Der Freiheitskampf des ungarischen Geistes 1867–1914: Ein Kapitel aus der Geschichte der neueren ungarischen Literatur [Reprint 2019 ed.] 9783111639376, 9783111256740

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
I. Die soziale Struktur der ungarischen Gesellschaft
1. Das historische Ungartum
2. Die Entwicklung der deutschstämmigen ungarischen Intelligenz
3. Die Rolle des Judentums
4. Budapest und seine geistige Bedeutung
II. Das Zeitalter der Assimilation
1. Das literarische Leben
2. Das literarische Werk
III. Das Zeitalter der Regeneration
1. Das literarische Leben
2. Das literarische Werk
Ausblick
Nachwort
Anhang
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Der Freiheitskampf des ungarischen Geistes 1867–1914: Ein Kapitel aus der Geschichte der neueren ungarischen Literatur [Reprint 2019 ed.]
 9783111639376, 9783111256740

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J U L I U S VON FARKAS

UNGARISCHE BIBLIOTHEK Für das Ungarische Institut an der Universität Berlin herausgegeben von J U L I U S V O N F A R K A S - • --

Erste Reihe



25.

Der Freiheitskampf des ungarischen Geistes 1 8 6 7 - 1914 Ein Kapitel aus der Geschichte der neueren ungarischen Literatur

Von

Julius von Farkas

Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.

Berlin

J U L I U S VON FARKAS

DER FREIHEITSKAMPF DES U N G A R I S C H E N GEISTES 1867-

1914

Ein Kapitel aus der Geschichte der neueren ungarischen Literatur

Berlin 1940

Gedruckt bei Carl M. F. Salzmann, Berlin 55

INHALTSVERZEICHNIS Seite

Einleitung

1—8

I. Die soziale Struktur der ungarischen Gesellschaft 1. Das

historische

9

Ungartum

11—23

2. Die E n t w i c k l u n g der deutschstämmigen ungarischen Intelligenz

24—34

3. Die R o l l e des J u d e n t u m s

35—52

4. Budapest und seine geistige B e d e u t u n g

53—58

II. Das Zeitalter der Assimilation 1. Das literarische

Leben

Generationen u n d Gruppen Die Organe des literarischen Lebens Die literarische Bildung des ungarischen Lesepublikums 2. Das literarische

Werk

Literarische R i c h t u n g e n Historisches Bewußtsein u n d Gesellschaftsbild Weltanschauung und Nationalgefühl

III. Das Zeitalter der Regeneration 1. Das literarische

Leben

Die Generation A d y s Der Kampfschauplatz der jungen Generation 2. Das literarische

Werk

Die Dichtung u n d das literarische Bewußtsein der Zeit Das U n g a r n b i l d Andreas A d y s

Ausblick

59

61

...

61—82 82—109 109—114 115 115—148 148—164 164—189

191 193 193—220 220—233 234 234—252 252—265

266-267

Nachwort

268—270

Anhang

271—280

Einleitung. Dieses Buch behandelt die geistige Entwicklung einer schicksalhaften Epoche Ungarns, die die Zeit von dem Ausgleich mit Österreich im Jahre 1867 bis zum Weltkrieg umspannt. Das Jahr 1867 bedeutet den Beginn des Ausbaus eines neuen ungarischen Reiches. Das Ungartum hatte zum ersten Mal nach der Niederlage von Mohäcs im Jahre 1526, als die Türken das Reich Stephans des Heiligen zerstückelten, wieder von der Macht über die alten Grenzen Besitz ergriffen. Vor der neuen parlamentarischen Regierung türmten sich tausende und abertausende Probleme auf, die nach einer Lösung drängten: die verwaltungsmäßige und seelische Verschmelzung der einst zerrissenen Reichsteile, die Aussöhnung der feindlichen Nationalitäten, die kroatische Frage, die kapitalistische Durchdringung des Agrarstaates und Modernisierung des Unterrichtswesens usw. Zu all dieser Arbeit, die die unverschuldeten Versäumnisse von Jahrzehnten aufholen sollte, fehlte aber die Atmosphäre der Ruhe und Besonnenheit. Die Abhängigkeit von Österreich, der Widerstand der wurzelechten Magyaren und die Unzufriedenheit der Nationalitäten lösten ständig stürmische Gewitter aus. Und j e weiter die Zeit fortschritt, umso mehr verdüsterte sich der Horizont. Die besten Kräfte des Ungartums rieben sich in unfruchtbaren Kämpfen auf, die wirklich großen Entwürfe schrumpften zu halben Lösungen zusammen, die führenden Schichten der Gesellschaft wurden von volksfremden Elementen abgelöst, der moderne ungarische Staat war noch nicht einmal wirklich geboren, als er schon der qualvollsten Katastrophe seiner Geschichte zueilte. Doch in den Tiefen des geistigen Lebens reiften schwerwiegende Veränderungen, die einstweilen nur die feineren Nerven in Schwingung brachten. W i e der ungarische Staat vom Jahre 1867 keine wirkliche Fortsetzung noch Vollendung des vom Jahre 1848 war, — zwischen diesen Jahren liegt die Zeit der Habsburger Gewaltherrschaft — sondern eine vollständig neue Schöpfung, so unterlag auch das geistige Leben der Zeit des Ausgleichs wesentF a r k a s . Freiheitskampf

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Einleitung

liehen, strukturellen Veränderungen. D i e in die Vergangenheit führenden Wurzeln rissen mit dem Schwinden der alten Generationen immer mehr ab, in dem schnell vorwärtsdrängenden T e m p o des kapitalistischen Lebens war zur Selbstbesinnung kaum Zeit, Budapest wuchs zur Weltstadt und zum geistigen Mittelpunkt des L a n d e s heran, geistige und politische Führer traten auf, die die ungarischen Traditionen kaum noch kannten, es bildete sich ein gewaltiges Lesepublikum, das sich aus fremdvölkischen Lebensbezirken zusammenfand. W i r können die Bedeutung des Zeitwandels nicht augenfälliger zum Ausdruck bringen, als wenn wir seine Vorbedingungen darlegen. Bis zum J a h r e 1848 war der Adel der fast alleinige T r ä g e r des ungarischen geistigen Lebens. Diese nationstreue und staatsbildende Schicht gründete die Ungarische Akademie der Wissenschaften, brachte die erste literarische Gesellschaft, die K i s f a l u d y Gesellschaft, zustande, baute das Nationaltheater, stellte Dichter und Gelehrte und sammelte um sie ein Lesepublikum. D i e Dichtung eines Kazinczy, Kisfaludy, Berzsenyi, Kölcsey und Vörösmarty war mehr als Zeitvertreib flüchtiger Stunden. Obwohl die politischen K r ä f t e geknebelt darniederlagen, schufen diese Dichter und ihre geistigen W a f f e n g e f ä h r t e n wahrlich die Nation neu, in einer Zeit, als das M a g y a r e n t u m kaum ein Drittel der Einwohnerschaft ausmachte, als zur Entwicklung des geistigen Lebens keine Verleger, Zeitschriften, Theater und literarischen Gesellschaften zur V e r f ü g u n g standen, in einer Zeit, als die wenigen ungarischen Adligen, wenn sie sich überhaupt für geistige Dinge interessierten, Steuerzahler einer fremden Kultur und auch in sich selbst seelisch gespalten waren. Denn das Sonderleben, das die einzelnen ungarischen Staatsgebiete während der Türkenherrschaft geführt hatten, und noch mehr die Spaltung durch die verschiedenen religiösen Bekenntnisse hatten zwei verschiedene ungarische Adelstypen mit verschiedener Bildungsgrundlage, mit voneinander abweichendem Nationalgefühl, mit gegensätzlicher W e l t a u f f a s s u n g geschaffen. D i e charakteristischen Vertreter der beiden Typen, Franz Kazinczy und A l e x a n d e r Kisfaludy, nach den Worten des letzteren „zwei sehr verschiedene Hauche des Gottes der M a g y a r e n " , standen sich am A n f a n g des 19. Jahrhunderts noch als Gegner gegenüber in jenen literarischen K ä m p f e n , die nicht nur zur Entwicklung einer neuen Literatursprache, zu einer höheren Kultur, sondern auch zum Erwachen des ungarischen Nationalbewußtseins führten.

