetik in krassem Widerspruch zu Texten mit hochkomplexen figurativen Interferenzen steht. Die erstaunlich klangreine Schlichtheit der Stimme, welcher zugleich kein personifizierbares Redesubjekt zuzuordnen ist, speist sich wohl aus der volksliedhaften Tradition des 19. Jahrhunderts, ist aber immer auch dazu geeignet, sich in unprätentiöser Weise ins
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Materielle zurückzuziehen und in der Medialität von Klang und Blick aufzugehen. In äußerster Knappheit fängt bei ihm die volksliedhafte Form nicht selten Elementarstrukturen des Menschlichen schlechthin ein: Születnek, szeretnek, szülnek és temetnek. (Nyitó dal, 1922; Eröffnungslied1, Erdélyi 1995, Bd. 1, 27) Geboren sein, lieben / gebären, begraben. (Ü: Ch. Kunze)
Dank diesem poetologischen Potential öffnete seine Dichtung Horizonte für eine neue Naturlyrik, in der sich ein möglicher diskursiver Raum auftut, dem die klassische Moderne – infolge ihrer städtisch-bürgerlichen Ausrichtung – wohl zwei Jahrzehnte lang den Boden entzog. In manchen Liedern von Erdélyi wird nicht nur der traditionell mustergebende romantische Zyklus Felhők von Petőfi aufgerufen, sondern auch dessen Botschaft neu situiert. Denn indem das Gedicht Ha úgy lehetne (1923; Könnte man …) die ambivalente Einswerdung von Humanem und Natürlichem ohne Subjektbezug setzt, versucht es ihr Gleichgewicht im selben Zuge sozusagen außerhalb des Wirkungsbereichs der klassisch-modernen Subjektivität ganz speziell neu zu erschaffen. Während nämlich die anthropologische Grundgestimmtheit des hochmodernen Subjekts (als eines späten – wenn nicht des letzten – ‚Ebenbildes der Gottheit‘) gerade vom ständigen Überdruss am zugunsten der überlegenen Natur gekippten Gleichgewicht geprägt war, erfolgt der bei Erdélyi in Erfahrung gebrachte Ausgleich von Menschlichem und Natürlichem ohne Gewalt und in Form eines freien Sich-Bekennens zur Naturzugehörigkeit des Humanen: Ha úgy lehetne meghalni szépen, mint kósza felhő foszlik a szélben: előbb még felhő utóbb már semmi, hogy volt az égen, észre sem venni! … (Ha úgy lehetne …, Erdélyi 1995. Bd. 1, 30) Könnte man so schön / gehen von hinnen, / wie eine Wolke / im Wind zerrinnen: / vorher noch Wolke, / nichts hinterher, / dass sie einst da war, / merkt niemand mehr! … (Ü: Ch. Kunze)
1 Hier auf den Beginn der jährlichen Arbeiten im Weinberg bezogen.
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VII.2.2 Unsichtbare Bilder und Verflüchtigung des Bekenntnishaften Wenngleich die ungarische Literaturgeschichtsschreibung der historischen Avantgarde von Anfang an eine sekundäre Stelle einräumte und ihr den Weg in den Kanon zumeist mit rigorosen Mitteln der Repräsentations- und Mimesisästhetik wiederholt verbaute, steht – insbesondere dank der neuesten historisch-poetologischen Forschung – mittlerweile ganz außer Zweifel, dass sie von Kassáks A ló meghal és a madarak kiröpülnek (Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus) bis hin etwa zu Andor Némeths Fekete csillag (1927; Schwarzer Stern, 1996, P. Deréky – B. Frischmuth) nicht nur kanonische Leistungen der ungarischen Moderne hervorbrachte, sondern auch dichtungspoetisch unumgängliche Impulse weitergab. Die neuen desemiotisierenden Techniken und bildtechnischen Verfahren, die vor allem durch das Herauslösen separater Bilder aus ihrem organischen Umfeld eine weitgehende Lockerung, mitunter gar vollständige Aufhebung der klassisch-modernen Versgrammatik herbeiführten, lösten sich im lyrischen Diskurs der 1930er Jahre nicht einfach als Anregungen oder als frühe Ansätze einer neuen Gestaltungsweise auf. Vielmehr bauten sich diese exemplarisch primär von Kassáks ‚depoetisierter‘ Wortkunst ausgehenden verstechnischen und formbildenden Impulse konstitutiv in die Paradigmatik der spätmodernen Lyrik ein. Das heißt, die avantgardistischen Erneuerungen hinterließen ein dichtungsgeschichtlich äußerst originelles sowie unvergängliches Erbe, indem sie selbst in den Grundstrukturen der modernen ungarischsprachigen Dichtung unverkennbare Änderungen zeitigten. Von den 1930er Jahren an tauchen nicht nur bislang meist unbekannte sinnlich-materielle Effekte in der lyrischen Textgestaltung immer häufiger auf, sondern es werden auch grundlegende ästhetische Wahrnehmungsstrategien der lyrischen Lektüre neu konditioniert. Denn die spätmoderne Umstrukturierung des bereits bei Kassák aus seiner semantisch organischen Vernetzung herausgerissenen lyrischen Bildes ging mit einem unwiderruflichen qualitativen Wandel in der rezeptiven Nachvollziehbarkeit des Bildlichen schlechthin einher: Die den medialisierten textuellen Verfahren anhaftenden sinnlich-materiellen Effekte heben hierbei nämlich nicht einfach – wie dies bei Kassák zumeist noch der Fall war – die Bedingungen einer wirklichkeitsgetreuen Referenzbildung auf, sondern sie übertragen die semantisch nicht mehr wettzumachenden Brechungen der ‚zerspielten‘ Wahrnehmung tief in die innere, sprachlich-rhetorische Struktur des Bildes. Die durch solche textuellen Praktiken erzeugte Spielbewegung der Spannung von Gedanklich-Semantischem und Materiell-Medialem gehört – von wahrhaft unsichtbaren lyrischen Bildern bis zur performativen Verflüchtigung semantischer Transparenzen – zu den herausragendsten Leistungen der spätmodernen Lyrik, denen auch in Bezug auf die heutige ungarische Literatur eine epochale dichtungsgeschichtliche Bedeutung zukommt.
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In der ersten Hälfte der 1930er Jahre – in einer Periode also, als die literarischen Entwicklungen des künstlerischen Gesamtgeschehens äußeren politischen Artikulationszwängen wohl am wenigsten ausgesetzt waren – trat die wirkungsgeschichtliche Eigendynamik der literarischen Moderne mit äußerster Prägnanz in Erscheinung. Mit seltener Klarheit trat zutage, dass jenes poetologische Potential, das der avantgardistischen Desanthropologisierung bzw. Materialisierung von Literatur bereits seit Marinettis Technischem Manifest der Futuristischen Literatur (1912) eignete, ein temporal unerschütterliches Fundament bildete, um das die ganze spätmoderne Lyrik weder ohne ernsthafte weltbildliche noch gestaltungstechnische Verluste hätte umhin können. Gerade die Tatsache, wie erstaunlich nahtlos sich avantgardistische Techniken und Methoden den Werken spätmoderner Klassiker wie etwa Attila József oder Lőrinc Szabó einfügen, widerlegt in jeder Hinsicht die wiederholt aufgestellte These früherer Literaturgeschichtsschreibung, die Avantgarde sei kaum mehr als ein fremdkörperähnliches Gebilde in der eher unter der Dominanz des Nyugat verlaufenden Geschichte der ungarischen Moderne. Die wirkungsgeschichtliche Logik der Moderne verschaffte sich demgegenüber erst recht darin Geltung, dass ausgerechnet die Klassiker der spätmodernen Dichtung, die sich anfangs von Adys weit verbreitetem Einfluss zwar nicht lossagen konnten, bereits zugleich tief in der poetischen Paradigmatik der avantgardistischen Richtungen verwurzelt waren. Dies war auch dann der Fall, wenn sie sich nicht unbedingt mit diesen Richtungen verbunden fühlten oder gegebenenfalls im Nachhinein – wie etwa Gyula Illyés – bewusst zum eigenen avantgardistischen Frühwerk auf Distanz gingen. Indem die sprachmedialen Erneuerungen der lyrischen Avantgarde im Übergang zur Spätmoderne weitreichende Umgestaltung erfuhren, ging ihre dichtungspoetische Eingliederung in die Lyrik der 1930er Jahre mit einem außerordentlichen Zuwachs an Komplexität des Textgerüstes des Gedichts vonstatten. Versbau und Diktion des nicht mehr ästhetisierenden Kassák’schen Erbes werden durch eine Reihe von kombinativen Querverbindungen der Form und modalen Interferenzen der Semantik teils auf höhere Stufen der Poetizität gehoben, teils innovativ durch dichterische Aussagestrukturen ersetzt, die in völlig neuen Verbindungen zwischen den Wahrnehmungsmodi des versinnlichten und technisierten Blicks vom Text und seiner sprachlich-materiellen Substanz fundiert wurden. Der futuro-expressionistische Zweig dieses Erbes zeigt sich vor allem bei Lőrinc Szabó in einer auf technologisiert-vitalistisch verankerte Vermittlung angewiesenen Sprachmodalität, während die surrealistisch-dadaistische Variante (obwohl sich die beiden Muster infolge ihres wechselseitigen Auftretens bei den beiden Dichtern voneinander nicht immer konsequent und gar nicht genuin trennen lassen) exemplarisch eher bei Attila József in organisch-biologisch akzentuierter Kodierung des ästhetischen Weltverständnisses aufgeht.
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VII.2.2.1 Lőrinc Szabó (1900–1957) Lőrinc Szabó scheint anfangs jedoch den dichtungssprachlichen Traditionen der Hochmoderne näher zu stehen als denen der Avantgarde. Seine ersten Gedichtbände zeugen nämlich – trotz einiger Neigung zur ‚pantheistischen‘ Naturlyrik Lowell’schen Charakters (Föld, Erdő, Isten, 1922; Erde, Wald, Gott) – von einem nachdrücklichen Einfluss der Baudelaire’schen Paradigmatik der flüchtigen Schönheit, insbesondere hinsichtlich der Vorliebe zu unbeständigen Bildern und zur allegorischen Bewegung sinnlich-ästhetischer Wahrnehmungseffekte. Eingefangen wird im lyrischen Text aber – und darin äußert sich exemplarisch die deutliche Abkehr vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende – weniger die strukturierte Gesamtwirkung eines aus flüchtigen Effekten entstehenden Anblicks als vielmehr ein dynamisches Nacheinander von sich voneinander trennenden sinnlichen Eindrücken. Infolge der unaufhaltsamen Bewegung dieser allegorischen Armatur zergliedern sich in Szabós erster Schaffensperiode zunächst nur noch Syntax und Bildstruktur, ohne zugleich die Integritätsgrenzen und die (die Mitteilung beherrschende) sprachliche Souveränität des Redesubjektes ins Wanken zu bringen (Kalibán, 1923; A Sátán Műremekei, 1926; Meisterwerke des Satans). Teilweise anders und poetologisch weit zukunftsweisender verhält es sich mit der allegorischen Armatur der Wahrnehmungssteuerung in seinem – nach dem Erstdruck (im Band Fény, fény, fény, 1926; Licht, Licht, Licht) später teils überarbeiteten – Lidérc (Irrlicht, 2004, I. Rübberdt). Denn während im gehäuften Bildwechsel der isolierenden Nominalsätze die allegorische Bewegung bislang sozusagen retrospektiv ein brückenartiges poetologisches Verbindungselement zwischen der Hochmoderne und der angehenden Spätmoderne – und somit eine ‚organisch‘ immanente dichtungsgeschichtliche Kontinuität innerhalb der ungarischen Moderne – erkennen ließ, erfolgt in Lidérc ein einzigartiger dichtungsgeschichtlicher Vorgriff, der textmediale Techniken vorwegnimmt, die der spätmodernen Dichtung erst um die Mitte der 1930er Jahre zu ihren Höhepunkten verhalfen. Das Subjekt des Textes berichtet hier von einem Anblick fiktionsrealer Bewegungsbilder, der ihm scheinbar als Objekt der kontemplativen Beobachtung zuteilwurde. Bei der Inszenierung der Wahrnehmbarkeit von Bewegung bedient sich das Gedicht einer Spiegelsymmetrie, deren aktivierbares Potential selbst der ihm entgegenwirkenden Struktur der formalen Subjektivität eingeschrieben ist. Für die mögliche Umkehrung der Perspektiven sorgen Stellen der grammatischen Unbestimmtheit, die infolge der durch Interpunktionszeichen vorgenommenen semantischen Trennungen (die dank der so freigesetzten tropologischen Bewegung auch als Identifizierungen lesbar sind) typographisch der Struktur des Anblicks eine nicht stabilisierbare Wechselseitigkeit verleihen: Dass die scheinbar subjektzentrierte Aussagesituation, die eingangs an ein postromantisches Liebesgedicht von unerfüllter erotischer Sehnsucht erinnert,
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Abb. 34: Lőrinc Szabó, Irén Gulácsy und Zsolt Harsányi mit Radioreporterin Frau Sándor Gecső auf der Budapester Buchmesse, 1941
[…] néger-zene villog agyamban, s hiába, csak csalogat a fényed: nem érek odáig: a fényed: a képzelet: én – a fényed: kibonthatatlan, megfoghatatlan ez a fény (Lidérc, Szabó, Lőrinc 2000, Bd. 1, 134) […] Neger-Musik blinkt mir im Hirn, / doch vergebens, es narrt mich // dein Licht: ich kann es nicht fassen: / dein Licht: die Einbildung: ich, – / dein Licht: so unbegreifbar, / ungreifbar ist dieses Licht (Irrlicht, Arns–Goller–Strätling–Witte 2004, 228, Ü: I. Rübberdt)
sich nicht als diskursive Stelle einer monologischen Rede stabilisieren lässt, rührt nun daher, dass das Prädikat „unbegreifbar“ („kibonthatatlan“, im eigentlichen Wortlaut aber: „etwas, was sich nicht aufschließen lässt“) als Äußerung des lyrischen Subjekts nicht einfach die semantische Rätselhaftigkeit des im Traumlicht erscheinenden Angesprochenen meint, sondern als Aussage des Textes auch auf die grammatische Unfixierbarkeit der (und eben deshalb „unbegreifbaren“) materiell-typographischen Wortgestalt von „Licht“ („Fény“, das übrigens die Strophe eröffnet und beschließt) bezogen werden kann.
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Da das ganze tropologische System des Gedichtes hier von einer Figur der umkehrbaren Identifizierungen her bestimmt und in Bewegung gehalten wird, wird eine referentiell stabilisierende Lektüre bereits an jener Eigenschaft der Syntax scheitern, dass die Interpunktionszeichen des Textes überwiegend retraktiv und palindromartig angeordnet sind. Die zweifache Ausrichtung der Identifikationsobjekte entspringt somit der grammatisch unentscheidbaren Situiertheit der Kolone. Indem sie nämlich die nominalen Prädikativsätze zunächst mit asyndetischen Figuren interferieren lassen und dadurch zwei unterschiedliche Mitteilungsmodi und Intentionen ineinander spielen, werden die Aussagen – weiter verstärkt durch die funktionelle Zwiespältigkeit des einzigen Gedankenstriches – einerseits als Ankündigungen, andererseits aber (dank der mitspielenden asyndetischen Figurativität) als eine semantisch unabschließbare Kette von umkehrbaren Ersetzungen gelesen, deren zweifach gerichtete tropologische Kynetik referentiell nicht aufzuhalten ist. Das Eigenartige dabei ist jedoch, dass auf diese Weise gleichzeitig auch eine medial einzigartige Erfassung der zum Stillstand kommenden Bewegung möglich wird. Da die umkehrbaren Identifizierungen selbst das Aussagesubjekt dem Spiegelspiel der Ersetzungen preisgeben („dein Licht: die Einbildung: ich – / dein Licht: so unbegreifbar, / ungreifbar ist dieses Licht“), werden im Gedicht nicht nur die von ihm heraufbeschworenen Bilder ‚sichtbar‘, sondern auch das ‚das Zerrbild umarmende‘ Ich in seiner literarisch-metonymischen Konstitution (denn textuell gesehen ist es der Verstand, der das Zerrbild umarmt), als es dem Tanz einer – infolge des gebrochenen Wahrnehmungskodes – unbestimmbaren Figur zusieht. Die Gegenseitigkeit der Spiegeloptik von Sehen und Gesehenwerden setzt das Ich über die lichtmetaphorischen und paronomasischen2 Identifizierungen auch mit dem Du gleich, und gerade dieser Akt bereitet das eigenartige Bild vor, in welchem das Aussagesubjekt eines unsichtbaren Anblicks par excellence visuell teilhaftig wird, und zwar eines Anblicks, in dessen optischer Wechselseitigkeit es selbst zugleich als Lichtquelle und als Beleuchtetes sichtbar wird: ez a fény: te, ki táncolsz meztelenül s kit nem lehet soha elérnem, mert rejtve ragyogsz bennem, mint a tűz, mely feketén alszik a szénben. (Lidérc, Szabó, Lőrinc 2000, Bd. 1, 134)
2 Die Wortgestalt von fény /Licht schließt im Ungarischen wie auch im Deutschen die von én / ich mit ein, wobei im Original sich diese Verbindungen auf den Ausdruck in der Kohle ausbreiten, in welchem (szénben) auch die Inessivform énben (ich (én) + Suffix -ben) etwa mit der Bedeutung im Ich enthalten ist.
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Dieses Licht: du, wie du tanzest so nackt, / ich werde dich niemals erlangen, / weil du tief in mir strahlst wie das Feuer, / das schwarz in der Kohle gefangen. (Irrlicht, Arns–Goller– Strätling–Witte 2004, 228, Ü: I. Rübberdt)
Im Schlussvers hält ein (einem übergeordneten Vergleich eingeschriebener) Anthropomorphismus zwar die Kette der tropologischen Ersetzungen („schwarz in der Kohle gefangen“, wörtlich: „gefangen schläft“) auf, durch den die Bewegung von Licht als Tanz (einer Gestalt und auch der Flammen) plötzlich zum Stillstand kommt, aber das plötzliche Einfrieren der Bewegung geht mit einem bemerkenswerten Doppeleffekt einher, der sozusagen einen nie wahrnehmbaren Anblick vor Augen führt, nämlich einen nur sprachlich ‚festzuhaltenden‘ Bewegungsmoment des Werdens, in dem sich die Unzugänglichkeit dieses Phänomens selbst (als ein nicht positivierbarer Übergang von einer Seinsweise in die andere) kundtut. Der synästhetisch erweckte Eindruck von schwarzem Flimmern wird kinetisch allein schon deshalb einzigartig vermittelt, weil er das spannungsgeladene Vorher eines jederzeit zu erwartenden Umschlagens von Glut in Feuer genauso festhält wie – in undenkbarer Gleichzeitigkeit ineinandergeschobener Bewegungsphasen – das glitzernde Strahlen des sich entflammenden Feuers. Als für eine referentielle Lektüre nicht nachvollziehbares Bewegungsbild wird dabei der der sinnlichen Wahrnehmung grundsätzlich entzogene Augenblick des Werdens (und Vergehens) poetologisch als mediales Geschehen dennoch eingefangen. Für die Herstellung solcher ‚unsichtbaren‘ Bilder sorgt bei Szabó die spiegelreflexive Struktur einer in zeitgleicher Gegenseitigkeit fundierten Wahrnehmung von Welt und Ich (die nicht als pure Abbildung einer sensuellen Opposition von Innen und Außen zu denken ist), deren subjektkonstitutives Potential sich erst in seinem berühmtesten Band Te meg a világ (1932; Du und die Welt) mit voller Präzision durchsetzt. Denn die textuelle Erfassung von flüchtigen, visuell unzugänglichen oder sich aufhebenden Bildern vollzieht sich im bildinhärenten ‚Reflexionsraum‘ eines Bewusstseins, das jedoch nicht primär darauf bedacht ist, unauflösbare Paradoxe bildlicher Seinsweise sichtbar zu machen, sondern die Folgen der Unhintergehbarkeit jener Humankondition im Diskurs des Lyrischen in Erfahrung zu bringen, die jede Form von Weltverständnis dadurch relativiert, dass das Von-der-Welt-Sagbare – also das, was die Welt grundsätzlich medial (sprachlich und sensuell) überhaupt ‚präsent‘ macht – niemals der Welt unteroder nachzuordnen bleibt. Untrennbar miteinander verschränkt treten somit Verstehendes und Verstandenes in Erscheinung, inbegriffen die Verbindung von Ich und Du, Subjekt und Ding, Effekt und Eindruck. Im autobiographischen Gedichtzyklus Tücsökzene (1947, erw.: 1957; Grillenmusik) wird dies im Rückblick festgehalten: „ami adat és gondolat / s ami csak villózik e név alatt, / a képre kint, a tükörképre bent / s amit a tükör önmaga teremt.“ (128. A kíváncsiság; 128. Die
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Neugier; in Prosaübersetzung des Verfassers: „was Gegebenes sind und was Gedanken / und was nur schillert unter diesem Namen / draußen aufs Bild, drinnen aufs Spiegelbild / und auf das, was der Spiegel selbst erschafft“). Diese originelle Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung bleibt für Szabós dichterische Natur- und Welterfassung gänzlich konstitutiv und durchwirkt nicht nur die Prinzipien der Formgebung und Textgestaltung, sondern auch die sprachrhetorische Grundstruktur von Gedichten, die mittlerweile zu den lyrischen Höchstleistungen der ungarischen Moderne gehören (A belső végtelenben, 1929; In innerer Unendlichkeit, [unveröff.] Ch. Kunze; Az Egy álmai, 1931; Die Träume des Einen, 2006, Ch. Kunze; Semmiért Egészen; Alles für nichts, 1960, A. Bostroem; [unveröff.] Ch. Kunze; Sivatagban, 1933; In der Wüste, [unveröff.] Ch. Kunze). Die palindromische Umkehrbarkeit der grammatischen Figuren und die enthierarchisierte Syntax bewirken dabei, dass die zweifache semantische Ausrichtung der Aussagen die ständig differierende Ineinandergeschlossenheit von Ich und Du gleichzeitig auch als eine grundsätzliche Austauschbarkeit der beiden in Erfahrung bringt (Kulcsár-Szabó, Zoltán 2006, 369‒384). Da diesen sprachlich-medialen Effekten bei Szabó nicht selten ein starkes humankritisches Potential anhaftet („mi csak mi vagyunk, egy-egy magány, / se jó, se rossz“ [Az Egy álmai; „nur uns gibt es, einzelne Einsamkeiten / nicht gut noch schlecht“ [Die Träume des Einen]), kann sogar die evolutive Temporalität des Menschenschicksals in einen betrieblich-technischen Blickwinkel rücken, wo die zweifache Ausrichtung des Werdens Bildung und Verfall erneut als gleichwertige – weil miteinander verwechselbare – Entitäten erscheinen lässt: Nem vagyok kész? Vagy összedőltem? A szeretet s a gyűlölet, melynek száz keze épített, alszik vagy meg is halt köröttem. […] de tanulságnak megmarad, hogy az épülő ház s a rom egymáshoz mennyire hasonlít. (Harminc év, Szabó, Lőrinc 2000, Bd. 1. 248) Bin ich nicht fertig? Morsch geworden? / Die Liebe und der Hass um mich, / die mich gebaut tausendhändig / sie schlafen oder sind gestorben. // […] // doch was als Lehre bleiben kann, / wie sich ein halbfertiges Haus und / eine Ruine ähnlich sind. (Dreißig Jahre, Ü: Ch. Kunze)
In welchem Umfang diese neue Paradigmatik der lyrischen Äußerung sich nun Geltung verschafft hat, zeigt sich wohl auch daran, dass selbst die tradierten
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anthropologischen Muster der hochmodernen ‚Liebeslyrik‘ durch die Folgen der durch den entpolarisierten Ich-Du-Bezug neu artikulierten Redesituation nicht unberührt blieben. Die in der differierenden Ineinsgeschlossenheit von FremdAnderem und Vertraut-Eigenem fundierte Aussageform nämlich, die gerade im Sinne der obigen situativ-semantischen Wechselseitigkeit die Kodes der Intimität umschreibt, entzog dabei exemplarisch den beiden musterbildenden Bekenntnisformeln der klassisch-modernen Liebeslyrik den Boden. Denn weder der die Ady’sche Abschaffung der Ich-Grenzen durch Sich-Aufgeben in Leidenschaft und Erotik (Héja-nász az avaron) noch die admirative Hingabe an den Liebeszauber bei Árpád Tóth (Esti sugárkoszorú) bietet Spielraum für eine Lektüre, die grundsätzlich die Vergegenständlichung der anderen Subjektivität unterbinden könnte. Ob das Bekenntnis nun dramatisch oder melancholisch-elegisch gestimmt war, erreichte die Botschaft sowohl bei Ady als auch bei Tóth das Anredesubjekt nur in einer Weise, bei der ihm das gegenseitige Involviertsein im selben Sprachereignis von Anfang an verwehrt bleiben sollte, weil ihm im sprachlich-rhetorischen Modell der einseitigen Liebeskommunikation allein die Rolle des passiven Rezipienten von Botschaften zugeteilt wurde. Die fehlende Gegenseitigkeit in der sprachlichen Inszenierung des Bekenntnisses, deren poetologische Defizite bereits in Adys berühmter Elbocsátó szép üzenet klar zutage traten, konnte es der Liebeslyrik spätestens jenseits der spätmodernen Epochenschwelle nicht mehr ersparen, unwillentlich daran zu scheitern, dass ihre – auf ein sprachlich-rhetorisch ‚paralysiertes‘ Anredesubjekt ausgerichtete – Monologform den Ich-Du-Bezug zwangsmäßig in einen puren Objektbezug verwandelt. Die wirkungsgeschichtlichen Schwächen dieses immer fragileren Erbes wurden jedoch in voller Gänze erst ersichtlich, als seine fundamentalen Kodes gerade in einem Gedicht von Lőrinc Szabó umgestaltet wurden, das, indem es am Ady’schen Motiv der Eliminierung fremder Identitäten weiterschreibt, das Bekenntnis der männlichen Autorität scheinbar in einen womöglich noch tyrannischeren Diskurs der Liebe überführt. Das Subjekt von Semmiért Egészen (Alles für nichts) bietet nämlich ein semantisch durchaus einseitiges Konstrukt der Liebesbeziehung an, indem das asymmetrische System des Tausches nur eine Form der Intimität gewährt, in welche das dem für nichts alles einfordernden Ich gegenübergestellte Anredesubjekt erst um den Preis einer (‚animalisierten‘) Außergesetzlichkeit Einlass finden kann: Kit törvény véd, felebarátnak még jó lehet; törvényen kívül, mint az állat olyan légy, hogy szeresselek. (Semmiért Egészen, Szabó, Lőrinc 2000. Bd. 1, 289)
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Wen das Gesetz schützt, der bliebe / Mitmensch vielleicht, / sei wie ein Tier für meine Liebe, / von den Gesetzen unerreicht. (Ü: Ch. Kunze)
Jenseits der Semantik aber sorgt die ‚dialogische‘ Umkehrbarkeit der Versgrammatik dafür, dass sich die asymmetrische Struktur der neukodierten Intimität plötzlich ins Gegenseitige wendet und dem zuvor passiv gesetzten Anredesubjekt mithin eine Stellung einräumt, die von da an in einem völlig anderen Sinne als ‚außergesetzlich‘ gilt. Die pointierte Einbeziehung des Gerechtigkeitsmotivs macht in der Abschlussstrophe nämlich rechtzeitig aufmerksam darauf, dass die Semantik des Gesagten hier von einer grammatischen Tropenbewegung (die bald das Innerhalb und Außerhalb des Gesetzes sozusagen gleichstellt) her konditioniert wird, die das extrem gekippte Gleichgewicht der Liebesintimität nicht mehr auf sich beruhen lässt. Denn indem das Redesubjekt im Sprechakt des Versprechens völlig unerwartet das Möglichst-Schwierige auf sich nimmt, d. h. die zukünftige Entschuldigung für Gewalt gerade beim betroffenen Anredesubjekt vorwegnimmt, verhilft es ihm nicht einfach zu einer dem eigenen Selbst übergeordneten Stellung, sondern zu einer einzigartigen Höhe der Gerechtigkeit, wo die ‚Rechtsprechung‘ erst von außerhalb aller juristischen Gesetzlichkeit her möglich ist. Die Formel „elvégzem magamban“ mit ihrer zweifachen Bedeutung entspricht sprachlich einwandfrei der semantischen Doppelstruktur einer gleichzeitigen Situiertheit innerhalb und außerhalb des Gesetzlichen. Einerseits leitet sie als Sprechakt in die Wege (wörtlich im Ungarischen: „ich vollziehe es in mir selbst“), dass das innere Geschehen des Entschuldigt-Werdens durch das andere Subjekt eintritt, andererseits (hier wörtlich: „ich vollziehe es allein“) verleiht sie dem Anredesubjekt eine Freiheit, die gesetzlich immer nur einer einmaligen absoluten Instanz der ‚übergesetzlichen‘ Gerechtigkeit zukommt: Mint lámpa, ha lecsavarom, ne élj, mikor nem akarom; ne szólj, ne sírj, e bonthatatlan börtönt ne lásd; és én majd elvégzem magamban, hogy zsarnokságom megbocsásd. (Semmiért Egészen, Szabó, Lőrinc 2000, Bd. 1, 289) So wie ein kleingedrehtes Licht, / sollst du nicht leben, will ich’s nicht, / weine nicht, sprich nicht, sieh nicht dieses / Gefängnis an; / ich kläre dann mit mir, dass du mir / die Tyrannei verzeihen kannst. (Ü: Ch. Kunze)
Dank dem durch semantische Entgegensetzungen und grammatische Umkehrungen vorbereiteten Akt eines performativen Ausgleichs entpuppt sich die gebieterische Diskursmodalität des ‚Tyrannischen‘ nun als ein autonomer poetischer Raum
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unerwarteter Umwertungen, wo sich das Gleichgewicht einer selbstregelnden Intimität wiederherstellt, in deren Gegenseitigkeit ‚außergesetzlich‘ nicht unbedingt ‚entrechtet‘ meinen und die bedingungslose Liebeshingabe keiner Selbstaufgabe gleichkommen soll. Mittels dieser oxymorontischen Struktur der literarischen Bedeutungsbildung (wo jedoch Sprechakt und materiell-textuelle Handlung untrennbar bleiben) tritt hier ein selbst in der lyrischen Spätmoderne äußerst seltener Fall der ästhetischen Erfahrung ein. Angesichts des unmöglich reaffirmierbaren Versprechens im Schlussvers bleibt es unaufhebbar in der Schwebe und somit der rezeptiven Einsicht des Lesers (der jeweils dem Text seine Stimme verleiht) überlassen, ob das Gedicht tatsächlich auch tut, was es sagt. Denn die Unbotmäßigkeit der Botschaft von Semmiért Egészen tritt vornehmlich darin hervor, dass der Lektüre grammatisch wie sprachrhetorisch vorenthalten bleibt, klar zwischen wörtlichen und sinnhaften, zwischen semantischen und strukturellen Bedeutungsimpulsen zu unterscheiden. Die über die innerlich dialogisierte Aussage (Kabdebó 1992, 40‒54) aufgehobene Subjekt-Objekt-Spaltung und die wahrnehmungsstrategische Umkehrbarkeit von Innen und Außen behalten ihre strukturbildende Dominanz auch in Lőrinc Szabós weniger innovativen Schaffensperioden. In den Bänden Különbéke (1936; Sonderfrieden) und Harc az ünnepért (1938; Kampf für das Fest) erweitern sich jedoch bereits früher angeschnittene Themen jeweils im Wahrnehmungshorizont eines Ichs, dessen innere Struktur zumeist gleich einem in Betrieb befindlichen technischen Apparat evoziert wird, dessen Betreuung nicht mehr dem Subjekt zusteht, sofern dieses Subjekt selbst eher als ein Effekt oder Produkt jener techn(olog)ischen Konfigurationen nachvollziehbar bleibt. Dementsprechend tritt das Ich von Vezér (1928; Führer, [unveröff.] Ch. Kunze) bereits als ein technologisch ungewöhnlich ausgebreiteter Körper in Erscheinung, der nun nicht mehr an der Haut aufhört, sondern sozusagen ‚entsubstantialisiert‘ als Schnittstelle mit Ding und Maschine schließlich – indem „[s]ein Herzstrom die Maschinen der neuen Ordnung an[lässt]“ – im Kraftpotential des Technischen aufgeht. Parallel zur vertieften Orientierung am Technischen (vgl. den Zyklus Reggeltől estig, 1936; Vom Morgen bis zum Abend) erreicht die techn(olog)ische Extension des Körpers auch die Sphären des Organisch-Biologischen auf eine ganz eigenartige Weise. Das Ich der Gedichte dieser Periode erscheint als immer stärker verbunden mit sensibleren Elementarformen des Lebens, wobei selbst das Subjekt der Aussage als Teil einer Vernetzung von Ding, Mensch und Natur inszeniert wird, in welcher technische („Gestell“, „Gerüst“, „Stutzen“) oder physikalisch anmutende biologische Metonymien („Gerippe“, „Stengel“, „Halm“, „Stoppel“) für Verschaltung zwischen lebendigen Körpern und technischen Elementen sorgen. Nicht nur dezentriert neufokussierte Kindergedichte (Lóci óriás lesz, 1933; Lóci wird zum Riesen) entspringen dieser ‚lateralen‘ Sichtweise, sondern parallel
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Abb. 35: Autograph von Lőrinc Szabó aus dem Jahre 1949 (A tó éjjel, Der See in der Nacht)
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konturiert sich auch eine neue Naturlyrik, deren wirkungsgeschichtliche Horizonte – in ihrem Potential teilweise sogar bis heute nicht eingelöst – noch bis zu Imre Oravecz’ A megfelelő nap (2002; Der entsprechende Tag) reichen (Halott nép, 1937; Totes Volk; Egy téli bodzabokorhoz, 1938; An einen winterlichen Holunderstrauch, [unveröff.] Ch. Kunze). In der letzten Periode übernehmen die Figuren einer nicht subjektzentrischen Erinnerungslyrik bei Szabó die Oberhand, deren erinnerungstechnische Verfahren in einer neu konzipierten Zeitstruktur des Autobiographischen fundiert sind. Dem angemessen ist das erinnernde Ich der beiden großen Gedichtzyklen (Tücsökzene, 1947, erw.: 1957; Grillenmusik; A huszonhatodik év, 1957; Das Sechsundzwanzigste Jahr, 1982, G. Deicke) in einem dynamischen System von Zeitschichten verortet, deren zirkelhafte, in sich ständig wiederkehrende Bewegung Werden und Vergehen als die einzig mögliche Seinsform des Evozierten konstituiert. In diesem Differenzspiel der Erinnerungen werden weder seinskonstitutive Bewusstseinsinhalte dem Vergessen überlassen noch kann das erinnernde Ich eine Position einnehmen, die selbst nicht Produkt des temporalen Gesamtgeschehens wäre. Folglich geht der klassische Subjekt-Objekt-Bezug der Erinnerungslyrik auch hier in einem (temporalen) Konstrukt auf, dessen ‚Subjekt‘ ein den beiden überlegenes Medium des sich ereignenden Gedächtnisses ist, das als eine unpersonifizierbare Instanz zwar alles durchwirkt, selbst aber nicht hervortritt.
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VII.2.2.2 Attila József (1905–1937) Während sich in die Poetik von Lőrinc Szabó futuro-expressionistische Techniken der Medialisierung prägend einschrieben, lassen sich in der Lyrik von Attila József eher surrealistisch-dadaistische Muster der textmateriellen Gestaltung erkennen. Das heißt, dass sich nach ähnlich kurzen klassisch-modernen Anfängen Ady’schen Charakters auch in Józsefs Lyrik ein Weg über die Avantgarden zur Spätmoderne zeigt, der allerdings – und nicht einfach wegen der deutlich kürzeren Schaffenszeit – einen anderen Verlauf nahm als bei seinem bedeutendsten Dichterkollegen (Szabolcsi 1998, 951‒955). Selbst der frühe klassisch-moderne Einfluss fiel bei den beiden spätmodernen Klassikern insofern immerhin unterschiedlich aus, als Szabó neben Adys emotional-dramatischer Stimmenführung stark auch auf die Babits’sche Gegenständlichkeit bedacht war, während József vielmehr an die elegisch-impressionistische Modalität von Gyula Juhász anknüpfte. In den 1920er Jahren schien er sogar radikalere Wege der Aufhebung von Subjektzentrik und Selbstaussage einzuschlagen als der von Kassák weniger beeinflusste Lőrinc Szabó. Zwischen 1924 und 1928 bildet sich in seinem Frühwerk ein lyrisches Modell heraus, das ein einzigartiges Musterbeispiel dafür abgibt, wie das erfolgreiche Interferieren von zwei dichtungsgeschichtlichen Paradigmen nun poetologischen Errungenschaften zum Durchbruch verhalf, die – wie etwa bestimmte Techniken der Disseminierung und Bildfragmentierung – zur Zeit ihrer Entstehung auf die eigenen wirkungsgeschichtlichen Schranken der avantgardistischen Sprachauffassung stießen und demzufolge das ihnen innewohnende neue strukturbildende Potential erst zögernd und partiell entfalten konnten. Sobald nämlich die gestaltungstechnisch innovativen Horizonte des im Grunde instrumentalen Sprachgebrauchs von Kassák sich auf die spätmoderne Erfahrung der Unbotmäßigkeit der Sprache öffneten, konnten die zuvor auf bloße Zergliederung von affirmativen Sinnganzheiten abzielenden Techniken poetologisch neu aufgeladen werden. Denn spätestens an dem Punkt, wo die Kassák’sche desemiotisierende Montagetechnik in eine Poetik der die Subjekt-Objekt-Spaltung aufhebenden Sprechsituation überging und somit das primäre sprachliche Involviertsein des lyrischen Ichs auch textuell fassbar wurde, war zugleich der avantgardistische Einsatz der Kunst überboten. Von da an dient die so aufgewertete materielle Medialität der dichterischen Sprache nicht mehr – wie vornehmlich in Bezug auf Nyugat bei Kassák – einer kritischen Enthüllung der Hochmoderne, die sich in ihrer ‚exklusiven Autonomie‘ als für die Lebenspraxis folgenlos erwies. Am Horizont der ästhetischen Erfahrung der Spätmoderne kontaminiert sich die medial aktivierte Materialität der Sprache nicht mehr mit dem Anspruch einer Gleichsetzung von Kunst und Wirklichkeit, der – sozusagen instrumental – schließlich der Zurückführung
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Abb. 36: Studienbuch von Attila József. Wien, 1925
des Künstlerischen in die Lebenswirklichkeit diente, sondern mit der primär sprachlichen Verfasstheit aller Subjektivität. Damit wurde aber nicht nur jener selbstreferentielle Rahmen der literarischen Hochmoderne gesprengt, dessen versteckter anthropologischer Bezugspunkt in einer Individualität verfestigt war, die als „Operateur der Sprache“, als „dichtende Intelligenz“ (Friedrich 1985, 17) quasi von außerhalb oder ‚jenseits‘ der Sprachlichkeit für die ‚esoterischen‘ Bedeutungen zuständig war, sondern auch derjenige pragmatische Bezugsrahmen, in welchem die Botschaft des lyrischen Textes zumal als Mitteilung eines anthropologisch einwandfrei nachvollziehbaren Subjektes gedeutet werden konnte. Parallel zur Depragmatisierung der Aussagesituation tritt ein lyrisches Subjekt in Erscheinung, dessen anthropologische Züge trotz allen Humanbezügen der jeweiligen Stimmungsmodalität nicht mehr konsistent nachzuzeichnen sind und dessen ‚Gesicht‘ in einem betont textuellen Raum aufgeht, der das Subjekt der Rede nicht so sehr ‚gestaltmäßig‘ als vielmehr in seiner sprachrhetorischen Verfasstheit zugänglich macht. Die Vielfalt dieses poetischen Verfahrens erstreckt sich von der konfigurativen, durch spiegelhafte Ich-Teilung vorgenommenen Identitätsbildung (József Attila [József Attila, hidd el …], 1924; József Attila [József Attila, glaub mir …], 1996, Ch. Rácz – B. Frischmuth; Rossz volt, elszéledt szívemből, 1925; Es war schlimm, es hat sich aus meinem Herzen verflüchtigt, 1996, Ch. Rácz – B. Frischmuth) über die technologische Nach-Außen-Verlegung des ‚seelisch‘ Immateriellen (Én dobtam, 1924; Ich warf, 1996, Ch. Rácz – B. Frischmuth; Ekrazittömeg, 1924; Ekrasitmasse, 1996, Ch. Rácz – B. Frischmuth) bis zur textuellen Ersichtlichmachung physikalisch unsichtbarer Anblicke (A bőr alatt halovány árnyék, 1926/27; Fahler Schatten unter der Haut, 1996, Ch. Rácz – B. Frischmuth). Die einmalige und auch in
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weltliterarischem Vergleich überragende Leistung der József’schen Lyrik dieser Jahre besteht wohl darin, dass die divergente allegorische Bewegung von (schriftlich gelegentlich sogar untrennbar ineins fallenden) figurativen und buchstäblichen Bedeutungen dem Text dazu verhilft, Stimmungen nicht mehr als ungreifbare Signale des Inneren wahrzunehmen, sondern sie im materiellen Akt des Textgeschehens sozusagen in technisch-veräußerlichter Form lesbar zu machen. Denn indem sich das Bild des durchsichtigen (also genauso transparenten wie nichtwahrnehmbaren) Löwen ausschließlich textuell referentialisieren lässt, kommt der immaterielle Einsatz der aktuellen (An)Rede zugleich in nur für die Sinnesorgane wahrnehmbaren Formen (verschneite Wege des Begegnens, auf Holzbeinen davongelaufene Zeit) zum Tragen, wobei das Tun der in diesem Raum wiederum optomedial signalisierten Neger nicht nur den stummen Dialog des Schachspiels konnotiert, sondern auch die schwarz-weiße Materialität der Typographie – sie möglicherweise sogar als ‚Rätsel‘ des gerade Gelesenen – aufruft: Egy átlátszó oroszlán él fekete falak között, Szívemben kivasalt ruhát hordok amikor megszólítlak […] az idő elrohant vérvörös falábakon az utak összebújnak a hó alatt, nem tudom, hogy szerethet-e téged az ember? néma négerek sakkoznak régen elcsendült szavaidért. (A bőr alatt halovány árnyék, József 1997, 262) Ein durchsichtiger Löwe lebt zwischen schwarzen Wänden, / In meinem Herzen trage ich gebügelte Kleider, wenn ich dich anrede / […] / Auf blutroten Holzbeinen lief die Zeit davon / Die Straßen schmiegen sich unter dem Schnee aneinander, / Ich weiß nicht, ob man dich lieben kann? / Um deine längst verklungenen Worte spielen stumme Neger Schach. (Fahler Schatten unter der Haut, Deréky 1996, 279, Ü: Ch. Rácz – B. Frischmuth)
Dass der dichtungsgeschichtliche Einsatz dieser Poetik nicht auf eine anthropologisch noch ausreichend nachvollziehbare Verschmelzung von Kunst und Leben beschränkt war, bestätigte sich vorbildlich in Józsefs wohl bedeutendster Schaffensperiode (Tverdota 1987, 128‒135), die sich in ihrem gesamten Reichtum zwischen den Bänden Külvárosi éj (1932; Nacht am Stadtrand) und Nagyon fáj (1936; Unerträglich) entfaltete. Nicht mehr (Bruch)Stücke der Realität werden in ihrer ‚Materialität‘ zitiert oder collagiert, sondern die lyrische Äußerung selbst ist immer mehr im Begriff, sich in ein material medialisiertes Konstrukt zu verwandeln, das als dichterischer Text kaum mehr an ein ins Schriftliche übertragenes Bekenntnis von jemandem erinnert. Insbesondere wurde davon bei József die konventionelle Nyugat’sche Auffassung vom Gedicht als Medium der verschriftlichten Stimme betroffen, die gemäß der romantischen Tradition die Schriftform
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kontinuierlich als ‚phonologische‘ Aufzeichnung einer in ihrer anthropologischen Modalität diskursiv vordefinierten Stimme nachstellte, d. h. sie sozusagen als passives Produkt aus jener (als ‚handelnder‘ Instanz) ableitete. Sobald nämlich die visuelle Aktivität des selbständig agierenden Textes nicht mehr aus der authentischen Ursprünglichkeit der anthropologischen Stimme hervorgeht bzw. sich nicht nahtlos auf sie zurückführen lässt, tritt er nicht mehr als Übergangsmedium und als visueller Überbringer von ursprünglich tönenden Botschaften in Erscheinung, d. h. seine mediale Rolle erschöpft sich nicht mehr in der phonoskripturalen Erfassung der tönenden Rede. Der aus seinem paralysierten medialen Status so befreite Text, der nicht mehr eine pure visuelle ‚Kopie‘ des authentisch Akustischen ist, agiert nun immer nachdrücklicher als das eigentlich werkbildende Potential des Poetischen. Infolge des veränderten Verhaltens der Textualität kommt bei József in den 1930er Jahren ein äußerst vielfältiger Prozess zur Entfaltung, welcher vornehmlich von einer dezentrierten Bewegung textpoetischer Impulse geprägt ist, die es außerordentlich erschweren, ihre dynamische Anordnung dem Verlauf eines psychogenetisch verstandenen Humangeschehens anzupassen und mithin einer ‚produktionsästhetischen‘ Erschließung der Zusammenhänge von Werk und Biographie gerecht zu werden. Wenn nämlich das Rollenparadigma in [Én költő vagyok …] (193?; [Ich bin ein Dichter …]) unvereinbar ist mit dem in Ars poetica (1937; Ars Poetica, 1960, G. Engl; 2005, D. Muth), wenn das Menschenbild von Thomas Mann üdvözlése (1937; Thomas Mann zum Gruß, 1960, S. Hermlin; Thomas Manns Begrüßung, 2005, D. Muth) dem in Eszmélet (1934; Besinnung, 1960, F. Fühmann; Hellsinn, 2005, D. Muth) diametral entgegensteht, wenn die Sprachauffassung in A város peremén (1933; Am Rand der Stadt, 1960, G. Deicke; 2005, D. Muth) die in „Költőnk és Kora“ (1937; „Dichter und die Zeit“, 2005, D. Muth; „Künstler und sein Kreis“, [unveröff.] Ch. Kunze) ausschließt, dann unterstützt diese Erfahrung sehr nachdrücklich, dass sich die sogenannte prozessuale Ordnung des dichterischen Lebenslaufs aus dieser Lyrik durchaus nicht ‚rekonstruieren‘ lässt. Exemplarisch tritt die obige Bewegungsform des Textes insbesondere in Eszmélet (Besinnung), dem wohl bedeutendsten Stück dieser Periode, zutage. Denn indem das Gedicht eine ‚zusammengehaltene‘ Konstruktion aufweist, aktiviert sein zentrales Ordnungsprinzip zugleich zwei entgegengesetzt wirkende Fähigkeiten des Textes. Die Bewegung der struktural umkehrbaren Impulse sorgt im Text dafür, dass in der für das ganze Gedicht konstitutiven Raumerfahrung das Dunkel des Drinnen schließlich ebenso transparent wird wie die Klarheit des Draußen undurchsichtig: „Nappal hold kél bennem s ha kinn van / az éj – egy nap süt idebent“ („Ist’s draußen Tag, drin Sterne gleißen, / ist’s Nacht – in mir der Tag anbricht“ [József 1978, 113, Ü: F. Fühmann, im Folgenden wird Fühmanns
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Übersetzung zitiert]). Diese chiastische Überkreuzstellung des räumlich Wahrgenommenen wiederholt sich insofern auch in der temporalen Gestaltung der Aussage, als sich die gegenseitig umkehrbare Bewegung (Odorics 2001, 175) auch in die prozessuale Zeitstruktur des Gedichts prägend einschreibt, in welcher die Reihe von Veränderungen (während die Jetztzeit der Aussage sich mehrmals mit der Vergangenheit als ihrem eigenen Ursprung strukturbildend verknüpft) letztlich auf das Verstummen der Rede, auf die ‚Vernichtung‘ der Stimme des im Text sprechenden Subjekts hinausläuft: Vasútnál lakom. Erre sok Vonat jön-megy és el-elnézem, hogy’ szállnak fényes ablakok a lengedező szösz-sötétben. Így iramlanak örök éjben Kivilágítatlan nappalok S én állok minden fülke-fényben, Én könyöklök és hallgatok. (Eszmélet, József 1997, 386‒389) Ich wohne an der Bahn. Viel Züge / kommen und gehn an mir vorbei, / im wehenden Samtdunkel seh ich / schweben der lichten Fenster Reih. / So durch das ewge Einerlei / der Nacht erhellte Tage jagen / und ich im Lichte jedes Wagens / steh da und lehn mich an und schweig. (Besinnung, József 1978, 117)
Im Ereignis des Verstummens, das als performativer Akt paradoxerweise gerade dem Schweigen Stimme verleiht, tut dieses Gedicht also viel mehr, als es mit der bewussten Beschränkung der Rede (aus)sagt. Seine neue Antwort auf die klassisch-moderne Frage nach der Identität (die nämlich die Frage der Vergewisserung in sich selbst als der jeweiligen Selbigkeit des Subjektes ist) schreibt in die Partitur die Allegorie jenes Lesens ein, das über die Unverleihbarkeit der Stimme auf ein Paradoxon der ästhetischen Erfahrung stößt, das an der spätmodernen Epochenschwelle entstanden ist. Es stößt darauf, dass die zwei Verhaltensweisen des Textes eine ‚Sprecher‘-Identität hervorbringen, die über den Horizont des Humanmythos vom Anfang des Jahrhunderts hinausgeht, weil sie aus der Erfahrung stammt, dass es für das sprachliche Zusammenspiel der unbeherrschbaren Tropen und der ‚identischen‘ subjektiven Selbstaussage keine anthropomorphe rhetorische Auflösung gibt. Deshalb wird das phänomenalisierte Ich der ‚Stimme‘, das anthropologischen Status hat, am Ende des Gedichtes einzig als der metaphorischen Bedeutungsübertragung ‚eingeschriebenes‘ Subjekt ‚vertextlichter Sprache‘ zugänglich – sozusagen im Akt eines metaphorischen Austausches. Dementsprechend hält Eszmélet nun eine neue, nämlich genuin spätmoderne Antwort auf die Identitätsfrage der Klassischen Moderne bereit, indem es die
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Identität nicht mehr als ein zustandartiges Gebilde, sondern vielmehr als eine ‚sich ereignende‘ Figur eines temporalen Zustandekommens in Erfahrung bringt. Bestehen kann – und zwar in Form eines äußerst prekären Gleichgewichts, die bereits aus Lőrinc Szabós Harminc év (Dreißig Jahre) bekannt ist – demgemäß erst eine im Werden befindliche Identität, die nicht vom notwendigen Zerfall des existent In-Sich-Verfestigten gezeichnet ist: Csak ami nincs, annak van bokra, csak ami lesz, az a virág, ami van, széthull darabokra. (Eszmélet, József 1997, 387) Nur was nicht ist, hat einen Buschen, / nur was sein wird, ist eine Blume, / und das zerfällt, was existiert. (Besinnung, József 1978, 114)
Wie bereits angedeutet, war der Zerfall des organischen Kodes eine notwendige Bedingung, um die poetologischen Grundfesten der Alleinherrschaft der auf sich selbst zurückbezogenen Subjektivität zu erschüttern. Der Anthropomorphismus zu Beginn des Gedichtes schafft die sprachliche Vision mit der Kraft eines so plötzlichen Zufalls, dass deren ‚referentielle‘ Plastizität (‚Sichtbarkeit‘) gleichsam sofort wieder vergessen lässt, dass die dominanten Elemente dieser Vision in die Welt der figurativen Gebilde der Sprache gehören. Denn alle assertiven rhetorischen Momente verweisen ja darauf, dass die Welt, die sich mit der Kontingenz der Plötzlichkeit vor uns ausbreitet, nichts anderes ist als die Schöpfung einer wie Licht funktionierenden Sprache: der Morgen löst den Himmel von der Erde, auf sein Wort erscheinen die Lebewesen aus dem Nichts: Földtől eloldja az eget a hajnal s tiszta, lágy szavára a bogarak, a gyerekek kipörögnek a napvilágra (Eszmélet, József 1997, 386) Sanft von der Erde löst den Himmel / die Früh, und mild ihr Wort, es läßt / kullern ins Tageslicht die Kinder / und Käfer aus des Dunkels Nest. (Besinnung, József 1978, 113)
Der Augenblick der Besinnung, des Zu-Sich-Kommens ist also kein Zustand, der auf ein ‚(allmähliches) Erwachen‘ folgt, sondern die Figur eines – ähnlich der sprachlichen Willkür der Setzung – unvorbereiteten Werdens, die schlechthin und exakt an den alttestamentarischen Schöpfungsakt („Es werde Licht: Und es ward Licht“) erinnernd eintritt. Am entschiedensten wird das symbolische Sprachmodell des organischen Kodes durch das Schlussgleichnis der Strophe
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Abb. 37: Maschinenschrift von Attila József, 1934 (Aus: Eszmélet, Besinnung)
aus dem Gedicht entfernt, wo, einer von Licht und Wort geschaffenen Welt entsprechend, selbst die organisch zum Baum gehörigen Blätter auf künstlichem Wege der sprachlichen Schöpfung an die Äste gelangen („Az éjjel rászálltak a fákra, / mint kis lepkék, a falevelek.“ József 1997, 386; „Und nachts, gleich kleinen Schmetterlingen / setzten sich Blätter aufs Geäst.“ József 1978, 113). Die Nichtfortsetzbarkeit der im klassisch-modernen Horizont formulierten Frage nach dem
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Ich als einer selbstgenügsamen Subjektivität mündet hier über die textuelle Erfahrung der Unmöglichkeit, dem Ich des Gedichtes eine anthropologisch-personifizierbare Stimme zu verleihen, schließlich in die Deixis einer ‚sich selbst feststellenden‘ Sprechsituation, wo das Ich sich selbst – ganz wie in Benns berühmtem Immer schweigender (1930) – auch nur in Trennung von den rollenbildenden Mustern der humanistischen Moderne zur Kenntnis nehmen kann. Von der klassisch-modernen Tradition der ‚formalen Vollkommenheit‘ und des ‚organischen Werkganzen‘ entfernte sich die Dichtung Attila Józsefs jedoch nicht einfach durch die ‚De-Naturalisierung‘ lyrischer Kodes. Dass die allegorische Technik der Strukturbildung auch die ‚unverrückbaren‘ Texteinheiten eines ‚geschlossenen Formganzen‘ zwangsläufig von ihrem Ursprung loslöst, führt bei József zu Verfahren von Modul- oder Fragmentcharakter, für die es bis dahin in der Geschichte der ungarischen poetischen Moderne kaum Beispiele gab. Fünf Zeilen von [Magad emésztő …] (1933; [In Gram Verzehrter …], 1960, G. Deicke; [Du grübelnd’, große …], 2005, D. Muth) fügen sich beispielsweise unverändert (die Aura des Textabschnittes, des Moduls / Fragmentes bewahrend) und doch mit völlig anderer Bedeutung in die IV. Strophe von Eszmélet ein. Aber der Erfolg dieses Aktes enttarnt so nicht nur das Dogma von der ursprungsgebundenen Bedeutungsbildung, sondern stellt auch in intertextuellem Sinne das Erbe von der geschlossenen Begrenztheit des künstlerischen Werkes infrage. Ein besonderer Fall der Letzteren ist [Jön a vihar …] (1937; [Der Sturm kommt …], [unveröff.] Ch. Kunze), wo das Prinzip der modulartigen Versetzbarkeit radikalisiert wird, denn sein Text schafft gleichzeitig gegenläufige interpretative Verbindungen zwischen mehreren exemplarischen Gedichten dieser Periode (Szigeti 1988, 272). Denn indem er, sich ihrer denkwürdigsten Bilder bedienend, die Texte von Elégia (1933; Elegie, 1960, G. Engl; 2005, D. Muth), Hazám (1937; Mein Vaterland, 1960, H. Kahlau; Vaterland, 2005, D. Muth), Eszmélet und „Költőnk és Kora“ bei gleichzeitiger Einwirkung der Reimtechnik von Ady, Babits und Kosztolányi in ein temporales ,Netz‘ stellt, relativiert er durch diese variative Austauschbarkeit z. T. sogar das Prinzip der Funktionsordnung von Hypo- und Hypertexten. Hier zieht der Text die genannten Gedichte nämlich in so enge Nähe zueinander, dass sich im System der gegenseitigen Artikuliertheit auch die wichtigsten Akzente des neuen, spätmodernen Paradigmas im Vergleich miteinander zeigen. Die Szenik der Elégia überschreibt dabei als wirkungsvoller Kontrast sozusagen die Eröffnung von Hazám; die sprachliche Materialität von [Jön a vihar …] jedoch lässt z. B. die fehlende Referentialisierbarkeit der Sprechsituation in Eszmélet stärker hervortreten: így adnak e kicsinyek példát, hogy fájdalmad szerényen éld át,
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s legyen oly lágy a dallama, mint ha a fű is hallana, s téged is fűnek vallana. ([Jön a vihar …] József 1997, 479) So daß diese Kleinen ein Beispiel geben: / Bescheiden sollst du den Schmerz durchleben, / sanft sei sein Klang und ohne Härte, / als ob auch das Gras zuhörte, / als ob’s auch dich zum Gras erklärte. (Ü: Ch. Kunze)
Dass das vom Text gemeinte Ich zum Sprechen gebracht werden kann, zwingt das rhetorische Ich in die unentscheidbare Spiegelsituation der Apostrophe, und daher bezieht die Aussagesituation ihre außerordentlich starke Reflexionswirkung. Das Subjekt der apostrophischen Intonation wird die ihm verliehene Stimme hier gleichzeitig als Sprecher und als Zuhörer hören, da diese Stimme, während sie dieselbe bleibt, einerseits gemäß dem Willen des Ichs des Textes intoniert werden muss, dazu aber andererseits nur als thematisierter Verweis des zum Sprechen bringenden Ichs auffordern kann. Diese besondere Koinzidenz von Verweis und Handlung wird nur noch komplizierter dadurch, dass sein Subjekt ein Ich ist, das nicht entscheiden kann, ob sich das anthropomorphisierende Gleichnis von den Grashalmen auf deren generelle Fähigkeit („mintha a fű is hallana“ – „als hörte auch das Gras“) oder – da die ungarische Sprache hier zwei Verständnismöglichkeiten zulässt – vielmehr darauf bezieht, dass sie das Ich als Angesprochenes hören („mintha a fű is hallana“ – „als hörte dich auch das Gras“). Infolgedessen ist das Subjekt der Intonation unfähig, sich der Macht der tropologischen Performanz zu entziehen. Dass es zum Sprechen gebracht wird, gerät selbst zum Geschehen, bei dem der Sprecher – als Rückadressat der Stimme der angesprochenen Grashalme – plötzlich auch als Trope seines eigenen Sprechaktes entsteht und sich als solcher gleich einer Allegorie der sich von sich selbst notwendig unterscheidenden Lektüre in den Text einschreibt. Zugleich macht die destabilisierende Anthropomorphisierung in [Jön a vihar …] darauf aufmerksam, dass der Ursprung dieser besonders komplexen poetischen Wirkungen nicht allein in der Destruktion des organischen Kodes liegt. Der Sprechakt in der Schlussstrophe nämlich, der sich als chiastische Figur manifestiert, lässt dem Subjekt der apostrophischen Rede – das zugleich auch Angesprochener ist – keine Möglichkeit, sich wie im Selbstgespräch (Soliloquium) bekenntnishaft zu äußern. Die anthropologische Zuordnung von Stimme und Ich ist hier unmöglich, weil die Gegenstimme („auch dich zum Gras erklärte“) nicht menschlichen Ursprungs ist. Eine Zuordnung ist nur vorstellbar, wenn sie – wie es dieses Gedicht tut – die eigene Unmöglichkeit selbst ‚ausspricht‘, dass nämlich die Äußerung des diktionalen (‚rhetorischen‘) Subjektes des Gedichtes eine Zweistimmigkeit ist, in der das Spiel der einander apostrophieren-
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den Stimmen auch das ‚Bekenntnis‘ des materiellen Klanges zu Wort kommen lässt. Dies geht freilich damit einher, dass die dem Gedicht verliehene Stimme dahingehend in poetische Abhängigkeit gerät, dass sie nur zum Sprechen gebracht werden kann, indem sie ihren eigenen Ursprung verliert. Diese Formen der textuell ‚materialisierten‘ Stimme nehmen jene spätere dichtungsgeschichtliche Spannung bereits vorweg, die sich zwischen dem Akt des Zum-Sprechen-Bringens, der die textuelle Bewegung der tropologischen Substitutionen notwendigerweise beschränkt, und den synchronen Unentscheidbarkeiten der Erfahrung von Textualität herausbilden sollte. Der Text – angewiesen auf die apostrophische Intoniertheit – wird so immer öfter zu einer neuen Reflexion seiner eigenen materiellen, partiturartigen Seinsweise gezwungen, die (bereits an der spätmodernen Epochenschwelle) den Gegensatz zwischen der Textualität und der Intonation thematisiert, die eben diese Textualität im Sinne von ‚etwas als etwas verstehen‘ zum Sprechen bringt. Schon deshalb ordnet das in der ungarischen Nachmoderne völlig unerwartet aufgewertete Gedicht Emberek (1935; Menschen) den Text in seiner Materialität vor der Stimme ein, während „Költőnk és Kora“ den Rezipienten explizit mit der Niederlage der intonativen Melodiehaftigkeit konfrontiert. Der Klang gibt nämlich überall nur Anlass für unerwartete Performationen, die von der wirklichen Gültigkeit der autoreferenten Inskription („Sehet, hier ist mein Gedicht …“) her gesehen nichts anderes sind als einzelne Korrelationen möglicher Ähnlichkeiten oder als solche Produkte des als etwas erscheinenden ‚Nichts‘. Infolgedessen handelt hier nicht die klingende Sprache – wie in dem intertextuell in Erinnerung gerufenen Gedicht Eszmélet –, sondern der Text, der die Rezeption so vom Auditiven ins Visuelle schiebt. Da im Angesicht der Zerstörung ausschließlich jener Gedanke des Gedichtes zur Verwirklichung gelangt, der als Stimme nicht verfügbar ist, unterbricht er die Intonationsmöglichkeiten der konsistenten Bedeutungsbildung, damit die stumme ‚Inskription‘ der Partitur das ‚Nichts‘ als Inhalt des Gedichtes benennt. Diese Aussage öffnet zugleich einen Bedeutungshorizont, weil eine unumgängliche Deixis den sprachlichen Modus der Äußerungen zuvor als autoreferentes Verhältnis bestimmt. Außerdem erhält sie das Rederecht des Textes aufrecht, indem sie jene Unmöglichkeit betont, der zufolge das Gedicht nicht als Stimme, sondern als Schrift, durch das materielle Sein der Buchstaben ‚spricht‘: Ime, itt a költeményem. Ez a második sora. K betűkkel szól keményen címe: ,Költőnk és Kora‘. Ugy szállong a semmi benne, mintha valaminek lenne a pora …
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Ugy szállong a semmi benne, mint valami … („Költőnk és Kora“, József 1997, 498) Sehet, hier ist mein Gedicht. / Dies ist Zeile Nummer zwei. / Hart mit K-Buchstaben spricht / der Titel: ‚Künstler und sein Kreis‘. / Das Nichts schwebt darin auf und ab, / fast scheint’s, daß es von irgendwas / der Staub sei … // Das Nichts schwebt darin auf und ab, / als wär’s etwas … (Ü: Ch. Kunze)
Die Privilegierung der Vertextlichung – die in „Költőnk és Kora“ den Buchstaben die Fähigkeit zum Sprechen nicht als sprachlichen Fehler (!) verleiht – wertet die sprachliche Erfahrung des Lesens sichtbar auf und wendet so die Kodes der spätmodernen Lyrik in Richtung der visuellen Materialisierung (Lőrincz 2004). Dies geschieht selbst dann noch, sofern die herrschende visuelle Rhetorik nicht aufhört, den Text (von der ,Nachschöpfung‘ der Konsistenz der Bedeutungslehre jedenfalls bereits befreit) auditiv zum Sprechen zu bringen. Letzteres ist bei Attila József wahrscheinlich auf sein Sprachvertrauen zurückzuführen, das – wie einige denkwürdige Stücke seines Spätwerkes (Tudod, hogy nincs bocsánat, 1937; Du weißt,’s gibt kein Vergeben, 2005, D. Muth; [Talán eltűnök hirtelen …], 1937; [Weiter entweich ich jäh …], 2005, D. Muth; [Karóval jöttél …], 1937; [Du kamst mit Stock …], 2005, D. Muth; [Íme, hát megleltem hazámat …], 1937; [Nun fand ich Heimat, endlich …], 2005, D. Muth) bezeugen – die Diskursivität des harmonisierten Klanges noch nicht der Destruktion der phänomenalen Sprache ausgeliefert hat.
VII.2.3 Abklang und Kontinuitätsbruch: Wege der Lyrik bis zur Wende der 1960er zu den 1970er Jahren In die Quere einer ungestörten dichtungsgeschichtlichen Entfaltung der spätmodernen Wende und der Umsetzung ihrer poetologischen Ansätze kamen in der unmittelbar darauffolgenden Periode jedoch schwerwiegende Umstände, die selbst zwar nicht primär literarischen Ursprungs waren, die Struktur der literarischen Öffentlichkeit jedoch nachteilig beeinflussten. Polarisierend wirkte sich nämlich allem voran die ‚äußere‘ Gegebenheit aus, dass sich die Widersprüche der ungarischen Gesellschaft ab Mitte der 1930er Jahre gravierend zuspitzten. Knapp 15 Jahre nach den generell als ungerecht empfundenen Trianon’schen ‚Friedensdiktaten‘ sah sich die politische Öffentlichkeit zu dieser Zeit mit fundamentalen Fragen der politischen Neuorientierung konfrontiert, wobei sogar das neue gemeinsame kleinstaatliche Ressentiment längerfristige Spaltungen erfuhr. Von Fragen der zögernd in Angriff genommenen Agrarreformen über die umfassende Erneuerung des Bildungswesens bis zur Modernisierung der indus-
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triellen Infrastrukturen häuften sich die Dilemmata einer in ihrer Identität tief verletzten Gesellschaft, für deren politische Führungskräfte sich nur ein äußerst enger Handlungsraum zwischen zwei großen kollektivistischen Ideologien auftat. Angesichts der 1919 kompromittierten linksliberalen Tradition und infolge der regionalen Isoliertheit fand sich die politische Führung des Landes sozusagen zwangsmäßig erneut an der Seite – des sich mittlerweile faschisierenden – Deutschlands wieder; von einem Bündnis war nach derzeitigem Ermessen allerdings allein die politische Wiedergutmachung einer historisch beispiellosen Ungerechtigkeit zu erhoffen. Da die Folgen der Vertiefung solcher soziokulturellen und politischen Bruchlinien ziemlich bald auch das literarische Leben erreichten, wurde teilweise auch dessen diskursiv-institutionelle Vielfalt in Mitleidenschaft gezogen. Selbst im Bereich der renommiertesten Literaturzeitschriften ging eine Art Polarisierung der unterschiedlichen Auffassungen über alternative Fragen der bürgerlich-europäischen und nationalen Modernisierung bzw. ihrer kulturmorphologischen Implikationen und (regional)politischen Konsequenzen vonstatten. Hinsichtlich des politisch-sozialen Potentials der möglichen kulturellen Problemlösungen gingen die Ansichten und Strategien der ausschlaggebenden literarischen Organe wie Nyugat, Szép Szó (Schönes Wort) oder Korunk (Unser Zeitalter) bzw. die von Válasz (Antwort) und Kelet Népe (Volk des Ostens) markant auseinander. Denn während diese anhaltend konträre politische Ideen aufgriffen, wirkten sich diese allmählich auch auf die gesamte Literaturszene der späten 1930er Jahre polarisierend aus. Indem nämlich um die ersten drei sich überwiegend die weltanschaulich linksliberalen Kreise mit international-humanistischen Wertpräferenzen gruppierten (urbánusok, Urbane), konzentrierten sich die politisch eher ‚volksnational‘ gesinnten Literaten (népiek, Volkstümler) um die Letzteren. Es gilt dabei jedoch mit Nachdruck festzuhalten, dass zwar mehrere herausragende Lyriker der Periode von Erdélyi bis Lőrinc Szabó von der politischen Polarisierung – manche wie etwa Attila József oder Gyula Illyés sogar wechselseitig – kurzfristig betroffen waren, diese drohende Deformierung jedoch den primär literarischen Strukturen keinen Abbruch tun konnte. Die Tatsache nämlich, dass trotz aller Polarisierung der literarischen Öffentlichkeit eigentlich alle bedeutenden Strömungen der Lyrik weiterhin ihre Stimme erhoben, spricht dafür, dass die augenfällige Vielfalt der frühen 1930er die spätmoderne Innovation zwar nicht gerade vorantrieb, aber doch bis zu den ersten Kriegsjahren erhalten blieb und somit zumindest die Möglichkeit einer potentiellen Neuentfaltung der mittlerweile abgebrochenen oder zumindest ins Stocken geratenen Ansätze hätte zeitigen können. Im Umfeld der dichtungsgeschichtlichen Wende der frühen 1930er Jahre ließ sich das späte klassisch-moderne Paradigma der Lyrik in ungestörter Kontinuität in mehreren Strängen anspruchsvoll weiterschreiben, allerdings ohne ernsthaf-
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tere innovative Geltungsansprüche. Fortgesetzt wurde genauso die dramatisch stilisierte Diktion spätromantisch-ästhetisierenden Charakters (Milán Füst) wie auch die gediegene, reservierte, elegisch-neobukolische Modalität des impersonell Bekenntnishaften (Miklós Radnóti). Zudem entfalteten sich in variabler Vielfalt lyrische Aussagestrategien, die vorzugsweise auf eine sozial artikulierte Dichterrolle bedacht waren, um einem öffentlich stummen Kollektiv – insbesondere dem mit dem Bauerntum identifizierten Volke – eine Stimme zu verleihen (Gyula Illyés, József Erdélyi, István Sinka). Eine besondere Stellung nimmt in diesem dynamischen Kontext die Lyrik des jung debütierenden Sándor Weöres (1913‒1989) ein, dessen Gedichte bereits ab 1932 in Nyugat erschienen und vor allem mit ihrer ungewohnt originellen Rollenauffassung und einer sich im artistischen Sprachmodus und -gebrauch sozusagen ‚abbildenden‘ kulturellen Vielschichtigkeit großes Aufsehen erregten (Ó-egyiptomi versek, 1932; Altägyptische Gedichte; Valse triste, 1932‒1934; Valse triste, 1978, B. Struzyk; Pastorale, 1936; Pastorale, 1978, A. Bostroem; A tündér, 1937; Pustefee, 1978, H. Kahlau; Theomachia, 1938; Kínai templom, 1940; Chinesischer Tempel, 1969, B. Frischmuth). Grundlegend und bestimmend blieb für sein gesamtes Schaffen der ursprünglich klassisch-moderne Überdruss am einheitlichen Bildungssubjekt des eurozentrischen Menschenbildes, dessen künstlerische Reflexion in Weöres’ Sprachauffassung wiederholt schwer auflösbare – künstlerisch jedoch nicht unbedingt unproduktive – Widersprüche hervorrief. Denn die Aussagestruktur der Texte baut sich sogar in seinen herausragendsten Gedichten oft um ein lyrisches Ich herum auf, das sich zwar jeweils den aktuellen Rollen angemessen uneingeschränkt multiplizieren kann, aber durchaus eine unerschütterlich zentrale Position innehat. Von dieser sich selbst genügsamen Situiertheit aus hält es – als das jeweilige Subjekt der Äußerung – eigentlich alle Bewegungsformen des Sprachlichen (von der sakral-gehobenen bis zur spielerisch-ironischen Modalität) wie auch die strukturellen Bauformen des Lyrischen (vom Sonett bis zum Epigramm) unter eigener Kontrolle, infolge dessen die Faszination der Versmelodik des Öfteren genauso wenig einem sich ins Werk setzenden Sprachgeschehen entspringt, wie auch die der erstaunlichen Magie der Worte. Vielmehr unterliegt hier die außerordentliche ästhetisch-poetische Wirkung des Lyrischen dem virtuosen Können eines omnipotenten Sprechers, der nicht so sehr aus der jeweiligen textrhetorischen Bewegung und der strukturellen Konfiguration der Aussage hervorgeht und sich mithin in der Lektüre als lyrisches Subjekt entpuppt, sondern seine schöpferische Potenz (und deshalb erscheint schließlich das Sprachgeschehen als Menschenwerk) eher im Anthropologischen erblicken lässt. In exemplarischer Schärfe äußert sich diese schöpferische Allmacht des Bekenntnissubjektes sogar auch in Ausnahmesituationen, in denen sich sein im Wesentlichen schließlich auf sich gestelltes Selbstbewusstsein in Kenntnis der eigenen Endlichkeit selbst
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mitten in einer spannungsvollen Selbstverfremdung zwischen Leib-Sein und Körperlichkeit (zwischen ‚materiell‘ gespürtem Leib und betätigt manipulierbarem Körper) in sich sozusagen reaffirmierend zu vergewissern hat: Végtelenül únom szünetlen zártságomat egy férfi-testben, percre sem múlik jelenléte, közös ágyban kell hálnom véle, érzem melegét, nyirkát, végig lábujjától hajgyökeréig, beleinek kacskaringóit, hím-rönkjét, meddő mellbimbóit, tüdő-tömlője tátogását, változékony szívdobogását, zsibbadt s hegyes fájásait, gyönyöre villanásait, szomjazását és éhezését, zsákként telését-ürülését, s benn ahány érzés, eszme kel, tudnom kell, bár nem érdekel. […] Minden ízinkje, porcikája örökre bakzana-zabálna s a mohón izzó pöttöm elme új tudnivalót mindig lelne: de én hús-kapcsokba róttan szorongok mint egy koporsóban. Míg él s lót-fut, halott vagyok, s ha ő nincs, megszabadulok, vissza, az Isten kegyelmébe, nem vagyok semminek se része, önmagammal nem osztozom testi vagy lelki koncokon, vagyok a gát nélküli bőség, az észrevétlen lehetőség aki mindent magába-fogva teljes kincsét szünetlen osztja. (Nocturnum, 1963; Weöres 1970, Bd. 2, 442) Ich habe es unendlich satt, andauernd / in meinem männlichen Leib geschlossen zu sein, / ich kann seine Gegenwart nie vergessen / und muß im selben Bett mit ihm schlafen, / ich spüre seine Wärme, seine Feuchtigkeit / von den Zehen bis an die Haarwurzeln, / und die Windungen seiner Gedärme, / den männlichen Stumpf, die überflüssigen Brustwarzen, / das Gähnen seines Lungenbeutels, / seinen unbeständigen Herzschlag, / den dumpfen und den scharfen Schmerz, / das Aufblitzen seiner Lust, / seinen Durst, seinen Hunger, / wie er sich füllt und leert, ein Sack, / und was an Emotionen und Ideen in ihm entsteht, / ich muß sie
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kennen, obwohl es mich nicht interessiert. […] Jedes seiner Glieder, jeder Knorpel / möchte stets fressen und bespringen / und sein gieriges kleines Gehirn / will stets auf neues Wissenswertes stoßen: / doch ich, gefesselt von den Sehnen, / bin eingezwängt in einen Sarg. / Solang er läuft und lebt, bin ich tot, / erst wenn er nicht mehr ist, bin ich frei, / mich zurück in Gott zu flüchten, / dann bin ich von nichts mehr ein Teil / und teile mich nicht mehr mit mir selbst / in leibliche und seelische Bissen, / dann bin ich die uneingeschränkte Fülle, / die unbemerkbare Möglichkeit, / der, der alles in sich schließt / und seinen ganzen Schatz stets teilt. (Nocturnum, 1969; Weöres 1991, 59–61, Ü: B. Frischmuth)
Wie die umrahmende Wiederholung der Inskription von stets („szünetlen“) und geschlossen/schließen („bezártság“/„magában-fogva“) auch hier zeigt, kommt bei Weöres den materiell-performativen Ereignissen des Textes eine außergewöhnliche Bedeutung zu. Seine immer wieder aufgegriffenen Experimente (u. a. auch in Nonsens-Sprache verfasste Texte) mit der visuellen und klangmateriellen Medialität der Lyrik gaben außerordentlich wichtige – und von der Forschung wohl bis heute nur unzureichend aufgedeckte – Anregungen für die neue lyrische Schreibweise der 1970/80er Jahre. Ohne die ‚agrammatikalen‘ Fremdheitseffekte der defekten und rudimentären Sprache von Kuli ([1931, 1967]; Kuli, 1991, R. Stauffer) wäre z. B. das originelle Sprachverwendungskonzept des für die ganze ungarische Gegenwartslyrik repräsentativen Gedichts Kormányeltörésben (1971; Im Steuerbruch) von István Domonkos – der zu jener Zeit in Újvidék (Neusatz, heute Novi Sad, Serbien) übrigens dem Kreis der Zeitschrift Új Symposion angehörte, wo Weöres als eine der literarischen Kultfiguren galt – sicherlich nicht denkbar gewesen: Kuli bot vág. Kuli megy megy csak guri-guri Riksa Autó Sárkányszekér Kuli húz riksa. Kuli húz autó. Kuli húz sárkányszekér csak guri-guri … (Kuli, Weöres 1970, Bd. 2, 515) Kuli Stock schlägt. / Kuli geht / geht / nur roll-roll / Rikscha / Auto / Drachenkarren / Kuli zieht Rikscha. / Kuli zieht Auto. / Kuli zieht Drachenkarren / nur roll-roll. (Kuli, Weöres 1991, 23, Ü: R. Stauffer)
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Obwohl der Einfluss von Weöres – der sein Werk 1972 mit dem diktional und formhistorisch äußerst komplexen Versroman Psyché krönte – auf die zeitgenössische ungarische Lyrik vor allem in der Technik sensibler oder ironischer Sprachspiele unumstritten nachvollziehbar ist, bleibt die zentrale wirkungsgeschichtliche Frage seiner Dichtung dennoch wohl weiterhin offen. Es ist poetologisch schwer zu entscheiden, ob es beim offensichtlich längerfristigen Ausbleiben der breiteren Wirkung dieses Klassikers, dessen Form- und Sprachkultur sich so recht nur an Arany oder Kosztolányi messen lässt, vorerst auf seine ambivalente Verknüpfung zur Poetik der Spätmoderne ankommt oder ob es um die verspätete Rezeptionswirkung einer Dichtkunst besonderer Größenordnung geht, deren modalem Reichtum, feinsinniger Formkultur und bildungsmaterieller Fülle die literarische Gegenwart noch nicht gewachsen war. Infolge der kommunistischen Machtübernahme von 1948 erfuhr die ab 1941/ 42 ohnehin stockende Kontinuität der neuen Lyrik einen drastischen und sich länger auswirkenden Einbruch. In der parteipolitischen Präferenzen unterstellten literarischen Öffentlichkeit wurden alle medialen und institutionellen Bedingungen der Autonomie von Literatur und ihrer inneren Wirkungsgeschichte mit administrativen Mitteln in rasantem Tempo abgeschafft. In den Monaten der deutschen Besatzung (1944/45) und des sich anschließenden rechtsextremen Terrors hatte das literarische Leben in seinem Alltagsbetrieb ähnlich rigorose Eingriffe erfahren. Eine bislang völlig unbekannte Literaturpolitik, in welcher die mit offener Gewalt durchgesetzten ideologischen Interessen eines totalitär-kollektivistischen weltanschaulichen Systems östlicher Prägung zum Maßstab erhoben wurden, übernahm bald die Kontrolle über jegliche Formen des literarischen Schreibens – von den politisch präferierten Themen bis zu den ideologisch zugelassenen Stilarten. Abtrünnige – unter ihnen die Mehrheit der bedeutendsten – Autoren der 1930/40er Jahre, die sich in dieses Gewaltsystem nicht eingliedern wollten, belegte die restriktive Kulturpolitik entweder mit Publikationsverbot oder zwang sie dazu, sich statt mit primär literarischen Tätigkeiten mit Kinderversen und Übersetzungen über Wasser zu halten, eventuell in Ausnahmefällen als Verlagsmitarbeiter tätig zu werden. Jeder aktive Auftritt gegen diese kulturell-politische Gewaltherrschaft kam strikt und exakt einer existentiellen Selbstverunmöglichung gleich. „Die Kommunisten wurden“, erinnert Sándor Márai an den unheilvollen Beginn dieser Umstände, obgleich sie so viel zu tun hatten, allmählich auf diejenigen Schriftsteller aufmerksam, die – ohne zwingenden Grund, von sich aus – schwiegen. […] Das war die Zeit, als ich begriff, daß ich Ungarn verlassen mußte – nicht nur, weil man mich nicht frei schreiben ließ, sondern vor allem und in erster Linie, weil ich nicht frei schweigen durfte. (Márai 2001, 283‒284)
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Nicht nur zeitgenössische Autoren wie Kassák, Weöres, Németh, Lőrinc Szabó und teils auch Illyés wurden durch die – nach seiner unrühmlichen Rolle während der Räterepublik von 1919 – anfangs erneut von Georg Lukács verantwortete Kulturpolitik gebrandmarkt, sondern selbst der klassisch-moderne Kanon der ungarischen Literatur fiel einer drastischen politischen Revision zum Opfer. In kürzester Zeit wurden aus der eingrenzend neu gezeichneten Tradition nicht nur moderne Klassiker wie Babits und Kosztolányi (dem Ágnes Heller, eine Schülerin von Lukács, unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1956 „angeborene(!) Charakterschwäche“, „Dekadenz“ und „moralischen Nihilismus“ [Heller 1957, 9, 21] nachsagte) entfernt, sondern selbst Klassiker des 19. Jahrhunderts (Vörösmarty, Kemény, Madách) kritisch auf ihre weltanschauliche Tauglichkeit hin überprüft und für die Öffentlichkeit nur selektiv zugänglich gemacht. In welch totaler Ausbreitung und mit welcher Gegenseitigkeit der Geist des Terrors selbst den Alltag einer ganzen Gemeinschaft verseuchen konnte, brachte das 1953 geschriebene, jedoch erst in den Tagen der Oktoberrevolution 1956 veröffentlichte Gedicht Egy mondat a zsarnokságról von Gyula Illyés mit äußerster Prägnanz auf den Punkt: Hol zsarnokság van, ott zsarnokság van nemcsak a puskacsőben, nemcsak a börtönökben, nemcsak a vallató szobákban, nemcsak az éjszakában kiáltó őr szavában, ott zsarnokság van […] a cellafal-fehéren bezáró hóesésben; az néz rád kutyád szemén át, s mert minden célban ott van, ott van a holnapodban, gondolatodban, minden mozdulatodban (Illyés 1993. Bd. 3, 451, 455) Wo es Tyrannei gibt, / dort herrscht Tyrannei, / nicht nur in den Gewehrläufen, / nicht nur in den Gefängnissen, // nicht nur in den Vernehmerzimmern, / nicht nur in den Nächten, / in den Worten brüllender Bullen, / Tyrannei herrscht dort // […] im Schneefall, der die Landschaft / zu einer weißen Zellenwand macht; / aus den Augen deines Hundes / blickt sie dich an, // und
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da sie gegenwärtig ist / in jedem Ziel, ist sie auch / morgen noch da, in deinen Gedanken, / in allem, was du tust (Ein Satz über die Tyrannei, Paetzke 1995, 167, 171, Ü: H.-H. Paetzke)
Da auf eine zumindest halbwegs funktionierende literarische Öffentlichkeit vor der Oktoberrevolution 1956 kaum zu erhoffen war, wurden organische Prozesse der lyrischen Wirkungsgeschichte nicht nur in ihrer Dynamik aufgehalten, sondern einfach abgebrochen. Dass eine eingeschränkte Kontinuität unter solchen Umständen überhaupt erhalten bleiben konnte, ist vornehmlich lyrischen Texten zu verdanken, die zwar in den 1950er Jahren geschrieben wurden, aber erst um 1960 veröffentlicht werden durften. Ohne dass sie tiefere dichtungsgeschichtliche Schichten des Lyrikgeschehens der 1930er Jahre erreicht oder getroffen hätten, zeichneten sich bemerkenswerte Veränderungen immerhin wohl in zwei Strängen der Gattungsgeschichte ab, in denen nach einem anderthalb Jahrzehnte langen Stillstand erneut lebendige – wenn auch nicht unbedingt prospektive – wirkungsgeschichtliche Interaktionen auflebten. Besonders beachtenswert ist dabei, dass das in manchen Bezügen an Celan erinnernde hermetische Paradigma der ungarischen Lyrik in den Texten von János Pilinszky (1921‒1981) am charakteristischsten auf die spätmoderne Bildgestaltung von Attila József zurückgriff und auch mit seiner Versgrammatik in einen fruchtbaren Dialog zu treten vermochte. Bereits in seinen frühen Gedichten fällt seine Fähigkeit zu atmosphärenreichen Stimmungs- und Ansichtseffekten auf (Távozó sereg, 1942; Abrückende Armee; A francia fogoly, 1947; Französischer Gefangener, 1971, E. Czjzek ‒ G. Fritsch), wobei der ‚Skandal des Jahrhunderts‘ – zwar niemals spektakulär thematisiert, aber – immer wieder im umfassenden Horizont eines apokalyptischen Endzustands evoziert wird. Weil in Pilinszkys glaubensphilosophischer Metaphysik dieses verschobene Weltgericht grundsätzlich unabwendbar erscheint, ist alle Form menschlichen Handelns von kosmischer Einsamkeit gezeichnet und unabänderlich vom Bewusstsein der Verlassenheit überschattet. Dieses ontologische So-Sein gehört bei ihm somit aufs Engste zur elementaren Anlegung des Humanen: Így indulok. Szemközt a pusztulással egy ember lépked hangtalan. Nincs semmije, árnyéka van. Meg botja van. Meg rabruhája van. […] Látja Isten, hogy állok a napon. Látja árnyam kövön és keritésen. Lélekzet nélkül látja állani árnyékomat a levegőtlen présben.
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Akkorra én már mint a kő vagyok; halott redő, ezer rovátka rajza, egy jó tenyérnyi törmelék akkorra már a teremtmények arca És könny helyett az arcokon a ráncok, csorog alá, csorog az üres árok. (Apokrif, 1956, Pilinszky 1992, 53) So breche ich auf. Ein Mensch schreitet lautlos ein / gegen die Vernichtung. / Er besitzt nichts, nur einen Schatten. / Und einen Stock. Und einen Sträflingsanzug. // […] // Gott sieht mich in der Sonne stehen. / Auf dem Stein und am Zaun sieht er mein Schemen. / Atemlos sieht er meinen Schatten / in einer stickigen Presse stehen. // Dann aber bin ich schon wie ein Stein; / ein toter Riß, eine Zeichnung von Tausend Kerben, / dann wird das Antlitz der Geschöpfe / eine reichliche Handvoll Schutt sein. // Und statt Tränen Falten in den Gesichtern / es rinnen, es rinnen die leeren Furchen. (Apokryph, Pilinszky 1989, 27, Ü: H.-H. Paetzke)
Obwohl die unnachahmlich attraktive Monotonie der ungeschmückt-reduzierten und optisch ‚unterbeleuchteten‘ Bilder bzw. der lakonisch wortkargen Sprache in veränderter Modulation die Erneuerungen von Attila József (etwa in Téli éjszaka, 1932; Winternacht, 2005, D. Muth, oder Reménytelenül, 1933; Hoffnungslos, 2005, D. Muth) weiterführt, rückt sie nicht in die Nähe des entmetaphysierten Sprachgebrauchs eines Paul Celan. Wie die späten Texte von Pilinszky, die sich zunehmend solcher elementarer Versformen bedienen, zeigen, mag dieser relevante dichtungsgeschichtliche Unterschied darin liegen, dass seine von Sprachvertrauen durchdrungenen Gedichte weniger dazu geeignet sind, semantisch in rätselhaften Konstellationen von ‚Sprachgittern‘ aufzugehen, die den jeweiligen textgestalterischen Intentionen die Macht der Unbotmäßigkeit der Sprache radikaler zu spüren geben. Dennoch übte Pilinszky, der in den 1970er Jahren als eine der literarischen Kultfiguren galt, auf die damals debütierenden Dichtergenerationen eine außergewöhnlich starke Wirkung aus. Deren bedeutendste Autoren schafften es nun (wenn auch einigermaßen verspätet), wichtige Komponenten des Hermetismus Pilinszky’schen Charakters mit Erfolg in die Lyrik der Neuen Sensibilität zu überführen. Hinsichtlich der durch kulturpolitische Umstände (begrenzte Öffentlichkeit) und Mittel (Publikationsverbot) verzögerten Vollendung des ungarischen Hermetismus erging es auch der abstrakt-gegenständlichen Lyrik von Ágnes Nemes Nagy (1921‒1991) ähnlich. Indem bei Pilinszky die tragisch-feierlichen sprachrhetorischen Effekte einer vorweggenommenen Endzeitlichkeit kontinuierlich für die modalen Strukturen der Aussage konstitutiv blieben, ist der Spielraum der lyrischen Äußerungsmodi bei Nemes Nagy weniger eingeengt und vordefiniert. Da die von der – übrigens auch bei ihr – transzendierten Struktur der Seins-
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erfahrung herrührende Situiertheit des Menschen sich hier nicht statisch ins ‚diesseitige‘ Abbild eines reglosen Universums einfügt, entspringen die statischen Effekte dieser Situiertheit – wie es sehr oft auch bei Ingeborg Bachmann der Fall ist – vielmehr einer plötzlich zum Stillstand gebrachten Dynamik, wie auch in einem ihrer bekanntesten Gedichte Ekhnáton az égben (1967; Echnaton im Himmel, 1986, P. Kárpáti – F. Fühmann): … És aztán néhány talpfa csak, mint néhány zökkenő lépés előre – a tisztáson megáll a nap. Ott délelőtt. Ott nagy növények. Ott nem mozdul a nagy kamilla-rét, közötte néhány vasdarab, fölötte lépes sűrűség, fehér-küllős növény-napokkal hullámtalan Tejút és semmi szél. Mindig. Örökre. Dél. (Nemes Nagy 1997, 107) Und dann, nur ein paar Schwellen, / wie ein paar Holperschritte vorwärts, / bleibt in der Lichtung die Sonne stehen. // Dort ist Vormittag. Dort sind große Pflanzen. / Dort reglos die große Kamillen-Wiese, / dazwischen ein paar Eisenstücke, / darüber leimhaft zähes Fließen / mit weiß-speichigen Pflanzen-Sonnen. / Milchstraße wellenlos. Kein Wind regt sich. / Mittag. Für immer. Ewiglich. (Nemes Nagy 1986, 52–53)
Indem am Text exakt die Spuren der technisch-kinetischen Bildgestaltung József’schen Charakters erkennbar sind, wird zugleich ersichtlich, dass die für Nemes Nagy so typische Redesituation hier einer einschneidenden Textualisierung des Aussagesubjektes zwar klare Grenzen setzt, die impersonale Stimme nun der sachlich-säkularen Sprache jedoch eine Art ‚diesseitige‘ Dignität verleiht, an die sich die Lyrikergeneration der 1970er Jahre – zumindest längerfristig betrachtet – einen leichteren Anschluss verschaffen konnte als an die von Pilinszky geprägte Tradition des Hermetismus. Dass dies wirkungsgeschichtlich der Fall war, zeigt sich auch daran, dass sich selbst Dezső Tandori, der wohl bedeutendste Lyriker der ungarischen Nachmoderne, in der Frühphase seines Schaffens überwiegend nach den poetologischen Prinzipien des Nemes Nagy’schen Hermetismus richtete. Auf einem anderen Strang der Wirkungsgeschichte gewann ein (ursprünglich) volksliterarisches Muster der lyrischen Tradition die Oberhand, dessen variantenreiche Vielfalt ebenfalls erst in den 1960/70er Jahren zur ihrer vollen Entfaltung gelangte und in zwei Varianten von kollektiv-persönlicher Modalität der Stimme eine grundlegend innovative Umgestaltung erfuhr. Den spätromanti-
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schen Bekenntnischarakter der einem Kollektiv verliehenen Stimme erneuerte Ferenc Juhász (1928‒) über die modernisierte Neuschreibung von Gattungen (Lieder, Versepik, lange Gedichte mit epischem Charakter, Sagen und Balladen), indem er nicht nur ihre Registerstruktur, sondern auch ihren Wortschatz und ihre Grammatik neu formte. 1955 bediente sich eines seiner Meisterwerke A szarvassá változott fiú kiáltozásai a titkok kapujából (Das Rufen des in einen Hirsch verwandelten Jünglings aus dem Tor der Geheimnisse, 1965, P. Kruntorad; 1987, M. Bischof) nach dem Vorbild von József Erdélyis A szarvassá vált fiúk (1930; Die in Hirsche verwandelten Jünglinge) und Bartóks Cantata Profana (1930; Erstauff. 1934) einer rumänischen Volksballade; in Juhász’ Gedicht übertrafen die überwältigende Bilderflut und die rhetorisch neu belebten Archaismen des Stils die visuellen und akustischen Kodes der damaligen ungarischen Lyrik bei Weitem. Wenngleich es das Subjekt dieser Lyrik selbst in Gedichten, die weniger an die volksliterarische Tradition anknüpfen, nicht unterlässt, sich textuell als unverrückbarer Emanationspunkt der Aussage zu inszenieren, büßt es doch einen nicht unwesentlichen Anteil seiner früheren rhetorischen Redesicherheit ein und findet sich erst mitten in einer dramatischen Orientierungssuche und den Dichotomien einer konsequenten/verunsicherten Identitätsfindung wieder (Babonák napja, csütörtök: amikor a legnehezebb, 1963; Tag des Aberglaubens, donnerstags, wenn es am schwersten ist, 1966, P. Kruntorad). Die Lyrik von László Nagy (1925‒1978), der zunächst eine Juhász ähnliche Laufbahn einschlug, war von Anfang an anders orchestriert, insbesondere was die Verbindung mit der volkslyrischen Tradition betrifft. Trotz starker visueller Effekte und manchem appellativem Pathos unterhält sein frühes Schaffen nämlich eine wesentlich engere Beziehung zu Erdélyis reineren und elementareren Liedformen. Während sich Juhász bald aber einer polyphonisierenden Neuschreibung von traditionell einstimmigen epikolyrischen Mustern widmete, wurde bei Nagy bis in die 1960er Jahre über reiche Modulierungen nun den (nahezu singbaren) Kurzformen Vorrang eingeräumt. Ton und Klang werden dabei zwar über sorgfältig proportionierte Elementarstrukturen der Semantik und Grammatik ‚auskomponiert‘, das Ich der Aussage aber bleibt wiederum dem Bekenntnishaften zugetan – nicht selten mit rollenlyrischer Prägung, wie auch in seinem HirschGedicht mit archaischer Rhythmik aus dem Jahre 1946: ha sietek lemaradok csodafiú-szarvas hiába vagyok, hiába vagyok. Deresen, havasan eljön a karácsony,
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csodafiú-szarvas föláll az oltáron, szép agancsa gyúlva gyullad: gyertya tizenhárom, gyertya tizenhárom. (Csodafiu-szarvas, Nagy, László 1988, 89) eile ich, bleib ich zurück, / Wundersohn-Hirsch, / bin ich vergeblich, / bin ich vergeblich. // Mit Schnee und Rauhreif / ist Weihnacht gekommen, / Wundersohn-Hirsch / am Altar aufgestanden, / hoch loht sein Geweih, das schöne / dreizehn Kerzenflammen, / dreizehn Kerzenflammen. (Wundersohn-Hirsch, Ü: Ch. Kunze)
Der die vorausgehende Dynamik des Versgeschehens plötzlich in einem symbolträchtigen Standbild einfrierende Abschluss verleiht den besten Gedichten von László Nagy einen unverwechselbar individuellen Gesamtcharakter: Klang und Rhythmus, Ton und Bild fügen sich dabei – sozusagen ineins verschmolzen – zu einer unauflösbaren Einheit von Semantischem und Sinnlichem, in deren elementarer Anredekraft die ‚Materialität‘ der Stimmung sich weder vom modalen Wie des Gesagtseins noch vom kognitiven Geschehen trennen lässt. Diese Art elementarer Synthetisierung von Bedeutungs- und Wahrnehmungseffekten ist zuweilen sogar längeren, dramatisierten Gedichten eigentümlich, in denen es der Komposition gelingt, trotz der bekenntnishaften Grundmodalität der Aussage Spannungen zwischen verschiedenen sozialen oder moralischen Wertformen zu thematisieren und ihre Konflikte und Gegensätze im Wechselspiel von diversen Sprachverhaltensweisen und differenten Sprachregistern poetisch auszutragen (Gyöngyszoknya, 1953; Perlenrock; Menyegző, 1964; Hochzeit).
VII.3 Laterale Strukturbildung und konfigurative Ich-Konzepte: Erzählprosa in der Spätmoderne Wenngleich die Epochenerfahrung in der Erzählprosa um 1929/30 wohl die gleiche innere Diskontinuität in der diskursiv-medialen Ordnung des Wahrnehmungsgeschehens zeigte, schlug sich der sich daraus ergebende poetologische Wandel sowohl in der narrativen Gestaltung wie auch in der Erzählmodalität freilich anders nieder als in der Struktur und den Modi der lyrischen Aussage. Gemäß den gattungsspezifischen Unterschieden wirkten sich dabei nicht nur die strukturellen Folgen der zum Stillstand gekommenen Bewegung der allegorischen Armatur der (klassischen) Moderne, sondern auch die der historisch größten Krise des Eurosubjektes in beiden Textsorten unterschiedlich aus. Denn indem auch für die Erzählprosa der 1930er Jahre durchaus ausschlaggebend
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blieb, dass die Abkehr vom permanenten Innovationszwang nicht gleich das ganze Erneuerungspotential des modernen Erzählens (und somit die Weiterführung von nicht-realistischen, areferentiellen Schreibformen) generell in Mitleidenschaft zog, führte der Weg hin zu einer in der sprachmedialen Erfahrung der neuen Epochenschwelle fundierten Erzählung augenscheinlich jedoch erst über eine grundlegende Revision der überkommenen zentrierten Erzählstrukturen. Bereits in den 1920er Jahren legt Musil die Einsicht nahe, dass „auch der unabhängigste Schriftsteller nichts hervorbringe, was sich nicht fast restlos als abhängig von Überlieferungen der Form und des Inhalts nachweisen ließe, die er in sich aufgenommen hat, was aber andererseits, wie es scheint, seiner Ursprünglichkeit und persönlichen Bedeutung gar keinen Abbruch tut“ (Musil 1955, 700). Diese moderate Einstellung zum Innovationsprinzip forcierte eher die Neustellung der Fragen nach inneren (‚räumlichen‘) Zusammenhängen des Epischen und zeigte einen Weg insbesondere zu Romanen und Novellen auf, die – anstatt ihren narrativen Zusammenhalt von den strukturbildenden Fähigkeiten eines extradiegetisch agierenden Erzählers (der selbst nicht der Welt der Erzählung angehört, siehe Genette 1994, 178) zu gewinnen – durch bewussten Verzicht auf einen integrierenden Mittelpunkt nun Formen der sprachlich-narrativen Konsistenz entwickelten, in denen das Situationsbewusstsein der Epochenschwelle zum Tragen kam, und die nicht mehr aus den tradierten Diskursregeln des temporalen plot-making (Chatman 1993, 19) hervorgingen. In den poetologischen Reflexionen und maßgeblichen Folgerungen der Klassiker dieser Periode stellt sich dabei klar heraus, dass, was nach ihrer Auffassung auf dem Spiel stand, nichts Geringeres als die Aufrechterhaltung der Integrität des Erzählbaren selbst war. Das heißt, es ging insbesondere in denjenigen Fällen um den höchsten Einsatz, in denen inmitten der den diskursiv-sprachlichen Erzählakten überlassenen homo- und intradiegetischen Strukturbildung die epische Erzähldynamik ihren narrativen Charakter ohne Zerfall des ganzen Erzählbaus zu bewahren hatte. Es darf also nicht verwundern, dass die herausragendsten Erzähler der Zeit sich nicht so sehr von der überwucherten Geschichte oder dem zersplitterten epischen Vorgang herausgefordert sahen, sondern vielmehr darauf bedacht waren, das grundsätzlich lineare raumzeitliche Kontinuum der Erzählung zu suspendieren und dessen konstitutive Elemente über eine neue Anordnung in flexiblere, dezentrierte und laterale (d. h. eher in statischere) Strukturen zu transformieren. Nicht zufällig kreisen die Reflexionen der zeitgenössischen Erzähler – vom kontrastreichen epischen Gefüge bis zur hybriden Ganzheit der „Redevielfalt“ (Bachtin 1979, 290) – um das Problem der chronotopischen Strukturfragen des Erzählens, statt auf dem Vorgangscharakter eines motivierten narrativen Kontinuums zu insistieren. „Man hat praktische Gründe, dies Hintereinander gut zu studieren“, schreibt Döblin 1933, „[a]ber darüber hinaus ist noch
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der Zusammenhang des Nebeneinander, der Gleichzeitigkeit, die Aneinanderreihung im ausgefüllten Inhalt des Jetzt zu bedenken“ (Döblin 1964, 216). In äußerster Schärfe vertieft sich diese Beobachtung bei Musil, ans Anthropologische geknüpft, zu einer fundamentalen episteme-historischen Erfahrung, die dann für die ganze weitere Geschichte der spätmodernen Prosa konstitutiv bleibt. Denn angesichts der diffusen, fragmentierten und jeder systematischen Verfestigung sich entziehenden Wahrnehmungsinhalte, so Musil, gilt es weder nach klassisch-modernen Mustern „genießend“ noch avantgardistisch „material“ vorzugehen. Im heutigen „aufgelösten Zustand“ kommt es sachlich und rein technisch gesehen allein darauf an, „das Verhalten ohne Gesetze zu regeln“: „Ihr werdet es erst verstehen, wenn Ihr Einheitsformeln nicht mehr erwartet“ (Musil 1955, 281). Tatsächlich gehen beinahe alle authentischen Verfahren und Methoden der Erzähltechnik, die (von den sinnschaffenden Effekten über die Entfabelung des epischen Vorgangs bis zur Neufokalisierung des Erzählten) in den kanonisch gewordenen narrativen Texten der sich erst um 1970 abschließenden Periode innovative Anwendung fanden, dezidiert auf diese erneuerte Einstellung zu den möglichen strukturbildenden Regeln des epischen Baus zurück. Diese sich allmählich entfaltende, umfassende Diskursivierung des Erzählens, die für Musil als künstlerische Antwort auf die Herausforderungen einer „unerzählerisch gewordenen“ Welt galt, „nicht mehr einem ‚Faden‘ folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet“ (Der Mann ohne Eigenschaften). Dem angemessen, ändern sich auch die Subjektkonstrukte der spätmodernen Erzählkunst, die in der sogenannten temporalen Tiefenstruktur der Persönlichkeit der epischen Protagonisten nicht mehr das Resultat von additiv erlebten oder sich zeitlich anhäufenden Erfahrungen eines individuellen und unverwechselbaren Lebenslaufs zur Anschauung bringen, sondern sich eher nach Nietzsches epochaler Beobachtung richten. Wenn die Individualität eines jeden Ego sich nämlich nicht aus der Gesamtheit der auf es einwirkenden Kräfte und Effekte ergibt, so „[erweist sich] das Ich […] als etwas Werdendes“ (Nietzsche 1999, Bd. 12, 314), dessen Integrität sich nicht mehr innerhalb der anthropologischen Muster der Bildungsromane denken lässt. Selbst Sándor Márai, der in der souveränen Persönlichkeit des Eurosubjektes „den Sinn der Beziehungen zum Leben“ schlechthin sah, besann sich wiederholt auf die rätselhafte Unzugänglichkeit der Persönlichkeit als tätiger Schnittstelle zwischen affiziertem Selbst und dessen immateriellem Bewusstsein. Denn, so Márai in Föld, föld! … (1972; Land, Land, 2001, H. Skirecki), es gebe die Persönlichkeit als Ich ja mehrfach, „nicht nur als persönliche Bewußtheit, nicht nur als Über-Ich, sondern auch als ein von unserer Persönlichkeit unabhängiges Ich, von dem wir nichts Sicheres wissen und lediglich vermuten, daß es sich im schicksalhaften Augenblick zu Wort meldet und die Entscheidung trifft“.
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Dem überraschend konfigurativen Konzept von der Persönlichkeit angemessen „[gehört] dieses Ich […] keinem, nicht einmal dem Bewußtsein“ (Márai 2001, 294). Angesichts der so ins Wanken geratenen linear-integrativen Grundstrukturen des Erzählens verstärkte sich allmählich die Einsicht, dass die nach den lateralen Regeln der Entfabelung entwickelten narrativen Strukturen viel mehr effektive Inhalte der neuen Epochenerfahrung in sich aufnehmen als Erzählformen, die das fingierte Gesamtgeschehen der Erzählung im Horizont einer von der Subjektivität her verstandenen Welt simulativ herstellen und es in monofokaler Perspektive zugänglich machen. Infolge der neuen Regeln der lateral differierenden, enthierarchisierten und resonanzoffenen Gestaltung gewinnt nämlich selbst das Gesamtgeschehen einen völlig neuen poetologischen Status. Denn indem die strukturbildenden Erzählakte konstitutiv der dynamischen Gegenseitigkeit eines Wechselspiels von narrativen, diskursiven und sprachrhetorischen Momenten der Darbietung entspringen, bildet sich die ‚flächenartig‘ verwobene epische Welt über ständig interferierende Impulse von Rhythmik und Modalität in einer selbsttätigen und selbstbildenden Form sozusagen ‚autogenetisch‘ heraus. Da die traditionelle hermeneutische Hierarchie von Narration, in welcher die das Geschehen interpretierende Geschichte ständig der Erzählung untergeordnet bleibt, generell über Bord geworfen wird, entgeht dem Erzählsubjekt auch die Möglichkeit, die eigenen Interpretationen verbindlich den Ereignissen voranzustellen. Parallel dazu, dass somit die Unverbindlichkeit der in diversen Formen der entpersönlichten Narration anhaftenden Sichtweise zu Tage tritt, finden die das jeweilige Geschehen komplex konditionierenden Interferenzen und Konfigurationen der Formbildung einen höchst wirksamen Eingang in die endgültige Gestalt des Erzählwerks. Dies entspricht völlig der sich spätestens seit Nietzsche formierenden, erst aber diesseits der spätmodernen Epochenschwelle erfolgten Neuartikulierung des menschlichen In-der-Welt-Seins und seiner Beziehung zur sich ereignenden Geschichtlichkeit als Geschehen, in welcher das Subjekt nicht mehr als Urheber der Geschehnisse agiert und es mit der Welt ‚um es herum‘ nicht mehr so bestellt ist, als wenn sie vom Ursprung her sein ‚humanbezogener‘ Lebens- und Handlungsraum wäre. „Auch der einzelne Mensch ist als Einzelner“, schreibt Heidegger 1939, „immer schon und immer nur dieser: der zum Mitmenschen sich Verhaltende, von den Dingen Umwaltete“ (Heidegger 19895, 577). Das allem zuvor so betrachtete volle Wesen des Menschen konnte den neuen Formen der ästhetischen Erfassung medial (also nicht mehr vom Subjekt ausgehend) dazu verhelfen, dieses Subjekt über seine Einmaligkeit hinaus so in Ansatz zu bringen, dass sogar das Worinsein seiner Subjektivität erst über diese seine konfigurativ ‚vernetzte‘ Situiertheit und seine Zugehörigkeit zum Geschehen in Erfahrung gebracht werden kann.
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Die oben skizzierten Veränderungen im poetologischen Diskurs des Epischen verliehen den Prosawerken, die später wohl zum unumstrittenen Wahrzeichen der Epoche wurden, nun bei Weitem keinen einheitlichen narrativen Charakter. Die Texte von Joyce oder Musil beteiligen sich in ganz anderem Maße etwa an der Aufhebung der narrativen Kontinuität als die Célines oder Thomas Manns. Döblin folgte völlig anderen Regeln des epischen Baus als etwa Faulkner, und auch die Herstellungsmodi der Erzähldiegese laufen bei Kafka krass denen von Virginia Woolf zuwider. Gemeinsame Tendenzen zeichnen sich in der Wirkungsgeschichte der spätmodernen Epik jedoch klar in dem prosapoetischen Zusammenhang ab, dass es in den markantesten Werken dieser Periode nun nicht primär darum ging, über simulative Techniken fiktive Abbilder der Erfahrungswirklichkeit zu entwerfen, sondern der Rezeption – um über die mediale Vermitteltheit jeder ästhetisch-poetischen Lektüreerfahrung nicht mehr hinwegzutäuschen – statt des Darstellungscharakters eher den medialen Schaffenscharakter des sprachkünstlerischen Erzählwerkes zuteilwerden zu lassen. Mit der schreibkünstlerischen Erkenntnis (die nicht mehr die frühere ‚Virtuosität‘ des Schreibens oder die artistische Meisterleistung von ‚Stilkünstlern‘ des l’art pour l’art meint) also, dass die Erzählung selbst auch ein Sprachfaktum sei und die Sprache Bedeutungen ohne Nachahmung übermittele, kam der lingustic turn auch in der Erzählkunst zum Durchbruch. Die Einsicht, dass die Erzählung die Geschichte, die sie erzählt, nicht darstellen oder ‚zeigen‘ kann, höchstens eine Illusion deren Nachahmung zu schaffen vermag, kam als Strukturprinzip in der ungarischen Prosa erst zögernd zur Geltung. In der Wirkungsgeschichte der ungarischen Prosa der Moderne erwies sich die Schwerkraft der traditionsträchtigen mimetischen Erzählstrategien nämlich als fester verankert als die der bekenntnishaften Innerlichkeit in der lyrischen Gattung. Da die ungarische Romantik, nicht zuletzt aus sozialhistorischen Gründen, eher an der Heidelberger Romantik orientiert war, konnten die nichtmimetischen Muster der romantischen Prosa etwa von E.T.A. Hoffmann oder Ludwig Tieck weder rechtzeitig noch konstitutiv ins sich gerade herausbildende System der nachklassizistischen/nachsentimentalistischen Erzählliteratur der frühbürgerlichen Periode des ungarischen ‚Vormärz‘ eingebunden werden. Denn während die romantische Erzählprosa zwischen Jósika und dem jahrzehntelang äußerst populären Jókai zwar vornehmlich von wendungsreichen Geschichten der phantasievollen Fabelführung Scott’schen (und teils Sue’schen) Charakters geprägt war, bediente sich die epische Verlebendigung selbst der entferntesten Zeiten und historischen Kulissen dabei der gleichen narrativen Verfahren, die überwiegend der rezeptiven Illusion einer unmittelbaren Zugänglichkeit des Erzählten dienen. Demgemäß überragte selbst im nichtmimetischen Paradigma der ungarischen Epik des 19. Jahrhunderts eine kontinuierlich voranschreitende
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Erzählweise, die den narrativen Inhalt des epischen Werkes – in Ausnahmefällen selbst bei Zsigmond Kemény – über Techniken der metonymischen Erzählung herstellte, d. h. die sprachmedialen Konstituenten der ästhetischen Erfahrung der Kunstprosa wiederholt den Referenzbezügen preisgab. Dies war auch in Prosawerken der Fall, die, zweifelsohne einen progressiveren wirkungsgeschichtlichen Weg einschlagend, gelegentlich bestimmte Formen der unterbrochenen Narrative vorzogen oder von der mehrsträngigen, nichtchronologischen oder ‚unzuverlässigen‘ Erzählung mit Ebenenwechsel zwischen Geschichte und Diskursrahmen Gebrauch machten (Kemény, Asbóth, Krúdy, Csáth). Zwischen Keménys frühem Versuch, der ‚traumromantischen‘ Geschichte von Alhikmet, a vén törpe (1853; Alhikmet, der alte Zwerg) und Miklós Szentkuthys (eher als Experiment relevantem) Prae (1934) vermochte die metaphorische Schreibweise sich innerhalb eines vollen Romantextes wohl kaum unumstrittene Geltung zu verschaffen. Die Diegese also, die Genette als das jeweils sprachlich vermittelte „Universum“ des Erzählwerkes beschrieb, in dem die Geschichte „raumzeitlich“ spielt (Genette 1994, 201), hatte bereits von ihrer assertiv ‚veräußerlichten‘ Gestaltung her kontinuierlich eine Position in der literarischen Kommunikation zwischen Text und Leser inne, die durch die Anschaulichkeit der Darstellungseffekte ihre sprachliche Verfasstheit ausgesprochen transparent machte. Indem die Diegese (sozusagen gegen sich selbst gewendet) den Inhalt der Narration wiederkehrend als ein weltartiges Kontinuum hervortreten ließ, tilgte sie unweigerlich die Effekte der sprachmedialen Vermitteltheit des Erzählten, statt sie zu verstärken. Die allerdings seit Krúdy wieder aufgenommene sporadische Tradition der metaphorischen Schreibweise verstärkte sich nicht zuletzt mit Unterstützung des linguistic turn. Die metaphorische Schreibweise (Jakobson 1979, 93‒ 94), die die Referenzbezüge der epischen Darbietung (auf)lockert, war nicht primär oder generell dazu berufen, die Lektüre in der Permanenz der von aller Referentialität abgekoppelten Ähnlichkeits- und Kontiguitätsbezüge aufgehen zu lassen. Da die prosaischen Metaphern erzählgrammatisch zunächst die indirekte Zuordnung von sprachlichen Bedeutungen zu fiktionsrealen Konstellationen erschweren, lässt diese Schreibweise ‚plotfremde‘ Bedingungen der Bedeutungsbildung ins Spiel kommen, die nicht mehr entlang der syntagmatischen Achse eines geschlossen motivierten narrativen Nacheinanders auftreten, sondern an der paradigmatischen Achse der sprachlich evozierten Bedeutungsverbindungen. Das so ins Werk gesetzte nichtlineare System von Ähnlichkeiten und Gegensätzen zergliedert die fortschreitende Ordnung des Erzählkontinuums und vermag damit die literaturfremde Pragmatisierung der auch auf die außerfiktionale Welt beziehbaren Bedeutungen durch strukturinterne Bedeutungsbezüge wettzumachen. Diese Art metaphorischer Gestaltung des epischen Vorgangs kann durchaus auch strukturbildend werden, wenn ihre zirkulären, replikativen bzw. repetitiven oder
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parallelen Konfigurationen die prozessuale Nachvollziehbarkeit der Bedeutungsordnung überschreiben. Dem spätmodernen Erzählen ging es dabei also nicht um die Außer-Kraft-Setzung der literarischen Referentialität, sondern um die erzählpoetischen Möglichkeiten, vornehmlich spätrealistischen Rezeptionshaltungen entgegenzuwirken. Diesen letzteren lag es generell nicht fern, Aussagen und Bedeutungselemente des Erzähltextes als Teile eines ästhetisch autonomen Systems unmittelbar in dessen Umwelt, also in die außerliterarische Wirklichkeit zu überführen. Zu den symptomatischen Zügen der ungarischen Prosa der spätmodernen Periode gehört jedoch ihre zwiespältige Beziehung zur metaphorischen Schreibweise. Denn selbst in Werken, denen unverkennbare Tendenzen der metaphorischen Gestaltung eigen waren, ließ sich die Dominanz eines integrierenden Erzählkontinuums nicht in seinen Grundfesten erschüttern. Dies soll nicht heißen, dass die strukturelle Anordnung und temporale Regelung der narrativen Informationen unbedingt einem allwissend-omnipotenten Erzähler zukämen. Als bestimmend erweist sich vielmehr die konsistenzbildende Kraft einer kontinuierlichen Narration jedoch selbst in Werken, deren Zeitgerüst durch wiederholte Vor- und Rückgriffe alinear gestaltet ist und deren Strukturbildung entweder durch unzuverlässige Erzählsituationen oder wechselnde Fokalisierungen des Erzählten eine beachtliche Relativierung erfahren. Solche Strukturprinzipien behalten sogar bei jenem Kosztolányi in den 1930er Jahren die Oberhand, der in seiner Lyrik wichtige Konsequenzen der Unhintergehbarkeit der sprachrhetorischen Bedeutungsbildung konstitutiv verwendete. Wie in seinen Romanen, so konnte er sich auch in seinem höchst rätselhaften späten Novellenzyklus (Esti Kornél) – in dem sich seine fingierten Erzähler ständig zu den Prinzipien des sprachlichen Relativismus und zur essentiellen Teilung der Persönlichkeit bekennen – von den erzählpoetischen Prämissen einer weltartigen Gestaltung des epischen Vorgangs nicht vollends lösen. Selbst in der viel zitierten Geschichte des bulgarischen Schaffners aus dem neunten Kapitel (1932) des Zyklus wird der sprachliche Relativismus eher semantisch demonstriert als in der sprachrhetorischen Gestaltung der Novelle geltend gemacht: Die Erzählung vermag die Allmacht der kommunikativen Sprachmodalitäten nichtsemantischer Herkunft auch hier nur zu thematisieren, anstatt sie struktur- und diskursbildend auf die Inszenierung der Geschichte einwirken zu lassen. Die wichtigsten Zeiterfahrungen, die zu den obigen generellen Änderungen im Romangeschehen der 1930er Jahre führten, werden in seinen Werken – in wohl bedenklicher Nähe zum Repräsentationsdiskurs der Epik des späten 19. Jahrhunderts – zumeist eher thematisiert und semantisch-referentiell reflektiert. Während also die Lyrik der 1930er Jahre die ‚sprachmediale Wende‘ der großen europäischen Literaturen auf unverwechselbar originelle Weise mit vollzog, gelang es der ungarischen Epik eher wenig, den musterbildenden neuen
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Prosamodellen der Epoche gerecht zu werden. Trotz bemerkenswerter Erneuerungen im Bereich der autobiographischen Erzählung (Márai) oder des auf statuenartige Figuren zentrierten Persönlichkeitsromans, dessen Subjektkonstrukte auf mythologisch-archetypischen Mustern beruhen (László Németh), konnte die ungarische Kunstprosa kaum Leistungen hervorbringen, die sich etwa an Brochs Der Tod des Vergil (1945), Jahnns unvollendetem Perrudja (Teil I, 1929), Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930‒1943) oder insbesondere an Joyces Finnegans Wake (1939) messen ließen. Dies bedeutet wiederum nicht, dass das prosapoetische Spektrum der nennenswerten Werke nicht breit genug oder lückenhaft gewesen wäre. Längerfristig gesehen scheint sich jedoch zu bestätigen, dass selbst von Werken, denen – vom naiv-magischen Spätrealismus mit leicht surrealistischen Zügen (Áron Tamási [1897‒1966]: Ábel a rengetegben, 1932; Abel in der Wildnis, 1957, G. Harmat, dessen Szűzmáriás királyfi [1928] kein Geringerer als Hans Henny Jahnn mit Hilfe von J. Kárász ins Deutsche übersetzte [Ein Königssohn der Szekler, 1941]) bis zum experimentellen Roman Joyce’scher Art (Miklós Szentkuthy [1908–1988]: Prae, 1934) – zu ihrer Zeit ein bestimmter Seltenheitswert zukam, erst recht wenige wirkungsgeschichtliche Impulse ausgingen. Die damalige gattungsgeschichtliche Situation gewann weiterhin auch dadurch an Komplexität, dass in der literarisch-kulturpolitischen Öffentlichkeit der 1930er Jahre eine ‚halbliterarische‘ Gattung, die sogenannte ‚soziographische Prosa‘ wohl am lebendigsten rezipiert wurde. Verfasser soziographischer Berichte aus den verschiedenen Regionen des Landes zählten sogar regelmäßig zu den populärsten Autoren der ersten kleinen Büchermessen, der in Ungarn seit 1929 jährlich stattfindenden Buchtage bzw. Buchwochen. Die später breit angeeigneten Grundmuster wurden von bekannten Erzählern der Zeit wie Lajos Nagy ([1883‒ 1954], Kiskunhalom, 1934), Gyula Illyés (Puszták népe, 1934‒1936; Pusztavolk, 1947; Die Puszta, 1999, T. Podmaniczky) und János Kodolányi ([1899–1969], Baranyai utazás, 1941, Reise in der Baranya) bzw. empirischen Sozialforschern wie Imre Kovács ([1913‒1980], Néma forradalom, 1937; Stumme Revolution) oder Zoltán Szabó ([1912‒1984, A tardi helyzet, 1937; Die Lage in Tard) ausgeprägt. Diese mehrheitlich gesellschaftspolitisch engagierten Schriften der Volkstümler vermieden bewusst die Verfahren der ‚poetischen Prosa‘ und bedienten sich einer Art narrativer ‚Mischgattung‘ zwischen Kunstprosa und Tatsachenbericht. Mit starker erkenntnis- und darstellungsorientierter Akzentuierung lieferten sie nicht selten erschütternd-aufrührende Belege zu den sozialen, mentalen und kulturellen Zuständen der verarmten Bauernschichten, die (infolge der ungelösten Fragen der seit Längerem fälligen Agrarreform) beinahe rechtlos ausgeliefert auf Großgrundbesitzen arbeiten mussten. Zur eigenartigen Geschichte der Gattung gehört nun die Tatsache, dass diese nicht plot-orientierte epische Sachlichkeit – ohne scheinbar nachweisliche er-
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zählpoetische Wirkungen auszustrahlen – nicht nur in der sozialkritisch ausgerichteten ‚soziographischen Welle‘ der 1960/70er Jahre (Sándor Csoóri: Tudósítás a toronyból, 1963; Bericht aus dem Turm; Zsolt Csalog: Kilenc cigány, 1976; Neun Zigeuner) wieder innovativ auftauchte, sondern über reiche erzähltechnische Modulierungen selbst in den 1990ern eine überaschende und beachtliche Neubelebung erfuhr. In Imre Oravecz’s Halászóember (1998; Der Fischende), einer Mischgattung von Lyrik und Prosa, entweicht dieser Schreibweise allerdings das dem Genre anhaftende sozialkritische Potential und wird zu einem originell minutiösen Aufzeichnungsmedium von untergegangenen Lebensformen und mental-kulturellen Mikrowelten. Noch seltsamer mutet jedoch der Umstand an, dass die soziographische Schreibart bereits in den 1930er Jahren in sehr ingeniöse Verbindungen mit der künstlerischen Erzählprosa einging. Hinsichtlich der bislang bekannten historischen Konstrukte der Diegese fielen dabei besonders jene erzählpoetischen Konfigurationen weiterwirkend aus, die aus einer eigenartig poetisierten narrativen Allianz dieser sachlichen Schreibweise mit einer anderen ‚halbliterarischen‘ Gattung, nämlich der ‚bekenntnishaften‘ Autobiographie hervorgingen. Zweifellos kommt hier einem Werk unumstrittene Geltung zu, dessen Autor sich – abgesehen von seinem lyrischen Frühwerk – nicht exemplarisch zu den Erneuerern der ungarischen Moderne rechnen lässt und dessen Rezeption seit zwei Jahrzehnten eher moderat verläuft. Gyula Illyés’ Puszták népe (Die Puszta) ließ sich sozusagen im ganzen Verlauf seiner mannigfaltigen Wirkungsgeschichte gleichmäßig als historischer Tatsachenbericht, als bekenntnishafte Autobiographie und zugleich als (zeitkritischer) Roman lesen. Die Nachvollziehbarkeit des nichtprozessualen Geschehens wird der rezeptiven Vorstellung dabei allerdings in doppelter zeitlicher Kodierung anheimgegeben, sofern der Rahmen der mnemotechnischen Erzählung von einer zweifachen Gegenwart des Erzählers bestimmt wird. Dieser Umstand hat nun zur Folge, dass selbst im epischen Vorgang eine temporale Doppelbewegung präsent ist: Das Medium der Erinnerung wird nämlich dadurch in doppelter Ausrichtung betätigt, dass der Erzähler – der nicht nur vergangenes Geschehen erfasst, sondern auch belegbare Dokumente aus Familienchroniken und Eintragungen in den Gesindebüchern präsentiert – als Subjekt der eigenen Narration einerseits von seiner eigenen Entfernung von der Welt der Puszta berichtet und sich andererseits, als erzähltes Ich (sozusagen unbeabsichtigt) wieder auf diese Welt seiner Kindheit zubewegt, indem er allmählich seine untrennbare Zugehörigkeit zu dieser Welt entdeckt. Als Quelle der raumzeitlichen Welt des Textes fungiert das narrative Medium der Erinnerung insofern nachdrücklich literarisch, als der Erzähler selbst es ist, der die referentiellen Erwartungen der Lektüre zu mindern sucht: „Die Ereignisse fließen ineinander“, schreibt er am Anfang des 11. Kapitels,
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„und ich weiß heute nicht mehr, was ich selber erlebte, was ich vom Hörensagen weiß oder beobachtete“ (Illyés 1999, 129, Ü: T. Podmaniczky). In der Tat gehört zu den elementarsten Wirkungseffekten des Werkes ein einschneidendes Ereignis der ästhetischen Erfahrung, das sich für das gesamte Subjektkonstrukt des Textes als konstitutiv erweist. In diesem strukturbildenden Akt der Narration geht nämlich nicht nur das (neue) Sich-Verstehen des Erzählsubjektes im plötzlich fremd gewordenen Eigenen auf, wobei das ehemals Vertraute ihm als etwas generell Missverstandenes begegnet, sondern selbst das zentrale Sinnbild des Buches erfährt eine erschütternde Umdeutung. Denn im Akt des neuen Sich-Verstehens verliert gerade die Puszta als bekannter Topos Ungarns, ihre traditionsträchtige Bedeutung, nämlich den von Petőfi und der ungarischen Romantik ihr zugeschriebenen Symbolwert der Freiheit. Der Erzähler macht hier gerade die dem kulturell Tradierten durchaus entgegengesetzte Erfahrung, dass die Pusztabewohner nicht die stolzen Pferdehirten der nationalen Großerzählung und nicht einmal die vogelfreien Betyaren sind, sondern einfach ein um die eigene Würde gebrachtes armes Dienervolk. Ähnlich mag es dabei der ästhetisch ausgerichteten Lektüre ergehen: Das Ergebnis der Erinnerungsarbeit ist hier auch ein neues Sich-Verstehen, dessen plötzlicher und unabwendbarer Eintritt die ganze Erfahrungsstruktur des Subjektiven verwandeln kann. Denn selbst die Wahrnehmungsorgane, die für die materielle – und also angeblich ‚interpretationsfreie‘ – Vermittlung zwischen Mensch und Welt sorgen, können ihren mnemotechnisch ‚fixierten‘ Bedeutungsinhalt ins Gegensätzliche wenden. Ganz wie bei Proust die temporale Wirklichkeit des Erwachsenenalters durch den Geschmack der Madeleine plötzlich ausgesetzt wird, so hört bei Illyés die Bewertung der Kindheit durch eine unerwartete Erfahrung mit derselben Gültigkeit auf. So wie die Puszta die Welt der Knechtschaft ist, so wird die Erinnerung an die Idylle der Kindheit zur Erinnerung an das Elend. Dabei wird allerdings nicht einfach die jeweilige Täuschung als Fehlleistung des medialen Gedächtnisses in Erfahrung gebracht. Was hier nämlich vonstattengeht, zeigt exemplarisch, dass der Akt des neuen Sich-Verstehens kein begriffliches Ereignis ist und nicht der puren Erkenntnis gleichkommt. Die sich für die Lektüre plötzlich neukonstituierende Ordnung der Welt resultiert hingegen aus der eigensten – und als solche nicht überbietbaren – Leistung der primär sinnlich kodierten ästhetischen Erfahrung, die alle Formen des kognitiven Weltbezugs als unzureichend bloßlegen und jederzeit überschreiben kann: „Bei meiner zweiten Heimkehr“, heißt es am Anfang des 14. Kapitels, prallte ich sogar vor dem sonst so wohlvertrauten Dunst des gemeinsamen Wohnraumes an der Tür zurück. Der heimische Ruch, nach dem ich mich in der Ferne so sehr gesehnt hatte,
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verwandelte sich in das muffige Gemisch einer Ausdünstung von Ruß, kaltem Gemüse und im Zimmer trocknender Wäsche. Die geliebte Schürze, in die ich einst so glücklich meinen Kinderkopf vergraben hatte, roch heute nach ranzigem Spülwasser. (Illyés 1999, 164)
VII.3.1 Sándor Márai (1900–1989) Gravierend anders bedient sich die autobiographische Prosa des Mediums der Erinnerung bei Sándor Márai, der sich, von epigrammatisch-aphorismatischen Kleinformen (Ég és föld, 1942; Himmel und Erde; Füves könyv. Gyógyító gondolatok, 1943; Heilpflanzenbuch – Heilende Gedanken) über niveauvolle Unterhaltungsromane (Az Igazi, 1941; Der Richtige, 1948, E. Burgenländer; A gyertyák csonkig égnek, 1942; Die Kerzen brennen ab, 1950, E. Görcz; Die Glut, 1998, Ch. Viragh) bis zu sich überschneidenden Romanzyklen (Sértődöttek, 1947/48; Die Beleidigten; A Garrenek műve 1930‒1988; Das Werk der Garrens) – an einer Reihe epischer Gattungen erprobte. Neben einigen exzellenten Gedichten (z. B. Halotti Beszéd, 1951; Grabrede) schrieb er auch etliche Bühnenstücke, unter denen A kassai polgárok (1942; Die Bürger von Kaschau, 1947, P. Mundorf) herausragt. Seine wirkungsgeschichtliche Verortung unter den großen Erzählern der Zwischenkriegszeit wäre etwa im ‚Dreieck‘ von Joseph Roth, Thomas Mann und Robert Musil vorzunehmen, wobei der konsistent abgeklärte sprachliche Duktus seiner Texte (abgesehen von den von ihm programmatisch abgelehnten Psychologismen) Mann am nächsten steht. Die ersten Eindrücke jedoch, die selbst gut orientierte Leser wohl von der klaren Zugehörigkeit seiner Werke zur spätklassischen Moderne gewinnen, können bei näherer Betrachtung täuschen oder sogar höchst irreführend sein. Es stimmt zwar, dass für die Antworten, die seine Werke auf die historisch tiefste Krise des Eurosubjektes – das bei Márai übrigens fast ausnahmslos mit dem gebildeten Bürger ineins fällt – gaben, dezidiert für solche Wertformen richtungsweisend sind, die das neuzeitliche Modell des Individuums begründeten (individuelle Verantwortlichkeit und Stabilisierung der persönlichen Identität durch etwa Bildung, Arbeit, Ratio, Logos und Eros) und ihre letzte Vollendung in der Klassischen Moderne fanden. Den Versuch einer klaren historisch-systematischen Verortung bzw. Zuordnung zur Hochmoderne widerlegt hier jedoch die Erfahrung, dass der zumeist retrospektiv ausgerichtete epische Vorgang bei Márai von einer Mnemotechnik getragen wird, deren Betätigung dem Rollensubjekt der Erzählung – mag es noch so authentisch sein – weder zufällt noch medial möglich ist. Was ihm dabei nämlich poetisch grundsätzlich verwehrt bleibt, ist die narrative Macht, das figurative Spiel der den evozierten Ereignissen anhaftenden Bedeutungen auf klassisch-moderne Art steuernd zu kontrollieren oder gar zu beherrschen. Denn
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Abb. 38: Sándor Márai in der Servitenstrasse. Aufnahme: Clara Wachter, Budapest, 1939
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indem die Bewegung der mnemotechnischen Erzählgrammatik – ob prospektive Prozesse nachzeichnend (Egy polgár vallomásai, 1934, zweite Aufl.: 1935; Bekenntnisse eines Bürgers, 1996, H. Skirecki) oder vergangene Sinnzusammenhänge retrospektiv ermittelnd (A gyertyák csonkig égnek; Béke Ithakában, 1952; Verzauberung in Ithaca, 1952, T. Podmaniczky) – grundsätzlich einer kontinuierlichen Ordnung folgt, funktioniert das Medium der Erinnerung zugleich betont und ständig unzuverlässig (wie dies der Protagonist bereits im Hauptwerk von 1934 behauptet: „Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Zeitabschnitte, das Aussehen von Menschen, Begegnungen fallen spurlos durch sein Sieb, ich erinnere mich immer nur an Ereignisgruppen …“ (Márai 2000, 261, Ü: H. Skirecki). Demzufolge entgleiten ihm und der ihn ‚situierenden‘ Erzählgrammatik gerade diejenigen Schnittstellen des Gesamtgeschehens, d. h. der inneren und der äußeren, der vergangenen und der gegenwärtigen Ereignisse, an denen bestimmte – auf die Interpretierbarkeit der ganzen narrativen Struktur sich auswirkende – stabile Koordinaten sich im klassisch-modernen Sinne verfestigen könnten. Diese kaum nachlassende Affinität zu inneren, einem zusammenhängenden Erzählkontinuum entgegenwirkenden, nicht aufgelösten strukturellen Spannungen mag bei Márai – zwar nicht unmittelbar, jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit – von einer chiastisch-oxymorontischen Werteauffassung herrühren, die sich von Weitem mit seiner widersprüchlichen Beziehung zur eigenen bürgerlichen Umgebung bzw. zum späten Bürgertum der Moderne (inklusive seiner Kultur, Bildung und Mentalität) schlechthin in Zusammenhang bringen lässt. Denn indem er seine eigene historische Klasse als eine besonders exklusive kulturschaffende Kraft mit jahrhundertelanger Bedeutung ansah, konnte er innerhalb dieser großen Tradition (die ihr gewaltiges Schaffenspotential mittlerweile eingebüßt hatte) als später Sprössling derselben seinen Platz wohl niemals so recht finden. Während er sich in seinen Tagebüchern auch noch 1944 zur Kultur des europäischen Bürgertums bekannte („Gewiß, […] ich [bin] ein Mensch einer untergehenden Kultur …“), unterließ es sein Musil’scher ‚Katakombenerzähler‘, der über den Untergang dieser Kultur Rechenschaft abzulegen hat, bereits 1934 nicht festzuhalten, dass „in Anschauung, Lebensweise und psychischem Verhalten […] ich ein Bürger [bin], aber ich fühle mich überall schneller heimisch als unter Bürgern …“ (Egy polgár vallomásai, Márai 2000, 168, Ü: H. Skirecki). Da die Konsequenzen dieser antagonistischen Situiertheit als strukturimmanente Widersprüche der diskursiven Ordnung der Textwirklichkeit in Márais narrative Praxis Eingang finden, können die aufgerissenen Spannungen nicht mehr in einem Werteausgleich auf Mann’sche Art aufgehen. Für die Mehrzahl von Márais Werken mag die Beobachtung zutreffen, dass selbst wo der epische Vorgang auf der Ebene der Geschehnisse einen formal einwandfrei abgeklärten Abschluss erfährt, die innerstrukturell unaufhebbare Spannung der bedeutungsbildenden Impulse erdrückend lebendig
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bleibt, d. h. die ästhetische Wirkung ihrer einander ausschließenden Impulse schwingt im Nachhinein der Lektüre noch lange weiter mit. Zu den Werken mit offenem Ausklang und ohne endgültige Anordnung der Dinge gesellt sich eine andere, kleinere Gruppe von Romanen, die im narrativen Schaffensakt fingierter Welten unmittelbar sprachmediale Effekte der Intertextualität umsetzen und mithin weniger die Realitätsillusion möglicher Welten erwecken, sondern vielmehr originäre Textwirklichkeiten, d. h. existente Texte der Literatur, aufrufen und sie zu ihrem eigenen ‚Gegenstand‘ erheben. Als frühes Produkt der intertextuellen Erzählpoetik setzte der Roman Szindbád hazamegy (1940; Sindbad geht heim, 1978, M. Bieler‒E. Zaitai) – sozusagen parallel zu Borges’ berühmten Erzählungen (Ficciones, 1941) – neue, erst recht jedoch in den 1980er Jahren akzeptierte Maßstäbe in der modernen Geschichte der ungarischen Epik. Das Werk wird von der Kritik nicht selten sogar als ein „einmaliges Unternehmen in der ungarischen Literatur“ eingestuft (Szegedy-Maszák 1991, 81). Diese damals noch seltene, spätmodern angelegte Schreibweise, die um 1940 avant la lettre ihresgleichen sucht, nimmt dabei unmittelbar Bezug auf Krúdys stilistischsprachlich äußerst stimmungsstarke Texte, in denen die Stimmungseffekte sozusagen mit einer ‚materiellen‘ Kraft auftreten, ohne im Anspruch mit semantischen Wirkungszusammenhängen verbunden zu werden. Im Unterschied zu Thomas Manns annähernd gleichzeitig erschienenem Roman Lotte in Weimar nimmt Szindbád hazamegy keine ‚metonymische‘ Weiterschreibung seiner Vorläufertexte und -geschichten vor (wie Mann, der an die Geschichte des Goethe’schen Werther anknüpft), sondern bleibt, indem er Texte von Krúdy per definitionem ‚neu schreibt‘, in außerordentlicher Textnähe zu diesen Texten. Demnach erhebt Márai die sprachstilistische Stimmung der charakteristischsten Texte von Krúdy buchstäblich zur Wirklichkeit seiner eigenen Erzählung. Indem die unverwechselbare und singuläre Qualität der Krúdy’schen Texte im aktuellen Nachfolgertext sprachmedial als exemplarisch materielles Phänomen in Erfahrung gebracht wird, gehen die beiden Schreibweisen miteinander einen besonders artistischen Dialog ein. Im Verlauf dieses textuellen ‚Zwiegesprächs‘ treten die beiden Schreibweisen in einer Form miteinander in Verbindung, in der sie nicht nur zum jeweils anderen fremden Text, sondern – auf höchst eigenartige und wohl nur in der ungarischen Originalfassung belegbare Weise – sozusagen ‚autokommunikativ‘ auch zu ihren eigenen Vorläufertexten aus anderen Werken ihres Autors interne intertextuelle Beziehungen herstellen. Die ‚Realität‘ des Szindbád hazamegy vollzieht sich demnach in einer faszinierenden Fusion zweier Textwelten, die einander ursprünglich zwar fremd sind, in ihrer konfigurativen Interaktion jedoch ein originales textmediales Gebilde hervortreten lassen, das in dieser Form weder bei Krúdy noch bei Márai allein hätte entstehen können. Mit dieser Schreibweise, in welcher die Stimmung des (Inter)Textes selbst als materieller Effekt ohne semantisch er-
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schließbare ‚Botschaften‘ den Leser erreichen kann (Gumbrecht 2011, 12‒14), hat Márai in bestimmter Hinsicht wohl eine der originellsten medialen Komponenten der postmodernen Erzählpraxis der 1980/90er Jahre, insbesondere die von Péter Esterházy, vorweggenommen, an deren gegenwärtig extremstem Endpunkt die par excellence materielle Schriftwirklichkeit des von Esterházy handschriftlich auf ein einziges Blatt erneut aufgezeichneten Textes von Ottliks Iskola a határon (1959; Die Schule an der Grenze, 1963, Ch. Ujlaky; 1973, I. Szent-Iványi) steht. Dass Márais Hauptwerk Egy polgár vallomásai (das seine autorisierte Fassung – nachdem der Autor von in der ersten Fassung identifizierbaren Personen verklagt wurde – erst mit der 3. Auflage [1940] erlangte) nicht in die wohlbekannte Reihe literarisierter Autobiographien der Moderne einzureihen ist, springt nicht direkt ins Auge und erschließt sich selbst dem routinierten Leser nicht sofort. Márai bedient sich nämlich weder der kolorierten Breite eines Stefan Zweig (Die Welt von Gestern), noch der obsessiven künstlerischen Selbstreflexion eines Nabokov (Speak, Memory) und zeigt – hier zumindest – auch kein besonderes Interesse am politischen Geschehen der Zeit. Die sich in linearer Zeitfolge entfaltende Geschichte wird vorgetragen von einem Ich-Erzähler, der all dies bis zu seinem Mannesalter erlebt hat, und dessen nicht festzumachende Identität sich etwa zwischen der referentiellen Person des Autors bzw. eines fingierten autobiographischen Narrators bewegt. Es handelt sich also um eine textuell hergestellte, rollenartige Übergangsformel der narrativen Instanz, in welcher im Lejeune’schen Sinne weder die Ähnlichkeit biographisch die Identität, noch die Identität autobiographisch die Ähnlichkeit begründen (Lejeune 1994, 42). Eine korrekte Trennung zwischen dem faktualen und dem fiktiven Erzähler bzw. den beiden Gattungen wäre hier weiterhin bereits deshalb kaum durchzuführen, weil die – nach Maßgabe des Untertitels – „romanhafte Biographie“ sich dem ansonsten auch rhematischen Haupttitel („vallomások“, Bekenntnisse) des Buches buchstäblich überkreuz stellt, demzufolge die beiden Gattungsangaben die „Bekenntnisse“ auch grundsätzlich um ihre mögliche Unmittelbarkeit bringen. Die im Werk thematisierte Etappe der (Auto-)Biographie des Aussagesubjektes wird hier von ihm selbst in einer linearen Zeitabfolge erzählt, wobei das durch ökonomische Auslassungen mehrmals unterbrochene Kontinuum des im ausgeglichenen Rhythmus fortschreitenden epischen Vorgangs über mimetische Kodierung zugänglich gemacht wird, d. h. die Geschehnisse werden für die Lektüre in einer klar wirklichkeitsgetreuen Darbietung evoziert. Hierbei ist jedoch entscheidend, dass das Gedächtnis des Erzählers das Medium – die eigentliche Textwirklichkeit – ist, welches das Gesamtgeschehen textuell erst erstellt, und das somit für die gesamte neu geschaffene und neu strukturierte Ordnung des evozierten Ereignisverlaufs zu sorgen hat. Infolge seiner rückwirkenden Strukturierungsaktivität gewinnt der epische Vorgang seine eigenartige Dynamik nun wohl
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weniger aus linearen Impulsen als vielmehr aus diversen Effekten der narrativen Diskontinuitäten und Intermittenzen. Denn indem sich auf der Oberfläche tatsächlich ein wichtiges Kapitel der Lebensgeschichte des Erzählers nachvollziehbar entfaltet, entspringt die eigentliche Dynamik des Textes im Wesentlichen der Tiefenstruktur der Erzählung. Dass Egy polgár vallomásai grundsätzlich weder die Rezeptionswirkung von chronikhaften Darstellungen der Autobiographien, noch die von ‚literarischen‘ Lebensgeschichten hinterlässt, erklärt sich tatsächlich durch die literarisch stark durchstrukturierte Ordnung der textmedialen Erinnerungsarbeit. Denn während die Oberflächenstruktur der Erzählung – auch den Zufallscharakter der Ereignisse integrierend – eine klare Kontinuität der narrativmetonymischen Gestaltung aufweist, ist die Tiefenstruktur von nichtlinearen narrativen Prozessen durchwoben. Parallel nämlich zum Oberflächenverlauf der Geschichte wird die medial vermittelte Ordnung komplexer ästhetischer Erfahrung von zirkularen, nicht identisch wiederkehrenden Impulsen bestimmter Episodentypen vermittelt, und die die Entstehung von Bedeutungen steuernde Erzählgrammatik wird (was in autobiographischen Chroniken äußerst selten der Fall ist) über figurative Bewegungen von chiastisch-oxymorontischen Ereignisstrukturen, metaphorischen Gegensätzlichkeits- und Ähnlichkeitsbezügen und umkehrbaren Palindromen nachdrücklich literarisch artikuliert. Dem angemessen, ist das Gesamtgeschehen z. B. von zwei paradigmatischen und auffallend unterschiedlich verstandenen Todesfällen (von Vätern) umrahmt, wie auch bestimmte Ereignisse und Episoden aus den jugendlichen Bildungsjahren des Protagonisten in chiastischen Überkreuzstellungen mit Bedeutungen aufgeladen werden. Bemerkenswert bleibt dabei jedoch, dass hier für den epischen Vorgang generell nicht die großen Muster des europäischen Bildungsromans ausschlaggebend sind, in welchen die Persönlichkeit – die sozusagen ständig auch als der eigentliche ‚Verfasser‘ der eigenen Lebensgeschichte gilt – seine unverwechselbare Individualität und seinen originellen Subjektcharakter in der temporalen Verlaufsordnung der sich prospektiv addierenden Lebenserfahrungen erlangt. Statt solcher voranschreitenden Ordnungen walten in Egy polgár vallomásai Zeitstrukturen der Erfahrung, die hinsichtlich der Erschaffung der Persönlichkeit eher den zirkular wiederkehrenden oder sich antagonistisch entgegenstehenden Umständen und Situationen Priorität einräumen, wobei die scheinbar gleichen, jedoch niemals identisch wiederholenden Ereignisse nicht nur eine nicht mehr klassisch-moderne Zeitlichkeit des Subjektes in Erfahrung bringen, sondern zugleich und parallel auch die umfassende Strukturbewegung des Romans abbilden. In diesem Zusammenhang ragt unter allen übrigen bedeutsamen erzählgrammatischen Palindromen ein in sich konträr ausgerichtetes Episodenpaar hervor, in welchem jeweils ein schicksalsträchtiger Abschied zur Darstellung kommt.
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Die beiden Begegnungen, in welchen sich das gleiche Ereignis mit palindromartig umgekehrten Bedeutungsrichtungen wiederholt, gehört zu denjenigen relevanten Ereignissen, die die ganze raumzeitliche Struktur des Werkes organisieren und somit auch für den morphosemantischen Zusammenhalt des narrativen Gebildes sorgen. Da Letzteres über den Todesfall des Vaters vom Erzähler zur Vollendung kommt, ist von besonderer Bedeutung, dass diesem Schlussakt im ersten Drittel (IV. Kapitel) des Romans eine Kindheitserinnerung vorausgeht, da der Vater vor einem Internat der Hauptstadt von seinem kleinen Sohn, dessen Hand die seine verzweifelt festhält, schließlich sanft Abschied nimmt: Vater blieb bis zum letzten Augenblick an meiner Seite. Ich preßte seine Hand, mir war bange, jetzt war nichts mehr mißzuverstehen. […] Vater nahm mich in die Arme, und gleich danach schaute er so ratlos drein, als wäre mir tatsächlich ein verhängnisvolles, nicht mehr gutzumachendes Unheil widerfahren und als könne er mir jetzt nicht mehr helfen. Erschrocken und verwundert sah ich ihm nach … (Márai 2000, 175, Ü: H. Skirecki)
Als dann der Sohn Jahrzehnte später am Totenbett des Vaters steht, wiederholt sich jener Abschied mit unausweichlichen Konsequenzen im Selbstverständnis des Protagonisten: Ich saß lange an seinem Bett, wir sprachen nicht, sahen uns nur an. Er blickte starr in meine Augen, nachdenklich und später, wie mir schien, forschend und erinnernd. Ich hielt diesem Blick stand; […] Er nahm Abschied von mir, dem Ältesten, als wollte er mir etwas übergeben, ein Wort, ein Geheimwort der Familie, einen Fingerzeig für das Leben, füreinander […] Dann streckte er die feine, schlaffe Hand aus und drückte meine Hand. Er sprach kein Wort; er schloß die Augen; nach einer Weile ließ er meine Hand los. Da ging ich. (Márai 2000, 416–417)
Im Abschiedsakt des Vaters, in dem die stumme Kommunikation der Hände gegenüber der Kindheitsszene umgekehrt abbricht, bildet sich aber nicht einfach ein früheres Geschehen invers ab. Im Akt des neuen Sich-Verstehens des Protagonisten tritt nämlich auch die stark neu konzipierte Struktur der klassischmodernen Subjektivität zutage, die bereits ein verändertes Verhältnis von Ich und Welt impliziert: „Eine Weile noch lag er still da; dann drückte ihm der Arzt die Augen zu. In dem Augenblick empfand ich nichts. Ja, jetzt ist es also geschehen …“. Später dann: „… und auf […] [dem] nicht sehr langen Weg vom Krankenhaus bis zum Friedhofstor […] verstand ich, daß mein Vater der einzige Mensch in meinem Leben war, der mich etwas anging …“ (Márai 2000, 417). Dies ist weder der stolze Individualismus des Werte schaffenden Bürgers noch die kulturell-literarische Selbstgenügsamkeit des klassisch-modernen Subjektes à la Ady oder Babits. Die Einsamkeit rührt hier nicht von der hochmodernen Absolutsetzung einer Subjektivität her, die als der zentrale Bezugspunkt aller Weltwahr-
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nehmung galt. Sie ist vielmehr eine neu erfahrene Form der Einzelheit, die eher Ergebnis als ursprünglicher Zustand ist: Das Subjekt dieses Selbstverständnisses sieht sich erst in einer Katakombensituation allein auf sich gestellt, als ihm die lebenswichtigen Voraussetzungen des humanen Mit-Seins und des Sich-Verhaltens zu anderen abhanden gekommen sind. Ihr Nichtvorhandensein lässt dann nur noch ein reduziertes Lebensprogramm zu, nämlich das des Sich-Verhaltens zu den Dingen: Aber nach Vaters Tod erkannte ich, daß im ganzen Leben nur er selbstlos und gütig zu mir gewesen war, auf die ihm eigene traurige und kultivierte Weise – denn auch das Gütigsein benötigt Kultur, sonst ist es unerträglich –, und daß ich andere nicht lieben kann. […] Ich wußte, daß ich ein bedingungsloses, menschliches Verhältnis zu niemandem mehr finden würde; ich würde mich ganz der Arbeit hingeben müssen, der ‚Lebensweise‘, und in sie alles hinüberretten, was in mir und der Welt menschlich geblieben war. (Márai 2000, 418)
Für ein ganzes Werk konstitutiv kehrt das Motiv der unzerreißbaren Verbindung zwischen Sohn und Vater nun mit einer nichtmimetisch radikalisierten Vertiefung des Prinzips von morphosemantischen Umkehrbarkeiten und mit postmodernen Modulierungen erst in der Nachmoderne – bei Esterházy sogar wohl mit kanonbildender Bedeutung (Harmonia Caelestis) – wieder.
VII.3.2 László Németh (1901‒1975) Erkennbar anders ist es um die Erinnerungsarbeit in László Némeths zumeist ebenfalls retrospektiv ausgerichteten Erzählwerken bestellt, in denen die Erzählung eher analytisch den linearen Verlauf der Geschichte verfolgt. „Meine Erinnerungen“, hält die Protagonistin seines berühmtesten Romans fest, „so wie sie dunkel in mir aufsteigen, sind präzise. Die lindernde, besänftigende Entfernung liegt nicht in der Zeit. Auch nicht im Raum. Es ist mein Abstand zu den menschlichen Dingen“ (Iszony, 1947; Wie der Stein fällt, 1960, bzw. Abscheu, 1987, beide Aufl.: E. Schag ‒ Ch. Ujlaky). Das raumzeitliche Universum seiner nachdrücklich um eine einzige Person zentrierten Texte unterliegt dem angemessen einer völlig anders waltenden Erzählgrammatik als bei Márai. Denn indem bei Letzterem die anders wiederkehrenden und ihren früheren Bedeutungen zumeist widersprechenden Ereignisse auf den Werdegang (oder ein wichtiges Lebenskapitel) eines ständig unterwegs, noch genauer inter vias befindlichen Subjektes unvorhersehbar einwirken und an dessen Gestaltung auf nicht kalkulierbare Weise teilhaben, erkennen die erinnernswerten Figuren von Németh im Verlauf einer sich addierenden Reihe von Erfahrungen ihre ursprüngliche und also charaktereigene Fremdheit mitten in der alltagsmenschlichen Geselligkeit
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des jeweiligen Mit-Seins. Ihrer exklusiven – wenn auch zwangsmäßigen – Ausdifferenzierung aus der Gemeinschaft haften dabei ungewöhnlich starke Wertindexe von Mentalitätsunterschieden an. Die epische Diegese richtet sich demzufolge nach einer streng kausalen Ordnung der narrativen (Selbst)Ausdeutung der Vorgänge, die selbst die Kontingenz des Geschehens innerhalb eines folgerichtigen ursächlichen Wirkungssystems integriert. Es verwunderte nicht, als der große Klassische Philologe Karl Kerényi in seinem Geleitwort zur ersten deutschen Ausgabe von Iszony darin einen unverfehlbaren Akzent der Schicksalhaftigkeit der griechischen Tragödien erkannte. Er konnte damals allerdings nicht erkennen, dass dabei – in völliger Übereinstimmung mit dem altgriechischen Menschenbild – auch ein für die spätmoderne Erzählung konstitutives Prinzip der ‚desingularisierenden‘ Entsubjektivierung prägend mitspielt: „[I]m Fall der Heldin des vorliegenden Romans“ steigern diese Effekte das Schicksal einer Frau bis zur Grenze, wo sie fast zur Göttin Artemis wird und eine rückstrahlende Durchleuchtung und volle Verständlichkeit erst aus der Gestalt der göttlichen Jägerin und Jungfrau der Griechen erhält. […] Sophokles gab László Németh den Mut, seine Kunst in die gegebenen Gestalten einzupressen und sie soweit zu spannen, wie es menschlich überhaupt möglich war. (Kerényi 1960, 554‒555)
Im besagten Sinne sind Némeths großartige Frauengestalten keine Subjekte, denen die Unverwechselbarkeit einzelner Individualität eingezeichnet wäre. Ihre Persönlichkeiten entfalten sich nicht in der biographischen Temporalität der Subjektwerdung, in deren Verlauf das Ich schließlich nach der kontingenten Struktur des Lebensgeschehens zu jemandem wird. Zsófi Kurátor, die an der ihr von der Dorfgemeinschaft aufgezwungenen Rolle einer ihrem Mann nachtrauernden Ehefrau (tragisch und unerbittlich mit ihrer Maske ineins fallend) sozusagen unverrückbar hängen bleibt (Gyász, 1936; Maske der Trauer, 1970; Trauer, 1968, H. Engl – G. Engl), wie auch Nelli Kárász, die sich aus ihrer unverträglichen Ehe durch einen ungewollten Mord rettet (Iszony), sind gezeichnet durch eine Unheil verkündende Unfähigkeit, sich an inadäquate Existenzsituationen längerfristig anzupassen. Da beide keine sich zeitlich herausbildenden singulären Identitäten, sondern vielmehr – nach griechischem Vorbild – vorgegebene Muster von Typenidenitäten verkörpern, sind sie am Ende der Geschichte im Wesentlichen dieselben Persönlichkeiten, die sie anfangs waren. Ihnen als ‚Exemplaren‘ von je einem Typus nichtsingulärer Individualitäten (Elektra des Dorfes, Artemis des Pusztahofs) bleibt immer eine Art Statik und Unbewegtheit von griechischen Skulpturen fest eingeschrieben. „Denn was sonst ist wohl auch eine richtige Skulptur, wenn nicht ein Bewußtsein in Linien und Anatomie übersetzt?“, fragt Németh 1957 (Németh 1968, 272).
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Abb. 39: Silvesterabend bei László Németh. Neben dem Gastgeber (links oben) Gyula Illyés, Mihály Babits, Frau Zoltán Farkas. Auf dem Boden sitzen Frau László Németh, Frau Mihály Babits und József Erdélyi, 1931
In seinem Spätwerk hört der Impetus der Spannung zwischen Lebenssituation und Charakter der Hauptfiguren allmählich auf, und die Schwerpunkte werden – allerdings mit Aufrechterhaltung der orientierenden Werte – auf Versöhnung und Einsicht der persönlichen Kompromissbereitschaft verlegt, wobei die Individualitätsstruktur der neuen Frauengestalten im Wesentlichen weiterhin den bereits vorliegenden Mustern folgt (Égető Eszter, 1956; Esther Égető, 1963; Esther, 1966, É. Szabó-Ottó – Ch. Coler; Irgalom, 1965; Die Kraft des Erbarmens, 1968; Erbarmen, 1970, Ch. Ujlaky ‒ Fr. Schag). Als Vordenker der Volkstümlerbewegung – der bereits noch vor den Moskauer Prozessen in einem Essay auch vor dem asiatischen Linkskollektivismus warnte (Sztalin: Les questions du léninisme, 1934) – suchte er in den Vorkriegsjahren unermüdlich und nicht selten utopistisch nach einem dritten, „authentischen (Aus)Weg“ aus der regionalen Krise und nach ausführbaren politischen Strategien in einer bedrängten, kleinstaatlichen Lage zwischen zwei historischen Großmächten (A minőség forradalma, 1940; Die Revolution der Qualität, 1962, Ch. Ujlaky ‒ L. Plakolb). Neben Babits, Gábor Halász und Antal Szerb gehörte er auch als Literaturkritiker und Essayist zu den bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit, die selbst dem Vergleich mit professionellen Literaturwissenschaftlern standhalten. Im reich artikulierten Diskursraum um die Literatur und ihre Geschichtlichkeit entwickelte er bis heute beachtenswerte Über-
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Medialisierung des Literarischen
legungen zur frühen literarischen Hermeneutik (Dilthey, egy német tudós, 1934; Dilthey, ein deutscher Wissenschaftler) und auch zu den entwicklungsgeschichtlichen Konzepten der ungarischen Literatur. Gegenüber Tivadar Thienemann (1890‒1985), der trotz seines klaren geistesgeschichtlichen Hintergrundes für die Literaturgeschichte die jeweilige medial-materielle Bedingtheit der literarischen Kommunikation als ausschlaggebend ansah (Irodalomtörténeti alapfogalmak, 1927‒1930; Literaturhistorische Grundbegriffe) und in weniger krassem Gegensatz zu János Horváth (1878‒1961), der dasselbe Grundverhältnis eher als ein geistiges thematisierte (Magyar irodalomismeret, 1922; Ungarische Literaturlehre; A magyar irodalom fejlődéstörténete, 1976; Entwicklungsgeschichte der ungarischen Literatur), vertrat Németh – allerdings in ziemlichem Einklang mit Antal Szerbs bis heute populärer Magyar irodalomtörténet (1934; Ungarische Literaturgeschichte) – die Auffassung, dass Literatur ständig als ein historisches Medium von kulturellästhetischen Bedeutungszusammenhängen fungiere und als solches immer in Bezug auf die jeweilige historische Situiertheit der muttersprachlichen Gemeinschaft zu deuten sei (Kisebbségben, 1939; In der Minderheit). Zur ganzen Wahrheit gehört jedoch, dass diese bereits in ihrer Entstehungszeit selbst von Babits (Pajzzsal és dárdával, 1939; Mit Schild und Speer) heftig befehdete Schrift – in einer politischen Krisensituation zu Papier gebracht – nicht ganz frei von unhaltbaren Aspekten der Unterscheidung zwischen historisch Fremdem und Eigenem verfasst wurde. Das breite und farbige Spektrum der ungarischen Erzählprosa in der Spätmoderne zwischen Szentkuthys monumentalem Versuch, das ‚Weltganze‘ durch Wahrnehmungsstrategien der technisch-medialen Beobachtung und durch eine Redevielfalt des sachlichen Erzählens in Besitz zu nehmen (Prae), und etwa Zsigmond Remenyiks (1900‒1962) ironisch-sarkastischen, stark zeitkritisch ausgerichteten Werken (Bűntudat, 1937; Schuldbewusstsein; Bolhacirkusz, 1932; Flohzirkus) ist geprägt von mannigfaltigen Mustern weiterer beachtenswerter narrativer Redeweisen und ihren diversen sinnschaffenden Effekten, deren wirkungsgeschichtliches Erbe – bislang zumindest – eher sporadisch oder gar nicht weitergeführt wurde. Ein ähnliches Ausbleiben von ernsthafterer Wirkung betraf auch Lebenswerke, die die Periode eigentlich im zeitlichen Längsschnitt durchmaßen und somit gewissermaßen die Anfänge der Spätmoderne mit den 1970/80er Jahren verbanden. Győző Határs (1914‒2006) breit angelegte Ansätze, eine gattungsunabhängige ‚absolute‘ Schreibart in der Erzählprosa umzusetzen, finden in der literarischen Gegenwart genauso wenig oder kaum Widerhall (Heliáne, 1947; Az Őrző Könyve, 1948; Buch des Hüters; Anibel 1984 [1953]). Dies gilt auch für die unlängst noch viel gelesenen Texte von Tibor Déry (1894‒1977). Letzteres erscheint umso merkwürdiger, als Dérys für 1956 symbolträchtige Novelle (Szerelem, 1956; Liebe – Love, 1992, deutsch-engl. zweisprachig, I. Nagel ‒ H. Schade-Engl) nicht nur ver-
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filmt wurde (K. Makk, 1970), sondern mittlerweile auch zur Schullektüre avancierte. Der Schriftsteller tat sich durch seine experimentierende Vielseitigkeit vom avantgardistischen Bühnenstück (Óriáscsecsemő) über den Zeitroman (A befejezetlen mondat, 1947; Der unvollendete Satz, 1954, I. Szent-Iványi ‒ R. Flierl; 1962, Ch. Ujlaky), und dessen sozialistisch-realistische Neuschreibung (Felelet, 1950‒ 1952; Die Antwort, 1964/65, I. Szent-Iványi ‒ R. Flierl) bis zur kafkaesken Utopie von G. A. úr X-ben (1964; Herr G. A. in X, 1966, E. Vajda – St. Vajda) hervor und zählt zu denjenigen Klassikern der 1960/70er Jahre, deren im Grunde parabelhafte, plotorientierte Schreibweise mittlerweile einiges an Aussagekraft verloren hat.
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Literatur
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VIII.A Im Sog des Schrifttextes. Der literalistic turn in der ungarischen Nachmoderne ab 1960/1970 VIII.A.1 Herausbildung eines neuen Sprachverhaltens und Erneuerung der literarischen Diskursregeln. Übergangsperiode 1960–1986 Nach der langsamen Milderung des ideologischen Zwanges, den die kommunistische Diktatur seit 1948 auf das kulturelle Leben ausübte, regenerierte sich die ungarische Literatur zum Ende des 1960er-Jahrzehnts gewissermaßen. Obwohl die literarische Kultur nicht die prosapoetische Vielfalt und den ästhetischen Rang der Zwischenkriegszeit erreichte, übertrafen die erschienenen Werke und ihre Rezeption insgesamt das Niveau der 1950er Jahre wesentlich. In der zeitgenössischen gesellschaftlichen Öffentlichkeit war allein die Literatur in der Lage (meist durch parabelhafte Transponierungen), die nach der Revolution von 1956 aktuellen sozialen und moralischen Fragen zu stellen. Die Schriftsteller der ‚prophetischen Romane‘ dieser Zeit versuchten, die funktionellen Anomalien und moralischen Ambivalenzen der Gesellschaft aus der Perspektive von Lukács’ ‚Widerspiegelung‘ mit ihrer authentischen, wahren gesellschaftskritischen Anwendung zu entdecken. Es war kein Zufall, dass die Autoren die literarische Soziographie (Sándor Csoóri: Tudósítás a toronyból, 1963; Bericht aus dem Turm; Gyula Csák: Mélytengeri áramlás, 1963; Tiefseeströmung; András Sütő: Anyám könnyű álmot ígér, 1970; Meine Mutter verspricht einen leichten Traum) und die autobiographische Erzählung (Gyula Illyés: Ebéd a kastélyban, 1962; Mittagessen im Schloß, 1969, G. Engl) der 1930er Jahre wieder aufleben ließen, dass die ein Jahrzehnt zuvor noch kompromittierte ‚literarische Reportage‘ (Ferenc Sánta: Húsz óra, 1964; Zwanzig Stunden) und auch die erneuerte moralisch-historische Parabel (Imre Sarkadi: A gyáva, 1961; Der Feigling; Endre Fejes: Rozsdatemető, 1962; Schrottplatz, 1966, E. Schag; Ferenc Sánta: Az ötödik pecsét, 1963; Das fünfte Siegel, 1985, A. Csongár; Az áruló, 1966; Der Verräter; Tibor Cseres: Hideg napok, 1964; Kalte Tage, 1967, I. Szent-Iványi) wieder gepflegt wurden. Die hermetische Abriegelung, die die ungarische literarische Kultur von der Literatur der Welt getrennt hatte, wurde durch das Prinzip der ‚eingeschränkten Orientierung‘ abgelöst: Nach der üblichen politisch-ideologischen Filterung durfte nun ein Teil der früher verbotenen Werke gelesen werden. Die neue Ära machte den Lesern die ,bürgerliche‘ literarische Tradition der Zwischenkriegszeit wieder zugänglich, z. B. die Werke von Mihály Babits und Dezső Kosztolányi, die zuvor von György Lukács
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gebrandmarkt worden waren. Mitte der 1960er Jahre erschienen in Ungarn Sartre, Kafka, Hemingway und andere westliche Autoren, allerdings mit den entsprechenden ideologischen ‚Kommentaren‘. Viele andere ausländische Werke verbot die Zensur freilich aus den unterschiedlichsten Gründen: Ulysses von Joyce z. B. wurde vom „Verlagshauptamt“ wegen seiner „Unmenschlichkeit“ nicht vorgeschlagen. Musils Mann ohne Eigenschaften durfte ebenfalls nicht erscheinen. Kafkas Werke rettete nur, dass sich Sartre anerkennend über sie geäußert hatte (Standeisky 1996, 454). Von einer Befreiung des literarischen Diskurses kann man also in dieser Zeit nicht sprechen, die Diktatur hatte die Schreibkunst (wie die anderen Künste) unter einer straffen ideologischen Kontrolle – von der Ausgabenpolitik über die Kritik bis zur Literaturgeschichtsschreibung. Die Milderung zeigte sich vor allem darin, dass das Kádár-Regime die marxistisch-leninistische Ideologie zunehmend nur noch anwandte, um sein Engagement für den Sowjetblock zu beweisen und seine wenigen überzeugten Anhänger zu beruhigen. Das wahre funktionelle Prinzip des Kádár-Systems wandelte sich immer mehr in einen nur noch schwach ideologisch umrahmten Pragmatismus. Die Kulturpolitik verzichtete im Wesentlichen auf die ästhetische Doktrin des ‚sozialistischen Realismus‘ und war bemüht, die literarische Öffentlichkeit in ein elastischeres ideologisches System zu fassen. Die Autoren und Werke, die mit vollem ideologischem Engagement (und meist auf niedrigem ästhetischem Niveau) das Regime propagierten, wurden in den Kreis der ‚Unterstützten‘ aufgenommen. Was nicht in den – gewissermaßen aufgeweichten – offiziellen Kanon passte, wurde als ‚geduldet‘ eingestuft (z. B. Géza Ottlik: Iskola a határon, 1959; Die Schule an der Grenze, 1963, Ch. Ujlaky; Iván Mándy: Fabulya feleségei, 1959; Fabulyas Frauen), konnte aber fallweise zu ‚Verbotenem‘ werden (z. B. Miklós Mészöly: Az ablakmosó, 1959; Der Fensterputzer; Az atléta halála, 1966; Der Tod des Athleten, 1966, Gy. Sebestyén). Die politisch-ideologische Kategorisierung der Autoren und ihrer Werke ist mit György Aczéls Namen verbunden; er leitete über 30 Jahre lang als großmächtiger Kulturpolitiker die literarische Öffentlichkeit durch die Auseinandersetzung und Manipulation der Intellektuellen. (Das waren die berüchtigten „drei T“: „támogatás, tűrés, tiltás“ [Unterstützung, Duldung, Verbot]). In diesen Jahrzehnten haben die Zeitschriften (Alföld, Jelenkor, Kortárs, Tiszatáj, Új Írás usw.) in der Vermittlung von Literatur eine herausgehobene Rolle gespielt. Lesungen (sogenannte ‚Schriftsteller-Leser-Treffen‘) waren in der eingeschränkten gesellschaftlichen Öffentlichkeit wichtige Ereignisse. Trotz der ideologischen Fesseln und der mangelhaften weltliterarischen und philosophischen Orientierung dehnte sich der ungarische literarische Diskurs immer weiter aus. Als nach jahrzehntelanger Isolierung in den frühen 1970er Jahren die Werke von András Sütő und István Szilágyi aus Rumänien beziehungsweise von Nándor Gion aus Jugoslawien erschienen, wurde den Lesern in Ungarn
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bewusst, dass auch jenseits der Grenzen ungarische Literatur, Kultur und Bevölkerung existierten. Dies führte auch zur Erweiterung von Gattungsrepertoires und textgestalterischen Attitüden der ungarischen Literatur. Der Roman G. A. úr X-ben (Herr G. A. in X., 1966, E. Vajda – S. Vajda) von Tibor Déry, nach 1956 im Zuchthaus geschrieben, folgt der Struktur der Gegenutopien. István Örkény, einer der beliebtesten Schriftsteller der 1960er Jahre, erneuerte die Muster der Erzählungen von Dezső Kosztolányi und Sándor Márai. Groteske Grundlagen und ein ironischer Unterton führen zur Mehrdeutigkeit der Parabeln (A sátán Füreden; Der Satan in Füred). In seinen eigenartigen Kurzgeschichten („Minutennovellen“), die deutlich Kafkas Einfluss aufweisen, verzichtete Örkény auf die erläuternde Situiertheit, die äußere und innere Beschreibung und meist auch die Fabel. Diese textgestalterische Attitüde weist schon voraus auf die postmodernen Kurzgeschichten (Szirák 2008, 254–281). Im Allgemeinen kann man sagen, dass die im politisch-ideologischen Sinne ausmünzbaren Deutungsmöglichkeiten der Parabel auch in den Werken anderer Schriftsteller (z. B. Géza Ottlik: Iskola a határon, Die Schule an der Grenze; Miklós Mészöly: Az atléta halála, Der Tod des Athleten; Saulus, Saul; György Konrád: A látogató, Der Besucher) abgewertet wurden. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre wurde die Dominanz allegorischer oder gleichnisartiger Formen und Bedeutungsbildungen durch die Neubewertung der Parabelhaftigkeit und die prägnanten Selbstanzeigen der Unabhängigkeit von Literatur relativiert. Dabei spielten vor allem neue Orientierungsangebote im Traditionsverständnis der jungen Autoren (z. B. Péter Lengyel, Péter Nádas, Péter Esterházy usw.) und die – nicht politisch, sondern bereits literarisch konditionierten – Umbesetzungen des Kanons der ungarischen Moderne eine wichtige Rolle. Die literarische Kommunikation wurde nach und nach von ihrem nichtliterarischen Umfeld entkoppelt: Junge Autoren widersetzten sich der Verhandlung mit der Macht und den unmittelbaren politischen und sozialen Aufgaben der Literatur. Die Schriftsteller der jungen Generation wollten sich vor allem mit der Schreibkunst beschäftigen. Sie versuchten – mit Esterházys (ursprünglich Márais) Worten – „in Subjekt und in Prädikat zu denken“ (Esterházy 1986, 402, Ü: Verfasser). In den 1970er und 1980er Jahren entstanden in der ungarischen Literatur bedeutende Werke; die Epoche selbst verstand sich – aus der Perspektive ihrer eigentlichen Former (Schriftsteller, Kritiker und Literaturwissenschaftler) – als Prosawende, als Epoche der bedeutenden Romane, Novellen und Kurzgeschichten, die die alte Romanliteratur erneuern und die jüngste Vergangenheit übertreffen sollten. Die historischen Konstruktionen der Kritik und Literaturwissenschaft sehen den Höhepunkt der Entwicklung der Prosawende in der Mitte der 1980er Jahre, und zwar 1986 mit dem Erscheinen der großformatigen (post)modernen Werke von Péter Esterházy (Bevezetés a szépirodalomba, Einführung in die
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schöne Literatur) und Péter Nádas (Emlékiratok könyve, Buch der Erinnerung). Zu diesem Zeitpunkt war der Kanon der Prosawende (inklusive der Traditionsbetrachtung, Erwartungen, Produktions- und Rezeptionsweise) schon zu einem zusammenhängenden System ausgebaut. Auch die weiträumigere literaturgeschichtliche Kontextualisierung war abgeschlossen. Dass die Erzählprosa von Gyula Krúdy, Dezső Kosztolányi, Sándor Márai, Géza Ottlik und Miklós Mészöly im Zuge der Rekanonisierung wieder in den Vordergrund gelangte, hängt offensichtlich mit dem vorläufersuchenden Charakter und der interkanonischen Wirkung der Werke von Esterházy, Nádas und anderen und mit der dynamischen Veränderung der Produktions- und Rezeptionsweisen der zeitgenössischen Prosa zusammen. Der erneuerte Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart setzte das Gedächtnis der Tradition der ungarischen erzählenden Prosa in einen Zusammenhang neuer Art. Im Bezug auf die Wiederentdeckung der ungarischen Moderne – Kosztolányi, Márai und Ottlik – kommt metaphorischen Ergänzungen und umfokalisierenden Wiederholungen in der zeitgenössischen erzählenden Prosa besonders große Bedeutung zu. Anhand der Humboldt’schen Sprachauffassung von Dezső Kosztolányi wurde die Sprach- und Wirklichkeitsbetrachtung, die im Bruch mit der cartesianischen Weltanschauung die Wirklichkeit(en) als sprachliche Konstruktion(en) erfasst, zur bestimmenden Form (Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 54–59). Die grundsätzlich sprachliche, also notwendigerweise fiktive und mediale Natur der Darstellung der sogenannten Wirklichkeit ermöglicht die Befreiung der sprachlichen Spielmöglichkeiten aus dem Zwang der äußeren Referenzbildung und die amimetische Logik der Sprachspiele. Auch mit dieser Einsicht können die erneuerten Formen der Erzählungsgestaltung, von der Relativierung der Grenzlinien zwischen Realem und Imaginärem bis hin zum Aufbrechen des Chronotopos, in Zusammenhang gebracht werden. Die Simultaneität, die imaginäre Variation der Zeit- und Raumverhältnisse und mithin die häufigen Brüche des Erzählungsprozesses gehören zu den wichtigsten Wirkungsfaktoren der Prosawende. Der Bruch der Kontinuität, der mit den desemiotisierenden Verfahren der Avantgarde (Bruch und Montage) verbunden sein kann, entspringt im Allgemeinen einem Wechsel der Reihenfolge der Geschichtenelemente und tritt häufig zusammen mit der als postmodern charakterisierten Zitat-Technik auf. Letztere beruht auf der Gleichrangigkeit der Redeweisen und Tonarten und lässt die verschiedenen Sprachen zusammenwirken, indem sie literarische und nichtliterarische Rede- und Gattungsmuster bzw. Verweissysteme kontaminiert. So geht mit den Modalitätskomponenten (z. B. der Unstimmigkeit von Erzähltem und Erzähldiskurs) häufig eine semiotische Dynamik der Texte einher – vom Wechsel wortwörtlicher und figuraler Bedeutungsschichten über De- und Rekomposition von Zitaten bis hin zu den übrigen Gesten der Metafiktionalität, so z. B. des betonten Erzähltseins auf der Ebene der Fiktion (Kulcsár-Szabó, Zoltán 1997, 163–169).
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Die ungarische Erzählprosa der jüngsten Vergangenheit lässt sich als eine tiefgreifende Wende von einer mimetischen bzw. repräsentationsästhetischen Tradition hin zur Aufwertung der Sprachlichkeit von Literatur beschreiben. Einer auch in den Kreisen des gebildeten Publikums anerkannten Ansicht der Kritik und der Literaturwissenschaften zufolge bestimmt der Werthorizont, der durch die hervorragenden Leistungen der wirkungsstärksten, am meisten traditionsbildenden Persönlichkeiten der zeitgenössischen ungarischen Erzählprosa (Géza Ottlik, Miklós Mészöly, Imre Kertész, Péter Nádas, Péter Esterházy) geschaffen wurde, bis zum heutigen Tage die grundsätzlichen Interpretationsstrategien der Prosa. Die ungarische Literatur focht ihren gegen die Verhältnisse der Diktatur gerichteten politisch-kulturellen ‚Freiheitskampf‘ im Wesentlichen schon in den 1970er und 1980er Jahren aus und gewann dadurch ihre verhältnismäßige Autonomie zurück. Die politische Wende von 1989/90, die die gesamte Region betraf, löste die grundlegende Umgestaltung des diskursiven Raumes aus (d. h. der Erwartungen, der politisch-ästhetischen Prinzipien, der geltenden kulturellen Kodekonfiguration, der Umgebung des Literatursystems), aber diese Veränderungen hatten auf die Literatur – im gattungsgeschichtlichen wie im diskurspoetischen Sinn – keinen wesentlichen Einfluss. Die Umgestaltung der Literatur begann schon lange vorher: mit dem Uminterpretieren des literarischen Gleichnisses.
VIII.A.2 Wege der Erzählprosa VIII.A.2.1 Der neue Horizont der Parabelhaftigkeit (Géza Ottlik und Miklós Mészöly) Die Geschichte der ungarischen Erzählprosa der 1950er und 1960er Jahre kann zumeist aus der Sicht der Entwicklung der Parabel interpretiert werden, da diese uralte Prosafigur bei den Schriftstellern mit der größten traditionsschaffenden Wirkung auf die jüngste ungarische Erzählprosa, u. a. bei Miklós Mészöly und Géza Ottlik, zur bestimmenden Form wurde. Sie erscheint beinahe unbemerkt; der von der offiziell-diktatorischen Kulturpolitik nicht unterstützte und schon deshalb für die zeitgenössische Rezeption nicht revelatorische Roman Iskola a határon (1959; Die Schule an der Grenze, 1963, Ch. Ujlaky) von Géza Ottlik (1912–1990) vereint in seiner komplizierten Struktur die Muster des Bildungsromans, des Erinnerungsromans und der sozial-ethischen Parabel und erhebt sie zu Literatur auf hohem Niveau. (Die erste Version des Romans trägt den Titel Továbbélők, Ottlik schrieb sie 1947/48, er erschien erst 51 Jahre später postum. 2006 wurde er beim Verlag Kortina auch in deutscher Sprache veröffentlicht: Die Weiterlebenden, É. Zádor).
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Abb. 40: Géza Ottlik. Ölporträt von Ilona Keserű, 1985
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Der als „Welt“ bezeichnete Schauplatz ist die Militärschule einer westungarischen Kleinstadt, in die die 10- bis 11-jährigen Protagonisten zu Beginn der 1920er Jahre als Kinder kommen und in der sie einige für ihre Entwicklung entscheidende Jahre verbringen. Durch seine räumliche Konzentration ist dieser Ort ausgezeichnet geeignet für die modellhafte Inszenierung der gewalttätigen und zugleich unberechenbar raffinierten Ordnung der Erziehung der halbwüchsigen Soldaten; diese Darstellung ermöglicht auch die politisch-systemkritische Abstraktion. Die wenigen Rezensionen, die sich zur Zeit seines Erscheinens mit dem Roman beschäftigten, traten eben gegen diese Interpretationsmöglichkeit der Befragung der zeitgenössischen Politik auf, indem sich bemühten, die zeitkritische Stimme des Werkes auf die Horthy-Ära der Zwischenkriegszeit zu beziehen. Die diskursiv-poetische Komplexität von Iskola a határon schrieb jedoch eine sehr viel aktivere Leserrolle vor, und wahrscheinlich ist es dieser Zug des Romans, der die Dauerhaftigkeit seiner Wirkung garantiert. Ottliks Werk interpretiert nämlich das Verhältnis zwischen Erzähltem und Erzähldiskurs unter Einbringung eines neuen Zusammenspiels von Standpunkt und Gesprächssituation um. In der Eröffnungsszene, 1957, also mehr als 30 Jahre nach dem Verlassen der Schule, treffen sich zwei der Protagonisten. Einer der damaligen Zöglinge, Dani Szeredy, lebt seit seiner Jugend in unaufhörlicher Konfusion, in privater Krise, und erwartet von seinem Freund Bébé (Benedek Both) Hilfe durch dessen Lebenserfahrung und Auswertung der Schulzeit. Ihr Gespräch ist jedoch nichts anderes als ein verkapptes Missverstehen, demaskierte Ratlosigkeit, die zeigt, dass hinter ihren scheinbar gleichen Erfahrungen sehr unterschiedliche Lebenslaufkonstruktionen und Schicksalsauffassungen stehen. Deshalb liest Bébé die hinterlassenen Memoiren ihres inzwischen verstorbenen dritten Gefährten Gábor Medve, um die Vergangenheit, die er völlig anders verstanden hatte, neu aufleben zu lassen, mit seiner eigenen Version zu vergleichen und sie zu korrigieren bzw. um sich mit Hilfe der Perspektive Medves und Szeredys selbst neu zu verstehen. Iskola a határon verbindet also die Gesprächssituation der Rückerinnerung mit der Herrschaft abweichender Sichten und führt somit die sinnkonstruierende Rolle der Neuschreibung durch Verlagerung in die ungarische Erzählprosa ein. Der Kreuzweg der Erziehung nach dem Vollendungsprinzip wird durch die Zufälligkeit der Ereignisse (d. h. Fahnenflucht und Rückkehr, Unterwerfung, Aufstand und Verschwörung) umgeordnet. Die viel später stattfindende Eröffnungsszene des Romans zeigt, dass die Ratlosigkeit der Protagonisten nicht nur der ständigen Umgestaltung des sich ereignenden Sinnes der Schulzeit und seiner Neuschreibung durch die Gegenwart entspringt, sondern auch der Vervielfachung dieses Geschehens, was nachdrücklich die letztendlich unauflösbare Ungleichmäßigkeit der verschiedenen Erinnerungsformen und mithin Identifizierungen (bei Bébé, Szeredy und Medve) zeigt. Keine Schicksalsgemeinschaft löscht die Individualität des
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sich verstehenden Menschen aus. Gleichzeitig aber wird die Erfahrung der Relativität dieser Welt durch das biblisch-theologische (protestantische) Verweissystem, die Intertexte und den religiösen Diskurs des Romans (z. B. lateinische Inschrift aus dem Römerbrief usw.) ausgeglichen, der das Vorhandensein eines ‚göttlichen Aspektes‘ bekräftigt und von einer moralischen Wertewelt ausgeht, selbst wenn er deren Wesen problematisiert. Das Werk, das hinsichtlich seiner narrativ-diskursiven Beschaffenheit, der ‚Poesie der Erinnerung‘, in einen Zusammenhang mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gebracht werden kann, wurde von den Interpreten – nachdem, was wichtig ist, die Unterschiede, die sich z. B. in der Betrachtung des Individuums zeigen, festgestellt waren – im Diskurs des Bildungsromans oftmals mit Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß verglichen. Ähnlich wie dieser lässt der Roman Iskola a határon die Parabelhaftigkeit aufleben und zerstört sie zugleich, indem er verhindert, dass die moralischen Prinzipien eindeutig gemacht werden. Der traditionsschaffende Roman von Ottlik – er ist am ehesten mit der Erzählprosa von Dezső Kosztolányi und Sándor Márai verknüpfbar – hat eine auf die oben genannte Weise mehrdeutige Wirkungsgeschichte. In der Zeit des sogenannten Sozialismus, bis zum Beginn der 1990er Jahre, wurde Iskola a határon als Gleichnis gelesen, das unter den Bedingungen der Diktatur die an den Stoizismus erinnernde Festigung des individuellen Lebens exemplifiziert, das auf der Bewahrung der vor der Außenwelt schützenden inneren Unabhängigkeit basiert. Mit diesen weniger literarischen als vielmehr kulturellen Kodekonfigurationen ist auch die Tatsache in Zusammenhang zu bringen, dass seit dem Ende der 1970er Jahre z. T. um den Roman, noch mehr aber um die Person Ottliks ein wahrer Kult entstand. Der Roman wird, von der inzwischen sich entfaltenden Wirkung der Prosawende sicherlich nicht unabhängig, seit den 1990er Jahren verstärkt in einer offeneren Weise rezipiert, die die Mehrdeutigkeit, die Reflektiertheit und die selbstspiegelnden Mechanismen des Romantextes – z. B. die im Text inszenierten Gemälde (Anatomie des Dr. Tulp von Rembrandt bzw. Las Meninas von Velázquez) – in den Vordergrund stellt (Szegedy-Maszák 1994, 80–151). Die Wirkung Ottliks zeigt sich auch in anderen schöpferischen und selbstrepräsentativen Attitüden. Péter Lengyel interpretierte sich selbst bei mehreren Gelegenheiten als Fortführer der Tradition Ottliks. Anfang der 1980er Jahre kopierte Péter Esterházy Iskola a határon auf ein Zeichenblatt im Format A3, er diente mit dauernder Demut, machte den großen Roman des Vorgängers ‚ewiggültig‘, weil – paradoxerweise – unlesbar. Die bedeutenden Autoren der Prosawende schrieben die Tradition Ottliks auf sehr unterschiedliche Weise neu. Esterházy stellte sich in erster Linie den Problemen der Erzählung, der Erzählbarkeit, er schuf die vorläufersuchenden Interpretationen der selbstreflexiv-metafiktiven Technik und wandte die Vervielfachung der Perspektive und das korrek-
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tive Wiederschreiben an (Termelési-regény, Ein Produktionsroman; Függő, Indirekt). Lengyel suchte nach der Zugänglichkeit der vorhandenen Geschehnisse, ihrem möglichen Sinn (Rondó, Rondo; Macskakő, Kopfsteinpflaster). So findet man Ottlik-Diskurs nicht nur als Hintergrund der Herausbildung des schriftstellerischen Selbstporträts, sondern auch als dynamischen Intertext, sogar als über die Romanproduktion selbst hinaus wirksames Kompetenzmodell der Neuschreibungs- und Kopiergesten – u. a. im Emlékiratok könyve (Buch der Erinnerung) von Péter Nádas, in Kudarc (Fiasko) und Kaddis a meg nem született gyermekért (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind) von Imre Kertész, in Jadviga párnája (Das Kissen der Jadwiga) von Pál Závada und in Háború és háború (Krieg und Krieg) von László Krasznahorkai. Neben der politischen Zensur ist die Ottlik-Wirkung mit Sicherheit sowohl Voraussetzung als auch Folge der stetigen Anwesenheit der Parabel bzw. der allegorischen Redeform in der ungarischen literarischen Kommunikation. Die Betrachtung der Erzählprosa macht den Anteil der Romanliteratur der letzten Jahre an der Figur der Parabel deutlich, die in der jüngsten Vergangenheit eine so entscheidende Rolle gespielt hat. Die Wirkung der Werke, die Miklós Mészöly (1921–2001), der andere wichtige, traditionsschaffende Autor der Prosawende, in den 1950er und 1960er Jahren verfasste, kann auch aus diesem Gewohnheitssystem abgeleitet werden. Magasiskola (1967 [um 1956]; Hohe Schule, 1981, H. Skirecki), Jelentés öt egérről ([um 1958]; Bericht über fünf Mäuse, 1981), Az atléta halála (1966; Der Tod des Athleten, 1966, Gy. Sebestyén) und Saulus (1968; Saul, 1970, B. Frischmuth) formulieren ihre Fragen hinsichtlich der sich äußernden Sinnbezüge in einem Beziehungssystem von Macht und Unfreiheit, Moral und Idee und bewegen dabei die Figur des Gleichnisses immer mehr auf die Mehrdeutigkeit zu. In der Erzählung Magasiskola wird die symbolisch-parabolische Modellbildung der geschlossenen Welt einer ostungarischen Falkenfarm mit der Dynamisierung der Erzählsituation verbunden: Die innere Perspektive des Ich-Erzählers, der die im Wesentlichen als Gefangene lebenden Bewohner der Siedlung besucht, wird mit der sachlichen Schilderung der unpersönlichen Erzählperspektive (gewissermaßen der deutschen abstrakten Sachlichkeit ähnlich) verknüpft. Dadurch, dass die Anblicksbeschreibung in den Vordergrund gestellt wird, die narrativen Funktionen (z. B. das Kommentieren der Geschehnisse, der erklärend-rechtfertigende Diskurs) zurückhaltend eingesetzt werden, und durch die vom konkreten gesellschaftlichen Zustand im sozial-ideologischen Sinne gewissermaßen abstrahierte Bedeutungswelt kann das geschlossene Beziehungssystem der Darsteller die Konstruktion einer möglichen Welt vor dem Betrachter ausbreiten, und die allgemeine menschliche Situation kann aus – am ehesten – existentialistischer Sicht interpretiert werden. In ähnlicher Weise wird das sozial-ethisch-politische Ideo-
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Abb. 41: Miklós Mészöly. Aufnahme: Demeter Balla, um 1970
logikum auch in der Novelle Jelentés öt egérről ferngehalten. Hier geht es um das Schicksal einer Mäusefamilie, die vor der Kälte des Winters in den Schutz einer Speisekammer flieht. Das Ehepaar, dem die Wohnung gehört, entdeckt die ‚Schädlinge‘, die aus dem Keller in die Kammer übersiedeln, und vernichtet sie systematisch. Diese Novelle aktualisiert die komplexen Bedeutungen der archetypischen Motivreihe von Exodus, Suche-Wanderung, Labyrinth und Heimschaffung (Nestbau). Der Erzähler ist hier ein Chronist, der entsprechend den gattungsbedingten Bedeutungserwartungen durch die Gesten des Wahrscheinlichmachens, des Beglaubigens und des Dokumentierens sowie durch das distanzierte sprachliche Verhalten charakterisiert werden kann. Der poetische Anspruch auf objektive Registrierung ähnelt den Bemühungen des französischen nouveau ro-
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man. Zugleich ermöglicht die Struktur des narrativen Zusammenspiels von Betrachterstandpunkt und Erzählsituation, dass dem Erzähler manchmal die zur Vernichtung verurteilten Mäuse ihre Perspektive leihen und manchmal das zur Vernichtung entschlossene Ehepaar. So entsteht der Zwang zur Reflexion der Leserrollen, das komplexe, sich zwischen Identifikation und Distanzierung bewegende Spiel der Identitätsbildung des Lesers, das denselben mit der Erfahrung des macht- und artbedingten Zynismus konfrontiert, der sich auf die Weltordnung der Evolution stützt (Kulcsár Szabó, Ernő 1993, 102–103). Nach langer Wartefrist und mit ideologischer Erpressung lehnten es die ungarischen Verlage ab, Mészölys nächstes bedeutendes Werk, Az atléta halála (um 1960/61), herauszugeben. Der Roman erschien auf Französisch (Mort d’un athlète, 1965) früher als auf Ungarisch, und die deutsche Ausgabe wurde mit der ungarischen zugleich verlegt. Der Roman beschreibt den scheiternden Versuch von Hildi, einer verwitweten Frau, das Leben ihres einstigen Lebensgefährten, eines Sporthelden der stalinistischen Epoche, zu rekonstruieren. Der Läufer hat sich den Wettbewerbsbedingungen, den regulierten Strecken immer schwer anpassen können. Schließlich vereinsamt er völlig. Die fragile Geschichte von Bálint Őze ist die Parabel der Heimatlosigkeit des Individuums. Im Hintergrund des Persönlichkeitsverlustes stehen die Unmöglichkeit des Werdegangs zum freien Individuum und die falschen Entscheidungen des Menschen, der auch bei fehlender politischer Freiheit zur existenziellen Wahl verurteilt ist. Hildis Fahndungsgeschichte weist letztendlich auf die Ursachen der Heimatlosigkeit des Individuums hin (Thomka 1995, 97–101). Saulus, Mészölys nächster Roman, zeigt die Identität hingegen als eine stetige Verhältnismäßigkeit. Saulus ist eine Neuschreibung der biblischen Paulusgeschichte unter Verwendung der Gattung der Autobiographie. In dem IchErzähler, der sich an die jüngste Vergangenheit erinnert und von Anfang an in verschiedenen Rollen auftritt, vereinen sich der in seinem Glauben erschütterte, die Christen (vielleicht gerade deswegen grimmig) verfolgende Tempeldiener und der von seinen Zweifeln und verdrängten Sehnsüchten verfolgte Privatmensch. Der Gebrauch einer Quasi-Gegenwart schaltet den Horizont eines nachträglichen Wissens gewissermaßen aus und schreibt dem Protagonisten die Erfahrung einer historischen Sukzessivität vor. Diese sogenannte Tagebuchperspektive lässt sich übrigens durchaus mit den erzähltechnischen Lösungen von Albert Camus’ L‘Étranger und Imre Kertész’ Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen) vergleichen. Es kann sogar behauptet werden, dass auch zwischen den impliziten Leserrollen dieser Romane manche Ähnlichkeiten bestehen. Die Tagebuchperspektive in Kertész’ Roman kodiert eine Leserrolle, die den Leser unter der Neutralisierung etwaiger vorzeitiger (genauer gesagt: nachträglicher) ideologischer Überlegungen in den Mechanismus von Auschwitz einführt. Die Ta-
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gebuchperspektive steht bei Camus’ L‘Étranger im Dienst der Präsentation der Spannung zwischen den Eventualitäten der Schicksalsentfaltung von Meursault und der (performativen) Willkürlichkeit jener Sinnkonstruktionen, die von der Rechtsprechung erst nachträglich erzeugt werden. Bei Mészöly hingegen inszeniert in der Tagebuchperspektive die Diskontinuität der Identitätsentfaltung, ihre Loslösung von Ideologien und schließlich ihre nichtrationalen, nichtkausalen und auch für den Helden nicht transparenten Faktoren. Die Rätselhaftigkeit, die verweisend-antizipierende Erzähltechnik und die integrative Metaphorik verlangsamen den Vorgang des Verlustes bzw. der Umqualifizierung der Identität nicht nur, sondern bedingen ihn auch. Außerdem vergrößern sie in einer im Vergleich zur übrigen zeitgenössischen ungarischen Prosa ungewöhnlichen Weise die Entfernung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Während die religiösen Transtexte in Iskola a határon (Die Schule an der Grenze) die Gültigkeit der biblischen Parabelhaftigkeit teilweise zu bestätigen scheinen, stellen Saulus und später Egy családregény vége (Ende eines Familienromans) von Péter Nádas – die dennoch beide grundlegend versuchen, die moderne Romanstruktur mit der Sprache der biblischen Tradition zu verknüpfen – die Dialogfähigkeit des uralten Kontextes radikal infrage. In Mészölys Roman ist nicht feststellbar, ob Saulus zu Paulus geworden ist oder nicht. Die Offenheit der Schlusslösung paart sich nicht mit einer abgeschlossenen Ereignisreihe: Das angehaltene Bild des Weges nach Damaskus macht die Persönlichkeitsgeschichte auf offene Weise interpretierbar. Es gibt keine Entscheidung darüber, was heilsamer ist: der totalisierende Glaube oder der quälende Unglaube. Aus dieser Perspektive gesehen ist der Saulus der Endpunkt der Parabel, die Auflösung der lehrenden Absicht. Die Vernichtung der Gesetze und Regeln ist eine mehrdeutige Leseerfahrung: kein reiner Verlust, denn sie öffnet der paradoxen Freiheit der Persönlichkeit einen Raum. Eben dieser Zug der Individuums- und Seinsbetrachtung in der Parabeldekonstruktion Mészölys war es, der in den 1970er und 1980er Jahren große Wirkung auf die literarischen Prozesse in Ungarn ausübte (Kulcsár Szabó, Ernő 1993, 103; Thomka 1995, 108–117). In der Anfangsphase von Péter Nádas’ Schaffen ist, sicherlich nicht unbeeinflusst von der Wirkung von Mészölys Schreibweise, eine ähnliche diskursivpoetische Verschiebung zu beobachten. Sein Start hat wahrscheinlich die zu Beginn der 1960er Jahre dominante literarische Kommunikation in nicht geringem Maße beeinflusst, die vorrangig durch eine über die Literatur hinausreichende Bemühung charakterisiert wird. Sie versuchte nämlich, die Gebiete des sozialen Umfelds und der Geschichte sichtbar zu machen und zu befreien, die durch den herrschenden diktatorischen Diskurs verdeckt (verboten) worden waren. Die in dieser Zeit sehr verbreitete chronisch-tatsachenberichtende Literatur appellierte zugleich an eine Art Allgemeinverständlichkeit, sie interpretierte
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die Vermittlung der ästhetischen Erfahrung als etwas, das in der Lage ist, die zerstörte gesellschaftliche Kommunikation wieder herzustellen. Die sozial-ethischen Parabeln mit starker Lehrintention, verfasst von den bereits erwähnten Schriftstellern aus der zweiten Reihe der ungarischen Literatur wie Imre Sarkadi (A gyáva), Endre Fejes (Rozsdatemető) oder Ferenc Sánta (Húsz óra) bedeuteten im Vergleich zu der sowjetisierenden Propagandaprosa (‚sozialistischer Realismus‘) der 1950er und frühen 1960er Jahre einen großen Fortschritt, da sie sich mit dem Ideologikum des sozialen Messianismus anlegten und so die gesellschaftskritische Haltung der Literatur stärkten. Überdies schufen sie bedeutend komplexere Figuren des Lesens und ‚literarisierten‘ so die soziale Botschaft. Zugleich bildete sich um die Werke mit dieser weitgefassten kommunikativen Funktion eine Öffentlichkeit des Literaturverständnisses, die sie paradoxerweise auch den Wertpräferenzen der herrschenden Diskursordnung auslieferte. Dieser Falle der Hegemonie des sozial-ethischen Ideologikums versuchte wie Mészöly auch Nádas durch abstraktere Formen der parabelhaften Bedeutungsbildung zu entgehen. Das spätere Nachlassen der politischen Beschränktheit der Literatur ist auch der Literatur selbst zu verdanken: Die indirekte Bedeutungsbildung, die sorgfältige künstlerische Beschaffenheit und die Erweiterung der ästhetischen Aussageweisen trugen in hohem Maße dazu bei, der durch das politische System erzwungenen politisch-mentalen Wertstruktur aufzuweichen und die unterbrochene Kontinuität der europäischen Tradition in Ungarn wiederherzustellen.
VIII.A.2.2 Die Neuschreibungen der Parabel: Reduktion, Diskontinuität, Selbstspiegelung, Intertextualität, Medialisierung In seinen frühen Bänden A Biblia (1967; Die Bibel) und A kulcskereső játék (1969; Das Schlüsselsuchspiel) folgt Péter Nádas (1942–) der – von Kosztolányi bekannten – Tradition der ungarischen modernen Erzählung. Seine Werke aktualisieren zumeist die erzähltechnischen Verfahren der fiktiven Autobiographie und ordnen die Parabeln der identitätsbildenden bzw. ‑zerstörenden Geschichten der Erziehung in der Kinder- und Jugendzeit zu einer Figur. Der sich erinnernde Ich-Erzähler der Erzählungen in A Biblia, Fal (Mauer) und Bárány (Lamm) breitet die traumatischen Momente seiner persönlichen Lebensgeschichte vor dem Leser aus, und zwar so, dass er sie mit dem Schema des Bedrohtseins und der Aggression interpretiert. (Die deutschsprachige Kurzgeschichtensammlung Minotaurus [1997] enthält neun Erzählungen aus den Jahren 1963 bis 1975.) Die sachlich-eingeengte Perspektive steigert die determinierende Kraft der unmittelbaren sozialen Umgebung. Die schutzlose Persönlichkeit bleibt ein handlungsunfähiger Gefangener der Umstände. In A Biblia wird
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Abb. 42: Péter Nádas. Aufnahme: Csaba Gál, 2007
ein Dienstmädchen Opfer des unbarmherzigen Spiels zwischenmenschlicher Beziehungen. Der kindliche Erzähler-Protagonist ist an den entscheidenden Punkten der Handlung zur Solidarität unfähig, weil ihn der Argwohn, die Eifersucht und die mörderischen Affekte der rätselhaften äußeren Welt gefangen halten. In Fal nimmt ein kleiner Junge teil an der erbarmungslosen Verhöhnung eines alten Mannes und in Bárány an der Brandmarkung eines jüdischen Bewohners der Siedlung. Der implizite Autor bringt die Herrschaft von Rollen der sozialen Rücksichtslosigkeit mit dem Fehlen von Werten und Normen in Verbindung und konfrontiert sie mit der Erinnerung an diese. Nádas’ frühe Prosa ist nicht nur
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eine Thematisierung der persönlichkeitsformenden Erfahrungen der Erziehung, sie macht sich nicht nur die Aufdeckung der Verunsicherung von Identität und Selbstverständnis zum Prinzip, sondern sie ist die literarische Interpretation all dessen, die sich in der Formiertheit (z. B. durch den Wechsel von kindlicher und nichtkindlicher Sicht) äußert, sie ist jene narrativ-diskursive Gestaltung, die zwar mehrere Modifizierungen erlebt hat, aber in vielerlei Hinsicht für die Jahrtausendwende charakteristisch geblieben ist. Nádas zieht, während er die Aufmerksamkeit des Lesers auf die gattungsgeschichtliche Tradition des Bildungsromans lenkt, die Begründbarkeit der Handlungselemente der fiktiven Welt des Werkes nicht in Zweifel, aber er reduziert (gewissermaßen ähnlich der Schreibweise Mészölys oder des damals in Ungarn beliebten Hemingway) die Rolle der psychologischen Motivation und vermindert im Vergleich zu den Konventionen der ungarischen Literatur zu jener Zeit die Charakterisierung der inneren Welt der Darsteller, lässt sie manchmal ganz weg. Das Schweigen über die innere Welt wird durch die eingeengte – meistens kindliche – Perspektive begründet und zugleich ermöglicht, die mit einer Vergrößerung der ‚Leerstellen‘ des Textes einhergeht und so gesteigerte Leseraktivität vorschreibt. Der kindliche Erzähler bekommt später in Egy családregény vége eine herausragende Rolle, aber auch in diesen frühen Erzählungen ist seine Verwendung schon ein wichtiges bedeutungsbildendes Element. Die verengte Perspektive ist gleichzeitig eine Erweiterung: dadurch, dass ein Metaphernsystem ins Spiel gebracht wird, das zur virtuellen Ausfüllung der Leerstellen dient. Die metaphorisierenden Elemente der frühen Texte sind tiefenpsychologisch-assoziativen oder kulturgeschichtlichen Ursprungs (besonders aus der jüdisch-christlichen Symbolik). Mit dieser Technik konnte Nádas in seinen frühen Schriften die Figur der Parabel, die im sozial-ethischen Sinne belehrende Intention hat, vielschichtiger gestalten. Für seine Werke der 1960er Jahre ist eine Erzählperspektive der Verlagerung ins Archaikum der menschlichen Kondition von besonderer Bedeutung. Die Lektüre wird von der Suche nach der Ursache der Handlungen, Neigungen und Absichten geleitet. Gegenüber der durchsichtigen Ordnung der moralischen Parabel jener Zeit, die das statische, zweigeteilte System der politischen Konfrontation (und Aussöhnung) von Individuum und Macht wiederholte, problematisiert Nádas die existenzielle Bedrohung der Persönlichkeit in wesentlich komplexeren Figuren des Lesens. Die auch auf die Affirmation des politischen Diskurses der Zeit anwendbare gesellschaftskritische Parabelhaftigkeit ist hier übertragbarer und vieldeutiger. Sie wird zu einer zeitkritischen Attitüde, die die Erinnerung der jüdisch-christlichen Kulturgeschichte aktiviert. Dass das Gattungssystem in hohem Maße umgestaltet wurde, bedeutet nicht, dass die Schreibweise der Parabel nach der Epoche der Prosawende aus der literarischen Kommunikation verschwunden wäre, ganz im Gegenteil, diese nar-
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rativ-diskursive Gestaltungsweise ist bis heute gewissermaßen stetig präsent. In der Zeit der Prosawende haben auch die Romane und Erzählungen, die unterschiedliche Gattungskodes weitervererben, Anteil an der Parabelkonfiguration. Auf diese Weise kann z. B. A látogató (1969; Der Besucher, 1973, M. Szenessy), der bedeutendste Roman von György Konrád (1933–), gelesen werden, der die Bewohner der ärmsten Stadteile von Budapest aus dem Blickwinkel eines staatlichen Fürsorgebeamten beschreibt. Konráds Werk, das nach dem Muster des französischen nouveau roman auch selbstspiegelnde Mechanismen funktionalisiert, exemplifiziert die Dilemmata der Rollenauffassung der osteuropäischen Intelligenz. Das komplexere System des Parabelkodes findet sich auch in Nádas’ Egy családregény vége, einem Werk, das nach Ansicht mehrerer Interpreten als epochemachend betrachtet werden kann. Auch die Romane des in Rumänien lebenden Autors István Szilágyi – Kő hull apadó kútba (1975; Steine fallen in versiegende Brunnen, 1982, Gy. Harmat), Agancsbozót (1990; Geweihgestrüpp) Hollóidő (2001; Rabenzeit) – können als parabolische Werke gelesen werden. Im Mittelpunkt des Romans Kő hull apadó kútba steht die Lebensgeschichte der Dienstherrin Ilka Szendy, die ihren Geliebten, den Tagelöhner Dénes Gönczy, in einer ostungarischen Kleinstadt irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts umgebracht hat. Damit bringt die attraktive und energische Frau auch unwillkürlich ein uraltes ‚Drehbuch‘ (Blutrache zwischen Familie Szendy und Gönczy) zustande. Ilka sehnt sich nach dem höheren gesellschaftlichen Status, inzwischen entfremdet sie sich von ihren Mitmenschen und von sich selbst und wird zuletzt wahnsinnig. Szilágyis Werk, das nicht nur Hintergründe und Motive einer Bluttat aufdeckt, sondern auch zeigt, wie die patriarchalische Welt über die Person herrscht, vereint in seiner reichen Sprachlichkeit und komplizierten Erzählstruktur die Muster des gesellschaftlichen Tableaus von Zsigmond Móricz (A fáklya; Sárarany) und der sogenannten ‚Frauenromane‘ (Gyász; Iszony) von László Németh (Molnár 2010). Viele der in den 1970er und 1980er Jahren geschriebenen ‚plot-artigen‘ – aus gattungsstruktureller Sicht sehr komplexen – Texte von Miklós Mészöly können mit der Parabel bzw. deren künstlerischer Destruktion in Verbindung gebracht werden. In Szárnyas lovak (1979; Geflügelte Pferde, 1991, H. Skirecki – H. Grosche – E. Haldimann) informiert die chronistenhaft unpersönliche Erzählerstimme über eine rituelle Handlungsreihe. Die Erzählung, die Prophezeiungen und geheimnisvolle Zusammenhänge ahnen lässt, aber ihrer Aufdeckung immer ausweicht, interpretiert die Grenzsituationen des Seins als Äußerungen einer rätselhaften Ordnung, als Wiederholungen einer archaischen Choreographie. Der Text demonstriert nicht nur, wie es ist, einer uralten Ordnung ausgeliefert zu sein, sondern er lässt auch über die Gründe und die Struktur dieses Ausgeliefertseins im Unklaren. Er exemplifiziert also, dass Geheimnisse und Gesetze des Schicksals
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und des Verhängnisses existieren und wirken, dass es aber sehr schwer oder sogar unmöglich ist, Zugang zu ihnen zu finden. In Megbocsátás (1984; Vergebung, in: Geflügelte Pferde), einem Werk, das eigentlich auf die refigurativen Verfahren des Familienromans anspielt, lässt der implizite Autor den symbolischen Knotenpunkt der Handlung im Ungewissen und relativiert durch die Aufbrechung des Chronotopos die historischen Zeiten (z. B. 19. Jahrhundert, Jahrhundertwende, Mitte des 20. Jahrhunderts), indem er sie ineinandergleiten lässt. Damit weicht er den interpretierend-affirmativen Erwartungen der Bedeutungsbildung aus. Das Fehlen einer einzigen, zusammenhängenden, zielgerichteten Handlung, mit anderen Worten: der Zweifel am Zugang zu der Identität, der sich in der ganzen Geschichte äußert, und die mehrdeutig rekonstruierbare Fabelartigkeit suggerieren die kontinuierliche Neubildung und Verlagerung des Ordnungsprinzips (des Bedeutungszentrums). Der Text ist als Kritik des als Eigentum vorgestellten Wahrheitswertes lesbar. Die Ordnung der Dinge erweist sich als unzugänglich, weil alles sich nur medial, also als eine Vermittlung zeigt. Die unterschiedlichen narrativen Schemata, die Dispersion des gattungsmäßigen und tonalen Registers gehen mit der Medialisierung der Dinge einher. In den 1970er und 1980er Jahren kommt dieser Erfahrung in den Schriften Mészölys (und auch Kertész’) größte Bedeutung zu. Die Virtualität, die Nichtfixiertheit des Geschehens exemplifiziert auch der Roman Sutting ezredes tündöklése (1987; Der Glanz des Obersten Sutting, in: Geflügelte Pferde), der in der Mitte der 1840er Jahre, in der Zeit vor den europäischen Revolutionen, spielt. Der Protagonist ist eine nicht identifizierbare, verborgene Gestalt. Er sieht die Welt in verschwommenen Konturen, als Nacheinander von Mosaiks, und kennt ebenso wenig wie der Erzähler den Anfangs- und Endpunkt der Geschichte. Der Reisetopos wird, ähnlich wie in Saul und anderen Werken Mészölys, als ewiges Unterwegssein und ewiges Warten aktualisiert. Bolond utazás (1987; Verrückte Reise) gehört eigenartigerweise zu den postmodernen Werken Mészölys, in denen das bewegte Zusammenspiel zergliederter narrativer Strukturen und Figuren des Lesens (z. B. des Reiseromans) realisiert wird. Die zerrissene Erzählung wird mit Zitaten, Anekdoten, Texteinschüben, sogar mit romanartigen Einlagen kombiniert. Das Mythenhafte, das auf der Toposaktualisierung, dem stark symbolischen Charakter, der Austauschbarkeit und Ähnlichkeit beruht, macht die Mehrdeutigkeit des Textes möglich. In der Ballada az úrfiról és a mosónő lányáról (1991; Ballade vom Junker und der Tochter der Wäscherin) wird der Architext der Ballade mit Elementen des Reiseromans und der Kriminalerzählung verbunden. Die bis in die Urzeit zurückreichende Geschichte des Protagonisten und des schönen Zigeunermädchens, die vor einer nicht definierten Bedrohung davonreisen bzw. fliehen, gewinnt eine mythische Perspektive. Hier wird eine für den Übergang von den 1980er zu den 1990er
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Jahren charakteristische, betont literarisch-selbstspiegelnde Gestaltungsweise demonstriert, denn die Ballade stellt die Gültigkeit der weltinterpretierenden Faktoren der Einheit, Analogie und Identität infrage, indem sie die konditionierten starken Erwartungen (so die Leidens- oder Kriminalgeschichte, die Parabel der Freiheit des Einzelnen und der Gemeinschaft) heraufbeschwört und aufspaltet (Thomka 1995, 66–83; Szirák 1998, 22–33). Während die Parabelhaftigkeit und die erzähltechnischen Charakteristika einzelner Werke von Mészöly aus wirkungsgeschichtlicher Perspektive z. T. in Nádas’ frühen Werken oder bei den Schriftstellern der jüngeren Generation (László Krasznahorkai, László Darvasi usw.) weitergegeben werden, lassen sich manche Werke von Péter Lengyel (1939–) mit der Ottlik-Tradition in Verbindung bringen. Sein Roman Mellékszereplők (1980; Nebendarsteller) und sein Kurzgeschichtenband Rondó (1982; Rondo) zitieren Ottliks Hauptwerk. Hinsichtlich der Zeitstruktur und der narrativen Konstruktion (Szenik, Vor- und Rückverweise, szenenbegleitende Reflexionen) des Romans und der Kurzgeschichten kommen sich die Werke Lengyels und Ottliks nahe, durch die kleinere Rolle des religiösen Diskurses und der intertextuellen Zusammensetzung geraten sie weit auseinander. Manche Interpreten neigen zu der Ansicht, dass Lengyels Texte mit der Fixierung der Erzählungsreferenzen, mit der Enthüllung der sich in der Wiederholung verbergenden Mehrdeutigkeit die – eigentlich offenen und von mehreren Seiten ansprechbaren – Textwelten Ottliks gewissermaßen eindeutig machen. Nach dem großen Erfolg des am ehesten im Kontext des Familienromans interpretierbaren Cseréptörés (1978; Ziegelbruch) wurde das Erscheinen von Lengyels neuem – und bislang letztem – Roman Macskakő (1988; Kopfsteinpflaster) gespannt erwartet. Das Werk Lengyels interpretiert die Geschichte als Verfallsgeschichte, die Anschauung des Romans wird entscheidend von der Perspektive des Verlustes der einst vorhandenen Werte bestimmt. Hinsichtlich der Erzählstruktur und manchmal auch hinsichtlich der Textgestaltung bestehen Ähnlichkeiten zwischen Macskakő und dem epochemachenden Termelési regény von Péter Esterházy. Beide Werke enthalten die Geschichte ihrer eigenen Produktion, man kann in ihnen eine die Textualität verstärkende fragmentarische Formation beobachten, und es werden Sprachzustände verschiedener Epochen zitiert, die jeweils mehrere Bedeutungen haben. Das andere wichtige architextuelle Kodesystem von Macskakő ist die aus der angelsächsischen und lateinamerikanischen Literatur bekannte sogenannte metaphysische Detektivgeschichte, deren diskursiv-poetische Interpretation ein wichtiges Vergleichssystem zur Bezeichnung der modernen und postmodernen Grenzen der Weltanschauung darstellt. Den Interpreten zufolge ist Lengyels Roman eine typisch spätmoderne ‚Rückübersetzung‘, eine aus dem Horizont der moralischen Parabelhaftigkeit umgeschriebene Vari-
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ante der Detektivgeschichte. Während in der metaphysischen Detektivgeschichte immer der logische und nie der moralische Aspekt der Straftat dominiert, gibt in Macskakő der Kontrast der einander gegenüberstellten Welten des Jahrhundertbeginns und des Jahrtausendendes Gelegenheit zur Formulierung moralischer und nostalgischer Lehren. Die Fixierung der Referenz der Erzählung, die Funktion der gut fassbaren Lehre als Botschaft widersprechen dem metaphysischen Rätsel, das ungelöst bleibt, denn sie implizieren, dass die Erkenntnis dennoch zu irgendeinem letzten Ergebnis führt. All das scheint natürlich aus der Perspektive der postmodernen metaphysischen Detektivgeschichte so zu sein, von hier aus gesehen kann die ästhetische und kulturkritische Einstellung des Werkes auch als eine solche interpretiert werden, die die Verteidigung gegen die postmoderne Erfahrung demonstriert. Der Roman Lengyels steht also nicht nur in einem kritischen Dialog mit dem zeitgenössischen postmodernen Diskurs, sondern bildet mindestens ebenso sehr eine Kontinuität mit der Episteme und den Wertidealen der Moderne (Bónus 2001, 37–59). Im Wesentlichen ähnlich kann auch das Werk von László Krasznahorkai (1954–) charakterisiert werden. Sein 1985 erschienener Roman Sátántangó (Satanstango, 1990, H. Skirecki) war bemerkenswert erfolgreich. Die zeitgenössischen Interpreten, die die Rezeptionsweise wesentlich gestalteten, begrüßten in ihm die ‚Wiederherstellung‘ der Historizität, der erzählerischen Kompetenz und der tragischen Sichtweise sowie die Enthüllung des in Osteuropa wohlbekannten politischen Messianismus. Sátántangó thematisiert den rätselhaften und schonungslosen Betrug an den hilfsbedürftigen, dahinvegetierenden Bewohnern einer verfallenen Siedlung in der Provinz. Die Rezeptionsstrategie des Romans wird – hinsichtlich der Rhetorik der Erzählstimme, der diskursiv-poetischen Anlage der werkimmanenten Diskurse und der integrativen Wirkungsfunktionen der biblischen Metaphorik – stark vom Zusammenspiel der ‚Meistererzählungen‘ der Eschatologie und der weltlichen Emanzipation gelenkt. Die dem damaligen ungarischen Leser sehr wohl bekannte Stimme, die die Gier nach Eschatologie und eine vulgäre Heilsgeschichte (d. h. die kommunistische weltliche ‚Heilsgeschichte‘) ineinander spielt und gegenseitig parodiert, verbindet die Bedeutungsbildung in entscheidender Weise mit dem regionalen ideologisch-politischen Diskurs. Es ist kein Zufall, dass der Roman (auch) als politische Parabel gelesen werden kann, wobei die kollektive Erfahrung der regionalen Unfreiheit im Mittelpunkt steht. Zugleich ist für den Sátántangó ein die spätmoderne Einstellung bezeugender metaphysischer Sakralitäts- und Vollkommenheitsanspruch charakteristisch, der die radikale Abwertung der menschlichen Kondition zwar nicht zu kompensieren, aber doch gewissermaßen auszugleichen scheint. Die Aspirationen auf die höhere Welt werden durch die Rhetorik der epischen Imagination (z. B. Fiebertraum und Vision von Estike) aufgebaut, und damit wird der Roman von der
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reinen systemkritischen Lesart entfernt. Bemerkenswerterweise hat die damalige ungarische Rezeption des lateinamerikanischen sogenannten magischen Realismus in der zeitgenössischen Rezeption von Sátántangó eine nicht zu vernachlässigende Rolle gespielt. Die wirkungsvollsten Kritiken erwähnten – neben Kafka, Bulgakow und Okudshawa – hauptsächlich die Analogie zu Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. Sie nutzten die Anpassungsfähigkeit des Begriffs des magischen Realismus und seine mimetischen Implikationen und schufen dem wunderbar-phantastischen Element gewissermaßen Raum in den eigentlich grundlegend wahrheitsanalogen Figuren des Lesens. Dies taten sie mit einigem Recht, denn die ‚Welt‘ des Sátántangós bestätigt z. T. die Erfahrungen der ‚realen‘ Lebenswelt des Lesers (in Raum und Zeit), ihre dekonkretisierenden Verfahren schließen die räumlich-topographische, quasi-soziologische ‚Wiedererkennung‘ nicht aus. Diese gerichtete, herrschende Homogenität der ästhetischen Erfahrung – nicht aufgespalten durch die Imagination – begünstigt eher die Lektüre als Parabel und kann der imaginativen Polyphonie von Márquez nur wenig entsprechen. Zugleich lösen zahlreiche Szenen des Romans eine ironischehumoristische Wirkung aus, die teils auf die satirischen Variationen von christlichen bzw. politisch-ideologischen Klischees, teils auf die Unstimmigkeit von Diskurs (d. h. dem häufig pathetischen Ton) und Diskursgegenstand (den hoffnungslosen Verhältnissen) beruht (Szirák, 1998, 69–73). Während ein großer Teil der ungarischen Literatur bitter, aber überheblich über die Praxis des ‚real existierenden Sozialismus‘ lachte, schien Krasznahorkai die Kritik am System in Richtung einer Kulturkritik auszuweiten und schrieb, über regionale Existenzkämpfe hinaus, auch von den hochklingenden Täuschungen und den Schwächen der ganzen europäischen Kultur. Der Roman Az ellenállás melankóliája (1989; Melancholie des Widerstands, 1992, H. Skirecki) exemplifiziert das Scheitern und die Verflüchtigung der weltdeutenden Ideen. Im Mittelpunkt steht die teuflische Ereignisfolge der Zerstörung einer Stadt beziehungsweise die Anstrengungen einiger Stadtbewohner, die Vorkommnisse dieser Verwüstung auf irgendeine Weise zu deuten. Wie Krasznahorkais andere Werke, gibt auch diese Variante der menippischen Satire keine beruhigende Erklärung für den Zerfall. Krasznahorkai ist nämlich kein negativer Utopist, sondern ein erbitterter Kritiker der Utopien. Während bei Ottlik die zerbrechliche Güte unter dem Übergewicht des Bösen leidet, aber auf das Eintreten der göttlichen Gnade vorbereitet ist, bleiben Krasznahorkais Helden in beiden Romanen mit der Erinnerung der erschütterten europäischen Kultur auf sich gestellt. Die heilige Einfalt von Estike und Valuska, die ermüdete Gutgläubigkeit von Doktor und György Eszter zeigen, dass Güte und Kraft verhängnisvoll voneinander getrennt wurden. Der international bekannte Regisseur Béla Tarr brachte Krasznahorkais Debütroman Sátántangó in siebeneinhalbstündiger Schwarz-Weiß-Fassung auf die Leinwand
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(1994). Az ellenállás melankóliája wurde von ihm im Jahr 2000 unter dem Titel Werckmeister Harmonies verfilmt. Az urgai fogoly (1992; Der Gefangene von Urga, 1993, H. Skirecki) erzählt die Geschichte einer Reise nach Peking und Urga (dem heutigen Ulan-Bator) und stellt die Überlegungen eines europäischen Reisenden in den Mittelpunkt, der sich mit der Fremdheit des Fernen Osten konfrontiert und aus einer metaphysischen Ganzheit ausgegrenzt sieht, auf diese aber nicht verzichten kann. Seit Beginn der 1990er Jahre verbindet Krasznahorkai in seinen Schriften die Struktur der autobiographischen Prosa mit der Gattungsfigur der Reisebeschreibung. Aus der Perspektive dieser Letzteren werden, unter Einfügung von Metanarrativen, die Gattungsmuster der Reiseberichterstattung aufgespalten. Der Modus der Anordnung der Dinge wird an die Wertperspektive des Subjekts gebunden und dabei nicht von der Diskursform der Anblicksbeschreibung, von der des Bekenntnisses bestimmt. Az urgai fogoly aktualisiert die epische Tradition der Reise in die Unterwelt (nicht zufällig hat der Autor einige Zeilen aus Dantes Göttlicher Komödie zum Motto gewählt) oder ins Jenseits und die Chronotopoi der ‚jenseitigen/anderen‘ Welt, des Übertritts, der Grenze. Die Pilgerfahrt ins ‚Jenseits‘, in der Urga der Ort des Übergangs in die Hölle ist und China das unerreichbare ‚Himmelreich‘, verstärkt von den erzählerischen Identifikationsmustern am meisten den prophetischen Rollenwechsel und mobilisiert am stärksten die Rhetorik der Jeremiade (Bónus 2001, 60–71). In den Jahren nach 2000 reiste Krasznahorkai zweimal in den Fernen Osten und schrieb darüber zwei weitere Bücher. Nicht Menschen sind die wahren Protagonisten des Romans Északról hegy, délről tó, nyugatról utak, keletről folyó (2003; Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß, 2005, Ch. Viragh), sondern der herrliche Garten eines zen-buddhistischen Klosters von Kyoto, in dem jedes Ding seinen Platz und seine wohlgeformte Gestalt eine Bedeutung an sich hat, und eine fiktiv-literarische Gestalt: der Enkel des Hauptdarstellers eines uralten japanischen ‚Epos‘ (Genji Monogatari; Die Geschichte vom Prinzen Genji von Murasaki Shikibu, um 1010). Der Enkel des mythischen Helden Prinz Genji sucht nach dem vollendeten ästhetischen Erlebnis, findet aber nur die Ruinen des Klosters, das das Aufräumen der von der Globalisierung bedrohten uralten Kultur exemplifiziert. Rombolás és bánat az ég alatt (2004; Verwüstung und Schwermut unter dem Himmel) stellt wieder eine Reise nach China dar. Der Protagonist versucht, den Fallen der europäischen missionarischen, kolonisatorischen bzw. touristischen Mentalität auszuweichen, er beginnt mit seinem chinesischen Gastgeber eine weitschweifige Debatte über das Wesen und Schicksal der uralten Kultur. Der Reisende muss sich selbst revidieren, insofern er den Misserfolg seiner leidenschaftlichen Suche nach der Authentizität einsieht.