Einleitung

3

Der jüngeren Generation, den von Karl Kisfaludy geführten Romantikern, fiel die Aufgabe zu, die gegensätzlichen Kräfte zu vereinigen, die Errungenschaften der vorhergehenden Zeit fruchtbar zu machen, den ungarischen Mythos in ewig gültiger Form zum Leben zu erwecken und im Zauberlichte der gemeinsamen Vergangenheit, der gleichen nationalen Sendung dem alle U n g a r n umfassenden Nationalgefühl künstlerischen Ausdruck zu geben. Der Hymnus Kölcseys und der „ A u f r u f " (Szozat) Vörösmartys wurden beide zu Gebeten der gesamten Nation. Diese Entwicklung ging einstweilen nur auf der höchsten geistigen Ebene vor sich, aber ihre Wirkung, die auf die ganze adlige Gesellschaft ausstrahlte, leitete einen Gährungsprozeß von entscheidender Bedeutung ein. Die W o r t e des ungarischen Erneuerers, des G r a f e n Stephan Szechenyi (1791 —1860), fielen schon auf bearbeiteten Boden, seine Schöpfungen entbehrten nicht der verstehenden Geister und der helfenden Hände. (Ich habe mich bemüht, diesen geistigen Vorgang in meinem Buche „Die ungarische Romantik", Berlin 1931, zu schildern.) Zur Zeit der unerhörten politischen und geistigen K r a f t a n strengung der adligen Nation erkannte Szechenyi als erster, daß diese Nation nur dann gerettet und zu einem wertvollen Faktor der Menschheit entwickelt werden kann, wenn sie die rechtlosen Millionen, die ungarischen Leibeigenen, in die Basteien ihrer Verfassung einläßt. Er nahm scharf gegen die Assimilation der Nationalitäten und gegen die Emanzipation des Judentums Stellung, weil er davon überzeugt war, daß das U n g a r t u m vorher sich selbst kräftigen müsse, bevor es den Fremden seine Tore öffne. W ä h r e n d die Politiker diesen mächtigen Gedanken der nationalen Einheit diskutierten, trat dieser in der hohen Sphäre der Dichtung in das Stadium der Verwirklichung. In den 40er Jahren reifte der ungarische Geist zu herrlicher Blüte, f ü r die weder f r ü h e r noch nachher ein Beispiel zu finden ist. Neben der Generation der Romantiker sehen wir die Generation des Baron Eötvös und Baron Kemeny, die die W e l t bereist und die nationale Anschauung der Romantiker durch einen europäischen Gesichtskreis ergänzt hat, und die Generation Petöfis und Aranys, in deren Persönlichkeiten das Volk erscheint. Die W e r k e dieser Klassiker spiegeln mit einem weit über die Grenzen des Landes hinausleuchtenden Schein das ewige Antlitz des Ungartums wieder. Neben den Dichtern stehen die größten Staatsmänner, die U n g a r n je hervorgebracht hat, Szechenyi, Kossuth und Deäk, neben den unsterblichen dichterischen

4

Einleitung

Werken die durch die Kettenbrücke verbundene neue Hauptstadt, die fortschrittliche, parlamentarische Verfassung von 1848 und das Nationalheer des Freiheitskrieges von 1848/49. Es war eine große Zeit großer nationaler Schöpfungen und unsterblicher Persönlichkeiten. (Ich versuchte das geistige Leben dieser Zeit in der Fortsetzung der „Ungarischen Romantik" in dem Buch „Die Zeit des Jungen U n g a r n s " zu deuten, Budapest 1932.) Die Katastrophe bei Vilägos im J a h r e 1849, wo die ungarische Freiheitsarmee vor den vereinten russischen und österreichischen Heeren die W a f f e n strecken mußte, vernichtete wie ein Hagel die jungen Triebe des schönsten und reichsten ungarischen Frühlings. Es war ein schwerer Schlag, als der österreichische Absolutismus die ungarische Verfassung aufhob, das L a n d willkürlich in Provinzen teilte, eine deutschsprachige Verwaltung mit volksfremden Beamten organisierte, die Führer U n g a r n s in die Verbannung zwang und jeden ungarischen Gedanken unterdrückte. Die Folgen dieser Gewaltmaßnahmen wirkten auch nach der Wiedergutmachung von 1867 weiter. Das verhängnisvolle Ergebnis des Habsburger Absolutismus, das das Ungartum bis heute noch nicht überwinden konnte, war aber das Auseinanderfallen der Einheit von Volk und Nation. Die von der Verfassung von 1848 ausgesprochene Befreiung der Leibeigenen blieb wohl in Geltung, aber ihre Durchführung wurde von fremden Interessen gelenkt. Der ungarische Adlige, der das Gesetz geschaffen hatte, hatte nichts hineinzureden. W ä h r e n d in der Zeit der Leibeigenschaft doch ein gewisses patriarchalisches Verhältnis den Adligen mit seinem Leibeigenen verband, so öffnete sich jetzt ein tiefer Abgrund zwischen Herr und Bauer. Der Gutsbesitzer, der die Vermögensabfindung im Verhältnis seiner „Gutgesinntheit" erhielt und ohne unbezahlte Arbeitskräfte blieb, konnte seinen Acker nicht mehr bearbeiten und verarmte in schnellem Tempo. Die neuen Steuern und der Schmerz um das Schicksal Ungarns drückten ihn, im T r u n k und in Zechereien suchte er Vergessen, seine Bauern, f ü r die er bisher im eigenen Interesse gesorgt hatte, überließ er ihrem Schicksal. Die Bauern kamen wohl zu Freiheit und Land, aber da sie ohne Anleitung und landwirtschaftliche Ausrüstung waren, standen sie ratlos im Labyrinth der neuen und volksfremden Bürokratie und konnten nichts mit ihrer Freiheit und ihrem Besitz anfangen. Sie sanken in immer größeres Elend und sehnten an vielen Stellen das Los der Leibeigenschaft zurück. Der Gedanke der Einheit von Volk und Nation wandte sich in sein Gegenteil.

Einleitung

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Lebte nun der Gedanke selbst noch? Szechenyi, der ihn als erster formuliert hatte, siechte im Irrenhaus zu Döbling als ewiger Gefangener dahin. Kossuth, der ihn in flammenden Artikeln verkündet und politisch verwirklicht hatte, irrte in der Fremde umher, Petofi, sein dichterischer Prophet, war in der Schlacht bei Segesvar verschwunden. Der Führer des ungarischen Adels, Franz Deäk, stärkte in der erstickenden Atmosphäre der passiven Resistenz mit überlegener Weisheit den Widerstand des Adels und kämpfte für die Verfassung. Der produktivste politische Gedanke des ungarischen Geistes war so gut begraben wie die gefallenen Helden des Freiheitskrieges in den namenlosen Massengräbern. Die Dichtung aber, deren volkspolitische Berufung Petofi mit heiliger Uberzeugung verkündet hatte, blühte weiter, gewann sogar, da das politische Leben fehlte, von neuem eine führende Stellung. Und dennoch! „Zur Zeit des literarischen Klassizismus nationale Unterdrückung, das ließ die Geschichte der ungarischen Nation unbarmherzig zuteil werden. Was damals verloren ging, kann nicht mehr ersetzt werden", schreibt der Literarhistoriker Johannes Horväth bitter. Denn die äußere Unterdrückung schuf einen luftleeren Raum um die „gebildetsten ungarischen Köpfe", der sich dann auch nach dem Ausgleich nicht mehr auflöste. Der nationale Klassizismus — die Erfüllung der literarischen Bestrebungen der 40er Jahre — beschenkte die Ungarn mit den besten Schöpfungen des ungarischen Geistes, so mit den Romanen des Baron Kemeny, mit der „Tragödie des Menschen" Madächs und mit den Epen Aranys, aber sie fanden kaum Leser. Der Ungar dieser Zeit suchte — wenn er überhaupt las — nicht Vertiefung, sondern Vergessen und Trost, und dies fand er, wenn seine Ansprüche hoch waren, in den Romanen Jokais. Der Mangel an Lesern war aber noch nicht das größte Übel; die geistige Atmosphäre hatte sich geändert. Es wäre eine Täuschung, wenn man behaupten wollte, daß die klassische Literatur der 40er Jahre eine breite Leserschaft gehabt hätte. Um eine Leserschaft heranzubilden, wäre eine ganze Reihe von Generationen nötig gewesen. Aber damals regte sich das Leben auf dem ungarischen Boden: der Reichstag, die Komitatsversammlungen, überhaupt der Wirbel des politischen Lebens brachten den ganzen Mitteladel in Bewegung. Das Wirken der Akademie und der Kisfaludy-Gesellschaft wurde im allgemeinen aufmerksam verfolgt, an der geistigen Führung der neuen Generation arbeiteten die

6

Einleitung

Selbstbildungsvereine und die Vereine der Universitätsjugend. „Aus dieser vielseitigen Tätigkeit folgte, — schreibt Sigmund Kemény im J a h r e 1852 — daß der Adel auf dem Lande, wenn er auch nicht las, aus dem weiten Kreise der Kenntnisse etwas wußte." Die neue Ideenwelt lag irgendwie in der Luft. Auf den Adelssitzen diskutierte man über die Romane Eötvös', an den Tischen der Kaffeehäuser und auf den politischen Versammlungen rezitierte man die Dichtungen Vörösmartys und Petöfis. Nach Vilâgos wurde dieses verheißungsvolle Leben von einer Todesstille abgelöst, wie in nördlichen Gegenden der W i n t e r dem Sommer folgt. Die besten des Ungartums am Galgen, in der Emigration, im Gefängnis. Unter den zu Hause Gebliebenen, wie Gyulai sagt, „warfen sich viele, die am früheren öffentlichen Leben lebhaften Anteil genommen hatten, in die Arme der A p a thie, der Untätigkeit und der Träumereien und vernachlässigten sogar ihre Güter." Die Arbeit der Akademie war gelähmt, die der Kisfaludy-Gesellschaft setzte aus, am Nationaltheater wurde abwechselnd ungarisch und deutsch gespielt, in einem großen Teil der Höheren Schulen und an der Universität lehrte man deutsch, in den ungarischen staatlichen und Komitatsbehörden war Deutsch die Amtssprache. Die ungarische Geistigkeit erstarrte und machte einer anderen Platz. Auch in anderen Ländern, wenn auch unter dem inneren Zwange der Entwicklung und nicht auf äußeren Druck, ging in dieser Zeit eine soziale und geistige Umschichtung vor sich, aber der französische tiers état, der in der großen Revolution über den Adel siegte, war wenigstens ebenso französisich wie dieser. In U n garn begannen sich unter den Schutzfittichen der Habsburger an Stelle der wurzelechten ungarischen Adelsschicht zwei neue Intelligenzklassen herauszubilden. Die eine wurde von der neuen Bürokratie gebildet, die das Land hauptsächlich mit tschechisch-mährischen Beamten überschwemmte. Die große Menge der fremden Beamten blieb in Ungarn, behielt auch nach dem Ausgleich ihre einflußreiche Stellung und baute sie sogar aus. Die ungarische Sprache beherrschten sie zwar nicht — schreibt Stephan Toldy von ihnen — aber wegen ihrer Sachkenntnis konnte man sie vorläufig nicht entbehren. N u r der Optimismus konnte glauben und andere glauben machen, daß diese Fremden von heute auf morgen zu Magyaren werden konnten. Die zweite Schicht, deren Vordringen Sigmund Kemény schon im Jahre 1852 feststellt, war das Handel und Handwerk betrei-

Einleitung

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bende Bürgertum. Dies setzte sich in geringerem Maße aus dem deutschen Bürgertum der Städte, in großer Menge aber aus der in den 40er und 60er J a h r e n wie eine Sintflut ins Land strömenden Judenschaft zusammen. Die Kultur der einwandernden Juden, soweit sie eine solche besaßen, w a r deutschsprachig und ihr Prophet war Heine. Sigmund Kemeny zeichnet mit überraschender Klarheit den W e g der kommenden Entwicklung: „Ich glaube — schreibt er, wobei er seine W o r t e an den ungarischen Adel richtet (den ungarischen Bauern sieht er gar nicht einmal) — daß jene 10 oder 15 Jahre, innerhalb deren die jetzt heranreifende Generation euch ablösen kann, die politische Bedeutung der besitzenden Klasse — wenn ihr nicht ernstlich an die Arbeit geht — in ihren Grundlagen erschüttern können. Währenddessen kann das schnell fortschreitende H a n d w e r k und der H a n d e l seine eigenen Vertreter in den Vordergrund heben. Das Schwergewicht kann sich ausgesprochen ihnen zuneigen. M a n kann zwar die politischen Positionen leicht halten, aber schwer zurückerobern." W a r u m fürchtete sich Kemeny vor dem Vordringen dieser neuen Klasse? Sicherlich nicht aus Klassenbewußtsein, sondern aus Sorge f ü r das Ungartum. Die von ihm erhoffte Generationsablösung trat nicht ein. „Moses hielt das Vergehen einer ganzen Generation f ü r seine Ziele notwendig. Der Genius unseres Vaterlandes, der über unser Geschlecht wacht, wird uns vielleicht nicht mit diesem Fluch belegen." Dieser Fluch aber ging nicht an dem ungarischen H a u p t e vorüber und die junge Generation der Zeit des Absolutismus verschwand beinahe spurlos. Es traf die schmerzliche Prophezeiung des G r a f e n Szechenyis über die Assimilation ein: „Es ist möglich, daß diejenigen, die an unserem Platze sitzen werden, ehrenwertere und klügere Menschen sein werden, aber d a ß sie keine U n g a r n sein werden, das ist für mich unumstößliche W a h r h e i t . " Der Ausgleich stellte nur scheinbar und nur auf politischem Gebiet die Herrschaft des Adels wieder her: über die geistigen und materiellen Kräfte verfügen die neuen, f r e m d e n Schichten. Auch die Literatur und das geistige Leben, das sich nach dem Ausgleich entwickelte, war gänzlich neu und hatte kaum Wurzeln in der ungarischen Entwicklung. Seine Neuartigkeit können wir mit Weltanschauungskrise, mit kapitalistischer Lebensformwandlung, mit dem Übergewicht ausländischer geistiger Einflüsse erklären, aber mit all diesen Deutungen kommen wir kaum zu seinem Wesen. Ein seltsamer, vielleicht in der ganzen Weltgeschichte einzig dastehender Assimilationsvorgang vollzog sich auf ungari-

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Einleitung

schem Boden, der die Züge des ungarischen Antlitzes auf Jahrzehnte entstellte. Gleichzeitig verschoben sich die Knotenpunkte des ungarischen geistigen Lebens von den kernungarischen adligen Kurien in die fremdsprachigen und fremdgeistigen Städte, besonders in das kapitalistische „Weltwunder", in die Hauptstadt, die durch den gleichen Abgrund vom Lande getrennt war wie der Herr vom Bauern. Nichts beweist aber besser die Stärke der schlummernden ungarischen rassischen Kraft als die Tatsache, daß sie imstande war, in dieser völkisch und geistig überfremdeten Umgebung von neuem sich selbst zu finden, die Verbindung mit ihrer großen Vergangenheit zu schaffen und den Strom einer neuen wurzelhaft ungarischen geistigen Entwicklung einzuleiten. Das ungarische Brachfeld erblüht zu Anfang unseres Jahrhunderts von neuem. Diesen Entwicklungsvorgang versuche ich in vorliegender Arbeit zu beschreiben. Ich beschränke mich hauptsächlich auf die Behandlung des literarischen Lebens, wobei ich die Kenntnis der historischen Entwicklung voraussetzen muß. Die Erscheinungen des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens führe ich nur gelegentlich gleichsam als Illustration auf, da ich überzeugt bin, daß die Gesetzmäßigkeiten auf jedem Gebiete des geistigen Lebens identisch sind. Mein Buch teilt sich in zwei größere Zeitabschnitte. Der Vorgang der Überfremdung erreicht um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt, nicht als ob er sich danach nicht fortsetzte, sondern weil er damals schon bewußt wird und eine anhaltende Gegenströmung auslöst: die Regeneration des Ungartums nimmt ihren Anfang. Im Jahre 1899 erscheint der erste Gedichtband Andreas Adys: mit Ady und in seinen Spuren tritt eine neue wurzelhaft ungarische Dichtergeneration auf, die das Ungartum zu neuem Leben erweckt. Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß die vorliegende Arbeit, die mit den beiden früheren, oben erwähnten eine Einheit bildet und so die Entwicklung des ungarischen Geistes vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Weltkriege darzustellen versucht, in Deutschland zur Erkenntnis des wahren Magyarentums beitragen wird.

I. DIE SOZIALE STRUKTUR DER UNGARISCHEN GESELLSCHAFT

1. Das historische Ungartum. Als Joseph II. im J a h r e 1789 eine Volkszählung vornehmen ließ, wurden im Reiche Stephans des Heiligen 2 lA Millionen U n g a r n gezählt: sie bildeten 29% der Gesamteinwohnerschaft. Es schien, als ob sich die Prophezeiung Herders erfüllen sollte: Die U n g a r n gehen endgültig in dem sie umschließenden Völkermeer der Slawen und Germanen unter. Nach kaum 6 Jahrzehnten erreicht die absolute Seelenzahl des Ungartums 5 Millionen, die Nationalitätsverhältniszahl beträgt 44%. Diese ungeheure Kraftanstrengung des ungarischen Volkes, mit der die Wiedererringung der politischen Herrschaft und eine außergewöhnliche Entfaltung des geistigen Lebens verbunden war, steht in der Weltgeschichte einzigartig da. Dieses Ergebnis ist umso bedeutender, als das Ungartum es nicht durch Volksassimilation erreicht hat, sondern vollständig auf sich selbst angewiesen, nur durch seine eigene rassische und geistige Kraft. Seine politischen und geistigen Führer gehen fast ausschließlich aus den Reihen des historischen U n g a r tums hervor. Die Niederschlagung des Freiheitskampfes im J a h r e 1849 hielt auch hier, und zwar für drei Jahrzehnte, die Entwicklung auf. Im J a h r e 1869, also schon nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich, betrug die Seelenzahl des Ungartums nach den Angaben des bekannten Statistikers der Zeit, Karl Keleti, 6 156421, im J a h r e 1880 6 165 088, der Nationalitätenanteil betrug 44,4% bzw. 44,9%, d. h. er blieb seit dem Freiheitskampfe fast unverändert. Das historische Ungartum hatte während dieser drei Jahrzehnte beträchtlich abgenommen, und die Verhältniszahl hatte sich nur deshalb nicht geändert, weil auch die übrigen Nationalitäten an seinem Schicksale teil hatten (die Juden ausgenommen, deren Seelenzahl sich in dieser Zeit fast verdoppelte). Vom Jahre 1880 ab beginnt wieder eine Entwicklung großen Ausmaßes, und im J a h r e 1900 weist die Statistik schon 8X> Millionen U n g a r n auf, die 51,4% der Gesamteinwohner ausmachen. Dieses „Ergebnis", daß das U n g a r t u m in seinem eigenen Staate die absolute Mehrheit erlangt hatte, wurde von der nationalen öffentlichen Meinung am