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Einer der aufregendsten ungarischen Romane der Jahrtausendwende ist Háború és háború (1999; Krieg und Krieg, 1999, H. Skirecki). Der Protagonist des Romans ist Dr. György Korim, Archivar in der Provinz, der auf seinem Arbeitsplatz unerwartet auf ein sonderbares Manuskript stößt. Der Verfasser ist unbekannt, und auch über die Entstehungszeit kann man nur rätseln, doch der Inhalt fesselt Korim immer mehr. Der Text handelt von vier geheimnisvollen schiffbrüchigen Männern, die zu verschiedenen Wendepunkten der europäischen Geschichte (in Minos’ Kreta, im antiken Rom, im mittelalterlichen Köln und Venedig und im Warten auf Kolumbus in Gibraltar) auftauchen und immer vor Krieg und Zerstörung flüchten müssen. Der über der Unverständlichkeit des Seins verzweifelte kleinstädtische Archivar wandert nach New York, „dem Mittelpunkt der Welt“, aus, wohin er bloß dieses Manuskript mitnimmt, um es ins Internet hinüberzuretten und der Welt bekannt zu machen. Er hofft, daselbst Lösung auf das Rätsel und den Sinn des Manuskriptes sowie seines Lebens zu finden. Das Lesen und Überschreiben des Manuskriptes erinnert an das bereits erwähnte Kompetenzmodell von Ottlik. Zugleich lesen wir die Geschichte der vielstimmigen Vermittlung, Medialisierung des Textes. Krasznahorkais Roman, der dem Muster von Tolstois Krieg und Frieden und der Tragödie des Menschen von Imre Madách folgt, bringt durch virtualisierende Effekte, die die Geschichtsgrenzen auflösen, und durch die Ineinander-Spiegelung der Textebenen ein ungemein vielschichtiges selbstreferentielles Netz hervor (Fodor 2001, 164–179). Sinistra körzet (1992; Schutzgebiet Sinistra, 1994, H. Skirecki) von Ádám Bodor (1936–), einer der erfolgreichsten Romane der frühen 1990er Jahre, steht offensichtlich in engem Kontakt mit den Leseerfahrungen von Sátántangó und Az ellenállás melankóliája. Auch Bodors Novellistik (Milyen is egy hágó?, 1980; Wie ist ein Pass?; Az Eufrátesz Babilonnál, 1985; Der Euphrat bei Babylon) waren von Anfang an vom systemkritischen Aspekt der politischen Parabel und der geschichtsphilosophischen Beziehbarkeit bestimmt. In den Kurzgeschichten werden Erzählstrukturen, die an die Hemingway’sche und Mészöly’sche Reduktion der narrativen Funktionen und die postmoderne Fragmentarisierung erinnern, mit der epischen Imagination von Kafkas abstrakter Parabel verknüpft. Bodor folgt abweichenden Traditionen der ungarischen Erzählprosa, wie der – ihrerseits die Novellistik der Moderne (Géza Csáth, Dezső Kosztolányi, Sándor Márai) neuschreibenden – frühen Parabelhaftigkeit Mészölys und der auch von dieser Tradition abweichenden grotesken, pointierenden Kurzprosa Örkénys, die die Verbindung mit Feuilleton und Skizze aufrechterhält (Sírfelirat helyett; Statt einer Grabinschrift; Wolf; Mord ember; Der Verbissene; Új bútor; Neue Möbel in: Milyen is egy hágó?; Az Eufrátesz Babilonnál; Der Euphrat am Babylon; Tudnivalók a szénégetőkről; Wissenswertes über die Köhler; A részleg; Die Außenstelle in: Az Eufrátesz Babilonnál; letztere Kurzgeschichte, von Péter Gothár 1994 verfilmt, ist
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auch auf Deutsch erschienen [Csuhai 1993]). Bei der Lektüre von Sinistra körzet – der die besonderen Herrschaftsverhältnisse und Ereignisse in einem Gebiet im Gebirge irgendwo in Osteuropa beschreibt – wurde die so konditionierte Strategie des Lesens zu einiger Erneuerung gezwungen, vor allem deshalb, weil die Mosaikartigkeit der Geschichtselemente, das komplexere Metaphernsystem und die desintegrativen narrativen Schichten eine reflektiertere Leserrolle vorschreiben. Von Mészölys Parabeln gewissermaßen abweichend, beruht die Inszenierung des Imaginären bei Bodor nicht auf dem Gegensatz zwischen Wahrscheinlichem und Phantastischem, sondern auf der Relativierung, der Aufhebung des Unterschiedes zwischen den beiden. Durch den an Kafka erinnernden gleichmütigen Ton nivelliert der Erzähler die Erzählungselemente und löst die Grenzen der ‚alltäglich-wahrscheinlichen‘ und der phantastischen Welt auf. Dies führt zu einer Destabilisierung des parabolischen Konstrukts, die durch die rhetorischen Inkonsequenzen des Erzählers (z. B. häufige Umsetzungen der Eigenschaften und Attribute der Figuren) noch verstärkt wird. Von Freiheit ist keine Spur im Schutzgebiet Sinistra, denn es besteht keine Möglichkeit der Wahl zwischen Gut und Böse. Die Darsteller müssen bestimmte, unabwendbare Rollen spielen, die sie nicht verlassen dürfen: Wenn jemandem beispielsweise die Rolle der Krankheit ‚zufällt‘, muss er sterben, ohne dass ihm jemand bei der Heilung behilflich ist. All dies nimmt der Protagonist Andrei Bodor, der auf der Suche nach seinem entlaufenen Stiefsohn in das ‚Naturschutzgebiet‘ irgendwo zwischen dem Balkan und den Karpaten gerät, ohne ein Wort der Klage zur Kenntnis. Bodor stellt Gewalt und Zerstörung, menschliche Erniedrigung und Boshaftigkeit als selbstverständliche, situationsbedingte Gegebenheiten dar. Er erreicht dies dadurch, dass er seinen Erzähler-Protagonisten über die Ereignisse nicht von der wertenden Position einer ‚äußeren‘ moralischen Perspektive jenseits der Zäune des Gebietes sprechen lässt, sondern ihn einer inneren Bezugsordnung anpasst, um so die inneren Gesetze von Sinistra als selbständige, geschlossene (sprachliche) Welt ertönen zu lassen. Auch Bodor löst so die Interpretierbarkeit dieser Welt von einer allgemeinen (humanistischen) Ideologie ab und stellt sie in einen offenen Horizont, womit er den Leser anregt, seine Auffassung von Moral zu überprüfen (Kovács 2005, 146–162). Im Wesentlichen ähnlich kann auch Bodors bislang letzter Roman Az érsek látogatása (1999; Der Besuch des Erzbischofs, 1999, H. Skirecki) charakterisiert werden. Die Mosaikartigkeit, die Desintegration der narrativen Schichten, die Stimme, die mit Kafka’scher Gleichgültigkeit von Absurdem spricht, und die damit einhergehende ironisch-groteske Wirkung erinnern an die bekannten Merkmale von Sinistra körzet. Unter den Werken, die an mehreren Gattungen teilhaben und sich von der Parabel entfernen, dürfen die Schriften von László Darvasi nicht unerwähnt bleiben, dem Autor mit dem vielversprechendsten Laufbahnstart der frühen
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1990er Jahre. Nach seinen Bänden, die einige erzählorganisatorische Praktiken der Kurzgeschichten Miklós Mészölys, der Novellistik der ungarischen Moderne bzw. Ádám Bodors aufscheinen lassen (A veinhageni rózsabokrok, 1993; Die Veinhagener Rosensträucher; A Borgognoni-féle szomorúság, 1994; Die Borgognoni’sche Traurigkeit – ausgewählte Erzählungen auf Deutsch: Das traurigste Orchester der Welt, 1995, A. Relle, und Herr Stern, 2006, H. Eisterer) scheint sich Darvasis Sprachgebrauch im weiteren Sinne der Traditionsstruktur der ungarischen Erzählprosa anzunähern, wobei er eine im diskurspoetischen Horizont weitaus komplexere Textgestaltung impliziert (A Kleofás-képregény, 1995; Der Kleofas-Bildroman). Bei Darvasi spielt die beständige Variation der Muster, der Grundschemata der Erzählung (Märchen, Anekdote, Legende) eine bestimmende Rolle. Seine Schriften beruhen auf Wechseln in den Zeit- und Raumverhältnissen und auf der an (oftmals absurden) Wendepunkten reichen Handlungsführung. Zugleich lässt der Erzähler die meist absurde Logik des Geschehenen ohne Reflexion, wodurch er den gattungsmäßigen Kode des Märchens verstärkt. Daraus ergibt sich, obwohl die Zeit- und Raumstruktur der Erzählungen eine geschichtliche ‚Welt‘ bildet – z. B. das Hessenland des 18. Jahrhunderts in A fuldai Kékvízesés (Der Fuldaer Blauwasserfall), Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts in A Zord Apa, vagy a Werner-lány hiteles története (Der strenge Vater oder die glaubwürdige Geschichte der Werner-Tochter) oder die Schauplätze des jugoslawischen Bürgerkriegs in den Erzählungen von Szerezni egy nőt (2003; Eine Frau besorgen, 2003, H. Eisterer – T. Mora – A. Relle) –, eine Spannung zwischen dem so hervortretenden Referenzzwang und der märchenhaften Erzählungsordnung; all dies geht mit der ironischen Verdopplung der Perspektive des Lesers einher. Die Anhäufung von Diskursfragmenten und die mechanische Wiederholung der Klischees rufen die Figur der parodistischen Lektüre hervor. Die Werke von Sándor Tar (1941–2005) sind aus diskursiv-poetischer Perspektive z. T. den Verfahren Mészölys (s. Pontos történetek útközben, 1970; Genaue Geschichten unterwegs, in: Rückblenden, 1980, H. Grosche) ähnlich, welche die narrative Funktion reduzieren. Tars Geschichten sind auch verwandt mit der distanzierenden und insistierenden Attitüde der Soziographie und der Reportage und stellen die Welt der Hilflosen, Armen und Erniedrigten dar. Wie es im Ostblock früher im offiziellen Sprachgebrauch hieß: die Welt der ‚Proletarier‘, derjenigen Arbeiter, denen die Zukunft – trotz des Versprechens der Kommunisten – nicht gehörte. Es ist die Rede von den Arbeitern, die als Mitglieder der „herrschenden Klasse des real existierenden Sozialismus“ gerade zu den am schlimmsten betrogenen und erniedrigten Parias des Regimes geworden waren, vom Schicksal der ewigen Verlierer, der kleinen Leute, die sich später in der verwirrend freien „schönen neuen Welt“ als arbeits- und obdachlos wiederfinden. Die Darstellung der Armut und der Hilflosigkeit ist für Tar nicht einfach nur ein
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Thema der Gesellschafts- und der Zeitkritik, sondern die authentische Sphäre, in der die Welt vernommen und verstanden werden kann. Der Augenzeuge in seinen Schriften ist nur scheinbar gleichmütig. Die Novellen und Romane, in denen es um das Schicksal der Armen, der (Ex-)Arbeiter und (Ex-)Bauern geht, sprechen nämlich mit einer gnadenlosen Hellsichtigkeit, aber auch mit Anteilnahme über die Möglichkeiten der menschlichen Existenz. Scheinbar einfach, in Wirklichkeit aber mit einer Disziplin, die die Versöhnung und die Utopie ausschließt. Er tut es auf eine Weise wie z. B. Zsigmond Móricz (Árvácska, Die kleine Waise) und Gyula Illyés (Puszták népe, Die Puszta) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sándor Tars Erzählungen und Romane (A 6714-es személy, 1981; Der 6714-er Personenzug; Miért jó a póknak?, 1989; Warum tut es der Spinne gut?; A te országod, 1993; Dein Land; A mi utcánk, 1995; Ein Bier für mein Pferd, 1999, H. Skirecki; Minden messze van, 1995; Alles ist fern; Szürke galamb, 1996; Graue Taube, 1999, K. Koenen; Lassú teher, 1998; Träge Last; Nóra jön, 2000; Nora kommt) vermitteln ein alternatives, sardonisch-groteskes Geschichts- und Gesellschaftsbild der jüngsten ungarischen und mitteleuropäischen Vergangenheit.
VIII.A.2.3 Uminterpretieren der Gattungen und Diskurse: Familienroman und Erinnerungsroman Eine der am häufigsten zitierten Gattungen der Prosawende ist der Familienroman, zu dem sich oft Bauformen des Erzählens gesellen, welche die Muster der Erinnerungstechniken und der Autobiographie aktualisieren. Dieser architextuelle Zusammenhang ist in einzelnen Fällen eher mit den traditionelleren Formen der Parabel vereinbar (z. B. Nádas: Egy családregény vége, Ende eines Familienromans; Lengyel: Cseréptörés, Ziegelbruch; Kertész: Sorstalanság, Roman eines Schicksallosen), während man sich in anderen Fällen einer kraftvollen Dekomposition des Gattungsmusters gegenübersieht (z. B. Mészöly: Családáradás, Familienflut; Kukorelly: TündérVölgy, FeenTal). Die Gattungsmuster des Familienromans und die Erinnerungstechniken spielen auch in dem Teil von Esterházys Lebenswerk eine große Rolle, der eigentlich eher durch die Strategie der ‚Textsuche‘ zwischen den Gattungen charakterisiert werden kann (Termelési-regény, Ein Produktionsroman; Hrabal könyve, Das Buch Hrabals; Hahn-Hahn hercegnő pillantása, Donau abwärts; Harmonia caelestis). So kann also diese diskursivpoetisch-gattungsstrukturelle Erscheinung ebenso begründet in einem gesonderten Kapitel behandelt werden wie die Schreibweise des (post)modernen autobiographischen Romans, z. B. Nádas: Emlékiratok könyve, Buch der Erinnerung; Esterházy: Csokonai Lili: Tizenhét hattyúk, Lili Csokonai: Siebzehn Schwäne; Garaczi: Pompásan buszozunk, Die wunderbare Busfahrt.
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Die Handlung von Egy családregény vége (1977; Ende eines Familienromans, 1979, H.-H. Paetzke; 1993, H. Grosche) spielt im Ungarn der Stalin-Ära und beschreibt die Geschichte des halbverwaisten Sohnes eines Offiziers des Staatssicherheitsdienstes („ÁVH“) aus der Perspektive des Jungen Péter Simon selbst. Die diskursiv-poetische Neuigkeit des Romans besteht vor allem in der Anwendung der kindlichen Stimme und in der Aktivierung der intertextualisierenden Textgestaltungsweise. Die kindlich-erzählerische Sprache, die die weiteren Zusammenhänge der Sensualisierung nicht kennt, steht im Vordergrund, und mit ihr die Bildbeschreibung. Die erbarmungslosen politischen Vorgänge (d. h. der Terror der totalitären Außenwelt, die Verhaftungen, die stalinistischen Schauprozesse), die im Hintergrund ablaufen, werden brüchig, nebelhaft, mehr oder weniger unrekonstruierbar. Die Bedeutungsbildung der mehrdeutig interpretierbaren Parabel hängt zum großen Teil davon ab, wie sich die Dimensionen des 2.000-jährigen familiengeschichlichen Mythos und der biblischen Metaphorik (z. B. der auf das Paradies verweisende Garten, die Schlange, der Fisch usw.) abzeichnen. Die Aufwertung der Tradition geht mit der Uminterpretation der erinnernden Ich-Form einher, die Erzählsituation wird gewissermaßen unpersönlich, und dadurch wird die epische Mitteilungsfähigkeit des in dieser Zeit häufigen Stimmungsromans überschritten und die parabolische Gültigkeit der Identitätskrise gesteigert. Das architextuelle Bezugssystem in Egy családregény vége bzw. sein Dialog mit der Gattungstradition des Familienromans, mit dem Mythos und dem Bildungsroman lenkt die Aufmerksamkeit auf die Macht der Tradition, auf die Begrenztheit der Möglichkeiten, diese Tradition zu wählen oder umzuformen. Und darauf, dass die individuelle Selbstinterpretation und Lebensführung weitgehend von der Tradition abhängig ist, die die symbolische Ordnung der Welt durch die Sprache vermittelt. Der Großvater lebt auf der Flucht vor der Gegenwart in der Vergangenheit. Er erzählt dem Enkel die Geschichte des Volkes, das den Messias nicht erkannte und darum seit 2.000 Jahren zu sühnen hat. Er rät dem Kind, die jüdische Identität aufzugeben und sich dem Christentum anzunähern. Der Kampf der Welten des Großvaters, der auf dem jüdischen Ursprungsmythos und den klassischen bürgerlichen Werten beharrt – er formiert entscheidend die Identität des kleinen Jungen –, und des Vaters, der sich von den traditionellen Bindungen befreien will, offenbart eben die Auflösung der Gesetze, die Vernichtung einer trotz ihrer Leiden verinnerlichten Weltordnung. Beim Durchdenken der Persönlichkeitsintegrität bzw. der Möglichkeit ihres Bewahrens spielt die abschließende Wiederschreibung des klassischen bürgerlichen Interpretationsmusters, des Familienromankontextes (z. B. Buddenbrooks), eine wichtige Rolle. Die Offenheit des mehrmals antizipierten formalen Abschlusses von Egy családregény vége verunsichert den Leser in Bezug auf die Traditions- und Schicksalsinterpretation. Der ‚verborgene Erzähler‘ ist im Besitz der im Mythos eingeschlos-
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senen Erkenntnis und Würde und wird mit der Erfahrung des Zerfalls konfrontiert, kommt von der jüdischen Leidensgeschichte nicht los, demontiert aber auch die vom Großvater veranlasste christliche Heilsgeschichte nicht (Balassa 1997). In Péter Lengyels Cseréptörés (1978; Ziegelbruch) sucht der Protagonist János Bárán seine eigene Bedeutung, die Garantie seiner Identität in den Schicksalen seiner Gemeinschaft, seiner Familie und vor allem seines im Zweiten Weltkrieg am Don gefallenen Vaters. Der ‚Vaterfrage‘, der Frage des Fehlens bzw. der Unsicherheit der Vaterschaft oder der Unzugänglichkeit des Vaters, kommt in der zeitgenössischen ungarischen Erzählprosa, in den sogenannten Vaterromanen, große Bedeutung zu (z. B. Nádas: Emlékiratok könyve; Kertész: Sorstalanság und Kaddis; Závada: Jadviga párnája; Esterházy: Harmonia caelestis und Javított kiadás, Verbesserte Ausgabe; Kukorelly: TündérVölgy; Grecsó: Isten hozott, Lange nicht gesehen usw.) Der architextuelle Horizont des Romans von Lengyel wird von den Gattungsindizes des Bildungs- und Familienromans geschaffen, insofern als die Leseweise von Cseréptörés einerseits durch den inversen poetischen Vorgang des Familienromans, die Erzählform des Erinnerns, die die Familiengeschichte nachträglich konstruiert, andererseits durch die identitätsbildende Ereignisreihe des Bildungsromans geformt wird. Die Erforschung der Erinnerungen hat eine systematische Ordnung, denn der Erzähler in Cseréptörés glaubt fest daran, dass die Vergangenheit zugänglich ist, dass man sie mit Willensanstrengung wiederfinden kann. In diesem Horizont wird die Vergangenheit zu Gegenwärtigem im Sinne der Restitution; das Werk schützt seine Stabilität, indem es jene Vergangenheit nicht als Konstruktion der im rhetorisch-diskursiven Sinne geschehenden Sprache, sondern als ein außerhalb ihrer stehendes, von ihr unabhängiges symbolisches System präsentiert. Während in den Erinnerungsromanen im Allgemeinen ein zentrales Prinzip der Textgestaltung, der Mobilisierung und Verkörperlichung der Erinnerung die ständige Uminterpretation der Ereignisse ist, haben die Ereignisse in Cseréptörés von Anfang an einen festen Platz in der Familiengeschichte, den die Erinnernden einfach finden müssen und dessen letzte Instanzen nicht an das sich erinnernde Subjekt gebunden zu sein scheinen, sondern an eine als unpersönlich und objektiv dargestellte Erzählerstimme. Die Gedächtniskonzeption Lengyels basiert auf der identischen Wiederholung und ist deshalb gezwungen, die Veränderung des Geschehenen während seiner Erzählung als Verlust, das Vergessen allein als Negativität zu bewerten und damit das Potential der Mehrdeutigkeit, das sich in der Erinnerung, der Wiederholung verbirgt, eher zu enthüllen als auszunutzen (Bónus 2001, 37–59; Kulcsár-Szabó, Zoltán 1997, 163–186). In dem Anfang der 1960er Jahre begonnenen und 1975 erschienenen Roman Sorstalanság (erste deutsche Ausgabe: Mensch ohne Schicksal, 1990, J. Buschmann; Neuübersetzung von Ch. Viragh: Roman eines Schicksallosen, 1996) ver-
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Abb. 43: Imre Kertész, 2002
arbeitet Imre Kertész (1929–) seine Erfahrungen in den deutschen Konzentrationslagern, vor allem in Auschwitz. Mehr als zehn Jahre lang schrieb er an diesem Buch, das in Ungarn erst nach zweijähriger Verzögerung durch den Verlag erscheinen konnte. Protagonist des Romans ist der 15-jährige György Köves aus Budapest, der zunächst – zaghaft und umständlich – davon erzählt, wie seine Familie im Frühling 1944 von seinem Vater Abschied nahm, als dieser zur Zwangsarbeit (sogenannter „Arbeitsdienst“) verschleppt wurde. Zwei Monate später wird er selbst auf dem Weg zur Arbeit in einem Vorort von Budapest aufgegriffen und zuerst nach Auschwitz, später in andere Konzentrationslager deportiert; mit wenigen anderen Überlebenden kehrt er im Sommer 1945 nach Ungarn zurück. Sorstalanság, thematisch ein HolocaustRoman, erzählt die erschütternde Geschichte von der Deportation eines jungen ungarischen Juden und ist eine Anklageschrift gegen das Vergessen, drei Jahrzehnte nach der Verschleppung und Vernichtung der meisten ungarischen Juden. Der Erzähler schildert Auschwitz nicht retrospektiv, sondern aus der kindlich naiven (eigentlich pseudo-naiven) Perspektive eines gutgläubigen Jungen – seine Erfahrungen im KZ sind im Grunde von Täuschung bestimmt. Denn mit den Deportierten wird ein brutales Spiel gespielt: Sie werden immer mehr gedemütigt und eingeschüchtert und bis zum letzten Moment über das, was wirklich mit ihnen geschehen wird, im Unklaren gelassen. György weiß – wie auch die
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anderen Verschleppten – eigentlich nicht, wo er ist, er hat anfangs keine Ahnung davon, dass Auschwitz ein Konzentrationslager ist. Die Mitglieder des Sonderkommandos hält er für Sträflinge; ihr Wesen und auch die Bedeutung und Funktion der Gegenstände in seiner Umgebung (z. B. der Peitsche, des Stacheldrahts und des Krematoriums) erkennt und entdeckt er erst allmählich. Die Distanz zwischen den Erwartungen Györgys und der Realität ist so groß, dass er die Täuschung, die es den Verfolgern ermöglicht, ihre Opfer in die Irre zu führen, an einer Stelle gar mit einem Scherz, einem Schülerstreich vergleicht. Er und seine Leidensgefährten haben weder die Erfahrungen noch die teuflische Phantasie, um sich vorstellen zu können, was mit ihnen tatsächlich geschehen wird. Sorstalanság problematisiert nicht nur das Verhältnis zwischen dem Geschehensein und dem Gedächtnis, sondern auch das Verhältnis des sich erinnernden Ichs zu seinem eigenen Gedächtnis (sogar zu dem Akt der Erinnerung an das Gedächtnis) und zeigt damit die breite Streuung der Identität des sich Erinnernden in der Zeit. Dieses Charakteristikum des Werkes kann mit der Zeitbetrachtung in Thomas Manns Zauberberg in Verbindung gebracht werden, entfernt auch mit William James’ „Bewusstseinsstrom“ und Bergsons „Dauer“. Nur zur Ergänzung sei noch bemerkt, dass der Einfluss Ottliks, der sich zur Zeit des Erscheinens von Sorstalanság gerade ausbreitete, kaum ausgeschlossen werden kann, besonders die Tatsache, dass die gedächtnis- und erzähltechnischen Mechanismen von Iskola a határon in den Vordergrund gelangten. Die einander relativierenden Erzählperspektiven verbinden sich bei Ottlik mit verschiedenen, weil grundsätzlich festgelegten, erinnernden Ichs. In Sorstalanság bzw. in Nádas’ beinahe gleichzeitig entstandenem Egy családregény vége machen die erkennbar ungegliederten Wechsel der Erzählperspektive die Position des Erzählers unbestimmbar. In gattungspoetischer Hinsicht vereint Sorstalanság durch die Transformation der Pikaro-Perspektive gleichsam das Muster des Schelmenromans (genauer gesagt: des Bachtin’schen „alltäglichen Abenteuerromans“) und durch die Umkehrung der Persönlichkeitsentwicklung im Werdegang des erlebenden Subjekts gewissermaßen die Tradition des Bildungsromans (z. B. des Wilhelm Meister). Der Autor selbst bezeichnete sein Werk als einen „sprachkritischen Roman“, da er die Ideologien und Prägungen außer Kraft setze, in deren Sprache man bis dahin über Auschwitz gesprochen habe. Sorstalanság erzählt das Wesen des Holocaust auf diese ganz besondere Weise: Der Roman stellt die gängigen, gleichsam ‚vertrauten‘ Konstruktionen und Vorstellungen des Redens über Auschwitz infrage, indem er das KZ in seiner in keiner Normalität verortbaren Sinnlosigkeit und seiner leer laufenden, weil nicht mit Normen des menschlichen Verstandes greifbaren Brutalität vor den Leser bringt. Ihm zufolge kann man sich an Auschwitz nur dann authentisch erinnern, wenn man es in dieser totalen Sinnlosigkeit
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denkt. Deshalb ist für den Protagonisten eine normalisierende Abrundung oder ein Abschluss der Geschichte undenkbar, ja auch inakzeptabel, denn diese würden Beruhigung und Vergessen bedeuten. Die Kunst und insbesondere die Literatur hat eine spezifische Funktion für die Wahrnehmung des Holocaust, weil sie die ideologische Fixierung des Denkens auflöst, den Leser von dessen Prägungen befreit und ihn befähigt, die Leiden eines anderen Menschen ohne relativierende Begründungen zu empfinden. Zugleich verhindern Polyvalenz und Unmittelbarkeit solch authentischer Literatur, dass die Vergangenheit instrumentalisiert und normiert und zu einem Denkmal versteinert wird – nur so wirkt sie gegen das Vergessen. Imre Kertész hat das so formuliert: „Vom Holocaust, dieser unfassbaren und unüberblickbaren Wirklichkeit, können wir uns allein mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft eine wahrhafte Vorstellung machen.“ Kertész erhielt – als erster ungarischer Schriftsteller – 2002 den Literaturnobelpreis für seine „Tätigkeit, die Erfahrungen eines gebrechlichen Menschen zu schildern, der der barbarischen Tyrannei der Geschichte ausgeliefert war“. Sorstalanság wurde 2004 von Lajos Koltai in einer internationalen Zusammenarbeit verfilmt. Der Roman von Kertész stellt das Schicksal (die Schicksallosigkeit) ebenso dem Freiheitswert gegenüber wie Péter Nádas’ Egy családregény vége. Auch Kertész’ andere Werke (Kudarc, 1988; Fiasko, 1999, Gy. Buda – A. Relle; Kaddis a meg nem született gyermekért, 1990; Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1992, Gy. Buda – K. Schwamm; Valaki más, 1997; Ich – ein anderer, 1998, I. Rakusa; Felszámolás, 2003; Liquidation, 2003, L. Kornitzer – I. Krüger) exemplifizieren Schicksalsgesetze und schreiben damit die Welt von Kafka, Camus und Thomas Bernhard neu, verschalten die Traditionen des asketisch-tragischen und absurdironischen Zuges der Prosa. So wie in den Schriften von Péter Nádas zu Beginn der 1990er Jahre (Az égi és a földi szerelemről, 1991; Von der himmlischen und der irdischen Liebe, 1994, M. Berg – D. Wölfer; Esszék, 1995; Heimkehr. Essays, 1999, Zs. Gahse) vervollständigt sich auch bei Kertész der kulturkritische Aspekt der Erziehung und sogar der ontisch negativistische Horizont des Seins. Die Essays von Imre Kertész (versammelt: A száműzött nyelv, 2001; Die exilierte Sprache, 2003, K. Schwamm – Gy. Buda – G. Deréky) variieren das Thema des Verhältnisses zwischen Kultur, Überleben und Schicksal. Die wichtigste Frage des Autors lautet: Was bedeutet der Holocaust im Hinblick auf das Schicksal des überlebenden Einzelnen und der gesamten europäischen Kultur? Nach dem Zeugnis des Überlebenden können auch das Leiden und der Schmerz als Quellen für die Geburt einer Kultur, also von Moral und Hoffnung, dienen. Die bedeutungslosen Grausamkeiten können auch zu Werten werden, wenn sie zu Warnsignalen und zur Anregung, einander zu verstehen, transformiert werden (Szirák, 2003 a). Családáradás (1995; Familienflut, 1997, H. Skirecki) von Miklós Mészöly impliziert Textgestaltungsweisen, die für dieses Jahrzehnt sehr charakteristisch
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sind. Damit zitiert der Roman die Struktur des Familienromans und gliedert sie zugleich auf. Die Schreibweise, die auf seiner Kontingenz, auf dem Austausch von Motiven und Erzählungselementen sowie auf der Virtualität der Bedeutung und der Erzählung beruht, dekomponiert die Gattungsbezüge des Familienromans in nicht geringem Maße dadurch, dass bei der Gestaltung der ‚Leerstellen‘ das Ursprungs-Schema mit einem narrativen Prinzip der Detektivgeschichte verbunden wird. (Diese Art der Gattungsmischung ist Mechanismen von Péter Lengyels Macskakő nicht unähnlich.) Dabei werden die Elemente dieses Schemas, die eigentlich eine feste Reihenfolge haben, vertauscht, von ihren ,Plätzen‘ verschoben (z. B. ist der Mörder viel eher bekannt als der Mord selbst). Weder die Zeitverhältnisse noch die Kompetenz der Erzählerstimme sind in diesem Roman eindeutig feststellbar. Neben der unfassbaren, illusorischen Geschichte werden auch die Beschreibungen zur Repräsentation des Zentrums, des versteckten Mittelpunktes, des unzugänglichen, in seiner Gesamtheit unverständlichen ‚Ganzen‘ (Kulcsár-Szabó, Zoltán 1997, 187–194). Einer der größten ungarischen Bucherfolge der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, der Roman Jadviga párnája (1997; Das Kissen der Jadwiga, 2006, E. Zeltner,) von Pál Závada (1954–), kann als neu geschriebene Variante des Erinnerungsund Familienromans gelesen werden. Dieser Tagebuchroman ist eine die Mythenformeln der griechischen bzw. Ibsen’schen Schicksalstragödie aktualisierende, hintergründige Liebesgeschichte und zugleich die ins – historisch-soziographisch glaubhafte – gesellschaftliche Tableau eingebettete Geschichte des Verfalls einer Bauernbürgerfamilie slowakischer (und teilweise ungarischer) Herkunft vom Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Závadas Roman, aufgebaut auf das ineinander übergehende, sich korrigierende Zusammenspiel der verschieden perspektivischen Welten dreier Tagebuchschreiber, ist eine anspruchsvolle Unternehmung, die die Wirklichkeitsillusionen der soziographischen Literatur und den Anspruch der alternativen Geschichtsschreibung mit den fiktionsschaffenden Gesten des Romankanons der letzten Jahrzehnte und der Textgestaltung (Iskola a határon, Emlékiratok könyve bzw. den sprachschaffenden Spielen der postmodernen Kurzgeschichten und autobiographischen Romane) produktiv verbindet. TündérVölgy (2003; FeenTal) von Endre Kukorelly (1951–) thematisiert die Frage des ‚Familienglücks‘. Im Mittelpunkt des Romans steht die Figur des geheimnisvollen, tatsächlich unzugänglichen Vaters, dessen Schweigen es seinem Sohn erschwert, die eigene Identität in einer zusammenhängenden Geschichte zu interpretieren. Die Familie hat keine fortwährende Geschichte, der Erzähler-Protagonist stößt nur auf bloße Spuren der Lebensform, die nicht wieder aufgenommen werden kann. Die Erzähltechnik beruht auf Kurzprosa-Elementen, die von Gedichtfragmenten, Selbstzitaten, intertextuellen Verweisen (z. B. Vörösmarty: Tündérvölgy, Feental; Kierkegaard: Das Tagebuch des Verführers; Tolstoi:
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Eheglück; Kleist: Über das Marionettentheater usw.) durchflochten sind. Das Schweigen des Vaters weist auf eine traumatische Erfahrung zurück, die der Protagonist mit den Mitteln der Geschichtserzählung nicht zugänglich machen kann. Daraus entspringt die lyrische Melancholie dieses fragmentarischen, elliptischen Familienromans.
VIII.A.2.4 Zitationstechnik und rewriting: postmoderne ‚Flicktexte‘ An der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren – gleichsam unmittelbar vor der Prosawende – entfalteten sich im Werk von Miklós Mészöly parallel zueinander eine erfahrungsgemäß-sachliche, die narrativen Funktionen reduzierende Gestaltungsweise (Pontos történetek útközben) und eine fragmentarisierende, an manchen Stellen sogar metafiktiv-montageartige Textorganisation (Térkép Aliscáról, Karte von Alisca; Alakulások, Gestaltungen, in: Alakulások, 1975; Gestaltungen, 1975, B. Frischmuth). Der wirkungsmächtige Roman Film (1976; Rückblenden, 1980, H. Grosche) kann als eine Art Vereinigung dieser beiden Schreibweisen gelesen werden. Ein Kamerateam begleitet ein altes Ehepaar auf dem mühsamen Heimweg, und durch die sehr genauen Beobachtungen des Teams wird nicht nur die Lebensgeschichte der alten Leute rekonstruiert, sondern auch ein Jahrhundert ungarischer Geschichte. Die gegenseitige Abhängigkeit der Erzählung der Geschichte und der Geschichte der Erzählung, die Einschübe alter Textfragmente haben eine Rezeptionsweise zur Folge, die die Virtualität und Ungewissheit der Bedeutungen erschließt. Auch die ein Jahr zuvor erschienenen Alakulások hatten sich die radikale – in Richtung eines möglichen postmodernen Prosatypus weisende – Umgestaltung der Redeformen und der Seinsbetrachtung vorgenommen. Mittels des langsamen Verfalls der parabelhaft-integrativen Formprinzipien, der sich schon in den vorhergehenden Jahrzehnten abgezeichnet hatte, schloss sich Mészöly jener ersten Phase des nouveau roman an, in der der autoproduktive Text, die Selbstreflexion und die Kombination von großer Wichtigkeit waren. Textfragmente und metafiktive Technik brechen die Kontinuität, häufig in Verbindung mit der als postmodern charakterisierten Zitat-Technik. Ähnliches findet man zur selben Zeit in den Essayromanen (z. B. Miért élnél örökké?, 1977; Warum solltest du ewig leben?) bzw. metaphysischen Detektivgeschichten von Dezső Tandori (z. B. die unter dem Pseudonym Nat Roid geschriebenen Romane: Nem szeretném, ha fáznál, 1980; Ich möchte nicht, dass du frierst; Most van soha, 1981; Jetzt ist nie usw.). Eine verhältnismäßig gut definierbare Gruppe der Werke von Mészöly (z. B. Alakulások; Szenvtelen följegyzések, Leidenschaftslose Aufzeichnungen; Ló-regény, Pferderoman) machte in der ungarischen Prosa jenes Verfahren heimisch, das die Vertreter der sich seit dem Ende der 1970er Jahre entfaltenden neueren
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Literatur (vor allem Péter Esterházy, später László Garaczi) neu schrieben. Auch die Öffnung des Werkraumes in Richtung der alten ungarischen Textwelten, die textschaffenden Variationen des Zitates und Selbstzitates, scheinen zuerst bei Mészöly bemerkbar zu sein (Anno; Kiemelések, Hervorhebungen usw.). Der Erzähler wählt auf der Suche nach der Möglichkeit der authentischen Stimme Gattungsmuster, Diskursformen und Töne aus, während der Text eben die Unmöglichkeit der Offenbarung des Einzelwesens, das unvermeidliche Echo-Werden exemplifiziert. In Fakó foszlányok nagy esők évadján (1985; Falbe Fetzen zur Zeit des großen Regens) spielt Mészöly auf Teile des Tagebuches von István Wesselényi (Sanyarú világ, [1703–1708]; Elende Welt) an und nutzt die textuelle Spannung zwischen den zitierten und den fingierten Passagen. Vielleicht kann ohne Übertreibung darauf hingewiesen werden, dass Mészöly – neben István Örkény – mit der Neuschreibung der ungarischen fragmentarisierenden Tradition, mit den verschiedenen Varianten der narrativen Reduktion gleichsam zu einem der Initiatoren der zeitgenössischen postmodernen Kurzgeschichte wurde (Falusi terepismertetés, Dörfliche Geländebeschreibung; Riportok, Reporte; Negyvenhat videoklip, Sechsundvierzig Videoclips usw.). Im Rückblick bestätigen Kritik und Literaturwissenschaft, dass die Modernisierung der Mitteilungsmodi der ungarischen Erzählprosa über den nouveau roman und die Neoavantgarde in der Schriftstellerwerkstatt von Péter Esterházy (1950–) zu einer sprachbildenden Schreibkunst wurde, die die gesamte literarische Kommunikation betraf und paradigmatische Geltung hatte. Einer der Hauptgründe dafür ist im radikalen Umdenken hinsichtlich des Zusammenwirkens mit der Sprache zu finden. Seine Vorliebe für sprachliche Kombinatorik, für Unmengen von Anspielungen und montierten Zitaten, Laut- und Wortspielen, seine autonome Schreibweise, die sogenannte Esterházy-Sprache, markierte neue Wege in der Entwicklung der ungarischen Prosa der 1970er und 1980er Jahre und übte auf die nachkommenden Autorengenerationen eine besondere Wirkung aus. Esterházys ‚Textflicker‘ teilt die Ansicht, dass Sprache nicht als Instrument zum Erreichen, Vermitteln und Vorstellen einer Wirklichkeit jenseits der Sprache dient, weil die Wirklichkeit einen Platz in der Sprache als weltschaffendem Mittel hat. Dieses Grundmerkmal der Betrachtung hat Esterházys literarischem Auftreten gegenüber dem offiziellen literarischen Diskurs am meisten subversiven Charakter verliehen. Dieses sprachliche Denken steht in engem Zusammenhang mit der Humboldt’schen Sprachauffassung von Dezső Kosztolányi und der postmodernen Erfahrung, die der Sprachphilosophie Wittgensteins entspringt. Kosztolányi war, ähnlich wie der deutsche Sprachgelehrte, der Überzeugung, dass die Sprache der Ausdruck des Nationalcharakters ist. Beide hielten die Dichtung, die Philosophie und die Geschichte für die wichtigsten Offenbarungsformen der Sprache und zugleich für das Wesen der nationalen Bildung. Sie waren sich auch
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Abb. 44: Péter Esterházy. Ölporträt von István Nádler, 2006
darin einig, dass sie Signifikanten als nicht ganz willkürlich annahmen. Die sogenannte Wirklichkeit ist die Folge der sprachlichen Sitten, die im Leben der Gemeinschaft gültig sind. Das Bild, das man vom Weltall schafft, ist in allen Sprachen unterschiedlich, weil die Welt in verschiedenen Sprachen nicht gleich aufgegliedert ist. Die Sprachen klassifizieren die Dinge der Welt anders, z. B. hängt die Unterscheidung der Farben von ihren Bezeichnungen ab. Der Mensch findet sich in der Sprache. Von dem Ausgangspunkt, dass die Sprache statt meiner denkt und die Bedeutung des Wortes der Gebrauch des Wortes ist, kann man leicht folgern, dass das Weltbild Überlieferung ist: „der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ – wie Wittgenstein in Über Gewißheit sagt. Im Anschluss an Wittgensteins sprachphilosophische Theorien erblickt Esterházy in der Welt- und Selbstbegegnung des Menschen einen primär und eminent sprachlichen Vorgang. Dass die Vieldeutigkeit der Sprache von ihrem Gebrauch abhänge, wurde für Esterházy maßgebend: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Auch dieses Zitat in seinen vielfältigen Erscheinungsformen spielt in Esterházys Werken eine zentrale Rolle. Durch die Entfernung von den spätrealistischen Normen der Wirklichkeitsreferenzen und dem Kodesystem der Darstellungsästhetik bildet Esterházy die Imagination der Historizität aus. Die Erzählweise verschiebt sich in Richtung
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einer Wittgenstein’schen, pragmatischen Sprachauffassung und lässt damit die Dinge auf mehrere Weisen erzählbar werden. In Esterházys Werk wird eine jahrhundertealte kanonische Forderung in den Hintergrund gedrängt, wenn die Opposition zwischen alltäglicher und literarischer Sprache verworfen und dadurch die Verschmelzung von figuraler und referentieller Rede freier wird, wenn der ‚Textflicker‘ der Interferenz der potentiellen Bedeutungen, der freien Konnotierbarkeit nachgibt. Unter den textschöpferischen Attitüden, die mit dieser Sprachauffassung in Verbindung gebracht werden können, sollte der charakteristische Zug nicht unerwähnt bleiben, dass Esterházy die einfachen Formen der Prosa zur Diktion der epischen Mitteilung macht, indem er die Unübersetzbarkeit zwischen Geschehen, Fabel und Erzählung reflektierbar werden lässt. So werden Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz und Fabel zu Grundelementen der Textdynamik. Die Modalität und die Vortragsweise des Märchens machen es dann möglich, dass die Wirklichkeitselemente der Fiktion nicht mit denen der Phantasie kollidieren. So ergibt sich die Möglichkeit des wechselnden Zusammenspiels zwischen der fiktiven Wahrscheinlichkeit und der phantastischen Imagination (Fancsikó és Pinta, 1976; Fancsikó und Pinta, 2004, Zs. Gahse). Das andere wichtige Element ist das wesentliche Wachstum der Rolle des Modalitätsfaktors, und zwar durch die recyclingartige Zurückwandlung der Geschichten und Zitate. Dabei werden die Geschichten im Wesentlichen nach Jauß’ postmodernem Prinzip „Aus Alt mach Neu“ verwertet. Im Termelési-regény (1979; Ein Produktionsroman, 2010, T. Mora), mit dem ein neuer Abschnitt in Esterházys Werk und in der ungarischen Literatur begann, rückte die Poetik der sprachlichen Dissonanz des Diskurses ins Zentrum der Textgestaltung. Die Stimme des impliziten Autors konstituiert sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Diskurse, Kontexte, Sprachspiele, Dialekte und Soziolekte. Neben der Dynamisierung der Erzählsituation ist es Esterházys überlegener sprachschöpferischer Fähigkeit zu verdanken, dass er aus den erzählerischen Grundformen Anekdote und Gespräch eine wirklich weite Komposition aufbauen kann. Statt von einer einzigen repräsentativen Stimme, einer einzigen übergeordneten Stimmführung wird die Polymodalität (Polyglottie) des Werkes von der Vermischung verschiedener diachroner und synchroner Register, Diskurse und Wortschätze, von der Intersprachlichkeit geschaffen. Solcherart kann der Termelési-regény mit der von Bachtin formulierten Form der ästhetischen Erfahrung charakterisiert werden, nach der der Roman das fruchtbarste Terrain für die Wechselwirkung verschiedener Sprachen ist, die sich in historischer, sozialer und individueller Hinsicht voneinander unterscheiden, sodass die in der Sprache grundsätzlich vorhandene Vielsprachigkeit zum Erklingen kommt. Termelési-regény verleiht der komplexen sprachlichen Interaktion der literarischen Bedeutungsbildung eine Stimme, indem er die zitierten vorgeform-
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ten Rahmen neu schreibt: Der erste Teil des ‚Zwillingromans‘ ist eine humorvolle Gattungsparodie des in den 1950er Jahren (u. a. von István Örkény und Ferenc Karinthy) vorgeschriebenen, schematischen, „sozialistisch-realistischen Produktionsromans“ (Szirák 2008, 83–87), der zweite Teil ein ironisierter Familien- und Künstlerroman. Im ersten Teil stellt Esterházy das Leben eines mathematischstatistischen Institutes dar, in dem zwar alle ideologischen Voraussetzungen für die Produktivität erfüllt sind, aber gerade das fehlt, was im Titel versprochen wird: die Produktion. Im zweiten, quasi-autobiographischen Teil werden sich die kleinen Szenen des Familienlebens der Esterházys in den letzten 30 Jahren aufgezeichnet – von der Aussiedlung der Familie über die Erlebnisse der Fußballmannschaft bis hin zur literarischen Verbindung des „Meisters“. Die beiden Teile des Romans verweisen hinsichtlich des Gedächtnisses der Weltliteratur zugleich auf Johann Peter Eckermann und Salingers Buddy Glass, auf Thomas Manns Serenus Zeitblom und auf Dezső Kosztolányis Kornél Esti. Das Weltbild des Termelési-regény kann größtenteils als ironisch bezeichnet werden; es behauptet die Relativität der Wertesysteme, die aus deren historischer Unbeständigkeit resultiert. Die so verstandene ästhetische Wirkungsfunktion der Relativität manifestiert sich in der Figur der Ironie, die mit der gleichzeitigen Vielfalt der Welt in einen engen Zusammenhang gebracht werden kann. Das wichtige gesprächshermeneutisch-soziologische Umschwungsmerkmal dieses Werkes von Esterházy besteht darin, dass es die Erfahrung der Vervielfachung der historischen und gleichzeitigen Welten als Dialog von nebeneinander existierenden sprachlichen Welten, Diskursen erkennen lässt, dessen Ausgang nicht planbar ist. Er stellt dem Gedanken der einheitlichen Sprache, die die einzige Wirklichkeit beschriebe, die Wirklichkeit der Vielfalt der Sprachen (d. h. systematischen Zeiten: Erwartungen und Erfahrungen; symbolischen Strukturen, Glaubenssystemen; Kontexte) gegenüber. Das künstlerische Zusammenwirken mit diesem postmodernen Sprachzustand zieht die ästhetische Gleichrangigkeit, die Interpenetration der Tonarten und Aussageformen nach sich, mit anderen Worten: die Auflösung oder zumindest die radikale Uminterpretation der Autorität der ererbten, hohen künstlerischen Tradition, die Dekomposition, die Vielstimmigkeit und das gemeinsame Erklingen der Register (d. h. Eposimitation, Stilmodalität der Erinnerungsliteratur, Rhetorik schematischer Epik; soziolektale Interpenetration: Intimbereich, Lebensraum, Beruf, Öffentlichkeit usw.). Das differenzierende Potential der Sprache relativiert die Einheit des muttersprachlichen Universums, an die Kosztolányi noch glaubte. Auch der Muttersprachler ist dem konstitutiven Organ der verschiedenen Diskurse und Register ausgeliefert. Die Sinn- und Wahrheitsbildung hängt so gerade vom ,Verkehr‘, von der Vermittlung zwischen den sprachlichen Welten ab, von der Fähigkeit oder vielmehr vom Abenteuer der Übersetzung. Die sprachliche Bedingtheit des erzählenden Subjekts wird in den
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Werken Esterházys in Form einer Art polyglotter sprachlicher Wirklichkeit realisiert: als Dissemination der Vielfalt der sprachlichen Welten, die sich in der Muttersprache äußern (d. h. Soziolekte, hohe und populäre Register: Umgangssprache, Klassen- und Gruppensprache, Phraseme, Redewendungen, Topoi, Zitate, Sprachspiele usw.). Die gemeinschaftsschaffende Wirkung der Sinn- und Wahrheitsbildung hängt so nicht in erster Linie vom Willen des erzählenden – lesenden – Subjektes ab, sondern vielmehr von dessen Entgegenkommen, das durch die ästhetische Erfahrung seiner Bedingtheit und seiner diskursiven Spaltung hervorgerufen werden kann (Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 45–95). Bevezetés a szépirodalomba (1986; Einführung in die schöne Literatur, 2006, T. Mora – Gy. Buda – Zs. Gahse – H.-H. Paetzke – B.-R. Barth – A. Máté – P. Máté) ist ein Textkonglomerat, das aus 21 selbständigen Prosateilen besteht, die Esterházy durch Zitate, Marginalien, Fotos, Zeichnungen und Symbole derart untereinander und mit der Weltliteratur vernetzt, dass es sich zu einem offenen, unbegrenzten literarischen Raum weitet. Im Buch befinden sich auch fünf eigenständige Romane (Függő, Indirekt; Ki szavatol a lady biztonságáért?, Wer haftet für die Sicherheit der Lady?; Fuharosok, Fuhrleute; Kis Magyar Pornográfia, Kleine Pornographie Ungarns und A szív segédigéi, Die Hilfsverben des Herzens), die zwischen 1981 und 1985 bereits erschienen waren. Der stark autobiographisch geprägte Roman Függő (1981) ist ein zirka 100 Seiten langer Satz, ein ,Zitatenwerk‘, eines der wirkungsvollsten Stücke der postmodernen Intertextualität, der Poesie der ,Flickentexte‘ in der zeitgenössischen ungarischen Erzählprosa. Dieses Werk führt den Prozess der Erinnerung, der (Re)Konstruktion der Vergangenheit, in dessen Mittelpunkt das Thema der Auflösung einer Jugendgemeinschaft, das Erwachsenwerden, steht, als Treffen, als ‚Zusammenprall‘ von Texten vor. Der (die) Erzähler kann (können) mit fiktiven Autoren oder Erzählern, mit verschiedenen Diskursen in Zusammenhang gebracht werden, die nicht nur durch Eigennamen (z. B. Musil, Kosztolányi, Kornél Esti, Géza Csáth, Gombrowicz, Kafka, K. aus dem Schloß, Konrad aus Thomas Bernhards Kalkwerk, Ottlik usw.) charakterisiert werden, sondern er tritt auch durch gekennzeichnete und nicht gekennzeichnete Zitate (z. B. eine Passage aus dem Anhang des Romans Der Mann ohne Eigenschaften) bzw. Intertextualität in den Prozess der Bedeutungsbildung ein. Die ästhetische Gesamtwirkung resultiert aus der nicht zu beendenden Interaktion zwischen den sprachlichen Registern, zwischen gesteuerten und zufälligen (weil nicht steuerbaren) Zeichenelementen. Die Frage nach den Mechanismen der Erinnerung, nach der zeitlichen Bedingtheit der persönlichen Identität und letzten Endes nach dem Bezug von Sprache und Subjekt wird durch den epochenbildenden Dialog mit Törleß von Musil, Zendülők (Die jungen Rebellen, 2001, E. Zeltner) von Márai und Iskola a határon von Ottlik zum Objekt einer neuartigen ästhetischen Erfahrung. Ki szavatol a lady biztonságáért? (1982) erscheint in der
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Einführung in Form von zwei eigenständigen Erzählungen (Daisy; Ágnes). Erstere ist eine Travestie, in der Esterházy das thematisiert, dem er später ein ganzes Buch, die Kis magyar pornográfia (1984) widmete, die Pornographie der totalitären Macht. Zwar ist Ágnes scheinbar eine Liebesgeschichte, aber der Text ist als Parabel zu lesen und stellt die Verhältnisse der osteuropäischen Unfreiheit dar. Im Text von Kis magyar pornográfia werden die Dressur und Unterdrückung der Stalin-Ära der 1950er Jahre als Pornographie, als ideologisch-politische Perversion dargestellt. Durch eine entfremdete, verdorbene Sprache und einen scheinbar gemütlichen Anekdotenerzähler wird das System als lächerlich und beängstigend zugleich bloßgestellt. Der balladenhafte Roman Fuharosok (1983) steht in enger Verwandtschaft mit den Werken von Esterházy, in denen die Brutalität und Pornographie der Macht thematisiert werden. Dieser stark komprimierte, auf einem Pascal-Zitat basierende Text ist eine archaisierende Parabel der immanenten Unvereinbarkeit von Gewalt, Macht und Gerechtigkeit. A szív segédigéi (1985) widmete Esterházy seiner Mutter. Dieser Roman, der formal einer Todesanzeige entspricht, spielt auf die Pietà an. Im ersten Teil trauert der Sohn – als eine ‚umgekehrte Pietà‘ – um seine Mutter, im zweiten sind die Rollen vertauscht. Der Austausch der Trauerredeform, der sich auch in zahlreichen Zitaten aus der Weltliteratur (z. B. Handke, Camus, Borges, Bernhard, Pascal usw.) zeigt, schafft eine interaktive Gemeinschaft der Bedeutungsbildung (Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 96–191). Die zu Beginn der 1990er Jahre erschienenen Bücher Esterházys sind spannende Experimente zur nachdrücklicher als zuvor kontrollierten Erneuerung der Formen epischer Äußerung durch die Gattungszentren. Im Roman Hrabal könyve (1990; Das Buch Hrabals, 1991, Zs. Gahse) ist der virtuelle Hauptdarsteller Bohumil Hrabal, der legendäre tschechische Schriftsteller, über den der Autor einen Essay schreiben soll und mit dem seine Frau Anna sich in der Phantasie unterhält. Während das Ehepaar von zwei geheimnisvollen Männern beobachtet wird, die ebenso gut vom Himmel gestiegene Gottesboten wie Spitzel der politischen Polizei sein könnten, geht es um die Familie, um das neugeborene Kind und nicht zuletzt um den gemeinsamen ostmitteleuropäischen Raum. Der Roman ist ein ‚Hrabal-Intertext‘ auf der Grundlage der Gattungskodes des Familienromans, eine Art Ästhetisierung des politisch-kulturellen Mitteleuropa-Diskurses, ebenso wie das nächste Werk Hahn-Hahn grófnő pillantása (1991; Donau abwärts, 1992, H. Skirecki), das nicht nur vom familiengeschichtlichen Bezug, sondern auch von der Neuschreibung durch die deregulative Figur der Textgestaltungsschemata des Erziehungsromans und der Reisebeschreibung charakterisiert ist. Im Roman, der vor allem von Claudio Magris und Italo Calvino inspiriert ist, nutzt Esterházy die Möglichkeiten einer fragmentarischen und zugleich selbstkommentierenden Schreibweise aus. Die Donau, die Esterházy als „Landstraße“ zwischen Schwarz-
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wald und Schwarzem Meer bezeichnet, steuert der Reisende an, weil sie die Teile einer zerfallenden Welt verknüpft und die Neigung der Deutschen zum osteuropäischen kulturellen Raum symbolisiert. Beide Romane stellen den regionalen Horizont im weiteren kulturmorphologischen Sinne oder die Textwelt Mitteleuropas den Möglichkeiten des Selbstverständnisses gegenüber, das die posttotalitäre Diskursordnung bietet (Kulcsár Szabó, Ernő 1996, 192–240).
VIII.A.2.5 Fragmentiertheit und Montage: die (post)moderne Kurzgeschichte Einer der bedeutendsten Erneuerer der ungarischen Kurzgeschichte ist István Örkény (1912–1979), dessen Texte aus den späten 1960er Jahren die Muster der ironisch-grotesken Schriften von Kafka und Kosztolányi aktivieren. Von Kafka entlehnt er zumeist die absurde Situationsschaffung und die bekannte gleichmütige Kafka’sche Stimme. In der ungarischen Tradition der Kurzprosa des 20. Jahrhunderts kam – hinsichtlich der Fragmentiertheit und Komprimierung – der befruchtenden Wirkung von Anekdote und Skizze (z. B. bei Dezső Kosztolányi und Frigyes Karinthy) größte Bedeutung zu. Kosztolányis Werk Tengerszem (1936; Gebirgssee) ist die erste Sammlung von Kurzgeschichten in der ungarischen Prosa, die vom Autor mit höchstem künstlerischen Anspruch und Bewusstsein zusammengestellt wurde. Örkény, der Verfasser der Egyperces novellák (erste Sammlung: 1968; Minutennovellen, 2002, T. Mora), tritt teilweise in Kosztolányis Spuren, indem er den erzählerischen Kommentar und die äußere wie innere Beschreibung reduziert und die Vermutung zum wichtigsten Wirkungsfaktor macht. Bei Örkény beruht die absurd-groteske Wirkung meistens auf raschen Wandlungen der Situationen, auf dem plötzlichen Umkippen der Werte (z. B. Információ, Information; A termelés zavartalanul folyik, Die Produktion findet ungestört statt; In memoriam Dr. K. H. G. usw.), aber zuweilen wendet er eine komisch-satirische Zitat-Technik (sogenannte ‚objet-trouvé-Technik‘, ‚Dokument-‚ oder ‚Pseudodokument-Parodie‘) an. Der bestimmende Zug der Parodien von Örkény ist die Wiederaufnahme von Klischees der nichtliterarischen Sprache bzw. des offiziellen Diskurses (z. B. Gebrauchsanweisung, Dedikation, Todesanzeige, Verlautbarung, Zeitungsbericht, Reklametext, Hinrichtungsvorschrift usw.). Die integrativ-dekodierende Rolle des ursprünglichen Kontextes wird mit der freien Anwendung der Zitate hinfällig, und all dies vervielfacht die Möglichkeiten der modal-semiotischen Pragmatisierung der Zitate (z. B. Ballada az álmatlan éjszakákról, Ballade über die schlaflosen Nächte; Kivégzési szabályzat, Hinrichtungsvorschrift; 1949 usw.). Der andere Meister der ungarischen Kurzgeschichte ist der bereits erwähnte Miklós Mészöly, der in seinen fragmentarischen Schriften eher die Möglichkeiten
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der Selbstreflexion nutzt. Ähnliches ist bei Endre Kukorelly zu beobachten, dessen Texte auf der subversiven, sprachkritisch-entfremdenden Potentialität der textgestalterischen Techniken der Neoavantgarde beruhen, die, obgleich lange aus der ungarischen literarischen Öffentlichkeit ausgeschlossen, dennoch weiterwirkten. Das Unerwartete, der Ereignischarakter von Kukorellys Texten, ergibt sich aus der Inszenierung der Zufälligkeit, der Unkontrollierbarkeit der sprachlichen Prozesse. Dies zeigen die stetigen Brüche in der Konsistenzbildung, die Zerstörungen der semantisch-syntaktischen Verbindungen (die sogenannten ‚Beinahe-Sätze‘). Die Schriften der Bände A Memória-part (1990; Die Gedächtnisküste, 1997, A. Seidler) und Kedvenxc (1996; Lieblyng, 1999, E. Baranyai – Gy. Buda – Zs. Gahse – I. Rübberdt – H. Skirecki – Ch. Rácz – St. Schliesing – A. Seidler – L. Tusch) bezeugen das tiefe Misstrauen gegen die Abfassbarkeit der condition humaine. Die schriftstellerischen Anfänge von László Garaczi (1956–) wurden in hohem Maße von der Esterházy-Rezeption bestimmt. Garaczis erster Band, Plasztik (1985; Plastik, 1990, A. Seidler), untergrub mit der Relativierung der Grenzen der elitären und populären Register bzw. der Eigentexte und mit dem bedeutungsbildenden Zusammenspiel von Bild und Text die zusammenhängenden Bedeutungskonstruktionen und die Weltbildeinheiten und nutzte die Erwartungsstruktur, die gegen die etablierte Ordnung gerichtete kritische Gesten unterstützt. Nach Ansicht der Interpreten hat Garaczi z. T. Esterházys Attitüden der ‚Textflickerei‘ übernommen und außerdem die Textwelt der ungarischen Neoavantgarde und des Underground zitiert. Charakteristisch für die Texte des Bandes Tartsd a szemed a kígyón! (1989; Behalte die Schlange im Auge!) und des wesentlich wirkungsvolleren Nincs alvás! (1992; Pikasso sieht rot, 2002, A. Seidler – P. Deréky) ist die metafiktiv-montageartige Erzähltechnik, die die kulturellen Kodes der Globalisierung aktiviert und die Herrschaft der Simulakra und die medialisierte Seinsweise der Dinge in ästhetische Erfahrungen umwandelt. Garaczi stützt sich in dieser Hinsicht allerdings auf die Textgestaltung der Werke Esterházys, obwohl sich der Garaczi-Leser hinsichtlich des ‚Sprechenlassens‘ der populären Sprachwelten radikaler von den Rollenmöglichkeiten der literarischen Tradition entfernt: Er ist nur dann zur Bedeutungsstiftung fähig, wenn er die Sprachlehre des Übergangs zwischen den Registern, die Intertextualität der kulturellen Bruchstücke einer zunehmend von Massenmedien und Globalisierung beeinflussten Identifikation ins Kalkül zieht. Das Gedächtnis der ungarischen und nichtungarischen literarischen Tradition verbindet sich mit den Patterns der Reklame und des politischen Diskurses. Die Verschmelzung von Hoch- und Massenkultur, das Zusammenspiel verschiedener Kontexte zeigen den Zerfall der ‚reinhaltbaren‘ literarischen Rede. Dass die Grenzlinie zwischen Fiktion und Realität ihren Sinn verliert, hängt mit der Märchenhaftigkeit der narrativen Verfahren zusammen, mit Ansprache und Enttäuschung der Erwartungen des Lesers
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bzw. der intertextuellen Aufladung, die an die Effekte des Unerwarteten appelliert, also mit der artistischen Destruktion märchenhafter ‚Geschichten‘. Die großangelegte Multiplikation der Register und Repertoires, die praktisch völlige Gleichstellung der Zitatwelten, die katachrestische und Nonsens-Rhetorik erhöhen den hermeneutischen Spielraum des Lesers in beträchtlichem Maße. Und dies umso mehr, als die clip-artige Technik der Kurzgeschichten Garaczis mit ihren Bruchlinien und schnellen Schnitten nicht zulässt, dass der Leser lange ‚bei sich selbst‘ als einer durch den Text irgendwie verstandenen Identität verweilt, sodass also das Individualitätsideal, das auf einer einheitlichen Subjektvorstellung basiert, gründlich entgleist. Csigacsók (Schneckenkuss) bringt die medialisierte Sprachwelt mit dem Textgedächtnis der ungarischen literarischen Tradition in Verbindung: Der Text lässt sich auch als parodistischer Anklang an Pilinszkys Gedicht Gyónás után (Nach der Beichte) oder als Pastige des Romans Sinistra körzet von Ádám Bodor lesen. Larion és Laura (Larion und Laura, 1993, A. Seidler) deformiert Handlungselemente aus Romeo und Julia, wobei die Erwartungsstruktur der Kultgeschichte humorvoll umgestaltet wird. Tranzit mundi (Transit mundi) zitiert, während die Märchenkodes, die Thematik der Indianerromane und die Sprache der Westernparodien als Folie fungieren, zugleich auch die aktuellpolitischen Klischees der Massenmedien (z. B. ethnischer Zusammenstoß, lokales Machtgerangel, religiöser Zwist, Weltverschwörungstheorie usw.), und so offenbart sich über die intervenierende Narrativik die verzehrende Herrschaft des Ebenbildes, das die Meistererzählung der ‚Wirklichkeit‘ verschlingt (Bónus 2002, 7–97).
VIII.A.2.6 Multiplikation der Rollen und Perspektiven: Erinnerungsroman und autobiographischer Roman Außer der Verbindung der Erinnerungstechnik mit der Gattung des Familienromans gewann ab Mitte der 1980er Jahre auch der autobiographische Kontext zunehmend mehr Raum. Emlékiratok könyve (1986; Buch der Erinnerung, 1991, H. Grosche), der wirkmächtige, über 1.300 Seiten starke Roman von Péter Nádas, an dem der Autor elf Jahre lang arbeitete, thematisiert das Schicksal eines am Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin und im Ostseebad Heiligendamm auftauchenden deutschen Schriftstellers (diese Erinnerungsschrift ist eine ‚Ergänzung‘ des in seiner Jugendzeit vernichteten Romans von Thomas Mann), das Schicksal eines Anfang und Mitte der 1950er Jahre während der Zeit der stalinistischen Diktatur Rákosis in Budapest aufwachsenden Jungen, erzählt von einer Dreiecksbeziehung am Anfang der 1970er Jahre in Ostberlin, und der als Abschluss lesbare Zeitabschnitt spielt wieder in Ungarn. Diese parallelen Erinnerungen folgen
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jedoch nicht aufeinander, sondern sind ineinander verschachtelt. Auch innerhalb der einzelnen Erzählstränge wird die Handlung immer wieder von akribisch und minutiös geschilderten Episoden, Bildern und Befindlichkeiten unterbrochen. Die brillante Erzählstruktur des Buches – die vier nebeneinandergestellten Erinnerungsschriften, die sich hinsichtlich des Zeitraumes sehr voneinander unterscheiden, in der Tat jedoch einen engen narrativen und metaphorischen Dialog eingehen – und die Konstruktion seiner intertextuell-selbstspiegelnden Komplexität stellten die zeitgenössische Rezeption vor keine leichte Aufgabe. Die virtuose Kompetenz des Erzählers, die Zergliederung der Erzählweise in mehrere Perspektiven oder ‚Stimmen‘, ihre variative Anwendung bedeuteten die uminterpretierende Neuschreibung der modernen Erzähltradition der Zwischenkriegszeit (z. B. Thomas Mann, Proust, Márai usw.). Die wiedererinnernde Arbeit des fremd gewordenen Ichs, Prousts poésie de la mémoire, geht hier mit der zeitweiligen Vervielfachung des Ichs einher, die diskursiv-poetische Wirkungsfunktion der Aufspaltung des Erzählers in Rollen kann in der neu geschaffenen Reflexion des Lesers die Zergliederung und Multiplikation des einheitlichen Individuums exemplifizieren, das die Grundlage der europäischen kulturellen Tradition bildet. Die Suche nach dem Ursprung der Persönlichkeit erweist sich als undurchführbar, weil das Vergessen dem Heraufbeschwören des ‚Erbes‘ Grenzen setzt. Die in die Gegenwart reichenden Sünden der Väter, die Unsicherheit über die Vaterschaft und die Undurchschaubarkeit des persönlichen Lebensweges verweisen darauf, dass das Erbe die Persönlichkeit gefangen hält, und zugleich darauf, dass die Ordnung und die Stützen der Tradition ungenügend sind angesichts der Übermacht des Schicksals und der Sehnsucht. Die Alternativität, die Multiplikation der Memoiren und damit letzten Endes die Undenkbarkeit eines einzigen Schicksals sind wichtige Merkmale des Blickwinkels dieses Werkes. Das Erzählen, die Erzählung des postmodernen Narrators kündigt an, dass der moderne Erzähler zur ‚Erinnerung‘ wird: Der Tod des namenlosen Erzählers und Protagonisten des Romans wird von seinem Jugendfreund Krisztián als eine Alternanz seines Schicksals erzählt. Doch trotz alledem kann der implizite Autor des Romans nicht mit dem ‚Textflicker‘ aus den Esterházy-Werken gleichgesetzt werden, denn Letzterer stellt seine Erzählungen aus narrativen ‚Fetzen‘ zusammen, die er aus ihrem Kontext reißt, während in Nádas’ Roman die integrativen Formprinzipien ihre bestimmende Position behalten. Ein noch größerer Unterschied besteht darin, dass die Gegenüberstellung mit der postmodernen Erfahrung der zeitwilligen Zerstreuung bei Nádas eindeutig eine tragische Modalität hat: Anhand der narrativen Struktur des Romans kann das Gegenteil der evozierten Sehnsüchte der Erinnerung und der Unmöglichkeit der Identifikation aufgezeigt werden. Der Leser des Emlékiratok könyve ist gezwungen, dem Verfall der Glaubenssysteme der Moderne ins Auge zu sehen (Kulcsár-Szabó, Zoltán 1998, 103–126).
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Die für diese Zeit sehr wagemutig geschilderte sexuelle Grenzüberschreitung und Homosexualität erweisen sich als Chance für die Vervielfachung der Persönlichkeit, enthalten aber zugleich ihre Tragik. Der zweifelhafte Ursprung (sowohl des namenlosen Haupthelden als auch Melchiors) spielt im Roman eine bestimmende Rolle, insofern er als eine Untersuchung der Identitätskrise der in einer entfremdeten Welt lebenden Persönlichkeit gelesen werden kann. Das Motto, das auf das Johannesevangelium anspielt, lässt ahnen, dass es in diesem hervorragenden Roman um eine Welt geht, die auf ihre Erlösung wartet. Mehr Ähnlichkeiten mit Emlékiratok könyve, das Nádas’ internationalen Ruf als Schriftsteller begründete und nach dem er mit zahlreichen renommierten Literatur-Preisen ausgezeichnet wurde, zeigt sein neuester Roman Párhuzamos történetek (2005; Parallelgeschichten, 2012, Ch. Viragh). Der dreibändige, seit 20 Jahren entstehende Roman enthält parallele Schicksalsgeschichten von ungarischen und deutschen Personen, die einander häufig nicht einmal kennen. Die zahlreichen Handlungsstränge sind dennoch ineinander verschachtelt: durch Analogien und gewissermaßen mystische Wiederholungen und Koinzidenzen (z. B. homosexuelle bzw. lesbische Orientierung, Ausweisung, Verbannung usw.). All dies exemplifiziert, dass die Geschichten keinen festen Rahmen, keine Selbständigkeit, keinen für sich bestehenden Sinn haben. Der Roman Párhuzamos történetek überschreitet Zeit und Raum und verbindet die verschiedenen Schicksale im Horizont der Ähnlichkeit. Unter den Wirkungseffekten des Werkes kommt der kontexteröffnenden Rolle gattungspoetischer Merkmale die größte Bedeutung zu. Im Roman tauchen die Gattungsmuster des Krimis, des Familienromans, des Entwicklungsromans und des Lagerromans auf. Nádas beschäftigt sich in erster Linie mit den Konsequenzen der totalitären politischen Systeme des 20. Jahrhunderts: Wie wirkten Nationalsozialismus und Kommunismus auf Seele, Bewusstsein und Körper der Menschen? Die Darsteller erscheinen nicht nur als geistig-moralische Wesen, sondern vor allem in voller Körperlichkeit: Der Leser erfährt regelmäßig von ihren körperlichen Gebrechen ebenso wie von ihren sexuellen Sehnsüchten. Das leidenschaftliche anthropologische Interesse des Romans zeigt sich in der Beschäftigung mit den genetischen, psychologischen, kriminalistischen, sexologischen, pathologischen, ethologischen und theologischen Diskursen über das Menschenbild. Nádas schildert die Menschen in einem Zwiespalt zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen Trieb und Moral (Szirák 2007, 276–295). Péter Esterházys unter dem Pseudonym Lili Csokonai geschriebene postmoderne Autobiographie Tizenhét hattyúk (1987; Siebzehn Schwäne) steht in vieler Hinsicht im Dialog mit Emlékiratok könyve. Das Buch erregte bei seinem Erscheinen nicht wenig Aufsehen. Es aktualisiert die Gattungsmuster der Autobiographie, und zwar so, dass es für die Identifikationsmöglichkeiten der Persönlichkeit die Perspektive des historischen Gedächtnisses der ungarischen Sprache
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eröffnet. Die Erzählerin „Lili“ ist ein Vorstadtmädchen, das sein Leben von seiner Geburt 1965 über die frühe Jugend bis zur völligen Aussichtslosigkeit im Rückblick erzählt. Die zeitgenössische Geschichte der „Lili Csokonai“ (ihr Name spielt auf den großen Dichter der ungarischen Aufklärung und seine Geliebte Lilla an) erklingt in einer archaischen Sprache, die das Textgedächtnis der ungarischen Literatur (vorwiegend der Memoiren-Literatur) des 17. und 18. Jahrhunderts aktualisiert. Der intertextuelle Anspruch des Werkes eröffnet also einen Textraum, der die gewissermaßen profane Geschichte einer Dreiecksbeziehung mit vielen Faktoren der Mehrdeutigkeit zusammenbringt. Der Roman verbindet die Persönlichkeitsschaffung unlösbar mit den attraktiven Vorgängen der Textschaffung. Esterházy schrieb eine Variante der postmodernen Autobiographie, indem er Raum und Zeit relativiert, den Erzähler irreal macht und damit den mit Neologismen durchsetzten Text selbst, das Textgedächtnis der alten ungarischen Literatur, zum ‚Hauptdarsteller‘ seines Werkes werden lässt. Die Voraussetzungen für die Bedeutungsschaffung werden nicht durch das Zusammenschmiegen von Erzählung, Erzählen und Text geschaffen, sondern durch genau diese Interaktion, die die Erfahrung der Temporalität einbringt und auf diese Weise Spannung produziert. Das System der Lesegewohnheiten, das durch das „Lili Csokonai“-Buch entstanden war, wurde auch durch das Werk Jolán Sárbogárdi: A test angyala (Der Engel des Körpers; 1990 in einer Zeitschrift, 1997 als Buch erschienen) von Lajos Parti Nagy (1953–) mobilisiert. Der ironisch-parodierende Text zitiert humorvoll die Schreibweise eines Dilettanten, indem er das sprachliche und formale Instrumentarium der Trivialliteratur (‚Backfischroman‘) mit Varianten der verdorbenen gewählten Sprache vermischt. So demonstriert er die Entstehung des literarischen Textes im dynamischen Verhältnis zur vorsprachlichen Umwelt und eröffnet dabei dem sinnstiftenden Spiel der Vermischung sprachlicher Register neue Möglichkeiten. In den Bereich der postmodernen Autobiographie gehören auch der Romanzyklus Mintha élnél (1995) und Pompásan buszozunk! (1998; die deutsche Ausgabe vereint in sich beide Romane: Die wunderbare Busfahrt, 1999, A. Seidler – P. Deréky) von László Garaczi. Im ersten Teil des Zyklus, dessen Untertitel „Bekenntnisse eines Lemuren“ lautet, fließen Kindheitserinnerungen aus dem Kindergartenalter und die Ereignisse der 1990er Jahre ineinander. Der zweite Teil berichtet aus der Schulzeit des Ich-Erzählers in den 1960er Jahren, die sich mit der Erzählung der Gegenwart vermischen. Die besonders humorvolle Wirkung beruht auf der ironisch-grotesken Kontamination der kindlichen und der erwachsenen Stimme. In diesen Texten werden die narrativen Figuren durch die Auflösung der Gattungszentren (z. B. Memoiren, Familien- und Entwicklungsroman) und der Erzählposition und ihr Verschmelzen mit der Stimme des impliziten Autors relativiert: Der
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Text gibt keine Grundhandlung an, aus ihm kann keine tagebuchartige Narrative zusammengestellt werden, es gibt keine besonders bezeichnete biographische Position, die die Perspektive fixieren könnte. Anders als in den Schemata des Erziehungsromans entwickelt sich die Persönlichkeit nicht, sie wird überhaupt nicht charakterisiert. Die Grenzlinie zwischen Fiktion und Realität wird sinnlos, die reflektierte Sprachlichkeit kann wegen der Deformierung der Kontextveränderungen bzw. der Bezugssysteme ihre Referenzen nicht fixieren, so funktioniert auch die Welt des / der bekenntnisablegenden Erzähler(s) eher als Zeichen, als Text, der von der allegorisierenden Leseaktivität mit Sinn versehen wird. Der Autor teilt den Erzähler in Rollen mit unterschiedlichem Lebensalter auf, die über die Geschehnisse der späteren Zeitpunkte Bescheid wissen, ja, sogar über den Autor, der auch als Erzähler gedacht werden kann. Die Position des Autors verschmilzt mit der des Narrators, ist aber temporal nicht fixierbar. Es geht hier nicht um Bekenntnisse einer originalen Persönlichkeit, sondern um eine pluralisierte Persönlichkeits-Position, ein Medium: In diesem Spielraum ändert sich das ‚Ich‘ ständig. Die Heterogenität der Verweisreihen (z. B. Verweise auf Eliteliteratur, Rauschgiftmotive, Topoi aus der Kindersprache, [pseudo]mythologische Allusionen usw.), die Relativierung der verschiedenen, gleichrangigen Erzählerkompetenzen, lässt die Wertung der Ereignisse mehrdeutig werden (Bónus 2002, 98–177). Die Jahrtausendwende brachte auch im Kontext des Familien- bzw. Erinnerungsromans Neues. Neun Jahre arbeitete Péter Esterházy an seinem großartigen Familienroman Harmonia caelestis (2000; Harmonia Caelestis, 2001, T. Mora), dessen Veröffentlichung in Deutschland als „Festtag für die europäische Literatur“ bezeichnet wurde; wegen dieses Werkes verlieh der Stiftungsrat Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Esterházy 2004 den Friedenspreis. Der Roman schöpft aus der wohldokumentierten Geschichte der Esterházys, einer der großen Aristokratenfamilien Europas. Die Esterházys haben sich über Jahrhunderte in die ungarische und habsburgische Geschichte eingeschrieben und fanden im kommunistischen Ungarn schließlich ihren bitteren Niedergang. Wie der Termelési-regény besteht auch Harmonia caelestis aus zwei Teilen. Der erste Teil, „Nummerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy“, versammelt 371 Textabschnitte, die ohne Chronologie durch die Jahrhunderte springen. Geschichte und Mythos der Familie Esterházy erscheinen als Vexierspiel aus historischen Episoden und heiteren Reverien, in denen der Vater als allgegenwärtige Chiffre fungiert. Diese austauschbare, imaginäre Vaterfigur tritt in den verschiedensten Funktionen auf: Er ist Bischof und Nichtsnutz, Verrückter und Gelehrter, Magnat und schwarzer Ritter, Gesandter und Ministerpräsident, aber auch Schüler von Helmholtz und Künstler in einem Pionierlager. Der Vater ist kein Feindbild, über das der Sohn hinauswachsen muss, er ist ein Konstrukt, in das dieser erst einmal
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hineinzufinden hat. In Harmonia caelestis deckt Esterházy das Paradoxon der Kausalität („filius ante patrem“) auf, wenn er zeigt, dass der Vater nur durch seinen Sohn Vater sein wird. Der erste Teil des Buches enthält eine furiose Mischung von Elementen der verschiedensten literarischen Gattungen und von Sprach- und Stilebenen, die äußerst wenige Anhaltspunkte für die Einordnung in ein einheitliches narratives Schema bieten. Mosaikförmig werden hier Namen, Legenden, Anekdoten und Ereignisse der ungarischen Geschichte zusammengetragen. Der zweite Teil des Buches („Bekenntnisse einer Familie Esterházy“) erzählt in eher chronologisch gehaltener Ordnung von dem Leben einer aristokratischen Familie im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen der Diktatur, von der Räterepublik 1919 bis in die jüngere Vergangenheit. Beginnend mit dem Großvater Móric Esterházy, der 1917 für wenige Monate ungarischer Ministerpräsident war, über den Vater Mátyás Esterházy, der 1919 während der ungarischen Räterepublik unter Béla Kun geboren wurde, bis hin zur Aussiedlung der Familie im Jahre 1951, also der Verbannung der Esterházys in ein entlegenes ungarisches Dorf, in dem die Familie unter demütigenden Umständen zu leben hatte. Die Falltiefe innerhalb der Familiengeschichte birgt großes tragisches Potenzial, das der Autor mit seinem Reichtum an Stilmitteln meisterhaft in Sprache zu setzen versteht. Esterházy meidet – wie in seinen anderen Werken – mit Humor, Sprachspiel und Ironie auch in den tragischen Episoden jegliches Pathos. Die zentrale Figur dieses Romanteils ist Mátyás Esterházy, „mein Vater“, der sich als Bauer und Arbeiter durchs Leben zu schlagen versucht, ehe die Familie nach Budapest zurückkehren darf. Harmonia caelestis evoziert das Werk des Fürsten Paul Esterházy (1635– 1713), die gleichnamige Liedersammlung (1711), die 55 sakrale Gesänge enthält, in denen nicht nur eigene, sondern auch sehr viele fremde Melodien verarbeitet wurden. Auch in Péter Esterházys Opus magnum werden neben vielen originalen Dokumenten und Quellen (z. B. Inventaren und Urkunden) – z. T. wortwörtlich – Texte anderer Autoren aufgenommen, deren Spektrum von Endre Ady über Dezső Kosztolányi und Gábor Görgey bis hin zu Danilo Kiš reicht. Diese Schreibweise verursacht das Verschwimmen der Grenzlinien zwischen Wirklichkeit und Fiktion und ermöglicht freie Spiele der möglichen Sprachwelten. Diese auf Paradoxen beruhende postmoderne Textmontage, die die rhetorischen Bedeutungen der Sprache häufig bis zum Äußeren strapaziert und die man schon aus früheren Büchern des Autors kennt (darunter Bevezetés a szépirodalomba), wird hier zur Perfektion getrieben und gewinnt an Formvollendung und künstlerischer Überzeugungskraft (Szirák 2003b, 135–148; Molnár 2007, 863–873). Kurz vor Abschluss seines Hauptwerkes Harmonia caelestis war Esterházys Antrag auf Akteneinsicht beim „Amt für Geschichte“ – dem ungarischen Pendant zur Gauck-Behörde – bewilligt worden. Aber statt einer Stasi-Akte über ihn
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und seine Familie wurden ihm vier vergilbte Agentendossiers vorgelegt, in denen er die Handschrift seines Vaters Mátyás erkannte. So erfuhr Esterházy, dass sein Vater der ungarischen Geheimpolizei von 1957 bis 1979 unter dem Decknamen „Csanádi“ regelmäßig als inoffizieller Mitarbeiter und Informant Berichte geliefert hatte. Javított kiadás. Melléklet a Harmonia caelestishez (2002; Verbesserte Ausgabe. Beilage zu Harmonia Caelestis, 2003, H. Skirecki) stellt dar, wie der Autor die Akten findet und exzerpiert und was er dabei empfindet. Das Buch besteht aus einer Dokumentation, einer Mischung von Details aus den Agentenberichten, Tagebuchaufzeichnungen und Reflexionen. Die dokumentarischen Auszüge aus den Dossiers des Vaters sind in roter Schrift gedruckt, dazwischen stehen in Schwarz die eigenen Gedanken und Gefühle. Durch eckige und spitze Klammern ist gekennzeichnet, welche Aufzeichnungen unmittelbar beim ersten Lesen der Dossiers und welche erst später entstanden sind. Nur ab und zu registriert der Autor verwundert, welche Ähnlichkeit zwischen ihnen sichtbar wird: In der ausnehmend schönen Handschrift, in gewissen schriftstellerischen Eigenheiten der kaum merklichen Distanzierung. An einer Stelle des Buches kann der Protagonist die eigene Aufzeichnung vom Text seines Vaters eigentlich nicht unterscheiden. Neben die dokumentarischen Auszüge treten Zitate aus Harmonia caelestis, deren Gültigkeit und Bedeutung sich an dem neuen Befund ändern, und Tagebuchaufzeichnungen seit der Zeit der Enthüllung – anrührende Notate voller Unbestimmtheit, Zweifel, Scham und Schmerz, in denen Esterházy seinen Vater betrauert und bedauert, aber nie von der Schuld freispricht. Javított kiadás, die in der literarischen Öffentlichkeit sofort Neugier erregte und Anerkennung errang, handelt nicht nur vom Fall des Vaters, von der Verknüpfung von Sohnesliebe und Abscheu, sondern auch von der literarischen Mitteilbarkeit von Erschütterung und Leid (Lőrincz 2011).
VIII.A.2.7 Der neue historische Roman – im Netz von Texten Das sinnbildende Zusammenspiel der Verhältnisse zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion bestimmt in der schon erwähnten späten Prosa von Miklós Mészöly (Fakó foszlányok nagy esők évadján; Pannon töredék, Pannonisches Fragment; Sutting ezredes tündöklése usw.) die Interpretationsstrategien. Éleslövészet (1981; Scharfschießen), der frühe Roman von Lajos Grendel (1948), inszeniert ebenfalls die Dilemmata der Zugänglichkeit zur Historie. Im Mittelpunkt des Werkes steht ein junger Ungar, der in den 1970er Jahren in einer slowakischen Stadt lebt und versucht, dem Schicksal der eigenen Familie und der ungarischen Minderheit Rechnung zu tragen. Aber um ihn herum scheint alles verlogen und aussichtslos zu sein. Die in der Minderheit lebenden Menschen fürchten sich und
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schweigen über die Vergangenheit. Der Vater des Helden repräsentiert das erschütterte Lebensgefühl des ehemaligen Bürgertums: Den Degen der Familie, der den alten Ruhm der Ahnen symbolisiert, vergräbt er auf dem Hof, wo er als Erdung für die Fernsehantenne dient. Die kommunikative Erinnerung an die Vergangenheit wird unmöglich. Der Protagonist beginnt die Geschichte seiner Geburtsstadt auf andere Weise zu rekonstruieren. Er liest und zitiert z. B. die geheimnisvollen Rollen, die auf den Boden des Olsavszky-Hauses gefunden wurden. Die alten Texte erzählen von den Kriegen gegen die Türken und von Zusammenstößen zwischen Katholiken und Protestanten im 17. und 18. Jahrhundert. Die Tatsachen, die Anekdoten und die Klatschgeschichten, die der Protagonist zusammenträgt, zeigen die Geschichte als einen zwecklosen, mehrdeutigen Prozess, in dem neben der Vernunft Zufälle und magische Zusammenhänge eine große Rolle spielen. Grendels Roman zufolge ist ein Zugriff auf die Geschichte erst durch die diskursive Vermittlung von Texten, durch das geschichtliche Gedächtnis, möglich. Allein schon dies erforderte die Ausarbeitung einer sowohl im gattungstheoretischen als auch diskurspoetischen Sinne komplexen Romansprache, die es vermag, die etablierte Rede über die Geschichte Ungarns (und der ungarischen Minderheit in der Slowakei) umzudeuten. In den späten 1990er Jahren wurde die Gattung des historischen Romans in der ungarischen Erzählprosa wieder auffallend oft aufgegriffen – in Dzsigerdilen von János Háy, Bestiarium Transylvaniae von Zsolt Láng, Jacob Wunschwitz igaz története von László Márton, A könnymutatványosok legendája von László Darvasi und Hollóidő von István Szilágyi. Die Textgestaltungsweisen, die in diesen Werken feststellbar sind, erinnern in vieler Hinsicht an die Verfahren der erfolgreichsten deutschen Romane der 1980er und 1990er Jahre (Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit; Patrick Süskind: Das Parfum; Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Die letzte Welt und Morbus Kitahara). In diesen Werken situiert sich der Rollenkreis der metanarrativen Bedeutungsschaffung in der Fiktionsbildung auf unterschiedliche Weise neu. Das Verschwimmen der Zeit- und Raumverhältnisse ist weniger eine rhetorische Leistung der Narration als vielmehr eine Folge der Differenz, die sich im Verhältnis zwischen Text (bzw. den Intertexten) und repräsentierter Welt kontinuierlich neu erschafft, aber nicht lokalisiert werden kann. János Háys (1960–) Roman Dzsigerdilen (1996; Dschigerdilen, 1999, V. Seidler) verweist gattungspoetisch und intertextuell auf den ungarischen (spät)romantischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts (besonders Mór Jókai: Janicsárok végnapjai; Die letzten Tage der Janitscharen, 1982, H. Engl – G. Engl und Géza Gárdonyi: Egri csillagok; Sterne von Eger, 1958, M. Schüching), insofern als er eine durch diese erkennbare Texttradition situierte Rezeptionsweise zugleich ermöglicht und auslöscht. Der implizite Burgkommandant interpretiert die
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eigenen Geschichten aus der Türkenzeit durch die bekannteste literarische Vermittlung (z. B. durch den schon erwähnten Roman Gárdonyis), und so verwischt das Werk die Grenzlinie zwischen historischen Ereignissen und ihrer literarischen Repräsentation. Der Roman Dzsigerdilen, der von dem Anspruch auf alternative Erzählung der großen historischen Ereignisse geleitet wird, reflektiert die Gattung des historischen Romans so, dass er die Illusion nicht teilt, seinen Gegenstand wirklich in der Geschichte finden zu können. Er findet ihn vielmehr betont im Netz von Texten (d. h. im Paradigma der Romane, die die Türkenzeit heraufbeschwören). Er kann also als textuelle Dynamisierung des historischen Diskurses gelesen werden. Die durch ironische Erzählerstimme und bravouröse Motivstruktur gekennzeichneten Bedeutungsformen werden im Verlauf der Erzählung zerstört, weshalb der Erzähler als Produkt des Zusammentreffens der verschiedenen Diskurse aufgefasst werden kann. Wegen der ständigen Selbstkorrektur der Erzählsituation ist der Rollenbereich des Narrators heterogen, auch die Vergegenwärtigung der Geschichte erweist sich als nicht zu beendender Prozess. Das Zusammenspiel von Geschichte und Literatur (d. h. Phantasie und Sprachlichkeit) verhindert in Dzsigerdilen die Konsistenzbildung (Kulcsár-Szabó, Zoltán 1997, 209–222). Die erfolgreichen ersten Bände von László Márton (1959–) (Nagy-budapesti Rém-üldözés, 1984; Groß-Budapester Schreckensjagd; Menedék, 1985; Asyl; Tudatalatti megálló, 1990; Haltestelle im Unterbewusstsein), dem Autor, der hervorragend deutsche Klassiker wie Luther, Goethe, Novalis, die Brüder Grimm und Heinrich von Kleist übersetzt, implizieren eine parabelhafte Rezeptionsweise, die sich durch den Unterschied zwischen (phantastischer) Fiktion und Realität organisiert. Nach den Büchern, die die hohe Schreibkultur und verschiedene erzähltechnische Lösungen aufleuchten lassen, schrieb der Roman Átkelés az üvegen (1992; Glasüberquerung) schon einen bedeutend reflektierteren Rollenkreis des Lesers vor. Die Texte Mártons, der sich besonders für Stilimitationen, Paraphrasen und Parodien aufgeschlossen zeigt, schöpfen aus den sprachlichen Welten (d. h. Zeichensystemen, Emblemen, Verfahren) der verschiedensten kulturgeschichtlichen Zeitalter, und so ist es kein Zufall, dass in der Rezeption eine Leseweise am meisten aufgewertet wurde, die die Interaktion zwischen den sprachlichen Welten des Alten und der synchronen Horizonte hervorhebt. Átkelés az üvegen zitiert und vermischt vor allem die Kodesysteme der deutschen Renaissance- und Barockkultur sowie der zeitgenössischen ungarischen Register, wobei neue ästhetische Möglichkeiten der Verhältnissysteme der (historischen) Weltschaffung und der sprachlichen Imagination gesucht werden. Der Roman Jacob Wunschwitz igaz története (1997; Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz, 1999, H.-H. Paetzke) ist durch die Kombination der gattungspoetischen Konventionen des historischen und des Kriminalromans gekennzeichnet.
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Der Roman, der in das obersächsische Fürstentum zu Beginn des 17. Jahrhunderts führt, konfrontiert den Leser mit einer reichen und spannenden Ereignisreihe, zugleich aber mit der Unmöglichkeit, ein konsistentes narratives Schema zu schaffen. Auf jeder Ebene der Textgestaltung ist eine Verwischung der fixierten Identität festzustellen, es können keine klaren Grenzen der Geschichte bezeichnet werden, und die Personen, Gemeinschaften und politischen Mächte im Roman werden von Zufällen und Missverständnissen geleitet. Aus der Perspektive des Lesers, der die Möglichkeit hat, mythologisch-märchenhaften Intertexten (z. B. Visionen, Träume, Prophezeiungen) auf die Spur zu kommen, wird jene ästhetische Erfahrung verstärkt, die das Zusammenspiel zwischen den Aspekten der Wirklichkeit und Imagination, des Erinnerns und des Vergessens als notwendig voraussetzt und es unmöglich macht, eine Betrachtungsweise aufrechtzuerhalten, die die Geschichte für eine abgeschlossene, von vornherein gegebene Metanarrative hält. Der Roman schafft auch eine Verbindung zu seiner eigenen unumgänglichen Entstehungsgeschichte (Mártons Werk beruht auf einer 1731 erschienenen Dokumentation, die einen gewissen Wunschwitz betrifft und die schon von Kleist als Quelle für Michael Kohlhaas genutzt wurde) und zu dem Verhältnissystem der aufeinander folgenden Interpretationen, er schafft also einen impliziten metafiktionalen Raum, der die Existenzweise der Geschichte und die Möglichkeiten der Erzählung hinterfragt. Auch Jacob Wunschwitz igaz története verwischt also die Grenzlinie zwischen den historischen Ereignissen und ihrer literarischen Repräsentation. Die Geschichte wird als formbar, als Netz divergierender temporaler Verhältnisse, als nicht zu beendende Textur interpretiert. Weitere historische Romane Mártons (Kényszerű szabadulás, 2001; Zwanghafte Befreiung; A mennyország három csepp vére, 2002; Drei Tropfen Blut des Himmelreichs) verbinden die selbstspiegelnden Mechanismen mit der Neuschaffung der Anfänge des ungarischen Romanschreibens. In beiden Werken parodiert Márton den im 18. Jahrhundert ursprünglich aus einem (oder mehreren) deutschen Romantext(en) von Ignác Mészáros ins Ungarisch übersetzten und überarbeiteten Roman Kártigám. Die Erweckung der vergessenen Tradition, die spielerische Ineinander-Schreibung von Fiktion und Wirklichkeit, literarisch und nichtliterarisch (die eine gewisse Verwandtschaft mit den Romanen von Ransmayr aufweist), sowie die Verfahren, die das imaginäre Museum der Literaturgeschichte von Zeit zu Zeit neu ordnen, verweisen auf ungarische Literatur der jüngsten Vergangenheit wie Psyché von Sándor Weöres bzw. Tizenhét hattyúk von Péter Esterházy. Der Romanzyklus Bestiarium Transylvaniae (Az ég madarai, 1997; Die Vögel des Himmels; A tűz és a víz állatai, 2003; Die Tiere des Feuers und Wassers; A föld állatai, 2011; Die Tiere der Erde) von Zsolt Láng (1958–) greift hinter das kanonisierte Textgedächtnis der Neuzeit zurück und nutzt die narrativen Muster der
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emblematischen Tierparabeln, um eine alternative Geschichte des Siebenbürger Fürstentums im 16. und 17. Jahrhundert zu schreiben. Der imaginative Katalog der verschiedenen Tierwesen geht mit der Vermischung der Zeit- und Raumverhältnisse der historischen Ereignisreihe einher. Das Zusammenspiel der verschiedenen Gattungsdiskurse (z. B. Anekdote, Parabel, phantastische Allegorie, Vision, Reiseroman usw.) und der Allusionen früherer Tagebücher und Memoiren schafft eine tatkräftige Variante der Schreibweise, die als ‚historiographische Fiktion‘ bezeichnet werden kann. A könnymutatványosok legendája (1999; Die Legende von den Tränengauklern, 2001, H. Eisterer) von László Darvasi (1962–) beschwört ebenfalls die Türkenzeit herauf. Der Roman erzählt die Geschichte der traurigen Gaukler, allegorischer Figuren des osteuropäischen historischen Schicksals, und auch die Entstehungsgeschichte des Buches. Die märchenhafte Erzählweise bricht die Kontinuität und häuft mit der Spaltung der mimetischen Zeit- und Raumverhältnisse bzw. mit der Aufhebung der diskursiven Logik wundersame und schreckliche Ereignisse an. Dadurch schafft Darvasi eine Historie, die keinen durchschaubaren Verlauf, keinen Zweck und keinen Sinn hat, sondern nur aus dem Leid der Schwachen besteht. Der Roman Hollóidő (2001; Rabenzeit) von István Szilágyi (1938–) besteht – wie Termelési-regény und Harmonia caelestis – aus zwei Teilen. Der Protagonist des ersten Buches („Pferd und Priester für eine Chronik“) ist ein gebildeter und bewanderter Junge, der die rätselhaften Geschehnisse fortlaufend interpretiert. Dem Erzähler des zweiten Teils („Knochenkrüge“), einem einfachen Sohn eines Viehhalters, erscheint die Ereignisreihe unklar und zusammenhanglos. Szilágyis Roman hat im Vergleich zu anderen zeitgenössischen historischen Romanen eine geschlossenere Zeit-Raum-Struktur: die mimetische Nachbildung des geschilderten Zeitalters (d. h. der Welt der türkischen Besatzung im 16. Jahrhundert) wird nicht durch Anachronismen zerstört. Das historisch-soziale Bezugssystem der inszenierten Welt bzw. die integrative (biblisch-archetypische) Verweisstruktur ermöglichen scheinbar eine parabolische Lesbarkeit des Romans, aber die mosaikartige Gestaltung der Geschichte und die abwechselnden Erzählstrategien setzen diese Möglichkeit zugleich außer Kraft. Zahlreiche Punkte der Handlung (Motivation, Ursachen, Folgen und Umstände) bleiben undurchsichtig: Das zumeist mystisch interpretierte Rätsel bestimmt den Horizont der Fiktion. Die menschlichen Handlungen werden hauptsächlich vom Zufall gelenkt. Hollóidő schildert die dramatische Entfernung zwischen den menschlichen Idealen und der gleichmütig vergehenden historischen Zeit. Szilágyi knüpft an die parabolische Tradition des ungarischen historischen Romans an, die vor allem Zsigmond Kemény und Zsigmond Móricz schufen, deutet jedoch dieses Muster auf der Ebene der narrativ-diskursiven Beschaffenheit gründlich um (Szirák 2003c).
Literatur
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Literatur Balassa 1997 = Balassa, Péter: Nádas Péter. Pozsony: Kalligram (Tegnap és ma). Bónus 2001 = Bónus, Tibor: Diskurzusok összjátéka. Irodalmi olvasásmódok. Budapest: Balassi. Bónus 2002 = Bónus, Tibor: Garaczi László. Pozsony: Kalligram (Tegnap és ma). Csuhai 1993 = Jelenkor antológia: Anthologie der Zeitschrift Jelenkor. H: Csuhai, István. Pécs: Jelenkor Szerkesztősége. Esterházy 1986 = Esterházy, Péter: Bevezetés a szépirodalomba. Budapest: Magvető. Fodor 2001 = Fodor, Péter: Amit ez a kiismerhetetlenség eltakar. Krasznahorkai László: Háború és háború. In: Vándor szövevény. Az Alföld Stúdió antológiája. H: Szirák, Péter. Debrecen: Csokonai (Alföld könyvek, 8), 164–179. Kovács 2005 = Kovács, Béla Lóránt: Etika és poétika között (Sinistra körzet). In: Tapasztalatcsere. Esszék és tanulmányok Bodor Ádámról. H: Scheibner, Tamás; Vaderna, Gábor. [Budapest:] L’Harmattan (Dayka könyvek, 3), 146–162. Kulcsár Szabó, Ernő 1993 = Kulcsár Szabó, Ernő: A magyar irodalom története 1945–1991. Budapest: Argumentum (Irodalomtörténeti füzetek, 130). Kulcsár Szabó, Ernő 1996 = Kulcsár Szabó, Ernő: Esterházy Péter. Pozsony: Kalligram (Tegnap és ma). Kulcsár-Szabó, Zoltán 1997 = Kulcsár-Szabó, Zoltán: Az olvasás lehetőségei. [Budapest:] JAK – Kijárat (JAK, 96). Kulcsár-Szabó, Zoltán 1998 = Kulcsár-Szabó, Zoltán: Hagyomány és kontextus. Budapest: Universitas. Lőrincz 2011 = Lőrincz, Csongor: Tanúságtétel, archívum, erőszak (Esterházy Péter: Javított kiadás). In: Alföld 62.11 (2011. november), 80–97. MIT 2007 = A magyar irodalom történetei. H: Szegedy-Maszák, Mihály. Budapest: Gondolat. Bd. 1. A kezdetektől 1800-ig. Bd. 2. 1800–tól 1919-ig. Bd. 3. 1920–tól napjainkig. Molnár 2007 = Molnár, Gábor Tamás: Az önmegértés szövegisége. In: MIT 2007. Bd. 3, 863–873. Molnár 2010 = Molnár, Gábor Tamás: Nem boszorkányság – technika? Líraiság, irónia és narratív önreflexió Szilágyi István Kő hull apadó kútba című regényében. In: A hermeneutika vonzásában. Kulcsár Szabó Ernő 60. születésnapjára. H: Bónus, Tibor et al. Budapest: Ráció, 489–502. Standeisky 1996 = Standeisky, Éva: Az írók és a hatalom, 1956–1963. Budapest: 1956-os Intézet ('56). Szegedy-Maszák 1994 = Szegedy-Maszák, Mihály: Ottlik Géza. Pozsony: Kalligram (Tegnap és ma). Szegedy-Maszák–Scheibner 2004 = Der lange, dunkle Schatten. Studien zum Werk von Imre Kertész. H: Szegedy-Maszák, Mihály; Scheibner, Tamás. Wien: Passagen; Budapest: Kortina (Passagen Literaturtheorie). Szirák 1998 = Szirák, Péter: Folytonosság és változás. A nyolcvanas évek magyar elbeszélő prózája. Debrecen: Csokonai (Alföld könyvek, 2). Szirák 2003a = Szirák, Péter: Kertész Imre. Pozsony: Kalligram (Tegnap és ma). Szirák 2003b = Szirák, Péter: Nyelv által lesz. In: Másodfokon. Írások Esterházy Péter Harmonia caelestis és Javított kiadás című műveiről. H: Böhm, Gábor. Budapest: Kijárat (Kritikai zsebkönyvtár, 2), 135–148.
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Szirák 2003c = Szirák, Péter: A múlás elviselhetetlen értelme. (Szilágyi István: Hollóidő). In: Tanulmányok Szilágyi Istvánról. H: Márkus, Béla. Debrecen: Kossuth Egyetemi, 263–270. Szirák 2007 = Szirák, Péter: A test végtelenbe nyíló könyve. In: Testre szabott élet. Írások Nádas Péter Saját halál és Párhuzamos történetek című műveiről. H: Rácz I., Péter. Budapest: Kijárat (Kritikai zsebkönyvtár, 9), 276–295. Szirák 2008 = Szirák, Péter: Örkény István. Pályakép. Budapest: Palatinus. Thomka 1995 = Thomka, Beáta: Mészöly Miklós. Pozsony: Kalligram (Tegnap és ma).