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Die

soziale

Struktur

der

ungarischen

Gesellschaft

A n f a n g des Jahrhunderts mit lautem Freudengeschrei aufgenommen, und ein Statistiker der Zeit, Josef A j t a y , schreibt mit beneidenswertem, wenn auch verhängnisvollem Optimismus: „Auf der Höhe der Kenntnis der Vergangenheit stehend, sehen wir schon den Morgen des einheitlichen ungarischen Nationalstaates dämmern, und mit Glauben, Vertrauen und starker H o f f n u n g auf unsere Z u k u n f t füllt sich unser Herz." Dieser Optimismus wurde nicht nur in der Folge widerlegt, sondern auch die Statistiker und Soziologen vom Ende des J a h r hunderts, wie Karl Keleti, Julius Vargha, Josef Jekelfalussy und Stephan Bernäth teilten ihn nicht. Mit ihrer Hilfe wollen wir versuchen, hinter die Rabulistik der statistischen Daten zu kommen. Den schweren Schlag, den der Absolutismus f ü r die ungarische Rasse bedeutete, braucht man kaum noch mit Angaben zu illustrieren. Der Blutverlust des Freiheitskampfes, die Hinrichtungen, die Emigrationen, Einkerkerungen und sicher nicht in letzter Linie die nationale Hoffnungslosigkeit ließen die Zahl des historischen Ungartums zurückgehen. „ U n g a r n lag brach — schreibt der Augenzeuge J o h a n n Asboth — wie ein verwüstetes Schlachtfeld, düster in seiner Trauer, glühend in seinem H a ß , in seinem W i d e r s t a n d e unfruchtbar, stumm, aber unveränderlich wie die Wüste, mehr als ein Jahrzehnt lang, währenddessen die Geschichte des Landes stehen blieb, eine Generation war unfruchtbar dahingegangen . . ." Das Ausmaß des rassischen Verfalls beweist nichts schlagender als ein Vergleich der Angaben der Volkszählung von 1850 und 1869. Die erste wurde von kaiserlichen f r e m d e n Beamten durchgeführt, sicherlich mit wenig gutem Willen f ü r das Ungartum, und sie stellten den Landesanteil des Ungartums auf 44,2% fest. Die zweite ging unter der Leitung der ungarischen Regierung vor sich, zu der Zeit, als die Eingekerkerten schon befreit, die Verbannten zurückgekehrt waren, als das J u d e n t u m schon nicht mehr als Nationalität, sondern als Bekenntnis gerechnet wurde und als übrigens auch viele sich als U n g a r n bekannten, die zur Zeit des Absolutismus ihre fremde Abstammung betonten. U n d dennoch hatte sich der Landesanteil des U n g a r t u m s um nicht mehr als um 0,4% gehoben. W e n n wir die Juden, die damals noch in großer Mehrheit deutscher Bildung waren, und die Konjunkturassimilierten abrechnen, dann bedeutet diese Steigerung um 0,4% vom Standpunkt des geschichtlichen U n g a r t u m s offensichtlich Verfall. Noch düsterer ist das Bild in dem ersten Jahrzehnt, das dem Ausgleich folgte. In dieser Epoche, am siegreichen Beginn der ungarischen

Das historische Ungartum

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staatlichen Suprematie, hob sich die absolute Seelenzahl des Ungar tums um 8867 Seelen, d. h. um 0,02%, der Nationalitätenanteil um 0,5%. Gleichzeitig betrug der Zuwachs des Judentums 4,6%, und ungefähr 400 000 Juden bekannten sich als U n g a r n . D a damals die Assimilation auch in den anderen fremdnationalen Schichten der Städte stürmisch um sich griff (z. B. in Budapest ließen sich schon mehr als 200 000 als U n g a r n zählen), scheint der Verfall, der sich in den Reihen des Rasseungartums zeigte, furchtbare Ausmaße angenommen zu haben. Karl Keleti führt diese erschreckende Abnahme auf verschiedene Gründe zurück. Im J a h r e 1872—73 richtete eine Choleraepidemie in U n g a r n Verheerungen an, die 350 000 Opfer dahinraffte, natürlich nicht so sehr in den hygienischeren Städten als unter dem in allem vernachlässigten Volk. In der Mitte der 70er Jahre traten Kinderkrankheiten auf, die Kindersterblichkeit überschritt in den ungarischen Gebieten 60% (sogar der sonst optimistische A j t a y stellt fest, daß in den Jahren 1890—1900 die Zahl der heiratsfähigen Männer einen großen Rückgang aufweist). Die Wirtschaftskrise vom J a h r e 1873 richtete viele Existenzen zugrunde, schließlich nahm gegen das Ende des Jahrzehnts die Auswanderung nach Amerika ihren Anfang, die im J a h r e 1882 die bedeutende Seelenzahl von 16 000 erreichte. Die ungarische Regierung war mit dem A u f b a u des Staates beschäftigt, sie k ä m p f t e mit der 48er Opposition und bekümmerte sich wenig um das Volk. „ W i r haben im Interesse der herrschenden Nationalität nichts getan", stellt Karl Keleti resigniert fest. Das U n g a r t u m ging wirklich dem Verfall entgegen, und auf ungarischem Boden f a n d sich weder die Begabung, der Wille noch die Kraft, die diesen Vorgang hätte aufhalten können. An eine entschlossene T a t dachten die Sklaven der liberalen Ideenwelt nicht. A n Ermahnungen fehlte es nicht, aber sie glichen der Stimme des Rufers in der Wüste. Beksics rührt schon im J a h r e 1896 die Alarmglocke und weist auf die langsame, aber sichere Verschiebung der rumänischen und slowakischen Sprachgrenze und auf die schnelle Schrumpfung des Szeklertums hin. Béla Földes zeichnet ein erschreckendes Bild von dem Ansteigen der Auswanderung, Julius Vargha dehnt im Jahre 1902 seine Beobachtungen auch auf das U n g a r t u m Transdanubiens aus, wo der völkische Zuwachs von 16% auf 2—5% zurückging. Auch er weist auf das Vordringen des siebenbürgischen Rumänentums hin, um schließlich mit schmerzlicher Sorge die Mobilisierung aller sittlichen Kräfte des U n g a r tums zu fordern, weil sonst „unser Schicksal besiegelt ist, und es ist

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Die soziale S t r u k t u r

der ungarischen

Gesellschaft

n u r eine Frage der Zeit, w a n n wir aus der Reihe der N a t i o n e n ausgelöscht w e r d e n . " Z u gleicher Zeit schreibt Eugen RäkosiKremsner, der u m j u b e l t e Publizist der Zeit, mit u n w a n d e l b a r e r Begeisterung seine Leitartikel über die leuchtende Z u k u n f t des 30 Millionen zählenden ungarischen Nationalstaates. D e m Pessimismus der Statistiker der J a h r h u n d e r t w e n d e gegenüber stehen die A n g a b e n , die uns die Illusion der großartigen Entwicklung des U n g a r t u m s vorzaubern. Es k a n n nicht zweifelhaft sein, d a ß diese Entwicklung weniger dem zahlenmäßigen Anwachsen des historischen U n g a r t u m s als vielmehr der Assimilation zuzuschreiben ist. Die Assimilation der f r e m d e n N a t i o n a l i t ä t e n und die Schaffung des einheitlichen ungarischen Nationalstaates sind ein von außen importiertes, ein ein J a h r h u n d e r t altes ungarisches politisches P r o g r a m m und dennoch eine der größten Illusionen der Zeit. Die Legende von der w u n d e r b a r e n A n z i e h u n g s k r a f t des ungarischen Bodens, von der u m w a n d e l n d e n W i r k u n g der klangvollen ungarischen Sprache, der Jokai in seinem ,,Uj földesür" (Der neue Gutsherr), in diesem klassisch und zur Schullektüre gew o r d e n e n Roman, Rakosi in seinen unzähligen Leitartikeln dichterischen Ausdruck gaben, hat niemals treuere Z u h ö r e r g e f u n d e n als in dieser Zeit. Aber diese Assimilation w a r keine völkische Assimilation! Gustav Beksics erklärt schon im J a h r e 1896 auf G r u n d der tatsächlichen Daten: „Die Ergebnisse der Assimilation kann nur unwissender Übermut übertreiben." D e n n wir haben gesehen, d a ß es dem U n g a r t u m nicht gelungen w a r , weder die Rumänen, noch die Slowaken, noch die Serben oder Ruthenen einzuschmelzen. Im Gegenteil, es selbst erlitt größere oder kleinere Verluste zugunsten dieser Nationalitäten. Eine gewisse Assimilation kann vielleicht nur auf einzelnen Siedlungsgebieten des Deutschtums beobachtet werden, wo Deutsche mit U n g a r n vermischt w o h n ten (z. B. B a l m a z ü j v a r o s oder das Gebiet von Szatmär), obwohl demgegenüber z. B. die deutschen D ö r f e r u m die L a n d e s h a u p t s t a d t bis auf den heutigen T a g die deutsche Sprache u n d ihre völkischen Eigentümlichkeiten bewahrt haben. D a r a n hat keine Rede, kein Leitartikel oder Schulgesetz etwas geändert. D a s einzige v e r h ä n g nisvolle Ergebnis all dieser Bestrebungen war, d a ß die Nationalitätenpolitik des U n g a r t u m s sich dem europäischen allgemeinen Bewußtsein als das finsterste Musterbild der völkischen U n t e r d r ü k kung einprägte. Eine Assimilation f a n d trotzdem statt, f a n d sogar im großen Maßstabe statt (sonst w ä r e n die statistischen A n g a b e n nicht zu