VIII.B Zwischen Sprachkritik, Neuer Sensibilität und ‚Poesis memoriae‘. Lyrik nach 1960/1970 VIII.B.1 Epochenwandel? Dass die Jahrzehntwende um 1960/1970 eine deutliche Zäsur in der Geschichte der ungarischen Dichtung darstelle, gehört mittlerweile zu den Gemeinplätzen der Forschung bzw. der Literaturkritik. Es wird auch kaum noch bestritten, dass diese Wende auf den verschiedensten Ebenen der Lyrik (und der Kommunikation durch und über Lyrik) eindeutig aufgewiesen werden kann: Selten kam es in einem so kurzen Zeitraum in der ungarischen Dichtung des 20. Jahrhunderts zu solch radikalen Veränderungen der ästhetischen Voraussetzungen bzw. der Schönheitsvorstellungen, der dichterischen Rollen und vor allem der Sprachauffassung (zu Letzterer vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1994a) wie zu dieser Zeit. Diese Entwicklung brachte selbstverständlich auch eine zunächst zögernde, seit Anfang der 1980er rapide zunehmende Umwertung von Oeuvres und/oder Lyrikkonzepten mit sich, im Lichte derer – wie dies bei sogenannten literarischen Epochenwenden meist der Fall ist – dieselbe Wende als eine Blütezeit oder Konjunktur der modernen ungarischen Poesie erlebt (und vielfach beschrieben) wurde. Denn was in oder hinter solchen Behauptungen über diese Wende oft ungesagt bleibt, ist die Tatsache, dass die ungarische Literaturkritik und die literarische Öffentlichkeit die späten 1960er keinesfalls als Niedergang oder Erschöpfung der spätmodernen Dichtung erfuhren. Dies war nämlich die Zeit, in der die restriktive Kulturpolitik und die zwangsmäßig herrschenden parteidogmatischen ‚ästhetischen‘ Vorschriften und damit auch die (in manchen Fällen durch erpresste Selbstzensur manipulierte) Begrenzung der literarischen Öffentlichkeit oder z. B. das Publikationsverbot der Dichter des Újhold-Kreises deutlich gelockert wurden, und es war zugleich eine Zeit, in der die bedeutendsten Lyriker der Nachkriegsepoche ihre wichtigsten bzw. reifen Werke veröffentlicht und dadurch eine heute nicht mehr vorstellbare Aufmerksamkeit und Publizität von Dichtkunst erreichten. Gyula Illyés, László Nagy, Ferenc Juhász, Sándor Weöres veröffentlichten einige ihrer Hauptwerke in dieser Periode, ja nie vor- und nachher wurde Lyrik in solchem Umfang produziert und rezipiert wie zum Ende der 1960er: 1968 wurde die Zahl der neu erschienenen Gedichte in Ungarn auf ungefähr 20.000 geschätzt (Béládi–Rónay 1986, 988), Jahr für Jahr wurden Anthologien veröffentlicht, die die Vorstellung junger Lyriker fast schon im Überfluss ermöglichten. In schneller Abfolge wurden drei ungarische Lyriker für den Nobelpreis nominiert (Illyés, Juhász, Weöres). Die zeitgenössische ungarische Dichtung gelangte zu internationaler Bekanntheit und Anerkennung
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(die zuvor Genannten und auch einige weitere waren häufig Gäste verschiedener westeuropäischer Festivals, worauf Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Französische folgten). Darüber hinaus ist in dieser Periode, vielleicht merkwürdigerweise, eine wenn auch nicht intensive, so doch aufmerksame Rezeption der modernen bzw. zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Dichtung festzustellen, was für die späteren Jahrzehnte weniger zutrifft. Davon zeugt zumindest die übersetzerische Aktivität vieler erstrangiger Lyriker. Dies dürfte im Falle der an der Poesie der klassischen europäischen Moderne geschulten ÚjholdDichter oder des Mallarmé-Übersetzers Sándor Weöres, die in den schwierigsten Jahren der kulturpolitischen Repression ja nur mehr als Übersetzer an die Öffentlichkeit traten, vielleicht weniger überraschen. Einige wichtige Gedichte von Charles Olson aber liegen z. B. in der Übersetzung von László Nagy auf Ungarisch vor. Auch die amerikanische ‚Beat‘-Poesie wurde relativ früh in einer selbständigen Anthologie auf Ungarisch vorgestellt. Seit den 1970ern und 1980ern scheint diese Aufmerksamkeit deutlich zurückgegangen zu sein: Trotz der z. T. unübersehbaren poetischen Parallelen blieben die deutschen Dichter der sogenannten Neuen Sensibilität in Ungarn bis zur Jahrtausendwende ebenso weitgehend unbekannt wie z. B. die Lyrik von Yves Bonnefoy oder John Ashbery. In den 1960ern wurden die bedeutendsten Konzepte und Richtungen der modernen ungarischen Lyrik verfestigt. Neben der konfessionellen, visionären, sozial-volkhaft ausgerichteten Dichtkunst von Nagy und Juhász und der dazugehörenden ästhetischen Ideologie der repräsentativen Dichterpersönlichkeit fand allmählich auch die Dichtung des Újhold (vor allem Ágnes Nemes Nagy und János Pilinszky, dessen epochaler Band Harmadnapon [Am dritten Tag] erst 1959 erscheinen konnte) und Sándor Weöres’ (wenige Jahre zuvor noch als Poet des „isolierten Ichs“ oder der leeren Wortmagie marxistisch verdammt, vgl. Lukács 1946; Szigeti, József 1959) ihren Weg in die öffentlichen-offiziellen Kanons der Kritik und Literaturwissenschaft. Die sozialistisch-politische Dichtung verlor allerdings nur einen Teil ihrer Positionen (von den Dichtern der damals berühmten Anthologie Tűz-tánc [Feuer-Tanz] gehörten etwa Mihály Váci und der in poetischer Hinsicht interessantere Mihály Ladányi bis zum Ende der 1970er zu den populärsten oder bekanntesten Dichtern der Gegenwartsliteratur – beide sind heute völlig vergessen), und über all dem thronte als der eigentliche ‚Dichterfürst‘ der Zeit Illyés. So unterschiedlich ihre Richtungen auch waren, teilten die Lyriker der 1960er doch einige Grundlinien hinsichtlich der Beziehung zur Sprache, so z. B. die Auffassung von der poetischen Sprache als einem (stilistisch und kulturell) exklusiven Bereich oder jene von einer unhinterfragbaren (tragisch, pathetisch oder auch unpersönlich modalisierten) Dignität der poetischen Rede. Während Nemes Nagy oder Pilinszky das klassische Erbe der Nyugat-Lyrik in die Richtung einer unpersönlichen, in gewisser Hinsicht hermetischen Modalität weiterent-
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wickelten, liegt diese Exklusivität des lyrischen Wortes für Nagy und Juhász in einer eigenartigen Neuromantik, die aus so unterschiedlichen Quellen schöpfen konnte, wie der mündlichen Tradition der Volks- oder volkstümlichen Literatur bzw. verschiedenen Mythologemen und einigen Tendenzen des Surrealismus. Die Lyrik als exklusives Terrain bietet die Möglichkeit für epistemologische oder metaphysische Erkundungen über die Seinsweise bzw. Erkennbarkeit der Dinge, kann aber auch kulturelle oder soziale Funktion erfüllen, gerade durch ihre (oder die ihr zugeschriebene) sprachliche Normativität. Es war gerade diese sprachliche und kulturelle Exklusivität oder Normativität (durch die der Lyrik übrigens Jahrzehnte lang auch in der muttersprachlichen Bildung eine besondere Rolle zukam), die nach 1970 umgedacht werden sollte. Junge Dichter, die relativ schnell ihren Weg in die literarische Öffentlichkeit fanden (z. B. in einer Reihe von Anthologien, u. a. Első ének [1968; Erster Gesang], Költők egymás közt [1969; Dichter unter sich], A magunk kenyerén [1971; Unser eigenes Brot], wo ihre Gedichte mit begleitenden Kommentaren berühmterer Kollegen präsentiert wurden) und die Aufmerksamkeit der Kritik auf sich lenken konnten (auch wenn diese Kritik am Anfang zwar nicht feindlich, so doch abgeneigt reagierte und sich immer wieder veranlasst sah, über ‚neue‘ Begriffe und Konventionen des Lyrischen nachzudenken, vgl. Menyhért 1998; Kulcsár-Szabó, Zoltán 1996, 174‒183; Keresztury 1998, 40‒56), hatten mit der Sprache etwas anderes vor. Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied in einem Vergleich zwischen zwei berühmten Gedichten, die ungefähr zur selben Zeit entstanden sind und denen es – auf sehr unterschiedliche Weise – in erster Linie um die Beziehung von Dichtung, (Mutter-)Sprache und Macht geht. Im Gedicht Koszorú; Kranz (Illyés 1993, 578‒579; Kárpáti 1982, 43‒44, Ü: P. Kárpáti) von Illyés aus 1970 (vor einiger Zeit noch ein repräsentativer Anthologietext, der zu verschiedenen Feierlichkeiten rezitiert wurde) wird „das Ungarische“ in hymnischer Diktion von einem Dichter angeredet, der seine Lorbeerkränze schließlich zu Füßen dieser Sprache niederlegt (die Sprache wird dabei als „fölnevelő / édesanyám“ „die du mich aufzogst, / Mutter mein“ anthropomorphisiert). Dies stellt eine Geste dar, die sich eigentlich als eine Art Selbstbeschreibung der Ode lesen lässt. Die Sprache wird im Gedicht einerseits in organischen Metaphern vergegenwärtigt. Zunächst erscheint sie als eine vom Winde niedergedrückte, aber unerloschene Flamme, oder vielleicht zugleich Fahne: Fölmagasodni nem bírhatsz. De lobogsz még szél-kaszabolta magyar nyelv, lángjaidat kígyóként a talaj szintjén iramítva
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Hoch hinaufzuloh’n / vermagst du nicht. Doch flackerst noch, / windgepeitschte Sprache, Ungarisch, in Bodenhöh / züngeln dahin die Flammen – fauchend auch,
am Schluss wird sie als (gebärende?) Mutter personalisiert („mosolyra bírva mosollyal vonagló / ajkad, fölnevelő / édesanyám“, „mit Lächeln zum Lächeln bewegend / deine zuckenden Lippen, die du mich aufzogst, / Mutter mein“). Zwischen den beiden direkten Anreden erstreckt sich eine vielgestaltige (vielleicht auch bombastische) Enumeration der Unterdrückten: von fremden Eroberern Entführte oder Vertriebene, von Lehrern erniedrigte Schüler, „nyelv-vizsgát sem megállt“ („in Sprachkundigkeit nicht / ausgewiesenen“) Ungebildeten, Dienstmägden usw. Es sind all diejenigen, die die Sprache „a fű közt, a gazban“ („im Gras, im Ried“), „a talaj szintjén“ am Leben erhalten bzw. umgekehrt, deren einzige Zuflucht und letztes Eigentum die Muttersprache darstellt (so finden dort konsequenterweise auch Emigrierte oder Minderheiten – Kaschauer Schleichhändler, Bukarester Dienstmädchen, Prostituierte in Beirut – ihren Platz). Der Sprecher des Gedichtes („fiaid közül egy“, „von deinen Söhnen / … / einer“) apostrophiert und preist gleichzeitig im Namen all jener die Sprache. Der Dichter, „szólni tudó más nyelveken“ („kundig auch anderer Sprachen“), erscheint hier als die Stimme, die im Namen der Verfolgten und als Repräsentant einer kollektiven Identität imstande ist, dieser außerordentlichen Beziehung zur Muttersprache zum Ausdruck zu verhelfen und zugleich die Klagen der Gedemütigten in einen Lorbeerkranz zu verwandeln und aus der unterdrückten Sprache Poesie zu zaubern. Dies wird auf der Ebene der Form noch einmal deutlich gemacht, da das Gedicht diese Verwandlung in der Tat vollzieht, indem es die Sprache des Leidens in einem ziemlich komplizierten Satzbau und einer raffiniert klassizistischen Metrik hervortreten lässt. Obwohl solche Gesten zumeist auch als Gesten der freiwilligen und opferbereiten (?) Demut oder Verpflichtung gegenüber der ungarischen Sprache oder gar der Nation vonseiten des Intellektuellen gedeutet wurden, fällt hier vor allem die pathetische Figur der Repräsentanz auf, wodurch sich die Dichtkunst als Vertreterin, Hüterin, Fürsprecherin oder gar Instanz einer kollektiven oder kulturellen Identität darstellt. Diese Selbstinszenierung des Dichterischen, die sich in der Dichtung von Illyés, der seit den 1960ern mit mehr oder weniger Erfolg die Rolle des Vermittlers zwischen politischer Macht und Literatur, zwischen Literatur und Gesellschaft (oder: Nation, dies- und jenseits der Staatsgrenzen Ungarns) ausfüllen konnte, des Öfteren in erstaunlich direkter oder programmatischer Form zeigt, z. B.: Ide teszem az akácról az illatot Ide teszem a Dunáról a fényt
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leányról a mosolyt, a fiúról a dacot; ebből csinálok költeményt, hogy gazdagodjatok (A költő felel, Illyés 1993, 154) Hierher stelle ich den Duft der Akazie. Hierher das Licht von der Donau, das Lächeln des Mädchens, den Trotz des Jungen; ich schaffe ein Gedicht daraus, um euch zu bereichern (Der Dichter antwortet, Ü: Verfasser)
verweist darauf, dass hinsichtlich der Sprachauffassung in der Dichtkunst die sonst ziemlich bejahrte Tradition der repräsentativistischen Vertretungslyrik auch um 1970 ihre Geltung noch nicht völlig verloren hatte. 1971 entstand das Gedicht Kormányeltörésben (Steuerbruch, Domonkos 1994, 86–91, Ü: Verfasser) von István Domonkos, das, wenn auch mit deutlicher Verspätung erst seit Mitte der 1990er, zu einem Klassiker der gesamten Nachkriegszeit avancierte und gewissermaßen als Gegenpol von Illyés’ Koszorú gelesen werden kann. In diesem Text geht es auch um die Muttersprache, da Domonkos (der kurz zuvor aus seiner Heimat in der Provinz Vojvodina des damaligen Jugoslawien nach Schweden emigriert war) sich hier in erster Linie mit den Möglichkeiten der sprachlichen Darstellung der Emigration oder der Heimatlosigkeit auseinandersetzt. Domonkos, der neben Ottó Tolnai zu den wichtigsten Lyrikern der sogenannten Symposion-Generation gezählt wird, hat sich den Programmen der verschiedenen Ismen der Neoavantgarde zwar nicht verpflichtet, die wichtigsten Konstanten seiner Lyrikauffassung sind jedoch in der sprach- und machtkritischen Reflexivität, der Zerstörung syntaktischer Strukturen bzw. der Isolierung und Dekontextualisierung der Worte zu finden. Die Lyriker um die seit 1965 erscheinende Zeitschrift Új Symposion, die bis zu den frühen 1980ern zu den wichtigsten Foren der progressiven, experimentierenden ungarischen Literatur gehörte (vgl. Szerbhorváth 2005; Bányai 2004; Virág 2007), orientierten sich dank dem im Vergleich zum damaligen Ungarn offenen und multikulturellen Kulturklima Jugoslawiens stark an Ansätzen der zeitgenössischen westeuropäischen und südslawischen Neoavantgarden. In diesem Kontext überrascht es kaum, dass Domonkos’ großes Exilgedicht den reflexiven Bezug der Lyrik auf die bedrohte (oder, wie in Kormányeltörésben zumindest angedeutet wird, gar nichtexistente) Muttersprache in Form einer radikalen Verfremdung und Zerstörung des Diskurses auf- (oder vielmehr ab-)baut. Das grundlegende Kompositionsprinzip des Gedichts ist als eine Poetik der verdorbenen oder zerstörten Sprache beschreibbar, die einerseits durch avantgardistische Montagetechnik, zerstörte Syntax und Auslöschen der korrekten grammatischen Rahmen – Oskar Pastiors Konzept des „Exiltextes“ (Pastior 2003, 329) nicht unähnlich – die Effekte des ‚Exports‘ und der ‚Deportation‘ der Wörter
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hervorruft und diese in der abstrakten Seinsweise des Eigennamens, Zeichens oder des Wörterbucheintrages hervortreten lässt (alle Verben im Text stehen z. B. in der Infinitivform). Andererseits imitiert diese Poetik durch sprachliche Fehler, Deformationen des Wortlautes und Einfügen von fremdsprachlichen Zitaten die Agrammatikalität der gesprochenen Alltagssprache, darüber hinaus aber auch die Rede eines der fremden Sprache nicht mächtigen Sprechers (damit liegt Kormányeltörésben in stilistischer Nähe zu Texten von Ernst Jandl, Peter Handke und der zur damaligen Zeit populären ‚Gastarbeiterlyrik‘), thematisch – und durch die Anspielung auf Sándor Márais Gedicht Halotti beszéd (Totenklage, Gy. Buda) – nimmt sie jedoch vor allem den drohenden Sprachverlust des Emigranten ins Visier. Das Gedicht, an dessen Anfang die Sprache unter den auswechselbaren Symbolen kollektiver Identität aufgeführt wird: én lenni én nem tudni magyar élni külföld élet pénz nyelv zászló himnusz bélyeg elnökök vezérek előkaparni megfelelő ott ahova érek (Domonkos 1994, 86) ich sein / ich sprechen kein Ungarisch / lebe Ausland Leben / Geld Sprache Flagge Hymne Briefmarke / Präsidenten Führer / durchstöbern für das Passende / dort wo ich hingelange (Ü: Verfasser),
bedient sich einer Vielfalt von außerliterarischen sprachlichen Bereichen. Während sein Titel einem Vers von Bálint Balassi entliehen ist (im heutigen Sprachzustand aber als ein inkorrektes Kompositum wirkt), wird die Problematik der Sprache als ‚privates‘ und/oder ‚kollektives‘ Eigentum bzw. die Thematik des Sprachverlustes in den terminologischen Kontext marxistischer Wirtschaftstheoreme oder in die Umgebung verschiedener Motive und Embleme der 1968er Revolutionen eingebettet. Eine aufmerksame Lektüre des Textes könnte darüber hinaus seine sprachkritische Bedeutungsebene erschließen und Argumente dafür liefern, dass Domonkos’ Gedicht nicht nur das Emigrantenschicksal oder auch Seinsfragen der in sprachlich-kultureller Minderheit Lebenden darstellt, sondern darüber hinaus die prinzipielle Möglichkeit einer sprachlichen Heimat verneint oder, anders formuliert, Poesie mit der eigenen Negation (im Text taucht die deiktische Aussage „ez nem vers“ („dies kein Gedicht“) an zwei wichtigen Stellen auf) bzw. das Dichterische mit der Zerstörung oder Verfremdung der Sprache gleichsetzt. Dadurch wird in diesem Gedicht mit elementarer Kraft eine neue Erfahrung der Verfremdung
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der Sprache (Verfremdung gerade durch dichterische Reflexivität) mitgeteilt. Dass diese Fremdheitserfahrung des Sprachlichen in Domonkos’ Gedicht sowohl in den Experimenten der ungarischen Neoavantgarde der 1960er und 1970er als auch in der Sprachauffassung der bedeutendsten nichtavantgardistischen Lyriker der Periode nach 1970 produktiv wieder auftaucht, deutet vor allem darauf hin, dass diese Annäherungsweise an die Sprache und an die dichterischen Traditionen ein entscheidendes Moment der Wende der ungarischen Lyrik zu dieser Zeit darstellt.
VIII.B.2 Lyrik und Sprachkritik Die beiden eingangs als beispielhaft hervorgehobenen poetischen Strategien, die in den Gedichten von Illyés und Domonkos zu Beginn der 1970er der reflexiven Konfrontation mit der Muttersprache zugrunde liegen, zeugen gewissermaßen von den Antipoden, zwischen denen die sprachlichen Positionen der Lyrik in diesem Jahrzehnt aufzuzeichnen sind. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die bedeutendsten Erneuerungsansätze deutlich auf eine durch Entfremdung reflektierte oder reflexive dichterische Haltung zu. Hierzu ist anzumerken, dass diese Entwicklung aus der Sicht der Literaturgeschichtsschreibung nach der politischen Wende um 1989 allgemein als eine Art Wiedergewinnung der Autonomie des literarischen Feldes beschreibbar wurde. Zum Ende der 1960er Jahre geht z. B. die Bedeutung oder zumindest die Dominanz allegorischer Deutungsformen auch in der Lyrik deutlich zurück oder wird durch prägnante Selbstanzeigen der sozialen oder politischen Unabhängigkeit der Literatur relativiert. Die moralische Beispielhaftigkeit oder soziokulturelle Normativität bzw. das dazugehörende Rollenangebot der Poesie (wofür Illyés’ Koszorú nur ein Paradebeispiel unter vielen darstellt) wurde von jungen Lyrikern immer öfter zugunsten einer reflektierten, intellektuellen und/oder betont privaten Haltung infrage gestellt, was in den meisten Fällen gerade durch die Hinterfragung der ästhetischen Normativität lyrischer Sprache zustande kommt. Lyrische Sprache (vielleicht auch lyrische Kommunikation: d. h. Kommunikation mit, durch und über lyrische Texte) wird in dem – scheinbar widersprüchlichen – Sinne als unabhängiges Feld der Sprache aufgefasst, dass sie auf vielfache Weise mit außerliterarischen Diskursen in Berührung kommt (von den politischen bis zu den umgangssprachlichen), also jedweder Idee der Exklusivität widersteht, da Letztere als unauthentisch, ideologisch oder aber einfach nur abgenutzt unter Verdacht geraten sei. Daraus ergibt sich eine spektakuläre Wende von der exklusiv-metaphorischen Poetizität zu den verschiedenen Variationen einer ironisch-reflexiven, antipoetischen oder ‚unterrhetorisierten‘ Modalität, die für den größten Teil der als inno-
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vativ geltenden Leistungen der ungarischen Poesie von den 1970er bis zu den 1990er Jahren charakteristisch ist. Diese Entwicklung zeigt sich auch an formalen Merkmalen. Vor einigen Jahren stellte István Margócsy in einem Aufsatz (vgl. Margócsy 1996) überzeugend dar, dass diese Wendung auch als eine grundsätzliche Veränderung der grammatischen Strukturierung des typischen Gedichtes dieser Zeit beschrieben werden kann, nämlich als Akzentverschiebung vom Ideal des exklusiven, schaffenden poetischen Wortes (oder von einer auf Tropologie gründenden, bildlichen Rhetorik) zu den unerschlossenen Möglichkeiten des Satzbaus (zu einer Grammatisierung der Rhetorik oder zur Entdeckung der Signifikanz des Syntaktischen). Der Ästhetizismus des poetischen Wortes hat die Lyrik der Nachkriegszeit durch ihre unerschöpflich scheinende Vielfalt dominiert und wurde in der spätmodernen, hermetisch-intellektualisierenden Poesie der Nyugat-Nachfolge ebenso wenig ernsthaft infrage gestellt wie z. B. in dem eigenartig neuromantischen Surrealismus eines Ferenc Juhász. Das Ideal des durch Isolierung oder elliptischen Satzbau in den Vordergrund gerückten poetischen Wortes gehört unter die Kennzeichen der Újhold-Lyrik. In den eposartigen Gedichten von Juhász ist es in den expansiven, innovativen, teils auch bombastischen Wortzusammensetzungen und einer stark visionären Metaphorik präsent, aber auch in Weöres’ berühmten Ein-Wort-Gedichten. Dies bestätigt z. B. der viel zitierte Text Tojáséj (Weöres 2008, 459) in höchst affirmativer Weise („Tojáséj“ ist wortwörtlich eine innovative Zusammensetzung der Wörter „tojás“ [Ei] und „éj“ [Nacht], also „Eiernacht“, ist aber zugleich eine Transformierung des Wortes „tojáshéj“ [Eierschale]. Die Rezeption dieses Gedichtes zeugt von einem Überschuss an Interpretationsmöglichkeiten.). Nach 1970 scheinen – zumindest für einige Zeit und für einige Autoren bezeichnend – solche Konzepte des autonomen poetischen Wortes viel an Originalitätswert verloren zu haben und erwecken eher poetisches Misstrauen, womit selbstverständlich die Bedeutung der strukturbildenden und bedeutungstragenden syntaktischen Elemente zunimmt. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht u. a. ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten der Originalität und sprachlichen Innovativität der poetischen Sprache. ‚Recycling‘, ‚ready-made‘, vorgefundene sprachliche Objekte, Klischees, Zitathaftigkeit treffen nicht nur in den Trends der Neoavantgarde, sondern auch in weniger experimentierfreudigen poetischen Ansätzen (bis zur postmodernen Erfahrung der Zu-Spät-Gekommenen) auf viel Aufmerksamkeit. Der Diskurs der damaligen Lyrikkritik zeugt davon, dass an dieser Entwicklung – zumindest was die Ebene der poetischen Form betrifft – zunächst vor allem ihre ‚prosaische‘ Natur auffallend war. Der Hauptgrund dafür mag weniger in der übrigens kaum übersehbaren Konjunktur der Prosagedichte (als Höhepunkte sei hier auf das späte Schaffen von Nemes Nagy seit den 1970ern, die
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Prosadichtungen der Sammlung Között [Zwischen], z. B. den Text Egy pályaudvar átalakítása [Die Umgestaltung eines Bahnhofs, P. Kárpáti] bzw. auf die Bände Helyzetünk az óceánon von Ottó Orbán [1983; Unsere Lage auf dem Ozean] und 1972. szeptember von Imre Oravecz [1988; September 1972] verwiesen) oder episch gestalteten Gedichtbandkompositionen liegen (die bislang letzte wirklich originelle Leistung in dieser Hinsicht ist Oravecz’ großer Band Halászóember [1998; Der Fischende], den er als eine Art Archiv des historischen und privaten Gedächtnisses seines Geburtsdorfes konzipiert hat), sondern vielmehr in der (fast) alles umfassenden Tendenz der Zerstörung der Exklusivität poetischer Sprache, ja des Poetisch-Schönen überhaupt. „Ich habe nämlich gemerkt, dass es keine Wörter, Ausdrücke, Wendungen mehr gab, die ich nicht hätte verwenden können. Das Wörterbuch lag mir förmlich zu Füßen“, schrieb etwa Oravecz über die Entstehung der Idee von 1972. szeptember (Oravecz 1995, 25). Dieser Einzug der Alltags- bzw. antipoetischen Sprache in die Regionen des Dichterischen ist, bei genauerem Hinsehen, vielmehr die aktuellste Variante eines sich von Zeit zu Zeit wiederholenden lyrikgeschichtlichen Vorgangs (Beispiele oder Vorlagen sind z. B. in den Oeuvres der für ‚Volkstümlichkeit‘ schwärmenden Romantiker oder später in der avantgardistischen Periode Lajos Kassáks oder der ‚unpoetischen‘ Diktion Lőrinc Szabós in beliebig hoher Zahl zu finden, wie übrigens auch in der späten Nachfolge der klassischen Moderne in den Gedichten eines István Vas oder selbst noch bei dem Sprachmagier Weöres). Hier jedoch erscheint als maßgeblich, dass diese Öffnung des sprachlich-normativen Bereiches von Lyrik, der stilistische Synkretismus (zum Begriff vgl. Lachmann 1990, 126‒221) oder eine gewisse Polyglossie, nun vor allem eine kritische oder ironische Abwertung von oder gar den Verzicht auf sprachliche Originalität ermöglicht. Gerade in dieser Hinsicht könnte die vorhin angeführte These über die Selbstanzeigen der diskursiven Unabhängigkeit von Literatur dadurch ergänzt werden, dass dieses literarische Feld sich nur als ein unabgeschlossenes aufbauen konnte, als ein Bereich, wo Sprache weniger zu stilistischer Höchstleistung oder metaphorischer Innovativität gezwungen, sondern durch ironische oder destruktive Verfremdung kritisch oder spielerisch in der pragmatischen Vielfalt ihres Gebrauchs widergespiegelt wird. Es überrascht kaum, dass diese Entwicklung zunächst eher skeptisch bis verzweifelt aufgenommen wurde. In der Kritik sprach man über den Funktionsoder Bedeutungsverlust von Literatur, insbesondere von Lyrik. Dies trifft in gewissem Sinne zu, denn erstens wurden nun die Hauptrollen der Erneuerung der ungarischen Literatur zum ersten Mal in ihrer Geschichte von Erzählern gespielt (der Begriff ‚Prosawende‘ ist seit einiger Zeit in aller Munde) und zweitens haben die ‚Neuen‘ nie wieder die Popularität von Zeiten erreicht, in denen Lyrik noch wichtig war und László Nagy in überfüllten Hallen las. Die Lyrik
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zeigte sich auch bereit – die spektakulärsten Beispiele sind bei Dezső Tandori und György Petri (1943‒2000) zu finden –, ihren selbsterkämpften Funktionsverlust (oder ihre Funktionsfreiheit?) zu zelebrieren. Noch gegen Ende der 1980er Jahre wurden die Wege der Dichtung der vorangegangenen Jahrzehnte in solchen Zusammenhängen beschrieben. Der Kritiker Tibor Keresztury fasste diese Entwicklung (übrigens mit Sympathie) 1990 als „die Entthronung von Lyrik“ zusammen. Die „neue antipoetische Poetizität“ habe die traditionellen Schönheitsideale abgelöst, die Rollenmöglichkeiten eingeschränkt, habe statt „Katharsis“ nur mehr intellektuelles Abenteuer zu bieten (Keresztury 1992, 90). So schlimm war es freilich nicht. Seit Ende der 1960er Jahre konnten sich nicht nur Lyriker etablieren (z. T. mit der Unterstützung der damaligen Größen), deren Namen diese neue antipoetische Poetik bis heute kennzeichnen (allen voran Tandori, Petri, Oravecz (1943–) – diese Dreiheiligkeit scheint seit einiger Zeit zum kritischen Konsens geworden zu sein. In der Anthologie Költők egymás közt wurde Oravecz von Weöres, Petri von Vas vorgestellt. Auch Richtungen oder Traditionslinien der ungarischen Avantgarde fanden sich wieder, die sich in Ungarn, politisch (und sozialgeschichtlich?) bedingt, zumeist mit mäßigem Zuspruch zufrieden geben musste und deren poetische Initiative zum größten Teil in der Spätmoderne aufgegangen ist. Die sozialistische Lyrik-Massenproduktion lief auch noch in den 1970er Jahren auf Hochtouren (vielleicht nie zuvor wurde so vielen jungen Lyrikern jährlich zur Veröffentlichung selbständiger Gedichtsammlungen verholfen, vgl. Keresztury 1998, 48). In dieser Hinsicht könnte dieses Jahrzehnt vielleicht, wenn auch nicht ganz im gleichen Sinne, durchaus als „Jahrzehnt der Lyrik“ bezeichnet werden, wie Marcel Reich-Ranicki dies für die (von der sogenannten Neuen Sensibilität geprägte) deutsche Literatur formuliert hat, vgl. Drews 1981, 159). Es gab zudem einige aus politischer Sicht entspannte Jahre zwischen etwa 1968 und 1972, in denen die ersten Bände der genannten Lyriker nicht nur aufmerksam, sondern auch mit einer gewissen Unterstützung bzw. Milde rezipiert wurden. Auch einige der wichtigsten literarischen Zeitschriften – z. B. Mozgó Világ und Alföld – trugen zur Ausbreitung neuer Poetiken in der literarischen Öffentlichkeit bei. Dies trifft auf die Neoavantgarde allerdings weniger zu, was auch gewisse Konsequenzen und Risiken für die literaturgeschichtliche Darstellung dieser Periode mit sich bringt. Wie zuvor bereits erwähnt, konnten sich die bedeutendsten Werkstätten der ungarischen (Neo-)Avantgarde nur mehr außerhalb Ungarns etablieren und ihren Einfluss folglich vielmehr in der (höchstens geduldeten) Halböffentlichkeit entfalten. Neben Új Symposion und den wichtigsten Nordamerika-Emigranten der Zeit (vor allem die Lyriker László Kemenes Géfin und József Bakucz sind hier zu nennen) ist als eigentlich bedeutendstes Forum der Neoavantgarde der Kreis um die seit 1962 (bis 1989 in Paris) erscheinende Zeit-
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schrift Magyar Műhely zu erwähnen (Alpár Bujdosó, Pál Nagy, Tibor Papp). Die geschichtliche Bedeutung der Tätigkeit von Magyar Műhely liegt neben den verschiedensten progressiven Ansätzen bezüglich experimentierender, konkreter, visueller oder intermedialer Dichtung und einer insbesondere von der französischen Zeitschrift Tel Quel inspirierten zeichentheoretischen Poetologie (die Redakteure waren u. a. Mitarbeiter der Neuausgabe von Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le Hasard) darin, dass dieses Forum die intensive Rezeption der in Ungarn kulturpolitisch bedingt vernachlässigten Tradition der ungarischen Avantgarde, vor allem des Oeuvres von Kassák, vorantrieb und in vielen Fällen Publikationsmöglichkeiten für in Ungarn mit Veröffentlichungsverbot bedrohte Werke anbieten konnte (Weöres’ Band Tűzkút [Feuerbrunnen] wurde z. B. zuerst 1964 von Magyar Műhely herausgebracht). Innerhalb der Staatsgrenzen konnte die Neoavantgarde – abgesehen von der Präsenz einzelner Autoren (Ákos Szilágyi, Tibor Zalán) – bis Mitte der 1980er keine wirklich feste Position in der literarischen Öffentlichkeit ausbauen. (Zumindest keine solche, die sie in der Budapester Undergroundkultur hatte. Vor allem Miklós Erdély und seine äußerst reflexive, mit den Möglichkeiten der Performance-Art tief verbundene Poesie – die bedeutendsten Texte sind im Band kollapszus orv. [1974; kollaps med.] zu finden – sowie seine Thesen über das Kunstwerk als Auslöschung der Bedeutung und ihrer leeren Zeichenhaftigkeit fanden kaum öffentliche Resonanz [zum Oeuvre Erdélys vgl. Erdély 1999; als wichtigste Anthologie der ungarischen Neoavantgarde Szógettó 1989].) Kennzeichnend für diese Situation ist die Tatsache, dass der (parteitreue) Literaturhistoriker Miklós Szabolcsi, der sowohl in der ungarischen Rezeption der internationalen (Neo-)Avantgarde als auch in der vergleichenden Forschung auf europäischer Ebene eine wichtige Rolle spielte, in seiner komparatistischen Darstellung die zeitgenössischen ungarischen Autoren nicht einmal erwähnte. Aus all dem ergibt sich eine komplizierte wirkungsgeschichtliche Konstellation. Während der Begriff ‚Neoavantgarde‘ für einige Zeit in der literaturkritischen und -geschichtlichen Reflexion eigentlich alle Autoren und alle Tendenzen der sprachkritischen Lyrik umfassend bezeichnen konnte, die später unter den Rubriken ,Neue Sensibilität‘ (welche in Ungarn allerdings vor allem vom Diskurs der Kunstgeschichte geprägt ist, vgl. Hegyi 1983, Kulcsár Szabó, Ernő 1994a, 184‒188) oder ‚Postmoderne‘ (zu Genese und Bestimmungen des Begriffs vgl. Huyssen‒ Scherpe 1986; Kamper‒van Reijen 1987; zur Rezeption in Ungarn Körkérdés 1987; Kulcsár Szabó, Ernő 1996) verbucht wurden (was sich auch in Konzeption und Inhalt der von Ernő Kulcsár Szabó und Zalán 1982 mit dem Titel Ver(s)ziók [VerSionen] herausgegebenen, wichtigen Anthologie junger Lyriker widerspiegelt), erschien die avantgardistische Traditionslinie der ungarischen Literatur in dem unter dem Zeichen der Postmoderne anlaufenden Kanonisierungsprozess der
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Abb. 45: Titelblatt der Magyar Műhely 59 (1979)
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späten 1980er Jahre eher als peripher, vor allem im Vergleich zu den Autoren von Újhold, die in eben dieser Zeit postum ihre Klassiker-Positionen einnahmen. Die nach 1989 nach Ungarn zurückgekehrten oder (wie z. B. Erdély) zu verspäteter Öffentlichkeit und Anerkennung gelangten Autoren der ehemaligen Underground-Szene mussten sich mit einem eher mäßigen Interesse der Kritik auseinandersetzen. Daher ist heute kaum mit Sicherheit feststellbar, in welchem Maße die Poetik der ungarischen Neoavantgarde eigentlich die Umbildung lyrischer Kanons beeinflusst oder vorangetrieben hat. Einige der wichtigsten Autoren der 1980er und 1990er Jahre (z. B. Endre Kukorelly) möchten diese Entwicklung als einen von der auf die Ästhetik und Ideologie der Postmoderne fixierten Kritik weitgehend und ungerechterweise unbemerkt gebliebenen Wirkungsprozess sehen. Dies konnte bisher jedoch nicht überzeugend belegt werden (vgl. Deréky‒Müllner 2004; Bónus 2002, 19‒23). Festzustellen bleibt zunächst allerdings, dass die Erneuerung der Lyrik um 1970 aus einer Vielfalt poetischer Traditionen schöpfen konnte. Dem widerspricht anscheinend die Tatsache, dass Autoren wie vor allem Petri und Oravecz der ungarischen Dichtungstradition anfänglich bewusst distanziert gegenüberstanden. Für Petri lagen die Orientierungspunkte (neben dem Meister István Vas) in der konservativen Fassung der europäischen Spätmoderne (T.S. Eliot und Kavafis). Tandori schwärmt in seinen Gedichten für Ernő Szép, einen eher zweitrangigen Dichter der Hochmoderne. Oravecz hat 1970 eine (z. T. unpublizierte) Auswahl von Gedichten Paul Celans übersetzt, die den unpersönlichen, fragmentarischen, assoziativen Stil, die chiffreartige Bildlichkeit und die Sprachauffassung seines ersten Gedichtbandes Héj (1972; Schale) wesentlich beeinflusst haben. Sahen sich die bedeutendsten Lyriker der Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre fast zwangsläufig dazu veranlasst, sich in der Nachfolge von Attila József historisch zu platzieren (und damit – wenn auch ungewollt – auf die dogmatisch entstellten Deutungsmuster dessen Oeuvres Bezug zu nehmen), fanden sich die jungen Lyriker der 1970er in einem Wechselspiel vielfältiger, einander zwar in gewisser Hinsicht ausschließender, jedoch vermittelbarer poetischer Traditionen (vor allem Spätmoderne und Avantgarde – Muster für den grenzüberschreitenden Verkehr zwischen beiden lieferte die Dichtung von Weöres). Von diesen beiden schien (vielleicht aufgrund der oben geschilderten Ausgegrenztheit der Neoavantgarde) das spätmoderne Erbe jedoch deutlich stärker zu sein, was sich auch daran zeigt, dass die meist auffallenden Entwicklungen (die Zerstörung oder Ironisierung der Schönheitsideale und der sprachlichen Exklusivität und Dignität der Lyrik, die Abwertung der metaphorischen Wortbildung und Aufwertung der Umgangssprache, die Hinwendung zum Privaten) eindeutig den Nachlass des Modernismus im Visier haben. Der Autor, der diese Wende zu einer Art Neuer Sensibilität am konsequentesten mit den avantgardistischen Aufwertungen der
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zeichenhaften Materialität der Sprache verbunden hat (und vielleicht deshalb als vielseitigster Repräsentant der Lyrik der 1970er und 1980er gilt), ist Dezső Tandori (1938–). Tandoris Name steht in mehreren, verschiedenen Akzentuierungen der Lyrikgeschichte dieser Periode gleicherweise paradigmatisch am Anfang. Sein erster Band Töredék Hamletnek (1968; Fragment für Hamlet) erfasst die Möglichkeiten einer lyrischen ‚Phänomenologie‘, die zwar klar die Merkmale der epistemologischen Reflexivität der spätmodernen Dingdichtung aufweist (Rilke und Eliot gehören zu den wichtigsten Orientierungspunkten der modernen Lyrik für Tandori) und sprachlich der oft nicht unpathetischen Diktion und semantischen Dichte von Nemes Nagy oder Pilinszky ähnelt, jedoch die Fähigkeit der Sprache, den Dingen oder dem Wesen der Dinge unabhängig von der Subjektivität des Erkennens nahe zu kommen, radikal einschränkt. Sprache, die lediglich Bestätigungen des Seins (oder von ‚sein‘) liefern kann, wird – wie dies in der Kritik allgemein hervorgehoben wurde – mit dem ‚Schweigen‘ (eines Subjektes oder des Dinges) gleichgesetzt. Obwohl Töredék Hamletnek in mehreren gängigen Argumentationsstrategien der ungarischen Literaturgeschichte als Wendepunkt zur nachmodernen Lyrik dargestellt wird, wäre diese Funktion eher Tandoris zweitem Band Egy talált tárgy megtisztítása (1973; Die Reinigung eines Fundstücks – wo ‚Fundstück‘ vor allem den Bezug auf einen Vers von Attila Józsefs Eszmélet [Besinnung, F. Fühmann] herstellen dürfte) zuzuschreiben (was tatsächlich immer öfter der Fall ist, vgl. zuletzt Kálmán C. 2007). Dieser Band ist eine sehr reiche Sammlung verschiedener poetischer Konzepte und Experimente, die sich auf unterschiedliche Weise mit der semiotischen Seinsweise, dem Zeichencharakter der Sprache auseinandersetzen. Hier geht es – u. a. durch Hervorhebung der graphischen und optischen Visualität des Textes, alineare Textgestaltung, Poetisierung des ready-made-Objektes und Annäherungen an eine abstrakte, grammatische oder lexikale Seinsweise der Sprache (z. B. im Gedicht Egy szó alibije; Das Alibi eines Wortes, Ch. Rácz) – um die ständige Verfremdung des lyrischen ‚Materials‘, ja um eine – durch ironische Reflexion objektivierte – Distanzierung gegenüber dem Schaffensprozess, wodurch immer wieder die Unhintergehbarkeit und die radikal fremden Aspekte der Sprache erfahrbar werden. Diese Macht des Zeichenhaften verleitet Tandori zur Modifizierung der der Lyrik zugetrauten Erkenntnismöglichkeiten. Das durch seine zeichenhafte Seinsweise entstellte oder überschattete Ding lässt sich nun vor allem als eine bedeutungslose Identität begreifen, anders formuliert, zieht es sich dies- oder jenseits der Bedeutung zurück (gerade darin könnte eine mögliche Deutung der „megtisztítás“ im Titel des Bandes liegen). Die zeitgenössische Kritik, die fast einstimmig verstört oder eher zurückweisend reagierte („was gilt noch als Lyrik?“ – hieß eine viel zitierte Frage des Kritikers Sándor Radnóti, vgl. Radnóti 1988 a, 213), empfand Tandoris neue Poetik
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Abb. 46: Dezső Tandori. Aufnahme: Kálmán Kecskeméti, um 1980
als einen Weg, der sich kaum fortsetzen lasse, sogar Tandoris lyrisches Verstummen wurde voreilig prophezeit. Ironischerweise erwies sich Tandori nur wenige Jahre später als ein uneinholbarer Vielschreiber (in besseren Jahren erscheinen fünf bis sechs Prosa- und Gedichtbände von ihm), dessen Schaffen sich auch bibliographisch kaum mehr fassen lässt. Auf Egy talált tárgy megtisztítása folgt ein anscheinend ganz entgegengesetztes Projekt, welches das reduzierte Identitätskonzept und die Sprachauffassung dieses Bandes zwar nicht widerruft, jedoch in der Poetik einer neuen Subjektivität oder Sensibilität situiert. Kennzeichnend für die Bedeutung dieser Entwicklung ist, dass auch diese erneute Wende schon als die eigentliche Epochenwende neuerer Lyrik (diesmal z. B. als Tandoris ,postmoderne‘ Wende) beschrieben wurde. Im Mittelpunkt dieser neuen Poesie stehen
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thematisch die unwiederholbaren Momente des Erlebten, die Momentaufnahmen einer kaum durchdringbaren Privatwelt (von dichterischer Arbeit bis zum Alltag der berühmten Vögel – vorwiegend Spatzen – des Dichters) und vor allem die Festsetzung der Momente des Schreibens bzw. der Entstehung des Textes. Sprache wird in diesem poetischen Projekt als ein universales Medium erfasst (alles muss bzw. findet einen Weg aufs Papier), in das sich die einzelnen Momente auf eine Weise auf- oder einschreiben, die mit der subjektiven Wahrnehmung nicht viel gemeinsam hat – vor allem deshalb, weil hier ihre Unhintergehbarkeit und die paradoxe Einmaligkeit des erlebten (oder vielmehr abgetippten) Momentes gespeichert wird. Beide Erfahrungen kreuzen sich z. B. in dem für Tandori charakteristischen Effekt der im Text belassenen/inszenierten Tippfehler und weiteren ähnlichen Bezügen auf den Schreibakt. Die wichtigsten Bände aus der ,mittleren‘ Periode von Tandoris Oeuvre (u. a. A mennyezet és a padló, 1976; Die Decke und der Fußboden; Még így sem, 1978; Auch so nicht; A feltételes megálló, 1983; Die Bedarfshaltestelle; Celsius, 1984; A megnyerhető veszteség, 1988; Der gewinnbare Verlust) sind z. T. als lyrische Tagebücher zu lesen, in denen aber gerade die Einmaligkeit der Wahrnehmungen und der poetischen Lösungen mit der Serialität ihrer schriftlichen Festsetzung konfrontiert wird (vgl. das Szép-Zitat in Celsius [(Tandori 1984, 5, Ü: Verfasser): „mindent, de mindent ezen a világon le kell írni, minden adatot“, „man muss alles, aber wirklich alles auf dieser Welt aufschreiben, alle Daten“]. Tandoris Beschäftigung mit klassischen formalen und metrischen Strukturen (von antiken Strophen bis zum Sonett), die nach Egy talált tárgy megtisztítása etwas überraschend in den Vordergrund rückten (der vorhin zitierte Kritiker beklagte sich über die ‚Zurückklassizierung‘ dieser Lyrik, vgl. Radnóti 1988b, 229), lässt sich genau in diesem Rahmen begreifen. Lyrische Formen treten hier als Mittel einer seriellen, maschinellen Produktion hervor und werden verfremdet, die Sonette in Még így sem wurden z. B. nur mit Produktionsdatum überschrieben. Lyrische Sprache ist eine Werkstatt, wo persönliche Erfahrung und private Referentialität unpersönlich und in unfassbar hoher Zahl erzeugt werden. Vor allem der bemerkenswerte Band Koppar Köldüs (1991) hat in der Kritik als das späte Meisterwerk Tandoris heftige Diskussionen ausgelöst. Dieser Band treibt die Möglichkeiten der Tippfehler-Lyrik bzw. der Poesie der verdorbenen Sprache bis ins Extreme. Die grundlegende Fiktion des Bandes ist eine wild gewordene Schreibmaschine, die der Dichter während einer Westeuropareise anschafft und die einen solchermaßen verdorbenen Textfluss produziert, der auch für ungarische Leser nur mühsam oder durch kreative ‚Mitarbeit‘ zu entziffern (und z. B. völlig unübersetzbar) ist. Diese Gedichte Tandoris bewegen sich an der schmalen Grenze des Noch-Verständlichen, aber genau dadurch wird die eigene Muttersprache derart verfremdet, dass sie als eine Art Musik (oder das ,Jenseits‘ der bezeichnenden Sprache) erklingen kann.
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Die Geste des Rückzugs in eine liebenswerte, apolitische Privatwelt befestigte zusammen mit der dahinterliegenden provokativen Poetologie und Sprachkritik die Stellung Tandoris im neuen Kanon der ungarischen Literatur. Seit Ende der 1980er Jahre gingen jedoch das kritische Interesse und die Begeisterung seiner Leser deutlich zurück. Das späte Werk, in dem neben lyrischen Reiseberichten, Todesthematik, Tönen einer elegischen Besinnung und den ständigen, sich wiederholt auf Wittgenstein beziehenden Selbstkommentaren auch die Haltung des Unverstandenen in den Vordergrund rückt (u. a. vagy majdnem az, 1995; Oder beinahe das Gleiche; A Semmi Kéz, 1996; Des Nichts Hand; Főmű, 1999; Hauptwerk; Az Éj Felé, 2006; Der Nacht entgegen), fand, vielleicht auch durch die gewaltigen Ausmaße des Oeuvres bedingt, wenig Resonanz. Vor allem der umstrittene Aufsatz von Zsolt Farkas löste 1994 Debatten über den ästhetischen Wert einer Lyrik aus, die sich unter der Last der eigenen theoretischen Reflexivität und der alles umfassenden Konzeptualität nicht mehr erneuern konnte und des Öfteren wirklich denkwürdige Gedichte schuldig blieb (Farkas 1994). Trotz alledem gilt Tandori heute als der eigentliche Erneuerer der ungarischen Dichtung, der den mittlerweile für mehrere Generationen maßgebenden Rahmen geschaffen hat, welcher das Denken über Modalitäten und Seinsweise der Lyrik um die Jahrtausendwende bestimmt. Auch wenn diese Art von Konzeptualität nicht überall Zuspruch fand, stellen die intellektualisierenden, reflexiv-ironischen Gesten Tandoris eines der vielleicht zentralsten Markenzeichen der neuen ,sprachkritischen‘ Lyrik der 1970er und 1980er Jahre dar. Diese Dichtung befasst sich mit einer in der ungarischen Lyrik vielleicht nie vorher beobachtbaren Intensität mit dem Schaffensprozess selbst. Methoden, Probleme, Umstände, Moment usw. des Abschreibens (nicht also einer immateriellen Inspiration oder Eingebung?) werden zu den thematischen Schwerpunkten von Gedichten, nicht nur im Falle der antipoetischen Lyrik Petris oder Oravecz’, sondern auch in der späten Lyrik von Ottó Orbán, deren abwechslungsreiche Formkultur und manchmal unzeitgemäße Konfessionalität vielleicht gerade deshalb bis vor kurzer Zeit hohe Beachtung in der Kritik fand. Die Schwierigkeiten mit der Sprache (parallel zum thematischen Schwerpunkt der Schwierigkeiten des Erzählens in der ‚Prosawende‘) treten gerade im Kontext einer umfassenden Revision des Lyrischen hervor. Die Tradition der unmittelbaren Vorgänger wird in diesem Licht als die Verhinderung der Möglichkeiten wahrgenommen, authentische Positionen der poetischen Rede auszubilden. In den frühen Bänden von Petri etwa (Magyarázatok M. számára, 1971; Erklärungen für M.; Körülírt zuhanás, 1974; Umschriebener Absturz) formiert sich diese Erfahrung als eine radikale Auseinandersetzung und Abrechnung vor allem mit dem Rollenangebot der poetischen Tradition der Moderne (diese spiegelt sich wider z. B. in der für Petri charakteristischen Geste des ‚Abdankens‘ des Lyrikers), wo
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es vor allem um eine Wiedereinführung des Privaten (persönliche Redesituation jenseits aller repräsentativen Poetizität, Betonung der realen Privatwelt) geht. Eine authentische Sprachsituation lässt sich – ähnlich wie für viele Lyriker der neuen Sensibilität in den deutschsprachigen Literaturen – vor allem auf der Grundlage einer Mixtur aus dem resignierten, unpathetischen Ton der Umgangssprache und aus einer ironisch-reflexiven Modalität des kritischen Intellektuellen aufbauen. Eine originelle und radikal extreme Variante solcher antipoetischer Sprachkritik ist in den Bänden Egy földterület növénytakarójának változása (1979; Die Veränderung der Pflanzendecke einer Bodenfläche) und A hopik könyve (1983; Buch der Hopi) des Alleingängers Oravecz zu finden. Hier tritt eine fast prosaische Diktion in den Vordergrund, der einerseits großstädtische Alltagslyrik, simulierte Mythensprache und ‚grüne‘ Zivilisationskritik zugrunde liegen und die andererseits eine akribische, fotografisch detaillierte und objektive Beschreibungstechnik ermöglicht. Durch eine betont unpersönliche Perspektive wird hier sozusagen die Frage erforscht, inwiefern Sprache (wobei beispielsweise auch geographische, industrielle Fachsprachen vorkommen) die visuelle Erfahrung, die einzig erkennbare Oberfläche der Dinge (z. B. den Anblick von städtischen oder ländlichen Landschaften) überhaupt fassen kann.
VIII.B.3 Medialität Lyrik in den 1970er und 1980er Jahren wurde auf (in gewisser Hinsicht sogar: von) Schreibmaschinen geschrieben. Auch wenn diese Aussage, in ihrer Universalität zumindest, empirisch nicht ganz zutreffen sollte, so ist die Bedeutung gedruckter Schriftlichkeit für das mediale Selbstverständnis der lyrischen Produktion dieser Zeit kaum überzubewerten. Dies bedeutet freilich nicht, dass Oralität oder andere Möglichkeiten unmittelbarer Sinnlichkeit in den neuen Paradigmen der Dichtungsgeschichte in den letzten Jahrzehnten des Jahrtausends keine Rolle gespielt hätten. Die Poesie der Neoavantgarde zeugt in zahlreichen poetischen Varianten von einem starken Interesse für die unmittelbar erfahrbare Sinnlichkeit der lyrischen Medien etwa von der Tondichtung (z. B. Ákos Szilágyi) bis zu verschiedenen Performances, die das (in der Lyrik traditionell als unterdrückt empfundene) Körperliche in den Mittelpunkt stellten (vor allem sind hier Arbeiten der zur Symposion-Generation gehörenden Künstlerin Katalin Ladik zu erwähnen). Doch eine seltsame Aufwertung der Mündlichkeit (oder Musikalität) der Lyrik ist auch außerhalb der avantgardistischen Traditionen nicht ganz unbekannt. Im Kontext einer postmodernen Ästhetik (vielleicht auch: Ästhetizismus) ließe sich das in der Dichtung des siebenbürgischen Autors András Ferenc Kovács (1959‒) selbst noch um die Jahrtausendwende belegen,
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da Kovács den Umgang mit der Tradition der ungarischen und europäischen Lyrik auf charakteristische Weise als die Wiedereinführung der Zeichen eines intertextuellen Universums in die Vokalität der ertönenden Lyrik inszeniert. Als Beispiel sei das vielfach erörterte Gedicht J. A. szonettje (A. J.s Sonett) genannt, wo das Monogramm von Attila József – und/oder János Arany – als Anlass für den sprachlichen Aufbau eines Textes fungiert, der den intertextuellen Dialog mit den genannten Autoren durch die Betonung der phonischen Ebene von Dichtung in die Wege leitet (vgl. dazu Lőrincz 2001). Als jüngste Entwicklung in dieser Hinsicht ist auf die zunehmende Popularität von slam poetry-Veranstaltungen hinzuweisen, wo auch etablierte junge Lyriker immer häufiger auftreten. Trotzdem zeigt sich die Dichtung der hier behandelten Periode hauptsächlich schriftlich. Im poetologischen Kontext der (Neo-)Avantgarde lag der stärkste Akzent auf der visuellen Medialität, auf der bildlichen Erfassung oder Wahrnehmung des Textuellen. Die Bedeutsamkeit dieser Tendenz lässt sich mit Hinweis darauf beweisen, dass visuelle Poesie selbst im Repertoire von Autoren des repräsentationslyrischen Paradigmas kaum fehlt (vor allem im Werk von László Nagy sind hin und wieder Beispiele der geglückten Vermischung schriftlicher und visueller Medien zu finden). Die Geschichte der neoavantgardistischen Dichtung andererseits ließe sich mit gewissem Recht an eine Geschichte der Entdeckungen und Entwicklung typographischer Möglichkeiten koppeln. Die Autoren von Magyar Műhely konnten sich sogar auf drucktechnisches Fachwissen stützen, denn in den 1980er Jahren gehörten textuell orientierte Fotomontagen und -collagen allgemein zu den bevorzugten Gattungen der Budapester Neoavantgarde. In der sprachkritischen Poesie der Neuen Subjektivität stand ein anderer Aspekt des schriftlichen Mediums im Mittelpunkt der poetischen (Selbst-)Reflexivität. Statt einer visuellen, sinnlichen Autonomie der geschriebenen Sprache stellte z. B. für Petri und Tandori (der sich übrigens auch an neoavantgardistisch ausgerichteter visueller Poesie ausprobierte) den durch die Maschine verfremdeten oder vereinheitlichten Prozess und Moment des Auf- bzw. Einschreibens den zentralsten Ort der poetischen Selbstreflexion dar. Die betonte Privatheit und Einmaligkeit der Momente der Wahrnehmung und auch des Schreibens wurde hier, scheinbar paradoxerweise, im Unpersönlichsten aller Schreibsituationen, im Ereignis des Abtippens, lokalisiert. Nach nur mehr vereinzelten Spuren der lyrischen Auseinandersetzung mit maschinellem Schreiben z. B. in Gedichten von Kosztolányi und Babits war es Tandori, der diesen technischen Aspekt in der ungarischen Literaturgeschichte zur zentralen Bedingung und gleichzeitig zum zentralen Thema der lyrischen Produktion machte. In seinen Gedichten der 1980er Jahre erscheint die Maschine des Dichters als der eigentliche Ort jedes Geschehens. In den intimen Szenen des Alltags (zu dieser Zeit fast ausschließliches Thema Tandoris), die zumeist ja Schreibszenen sind, dreht sich alles um
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die Maschine, vor der das lyrische Subjekt mit seinem Projekt, alles aufzuschreiben, ständig sitzt, und die von Zeit zu Zeit von den Hausvögeln erobert wird, welche ab und zu noch Schlimmeres veranstalten. Alltagserfahrung, und – was wichtiger erscheint – die Erfahrung der unaufhaltsam verfließenden Zeit werden durch die Maschine sinnlich-objektiv erfasst und verarbeitet, als ob Maschinenschrift näher an die Einmaligkeit und Zufälligkeit sprachlichen Geschehens herankommen könnte als die individualisierte Handschrift (solche Effekte der Einmaligkeit haben auch in den neoavantgardistischen Lyrik-Performances eine wesentliche Rolle gespielt, z. B. in Erdélys Performance Ásványgyapot [1984; Mineralwolle], wo das Manuskript des Gedichtes nach der Vorlesung mit Seiten eines Proust-Buches versiegelt wurde [vgl. Müllner 1998; Kékesi 2004, 41‒46]). Eine logische Erklärung dafür liefert Tandoris Vorliebe für Tippfehler: Tippfehler stellen eine spezifische Art von diskursiven Unfällen dar, da sie weniger auf der Ebene der bewussten Produktion (der sprachlichen Formulierung, Satzgestaltung usw.), sondern unertappt auftreten und statt auf Sinnbedingungen des Diskurses auf unkontrollierbare und nur halbwegs sprachliche Ereignisse zurückzuführen sind – auf Ereignisse, die stärker an der sinnlichen Präsenz des Schreibens als an dessen in bestimmtem Maße doch reflexiven Aspekt haften. Maschinenschrift scheint also der Kontinuität zwischen schreibender Hand und Papier dadurch überlegen zu sein, dass sie die Aktion des Schreibens in unvorhersehbarer Weise in Echtzeit (mitsamt Tippfehlern und Korrekturmanövern) befestigt. Poetische Sprache als Maschinenschrift erscheint hier als ein verzweifelter Versuch, das Vergehen der Zeit zu stoppen oder rückgängig zu machen. Zumindest der Moment der Einschreibung wird festgehalten. Maschinenschrift erscheint dadurch in gewisser Weise als zuverlässiger denn Operationen auf der Ebene der reflexiven Sinnkonstitution (Erinnerung, Umformulierung und dergleichen). Wie der folgende Ausschnitt aus Tandoris Gedicht Egy radír megkövül (Ein Radiergummi wird zum Stein) belegt, ist es deshalb die Maschine, die im Gegensatz zur bloßen Schrift oder zum Text nicht ausgelöscht werden darf (und eigentlich, kann): Odébb egy állónaptár, tok előtte; maga a naptár is tokban lehetne, mágneses karikája pihen, és a tokban nem használt írószerek. Két doboz. Fényképek, jegyek, papírok, például anyám kórházi betűi, ahogy gyakorolt, tanult írni újra, mielőtt újabb agyvérzést kapott. Olló. Írógépem tisztogatom vele, ez megbocsáthatatlan, és hogy
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beleradírozok a masinába. A szövegbe? Igen! De hogy a gépbe? (Tandori 1984, 304) Weiter drüben ein Steh-Kalender, davor ein Etui; / der Kalender selbst könnte selbst in einem Etui sein, / sein magnetischer Kreis ruht, und / im Etui nichtgebrauchte Schreibgeräte. / Zwei Schachteln. Fotos, Billetts, Papier, / die Spitals-Buchstaben meiner Mutter zum Beispiel, / wie sie übte von neuem schreiben lernte, / bevor sie eine neuerliche Gehirnblutung bekam. / Schere. Meine Schreibmaschine reinige ich / damit, das ist unverzeihlich, und ach, dass / ich in die Maschine hineinradiere. / In den Text? Ja! Aber in die Maschine? (Tandori 1994, 44‒47, Ü: Ch. Rácz)
Auf diesem Arbeitszimmer-Stillleben sind lauter Überbleibsel vergangener Ereignisse dargestellt, zu denen auch das Papier mit der mütterlichen Handschrift gehört sowie nicht gebrauchtes Schreibzeug – Überbleibsel vergangener Ereignisse, Abbildungen bzw. Aufzeichnungen von Vergangenem, dessen Wert als ebenso zweifelhaft erscheint wie der Stehkalender, der auch außer Gebrauch ist, da er die unaufhaltsam fließende Zeit nicht festhalten kann. Handschrift, die traditionell zu den präzisesten Techniken von Individuation bzw. Erkennen von individueller Identität gehört, wird in diesem Gedicht aber als dem Vergessen oder Verlieren ausgeliefert dargestellt, ein nicht sehr zuverlässiges Medium, das hier in einem Zustand erscheint, in dem es, um seine individuellen Bezüge gebracht, völlig zufällig funktioniert. Diese entstellte ‚Medialität‘ der Handschrift ähnelt der der Maschine, die hier als das Verlässlichere dargestellt ist und später im Gedicht auch ertönt („[…] És szól/az írógép […]“) und die also jedwede (in diesem Kontext) als irreführend dargestellte Beziehung zwischen Schrift und schreibendem Subjekt (genauer: Schrift und subjektiver Erfahrung) infrage stellt. Was Tandori „unverzeihlich“ nennt, ist deshalb die ,Reinigung‘ der ,Maschine‘, die – wie aus den verwendeten ,Werkzeugen‘ hervorgeht (Schere, Radiergummi) – der physischen Zerstörung (Zerstückelung oder Auslöschen) von geschriebenen Texten gegenübergestellt wird. Im Gegensatz zum Auslöschen der Texte (das ja selbst auf eine seltsame Weise auch zu einer Befestigung oder Erstarrung des einmaligen Ereignisses führt, da sie seine Unbeständigkeit fixiert – darin wäre eine mögliche Bedeutung des widersprüchlichen „versteinerten Radiergummis“ im Titel zu finden) liegt die wahre Bedrohung in der (vernichtenden?) ‚Reinigung‘ der Maschine, da diese – wiederum im Gegensatz zum Papier – näher an die Ereignisse herankommt, vielleicht gerade dadurch, dass sie nicht Produkte vergangener Schreibakte (geschriebene Texte), sondern nur mehr physische Spuren oder Abdrücke dieser Ereignisse (des Lebens) auf oder in sich trägt. Es sind also weniger Ereignisse physischer Natur als sprachliche Ereignisse, weniger die Dinge selbst als ihre Bedeutungen, über die Tandori den Verdacht zu hegen scheint, dass sie der Macht der vergehenden Zeit wehrlos gegenüberstehen.
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Tandoris Band Koppar köldüs, der die Möglichkeiten dieser Tippfehler-Poetik bis ins Extremste treibt, tastet die Grenzen des phonetisch Aussprechbaren ab. Der Band ist eine seltsame Materialisierung der poetischen Konvention des Unsagbaren. Das Weiße des Papiers, das Rauschen hinter den Zeichen wird in der völlig zertrümmerten Sprache als die Möglichkeit weiterer Fehler, die Möglichkeit der Entstehung weiterer Varianten erfasst. Eben deshalb gibt es hier keinen universalen Unterschied zwischen Zeichen und Rauschen, Information und Hintergrund. Die eigentliche Sprache ist hier Hintergrund der Zeichen und, umgekehrt, das Rauschen Zeichen vor dem Hintergrund der Möglichkeit von Bedeutung überhaupt. Die Spuren oder Schatten des Verständlichen weisen hier auf seltsame Weise auf den gesprochenen Zustand, also auf die akustische Gegenwart der Sprache hin, in der sich diese Vieldeutigkeiten auflösen könnten, gerade dadurch, dass sie die Bedingung der klaren Differenzen außer Geltung setzen, die die einzelnen Elemente konstituieren, ohne die kein Zeichensystem entstehen könnte. Diese Zertrümmerung der phonologischen Äquivalenzen führt die Effekte des grenzenlosen Redeflusses oder des realzeitlichen Zustandes gesprochener Sprache in die Maschinenschriftpoesie wieder ein, wodurch hier eigentlich die Unterscheidung zwischen (maschineller) Schriftlichkeit und erklingendem poetischem Ton abgeschafft oder zumindest relativiert wird. Solche Subversionen der Wahrnehmung generieren Medienkonflikte bzw. bringen die Medienkonstellationen durcheinander, die Ort und Moment der sprachlichen Kommunikation bestimmen. Im Hinblick auf die Darstellungsmöglichkeit der visuellen Erfahrung könnte dies sowohl an der unpersönlichen Beschreibungstechnik in Oravecz’ Prosagedichten dargestellt werden, wo die Simulation photographischer Objektivität – im Gegensatz zu ähnlichen Ansätzen von Nemes Nagy – die menschliche Wahrnehmungsperspektive tilgt, als auch an Petris spätem Gedicht Félgyászjelentés (Halbtodesanzeige), wo die Beschreibung des eigenen Spiegelbildes in einer endlosen mise en abyme als eine verfremdende Verdinglichung und zugleich kopienartige Vervielfältigung des Blickes ausgeführt wird: Az ablakból, ahonnan tükröződöm, egy fáradt, öreg arc néz vissza rám, Tekintete döglődő légyként ődöng szemüvegemnek piszkos ablakán. (Petri 1996, 498) Aus dem Fenster, das mich widerspiegelt, / schaut ein ermüdetes, altes Gesicht zurück. / Sein Blick schlendert als eine krepierende Fliege / auf dem verschmutzten Fenster meiner Brille herum. (Ü: Verfasser)
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Abb. 47: György Petri. Aufnahme: Kálmán Kecskeméti, um 1980
In den meisten Fällen wird die Leistung technischer Medien der Wahrnehmung paradoxerweise als die Möglichkeit, unmittelbare Präsenz oder die Illusion der Präsenz zu produzieren, der sprachlichen Repräsentation gegenübergestellt. Das Defizit der Sprache (dass sie auch in den klarsten Verwirklichungen der Selbstreferenz einen gewissen Abstand mit erzeugt) scheint höchstens von Maschinen bzw. Medien ausgleichbar zu sein. Für die spezifische ‚Untergattung‘ Schreibmaschinenpoesie ist als weiteres Beispiel das Gedicht Én nem engedlek el (1989; Ich lass’ dich nicht los) von Endre Kukorelly anzuführen, das die Anrede eines Anderen als eine Schreibszene darstellt. Was vom Sprecher auf der Maschine abgetippt wird („Én nem engedlek el“), bleibt einerseits ohne Antwort, wird jedoch in einer seltsam wortlosen Geste durch die metaphorische Wiederholung der Fingerbewegungen des Maschinenschreibers („csak billegteted az ujjaidat“,
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„du trommelst nur mit den Fingern“) erwidert, doch diese seltsam wortlose Kommunikation zwischen Ich und Du des Gedichtes scheitert daran, dass schließlich doch keine Berührung zwischen der Maschine und den Fingern des ‚Du‘ stattfindet. Auch deshalb erscheint es hier durchaus als logisch, dass die Referenz auf die Gegenwart der Szene in einfachen Tautologien mündet, die gerade auf die unaufhebbare Distanz von Darstellung und Schreibakt aufmerksam machen: Ezt leírtam, ezeket a sorokat leírtam. Ezt a sort leírtam. Vagy Ehhez hasonlóakat. Nem: hasonlókat nem (Kukorelly 1993, 127) Das / habe ich niedergeschrieben, diese / Zeilen habe ich niedergeschrieben. / Diese Zeile habe ich niedergeschrieben. Oder / ähnliche. Nein: / ähnliche nicht (Ü: Verfasser)
In Kovács’ Gedicht Öninterjú (Selbstinterview), entstanden ungefähr zur selben Zeit, hingegen findet die Präsenzsituation des Selbstgesprächs, die Möglichkeit, sich in Echtzeit reden zu hören, in diesem Sinne in einer technisch vermittelten Unmittelbarkeit ihre einzige Realisierung: Válasz lehettem, s csak kérdés vagyok, / csak önmagába megtérő jelenlét – / halántékomnak szegzett mikrofonnal / az érverésem magnón pörgetik … (Kovács 1995, 31) Ich hätte Antwort sein können und bin bloß eine Frage, / bloß in sich wiederkehrende Präsenz – / ein Mikrofon an meiner Schläfe, / mein Pulsschlag auf dem Tonbandgerät aufgespult (Ü: Verfasser)
Wie die Formulierung dieses Zitats offensichtlich macht („pörgetik“), ist der Apparat, der den Abstand der sprachlichen Darstellung zu überbrücken scheint, etwas, das außer Macht und Reichweite des Subjektes steht – ähnlich wie die unkontrollierbare Schreibmaschine Tandoris, die für das Persönliche oder Individuelle zuständig sein sollte. Die Erfahrung, dass Maschinen und technische Medien einen unkontrollierbaren, eigenen Anteil an der lyrischen Produktion (oder an deren Inszenierung bzw. Selbstdarstellung) haben, nimmt mit dem Erscheinen elektronischer Medien, durch die Ermöglichung von „Inschriften“, die „nicht nur mittels Elektronenlithographie in Silizium eingebrannt, sondern in Unterschied zu allen Schreibwerkzeugen der Geschichte auch imstande sind, selber zu lesen und zu schreiben“
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(Kittler 1993, 226), natürlich neue Dimensionen an. Seit Anfang der 1990er Jahre wird in der Kritik immer öfter darauf hingewiesen, welche Veränderungen hinsichtlich der Struktur oder Komposition von Lyrikbänden oder Zyklen die neuen Medien ermöglicht haben (auch SMS-Dichtung gibt es seit einiger Zeit in Ungarn: István Turczi: Sms 66 kortárs költőnek, 2002; Sms an 66 zeitgenössische Dichter) bzw. inwiefern die selbständigen Schreibwerkzeuge Begriffe und Seinsweise des Lyrischen umgestalten. Als bislang wohl interessantestes Beispiel der Computerlyrik in ungarischer Sprache ist hier der ‚Band‘ Disztichon Alfa (1994; Distichon Alfa) von Tibor Papp hervorzuheben. Disztichon Alfa ist ein, von Mallarmés Idee eines „Le Livre“, näher jedoch von der französischen Oulipo-Poesie, vor allem Raymond Queneaus Cent Mille Milliards de Poèmes inspiriertes Programm, das im Wesentlichen zufällig Verse bzw. Gedichte nach bestimmten metrischen Regeln generiert. Es handelt sich dabei um eine Software, die auf der einen Seite einen Vorrat von ungarischen Wörtern, auf der anderen Seite durch metrische Vorschriften eingegrenzte syntaktische Regeln der ungarischen Sprache voraussetzt und die eigentlich alle möglichen Distichen produzieren kann, die metrisch und grammatisch korrekt auf Ungarisch geschrieben werden können. Papp rechnet mit ungefähr 16.000.000.000 Distichen, die zusammen sein Werk ergeben. Natürlich hat niemand die Möglichkeit, das Werk zu Ende zu lesen, das Programm verhindert das Speichern oder Festhalten (sogar das Ausdrucken) einzelner Distichen, da diese – gleichsam als eine späte Realisierung der Baudelaire’schen Idee der beauté fugitive, die auch als Muster für Tandoris Poetik der zufälligen Tippfehler gelten könnte – nur einige Sekunden lang auf dem Bildschirm erscheinen, also im Leben eines Lesers wahrscheinlich nicht noch einmal wiederkehren (vgl. Papp 1995). Im Gegensatz zur Meinung seines (menschlichen) Autors ist der eigentliche Text dieses Werkes aber vielleicht vielmehr das Programm der Software selbst, also das, was eine mathematische Operationssprache in eine semantisch verständliche Sprache übersetzt – womit u. a. natürlich die Frage aufkommt, worin wohl weitere, nichttechnische ‚Hardwares‘ lyrischen Schreibens bestehen könnten. In der Zeit der vernetzten Medien werden diese und ähnliche Fragen sicherlich nicht nur Theoretiker, sondern auch Lyriker beschäftigen müssen. Inwiefern das Netz die (inter-, multi-)medialen Bedingungen von Lyrik beeinflussen kann oder wird, ist im Moment ziemlich offen. Was bislang offenbar wurde, ist die zunehmende Popularität verschiedener Foren für Lyrik im Internet, die die Bildung rasch kommunizierender Gemeinschaften ermöglicht und vor allem den Rahmen lyrischer Kommunikation (Kommunikation mit, durch und über lyrische Texte) verändert oder erweitert haben. Lyrik scheint im digitalen Zeitalter auch ein Medium für schnellen Austausch und schnelle Reaktion, zugleich auch der kritischen Mitgestaltung von nicht notwendigerweise endgültigen Texten zu sein.
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VIII.B.4 Poesie der Materialfehler Auf der Ebene der Form wirkt die antipoetische Lyrik der Neuen Sensibilität – zumindest in ihren anspruchsvollsten Varianten (neben Petri sind vor allem Szabolcs Várady und Zsuzsa Rakovszky zu erwähnen) – keineswegs destruktiv oder revolutionär. Schon die mehrdeutige Praxis der seriellen Sonettproduktion Tandoris etwa kann davon zeugen, dass in dieser Hinsicht eine Strategie zu beobachten ist, die der Formtradition der Lyrik gegenüber affirmativ oder zumindest neutral bleibt (Petris Gedicht Ne lankadjunk, próbáljunk meg egy szépet [Nicht nachlassen, versuchen wir etwas Schönes] vollzieht z. B. die bewusste Zerstörung der Sonettform dadurch, dass es in das letzte Terzett einige überflüssige Verse einfügt, die sozusagen in ‚Echtzeit‘ die Tätigkeit des Gedichtschreibens reflektieren), die traditionellen Wertindexe dieser Formkultur aber infrage stellt, z. B. durch stilistische Dissonanzen. Seit den 1970er Jahren gehören auch Vulgaritäten oder blasphemische Formulierungen zum festen Bestand der lyrischen Sprache. Ein viel zitiertes Gedicht von János Sziveri z. B. distanziert sich auf diese Weise von Ady: Auf Adys Mythisierung von Paris, das er in seinem Gedicht Páris, az én Bakonyom (Paris, mein Bakonyerwald, Z. Franyó) mit dem ehemaligen Freischärlerversteck Bakony vergleicht bzw. auf den Titel der Sammlung Vér és arany (Blut und Gold) wird in Sziveris Gedicht próféciák (Prophezeiungen) als „vér és takony“, „Blut und Rotz“, angespielt (Sziveri 1994, 87, Ü: Verfasser). Das ist natürlich gewissermaßen gegen den traditionellen normativen Ge- oder Missbrauch der poetischen Sprache gerichtet, wohl aber auch als Reaktion auf die öffentliche sprachliche Prüderie der Kádár-Ära zu bewerten. Davon zeugt die Tatsache, dass lyrische Obszönität vor allem dann eine (vielleicht auch übertriebene) zentrale Rolle spielen konnte, wenn es um direkt kritische politische Poesie ging, vor allem in Petris damals nur im Ausland bzw. als Samisdat veröffentlichten Gedichtsammlungen (Örökhétfő, 1981; Ewiger Montag; Azt hiszik, 1985; Sie glauben). Obwohl diese Untergattung von Dichtkunst breite (wenn auch nicht immer öffentliche) Resonanz fand (die zeitgemäßen kritisch-politischen Gesten der Symposion-Dichtung – etwa Domonkos’ und Tolnais gemeinsamer Band Mao-poe von 1968 – fanden zwar in Ungarn wenig Aufmerksamkeit, die Protest-Gedichte Ladányis z. B. sind aber in den 1970ern intensiv rezipiert worden; die politischen messages in berühmt gewordenen Gedichten etwa des ideologisch eher ‚volkshaft‘ ausgerichteten Gáspár Nagy sorgten in den 1980ern für öffentliche Eklats usw.) und einige Verse von Petri es bis zum Status oppositioneller Bonmots brachten, hat diese Art von Machtkritik nur in wenigen Fällen wirklich prägnante Leistungen hervorgebracht. Dies trifft zu, wo sie mit einer tiefer greifenden Sprachreflexion zusammengeht, wie z. B. im späten Sonett Megint megyünk (Wir gehen wieder) von Petri (mit dem ‚Thesensatz‘ „A nyelv hatalmasabb használóinál“, „Sprache
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ist mächtiger als ihre Sprecher“, Petri 1996, 407, Ü: Verfasser), wo Macht, Witz und Manipulierbarkeit der Sprache zugleich auch als ihre prinzipielle Unhintergehbarkeit erfahrbar werden. Ob diese Unhintergehbarkeit der Sprache, die in vielen Gestalten eine der wichtigsten Voraussetzungen der ‚sprachkritischen‘ Lyrik darstellt, gleich als Indiz der ‚postmodernen‘ kulturellen Situation zu deuten sei, ist eine komplizierte Frage, die in der Forschung bislang nicht überzeugend beantwortet werden konnte. In den bedeutendsten Leistungen der 1970er und 1980er Jahre wird die Macht oder Unbeherrschbarkeit der Sprache meist als die Auseinandersetzung mit der unpersönlichen Macht der Grammatik über den Sprechenden inszeniert, als ein Diskurs, der eine normative Auffassung der (poetischen) Sprache infrage und dadurch den Konflikt zwischen Ausdruck und Ausdrucksmittel in den Vordergrund stellt, am spektakulärsten in Tandoris Poetik der Fehler. Stellvertretend für diese Sprachauffassung kann hier Petris Gedicht Egy versküldemény mellé (Anmerkung zu einer Zusendung von Gedichten) zitiert werden, wo die lyrische mit der postalischen Kommunikation, das Sprachmaterial mit der unpersönlichen (und unvermeidlich-unkontrolliert fehlerhaften) Produktion verglichen und letztlich die Unfähigkeit des Gedichtes proklamiert wird, unmateriellen Gehalt (z. B. „Seele“) zu bewahren: Ha verseim kelyhek (miért ne épp?): parányi repedést – anyaghiba – mindeniken találsz. Lelked tehát ne töltsd beléjük. A lélek ragadós nyomot hágy a terítőn. De levélnehezéknek megteszik. S öblükben tarthatsz hegedűgyantát, tértivevényt, tejfogat. (Petri 1996, 139) Wenn meine Gedichte Kelche sind [Warum auch nicht?] / Winzige Risse – Materialfehler – findest du an jedem. / Deine Seele also solltest du nicht dareingeben. Die Seele / hinterlässt schmierige Spuren auf der Tischdecke. / Als Briefbeschwerer aber erfüllen sie ihren Zweck. Und in ihrem Busen kannst du / Geigenharz halten, einen Rückschein, Milchzähne. (Petri 1995, 158–159, Ü: H.-H. Paetzke)
Ob diese Sprachauffassung jedoch mit den gewöhnlich als ‚postmodern‘ verbuchten Indizien des Literarischen ausgestattet ist (wie etwa die zufallsartige und unbegrenzte Auffassung von Textualität und Intertextualität; Erfahrung des Verschwindens, der Kopienartigkeit oder der Destabilisierung des Subjektes; prinzipielles Zweifeln an Originalität; belatedness-Erfahrung; Mehrfachkodierung des Kunstwerkes; Simultanität des kulturellen Gedächtnisses; Interesse für alternative oder fiktive Geschichtlichkeit; Vorliebe fürs Artifizielle usw.), bleibt eine offene Frage. Vielleicht mit der Anmerkung, dass, auch wenn in Tandoris Werk einige
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Ansatzpunkte zu einer postmodernen Ästhetik und im Spätwerk Petris (seit dem Band Sár, 1993; Schlamm) vereinzelt Andeutungen der Auseinandersetzung mit einer postmodernen Kondition zu finden sind, diese vor dem Hintergrund der Konzeption einer ‚neuen‘ Subjektivität oder Personalität dieser Dichtung kaum dominant werden konnten.
VIII.B.5 Subjektivität Als erstes unvergessliches Subjekt der neuen Dichtung betrat 1972 eine Dichterin des frühen 19. Jahrhunderts die lyrische Szene: Erzsébet Lónyay, mit anderem Namen Psyché. Sie wurde als Heldin des späten Hauptwerkes von Weöres bekannt und für einige Zeit unglaublich populär – davon zeugen zumindest die in schnellem Takt aufeinanderfolgenden Neuausgaben von Psyché, einem Lyrikband, der in einer raffinierten Komposition von Gedichtzyklen, Prosatexten und Anmerkungen Werke und Lebensgeschichte einer Dichterin darstellt, die sie im gleichen Zug als eine fiktive Heldin enttarnen. Das abenteuerliche Schicksal der ungezügelten Psyché, die u. a. auch mit Goethe, Hölderlin, Beethoven, Kazinczy oder dem Literaturhistoriker Ferenc Toldy Bekanntschaft schließt, dient Weöres als Anlass dazu, in dieser Fiktion eine alternative historische Form der romantischen Subjektivitätsauffassung ins Leben zu rufen, die in der ungarischen Literaturgeschichte zwar nicht vollständig fehlt, aber doch aus kanonischer Sicht eher als marginal erscheint. Weöres stellt hier mit bravourösem sprachlichem Feingefühl einen Weg der ungarischen Dichtungsgeschichte vor und archaisierend ‚nach‘, den diese nie gegangen ist. Er macht auf das geschichtliche Fehlen eines literarischen Diskurses aufmerksam, in dem das Private, das Alltägliche (auch das spezifisch Weibliche) im Zentrum der lyrischen Gattung hätte stehen können – eine Variante der Empfindsamkeit, die er stilistisch im Kontext bis dahin nicht besonders bekannter ‚kleiner‘ Autoren der frühen Reformzeit verortet (vor allem des bis zum – nicht vollständigen – Wiederabdruck im Anhang von Psyché nie wieder herausgegebenen Narziss-Stücks von László Ungvárnémeti Tóth von 1816). Der breite Erfolg von Psyché ist jedoch allein mit dieser fiktiv-alternativen Umschreibung der ungarischen Literaturgeschichte kaum hinreichend erklärt, sondern deutet vielleicht auch darauf hin, dass um 1970 diese neue (oder wiedergewonnene) Empfindsamkeit und die Hervorhebung der privaten oder intimen Seite der subjektiven Erfahrung als anziehend oder als innovativ rezipiert werden konnte. Dass die neue Erfahrung des Privat-Subjektiven in Psyché und in der Lyrik der folgenden Jahrzehnte in überraschender Menge und einer Vielfalt von Varianten im Rückgriff auf die Tradition der ‚Rollenlyrik‘ vermittelt wird, ist auf den
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ersten Blick kaum selbstverständlich. Obwohl ‚Rollengedichte‘ mit ihren spezifischen poetologischen Konstellationen (die sich aber kaum mit denen des dramatic monologue decken) in der ungarischen Dichtungsgeschichte von Petőfi über Ady bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine reiche Tradition vorweisen können (Horváth, János 1922, 29‒132; Kulcsár-Szabó, Zoltán 2004), war in dieser Art von Dichtung gerade die Simulierung des öffentlichen Auftretens, einer öffentlichen oder direkt kommunikativen, manchmal historisierten Sprachsituation das Dominante. Weöres’ Psyché eröffnet jedoch eine ganze Reihe von lyrischen Rollenkompositionen, in denen nun vor allem die angezeigte Fiktionalität, die historische Gegenüberstellung von Lyrikmodellen oder die Distanzierung oder Destabilisierung eines dahinter liegenden ‚wahren‘ Ichs in den Vordergrund treten und vor allem die artistisch-künstlerischen Aspekte der Maskenspiele, eine Art gesetzte Subjektivität im Mittelpunkt stehen. Als markante, Weöres jedoch in gewisser Weise parallele Variante zu dieser Entwicklung ist einerseits das lyrische Werk des 1956 nach England emigrierten Győző Határ zu erwähnen, das die poetischen Möglichkeiten der rollenbezogenen Subjektivität sowohl in der Tradition der Avantgarde aufspüren als auch zur sprachkritischen Poesie der 1970er vermitteln konnte, andererseits sind die seit 1978 erscheinenden Fehérlófia-Zyklen von Kemenes Géfin zu nennen, der u. a. 1975 eine Auswahl aus Ezra Pounds Cantos übersetzt hat. Er dramatisiert in einer montageartigen Karnevalisierung von Sprachen, Stilen, archaischen Sprachfragmenten, Schriftzeichen, dichterischen Gattungen, literarischen und mythologischen Anspielungen und der ungarischen Märchentradition (hieraus stammt u. a. der Name seines wichtigsten Alter Egos Fehérlófia, „Sohn des weißen Pferdes“) eigentlich das autobiographische narrative Muster seiner ‚Gesänge‘ in der Performanz eines komplizierten Maskenspiels, wo auch Wörter als personae hervortreten können und sogar der Autorname sowie das Pronomen ‚Ich‘ unter den verschiedenen Rollenmöglichkeiten erfasst werden. In dieser dramatisierten Chronik des Schreibens wird die zentrale Stelle der ‚Rolle‘ ‚Ich‘ allerdings nicht gänzlich aufgegeben (vgl. Kulcsár Szabó, Ernő 1994a, 147). Es ist gerade Fehérlófia, der – als ferne Parallele zum Gastarbeiter-Ich in Domonkos’ Poem – als eine Art heimatloser, nomadischer Wanderer die verschiedensten Kulturen durchreist und eben durch dieses Rollenspiel zur authentischen Möglichkeit der Selbstaussage gelangt. Von der großartigen dichtungsgeschichtlichen Maskenkavalkade von András Ferenc Kovács über Rakovszkys eigenartige ‚dramatische Monologe‘ (Hangok, 1994; Stimmen), Tolnais grotesk-närrischen Wilhelm, einen gewissen „Herrn Mittel“, den mitteleuropäischen Helden des Pressburger Dichters Árpád Tőzsér (Vorlagen für diese Figur ließen sich in der Dichtung von Zbigniew Herbert finden, dessen Gedichte u. a. Tőzsér ins Ungarische übertragen hat), János Marnos Nar-
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zissfigur (Nárcisz készül, 2007; Narziss wappnet sich, J. Schiff) oder verschiedene fiktive Dichterfiguren (z. B. das von Kovács ‚veröffentlichte‘ Schaffen eines gewissen Sándor René Lázáry aus der Zeit der Jahrhundertwende um 1900) bis zum aggressiv stilisierten – manchmal auch an Gesten Adys erinnernden – Ton in den ersten Bänden des jungen János Térey könnten zahlreiche weitere Belege aufgeführt werden, welche die dauerhafte Signifikanz einer betont theatralischen, inszenierten, fingierten Subjektivität und das Interesse für alternative literarische Vergangenheiten in der ungarischen Lyrik der letzten Jahrzehnte illustrieren. Diese Entwicklung hat aber nicht mehr viel mit der großen, romantischen Tradition der ‚Rollendichtung‘ gemein, was sich vor allem daran zeigt, dass die lyrischen Masken in den oben genannten Beispielen die Problematik des Selbstausdrucks, die nicht mehr voraussetzbare Möglichkeit der Selbstaussage, die Frage nach dem Sprecher (den Stimmen) des Gedichtes auf reflexive Weise aufwerfen. Wer spricht? – eine Frage, die in Rezensionen über gegenwärtige Dichtung seit einiger Zeit kaum noch fehlt. Die Ursachen dieser Wiederkehr des Rollen- oder Maskenhaften reichen bis in die 1940er Jahre zurück. Was in eigentlich jeder Richtung oder Tradition moderner Lyrik, außer der konfessionellen, als ‚Rückzug‘ oder Abwendung von öffentlichen, geschichtlichen, politischen, nationalen ‚Schicksalsfragen‘ empfunden wurde, war von der marxistischen Literaturkritik und der die Thesen derselben vulgarisierenden Kulturpolitik (mit den bereits zitierten Worten von Lukács) als Dichtung des „isolierten Ichs“ abgekanzelt oder (in schlimmeren Fällen, die zahlreich waren) sanktioniert: Präzedenzfälle lieferte v.a. die unpersönlich-dingliche Poetik von Újhold, aber auch die Dichtung von Weöres, in der die Idee der Auflösung des reflektierten Bewusstseins, ja des Ichs durch Poesie im Mittelpunkt stand. Einer dieser Fluchtwege bot sich gerade in der permanenten Rollenwandlung, in der Weöres immer wieder zugeschriebenen ‚proteushaften‘ (Pseudo-)Subjektivität an. Die eigentlich öffentlich ausgerichteten Formen der Gestaltung der lyrischen Sprachsituation (klassische nationale oder romantische Dichterrollen also) konnten sich hingegen gerade als konfessionell, als unmittelbar inszenieren. Zu Beginn der 1960er Jahre aber schienen die poetischen Möglichkeiten dieser konfessionell gestalteten lyrischen Rede auch in den Werken der Vertreter der ‚repräsentativen‘ Dichtung ausgeschöpft zu sein. Dies zeigt sich z. B. an László Nagys vielleicht attraktivstem Text, dem langen Gedicht Menyegző (Hochzeit) von 1964. Die aussichtsreichsten Erneuerungsmöglichkeiten dieses lyrischen Paradigmas meldeten sich ferner in der Lyrik des früh verstorbenen siebenbürgischen Dichters Domokos Szilágyi an. Lyrische Subjektivität musste also auf ihre sprachliche Verfasstheit hin neu gedacht werden. Diese Revision erfolgte in markant unterschiedlichen Richtun-
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gen. Von der Erneuerung einer Art Rollendichtung war bereits die Rede, ein weiterer Weg führte zu den Möglichkeiten eines radikal unpersönlichen lyrischen Tons (Oravecz), drittens bot sich die unmittelbare Destruktion der Subjektivität auf der Ebene des Zeichenhaften an (Neoavantgarde), viertens bildete sich auch eine neue, unpoetische Subjektivität (oder Sensibilität) in der sprachkritischen Dichtung. Hier kommt es vor allem auf die zuletzt erwähnte Entwicklung an, die in vielerlei Hinsicht dem Auftreten der Neuen Sensibilität in Deutschland in den 1970er Jahren ähnelt. Subjektivität soll nun in der Absage von Rollen oder Subjektkonstruktionen neu positioniert werden, fern von nicht nur sozial oder gar politisch, sondern auch poetologisch bedingten Konventionen. Petri, der sich im viel zitierten Schlusstext seines ersten Bandes Magyarázatok M. számára als Köder eines erfolglos fischenden Gottes dargestellt und dadurch die groteske Rolle des Auserwählten hervorgehoben hat, erklärte in einem Interview (Petri 1994, 28), dass für ihn – übrigens in völligem Einklang mit den Dichtern der Neuen Sensibilität (vgl. etwa Theobaldy) – vor allem die poetische Konstruktion des einem empirischen gegenübergestellten ‚lyrischen Ichs‘ (zur Begriffsgeschichte vgl. Pestalozzi 1970, 342‒347) unhaltbar schien. Er wollte „nicht mit der Personalität, sondern mit der Fiktion des so genannten ‚lyrischen Helden‘ abrechnen, der mit keiner empirischen Persönlichkeit etwas gemeinsam hat, sondern aus bestimmten poetischen Klischees besteht“ (Petri 1994, 28). Diese neue, sich empirisch gebende Subjektivität ist keine artistisch hervorgebrachte, in sich geschlossene oder vollkommene Individualität, die gleichsam selbst zum Werk des Dichters wird. Das Ich wird von augenblicklichen Ereignissen, Wahrnehmungen konstituiert und zugleich de-konstituiert, ist also vielmehr als eine Art „Dividuum“ (vgl. Gnüg 1983, 255‒263) zu begreifen. Dies stellt also ein Konzept dar, das sich genau in der Differenz Subjekt/ Individuum verorten lässt. Diese Subjektivität, die bei Petri oder Tandori betont als privat und intim dargestellt wird, birgt gleichsam die lyrische Instanz oder Voraussetzung einer authentischen persönlichen Rede in sich („megmenthetetlenül személyes/ami jó volt“, „Das Gute war unrettbar persönlich“, Petri Cédulák, Zettel, Petri 1996, 181), ermöglicht jedoch, vielleicht gerade deshalb, nur eine begrenzte Auseinandersetzung mit den tiefergreifenden Folgen der sprachlichen Verfasstheit des Ichs. Kommen bei Petri erst im Spätwerk (Sár und danach) erste Zeichen des Zweifels an dieser in der Personalität verankerten Sprachauffassung auf, werden in Tandoris radikalem Subjektivismus auch die sprachlichen Paradoxien dieses Projektes reflektiert. Tandori musste wegen seiner Haltung einer äußersten Abgewandtheit immer wieder, und zwar von den verschiedensten Positionen her, viel Kritik einstecken (sein Privatweltuniversum wurde hin und wieder zur unbetretbaren oder unvermittelbaren Privatmythologie erklärt, wo es um wenig geht:
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Ha a verebész verset ír, semmi más nem kell, csak papír, se elv, se kín, se félelem, csak verebe kéznél legyen. (Ladányi 1987, 492) Schreibt der Spatzen-Aufseher Gedichte, / braucht er dazu nichts als Papier, / weder Prinzipien noch Qualen und Angst, / nur seinen Spatz bei der Hand. (Ü: Verfasser)
– hieß es z. B. mit unüberhörbarer Anspielung auf Tandori in Ladányis Gedicht Madár-dal, Vogel-Lied; poetischer Sprachkritik und/oder Neoavantgarde wurden wegen ihres Mangels an politischem Kampfgeist des Öfteren Neutralität gegenüber den Machtverhältnissen nachgesagt, auch das Klischee vom ‚isolierten Ich‘ hallte ab und zu nach), tastete äußerst konsequent die Grenzen der subjektiven Beherrschbarkeit der Sprache ab: Rendkívül egyszerű lenne kimondani: mit. Mégis: hiba lenne. Hiszen akkor szavakba önteném mindazt a kétkedést, melyhez nyilvánvalóan jogom van, amennyiben hordozom, de hirdetni nincs jogom, hiszen a dolgok állásáról, saját személyemen kívül, nem sok elképzelésem lehet, nem tudom, kimondva mi, hol, mit jelent. (Egy vers vágóasztala, Schneidetisch eines Gedichts, Tandori 1973, 111) Es wäre äußerst einfach / zu sagen: was. Dennoch: das wäre ein Fehler. / Denn ich würde damit all die Zweifel / in Worte fassen, die ich / zu Recht habe, indem ich sie trage, / ich habe jedoch kein Recht, sie zu verkünden, da ich von dem Stand / der Dinge, außer der eigenen Person, / wenig Ahnung haben kann, / ich weiß nicht, was und wo eine Sache, die ausgesagt wird, bedeuten kann. (Ü: Verfasser)
Die unüberbrückbare Distanz zwischen Zeichen und Dingen („Írhatok, amit akarok: valami / végül úgysem lesz másképp“, „ich kann schreiben was ich will: es gibt etwas, das letztendlich unverändert bleibt“ 3.) Iniciálé; 3.) Initiale, Tandori 1976, 11, Ü: Verfasser) verleitet hier zu der impliziten Annahme, dass der einzig mögliche sprachliche Ort des Subjektes im bloßen Zeichen entdeckt werden kann, ein Ort, der den Zugang zu den Dingen zwar versperrt, aber gerade dadurch die Preisgabe der unvermittelbaren Subjektivität verhindert, „megvan, míg rejtezhet az én; / s nincsenek dolgok, s van jelük“ („es gibt es, das Ich, solange es sich verstecken kann; / und es gibt die Dinge nicht, dennoch haben sie Ihre Zeichen“, Az összefüggés kellékei, Zubehöre des Zusammenhangs, Tandori 1983, 279,
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Ü: Verfasser). Es ist also vielleicht gerade diese logisch konsequente Einsicht Tandoris, die diese Form von Subjektivität trotz der zur Schau gestellten Privatwelt als eine versteckte erfahren ließ. Solche Paradoxien lösen sich z. B. durch die Preisgabe der zentralen Position des Subjektes auf, die in der sprachkritischen Variante der Neuen Sensibilität weniger als eine Art Verzicht auf eine subjektive Redeposition, sondern vielmehr als die reflektierte Verstrickung dieser in der unhintergehbaren und unpersönlichen Operativität der Grammatik erfolgt. Oravecz’ 1972. szeptember (1988), eine der Spitzenleistungen dieser Periode überhaupt, liefert das vielleicht suggestivste Beispiel dafür, wie der Versuch, einen poetischen Rahmen für subjektive Erfahrung auszubauen, mit der Unpersönlichkeit der Grammatik kollidiert. In diesem Band geht es in einer Abfolge von beinahe 100, je aus einem langen Satz bestehenden Prosagedichten um die Darstellung oder, mehr noch, die Verarbeitung einer traumatisch verankerten Liebesenttäuschung. Die in sich verschlossene Erfahrung des Subjektes wird dabei dadurch objektiviert, dass sie als eine Art Trauerarbeit der Anderen (der ehemaligen Geliebten) erzählt wird, die einerseits von der Position des ‚Du‘ zu der des ‚Sie‘ verfremdet, andererseits aber durch die Anrede als der Horizont des anderen Blickpunktes wieder einmal als ‚Du‘ einbezogen und gar zur zweiten Instanz der Erinnerungsarbeit wird. In den Texten És akkor azt mondtad (Und dann hast du gesagt) oder Írod (Du schreibst) werden die grammatischen Fallen dieser scheinbar symmetrischen Sprachsituation offen inszeniert. Der Wechsel der Positionen durch das Zitieren der ans Ich gerichteten Rede des Anderen führt zur Verdoppelung des Ichs bzw. zur Unbestimmtheit des Subjektes hinter der Aussage, ja zur Ablösung des Geäußerten vom Sprecher – was die Funktion des prosaischen, stilistisch kaum individualisierten Tones der Texte erhellt oder konkretisiert. Oravecz hat dieses Verfahren mit der Absicht erklärt, auch die fern bleibende andere Seite zu repräsentieren (Oravecz 1995, 23); durch diese Technik jedoch lösen sich die unersetzbaren Individualitäten von ‚Ich‘ und ‚Du‘ im mechanisch fortlaufenden Erinnerungsprozess allmählich in bloßen Positionen eines unbeherrschbaren Gedächtnisses auf, was sich thematisch u. a. darin spiegelt, dass die angeredete Instanz in der Tat mehrere Personen darstellt. Erinnerung, subjektive Erfahrung und Intimität werden dadurch gerade im Prozess ihrer sprachlichen Ausführung bzw. Darstellung in einer (heilenden?) Arbeit des Vergessens veräußerlicht bzw. auf die Unpersönlichkeit ihrer sprachlichen Produktion zurückgeführt. Diese Unsicherheit darüber, ob sich Subjektivität sprachlich fassen oder darstellen lässt, gilt als eines der zentralen Probleme der zweiten Welle der ungarischen Neuen Sensibilität, vielleicht auch als die wichtigste Folge einer ‚postmodernen‘ Kondition im Bereich der Lyrik. Die ständige Problematisierung der lyrischen Position des Ichs in den Gedichten gehört mittlerweile zu den
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Markenzeichen postmodern anmutender oder titulierter Dichtung. Über die diesbezüglichen allgemeinen Gesten hinaus kommt es jedoch nur vereinzelt zum Versuch, diese Problematik mit konzeptueller Entschlossenheit unter die Lupe zu nehmen. Als durchaus unterschiedliche Versuche dieser Art sind hier die Gedichte von Szilárd Borbély (1964‒) und Endre Kukorelly (1951–) zu erwähnen. In Borbélys Gedichtband Mint. minden. alkalom. (1995; Wie. Jedes. Mal.) werden die Möglichkeiten der Ich-Situation lyrischer Rede als Effekte einer alles umfassenden grammatischen Operativität der Sprache mit Verzicht auf die stilistischen Mittel eines individualisierten Sprachgebrauchs erforscht, während bei Kukorelly (Egy gyógynövény-kert, 1993; Ein Heilpflanzen-Garten) die Macht oder Unhintergehbarkeit der Sprache aus der Sicht von Sprechern erfasst wird, die des normativen Kodes der wohltemperierten literarischen Sprache nicht oder begrenzt mächtig sind. Das Subjekt ist hier Untertan (zur möglichen Kulturgeschichte dieser Konstellation vgl. Kittler 1988). Es ist Untertan der Sprache, der die unvorhersehbaren Sinnproduktionen des eigenen (in Wahrheit vielmehr: fremden) Diskurses verwundert registriert. Eine häufige Metapher für Subjektivität in den Gedichten von Egy gyógynövény-kert ist die der Maschine: Gyakran ugyanazokat mondom el / és ugyanúgy mondom el nekik / mert egyszerűen ilyen a gépezet. (A valóság édessége; Die Süße der Wirklichkeit, Kukorelly 1993, 35) Ich sage ihnen oftmals dasselbe / und sage es auf dieselbe Art / denn die Maschinerie geht einfach so. (Ü: Verfasser)
Subjekte dieser maschinellen Art irren in ihrer unverständlichen Welt ohne jegliche Individualität herum (was bei Kukorelly oft auch einen gewissen religiösen Kontext hervorruft: „Az élők, ahogy vannak, lépkednek / csak, mint a gép. És lépnek, úgy / mint a gép. Mint a gép, Uram“ („Die Lebenden, wie sie sind, machen nur ihre Schritte wie die Maschine, und schreiten fort, so wie die Maschine. Wie die Maschine, o Herr“, Azt mondja aki él; Sagt einer, der lebt, Kukorelly 1993, 41, Ü: Verfasser; vgl. ferner Márton 1993; Radnóti 1994, 616‒617). Diese lebendigen Maschinen unterscheidet von ihren romantischen Vorahnen wie z. B. Homunkuli oder lebendigen Statuen, dass in Kukorellys Gedichten statt der sinnlich-sensuellen, phantastischen Erscheinung ihre sprachliche Darstellung, ihre Ein- oder Aufschreibung diese Maschinenhaftigkeit ausmacht. Die sprachliche Ortlosigkeit des Subjektiven gehört auch bezüglich des kulturellen Gedächtnisses bzw. der Geschichtlichkeit von Lyrik zu den bestimmenden Erfahrungen der ungarischen Dichtung um die Jahrtausendwende. Paradigmatisch dafür könnte die Lyrik von András Ferenc Kovács stehen, die in der ersten Phase ihrer – in Ungarn verspätet angelaufenen – Rezeption um den Anfang der
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1990er Jahre in die Tradition der ‚proteushaften‘ Virtuosität der Weöres’schen Dichtung gewiesen wurde. Unbemerkt blieb, dass es hier (auch wenn hinter dem historisierenden postmodernen Maskenspiel von Kovács ebenfalls die Einsicht der prinzipiellen Unmöglichkeit steht, die lyrische Stimme als Ursprung des Diskurses oder des ‚Wortes‘ zu setzen) anders als bei Weöres nicht um ein ins Unendliche erweitertes Subjektkonzept geht. In Kovács’ radikal intertextueller Poesie verschwindet die setzende oder schaffende Macht hinter dem Wort in der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Vorgänger und der Eventualität des BereitsGesagten („s a szó a szájban senki: jövevény“, „und das Wort im Munde niemand: ein Ankömmling“ J. A. szonettje, Kovács 2000, 131, Ü: Verfasser). Als identitätstragend (oder vielleicht weniger: identitätsstiftend) erweist sich hier vielmehr eine Epochen und Kulturen übergreifende, ununterbrochene Traditionsvermittlung (was bei Kovács immer wieder in der Vision eines unteilbaren Lyrikuniversums dargestellt wird), in der die theatralisch-karnevalistisch auf- und abtretenden lyrischen Subjekte nur mehr als vorübergehende Medien fungieren. Umgekehrt kommen Subjekte in dieser Dichtung erst durch Masken (als Masken), durch die dichterischen Worte eines jeweils Anderen zu Wort. Es ist genau diese vielschichtig beherrschte und zitierte lyrische Tradition, die Subjektivität präformiert, produziert oder überhaupt erscheinen lässt: „Arcom kié? / Citátum nincs reá, zsoltárban áldó / Vers – sem oltalom“ (Die Kunst der Fuge; „Wem gehört mein Gesicht? / Es gibt kein Zitat dafür, kein / Gedicht, segnend wie ein Psalm – keinen Schutz“, Kovács 2000, 285; Ü: Verfasser).
VIII.B.6 Perspektiven der Dichtkunst nach 1989 Wie die literaturgeschichtliche Klassifizierung auch immer ausfallen wird, die Poetik der ‚Materialfehler‘ hat die Richtung der sprachkritischen Lyrik bis in die späten 1990er Jahre hinein geprägt, vor allem in der Konjunktur der unterrhetorisierten Alltagssprache (die auch in die späte Nachfolge der immer noch, wie dies z. B. in der Dichtung von Zsuzsa Takács sich zeigt, zu anspruchsvollen Erneuerungen fähigen Újhold-Tradition Einzug hält – u. a. in der Poesie von Krisztina Tóth) und des Sprachspiels, das in der auf Tandori & Co. folgenden Generation als fast unentbehrliches Zubehör der poetischen Produktionsmittel empfunden wird (charakteristische Beispiele finden sich vor allem in den Werken von Lajos Parti Nagy und János Marno). Um und nach der politischen Wende zeugt die Aufmerksamkeit dieser Lyrik für die unterliterarischen Schichten der Alltagssprache von einem gewissen Richtungswandel. An die Stelle des oder zumindest neben das ideologiekritische/n Selbstverständnis/ses z. B. eines Petri scheint nun vielmehr die kritische oder
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spielerische Auseinandersetzung mit den durch die Massenmedien vermittelten und veränderten Wahrnehmungsbedingungen und vor allem mit einem eigentlich erschreckenden Niedergang oder einer sprachlichen Verwahrlosung der öffentlichen bzw. alltäglichen Kommunikation zu treten. Die zuletzt erwähnte (vielleicht mit missglückt kulturpessimistischem Klang beschriebene) Entwicklung wird auch in der Lyrik der Gegenwart nicht oder nicht in erster Linie aus einem normativen Blickwinkel wahrgenommen. Dennoch besteht ein signifikanter Unterschied zur ‚Materialfehler‘-Poetik der 1970er und 1980er Jahre vor allem darin, dass die inszenierten Quellen der fehlerhaften oder normverletzenden Formulierungen (und ihrer eigentümlichen ‚Poesie‘) nun vielmehr in den sprechenden Subjekten liegen. In den Gedichten von Endre Kukorelly, Lajos Parti Nagy (1953–) oder Ferenc Szijj ergreifen ‚Subjekte‘ das Wort, deren sprachliche Kompetenzen oft spektakulär begrenzt sind und gerade dadurch die Fremdheit der gegenwärtigen, gängigen Umgangssprache aufzeigen. Die falsch oder stillos benutzten Wendungen der literarischen Dilettanten oder – im breiteren Sinne – die Imitation von Sprechern, die sich in den öffentlichen oder normativen Bereichen der Sprache fremd oder ungeübt bewegen, bringen ein seltsames Wechselspiel zustande, in dem ‚literarische‘ und außerliterarische Kodes aufeinanderprallen. Die – z. B. bei Kukorelly und Parti Nagy – oft hervorgerufene Dichtungstradition der Moderne oder Romantik erscheint in einer doppelten Perspektive: Einerseits wird sie in Form von Zitaten wieder eingeführt (bei Kukorelly finden dadurch u. a. auch pathetische Ausdrucksweisen oder romantisierende Gemeinplätze ihren Platz), andererseits aber als Quelle entleerter Klischees zurückgezogen, die gerade durch die imitierte literarische Inkompetenz der Sprecher verfremdet werden. Dass diese Variante der (einst von Pilinszky propagierten) Armseligkeit oder des Elends der Sprache poetisch immer wieder überraschen kann, liegt daran, dass – wie in der Rezeption von Kukorellys Gedichtbänden vielfach thematisiert wurde – Sprache gerade diesseits der ‚schönen‘ Literatur ihre Vielfältigkeit und Unhintergehbarkeit, ja ihre Sinnlichkeit auf unbekannte Weise entfalten kann. In den meisten, größtenteils in den 1980er Jahren verfassten Texten in Kukorellys Gedichtband Egy gyógynövény-kert (einem der wichtigsten des gesamten 1990erJahrzehnts), erscheint die eigene antipoetische Poetizität als dem Sprecher unzugänglich. Der lyrische ‚Held‘, der feineren lyrischen Mittel nur begrenzt mächtig, wird immer wieder von ungeahnten oder ungewollten Effekten des Diskurses, von unvorhersehbaren linguistic moments (zur Kategorie J. Hillis Millers in diesem Zusammenhang vgl. Oláh 1996, 218) überrumpelt und wirkt eigentlich zu gleichen Teilen als Rezipient wie als Produzent der eigenen Texte. Im Mittelpunkt solcher ‚poetologischen‘ Reflexionen (die z. T. als einfältige Verwunderungen dargestellt sind) steht bei Kukorelly – ähnlich wie bei Tandori – immer wieder das Moment des Aufschreibens. Das Sprachverhalten dieser Gedichte ist hauptsächlich von
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einer redundanten, tautologischen Rhetorik der Wiederholung oder Iteration bestimmt. Die ewigen Korrekturen, das inszenierte Ringen um die treffende Formel stellen die Macht der Sprache (z. B. in der kommunikativen Haltung einer Ungewissheit über das Gelingen der sprachlichen Handlung) als bedrohliche, zuweilen aber (in den Gesten von einfältigen Verwunderungen) auch als heitere Unterworfenheit dar. Im Gegensatz zu Kukorelly oder Szijj spielt in der Lyrik von Parti Nagy, dem derzeit vielleicht populärsten Lyriker Ungarns (Esti kréta, 1994; Kreide am Abend; Europink, 1999; Grafitnesz, 2003; Grafitness) nicht nur die Unbeholfenheit des oralen Diskurses, sondern hin und wieder das Liedhafte eine wichtige Rolle. Das Bestreben des Dichters ist es, aus der lyrischen Tradition und aus niederen Bereichen der gesprochenen Sprache durch parodistische Umschreibung, Destruktion, Beschädigung und Zerstückelung eine seltsam vielfältige Materie herzustellen (In einem Interview nannte er diese sprachliche Masse „nyelvhús“, „Sprachfleisch“ [Keresztury 1991, 168]), woraus die poetische Kreativität durch Neologismen, durch Wortfabrizieren jenseits der lexikalischen und grammatischen Regeln eine Poesie gestalten kann, die einerseits durch ihre gesteigerte Sinnlichkeit, andererseits durch das Spiel mit den im Hintergrund vermutbaren lyrischen oder auch melodischen Vorlagen ihre artifizielle Natur verbirgt und die verfremdete Poesie seltsamerweise als bekannt erscheinen lässt. Das hauptsächliche Verfremdungsmittel dieser Poetik gewinnt Parti Nagy ähnlich wie Kukorelly aus verdorbenen, falschen oder stilistisch missglückten Formen der Umgangssprache, jedoch auf eine Weise, die ständig Gefahr läuft, sich einerseits an eine durchaus normative Position zu binden (von der aus ja alles ‚Unterliterarische‘ erst verspottet werden kann, da die Ironie oder das Witzige ja nur aus diesem Blickpunkt, also als Abweichung von einer Norm in Gang kommt), und andererseits in ihrem Wirkungsmechanismus zu sehr von der Kenntnis der ,Aktualitäten‘ abhängt (der Titelvers von Petőfis Sors, nyiss nekem tért … [Petőfi 1976, 538; Mein Schicksal, schaff mir Raum, Petőfi 1984, 23, Ü: M. Remané] der übrigens auch für ein Gedicht Petris als Vorlage gedient hat, wird z. B. als „sors, nyiss nekem masszázsszalont“, „Mein Schicksal, schaff mir einen Massagesalon“ in Parti Nagys Őszológiai gyakorlatok; Herbstologische Übungen, umgeschrieben: Parti Nagy 2003, 184, Ü: Verfasser). Die Aufwertung des Liedhaften (und – im weiteren Sinne – von simpleren, traditionell anmutenden Formen des Lyrischen) ist Teil einer Entwicklung der späten 1980er Jahre; Vorlagen sind natürlich vor allem bei Tandori zu finden. Eine neue (man könnte sogar die Formulierung riskieren: die zweite) Welle der Neuen Sensibilität bedient sich gerne der Formen und Manieren einer lyrischen ‚Unmittelbarkeit‘, die allerdings auch nicht ohne sprachliche Raffinesse und verfremdende grammatische Kunstgriffe auskommt und in den meisten Fällen auch die Basis der Alltagssprache nicht verlässt. Vor allem Werke der gegen
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Ende der 1980er Jahre auftretenden Lyrikergeneration scheinen die Kritik in gewisser Weise überfordert zu haben, z. B. deren neue Manieriertheit und manchmal auch seltsam inhaltslos empfundene Melancholie (zumeist der eigentliche Effekt oder die Folge der Vorliebe für elliptischen Satzbau) wie auch der betont persönliche, von sentimental bis gleichgültig oder manchmal auch aggressiv variierende Ton junger Dichter. Mangels eines Besseren wurde die Lyrik von János Térey (1970‒) und vor allem István Kemény (1961‒) als Selbstausdruck einer in sich selbst eingeschlossenen Generation beschrieben (in einer Würdigung formulierte Parti Nagy z. B.: „mit Keménys Poesie sind bereits mehrere Generationen aufgewachsen, bis zu einem gewissen Maße auch seine eigene, und auch die darauf folgenden“ [Parti Nagy 2007]). Seit Erscheinen neuerer Werke der beiden wurde allmählich deutlich, dass diese ‚Generation‘ ihre neuen Wege in einer intensiven Auseinandersetzung mit den Traditionen der Moderne oder gar der ungarischen Romantik ausbauen möchte. Kemény, der in einem frühen Essay (Kemény 1991) über einen gewissen „süßen Stil“ („édes stílus“) für eine Art Ästhetik der ‚Oberfläche‘ plädierte und dessen Lyrik (eine ausgewählte Ausgabe der frühen Lyrik erschien 1998: Valami a vérről; Etwas über das Blut) trotz ihrer grammatischen Rätselhaftigkeit, die die kohärente Sinngebung und manchmal auch die Identifikation des Subjektes verhindert, aufgrund einer neuen ‚Innerlichkeit‘, Alltagsthematik sowie der Betonung des Privaten auch schon als eine Art postmodernisierter Rokoko- oder Biedermeierpoesie beschrieben wurde, zeugt in seinem neuen Band (Élőbeszéd, 2006; Lebendige Sprache) von der Bestrebung, einen ernsthaften Dialog mit der großen Tradition ungarischer Gedankenlyrik anzustoßen. An Téreys lyrischer Sprache fiel zunächst neben Argot und anderen ,unterliterarischen‘ sprachlichen Schichten eine eigenartige Verstrickung in die sezessionistische Diktion der Frühmoderne und ein dramatisierter, theatralischer Ton auf (A természetes arrogancia, 1993; Die natürliche Arroganz; A valóságos Varsó, 1995; Das wahre Warschau; Tulajdonosi szemlélet, 1997; Die Sichtweise des Eigentümers; Drezda februárban, 2000; Dresden im Februar). Mit Paulus (2001) unternimmt Térey, der gerade mit diesem Band zu einem Klassiker der Gegenwartsliteratur aufstieg, den gewagten Versuch, die in der ungarischen Literaturgeschichte enorm wichtige, seit geraumer Zeit aber verstummte oder eingetrocknete Gattung des Romans in Versen, allerdings hauptsächlich nach dem poetischen Muster von Eugen Onegin, zu erneuern. In der jüngsten Gedichtsammlung Ultra (2006), laut László Márton „einem radikalen dichterischen Versuch, die moderne Massengesellschaft als neue Antiquität zu erfassen“ (Körkérdés 2007, 103), zeigt er sich in grandioser, dekadenter (und zugleich postmoderner) Klassizität. Wie bei Térey fast überall, werden auch in Paulus verschiedene historische Zeiten und Register des kulturellen Gedächtnisses in einer mythologisierten Topographie zusammenmon-
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tiert (im Mittelpunkt der verschiedenen Handlungsebenen stehen neben dem biblischen Paulus der in Stalingrad geschlagene General Friedrich Paulus und ein Budapester Computerfreak; Aufbau und Struktur des Versromans könnten als Anspielung auf Wagners Götterdämmerung verstanden werden), was darauf hinweist, dass Geschichte und kulturelle Vergangenheit hier in einer zeitlosen Theatralität erfasst werden, die auch als eine mögliche Beschreibung der Seinsweise der poetischen Sprache in Téreys Auffassung fungieren kann. Der Erfolg von Paulus und die zunächst vielleicht überraschende Begeisterung der Kritik zeugen davon, dass das Interesse an lyrischen Formtraditionen und älteren Gattungskonventionen auch nach den antipoetischen, sprachkritischen Projekten einen gewissen Schwerpunkt in der Geschichte der ungarischen Lyrik darstellt. Obwohl die sprachkritische Lyrik und die neoavantgardistischen Tendenzen das Ideal eines sprachlich exklusiven Bereichs preisgegeben und damit – wie erwähnt – die Bedeutung der formalen und stilistischen Trennlinie Prosa/Lyrik und auch der markanten Bezugnahme auf die Geschichtlichkeit der poetischen Formtraditionen verringert haben, hat sich im Traditionsverständnis der ungarischen Lyrik in dieser Periode auch in dieser Hinsicht vieles bewegt. Die wichtigste oder zumindest auffälligste Entwicklung zeigt sich darin, dass in erster Linie solchen Traditionen (darunter auch nicht existenten) viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die von den (kultur)politisch, aber auch von der Literaturgeschichtsschreibung oder gar wirkungsgeschichtlich festgelegten Hauptlinien des ungarischen lyrischen Kanons zwar nicht unterdrückt, aber doch eher marginalisiert wurden. Als Schlüsselfigur solcher alternativer Traditionsbildung gilt Weöres, der in den 1950er und 1960er Jahren ein weites Spektrum der (nicht nur europäischen) lyrischen Gattungen mit besonderem Formgefühl in die moderne ungarische Literatur (wieder) einführte und in seinem späten Hauptwerk Psyché u. a. den Versuch unternahm, eine nie (oder nur vereinzelt) da gewesene lyrische Formsprache am Anfang des 19. Jahrhunderts imaginär zu verankern. Psyché ist in dieser Hinsicht auch der Traum davon, wie eine Literatur des späten Rokoko, der frühen Biedermeierzeit hätte aussehen können, wenn die Poeten, ohne die Last, die schweren Sorgen der Gesellschaft und Nation gemeinschaftsbildend zu formulieren, nur die alltäglichen Äußerungen von Liebe, Freude und Leid zu besingen hätten
bzw. „sich den Luxus leisten hätte können, nur in ihrer Sprache, nicht gleich in der Thematik ungarisch zu sein“ (Kenyeres 1983, 229). Weöres hat dadurch eigentlich eine alternative Tradition gegenüber dem gängigen national- und ideengeschichtlich ausgerichteten Kanon entworfen, den er einige Jahre später mit seiner unter Mitarbeit von Philologen herausgegebenen Anthologie Három veréb hat szemmel (1977; Drei Spatzen mit sechs Augen) auch im Kontext der real
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existenten Literaturgeschichte darstellte (mit besonderem Augenmerk auf Frauenliteratur, populäre oder Unterhaltungspoesie). Dieses geschichtliche Interesse für alternative lyrische Kanons und vergessene oder im Gattungsrepertoire ungarischer Dichtung fehlende (oder zumindest eine unbedeutende Rolle spielende) lyrische Formen scheint sich in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt zu haben. Unter den wichtigen Quellen von András Ferenc Kovács’ Poesie sind z. B. Ezra Pounds Cantos und – von diesen vermittelt – die in der ungarischen Tradition fast unbekannten Konventionen der Troubadourlyrik zu finden. Allgemein liegt ein besonderer Akzent auf (zitierten oder simulierten) poetischen Traditionen, in denen – aus geschichtlichen oder kulturellen Gründen – die gattungstheoretische Konvention ‚Lyrik‘ in ihrer heute bekannten Form nur begrenzt gültig sein kann (gesungene Dichtung, Dichtung im religiösen bzw. liturgischen Kontext, fernöstliche Gattungen usw.). Als weiteres Beispiel wäre hier aus den 1990ern die Dichtung von Szilárd Borbély zu erwähnen, der zunächst mit seinen „dramatischen Jamben“ Hosszú nap el (1993; Langer Tag fort) für viel Aufsehen sorgte (in der Debatte um das zunächst von einer literarischen Zeitschrift zurückgewiesene Poem nahm u. a. Péter Nádas Stellung für Borbély). Borbélys zurzeit wohl bedeutendster Band Halotti Pompa (2004; erw.: 2006; Pompes funèbres), von der Kritik einstimmig als bislang wichtigste lyrische Publikation des neuen Jahrtausends gefeiert, ist den Eltern des Dichters gewidmet, die Opfer eines Raubüberfalls wurden. Borbély aktualisiert hier die liturgische Gattung bzw. Funktion der Sequenz nach barocken Mustern (vor allem Angelus Silesius). Die um drei thematische Schwerpunkte bzw. kulturelle Kontexte (christliche Osterliturgie, Mythologie von Amor und Psyche, chassidische Tradition) aufgebaute Komposition reflektiert die komplexe Problematik von Sterblichkeit, Sünde und Erlösung in einer Vielfalt von sakralen und profanen Rahmen. Das Lyrikverständnis der 1990er Jahre wurde aber vor allem von dem Werk András Ferenc Kovács’ (vgl. vor allem der Auswahlband Kompletórium, 2000; Kompletorium) geprägt und zugleich modifiziert, das auch eine intensive Wirkung auf die ungarische Gegenwartsliteratur entfaltet, die sich nicht nur im schlichten Epigonentum (unzählige Beispiele könnten dafür angeführt werden), sondern im Werk von souveränen Autoren wie z. B. Parti Nagy leicht dokumentieren lässt. Kovács besitzt ein seit Weöres unerreicht reiches Repertoire an verschiedensten poetischen Formen und Rollen (darunter immer wieder fiktive Dichterpersönlichkeiten aus der Antike, der Renaissance, der Jahrhundertwende oder der amerikanischen Beat-Poesie) in einer groß angelegten, theatralisierten intertextuellen Poesie mit außerordentlichem Formgespür. Ihm geht es vor allem darum, Lyrik als eine unteilbare Tradition oder als unteilbares Medium darzustellen, die formal den Eindruck erwecken könnten, die primäre Seinsweise
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von Poesie als universales Werkzeug und Terrain einer räumlich und zeitlich unbegrenzten ars oder poesis memoriae sei nach Kovács’ Auffassung in der Gleichzeitigkeit wahrer und fiktiver Vergangenheiten zu finden. Andererseits wurde bereits 1994 überzeugend dargestellt, dass diese Poetik in ihren denkwürdigsten Momenten kulturelle Erinnerungsarbeit durchaus als eine ernsthafte transhistorische Vermittlung versteht, statt nur mehr als virtuose Mnemotechnik eines immer gleich vorhandenen und hervorrufbaren Vorrats des geschichtlich oder kulturell Fernen (Kulcsár Szabó, Ernő 1994b, 186‒190). Die Vielfalt von Centos, Pastichen, Persiflagen, lyrischen Palimpsesten und Umschreibungen (darunter fiktive Übersetzungen nicht vorhandener ‚Originaltexte‘ z. B. des erfundenen amerikanischen Dichters Jack Cole oder zuletzt ‚freie‘ Übertragungen und Nachdichtungen von Kavafis Hazatérés Hellászból, 2006; Heimkehr aus Hellas) zeugt davon, dass diese Poetik jede lyrische Situation als bereits vorkodiert oder als Wiederholung oder bricolage früherer versteht. Lyrische Rede ist mithin immer zugleich zitierte Rede. So gesehen scheint es sogar, dass Lyrik als Medium vor allem diese anonyme Vermittlung von Zitaten ununterbrochen vollzieht. Trotz (oder gerade aufgrund?) dieser Züge kommt diese postmoderne Ästhetik ohne einen gewissen konservativen Aspekt nicht aus, der sich – wie das die Rezeption mittlerweile erkannt hat – vor allem daran zeigen lässt, dass an der Spitze von Kovács’ Wertehierarchie (dass es eine solche gibt, lässt sich z. B. kaum mit dem Antiprinzip von anything goes vereinen), in unbestreitbarer Höhe – ‚Dichtung‘ selbst steht. Am eindeutigsten zeugen davon Kovács’ ambivalente Bekenntnisse zum kulturellen Erbe oder zur siebenbürgischen Heimat, die ständig auf die Idee einer Muttersprache hinauslaufen, welche aber weniger in der identitätsstiftenden oder -tragenden Kraft einer nationalen Sprache, sondern vielmehr in der (universalen) Sprache der Poesie, in Literatur aufgefunden wird: Légy anyanyelv menekültje, helóta, de senki se légy – így, / Újra bezárva betűk rácsai közt szabadon: (Kovács 1993, 24) Werde zum Flüchtling der Muttersprache, zum Heloten, aber sei niemand – so, erneut hinter Gittern von Buchstaben verschlossen, bleibe frei (Ü: Verfasser)
heißt es z. B. in Distichen im Gedicht Erdélyi iskolák falára (An die Wände Siebenbürger Schulen), einer Palinodie auf Vörösmartys A Guttenberg-albumba (Ins Gutenberg-Album; G. Deicke); Tebenned bíztunk, eleinktől fogyva, Zsoltár, téged tartottunk hajlékunknak,
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Literatur
Mikor már semmi szavak nem voltanak, S már otthon sem volt, csak porból formálva – (Kovács 2000, 194) Auf dich vertrauten wir von Anbeginn schrumpfend, / Psalm, den wir für unsre Zuflucht hielten / nachdem keine Worte übrigblieben / und auch keine Heimat, geschaffen aus bloßem Staub. (Ü: Ch. Kunze)
– so der Anfang von Psalmus Transsylvanicus, einer Transposition des 90. Psalms, des Textes von Albert Szenci Molnár. Ließe sich also auf der einen Seite eine prägnante Entwicklung in der ungarischen Lyrik aufzeichnen, wo es von Domonkos’ Gedicht über Tandori bis Kukorelly oder Parti Nagy vor allem um die Relativierung, Verfremdung oder Zerstörung der als normatives Sprachmodell aufgefassten Muttersprache, um die im Unschönen und Fehlerhaften neu entdeckte Poesie ging, so ist bei Kovács all dem die Vision über die große europäische Tradition der Dichtung in gewisser Weise gegenüber- oder zur Seite gestellt, der eine späte, z. T. ironisierte Neuauflage der romantischen Idee einer poetischen ‚Muttersprache der Menschheit‘ unterlegt ist: einer zwar unbeherrschbaren, aber gerade deshalb unzerstörbaren, zugleich normativen und unendlich vielseitigen Sprache der Poesie. In der Gegenwart und vielleicht auch der nahen Zukunft der ungarischen Dichtung kommt vieles darauf an, ob und wie das vielfältige Zusammenspiel dieser Tendenzen produktiv weitergeführt wird.
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IX Wege der Moderne: Drama und Theater Im Europa der 1920er Jahre gab es zwei Professoren, die die Aufführung gleichermaßen für das grundlegende Definiens von Theater hielten: Max Herrmann und Antal Németh thematisierten in ihren Vorlesungen das Verhältnis zwischen dem schriftlich fixierten Dramentext und der live performance, um die Aufmerksamkeit auf den medialen Unterschied zwischen Literarizität und Theatralität zu lenken. In Deutschland trug die Gründung des ersten theaterwissenschaftlichen Instituts an der Humboldt-Universität 1923 unter der Leitung von Julius Petersen und Max Herrmann, die von Theaterleuten wie Leopold Jessner und Max Reinhardt unterstützt wurde, wesentlich zur Durchsetzung dieser Definitions- und Emanzipationsbestrebungen bei (vgl. Möhrmann 1990, 7–37). Die Ernennung von Antal Németh zum Direktor des ungarischen Nationaltheaters 1935 führte hingegen nicht zu einer Institutionalisierung der neuen Disziplin: Von einer Autonomisierung des Theatersystems in Ungarn kann man erst ab 1994 sprechen, als der erste Lehrstuhl für Theaterwissenschaft eingerichtet wurde. Aus welchem Grund wurde die Beziehung zwischen den theatralen, literarischen und kulturellen Aktivitäten sowohl in der Universitätslehre als auch in der Künstler-Ausbildung und der künstlerischen Praxis in Ungarn erst in den 1990er Jahren zum Gegenstand der Reflexion? Wie ist es wirkungsgeschichtlich zu erklären, dass in ungarischen Zuschauerräumen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nur der Zweck der Illustration des Dramas akzeptiert, der Hang zur Selbstreflexion der Theatralität aber immer marginalisiert wurde? Was für einen Dialog kann eine Theatertradition mit den innovativsten Tendenzen im Gegenwartstheater führen, in deren Selbstbild das Bewusstsein dominiert, sich ‚außerhalb des europäischen Netzwerks‘ zu befinden? Die Darstellung der Wege des Dramas und des Theaters in der ungarischen Moderne soll diese Fragen beantworten.
IX.1 Theater als Kunst: Herausbildung des Regietheaters Für die Neustrukturierung der Spannungs- und Oszillationsverhältnisse zwischen Schriftlichkeit (Literarizität) bzw. Mündlichkeit (Theatralität) im Zeichen der Sprachkrise Hofmannsthals (vgl. Kap. V.1.2) ist die historische TheaterAvantgarde von größter Relevanz. Die radikalen Selbstthematisierungsversuche der triadischen Relation von Zuschauer, Schauspieler und Dramentext führten um 1900 einerseits zur Heterogenität der Körperpraktiken im Sinne von Artaud, Brecht und Stanislawski, zu in neu strukturierten Raumkonzeptionen fixierten Beobachterpositionen, zu neuen Textformen im Zeichen der „Krise des Dramas“ (Szondi) einerseits und andererseits zum Eintritt des Theaters ins Zeitalter des
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Experimentierens im Zeichen der Entliterarisierung und der Retheatralisierung. Da die Herausbildung des Regietheaters im heutigen Sinne also durch die Pluralisierung und Divergenz des theatralen Zeichengebrauchs den Horizont der klassischen Moderne überschritten hat, betrachtet die Geschichtsschreibung des modernen europäischen Theaters die Welttournee des Meininger Hoftheaters (1874–1890) als umwälzende Wende zur Moderne (vgl. Fischer-Lichte 1993, 217– 235).
IX.1.1 Jenseits der Meininger Die Aufführungen der Originaltexte, die größtmögliche historische Treue der Ausgestaltung und Aufsehen erregenden Massenszenen widersprachen den Erwartungen der romantischen Theatertradition, lösten heftige Diskussionen aus und wurden in ganz Europa zu einem sensationellen Erfolg. Die Werktreue, der historische Realismus und die Betonung des Ensemblespiels konfrontierten die Zuschauer zum ersten Mal mit der Heterogenität der möglichen Antworten auf die Frage der szenischen Konkretisierung des Dramas, der räumlichen bzw. zeitlichen Situiertheit des menschlichen Körpers und der künstlerischen Autorität des Regisseurs. Das ungarische Publikum begegnete der Julius Ceasar-Inszenierung des Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen im Jahre 1875. Es war eine Zeit, in der es einen Zuschauer in der Donaumonarchie noch überraschte, in einem zweckmäßig eingerichteten Theatergebäude zu sitzen und Schauspieler Ungarisch sprechen zu hören. Von 1875 bis 1911 richteten sich aber im ungarischen Zentrum der kulturellen Modernität, der künstlerischen Modernismen und der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Modernisierung der sogenannten ‚Gründerzeit‘ alle Gesellschaftsschichten auch ihre eigenen Unterhaltungsstätten ein (vgl. Kap. V.1). Es gab in der ungarischen Hauptstadt zwei staatlich subventionierte Theater – das Nationaltheater (1837) und das Opernhaus (1884) – und mehrere Privattheater: das Volkstheater (1875), das Theater im Stadtwäldchen (1879), das SomossyOrpheum (1894), das Christinenstädter Theater (1895), das Lustspielhaus (1896), das Altofner Theater (1896), das Ungarische Theater (1897), das König Theater (1903), das Friedmann Orpheum (1907), das Royal Orpheum (1907), die Volksoper (1911) und das Hauptstädtische Operettentheater (1922). Dieser Boom im Bereich der Theaterbauten markierte die ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen, die Wandertruppen sesshaft zu machen und die Arbeit der Schauspieler nach den Prinzipien des Berufstheaters zu reformieren. Und da das Welttheater des Theaterherzogs in der Auseinandersetzung mit bis heute aktuellen und brennenden theatertheoretischen Problemen eine heuristische Rolle spielen kann, lenkt der Streit um die Meininger unsere Aufmerksamkeit auf die notwendigen
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und hinreichenden Voraussetzungen für einen Paradigmenwechsel (vgl. Kékesi Kun 2007, 7–32). In Deutschland konnte sich das für das bürgerliche Illusionstheater bis zum Einsetzen der historischen Avantgardebewegungen gültige Paradigma schon seit der Aufklärung und auch in der Praxis konstituieren (vgl. Fischer-Lichte 1993, 81– 142). In Ungarn sollte aber der Wandel von der Wanderbühne zum Theater als moralische Anstalt erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und parallel zum Wechsel vom Schauspieler- zum Regietheater stattfinden. Nur das einzige staatlich subventionierte Sprechtheater war den theaterhistorischen Herausforderungen gewachsen, (i) die Literarisierung des Theaters und parallel dazu eine umfassende Geschmacksveränderung beim Publikum (wie es in Deutschland Gottsched, die Neuberin und Lessing propagiert hatten) in die Wege zu leiten und (ii) die vorromantische Schauspielkunst (die übrigens bis 1930 einen festen Platz in der Ausbildung der Schauspieler hatte) zu modernisieren. Da das 1837 gegründete, 1908 umgezogene, 1965 abgerissene und 2001 neu gebaute Nationaltheater von Anfang an als Symbol der kulturellen (vor allem sprachlichen) und politischen Unabhängigkeit galt, entwickelte sich eine paradoxe und wirkungsgeschichtlich höchst folgenreiche Situation, welche die bis heute relevanten Charakterzüge der ungarischen Theatertradition bestimmt. Freilich dominierte in der ungarischen Rezeption der Meininger nicht die Debatte um die den Inszenierungen zugrunde liegenden Prinzipien, sondern die pure Nachahmung. Obwohl Ede Paulay (1878–1894), der Direktor des ungarischen Nationaltheaters, auch in persönlichem Kontakt mit dem ‚Regisseur‘ des Theaterherzogs, Ludwig Chronegk, stand, legte er in seinen szenischen Transformationen vor allem auf die Historizität der Ausstattung Wert: Er führte Bánk bán (1815; Ban Bánk, 1969, G. Engl) und Az ember tragédiája (1862; Die Tragödie des Menschen, 1964, J. Mohácsi) als lebendige literatur- und kunsthistorische Panoramen und Csongor és Tünde (1830; Csongor und Tünde, 1953, J. Mohácsi) als bilderreiches Märchenbuch auf. Diese Bühnenbilder fungierten als visuelle Rahmen für eine posenartig plastische, rhetorisch-pathetische ‚Kinesik im Kothurn‘ und eine weinend-singende Deklamation der Schauspieler-Virtuosen, die die Vortragskunst des (Wiener Hof-)Burgtheaters unter Heinrich Laube und Franz von Dingelstedt imitierten, und an deren Künstlichkeit nicht einmal die anspruchsvolle und präzise Probenarbeit etwas ändern konnte. Anstatt als eine Art Katalysator zu wirken, bildeten also diese Vorstellungen einen visuell prächtigen Rahmen für gefeierte Star-Produktionen und konservierten dadurch eine dann fast 50 Jahre lang stabil weiterlebende Aufführungstradition. Kein Zufall, dass die Paulay-Ära das ungarische Nationaltheater als eindeutiges Schauspielertheater definierte, zu dessen Emblemen keine Theatermacher, sondern die Namen hervorragender SchauspielerInnen wurden, wie u. a. Mari Jászai, Emilia Márkus, Ede
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Újházi, László Gyenes, Mariska Vízvári, Gizi Bajor, Imre Pethes, Oszkár Beregi, Kálmán Rózsahegyi, Árpád Ódry, József Kürti, Tivadar Uray, Árpád Lehotay, Sándor Pethes, József Tímár und Anna Tőkés. Während André Antoine, Otto Brahm und Konstantin Stanislawski die Harmonie des Bühnenbildes und der schauspielerischen Bewegung (vgl. Brahm 1964, 416–417) bzw. das perfekte Ensemble-Spiel bemerkten (vgl. Stanislawski 1980, 164), kam den Gastspielen der Meiniger in der ungarischen Theatergeschichte keine heuristische Rolle zu. Die Klassiker-Inszenierungen und Theaterschriften von Leopold Jessner, Edward Gordon Craig, Max Reinhardt und Erwin Piscator konnten aber den bedeutendsten ungarischen Theatermachern des 20. Jahrhunderts dazu verhelfen, ihre eigene Position als Regisseure zu definieren und das Verhältnis zwischen dem ‚idealistischen‘ und dem ‚realistischen‘ Stil der Darstellungskunst zu reflektieren. Diese theoretisch richtigen (aber nur in wenigen Fällen kreativen) Interpretationen nahmen jedoch auf die Praxis nur partiellen Einfluss. Und da diese Zeichensprachen des europäischen Theaters der Avantgarde als Vollendung und Ende der (in Ungarn sich erst jetzt konstituierenden) klassischen Moderne zu betrachten sind, lohnt es sich, diese wirkungsgeschichtlich relevanten Versuche als Workshops zu untersuchen und darauf zu fokussieren, welche Bedürfnisse und Herausforderungen an die Arbeit der Schauspieler, des Regisseurs und des Stückeschreibers diese bewusst machen bzw. formulieren.
IX.1.2 Die schauspielpädagogische Funktion des bürgerlichen Lachtheaters „[In Ungarn] bedeutete der Modernismus vor allem in Bezug auf die schauspielerische Diktion eine Revolution“ (Ferenczi 1910, 11). Dieser Satz gilt in der ungarischen Theatergeschichtsschreibung als Binsenweisheit. Wenn man unter Deklamation eine (im Zeichen der auf die psychologischen Motivationen und dramatischen Situationen konzentrierten Analyse des Rollentextes) zu reformierende Darstellungskunst versteht, lohnt es sich, die Wirkung der konzeptionellen Entscheidungen des größten Privattheaters in Budapest zu untersuchen. Da Repertoire und Stil des 1896 gegründeten Lustspielhauses von der Summe der Bruttoeinnahmen bestimmt wurden, standen vor allem die Erfolgsstücke von Henry Bernstein, Julien Bisson, Georges Feydau und Édouard Pailleron auf dem Programm, die als Erbe der Seifenoper der Romantik zu betrachten sind und genauso zum bürgerlichen Lachtheater gehören wie die Possen bzw. Schwänke mit Musik und die Operetten. Diese Produkte einer künstlerischen Konsumbefriedigung sind vor allem durch eine visuelle und akustische Atmosphäre gekennzeichnet, deren anästhesierende Wirkung durch eine künstliche Hierarchie der musik- bzw. sprechtheatralischen Faktoren garantiert wurde (vgl. Groepper 1990,
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69–177). In dem Sinne sollten einerseits die Libretti (von Andor Gábor, Jenő Heltai), die Musik (von Emmerich Kálmán, Franz Lehár, Pongratz Kacsóh, Victor Jacobi, Albert Szirmai, Mihály Eisemann, Béla Zerkovitz), die Schauspielkunst und der Parfum- und Zigarrengeruch als gleichwertig betrachtet werden. Andererseits aber mussten die gefeierten Primadonnen und Bonvivans (u. a. Sári Fedák, Klára Küry, Hanna Honthy, Marika Rökk, Katalin Karády, Pál Jávor) ihre Stimmen, Gesten, Mimik bewusst ausbilden und ensembleartig organisieren, um die standardisierten Charaktertypen und Charaktersituationen darstellen zu können. Es scheint symptomatisch zu sein, dass der erste Direktor des Lustspieltheaters schon zu Lebzeiten „der ungarische Stanislawski“ genannt wurde. Was die französischen Schauspieler seit Anfang des 19. Jahrhunderts am Boulevard de Crime mit Hilfe der Schicksals-, Schauer- und Melodramen gelernt hatten, sollten sich die Virtuosen im Lustspielhaus der 1920er und 1930er Jahre durch die Inszenierung der Dramaturgie der Konversationsstücke und der pièce bien faite aneignen. Und diese für die ungarische dramatische Tradition zentrale Tatsache lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die historische Rolle der Trivialdramatik und der Darstellungsweise bzw. der Szenographie des sogenannten ‚Boulevardnaturalismus‘. Wenn aber ein Star auf der Bühne „fünfmal pro Jahr in die Badewanne hineinfällt, oft ohne Mantel oder im Kleid einer Frau von der Polizei ertappt wird“ (Hegedűs 1921, 67), muss er nicht nur auf sich selbst achten, sondern die alltäglichen Requisiten (Badewanne, Briefpapier, Doppelbett, Kognak) bestimmungsgemäß benutzen – wie im ganz normalen Alltag. Demzufolge wird dieser Schauspieler langsam fähig, nicht nur auf die Gegenstände zu achten, sondern auch auf seine Partner in den Hauptrollen bzw. seine Kollegen in den Nebenrollen Rücksicht zu nehmen und schließlich selbst den Regisseur als künstlerischen Direktor eines Ensembles zu betrachten. Von der perfekten Mischung aus Boulevard und Naturalismus bis zum psychologischen Realismus führte aber ein recht langer Weg. Der starke Einfluss der finanziellen Faktoren ermöglichte im Lustspielhaus weder eine vorprogrammierte Geschmacksveränderung beim Publikum noch die Parodierung oder Negierung des Erwartungshorizonts. Genau deswegen war es wichtig, dass Mór Ditrói (1896–1916) und Dániel Jób (1920– 1948) versuchten, parallel zur Trivialliteratur auch die ästhetisch avancierten Dramen von Ibsen, O’Neill, Hauptmann und Tschechow aufzuführen. Die Darstellung der Figuren in Ibsens Gespenster oder Madáchs Férfi és nő (1843; Mann und Frau) erforderte nicht nur eine gründliche hermeneutische Arbeit, sondern motivierte die SchauspielerInnen dazu, sich die Leitsätze des bürgerlichen Illusionstheaters bewusst zu machen: (i) Das Theater soll eine Illusion der Wirklichkeit herstellen; (ii) Gegenstand der Schauspielkunst sind psychische Zustände und seelische Prozesse beim bürgerlichen Individuum; (iii) Der Körper ist von
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Abb. 48: Leo Stein, Béla Jenbach, Emmerich Kálmán: Csárdáskirálynő. R: Mohácsi János, Kaposvári Csiky Gergely Színház, 1993. Aufnahme: László Simara
Natur aus zum vollkommenen Ausdruck der Seele befähigt und geeignet (vgl. Fischer-Lichte 1988. Bd. 3, 182–183). Das In-Die-Szene-Setzen der komplexen Rollen von John Gabriel Borkmann, Strange Interlude, Vor Sonnenaufgang und vor allem Drei Schwestern ist also als ‚Workshop‘ zu betrachten, in dem die SchauspielerInnen die Aufgabe und die Bedeutung der Arbeit an der Rolle und an sich selbst im Stanislawski’schen Sinne er- und anerkannten. Demzufolge ist der sogenannte ‚Stil des Lustspielhauses‘ auch zur Metapher einer nicht offiziellen Schauspieler-Ausbildung geworden, deren Effektivität vom Konzept eines Theatermachers (in den 1990ern József Ruszt, Tamás Fodor und András Jeles, heutzutage János Mohácsi, Béla Pintér, Árpád Schilling und Sándor Zsótér) abhängig ist. Es ist also Mór Ditrói zu verdanken, dass sich der psychologische Realismus im Theater als Erwartungshorizont der klassischen Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Ungarn konstituieren konnte. Die ungarischen Schauspieler konnten sich aber erst ab den 1950er Jahren, in den KlassikerInszenierungen von Endre Gellért, Endre Marton, Zoltán Várkonyi, István Horvai und (auch international anerkannt) Gábor Zsámbéki, Gábor Székely, Tamás Ascher der berühmten Aufgabe der Methode von Stanislawski gewachsen fühlen, etwa die Worte „gestern Abend“ auf 45 verschiedene Arten auszusprechen, denen die Zuhörer jeweils eine andere Bedeutung beizulegen vermochten.
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Obwohl die Gründung des Lustspielhauses dem Nationaltheater dazu verhalf, sich endgültig als vorbildliches Sprechtheater zu definieren, wollten die ungarischen Dramatiker ihre Stücke am liebsten im Lustspielhaus uraufgeführt sehen, wo also die Operette und der Boulevardnaturalismus die SchauspielerInnen in die Lage versetzt hatten, mit der vorromantischen Schauspieltechnik endgültig zu brechen. In Europa machten aber zu dieser Zeit die Debatten zwischen Tschechow und Stanislawski bzw. zwischen Stanislawski und Meyerhold auch in der Theaterpraxis transparent, dass die mimetische Identifikation mit den Figuren nach lebensweltlichen Referenzen und die (Re)Konstruktion der psychologischen und soziokulturellen Motive nicht die einzig mögliche und zudem eine nicht unproblematische Lesart des Dramas ist. Der Theaterbetrieb betrachtete und förderte aber die SchauspielerInnen als potentielle Verkörperungen eines Liebhabers, einer Schwiegermutter, eines erpressenden Neffen, einer eifersüchtigen Freundin, einer frechen Zofe oder eines Höflings, was eine Zuschauer-Einstellung verstärkte und konservierte, die auch im besten Sprechtheater in elegant-heiterer Stimmung die von Stars perfektionierten Körper-Konstruktionen der standardisierten Charaktertypen wiedersehen und wiederhören wollte – unabhängig von der stets glücklich endenden Handlung des Dramas. Wie ein Interview mit den bedeutendsten ungarischen Theatermachern und Dramatikern der Zeit in der Zeitschrift Nyugat (am 1. und 16. 2. 1928) zeigte, wurde die Mehrheit der dramatischen Texte der ungarischen Moderne ohne Zweifel als Produkt einer konsumierbaren unterhaltungstheatralischen Atmosphäre geschrieben. Symptomatischerweise tat der Regisseur Ferenc Molnár (1878–1952) alles dafür, dass die Zuschauer nicht bemerkten, wie seine ‚Bastard-Schwänke‘ (z. B. Ördög, 1907; Der Teufel, 1908, Ü: unbekannt; Liliom, 1909; Liliom, 1912, A. Polgar; Játék a kastélyban, 1926; Spiel im Schloss, 1927, A. Polgar) zwei dramaturgische Regeln der pièce bien faite verletzten. Einerseits handeln die Intriganten aus gutem Willen zum guten Zweck und mit psychologischen Mitteln, andererseits enden ihre Aktionen nie mit einem vollkommen problemlosen Happy End (vgl. Klotz 2007). Und es ist auch leicht zu verstehen, warum der Produktionsprozess der Theaterstücke in dieser Zeitperiode durch mehrmalige Bearbeitungen gekennzeichnet war. Die Bühnenvarianten des Dramas konnten die potenzielle Diskrepanz oder Distanz zwischen dem Erfahrungs- und Erwartungshorizont des Dramatikers und dem der Zuschauer auf ein Minimum reduzieren. Anstatt auf die moralischen Probleme einer Intellektuellen auf dem ungarischen Lande zu fokussieren, ging es z. B. in A tanítónő (1908; Die Lehrerin, 1900, M. Rothauser) von Sándor Bródy (1863–1924) um einen privaten Konflikt zwischen einer schönen und jungen Naiven und einem jungen und reichen Liebhaber, dessen idyllische Lösung die Perspektivlosigkeit der Träume von der Bildung der kleinen und erwachsenen ungarischen Bauern vergessen lässt. Anstatt das Unmoralische der
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typischen Lebenslügen der bürgerlichen Frauenschicksale darzustellen, transformierten sich die Hauptfiguren des Tündérlaki lányok (1914; Die Schwestern Tündérlaki) von Jenő Heltai (1871–1957) in Soubretten aus dem Dreimäderlhaus von Berté. Der höchst qualifizierte Boulevardnaturalismus war aber nicht imstande, die Dramen zu inszenieren, in denen die Mikrosituationen nicht nur die strukturelle Funktion haben, die Großszene (das Finale) vorzubereiten, und deren Figuren nicht als Typen identifiziert werden können, deren dramaturgische (Charakter) Züge mit konventionellen Verhaltensformen bzw. Redeweisen in alltäglichen Situationen und körperlichen Klischees der Stars zu erklären sind. Während Kék róka (1917; Blaufuchs, 1917, Ü: „Ms“) von Franz Herczeg (1863–1954) zwischen 1917 und 1945 fast 300-mal auf der Bühne zu sehen war, erzielten die ästhetisch avancierten Texte von Dezső Szomory (1869–1944), Menyhért Lengyel (1880– 1974), Béla Balázs (1884–1949), Milán Füst (1888–1967) oder Sándor Márai (1900– 1989) – meist gegen den Willen ihrer Schöpfer – vor allem als Lesedramen Erfolg.
IX.1.3 Wege der Kunsttheater-Bewegung Unter dem Gesichtspunkt dieser traditionsstiftenden Kluft hätten die einzige Kunsttheater-Konzeption und die künstlerische Leitung des Nationaltheaters von großer Bedeutung sein können. Da die von Márton Bánóczi, Marcell Benedek und Georg Lukács 1904 gegründete Thália-Gesellschaft – nach dem Muster des Théâtre Libre und der Freien Bühne – finanziell und von der Zensur unabhängig tätig war, konnte sie sich auf die Aufführung von Dramen zeitgenössischer Autoren jenseits von Schablone und Virtuosentum konzentrieren. Nach den Plänen wären die inszenierten Texte von Schnitzler, Hauptmann, Tschechow, Strindberg, Ibsen, Wedekind, Hebbel, Shaw oder Maeterlinck schon zur Premiere zu lesen gewesen, und der künstlerische Leiter Sándor Hevesi versuchte auch die wenigen dramaturgisch innovativen ungarischen Stücke (z. B. Menyhért Lengyel: A nagy fejedelem; Der große Fürst, 1907) regelmäßig aufs Programm zu setzen. Der Widerstand der Theaterdirektoren, die fragliche Qualität der uraufgeführten ungarischen Stücke und vor allem der ständige Mangel an sicheren und gut funktionierenden Spielräumen erwiesen sich jedoch als unüberwindliche Schwierigkeiten: Der Theaterverein konnte nur vier Jahre lang existieren. Trotz alledem lenkten die Aufführungen die Aufmerksamkeit der Theatermacher auf die pädagogische Rolle des (in den gemieteten Räumen und durch Anfänger) nie verwirklichten Naturalismus und eines konzipierten Repertoires (vgl. Kun 1978). Im vorbildlichen Sprechtheater in Ungarn artikulierten sich die politischen Folgerungen der staatlichen Subvention in Form von ästhetischen Problemen. Artúr Bárdos hielt es 1936 mit Recht für empörend, dass ein Theater in Europa nur
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und ausschließlich deswegen finanziert wird, weil auf seiner Bühne auf Ungarisch gespielt wird. Das ungarische Nationaltheater definierte sich jedoch sui generis als Institution der permanenten kulturellen Selbstlegitimation der erst seit 1867 unabhängigen und nach 1919 in eine schockierende Identitätskrise geratenen Nation. Und da es auch zu seinem Aufgabenbereich gehörte, das städtische Bürgertum zu unterhalten, konnten die Reformkonzeptionen immer nur teilweise verwirklicht werden. Zu den unentbehrlichen Kompromissen waren drei in ganz Europa bekannte Theatermacher bereit. Alle waren über den radikalen kulturellen und theatralen Wandel in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sehr gut unterrichtet, und alle waren dagegen, dass Theateravantgarde in Ungarn nur die Revolution der Diktion und keine umfassende Modernisierung bedeuten solle. Der Craig-Korrespondent Sándor Hevesi und der Jessner-Kenner Antal Németh wurden zu Direktoren des Nationaltheaters ernannt. Der Reinhardt-Assistent Artúr Bárdos jedoch musste sein Dasein als Direktor von diversen Privattheatern fristen. Als Regisseur der Thália-Gesellschaft wies Sándor Hevesi eine „übertriebene Modernisierung im Sinne der Theaterrevolte“ noch aus Prinzip zurück (Hevesi 1965, 319). Später galten diese Worte des inzwischen zum Direktor des ungarischen Nationaltheaters ernannten Hevesi (1922–1932) eher als Ausdruck einer realpolitischen Einstellung. Für diesen Theaterbetrieb bereitete jedoch die Anfertigung der realistisch ausgestatteten Bühnenbilder von Bródys Hófehérke (1901; Schneewittchen, o. J., Ü: unbekannt) ein szenographisches Problem: Die normal alltägliche Proxemik in einem Kaffeehaus oder in einem Büro wurde zur technischen und künstlerischen Herausforderung. Demzufolge versuchte der präzise Kritiker der Rollendarstellung von Eleonora Duse und Tommaso Salvini vor allem die schauspielerischen Produktionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, denn der Zuschauer wolle auf der Bühne Menschen aus Fleisch und Blut sehen, die Aufgabe der Schauspieler bestehe also darin, eine vollständige Bühnenillusion herzustellen. Diese ‚Menschendarstellung‘ unterscheidet sich aber von der auf bloße Rhetorik reduzierten ‚Vortragskunst‘, die zu erfolgreichen Aufführungen der sogenannten historischen Tableaux wie z. B. Bizánc von Ferenc Herczeg (1904; Byzanz, 1904, Ü: „Ms“) diente. Da jede dramatische Figur unfertig ist und sich die Rollendarstellung immer auf individueller Basis vollzieht, kann keine Rolle prima vista gespielt werden. Die Verwirklichung dieser neu definierten Thesen von Iffland (1759–1814) bzw. der Meininger (1874–1890) wurde u. a. durch den Publikumserfolg der Gattung verhindert, die in der erfolgreichen kulturellen Repräsentation eine herausragende Rolle spielte und sich zu einem der wichtigsten und stabilsten Faktoren der Nationalidentität etablierte. Als Sándor Hevesi im Rahmen eines Zyklus aus zehn Premieren die Geschichte des Volksstückes darzustellen versuchte, wurde klar, wie und warum sich die ursprünglich boshaft-witzigen dramatischen Texte zu
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Possen mit Gesang entwickelt hatten. Während A szökött katona (1843; Der Deserteur) von Ede Szigligeti (1873–1878), dem zweiten Direktor des Nationaltheaters, zur Entstehungszeit noch voll von ironischen, kritischen, sogar revolutionären Zügen im Sinne des Wiener Volkstheaters war, wurde es in den 1920er Jahren zur leichten Komödienkost. Die scheinbaren sozialen Konflikte, die fast idiotischen Repliken, die verlogenen Bauern-Idyllen in der ungarischen Puszta und die erstarrten bzw. zu imitierenden Klischees der als „Nachtigall der Nation“ bezeichneten Lujza Blaha hatten vor allem eine offiziell vorprogrammierte nationale Identität zu inszenieren. Die Bedeutung dieser kulturellen Performanz deutet darauf hin, dass die erwähnten Direktoren weder aus politischen noch aus finanziellen Gründen darauf verzichten konnten bzw. durften, die Volksstücke, die offiziellen Ideologeme illustrierenden patriotischen Tableaus, die idyllische Darstellung der Lebenswelt der Klasse der abgestiegenen Adligen und die Operetten-Bearbeitung von Petőfis János vitéz von Pongrác Kacsóh regelmäßig aufs Programm zu setzen. Die Dominanz dieser auf einseitigen Typen und Star-Imitation basierenden Spielweise (de)formierte aber einseitig und über einen langen Zeitraum hinweg den Erfahrungs- und Erwartungshorizont sowohl der SchauspielerInnen als auch des Publikums des Nationaltheaters: Sehr wenige dramatische Texte ermöglichten ihnen, sich in einen bestimmten Seelenzustand zu versetzen, diesem den richtigen Ausdruck zu geben und die Bühnenfigur als Individuum identifizierbar zu machen. Auch das hat dazu beigetragen, dass sich beide Direktoren für die Erstaufführung auch derjenigen dramatischen Werke eingesetzt haben, die die sozial(psychisch)en Probleme im ‚Lande der drei Millionen Bettler‘ auf moderne Art und Weise thematisierten. Sándor Hevesi konnte aber nur diejenigen Texte – z. B. A bor (1901; Der Wein, 1960, J. Deutsch) von Géza Gárdonyi (1863–1922) und Sári bíró (1910; Richterin Sári) von Zsigmond Móricz (1879–1942) – mit Publikumserfolg aufführen, in denen die Mehrheit der dramatischen Personen durch humorvolle, anekdotische Repliken (statt als Individuen) als Typen bzw. Genrefiguren gekennzeichnet ist. Antal Németh konnte schon versuchen, moderne Stücke aufzuführen, die den erwähnten Erwartungshorizont parodierten und/oder negierten. Die Handlung von Tündöklő Jeromos (1936; Strahlender Hieronymus), Csalóka szivárvány (1942; Trügerischer Regenbogen) von Áron Tamási (1897–1966) sowie Papucshős (1939; Pantoffelheld) und Cseresnyés (1942; Kirschgarten) von László Németh (1901–1975) reflektiert direkt auf die damalige historische Situation. Diese Volksdramen lenkten die Interpretation auf eine gemeinschaftlichpolitische Lesart hin, der aber die Räuberromantik mit all ihren Klischees völlig fremd war. Diese erhielt im Nationaltheater erst seit den 1950er Jahren – nach der Premiere des Tűvé-tevők (1952; Nadel im Heuhaufen) von Gyula Illyés (1902–1983) und Advent a Hargitán (1985; Advent in der Hargita) von András Sütő (1927– 2006) – einen festen Platz.
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Die Grundregel der klassizistischen bienséance und vraisemblance artikuliert sich aber in diesen Fällen in einer minutiösen, realistischen Charakterzeichnung und in einer im dramatischen Text kodierten, gut gemachten realistischen Inszenierung, für die sich jedoch das Ensemble des ungarischen Nationaltheaters als ungeeignet erwies. Und als Zeichen eines erbitterten und verbissenen Kampfes gegen das romantische Pathos der Gesten und das pure Imitieren der gut bewährten Starschablonen reformierte Sándor Hevesi 1930 das pädagogische Programm der Schauspielerschule in Bezug auf die natürliche Diktion und begann Antal Németh seine Direktion mit dem Engagement der besten SchauspielerInnen des Lustspielhauses (u. a. Pál Jávor, Zoltán Makláry, Ilona Titkos, Anna Tőkés, Lili Berky, Gyula Csortos, Gábor Rajnay, Artúr Somlay). Trotz alledem konnte bzw. durfte im Nationaltheater die Rolle von Luzifer immer nur als die eines (oft absichtlich hinkenden) Intriganten gespielt werden, obwohl Antal Németh die dramatische Figur nicht als eine Art ‚Superteufel‘, sondern als einen Todesengel interpretierte (vgl. Németh 1988, 460). Wie bereits erwähnt, waren sowohl Craigs als auch Jessners ‚Lehrlinge‘ mit dem literarischen und künstlerischen Konservatismus des Nationaltheaters und mit der erzieherischen Rolle eines modernen Repertoires vertraut. Beide mussten aber schnell erkennen, dass die Zuschauer auch im höchstrangigen Sprechtheater des Landes viel mehr auf die typischen Schliche neugierig waren, die in A Gyurkovics lányok (1922; Sprechen Sie mit Mama …, H. Farkas) von Ferenc Herczeg (1863–1954) zur Kleinbürgerhochzeit führen, als auf den Zyklus des von Hevesi neu inszenierten Gesamtwerks von Shakespeare. Obwohl Sándor Hevesi und Antal Németh schnell einsehen mussten, dass radikale Konzepte nicht einmal im Nationaltheater verwirklicht werden konnten, waren sie von Anfang an gegen die prämoderne Auffassung der ‚Inszenierung‘ von Ede Paulay, die nach einer Textualisierung aller theatralischen Elemente (Masse, Musik, Ballet, Feuerwerkskörper) strebte, um den Erwartungen der Zuschauer maximal zu entsprechen. Demgegenüber versuchten Sándor Hevesi und Antal Németh, durch neue Klassikerinszenierungen und szenische Transformationen ästhetisch avancierter moderner Stücke den Horizont der klassischen Moderne zu stärken und in manchen Fällen sogar zu überschreiten. Auch die Eröffnung des Kammerspieltheaters des Nationaltheaters 1924 ist vom Horizont des Regietheaters her zu erklären. Die Entscheidung von Sándor Hevesi hatte jedoch nicht nur strukturelle und finanzielle, sondern auch ästhetische Folgen: Die architektonische Veränderung (und Variabilität) des physikalischen Verhältnisses zwischen Schauspieler und Zuschauer lenkte die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung bzw. die Zeichenhaftigkeit der Raumkonzeption. Diese eindeutig intimere Atmosphäre leitete die Rezeption auf den hermeneutischen Akt der szenischen Konkretisation und der möglichen (Neu)Interpretationen der Ko-
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mödien von Molière (1926–1927, R: Sándor Hevesi). Sie war auch für Antal Németh sehr hilfreich bei seinem Bestreben, die SchauspielerInnen dazu zu bewegen, den soziopsychologisch motivierten Subtext der intellektuellen Rollen in Villámfénynél (1936, Im Blitzlicht) von László Németh und in Kaland (1940; Das letzte Abenteuer, 1941, J. P. Toth) von Sándor Márai zu konstruieren und realistisch darzustellen. Az ember tragédiája konnte aber sowohl in die große als auch in die kleine Szene, Csongor és Tünde sogar auf die 1938 eingeweihte Freilichtbühne auf der Margaretheninsel gebracht werden, wodurch dieses Experiment des europäischen Regietheaters legitimiert wurde. Im 20. Jahrhundert bekamen auch das Lustspielhaus und das Madách-Theater je ein Kammerspieltheater namens Pester Theater und Madách-Kammerspiele. Nach der Etablierung der ehemaligen Kammerspiele des Nationaltheaters zum alleinstehenden Theaterbetrieb unter dem Namen „KatonaJózsef-Theater“ (1982), das heute auch schon seine eigene ‚Kammer‘, horribile dictu ein noch kleineres ‚Kämmerchen‘ hat, wurden auch die Madách-Kammerspiele (unter dem Namen „Örkény-István-Theater“) unabhängig. Dieses in Ungarn absolut verbreitete Kammerspieltheater-System aber zeigte in den 1980er Jahren sein Janus-Gesicht. Die Tendenz der institutionellen Emanzipation der ursprünglichen Kammerspiele als Legitimation eines eigenen künstlerischen Programms beweist einerseits die Produktivität dieses Modells, andererseits aber wurden die rentableren Kleinbühnen immer mehr zum privilegierten Platz der finanziell riskanten Uraufführungen der neueren ungarischen Dramen, was auch die Identifikationsmöglichkeiten ihrer dramatischen Raum- und Zeitstruktur einengte. Vor dem europäischen Horizont der Ausbildung einer pluralistischen Theatertradition hätte sich das Publikum des ungarischen Nationaltheaters ästhetische Distanz angewöhnen können. Sándor Hevesi definierte aber das Nationaltheater nicht nur als literarischen Faktor und stellte ihm nicht nur die Aufgabe, literarische Ziele und Zwecke zu verwirklichen: Die Regie sollte seiner Meinung nach „das geschriebene Wort versinnlichen“ (Hevesi 1991, 242). Als Folge dieser teleologischen Theaterauffassung sind die zyklusartige Aufführung fast des gesamten Werks von Shakespeare und die Neuinszenierung des Bánk bán (1930) weniger wegen des innovativen Potentials der Regie als vielmehr wegen der beispiellosen Arbeitsmoral als paradigmatisch zu betrachten. Es war das erste Mal, dass ein Regisseur im Nationaltheater die künstlerische Bedeutung der tatsächlich neuen Inszenierungen von Stücken betonte, die schon seit Jahren gespielt wurden. Es war das erste Mal, dass ein Direktor in der intensiven, durchdachten und wohlstrukturierten Probenarbeit den Garanten für die künstlerische Qualität erblickte und dass ein Theatermacher auf die Rolle der schriftlichen Notation und argumentativen Reflexion der dramaturgischen und szenischen Analyse des Dramas Wert legte. In Erklärungen und Studien thematisierte Hevesi die Probleme der veralteten Übersetzungen, die Rolle der hermeneutischen Ent-
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scheidung für oder gegen eine Szenographie (Ein Sommernachtstraum, 1932) und für oder gegen Musik bzw. Geräusch (Der Sturm, 1920). Als einer der Ersten erkannte er die pädagogische Rolle des Serienspiels, indem er mehrere Schauspieler dieselbe Rolle zugleich verkörpern ließ. Und Dezső Kosztolányi und Aurél Kárpáthy, die sensiblen Theaterkritiker der Zeit, konnten die überraschend individuelle Gestik, Kinesik, Mimik und Proxemik nicht nur plastisch beschreiben, sondern diese auch als theatralische Zeichen bzw. Zeichenzusammenhänge interpretieren (vgl. Kosztolányi 1978; Kárpáthy 1956, 59). Diese Schriften sind als erste Etappe der Aufführungsanalyse zu betrachten, da sie diese Inszenierungen als künstlerische Texte aus sinntragenden Elementen lesen und so als mögliche Antworten auf die Frage nach der Transformation eines literarischen in ein theatralisches Werk verstehen (vgl. Fischer-Lichte 1988. Bd. 3, 10–33). Trotz alledem soll die Diskussion um die potenzielle dramaturgische Arbeit am Bánk bán der Inszenierung von Sándor Hevesi (1930) für die Zeit als symptomatisch betrachtet werden. Während Edward Gordon Craig 1908 eine theatertheoretische Zeitung (The Mask) und 1913 eine Hochschule für Theaterkunst gründete, löste in Ungarn der pure Gedanke an die absichtliche textuelle Veränderung der ungarischen Nationaltragödie einen sowohl künstlerischen als auch politischen Skandal aus. Die moderne ungarische Theatergeschichtsschreibung interpretiert dieses Medien-Ereignis vor dem Horizont der Tatsache, dass die Aufführung des Dramas von József Katona bzw. der Oper von Ferenc Erkel (1861) auch heute obligatorischer Teil der staatlichen Nationalfeste ist, was die identitätsstiftende Rolle des Nationaltheaters beweist (vgl. Imre 2001, 93–112). Von unserem Gesichtspunkt aus lenken aber die heftigen Reaktionen die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Definitionen der Aufgabe des Regisseurs und auf die verschiedenen Antworten von Sándor Hevesi, Antal Németh bzw. Artúr Bárdos auf die Schlüsselfrage der ‚Werktreue‘. Sándor Hevesi war überzeugt davon, dass der Regisseur den Autor auf der Bühne vertritt. Da der Schauspieler das Material für seine menschendarstellende Kunst vom Autor bekommt und dieses Material die Rolle (also der auf den einzelnen Schauspieler entfallende Teil eines dramatischen Werks) ist, fokussiert er auf die Reinterpretation der Motivationen des dramatischen Helden Bánk, was notwendigerweise zu eindeutigeren Charakterisierungstechniken führte. Andererseits aber äußerte er sich oft über die richtige Deutung der im Nationaltheater zu behütenden Tradition und war ständig dagegen, dass ein Werk wie eine antike Statue behandelt wird (vgl. Németh 1935, 193). In Az ember tragédiája (1925) konkretisierte sich diese Einstellung in einer radikal reduzierten Textvariante: Um den Kampf zwischen Gott und Luzifer um den Menschen zu betonen, strich er die langen philosophischen und epischen Passagen von Madách. Vörösmartys Csongor és Tünde setzte er aus rein gattungstheoretischen Gründen nie aufs
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Programm. Parallel zu dieser Entscheidung (als bewusst hermeneutischem Schritt der szenischen Konkretisierung) versuchte Hevesi jedoch, Kegyenc (1841; Kreatur) von László Teleki (1811–1861), eine dramaturgische Präfiguration des Molnár’schen pièce bien faite, als drittes Nationaldrama zu kanonisieren. Abschließend lässt sich sagen, dass Hevesi im Großen und Ganzen auf seine dramaturgischen Vorhaben verzichtete. Trotz der eigens angefertigten Dekorationen und Kostüme unterschied sich das Bühnenbild von Gusztáv Oláh kaum von dem der trivialen historischen Dramen und Tableaus, und auch Tiborc’ Figur konnte durch das konventionell purpurrote Leibchen der Volksstücke als Bauer identifiziert werden. Erst 2007 versuchte der Regisseur Sándor Zsótér, den kulturellen und historiographischen Abstand zwischen der Entstehungszeit des Bánk bán und der Jetztzeit der Aufführung zu inszenieren. Der fremde und desemantisierende Klang der 1815 geschriebenen Textur, die auf lebensgroße Rinder fokussierte Kinesik, die fast feierliche Atmosphäre eines der schönsten Säle im Sezessionsstil von Budapest dekonstruierten das Heiligtum einer literarischen Statue der ungarischen Theater- und Identitätsgeschichte. Durch innovativere Modi der Transformation des dramatischen Textes in einen theatralischen Text sind die Inszenierungen von Antal Németh und Artúr Bárdos gekennzeichnet. Beide betrachteten die Modernisierung der Bühnentechnik (Rundhorizont, frei zu bewegende Scheinwerfer, Drehbühne) als notwendige Voraussetzung für eine Lichtregie bzw. eine professionell choreographierte Kinesik, daher spielte die visuelle und akustische Atmosphäre keine untergeordnete (das Schauspielerspiel illustrierende), sondern eine konstitutive Rolle in der mise en scène. Beide Regisseure interessierten sich für die Dramen, die sich dem Erfolgsrezept widersetzten: Die ästhetische Erfahrung von Kaland von Márai, Csalóka szivárvány von Tamási und den heute als Oper bzw. Tanzspiel von Béla Bartók weltberühmten Stücken des Filmtheoretikers Béla Balázs (Kékszakállú herceg vára, 1911; Herzog Blaubarts Burg, 1922, W. Ziegler, vgl. Kap. VI.7) sowie von den Stücken des auch als Drehbuchautor berühmten Menyhért Lengyel (A csodálatos mandarin, 1917; Der wunderbare Mandarin, 1926, Ü: unbekannt) verlangt jedoch parallel zum Verstehen der abgebildeten Wirklichkeiten das bewusste Erleben von rein oder dominant visueller und akustischer Wahrnehmung der artistischen bzw. symbolreichen dramatischen Sprache. Schließlich hatten beide Regisseure enge Beziehungen zu zwei Persönlichkeiten der historischen Avantgarde unterhalten, deren Klassiker-Inszenierungen bis heute gültige Modelle des europäischen Regietheaters sind (vgl. Fischer-Lichte 1993, 373–410). Die zentrale Position der berühmten Jessner-Treppe und die Intimität des Kammerspieltheaters (gegründet von Max Reinhardt am Deutschen Theater) veränderten jedoch nicht nur die Szenographie bzw. die Raumkonzeption radikal, sondern lenkten die Aufmerksamkeit auf sich selbst (auf ihre Zeichenhaftigkeit).
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Abb. 49: József Katona: Bánk bán. R: Sándor Zsótér, Vakok Állami Intézete Nádor terem, 2007. Aufnahme: Zoltán Pálmai Zemint
Durch diese Art theatralischer Selbstreflexion konnte in der mise en scène die pure Augen- und Ohrenlust dominieren, was aber von Haus aus verhindert, den Inszenierungstext auf (scheinbare) Verdoppelung des dramatischen Textes einzuschränken. Der ehemalige Assistent von Max Reinhardt fokussierte in seinen Inszenierungen auf die Prinzipien der artistischen Illusion, der musikalischen Komponiertheit und des stilisierten Irrealen, auf deren Verwirklichung in den Privattheatern der ungarischen Hauptstadt von Anfang an keine Hoffnung bestand. In den Theatern von Artúr Bárdos verkörperten Schauspieler und Puppen die Figuren des Tapferen Kassian von Schnitzler und wurden die Einakter Kávécsarnok von Ernő Szép (1928; Kaffeehalle) und A bűvös szék von Frigyes Karinthy (1918; Der Zaubersessel, 1972, I. Szent-Iványi) als dramaturgische Präfigurationen des absurden Dramas aufgeführt. In enger Zusammenarbeit mit dem präraffaelitischen Maler Lajos Gulácsy und Béla Bartók, der auch Adys Gedichte vertont hatte, strebte er stets danach, einen theatralischen Dialog zwischen Puppenspiel, Commedia dell’arte, Sprechtheater und einem karikierten Kabarett auf einer Kleinbühne zu provozieren. Das ‚Ich‘ des Regisseurs und das ‚Ich‘ des (Privat-)Direktors konnten aber in Leben und Werk von Artúr Bárdos nie zufrieden und harmonisch zusammenarbeiten.
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Antal Németh hatte jedoch die Möglichkeit, Die Tragödie des Menschen fünfmal im Nationaltheater, einmal im Kammerspieltheater, einmal als Hörspiel, einmal auf Schallplatte und auch als Konzepte eines Puppenspiels, eines Drehbuchs und einer Inszenierung in der Arena von Verona aufzuführen. Parallel zu Regiearbeit und Direktion gab er das erste Theaterlexikon (1930) der ungarischen Theaterwissenschaft heraus und schrieb die szenische Rezeption des Dramas von Madách. Obwohl auch dieser Direktor des Nationaltheaters besonders großen Wert auf die philologische Textanalyse legte, gingen seine Inszenierungen vom globalen Sinn des dramatischen Textes und nicht von den Bedeutungen einzelner Elemente oder Teilstrukturen aus. Da er die Stufenbühne, die Kammerspiele, die theatralischen Gattungen und die unterschiedlichen Medien als theatralische Zeichen betrachtete, schuf er theatralische Texte, die in ihrer Gesamtheit imstande sein sollten, als interpretierbarer Teil des dramatischen Textes zu fungieren. Die Drehbühne z. B., die die zentrale Treppe (Bánk bán) und den monumentalen Turm bzw. Flügelaltar (Az ember tragédiája) in Bewegung setzte, konnte mehr leisten, als die Abfolge der Familien- und der Massenszenen zu rhythmisieren. Da der pure Szenenwechsel zum tatsächlichen Atmosphärenwechsel wurde, was der bewusste Einsatz der Musik und der Tanzbewegungen nur noch verstärkte, strukturierte die abstrakte und betont bedeutungstragende Szenographie auch die Selbstwahrnehmung der Zuschauer in einem gemeinsamen Zeitraum. Némeths Fähigkeit zur perfekten Semiotisierung der theatralischen Elemente kam auch in seinem scharfen und kreativen Sinn für die Plurimedialität des Dramas zum Ausdruck. Unter seiner Direktion wurden auch Dramen uraufgeführt, deren Dramaturgie nicht nur an die Szenographie, sondern auch an die Schauspielkunst hohe Anforderungen stellte. Während aber die Autorität des Direktors dafür ausreichte, dass man die seit den 1890er Jahren nach demselben unveränderten Muster angefertigten gemalten Kulissen und pseudo-naturalistischen Dekorationen entfernte, stellte sich als Hauptproblem im Nationaltheater immer noch die Menschen- und Rollendarstellung. Es scheint symptomatisch zu sein, dass László Németh seine Werke nach den schauspielerischen Fiaskos der Uraufführungen an ein von ihm erfundenes ‚Papiertheater‘ adressierte, denn – wie er in seinen Theaterkritiken oft bemerkte – im Nationaltheater seien die bemerkenswerten und aufs Programm gesetzten Stücke vollkommen verdorben worden. Während der neunjährigen Direktion von Antal Németh wäre es auch in dem Fall nicht zu verwirklichen gewesen, die großartigen (salonnaturalistisch gebildeten) früheren Schauspieler des Lustspieltheaters an ein psychologisch-realistisches Schauspiel in einem expressionistisch stilisierten Raum zu gewöhnen, wenn er die innovativen Dramen mehrmals (als Repertoirestücke) hätte spielen lassen und ihm die Methodologie des Stanislawski-Systems zur Verfügung gestanden hätte.
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Die Theateravantgarde wird durch eine Dominanzverschiebung von der semantischen zur pragmatischen Dimension des theatralischen Zeichengebrauchs definiert, was einerseits zur Materialisierung, andererseits zur Verminderung der Eindeutigkeit der theatralischen Zeichen führte. Die nur z. T. erfolgreichen Reformversuche von Sándor Hevesi, Antal Németh und Artúr Bárdos werfen eigentlich eine zentrale Frage der Theatermoderne auf: Spielt in der Bedeutungs- und Sinnkonstitution des Aufführungstextes die Semantik der Sprache (der linguistischen Zeichen) oder die Semiotik der visuellen bzw. akustischen Atmosphäre eine wesentlichere Rolle? Die Inszenierungen von Sándor Hevesi hatten ihren Ausgangspunkt in komplexen Teilstrukturen des dramatischen Textes wie Figur und Handlung. Obwohl er sich über die Zeichenhaftigkeit des Nonverbalen vollkommen im Klaren war, sollten die Farben, das Licht und das Geräusch vor allem den SchauspielerInnen dabei helfen, Rollen auf individueller, psychologischer Basis darzustellen. Die Regie-Konzeptionen von Antal Németh und Artur Bárdos sind aber schon als vorsichtige Experimente der Retheatralisierung zu betrachten, die das (neue) Theater von den Fesseln der Literatur zu befreien beabsichtigten, damit die Sprache des Theaters ästhetisiert und als Negation des Individuums definiert werden kann.
IX.2 Vision und Wirklichkeit: jenseits der historischen Theateravantgarde Die Geschichte des Lustspieltheaters und des Nationaltheaters zwischen den beiden Weltkriegen macht transparent, dass diejenigen Leitsätze des Realismus, die die Avantgarde konsequenterweise außer Kraft setzen wollte, nur in Ansätzen verwirklicht wurden. Es überrascht daher niemanden, dass die radikaleren (dadaistischen, expressionistischen und surrealistischen) Theaterexperimente, in denen der Ausdruck der Fabel und der Emotionen von Figurenpsychologie und Handlungslogik abgekoppelt und der Prozess der Bedeutungskonstitution nachdrücklich der Hermeneutik und der Perzeption der Zuschauer übertragen wurde, keine große Wirkung auslösten. Im zum kleinen Sprechtheater umgebauten politischen Kabarett von Endre Nagy wurden ab 1916 in erster Linie Einakter aufs Programm gesetzt, und die Zuschauer, die einer kleinen Guckkastenbühne gegenüber saßen, durften weder essen noch hinausrufen. Das 1925 gegründete Theater „Grüner Esel“ verschob den Fokus auf den Prozess der sinnlichen Wahrnehmung in einem gemeinsam verbrachten Zeitraum. Das Publikum in den kleinen, gemieteten Räumen wurde zielgerichtet provoziert und irritiert durch die singenden und deklamierenden Parlando-Chöre als Elemente einer visuellen Komposition, des Weiteren durch die choreographierbare und komponierbare Materialität des
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menschlichen Körpers in mechanischen Pantomimen und Oratorien und durch die absurden Ansagen der Conférenciers.
IX.2.1 Theaterexperimente um 1920 Daher ist es kein Zufall, dass sich der Kreis der wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Theatermacher und Choreographinnen mit der ungarischen Erstaufführung von Les mariés de la tour Eiffel (1924) vorstellte. Ödön Palasovszky verwendete in seiner Inszenierung den dramatischen Text von Jean Cocteau als Drehbuch: Gegenstände (Phonographen) redeten, die Kinesik der sich auch vertikal bewegenden Tanz-SchauspielerInnen verlieh dem Gehörten eine eigentümliche Rhythmik. Dieses theatralische Ereignis wurde zum paradigmatischen Beispiel für eine szenische Interpretation, die (statt eine abgebildete Wirklichkeit durch Linearität in der Abfolge der Zeichen zu rekonstruieren) eine visuelle und akustische Atmosphäre herstellt und Menschen(körper) statt als Zentren der Schauspielkunst als eines unter gleichwertigen, konstruierenden Mitteln auffasst (MoholyNagy 1927, 4). Ödön Palasovszky, Sándor Bortnyik, Iván Hevesy, Magda Róna, Alice Madzsar, Ágnes Kövesházi waren vollkommen im Bilde darüber, dass die bewusste Destruktion der Voraussetzungen des bürgerlichen Illusionstheaters sowohl mit zuschauerfreundlichen Kompromissen als auch mit der traditionellen Unfähigkeit zum Anzweifeln der jeweiligen Norm des Zuschauens unvereinbar ist. Da sich aber der Kreis aus der offiziellen Theaterstruktur programmatisch hinausdefinierte, konnte diese kreative Rezeption die innovativsten Stücke der ungarischen Avantgarde – u. a. Az óriáscsecsemő (1926; Das Riesenbaby) von Tibor Déry (1894–1977) – weder legitimeren noch kanonisieren (vgl. Jákfalvi 2006, 42– 77, 117–129). Da die dramatischen Texte der europäischen und ungarischen Avantgarde von János Mácza (1893–1974), Sándor Barta (1897–1938) und Zsigmond Remenyik (1900–1962) und die Manifeste in der Zeitschrift Ma [Heute] von Lajos Kassák erschienen, konnten die Studien und Kritiken von Tibor Déry, János Mácza, Andor Tiszay und Aladár Tamás das Wechselspiel der Semiotisierung (Dematerialisierung) und der Desemiotisierung (Materialisierung) der theatralischen Zeichen reflektiert thematisieren und theoretisieren. Als aber Palasovszkys Gruppe für institutionelle Theaterarbeit reif genug war, musste sie sowohl aus finanziellen als auch aus politischen Gründen auf die Chancen professionellerer Arbeitsbedingungen verzichten. Da also die dramatischen Texte der ungarischen Avantgarde kaum aufgeführt worden sind und demzufolge (im Gegensatz z. B. zu Brechts Dramen) nicht zu Repertoire-Stücken avancieren konnten, kann man von dem zweiten Horizont der Theatermoderne in Ungarn nur rein theoretisch sprechen.
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Diese wirkungsgeschichtlich fatale Situation führte dazu, dass in der Geschichte des ungarischen Dramas und Theaters weder die textuellen landscape plays von Gertrude Stein, Samuel Beckett, Bernard-Marie Koltès und Heiner Müller noch der Jelinek’sche sprachliche Sarkasmus präsent sein konnte. Die postmoderne Tradition ‚des nicht mehr dramatischen Theatertextes‘ setzt jedoch die recht lange und stabile Erfahrung von Inszenierungsstrategien voraus, die die zentrale Rolle des Dramas in einer logozentrischen Architektur des Aufführungstextes permanent infrage stellen, auf die Spannungs- und Oszillationsverhältnisse zwischen Textualität und Performativität fokussieren, die Aufmerksamkeit auf die Autopoiesis der sogenannten feedback-Schleife zwischen Zuschauern und Akteuren lenken (vgl. Fischer-Lichte 2004, 270–280). Wie gezeigt, verhinderten in den 1930er und 1940er Jahren der künstlerische Konservatismus und der profitorientierte Theaterbetrieb nicht nur die Vollendung des Paradigmas des bürgerlichen Illusionstheaters, sondern auch die Ausbildung eines experimentierfreudigen Erfahrungshorizontes im Sinne der curiositas. Der Mangel an ästhetischen Erfahrungen, die dichotomischen Begriffspaare der klassischen Moderne wie Kunst und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Signifikant und Signifikat in sich zusammenfallen lassen, hat auch die Zeitperiode nach der Verstaatlichung aller ungarischen Theater (1949) bestimmt.
IX.2.2 Politisches Theater: die Tradition der doppelt metaphorischen Dekodierung Parallel zu der generellen staatlichen Subvention wurden die künstlerischen Programme der Theater stark ideologisch kontrolliert: In den 1950er Jahren sollten sich fast alle Ensembles der Ungarischen Volksrepublik als Mittel einer Agitprop betrachten. Im Sinne des sozialistischen Realismus sollte der Zuschauer die ideologisch positiven dramatischen und Bühnenfiguren problemlos identifizieren können, um sie (auch außerhalb des Theaters) nachzuahmen. Demzufolge konnte (durfte) die offizielle Schauspielkunst vor allem auf der Grundregel von Stanislawski basieren. Es war der Arbeit von Mór Ditrói, Dániel Jób, Sándor Hevesi und Antal Németh zu verdanken, dass die ungarischen Regisseure und SchauspielerInnen die schon didaktisierte Methode des psychologischen Realismus in der Tat benutzen und verwirklichen konnten. Während aber das Stanislawski-System in der europäischen Geschichte des Regietheaters von Anfang an als höchst produktiver Anhaltspunkt fungierte, verhinderte die ungarische Kulturpolitik die (Meyerhold’sche oder Brecht’sche) Vervielfältigung des kreativen Potentials der berühmten ‚Methode‘. Die Dramenfiguren sollten Schdanow’sche
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Direktiven verwirklichen und auf der Bühne die idealtypischen Verhaltens- und Redeformen des neuen (kollektiven) Menschen repräsentieren, und dies hatte zur Folge, dass sich die von den Stars faszinierten Zuschauer die Stereotype ansahen, die genauso schematisch waren wie die Standard-Typen der Operetten. In diesem Diskurs definierte sich z. B. die Inszenierung von Az ember tragédiája (1955) als Zeitraum eines virtuellen, aber potentiellen Widerstands, die stark rhetorische Darstellung der bürgerlichen Revolution und des Freiheitskampfes von 1848 in Fáklyaláng (1953; Fackel) von Gyula Illyés wurde zum Sprechrohr des politischen Regimes, und László Németh fühlte sich genötigt, das Dilemma eines Galilei (1953) neu zu bestimmen, der sich dem Kollektiven unterordnet. Da es in Ungarn noch in den 1960er Jahren verboten war, die wenigen Inszenierungen der absurden Dramen auf Festivals einzuladen, konnten im Ostblock prinzipiell nur und ausschließlich zwei theatralische Formensprachen mit dem „Genau-Wie-Otto-Theater“ (Heiner Müller) diskutieren: das dialektische Theater von Bertolt Brecht in der DDR und ‚das arme Theater‘ von Grotowski in Polen. Die ungarische Brecht-Rezeption war durch die obligatorischen Kopien der berühmten Modellinszenierungen gekennzeichnet: Bis zum Brecht-Zyklus von Sándor Zsótér in den 1990er Jahren waren die Aufführungen durch das Ignorieren des gestischen Prinzips und die aktualpolitische Interpretation der eine Botschaft garantierenden ‚Fabel-Fee‘ geprägt (vgl. Lehmann 2002, 219–237; Kiss 2005, 300– 320). Andererseits spielten aber die Brecht-Aufführungen als Indizien eine genauso wichtige Rolle wie die Inszenierungen der epischen Dichtungen (Hiawatha, Kalevala, Ramayana, La Comedia Divina) im Thalia-Theater von Károly Kazimír und der Stücke von Sartre, Beckett und Mrožek im Lustspielhaus von Zoltán Várkonyi. Da jedoch die Dramaturgien der existentialistischen, absurden und epischen Texte Inszenierungsstrategien implizieren, welche die dualistische Auffassung des Verhältnisses zwischen Kunst und Wirklichkeit im Sinne der klassischen Moderne infrage stellen, wurden diese Aufführungen als eindeutige Provokation gegen Schematismus und Routine angesehen. Das Innovative dieser Stücke bewies sich in Ungarn vor allem in ihrem theaterpädagogischen Effekt. Als eine Art Katalysator halfen sie bei SchauspielerInnen, Regisseuren und Zuschauern zu verhindern, dass die Arbeit an der Rolle nur zur mechanischen Produktion und Rezeption von Stereotypen und Konventionen wird, die gut bekannte Rollen konstituierend. Theaterporträts der hervorragendsten SchauspielerInnen der Zeit zwischen 1950 und 1970 wie Hilda Gobbi, Tamás Major, Sándor Pécsi, Manyi Kiss, Antal Páger, Klári Tolnay, Miklós Gábor, Zoltán Latinovits, Edit Domján, Éva Ruttkay, Irén Psota, Margit Dayka, László Mensáros, Ferenc Bessenyi, István Avar, Mari Törőcsik, Dezső Garas oder Ila Schütz wären unmöglich zu schreiben, ohne den Begriff des Rollenfachs zu thematisieren (vgl. Kiss 2011, 54–102).
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Obwohl die Struktur der vielen kleinen ‚Nationaltheater‘ die Demokratisierung der ungarischen Theaterkultur zu beweisen hatte, bildete sich natürlich vom Anfang an eine Elite weniger Theatermacher heraus, die den Vorteil der staatlichen Subventionen für eine qualifizierte Werkstattarbeit nutzte. Die bedeutendsten von ihnen (Tamás Major, Endre Gellért, Endre Marton, Imre Csiszár im Nationaltheater, Otto Ádám im Madách Színház, Károly Kazimír im Thália Theater, Zoltán Várkonyi, István Horvai und László Marton im Lustspieltheater) schufen von 1950 bis 1980 jene Ibsen-, Tschechow- und Shakespeare-Inszenierungen, die in gewissen Zügen die auch heute gültige Norm maßgebend bestimmen. Im Vergleich zu denjenigen Ländern in Europa, in denen die historische Avantgarde um 1920 als die erste Etappe der Geschichte des Regietheaters zu betrachten ist, bedeuteten diese Klassikerinszenierungen in Ungarn die Vollendung des Paradigmas des Illusionstheaters und des dramatischen Diskurses: Sie waren als eine bestimmte Lektüre des Dramas erkennbar, in der der literarische Text der Autonomie des Theaters zum Trotz sein Gewicht behielt (vgl. Lehmann 1999). Die Interpretation (eines Textes, einer Rolle, einer Geste oder einer Aufführung) war aber im Ungarn der 1960er und 1970er Jahre immer auch ein explizit ideologischer Akt. Da sich Theater immer als Veranstaltung in der Öffentlichkeit realisiert, wurden die Aufführungen im real existierenden Sozialismus des Kádár-Regimes zu indirekten Kommunikationsmitteln von Gedanken, die die Tabuzone der primären Öffentlichkeit der Medien und der Presse überschritten (vgl. Kap. VIII.A.1). Die damals als ‚oppositionell‘ apostrophierten, heute legendären Inszenierungen – wie z. B. die von János Ács inszenierte Aufführung von Weiss’ Marat/Sade (1982) im Theater der Stadt Kaposvár – sind aber wirkungsgeschichtlich wegen der Struktur dieses geheimen Augenzwinkerns interessant. Um jedoch das Gesehene und Gehörte nicht nur oder überhaupt nicht als Zeichen der Referenz der „zensierten“ Texte, sondern als eindeutigen Bezug auf einen gewissen sozialen Kontext deuten zu können, muss der Zuschauer die visuellen und akustischen Elemente als einen von den linguistischen segmentierten und vom Drama unabhängigen Teil der theatralischen Repräsentation betrachten. Diese (doppelt metaphorischen) mises en scène konstituierten also eine bestimmte Art von Zuschauen, indem die Aufführung durch die Dominanz einer stark ideologisierten externen Umkodierung genauso zum theatralen Ereignis wird wie die besonders beliebten Lesungen mit öffentlichen Diskussionen oder die Aufführungen der Liedtexte des Schriftstellers und Dramatikers Géza Bereményi (1946‒) und des Gitarristen Tamás Cseh (1943–2009). Diese Art (De)Kodierung erklärt die Parabelhaftigkeit des die Struktur der Macht modellierenden Titelhelden in Ablakmosó (1957; Fensterputzer) von Miklós Mészöly (1921–2001) und die grotesken und absurden Züge der ungarischen Dramen 1960–1980 (vgl. Kap. VIII.A.2.1). Die dramatischen Texte von István
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Örkény (1912–1979), Károly Szakonyi (1931‒) und István Csurka (1934‒2012) basieren auf grundsätzlich theatralischen Ideen: auf der historischen Multiplikation der Titelfigur und den als Zirkusproduktionen definierten Szenen in Pisti a vérzivatarban (1969; Pischti im Blutgewitter, 1979, E. Bollweg) oder auf der Identifikation der Wand eines typisch sozialistischen Arbeiterschließfachs mit einem Fernsehschirm und auf der virtuellen Rampe in Adáshiba (1970; Sendestörung, 1973, H. Skirecki). Diese implizite theatralische Selbstreflexion der dramatischen Struktur konstruiert sofort eine mögliche Welt, die – wie die Geschlossenheit eines Hospitalzimmers in Döglött aknák (1971; Blindgänger) – die Abnormität der Manipulation, des Spitzel-Systems und der Perspektivlosigkeit modelliert. Die ‚retheatralisierte‘ und den zuschauenden Leser zur geheimen Stellungnahme zwingende Leseraktivität kennzeichnete die Rezeption der parabelhaft-historischen Dramen von András Sütő (1927‒2006) und János Székely (1929‒1992). In Egy lócsiszár virágvasárnapja (1974; Palmsonntag eines Pferdehändlers); Csillag a máglyán (1975; Stern auf dem Scheiterhaufen); Káin és Ábel (1977; Kain und Abel) bzw. Caligula helytartója (1972; Caligulas Statthalter) werden die aktuell-politisch relevanten Probleme der ungarischen Minderheit in Siebenbürgern in die Vergangenheit transponiert, um im dunklen Zuschauerraum die Anteilnahme ausdrücken zu können. Da aber die Interpretation des dramatischen und theatralischen Textes auf diese Weise eine Art Mitschuld voraussetzt und sich das theatralische Lesen des Dramas als moralische Tätigkeit definiert, bleibt die (bei Beckett, Genet oder Mrožek universelle) Darstellung der menschlichen Existenz in typisch osteuropäischem Rahmen (vgl. P. Müller 1997, 59–70). Im ästhetischen Pluralismus der 1980er Jahre, den auch die visuell metaphorische Formsprache von György Harag (1925‒1985) und später Gábor Tompa (1957‒) bereicherte, wurde bereits erkennbar, dass dieser automatische Mechanismus der Produktion und der Rezeption unfähig ist, politisch (Rancière) zu sein. Diese ungarischen Stücke wurden durch die Dramenwettbewerbe des Lustspieltheaters inspiriert, das ab Mitte der 1960er Jahre durch großartige schauspielerische Leistungen und anspruchsvolle, aber weniger innovative Regiearbeit gekennzeichnet war. Hieraus wird verständlich, warum sein Regisseur die manchmal montageartig konstruierte Sprache der Dramen von Mihály Kornis (1949‒) und die marionettenartigen Figuren von László Márton (1959‒) ansprechen lassen konnte. Es ist kein Zufall, dass einer der größten Publikumserfolge der 1980er Jahre die soziopsychologische Lektüre des Csirkefej (1985; Hühnerköpfe, 1988, H. Skirecki) von György Spiró (1946‒) war. Obwohl die Schauspieler die freie Versform der nicht nur schockierend grob, sondern auch durch die Lautlichkeit der Schimpfwörter wirkenden dramatischen Rede bemerkten, stellte die Inszenierung die stereotypen Verhaltens- und Kommunikationssituationen bzw. -formen unter sozialen Typen in einem Mietshaus in der Vorstadt als Spiegelbild der ungarischen Wirklichkeit dar.
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Diese Inszenierung war in dem ab 1982 vom Nationaltheater unabhängigen Katona-József-Theater in Budapest zu sehen, das zum lebendigen Symbol der ungarischen Spätmoderne wurde. Das fast revolutionäre Entree von Gábor Székely, Gábor Zsámbéki, Tamás Ascher und László Babarczy, den heutigen Doyens des ungarischen Regietheaters (zuerst außerhalb Budapests, dann 1978–1982 im Nationaltheater, anschließend im Katona-Theater bzw. in Kaposvár), ist auch als international bekannte und anerkannte Reaktion auf das Gastspiel von Peter Brook in Budapest 1972 aufzufassen. Die legendäre Inszenierung des Sommernachtstraums im Zeichen des Interkulturalismus konfrontierte jedoch die ungarische Theaterkultur explizit mit der Tatsache, dass die für immer verformte klassisch-moderne Tradition der 1960er Jahre kein ästhetisches Erlebnis mehr hervorrufen kann. Es ist als symptomatisch zu betrachten, dass es genau diesem Regieteam und den bedeutendsten SchauspielerInnen der 1980er Jahre (u. a. Gábor Máthé, Andor Lukács, Kati Lázár, Eszter Csákányi, István Kulka, Dorottya Udvaros, Péter Blaskó, Géza Balkai, Juli Básti, György Cserhalmi, László Sinkó, Ági Szirtes, Erika Bodnár) gelang, Boldogtalanok (1914; Die Unglücklichen) und Catullus (1928; Catull) von Milán Füst zu kanonisieren. Die enge und immer innovative Korrelation der Ideologisierung des dramatischen Textes und der Textualisierung der Ideologie einerseits und die präzise, durch überraschende visuelle und akustische Zeichen markierte Bearbeitung der Motive der Handlung andererseits verwirklichten jedoch den psychologischen Realismus auf Weltniveau. Infolge einer konsequenten Ensemble-Arbeit und der Selbstdefinition als Künstlertheater kamen hier nicht nur die ersten ironischen Tschechow-Inszenierungen zustande, sondern fanden in den 1990er Jahren auch die ersten Lesungen der dramatischen Texte von Péter Esterházy (1950‒), Péter Nádas (1942‒) sowie Lajos Parti Nagy (1953‒) statt, und die jüngsten Regisseure bekamen Gelegenheit, den (postdramatischen) Formenkanon unter professionellen Bedingungen zu testen. Diesem äußerst produktiven Dialog zwischen Innovation und Tradition ist es zu verdanken, dass das Katona-József-Theater (und das Csiky-Gergely-Theater in Kaposvár) einer Zuschauergeneration dazu verhalf, ihren Erwartungshorizont zu erweitern.
IX.2.3 Das Politische Schreiben: Neoavantgarde und „Zensur“ In diesen Jahren war aber das Theater in Europa schon längst vom Aufbruch der Neo-Avantgarde bestimmt: Die Performanzen und Happenings des Living Theatre und der Body Art definierten die Aufführung als ein identitätsstiftendes Ereignis und versuchten, die Koordinaten des ‚Als … wenn‘ und das Prinzip der Ganzheit einer ästhetischen Theaterkomposition durch die Dematerialisierung des Körpers
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und die Inszenierung des Schmerzes zu dekonstruieren. Die zur Verwirklichung dieser Ziele unentbehrlichen Provokationen und Skandale wurden von Aczéls Kulturpolitik durch Verbote verhindert (z. B. im Fall von Gőzfürdő [Dampfbad] der Gruppe Universitas 1963) oder nur unter Spitzel-Kontrolle und an der Peripherie toleriert (z. B. Ebéd. In memoriam Batu kán; Mittagessen. In Memoriam Batu Khan, von Tamás Szentjóby und Gábor Altorjay, 1966). Genau deswegen übte das Theaterfestival in Wrocław 1965 sehr großen Einfluss auf die ungarische Neo-Avantgarde aus. József Ruszt, der Regisseur von Universitas, und die führenden Mitglieder (Péter Halász, István Paál und Tamás Fodor) konnten sich Grotowskis Standhaften Prinzen ansehen und die erlösende Wirkung der theatralischen Konfrontation unserer intellektuellen, emotionellen und perzeptiven Stereotypen erfahren. In A pokol nyolcadik köre (1968; Der achte Kreis der Hölle) gelang es der (auf Archetypen wie Jesus basierenden) Formensprache des ‚armen Theaters‘ zum ersten Mal in Ungarn, im KZ-oratórium (1962) von János Pilinszky (1921–1981) die Vision der Holocaust-Passion in Szene zu setzen. Von dieser Aufführung der ‚Universitas‘ an stand die künstlerische Tätigkeit der ungarischen Neoavantgarde (in den Theaterwerkstätten „Kassák-Ház-Studio“, „Szegeder Universitätsbühne“ und „Orfeó-Studio“) nicht nur im Zeichen der oft direkt transparenten Ideologiekritik, sondern zugleich im Zeichen des Kampfes gegen eine Manipulation des Zuschauens, die im Illusionstheater die Identifikation mit der Rolle(nfigur) garantiert (vgl. Jákfalvi 2006, 186–226). Obwohl die radikalen Theaterexperimente der 1960er und 1970er Jahre zweifellos auch im europäischen Vergleich innovative Züge aufwiesen, konnten sie den Erfahrungshorizont in den großen Guckkastenbühnen genauso wenig beeinflussen, wie es vor 25 Jahren im Fall des Kreises um Palasovszky gelungen war. Bis zum Ende der 1980er Jahre konnten sich ihre Wirkungen nur und ausschließlich in singulären künstlerischen Leistungen der (später als Dramaturgen, Kritiker und Regisseure tätigen) Mitglieder und in zwei wirkungsgeschichtlich äußerst relevanten (aber charakteristisch als ‚alternativ‘ oder ‚amateurhaft‘ bezeichneten) Inszenierungen artikulieren: in einer Komposition von Bildersequenzen, Arien, Recitals und Chören von András Jeles (A mosoly birodalma; Reich des Lächelns [1986]) und in dem ersten fragmentalisch inszenierten Dantons Tod von Erzsébet Gál im Depot des Nationaltheaters in Nyíregyháza (1990). Deswegen ist es kein Zufall, dass die Tendenz der Neo-Avantgarde zum Rituellen in einem geschriebenen Text, in der Dramen-Trilogie von Nádas, konserviert wurde, dessen Meinung nach „das Theater die einzig wirkliche Gemeinschaftskunst darstellt. Es ist die Kunst des rituellen gemeinsamen Atemzuges“ (Nádas 1983, 78). Diese Texte sind in Dialogen strukturierte Sinn- und Klangräume, deren polyphon musikalische Komposition in Takarítás (1977; Hausputz, 1999, I. Rakusa) und Találkozás (1979; Begegnung, 1999, I. Rakusa) an die Oper, in Temetés (1980; Beerdigung, 1999, I. Rakusa) an das
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Abb. 50: Péter Halász: Madaras játék (Vogelspiel). „Kapellenatelier“ von György Galántai, Balatonboglár, 1973. Aufnahme: György Galántai
Ballett erinnert. Die steril-geschlossene Atmosphäre und die Dominanz der langen Pausen und des Schweigens machen nicht die Handlung, sondern den Rhythmus spannend und definieren die dramatischen Figuren als abstrakte und autoreflexiv funktionierende Sprachwesen. Diese Texte können aber nur in einem (postdramatischen) Theaterdiskurs aufgeführt werden, in dem Ganzheit, Illusion und Repräsentation der Welt nicht mehr als regulierende Prinzipien fungieren, sondern vielmehr mögliche Varianten der Theaterkunst darstellen (vgl. Czékmány‒Huber 2009).
Vollendung und Ende des postbürgerlichen Illusionstheaters
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IX.3 Vollendung und Ende des postbürgerlichen Illusionstheaters Nach der politischen Wende (1989) wurde der oppositionelle Zug des alternativen Theaters obsolet, und die neo-avantgardistischen Formensprachen konnten mit der traditionellen (realistischen) Spielweise in Dialog treten. Die gesehenen und eingeladenen Gastspiele des europäischen Regietheaters machten immer transparenter, dass die verspätete Wende zur Moderne und die permanente Marginalisierung der experimentellen Theaterformen zur Herausbildung eines außerordentlich stabilen Horizonts der imitatio naturae und zu einer bis heute traditionellen Skepsis gegenüber dem Genuss der curiositas führte. Im Theaterbetrieb der Marktwirtschaft können selbständige Ensembles von unabhängigen Theatermachern wie Viktor Bodó, László Hudi, Béla Pintér und/oder freie Regisseure die innovativsten Inszenierungen schaffen. Die Produktionen des international bekanntesten Árpád Schilling und seiner ehemaligen Gruppe Krétakör [Kreidekreis] sind z. B. als Projekte zu betrachten, die die Beziehungen zwischen Theater und Politik, Theater und Drama, Theater und Theatralität analysieren. Die ehemaligen Schüler von Gábor Székely, Eszter Novák und László Bagossy versuchen, die Reichweite des dramatischen Diskurses und des Realismus in einem kulturellen Kontext zu definieren, in dem die herkömmlichen Begriffe der Wirklichkeit und der Authentizität vollkommen problematisch geworden sind. János Mohácsi, der künstlerische Direktor des Theaters in Kaposvár, beschäftigt sich in langen Probenzeiten und skandalösen Klassiker-Inszenierungen mit den Möglichkeiten der Dekonstruktion der schauspielerischen Stereotype. Und die Szenographien von Sándor Zsótér, der bemerkenswertesten Persönlichkeit des zeitgenössischen Regietheaters, die auch menschliche Körper mit einbeziehen, sprechen die Sinne bzw. ihre formale Kombinationsfähigkeit an und sind als Zustände in Zeiträumen aus Assoziationen zu identifizieren (vgl. Balkányi 2001, 3–20; Kiss 2006, 99–201). Die eindeutige Reflexion der Theatralität und des nicht mehr hierarchischen Verhältnisses zwischen Drama und Theater einerseits und der Hang zum uminterpretierenden reenactment der traditionellen dramaturgischen Diskurse kennzeichnen auch die jüngsten postdramatischen Theatertexte (vgl. Jákfalvi 1999; Jákfalvi‒Kékesi Kun 2009; Kiss 2010; Kap. VIII.A.2.4). Nicht nur Esterházys ‚dramatische Textflicker‘ (Búcsúszimfónia – A gabonakereskedő, 1994; Abschiedssymphonie; Rubens és a nem-euklideszi asszonyok, 2006; Rubens und die nichteuklidischen Weiber; Én vagyok a te, 2010; Ich bin Du), sondern auch die Stücke von János Háy (1960‒), Péter Kárpáti (1961‒), István Tasnádi (1970‒), Kornél Hamvai (1969‒), László Garaczi (1956‒), Zoltán Egressy (1967‒), Virág Erdős (1968‒) und Vera Filó (1973‒) implizieren Interpretationstechniken, die einerseits auf der
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Literatur
Pluralität der ungarischen Theatertradition und auf verschiedenen Konventionen des Zuschauens basieren, andererseits die wirkungsgeschichtliche Bedeutung der Neoavantgarde beweisen. Da diese Dramen u. a. als Drehbuch, Oper, Szenario, Revue, Comic Strip zu lesen sind, dekonstruieren sie die Hierarchie zwischen dem Dialog und dem Nebentext, zwingen den Rezipienten zur Parallelisierung referentieller, symbolischer, intertextueller Modi der Identifikation, was logischerweise zur Subversion der linearen Handlung und der psychologischen Figurenlogik führt. Daher ist es kein Zufall, dass die Trilogie von János Térey (Nibelung lakópark, 2003; Wohnsiedlung Nibelungen), die in monumentalen Bilderreihen und rigoroser Versform die thematische Konzeption des Wagner’schen Musikdramas und die Wirkungsprinzipien des Gesamtkunstwerkes reinterpretiert, vom renommierten Filmregisseur Kornél Mundruczó und durch das Ensemble des ehemaligen freien Theaters „Krétakör“ inszeniert wurde. Das heutige ungarische Drama und Theater versucht also durch die spielerische Destabilisierung und Transfiguration nicht nur einer äußerst stabilen realistisch-dramatischen Tradition, sondern auch derjenigen Gattungen (Volksstück, Operette) und Institutionen (Nationaltheater-Konzept) zu provozieren, die als Nationalsymbole der ungarischen Theaterkultur gelten. Daher sind diese Texte und Aufführungen fähig, politisch (Rancière) zu sein, da sie den Schock auslösen, der die Erinnerungsarbeit in Gang setzt (vgl. Assmann 1999, 18).
Literatur Assmann 1999 = Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck (C. H. Beck Kulturwissenschaft). Balkányi 2001 = Balkányi, Magdolna: Wie eine Theatertradition für Veränderung reif wird: Das ungarische Theater der 1990er. In: Forum Modernes Theater 16.1 (2001), 3–20. Brahm 1964 = Brahm, Otto: Kritiken und Essays. Zürich – Stuttgart: Artemis (Klassiker der Kritik). Czékmány‒Huber 2009 = Czékmány, Anna – Huber, Beáta: Történetek. Nádas Péter ‚szertartásdrámái‘. In: A színháztudomány az akadémiai diszciplínák rendjében. Bécsy Tamás életművéről. H: Jákfalvi, Magdolna; Kékesi Kun, Árpád. Budapest: L’Harmattan, 141–161. Ferenczi 1910 = Ferenczi, Frigyes: Színház és rendezés. Budapest: Sziklai. Fischer-Lichte 1988 = Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1–3. Tübingen: Narr. Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen. Bd. 2. Vom ‚künstlichen‘ zum ‚natürlichen‘ Zeichen: Theater des Barock und der Aufklärung. Bd. 3. Die Aufführung als Text. Fischer-Lichte 1993 = Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen – Basel: Francke (UTB, 1667).
Literatur
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Fischer-Lichte 2004 = Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2373). Groepper 1990 = Groepper, Tamina: Aspekte der Offenbachiade. Untersuchungen zu den Libretti der grossen Operetten Offenbachs. Frankfurt/M. et al.: Lang (Bonner romanistische Arbeiten, 33). Hegedűs 1921 = Hegedűs, Gyula: Emlékezések [a Vígszínház első huszonöt évére]. Budapest: Légrády. Hevesi 1965 = Hevesi, Sándor: Az előadás, a színjátszás, a rendezés művészete. Budapest: Gondolat. Hevesi 1991 = Hevesi, Sándor: Was ist Menschendarstellung? In: Texte zur Theorie des Theaters. H: Lazarowicz, Klaus; Balme, Christopher. Stuttgart: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek, 8736), 241–243. Imre 2001 = Imre, Zoltán: (National) Canon, (National) Theatre, and (National) Identity. A Debate over a 1928 Bánk bán-mise en scène in Hungary. In: Hungarian Studies 15.1 (2001), 93–112. Jákfalvi 1999 = Jákfalvi, Magdolna: Aspekte des Dramas. In: Im Sog der Sprache. Ungarische Literatur und Literaturkritik in den 90er Jahren. H: Kulcsár Szabó, Ernő. Budapest: [Corvina], 75–89. Jákfalvi 2006 = Jákfalvi, Magdolna: Avantgárd – színház – politika. Budapest: Balassi. Kékesi Kun 2007 = Kékesi Kun, Árpád: A rendezés színháza. Budapest: Osiris. Jákfalvi–Kékesi Kun 2009 = Jákfalvi Magdolna – Kékesi Kun, Árpád: Teríték 2.0. Kortárs magyar dráma és színház. In: Alföld 60.12 (2009. december), 93–102. Kárpáthy 1956 = Kárpáthy Aurél: Főpróba után. Válogatott színibírálatok (1922–1945). Budapest: Magvető. Kiss 2005 = Kiss, Gabriella: Laboratorium der theatralen Phantasie. In: Who was Ruth Berlau? H: Brockmann, Stephen. Madison: Univ. of Wisconsin Press (The Brecht Yearbook, 30), 300–320. Kiss 2006 = Kiss, Gabriella: A kockázat színháza. Fejezetek a kortárs magyar rendezői színház történetéből. Veszprém: Pannon Egyetemi (Theatron könyvek, 6). Kiss 2010 = Kiss, Gabriella: Inszenierte Erinnerungen. Historiographische Überlegungen zur Feigheit des heutigen ungarischen Theaters. In: Berliner Beiträge zur Hungarologie 15 (2010), 150–167. Kiss 2011: Kiss, Gabriella: A magyar színházi hagyomány nevető arca. Pillanatfelvételek. Budapest: Balassi. Klotz 2007 = Klotz, Volker: Bürgerliches Lachtheater. Komödie – Posse – Schwank – Operette. Heidelberg: Winter (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 239). Kosztolányi 1978 = Kosztolányi, Dezső: Színházi esték. Bd. 1–2. Budapest: Szépirodalmi. Kun 1978 = Kun, Eva: Die Theaterarbeit von Sándor Hevesi. Ungarns Beitrag zur Reform des europäischen Theaters im 20. Jahrhundert. München: Kitzinger (Münchener Universitätsschriften. Fachbereich Geschichts- und Kunstwissenschaften. Münchener Beiträge zur Theaterwissenschaft, 11). Lehmann 1999 = Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M.: Verlag der Autoren. Lehmann 2002 = Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Sophokles, Shakespeare, Kleist, Büchner, Jahnn, Bataille, Brecht, Benjamin, Müller, Schleef. Berlin: Theater der Zeit (Theater der Zeit, Recherchen, 12). Moholy-Nagy 1927 = Moholy-Nagy, László: A jövő színháza a teljes színház. In: Dokumentum (1927. március), 6–8.
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Literatur
Möhrmann 1990 = Möhrmann, Renate: Einleitung. In: Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. H: Möhrmann, Renate. Berlin: Reimer, 7–20. P. Müller 1997 = P. Müller, Péter: Drámaforma és nyilvánosság. A magyar dráma alakulása Örkény Istvántól Nádas Péterig. Budapest: Argumentum (Irodalomtörténeti füzetek, 140). P. Müller 2001 = P. Müller, Péter: Le ‚drama‘ hongrois à la recherche de sa voie (1963–1989). In: Théâtre hongrois d’une fin de siècle à l’autre, 1901–2001. H: Lakos, Anna. [Castelnau-le-Lez:] Climats, 59–70. Nádas 1983 = Nádas, Péter: Nézőtér. Budapest: Magvető (JAK füzetek, 5). Németh 1935 = Németh, Antal: Bánk Bán. Katona József drámája száz éve a színpadon. Budapest: Budapest Székesfőváros. Németh 1988 = Németh, Antal: Egy emberöltő Az ember tragédiája szolgálatában. In: Új színházat! Tanulmányok. H: Koltai Tamás. Budapest: Múzsák, 443–468. Stanislawski 1980 = Stanislawski, Konstantin Sergeevič: Die Meininger. In: Die Meininger. Texte zur Rezeption. H: Osborne, John. Tübingen: Niemeyer, 163–167.
Biogramme Endre ADY (22. November 1877 in Érmindszent, heute Rumänien–27. Januar 1919 in Budapest), Dichter und Journalist. Jurastudium in Debrecen und in Budapest; journalistische Tätigkeit in Debrecen und Nagyvárad (heute Oradea, Rumänien); ab 1904 längere Aufenthalte in Paris; 1906 Új versek (Neue Gedichte); 1908 ständiger Mitarbeiter von Nyugat (Westen); Mitglied des literarischen Zirkels ‚A holnap‘ (Der Morgen); Kritiker der Politik der österreichisch-ungarischen Monarchie; 1918 Vorsitzender der Vörösmarty-Akademie. János ARANY (2. März 1817 in Nagyszalonta, Salonta, heute Rumänien–22. Oktober 1882 in Budapest), Dichter, Übersetzer. 1833–1836 Studium im Reformierten Kollegium zu Debrecen; 1836–1849 Lehrer bzw. Notar in Nagyszalonta; 1840 Heirat mit Julianna Ercsey; 1845 Az elveszett alkotmány (Die verlorene Verfassung, komisches Epos); 1847 Erfolg der Verserzählung Toldi; Freundschaft mit Sándor Petőfi; 1848 Mitglied der Kisfaludy-Gesellschaft; 1848/49 Nationalgardist, Beamter der ungarischen Regierung; 1851–1860 Gymnasiallehrer in Nagykőrös; 1852 A nagyidai cigányok (Die Zigeuner von Nagyida, komisches Epos); 1854 Toldi estéje (Toldis Abend, Verserzählung); 1856 Kisebb költemények (Kleinere Gedichte), 2 Bde.; 1858 Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1860 Übersiedlung nach Pest; 1860–1865 Direktor der Kisfaludy-Gesellschaft; Redakteur der belletristischen Journale Szépirodalmi Figyelő (1860–1862) und Koszorú (1863–1865); 1864 Buda halála (Budas Tod, Verserzählung); 1865–1870 Sekretär, 1870–1879 Hauptsekretär der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1867 Összes Munkái (Sämtliche Werke) in 6 Bdn.; 1879 Toldi szerelme (Toldis Liebe, Verserzählung); Träger des Hl. StephanOrdens (1867). Mihály BABITS (26. November 1883 in Szekszárd–4. August 1941 in Budapest), Dichter, Schriftsteller, Literaturhistoriker und Übersetzer. 1901–1905 Studium der ungarischen und lateinischen Sprache und Literatur; 1905–1916 Lehrtätigkeit in Szeged, Fogaras (heute Fagaras, Rumänien), Budapest; 1919 Universitätsprofessor; während der ‚Räterepublik‘ erscheint sein literarisch-ästhetisches Programm Magyar költők ezerkilencszáztizenkilencben (Ungarische Dichter, 1919); 1920 Entlassung und Lehrverbot nach dem Scheitern der Räterepublik; 1920 Herausgeber der Literaturzeitschrift Nyugat; 1927 literarischer Kurator der Baumgarten-Stiftung.
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Biogramme
Bálint BALASSI (20. Oktober 1554 in Zólyom/Zvolen, heute Slowakei–30. Mai 1594 in Esztergom), größter Dichter der ungarischen Renaissance. Flüchtet als Kind wegen Verschwörungsverdachts seines Vaters nach Polen, nach einem unglücklichen Feldzug wird er später in Siebenbürgen gefangen genommen. Als Dichter stellt er eine Gedichtsammlung, einen pseudo-bibliographischen Zyklus von 66 Gedichten zusammen (geplant waren vermutlich 99 Gedichte), der in dieser Form erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht wird. In seinen religiösen Gedichten, die außerhalb dieser Autobiographie erhalten blieben, wendet er sich an einen verborgenen Gott, der ihm eine mögliche Form der verlorenen Totalität verspricht. 1589 übersetzt er das Schäferspiel Amarilli von Christforo Castelletti unter dem Titel Szép magyar komédia. Dániel BERZSENYI (7. Mai 1776 in Egyházashetye–24. Februar 1836 in Nikla), Dichter, Essayist. 1788–1795 Studien in Evangelischen Lyzeum in Sopron/Ödenburg; 1796–1799 betreibt er Landwirtschaft; 1808 kommt ein Konvolut der heimlich geschriebenen Gedichte Ferenc Kazinczy in die Hände; 1810 Reise nach Pest, Bekanntschaft mit Dichtern; 1812 Aufenthalt in Wien; 1819/20 ästhetische Studien; 1830 Mitglied der Ungarischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (Akademie). György BESSENYEI ([?] 1747 in Bercel–24. Februar 1811 in Pusztakovácsi), Dichter, Schriftsteller, Dramatiker, Philosoph. 1755–1760 Studien in Sárospatak; 1765–1773 Leibgardist in Wien; 1769 Reise in Italien; 1770 Beginn der literarischen Laufbahn; 1779 Katholisierung; 1780 Bibliothekar im Hofe Maria Theresias in Wien; 1781 Ausgabe der Zeitschrift Der Mann ohne Vorurteil; 1782 Heimkehr; 1795–1804 zweite dichterisch-schriftstellerische Periode. Miklós BETHLEN, Graf (1. September 1642 in Kisbún/Boiu, heute Rumänien– 27. Oktober 1716 in Wien), Schriftsteller, Politiker. Studiert in Gyulafehérvár (Alba Iulia), Kolozsvár (Klausenburg/Cluj-Napoca), erhält wichtige Kenntnisse in den Naturwissenschaften sowie in der Philosophie von Descartes, ab 1661 in Wien, Heidelberg und Utrecht. Während der Heimfahrt besucht er 1664 Miklós Zrínyi. Nach dem Frieden von Vasvár (1664) führt er geheime Verhandlungen in Venedig. Mit seinem Reformentwurf Moribunda Transsylvania (1688) bezweckt er, den Sonderstatus Siebenbürgens zu sichern, arbeitet weiterhin für ein selbständiges Fürstentum (Columba Noe, 1704). 1704 wird er gefangen genommen, ab 1708 Hausarrest in Wien, hier beendet er seine umfangreiche Lebensbeschreibung.