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Ungartum

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erklären), aber nicht an den uralten Quellen des Volkstums, sondern in den bisher volksfremden Städten. In den 27 Städten mit Munizipalrecht hob sich der Anteil des Ungartums vom J a h r e 1880—1910 von 61,9% auf 73,7%, in Budapest von 56,7% auf 85,9%. D a ß diese Zunahme großen Maßstabes nicht das Ergebnis von Volkseinwanderung, sondern von Assimilation ist, das beweist Julius Vargha durch folgende interessante Angabe: Im J a h r e 1880 bis 1890 beherrschte 41,97% der fremdsprachigen Einwohnerschaft der Städte mit Munizipalrecht auch die ungarische Sprache, im J a h r e 1890 bis 1900 nur noch 14,53%. Das heißt also, daß alle, die im vorhergehenden Jahrzehnt sich noch als Fremde bekannten, wenn sie auch Ungarisch verstanden, im nächsten Jahrzehnt — in ihrer eigenen Person sowie in der ihrer Nachkommen — schon als U n g a r n vorkommen. „In dieser besonderen Lage der Stadtbevölkerung — schreibt Jekelfalussy — sehen wir eine Bürgschaft des Bestehens und der Suprematie der ungarischen Nation. Die Städte . . . sind starke Basteien unseres Volkstums, sie werden durch ihr natürliches Übergewicht unter der Bevölkerung der Provinz Eroberungen machen." Diese H o f f n u n g verwirklichte sich aber nicht. Es genügt, auf die Umgebung von Budapest hinzuweisen oder auf jene gleichfalls rein ungarisch gewordenen Städte (z. B. Neutra-Nyitra), die eine fremde Herrschaft während weniger Jahrzehnte wiederum ihres Ungartums entkleidete. Heute wissen wir schon, d a ß das Volkstum nur eine wirkliche Bastion hat: die sogenannte vernachlässigte „Landbevölkerung". In den Städten entstand eine neue Intelligenz, die dazu berufen war, den ungarischen Staat zu schaffen, seiner Entwicklung die Richtung zu geben und das ungarische geistige Leben zu formen. Diese Intelligenz war der Stolz der Zeit des Ausgleichs. Sogar Karl Keleti schreibt:,,Unsere Intelligenz ist ungarisch (ob sie nun ungarischer oder deutscher Muttersprache ist), verbreitet sich und vermehrt sich, und darin liegt die Sicherung unserer Zukunft." Vom soziologischen Gesichtspunkt aus kann es sicher nicht gleichgültig sein, wie groß der Anteil des historischen Ungartums an der Ausgestaltung und Entwicklung dieser Intelligenz war. Vor dem Freiheitskampf wurde die Intelligenzschicht vom Adel gestellt, daneben stand aber die kleinere Schicht der sogenannten Honoratioren, die aus der Bauern- und Kleinhandwerkerklasse kam. Dieser geistige Aufsaugungsprozeß nahm gegen die 40er Jahre einen größeren Maßstab an, es genügt darauf hinzuweisen, daß das Bauerntum den Indienforscher Alexander Körösi Csoma

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der ungarischen

Gesellschaft

und den klassischen Dichter J o h a n n Arany, die Kleinhandwerkerklasse Csokonai und Petöfi der ungarischen Nation geschenkt hat. Der Absolutismus n a h m dem geschichtlichen U n g a r t u m die Leitung seines Geschickes aus der H a n d , und die verheißungsvolle Entwicklung wurde unterbrochen. Das im erstickenden Ring der Latifundien verelendende ungarische Bauerntum war nicht imstande, seinen Kindern eine Schulbildung angedeihen zu lassen; auf seinem eigentlichen Siedlungsgebiet, im Alföld, wo es in Gehöften zerstreut lebte, sah es nicht einmal einen Lehrer. Das einstmals blühende H a n d w e r k und der H a n d e l wurden vom Kapitalismus zugrunde gerichtet. Diese Klasse sank in die Reihen der proletarischen Fabrikarbeiter herab. Die Volkszählung vom J a h r e 1880 vermerkt 46,46% magyarische Analphabeten, d. h. einen Prozentsatz, der den Landesanteil überschreitet, obgleich damals ein bedeutender Teil der Intelligenz sich schon zum Ungartum bekannte. In U n g a r n konnte der erzieherische Einfluß des Militärs nicht zur Geltung kommen, weil die f r e m d e n Offiziere der österreichisch-ungarischen Armee mit den ungarischen Soldaten deutsch sprachen. Bis zum J a h r e 1900, sogar bis zum Weltkriege, mit einem Wort, während des halben Jahrhunderts der Rechtsgleichheit finden wir in den leitenden Stellungen des ungarischen öffentlichen Lebens keinen einzigen hervorragenden ungarischen Bauern- oder Kleinhandwerkersprößling (zur selben Zeit, als aus den Nachkömmlingen von deutschen Bauern und armen jüdischen Dorfkrämern Minister, Staatssekretäre, katholische Bischöfe, mächtige Publizisten und Universitätsprofessoren wurden). Diese Tatsache ist die schwerste Kritik der Zeit: an dem A u f b a u und W e r d e n des neuen Ungarns nahmen die Millionen von Bauern, die die überwiegende Mehrheit des historischen Ungartums ausmachten, keinen Anteil, weil sie eben keinen Anteil daran nehmen konnten. Der Grund d a f ü r war sicherlich nicht der natürliche Zusammenbruch der ungarischen rassischen Kraft, sondern zum großen Teil die Abneigung der liberalen Regierung gegen eine wirklich völkische Politik. Der Prophet der überwiegenden Mehrheit des ungarischen Bauerntums war Kossuth, und es lag nicht im Interesse der 67er Regierungen, diese oppositionelle Schicht groß werden zu lassen. Der erste Minister, der sich um das Volk zu kümmern begann, trat gegen Ende des Jahrhunderts auf: Ignaz Daränyi, nachdem schon früher einige Politiker versucht hatten, die materielle Lage des Bauern durch den Ausbau von Dorfgenossenschaften zu verbessern. Die erste größere Aktion, die Csängo-Siedlung, verlief in einen

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Das historische Ungartum

Unterschlagungsskandal, die zweite, die Rettung der Ruthenen durch Eduard Egän, wurde von dem wütenden Anathema der Juden gelähmt. Ein ungarischer Magnat, Graf Nikolaus Zay, trat diesen Bestrebungen energisch entgegen: „Es ist wahr, daß das Volk den Nutzen der Daränyi-Egän-Aktion sieht, wenn man es auch aus Prinzip nicht gutheißen kann, daß der Staat dem Individuum in solchem Maße das öffentliche Vermögen zur Verfügung stellt und eine solche Vormundschaft über sein Schicksal ausübt." — Nach der Ideologie des Liberalismus war es dem Bauern erlaubt auszuwandern, im Elend zu leben, sogar den Hungertod zu sterben, doch eine schwere Schädigung seiner persönlichen Freiheit hätte ihn getroffen, wenn ihn die Regierung unter die Arme gefaßt hätte. Gleichzeitig war es aber erlaubt, mit dem öffentlichen Vermögen die Großbanken und Großindustrieunternehmungen zu unterstützen, aber es war eine Sünde, dem steuerzahlenden Volk damit zu helfen. — Trotzdem war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts diese Frage aufgeworfen worden. Die Agrarbewegungen in der Tiefebene weckten das schlummernde Gewissen, das Volk trat immer mehr in den Vordergrund, zuerst nur als politische Frage und soziologisches Problem, dann als Literaturstoff, schließlich als politischer und geistiger Faktor. Aber damit gelangen wir schon in die Zeit nach dem Kriege. Bis dahin waren aus den Reihen des Bauerntums im besten Falle nur Fabrikarbeiter, Landjäger, Polizisten, Eisenbahnschaffner und Briefträger hervorgegangen, die in der Entwicklung des geistigen Lebens auch als Leser kaum eine Rolle spielten. In der allgemeinen Vorstellung herrscht die Ansicht, daß der ungarische Adel nach dem Ausgleich seine politische Herrschaft wieder hergestellt hätte und so in den Besitz der Macht und der Verantwortung über das Land gelangt wäre. Und dies stimmt auch, wenn wir die politische Macht mit dem Parlament gleichsetzen. Es ist allgemein bekannt, daß bis zu den 90er Jahren bürgerliche Abgeordnete nur vereinzelt in den Reichstag oder in die hohen Ämter der Staats- und Komitatsregierung gelangten. Nach der Feststellung des ungarischen Historikers Julius Szekfü aber war diese Herrschaft ausschließlich in der Hand von nur 4000 Familien, während man schon im Jahre 1840 die Seelenzahl des ungarischen Adels auf 544 372 schätzte. Ebenso ist im allgemeinen Bewußtsein verankert, daß dieser Adel nach dem Ausgleich die Beamtenlaufbahnen mit Beschlag belegte und die ungarische Bürokratie maßlos aufschwemmte. Demgegenüber zeigt das Budget F a r k a s . Freiheitskampf