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Péter BORNEMISZA (22. Februar 1535 in Pest–Frühjahr 1584 in Rohrbach), evangelischer Prediger und Schriftsteller. Ab 1556 Studium in Wien, Padua, Wittenberg; in Wien übersetzt er die Tragödie Elektra von Sophokles ins Ungarische. 1564 erwirbt er ein Prediger- und Erzieheramt am Hofe des János Balassi, als Erster verfasst er in den Jahren 1567– 1579 eine vollständige Predigtsammlung in fünf Bänden über 7.000 Seiten. 1582 veröffentlicht er eine Sammlung ungarischer Kirchengesänge. Mihály CSOKONAI VITÉZ (17. November 1773 in Debrecen–28. Januar 1805 in Debrecen), Dichter, Dramatiker, Übersetzer. 1785 im Kollegium von Debrecen als Wunderkind der Dichtkunst entdeckt; 1794 Streit mit den Professoren; 20. 6. 1795 Verweis vom Kollegium; 1795 Jurastudien in Sárospatak; 1796 Herausgabe der Zeitschrift Diétai Magyar Múzsa (Parlamentarische Ungarische Muse) in Pozsony/Pressburg; 1797 Liebesabenteuer mit Julianna Vajda, in den Gedichten „Lilla“ genannt; 1799 Hilfslehrer am reformierten Gymnasium in Csurgó; 1801 Besuch bei Ferenc Kazinczy; April 1804 Erkältung auf dem Weg zum Begräbnis von Gräfin Therese von Rhédey in Nagyvárad/Großwardein, stirbt an den Folgen einer schweren Lungenentzündung. József EÖTVÖS, Baron (13. September 1813 in Buda–2. Februar 1871 in Pest), Schriftsteller, Politiker. 1826–1831 Philosophie- und Jurastudium in Buda; 1831–1835 Notar im Komitat Fejér, 1833 Anwaltsprüfung; 1835/36 Beamter der Staatskanzlei; 1836/37 Richter in Eperjes (heute: Prešov, Slowakei); 1836/37 Reise durch Europa; 1835 korrespondierendes, 1839 ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1838 Mitglied, 1860 Präsident der Kisfaludy-Gesellschaft; 1840 Übersiedlung nach Pest; Teilnahme am Reichstag in Pozsony (Pressburg, heute: Bratislava, Slowakei) auf der Seite der Reformpartei; 1840 A karthausi (Der Karthäuser, Roman); 1845 A falu jegyzője (Der Dorfnotar, Roman); 1847 Magyarország 1514-ben (Aufstand der Kreuzfahrer, Roman); 1848 Kultusminister; 1848–1851 Emigration nach München; 1854 A XIX. század uralkodó eszméinek befolyása az álladalomra / Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat (Abhandlung); 1855 Vizepräsident, 1866 Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1859 Die Garantien der Macht und Einheit Österreichs (Abhandlung), Die Sonderstellung Ungarns vom Standpunkte der Einheit Deutschlands (Abhandlung); 1865 A nemzetiségi kérdés (Die Nationalitäten-Frage, Abhandlung); 1867 Kultusminister.
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Péter ESTERHÁZY (14. April 1950 in Budapest), Schriftsteller und Essayist. 1969–1974 Studium der Mathematik an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest; seit 1978 freiberuflicher Schriftsteller; 1979 erscheint Termelési-regény (Ein Produktionsroman); 1980 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD; 1986 Bevezetés a szépirodalomba (Einführung in die schöne Literatur); 1996/97 Stipendiat des Berliner Wissenschaftskollegs; seit 1997 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung; seit 1998 Mitglied der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg; 2000 Harmonia caelestis; 2001 Ungarischer Literaturpreis; 2002 Herder-Preis; 2004 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. István GYÖNGYÖSI (um 1629 in Rozsnyó/Rosenau/Rožňava, heute Slowakei– 24. Juli 1704 in Csetnek/Štitník, heute Slowakei), Dichter. Studiert in Sárospatak; 1656–1663 Militärdienst auf der Burg Fülek (Filakovo in der Slowakei); ab 1663 im Dienst des Palatins Ferenc Wesselényi als intimus secretarius. Er ist der bedeutendste Vertreter der familiären Dichtung in Ungarn, seine Werke waren sehr beliebt, hinterlässt auch zahlreiche ungedruckte poetische Werke. JANUS PANNONIUS, Dichtername (29. August 1434?–27. März 1472 in Medvedgrad, heute Kroatien), Humanist, Dichter. Studiert auf Kosten seines Onkels János Vitéz ab 1447 in Ferrara bei Guarino da Verona, in den Jahren 1454–1458 in Padua, wo er zum doctor juris promoviert wird. 1459–1472 Bischof von Pécs, wichtige diplomatische Dienste an der Kurie; enge Kontakte mit den Neoplatonisten in Florenz. In Italien schreibt er satirische und erotische Epigramme nach dem Muster von Martial, nach Ungarn zurückgekehrt vorwiegend Elegien. Während der Flucht wegen missbilligter Verschwörung stirbt er in Medvedgrad. Mór JÓKAI (eigtl. Móric Jókay, 18. Februar 1825 in Komárom–5. Mai 1905 in Budapest), Schriftsteller. 1841/42 Studium an der reformierten Hochschule zu Pápa, Freundschaft mit Sándor Petőfi; 1842–1844 Jurastudium in Kecskemét; 1844/45 Referendar in Kecskemét und Pest; 1846 Anwaltsprüfung; erster Roman: Hétköznapok (Wochentage); Gründung der Gruppe junger Schriftsteller ,Zehn‘ mit Petőfi; 1847 Redakteur des Journals Életképek; 1848 eine der leitenden Figuren der Märzrevolution, Beauftragter von Lajos Kossuth; Heirat mit der berühmten Schauspielerin Róza Laborfalvy; 1849 Redakteur der Zeitung der Friedenspartei Esti lapok in Debrecen; nach viermonatigem Verstecken Rückkehr nach Pest, 1850 Forradalmi és csataképek 1848–49-ből (Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849, Novellen); Egy bujdosó naplója (Tagebuch eines
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Flüchtlings, Novellen) beide unter dem Pseudonym Sajó; 1853/54 Egy magyar nábob (Ein ungarischer Nabob, Roman); 1854 Kárpáthy Zoltán (Z. K., Roman); 1854–1858 Mitarbeiter und Redakteur unterschiedlicher Zeitungen; 1858–1880 Hauptredakteur der humoristischen Zeitung Üstökös (Der Komet); 1858 korrespondierendes, 1861 ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1860 Mitglied der Kisfaludy-Gesellschaft; Szegény gazdagok (Die armen Reichen, Roman); 1861–1896 Abgeordneter; 1862–1864 Politikai divatok (Politische Moden, Roman); 1863 Az új földesúr (Der neue Gutsherr, Roman); 1863–1882 Chefredakteur der liberalen Zeitung A Hon (Das Vaterland); 1867–1879 Redakteur des politischen Volksblatts Igazmondó (Der Wahrsprechende); 1869 A kőszívű ember fiai (Die Baradlays, Roman); 1870 Fekete gyémántok (Schwarze Diamanten, Roman); 1872 Az arany ember (Der Goldmensch, Roman); 1872/73 Eppur si muove, És mégis mozog a föld! (Wir bewegen die Erde, Roman); 1872–1874 A jövő század regénye (Roman des künftigen Jahrhunderts, Roman); 1875 Enyim, tied, övé (Mein, dein, sein, Roman); 1877 Egy az Isten (Die nur einmal lieben, Roman); 1881 Akik kétszer halnak meg (Zweimal sterben, Roman); 1882–1899 Redakteur der politischen Zeitung Nemzet (Nation); 1885 A cigánybáró (Der Zigeunerbaron, Roman); 1887–1901 Redakteur der Buchserie Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild; 1893 Sárga rózsa (Gelbe Rose, Roman); 1894–1898 Jubiläumsausgabe seiner Werke in 100 Bdn.; 1897 Mitglied des Oberhauses. Träger der Hl. Stephan-Ordens (1876). Attila JÓZSEF (11. April 1905 in Budapest–3. Dezember 1937 in Balatonszárszó), Dichter und Essayist. Einflussreichster Vertreter der modernen ungarischsprachigen Lyrik mit einer kontinuierlichen Wirkung in der ungarischen Literatur. 1922 erster Gedichtband (A szépség koldusa, Bettler der Schönheit); zwischen 1914 und 1923 mehrere Selbstmordversuche; 1924 Beginn der Universitätsstudien in Szeged (ungarische und französische Philologie, Philosophie); 1925 Studien in Wien und Paris; 1926 Rückkehr nach Ungarn; 1927 Einschreibung und zwei Semester an der Philologischen Fakultät der Budapester Universität; 1929 in Nyugat scharfe Kritik von László Németh am dritten Gedichtband (Nincsen apám se anyám, Weder Vater noch Mutter habe ich); zwischen 1928 und 1934 Verbindungen zur Volkstümlerbzw. zur illegalen kommunistischen Bewegung; ab 1930 freiberuflicher Schriftsteller, gefördert von Baron Lajos Hatvany (1880–1961); 1932 fünfter Gedichtband (Külvárosi éj, Nacht am Stadtrand) mit zahlreichen, seitdem kanonisierten Gedichten; 1934 erscheint Medvetánc (Bärentanz), eine Auswahl neuer und alter Gedichte, und es entsteht sein wichtigstes Gedicht Eszmélet (Besinnung); 1936 Herausgeber der neuen literarischen Zeitschrift Szép Szó (Schönes Wort), psychotherapeutische Behandlungen; der letzte Gedichtband Nagyon fáj (Es schmerzt
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sehr); 1937 Bekanntschaft mit Thomas Mann in Budapest, neue erfolglose Behandlungen am Budapester Siesta-Sanatorium; ab November Aufenthalt in der Pension seiner Schwester in Balatonszárszó; am 3.12. Freitod am Bahnhof Balatonszárszó: Er wirft sich vor einen Güterzug. Lajos KASSÁK (21. März 1887 in Érsekújvár/Nové Zámky/Neuhäusel, heute Slowakei–27. Juli 1967 in Budapest), Dichter, Schriftsteller, Maler, Herausgeber, ein führender Vertreter der Avantgarde in Ungarn. Nach einem frühen Abbruch der Schule zuerst Schlosserlehrling in seiner Heimatstadt, dann ab 1904 Eisenarbeiter in Budapest; 1912 erster Novellenband; 1915 Gründung der Zeitschrift A Tett (Die Tat); zwischen 1916 und 1925 Herausgeber der Zeitschrift Ma (Heute; ab 1919 in Wien herausgegeben); 1919 Mitglied des Schriftstellervorstands der Räterepublik, nach deren Niederschlagung bis 1926 Exil in Wien; 1929 Hinwendung zur Arbeiterbewegung und Gründung der Zeitschrift Munka (Arbeit); nach der kommunistischen Machtergreifung 1949 innere Emigration unter Ausstellungs- und Publikationsverbot; seit den 1960er Jahren erlebt sein Werk immer wieder ein erneutes Interesse. József KATONA (11. November 1791 in Kecskemét–16. April 1830 in Kecskemét), Dramatiker, Dichter. 1807–1810 Jurastudium in Pest; 1811–1813 Laienkünstler in Pest; ab 3. 11. 1820 Vizestaatsanwalt in Kecskemét; ab 1. 11. 1826 Oberstaatsanwalt ebendort. Ferenc KAZINCZY (27. Oktober 1759 in Érsemlyén–23. August 1831 in Széphalom), Dichter, Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer. 1769–1777 Studien in Sárospatak; 1784 Freimaurer; 1794 Teilnahme an der Bewegung der ungarischen Jakobiner; 16. 5. 1795 Todesurteil; 29. 5. 1795 Begnadigung; 7. 10. 1795–20. 6. 1801 2.387 Tage im Gefängnis (Spielberg, Kufstein, Munkács); lebt ab 10. 6. 1806 in Széphalom, betreibt Landwirtschaft und organisiert das literarische Leben; 1816 Reisen in Siebenbürgen; ordnet 1820 das Archiv des Komitats Zemplén; 1830 Mitglied der Ungarischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (Akademie); stirbt 1831 an Cholera. Zsigmond KEMÉNY, Baron (12. Juni 1814 in Alvinc/Vinţu de Jos, heute Rumänien–22. Dezember 1875 in Pusztakamarás/Cămăraşu, heute Rumänien), Schriftsteller, Politiker. 1823–1834 Studium am Reformierten Kollegium zu Nagyenyed (Strassburg, heute Aiud, Rumänien) u. a. Philosophie und Jura; 1837 Anwaltsprüfung in Marosvásárhely (Neumarkt, heute Tărgu Mureş, Rumänien); 1839/40 Medizinstudium in Wien; 1842/43 Redakteur der liberalen Zeitung Erdélyi Híradó (Siebenbürgische
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Nachrichten) in Kolozsvár (Klausenburg, heute Cluj-Napoca, Rumänien); 1843 korrespondierendes Mitglied, 1847 Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1847 Gyulai Pál (P. Gy., Roman); 1843/44 Korteskedés és ellenszerei (Stimmenfang und seine Gegenmittel, Flugblatt); 1846 Übersiedlung nach Pest; 1848 Redakteur der liberalen Zeitung Pesti Hírlap (Pester Zeitung); 1849 Abgeordneter, Berater der Friedenspartei; 1850 Forradalom után (Nach der Revolution, Flugblatt); 1851 Még egy szó a forradalom után (Noch ein Wort nach der Revolution, Flugblatt); 1852 Férj és nő (Mann und Frau, Roman); 1853 Ködképek a kedély láthatárán (Nebelbilder am Horizont des Gemüts, Roman); 1854 Szerelem és hiúság (Liebe und Eitelkeit, Novellenzyklus), A szív örvényei (Wirbel des Herzens, Novellenzyklus); 1855/56, 1857–1859, 1860–1869: Redakteur des Organs der Ausgleichspolitik Pesti Napló (Pester Journal); 1855–1857 Özvegy és leánya (Die Witwe und ihre Tochter, Roman); 1858/59 A rajongók (Die Schwärmer, Roman); 1862 Zord idő (Raue Zeiten, Roman); 1865–1873 Abgeordneter; 1867–1873 Vorsitzender der Kisfaludy-Gesellschaft; 1873 Rückzug nach Pusztakamarás. Imre KERTÉSZ (9. November 1929 in Budapest), Schriftsteller, Essayist und Übersetzer. 1944 nach Auschwitz deportiert; 1945 in Buchenwald befreit; 1948 Abitur, Journalist, bis er 1951 von der kommunistischen Leitung entlassen wurde; seit 1953 Verfasser von Libretti und Übersetzer deutscher literarischer und philosophischer Klassiker; 1963–1973 Arbeit an Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen); 1975 erscheint Sorstalanság; 1988 A kudarc (Fiasko); Ende der 1980er Jahre große Anerkennung in Ungarn und international; 1990 Kaddis a meg nem született gyermekért (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind); 1995 Brandenburgischer Literaturpreis; 2000 Herder-Preis; 2002 Nobel-Preis. Károly KISFALUDY (5. Februar 1788 in Tét–21. November 1830 in Pest), Dramatiker, Dichter, Maler, Redaktor. 1799 Gymnasium des Benediktinerordens in Győr / Raab; 1804–1811 Soldat in der Armee des Österreichischen Kaisertums; 1812–1816 Lehre der bildenden Kunst in Wien; 1815 Reise in Italien; 1819 Riesenerfolg seines Schauspiels Die Tartaren in Ungarn in Pest; 1821–1830 Herausgeber des Almanachs Aurora in Pest. Sándor KISFALUDY (27. September 1772 in Sümeg–28. Oktober 1844 in Sümeg), Dichter, Dramatiker. 1788 Studium in Pozsony/Pressburg; 1792–1976 Leibgardist in Wien; 1796 Kriegsgefangenschaft in Draguignan (Frankreich); 1800 Heirat mit Róza Szegedy; 1810 patriotische Dramen; 1830 Mitglied der Ungarischen Wissenschaftlichen
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Gesellschaft (Akademie); 1831 Organisator und Leiter des Theaters in Balatonfüred; 1833 verteilter Preis der Ungarischen Wissenschaftlichen Gesellschaft; 1835 Verzicht auf der Mitgliedschaft der Gesellschaft; 14. 9. 1835 Ehrenmitglied der Gesellschaft. Dezső KOSZTOLÁNYI (29. März 1885 in Szabadka/Subotica, heute Serbien– 3. November 1936 in Budapest), Dichter, Schriftsteller, Journalist und Übersetzer. 1901 erstes veröffentlichtes Gedicht in der Tageszeitung Budapesti Napló; 1903/04 Studium der Germanistik und der ungarischen Sprach- und Literaturwissenschaft in Budapest; 1904 philosophisches Studium in Wien; 1908 leitender Mitarbeiter der Zeitschrift Nyugat; 1924 Pacsirta (Lerche); 1931 erster Präsident des ungarischen P.E.N.-Clubs. András Ferenc KOVÁCS (17. Juli 1959 in Szatmárnémeti, heute Satu Mare, Rumänien), Lyriker und Übersetzer. 1980–1984 Studium der Hungarologie und Romanistik an der Babes-Bolyai Universität von Kolozsvár/Cluj; seit 1982 Gedichtpublikationen (teilweise unter den Pseudonymen fiktiver Dichter wie z. B. Jack Cole oder Sándor Lázáry René) und Übersetzungen aus dem Rumänischen und Französischen; 1983 erster Gedichtband Tengerész Henrik intelmei (Paränesen des Seemanns Henrik); 1984– 1991 Lehrer; lebt seit 1990 in Marosvásárhely/Tărgu Mureş; seit 1990 Redakteur, seit 2008 Chefredakteur der Zeitschrift Látó; 1993 wird der erste in Ungarn publizierte Gedichtband Költözködés (Umzug) zum beachtlichen Erfolg; 2000 erscheint der wichtige Band Kompletórium (Komplementorium) mit ausgewählten Gedichten von 1977 bis 1999; 2006 Nachdichtungen von Kavafis unter dem Titel Hazatérés Hellászból (Rückkehr aus Hellas); 2010 Kossuth-Preis. Ferenc KÖLCSEY (8. August 1790 in Sződemeter/Săuca, heute Rumänien– 24. August 1838 in Cseke, heute Szatmárcseke), Dichter, Politiker, Essayist. Als Kind verwaist, linkes Auge durch Pocken früh verloren, 1796–1809 Studium im Reformierten Kollegium zu Debrecen; 1808 Bekanntschaft mit Ferenc Kazinczy, der Zentralfigur der ungarischen Klassik; 1810 Referendar in Pest, Bekanntschaft mit den jungen Literaten; 1812–1815 Landwirt in Álmosd; 1815 Übersiedlung nach Cseke; Felelet a Mondolatra (Antwort auf ‚Mondolat‘ mit Pál Szemere); 1817 Bruch mit Kazinczy; 1826–1829 Redakteur der Zeitschrift Élet és Literatura (Leben und Literatur, ab 1827 Muzárion); 1829 Vizenotar; 1830 Mitglied der ungarischen Gelehrtengesellschaft (wissenschaftliche Akademie); 1832 Obernotar; Kölcsey Ferenc Munkái I., Versek (F.K.’s Werke. Bd. I, Gedichte), 1832–1835 Abgeordneter des Komitats Szatmár, Hauptredner der Reformpartei im Reichstag; 1835 Rücktritt wegen Auseinandersetzung mit dem konservativen Adel von Szatmár.
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Gyula KRÚDY (21. Oktober 1878 in Nyíregyháza–12. Mai 1933 in Budapest), Schriftsteller, Essayist, Journalist. Erste Publikation als Gymnasiast; ab 1895 Journalist auf dem Land, ab 1896 in Budapest; 1914 Mitglied der Petőfi-Gesellschaft; 1930 Boldogult úrfikoromban (Meinerzeit); 1930 Baumgarten-Preis; vielfältige publizistische Tätigkeit; Mitarbeiter der Zeitschrift Nyugat; zahlreiche Novellenbände, Romane. Imre MADÁCH (21. Januar 1823 in Alsó-Sztregova/Dolná Strehová, heute Slowakei–5. Oktober 1864 in Alsó-Sztregova/Dolná Strehová, heute Slowakei), Dichter, Politiker. 1837–1840 Philosophie- und Jura-Studium in Pest, Anfang der literarischen Tätigkeit: Gedichte, 5 Dramen; Publizistik unter dem Pseudonym Timon; 1840 Lantvirágok (Lautenblumen, Gedichte); 1840–1842 Referendar in Alsó-Sztregova und Balassagyarmat; Anwaltsprüfung ebd.; 1842–1849 Vizenotar, Tafelrichter, Generalkommissar des Komitats Nógrád; 1845 Heirat mit Erzsébet Fráter; 1852/53 wegen der Beherbergung des Sekretärs von Lajos Kossuth inhaftiert; 1854 Ehescheidung, Rückzug nach Alsó-Sztregova; 1859 Rückkehr zur literarischen Tätigkeit (Bearbeitung der frühen Stücke; 4 neue Dramen, davon 1 Fragment; Gedichte, Abhandlungen); 1861 Abgeordneter; 1861 [1862] Az ember tragédiája (Die Tragödie des Menschen, dramatisches Gedicht); 1862 Mitglied der KisfaludyGesellschaft; 1863 korrespondierendes Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Sándor MÁRAI ([Sándor K. H. Grosschmid 11. April 1900 in Kassa/Kaschau/ Košice, heute Slowakei–22. Februar 1989 in San Diego, USA), Schriftsteller, Dramatiker, Lyriker, einer der bedeutendsten Klassiker der modernen ungarischsprachigen Prosa. 1919 Studium der Journalistik am Institut für Zeitungskunde Leipzig, Fortsetzung der Studien in Frankfurt/M. und Berlin; zahlreiche Artikel (Feuilletons) in der Frankfurter Zeitung; ab 1923 in Paris, Korrespondent der Frankfurter Zeitung und des Prager Tageblattes; Reise durch den Nahen Osten; 1928 Rückkehr nach Ungarn; 1934 erscheint sein Hauptwerk Egy polgár vallomásai (Bekenntnisse eines Bürgers); von da an einer der erfolgreichsten Schriftsteller Ungarns; 1948 Exil in Italien, Neapel/Posillipo; 1955–1967 Mitarbeiter des Radio Free Europe mit eigener Reihe (Sunday Talk); 1957 Übersiedlung in die Vereinigten Staaten; ab 1957 amerikanischer Staatsbürger; 1967–1980 längerer Aufenthalt in Salerno (Italien), 1972 erscheint Föld, föld! (Land, Land) beim Vörösváry-Weller Verlag in Toronto; 1980 endgültige Übersiedlung nach San Diego (Kalifornien); 1988 Ablehnung der Wiederveröffentlichung seiner Werke in Ungarn („solange sich sowjetische Truppen in Ungarn aufhalten“); 1989 Freitod: Nachdem er Polizei
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und Rettungsdienst telefonisch verständigt, erschießt er sich in der eigenen Wohnung. Miklós MÉSZÖLY (19. Januar 1921 in Szekszárd–22. Juli 2001 in Budapest), Schriftsteller, Essayist und Dramatiker. 1942 Studienabschluss an der juristischen Fakultät in Budapest; 1943/44 Soldat; 1947–1951 Herausgebertätigkeit in Szekszárd; 1951/52 Dramaturg am Budapester Marionettentheater, später freiberuflicher Schriftsteller; 1966 Az atléta halála (Der Tod des Athleten); 1968 Saulus (Saul); 1984 Megbocsátás (Vergebung); 1990 Kossuth-Preis; 1992 Gründungsmitglied und Präsident der Széchenyi-Akademie für Literatur und Kunst (SZIMA). Kálmán MIKSZÁTH (16. Januar 1847 in Szklabonya/Sklabina heute Slowakei– 28. Mai 1910 in Budapest), Schriftsteller, Publizist. Jurastudium in Győr und Pest; ab 1871 Beamter in Balassagyarmat; 1873 siedelt er nach Budapest über; 1878 Mitarbeiter der oppositionellen Zeitung Szegedi Napló (Szegedener Journal); für Pesti Hírlap (Pester Journal) schreibt er in diesen Jahren seine berühmten Parlaments-Skizzen; 1878 Mitglied der Petőfi-, 1882 der Kisfaludy-Gesellschaft; 1887 Parlamentarier der Regierungspartei; 1905 Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; großen Erfolg erzielt er mit den Novellenbänden A tót atyafiak (1881, Slowakische Landsleute), A jó palócok (1882, Die guten Hochländer); 1895 Szent Péter esernyője (Sankt Peters Regenschirm, Roman), einer der größten Welterfolge der ungarischen Literatur des 19. Jahrhunderts; weitere wichtige Romane: A beszélő köntös (1889, Der sprechende Kaftan), Beszterce ostroma (1894, Der Graf und die Zirkusreiterin), A gavallérok (1897, Die Kavaliere), A Noszty-fiú esete Tóth Marival (1908, Die Geschichte des Jungen Noszty mit der Mari Tóth), A fekete város (1910, Die schwarze Stadt), diese Werke werden in zahlreiche Sprachen übersetzt; sein Lebenswerk entwickelt die romantische und anekdotische Erzählkunst nach den Formen der modernen Epik weiter, ergänzt durch stark ironische, zuweilen groteske oder tragikomische Stilelemente. Ferenc MOLNÁR ([F. Neumann] 12. Januar 1878 in Budapest–1. April 1952 in New York), Schriftsteller und Dramatiker. 1895 Jurastudium in Genf; ab 1896 Journalist, Übersetzer und Schriftsteller in Budapest; 1907 für die Bühne (auch international) entdeckt; 1937 letztes Mal in Budapest; 1940 Flucht aus Europa, Emigration nach New York.
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Zsigmond MÓRICZ (29. Juni 1879 Tiszacsécse–5. September 1942 in Budapest), Schriftsteller und Journalist. Theologie- und Jurastudium (abgebrochen) in Debrecen und Budapest; 1909 erster Erfolg mit der Erzählung Hét krajcár (Sieben Kreuzer); 1911 Az Isten háta mögött (Herr Bovary); 1929–1933 Mitherausgeber der Zeitschrift Nyugat; 1939 Herausgeber der Zeitschrift Kelet Népe (Volk des Ostens). Péter NÁDAS (14. Oktober 1942 in Budapest), Schriftsteller, Essayist und Dramatiker. 1961–1963 Ausbildung zum Journalisten und Fotoreporter; 1965–1969 Jounalist bei einer Lokalzeitung, später freiberuflicher Schriftsteller; 1977 Egy családregény vége (Ende eines Familienromans); 1981/82 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD; 1986 Emlékiratok könyve (Buch der Erinnerung); 1991 Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur; 1992 Kossuth-Preis; 1993 Mitglied der Széchenyi-Akademie für Literatur und Kunst; 1996 Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung; 2003 Franz-Kafka-Preis; 2005 Párhuzamos történetek (Parallelgeschichten); seit 2006 Mitglied der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. László NÉMETH (18. April 1901 in Nagybánya/Baia Mare, heute Rumänien–3. März 1975 in Budapest), Schriftsteller, Dramatiker, Essayist, eine der wirkungsstärksten Persönlichkeiten der literarischen Öffentlichkeit in den 1930/40er Jahren. 1920 nach zwei philologischen Semestern Studium der Medizin an der Budapester Universität; 1926 als Zahnarzt und bald auch als Schularzt tätig sowie Publikation seiner ersten und zugleich preisgekrönten Novelle (Horváthné meghal, Frau Horváth stirbt) in Nyugat; 1935 erscheint sein erster ‚Frauenroman‘, Gyász (Trauer); 1932–1936 nach dem Muster von Ortegas El Espectador Herausgabe der Zeitschrift Tanú (Zeuge), deren Artikel ausschließlich er selbst verfasste; 1934/35 Leiter der literarischen Abteilung des Ungarischen Rundfunks; ab 1935/36 Ausarbeitung der utopischen Reformideologie des ‚Dritten Weges‘ zwischen Kapitalismus und Sozialismus; 1939–1942 Mitarbeiter von Zsigmond Móricz bei Kelet Népe (Volk des Ostens), 1947 erscheint sein Hauptwerk Iszony (Abscheu); 1948– 1956 Publikationsverbot mit Ausnahme von literarischen Übersetzungen; 1957 Kossuth-Preis und Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit; 1965 Herder-Preis, ab 1969 Herausgabe seiner – bis 1989 zensierten – Werkausgabe. Imre ORAVECZ (15. Februar 1943 in Szajla), Lyriker, Schriftsteller und Übersetzer. 1962–1967 Studium von Hungarologie und Germanistik an der Universität Debrecen; findet zunächst aus politischen Gründen keine feste Anstellung im kulturellen Bereich, arbeitet als Übersetzer, Film- und Theaterkritiker, Sprachlehrer, Redakteur; 1969 Debüt als Lyriker in der Anthologie Költők egymás közt (Dichter
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unter sich), wo seine Gedichte von Sándor Weöres vorgestellt werden; 1972 erster Gedichtband Héj (Schale); mehrere Emigrationsversuche in die USA und Westberlin in den 1970er und 1980er Jahren; 1984–1994 Mitarbeiter der Zeitschrift Élet és Irodalom; 1985 Gastdozent in Kalifornien; 1988 Stipendiat in Berlin; Veröffentlichung des Prosagedichtbandes 1972. szeptember; 1990 Berater des ungarischen Ministerpräsidenten; lehrt seit 1995 Germanistik an verschiedenen ungarischen Universitäten; 1998 erscheint der autobiographische Gedichtband Halászóember (Der Fischende); 2007 der erste Roman Ondrok gödre (Die Grube Ondrok); 2003 Kossuth-Preis. Géza OTTLIK (9. Mai 1912 in Budapest–9. Oktober 1990 in Budapest), Schriftsteller und Übersetzer. 1923–1929 Militärschule in Kőszeg und in Budapest; 1931–1935 Studium der Mathematik und Physik an der Pázmány-Universität in Budapest; 1939 wird seine erste Novelle in der Zeitschrift Nyugat publiziert; 1948–1957 wird er aus dem literarischen Leben verdrängt; 1959 erscheint Iskola a határon (Die Schule an der Grenze); Übersetzer englischer literarischer Klassiker und Bridge-Fachmann; 1985 Kossuth-Preis. István ÖRKÉNY (5. April 1912 in Budapest–24. Juni 1979 in Budapest), Schriftsteller und Dramatiker. 1930–1934 Studium der Pharmazie und Chemie; ab 1934 literarische Tätigkeit; 1942/43 Frontdienst in einem Arbeitsbataillon (vier Jahre Kriegsgefangenschaft); 1947–1956 Dramaturg, Lektor, Drehbuchautor; ab 1956 für mehrere Jahre Publikationsverbot; 1966/67 literarisch-theatralischer Durchbruch; 1973 Kossuth-Preis. Péter PÁZMÁNY (4. Oktober 1570 in Várad/Wardein/Oradea, heute Rumänien– 19. März 1637 in Pozsony/Pressburg/Bratislava, heute Slowakei), Erzbischof von Esztergom/Gran, führender Theoretiker der katholischen Erneuerung in Ungarn. Ab 1585 besucht er das Jesuitengymnasium in Kolozsvár/Klausenburg/ClujNapoca; 1587 Eintritt in den Orden; 1593–1597 Studium der Theologie am Collegium Romanum, lernt dort Roberto Bellarmino kennen; 1596 Priesterweihe und Tätigkeit in Graz, ab 1598 als Professor der Philosophie; 1601–1603 kurze Zeit in Ungarn, polemisiert mit den Werken protestantischer Autoren; ab 1603 wieder in Graz, veröffentlicht 1606 sein Imádságos könyv (Gebetbuch); 1609 das polemische Werk Öt szép levél (Fünf schöne Briefe); 1613 sein Hauptwerk Isteni igazságra vezérlő kalauz (Wegweiser zur göttlichen Wahrheit); ab 1616 Erzbischof von Esztergom/ Gran; 1624 Übersetzung von Thomas von Kempen (De imatatione Christi); 1635 Gründung der katholische Universität in Nagyszombat/Tyrnau/Trnava); 1636 Predigtsammlung (über 1.000 Seiten).
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Sándor PETŐFI ([S. Petrovics] 1. Januar 1823 in Kiskőrös–31. Juli 1849 in Fehéregyháza/Weisskirchen/Albeşti, heute Rumänien), Dichter. 1828–1839 Besuch der evangelisch-lutherischen Grundschule zu Kecskemét, der evangelisch-lutherischen Gymnasien/Lyzeen zu Sárszentlőrinc, Pest, Aszód, Selmecbánya (Schemnitz, heute Banská Štiavnica, Slowakei) bzw. des piarischen Lyzeums zu Pest; 1839 Statist im Theater des Komitats Pest; Hauserzieher in Ostffyasszonyfa; 1839–1841 freiwilliger Militärdienst in Sopron (Ödenburg), Graz, Zagreb, Karlovac (Karlstadt, Kroatien); 1841 aus gesundheitlichen Gründen demobilisiert; 1841/42 Studium im Reformierten Kollegium zu Pápa; 1842 erste Publikation (A borozó, Der Weintrinker) im Athenaeum, 1842/43 Schauspieler in Székesfehévár und Kecskemét, 1843/44 Wanderschauspieler in Debrecen und im Ér-Gebiet; 1844 Ansiedlung in Pest; A helység kalapácsa (Der Dorfhammer, komisches Epos), Versek (Gedichte); 1844/45 Hilfsredakteur der Modezeitung Pesti Divatlap; 1845 János vitéz (Held János, Verserzählung), Cipruslombok Etelke sírjáról (Zypressenlaub von Etelkes Grab, Gedichte), Szerelem gyöngyei (Perlen der Liebe, Gedichte); 1846 Gründung der Gruppe junger Schriftsteller ‚Zehn‘ mit Mór Jókai; Felhők (Wolken, Gedichte), A hóhér kötele (Der Strang des Henkers, Roman); 1847 Tigris és hiéna (Tiger und Hyäne, Drama); Összes Költeményei (Sämtliche Gedichte), Freundschaft mit János Arany, Heirat mit Júlia Szendrey; 1848 Összes Költeményei 1842–1846 (Sämtliche Gedichte 1842–1846) in 2 Bdn., 1.–2. Aufl.; eine der leitenden Figuren der Märzrevolution; Nationalgardist; Juni 1848 Wahlkandidatur in Szabadszállás gewaltsam verhindert; Oktober 1848 zum Hauptmann, 1849 zum Major ernannt, Teilnahme an den Kämpfen des Freiheitskampfes als Adjutant des Oberbefehlhabers Józef Bem. In der Schlacht bei Segesvár (Schässburg, heute Sighişoara, Rumänien) verschwunden. György PETRI (22. Dezember 1943 in Budapest–16. Juli 2000 in Budapest), Lyriker und Übersetzer. 1962–1966 nach frühen Publikationen und Abitur Hilfskraft an verschiedenen Stellen; 1966 einige Semester Studium der Hungarologie und Philosophie an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, Kontakte zur Georg Lukács-Schule; 1968–1974 Gelegenheitsjobs; 1971 erster Gedichtband Magyarázatok M. számára (Erklärungen für M.); 1974 Körülírt zuhanás (Umschriebener Absturz); ab 1974 freier Schriftsteller und Übersetzer; 1975–1988 Publikationsverbot wegen seiner Rolle in der demokratischen Oppositionsbewegung, Samisdat-Veröffentlichungen; 1981 erscheint der Gedichtband Örökhétfő (Ewiger Montag) als SamisdatAusgabe; 1981–1985 Mitherausgeber der damals illegalen Zeitschrift Beszélő; seit 1986 erscheinen drei deutschsprachige Gedichtbände in der Übersetzung von Hans-Henning Paetzke (Zur Hoffnung verkommen, 1986; Schöner und unerbitt-
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licher Mummenschanz, 1989; Vorbei das Abwägen, vorbei die Abstufungen, 1995); 1989–2000 Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift Holmi; mehrere Werkausgaben; 1997 Kossuth-Preis. János RIMAY (um 1570–Dezember 1631 in Divény/Divín, heute Slowakei), Dichter, Nachfolger von Balassi und Begründer seines literarischen Kultes. Mit ihm erstarkt die Hofkritik in Ungarn und wird gleichzeitig die stoische Lebenshaltung aufgewertet; eifriger Anhänger von Justus Lipsius; 1596 lässt er Trauergedichte über den Heldentod der Gebrüder Balassi veröffentlichen und plant, die poetischen Werke seines Vorbildes in einem Band zu sammeln; die meisten seiner Gedichte werden mit moralphilosophischen Ausführungen in Prosaform versehen; mit dieser Form versucht er die Gattung der meditativ-philosophischen Dichtung in ungarischer Sprache zu entwickeln. György SPIRÓ (4. April 1946 in Budapest), Schriftsteller, Dramatiker, Dichter, Übersetzer. 1965–1970 Studium der ungarischen, russischen und kroatischen Literaturund Sprachwissenschaft an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest; ab 1974 literarische Tätigkeit; 1987–1995 tätig als Dramaturg im Csiky Gergely Theater in Kaposvár und als Direktor im Szigligeti Theater in Szolnok; 2006 Kossuth-Preis. Lőrinc SZABÓ (31. März 1900 in Miskolc–3. Oktober 1957 in Budapest), Dichter, Übersetzer; herausragender Vertreter der spätmodernen ungarischsprachigen Lyrik. 1918–1922 Studium an der Budapester Universität (Ungarische Philologie, Germanistik, Latein); 1920 erste Gedichte mit Babits’ Unterstützung in Nyugat; 1921–1926 Mitarbeiter mit diversen journalistischen Aufgaben bei der Zeitung Az Est (Der Abend); 1927 Gründung und Herausgabe der kurzlebigen literarischen Zeitschrift Pandora; 1928–1945 erneut als Journalist bei Zeitungen des liberalen Est-Konzerns (Pesti Napló, Pester Journal, Magyarország, Ungarn); 1932 erscheint sein wichtigster Gedichtband Te meg a Világ (Du und die Welt) mit zahlreichen, erst später kanonisierten Gedichten; 1944 Wehrdienst; nach Kriegsende kurz verhaftet, verhört und polizeilich überwacht, dann zwar rehabilitiert, jedoch an den Rand des literarischen Lebens gedrängt; 1946–1949 Mitarbeiter bei der Zeitschrift Válasz (Antwort); 1947 heftige und folgenschwere marxistische Kritik am neuen Gedichtzyklus Tücsökzene (Grillenmusik); jahrelanges Publikationsverbot, literarische Übersetzungen; 1957 Kossuth-Preis; ab 1957 günstige und aufmerksame Rezeption der letzten Gedichte (A huszonhatodik év, Das sechsundzwanzigste Jahr); seit Anfang der 1990er Jahre deutliche literaturwissenschaftliche Aufwertung seines gesamten lyrischen Werkes.
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Albert SZENCI MOLNÁR (30. August 1574 in Szenc/Senec, heute Slowakei– 17. Januar 1634 in Kolozsvár/Klausenburg/Cluj-Napoca, heute Rumänien), Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, Verbreiter der konfessionellen und wissenschaftlichen Forderungen der reformierten Kirche. Er studiert zunächst bei dem Bibelübersetzer Gáspár Károlyi in Gönc, in Ausland dann in Wittenberg, Heidelberg, Straßburg. Er ist bestrebt, die ungarische Bildung mit dem europäischen Wissensstand in Übereinstimmung zu bringen. 1604 erscheint sein ungarisch-lateinisches und lateinisch-ungarisches Wörterbuch, 1607 das Psalterium Ungaricum, im Jubiläumsjahr der Reformation veröffentlicht er Übersetzungen, 1624 Calvins Hauptwerk, die Institutio, auf Ungarisch. Am Ende seines Lebens hat er zunehmendes Interesse für die Verinnerlichung des Glaubens. Dezső TANDORI (8. Dezember 1938 in Budapest), Lyriker, Schriftsteller, Übersetzer und Essayist. 1957–1962 Studium von Hungarologie und Germanistik an der Eötvös-LorándUniversität Budapest; gehört zum Freundeskreis der Újhold-Autoren um seine ehemalige Literaturlehrerin Ágnes Nemes Nagy; 1968 erster Gedichtband Töredék Hamletnek; seit 1971 freiberuflicher Schriftsteller und Übersetzer von Lyrik, Prosa sowie ästhetischer Schriften hauptsächlich aus dem Deutschen; 1973 erscheint der zweite Gedichtband Egy talált tárgy megtisztítása (Die Reinigung eines Fundstücks), der als ein Hauptwerk der ungarischen Neoavantgarde gilt; das literarische Werk umfasst zur Zeit mehr als 100, das übersetzerische Schaffen etwa 200 Bände; in den 1990ern erscheinen drei deutschsprachige Ausgaben von Dichtung und Prosatexte (Stafette, Startlampe ohne Bahn, beide 1994, Christine Rácz; Langer Sarg in aller Kürze, 1997, Hans-Henning Paetzke); seit 1994 Mitglied der Literatur- und Kunstakademie Széchenyi; 1998 Kossuth-Preis. János VAJDA (7. Mai 1827 in Pest–17. Januar 1897 in Budapest), Dichter, Journalist. Erste zehn Lebensjahre in Vál als Sohn eines Försters; Besuch des Gymnasiums in Székesfehérvár und Pest; 1845/46 Wanderschauspieler, 1846/47 Praktikant für Landwirtschaft in Alcsút; 1847/48 Beamter in Pest, Bekanntschaft mit den jungen Schriftstellern; 1848 eine der leitenden Figuren der Märzrevolution; Nationalgardist; Teilnahme als Leutnant an den Kämpfen des Freiheitskampfes; 1849 als Strafe in die kaiserliche Armee eingezogen; Militärdienst in der Steiermark, Krain, Padua; 1850–1853 Beamter des österreichischen Katasteramtes in Pest; hoffnungslose Liebe zu Georgina Kratochwill („Gina“); 1855 Béla királyfi (Königssohn B., Verserzählung); 1855–1857 Mitarbeiter der politischen Zeitung Magyar Sajtó (Ungarische Presse); 1856 Költemények (Gedichte), Ildikó (Tragödie); 1857–1863 Redakteur des Damenblatts Nővilág (Damenwelt); 1860 Vész-
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hangok (Schreckensstimmen, Gedichte); 1861/62 Redakteur der politischen Zeitung Csatár (Der Stürmer); 1863 Redakteur der Magyar Sajtó; 1862 Önbírálat (Selbstkritik, Flugblatt), Polgárosodás (Verbürgerlichung, Flugblatt), beide unter dem Pseudonym Aristides; 1863–1866 Beamter des Pressebüros der Staatskanzlei in Wien; 1870–1895 Mitarbeiter der Zeitung Vasárnapi Ujság (Sonntagsblatt); 1869 Abgeordneter des Komitats Baranya; Egy honvéd naplójából (Aus dem Tagebuch eines Honveds), 1870 Mitglied der Kisfaludy-Gesellschaft; 1872 Kisebb költemények (Kleinere Gedichte); 1875 Alfréd regénye (Roman des A., Versroman); 1876 Újabb költemények (Neuere Gedichte); 1877 Találkozások (Begegnungen, Versroman); 1881 Elbeszélések (Erzählungen, unter dem Pseudonym Béla Homonnai); 1882 Összes Költeményei (Sämtliche Gedichte) in 2 Bdn., 1886/87 Költeményei (Gedichte), 2 Bde.; 1893 Költemények 1887–93 (Gedichte 1887–1893). Mihály VÖRÖSMARTY (1. Dezember 1800 in Pusztanyék [heute: Kápolnásnyék]– 19. November 1855 in Pest), Dichter, Dramatiker. 1811–1817 Besuch der Grundschule der Zisterzienser in Székesfehérvár bzw. der Piaristen in Pest; 1817–1820 Philosophiestudium in Pest; 1820–1824 Jurastudium in Pest, teilweise als Privatstudium in Börzsöny; gleichzeitig Hauserzieher bei der Familie Perczel; 1822/23 Referendar in Görbő; 1824 Anwaltsprüfung in Pest; Mitglied des Aurora-Kreises; 1825 Zalán futása (Zalans Flucht, Epos); 1827 Salamon király (König Salomon, Trauerspiel); 1828–1832 Redakteur der Zeitschrift Tudományos Gyűjtemény (Wissenschaftliche Sammlung); 1830 Mitglied der ungarischen Gelehrtengesellschaft (wissenschaftliche Akademie); 1830 Csongor és Tünde (Cs. und T., Trauerspiel); 1833 Munkái (Werke), 3 Bde.; 1834 Vérnász (Bluthochzeit, Trauerspiel); 1837 Zur Eröffnung des Pester Theaters (ab 1840: Nationaltheater) wird sein Theaterstück Árpád ébredése (Árpáds Erwachen) aufgeführt; Gründung der Kisfaludy-Gesellschaft; 1837–1843 Redakteur der Zeitschrift Athenaeum; 1838 Marót bán (Banus Marót, Trauerspiel); 1840 Újabb munkái (Neuere Werke), 4 Bde.; 1843 Heirat mit Laura Csajághy; 1845 Tafelrichter des Komitats Zala; 1845 Czillei és a Hunyadiak (Cilli und die Hunyadis, historisches Drama); 1845–1847 Minden Munkái (Sämtliche Werke) in 10 Bdn.; 1848 Abgeordneter; 1849 Richter des Gerichts höherer Instanz; 1849/50 Flucht vor den österreichischen Behörden; 1850 Begnadigung; Rückzug nach Csep/ Baracska bzw. Pusztanyék; 1855 Reise zur ärztlichen Behandlung nach Pest. Miklós ZRÍNYI (1. Mai 1620 in Ozaly, heute Kroatien–18. November 1664 in Csáktornya/Čakovec, heute Kroatien), Dichter, Schriftsteller, Staatsmann, Heerführer. 1637 unternimmt er eine Studienreise in Italien, 1547 wird er zum Ban von Kroatien ernannt; 1645–1648 verfasst er sein dichterisches Hauptwerk, das Epos
Biogramme
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Obsidio Szigetiana. Jener Band, der auch das Epos enthält, erscheint 1651 in Wien unter dem Titel Adriai tengernek Syrenája Gróf Zrínyi Miklós (Sirene des adriatischen Meeres Graf Miklós Zrínyi). Danach beschäftigt er sich mit geschichtsphilosophischen und militärpolitischen Abhandlungen. 1664 kämpft er erfolgreich mit der Unterstützung von Truppen der Rheinischen Allianz gegen die Türken, ihr Sieg verhindert den Vormarsch der Türken nach Österreich und führt unmittelbar zu Frieden. Dieser Frieden am 10. 8. 1664 wird mit unvorteilhaften Bedingungen geschlossen; Zrínyi, der diesen Frieden ablehnt, stirbt an den Folgen einer Jagdverletzung. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt.
Zeittafel 1083 Der erste ungarische König, István I. (reg. 1001–1038), dessen Sohn Imre und der Bischof von Csanád, Gellért, werden heiliggesprochen. Ende des 12. Jahrhunderts Gesta Hungarorum von einem unbekannten Verfasser (Anonymus), erst 1747 veröffentlicht; Grabrede, die älteste erhaltene, auf Ungarisch geschriebene Handschrift in einem lateinsprachigen Sakramentarium, erst 1771 veröffentlicht. Ende des 13. Jahrhunderts Gesta Hungarorum von Simon Kézai, über die gleiche Abstammung der Hunnen und der Ungarn, frühe Gleichsetzung der Schicksale der beiden auserwählten Völker Israel und Ungarn, erst 1781 veröffentlicht; Ómagyar Mária-siralom (Altungarische Marienklage), das erste ungarischsprachige Gedicht in einem Kodex der Dominikaner. 1387–1437 König Zsigmond (Sigismund von Luxemburg), ab 1433 deutsch-römischer Kaiser; Pietro Paolo Vergerio in Buda, Beginn des Humanismus in Ungarn. 1458–1490 König Matthias (Corvinus); János Vitéz, Janus Pannonius, italienische Humanisten am Hofe des Königs, Offizin in Buda (Andreas Hess), Bibiotheca Corviniana, Entfaltung des Humanismus in Ungarn. 1514 Bauernaufstand, blutige Niederschlagung. 1526 29. August: Schlacht bei Mohács, schwere Niederlage der Türken; die Türken in Buda, doppelte Königswahl in Ungarn: am 10. November wird János Szapolyai, am 17. Dezember Ferdinand, Erzherzog von Österreich, zum ungarischen König gewählt. Erste Hälfte des 16. Jahrhunderts Grammatik, Übersetzungen, Tierfabel (Benedek Komjáti, Gábor Pesti). 1541 Die erste vollständige Übersetzung des Neuen Testaments (János Sylvester); Fall von Buda, Dreiteilung des Landes.
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1550 Erster dramatische Text auf Ungarisch von Mihály Sztárai: A papok házasságáról szerzett igen jeles komédia (Besonders bedeutende Komödie von der Heirat der Priester). Zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts Verbreitung der Reformation in allen Teilen des Landes; Antitrinitarismus in Siebenbürgen. 1554–1594 Bálint Balassi. 1591 (1593)–1606 Sogenannter fünfzehnjähriger (langer) Türkenkrieg. 1604–1606 Bocskai-Aufstand im türkischen Bündnis gegen den Wiener Hof. 1606 23. Juni: Frieden in Wien zwischen Rudolf I. und Bocskai; 11. November: Friedensschluss mit den Türken für 20 Jahre. 1607 Psalterium Ungaricum, erste vollständige Psalmenübersetzung in ungarischer Sprache. 1617 Jubiläumsjahr der Reformation. 1635 Die erste ständige Universität in Ungarn, gegründet von Péter Pázmány. 1651 Adriai tengernek Syrenája Gróf Zrínyi Miklós erscheint in Wien. 1571 Aufstand in Ungarn und Kroatien gegen die gegenreformatorischen Maßnahmen von Kaiser Leopold I.; die verantwortlichen Führer (Ferenc Nádasdy, Ferenc Frangepán und Péter Zrínyi) werden verhaftet und am 30. April enthauptet. 1683 Zweite Türkenbelagerung Wiens, am 13. September zieht König Johann Sobieski in Wien ein, Beginn der Austreibung der Türken.
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1686 2. September: Die Festung Buda wird von den vereinigten Truppen befreit. 1703 Juni: Beginn des Aufstandes in Ungarn unter Ferenc II. Rákóczi gegen die erneute Unterdrückung der Protestanten. 1704 6. Juli: Ferenc II. Rákóczi wird zum Fürsten von Siebenbürgen gewählt. 1711 April: Frieden von Szatmár zwischen Österreich und den Ständen Ungarns und Siebenbürgens. 1770 János Sajnovics: Demonstratio idioma ungarorum et Lapponum idem esse, Wien. 1773 Königin Maria Theresia veröffentlicht die Bulle des Papstes über die Auflösung des Jesuitenordens. 1776–1790 Opernhaus in Esterháza unter der musikalischen Leitung von Joseph Haydn. 1777 Ratio educationis (zusammengestellt von József Ürményi, Daniel Tersztánszky, Adam Franz Kollar); Übersiedlung der Universität von Tyrnau (Nagyszombat/Trnava) nach Ofen (Buda). 1779 Gründung der Patriotischen Ungarischen Gesellschaft (Organisatoren: György Bessenyei, Pál Ányos, Imre Kreskay, Elek Horányi). 1780–1788 Erste ungarischsprachige Zeitung, Magyar Hírmondó (Ungarischer Landbote); erster Redakteur: Mátyás Rát. 1783–1787 Presspurské Nowiny, die erste slowakische Zeitung, redigiert von Štefan Leška, Pressburg (Pozsony/Bratislava). 1783 Umsiedlung der Statthalterei von Pressburg (Pozsony/Bratislava) nach Ofen (Buda).
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1787 Erste Aufführung des Ofner Deutschen Theaters (Ehrenberg Franz [Georg Karl Claudius]: Die Grafen Guiscardi); Gründung der Ungarischen Gesellschaft in Kaschau (Kassa/Košice) durch Ferenc Kazinczy, János Batsányi und Dávis Baróti Szabó. 1790 Alois Graf Batthyány: Ad amicam aurem (Flugschrift für die Reformen Ungarns) o. O., anonym erschienen. 1791 Supplex Libellus Valachorum (Denkschrift für die Anerkennung der Rumänen als vierte ständische Nation in Siebenbürgen). 1792 Eine ungarische Schauspieltruppe unter der Führung von László Kelemen beginnt in Ofen (Buda) ihre Aufführungen. 1792–1835 König Franz I., Zeit des konservativen Absolutismus. 1793 Siebenbürgisch-ungarische Gesellschaft für die Sprachverbesserung in Klausenburg (Kolozsvár/Cluj-Napoca), Leiter: György Aranka. 1794 Jakobinische Bewegung in Pest, auch Martinovics’sche Verschwörung genannt, zwei revolutionäre Katechismen, Übertragung der Marseillaise ins Ungarische und Slowakische, kroatisches revolutionäres Lied. 1794/95 Prozess gegen die Teilnehmer an der Jakobinischen Bewegung; die fünf Anführer werden in Ofen (Buda) hingerichtet. 1796 In Wien erscheint der erste Band des Katalogs der Samuel-Teleki-Bibliothek (der vierte Band wird 1849 veröffentlicht), die Bibliothek befindet sich in Neumarkt (Marosvásárhely/Tîrgu Mureş). 1797 György Graf Festetics gründet die erste europäische ökonomische Akademie in Keszthely (auch Georgikon genannt).
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1798 Martin Schwartner: Statistik des Königreichs Ungarn (Pest). 1800–1845 Vereinigte Ofner-Pester Zeitung. 1802 Ferenc Graf Széchényi schenkt seine Sammlungen und seine Bibliothek der ungarischen Nation (später Nationalmuseum bzw. Széchényi-Nationalbibliothek). 1803–1806 Miklós Révai: Elaboratior grammatica Hungarica (Pest). 1805–1819 Ungarische Spracherneuerung, heftige Diskussionen über die Literatursprache, Sprachphilosophie, die Rolle der Fremdartigkeiten in der Ausbildung der Hochsprache.
1806 Ratio educationis II. 1807 Sámuel Diószegi–Mihály Fazekas: Magyar füvészkönyv (Debrecen, Pflanzenbuch nach dem System von Karl Linné). 1809 Französische Truppen betreten ungarischen Boden; Aufruf Napoleons (übersetzt von János Batsányi); Niederlage der ungarischen Insurrektion gegen Napoleon durch die französischen Truppen bei Győr/Raab. 1811–1823 Wirtschaftskrise wegen der Kosten der Napoleonischen Kriege; Protest des ungarischen Adels gegen die Restriktionsmaßnahmen. 1812 Eröffnung des Pester Deutschen Theaters. 1813 Berzsenyi Dániel versei (Gedichte von D.B.); Csokonai Vitéz Mihály poétai munkái (M. Cs.s dichterische Werke) in 4 Bänden; Mondolat (anonym; verfasst von Gedeon Somogyi).
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1814–1818 Erdélyi Muzéum (Klausenburg/Kolozsvár/Cluj-Napoca, Siebenbürgisches Museum, belletristisch-wissenschaftliche Zeitschrift, Redakteur: Gábor Döbrentei). 1815 Mihály Fazekas: Lúdas Matyi (Gänse-Hias); József Katona: Bánk bán (Banus Bánk, erschienen 1821, Pest; Uraufführung: 1835, Buda); Pál Szemere – Ferenc Kölcsey: Felelet a Mondolatra (Antwort auf ‚Mondolat‘). 1815–1825 Ignaz Aurel Fessler: Die Geschichten der Ungern und ihrer Landsassen 1–10. Leipzig. 1817 Die erste Helikonsche Festlichkeit in Keszthely, organisiert von Grafen György Festetics. 1817–41 Tudományos Gyűjtemény (Wissenschaftliche Sammlung, Redakteure: György Fejér, László Vass, András Thaisz 1817–1828; Mihály Vörösmarty 1828–1832; István Horvát 1832–1837; István Károlyi 1837–1841). 1819 Sándor Körösi Csoma zieht nach Osten aus, um die Ahnen der Ungarn zu finden; Ferenc Kazinczy: Ortológusok és neológusok nálunk és más nemzeteknél (Orthologen und Neologen bei uns und bei anderen Nationen). 1821 Ständiges Theater in Kolozsvár (Klausenburg). 1822–36 Aurora (Redakteure: Károly Kisfaludy 1822–1832, József Bajza 1832–1836). 1823 Ferenc Kölcsey: Hymnus (Hymne). 1825 Reichstag. Kommission für die Neubesprechung der Reformvorschläge von 1790; Gründung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften durch István Széchenyi; Mihály Vörösmarty: Zalán futása (Zalans Flucht). 1826–1833 Élet és Literatura (Leben und Literatur; Redakteure: Ferenc Kölcsey und Pál Szemere).
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1828 Ferenc Toldy – Gyula Fenyéry: Handbuch der ungrischen Literatur. 1830–1834 Pyrker-Debatte. 1830 István Széchenyi: Hitel (Kredit) – Anfang der ‚Reformzeit‘. Mihály Vörösmarty: Csongor és Tünde (Cs. und T.). 1831 Cholera-Aufstand in Nordost-Ungarn; Anfang des Dampfschiffverkehrs zwischen Pest und Wien; 1832–1848 Jelenkor (Gegenwart; Redakteur: Mihály Helmeczy, im Auftrag von István Széchenyi); Beilage: Társalkodó (Conversationsblatt). 1832–1836 Reichstag. Niederlage der Anhänger der Reformen; Országgyűlési Tudósítások (Reichstagsberichte) von Lajos Kossuth. 1833 Regélő (Erzähler, das erste Modeblatt in ungarischer Sprache); Beilage: Honművész (Heimatkünstler). 1835–1848 König Ferdinand V. 1835 Dániel Berzsenyi: Poetai harmonistika (Poetische Harmonistik). 1836 Gründung der Kisfaludy Társaság (K.-Gesellschaft) für die Beförderung der ungarischen Literatur; Mihály Vörösmarty: Szózat (Aufruf); Miklós Jósika: Abafi. 1837 Verhaftung Lajos Kossuths; Gründung des Pester Ungarischen Theaters, des späteren Nationaltheaters (1841).
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1837–1843 Athenaeum (Redakteure: József Bajza, Ferenc Toldy, Mihály Vörösmarty); kritische Beilage: Figyelmező (1837–1840, Beobachter, Redakteur: Ferenc Toldy). 1839/40 Reichstag. Erhebung der wichtigsten gesellschaftlichen Reformen zum Gesetz. 1841–1849 Pesti Hírlap (Pester Blatt; Redakteure: Lajos Kossuth 1841–1844; László Szalay 1844/45; Antal Csengery 1845–1849; das erste moderne politische Blatt in Ungarn); Debatte der beiden führenden Reformpolitiker István Széchenyi und Lajos Kossuth. 1842 Anfang der Regulierung der Theiß. 1842–1849 Bau der ersten Brücke zwischen Buda und Pest (Lánchíd [Kettenbrücke]). 1843–1848 Életképek (Genrebilder, Redakteure: Adolf Frankenburg 1843–1847; Mór Jókai 1847/48); kritisches Beiblatt: Irodalmi Őr (Literarische Wache). 1843–1848 Honderű (Heimatsfrohmut, Redakteur: Lázár Petrichevich Horváth). 1844 Védegylet (Schutzverein): Organisation für die Beförderung der ungarischen Wirtschaft; das Ungarische wird zur Staatssprache; Anfang des Dampfschiffverkehrs auf dem Balaton (Plattensee); Sándor Petőfi: Versek (Gedichte), A helység kalapácsa (Der Dorfhammer). 1845 Sándor Petőfi: János Vitéz (Held János); József Eötvös: A falu jegyzője (Der Dorfnotar). 1846 Gründung und Veröffentlichung des Programms der Konservativen Partei; Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie (Pest–Vác); Tízek Társasága (Zehn), eine Gruppe junger Schriftsteller um Sándor Petőfi; Sándor Petőfi: Felhők (Wolken); János Arany: Toldi.
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1847 Gründung und Veröffentlichung des Programms der Oppositionspartei; Magyar Szépirodalmi Szemle (Ungarische Literaturschau, Redakteur: János Erdélyi); Eröffnung des Ungarischen Nationalmuseums (Gebaut 1836–1847); Petőfi Sándor Összes Költeményei (Sämtliche Gedichte von S. P.). 1848 15. März: friedliche Revolution in Pest; Einführung der modernen parlamentarischen Vertretung; unabhängige Regierung, Premierminister: Lajos Batthyány; 11. April: Aprilgesetze (Abschaffung der Hörigkeit, Einführung der allgemeinen Besteuerung, Einführung des Wahlrechts für Wohlhabende und Gebildete, Aufhebung der Zensur, Proklamation der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte, Erklärung des Ungarischen zur einzigen Amtssprache); 16. Oktober–31. Dezember Besatzung von Westungarn und Buda durch die kaiserliche Armee. 1848–1916 Franz Joseph I. 1849 1. Januar: Umsiedlung der ungarischen Regierung nach Debrecen; April–Mai: Erfolgreicher Frühjahrsfeldzug der ungarischen Armee; Wiedereroberung von Buda und Westungarn; 14. April: Entthronung des Hauses Habsburg, Proklamierung der vollständigen Unabhängigkeit Ungarns und der Republik, Reichsverweser: Lajos Kossuth; 13. August: Kapitulation der ungarischen Armee (Oberbefehlshaber: Arthur Görgey) bei Világos vor den russischen Truppen; 6. Oktober: Exekution der 13 Befehlshaber der ungarischen Armee in Arad sowie des Premierministers Batthyány in Pest; Anfang der Vergeltung unter Führung von Julius Freiherr von Haynau, Befehlshaber der ungarischen Armee. 1849–1864 Hölgyfutár (Damenkurier). 1850–1859 Zeit des Neoabsolutismus (die ‚Bach-Ära‘ – Reichsinnenminister Alexander Bach, Beauftragter für Pazifizierung Ungarns). 1850 Entfaltung der ‚Passiven Resistenz‘ auf Veranlassung von Ferenc Deák; Pesti Napló (Pester Journal, 1850–1939; Redakteur: Zsigmond Kemény 1855–1858 und 1860–1869); Zsigmond Kemény: Forradalom után (Nach der Revolution); Mór Jókai: Forradalmi és csataképek 1848–49-ből (Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849).
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1851 Zsigmond Kemény: Még egy szó a forradalom után (Noch ein Wort nach der Revolution); József Eötvös: Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Österreich. 1851–1853 Bewegungen gegen die Habsburgermacht. 1852 Erster Besuch von Franz Joseph I. in Ungarn. 1853 Missglücktes Attentat gegen Franz Joseph I.; János Erdélyi: Népköltészet és kelmeiség (Volksdichtung und Stofflichkeit). 1854 Ferenc Toldy: A magyar költészet története (Geschichte der ungarischen Poesie); Arnold Ipolyi: Magyar mythologia (Ungarische Mythologie). 1854−1921 Vasárnapi Újság (Sonntagsblatt, Redakteure: Albert Pákh 1854–1867; Miklós Nagy 1867–1905; Pál Hoitsy 1905–1921). 1854−1944 Pester Lloyd (Redakteure: Ernő Hazay 1854–1867; Miksa Falk 1867–1906; Zsigmond Singer; József Vészi). 1857 Zweiter Besuch des Franz Joseph I. und seiner Frau in Ungarn; Budapesti Szemle (Budapester Rundschau, 1857–1869; Redakteur: Antal Csengery). 1859 István Széchenyi (anonym): Ein Blick auf den anonymen Rückblick von einem Ungarn (erschienen in London). 1860 Politische Krise nach der Niederlage der österreichischen Truppen bei Solferino (1859); 15. März: Massendemonstration in Pest; 8. April: Selbstmord des Grafen István Széchenyi in der Nervenheilanstalt in Döbling; 20. Oktober: Oktoberdiplom (Grundzüge einer neuen Verfassung in der Staatsform einer konstitutionellen Monarchie) – landesweiter Protest in Ungarn; Ferenc Erkel: Bánk bán (Opernfassung).
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1860–1862 Szépirodalmi Figyelő (Belletristischer Beobachter, Redakteur: János Arany). 1861–1865 Schmerling-Provisorium (provisorische Wiederherstellung des Absolutismus in der Zeit der Regierung des Premierministers Anton von Schmerling). 1861 Imre Madách: Az ember tragédiája (Die Tragödie des Menschen). 1862 Veröffentlichung des Donaukonföderationsprojektes von Lajos Kossuth; Mór Jókai: Az új földesúr (Der neue Gutsherr). 1863–1865 Koszorú (Kranz, Redakteur: János Arany). 1865 Osterartikel von Ferenc Deák (Programm des Ausgleiches: die Interessen des Reiches und Ungarns in Einklang bringen); Gründung der Balközép párt (Links-Mittelpartei); Ferenc Toldy: A magyar nemzeti irodalom története (Geschichte der ungarischen Nationalliteratur). 1866 Niederlage der österreichischen Truppen gegen Preußen bei Königgrätz; Gründung der Deák-Partei. 1867 Ausgleich Österreichs mit Ungarn; selbständige ungarische Regierung, Premierminister: Graf Gyula Andrássy; Veröffentlichung des „Kassandra-Briefs“ von Lajos Kossuth (Protest gegen den Ausgleich); 8. Juni: Krönung von Franz Joseph I. und seiner Gattin Elisabeth in Buda. 1867–1918 Doppelmonarchie Österreich–Ungarn; Personalunion: gemeinsames Militärwesen und auswärtige Angelegenheiten bzw. Finanzierung der beiden Ministerien (‚k. u. k. Ministerien‘).
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1868 Ausgleich Ungarns mit Kroatien; Auftritt der Oppositionspartei 1848-as Párt (1848er Partei); Union Ungarns mit Siebenbürgen; Protest der siebenbürgischen Rumänen; Volksschulgesetz (allgemeine Schulpflicht von 6 bis 12 Jahren); Nationalitätengesetz (begrenzte Autonomie der in Ungarn lebenden Ethnien); bürgerliche und politische Emanzipation der Juden; József Kiss: Zsidó dalok (Jüdische Lieder). 1868−1938 Borsszem Jankó (Hans Pfefferkorn; politisches Witzblatt, Redakteur: Adolf Ágai 1868–1910). 1869 Gründung der rumänischen Nationalpartei in Siebenbürgen; Mór Jókai: A kőszívű ember fiai (Die Baradlays). 1873 Vereinigung von Buda, Pest und Óbuda (Budapest). 1873–1944 Budapesti Szemle (Budapester Rundschau, wissenschaftliche und literarische Zeitschrift, Redakteure: Pál Gyulai 1873–1910; Géza Voinovich 1910–1944). 1875 Gründung der Szabadelvű Párt (Liberale Partei) durch die Fusion der Balközép und Deák-párt (Mitte-Links- und Deák-Partei) Gründung der Ungarischen Königlichen Musikakademie (Präsident: Franz Liszt). 1875–1890 Ministerpräsident: Kálmán Tisza (Szabadelvű Párt); Beginn des wirtschaftlichen Aufbruchs. 1875–1911 Boom im Bereich der als Berufstheater funktionierenden Theaterbauten. 1877 Arany János: Őszikék (Herbstblüten). 1878–1944 Pesti Hírlap (Pester Blatt, unabhängige politische Zeitung; erstes kapitalistisches Presseunternehmen).
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1881 Budapesti Hírlap (Redakteur: Jenő Rákosi); Kálmán Mikszáth: Tót atyafiak (Slowakische Landsleute). 1882 Kálmán Mikszáth: A jó palócok (Die guten Hochländer); Tod von János Arany. 1884–1936 Niveauvolle, populäre und zeitgemäße Zeitschrift: Magyar Salon (Ungarischer Salon). 1890 Kálmán Tisza, der bedeutendste ungarische Ministerpräsident in der Monarchiezeit, dankt ab; moderne literarische Zeitschrift: A Hét (Die Woche, 1890–1924). 1894 Lajos Kossuth stirbt in Turin, prachtvolle Bestattung in Budapest; Zeitschrift Új idők (Neue Zeiten, 1894–1936), ein Rivale der Woche. 1896 Millennium – das festliche Jahr der Jahrtausendwende der ungarischen Landnahme und Staatsgründung. 1900 Gründung der Zeitschrift Huszadik Század (Zwanzigstes Jahrhundert). 1903 Beginn der ersten Amtszeit von István Tisza als Ministerpräsident. 1904–1908 Thália-Gesellschaft: erster unabhängiger künstlerischer Theaterverein in Ungarn. 1905 Die seit 1875 regierende Liberale Partei wird abgewählt, die Unabhängigkeitspartei gedenkt den Ausgleich zu überprüfen, Franz Joseph I. stellt jedoch die allgemeine Wahlberechtigung in Aussicht, so nimmt die Unabhängigkeitspartei Abstand von der eigenen Idee (hätte die Wahlberechtigung doch die politische Expansion der Nationalitäten zur Folge gehabt). 1906 Zweite Amtszeit des bürgerlichen Ministerpräsidenten Sándor Wekerle (bis 1910); Endre Ady: Új versek (Neue Gedichte).
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1907 Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts in der österreichischen Reichshälfte. 1908 Der Primarschulunterricht wird kostenlos; Gründung der Zeitschrift Nyugat (Abendland/Westen). 1909 Mihály Babits: Levelek Iris koszorújából (Briefe aus Iris’ Kranz). 1911 Gyula Krúdy: Szindbád ifjúsága (Sindbads Jugend); Gründung der Zeitschrift Szellem (Geist); Zsigmond Móricz: Az Isten háta mögött (Herr Bovary). 1912 Konservative Kritik von János Horváth an den Dichtern des Nyugat mit dem Titel „Nach der Revolution“; Eröffnung der Universitäten in Debrecen und Pozsony (Bratislava, heute Slowakei). 1913 Beginn der zweiten Amtszeit von István Tisza (bis 1917). 1914 28. Juni: Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo durch Gavrilo Princip; 23. Juli: Ultimatum, kurz darauf Kriegserklärung der k. u. k.-Monarchie an Serbien. 1915 Gründung der Gruppe Vasárnapi Kör (Sonntagskreis); Gründung der ersten ungarischen Avantgarde-Zeitschrift A Tett (Die Tat, 1915/16). 1916 Gründung der bedeutendsten Avantgarde-Zeitschrift Ma (Heute, 1916–1925). 1917 Sándor Wekerle wird wieder Ministerpräsident bis zur Zeit der Asternrevolution. 1918 Oktober: Asternrevolution; 31. Oktober: Kündigung der Realunion mit Österreich, Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie;
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13. November: König Karl IV. von Ungarn entsagt auch der Ausübung von Staatsgeschäften in Ungarn, nachdem er zwei Tage zuvor als Kaiser eine derartige Erklärung für die österreichische Reichshälfte abgegeben hatte; 16. November: Ungarn erklärt sich zur Republik, erster Ministerpräsident wird Mihály Károlyi. 1919 März–August: Zeit der Räterepublik; Oszkár Jászi geht nach der Ausrufung der Räterepublik ins Exil. 1920 4. Juni: Friedensvertrag von Trianon, Ungarn verliert zwei Drittel seines Territoriums (und mehr als drei Millionen Ungarn) an die Nachbarstaaten; 1. März: Machtübernahme von Miklós Horthy als Reichsverweser, Konsolidierung der Staatsgewalt nach dem Zusammenbruch der Proletardiktatur; Gyula Szekfű: Három nemzedék (Drei Generationen); März: nach dem Niederschlag der Räterepublik fliehen Lajos Kassák und sein Kreis nach Wien; Übersiedlung der Universitäten von Pozsony (Pressburg/Bratislava) und Kolozsvár (Klausenburg/Cluj-Napoca) nach Pécs und Szeged. 1921 14. April: Graf István Bethlen wird Ministerpräsident, Beginn der neukonservativen Periode. 1922 Ernennung von Kunó Klebelsberg zum Bildungsminister, Gründung der hungarologischen Zentren (Collegium Hungaricum) in verschiedenen europäischen Hauptstädten; Gründung der Zeitschrift Minerva; János Horváth: Magyar irodalomismeret (Ungarische Literaturkunde); Lajos Kassák: A ló meghal és a madarak kiröpülnek (Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus); Lajos Kassák – László Moholy-Nagy: Buch neuer Künstler/Új művészek könyve. 1925 Gründung des Theaters Grüner Esel (Zöld Szamár Színház), des ersten avantgardistischen Theaters in Ungarn (Ödön Palasovszky, Iván Hevesy, Sándor Bortnyik); 1. Dezember: Nach einer zweijährigen Testphase geht der Ungarische Rundfunk erstmals öffentlich auf Sendung. Von diesem Tag an wurden regelmäßig Radiosendungen ausgestrahlt; die Zahl der im selben Jahr registrierten Radiogeräte (16.000) erhöht sich bis 1938 auf 419.000. 1926 Gründung der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Korunk (Unsere Zeit) in Klausenburg (erscheint bis heute); Kassáks Rückkehr nach Ungarn aus dem Wiener Exil, Gründung der Zeitschrift Dokumentum (Das Dokument, 1926/27); Dezső Kosztolányi: Édes Anna (Anna).
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1927 Gyula Szekfű gründet die historisch-sozialwissenschaftlich-politische Zeitschrift Magyar Szemle (Ungarische Rundschau; erscheint bis 1944); Mihály Babits wird Vorsitzender des Baumgarten-Kuratoriums. 1928 Gründung der literarischen Zeitschrift Erdélyi Helikon (Siebenbürgischer Helikon) in Klausenburg (bis 1944), ein Forum für literarische Autoren in Siebenbürgen und in Ungarn; 9. September: erster Flug des von Oszkár Asbóth (1891–1960) entwickelten Hubschraubers. 1929 Mihály Babits wird Chefredakteur des Nyugat; Oszkár Jászi: The Dissolution of the Habsburg Monarchy (Chicago); Kassáks Hinwendung zur Arbeiterbewegung, Gründung der Zeitschrift Munka (Die Arbeit, 1929–1938); 13. Mai: erste ungarische Buchmesse („Buchtag“), initiiert vom Kunsthistoriker und Journalisten Géza Supka (1883–1956). 1930 Dezső Kosztolányi: A magyar nyelv helye a földgolyón (Der Platz der ungarischen Sprache auf dem Globus; offener Brief an Antoine Meillet); Gyula Krúdy: Boldogult úrfikoromban (Meinerzeit); Tivadar Thienemann: Irodalomtörténeti alapfogalmak (Literaturhistorische Grundbegriffe). 1931 Die Regierung Bethlen tritt zurück; 25. September: öffentliche Aufführung des ersten ungarischen Tonfilmes (Lajos Lázár: A kék bálvány [Das blaue Idol). 1932 Gyula Gömbös wird Ministerpräsident. 1934 Mihály Babits: Az európai irodalom története (Geschichte der europäischen Literatur); Antal Szerb: Magyar irodalomtörténet (Ungarische Literaturgeschichte). 1935 16. Januar: umfassende und verbesserte Neuregelung des Vertragsrechts und der Arbeitsbedingungen für Hausangestellte; 14. April: Bekanntgabe des Einheitsprogramms der Új Szellemi Front (Neue Geistige Front) für „die Werte des geistigen Lebens“ im Pesti Napló (Pester Journal) durch den Schriftsteller Lajos Zilahy (1891–1974), eine der Regierung nahe stehende Persönlichkeit, deren Ideen und Vorschläge vor allem bei den konservativen Volkstümlern auf Widerhall stoßen;
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13. Juni: Einführung der 48-Stunden-Woche mit bezahltem Urlaub; Dezső Kosztolányi: Számadás (Rechenschaft). 1937 15. März: Manifest der Márciusi Front (Märzfront) für die demokratische Umgestaltung des Landes, unterstützt von eher linksorientierten Schriftstellern und Intellektuellen der Volkstümler und weiteren antifaschistischen Bewegungen; 20. Juni: Eröffnung des ersten Flughafens für den zivilen Luftverkehr in Budaörs; 3. Dezember: Freitod von Attila József. 1938 21. Februar: Verbot der Magyar Nemzeti Szocialista Párt (Ungarische Nationalsozialistische Partei, gegründet 1936); 29. Mai: Erlass des ersten Judengesetzes (Gesetzesartikel 1938: XV „zur effektiveren Gewährleistung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens“); 2. November: erster Wiener Schiedsspruch durch Nazideutschland und das faschistische Italien, infolge dessen Ungarn einige – von einer großen Anzahl (ethnischer) Ungarn bewohnte – nach 1920 tschechoslowakische Gebiete erhält, das letztlich die Aufteilung der Tschechoslowakei als Folge des Münchener Abkommens besiegelt. 1939 5. Mai: Zweites Judengesetz, Gesetzesartikel 1939:IV „über die Einschränkung der Expansion der Juden im öffentlichen Leben und der Wirtschaft“, nach dem die Zugehörigkeit zur jüdischen Bevölkerungsgruppe bereits auf rassischer Grundlage definiert wurde; 18. September: Ungarn öffnet seine Grenzen für polnische Kriegsflüchtlinge; 31. Oktober: die älteste Tageszeitung Ungarns, Pesti Napló (Pester Journal), erscheint zum letzten Mal; Einführung des Stagione-Systems, um die Wandertruppen endgültig sesshaft zu machen. 1940 30. August: zweiter Wiener Schiedsspruch, nach dem nordwestliche Teile Rumäniens (Nordsiebenbürgen und das Szeklerland) Ungarn zugesprochen wurden; 6. September: Reichsverweser Miklós Horthy (1868–1957) marschiert in Nagyvárad (Großwardein/Oradea) ein; 8. Oktober: Béla Bartóks Abschiedskonzert in Budapest. 1941 3. April: aus Protest gegen die am 11. April begonnenen Kriegsoperationen gegen Jugoslawien begeht Ministerpräsident Graf Pál Teleki (1879–1941) Selbstmord; 27. Juni: ungarische Kriegserklärung an die Sowjetunion. 1942–1944 Im Auftrag des Reichsverwesers Horthy versucht Miklós Kállays (1887–1967) Regierung eine Neutralitätspolitik anzusteuern und sich den Westmächten friedlich anzunähern.
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1944 19. März: deutsche Einheiten besetzen Ungarn, die Gestapo verhaftet von den nationalsozialistischen Besatzern als deutschfeindlich eingestufte Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens; 15. Mai: Beginn der Deportation der jüdischen Landbevölkerung aus Ungarn; etwa 450.000 ungarische Juden wurden in den deutschen Vernichtungslagern ermordet; 6. Juli: Reichsverweser Horthy lässt die Deportation der ungarischen Juden einstellen; 15. Oktober: Scheitern des ‚Ausstiegsversuchs‘: Horthy gibt über den Rundfunk den Waffenstillstand bekannt; Machtübernahme durch die ungarischen Pfeilkreuzler. 1945 Ende April: sowjetische Truppen nehmen die letzten noch in deutsch-ungarischer Hand befindlichen Ortschaften in Ungarn ein; 26. September: Bartók stirbt in New York. 1946 4. November: Nationalwahlen mit überragendem Sieg der Kisgazdapárt (Partei der Kleinen Landwirte). 1949 18.–20. August: das Einparteienparlament verabschiedet eine neue Verfassung, nach welcher die Staatsform Ungarns die Volksrepublik ist; Verstaatlichung aller ungarischen Theater. 1952 19. Juli–3. August: bei den Olympischen Spielen in Helsinki gewinnt die ungarische Olympiaauswahl 16 Goldmedaillen. 1953 4. Juli: Imre Nagy (1896–1958) bildet eine Regierung. 1954 4. Juli: Die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland gewinnt im Endspiel der V. Fußball-Weltmeisterschaft in Bern 3:2 gegen Ungarn. 1956 23. Oktober: ungarischer nationaler Volksaufstand; in Ungarn wird dies als ‚1956-os forradalom‘, ‚1956er Revolution‘, bezeichnet; 24. Oktober: Imre Nagys zweite Regierung; 30. Oktober: Wiederherstellung des Mehrparteiensystems; 23. Oktober–4. November: militärische Intervention der Sowjetunion; 11. November: Ende der Widerstandskämpfe.
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1956–1962 Zeit der Vergeltung gegenüber der politischen Opposition (ca. 350 Hinrichtungen, 15.000 Gefangene). 1957 23. Februar: Das Ungarische Fernsehen geht (regelmäßig) auf Sendung; 15. März: Albert Camus’ Festrede anlässlich des ungarischen Nationalfeiertags in der Salle Wagram, Paris, deren erweiterter Text unter dem Titel Kadar a eu son jour de peur am 18. März 1957 in Franc-Tireur erscheint; 1. Mai: János Kádár spricht auf dem Heldenplatz (Hősök tere) in Budapest vor 100.000 Menschen. 1958 16. Juni: nach einem politischen Geheimprozess werden Imre Nagy und seine Anhänger hingerichtet. 1961 13. September: János Kádár (1912–1989) bildet eine Regierung. 1962–1968 Zeit der ‚Konsolidierung‘ (von Kádárs Macht). 1963 22. März: Nachdem die ‚Ungarnfrage‘ Ende 1962 bei der UNO von der Tagesordnung genommen wurde, wird eine allgemeine Amnestie für die Beteiligten des Oktoberaufstandes erlassen. 1965 Theaterfestival in Wrocław: Geburt der ungarischen Neo-Avantgarde. 1968 Beteiligung der Ungarischen Armee an der Niederschlagung des ‚Prager Frühlings‘. 1968–1985 Zeit der Stagnation. Ende der 1970er Jahre Bildung oppositioneller Gruppen unter den Intellektuellen. 1983 Verbot der Zeitschrift Mozgó Világ (Bewegte Welt). 1985–1990 Krise des Kádár-Regimes.
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1986 Verbot der Zeitschrift Tiszatáj (Theißlandschaft). 1987/88 Organisation der demokratischen Bewegungen. 1989/90 Politische Wende. 1994 Gründung des ersten Lehrstuhls für Theaterwissenschaft in Ungarn. 1995 Start des ersten ungarischen Nachrichtenportals Internetto. 1997 György Konrád wird zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste gewählt. 2002 Eröffnungspremiere im neu aufgebauten ungarischen Nationaltheater; Imre Kertész erhält den Nobel-Preis für Literatur. 2004 Ungarn tritt der Europäischen Union bei.
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie1 Bibliographie Bibliographie der in selbständigen Bänden erschienenen Werke der ungarischen Literatur in deutscher Übersetzung. 1774–1999. H: Fazekas, Tiborc. Hamburg: Eigenverl. des Verf. 1999. Bibliographie der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. H: Schweikert, Werner. Klagenfurt: Wieser 2006. Demeter, Tibor: Bibliographia Hungarica. Magyar szépirodalom idegen nyelven. 1800–1979. Maschinenschrift (Széchényi Nationalbibliothek, Budapest, D 14.175) [http://demeter.oszk.hu]. Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Bibliographie der Neuerscheinungen 2000–2005. B: Schlosser, Christine. H: Mittler, Elmar. Göttingen: Niedersächsische Staats- und Universitätbibliothek 2006. Zwei Jahrzehnte ungarische Literatur in deutscher Übersetzung. 1988–2008. Eine kommentierte Bibliographie. H: Schlosser, Christine. Budapest: Magyar Könyv Alapítvány 2009.
Anthologien Album hundert ungarischer Dichter. H: Kertbeny, C.[Karl] M[aria]. Dresden: Schaefer; Pesth: Geibel 1845; dass. 2. Aufl. Pesth: Geibel; Dresden: Shaefer 1854; 3. Aufl. Prag: Kober-Markgraf [1860]. Altungarische Erzählungen. H/Ü: Gragger, Robert. Berlin – Leipzig: Walter de Gruyter 1927. Anderntags. Neue ungarische Lyrik. Anthologie : Másnap. Újabb magyar költészet. Antológia. H: Kárpáti, Paul. Budapest: Argumentum; Köln: Kirsten Gutke 1996. Auf der Karte Europas ein Fleck. Gedichte der osteuropäischen Avantgarde. H: Hein, Manfred Peter. Zürich: Ammann 1991. Ausgewählte Ungarische Dichtungen und Volkslieder in deutscher Übertragung. H: Kraft, Christian. Berlin: o.V. 1922. Ausgewählte ungarische Volkslieder. H/Ü: Kertbeny, Karl Maria. Darmstadt: Karl W. Leske 1851. Bestiarium Hungariae. [Hier und dort – ungarische Identitäten]. [Zeitgenössische ungarische Literatur]. H: Relle, Ágnes. Bremerhaven: Edition die horen 1999. Blumenlese aus ungarischen Dichtern, in Übersetzungen von Gruber, Graf Mailáth … gesammelt und mit einer einleitenden Geschichte der ungarischen Poesie begleitet von Franz Toldy. Ü: Mailáth, János; Gruber, Károly Antal. E: Toldy, Ferenc. Pesth: Kilián; Wien: Gerold 1828. Das elfte Gebot. Moderne ungarische Dramen. Ü: Frischmuth, Barbara; Thies, Vera; SzentIványi, Ita. Leipzig: Reclam 1977.
1 Der Herausgeber dieses Bandes bedankt sich sehr herzlich bei Annamária Gombos (Széchényi Nationalbibliothek, Budapest) für die sorgfältige Kontrolle, Vereinheitlichung und Systematisierung der nach verschiedenen Regeln erfassten bibliographischen Daten.
Anthologien
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Die letzte Zigarre im ‚Arabischen Schimmel‘. Ungarische Erzählungen. H/Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: Dieterich 1988. Draussen das Lamm, drinnen der Wolf. Ungarische Erzählungen 1945–1985. H: Eörsi, István. Ü: Skirecki, Hans; Grosche, Hildegard. Berlin: Literarisches Colloquium 1985. Ein Perlenstrauß ungarischer Dichtungen. Ü: Leicht, Hans. Budapest: Königliche Ungarische Universitäts-Druckerei 1939; 2. Aufl. [1940]. Erkundungen. 21 ungarische Erzähler. H: Thies, Vera. Ü: Bischoff, Martin et al. Berlin: Volk und Welt 1983. Ha belemarkolunk a pókhálóba: Beim Griff in das Spinnennetz. H: Droschl, Max; Szajbély, Mihály. Graz – Wien: Droschl 1993. Inzwischen fallen die Reiche. Poesie aus Ungarn. H: Laschen, Gregor; Gahse, Zsuzsanna. Ü: Gahse, Zsuzsanna et al. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW Verl. für neue Wissenschaft 1990. Kettenbrücke. Ungarische Erzählungen der Gegenwart. Mit einundzwanzig Autorenportraits. H: Wernitzer, Julianna. München: dtv 1999. Klänge aus dem Osten. Ü: Dudumi, Demeter. Pest: Geibel 1855. Lengyel, Dénes: Der Wunderhirsch. Ungarns alte Sagen. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Kinderbuchverlag 1986. Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur (1915–1930) : A magyar avantgárd irodalom (1915–1930) olvasókönyve. H/E: Deréky, Pál. Wien – Köln – Weimar: Böhlau; Budapest: Argumentum 1996. Liebe. Ungarische Kurzprosa aus dem 20. Jahrhundert. H: Bart, István. Ü: Buschmann, Jörg et al. Budapest: Corvina 1993; dass. 1996; 1998; 2001. MA : Heute. Anthologie der modernen ungarischen Literatur. H: Tóth, Éva. Ü: Czjzek, Eva et al. [Budapest]: Corvina 1987. Magyarische Gedichte. Ü: Mailáth, Johann Graf. Stuttgart – Tübingen: Cotta 1825. Meilenstein. Drei Jahrzehnte im Spiegel der ungarischen Literatur [Gedichte und Erzählungen]. H: Szabolcsi, Miklós; Kenyeres, Zoltán. Budapest: Corvina 1965. Modern magyar novellák : Moderne ungarische Erzählungen. H/Ü: Kunze, Christina. München: dtv 1999. Moderne Lyrik aus Ungarn. H: Kárpáti, Paul. Leipzig: Reclam 1982. Nachts im Grase. Erzählungen aus Ungarn. H: Kurucz, Gyula. Ü: Buschmann, Jörg; Koriath, Dorothea; Skirecki, Hans. Berlin: Tribüne 1988; dass. [Budapest]: Corvina; Berlin: Tribüne 1988. Nationalgesänge der Magyaren. Ü: Buchheim, Adolf; Falke, Oskar. Kassel: Raabé 1850. Neuere Ungarische Dichter. Ü: Lechner, Julius von. E: Latkóczy, Michael von. Budapest: Eggenberger 1896. Neue ungarische Lyrik. H: Lám, Friedrich. Budapest: Ruszkabányai 1942. Neue ungarische Lyrik. H: Fritsch, Gerhard. E: Rónay, György. Salzburg: Otto Müller 1971. Neue ungarische Lyrik in Nachdichtungen. H/Ü: Horvát, Heinrich. München: Müller 1918. ‚Nyugat‘ und sein Kreis 1908–1941. Anhang: ‚Magyar csillag‘, 1942–1944. H: Ugrin, Aranka; Vargha, Kálmán. Ü: Bischoff, Martin et al. Leipzig: Reclam 1989. Schwarze Sterne. Eine ungarische Anthologie. H/Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: St. Benno 1983. Stimmen für Europa. Ein Chor ungarischer freier Rhythmen. H: Kerpel-Claudius, Eugen [Kerpel Jenő]. Berlin: Aeterna 1927. Strahl im Sturm. Dichter ungarischer Klassik. Ü: Acy, Claude d’[Kerpel, Jenő]. Wien – Stuttgart: Pergamon-Presse [1961].
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Thema Ungarn. H: Buda, György; Jensen, Nils. St. Pölten: Podium 2005. Ungarische Dichtung aus fünf Jahrhunderten. E: Hermlin, Stephan. H: Vajda, György Mihály; Klaniczay, Tibor; Szabolcsi, Miklós. Ü: Bostroem, Annemarie; Deicke, Günther; Fühmann, Franz; Greßmann, Uwe; Hacks, Peter; Hermlin, Stephan; Kahlau, Heinz; Kunert, Günter; Rähmer, Joachim; Remané, Martin; Tech, Fritz; Wolter, Christine. Berlin – Weimar: Aufbau; Budapest: Corvina 1970. Ungarische Dichtungen. Ü: Szemere, Ladislaus. Budapest: Gergely 1935. Ungarische Erzähler. H/Ü/N: Oplatka, Andreas. Zürich: Manesse 1974; dass. 2. Aufl. [1994]. Ungarische Erzählungen. Bd. 1–2. H/Ü: Klein, Stefan Josef. Konstanz am Bodensee: Reuss & Itta 1916 (Die Zeitbücher, 44). Ungarische Gedichte. Ü: Lachmann, Hedwig. Berlin: Verl. des Bibliographischen Bureaus 1891. Ungarische Liebesbriefe aus fünf Jahrhunderten. H: Thies, Vera. Ü: Thies, Vera; Bostroem, Annemarie; Hermlin, Stephan; Kahlau, Heinz; Remané, Martin. Berlin: Rütten & Loening 1989. Ungarische Lyrik. 1914–1936. Ü: Brájjer, Lajos. Budapest: Gergely [1936]. Ungarische Lyriker von Alexander Kisfaludy bis auf die neueste Zeit die letzten 50 Jahre. … mit literar-historischer Einleitung und biographisch-kritischen Notizen versehen. Ü/E/Notizen: Steinacker, Gustav. Leipzig: Barth; Buda-Pest: Grill [1874]; dass. [1875]. Ungarische Lyrik von Alex. Kisfaludy bis zur Gegenwart nebst biographischen Anmerkungen und einer Skizze des magyarischen Schrifttums. H: Hack, D[avid]. Halle: Hendel [1888] (Bibliothek der Gesamtlitteratur des In- und Auslandes, Nr. 193/195). Ungarische Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. H/Notizen: Kárpáti, Paul. Ü: Bischoff, Martin et al. Berlin – Weimar: Aufbau 1987 (Europäische Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts). Ungarische Meistererzählungen. [Auswahl aus den Novellen von Mór Jókai et al.]. Berlin: Aufbau; Budapest: Corvina 1960; dass. Bd. 1–2. 2. erw. Aufl. Berlin – Weimar: Aufbau; Budapest: Corvina 1964; dass. Budapest: Corvina 1964. Ungarischer Dichterwald. H/Ü: Cserhalmi H., Irene. E: Ebers, Georg. Stuttgart – Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1897. Ungarischer Novellenschatz. Bd. 1–2. H/Ü: Krücken, Oskar von. Berlin: Wilhelm 1893; dass. Ungarischer Novellenschatz. Eine Auswahl aus den Werken der besten ungarischen Schriftsteller. Bd. 1–2. Leipzig: Strauch [1897] (Strauch’s Unterhaltungs-Bibliothek). Ungarisches Lesebuch. H: Paetzke, Hans-Henning. E: Dalos, György. Frankfurt/M. – Leipzig: Insel 1995. Ungarisches Novellenbuch. Bd. 1–3. Ü: Neugebauer, Ladislaus. Halle: Hendel [1887] (Bibliothek der Gesamt-Litteratur des In- und Auslandes, 134–136). Ungarisches Novellenbuch. Ü: Greiner, Ludwig von. E: Wolzogen, Ernst von. Berlin: Auerbach 1882. Ungarn. Ein Sammelband zeitgenössischer Erzähler. H: Domokos, Mátyás; Grosche, Hildegard. Tübingen – Basel: Horst Erdmann 1975 (Moderne Erzähler der Welt). Ungarn in seiner Dichtung. Mit lyrischen und epischen Übertragungen. H: Lábán, Anton. Wien: Amalthea [1923] (Amalthea-Bücherei, 31). Vom Besten der alten ungarischen Literatur. 11.–18. Jahrhundert. H: Klaniczay, Tibor. Ü: Bostroem, Annemarie; Ebersbach, Volker; Engl, Géza; Gottschlig, Franz; Harmath, Anikó; Hermlin, Stephan; Kahlau, Heinz; Klein-Krautheim, Ferdinand; Kolbe, Hans; Reimholz, Karl; Remané, Martin. [Budapest]: Corvina 1978. Wie könnte ich dich nennen? Ungarische Liebesgedichte aus alter und neuer Zeit. H: Engl, Géza; Kerékgyártó, István. Budapest: Corvina 1971; dass. 2. Aufl. [1976].
Zu einzelnen Autoren
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Wunder werfen keine Schatten. Ungarische Kurzromane. H: Buschmann, Jörg. Ü: Buschmann, Jörg et al. Berlin – Weimar: Aufbau 1986.
Zu einzelnen Autoren Ady, Endre Auf dem Flammenwagen der Lieder. Eine Auslese. Ü: Hetényi-Heidelberg, Albert. E: Babits, Mihály. Budapest: Pollak 1926. Auf neuen Gewässern. Eine Auswahl. Ü: Franyó, Zoltán; Gerhold, Heinrich. Leipzig – Wien – Zürich: Tal 1921. Ausgewählte Gedichte. H: Detrich, Gudrun. Ü: Detrich, Julius Alexander. Olching: G. Detrich 2001. Ausgewählte Gedichte. Ü: Mandl, Felix. Wien: Österreich. Verl.-Anst. 1981–1987 (deutsch-ung. zweisprachig). [Bd. 1]. Zu Gottes linker Hand. 1981. Bd. 2. Weil ich für and’re focht. 1987. Ausgewählte Gedichte. Ungarisch – deutsch. Ü/Notizen: Wolfgang Brunsch. Aachen: Shaker 1999 (Berichte aus der Literaturwissenschaft). Blut und Gold. Auswahl aus seinen Gedichten. Ü: Franyó, Zoltán. E: Balogh, Edgár. Bukarest: Literatur-Verlag 1962. Der Kuss der Rosalia Mihály. Gedichte und Novellen. Ü: Marnau, Alfred. Nördlingen: Greno 1988 (deutsch-ung. zweisprachig). Der verirrte Reiter. Gedichte. H: Kárpáti, Paul. Ü: Bischoff, Martin; Deicke, Günther; Fühmann, Franz; Kahlau, Heinz. N: Király, István. Berlin: Volk und Welt 1977. Gedichte. H/E: Bóka, László. Ü: Fühmann, Franz; Kahlau, Heinz. Berlin: Volk und Welt; Budapest: Corvina 1965; 2. veränd. Aufl.: H/E: Bóka, László; Fühmann, Franz; Kahlau, Heinz; Engl, Géza. Budapest: Corvina 1969. Gedichte. Auswahl zum 100. Geburtstag des Dichters Endre Ady. E: Bóka, László. Ü: Bostroem, Annemarie; Engl, Géza; Fühmann, Franz; Horváth, Heinrich; Kahlau, Heinrich; Remané, Martin; Waldinger, Ernst. [Budapest]: Corvina 1977. Gib mir deine Augen. Gedichte. H/Ü: Droste, Wilhelm. Wuppertal: Arco 2011. Mensch in der Unmenschlichkeit. 66 Gedichte. E: Vezér, Erzsébet. Ü: Franyó, Zoltán. Budapest: Corvina 1979. Ninis Augen und andere Erzählungen. Ü: Mandl, Felix. Wien: Agens-Werk 1991. Triften. Gedichte / Ungaretti, Quasimodo, Ady. Ü: Brunsch, Wolfgang. Aachen: Shaker 1998 (Tivoli-Bücherei). Von der Ér zum Ozean. Aus Andreas Adys lyrischen Dichtungen. Ü: Matzner, Hugo. Wien – Leipzig: Perles 1925.
Ambrus, Zoltán Der Verdacht. Ein ungar. Roman. Ü: Klein, Stephan Joseph. Leipzig: Stern-Bücher [1919] (Stern Bücher, 8).
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Arany, János Ausgewählte Gedichte. Ü: Handmann, Adolf sen[ior]. Kassa [Kaschau]: Adolf Handmann jun., Druck Koczányi 1908. Dichtungen. Ü: Sponer, Andor. Leipzig: Wigand 1880. Gedichte [Auswahl]. Ü: Dóczi, Ludwig. Budapest: Arany Lászlóné [1903]. Gedichte [Auswahl]. H/E: Keresztury, Dezső. Ü: Bieler, Markus; Bostroem, Annemarie; Engl, Géza; Remané, Martin. [Budapest]: Corvina 1982. Gedichte von Johann Arany. Versuch einer Musterübersetzung. Ü: Kertbeny, K[arl] M[aria]. Genf: Druck Fick 1861. Schätze der ungarischen Dichtkunst. Bd. 6. Gedichte. Auswahl / János Arany. Ü: Bieler, Markus; Bostroem, Annemarie; Engl, Géza; Remané, Martin. Budapest: Corvina 1984. Erzählende Dichtungen von Johann Arany [Auswahl]. Ü: Kertbeny, [Karl Maria]. Leipzig: Herbig 1851; dass. 1853. König Buda’s Tod. Ein Epos. Ü: Sturm, Albert. Leipzig: Friedrich 1879; dass. Budas Tod. Eine Hunnensage. Ü: Mauer, Carl. Újverbász: [Übersetzer] 1913. Toldi. Poetische Erzählung. Ü: Kolbenheyer, Moritz. Pesth: Heckenast 1855; dass. Pesth: Druck Breitkopf-Härtel, 1855. Toldi’s Abend. Poetische Erzählung. Ü: Kolbenheyer, Moritz. Pesth: Heckenast 1856; dass. Ü: Schnitzer, Ignaz. o.O: o.V. [um 1930]. Toldis Liebe. Poetische Erzählung in zwölf Gesängen. Ü: Kolbenheyer, Moritz. Budapest: Franklin 1884; dass. Toldi’s Liebe. Erzählung in 12 Gesängen. Ü: Schnitzer, Ignaz. o. O.: o. V. [um 1930].
Babits, Mihály Das Kartenhaus. Der Roman einer Stadt. Ü: Klein, Stefan J[oseph]. Berlin: Spaeth 1926. Der Schatten des Turmes. Novellen. H/Ü/N: Thies, Vera. Leipzig: Reclam 1983 (Reclams Universal-Bibliothek. Belletristik, 1007). Der Sohn des Virgilius Timár. Novelle. Ü: Klein, Stefan J[oseph]. München: Musarion 1923. Der Storchkalif. Roman. Ü: Klein, Stefan J[oseph]. Leipzig: Wolff 1920; dass. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984 (Suhrkamp Taschenbuch, 976) (Phantastische Bibliothek, 117). Frage am Abend. Gedichte. Auswahl. H: Hajnal, Gábor; Kárpáti, Paul. N: Kárpáti, Paul. Ü: Bostroem, Annemarie; Busta, Christine; Deicke, Günther; Engl, Géza; Fühmann, Franz; Gesswein, Alfred; Heise, Hans-Jürgen; Kárpáti, Paul. [Budapest]: Corvina 1983. Geschichte der europäischen Literatur. Ü: Bitay-Radloff, E.; Gerlich, H. G. Zürich – Wien: Europa 1949. Kentaurenschlacht. [Novellen]. Ü: Klein, Stefan J[oseph]. Berlin: Spaeth 1926.
Balassi, Bálint Schätze der ungarischen Dichtkunst. Bd. 2. Gedichte. Auswahl / Bálint Balassi. H: Kerékgyártó, István. Ü: Bostroem, Annemarie; Engl, Géza; Kahlau, Heinz. [Budapest]: Corvina 1984.
Zu einzelnen Autoren
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Balassi, Menyhárt (Autor unbekannt!) Die Fürstenverrathe des Melchior Baron Balaschscha. Historische Tragikomödie. Ü: K[ertbeny], K[arl] M[aria]. Leipzig: Veit 1874.
Balázs, Béla Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1536).
Berzsenyi, Dániel Neun Berzsenyi-Oden. Umdichtung. Ü: Kerpel-Claudius, Eugen. Hamburg: Toth 1948.
Bodor, Ádám Der Besuch des Erzbischofs. Erzählung. Ü: Skirecki, Hans. Zürich: Ammann 1999. Schutzgebiet Sinistra. Ein Roman in Novellen. Ü: Skirecki, Hans. Zürich: Ammann 1994.
Bródy, Sándor Der Held des Tages. Ü: unbekannt, Berlin: Ladyschnikow [1913].
Csáth, Géza Erzählungen. H/Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Brinkmann & Bose 1999. Muttermord. Novellen. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Brinkmann & Bose 1989. Tagebuch. 1912–1913. Ü: Skirecki, Hans. N: Földényi F., László. Berlin: Brinkmann & Bose 1990. Über Puccini. Eine Studie. Ü: Horvát, Heinrich. Budapest: Harmonia [1928].
Cseres, Tibor Der Melonenschütz und andere Erzählungen. Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: Reclam [1953]. Kalte Tage. [Erzählung]. Ü: Szent-Iványi, Ita. Berlin: Volk und Welt 1967.
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Rebell wider Habsburg. Lebensroman des Lajos Kossuth. Ü/N: Csongár, Almos. Berlin: Verlag der Nation 1987.
Csokonai Vitéz, Mihály Schätze der ungarischen Dichtkunst. Bd. 3. Gedichte. Auswahl / Mihály Csokonai Vitéz. Ü: Bostroem, Annemarie; Engl, Géza; Remané, Martin. [Budapest]: Corvina 1984.
Csoóri, Sándor Feuerschatten. Gedichte. H/Ü: Csollány, Maria. N: Dalos, György. Wien: Wespennest [1999]. Prophezeiung für deine Zeit. Ausgewählte Gedichte. Ungarisch – deutsch. Ü: Csiky, Ágnes Mária; Csollány, Mária; Stauffer, Robert. Straelen: Straelener Manuscripte Verlag 1984 (deutsch-ung. zweisprachig).
Darvasi, László Das traurigste Orchester der Welt. Erzählungen. Ü: Relle, Agnes. Berlin: Rowohlt 1995. Die Hundejäger von Loyang. Chinesische Geschichten. Ü: Eisterer, Heinrich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Die Legende von den Tränengauklern. Roman. Ü: Eisterer, Heinrich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. Eine Frau besorgen. Kriegsgeschichten. Ü: Eisterer, Heinrich; Mora, Terézia; Relle, Agnes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 (Edition Suhrkamp, 2448). Herr Stern. Novellen. Ü: Eisterer, Heinrich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 (Edition Suhrkamp, 2476). Wenn ein Mittelstürmer träumt. Meine Weltgeschichte des Fußballs. Ü: Kornitzer, Laszlo. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 (Suhrkamp-Taschenbuch, 3765).
Déry, Tibor Ambrosius. Roman. Ü: Vajda, Éva. Frankfurt/M.: Fischer 1968; dass. Die Geschichte vom Leben und Sterben des heiligen Ambrosius, Bischof von Mailand. Historischer Roman. Ü: Szent-Iványi, Ita. Berlin: Volk und Welt 1977. Der Riese und andere Erzählungen. H: Thies, Vera. Ü: Szent-Iványi, Ita. Berlin: Volk und Welt 1969. Der unvollendete Satz. Ü: Szent-Iványi, Ita; Fierl, Resi. Berlin: Volk und Welt 1954; dass. Ü: Újlaky, Charlotte. Frankfurt/M.: Fischer 1962; dass. 1986.
Zu einzelnen Autoren
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Die Antwort. Bd. 1. Die Antwort der Kindheit. Bd. 2. Die Antwort der Jugendzeit. Ü: Szent-Iványi, Ita; Flierl, Resi. Berlin: Volk und Welt 1964/65. Die portugiesische Königstochter. Erzählungen. Ü/N: Nagel, Ivan. Frankfurt/M.: Fischer 1959. Ein feiner alter Herr. Erzählungen. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Volk und Welt 1988. Erdachter Report über ein amerikanisches Pop-Festival [Roman]. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Volk und Welt 1974 (Volk und Welt Spektrum, 73). Fröhliches Begräbnis. Fünf Erzählungen. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Das Arsenal 1995. Gefängnisbriefe. Der Briefwechsel Tibor Dérys mit seiner Mutter und seiner Ehefrau, 1957–1960. H/E: Botka, Ferenc. Ü: Dohndorf, Beate. Budapest: Balassi; Herne: Schäfer 1999. Herr G. A. in X. Roman. Ü: Vajda, Éva; Vajda, Stephan. Frankfurt/M.: Fischer 1966. Kein Urteil. Memoiren. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Volk und Welt 1983; dass. Kein Urteil. Erinnerungen. Ü: Vajda, Éva; Kerekes, Johanna. Frankfurt/M.: Fischer 1972. Lieber Schwiegervater. Roman. Ü: Grosche, Hildegard. Frankfurt/M.: Fischer 1976; dass. Frankfurt/M.: Fischer TB 1984 (Fischer, 5399). Niki oder die Geschichte eines Hundes. Ü: Nagel, Ivan. Frankfurt/M.: Fischer 1958; dass. Frankfurt/M.: Fischer 1965 (Fischer Bücherei, 701); dass. 1984 (Fischer Bibliothek); dass. H: Botka, Ferenc. Ü/N: Nagel, Ivan. Berlin: Das Arsenal 2001. Rechenschaft und andere Erzählungen. Ü: Ujlaky, Charlotte et al. Frankfurt/M.: Fischer 1964 (Fischer Doppelpunkt, 9). Spiele der Unterwelt. [Erzählungen]. Ü/N: Pezold-Lázár, Antónia. Leipzig: Reclam 1968 (Reclams Universal-Bibliothek, 337); dass. 1981 (Reclams Universal-Bibliothek, 337; Belletristik).
Eötvös, József Aufstand der Kreuzfahrer. Historischer Roman. Ü: Szent-Iványi, Ita. N: Vogler, Günter. Berlin: Rütten & Loening; Budapest: Corvina 1976; dass. Der Bauernkrieg in Ungarn. Historischer Roman. Bd. 1–3. Ü: Dux, Adolf. Pest: Hartleben 1850. Der Dorfnotar. Ü: Mailath, Johann Graf von. Halle/S: Otto Hendel [18?] (Bibliothek der Gesamt-Litteratur des In- und Auslandes, 849–856); dass. Bd. 1–3. Leipzig: Hartleben 1846 (Belletristisches Lese-cabinet der neuesten und besten Romane aller Nationen, 1–3); dass. Wien – Leipzig: Prochaska [1893] (Die besten Romane der Weltliteratur, 1–4); dass. Ü: Weilheim, Adolf. Leipzig: Reclam [18?] (Universal-Bibliothek, 931–935). Der Karthauser. Roman. Ü: Klein, Hermann. Pest: Heckenast 1842; dass. Ü: Dux, Adolf. Wien – Pest – Leipzig: Hartleben 1862; dass. 1872 (Gesammelte Werke Bd. 1–2); dass. 9. Aufl.: Wien – Leipzig [1921].
Erdélyi, József Gedichte [Auswahl]. Ü: Lám, Friedrich. Budapest: Officina 1944.
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Esterházy, Péter Agnes. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Berlin: LCB 1982 (LCB-Editionen, 69). Das Buch Hrabals. Roman. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Salzburg – Wien: Residenz 1991; dass. Frankfurt/M.: Fischer TB 1994 (Fischer Taschenbücher, 11603); dass. neu durchges. Fassung Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2004 (BvT). Deutschlandreise im Strafraum. Ü: Buda, György. Berlin: Berlin 2006. Die Hilfsverben des Herzens. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Salzburg – Wien: Residenz 1985; dass. Frankfurt/M.: Fischer TB 1988 (Fischer Taschenbücher, 9171); dass. N: Kertész, Imre. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004 (Bibliothek Suhrkamp, 1374). Donau abwärts. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Salzburg – Wien: Residenz 1992; dass. 1993; dass. Frankfurt/M.: Fischer TB 1995 (Fischer Taschenbücher, 12299); dass. Berlin: Berliner TB 2006 (BvT). Einführung in die schöne Literatur. Ü: Mora, Terézia; Buda, György; Gahse, Zsuzsanna; Paetzke, Hans-Henning; Barth, Bernd-Rainer; Máté, Angelika; Máté, Péter. Berlin: Berlin 2006. Ein Produktionsroman (zwei Produktionsromane). Roman. Ü: Mora, Terezia. Berlin: Berlin 2010. Eine Frau. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Salzburg – Wien: Residenz 1996. Eine, zwei, noch eine Geschichte/n [mit Imre Kertész und Ingo Schulze]. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Berlin 2008. Fancsikó und Pinta. Geschichten auf ein Stück Schnur gefädelt. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Berlin: Berliner TB 2004 (BvT, 89). Fuhrleute. Roman. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Salzburg – Wien: Residenz 1988 (Liber. Libertas). Harmonia caelestis. Ü: Mora, Terezia. Berlin: Berlin 2001; dass. Frankfurt/M. – Wien – Zürich: Büchergilde Gutenberg 2002; dass. Berlin: Berlin [2003]; dass. Berlin: Berliner TB 2003 (BvT, 76161); dass. Berlin: Berliner TB 2004 (BvT, 114). Keine Kunst. Ü: Mora, Terézia. Berlin: Berlin 2009. Kleine ungarische Pornographie. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Salzburg – Wien: Residenz 1987. Rubens und die nichteuklidischen Weiber. Vier Theatertexte. Ü: Buda, György; Gahse, Zsuzsanna. Berlin: Berliner TB 2006. Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors. Geschichten und Aufsätze. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Salzburg – Wien: Residenz 1999; dass. Berlin: Berlin 2010. Verbesserte Ausgabe. Beilage zu Harmonia Caelestis. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Berlin 2003. Wer haftet für die Sicherheit der Lady? Erzählung. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Salzburg – Wien: Residenz 1986; dass. Frankfurt/M.: Fischer TB 1989 (Fischer Taschenbücher, 9231).
Fazekas, Mihály Der Gänse-Hias. Ü: Guilleaume, Árpád. E: Illyés, Gyula. Budapest: Universitätsdruck 1944.
Fejes, Endre Schrottplatz. Roman. Ü: Schag, Elemer. München: Hanser 1966; dass. Ü: Buschmann, Jörg. Berlin – Weimar: Aufbau 1966.
Zu einzelnen Autoren
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Füst, Milán Die Geschichte meiner Frau. Roman. Ü: Schüching, Mirza von. Reinbek bei Hamburg: Rohwolt 1962; dass. N: Nádas, Péter. Frankfurt/M.: Eichborn 2007 (Die andere Bibliothek, 276). Herbstdüsternisse. Gedichte. ‚Aufzeichnungen [längs des Weges‘]. [in Auszügen]. Ü: Fühmann, Franz; Kárpáti, Paul. N: Kalász, Márton. Leipzig: Reclam 1974 (Reclams Universal-Bibliothek, 544).
Garaczi, László Die wunderbare Busfahrt. Bekenntnisse eines Lemuren. Ü: Seidler, Andrea; Deréky, Pál. Graz – Wien: Droschl 1999. Pikasso sieht rot. Erzählungen. Ü: Seidler, Andrea; Deréky, Pál. Graz: Droschl 2002. Plastik. Ü: Seidler, Andrea. Graz: Droschl 1990 (Trigon). Tanz der Wale. Drei Theaterstücke. Ü: Seidler, Andrea. Lana – Wien: Der Prokurist 1994.
Gárdonyi, Géza Der unsichtbare Mensch. Ü: Weissling, Heinrich. München: Herold 1960 (Völker im Spiegel der Kultur); dass. Ich war der Hunnen untertan. Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: Prisma; Budapest: Corvina 1961; dass. Wer bist du? Ein Roman um Attila. Ü: Gárdonyi, Josef. Budapest: Danubia 1941 ([Schriften des] Verlag[es] Danubia. Deutsche Reihe). Sterne von Eger. Ü: Schüching, Mirza. B: Harmat, Georg. Berlin: Neues Leben; Budapest: Corvina 1958; dass. 19. vollst. und überarb. Aufl. [Budapest]: Corvina 2009; dass. Tödlicher Halbmond. Ü: Schüching, Mirza. Leipzig: Prisma; Budapest: Corvina 1966; dass. 4. Aufl. 1975.
Grecsó, Krisztián Lange nicht gesehen. Roman. Ü: Tankó, Timea. Berlin: Claassen 2007.
Háy, János Dschigerdilen. Die Schönheit des Herzens. Roman. Ü: Seidler, Verena. [Budapest]: Palatinus 1999.
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Heltai, Jenő Family-Hotel. Die höchst dramatische Geschichte einer grossen Verschwörung. Ü: Weissling, Heinrich. Berlin: Eulenspiegel [1959]; dass. 1968.
Illyés, Gyula Brennglas. Gedichte. Ü: Kirchfeld, August; Kirchfeld, Ilona. E: Henscheld, Eckhard. Horn: Manufactur 1978. Die Puszta. Nachricht von einer verschwundenen Welt. Ü: Podmaniczky, Tibor. N: Kulcsár-Szabó, Ernő. [Frankfurt/M.]: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp Taschenbuch, 3054); dass. Photographien: Kertész, André. Nördlingen: Greno 1985 (Andere Bibliothek). Feuer ist mein Wesen. Ein Petőfi-Bildnis. Ü: Engl, Henriette; Engl, Géza; Remané, Martin. Budapest: Corvina 1980. Gedichte. H: Kárpáti, Paul. Ü: Bostroem, Annemarie; Greßmann, Uwe; Kahlau, Heinz; Kárpáti, Paul; Pietraß, Richard; Struzyk, Brigitte; Wiens, Paul. Berlin: Neues Leben 1982 (Poesiealbum, 180). Im Boot des Charon, oder Essay-Roman Die schönen alten Jahre. Ü/N: Sebestyén, György. Eisenstadt: Roetzer 1975; dass. In Charons Nachen oder Altwerden in Würde. Ein Essayroman. Ü: Buschmann, Jörg. Berlin – Weimar: Aufbau 1983. Mein Fisch und mein Netz. [Gedichte]. H/N: Kárpáti, Paul. Ü: Bostroem, Annemarie; Deicke, Günther; Greßmann, Uwe; Hermlin, Stephan; Kahlau, Heinz; Kárpáti, Paul; Kunert, Günther; Tkaczyk, Wilhelm; Wiens, Paul. Berlin: Volk und Welt 1973. Stiller Nachmittag. Gedichte in Prosa. Ü: Kárpáti, Paul. [Klagenfurt]: Wieser; Flein bei Heilbronn: Schweikert [2006] (Archiv Schweikert).
Janus, Pannonius Jani Pannonii poemata. Nachdichtungen. Ü: d’Acy, Claude [Kerpel, Jenő]. Wien – Stuttgart: Pergamon-Presse 1965. Schätze der ungarischen Dichtkunst. Bd. 1. Gedichte. Auswahl / Janus Pannonius. H: Kerékgyártó, István. E: Engl, Géza. Ü: Ebersbach, Volker; Hermlin, Stephan; Tech, Fritz. [Budapest]: Corvina 1984.
Jókai, Mór Andere Zeiten, andere Menschen. Roman. Bd. 1–4. Ü: unbekannt. Berlin: Janke [um 1890]. Der Mann mit dem steinernen Herzen. Roman. Bd. 1–4. Ü: unbekannt. Berlin: Janke [188?]; dass. 2. Aufl.: 1885; dass. Die Baradlays. Roman. Ü: Heilig, Bruno. N: Szent-Iványi, Béla. Leipzig: List 1958; dass. Berlin: Neues Leben 1976.
Zu einzelnen Autoren
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Der neue Gutsherr. Humoristischer Roman in zwei Bänden, aus der Zeit der Bach-Hussaren in Ungarn 1849–1859. Bd. 1–2. Ü: unbekannt. Dresden: Wallerstein 1876; dass. Der neue Gutsherr. Roman. Ü/N: Oplatka, Andreas. Zürich: Manesse 1980 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur). Der Roman des künftigen Jahrhunderts. Bd. 1–2. Ü: unbekannt. Pressburg – Leipzig: Stampfel 1879. Der Zigeunerbaron und andere Novellen. Breslau: Schottlaender 1886. Die gelbe Rose. Erzählung. Ü: Langsch, Carl. Breslau: Schottlaender 1895; dass. Ü: unbekannt. Stuttgart – Leipzig – Wien: Deutsche Verlags-Anstalt 1895; dass. Die gelbe Rose. Ein Pusstenroman. Ü: Hecht-Cserhalmi, Irene. Stuttgart: Engelholm 1895 (Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek, 11); dass. Die gelbe Rose. Erzählung. Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: Reclam [1953] (Reclams Universal-Bibliothek, 7952–53). Die schwarze Maske. Ü: Weissling, Heinrich. [Budapest]: Corvina [1971]. Ein Goldmensch. Roman. Ü: Kertbeny, K[arl] M[aria]. Leipzig: Reclam [1873] (Reclams UniversalBibliothek, 561–565); dass. Berlin: Janke 1873; dass. B: Schade-Engl, Henriette. Budapest: Corvina 1964; dass. 1967; dass. 1975; dass. 1985; dass. 2001; dass. Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: Reclam 1956; dass. N: Sőtér, István. 1963 (Bibliothek der Weltliteratur); dass. 1975; dass. Berlin: Neues Leben 1978 (Spannend erzählt, 146). Ein ungarischer Nabob. Roman. Ü: Dux, Adolf. Pesth: Emich 1856; dass. Budapest: Athenaeum 1878; dass. Leipzig: Reclam [1892] (Universal-Bibliothek, 3016–3020); neue Aufl. Leipzig: Reclam [1919]; dass. Ü: Heilig, Bruno. N: Pezold, Antonia. Leipzig: List 1968; dass. 1977; dass. Ü: Engl, Henriette; Engl, Géza. N: Nagy, Miklós. Budapest: Corvina 1976. Mein, dein, sein. Roman. Ü: unbekannt. Berlin: Janke 1875. Schlachtenbilder und Scenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849. Ü: unbekannt. Pesth: Heckenast o.J. Schwarze Diamanten. Roman. Ü: Glatz, Eduard. Pest: Athenaeum 1871; dass. 1878; dass. Leipzig: Reclam [190?] (Universal-Bibliothek, 4781–4785); dass. Berlin: Janke [18?]; neue B: Engl-Schade, Henriette. Budapest: Corvina 1963. Wir bewegen die Erde! Roman. Ü: unbekannt. Berlin: Janke 1875. Zweimal sterben. Roman. Ü: unbekannt. Berlin: Janke 1881.
József, Attila Am Rande der Stadt. Ausgewählte Gedichte: A város peremén. H/Ü/N: Gosztonyi, Alexander. St. Gallen – Stuttgart: Tschudy [1963] (Quadrat-Bücher, 28–29) (deutsch-ung. zweisprachig). Ein wilder Apfelbaum will ich werden. Gedichte 1916–1937 : Szeretném, ha vadalmafa lennék. H/Ü: Muth, Daniel. E: Fejtő, Ferenc. N: Dalos, György. Zürich: Ammann 2005 (deutsch-ung. zweisprachig). Gedichte. H/E: Hermlin, Stephan. Ü: Deicke, Günther; Fühmann, Franz; Hacks, Peter; Hermlin, Stephan; Kahlau, Heinz; Zimmerling, Max. Berlin: Volk und Welt; Budapest: Corvina 1960; dass. 1964; dass. Gedichte. Auswahl. N: Gyertyán, Ervin. Ü: Deicke, Günther; Fühmann, Franz; Hacks, Peter; Hermlin, Stephan; Kahlau, Heinz; Zimmerling, Max; Engl, Géza; Geßwein, Alfred; Frommer, Stefan; Felzmann, Ilse Tielsch; Jandl; Ernst; Bostroem, Annemarie; Pietraß, Richard. [Budapest]: Corvina [1978].
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Attila József. H: Hermlin, Stephan. Ü: Fühmann, Franz et al. Berlin: Neues Leben 1975 (Poesiealbum, 90). József Attila. Leben und Schaffen in Gedichten, Bekenntnissen, Briefen und zeitgenössischen Dokumenten. H/E: Szabolcsi, Miklós. Ü: Engl, Henriette; Engl, Géza. Budapest: Corvina 1978 (Corvina Bücher).
Juhász, Ferenc Gedichte [Auswahl]. Ü: Kruntorad, Paul; Szépfalusi-Wanner, Marta; Szépfalusi, István. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966 (Bibliothek Suhrkamp, 168).
Justh, Zsigmond Die Legende vom Gelde. Roman aus d. ungarischen Gesellschaft. Ü: Katscher, L. Reutlingen: Enßlin & Laiblin [1913] (Ensslins Roman- und Novellenschatz, Bd. 235).
Kaffka, Margit Ameisenhaufen. Roman. Ü: Zádor, Éva. Budapest – Wien: Kortina 2008 (Literaturwunderland Ungarn). Farben und Jahre. Roman. Ü: Szent-Iványi, Ita. N: Bölöni, György. Berlin: Volk und Welt 1958.
Karinthy, Frigyes Bitte, Herr Professor. Satiren und Erzählungen. Ü/N: Oplatka, Andreas. Zürich: Manesse 1983 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur). Die Reise nach Faremido. Capillaria. Zwei Kurzromane. Ü: Skirecki, Hans. [Budapest]: Noran 1999 (Ungarische Meisterwerke). Reise um meinen Schädel. Ü/N: Skirecki, Hans. Berlin: Union 1985. Selbstgespräche in der Badewanne. Humoresken. Ü: Gaspar, Andreas. Berlin – Wien – Leipzig: Höger 1937.
Kármán, József Fanny’s Nachlass. Novelle. Ü: Rózsa, Maurus. Leipzig: Reclam [1880] (Universal Bibliothek, 1378).
Zu einzelnen Autoren
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Kassák, Lajos Als Vagabund unterwegs. Erinnerungen. Ü: Schag, Friderika. Berlin: Volk und Welt; Budapest: Corvina 1979. Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus. Poem. Ü: Stauffer, Robert; Gáspár, Andreas. N: Blaeulich, Max. Klagenfurt – Salzburg: Wieser 1989. Lasst uns leben in unserer Zeit. Gedichte, Bilder und Schriften zur Kunst. H/N: Vadas, Jozsef. Ü: Acél, Pál et al. [Budapest]: Corvina 1989. Ma-Buch. Gedichte von Ludwig Kassák. Ü/E: Gáspár, Andreas. Berlin: Sturm 1923; dass. Faks.-Ausg. [Budapest]: Kassák Mus. 1999.
Katona, József Bánk Bán. Drama in fünf Acten. Ü: Dux, Adolf. Leipzig: Brockhaus 1858; dass. Bankbanus. Historischer Trauerspiel in 4[!] Acten. Ü/B: Breiner, Josef. Raab: Gross [1896]; dass. Banus Bánk. Tragödie. Ü: Vészi, József. Berlin: E. Reiss [1911] (Moderne Bühne, 7); dass. Bánk bán. Drama. Ü: Mohácsi, Jenő. Budapest: Vajna; Leipzig: Bokor [1940]; dass. Budapest: Corvina 1955; dass. Ban Bánk. Tragödie. Ü/N: Engl, Géza. Budapest: Corvina 1969.
Kemény, István Gedichte zweisprachig – versek két nyelven / Franz Josef Czernin – Kemény István. Ü: Rinck, Monika; Kalász, Orsolya; Tandori, Dezső. Wien – Budapest: Kortina 2009 (Dichterpaare, 6) (deutsch-ung. zweisprachig). Nützliche Ruinen. 23 Gedichte deutsch, ungarisch : Célszerű romok. H: Kalász, Orsolya; Rinck, Monika. Ü: Falkner, Gerhard; Kalász, Orsolya; Popp, Steffen; Rinck, Monika. Frankfurt/M. – Weimar: Gutleut 2007 (Reihe Black paperhouse, 4) (deutsch-ung. zweisprachig).
Kemény, Zsigmond Rauhe Zeiten. Historischer Roman. Ü: Veber, Otto. Pest: Emich 1859; dass. Rauhe Zeiten. Geschichtlicher Roman. Ü: Opitz, Theodor. Zürich: Magazin 1867.
Kertész, Imre Briefe an Eva Haldimann. Ü: Schwamm, Kristin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009. Detektivgeschichte. Ü: Máté, Angelika; Máté, Peter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004. Die englische Flagge. Erzählungen. Ü: Buda, György; Schwamm, Kristin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999 (Rororo, 22572).
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Die exilierte Sprache. Essays und Reden. E: Nádas, Péter. Ü: Schwamm, Kristin; Buda, György; Deréky, Pál. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Dossier K. Eine Ermittlung. Ü: Schwamm, Kristin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschließungskommando neu lädt. Essays. Ü: Buda, György et al. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999 (Rororo, 22571). Eine, zwei, noch eine Geschichte/n [mit Péter Esterházy und Ingo Schulze]. Ü: Schwamm, Kristin; Skirecki, Hans. Berlin: Berlin 2008. Fiasko. Roman. Ü: Buda, György; Relle, Agnes. Berlin: Rowohlt 1999. Galeerentagebuch. Roman. Ü: Schwamm, Kristin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993; dass. 1999 (Rororo, 22575). Ich – ein anderer. Ü: Rakusa, Ilma. Berlin: Rowohlt 1998. Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Roman. Ü: Buda, György; Schwamm, Kristin. Berlin: Rowohlt 1992. Liquidation. Roman. Ü: Kornitzer, Laszlo; Krüger, Ingrid. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Opfer und Henker. Ü: Polzin, Christian et al. Berlin: Transit 2007. Roman eines Schicksallosen. Ü: Viragh, Christina. Berlin: Rowohlt 1996; dass. 24. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 2010 (Rororo, 22576); dass. Mensch ohne Schicksal. Ü: Buschmann, Jörg. Berlin: Rütten & Loening 1990. Die Spurensucher. Erzählung. Ü: Buda, György. N: Kertész, Imre. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 (Bibliothek Suhrkamp, 1357).
Kisfaludy, Károly Die Probe der Treue. Lustspiel in einem Auszuge aus dem Ungarischen. Ü: Dubniczky von Szedlicsna, Karl. Pres[s]burg: Druck Sieber 1860. Stibor. Schauspiel in vier Aufzügen. Ü: Festetics, Carl Albert Graf. Pest: Druck Landerer 1823. Theater der Magyaren. 1. Theil Kisfaludy Károly: Die Tartarn in Ungarn. Ilka. Stibor. Schauspielen. H/Ü: Gaál, Georg von. Brünn: Trassler 1820.
Kisfaludy, Sándor Gyulas Liebe. Gedicht. Ü: Gebell-Ennsburg. Dresden – Leipzig: Pierson 1893. Himfy’s auserlesene Liebelieder. Ü: Mailáth, Johann Graf. Pest: Wigand 1829; dass. Pest: Wigand; Halberstadt: Brüggemann 1831. Tátika. Eine Sage aus oder Sagen aus der ungarischen Vorzeit. Ü: Gaál, Georg von. Wien: Wallishausser 1820.
Zu einzelnen Autoren
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Kiss, József Gedichte [Auswahl]. Ü: Neugebauer, Ladislaus. Lepizig: Wigand 1887. Gedichte. 1868–1881. Ü: Steinbach, Josef. Wien: G. Szelinski 1886. Jüdische Balladen. Ü: Hauser, Otto. Weimar: Duncker 1919 (Aus fremden Gärten, 83).
Kodolányi, János Dort zwischen den himmelhohen Bergen. H/Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: St. Benno 1988. Und er führte sie aus Ägypten. Ein Moses-Roman. Ü: Ujlaky, Charlotte. Stuttgart: Steingrüben 1965.
Komjáthy, Jenő Deutsche Gedichte und Übersetzungen aus dem Hauptwerke Eugen von Komjáthy’s ‚A homályból‘ (‚Aus dem Dunkel‘). Ü/E: Hecht-Cserhalmi, Irene. Budapest: Hedvig Ny. 1909.
Konrád, György Antipolitik. Mitteleuropäische Mediationen. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (Edition Suhrkamp 1293; N.F. 293). Das Buch Kalligaro. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. Der Besucher. Roman. Ü: Szenessy, Mario. N: Jens, Walter. Darmstadt – Neuwied: Luchterhand [1973]; dass. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Der Komplize. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Der Nachlass. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Der Stadtgründer. Roman. Ü: Szenessy, Mario. München: List 1991 (List Bibliothek). Die Melancholie der Wiedergeburt. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 (Edition Suhrkamp N.F. 720). Die unsichtbare Stimme. Essays. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. Geisterfest. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. N: Veres, András. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp Taschenbuch, 3055). Glück. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Heimkehr. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Identität und Hysterie. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (Edition Suhrkamp N.F. 921). Melinda und Dragoman. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Sonnenfinsternis auf dem Berg. Autobiographischer Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. Steinuhr. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Stimmungsbericht. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp [1991] (Edition Suhrkamp, 1394; N.F. 394). Vor den Toren des Reichs. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 (Edition Suhrkamp, 2015).
Kosztolányi, Dezső Anna. Ein Dienstmädchenroman. Ü: Kolbe, Irene. Nördlingen: Greno 1987 (Die andere Bibliothek, 34); dass. Anna Édes. Roman. Ü: Klein, Stefan J. Baden-Baden: Merlin [1929]; dass. N: Spreckelsen, Tilman. Berlin: Aufbau TB 1999 (AtV, 6046). Der blutige Dichter. Roman. E: Mann, Thomas. Ü: Klein, Stefan Joseph. Konstanz/Bodensee: Möhrle 1924; dass. Frankfurt/M.: Iris 1926; dass. Baden-Baden: Merlin 1929; dass. Budapest: Corvina 1964. Der goldene Drachen. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Ed. q 1999. Der kleptomanische Übersetzer und andere Geschichten. Ü: Buschmann, Jörg. Nördlingen: Greno 1988. Der Kuß. Novellen. Ü: Buschmann, Jörg. Berlin – Weimar: Aufbau 1981. Der schlechte Arzt. Ein kleiner Roman. Ü: Klein, Stefan Joseph. Baden-Baden: Merlin [1929]. Die Abenteuer des Kornél Esti. Ü: Viragh, Christina. Berlin: Rowohlt 2006; dass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 2007 (Rororo, 24147); dass. Ein Held seiner Zeit. Die Bekenntnisse des Kornél Esti. Ü: Viragh, Christina. N: Esterházy, Péter. Berlin: Rowohlt 2004. Die magische Laterne. Novellen. Ü: Klein, Stefan J. Heidelberg: Saturn 1913. Lerche. Roman. Ü: Klein, Stefan J. Heidelberg: Merlin [1927]; dass. Ü: Viragh, Christina. N: Esterházy, Péter. Zürich: Manesse 2007 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur); dass. Ü: Eisterer, Heinrich. N: Rakusa, Ilma. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007 (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 1423). Schachmatt. Novellen. H/N: Szappanos, Balázs. Ü: Buschmann, Jörg; Koriath, Dorothea; Skirecki, Hans. [Budapest]: Corvina 1986; dass. [1999].
Kovács, András Ferenc Fragmentum. Versek. Ü: Droste, Wilhelm. Pécs: Jelenkor; Budapest: Lettre 1999 (deutsch-engl.-franz.-ung. mehrsprachig).
Krasznahorkai, László Der Gefangene von Urga. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Zürich: Ammann 1993. Gnadenverhältnisse. Ü: Skirecki, Hans; Brandt, Juliane. Berlin: Lierarisches Colloquium Berlin 1988 (LCB-Editionen, 99).
Zu einzelnen Autoren
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Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Roman. Ü: Viragh, Christina. Zürich: Ammann 2005 (Meridiane, 80); dass. Frankfurt/M.: Fischer TB 2007 (Fischer, 17243). Krieg und Krieg. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Zürich: Ammann 1999 (Meridiane, 21). Melancholie des Widerstands. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Zürich: Ammann 1992. Satanstango. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990. Seiobo auf Erden. Erzählungen. Ü: Flemming, Heike. Frankfurt/M.: Fischer 2010.
Krúdy, Gyula Das Gespenst von Podolin. Roman. Ü: Buda, György. N: Dalos, György. Budapest – Wien: Kortina 2008 (Literaturwunderland Ungarn, 5). Die rote Postkutsche. Roman. Ü/N: Sebestyén, György. Wien – Hamburg: Zsolnay 1966; dass. N: Szegedy-Maszák, Mihály. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch, 3056). Flick, der Vogelfeind. Lesealter ab 8 Jahren. Ü: Kirchfeld, Ilona; Kirchfeld, August. Donauwörth: Auer 1999. Meinerzeit. Roman. Ü/N: Viragh, Christina. München: dtv 1999 (dtv Premium, 24172). Schlemmergeschichten. Erzählungen. Ü: Skirecki, Hans. Berlin – St. Petersburg: Oberbaum 2002. Serenade vom durchstochnen Herzen. Sindbad-Novellen. H/Ü/N: Skirecki, Hans. Berlin: Eulenspiegel 1984; dass. Berlin ˗ St. Petersburg: Oberbaum 2002. Sindbad. Reisen im Diesseits und Jenseits. Ü: Meyer, Franz et al. N: Sebestyén, György. Wien – Hamburg: Zsolnay 1967. Sindbad: Sindbads Herbstreise. Der Journalist und der Tod : Sindbad’s autumn journey. Death and the journalist. H: Hargitai, György. E: Nemeskürty, István. Budapest: Kossuth 1993 (Holibri) (deutsch-engl. zweisprachig). Traumbuch. Ü: Skirecki, Hans. Berlin – St. Petersburg: Oberbaum 2002.
Kukorelly, Endre Die Gedächtnisküste. Ü: Seidler, Andrea. Graz – Wien: Droschl 1997. Die Rede und die Regel. Erzählungen. Ü: Skirecki, Hans. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 (Edition Suhrkamp, 2128). Endre Kukorelly [ungarisch und deutsch]. H: Rübberdt, Irene. Ü: Adloff, Gerd et al. Berlin: Unabhängige Verl.-Buchh. 1992 (Poet’s corner, 14). Lieblyng. Texte über Lit., Mus. usw. Ü: Baranyai, Edit et al. Stuttgart: Solitude 1999 (Edition Solitude).
Láng, Zsolt Strichmännchens Leben: A pálcikaember élete. Ü: Buda, György. [Marosvásárhely]: Mentor 1999 (deutsch-ung. zweisprachig).
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Lengyel, Péter Der zweite Planet der Ogg. Roman. Ü: Feidel, Gottfried. Hamburg – Düsseldorf: Schröder 1972 (Science fiction und fantastica).
Madách, Imre Die Tragödie des Menschen. Ü: Dietze, Alexander. Pest: Druck v. Gebrüder Pollák 1865; dass. Pest: Kugler 1865; dass. Die Tragödie des Menschen. Dramatische Dichtung. Ü: Lechner von der Lech, Julius. E: Jókai, Maurus. Leipzig: Reclam [zwischen 1888–1890] (Reclams Universal-Bibliothek, 2389–2390); dass. Budapest: Kossuth 1999; dass. Die Tragödie des Menschen. Dramatisches Gedicht. Ü: Sponer, Andor von. Kesmark: Druck v. Paul Sauter 1887; dass. Berlin: Verlag deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten 1938; dass. Ü: Mohácsi, Jenő. Budapest – Leipzig: Vajna [1933]; dass. Die Tragödie des Menschen. Ein dramatisches Gedicht. B: Engl, Géza. E: Benedek, Marcell. 10. Aufl. [Budapest]: Corvina 2002; dass. Ü: Thurn, Hans. Budapest: Madách irod. Társ. 2005 (Madách könyvtár, 44).
Márai, Sándor Befreiung. Roman. Ü: Kunze, Christina. N: Földényi F., László. München: Piper 2010. Bekenntnisse eines Bürgers. H: Heinrichs, Siegfried. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Oberbaum 1996; dass. 2000; dass. Bekenntnisse eines Bürgers. Erinnerungen. H: Heinrichs, Siegfried. Ü: Skirecki, Hans. München – Zürich: Piper 2000 (Serie Piper, 3081). Das letzte Abenteuer. Schauspiel. Ü: Toth, J[osef] P[aul]. Hamburg: Toth [1941]. Das Vermächtnis der Eszter. Roman. Ü: Viragh, Christina. München – Zürich: Piper 2000; dass. 2002 (Piper, 3511); dass. 2003 (Piper, 3929); dass. 2004. Das Wunder des San Gennaro. Roman. Ü: Simányi, Tibor. München – Zürich: Piper 2004 (Piper, 7044); dass. Ü: Podmaniczky, Mona von; Podmaniczky, Tibor von. Baden-Baden: Holle 1957. Der grosse Augenblick. Tragikomische Zauberei in 3 Akten. Ü: Mundorf, Paul. Hamburg: Toth 1947. Der Wind kommt vom Westen. Amerikanische Reisebilder. Ü: Saternus, Artur. München – Wien: Langen Müller 1964; dass. München – Zürich: Piper 2002 (Piper, 3406). Die Bürger von Kaschau. Drama in 3 Akten (6 Bildern). Ü: Toth, Josef Paul. Hamburg: Toth 1947. Die Eifersüchtigen. Ü: Saternus, Artur. Bern: Hallwag [195?]. Die Fremde. Roman. Ü: Eisterer, Heinrich. München – Zürich: Piper 2005; dass. 2006 (Piper, 4844); dass. 2007 (Serie Piper, 4844). Die Glut. Ü/N: Viragh, Christina. München – Zürich: Piper 1998; dass. 2000; dass. 2001 (Piper, 3313); dass. 2002; dass. 2004 (Piper, 4114); dass. 2005; dass. 2007 (Piper, 4886. Piper Bestseller); dass. 2009 (Piper, 5384); dass. 2011 (Piper, 7277); dass. [Rheda-Wiedenbrück – Gütersloh]: RM-Buch-und-Medien-Vertrieb [u. a.] 2000; dass. Die Kerzen brennen ab. Roman. Ü: Görcz, Eugen. Wien – Berlin: Neff [1950].
Zu einzelnen Autoren
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Die jungen Rebellen. Roman. Ü: Zeltner, Ernö. München – Zürich: Piper 2001; dass. 2003 (Piper, 3898). Die Möwe. Roman. Ü: Kunze, Christina. München – Zürich: Piper 2008; dass. 2010 (Piper, 5899); dass. Ü: Podmaniczky, Tibor. Hamburg: Toth 1948. Die Nacht vor der Scheidung. Roman. Ü: Ban, Margit. Wien – Berlin – Stuttgart: Neff [1951]; dass. München – Zürich: Piper 2004; dass. Ü: Ban, Margit; Sieht, Hanna. Frankfurt/M. – Wien – Zürich: Büchergilde Gutenberg [2005]; dass. [Rheda-Wiedenbrück – Gütersloh]: RM-Buch-und-Medien-Vertrieb [u. a.] 2004; dass. München – Zürich: Piper 2005 (Piper, 4544). Die Schwester. Roman. Ü: Kunze, Christina. München – Zürich: Piper 2011. Die vier Jahreszeiten. Ü: Zeltner, Arno. München – Zürich: Piper 2007 (Piper, 7144. Piper original); dass. 2009 (Piper, 5312). … Doch blieb er ein Fremder. Roman. Ü: Schüching, Mirza von. Berlin: Holle & Co. [1935]. Ein Herr aus Venedig. Roman. Ü: Stipsicz-Gariboldi, Renée von; Kommerstädt, Georg von. Hamburg: Toth 1943; dass. Die Gräfin von Parma. Roman. Ü: Stipsicz-Gariboldi, Renée von; Siehr, Hanna. München – Zürich: Piper 2002 (Piper, 7050. Piper original); dass. 2004 (Piper, 4040). Ein Hund mit Charakter. Ü: Zeltner, Ernö. München – Zürich: Piper 2001 (Piper, 7028. Piper original); dass. 2003 (Piper, 4009). Geist im Exil. Tagebücher 1945–1957. Ü: Podmaniczky, Tibor von; Podmaniczky, Mona von. Hamburg: Broschek [1959]. Himmel und Erde. Betrachtungen. Ü/N: Zeltner, Ernö. München – Zürich: Piper 2001. Land, Land!… Erinnerungen. Bd. 1–2. [Dt. Erstveröff., textkritische, leicht gekürzte Ausg.] H: Heinrichs, Siegfried. Ü: Skirecki, Hans. Berlin – St. Petersburg: Oberbaum 2000; dass. [ungekürzte Taschenbuchausg.] München – Zürich: Piper 2001 (Piper, 3184). Schule der Armen. Ein Leitfaden für Menschen mit geringem Einkommen. Ü: Podmaniczky, Tibor von; Sieht, Hanna. München – Zürich: Piper 2006; dass. 2007 (Piper, 5078). Sindbad geht heim. Roman. Ü: Bieler, Markus. Waduz: Nova 1978. Tagebücher. Bd. 1–7. H: Heinrichs, Siegfried. Berlin – St. Petersburg: Oberbaum 2000/01. Bd. 1. Auszüge, Fotos, Briefe und Dokumentationen. Ü: Skirecki, Hans. 2000. Bd. 2. 1984–1989. Ü: Skirecki, Hans. 2001. Bd. 3. 1976–1983. Ü: Skirecki, Hans. 2001. Bd. 4. 1968–1975. Ü: Skirecki, Hans. 2001. Bd. 5. 1958–1967. Ü: Skirecki, Hans. 2001. Bd. 6. 1945–1957. Ü: Kárpáti, Paul. 2001. Bd. 7. 1943–1944. Ü: Polzin, Christian. 2001. Tagebücher. Bd. 1–2. H: Zeltner, Ernő. München – Zürich: Piper 2009. Bd. 1. Literat und Europäer. Tagebücher 1943–1944. Ü: Doma, Akos. E: Földényi F., László. Bd. 2. Unzeitgemässe Gedanken. Tagebücher 1945. Ü: Prinz, Clemens. Verzauberung in Ithaka. Roman in 3 Büchern. Ü: Podmaniczky Tibor von. München: Desch 1952; dass. Verzauberung in Ithaka. Roman. Frankfurt/M. – Wien: [1954] (Forum-Taschenbücher, 5). Wandlungen einer Ehe. Roman. Ü: Viragh, Christina. München – Zürich: Piper 2003; dass. 2004 (Piper, 4167); dass. 2005 (Piper, 4554. Geschenkedition); dass. 2007 (Piper, 5082. Piper Bestseller).
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Marno, János Licht machen, nur um Schatten zu werfen. Ü: Schiff, Julia. [Bamberg]: Internat. Künstlerhaus Villa Concordia 2010 (Edition Villa Concordia, Bamberger Bände, 5) (deutsch-ung, zweisprachig).
Márton, László Das Versteck der Minerva. Roman. Ü: Zádor, Éva; Droste, Wilhelm. Wien – Bozen: Folio 2008 (Transfer, 84). Die schattige Hauptstraße. Roman. Ü: Relle, Agnes. Wien: Zsolnay 2003. Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz. Roman. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Wien: Zsolnay 1999.
Mészöly, Miklós Das verzauberte Feuerwehrorchester. Märchen und Geschichten. Ü/N: Gahse, Zsuzsanna. Zürich: Sanssouci 1999. Der Tod des Athleten. Roman. Ü: Sebestyén, György. München: Hanser 1966. Familienflut. Roman. Ü: Skirecki, Hans. N: Nádas, Péter. München: Babel 1997 (Babel Turmbau). Geflügelte Pferde. Geschichten aus Mitteleuropa. Ü: Grosche, Hildegard. München – Wien: Hanser 1991. Gestaltungen. Reise. Sinnliche Aufzeichnungen. Ü: Frischmuth, Barbara. Berlin: LCB 1975 (LCB-Editionen, 38). Hohe Schule. Erzählungen. H: Baum, Georgina. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Volk und Welt 1981. Landkarte mit Rissen. Erzählungen. Ü: Grosche, Hildegard. München – Wien: Hanser 1976. Rückblenden. Roman. Ü: Grosche, Hildegarg. München – Wien: Hanser [1980]; dass. N: Nádas, Péter. [Frankfurt/M.]: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp Taschenbuch, 3057). Saul. Roman. Ü: Frischmuth, Barbara. München: Hanser 1970.
Mikes, Kelemen Briefe aus der Türkei. Ü/N: Kárpáti, Paul. Frankfurt/M. – Leipzig: Insel 1999 (Insel Taschenbuch, 2618).
Mikszáth, Kálmán Der Graf und die Zirkusreiterin. [Roman.] Ü: Schüching, Mirza; Engl, Géza. Berlin: Rütten & Loening 1955.
Zu einzelnen Autoren
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Der wunderthätige Regenschirm. Eine Erzählung. Ü: Kálmán, Marie. Leipzig: Reclam [1900] (Reclams Unterhaltungs-Bibliothek für Reise und Haus, 34); dass. Der wundertätige Regenschirm. Eine Erzählung. Leipzig: Reclam 1919 (Reclams Universal-Bibliothek, 4002–4003); dass. Berlin: Volk und Welt 1966 (Roman-Zeitung, 203); dass. Sanct Peters Regenschirm. Humori[s]tischer Roman. Ü: Krücken, Oskar von. Charlottenburg: Michow 1898 (Michow-Bücher, 21); dass. S[ank]t Peters Regenschirm. Eine Erzählung. Ü: Wechsler, Ludwig. Berlin: Fischer & Franke 1898 (Fischer & Franke’s Bibliothek für Bücherliebhaber, 6); dass. Ü: Boháti-Maringer, Sophie. Berlin: Rütten & Loening 1959; dass. 10. Aufl. 1978; dass. S[ank]t Peters Regenschirm. Roman. Ü: Sacher-Masoch, Alexander. Zürich: Schweizer 1956; dass. Sankt Peters Regenschirm. Roman. Frankfurt/M. – Wien – Zürich: Büchergilde Gutenberg 1965; dass. Frankfurt/M.: Scheffler 1967. Der Zauberkaftan. Roman. Ü: Sziklai, Viktor. Leipzig: Reclam [1891] (Universal-Bibliothek, 2790); dass. Der sprechende Kaftan. [Roman.] Ü: Székács, Erzsébet. Budapest: Corvina 1966; dass. 1967. Die guten Hochländer. Ungarische Dorfgeschichten. Ü: Silberstein, Adolf. Leipzig: Friedrich 1882; dass. Ungarische Dorfgeschichten. Ü: Neugebauer, Ladislaus. Leipzig: Wigand [1890]. Die Hochzeit des Herrn von Noszty. Ü: Szent-Iványi, Ita; Flierl, Resi. Berlin: Rütten & Loening 1953; dass. Die Geschichte des Jungen Noszty mit der Mari Tóth. Roman. Ü/N: Oplatka, Andreas. Zürich: Manesse 1989 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur. Corona-Reihe). Die Kavaliere. Ü: Sponer, Andor von. Leipzig: G. H. Meyer 1899 (Mikszáth Koloman: Gesammelte Schriften, 3); dass. Ü: Weissling, Heinrich. Leipzig: Reclam [1954] (Reclams UniversalBibliothek, 7988). Die schwarze Stadt. Ü: Weissling, Heinrich; Harmat, Georg. Leipzig: Reclam [1953]; dass. [1955]; dass. Ü: Engl, Géza. Berlin: Rütten & Loening; Budapest: Corvina 1963. Eine Nacht im Gasthaus ‚Zum Goldenen Käfer‘. Die Kavaliere. Erzählungen. Ü: Oplatka, Andreas. Zürich – Stuttgart: Classen 1976. Erzählungen. [Auswahl]. Ü: Sponer, Andor von. Leipzig – Wien: Bibliographisches Inst. [1897] (Meyers Volksbücher, 1187–1188). Gesammelte Erzählungen. Bd. 1–2. Ü: Langsch, C[äcilie]. Leipzig: Reclam [19?] (Universal-Bibliothek, 3463); dass. [19?] (Universal-Bibliothek, 3664). Gesammelte Schriften. Bd. 1–4. Ü: Sponer, Andor von; Zamoyski, Josef Julian Graf. Leipzig: G.H. Meyer 1899. Bd. 1. Das Gespenst in Lublau. [Roman.] Ü: Sponer, Andor von. Bd. 2. Intimes aus dem Menschenleben. Erzählungen und Skizzen. Ü: Zamoyski, Josef Julian Graf. Bd. 3. Die Kavaliere. [Roman.] Ü: Sponer, Andor von. Bd. 4. Frühlingstriebe und andere Geschichten. Ü: Sponer, Andor von.
Moholy-Nagy, László Malerei, Fotografie, Film. München: Langen 1925 (Bauhausbücher, 8); dass. Faks.-Nachdr.: N: Stelzer, Otto. Mainz – Berlin: Kupferberg 1967 (Neue Bauhausbücher). Von Material zu Architektur. München: Langen A. 1929; dass. Faks.-Nachdr.: N: Stelzer, Otto. Mainz – Berlin: Kupferberg [198?] (Neue Bauhausbücher).
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Móricz, Zsigmond Arme Leute. Erzählungen. H/N: Nagy, Péter. Ü: Engl, Géza; Frommer, István; Nitsch, Farkas; Reményi, Babkó; Schüching, Mirza. Budapest: Corvina 1961. Das Rindvieh mit dem Adelsbrief. Erzählungen. H/N/Ü: Csongár, Almos. Berlin: Verlag der Nation 1979 (Roman für alle, 238–239). Der Mann mit den Hahnenfedern. Erzählungen. Ü: Némethy, L.; Bergsträsser, W.; Kállai, Ernő. Berlin: Aufbau 1954. Gold im Kote. Ein ungarischer Bauernroman. Ü: Schwartz, Armin. Berlin: Rowohlt 1921 Herr Bovary. Ü: Futaky, Ruth. N: Mándi-Fazekas, Ildikó. Budapest: Corvina 1999. Himmelsvogel. Erzählungen. H/N: Thies, Vera. Ü: Csongár, Almos et al. Leipzig: Reclam 1979 (Reclams Universal-Bibliothek. Belletristik, 780). Verwandte. Roman. Ü: Heilig, Bruno. N: Dalos, György. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp Taschenbuch, 3058). Zaubergarten. Historischer Roman. Ü: Gáspár, Käthe; Csongár, Almos. E: Thies, Vera. Berlin: Verl. der Nation; Budapest: Corvina 1972; dass. 1977.
Nádas, Péter Buch der Erinnerung. Roman. Ü: Grosche, Hildegard. 11. Ausg. Berlin: Rowohlt 1992; dass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 1999 (Rororo, 22581). Der eigene Tod. Ü: Eisterer, Heinrich. Göttingen: Steidl 2002. Der Lebensläufer. Ein Jahrbuch. Neunzehnhundertsiebenundachtzig Neunzehnhundertachtundachtzig. Ü: Grosche, Hildegard. Berlin: Rowohlt 1995; dass. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1998; dass. Neuausg. 1999 (Rororo, 22584). Die Bibel. Erzählung. Ü: Futaky, Ruth. Berlin: Berlin 2009. Ende eines Familienromans. Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979; dass. Ü: Grosche, Hildegard. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 1999 (Rororo, 22582). Etwas Licht. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Göttingen: Steidl 1999. Freiheitsübungen und andere kleine Prosa. Ü: Futaky, Ruth et al. Berlin: Berlin 2004. Heimkehr. Essays. Ü: Gahse, Zsuzsanna. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 1999 (Rororo, 22577). Liebe. Eine Erzählung. Ü: Viragh, Christina. Berlin: Rowohlt 1996. Minotauros. Erzählungen. Ü: Grosche, Hildegard; Relle, Agnes; Polzin, Christian; Viragh, Christina. Berlin: Rowohlt 1997; dass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 1999 (Rororo, 22580). Ohne Pause. Drei Stücke. Ü: Rakusa, Ilma. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999 (Rororo, 22578). Parallelgeschichten. Ü: Viragh, Christina. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012. Schöne Geschichte der Fotografie. Ü: Doma, Akos. Berlin: Berlin 2001; dass. Berliner TB 2003 (BvT). Spurensicherung. Ü: Doma, Akos; Futaky, Ruth. Berlin: Berlin 2007. Von der himmlischen und der irdischen Liebe. Ü: Berg, Magda; Wölfer, Dirk. Berlin: Rowohlt 1994; dass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 (Rororo, 13987); dass. 1999 (Rororo, 22583).
Zu einzelnen Autoren
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Zwiesprache. Vier Tage im Jahr 1989 / Péter Nádas; Richard Swartz. Ü: Viragh, Christina. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994 (Rororo, 13277. rororo aktuell, Essay); dass. Berlin: Berliner TB 2004 (BvT, 44).
Nagy, Lajos Der ägyptische Schreiber. Erzählungen. Ü: Thies, Vera. Leipzig: Insel 1969 (Insel-Bücherei, 913). Der Schüler. Roman. Ü: Skirecki, Hans. Berlin – Weimar: Aufbau 1973. Kellertagebuch. Ü: Thies, Vera. Berlin: Volk und Welt 1970 (Bibliothek des Sieges). Wenn man Geld hat … Erzählungen. H: Illés, László. Ü/N: Thies, Vera. Berlin – Weimar: Aufbau 1977.
Nagy, László Gedichte [Auswahl]. H: Kárpáti, Paul. Ü: Bostroem, Annemarie et al. Berlin: Neues Leben 1971 (Poesiealbum, 45).
Nemes Nagy, Ágnes Dennoch schauen. Gedichte. H/Ü: Kárpáti, Paul. B: Fühmann, Franz. Leipzig: Insel 1986 (Insel-Bücherei, 1068).
Németh, László Abscheu. Roman. Ü: Schag, Elemér; Ujlaky, Charlotte. Berlin – Weimar: Aufbau 1977; dass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987 (Rororo, 40015; Rowohlt-Jahrhundert, 15); dass. Budapest: Nap 1999; dass. Wie der Stein fällt. N: Kerényi, Karl. Stuttgart: Steingrüben 1960; dass. Frankfurt/M. – Hamburg: Fischer Bücherei 1963 (Fischer Bücherei, 486). Dramen [Auswahl]. Ü: Engl, Géza; Holl, Oskar; Schüching, Mirza von; Zeitler, Ernő. Stuttgart: Steingrüben 1965. Erbarmen. Ü: Ujlaky, Charlotte; Schag, Friederika. Berlin – Weimar: Aufbau; Budapest: Corvina 1970. Esther. Roman. Ü: Szabó-Ottó, Éva; Coler, Christian. Stuttgart – Hamburg: Deutscher Bücherbund [1966]; dass. Esther Égető. Stuttgart: Steingrüben 1963; dass. 1965. Maske der Trauer. Ü: Schade, Henriette; Engl, Géza. Stuttgart: Goverts 1970; dass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973 (Rororo, 1645); dass: Trauer. Roman. Ü: Engl, Henriette; Engl,
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Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Géza. Berlin – Weimar: Aufbau; Budapest: Corvina 1968; dass. N: Buschmann, Jörg. Berlin – Weimar: Aufbau 1976; dass. 1981. Die Revolution der Qualität. Studien zur Literatur. Ü: Ujlaky, Charlotte; Plakolb, Ludwig. N: Kerényi, Karl. Stuttgart: Steingrüben [1962]; dass. [Budapest]: Nap 1999. Sünde. Ü: Szent-Iványi, Ita. Berlin – Weimar: Aufbau 1965.
Ottlik, Géza Die Schule an der Grenze. Roman. Ü: Ujlaky, Charlotte. Frankfurt/M.: S. Fischer 1963; dass. Frankfurt/M.: Eichborn 2009 (Die andere Bibliothek, 293). Die Weiterlebenden. Roman. Ü: Zádor, Éva. Budapest: Kortina 2006 (Literaturwunderland Ungarn, 2).
Örkény, István Das Lagervolk. Ü: Kornitzer, László. N: Kertész, Imre. Berlin: Suhrkamp 2010. Der letzte Zug. Erzählungen. H/Ü/N: Thies, Vera. Berlin: Volk und Welt 1973; dass. 1976. Eheleute. Ü: Heilig, Bruno. Berlin: Tribüne 1953; dass. 1954. Familie Tót. Katzenspiel. 2 Stücke. Ü: Frischmuth, Barbara; Thies, Vera. N: Thies, Vera. Berlin: Henschelverlag Kunst u. Gesellschaft 1975 (Dialog). Gedanken im Keller. Mini-Novellen. H/Ü: Thies, Vera. Berlin: Eulenspiegel 1977; dass. 1984. Interview mit einem Toten. Roman. Ü: Grosche, Hildegard. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 (Suhrkamp-Taschenbuch, 837). Minutennovellen. Ü: Mora, Terezia. N: Konrád, György. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 (Bibliothek Suhrkamp, 1358); dass. Berlin: Suhrkamp 2011 (Bibliothek Suhrkamp, 3007). Pischti im Blutgewitter. E. Groteske in 2 Teilen. Ü: Bollweg, Erika. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979; dass. Ü: Kárpáti, Paul. Berlin: Henschelverlag Kunst u. Gesellschaft [1983] (Henschel-Schauspiel).
Parti Nagy, Lajos Meines Helden Platz. Roman. Ü: Mora, Terézia. München: Luchterhand 2005.
Petőfi, Sándor Das Meer hat sich erhoben. Gedichte. Ü: Steiner, Gerhard. Leipzig: Insel 1973 (Insel-Bücherei, Nr. 351). Der Apostel. Dichtung. Ü: Opitz, Theodor. Frauenfeld: Huber 1873; dass. Der Apostel. Ein episches Gedicht. Ü: Stein-Abai, Ludwig. Leipzig: Wilhelm Friedrich o.J.
Zu einzelnen Autoren
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Der Held János. Ü: Kertbeny, Karl Maria. Stuttgart: Hallberger 1850; dass. Held János. Ü: Schnitzer, Ignatz. E: Jókai, Mór. Leipzig: Volckmar; Budapest: Grill, 1878; dass. Ü: Remané, Martin. Berlin: Holz [1958]; dass. Budapest: Corvina 2001 (deutsch-ung. zweisprachig); dass. Weissach im Tal: Schlichenmaier 1992; dass. Ritter Johann. Ü: Steinbach, Josef. Budapest: Magyar Studio 1920. Gedichte. Ü: Remané, Martin. H: Engl, Géza. Budapest: Corvina 1970; dass. N: Buschmann, Jörg. Berlin – Weimar: Aufbau 1981 (Bibliothek der Weltliteratur). Gedichte [Auswahl]. H: Buschmann, Jörg. Ü: Gáspár, Endre; Landgraf, Lorenz; Melas, Heinrich; Neugebauer, Ladislaus; Radetz, Walter; Remané, Martin; Steinbach, Joseph; Steiner, Gerhard; dass. 5. Aufl. [Budapest]: Corvina 2007. Gedichte. Nebst einem Anhang Lieder anderer ungarischer Dichter. Ü: Kertbeny, Karl Maria. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt 1849. Lyrische Gedichte. Bd. 1–2. Ü: Opitz, Theodor. Pest: Heckenast 1864; dass. 2. Aufl. 1867. Lyrische und epische Dichtungen. Ü: Landgraf, Lorenz. Budapest: Kókai 1938. Petőfi. Ein Lesebuch für unsere Zeit. H: Steiner, Gerhard; Turóczi-Trostler, Josef; Gáspár, Endre. Ü: Melas, Heinrich; Beck, Karl; Landgraf, Lorenz; Steinbach, Josef; Steiner, Gerhard; Gáspár, Endre; Turóczi, Josef; Vilney, Anton; Neugebauer, Ladislaus von; Molitor, August; Dieballa, Georg; Szarvady, Fr.; Hartmann, Moritz; Kerbeny, Karl Maria; Gernerth, Franz; Farkas, Max; Bodenstedt, Friedrich; Aigner, Ludwig; Sternberg, Adolf; Meltzl, Hugo; Schnitzer, Ignaz; Opitz, Theodor; Daumer, Friedrich; Lüdeke, Hedwig; Radetz, Walter; Fulda, Ludwig; Steinacker, Gustav. Weimar: Thüringer Volksverlag 1955 (Lesebuch für unsere Zeit). Petőfi. Ausgewählte Gedichte. Ü: Meltzl, Hugo von. München: Bibliographisch-artistisches Institut [1867].
Petri, György Schöner und unerbittlicher Mummenschanz. Gedichte. Ungarisch–Deutsch. H/Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989 (Edition Suhrkamp, N.F. 528). Vorbei das Abwägen, vorbei die Abstufungen. Gedichte, ungarisch und deutsch. H/Ü: Paetzke, Hans-Henning. Zürich: Ammann 1995 (deutsch-ung. zweisprachig). Zur Hoffnung verkommen Gedichte. H/Ü: Paetzke, Hans-Henning. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986 (Edition Suhrkamp, 1360. N.F. 360).
Pilinszky, János Großstadt-Ikonen. Ausgewählte Dichtungen und Essays. Ü: Czjzek, Eva; Czjzek, Roman; Ebner, Jeannie; Fritsch, Gerhard; Vajda, Eva. Salzburg: Müller 1971. Lautlos gegen die Vernichtung. Gedichte. H/Ü: Paetzke, Hans-Henning. Zürich: Ammann 1989 (deutsch-ung. zweisprachig). Wüstenei der Liebe: The desert of love. E: Nemeskürty, István. Ü: Patzke, Hans-Henning; Czjzek, Eva; Ebner, Jeannie; Czjzek, Roman; Fritsch, Gerhard; Rennert, Jürgen. Budapest: Kossuth 1992 (Holibri) (deutsch-englisch zweisprachig).
692
Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Radnóti, Miklós Ansichtskarten [Gedichte]. Ü/N: Fühmann, Franz. Berlin: Volk und Welt 1967. Gewaltmarsch. Ausgewählte Gedichte. Ü: Bieler, Markus. Tübingen: AS-Verlag; Budapest: Corvina 1984. Monat der Zwillinge Prosa, Gedichte, Fotos, Dokumente. H: Heinrichs, Siegfried. Ü: Skirecki, Hans; Kolbe, Uwe; Fühmann, Franz; Kárpáti, Paul. Berlin: Oberbaum; Enger: Lucas Presse 1993.
Rakovszky, Zsuzsa Familienroman. Gedichte. Ü/N: Gahse, Zsuzsanna. Wien: Ed. Korrespondenzen 2002 (deutsch-ung. zweisprachig).
Reviczky, Gyula Auswahl von Gedichten. Ü/E: Naschér, S[imon]. Budapest: Lampel; Leipzig: Witt 1896.
Sánta, Ferenc Das fünfte Siegel. Roman. Ü: Csongár, Almos. Berlin: Verlag der Nation 1985.
Szabó, Lőrinc Das sechsundzwanzigste Jahr. Lyrisches Requiem in hundertzwanzig Sonetten. Ü/N: Deicke, Günther. [Budapest]: Corvina [1982].
Szentjóbi Szabó, László Matthias Corvinus oder: Volksliebe ist edler Fürsten Lohn. Nationalschauspiel. Ü: Autor. Ofen: Druck Katharina Landerer 1792.
Zu einzelnen Autoren
693
Szerb, Antal Die Pendragon-Legende. Roman. Ü: Großmann-Vendrey, Susanna. N: Poszler, György. 4. Aufl. München: dtv 2004 (dtv Premium, 24425). Reise im Mondlicht. Roman. Ü: Viragh, Christina. N: Esterházy, Péter. München: DTV 2003 (dtv Premium, 24370); dass. 2007 (dtv, 13620); dass. 2011 (dtv, 19132).
Szijj, Ferenc Das Geheimnis des langsamen Lebens. Ü: Seidler, Andrea. Graz – Wien: Droschl 1992 (Trigon). Sturzlicht. Zwei Bücher zu langen Unfällen. Ü: Buda, György; Seidler, Andrea. Graz: Droschl 2005.
Szilágyi, Domokos Enzyklopädie des Fiebers. Ü: Czjzek, Eva; Czjzek, Roman. E: Szász, János. Salzburg: Müller 1977.
Szilágyi, István Steine fallen in versiegende Brunnen. Roman. Ü: Harmat, Georg. Berlin: Volk und Welt 1982.
Tamási, Áron Abel in der Wildnis. Ü: Harmat, Georg. Berlin: Neues Leben 1957. Ein Königssohn der Szekler. Roman. Ü: Jahnn, Hans Henny; Kárász, Judith. Leipzig: Payne 1941.
Tandori, Dezső Stafette. Prosa und Dichtungen. H/N: Deréky, Julianna. Ü: Rácz, Christine. Klagenfurt – Salzburg: Wieser 1994.
Tar, Sándor Die graue Taube. Roman über das Verbrechen. Ü: Koenen, Krisztina. Frankfurt/M.: Eichborn 1999. Ein Bier für mein Pferd. Ü: Skirecki, Hans. Berlin: Volk und Welt 1999.
694
Ungarische Literatur in deutscher Sprache. Eine Auswahlbibliographie
Térey, János KaltWasserKult. Gedichte. Ü: Kalász, Orsolya; Rinck, Monika. Stuttgart: Merz & Solitude 2007 (Reihe Literatur).
Tersánszky, Józsi Jenő Marci Kakuk. Ein ungarischer Schelmenroman. Ü/N: Csongár, Almos. Berlin: Verlag der Nation; Budapest: Corvina 1975.
Tolnai, Ottó Göttlicher Gestank. Gedichte. Ü/N: Gahse, Zsuzsanna. Wien: Ed. Korrespondenzen 2009.
Tóth, Árpád Abendlicher Strahlenkranz. Gedichte. H: Hajnal, Gábor; Kárpáti, Paul. N: Kárpáti, Paul. Ü: Boestroem, Annemarie; Deicke, Günther; Engl, Géza; Hermlin, Stephan; Hetényi-Heidlberg, Albert; Horvát, Heinrich; Kahlau, Heinz; Kárpáti, Andreas; Kárpáti, Paul; Kunert, Günther; Leicht, Hans; Milletich, Helmut Stefan; Polzin, Christian; Struzyk, Brigitte. [Budapest]: Corvina 1987.
Vajda, János Gedichte [Auswahl]. Ü: Balogh, Nikolaus. Baja: Übersetzer 1926; dass. Wien – Amsterdam – Leipzig: Franz Leo 1936.
Vörösmarty, Mihály Ausgewählte Gedichte. Ü: Hoffmann, Paul. Budapest: Athenaeum 1886; dass. Wien – Pest – Leipzig: Hartleben 1895. Gedichte. Uebersetzungen. Ü: Kertbeny, K[arl] M[aria]. Pest: Lampel; Leipzig: Schultze 1857. Schätze der ungarischen Dichtkunst. Bd. 4. Gedichte. Auswahl / Mihály Vörösmarty. H: Kerékgyártó, István. E: Engl, Géza. Ü: Deicke, Günther; Ebersbach, Volker; Engl, Géza; Fühmann, Franz; Klein-Krautheim, Ferdinand; Leicht, Hans. [Budapest]: Corvina 1984.
Zu einzelnen Autoren
695
Weöres, Sándor Der von Ungern. Gedichte und fünf Zeichnungen. Ü: Frischmuth, Barbara; Stauffer, Robert. N: Frischmuth, Barbara. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969; dass. 1991 (Bibliothek Suhrkamp, 1063). Gedichte. H: Kárpáti, Paul. Ü: Bostroem, Annemarie; Kahlau, Heinz; Papenfuß, Bert; Pietraß, Richard; Struczyk, Brigitte. Berlin: Neues Leben 1978 (Poesiealbum, 135). War mal eine schöne Lade. Ü: Kahlau, Heinz. Berlin: Kinderbuchverlag 1976 (Die kleinen Trompetenbücher, 119).
Zalán, Tibor és néhány akvarell. Versek : und einige Aquarelle. H: Stirn, Rudolf. Ü: Schiff, Júlia. Weissach im Tal: Alkyon 1999 (deutsch-ung. zweisprachig).
Závada, Pál Das Kissen der Jadwiga. Tagebuch. Roman. Ü: Zeltner, Ernő. München: Luchterhand 2006. Das Vermächtnis des Fotografen. Roman. Ü: Zeltner, Ernő. N: Dalos, György. München: Luchterhand 2010.
Zrínyi, Miklós Der Fall von Sziget: Obsidio Sigetiana. E: Markó, Árpád. Ü: Guilleaume, Árpád. Budapest: Officina 1944; dass. [unvollst. Ausg.] Stier, H. C. G[ottlob]: Ehrengedächtnis des Grafen Niclas Zriny[i Miklós id.] von Szigeth, Beigegeben: Die deutsche Chronik von 1568, das gleichzeitige Volkslied und Stücke aus Niclas Zriny[i Miklós ifj.] Zriniade [Szigeti veszedelem]. Colberg: Post 1866; dass. [unvollst. Ausg.] Zrinyi und die Zriniade. Abhandlung, Chronik von 1568 nebst dem gleichzeitligen Volksliede; dazu 6 Gesänge der Zriniade Niklas Zrinyis in d. Übers. Budapest: Rosenberg 1876.
Bildnachweis Der Herausgeber bedankt sich bei dem Literaturmuseum Petőfi (Budapest) für die großzügige Hilfe bei der Zusammenstellung des Bildmaterials und bei dem Literaturmuseum Petőfi (Budapest) bzw. bei der Széchényi Nationalbibliothek (Budapest) für die Bereitsstellung des Bildarchivs. Die Bilder wurden mit der Erlaubnis der Rechtinhaber verwendet.
Abb. 2–4, 6–7, 9, 10, 12–14, 16, 18, 19, 21–22, 24, 26–30, 32–47 Petőfi Literaturmuseum, Budapest Abb. 5 Petőfi Literaturmuseum, Budapest/Muzeul de Arta, Cluj-Napoca Abb. 23 Petőfi Literaturmuseum, Budapest/Réunion des musées nationaux et du Grand Palais des Champs-Élysées, Paris Abb. 31 Petőfi Literaturmuseum, Budapest/Kassák Múzeum, Budapest Abb. 1, 8, 11, 25 Széchényi Nationalbibliothek, Budapest Abb. 15, 17 Ungarische Nationalgalerie, Budapest Abb. 20 Déri Múzeum, Debrecen Abb. 48 László Simara, Privatbesitz Abb. 49 Zoltán Pálmai Zemint, Privatbesitz Abb. 50 Artpool Art Research Center, Budapest/György Galántai
Namensregister Ábrányi, Emil 285 Abstemius, Petrus 44 Achmed I., Sultan 72 Ács, János 620 Ács, Pál 56–57 Aczél, György 503, 623 Ádám, Ottó 620 Adelung, Johann Christoph 115 Ady, Endre 168, 290, 296, 299, 303–304, 307–322, 323–324, 330, 334, 339–340, 345, 389, 432–435, 439–440, 444, 450, 455, 462, 492, 547, 580, 583–584, 614 Ali Pascha 227 Altorjay, Gábor 623 Alvinczi, Péter 67, 72–73 Ambrus, Zoltán 280–281 Anaximenes 173 Andrási, Gábor 393 Angelus Silesius 594 Anonymus (P. magister) 4–6, 24, 150, 152, 217 Antoine, André 603 Antonio de Eslava 92 Antonio de Guevara 57 Antonio del Corro (Corrano, Corranus) 41 Ányos, Pál 104–105, 148 Apáczai Csere, János (Apácai Csere János) 65, 83, 85 Apáti, Ferenc 18 Apollinaire, Guillaume 389–390, 396 Áprily, Lajos 339 Arany, János 17, 65, 168, 202–204, 208–228, 230–235, 243, 246, 264–265, 284–286, 303, 308, 320, 329, 367, 470, 573 Aranyosrákosi Székely, Sándor 152 Arator Szántó, István 70 Ariost 79, 208 Aristoteles 173 Arns, Inke 446, 448 Arp, Hans 403 Árpád, Fürst 110, 144, 149–152, 154–155, 217 Artaud, Antonin 600 Árva Bethlen, Kata 86 Asbóth, János 250, 279, 481
Ascher, Tamás 605, 622 Ashbery, John 556 Äsop 31, 172 Assmann, Aleida 297, 626 Attila, Hunnenkönig (Etzel) 69, 149–150, 155, 217 Avar, István 619 Axmann, Josef 128, 153 Babarczy, László 622 Babits, Mihály 287–288, 290, 294, 297, 299, 302–309, 318, 321–329, 331, 333, 348, 355, 357–358, 362, 375, 387, 420, 422–423, 426–427, 430, 437, 455, 462, 471, 492, 495–496, 502, 573 Bach, Alexander 205 Bachmann, Ingeborg 474 Bachtin, Michail Michailowitsch 236, 477, 530, 536 Bagossy, László 625 Bajor, Gizi 603 Bajza, József 141–142, 168–169, 171, 173–174 Bakucz, József 564 Balassa, Péter 528 Balassi, Bálint 1–2, 17–19, 45, 48–57, 64, 560 Balassi, Ferenc 55 Balassi, János 45, 48 Balázs, Béla 297, 410, 607, 613 Balázs, Mihály 41, 73 Balde, Jacobus 97 Balkai, Géza 622 Balkányi, Magdolna 625 Balla, Demeter 511 Balog, István 119 Balzac, Honoré de 173 Bánóczi, Márton 607 Bányai, János 559 Barabás, Miklós 128, 153 Baranyai, Edit 541 Barcsay, Ábrahám 103–104, 110 Bárd, Miklós 285 Bárdos, Artúr 607–608, 612–614, 616 Báróczi, Sándor 103–104 Baróti Szabó, Dávid 97, 105–106
698
Namensregister
Barta, János 16, 19–20, 36, 40, 44, 46, 53, 211, 216, 246, 385, 394 Barta, Sándor 382, 385, 392, 394, 617 Barth, Bernd-Rainer 538 Bartók, Béla 265, 296–297, 475, 613–614 Básti, Juli 622 Báthori István, Ecsedi vgl. Ecsedi Báthori, István Báthori, István, Fürst von Siebenbürgen und König von Polen 42 Batizi, András 33, 37 Batsányi, János 105, 107–108, 114, 117, 151 Batthyány, Ádám 73 Batthyány, Familie 66, 75, 92 Batthyány, Ferenc 2, 66, 75 Batthyány, Lajos 176 Baudelaire, Charles 220, 276, 285, 303, 307–308, 323, 424, 445 Bayle, Pierre 139 Beatrix von Aragon 29 Becker, Henrik 116 Beckett, Samuel 618–619, 621 Bednanics, Gábor 299, 308 Beethoven, Ludwig van 118, 582 Békés, Vera 294 Béla III., König 4 Béládi, Miklós 555 Bellarmino, Roberto 71, 73 Bencédi Székely, István 33 Benczúr, Gyula 268 Benedek, Marcell 607 Benjamin, Walter 265, 313, 323, 347, 365, 403, 410, 424 Benkő, Loránd 8 Benn, Gottfried 294, 414, 427, 462 Bényei, Péter 243, 251, 254 Béranger, Pierre-Jean de 177 Beregi, Oszkár 603 Bereményi, Géza 620 Berg, Magda 531 Bergson, Henri 530 Berky, Lili 610 Bernhard, Thomas 531, 538–539 Bernstein, Henry 603 Berté, Heinrich 607 Berzsenyi, Dániel 112, 116, 125–129, 133–135
Bessenyei, György 65, 96, 100–104, 106, 110, 112, 172 Bessenyi, Ferenc 619 Bethlen, Gábor, Fürst von Siebenbürgen 57, 60–61, 66–67, 70, 83, 353–354 Bethlen, János 83 Bethlen, József (Josef) 85 Bethlen, Kata vgl. Árva Bethlen, Kata Bethlen, Miklós 83–86 Bèze, Théodore de 53, 62, 64 Bieler, Markus 233, 343, 374, 489 Bischof, Martin 475 Bisson, Julien 603 Blaha, Lujza 609 Blanc, Louis 177, 195 Blaskó, Katalin 133, 159, 177, 188, 198, 200–201, 218–219, 221–223, 225, 231 Blaskó, Péter 622 Blumauer, Aloys 111 Blumenberg, Hans 303 Bock, Michael 48 Bocskay, Familie 56, 67 Bocskay, István 72 Bod, Péter 86, 98 Bodnár, Erika 622 Bodó, Viktor 625 Bodor, Ádám 523–525, 542 Bognár, Péter 16 Bohrer, Karl Heinz 281, 312 Boileau-Despréaux, Nicolas 129 Bollweg, Erika 621 Bonfini, Antonio 24, 42–43 Bonnefoy, Yves 556 Bónus, Tibor 305, 361–362, 364, 520, 522, 528, 542, 546, 567 Borbély, Szilárd 136, 588, 594 Borges, Jorge Luis 489, 539 Bori, Imre 275 Bornemisza, Péter 43, 45–48 Bortnyik, Sándor 382, 397, 407, 617 Bostroem, Annemarie 137, 204, 221, 226–228, 230, 324, 441, 449, 467 Bouterwek, Friedrich 140 Brahm, Otto 603 Brant, Sebastian 40 Brassicanus, Johann Alexander 31 Brebirio, de, Familie 75
Namensregister
Brecht, Bertolt 600, 617–619 Brentano, Clemens 343 Brieg, Johann Christian von 67 Broch, Hermann 325, 483 Bródy, Sándor 275, 606, 608 Brook, Peter 622 Bruno, Giordano 60 Buchanan, George 53 Buchheim, Adolf 189, 199–200 Buda (Bleda), Bruder von Attila 217 Buda, György 531, 538, 541, 560 Bujdosó, Alpár 565 Bulgakow, Michail Afanassjewitsch 521 Bullinger, Heinrich 66 Burgenländer, E. 486 Bürger, Gottfried August 227, 281 Buschmann, Jörg 528 Butler, Judith 313 Byron, George (Gordon Noel, Lord of Newstead) 157, 170, 188, 213–214, 222, 238 Cabet, Étienne 195 Calinescu, George 292 Calvin, Johannes (Jean) 61, 73 Calvino, Italo 539 Camus, Albert 512–513, 531, 539 Carion, Johann(es) 33 Casiodoro de Reyna (Reina) 41 Castelletti, Cristoforo 53 Catullus, Caius Valerius 27 Celan, Paul 472–473, 567 Céline, Louis-Ferdinand 480 Cendrars, Blaise 396 Cervantes, (Saavedra) Miguel de 173 Chagall, Marc 411 Chalupka, Ján 123 Chamisso, Adelbert (von) 227 Charlotte Amalia, von Hessen-Wanfried (-Rheinfels-Eschwede) 87 Chatman, Seymour Benjamin 477 Cholnoky, László 375 Cholnoky, Viktor 282–284 Christian I., Kurfürst 60, 62 Chronegk, Ludwig 602 Cicero, Marcus Tullius 23, 45, 57, 67, 69 Cocteau, Jean 407, 617 Coler, Ch. 495
699
Collin, Matthäus von 148 Comenius (Jan Amos Komenský) 80 Corrano, Corranus, Antonio vgl. Antonio del Corro Correggio, Antonio Allegri da 110 Craig, Edward Gordon 603, 608, 612 Cs. Szabó, László 306 Csák, Gyula 502 Csákányi, Eszter 622 Csáky, Mihály 41 Csalog, Zsolt 484 Csáth, Géza 284, 297, 368, 375, 481, 523, 538 Cseh, Tamás 620 Cseres, Tibor 502 Cserhalmi, György 622 Cserhalmi, Irene, H. vgl. Hecht-Cserhalmi, Irene Csernátony, Lajos 274 Csetri, Lajos 133–134 Csiszár, Imre 620 Csokonai, Vitéz Mihály 99–102, 107, 109, 111–114, 116, 129, 133–135, 150, 186 Csongár, Almos 355, 502 Csoóri, Sándor 484, 502 Csortos, Gyula 610 Csurka, István 621 Czakó, Zsigmond 180 Czékmány, Anna 624 Czjzek, Eva 472 Czóbel, Minka 288–289 Czvittinger, Dávid 98 D’Acy, Claude (Kerpel, Jenő) 136–137 D’Holbach, Paul Henry Thiry, Baron (Paul Heinrich Dietrich) 102, 113, 138 Dalcroze, Jacques 410 Daniel, Prophet 3 Dante, Alighieri 522 Darrel, William 92 Darvasi, László 255, 519, 524–525, 549, 552 Dasypodius, Petrus 63 Dávid, Ferenc 41 Dávidházi, Péter 136, 148, 202 Dayka, Gábor 101, 110 Dayka, Margit 619 de Brebirio, Familie vgl. Brebirio, de, Familie de Eslava, Antonio vgl. Antonio de Eslava
700
Namensregister
de Guevara, Antonio vgl. Antonio de Guevara de Man, Paul 338, 425–426 de Reyna (Reina), Casiodoro vgl. Casiodoro de Reyna Deák, Ferenc 195, 203–204, 206 Deicke, Günther 158–161, 164, 166–167, 317, 454, 458, 462, 595 del Corro, Antonio vgl. Antonio del Corro Démusz, Ella (Frau László Németh) 495 Deréky, Géza 531 Deréky, Pál 383, 385–387, 390–394, 397, 407, 411, 413, 415–416, 443, 457, 541, 545, 567 Déry, Tibor 385, 394, 401–402, 408–409, 496, 504, 617 Descartes, René 84–85, 138 Dessewfy, József, Graf 142, 169, 170 Deutsch, J. 609 Dévai, Mátyás (Matthias) Bíró 31, 60 Devescovi, Balázs 182 Dickens, Charles 173, 197, 207, 269 Dieballa, Georg 185 Dienes, Valéria 410 Dietze, Alexander 256 Dilthey, Wilhelm 496 Diner, Dan 419 Dingelstedt, Franz von 602 Ditrói, Mór 604–605, 618 Döblin, Alfred 347, 362, 477–478, 480 Dobos, István 279 Döbrentei, Gábor 140, 142, 168–169 Dóczi (Dux), Lajos (Ludwig) 230 Dohnányi, Ernő 265 Domján, Edit 619 Domonkos, István 469, 559–561, 580, 583, 596 Dörre, Tivadar 71 Dostojewski, Fjodor Mihailowitsch 276 Dózsa, György 163 Draskovich, Eusebia Mária 75 Drews, Jörg 564 Droste, Wilhelm 334 Dsida, Jenő 340, 441 Duchamp, Marcel 393 Dudumi, Demeter 221 Dugonics, András 110, 120 Dumas, Alexandre 173 Duncan, Raymond 410
Durzak, Manfred 266 Duse, Eleonora 608 Dux, Adolf 167, 182, 187, 190, 195, 238 Dux, Ludwig vgl. Dóczi, Ludwig (Lajos) Ebersbach, Volker 24–25, 27–28 Eckermann, Johann Peter 537 Eckhardt, Sándor 2 Ecsedi Báthori, István 64 Edward I., König 226 Eggeling, Viking 403 Egressy, Béni 163 Egressy, Gábor 185 Egressy, Zoltán 625 Einstein, Carl 404 Eisemann, György 225, 231, 235, 267 Eisemann, Mihály 604 Eisenstein, Sergei Mikhailovich 410, 413 Eisterer, Heinrich 255, 361, 525, 552 Eliot, Thomas Stearns 567–568 Ellinger, Ede 209 El Lissitzky vgl. Lissitzky, El Ender, Johann 134 Endrődi, Sándor 285 Engel, Johann Jakob 138 Engl, Géza 40, 46, 51–53, 66, 74, 84, 90, 160, 194, 231, 251, 256, 270, 330, 458, 462, 494, 502, 549, 602 Eötvös, József, Baron 163, 176, 179, 181–183, 347 Erasmus von Rotterdam 29–30 Erdély, Miklós 565, 567, 574 Erdélyi, János 176, 182, 206, 208 Erdélyi, József 441–442, 466–467, 475, 495 Erdélyi, Mór 237 Erdős, Virág 625 Erkel, Ferenc 119, 136, 612 Esterházy, Miklós 103 Esterházy, Paul 547 Esterházy, Péter XIV, 267–268, 270, 368, 429, 490, 493, 504–506, 509, 519, 526, 528, 534–539, 541, 543–548, 551, 622, 625 Etzel vgl.. Attila, Hunnenkönig Fábri, Anna 240, 242–243 Faidit, Gaucelm 16 Falke, Oskar 189, 199–200 Faludi, Ferenc 91–92
Namensregister
Falus, Elek 300 Fanta, Walter 133 Farkas, András (Andreas) 32, 37, 78 Farkas, Hermine 610 Farkas, Max 189, 196 Farkas, Zsolt 571 Faulkner, William 480 Fáy, András 178–179 Fazekas, Mihály 129–130 Fedák, Sári 604 Fejes, Endre 502, 514 Fenyéry, Gyula 168 Ferdinand I. von Habsburg 37–38, 215, 254 Ferdinand II., Kaiser 71 Ferdinand III. von Habsburg 253 Ferdinand, Erzherzog 71 Ferenczi, Frigyes 603 Ferenczi, Sándor 296, 369 Ferenczy, Károly 265 Ferraris, Arthúr 274 Feydau, Georges 603 Fichte, Johann Gottlieb 160 Ficino, Marsilio 28–29 Filó, Vera 625 Firdausī (Firdosi, Firdawsi), Abū ‘l-Qāsim 210, 217 Fischer-Lichte, Erika 601–602, 605, 612–613, 618 Flaubert, Gustave 280, 351 Flierl, Resi 497 Fodor, Péter 523 Fodor, Tamás 605, 623 Fogarasi, Béla 304 Forgách, Ferenc 72–73 Forgách, Mihály (Michael) 54, 60 Forgách, Simon 54 Forgács, Éva 381, 383, 385–388, 390, 393, 403 Forgács, Péter 248 France, Anatole 280 Franck, Sebastian 40 Frankenburg, Adolf 176 Franyó, Zoltán 580 Franz I. von Habsburg 106, 117, 170 Franz Joseph I. von Habsburg 226–227 Freud, Sigmund 411 Fried, István 308, 369
701
Friedrich III., Kaiser 64 Friedrich IV., König 21 Friedrich IV., Kurfürst 65 Friedrich, Hugo 265, 456 Frischmuth, Barbara 391, 394, 411, 414–416, 443, 456–457, 467, 469, 510, 533 Fritsch, Gerhard 472 Frobenius (Froben), Hieronymus 43 Fühmann, Franz 156, 163, 312, 341, 344, 458, 474, 568 Fulda, Ludwig 189 Fülep, Lajos 296–297 Fülöp, László 369 Füst, Milán 302, 340–342, 358, 467, 607, 622 Futaky, Ruth 351 Gábor, Andor 604 Gábor, Miklós 619 Gadamer, Hans-Georg 425 Gahse, Zsuzsanna 531, 536, 538–539, 541 Gál, Csaba 515 Gál, Erzsébet 623 Galántai, György 624 Gálszécsi, István (Stefan) 60 Garaczi, László 526, 534, 541–542, 545, 625 Garas, Dezső 619 García Márquez, Gabriel 521 Gárdonyi, Géza 251, 268–270, 549–550, 609 Gärtner, Heinrich 156 Gáspár, Andreas 389, 391, 395–396 Gáspár, Endre 185, 413 Gáspár, Käthe 353 Gecső, Sándor Frau 446 Gellért, Endre 605, 620 Gellért, Oszkár 318 Gellért (St. Gerhardus) 3–4 Genet, Jean 621 Genette, Gérard 477, 481 Georg II. von Sachsen-Meiningen 601 Georg Rudolf von Liegnitz, Herzog 70 George, Stefan 309 Gerézdi, Rabán 20 Gerhardus, St vgl. Gellért Gerő, András 296 Gerő, György 407, 410 Geertz, Clifford XIII Gessner, Salomon 100–101, 108
702
Namensregister
Gesswein, Alfred 325, 327 Geszti, László (Ladislaus) 20, 53 Gintli, Tibor 369 Gion, Nándor 503 Girzik, Franz Xaver 119 Glatz, Eduard 239, 243 Gnüg, Hiltrud 585 Gobbi, Hilda 619 Godofridus de Santo Victore 11 Goethe, Johann Wolfgang von 100, 102, 107–108, 110–111, 113, 116, 127, 134, 172, 224, 329, 421, 489, 550, 582 Goldoni, Carlo 123 Goll, Ivan 392, 401, 407 Goller, Mirjam 446, 448 Gombos, Annamária XVI, 666 Gombrowicz, Witold Marian 347, 538 Gomez, Madame de (Madelaine-Angélique de) 91 Gönczy, Monika 252 Görcz, Eugen 486 Görgey, Arthur 204 Görgey, Gábor 547 Gosztonyi, Alexander 433 Gothár, Péter 523 Gottsched, Johann Christoph 103, 602 Gottschlig, Franz 6 Gozsdu, Elek 276, 278 Gragger, Robert 11 Grassalkovich, Antal, Herzog 173 Grecsó, Krisztián 528 Greenblatt, Stephen XI Grendel, Lajos 548 Greßmann, Uwe 126–127, 129 Grillparzer, Franz 120 Grimm, Jacob und Wilhelm 139, 144, 146, 187, 216, 218, 550 Gró, Lajos 410 Groepper, Tamina 603 Grosche, Hildegard 517, 525, 527, 533, 542 Großmann-Vendrey, Susanna 376 Grotowski, Jerzy 619 Guarino da Verona 24, 27 Gugelweit, Johann (János) 17 Guilleaume, Árpád 345 Gulácsy, Iren 446 Gulácsy, Lajos 614
Gumbrecht, Hans Ulrich 490 Gutenberg, Johannes 398, 401 Gyáni, Gábor 292–293, 295 Gyenes, László 603 Gyöngyösi, István 80–83 György, Péter 384 Gyulai, Pál 207, 233, 250, 285 Háfiz (Hafes, Hafis) 112 Hajdu, Péter 267 Halász, Gábor 306, 389, 422–423, 437, 495 Halász, Hajnalka 364 Halász, Péter 624 Haldimann, Eva 517 Haller, László 86 Hamvai, Kornél 625 Handke, Peter 539, 560 Handmann, Adolf 224 Hankiss, Elemér 396 Hansági, Ágnes 182, 304 Harag, György 621 Hardy, Thomas 269 Harmat, Georg (György) 271, 483, 517 Harmos, Ilona (Frau Decső Kosztolányi) 335 Harsányi, Zsolt 446 Harte, Bret 269 Határ, Győző 496, 583 Hatvany, Lajos 335 Hauptmann, Gerhart 604, 607 Hauser, Arnold 297 Haverkamp, Anselm 313 Háy, János 549, 625 Hebbel, Friedrich 212, 266, 607 Hecht-Cserhalmi, Irene 136, 247 Hegedűs, Gyula 604 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 171, 174, 338 Hegyi, Loránd 565 Heidegger, Martin 332, 425–426, 479 Heilig, Bruno 241 Heine, Heinrich 177, 187–188, 235, 285 Heller, Ágnes 471 Heltai, Gáspár (Helth, Kaspar) 39–42 Heltai, Jenő 368, 604, 607 Hemingway, Ernest 503, 516, 523 Henszlmann, Imre 174, 176 Herbert, Zbigniew 583 Herczeg, Ferenc (Franz) 607–608, 610
Namensregister
Herder, Johann Gottfried 97, 105, 115, 134, 139, 142, 144, 146, 152, 160, 186, 196, 212, 233 Hermlin, Stephan 26, 125–127, 129, 458 Herrico, Scipione 79 Herrmann, Max 600 Hervey, James 112 Hess, Andreas 23 Hevesi, Sándor 607–613, 616, 618 Hevesy, Iván 407, 410, 617 Heyne, Christian Gottlob 109 Hites, Sándor 178, 251, 255 Hnĕvkovský, Šebestian 112 Hódosy, Annamária 216 Hoffgreff, Georg 39 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 266, 282, 375, 480 Hoffmann, Leopold Aloys 147 Hoffmann, Michael 151 Hofhalter, Raphael 44 Hofmannsthal, Hugo von 289, 301–302, 309, 325–326, 332, 341, 427, 429, 440, 600 Hölderlin, Friedrich 125, 582 Hollósy, Simon 265 Homer 210, 214–215, 221 Honterus, Johannes 39 Honthy, Hanna 604 Hoppál, Mihály 210 Horányi, Elek (Alexius) 6, 98 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 67, 69, 97, 101, 106, 117, 125, 134, 173, 208, 231 Hormayr, Joseph von 147–148 Horthy, Miklós 383, 508 Horvai, István 605, 620 Horvát, Heinrich 331 Horváth, Iván 16, 18, 48 Horváth, János 36, 153, 304, 311–313, 496, 583 Horváth, Károly 259 Hrabal, Bohumil 539 Huber, Beáta 624 Hudi, László 625 Huelsenbeck, (Carl Wilhelm) Richard 392, 394 Hugo, Victor 173–174, 177 Humboldt, Wilhelm von 251, 367, 505, 534 Hunyadi, János (Johann) 14, 23
703
Hunyadi, László (Ladislaus) 225 Hunyadi, Mátyás (Matthias) 15, 22–24, 29, 144, 225–226 Huszár, Gál 45, 47 Huyssen, Andreas 565 Ibsen, Henrik 532, 604, 607, 620 Iffland, August Wilhelm 608 Ignotus (Veigelsberg, Hugo) 297, 299, 423, 431 Illyés, Gyula 308, 329, 344–346, 407, 440–441, 444, 466–467, 471, 483–486, 495, 502, 526, 555–559, 561, 609, 619 Ilosvai Selymes, Péter 16, 208, 212 Imre (St. Emerich) 3 Imre, László 182, 214, 259, 273 Imre, Mihály 65 Imre, Zoltán 612 Ipolyi, Arnold 218 Isidor von Sevilla 3 Isokrates 172 Iványi-Grünwald, Béla 265 Jacobi, Victor 604 Jahnn, Hans Henny 483 Jákfalvi, Magdolna 408, 617, 623, 625 Jakobson, Roman 481 James, William 530 Jandl, Ernst 560 Jankovics, József 82, 85 Jankovits, László 5, 28 János (Szapolyai/Zápolya) I., König 37–38, 215 János Zsigmond (Johann Sigismund) 37, 41, 254 Janus (Johannes) Pannonius 1, 5, 23–25, 27–31 Jászai, Mari 602 Jauß, Hans Robert 303, 309, 323–324, 341, 536 Jávor, Pál 604, 610 Jean Paul (Richter, Johann Paul Friedrich) 127, 140, 213, 285 Jékely, Zoltán 441 Jeles, András 605, 623 Jelinek, Elfriede 618 Jemnitz, Sándor 407 Jenbach, Belá 605 Jenisch, Daniel 115
704
Namensregister
Jessner, Leopold 600, 603, 608, 610, 613 Joannes (Johannes, Janus) Secundus (Everaerts, Jan) 50 Jób, Dániel 604, 618 Jókai, Mór 176–177, 203–204, 206, 236–239, 243–244, 247–248, 251, 265, 269, 273–274, 347, 480, 549 Joseph II., Kaiser 102, 104–106, 146, 170 Jósika, Miklós, Baron 178–179, 181, 183, 347, 480 Joyce, James 347, 362, 480, 483, 503 József, Attila 305, 307, 314–315, 321, 329, 331, 333, 338, 342, 344, 346, 411, 414–416, 426–428, 433, 436–437, 439–441, 444, 455, 457–463, 465–466, 472–474, 567–568, 573 Juhász, Ferenc 475, 555–557, 562 Juhász, Gyula 288, 319–320, 339, 455 Justh, Zsigmond 275 Kabdebó, Lóránt 308, 452 Kacsóh, Pongrác (Pongratz) 604, 609 Kádár, János 503, 580, 620 Kaffka, Margit 297, 374 Kafka, Franz 294, 358, 365, 480, 503–504, 521, 523–524, 531, 538, 540 Kahlau, Heinz 51, 58, 317, 323, 439, 462, 467 Kállai, Ernő (Ernst) 406, 410 Kálmán C., György 568 Kálmán, Emmerich (Imre) 604–605 Kálmán, Kata 350 Kálnoky, László 390 Kamper, Dietmar 565 Kant, Immanuel 109, 142 Karády, Katalin 604 Karafiáth, Judit 411 Kárász, Judith 483 Karinthy, Ferenc 537 Karinthy, Frigyes 302, 376, 540, 614 Karl August von Weimar (Sachsen-Weimar-Eisenach) 104 Karl V., Kaiser 149 Kármán, József 108–109, 120, 123, 129 Károlyi, Gáspár 33, 62 Kárpáthy, Aurél 612 Kárpáti, Andreas 335, 338, 439 Kárpáti, Paul 338, 439, 474, 557, 563 Kárpáti, Péter 625
Kassák, Lajos 304, 381–400, 401, 403, 410, 412–413, 415–416, 426, 430–431, 437, 440–441, 443–444, 455, 471, 563, 565, 617 Katančić, Matija Petar 106 Katona, József 119–120, 122–123, 142, 173–174, 286, 612, 614 Kavafis, Konstantinos (Petrou) 567, 595 Kayser, Albrecht Christoph 101, 108 Kazimír, Károly 619–620 Kazinczy, Ferenc 99–102, 104–112, 116–118, 123, 127, 133–135, 138, 140, 148–149, 174–175, 183–184, 233, 582 Kecskeméti, Kálmán 569, 577 Kékesi, Zoltán 398, 406, 410–411, 574, 602, 625 Kemenes Géfin, László 564, 583 Kemény, István 592 Kemény, János 82–83 Kemény, Zsigmond 176, 183, 204, 207, 248–251, 253–256, 347, 354, 471, 481, 552 Kemp, Wolfgang 406 Kempen, Thomas von 73 Kenyeres, Zoltán 299, 593 Kerényi, Karl 494 Kereszturi, Pál 83 Keresztury, Tibor 557, 564, 591 Kerpel, Jenő vgl. D'Acy, Claude Kertbeny, Karl Maria 136, 158–159, 185–187, 189–190, 194, 196, 220–225, 227, 239, 244 Kertész, André 316 Kertész, Imre 506, 510, 512, 518, 526, 528–529, 531 Keserű, Ilona 507 Kézai, Simon 5–6, 145, 217 Kierkegaard, Søren Aabye 532 Király, István 331, 333, 360–362 Kirchner, Kaspar 67 Kiš, Danilo 547 Kisfaludy, Károly 118, 123, 138, 141, 151, 169, 172–173 Kisfaludy, Sándor 111, 114, 116, 119, 140, 172 Kiss, Endre 388 Kiss, Farkas Gábor 79 Kiss, Gabriella 619, 625
Namensregister
Kiss, József 285 Kiss, Manyi 619 Kittler, Friedrich XI, 579, 588 Klaniczay, Tibor 7, 10, 16, 19–20, 24–28, 36, 40, 44, 46, 53–54, 57, 59, 66, 75–76, 80, 82, 85, 90–91, 125–127, 129, 159–160, 163, 166, 236 Klein, Hermann 179–180 Klein, Stephan Josef 355–356, 359–360, 420 Kleist, Heinrich von 266, 533, 550–551 Klopstock, Friedrich Gottlieb 105, 116 Klotz, Volker 606 Kochanowski, Jan 53 Kocsis, Rózsa 408 Kodály, Zoltán 265, 296–297 Kodolányi, János 483 Koenen, Krisztina 526 Köffinger, Johann Paul 148 Koháry, Ferenc 109 Kohlhäufl, Michael 148 Kolbe, Hans 10, 80 Kolbe, Irene 364, 420 Kolbenheyer, Moritz 210, 212 Kölcsey, Ferenc 33, 133–141, 143, 159, 163, 169, 174–175, 184, 294, 329, 441 Koltai, Lajos 531 Koltès, Bernard-Marie 618 Komenský, Jan Amos vgl. Comenius Komját, Aladár 385 Komjáthy, Jenő 233, 285, 287–288, 308 Komjáti, Benedek 30 Komlós (Lupinus, Lupulus), András (Andreas) 42 Konrád, György 504, 517 Kopisch, Jakob 67 Köprili (Köprülü), Ahmed, Großwesir 76 Körner, (Carl) Theodor 138 Kornis, Mihály 621 Korniss, Dezső 386 Kornitzer, Laszlo 531 Koselleck, Reinhart 251 Kossuth, Lajos 170–171, 175, 203–204, 216, 226, 253 Kőszeghy, Péter 50–53 Kosztka, György 152 Kosztolányi, Dezső 8, 117, 233, 279, 283, 288, 290, 294, 297, 301–303, 305–307,
705
315, 318, 330–336, 338, 348–349, 358–362, 364–368, 375, 387, 420, 426–427, 429, 433–436, 439–441, 462, 470–471, 482, 502, 504–505, 509, 514, 523, 534, 537–538, 540, 547, 573, 612 Kotzebue, August von 107, 119, 173 Kovács, András Ferenc XV, 572–573, 578, 583–584, 588–589, 594–596 Kovács, Béla Lóránt 524 Kovács, Imre 483 Kovács, Sándor Iván 76, 80 Kövesházi, Ágnes 617 Kozma, Andor 285 Krasznahorkai, László 510, 519–523 Krause, Stephan XVI Krnarutić, Brne 79 Krücken, Oskar von 272 Krúdy, Gyula 202, 267, 283, 294–297, 303–304, 348, 366, 369–375, 481, 489, 505 Krug, Wilhelm Traugott 171 Krüger, Ingrid 531 Kruntorad, Paul 475 Kukorelly, Endre 526, 528, 532, 541, 567, 577–578, 588, 590–591, 596 Kulcsár Szabó, Ernő 266, 301–302, 304–306, 311, 330, 338, 344, 346, 351, 366, 389–390, 393, 396, 505, 512–513, 538–540, 555, 565, 583, 595 Kulcsár-Szabó, Zoltán 305, 387, 391, 394, 414, 416, 449, 505, 528, 532, 543, 550, 557, 583 Kulka, István 622 Kun, Béla 383 Kun, Eva 607 Kunkli, Enikő 250–251 Kunze, Christina 4–5, 11, 15, 19, 23, 30, 38–39, 47, 55–56, 65, 74, 89, 151, 167, 199, 209, 235, 427, 429, 433–434, 436, 438, 441–442, 449, 451–452, 454, 458, 462–463, 465, 476, 596 Kürti, József 603 Küry, Klára 604 Kuthy, Lajos 182 Lachmann, Renate 563 Lackó, Miklós 292 Ladányi, Mihály 556, 580, 586
706
Namensregister
Ladik, Katalin 572 Ladislaus V. von Habsburg 225–226 Lajos (Ludwig) I., der Große, König von Ungarn und Polen 22, 143, 208, 213 Lajos (Ludwig) II., König 34, 37 Lamartine 177, 195 Landgraf, Lorenz 183–184, 189, 193–194, 199–200 Láng, Zsolt 549, 551 László I., König (St. Ladislaus) 3 László IV., König 5 Latinovits, Zoltán 619 Latzkovits, Miklós 35, 45 Laube, Heinrich 602 Lázár, Kati 622 Lehár, Franz 604 Lehmann, Hans-Thies 619–620 Lehotay, Árpád 603 Leicht, Hans 161, 163–164, 204, 225 Lejeune, Philippe 490 Lénárt, Tamás XVI Lenau, Nikolaus 188, 285 Lengyel, Menyhért 607, 613 Lengyel, Péter 504, 509–510, 519–520, 526, 528, 532 Leopold II., Kaiser 106 Lessing, Gotthold Ephraim 107, 120, 172, 602 Lillo, George 120 Lippay, György 76 Lipsius, Justus 54–55, 57, 60, 68 Lissitzky, El (Lazar Markovich) 398, 402–405 Lisznyai, Kálmán 206, 226 Liszt, Franz 265 Löbl, Eva Maria 76 Lobwasser, Ambrosius 64, 66 Longinos, Kassios 173 Lónyay, Erzsébet 582 Lőrincz, Csongor 305–306, 338, 465, 548, 573 Losonczy, Anna 54 Louis Philippe 179 Lovik, Károly 281, 283–284 Lowell, James Russel 445 Lüdeke, Hedwig 224, 232 Ludwig XIV., König von Frankreich 87–88 Luhmann, Niklas 298, 301
Lukács, Andor 622 Lukács, Georg (György) 296, 297, 299, 347, 471, 502, 556, 584, 607 Lukacs, John 292, 295–297 Lupinus (Lupulus), Andreas (András) vgl. Komlós, András Luther, Martin 31–32, 74, 550 Mácza, János 382, 385, 392, 408, 617 Madách, Imre 157, 205, 256, 259, 471, 523, 604, 612, 615 Madas, Edit 7 Madzsar, Alice 407, 410, 617 Maeterlinck, Maurice 607 Magris, Claudio 539 Magyari, István 72 Mahler, Gustav 265 Mailáth (Majláth), János (Johann), Graf 136, 147–149, 179 Maior, Petru 106 Major, Tamás 619–620 Makk, Károly 497 Makláry, Zoltán 610 Mallarmé, Stéphane 308, 425, 427, 556, 565, 579 Mándy, Iván 503 Mann, Katia 335 Mann, Thomas 335, 348, 376, 480, 486, 488–489, 530, 537, 542–543 Mannheim, Karl 297 Márai, Sándor 8, 293, 297, 366, 368, 374, 429–430, 470, 478–479, 483, 486–490, 492–493, 504–505, 509, 523, 538, 543, 560, 607, 611, 613 Margócsy, István 186–187, 562 Maria Theresia, Kaiserin 91, 96, 102, 104 Maria von Habsburg, Königin 34, 37 Marinetti, Filippo Tommaso 387, 444 Marino, Giambattista (Giovan Battista) 78–79 Márkus, Emilia 602 Marmontel, Jean-François 104 Marno, János 583, 589 Marot, Clément 64 Márquez, Gabriel García 521 Martialis, Marcus Valerius 24 Martinkó, András 158 Martinovics, Ignác 107 Marton, Endre 605, 620
Namensregister
Márton, László 276, 549–551, 588, 592, 620–621 Marullus, Michael (Tarchaniota) 50 Marzio, Galeotto 14, 17, 21, 25, 27–29 Máté, Angelika 538 Máté, Péter 538 Máthé, Gábor 622 Mátyás (Matthias) I., König vgl. Hunyadi, Mátyás Matthias, Erzherzog 72 Matthisson, Friedrich von 125 Maupassant, Guy de 276 Mauthner, Fritz 440 Maximilian, Kaiser 75 Mayer, Bernard 205 Medici, Familie 29 Mednyánszky, Alajos (Mednyánszky, Aloys Freiherr von) 147–149 Melanchthon, Philipp 31–34, 60 Melius Juhász, Péter 41 Mensáros, László 619 Mensendieck, Bess (Elizabeth Marguerite de Varel) 410 Menyhért, Anna 557 Mészáros, Ignác 551 Mészöly, Gedeon 12 Mészöly, Miklós 503–506, 510, 511–514, 516–519, 523–526, 531, 533–534, 540, 548, 620 Metastasio, Pietro 112 Meyer, Conrad Ferdinand 223 Meyerhold, Wsewolod Emiljewitsch 606, 618 Mezei, Árpád 407 Michelet, Jules 177 Mickiewicz, Adam 157 Mikes, Kelemen (Klemens) 88–91 Mikes, Pál (Paul) 89 Mikszáth, Kálmán 251, 267–274, 277, 281, 347, 351 Milbacher, Róbert 215–216, 227 Miller, J(oseph) Hillis 590 Milletich, Helmut Stefan 330 Millot, Claude-François-Xavier 107 Milton, John 208 Misztótfalusi Kis, Miklós 65 Mohácsi, János 605, 625 Mohácsi, Jenő 256, 602
707
Moholy-Nagy, László 397, 403–404, 406–407, 617 Möhrmann, Renate 600 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 107, 116, 123, 172, 611 Möller, Heinrich Ferdinand 107 Molnár Szenci, Albert 61–62, 64–67, 338 Molnár, Farkas 407 Molnár, Ferenc 606, 613 Molnár, Gábor Tamás 306, 338, 517, 547 Montecuccoli, Raimund, Graf 76 Moore, Thomas 224 Mora, Terézia 268, 525, 536, 538, 540, 546 Móricz, Zsigmond 297, 302, 348–351, 354, 517, 526, 552, 609 Moritz von Hessen, Landgraf 65 Moses 6, 164, 195 Mrožek, Sławomir 619, 621 Müller, Heiner 618–619 Müller, Johann Ludwig Wilhelm 223 Müllner, András 567, 574 Mundorf, Paul 486 Mundruczó, Kornél 626 Munkácsy, Mihály 286 Mušicki, Lukijan 106 Musil, Robert 294, 347–348, 366, 477–478, 480, 483, 486, 488, 503, 509, 538 Muth, Daniel 433, 440, 458, 462, 465, 473 Nabokov, Vladimir 490 Nádas, Péter 504–506, 510, 513–517, 519, 526, 528, 530–531, 542–544, 594, 622–623 Nádasdy, Familie 31, 72 Nádasdy, Ferenc 76 Nádasdy, Tamás, Graf 31, 38 Nádler, István 535 Nadolny, Sten 549 Nagel, Ivan 496 Nagy, Endre 616 Nagy, Gáspár 580 Nagy, Ignác 182 Nagy, Lajos 483 Nagy, László 308, 475–476, 555–557, 563, 573, 584 Nagy, Pál 565 Napoleon, Bonaparte 117, 122, 140, 150 Neidhart von Reuental 16–17
708
Namensregister
Nemes Nagy, Ágnes 307, 310, 329, 331, 473–474, 556, 562, 568, 576 Németh, Andor 384–386, 392, 409–411, 415, 443 Németh, Antal 600, 608–613, 615–616, 618 Németh G., Béla 193, 218, 264, 277, 329, 333, 336, 339, 342, 355 Németh, László 306, 374, 422–423, 471, 483, 493–496, 517, 609, 611, 615, 619 Némethy, L. 349–350 Nemoianu, Virgil 259 Néricault Destouches, Philipp 103 Neuberin (Neuber, Friederike Caroline) 602 Neugebauer, Ladislaus 185, 269 Nietzsche, Friedrich 287, 302, 309, 313, 319, 323, 332, 334, 357, 361, 366, 388–389, 478–479 Nikisch, Arthur 265 Novák, Eszter 625 Novalis (Philipp Friedrich von Hardenberg) 550 Nyilas Milotai, István 61 Nyilasy, Balázs 242, 245 Nyitske, Alajos 147 O’Neill, Eugene 604 Odorics, Ferenc 459 Ódry, Árpád 603 Okudshawa, Bulat Schalwowitsch 521 Oláh, Gusztáv 613 Oláh, Miklós (Nikolaus) 43 Oláh, Szabolcs 590 Olson, Charles 556 Opitz, Martin 66–70 Opitz, Theodor 184, 187, 193, 197, 201, 254 Oplatka, Andreas 269, 273 Oraić Tolić, Dubravka 304–305 Oravecz, Imre 454, 484, 563–564, 567, 571–572, 576, 585, 587 Orbán, Ottó 563, 571 Origanus, Johann(es) 67 Örkény, István 504, 523, 534, 537, 540, 621 Orlai Petrich, Soma 118 Orosz, Magdolna 374 Ossian 150–151, 153, 183, 221 Osvát, Ernő 387 Ottlik, Géza 368, 490, 503–506, 507–510, 519, 521, 523, 530, 538
Ovidius, Publius Naso 50, 113 Ozorai, Imre (Emerich) 60 P. magister vgl. Anonymus P. Müller, Péter 621 Paál, István 623 Paetzke, Hans-Henning 472–473, 527, 538, 550, 581 Páger, Antal 619 Pailleron, Édouard 603 Pajor, Gáspár 108 Palágyi, Menyhért (Melchior) 297, 301 Palasovszky, Ödön 383, 407–409, 617, 623 Pálmai Zemint, Zoltán 614 Pán, Imre 381, 386, 407, 410 Pápai Páriz, Ferenc 65 Papp, Tibor 565, 579 Pareus, David 61 Parti Nagy, Lajos 545, 589–592, 594, 596, 622 Pascal, Blaise 539 Passuth, Krisztina 397 Pastior, Oskar 559 Paulay, Ede 602, 610 Paulus von Tarsus 30, 36, 512–513, 593 Paulus, Friedrich 593 Pázmány, Péter 39, 70, 72–75 Pécsi, Sándor 619 Perényi, Familie 30 Perényi, Ferenc 215 Perényi, János 30 Pestalozzi, Karl 585 Pesti, Gábor (Gabriel Pannonius) 30 Petelei, István 278 Péter, Bischof von Raab (Győr) 4 Péter, Probst von Esztergom (Gran) 4 Peternák, Miklós 410 Petersen, Julius 600 Pethes, Imre 603 Pethes, Sándor 603 Petőfi (Petrovics), Sándor 142, 168, 171, 176–177, 183–191, 193–203, 206–208, 210–213, 221–222, 233–234, 285, 442, 485, 583, 591, 609 Petrarca, Francesco 22, 43, 52–53, 114 Petri, György 564, 567, 571, 573, 576–577, 580–582, 585, 589, 591 Petrichevich Horváth, Lázár 177
Namensregister
Petz, Henrik 113 Piccolomini, Enea Silvio 21, 64, 69 Pico della Mirandola, Giovanni 32 Pietraß, Richard 396, 430–431 Pilinszky, János 307, 310, 319, 331, 472–474, 542, 556, 568, 590, 623 Pintér, Béla 605, 625 Pirnát, Antal 42 Piscator, Erwin 603 Pius II., Papst 21 Plakolb, Ludwig 495 Plantin, Christoph 43 Platon (Plato) 28, 55 Pléh, Csaba 297 Plessner, Helmuth 301 Podiebrad, Georg 226 Podmanitzky, Frigyes, Baron 274 Podmaniczky, Tibor 483, 485, 488 Poe, Edgar Allan 282 Polanyi, Michael (Mihály) 297 Polgar, Alfred 606 Polzin, Christian 314 Pope, Alexander 100, 129 Popović, Jovan Sterija 123 Poppel Lobkowitz, Éva 2, 75 Popper, Leó 296 Pósa, Lajos 285 Pound, Ezra 427, 583, 594 Prágai, András 57 Proust, Marcel 371, 485, 543 Psota, Irén 619 Pulszky, Ferenc 146, 182 Pyrker, János László (Johann Ladislav) 148– 149, 168, 174 Pythagoras von Samos 172 Queneau, Raymond 579 Rába, György 340 Rácz, Christine 414–416, 456–457, 541, 568, 575 Radnóti, Miklós 310, 329, 342–344, 390, 440–441, 467 Radnóti, Sándor 568, 570, 588 Raffael (da Urbino, Santi) 110 Raimund, Ferdinand 156 Raith, Tivadar 390, 407 Rajnay, Gábor 610 Rákóczi, Ferenc I. 87
709
Rákóczi, Ferenc II., Fürst 80, 83, 87–90, 136 Rákóczi, György I., Fürst von Siebenbürgen 57, 61, 81, 251–253 Rákóczi, Julianna 87 Rákóczi, Zsigmond 64 Rákosi, Mátyás 542 Rakovszky, Zsuzsa 580, 583 Rakusa, Ilma 531, 623 Rancière, Jacques 626 Ransano, Pietro (Petrus Ransanus) 24 Ransmayr, Christoph 549, 551 Rát, Mátyás 105 Raupach, Ernst (Benjamin Salomo) 173 Reginaldus Gonsalvius Montanus 41 Reich-Ranicki, Marcel 564 Reinhardt, Max 600, 603, 608, 613–614 Relle, Ágnes 525, 531 Rem (Rehm), Georg 63 Remané, Martin 16, 19, 36, 44, 57, 81, 184, 186–187, 189–191, 193–202, 221–222, 227, 231, 234, 236, 591 Rembrandt, (Harmenszoon van Rijn) 276 Remenyik, Zsigmond 407, 496, 617 Renan, Ernest 280, 285 Répszeli, László 150 Reuchlin, Johannes 32, 60 Révai, Miklós 97, 105, 115–116 Reviczky, Gyula 142, 214, 233–234, 251, 280, 285–288, 308 Rhenanus, Beatus 29 Richard II., König von England 225 Richter, Hans 265, 403 Rictus, Jehan 308 Rilke, Rainer Maria 294, 309, 334, 436, 568 Rimay, János 30, 54–57, 59 Rimbaud, Arthur 424 Rippl-Rónai, József 265, 296 Ritoók, Emma 297 Rökk, Marika 604 Romsics, Ignác 419 Róna, Magda 617 Rónay, György 390 Rónay, László 555 Roterodamus, Erasmus 60 Roth, Joseph 486 Rothauser, M. 606 Rousseau, Jean-Jacques 100, 102, 109
710
Namensregister
Rózsahegyi, Kálmán 603 Rübberdt, Irene 389–390, 445–446, 448, 541 Rudnyánszky, Gyula 285 Rudolf II., Kaiser 63–64 Rudolf von Habsburg, Kronprinz 149, 247 Rumy, Károly György (Karl Georg) 149 Ruszt, József 605, 623 Ruttkay, Éva 619 Ruttmann, Walter 410, 413 Ruzitska, József 119 S. Varga, Pál 285 Sachs, Hans 120 Saint-Just, Louis Antoine de 195 Sajnovics, János (Johann) 8 Salinger, Jerome David 537 Salm, Julius 45 Salvini, Tommaso 608 Sambucus, Johannes 1, 42–43 Sannazaros, Jacopo 97 Sánta, Ferenc 502, 514 Sarbievius, Mathias Casimir 97 Sarkadi, Imre 502, 514 Sárközi, Péter 92 Sartre, Jean-Paul 503, 619 Schade-Engl, Henriette 194, 243, 494, 496, 549 Schag, Elemer 493, 502 Schag, Friderika 495 Schdanow, Andrei Alexandrowitsch 619 Schedius, Lajos 109 Schein, Gábor 340, 342 Scherpe, Klaus R. 565 Scheseus (Schesaeus), Christian(us) 79 Schiff, Júlia 584 Schiller, Friedrich 120, 127, 139–140, 172 Schilling, Árpád 605, 625 Schlegel, August Wilhelm 140 Schlegel, Friedrich 139, 143, 146 Schlemmer, Oskar 407 Schliesing, Steffen 541 Schmerling, Anton 203 Schnitzer, Ignaz 265 Schnitzler, Arthur 607, 614 Schödel, Martin 67 Schopenhauer, Arthur 280, 285–287, 289 Schröder, Friedrich Ludwig 106