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Gesellschaft

vom J a h r e 1892 insgesamt 60 776 staatliche Beamte. W e n n wir also auch noch annehmen würden, daß der ungarische Adel sich seit 1840 nicht vermehrt hätte (was unmöglich ist) und die gesamten Beamtenstellen besetzt hätte (was nicht der Fall ist), auch dann müßten wir dem Verschwinden mehrerer Hunderttausend ungarischer Adliger nachgehen. Die Verarmung des ungarischen Adels begann schon nach den napoleonischen Kriegen. In immer größerer Zahl sanken sie in die Schicht des Bauernadels herab, dessen materielles und geistiges Niveau sich kaum von dem der Leibeigenen unterschied, wenn ihnen auch die Teilnahme am politischen Leben noch einige Privilegien sicherte. Langsam begann auch dem Mitteladel der Boden unter den Füßen wegzugleiten, nachdem der uralte Besitz in einer Reihe von Generationen immer mehr zerstückelt worden war, die Intensität der Wirtschaft sich aber nicht geändert hatte. In den 20er Jahren treffen wir schon häufig besitzlose adlige Verwalter, Rechtsanwälte und Beamte. Solche Adelsabkömmlinge sind Karl Kisfaludy, Ludwig Kossuth und Michael Vörösmarty. In der Zeit des Absolutismus verband sich die wachsende Verproletarisierung mit dem allmählichen Verfall des geistigen Niveaus. Die Reform der hohen Schulen durch den österreichischen Minister T h u n führte die deutsche Lehrsprache in den staatlichen und katholischen Höheren Schulen und natürlich auch in den neu organisierten Realschulen ein. Die Sprache der Hochschulen war selbstverständlich die deutsche, denn ein großer Teil der Lehrer kam aus Österreich. Die protestantischen Schulen behielten ihre Autonomie und ihr ungarisches Gepräge, aber öffentlichkeitsrecht wurde ihnen nur in dem Fall zugebilligt, wenn sie das geteilte Lehrsystem einführten. Aus Mangel an Lehrern waren sie gezwungen, ungebildete Hilfskräfte zu verwenden, was dem Ernste der Erziehung und des Unterrichts sehr schadete. Nicht jede Schule hatte ein solches Glück wie die zu Nagykörös, die in der Person eines stellungslosenDorfnotars Johannes A r a n y zumLehrer gewann. Der ungarische Adel dehnte seine passive Resistenz auch auf die Schulung seiner Kinder aus. Lieber schickte er s.eine Kinder auf die W e i d e wie das Jungvieh (wie Szekfü zitiert), als daß er sie in die deutsche Schule geschickt hätte. Z u r gleichen Zeit besuchten die Kinder des deutschen Bürgertums, der deutsch-tschechischen Beamten und der J u d e n eifrig die wirklich „modernen" Lehrstätten, so daß sie beim Anbruch der verfassungsmäßigen Ä r a f ü r die ungarischen Adelsabkömmlinge schon eine Konkurrenz darstellten,

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mit der diese nicht fertig werden konnten. Sigmund Kemeny beurteilt im Jahre 1852 die Lage noch optimistisch: „Die Jünglinge — schreibt er —, die von der Revolution aus den Höheren Schulen herausgerissen wurden und ohne diese große Bewegung jetzt Rechtspraktikanten, Juristen und Wahlleiter sein würden, haben sich nach vielen Richtungen verstreut. Es gibt solche, . . . die sich mit nicht beendeter Erziehung auf die uralte heimische Scholle zurückgezogen haben und schneller verbauern werden, als es unter gewöhnlichen Umständen geschehen wäre, aber der größere Teil wurde von Wirtschaftsinstituten, Bergakademien, Gewerbeschulen, Werkstätten, von den Schreibstuben und Kaufhäusern des Handels aufgenommen." Sigmund Kemeny hätte dies kaum geschrieben, wenn er nicht Augenzeuge einer ähnlichen Entwicklung gewesen wäre, er täuschte sich nur in den Ausmaßen. Johannes V a j d a beklagt sich schon in seinen in den 60er J a h r e n herausgegebenen Flugblättern bitter, daß sich die jungen U n g a r n vor bürgerlichen L a u f b a h n e n scheuen, und wiederholt jene ein J a h r h u n d e r t alte Anklage, daß der ungarische Adel die Beschäftigung mit H a n d e l und H a n d w e r k eines H e r r n nicht f ü r würdig halte. Es unterliegt keinem Zweifel, d a ß die Verbauerung den Sieg davontrug und viele Angehörige des ungarischen Adels in die Reihen der Kleinbauern herabsanken und sich aus dem geistigen Leben der Nation ausschalteten. D a f ü r zeugen keine statistischen Angaben, aber die Geschichte von hundert und aberhundert einstmals blühenden Adelsfamilien beweist es. Es gab sicherlich viele, die — wie Stephan Toldy schreibt — wie ein Heuschreckenschwarm von Stellungssuchern die Ministerien überschwemmten, „zum größten Teil kaum über eine andere Qualifikation verfügend als über jene negative Tugend, daß sie dem Absolutismus nicht gedient und das Vaterland nicht verraten hatten". Aber die Regierung Andrässys schätzte die sachverständigen fremden Beamten doch noch mehr als die unwissenden Magyaren. Die Etablierung des mittleren Adels in der Beamtenlaufbahn nahm erst während der anderthalb Jahrzehnte dauernden Herrschaft Koloman Tiszas einen größeren, wenn auch nicht übermäßigen U m f a n g an. Ihre Vertreter mit vornehmen N a m e n besetzten vorwiegend die höheren Stellungen, während sie die kleineren mit der Geste eines großen H e r r n den emporstrebenden Söhnen der fremden Nationalitäten überließen. Hier setzten sie ihre bisherige Lebensweise eines großen H e r r n fort, ohne an die Z u k u n f t ihrer Kinder zu denken. Die Folge davon war das weitere gesellschaftliche Absinken der

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neuen Generation. Von diesem Vorgang zeugen gleichfalls keine statistischen Angaben, aber um so mehr zeitgenössische Aufzeichnungen, aktuelle Roman- und Dramenthemen. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts war der ungarische Beamtenkörper um mehr als 50% angewachsen. Zu der Zeit hatten sich die Assimilierten schon in immer höhere Stellungen hinaufgekämpft, die Träger historischer Namen aber sanken zum Range von Hilfsbeamten herunter. Diesen Vorgang stellt auch Stephan Weis in seiner schönen Skizze über „Die heutige ungarische Gesellschaft" fest, wobei er das Beamtenverzeichnis der 90er Jahre mit dem vor dem Kriege vergleicht: „Mit Überraschung stellen wir fest, wieviel Raum die alten adligen Familien auf dem ureigensten Gebiet der Gentry, im Beamtenkörper des Komitats und im Verwaltungsbeamtenkörper der sogenannten vornehmen Ministerien, verloren haben. . . . Jetzt finden wir die Träger der besten historischen Namen unter dem Hilfspersonal und unter den Unterbeamten. Auffallend viel fremdklingende Namen finden sich unter den leitenden Beamten." D a wir die Entwicklung des Adels kennen, sind wir über den Vorgang nicht mehr erstaunt. Diese Klasse der unteren Beamten, die Stephan Weis erwähnt, stammt von der einstmals verbauerten Adelsschicht ab, die aber ihre Kulturerinnerungen noch nicht verloren hatte. Mit ihr beginnt die Regeneration des historischen Ungartums, zu ihr gehört der bedeutendste neuzeitliche Dichter der Ungarn Andreas Ady. In den freien Berufen (Rechtsanwalt, Arzt, Ingenieur) ist der Anteil des historischen Ungartums noch geringer als in der Beamtenklasse. Hier bekam das Judentum in sehr kurzer Zeit das Ubergewicht. Am niederschmetterndsten ist die Lage in den wirtschaftlichen, industriellen und Handelsberufszweigen, die von Anfang an fast ausschließlich die Domäne des Judentums sind. Man pflegt immer dem ungarischen Adel die Schuld zuzuschreiben, daß er keine Lust und keine Fähigkeit dazu gehabt haben soll. Die oben erwähnten Worte Sigmund Kemenys zeugen von einer entgegengesetzten Tendenz. Doch zu jedem kapitalistischen Unternehmen braucht man Kapital, über Kapital aber verfügte sogar der gutgestellte besitzende Adel nicht. Franz Deäk, der Schöpfer des Ausgleichs, bekam von seinem 800 Joch großen Gut kaum soviel, daß er seinen zeitweisen Aufenthalt in Pest damit decken konnte. Angaben, zeitgenössische Aufzeichnungen beweisen, daß in den 60er Jahren und nach dem Ausgleich mehrere Adlige ihre Güter verkauften, um an dem Pester „Goldregen" teilzuhaben, ihr kleines

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Kapital aber schwand in der großen Wirtschaftskrise des Jahres 1873, die auch stark fundierte jüdische Firmen erschütterte, unwiderruflich dahin. Fachbildung hätte das Kapital ersetzen können, aber dafür boten die jüdischen Unternehmungen keine Gelegenheit. Robert Braun schreibt im Jahre 1917 in der Judenenquete der Zeitschrift „Huszadik Szäzad" (20. Jahrhundert): „Es möge endlich einmal von einem jüdischen Schriftsteller gesagt werden, daß es vollkommen unerträglich ist, wenn man sich einerseits über Übergehung in den öffentlichen Ämtern beklagt, anderseits in gewissen Aktiengesellschaften und in den meisten Privatfirmen Christen überhaupt nicht anstellt oder nur in untergeordnete Stellen gelangen läßt." Dazu braucht man nichts hinzuzufügen. Auch auf dem Gebiete des geistigen Lebens ist die Lage nicht besser. Besonders auffallend ist aber die Angabe von Julius Vargha, nach der auf den ungarischen Hochschulen im Jahrzehnt des Milleniums, der Tausendjahrfeier des ungarischen Staates, in der Glanzzeit der Assimilation, die Zahl derer mit ungarischer Muttersprache zugunsten der fremden bedeutend zurückging. Die gleiche Erscheinung beobachtet er auf den katholischen Priesterseminaren, wo zwischen 1881 —1901 die Zahl der Ungarischsprachigen von 80,20% auf 71,91 fiel, während die der Deutschen und Slowaken sich verhältnismäßig hob. Vargha hält die Abneigung der ungarischen Jugend gegen die Laufbahn des Geistlichen für ein „nationales Unglück", wobei er sicher daran dachte, daß aus diesen kaum oder halb assimilierten Geistlichen die Führer und Erzieher des Volkes hervorgehen würden. Werfen wir nur noch einen flüchtigen Blick auf die beiden gegensätzlichen Pole der ungarischen Gesellschaft: auf die Aristokratie und auf die Industriearbeiterschaft. Die ungarische Magnatenklasse bemühte sich in der Zeit des Absolutismus im Gegensatz zur öffentlichen Meinung der Nation um die Wiederherstellung der österreichisch-gesamtstaatlichen Verfassung von 1847, wobei sie eifrig ihre aulischen Verbindungen pflegte und deshalb nach dem Ausgleich aus der Aufbauarbeit ausgeschaltet wurde. Ihre Reihen waren übrigens auch stark von Eingewanderten durchsetzt, die für ihre Verdienste um die Dynastie Tausende von Joch der fetten ungarischen Erde erhalten hatten, von „diesen oft sprachlich, aber noch häufiger in ihrer Gemütswelt und ihren moralischen Ansichten fremden Individuen", wie Stephan Bernäth im Jahre 1888 schreibt. Die Antipathie, die im Zeitalter des Liberalismus die Aristokratie umgab, lähmte auch die nationale Wirksamkeit ihrer

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Besten. Auch diese suchten in erster Linie im politischen Leben nach Geltung, im Geistesleben (von einigen Ausnahmen wie Roland Eötvös und Koloman Josika abgesehen) suchen wir ihre Vertreter vergebens. Ihre Bildung wird größtenteils aus fremden Quellen gespeist, ihre Gesellschaftssprache ist französisch und deutsch. Ihre Lebensform wurde in der Gentry und im reichen Bürgertum oft nachgeäfft, aber darin erschöpfte sich auch zum größten Teil ihr gesellschaftlicher Einfluß. Die ungarische Literatur kann sich in dieser Zeit keines einzigen bedeutenden M a g n a t e n schriftstellers rühmen. Die Industriearbeiterschaft begann in den 90er J a h r e n eine Rolle zu spielen. Im J a h r e 1890 feierte sie zum ersten Male den 1. Mai. Damals bekannten sich nur 45% zur ungarischen Muttersprache. Ihre Zeitung erschien in zwei Sprachen, auf ihren Versammlungen sprachen meistens fremde Führer deutsch. Ihre politische Bedeutung wuchs zusammen mit ihrem zahlenmäßigen Gewicht. A m Ende des 19. Jh.s besaß sie auch schon einen Dichter, der aus dem Bauernstande stammte, sie erzog ein weites Lesepublikum und bot durch ihre Zahl eine starke Rückendeckung f ü r die radikalen politischen und geistigen Bestrebungen vom A n f a n g des Jahrhunderts. Aber sogar noch im J a h r e 1910 sind davon nur 56% U n g a r n (zum zweifelhaften Ruhm der so oft gelobten assimilierenden W i r k u n g der Städte), auch unter diesen sind sicherlich viele Assimilierte, und so konnte sie — von der ungarischen f ü h renden Gesellschaft vollkommen vernachlässigt und ihren ungewissen Instinkten überlassen — leicht zum Sklaven und zum willigen Werkzeug der dem ungarischen Schicksal fremden internationalen Ideen und der jüdischen Führer werden. Nach dem bisher Geschilderten fällt die Antwort auf die Frage nicht schwer, in welchem M a ß e das geschichtliche U n g a r t u m an dem W e r d e n der neuen ungarischen Intelligenz Anteil genommen hat. W i r haben gesehen, wie sehr die große nationale K r a f t a n strengung der ersten H ä l f t e des 19. Jh.s (nach welcher auch unabhängig von den geschichtlichen W a n d l u n g e n sicher ein Rückfall eingetreten wäre), der Blutverlust des Freiheitskampfes und die ungefähr zwei Jahrzehnte währende Unterdrückung die rassische K r a f t und Widerstandsfähigkeit des Ungartums geschwächt hatten. Das eigentliche Volk wurde aus dem geistigen Leben vorübergehend hinausgedrängt, die breite Masse des mittleren Adels aber sank zum großen Teil in den Bauernstand herab. Die Z a h l derer, die nach dem Ausgleich ihren alten Besitz behielten, eine politische

Das historische U n g a r t u m

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Rolle übernahmen oder als Beamte emporkamen, machte nur ein paar Zehntausende aus. Auch diese Zahl ging gegen das Ende des Jahrhunderts immer mehr zurück. Nach der Berechnung von Julius Szekfü arbeiteten im Jahre 1910 229 000 Personen in intellektuellen Berufen. Nach dem oben Dargestellten kann es kaum zweifelhaft sein, daß in dieser verhältnismäßig großen Zahl das geschichtliche Ungartum mit einem überraschend geringen Bruchteil beteiligt war. Ihren Ursprung müssen wir bei den anderen Nationalitäten suchen.

2. Die Entwicklung der deutschstämmigen ungarischen Intelligenz. An der Bildung der Intelligenz haben um die Jahrhundertwende zweifellos die Höheren Schulen den wichtigsten und entscheidendsten Anteil. Wenn wir also den Anteil der einheimischen nichtungarischen Nationalitäten an der Entwicklung der ungarischen Mittelklassenintelligenz untersuchen wollen, dann müssen wir von vornherein diejenigen Nationalitäten aus dem Kreise unserer Untersuchung ausschließen, die über Höhere Schulen in eigener Sprache verfügten: die rumänische, die siebenbürgisch-sächsische und die kroatisch-serbische Nationalität. Im Dienste der kroatischserbischen Kultur stand die Universität in Agram, die Siebenbürger Sachsen schickten ihre Söhne auf deutsche Hochschulen und die Rumänen nach Bukarest und Jassy. Diese Nationalitäten hatten also die Möglichkeit, eine eigene Intelligenz hervorzubringen, und bedienten sich dieser Möglichkeit auch reichlich. „Heute schon — schreibt Julius Vargha im Jahre 1902 — sehen wir als krankhafte Erscheinung die Bildung einer Intelligenz fremder Zunge und fremder Gesinnung, die die Massen des nicht ungarischsprachigen Volkes nicht mit dem Ungartum und der ungarischen Staatsidee verbinden will, sondern mit allen Mitteln daran arbeitet, eine Entfremdung und einen Bruch herbeizuführen." W i r brauchen uns also nicht zu wundern, wenn wir im ungarischen öffentlichen Leben nur verstreut rumänische, serbische oder siebenbürgisch-sächsische Assimilierte finden. In Siebenbürgen gelang es, nur eine einzige Nationalität fast vollständig zu magyarisieren: die armenische. Deren Magyarisierung ist aber kein Sprachwechsel ohne Übergang, sondern das Ergebnis einer zwei Jahrhunderte langen Kulturentwicklung, so daß am Anfang des 20. Jh.s das öffentliche Bewußtsein zwischen Armenier und Ungar schon keinerlei Unterschied fühlt. Das ursprüngliche Händlervolk nahm, wenn auch nicht quantitativ, so doch qualitativ einen bedeutenden Anteil an der Bildung der neuen ungarischen Intelligenz, denn in dieser Zeit beschenkt es die ungarische Dichtung auch schon mit zwei bedeutenderen Schriftstellern.

Die Entwicklung

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Die breiten Massen der Assimilierten rekrutierten sich nicht aus Siebenbürgen, sondern aus dem Deutschtum und teilweise aus dem Slowakentum des engeren Ungarns. Das Deutschtum in Ungarn bildete weder eine geschichtliche noch eine kulturelle Einheit. W i r können drei Schichten unterscheiden. Die erste besteht aus den erst zur Zeit des Absolutismus eingewanderten Beamten, kaiserlichen Offizieren und neuen Grundbesitzern, die nach dem Ausgleich nicht in ihre Heimat zurückkehrten, teils, weil man sie nötig hatte, teils, weil sie die ungarische Lebensart ehrlich liebgewonnen hatten. „Gewöhnlich wird aus diesen der eifrigste Patriot", sagt Jokai im Üj földesür (Der neue Gutsherr), wenn er auch vorsichtig hinzufügt: „Ihr nächster Sproß ist es sicherlich." Diese Schicht, die zahlenmäßig nicht beträchtlich war, verschmolz schon in der Zeit des Absolutismus zum großen Teil mit dem städtischen Bürgertum. Ihre Mitglieder vermehrten fast ohne Ausnahme das Lager der ungarischen Intelligenz. Aus ihnen ist als das Kind eines deutsch-mährischen Beamten der Führer des modernen ungarischen Katholizismus, der Bischof Ottokar Prohäszka, hervorgegangen. Die zeitlich folgende Schicht ist das deutsche Bauerntum Transdanubiens, der Batschka und des Banats, das sich im Laufe des 18. Jh.s in Ungarn niederließ. Schließlich bildet das Zipser Deutschtum und das deutsche Bürgertum der Städte die geschichtlich älteste Gruppe. Als alte Ansiedlungen, die in der Zeit der Arpaden fallen, zählen die oberungarischen Bergstädte und die westungarischen, während das ursprüngliche, deutsche Bürgertum der übrigen transdanubischen Städte gleichfalls erst nach der Türkenzeit anschwoll. Nach der Statistik zählte man im Jahre 1870 (in runder Zahl) 1 800 000 Deutsche, im Jahre 1900 2 000 000. In dieser Zahl ist auch ein Teil des Judentums enthalten, von dem sich im Jahre 1880 noch mehr als 40% zur deutschen Muttersprache bekannten, im Jahre 1900 nur noch kaum 30%. Wenn wir außerdem noch in Betracht ziehen, daß die Zahl des historischen Deutschtums, der Siebenbürger und Zipser Sachsen, stark abnahm, das deutsche Bürgertum der Städte sich aber rasch magyarisierte, dann können wir — an Stelle der von ungarischer Seite verkündeten Stagnation — eine volkliche Stärkung des deutschen Bauerntums von großem Ausmaße feststellen. In der deutschen Bürgerschaft der Städte können wir die Schicht sehen, der bei der Entwicklung der ungarischen Intelligenz-