Schubert, Ernő 386 Schüching, Mirza 251, 268, 270, 351, 358, 549 Schuller, Gabriella 392, 410 Schutte, Jürgen 265 Schütz, Ila 619 Schwamm, Kristin 531 Schwartz, Armin 349 Schwitters, Kurt 392–393 Scott, Walter 178, 237, 480 Scribe, Eugène 173 Scultetus, Abraham 66 Scultetus, Kaspar Hieronymus 66 Scultetus, Tobias 66 Sebestyén, György 370, 503, 510 Secundus, Joannes vgl. Joannes Secundus Seidler, Andrea 541–542, 545 Seidler, Verena 549 Seneca, Lucius Annaeus 67 Sepeghy, Boldizsár 372 Seregi, Tamás 401 Shakespeare, William 43, 121, 156, 158, 172–174, 208, 216, 225, 610–611, 620 Shaw, George Bernard 607 Shelley, Percy Bysshe 177, 188, 287 Shikibu, Murasaki 522 Sigismund, König von Polen 37 Sík, Sándor 319 Silberstein, Adolf 269 Simara, László 605 Simmel, Georg 265, 299, 323 Simon von (de) Kéza vgl. Kézai, Simon Simon, Jolán 382, 410 Sinka, István 467 Sinkó, László 622 Skirecki, Hans 270, 293, 359, 376, 478, 488, 492, 510, 517, 520–524, 531, 539, 541, 548, 621 Somlay, Artúr 610 Somlyó, György 390 Sophokles 44, 494 Sőtér, István 253, 255 Spengler, Oswald 376 Spinoza, Baruch (Benedictus) de 103–104, 287 Spiró, György 621 Sponer, Andor von 221, 223, 226
Namensregister
Sprengel, Peter 265 Stein, Leo 605 St. Gerhardus vgl. Gellért 3 St. Ladislaus vgl. László I., König Stadler, Ernst 414 Staiger, Emil 421 Stalin, Josef (Iosif Vissarionovič Džugašvili) 539 Standeisky, Éva 503 Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch 600, 603–606, 615, 618 Stauffer, Robert 396–397, 469 Stein, Gertrude 618 Steinacker, Gustav 161 Steinbach, Josef 137, 185 Steiner, Gerhard 184–185, 187, 189, 194, 196 Stephan (István) I., der Heilige, König (St. Stephanus) 3, 144 Stier, G. (Heinrich Christoph Gottlieb) 136– 137, 190 St. Ladislaus vgl. László I., König Strätling, Susanne 446, 448 Strauss, Johann 265 Strindberg, August 607 Struzyk, Brigitte 338, 467 Sturm, Albert 217 Sturm, Johannes 42 Suchny, Hans 413 Sue, (Joseph Marie) Eugène 177, 182, 480 Suleiman (Süleyman) I., Sultan 37, 75, 78–79 Süskind, Patrick 549 Sütő, András 502–503, 609, 621 Swift, Jonathan 205 Sylvester, János 18, 31, 38 Szabó B., István 299 Szabó, András 62–63 Szabó, Dezső 296, 354, 388, 420 Szabó, Lőrinc 307, 314–315, 321, 329, 331, 333, 342, 346, 414, 416, 419, 426, 428, 432–433, 436–438, 440–441, 444–455, 460, 466, 471, 563 Szabó, Zoltán 483 Szabó-Ottó, Éva 495 Szabolcsi, Miklós 125–127, 129, 159–160, 163, 166, 236, 455, 565 Szabolcska, Mihály 285 Szajbély, Mihály 238, 242
711
Szakonyi, Károly 621 Szalárdi, János 251 Szalay, László 176 Szapolyai János vgl. János I., König Szávai, János 83 Szebényi, Pál 147 Széchényi, Ferenc, Graf 98, 117, 172 Széchenyi, István, Graf 169–170, 172, 173, 175, 178, 181, 202, 205, 227, 238 Szécsi, Mária 81 Szegedy-Maszák, Mihály 142–143, 233, 250, 253–254, 292, 296, 299, 305, 308, 342, 353, 360–362, 489, 509 Szegfi, Mór 224 Székács, Erzsébet 271 Székely, Aladár 322 Székely, Gábor 605, 622, 625 Székely, János 621 Szekfű, Gyula 296 Szelestey, László 206 Szemere, Bertalan 175 Szemere, Ladislaus 220–221, 223–224, 232–233, 323, 329 Szemere, Pál 138, 141, 169 Szenci Molnár, Albert 61–68, 338, 596 Szenessy, Mario 517 Szent-Iványi, Ita 182, 374, 490, 497, 502, 614 Szentjóby, Tamás 623 Szentkuthy, Miklós 481, 483, 496 Szentmártoni Szabó, Géza 50–53 Szentpál, Olga 410 Szép, Ernő 567, 570, 614 Szerb, Antal 306, 375, 495–496 Szerbhorváth, György 559 Szigeti, Csaba 64 Szigeti, József 556 Szigeti, Lajos Sándor 462 Szigligeti, Ede 172–174, 609 Szijj, Ferenc 590–591 Szilágyi, Ákos 565, 572 Szilágyi, Domokos 584 Szilágyi, István 503, 517, 549, 552 Szilágyi, Márton 255 Szilágyi, Sándor 207 Szilasi, László 216, 237, 239 Szini, Gyula 374 Szinyei-Merse, Pál 265
712
Namensregister
Szirák, Péter 504, 519, 521, 531, 537, 544, 547, 552 Szirmai, Albert 604 Szirtes, Ági 622 Sziveri, János 580 Szkárosi Horváth, András 35 Szomory, Dezső 607 Szondi, György 227, 600 Szontagh, Gusztáv 171 Szörényi, László 150, 208, 212, 222, 227 Sztárai, Mihály 35, 37 Szűcs, Jenő 146 Taine, Hippolyte 214, 280 Takács, Zsuzsa 589 Taksony, Fürst 149 Tamás, Aladár 407, 617 Tamás, Attila 235, 339, 342, 421 Tamási, Áron 483, 609, 613 Tandori, Dezső 474, 533, 564, 567–571, 573–576, 578–581, 585–587, 589–591, 596 Tanner, Georg 45 Tanner, Tanner, Ilona (Frau Mihály Babits) 495 Tar, Sándor 525–526 Tarnai, Andor 144 Tarnói, László 144, 147 Tarr, Béla 521 Tasi, József 344 Tasnádi, István 625 Tasso, Torquato 78–79, 208 Tegnér, Esaias 210 Teleki, József 140–142 Teleki, Julia 85 Teleki, László 613 Teleki, Sámuel, Graf 29 Térey, János 584, 592–593, 626 Tersánszky, Józsi Jenő 355 Thaly, Kálmán 15 Theobaldy, Jürgen 585 Thienemann, Tivadar 4–5, 11, 15, 19, 23, 30, 38–39, 46–47, 55–56, 65, 74, 89, 304–305, 496 Thierry, Amadé 217 Thies, Vera 240 Thököli, Sebestyén 64 Thököly, Imre (Emerich) 87, 89
Thomka, Beáta 266, 512–513, 519 Thury, Zoltán 277–278 Thurzó, Szaniszló 64 Tieck, Ludwig 480 Tímár, József 603 Tinódi, Sebestyén (Sebastian) 38 Tisza, Kálmán 274 Tiszay, Andor 617 Titkos, Ilona 610 Tocqueville, Alexis de 171 Todorov, Tzvetan 282 Tőkés, Anna 603, 610 Toldi, Miklós (Nikolaus) 16, 208 Toldy, Ferenc (Schedel, Franz Karl Joseph) 65, 96, 148–149, 155, 168–169, 172, 175, 182, 206, 215, 582 Toldy, István 275 Tolnai, Ottó 559, 580, 583 Tolnay Károly (Charles de Tolnay) 297 Tolnay, Klári 619 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 285, 523, 532 Tömörkény, István 276–277 Tompa, Gábor 621 Tompa, Mihály 142 Torda Gyalui, Zsigmond (Sigmund) 34 Törőcsik, Mari 619 Török, Bálint (von Enying) 38 Török, Lajos 370 Tóth, Árpád 339, 450 Toth, Josef Paul 611 Tóth, Krisztina 589 Tóth, Lőrinc 172 Tőzsér, Árpád 583 Trakl, Georg 344 Trauner, Sándor 386 Tretter, György 137 Treumund(-Steinacker), Gusztáv 178 Tschechow, Anton Pawlowitsch 604, 606–607, 620, 622 Tuček, Vincenz Ferrerius (František) 119 Turczi, István 579 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 276, 278, 286 Tusch, Lenke (Bernadette) 541 Tverdota, György 457 Tyl, Jozef Kajetan 123 Tzara, Tristan 394 Udvaros, Dorottya 622
Namensregister
Uitz, Béla 382, 385 Újházi, Ede 603 Ujlaky, Charlotte 490, 493, 495, 497, 503, 506 Újvári, Erzsi 382, 385, 392, 408 Ungvárnémeti Tóth, László 582 Uray, Tivadar 603 Urban V., Papst 22 Urban VIII., Papst 75 V. Kovács, Sándor 24–26, 28 Váci, Mihály 556 Vadai, István 38 Vahot, Imre 176 Vajda, Eva 497, 504 Vajda, György Mihály 125–127, 129, 159–160, 163, 166, 236 Vajda, János 168, 203, 234–235, 285, 290, 296, 308 Vajda, Lajos 386 Vajda, Stephan 497, 504 Valéry, Paul 308, 427–428 Valla, Laurentius (Lorenzo) 26 Vályi Nagy, Ferenc 174–175 van Reijen, Willem 565 Várady, Szabolcs 580 Vargha, Gyula 285 Várkonyi, Zoltán 605, 619–620 Vas, István 386, 390, 441, 563–564, 567 Vasfi (Eisler), Mór 196 Vattimo, Gianni 424 Velázquez, Diego (Rodríguez de Silva y) 509 Veres, András 422 Vergerio, Pietro Paolo 22 Vergil (Publius Vergilius Maro) 78, 150, 152, 208 Verlaine, Paul 285, 308 Verseghy, Ferenc 107–108, 115–116, 129 Vico, Giambattista 160 Vidal, Peire 16 Villers, Charles (de) 139 Vilney, Anton 184 Virág, Benedek 148 Virág, Zoltán 559 Viragh, Christina 361, 366, 372, 376, 486, 522, 528, 544 Vitéz, János (Johannes) 22–23, 26, 29 Vitkovics, Mihály (Mihailo Vitković) 123
713
Vitnyédi, István 80 Vizkelety, András 12–13 Vízvári, Mariska 603 Voltaire (Arouet, François-Marie) 96, 100, 102, 172 Vörösmarty, Mihály 65, 80, 101, 148–161, 163–164, 166–169, 171–174, 197, 202–204, 208, 210–211, 216, 218–219, 223, 234, 317, 471, 532, 595, 612 Voss (Voß), Johann Heinrich 127 Vujić, Joakim 119 Wachter, Clara 487 Wagner, Richard 593, 626 Wallaszky, Pál 98 Walzel, Oskar 305 Weber, Max 325 Wedekind, Frank 607 Weiner, Leo 265 Weiss, Peter 620 Weissling, Heinrich 239, 244, 247, 251, 269–271, 372 Wellek, René XI, 143 Weöres, Sándor 289, 310, 467–471, 551, 555–556, 562–565, 567, 582–584, 589, 593–594 Werbőczi, István 255 Wesselényi, Ferenc 76, 81, 85 Wesselényi, István 534 Wesselényi, Miklós (1796–1850) 170–171, 238–239 Wesselényi Miklós, Baron (1750–1809) 118 Westheim, Paul 404 White, Hayden 347 Whitman, Walt 390 Wieland, Christoph Martin 100, 105 Wienbarg, Ludolf 182 Wigand, Otto 168 Winckelmann, Johann Joachim 111, 125, 127 Witte, Georg 446, 448 Wittgenstein, Ludwig 425, 534–536, 571 Wölfer, Dirk 531 Wolphardus, Adrianus 29 Woolf, Virginia 348, 362, 480 Wordsworth, William 223 Wunberg, Gotthart 265 Yeats, William Butler 427
714
Namensregister
Young, Edward 112 Z. Kovács, Zoltán 182 Zádor, Éva 506 Zaitai (Zajtai), Ernő 489 Zalai, Béla 297 Zalán, Tibor 565 Zápolya, János vgl. János I., König Závada, Pál 510, 528, 532 Zay, Zsigmond (Sigmund) 90 Zeltner, Ernő 532, 538 Zempléni, Árpád 285 Zerkovitz, Béla 604 Zichy, Mihály 225 Ziegler, Georg 67 Ziegler, Wilhelm 613 Žmegač, Viktor 348, 369
Zola, Émile 275 Zoltán, Fürst 110 Zrínyi, Ádám 76 Zrínyi, György (IV.) 79 Zrínyi, György (V.) 75 Zrínyi, Ilona 87 Zrínyi, Miklós (IV., um 1508–1566) 75, 78–79, 271 Zrínyi, Miklós (VII., 1620–1664) 2, 33, 74–76, 78–80, 84–85, 137 Zrínyi, Péter 75, 87 Zsámbéki, Gábor 605, 622 Zsámboky, János 42 Zsigmond (Sigismund) von Luxemburg 21–22 Zsótér, Sándor 605, 613–614, 619, 625 Zweig, Stefan 490
Titelregister 0x0=0 395 128. A kíváncsiság 448 1919 Epos 391 s. a. Máglyák énekelnek 1949 540 1972. szeptember 563, 587 3.) Iniciálé 586 35 vers 392 A 6714-es személy 526 A Bárdy-család 240 A befejezetlen mondat 497 s. a. Der unvollendete Satz A békés eltávozás 314 A belső végtelenben 449 A Bélteky-ház 178 A beszélő köntös 271 s. a. Der sprechende Kaftan A Biblia 514 A boldog szerelem 114 s. a. Himfys auserlesene Liebeslieder A bőr alatt halovány árnyék 415, 456–457 s. a. Fahler Schatten unter der Haut A bor 609 s. a. Der Wein A Borgognoni-féle szomorúság 525 A bús férfi panaszai 333 A bűvös szék 614 s. a. Der Zaubersessel A cigánybáró 248 s. a. Der Zigeunerbaron A civilizátor 205 A csákányi vérmenyekző 137 A csata 350 s. a. Die Schlacht A cseh trombitás 359 s. a. Der böhmische Trompeter A csodálatos mandarin 613 s. a. Der wunderbare Mandarin A fáklya 517 A falu jegyzője 179, 181–182 s. a. Der Dorfnotar A faluban utcahosszat … 185 s. a. Im Dorfe die Gasse entlang; Durch das Dorf folgt mir der Reigen A fekete kandúr 392 A fekete város 271 s. a. Die schwarze Stadt A feleségem története 358 s. a. Die Geschichte meiner Frau A feltételes megálló 570
A Filozófus 103 A föld állatai 551 A francia fogoly 472 s. a. Französischer Gefangener A fuldai Kékvízesés 525 A Garrenek műve 486 A gavallérok 270 s. a. Die Kavaliere A gólyakalifa 355 s. a. Der Storchkalif A Guttenberg-albumba 595 s. a. Ins Gutenberg-Album A gyáva 502, 514 A gyémántos miniszter 240 A gyertyák csonkig égnek 486, 488 s. a. Die Glut; Die Kerzen brennen ab A Gyurkovics lányok 610 s. a. Sprechen Sie mit Mama … A Háfiz sírhalma 112 A halál kutyája 283 A hamis tanú 224 s. a. Der falsche Zeuge; Der Meineid A helység kalapácsa 183, 208, 213 s. a. Der Dorfhammer A hírlapíró és a halál 372 s. a. Der Journalist und der Tod A Holdhoz 136 A homályból 287 A hopik könyve 572 A huszonhatodik év 454 s. a. Das Sechsundzwanzigste Jahr A jó öreg kocsmáros 187 s. a. Der gute alte Wirt A jó palócok 269 A jövő század regénye 244 s. a. Der Roman des künftigen Jahrhunderts A kalauz 333 A kárhozat helyén 235 A karthausi 179–181 s. a. Der Karthäuser A kassai polgárok 486 s. a. Die Bürger von Kaschau A kávéra 104 A kék kerékpáros 408 A kép-mutogató 232 s. a. Der Sänger der Bilderballade auf dem Jahrmark A kérők 123
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Titelregister
A kesergő szerelem 114 A kiválás genezise 275 A Kleofás-képregény 525 A költő felel 559 A költő hazája 233 s. a. Des Dichters Heimat A költő 136 A könnymutatványosok legendája 255, 549, 552 s. a. Die Legende von den Tränengauklern A kőszívű ember fiai 204, 241, 243, 246–247 s. a. Der Mann mit dem steinernen Herzen; Die Baradlays A közelítő tél 125 s. a. Der nahende Winter A kulcskereső játék 514 A lámpa lehull … 345 A láthatatlan ember 269 s. a. Ich war der Hunnen Untertan; Der unsichtbare Mensch A látó 114 s. a. Der Seher A látogató 504, 517 s. a. Der Besucher A leányőrző 138 A ledőlt diófához 106 A lejtőn 222 A lepke 230 s. a. Der Falter A lírikus epilógja 324 s. a. Epilog des Lyrikers A ló meghal és a madarak kirepülnek 396, 401, 416, 443, s. a. Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus A magunk kenyerén 557 A magyar irodalom fejlődéstörténete 496 A magyarokhoz II 125 s. a. An die Magyaren A megfelelő nap 454 A megnyerhető veszteség 570 A méla Tempefői 112 A Memória-part 541 s. a. Die Gedächtnisküste A menekülő Élet 314 A mennyezet és a padló 570 A mennyország három csepp vére 551 A merengőhöz 158, 161 s. a. An die Sinnende; An eine Trübsinnige A mi utcánk 526 s. a. Ein Bier für mein Pferd A Midsummer Night’s Dream 208 s. a. Ein Sommernachtstraum
A minőség forradalma 495 s. a. Die Revolution der Qualität A mosoly birodalma 623 A nagy fejedelem 607 A nagyidai cigányok 214 s. a. Die Zigeuner von Nagyida A nap lovagja 276 s. a. Der Held des Tages A napraforgó, mint az őrült 332 A négyökrös szekér 187 s. a. Das Ochsenviergespann; Auf dem Ochsenwagen A nemzet tsinosodása 109 A nép nevében 196 s. a. Im Namen des Volkes A New History of French Literature XII, XIII A Noszty-fiú esete Tóth Marival 273 s. a. Die Geschichte des Jungen Noszty mit der Mari Tóth A Pendragon legenda 376 s. a. Die Pendragon-Legende A Péri lányok szép hajáról 269 A Phantasia 136 s. a. An die Phantasie A pillangóhoz 112 A pipárul 92 A poesis hajdan és most 127, 129 A pokol nyolcadik köre 623 A puszta, télen 189 s. a. Die Puszta; Die Puszta im Winter A rab és a madár 114 A rab gólya 223 s. a. Der gefangene Storch A rajongók 253–254 A rák 415 s. a. Der Krebs A régi és új költés külömbségeiről 141 A reményhez 113 s. a. An die Hoffnung A részegségnek és tobzódásnak etc 39 A részleg 523 s. a. Die Außenstelle A Rom 155 A sátán Füreden 504 A Sátán Műremekei 414, 445 A Semmi Kéz 571 A száműzött nyelv 531 s. a. Die exilierte Sprache A szarvassá vált fiúk 475 A szarvassá változott fiú kiáltozásai a titkok kapujából 475 s. a. Das Rufen des in einen Hirsch verwandelten Jünglings aus dem Tor der Geheimnisse
Titelregister
A szegény kisgyermek panaszai 331 s. a. Aus einer Kindheit A szegény kisgyermek 333 s. a. A szegény kisgyermek panaszai; Aus einer Kindheit A székelyek Erdélyben 151 A szépség betege 320 A szerelem evolutiója 289 A szerencsétlen szélkakas 240 s. a. Der unglückliche Wetterhahn A szív segédigéi 538–539 s. a. Die Hilfsverben des Herzens A szökött katona 609 A tanítónő 606 s. a. Die Lehrerin A tarcali kápolna 240 A tardi helyzet 483 A tatárok Magyarországban 123 s. a. Die Tartaren in Ungarn A te országod 526 A termelés zavartalanul folyik 540 A természetes arrogancia 592 A test angyala 545 A tintásüveg 184 s. a. Die Tintenflasche A Tisza 190 s. a. Theiß wild; Die Theiß A tölgyek alatt 231 s. a. Unter Eichenbäumen A tó éjjel 453 A tót atyafiak 269 A tündér 467 s. a. Pustefee A tűz és a víz állatai 551 A vadász és Echo 78 A váli erdőben 234 s. a. Im Wald von Vál A valóság édessége 588 A valóságos Varsó 592 A vándor cipó 231 A vár fehér asszonya 439 s. a. Die weiße Burgfrau A város peremén 458 s. a. Am Rand der Stadt A varró leányok 224 s. a. Die Näherinnen; Die Nähmädchen A veinhageni rózsabokrok 525 A vén cigány 167 s. a. Der alte Zigeuner A vén szerelmes 123 A világirodalom története 306 A világosság udvara 327 A virradat dalai 289 A vizit 350 s. a. Der Besuch A vörös postakocsi 370 s. a. Die rote Postkutsche
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A vörössipkás 240 A walesi bárdok 226 s. a. Die Barden von Wales; Die Waleser Barden A XIX. század költői 195 s. a. Die Dichter des 19. Jahrhunderts A Zord Apa, vagy a Werner-lány hiteles története 525 Abafi 178 Ábel a rengetegben 483 s. a. Abel in der Wildnis Abel in der Wildnis 483 s. a. Ábel a rengetegben Abendlied 137 s. a. Esti dal Abhandlung über das Erhabene 173 Abiens 26 s. a. Abiens valere jubet sanctos reges Varadini Ablakmosó 620 Abscheu 493 s. a. Iszony; Wie der Stein fällt Achtzehnhundertachtundvierzig 199 s. a. Ezernyolcszáznegyvennyolc Ad animam suam 28 Ad Copium 69 Adáshiba 621 s. a. Sendestörung Adolphs gesammelte Briefe 101 s. a. Bácsmegyeynek öszveszedett levelei Adriai tengernek Syrenája Gróf Zrínyi Miklós 2, 76–77 Advent 358 Aeneis 208 Aenigma 48 Aesopi Phrygis fabulae Gabriele Pannonio Pesthinio interprete 31 Áfium 80 s. a. Az török áfium ellen való orvosság Agancsbozót 517 Agenda 61 Aggok a lakodalomban 341 Ágis tragédiája 96, 103 Ágnes asszony 224–225 s. a. Frau Ágnes Ágnes 539 Ahnen 157 Akik kétszer halnak meg 243 Alakulások 533 s. a. Gestaltungen Alfréd regénye 235 Alhikmet, a vén törpe 249, 481 Alles für nichts 441, 449–450 s. a. Semmiért Egészen
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Titelregister
Álmok álmodója 250 Álmos vagyok és még sem alhatom … 193 s. a. Schläfrig bin ich … Álomi táj 344 s. a. Traumlandschaft Ál-Petőfi 202 Als er auß Siebenbürgen sich zurück anheim begab 69 Alvinci Péter uramhoz iratott öt szép levél 72 Am Dorfe 189 s. a. Falun; Im Dorfe; Auf dem Lande Am Rand der Stadt 458 s. a. A város peremén Amarilli 53 Amenhotep 283 Amokläufer 401–403 s. a. Az ámokfutó; Der Amokläufer An die Freude 389–390 s. a. Örömhöz An die Hoffnung 113 s. a. A reményhez An die Magyaren 125 s. a. A magyarokhoz II. An die Nymphe von Rákos 136 s. a. Rákos Nymphájához An die Phantasie 136 s. a. A Phantasia An die Sinnende 158 s. a. A merengőhöz; An eine Trübsinnige An eine Trübsinnige 158 s. a. A merengőhöz; An die Sinnende An Helvila 158 s. a. Helvilához An meinen Bruder Stefan 187 s. a. István öcsémhez; An meinen jüngeren Bruder Stephan An meinen jüngeren Bruder Stephan 187 s. a. István öcsémhez; An meinen Bruder Stefan Anatole 275 Andalgások 136 Andere Zeiten, andere Menschen 243 s. a. Politikai divatok Anibel 496 Anmerkung zu einer Zusendung von Gedichten 581 s. a. Egy versküldemény mellé Anna Édes 420 s. a. Édes Anna; Anna Anna 364, 420 s. a. Édes Anna; Anna Édes Anno 534 (Anonymi Belae regis notarii historia Hungarica de septem primis ducibus Hungariae) 5 Anyám könnyű álmot ígér 502 Apa és fiú 368
Apai örökség 251, 280 Apokrif 473 s. a. Apokryph Apokryph 473 s. a. Apokrif Arany Jánosnak 233 Aranysárkány 362 Arianna sirása 78 Ars poetica 101, 173, 458 Árva Lotti 278 Árvácska 526 Ästhetischen Feldzüge 182 Ásványgyapot 574 Átkelés az üvegen 550 Auf dem Esel trabt der Hirt 184 s. a. Megy a juhász szamáron …; Der Schäfer auf dem Esel sitzt Auf dem Jahrmarkt 231 Auf dem Lande 189 s. a. Falun; Im Dorfe; Am Dorfe Auf dem Ochsenwagen 187 s. a. A négyökrös szekér; Das Ochsenviergespann Auf der Eisenbahn 189 s. a. Vasúton Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 509 Auf Napoleon 126 s. a. Napoleonra Auf neuen Wassern 312 s. a. Uj vizeken járok Auf zum heil’gen Krieg 200 s. a. Föl a szent háborúra; Der letzte Kampf Aufruf 161, 199 s. a. Szózat - Nemzeti dal; Zuruf; Mahnruf - Nationallied Aufstand der Kreuzfahrer 163, 182 s. a. Magyarország 1514-ben ; Der Bauernkrieg in Ungarn Aus einer Kindheit 331 s. a. A szegény kisgyermek panaszai Autobiographie 83 Az a fekete folt 269 Az a pogány Filcsik 269 Az ablakmosó 503 Az áldozat 164 Az alerion-madár vére 283 s. a. Das Blut des Alérion-Vogels Az alföld 189 s. a. Tiefland; Das ungarische Flachland Az alku 278 Az álom 102 Az ámokfutó 401 s. a. Der Amokläufer Az apostol 197 s. a. Der Apostel Az arany ember 244 s. a. Ein Goldmensch
Titelregister
Az aranykisasszony 269 Az áruló 502 Az atléta halála 503–504, 510, 512 s. a. Der Tod des Athleten; Mort d’un athlète Az ég madarai 551 Az égi és a földi szerelemről 531 s. a. Von der himmlischen und der irdischen Liebe Az Egy álmai 433, 449 s. a. Die Träume des Einen Az Éj Felé 571 Az éj 194 s. a. Die Nacht; Die Nacht und der Mond Az ellenállás melankóliája 521–523 s. a. Melancholie des Widerstands Az élő szobor 317 s. a. Az élő szobor Az elsodort falu 296, 354, 388, 420 Az eltévedt lovas 323 s. a. Der verirrte Reiter Az elveszett alkotmány 208, 213–214 Az ember tragédiája 157, 256, 602, 611–612, 615, 619 s. a. Die Tragödie des Menschen Az emberek 163–164, 166–167, 224 s. a. Die Menschen Az én falum 270 Az erdő hangja 289 Az érsek látogatása 524 s. a. Der Besuch des Erzbischofs Az estve 102 s. a. Der Abend Az étlen farkas 276 Az Eufrátesz Babilonnál 523 Az európai irodalom története 306 s. a. Geschichte der europäischen Literatur Az fejedelemségről 36 Az fösvénységről 36 s. a. Über den Geiz Az Igazi 486 s. a. Der Richtige Az ismeretlen 359 s. a. Der Unbekannte Az Isten háta mögött 297, 351, 354 s. a. Herr Bovary Az istenes jóságra és szerencsés boldog 92 Az ítélet 196, 200 s. a. Das Gericht; Das jüngste Gericht Az keresztyéni religióra és igaz hitre való tanítás 67 Az öreg tekintetes 251 Az óriáscsecsemő 617 s. a. Das Riesenbaby Az örök folyosó 323 s. a. Der ewige Korridor Az örök zsidó 223 s. a. Der ewige Jude
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Az örömhöz; 390 s. a. Örömhöz; An die Freude Az országokban való sok romlásoknak okairól 72 Az őrültek első összejövetele a szemetesládában 394 Az Őrző Könyve 496 Az összefüggés kellékei 586 Az ötödik pecsét 502 s. a. Das fünfte Siegel Az török áfium ellen való orvosság 76, 79 s. a. Heilmittel gegen das türkische Opium Az új földesúr 247 s. a. Der neue Gutsherr Az urgai fogoly 522 s. a. Der Gefangene von Urga Azt hiszik 580 Azt mondja aki él 588 Bábjáték 392 Babonák napja, csütörtök: amikor a legnehezebb 475 s. a. Tag des Aberglaubens, donnerstags, wenn es am schwersten ist Bácsmegyeynek öszveszedett levelei 101 s. a. Adolphs gesammelte Briefe Balassa Bálint verseinek fragmentumi 48 Balassa-kódex 48, 56 Balázsolás 330 Bald … 440 s. a. Majd … Ballada az álmatlan éjszakákról 540 Ballada az úrfiról és a mosónő lányáról 518 Ballade des äußeren Lebens 325 Balsamtropfen 221 s. a. Balzsamcsepp Balzsamcsepp 221 s. a. Balsamtropfen Ban Bánk 602 s. a. Bánk bán Bánk bán 119–122, 173–174, 602, 611–613, 615 s. a. Ban Bánk Bárány 514–515 Baranyai utazás 483 Barbaren 351 s. a. Barbárok Barbárok 351 s. a. Barbaren Barocke Elegie 341 s. a. Barokk elégia Barokk elégia 341 s. a. Barocke Elegie Beerdigung 623 s. a. Temetés Befordultam a konyhára 184 s. a. Neulich in die Küche kam ich; Hab’ ich in die Küche mich gewandt Begegnung 623 s. a. Találkozás
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Titelregister
Békaegérharc 111, 113 Béke Ithakában 488 s. a. Verzauberung in Ithaca Bekenntnisse eines Bürgers 293, 429, 488 s. a. Egy polgár vallomásai Bélas Flucht 119 Bericht über fünf Mäuse 510 s. a. Jelentés őt egérről Berlin: Die Sinfonie der Großstadt 410, 413 s. a. Berlin – Sinfonie einer Großstadt Bertalan éjszakája 375 Berzsenyi Dániel versei (Berzsenyi-Kritik) 127, 134, 140 Berzsenyihez 116 Beschreibung des eigenen Lebens 84 s. a. Élete leírása Besinnung 458–460, 568 s. a. Eszmélet; Hellsinn Bester Wunsch 194 s. a. Egy gondolat bánt engemet …; Ein Angsttraum quält mich … Bestiarium Transylvaniae 549, 551 Beszél a fákkal a bús őszi szél … 196 s. a. Der traurige Herbstwind; Der Herbstwind flüstert … Beszélgetők 392 Beszterce ostroma 251, 270 s. a. Der Graf und die Zirkusreiterin Beteg lelkeknek való füves kertecske 48 s. a. Würzgärtlein für die kranken Seelen Betyárlegendák 277 Bevezetés a szépirodalomba 504, 538, 547 s. a. Einführung in die schöne Literatur Bibel 62 Bitter 414 s. a. Keserű Bizánc 608 s. a. Byzanz Bizony mondom, hogy győz most a magyar 201 s. a. Der 15. März 1849 Blaufuchs 607 s. a. Kék róka Blut und Gold 580 s. a. Vér és arany Bocsásd meg Úristen ifjúságomnak vétkét etc 50 s. a. Herr, vergib die Sünden meiner Jugend Bölcs és figyelmetes udvari 92 Boldogtalanok 342, 622 Boldogult úrfikoromban 372 s. a. Meinerzeit Bolhacirkusz 496 Bolond Istók 213–214, 216, 234–235
Bolond utazás 518 Bor vitéz 227 s. a. Ritter Bor Bor, der Held 227 s. a. Bor vitéz; Ritter Bor Briefe aus der Türkei 91 Brückenweihe 232 s. a. Híd-avatás Bú kél velem 137 Buch der Erinnerung 505, 510, 526, 542 s. a. Emlékiratok könyve Buch neuer Künstler 403 s. a. Új művészek könyve Búcsúszimfónia – A gabonakereskedő 625 Buda halála 217, 219, 224, 243 s. a. Budas Tod Buda tragédiája 103 Buda várán ujra német zászló! 201 Budas Tod 217 s. a. Buda halála Buddenbrooks 527 Bűntudat 496 Burg Szigets Not 76 s. a. Obsidio Szigetiana Byzanz 608 s. a. Bizánc California Stories 269 Caligula helytartója 621 Caligula 359 Cantata Profana 475 Cantos 583, 594 Capillaria 376 s. a. Capillária Capillária 376 s. a. Capillaria Catullus 622 Cédulák 585 Celsius 570 Cent Mille Milliards de Poèmes 579 Chansons de Guillaume 210 Chinesischer Tempel 467 s. a. Kínai templom Christliches Bättbüchlin 66 s. a. Imádságos könyvecske Christliches Gebetbuch 72 s. a. Keresztyéni imádságos könyv Christus vor Pilatus 286 Chronica de introductione Scytharum in Ungariam et Judaeorum de Aegipto 32 Chronica Hungarorum 23 Chronik 38 Chronikon Hungarorum, quod ex codice memranaceo nunc primum et ad fidem apographi Vindobonensis et Budensis chronici sparsis quibusdam notis ac variantibus lectionibus excitat 6
Titelregister
Cikk-cakk esték 408 Columba Noe 85 Comoedia de matrimonio sacerdotum 35 Comoedia lepidissima de sacerdotio etc 35 Confessio peccatoris 88 Conspectus Reipublicae Litterariae in Hungaria ab initiis Regni ad nostra usque tempora 98 Contes moraux 104 Conversationslexikon 174 Cosmographia 69 Cristianae religionis institutio 61 Csak posta voltál 330 Családáradás 526, 531 s. a. Familienflut Csalárd Cupido 82 s. a. Der trügerische Cupido Csalóka szivárvány 609, 613 Cseréptörés 519, 526, 528 Cseresnyés 609 Csigacsók 542 Csillag a máglyán 621 Csirkefej 621 s. a. Hühnerköpfe Csodafiu-szarvas 476 Csokonai 184 Csokonai Lili: Tizenhét hattyúk 526 Csokonai Vitéz Mihály munkájinak kritikai megítéltetések (Csokonai-Rezension) 133, 135, 140 Csolnakon 137 s. a. Lied im Kahn Csongor és Tünde 156, 602, 611–612 s. a. Csongor und Tünde Csongor und Tünde 156–157, 602 s. a. Csongor és Tünde Czerny György avagy Belgrád megvétele a töröktől 119 Dacia antiqua 68 Daisy 539 Dal az esztergomi bazilikáról 420 Dalaim 189 s. a. Meine Lieder Dante 220 Dantons Tod 623 Das Alibi eines Wortes 568 s. a. Egy szó alibije Das Bahrgericht 232 s. a. Tetemre hívás Das Blut des Alérion-Vogels 283 s. a. Az alerion-madár vére
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Das Buch Hrabals 526, 539 s. a. Hrabal könyve Das Buch Jona 330 s. a. Jónás könyve Das Buch von der Deutschen Poeterey 69 Das fünfte Siegel 502 s. a. Az ötödik pecsét Das Gericht 196 s. a. Az ítélet; Das jüngste Gericht Das Göttliche 102 Das jüngste Gericht 196 s. a. Az ítélet; Das Gericht Das Kissen der Jadwiga 510, 532 s. a. Jadviga párnája Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 403 Das letzte Abenteuer 611 s. a. Kaland Das Maisschälen 232 s. a. Tengeri-hántás Das Ochsenviergespann 187 s. a. A négyökrös szekér; Auf dem Ochsenwagen Das Ödenburger Blumenlied 17 s. a. Soproni virágének Das Parfum; 549 Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus 396, 443 s. a. A ló meghal és a madarak kiröpülnek Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus 396 s. a. A ló meghal és a madarak kiröpülnek; Das Pferd stirbt die Vögel fliegen aus Das Riesenbaby 617 s. a. Az óriáscsecsemő Das Rufen des in einen Hirsch verwandelten Jünglings aus dem Tor der Geheimnisse 475 s. a. A szarvassá változott fiú kiáltozásai a titkok kapujából Das schwarze Land 329 s. a. Fekete ország Das Sechsundzwanzigste Jahr 454 s. a. A huszonhatodik év Das Spätboot 223 Das Tagebuch des Verführers 532 Das traurigste Orchester der Welt 525 Das ungarische Flachland 189 s. a. Az alföld; Tiefland Das Veilchen 108 De amore 28 De constantia libri duo 68 De constantia 55 De egregie, sapienter, iocose dictis ac factis regis Mathiae 14
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Titelregister
De imitatione Christi libri quattor 73 De incertitudine rerum humanarum discursus 67 De Laurentio Valla 26 De Sigetho Hungariae propugnaculo 79 De Silvia 24 Deliberatio supra hymnum trium puerorum 3 Délsziget 152, 155 Demonstratio. Idioma Ungarorum et Lapporum idem esse 8 Der 15. März 1849 201 s. a. Bizony mondom, hogy győz most a magyar Der Abend 102 s. a. Az estve Der alte Herr und seine Zither 231 s. a. Tamburás öreg úr Der alte Zigeuner 167 s. a. A vén cigány Der Amokläufer 401, 403 s. a. Az ámokfutó Der Apostel 197 s. a. Az apostol Der aus seiner Asche wiedererstandene Phönix, oder Gedenken des János Kemény 82 s. a. Porábúl megéledett Főnix Der Bauernkrieg in Ungarn 182 s. a. Magyarország 1514-ben ; Aufstand der Kreuzfahrer Der Besuch des Erzbischofs 524 s. a. Az érsek látogatása Der Besuch 350 s. a. A vizit Der Besucher 504, 517 s. a. A látogató Der blutige Dichter 360 s. a. Nero, a véres költő Der böhmische Trompeter 359 s. a. A cseh trombitás Der Dorfhammer 183 s. a. A helység kalapácsa Der Dorfnotar 179 s. a. A falu jegyzője Der ewige Jude [J. Arany] 223 s. a. Der ewige Jude Der ewige Jude [J. L .W. Müller] 223 Der ewige Korridor 323 s. a. Az örök folyosó Der falsche Zeuge 224 s. a. A hamis tanú; Der Meineid Der Falter 230 s. a. A lepke Der Gänse-Hias 129 s. a. Lúdas Matyi Der gefangene Storch 223 s. a. A rab gólya Der Gefangene von Urga 522 s. a. Az urgai fogoly
Der Glanz des Obersten Sutting 518 s. a. Sutting ezredes tündöklése Der Graf und die Zirkusreiterin 270 s. a. Beszterce ostroma Der gute alte Wirt 187 s. a. A jó öreg kocsmáros Der Held des Tages 276 s. a. A nap lovagja Der Herbstwind flüstert … 196 s. a. Beszél a fákkal a bús őszi szél …; Der traurige Herbstwind; Der Journalist und der Tod 372 s. a. A hírlapíró és a halál Der Karthäuser 179 s. a. A karthausi Der Krebs 415 s. a. A rák Der letzte Kampf 200 s. a. Föl a szent háborúra; Auf zum heil’gen Krieg Der Mann mit dem steinernen Herzen 241 s. a. A kőszívű ember fiai; Die Baradlays Der Mann ohne Eigenschaften 478, 483, 538 Der Meineid 224 s. a. A hamis tanú; Der falsche Zeuge Der nahende Winter 125 s. a. A közelítő tél Der neue Gutsherr 247 s. a. Az új földesúr Der neue Orpheus 408 Der Richtige 486 s. a. Az Igazi Der Roman des künftigen Jahrhunderts 244 s. a. A jövő század regénye Der Sänger der Bilderballade auf dem Jahrmark 232 s. a. A kép-mutogató Der Schäfer auf dem Esel sitzt 184 s. a. Megy a juhász szamáron …; Auf dem Esel trabt der Hirt Der Seher 114 s. a. A látó Der sichtbare Mensch 410 Der sieben weisen Meister 42 Der Sohn des Virgilius Timár 356 s. a. Timár Virgil fia Der sprechende Kaftan 271 s. a. A beszélő köntös Der Stechlin 347 Der Storchkalif 355 s. a. A gólyakalifa Der Sturm 612 Der Teufel 606 s. a. Ördög Der Tod des Athleten 503–504, 510 s. a. Az atléta halála; Mort d’un athlète Der Tod des Vergil 483
Titelregister
Der traurige Herbstwind 196 s. a. Beszél a fákkal a bús őszi szél …; Der Herbstwind flüstert … Der trügerische Cupido 82 s. a. Csalárd Cupido Der Unbekannte 359 s. a. Az ismeretlen Der unglückliche Wetterhahn 240 s. a. A szerencsétlen szélkakas Der unvollendete Satz 497 s. a. A befejezetlen mondat Der verirrte Reiter 323 s. a. Az eltévedt lovas Der Weg Eurydices in die Unterwelt 411 s. a. Eurydice útja az alvilág felé Der Wein 609 s. a. A bor Der wunderbare Mandarin 613 s. a. A csodálatos mandarin Der Zaubersessel 614 s. a. A bűvös szék Der Zigeunerbaron 248, 265 s. a. A cigánybáró [Deridet euntes Romam ad Iubillaeum] 25 Des Dichters Heimat 233 s. a. A költő hazája Des Durstigen Kümmernis 184 s. a. Szomjas ember tűnődése Dĕvin 112 Diadalének 287 Diákok 278 Diarium vel adversaria mea 62 „Dichter und die Zeit“ 433, 458 s. a. „Költőnk és Kora“ Dichterische / Poetische Harmonistik 127 s. a. Poetai harmonistika Dictionarivm Latinovngaricum 63 Dicursus de summo bono 67 Die Abenteuer des Kornél Esti 366 s. a. Esti Kornél kalandjai Die altungarische Marienklage 10 s. a. Ómagyar Mária-siralom Die Antwort 497 s. a. Felelet Die armen Reichen 239 s. a. Szegény gazdagok; Die schwarze Maske Die Außenstelle 523 s. a. A részleg Die Baradlays 204, 241 s. a. A kőszívű ember fiai; Der Mann mit dem steinernen Herzen Die Barden von Wales 226 s. a. A walesi bárdok; Die Waleser Barden
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Die Bürger von Kaschau 486 s. a. A kassai polgárok Die Dichter des 19. Jahrhunderts 195 s. a. A XIX. század költői Die Entdeckung der Langsamkeit 549 Die Erstürmung von Schabatz 15–16 s. a. Szabács viadala Die exilierte Sprache 531 s. a. A száműzött nyelv Die Gedächtnisküste 541 s. a. A Memóriapart Die Geheimnisse von Paris 182 Die gelbe Rose 247 s. a. Sárga rózsa Die Geschichte des Jungen Noszty mit der Mari Tóth 273 s. a. A Noszty-fiú esete Tóth Marival Die Geschichte meiner Frau 358 s. a. A feleségem története Die Geschichte vom Prinzen Genji 522 Die Glut 486 s. a. A gyertyák csonkig égnek; Die Kerzen brennen ab Die Grabrede 7 s. a. Halotti beszéd; Die Totenklage Die guten Hochländer 269 s. a. A jó palócok; Ungarische Dorfgeschichten Die Hilfsverben des Herzens 538 s. a. A szív segédigéi Die jungen Rebellen 538 s. a. Zendülők Die Kavaliere 270 s. a. A gavallérok Die Kerzen brennen ab 486 s. a. A gyertyák csonkig égnek; Die Glut Die Kraft des Erbarmens 495 s. a. Irgalom; Erbarmen Die Kunst der Fuge 589 Die lebende Statue 317 s. a. Az élő szobor Die Legende von den Tränengauklern 255, 552 s. a. A könnymutatványosok legendája Die Lehrerin 606 s. a. A tanítónő Die Leiden des jungen Werthers 110, 179, 489 Die letzte Welt 549 Die letzte Zigarre im ‚Arabischen Schimmel‘ 372 s. a. Utolsó szivar az Arabs Szürkénél Die letzten Tage der Janitscharen 549 s. a. Janicsárok végnapjai
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Titelregister
Die Liebe, die Freiheit 196 s. a. Szabadság, szerelem; Freiheit und Liebe Die Menschen 163 s. a. Az emberek Die Nacht und der Mond 194 s. a. Az éj; Die Nacht Die Nacht 194 s. a. Az éj; Die Nacht und der Mond Die Näherinnen 224 s. a. A varró leányok; Die Nähmädchen Die Nähmädchen 224 s. a. A varró leányok; Die Näherinnen Die nur einmal leben 243 s. a. Egy az Isten Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild 247 Die Pendragon-Legende 376 s. a. A Pendragon legenda Die Puszta im Winter 189 s. a. A puszta, télen; Die Puszta Die Puszta 189, 483–484, 526 s. a. A puszta, télen; Die Puszta im Winter Die Reise nach Faremido 376 s. a. Utazás Faremidóba Die Revolution der Qualität 495 s. a. A minőség forradalma Die rote Postkutsche 370 s. a. A vörös postakocsi Die Schlacht 350 s. a. A csata Die Schrecken des Eises und der Finsternis 549 Die Schule an der Grenze 490, 503–504, 506, 513 s. a. Iskola a határon Die schwarze Maske 239 s. a. Szegény gazdagok; Die armen Reichen Die schwarze Stadt 271 s. a. A fekete város Die Tartaren in Ungarn 123 s. a. A tatárok Magyarországban Die Theiß 190 s. a. A Tisza; Theiß wild Die Tintenflasche 184 s. a. A tintásüveg Die Tragödie der Kultur 299 Die Tragödie des Menschen 157, 256, 602, 615 s. a. Az ember tragédiája Die Träume des Einen 433, 449 s. a. Az Egy álmai Die Umgestaltung eines Bahnhofs 563 s. a. Egy pályaudvar átalakítása Die Venus von Murány im Wettstreit mit Mars 81 s. a. Márssal társalkodó
Murányi Vénusz; Venus von Murány Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 509 Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz 550 s. a. Jacob Wunschwitz igaz története Die Waleser Barden 226 s. a. A walesi bárdok; Die Barden von Wales Die Weide auf der Pussta 223 s. a. Pusztai fűz Die weiße Burgfrau 439 s. a. A vár fehér asszonya Die Weiterlebenden 506 s. a. Továbbélők Die Welt versteht mich nicht 187 s. a. Nem ért engem a világ Die Welt von Gestern 490 Die wunderbare Busfahrt 526, 545 s. a. Pompásan buszozunk! Die Zigeuner von Nagyida 214 s. a. A nagyidai cigányok Dilthey, egy német tudós 496 Disztichon Alfa 579 Dobozi 137 Döglött aknák 621 Don Juan 214 Donau abwärts 270, 526, 539 s. a. HahnHahn grófnő pillantása Donna Juana 289 Dorottya 111 Dort auf dem Hügel 189 s. a. Rózsabokor a domboldalon; Wie der Rosenbusch; Wie der Rosenbusch am Hügel Drámai jellemek 174 Drei Schwestern 605 Dreimäderlhaus 607 Drezda februárban 592 Dschigerdilen 549 s. a. Dzsigerdilen Du bist 288 [Du grübelnd’, große …] 462 s. a. [Magad emésztő …]; [In Gram Verzehrter …] [Du kamst mit Stock …] 465 s. a. [Karóval jöttél …] Du weißt, es gibt kein Vergeben 314 s. a. Tudod, hogy nincs bocsánat; Du weißt,’s gibt kein Vergeben
Titelregister
Du weißt,’s gibt kein Vergeben 465 s. a. Tudod, hogy nincs bocsánat; Du weißt, es gibt kein Vergeben Duineser Elegien 334 Durch das Dorf folgt mir der Reigen 185 s. a. A faluban utcahosszat …; Im Dorfe die Gasse entlang Dzsigerdilen 549–550 s. a. Dschigerdilen Ebéd a kastélyban 502 s. a. Mittagessen im Schloß Ebéd. In memoriam Batu kán 623 Echnaton im Himmel 474 s. a. Ekhnáton az égben Édes Anna 294, 364, 367, 420 s. a. Anna Édes; Anna Ég és föld 486 Égető Eszter 495 s. a. Esther; Esther Égető Egmont 116, 127 Egri csillagok 268, 549 s. a. Sterne von Eger Egy az Isten 243 s. a. Die nur einmal leben Egy bujdosó naplója 204 Egy családregény vége 513, 516–517, 526– 527, 530–531 s. a. Ende eines Familienromans Egy elkésett lovag 284 Egy ember élete 387 Egy estém otthon 187 s. a. Ein Abend zuhause; Ein Abend daheim Egy földterület növénytakarójának változása 572 Egy gondolat bánt engemet 194 s. a. Ein Angsttraum quält mich …; Bester Wunsch Egy gyógynövény-kert 588, 590 Egy katonaének, in laudem confiniorum 52 Egy lócsiszár virágvasárnapja 621 Egy magyar nábob 238 s. a. Ein ungarischer Nabob Egy mondat a zsarnokságról 471 s. a. Ein Satz über die Tyrannei Egy nemes emberről és az ördögről 40 s. a. Von einem Edelmann und dem Teufel Egy orvos naplójából 284 Egy pályaudvar átalakítása 563 s. a. Die Umgestaltung eines Bahnhofs Egy polgár vallomásai 293, 429, 488, 490– 491 s. a. Bekenntnisse eines Bürgers
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Egy radír megkövül 574 s. a. Ein Radiergummi wird zum Stein Egy régi udvarház utolsó gazdája 207, 250 Egy szó alibije 568 s. a. Das Alibi eines Wortes Egy talált tárgy megtisztítása 568–570 Egy telem Debrecenben 187 s. a. Ein Winter in Debreczin; Ein Winter in Debrecen Egy téli bodzabokorhoz 454 Egy tragédia 275 Egy tudós társaság iránt való jámbor szándék 172 Egy vers vágóasztala 586 Egy versküldemény mellé 581 s. a. Anmerkung zu einer Zusendung von Gedichten Egyperces novellák 540 s. a. Minutennovellen Egyszerű emberek 277 Eheglück 533 Ein Abend daheim 187 s. a. Egy estém otthon; Ein Abend zuhause Ein Abend zuhause 187 s. a. Egy estém otthon; Ein Abend daheim Ein Angsttraum quält mich … 194 s. a. Egy gondolat bánt engemet; Bester Wunsch Ein Bier für mein Pferd 526 s. a. A mi utcánk Ein Blick auf den anonymen Rückblick von einem Ungarn 205, 227 Ein Brief 302, 309 Ein Goldmensch 244 s. a. Az arany ember Ein Königssohn der Szekler 483 s. a. Szűzmáriás királyfi Ein Produktionsroman 268, 510, 526, 536 s. a. Termelési-regény Ein Radiergummi wird zum Stein 574 s. a. Egy radír megkövül Ein Satz über die Tyrannei 472 s. a. Egy mondat a zsarnokságról Ein Sommernachtstraum 612 s. a. A Midsummer Night’s Dream Ein treuer Diener seines Herrn 120 s. a. Egy magyar nábob Ein ungarischer Nabob 238 s. a. Egy magyar nábob Ein Winter in Debrecen 187 s. a. Egy telem Debrecenben; Ein Winter in Debreczin
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Titelregister
Ein Winter in Debreczin 187 s. a. Egy telem Debrecenben; Ein Winter in Debrecen Eine Frau besorgen 525 s. a. Szerezni egy nőt Einführung in die schöne Literatur 505, 538 s. a. Bevezetés a szépirodalomba Einführung 539 s. a. Bevezetés a szépirodalomba; Einführung in die schöne Literatur Ekhnáton az égben 474 s. a. Echnaton im Himmel Ekrasitmasse 415, 456 s. a. Ekrazittömeg Ekrazittömeg 415, 456 s. a. Ekrasitmasse El oraculo manual 92 Elbeszéllések, regék ’s legendák á magyar előkorból 148 Elbocsátó szép üzenet 450 Elégia 462 s. a. Elegie Elegie 462 s. a. Elégia Elegienfragmente 343 s. a. Tört elégia Elektra 44 Éleslövészet 548 Élet vagy halál! 200 s. a. Leben oder Tod Élet 136 Élete leírása 84 s. a. Beschreibung des eigenen Lebens Elfojtódás 136 s. a. Erstickung Elméleti töredékek 174 Élőbeszéd 592 Előljáró beszéd 85 Előszó 164, 166–168, 197, 202 s. a. Vorrede; Vorwort Első ének 557 Ember szerzésről 35 Emberek 464 Emblemata 43 Emilia Galotti 107, 120, 122 Emlékezzetek rá! 387 Emlékiratok könyve 505, 510, 526, 528, 532, 542–544 s. a. Buch der Erinnerung Emma 285 Én dobtam 415, 456 s. a. Ich warf [Én költő vagyok s. a. ] 458 s. a. [Ich bin ein Dichter ] Én nem engedlek el 577 Én vagyok a te 625 Ende eines Familienromans 513, 526–527 s. a. Egy családregény vége
Endymion 137 Ének a Semmiről 318, 330, 334, 433–436 Énekek három rendbe, különb-különb félék etc 47 s. a. Verschiedene Gesänge in drei Teilen Enyim, tied, övé 243 s. a. Mein, dein, sein Epicedium 55 Epilog des Lyrikers 324 s. a. A lírikus epilógja Epilog 228 s. a. Epilogus Epilogus 228 s. a. Epilog Epistolae obscurorum virorum 32 Epistolae Pauli lingua hungarica donata 30 Epistolae 231 Epithoma rerum Hungarorum 24 Eposz Wagner Maszkjában 390, 395 Eppur si muove, És mégis mozog a föld 244 s. a. Wir bewegen die Erde Erbarmen 495 s. a. Irgalom; Die Kraft des Erbarmens Erdélyi iskolák falára 595 Eredetiség ’s jutalom tétel 142 Erstickung 136 s. a. Elfojtódás Erzählungen, Sagen und Legenden aus Ungarns Vorzeit 147 s. a. Elbeszéllések, regék ’s legendák a’ magyar előkorból És akkor azt mondtad 587 Es war schlimm, es hat sich aus meinem Herzen verflüchtigt 456 s. a. Rossz volt, elszéledt szívemből Es zittert der Strauch, weil … 190 s. a. Reszket a bokor, mert …; So wie der Zweig erzittert … Esprit de la Revolution 195 Essay on man 100 Esszék 531 s. a. Heimkehr. Essays Esther Égető 495 s. a. Égető Eszter; Esther Esther 495 s. a. Égető Eszter; Esther Égető Esti dal 137 s. a. Abendlied Esti kérdés 325, 328 s. a. Frage am Abend Esti Kornél kalandjai 366 s. a. Die Abenteuer des Kornél Esti Esti Kornél 283, 364, 366, 482 Esti kréta 591 Esti sugárkoszorú 450 Esti 375 s. a. Esti Kornél; Esti Kornél kalandjai
Titelregister
Északról hegy, délről tó, nyugatról utak, keletről folyó 522 s. a. Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß Eszmék a regény és dráma körül 207 Eszmélet 333, 458–460, 462, 464, 568 s. a. Besinnung; Hellsinn Etelka 110 Etymologiae 3 Europa-Almanach 404 Europink 591 Eurydice útja az alvilág felé 411 s. a. Der Weg Eurydices in die Unterwelt Evangelische Jubel-Jahrs-Predigt 66 s. a. Jubileus esztendei prédikáció Évek, ti még jövendő évek … 221, 235 s. a. Oh Jahre, Zukunftsjahre …; Ihr Jahre, ihr Zukunftsjahre … Ezernyolcszáznegyvennyolc 199 s. a. Achtzehnhundertachtundvierzig Ezrivel terem a fán a meggy … 185 s. a. Lange treibt der Weichsel …; Tausend Weichseln sind des Baumes Zier Fabulya feleségei 503 Fahler Schatten unter der Haut 415, 456–457 s. a. A bőr alatt halovány árnyék Fáklyaláng 619 Fakó foszlányok nagy esők évadján 534, 548 Fal 514–515 Falun 189 s. a. Im Dorfe; Am Dorfe; Auf dem Lande Falusi terepismertetés 534 Familienflut 526, 531 s. a. Családáradás Fancsikó és Pinta 536 s. a. Fancsikó und Pinta Fancsikó und Pinta 536 s. a. Fancsikó és Pinta Fanni hagyományai 108, 123 s. a. Fanny’s Nachlass Fanny’s Nachlass 108 s. a. Fanni hagyományai Farben und Jahre 374 s. a. Színek és évek Faust 157 Fehérlófia 583 Fejdelmünk hajh … 136 s. a. Weh unser Fürst!
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Fejedelmeknek serkentő órája 57 Fekete csillag 411, 443 s. a. Schwarzer Stern Fekete gyémántok 243–244 s. a. Schwarze Diamanten Fekete ország 329 s. a. Das schwarze Land Felelet a Mondolatra 138 Felelet az Magyari István sárvári prédikátornak 72 Felelet 497 s. a. Die Antwort Félgyászjelentés 576 Felhők 187–189, 193, 197, 442 s. a. Wolken Felszámolás 531 s. a. Liquidation Fény, fény, fény 414, 445 Férfi és nő 604 Férj és nő 250 Feszületre 78 Fiasko 510, 531 s. a. Kudarc Ficciones 489 Film 410, 533 s. a. Rückblenden Finnegans Wake 483 Flehen zu Gott 57 s. a. Legyen jó idő csak Fogságom naplója 117 Föl a szent háborúra 200 s. a. Der letzte Kampf; Auf zum heil’gen Krieg Föld, Erdő, Isten 445 Föld, föld! … 478 s. a. Land, Land Földem, virágom 413 Földi menny 158–159 Főmű 571 Forradalmi és csataképek 1848–49-ből 204, 240, 247, 251 s. a. Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849 Forradalom után 204 Forró csontok a máglyán 430 s. a. Im Fegefeuer mit ächzenden Knochen Frage am Abend 325 s. a. Esti kérdés Fragmente über Handlung, Gespräch, und Erzählung 138 Französischer Gefangener 472 s. a. A francia fogoly Frau Ágnes 224 s. a. Ágnes asszony Freiheit und Liebe 196 s. a. Szabadság, szerelem; Die Liebe, die Freiheit Frithiofs saga 210 Frühstück im Herbst 338 s. a. Őszi reggeli Függő 510, 538 s. a. Indirekt
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Titelregister
Fuharosok 538–539 s. a. Fuhrleute Fuhrleute 538 s. a. Fuharosok Furchtbare Zeit 201 s. a. Szörnyű idő; Zeit des Entsetzens Fürst Szabolcs 100 s. a. King Lear Füves könyv. Gyógyító gondolatok 486 G. A. úr X-ben 497, 504 s. a. Herr G. A. in X. Galeotti peregrinationem irridet 25 Galilei 619 Ganymed 102 Gastmahl 28 Gedanken in der Bibliothek 159 s. a. Gondolatok a könyvtárban Geflügelte Pferde 517–518 s. a. Szárnyas lovak Genaue Geschichten unterwegs 525 s. a. Pontos történetek útközben Géniusz száll … 136 Genji Monogatari 522 Gerusalemme liberata 79 Geschichte der alten und neuen Literatur (Wiener Vorträge) 143, 146 Geschichte der europäischen Literatur 306 s. a. Az európai irodalom története Gespenster 604 Gesta Hungarorum 4–6, 150 Gesta 5, 24, 217 s. a. Gesta Hungarorum Gestaltungen 533 s. a. Alakulások Gina emléke 235 Gold im Kote 349 s. a. Sárarany Gondolatok a könyvtárban 159, 163, 166, 168, 171 s. a. Gedanken in der Bibliothek Görög filozófia 138 Gott strafe alles nach Treugebühr! 185 s. a. Lánggal égő teremtette!; Himmelkreuzundungewitter! Götterdämmerung 593 Göttlicher Komödie 522 Gőzfürdő 623 Grabrede 7–8, 335, 439 s. a. Halotti beszéd; Die Grabrede Graf von Waltron 107 Grafitnesz 591 Grammatica Hungarolatina 31 Grand Hotel Miramonti 414 Graue Taube 526 s. a. Szürke galamb Grazien 105
Gróf Bethleni Bethlen Kata életének maga által való rövid leírása 86 Guarino-Panegyricos 29 Gyász 494 s. a. Trauer; Maske der Trauer Gyász; 517 s. a. Gyász; Trauer; Maske der Trauer Gyónás után 542 Gyöngyszoknya 476 Ha álom ez élet … 221 Ha úgy lehetne … 442 Ha úgy lehetne 442 s. a. Ha úgy lehetne … Hab’ ich in die Küche mich gewandt 185 s. a. Befordultam a konyhára; Neulich in die Küche kam ich Háború és háború 510, 523 s. a. Krieg und Krieg Hahn-Hahn grófnő pillantása 270, 539 s. a. Donau abwärts Hahn-Hahn hercegnő pillantása 526 s. a. Hahn-Hahn grófnő pillantása Hajnali részegség 334 s. a. Rausch in der Frühe Hajnali sötétben 277 Halálfiai 357, 375 Halászóember 484, 563 Háló etc 41 s. a. Netz, mit dem der Papst, der verkörperte Teufel auf der Erde, die frommen Christen in Spanien erwischt und tötet Halott nép 454 Halotti beszéd 7–8, 335, 439, 486, 560 s. a. Totenklage; Die Grabrede; Grabrede Halotti versek 114 Hamlet 106–107, 121, 216 Handwerker 389 s. a. Mesteremberek Harc az ünnepért 452 Harmadnapon 556 Harminc év 449, 460 Harmonia Caelestis 493, 526, 528, 546–548, 552 Három nemzedék 296 Három veréb hat szemmel 593 Hausputz 623 s. a. Takarítás Hazai rejtelmek 182 Hazám 462 s. a. Mein Vaterland; Vaterland Hazatérés Hellászból 595
Titelregister
Heilmittel gegen das türkische Opium 79 s. a. Az török áfium ellen való orvosság Heimkehr. Essays 531 s. a. Esszék Héj 567 Héja-nász az avaron 450 Held János 186 s. a. János vitéz Heliáne 496 Helikoni virágok 105 Hellsinn 458 s. a. Eszmélet; Besinnung Heloïse 179 Héloïse s. Nouvelle Héloïse Helvilához 158 s. a. An Helvila Helyzetünk az óceánon 563 Herbstliche Reise in der roten Postkutsche 370 s. a. Őszi utazások a vörös postakocsin Hermann und Dorothea 127 Herr Bovary 351 s. a. Az Isten háta mögött Herr G. A. in X 497, 504 s. a. G. A. úr X-ben Herr Stern 525 s. a. Stern úr Herr, vergib die Sünden meiner Jugend 50 s. a. Bocsásd meg Úristen ifjúságomnak vétkét etc. Hervadsz … 137 Herzog Blaubarts Burg 613 s. a. Kékszakállú herceg vára Hiawatha 619 Híd-avatás 232 s. a. Brückenweihe Hideg napok 502 s. a. Kalte Tage Himfys auserlesene Liebeslieder 114 s. a. A boldog szerelem Himmelkreuzundungewitter! 185 s. a. Lánggal égő teremtette!; Gott strafe alles nach Treugebühr! Hirdetőoszloppal 389–390 Histoire d’Attila et des ses successeures 217 Histoire de dix ans 195 Histoire de la révolution 195 Histoire des Girondins 195 Hitel 170 Hohe Schule 510 s. a. Magasiskola Hollóidő 517, 549, 552 Homér és Osszián 194 s. a. Homer und Ossian Homer und Ossian 194 s. a. Homér és Osszián Honnan és hová? 220 s. a. Woher und wohin? Horác 128 s. a. Horaz
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Horaz 128 s. a. Horác Hősökről beszélek 345 Hosszú nap el 594 Hrabal könyve 526, 539 s. a. Das Buch Hrabals Hühnerköpfe 621 s. a. Csirkefej Humanitätsbriefen (Briefe zu Beförderung der Humanität) 160 Hundert Jahre Einsamkeit 521 Hunnias, sive Hunnorum e Scythis Asiatica egressus 150 Hunyadi László tragédiája 96, 103 Husz év mulva 236 s. a. Nach zwanzig Jahren Húsz óra 502, 514 Hymne 136 s. a. Hymnus Hymnus 136–137, 163 s. a. Hymne I. N. R. I 286 Ibolyalevél 441 [Ich bin ein Dichter …] 458 s. a. [Én költő vagyok …] Ich hör die Lerche wieder singen 201 s. a. Pacsirtaszót hallok megint …; Ich höre wieder Lerchengesang Ich höre wieder Lerchengesang 201 s. a. Pacsirtaszót hallok megint …; Ich hör die Lerche wieder singen Ich lege die Laute nieder 221 s. a. Letészem a lantot; Ich lege meine Laute nieder Ich lege meine Laute nieder 221 s. a. Letészem a lantot; Ich lege die Laute nieder Ich nenne sie Ria 415 s. a. Riának hívom Ich war der Hunnen Untertan 269 s. a. A láthatatlan ember; Der unsichbare Mensch Ich warf 415, 456 s. a. Én dobtam Ich – ein anderer 531 s. a. Valaki más Ideál 136 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 146 Idő kristálya: Moszkva 394 s. a. Kristall der Zeit: Moskau Ifjúságom 285–286 Így írtok ti 376 Ihr Jahre, ihr Zukunftsjahre … 221 s. a. Évek, ti még jövendő évek …; Oh Jahre, Zukunftsjahre … Ihr Kerker einst 343 s. a. Ó régi börtönök
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Titelregister
Ilias 174, 217 Ilka 123 Im Dorfe die Gasse entlang 185 s. a. A faluban utcahosszat …; Durch das Dorf folgt mir der Reigen Im Dorfe 189 s. a. Falun; Am Dorfe; Auf dem Lande Im Fegefeuer mit ächzenden Knochen 430 s. a. Forró csontok a máglyán Im Garten 223 s. a. Kertben Im Herbst 221 s. a. Ősszel Im Namen des Volkes 196 s. a. A nép nevében Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß 522 s. a. Északról hegy, délről tó, nyugatról utak, keletről folyó Im Wald von Vál 234 s. a. A váli erdőben Imádságos könyvecske 66 Imádságoskönyve 85 [Íme, hát megleltem hazámat …] 433, 465 s. a. [Nun fand ich Heimat, endlich …]; [So fand ich mir nun eine Heimat …] Immer schweigender 462 Immer wieder ein neues Pferd 317 s. a. Új s új lovat In der Einsamkeit 204 s. a. Magányban [In Gram Verzehrter …] 462 s. a. [Magad emésztő …]; [Du grübelnd’, große …] In memoriam Dr. K. H. G 540 In raschelndem, knisterndem Taft 349 s. a. Sustorgós, ropogós tafotában Indirekt 510, 538 s. a. Függő Információ 540 s. a. Information Information 540 s. a. Információ Ins Gutenberg-Album 595 s. a. A Guttenbergalbumba Institutio religionis christianae 67 s. a. Institution (de la réligion chrétienne) Institution 61 s. a. Institutio religionis christianae Iphigenie 116 s. a. Iphigenie auf Tauris Irenicum 61 Irgalom 495 s. a. Die Kraft des Erbarmens; Erbarmen Írod 587 Irodalomtörténeti alapfogalmak 304, 496
Irrlicht 445–446, 448 s. a. Lidérc Iskola a határon 490, 503–504, 506, 508–509, 513, 530, 532, 538 s. a. Die Schule an der Grenze Isten hozott 528 s. a. Lange nicht gesehen Isteni igazságra vezérlő kalauz 73 István öcsémhez 187 s. a. An meinen Bruder Stefan; An meinen jüngeren Bruder Stephan Iszony 493–494, 517 s. a. Abscheu; Wie der Stein fällt Itt van az ősz, itt van újra … 189, 191, 193 s. a. Wieder ist der Herbst gekommen … Ízlés 138 Izmusok 381 Izzólámpa-Punalua 408 J. A. szonettje 573, 589 Jacob Wunschwitz igaz története 549–551 s. a. Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz Jadviga párnája 510, 528, 532 s. a. Das Kissen der Jadwiga Janicsárok végnapjai 549 s. a. Die letzten Tage der Janitscharen János vitéz 186, 212, 609 s. a. Held János Jasztrabék pusztulása 269 Játék a kastélyban 606 s. a. Spiel im Schloss Javított kiadás 528, 548 s. a. Verbesserte Ausgabe Javított kiadás. Melléklet a Harmonia caelestishez 548 s. a. Javított kiadás; Verbesserte Ausgabe Jegyzetek a Kritikáról és Poesisről 138 Jelenések 287 Jelentés öt egérről 510–511 s. a. Bericht über fünf Mäuse Jézus Pilátus előtt 286 Johannesevangelium 544 John Gabriel Borkmann 605 [Jön a vihar …] 462–463 Jonas Gebet 330 s. a. Jónás imája Jónás imája 330 s. a. Jonas Gebet Jónás könyve 330 s. a. Das Buch Jona Journées amusantes 91J József Attila [József Attila, glaub mir …] 344, 415, 416, 456 s. a. József Attila [József Attila, hidd el …]
Titelregister
József Attila [József Attila, hidd el …] 344, 415, 416, 456 s. a. József Attila [József Attila, glaub mir …] Jubileus esztendei prédikáció 66 s. a. Evangelische Jubel-Jahrs-Predigt Julius Cäsar 173 K. und Pangeometrie 404 Kabale und Liebe 120, 122 Kaddis a meg nem született gyermekért 510, 531 s. a. Kaddisch für ein nicht geborenes Kind Kaddis 528 s. a. Kaddis a meg nem született gyermekért; Kaddisch für ein nicht geborenes Kind Kaddisch für ein nicht geborenes Kind 510, 531 s. a. Kaddis a meg nem született gyermekért Káin és Ábel 621 Kakuk Marci 355 s. a. Marci Kakuk Kaland 611, 613 s. a. Das letzte Abenteuer Kalauz 73–74 s. a. Isteni igazságra vezérlő kalauz Kalckreuth-Requiem 436 Kalevala 619 Kalibán 445 Kalkwerk 538 Kalte Tage 502 s. a. Hideg napok Kampfeslust 194 s. a. Sors, nyiss nekem tért …; Mein Schicksal, schaff mir Raum [Karóval jöttél …] 465 s. a. [Du kamst mit einem Stock …] Kárpáthy Zoltán 239 s. a. Zoltán Kárpáthy Karte von Alisca 533 s. a. Térkép Aliscáról Kártigám 551 Kávécsarnok 614 Kedvenxc 541 s. a. Lieblyng Kegyenc 613 Kék róka 607 s. a. Blaufuchs Kékszakállú herceg vára 613 s. a. Herzog Blaubarts Burg Kempis Tamásnak Krisztus követéséről négy könyvei 73 Kényszerű szabadulás 551 Képtár 289 Képzetem 194 s. a. Meine Phantasie Keresztyéni imádságos könyv 72 s. a. Christliches Gebetbuch
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Kertben 223 s. a. Im Garten Keserű 414 s. a. Bitter Két boldog 249 Két könyv minden országoknak és királyoknak jó és gonosz szerencséjeknek okairul 33 Két menyasszony 240, 247 Ki látott engem? 317 Ki szavatol a lady biztonságáért? 538 s. a. Wer haftet für die Sicherheit der Lady? Kiemelések 534 Kilenc cigány 484 Kínai templom 467 s. a. Chinesischer Tempel Kirchenpostille oder Auslegung der sonntäglichen Evangelien 66 Kis Magyar Pornográfia 538–539 s. a. Kleine Pornographie Ungarns Kisebbségben 496 Kisértetek 414 Kiskunhalom 483 Kívánság 136 Kivégzési szabályzat 540 Klage 341 s. a. Panasz Kleine Pornographie Ungarns 538 s. a. Kis magyar pornográfia Kő hull apadó kútba 517 s. a. Steine fallen in versiegende Brunnen Köd 276 Ködképek a kedély láthatárán 249 kollapszus orv 565 Költők egymás közt 557, 564 „Költőnk és Kora“ 433, 458, 462, 464–465 s. a. „Dichter und die Zeit“ Kompletórium 594 König Johann 225 König Lear 100, 173 Koppar Köldüs 570, 576 Kormányeltörésben 469, 559–560 Körmöcbányai táncszó 17 Körner Zrinyijéről 138 Körülírt zuhanás 571 Koszorú 559, 561 s. a. Kranz Koszorú; 557 s. a. Koszorú; Kranz Közhasznú Esmeretek Tára 169 Kozmopolita költészet 233 Között 563 Kranz 557 s. a. Koszorú
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Titelregister
Krieg und Frieden 523 Krieg und Krieg 510, 523 s. a. Háború és háború Kristall der Zeit: Moskau 394 s. a. Idő kristálya: Moszkva Kritik der Urteilskraft 142 Kritikai szempontok 233 Krónika ez világnak jeles dolgaitól 33 Kudarc 510, 531 s. a. Fiasko Kufsteini elégiák 114 Kuli 469 Különbéke 452 Külvárosi éj 457 Kunstismen 403 KZ-oratórium 623 L‘Étranger 512–513 La Comedia Divina 619 La prose du transsibérien 396 Ladislaus der fünfte 225 s. a. V. László Land, Land 478 s. a. Föld, föld! Lange nicht gesehen 528 s. a. Isten hozott Lange treibt der Weichsel … 185 s. a. Ezrivel terem a fán a meggy …; Tausend Weichseln sind des Baumes Zier Lánggal égő teremtette! 185 s. a. Himmelkreuzundungewitter!; Gott strafe alles nach Treugebühr! Lapaj, a híres dudás 269 s. a. Lapaj, der berühmte Sackpfeifer Lapaj, der berühmte Sackpfeifer 269 s. a. Lapaj, a híres dudás Larion és Laura 542 s. a. Larion und Laura Larion und Laura 542 s. a. Larion és Laura Lassú teher 526 Laus Pannoniae 26 s. a. Lob Pannoniens Le musicien de Saint-Merry 390 Leben oder Tod 200 s. a. Élet vagy halál! Legyen jó idő csak etc 57 s. a. Legyen jó idő csak Legyen jó idő csak 57 s. a. Flehen zu Gott Lélekelemzés 296 Lenore 227 Leona 180 Lerche 361 s. a. Pacsirta Les fleurs du mal 308 Les Mariés de la Tour Eiffel 407, 617
Letészem a lantot 221 s. a. Ich lege die Laute nieder; Ich lege meine Laute nieder Libro Ilamando Relox de Principes 57 Licht! 197 s. a. Világosságot! Licht-Raum-Modulator 403, 406 Lidérc 445–447 s. a. Irrlicht Liebe 345 s. a. Szerelem [Gy. Illyés] Liebe – Love 496 s. a. Szerelem [T. Déry] Lieblyng 541 s. a. Kedvenxc Lied im Kahn 137 s. a. Csolnakon Liliom 606 Lilla 112, 114 Liquidation 531 s. a. Felszámolás Lob des Krieges 69 Lob Pannoniens 26 s. a. Laus Pannoniae Lobgesang über den freundenreichen Geburtstag unsers Herren und Heyland Jesu Christi 69 Lobgesänge und Gebete in den christlichen Gemeinden 47 Lóci óriás lesz 452 Ló-regény 533 Lotte in Weimar 489 Lúdas Matyi 129–130 s. a. Der Gänse-Hias Luise 127 Ma–1 397 Ma-Bilderbuch 398, 401 s. a. Ma-képeskönyv Ma-Buch. Gedichte von Ludwig Kassák 396 Macbeth 225 Macskakő 510, 519–520, 532 Madame Bovary 351 Madár-dal 586 [Magad emésztő …] 462 s. a. [In Gram Verzehrter …]; [Du grübelnd’, große …] Magamról 286 Magány 285–286 Magányban 204 s. a. In der Einsamkeit Magasiskola 510 s. a. Hohe Schule Máglyák énekelnek 391 s. a. 1919 Epos Magyar Athenas 98 Magyar enciklopédia 83 Magyar irodalomismeret 496 Magyar irodalomtörténet 306, 496 Magyar Mythologia 218 Magyar titkok 182 Magyarázatok M. számára 571, 585
Titelregister
Magyarische Gedichte 148 Magyarország 1514-ben 163, 182 s. a. Der Bauernkrieg in Ungarn; Aufstand der Kreuzfahrer Magyarvár 155 Mahnruf 80 s. a. Szózat; Zuruf; Aufruf Majd … 440s. a. Bald … Malerei und Fotografie 406 Malerei, Fotografie, Film 404, 406 Manchmal Inseln 414 s. a. Néha szigetek Manfred 157, 188 Mann ohne Eigenschaften 503 Mao-poe 580 Marat / Sade 620 Marci Kakuk 355 s. a. Kakuk Marci Marseillaise 108 Márssal társalkodó Murányi Vénusz 81 s. a. Venus von Murány; Die Venus von Murány im Wettstreit mit Mars Maske der Trauer 494 s. a. Gyász; Trauer Mátyás életéről való elmélkedések 79 Mátyás király életéről való elmélkedések 76 Maya 288 Még egy szó a forradalom után 204 Még ez egyszer … 221 Még így sem 570 Megbocsátás 518 s. a. Vergebung Megint megyünk 580 Megöltek egy legényt 277 Megy a juhász szamáron 184 s. a. Der Schäfer auf dem Esel sitzt; Auf dem Esel trabt der Hirt Mein Schicksal, schaff mir Raum 194, 591 s. a. Sors, nyiss nekem tért …; Kampfeslust Mein Vaterland 462 s. a. Hazám; Vaterland Mein, dein, sein 243 s. a. Enyim, tied, övé Meine Lieder 189 s. a. Dalaim Meine Phantasie 194 s. a. Képzetem Meinerzeit 372 s. a. Boldogult úrfikoromban Melancholie des Widerstands 521 s. a. Az ellenállás melankóliája Mellékszereplők 519 Mélytengeri áramlás 502 Mémoires du Prince Francois Rakoczy 88 Memoires 88 s. a. Mémoires du Prince Francois Rakoczy
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Memoria Hungarorum et provincialium scriptis editis notorum 98 Menedék 550 Mensch ohne Schicksal 528 s. a. Sorstalanság; Roman eines Schicksallosen Menyegző 476, 584 Mért vagyok én még a világon 193 s. a. Was bin ich auf der Welt noch; Warum weil’ ich auf Erden noch? Mesteremberek 389–391 s. a. Handwerker Mi az oka, hogy a Magyar Országban a Játékszíni Költő-Mesterség lábra nem tud kapni? 122 Michael Kohlhaas 551 Midás király 281 Miért élnél örökké? 533 Miért jó a póknak? 526 Milyen is egy hágó? 523 Milyen jók az emberek! 349 Milyen lehet az élet ott kívül? 332 Minden messze van 526 Mindvégig 233 s. a. Stirb singend Minek nevezzelek? 194 Minotaurus 514 Mint. minden. alkalom 588 Mintha élnél 545 Minutennovellen 540 s. a. Egyperces novellák Miss Sara Simpson 107 Mit eszik reggelire? 408 Mittagessen im Schloß 502 s. a. Ebéd a kastélyban Mohács [F. Kölcsey] 139, 163, 169 Mohács [K. Kisfaludy] 124 Mondolat 138 Morbus Kitahara 549 Mord ember 523 Moribunda Transsylvania 85 Mort d’un athlète 512 s. a. Az atléta halála; Der Tod des Athleten Most van soha 533 Mulatságos napok 91 Nach zwanzig Jahren 236 s. a. Husz év mulva Nagy-budapesti Rém-üldözés 550 Nagyon fáj 457 Naiv eposzunk 217
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Titelregister
Napoleon 160 Napoleonra 126 s. a. Auf Napoleon Napos tájak 277 Napraforgó 371 Nárcisz készül 584 s. a. Narziss wappnet sich Narziss wappnet sich 584 s. a. Nárcisz készül Nathanael 284 Nationallied 199 s. a. Nemzeti dal; Aufruf Naturam furca expellas 231, 320 Ne lankadjunk, próbáljunk meg egy szépet 580 Ne magamat? 438 Negyvenhat videoklip 534 Néha szigetek 414 s. a. Manchmal Inseln Nehéz föld 345 Nem ért engem a világ 187 s. a. Die Welt versteht mich nicht Nem feleltem magamnak 318, 330, 433–435 Nem szeretném, ha fáznál 533 Néma forradalom 483 Nemes asszony 92 Nemzeti dal 199 s. a. Nationallied; Aufruf Nemzeti hagyományok 139 Népdal 232 Népköltészet és kelmeiség 206 Nero, a véres költő 360 s. a. Der blutige Dichter Netz, mit dem der Papst, der verkörperte Teufel auf der Erde, die frommen Christen in Spanien erwischt und tötet 41 s. a. Háló etc. Neulich in die Küche kam ich 185 s. a. Befordultam a konyhára; Hab’ ich in die Küche mich gewandt Nibelung lakópark 626 Nibelungenlied 210, 217 Nincs alvás! 541 s. a. Pikasso sieht rot Nirvána 286 Noches de invierno 92 Nocturnum 468–469 Nomenclatvra sex lingvarvm, Latinae, Italicae, Gallicae, Bohemicae, Hungaricae et Germanicae 31 Nóra jön 526
Nordsee 188 Noszty 275 s. a. A Noszty-fiú esete Tóth Marival Nouvelle Héloïse (Julie, ou la nouvelle Héloïse) 179, 239 Nova grammatica Ungarica 66 Novum Testamentum seu quattuor evangeliorum volumina lingua Hungarica donatus 31 [Nummerierte Gedichte] 396, 431 s. a. [Számozott költemények] [Nun fand ich Heimat, endlich …] 465 s. a. [Íme, hát megleltem hazámat …]; [So fand ich mir nun eine Heimat …] Nyelv és lélek 367 Nyitó dal 442 Nyomor 275 Ó régi börtönök 343 s. a. Ihr Kerker einst Objektiv kórus 341 Obsidio Szigetiana 2, 33, 76 s. a. Burg Szigets Not Óda a genovai kikötőhöz 414 Ó-egyiptomi versek 467 Oh Jahre, Zukunftsjahre … 221 s. a. Évek, ti még jövendő évek …; Ihr Jahre, ihr Zukunftsjahre … Óh, furcsa Élet 315, 318 Olivér lovag 282 Ómagyar Mária-siralom 10 s. a. Die altungarische Marienklage Omniarium 92 Önarckép 320 Öninterjú 578 Opálok 289 Ördög 606 s. a. Der Teufel Ördögi kísértetek 46 s. a. Über die Versuchungen des Teufels oder über die erschreckliche Widrigkeit dieser vergifteten Welt Óriáscsecsemő 408, 497 s. a. Az óriáscsecsemő; Das Riesenbaby Örök éjszakában 345 Örökhétfő 580 Örömhöz 389–391 s. a. An die Freude Ortológusok és neológusok nálunk és más nemzeteknél 116
Titelregister
Ossians Gedichten 114 Ősszel 221 s. a. Im Herbst Ősz és tavasz között 330 s. a. Zwischen Herbst und Frühling Őszi éjszaka 278 Őszi reggeli 338 s. a. Frühstück im Herbst Őszi utazások a vörös postakocsin 370 s. a. Herbstliche Reise in der roten Postkutsche Őszikék 228, 230–232, 235 Őszológiai gyakorlatok 591 Öt szép levél 73 s. a. Alvinci Péter uramhoz iratott öt szép levél Ouvertüre König Stephan 118 Özvegy és leánya 251, 254 Pacsirta 301, 361, 367 s. a. Lerche Pacsirtaszót hallok megint … 201 s. a. Ich höre wieder Lerchengesang; Ich hör die Lerche wieder singen Pajzzsal és dárdával 496 Palóc dalok 206 Pályám emlékezete 116 Pán halála 286 Panasz 341 s. a. Klage Pannon töredék 548 Panzerkreuzer Potemkin 410, 413 Papucshős 609 Pâques à New York 396 Parallelgeschichten 544 s. a. Párhuzamos történetek Párhuzamos történetek 544 s. a. Parallelgeschichten Paris brennt 408 Páris, az én Bakonyom 580 s. a. Paris, mein Bakonyerwald Paris, mein Bakonyerwald 580 s. a. Páris, az én Bakonyom Pastorale 467 Patriotische Rüge 149 Patriotismus-Dialog (Der Patriotismus und sein Gegenteil) 160 Paulus 592–593 Perdita 285 Perlen der heiligen Vorzeit 148 Peroratio 78 Perrudja 483
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Pfeife alten Aberglaubens 317 s. a. Sípja régi babonának Phänomenologie des Geistes 338 Pikasso sieht rot 541 s. a. Nincs alvás! Pischti im Blutgewitter 621 s. a. Pisti a vérzivatarban Pisti a vérzivatarban 621 s. a. Pischti im Blutgewitter Planctus ante nescia … 11 Planctus ante nescia 11 s. a. Planctus ante nescia … Plastik 541 s. a. Plasztik Plasztik 541 s. a. Plastik Poemata quae uspiam reperiri potuerunt omnia 29 Poetai harmonistika 127 Poetik 173 Politikai divatok 243 s. a. Andere Zeiten, andere Menschen Pompásan buszozunk! 545 s. a. Die wunderbare Busfahrt Pompásan buszozunk 526 s. a. Pompásan buszozunk!; Die wunderbare Busfahrt Pontos történetek útközben 525, 533 s. a. Genaue Geschichten unterwegs Porábúl megéledett Főnix 82 s. a. Der aus seiner Asche wiedererstandene Phönix, oder Gedenken des János Kemény Postilla Scultetica 66 Prae 481, 483, 496 Pray-Kodex 7 s. a. Pray-kódex Prikk mennyei útja 375 Prizma 408 próféciák 580 Prometheus 102 Psalmus Transsylvanicus 596 Psalterium Ungaricum 64–65 Psyché 470, 551, 582–583, 593 Pustefee 467 s. a. A tündér Pusztai fűz 223 s. a. Die Weide auf der Pussta Puszták népe 483–484, 526 s. a. Pusztavolk Pusztavolk 483 s. a. Puszták népe Rákos Nymphájához 136 s. a. An die Nymphe von Rákos Ramayana 619
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Titelregister
Ratio atque institutio studiorum Societatis Jesu 73 Ratio Studiorum 74 Rauhe Zeiten 254 s. a. Zord idő Rausch in der Frühe 334 s. a. Hajnali részegség Rebekka, die Hexe 232 s. a. Vörös Rébék Reggeltől estig 452 Régi ház 289 Reise im Mondlicht 376 s. a. Utas és holdvilág Reise um meinen Schädel 376 s. a. Utazás a koponyám körül Reisebriefe an Frigyes Kerényi 194 s. a. Úti levelek Kerényi Frigyeshez Rembrandt 276 Reménytelenül 473 Rendkívüli Színpad 408 Rerum Hungaricum decades 43 s. a. Rerum Ungaricarum decades Rerum Transylvanicarum libri quatuor 83 Rerum Ungaricarum decades 24 Reszket a bokor, mert … 190 s. a. Es zittert der Strauch, wei …; So wie der Zweig erzittert … Reviczkys berühmtestes Werk 286 Rhetorik 173 Riának hívom 415 s. a. Ich nenne sie Ria Richard II 225 Rikóti Mátyás 129 Riportok 534 Ritter Bor 227 s. a. Bor vitéz; Bor, der Held Roman eines Schicksallosen 512, 526, 528 s. a. Sorstalanság; Mensch ohne Schicksal Rombolás és bánat az ég alatt 522 Romeo und Julia 542 Römerbrief 509 Rondó 510, 519 Rossz volt, elszéledt szívemből 456 s. a. Es war schlimm, es hat sich aus meinem Herzen verflüchtigt Rózsabokor a domboldalon 189 Rozsdatemető 502, 514 s. a. Schrottplatz Rubens és a nem-euklideszi asszonyok 625 Rückblenden 525, 533 s. a. Film Rückblick auf die jüngste Entwicklungsperiode Ungarns 205
Rückblick 205, 222 s. a. Rückblick auf die jüngste Entwicklungsperiode Ungarns Rudolph von Habsburg 148 Ruinae Pannonicae 79 Sage vom weißen Ross 152 Sanctae inquisitionis Hispaniae artes 41 Sankt Peters Regenschirm 272 s. a. Szent Péter esernyője Sanyarú világ 534 Sár 582, 585 Sárarany 349, 517 s. a. Gold im Kote Sárga rózsa 247 s. a. Die gelbe Rose Sári bíró 609 Sátán 286 Satanstango 520 s. a. Sátántangó Sátántangó 520–521, 523 s. a. Satanstango Sátántangós 521 s. a. Sátántangó; Satanstango Saul 504, 510, 518 s. a. Saulus Saulus 504, 510, 512–513 s. a. Saul Schāhnāme 210, 217 Schilfliedern 188 Schlachtenbilder und Szenen aus Ungarns Revolution 1848 und 1849 204, 240 s. a. Forradalmi és csataképek 1848–49-ből Schläfrig bin ich … 193 s. a. Álmos vagyok és még sem alhatom … Schloß 538 Schneewittchen 608 s. a. Hófehérke Schöne ungarische Komödie 53 s. a. Szép magyar comoedia Schrottplatz 502 s. a. Rozsdatemető Schuld und Sühne 276 Schutzgebiet Sinistra 523 s. a. Sinistra körzet Schwarze Diamanten 243 s. a. Fekete gyémántok Schwarzer Stern 443 s. a. Fekete csillag Semmiért Egészen 441, 450–452 s. a. Alles für nichts Semmiért Egészen; 449 s. a. Semmiért Egészen Sendestörung 621 s. a. Adáshiba September-Ausklang 190 s. a. Szeptember végén Seregesen senkik jönnek 433
Titelregister
Sértődöttek 486 Shakespeare, francia színművek s az Athenaeum 174 Sindbad geht heim 374, 489 s. a. Szindbád hazamegy Sinistra körzet 523–524, 542 s. a. Schutzgebiet Sinistra Sípja régi babonának 317 s. a. Pfeife alten Aberglaubens Siralmas magyar krónika 251 Sírfelirat helyett 523 Sivatagban 449 Sms 66 kortárs költőnek 579 [So fand ich mir nun eine Heimat …] 433 s. a. [Íme, hát megleltem hazámat …]; [Nun fand ich Heimat, endlich …] So wie der Zweig erzittert … 190 s. a. Reszket a bokor, mert …; Es zittert der Strauch, weil … Solus eris 281 Sommernachtstraum 156, 622 s. a. A Midsummer Night’s Dream Sonette 309 s. a. Szonettek Song for the Wandering Jew 223 Soproni virágének 17 s. a. Das Ödenburger Blumenlied Sors, nyiss nekem tért … 194, 591 s. a. Mein Schicksal, schaff mir Raum; Kampfeslust Sorstalanság 512, 526, 528–531 s. a. Roman eines Schicksallosen; Mensch ohne Schicksal Speak, Memory 490 Specimen Hungariae Literatae 98 Spiel im Schloss 606 s. a. Játék a kastélyban Spleen 276 Spomen Milice 123 s. a. Fanni hagyományai; Fanny’s Nachlass Sprechen Sie mit Mama … 610 s. a. A Gyurkovics lányok Stádium 170 Standhaften Prinzen 623 Steine fallen in versiegende Brunnen 517 s. a. Kő hull apadó kútba Stella und Clavigo 107 Stephan I. König von Ungarn 119 Sterne von Eger 268, 549 s. a. Egri csilagok Stirb singend 233 s. a. Mindvégig
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Strange Interlude 605 Sustorgós, ropogós tafotában 349 s. a. In raschelndem, knisterndem Taft Sutting ezredes tündöklése 518, 548 s. a. Der Glanz des Obersten Sutting Symphonia Ungarorum 4 Szabács viadala 15–16 s. a. Die Erstürmung von Schabatz Szabadság, szerelem 196 s. a. Die Liebe, die Freiheit; Freiheit und Liebe Számadás 333, 435 [Számozott költemények] 395–398, 413, 431 s. a. [Nummerierte Gedichte] Szárnyas lovak 517 s. a. Geflügelte Pferde Száz fabula 40 Száz hűségű hűség 432–433 Szegény gazdagok 239 s. a. Die armen Reichen; Die schwarze Maske Szelek sodrában 330 Szent Péter esernyője 272–273 s. a. Sankt Peters Regenschirm Szenvtelen följegyzések 533 Szép magyar comoedia 53 s. a. Schöne ungarische Komödie Szépirodalmi Szemle 207 Szeptember végén 190, 193 s. a. SeptemberAusklang Szerelem [Gy. Illyés] 345 s. a. Liebe Szerelem [T. Déry] 496 s. a. Liebe – Love Szerencsétlenség 278 Szerezni egy nőt 525 s. a. Eine Frau besorgen Szindbád hazamegy 374, 489 s. a. Sindbad geht heim Szindbád 283 Színek és évek 374 s. a. Farben und Jahre Szomjas ember tűnődése 184 s. a. Des Durstigen Kümmernis Szondi két apródja 227 s. a. Szondi’s Pagenpar; Szondi’s Pagen Szondi’s Pagen 227 s. a. Szondi két apródja; Szondi’s Pagenpar Szondi’s Pagenpar 227 s. a. Szondi két apródja; Szondi’s Pagen Szörnyű idő 201–202 s. a. Zeit des Entsetzens; Furchtbare Zeit Szózat 80, 161, 163, 204 s. a. Zuruf; Mahnruf; Aufruf
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Titelregister
Sztálin: Les questions du léninisme 495 Szürke galamb 526 s. a. Graue Taube Szűzmáriás királyfi 483 s. a. Ein Königssohn der Szekler Tábori kis tracta 79 Taddeusz lovag vacsorája 283 Tag des Aberglaubens, donnerstags, wenn es am schwersten ist 475 s. a. Babonák napja, csütörtök: amikor a legnehezebb Takarítás 623 s. a. Hausputz Találkozás 623 s. a. Begegnung [Talán eltűnök hirtelen …] 465 s. a. [Weiter entweich ich jäh …] Tamburás öreg úr 231 s. a. Der alte Herr und seine Zither Tantalus 276 Tao Te King 433 Tapferen Kassian 614 s. a. Der tapfere Kassian Tárcanovellák 277 Tariménes utazása 103 Tartsd a szemed a kígyón! 541 Tausend Weichseln sind des Baumes Zier 185 s. a. Ezrivel terem a fán a meggy …; Lange treibt der Weichsel … Tausendundeiner Nacht 156 Távozó sereg 472 Te meg a világ 414, 448 Technischem Manifest der Futuristischen Literatur 444 Téli éjszaka 440, 473 s. a. Winternacht Téli éjszakák 92 Temetés 623 s. a. Beerdigung Tengeri-hántás 232 s. a. Das Maisschälen Tengerszem 540 Térkép Aliscáról 533 s. a. Karte von Alisca Termelési regény 268, 519 s. a. Termelésiregény; Ein Produktionsroman Termelési-regény 510, 526, 536–537, 546, 552 s. a. Ein Produktionsroman Tetemre hívás 232 Theaterlexikon 615 s. a. Színészeti lexikon Theiß wild 190 s. a. A Tisza; Die Theiß Theologia Platonica de immortalitate animorum 29 Theomachia 467
Thomas Mann üdvözlése 458 s. a. Thomas Manns Begrüßung; Thomas Mann zum Gruß Thomas Mann zum Gruß 458 s. a. Thomas Mann üdvözlése; Thomas Manns Begrüßung Thomas Manns Begrüßung 458 s. a. Thomas Mann üdvözlése; Thomas Mann zum Gruß Tiefland 189 s. a. Az alföld; Das ungarische Flachland Timár Virgil fia 356–357 s. a. Der Sohn des Virgilius Timár Tímár Zsófi özvegysége 269 Tiszai legenda 277 Tisztaság könyve 392, 394, 401 Tisztelt hullaház! 394 Tizenhét hattyúk 544, 551 Tojáséj 562 Toldi estéje 212, 214, 247 s. a. Toldis Abend Toldi szerelme 213 s. a. Toldis Liebe Toldi 210–212, 214–215, 218–219, 224 Toldis Abend 212 s. a. Toldi estéje Toldis Liebe 213 s. a. Toldi szerelme Töredék Hamletnek 568 Töredék 343 Töredékek a vallásról 139 Törleß 538 s. a. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Tört elégia 342 s. a. Elegienfragmente Történetnyomozás 139 Totenklage 560 s. a. Halotti beszéd; Die Grabrede Továbbélők 506 s. a. Die Weiterlebenden Tövisek és virágok 116 Tragédia 349 s. a. Tragödie Tragődia magyar nyelven az Sophocles Electrájából 44 Tragödie des Menschen 523 s. a. Az ember tragédiája; Die Tragödie des Menschen Tragödie 349 s. a. Tragédia Tranzit mundi 542 Trauer 494 s. a. Gyász; Maske der Trauer Traumlandschaft 344 s. a. Álomi táj Tristia 28 Tübinger Preisschrift 108 Tücsökdal 375
Titelregister
Tücsökzene 448, 454 Tudatalatti megálló 550 Tudnivalók a szénégetőkről 523 Tudod, hogy nincs bocsánat 314, 465 s. a. Du weißt,’s gibt kein Vergeben; Du weißt, es gibt kein Vergeben Tudósítás a toronyból 484, 502 Tükrökről, szobákról 289 Tulajdonosi szemlélet 592 Tündérkert 353 Tündérlaki lányok 607 TündérVölgy [E. Kukorelly] 526, 528, 532 TündérVölgy [M. Vörösmarty] 155, 532 Tündöklő Jeromos 609 Tunisias 148 Tűvé-tevők 609 Tűzkút 565 Tűz-tánc 556 Über das Marionettentheater 533 Über das Unheimliche 411 Über den Geiz 36 s. a. Az fösvénységről Über die Versuchungen des Teufels oder über die erschreckliche Widrigkeit dieser vergifteten Welt 46 s. a. Ördögi kísértetek Über Gewißheit 535 Über Silvia 24 s. a. De Silvia Új bútor 523 Új Föld 408 Új művészek könyve 403 s. a. Buch neuer Künstler Új s új lovat 317 s. a. Immer wieder ein neues Pferd Új versek 310, 392, 432 Uj vizeken járok 312 s. a. Auf neuen Wassern Új Zrínyiász 271 Újabb palóc dalok 206 Újjászületés 287 Újmódi pásztorok éneke 342 Ultra 592 Ulysses 503 Un coup de dés jamais n’abolira le Hasard 565 Ungarische Dorfgeschichten 269 s. a. A jó palócok; Die guten Hochländer Ungarische Enzyklopädie 83 s. a. Magyar enciklopédia Ungarische Literaturgeschichte 306 s. a. Magyar Irodalomtörténet
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Ungarischen Literaturgeschichte in 6 Bänden 1 s. a. A magyar irodalom története Unser Buch 401 Unter Eichenbäumen 231 s. a. A tölgyek alatt Unzeitgemäße Betrachtungen 388 Unzeitgemäßen Betrachtung 388 Utas és holdvilág 375 s. a. Reise im Mondlicht Utazás a koponyám körül 376 s. a. Reise um meinen Schädel Utazás Faremidóba 376 s. a. Die Reise nach Faremido Úti levelek Kerényi Frigyeshez 194 s. a. Reisebriefe an Frigyes Kerényi Utolsó szivar az Arabs Szürkénél 372 s. a. Die letzte Zigarre im ‚Arabischen Schimmel‘ V. László 225 194 s. a. Ladislaus der fünfte Vágtat a ló … 216 vagy majdnem az 571 Valaki más 531 s. a. Ich – ein anderer Valami a vérről 592 Valér a földbe megy 277 Valse triste 467 Vándorlás 392 Vanitatum vanitas 136, 159 Vásárban 231 Vasúton 189 s. a. Auf der Eisenbahn Vaterland 462 s. a. Hazám; Mein Vaterland Vazetje Sigeta grada 79 Védelmező erős pais 86 Végtelenség 234 Végzés 441 Venus von Murány 82 s. a. Márssal társalkodó Murányi Vénusz; Die Venus von Murány im Wettstreit mit Mars Vér és arany 580 s. a. Blut und Gold Ver(s)ziók 565 Verbesserte Ausgabe 528 s. a. Javított kiadás Verbesserte Ausgabe. Beilage zu Harmonia Caelestis 548 s. a. Javított kiadás; Verbesserte Ausgabe Vergebung 518 s. a. Megbocsátás Verschiedene Gesänge in drei Teilen 47 s. a. Énekek három rendbe, különb-különb félék etc. Versek 183
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Titelregister
Verzauberung in Ithaca 488 s. a. Béke Ithakában Vezér 452 Vidéki emberek 278 Világ 170 Világanyám 392 Világgyűlölet 189 Világosságot! 197–198 s. a. Licht! Villámfénynél 611 Vision in Motion 404 Visszapillantás múlt évi irodalmunkra 206 Visszatekintés 222 Vízenjárók és kétkezi munkások 277 Von dem grewlichen Laster der Trunckenheit etc 40 Von der himmlischen und der irdischen Liebe 531 s. a. Az égi és a földi szerelemről Von einem Edelmann und dem Teufel 40 s. a. Egy nemes emberről és az ördögről Von Material zu Architektur 404, 406 Vor Sonnenaufgang 605 Vörös Rébék 232 s. a. Rebekka, die Hexe Vorrede 164 s. a. Előszó; Vorwort Vorwort 164 s. a. Előszó; Vorrede Voyage en Icarie 195 Warum weil’ ich auf Erden noch? 193 s. a. Mért vagyok én még a világon; Was bin ich auf der Welt noch Was bin ich auf der Welt noch 193 s. a. Mért vagyok én még a világon; Warum weil’ ich auf Erden noch? Weh unser Fürst! 136 s. a. Fejdelmünk hajh … [Weiter entweich ich jäh …] 465 s. a. [Talán eltűnök hirtelen …] Weltchronik 33 Wer haftet für die Sicherheit der Lady? 538 s. a. Ki szavatol a lady biztonságáért? Werckmeister Harmonies 522 s. a. Werckmeister harmóniák Wie der Rosenbusch am Hügel 189 s. a. Rózsabokor a domboldalon; Dort auf dem Hügel; Wie der Rosenbusch Wie der Rosenbusch 189 s. a. Rózsabokor a domboldalon; Dort auf dem Hügel; Wie der Rusenbusch am Hügel Wie der Stein fällt 493 s. a. Iszony; Abscheu
Wie könnte ich dich nennen? 194 s. a. Minek nevezzelek?; Wie soll ich dich nennen? Wie soll ich dich nennen? 194 s. a. Minek nevezzelek?; Wie könnte ich dich nennen? Wieder ist der Herbst gekommen … 189, 191 s. a. Itt van az ősz, itt van újra Wild West Európa 414 Wilhelm Meister 530 Winternacht 440, 473 s. a. Téli éjszaka Wir bewegen die Erde 244 s. a. Eppur si muove, És mégis mozog a föld Woher und wohin? 220 s. a. Honnan és hová? Wolf 523 Wolken 187 s. a. Felhők Würzgärtlein für die kranken Seelen 48 s. a. Beteg lelkeknek való füves kertecske Zalán futása 149, 152, 155, 183, 216, 219 s. a. Zalans Flucht Zalans Flucht 149, 152 s. a. Zalán futása Zauberberg 530 Zauberflöte 107, 156–157 Zaubergarten 353 s. a. Tündérkert Zeit des Entsetzens 201 s. a. Szörnyű idő; Furchtbare Zeit Zendülők 538 s. a. Die jungen Rebellen Zentralpark 424 Zlatna oder von Ruhe des Gemüts 68 Zlatna 68–70 s. a. Zlatna oder von Ruhe des Gemüts Zoltán Kárpáthy 239 s. a. Kárpáthy Zoltán Zone 396 Zord idő 254–255 s. a. Rauhe Zeiten Zrínyi második éneke 137 s. a. Zrínyis zweiter Gesang Zrínyi 137 Zrínyis zweiter Gesang 137 s. a. Zrínyi második éneke Zrí-Punalua 408 Zur Kritik der Gewalt 313 Zuruf 161 s. a. Szózat Zweimal sterben 243 s. a. Akik kétszer halnak meg Zwischen Herbst und Frühling 330 s. a. Ősz és tavasz között
Zeitschriftenregister „Gegen-Aurora“ 169 2x2 381, 385, 401 100% 407 365 407 A Hét 279, 281, 298 A Tett 381, 385–388, 390 Akasztott Ember 385 Alföld 503, 564 Athenaeum 169, 171, 174 Archiv für Geographie, Historie, Staatsund Kriegskunst 147 Aurora 123–124, 141–142, 151, 168–169, 174 Bauhaus 406 Blackwood’s Edinburgh Magazine 143 Blättern für die Kunst 301 Diétai Magyar Múzsa 99 Dokumentum 381, 385–386, 409–410 Drei Raben 334 Egység 385 Ék 385 Élet és Literatura 138, 141 Életképek 176 Ephemerides Budenses 99 Erdélyi Muzéum 140, 142 Felsőmagyarországi Minerva 141 Figyelmező 171 Hadi és Más Nevezetes Történetek 105 Hasznos Mulatságok 117 Hazai s Külföldi Tudósítások 117 Hazai Tudósítások 117 Hölgyfutár 207 Honderű 177 Honművész 176 House Words 207 Huszadik Század 298 Irodalmi Őr 176 IS 407 Jelenkor (1832–1848) 169 Jelenkor (1958–) 503 Kelet Népe 466 Kortárs 503 Korunk 466 Kritikai lapok 138, 141, 169, 171
Ma 148, 381–383, 385–388, 397, 401, 403, 617 Magyar Emléklapok 207 Magyar Hírlap 281 Magyar Hírmondó 105 Magyar Írás 407 Magyar Írók Füzetei 207 Magyar Kurir 105 Magyar Merkurius 105 Magyar Műhely 565, 573 Magyar Musa 105 Magyar Museum 99, 105 Magyar Szépirodalmi Szemle 173 Minerva 305 Mozgó Világ 564 Munka 381, 386 Muzárion 141 Nyugat 264, 279, 284–285, 289–290, 293–294, 297–299, 301–304, 306–307, 319, 339–340, 376, 381, 385–388, 390, 414, 437, 444, 455, 457, 466–467, 556, 562, 606 Orpheus 99, 105 Országgyűlési Tudósítások 170 Ostdeutschen Post 203 Pester Lloyd 297 Pesti divatlap 176 Pesti Hírlap 171 Pesti Napló 204 Pesti Röpívek 207 Pressburger Zeitung 99 Regélő 176 Regélő pesti divatlap 176 Revue des deux Mondes 212 Spiegel für Kunst, Eleganz und Mode 149, 176 Szellem 297–298 Szép Szó 466 Társalkodó 169 Taschenbuch für die vaterländische Geschichte 147 Tel Quel 565 The Mask 612 Tiszatáj 503
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Zeitschriftenregister
Tudományos Gyűjtemény 99, 118, 140–141, 168 Tudománytár 172 Új Föld 407 Új Írás 503
Új Symposion 469, 559, 564 Újhold 555–556, 562, 567, 584, 589 Urania 108–109 Válasz 466 Vasárnapi Ujság 207