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mittelklasse der entscheidendste Anteil zukam. Dieses Bürgertum hatte um die W e n d e des 18. und 19. Jh.s die goldene Zeit seiner Kultur erreicht. Damals zählten noch außer Ofen-Pest, Preßburg, ö d e n h u r g , Kaschau, Temesvar usw. auch Raab, Stuhlweißenburg und Fünfkirchen als deutsch. Es ist allgemein bekannt, d a ß die ersten ungarischen Theater, Zeitschriften und Tageszeitungen ebenso deutsch waren wie die ungarischen Verleger und Buchhändler. W e r diese Entwicklung nur von außen betrachtet und geneigt ist, die nationale Kultur mit der städtischen zu identifizieren, dem kann es wirklich so scheinen, als ob die Deutschen die ganze ungarische Kultur geschaffen hätten. Doch bedeuteten in dieser Zeit die magyarischen Adelshäuser wohl mehr f ü r die ungarische Kultur als die Städte. Das deutsche Bürgertum wußte sich übrigens von uralten Zeiten an als Teil der ungarischen Nation, es entwickelte kein besonderes völkisches Selbstbewußtsein und brachte keine Volksführer hervor. Da ihm von völkischem Selbstbewußtsein durchdrungene Führer fehlten, konnte es nicht und wollte auch nicht dem Zauber des siegreichen ungarischen politischen Gedankens widerstehen, der sich von den Lippen und aus der Feder eines Szechenyi, eines Deäk und eines Kossuth im Lande verbreitete. Zu gleicher Zeit unterwarf es sich aber der ungarischen Kultur, die in dieser Zeit so unvergleichlich aufzublühen begann. Es beschränkte sich nicht auf die Rolle des passiven Betrachters, sondern trug auch schon mit schöpferischen Arbeiten zu der Entwicklung der ungarischen Kultur bei. Aus seinen Reihen gingen Franz Toldy (Schedel), der Begründer der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung, hervor, Daniel Iränyi (Halbschuh), der berühmte Politiker, der Kunstgeschichtler Emmerich Henszlmann, der Dichter Friedrich Kerenyi, Augustin Trefort, der spätere Kultusminister, und viele andere. Diese aber nahmen damals noch neben den ungarischen Führern die Rolle der Gefolgschaft ein. In den drei oben erwähnten Städten Stuhlweißenburg, Raab und Fünfkirchen hatte sich schon vor dem Freiheitskampf der Vorgang der Magyarisierung zum guten Teil vollendet, in den übrigen begann er. Ungarische Dichter, Gelehrte und Politiker ließen sich zwischen den f ü r die U n g a r n fremden Steinmauern nieder und verbreiteten unter den ruhigen Bürgern eine mit elektrischer Spannung geladene Atmosphäre. Die Magyarisierung richtete sich nicht in erster Linie auf die Sprache, sondern auf den Geist, und dieser Geist war wurzelhaft ungarisch. Er begann das ganze ungarische Leben zu durchdringen: die politischen Forums, die Ämter, die

Die Entwicklung der deutschstämmigen

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Schulen und die Redaktionen. Die große ungarische Generation hätte die historische Aufgabe gehabt, diesen Geist durch äußere Institutionen zu sichern, als die Niederlage bei Vilagos im Jahre 1849 plötzlich und ohne Übergang ihr die Verfügungsmacht aus der H a n d wand. Die Organisation nahm an ihrer Stelle die habsburgische Soldateska und Bürokratie mit einer solchen ins Einzelne gehenden Umsicht vor, daß sie sogar den Bart der Magyaren nicht schonte. Ein bedeutender Teil der Bürgerschaft fühlte im Herzen mit dem unterdrückten Ungartum, aber bei ihrer geistigen Struktur mußte sie instinktiv mit dem neuen T r i u m p h der deutschen Sprache, dem deutschen System der Bürokratie und der Erziehung sympathisieren. Für i h r e Kultur bedeutete dies keinen Rückfall und keine Zäsur, sondern im Gegenteil Antriebskraft und bessere Entwicklungsmöglichkeit. Da in den Schulen weder ungarische Literaturgeschichte noch nationale Geschichte gelehrt wurde, wußte die junge Bürgergeneration nur noch vom Hörensagen von ungarischen Traditionen, diese gingen ihnen nicht in Fleisch und Blut über, weil dies nicht möglich war. Sie verstand Petöfi und Jokai noch, aber A r a n y empfand sie schon als fremd. Nach dem Zeugnis von Zeitgenossen des Ausgleichs (Eugen Räkosi, Adolf Agai) machte Budapest im J a h r e 1867 den Eindruck einer rein deutschen Stadt. Nicht anders stand es auch mit den übrigen großen Landeszentren (natürlich mit Ausnahme der Bauernstädte der Tiefebene). U n d es vergehen kaum drei J a h r zehnte und Budapest ist schon zu 79,5% ungarisch. Mit Recht schreibt Johannes V a j d a zur Zeit des Milleniums: „Für das stürmische Wachstum Budapests gibt es zwar wenige, aber doch Beispiele. aber was die stürmische Magyarisierung anbetrifft, die Magyarisierung der Intelligenz der fremden Rassen unseres Vaterlandes und gerade der Elite und des fähigsten Teils sozusagen über Nacht, d a f ü r gibt es kein Beispiel in der Geschichte irgendeiner Nation." — W i e ging nun diese Magyarisierung „über Nacht" vor sich? Es ist bekannt, daß die Bürgergeneration nach dem Ausgleich in Massen die industrielle und händlerische Beschäftigung ihrer Väter aufgab und den geistigen L a u f b a h n e n zudrängte. Die deutschen Bürgersprößlinge waren als Beamte die verhätschelten Lieblinge der jeweiligen Regierung. Ihre Magyarisierung rechnete als besonderes Verdienst, aber auch sonst zeichneten sie sich durch ihre Bildung, ihren Fleiß und vor allen Dingen

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ungarischen

Gesellschaft

durch ihre politische Biegsamkeit und Dienstbereitschaft aus. Auf jeden Fall erwiesen sie sich als nützlichere Mitarbeiter als die eingefleischt oppositionellen Ungarn, die den H e r r e n spielen wollten. H . J. Schwicker, der im Auslande die ungarische Kultur verdienstvoll bekannt machte, der aber ein selbstbewußter und kämpferischer Deutscher aus dem Kom. Temes war, stellt schon im J a h r e 1880 fest: „In Amt und Schule, in der Literatur und Kunst begegnet man Tausenden von Söhnen deutscher Eltern, welche in der Staatssprache ihrem Vaterlande nützliche Dienste geleistet haben und fortdauernd leisten." W e n n auch durch die berüchtigte 50-KreuzerVerordnung die Namensmagyarisierung ein schnelleres T e m p o annimmt und viele Abstammungen verdeckt, so treffen wir doch, auf welches Gebiet ungarischen Lebens wir auch blicken, in den hervorragendsten Stellungen in großer Anzahl die Sprößlinge deutscher Bürger. Es ist gleichsam ein Symbol dieser Entwicklung, d a ß im Jahre 1892 der Sohn eines deutschen Gutsverwalters aus Mór, Alexander Wekerle, ungarischer Ministerpräsident wird. Vor dem Weltkriege — nach der zitierten Feststellung von Stefan Weis — gewinnen in den leitenden Ämtern die Abkömmlinge von Deutschen schon die Mehrheit. Im J a h r e 1906 finden in der extrem ungarischen Kossuth-Partei 18 Abgeordnete mit deutschen N a m e n ihren Platz. Die Verwaltung der Hauptstadt war bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts ausschließlich die Domäne der deutschen Bürgerschaft. Auch danach gelangt nicht das U n g a r t u m in den Vordergrund, sondern das Judentum. Das heutige Bild der H a u p t stadt ist in erster Linie ungarischen Künstlern deutscher Abstammung zu verdanken: Nikolaus Ybl erbaute die Oper und das Zollhaus, Friedrich Feszl die Redoute, die Basilika ist die Schöpfung von Josef Hild, die königliche Burg und die Kurie ist die Schöpfung von Alois Hauszmann, Friedrich Schulek modellierte die Fischerbastei, das Meisterwerk von Emmerich Steindl ist das prächtige Parlament. W i r können die Namensliste der Mitglieder der A k a demie und der Universitätsprofessoren durchsehen, wir können in der Geschichte der Wissenschaft und Kunst der Zeit herumblättern, überall treffen wir eine Menge deutscher Namen. Erwähnen wir nur den gefeierten Namen eines Munkàcs (Lieb), T h a n und Lötz und gedenken wir der Semmelweiss, Pauler, Budenz, Thallóczy (Schmiedel), Béla Grünwald, Otto Herman, B e n j a m i n Groszschmied und Gustav Heinrich. Das deutsche Bürgertum nahm wirklich im imposanten Maße an dem Ausbau des neuen ungarischen Staates und an der Schöpfung der neuen ungarischen Kultur teil.

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W i r müssen die Frage aufwerfen, wenn die Antwort darauf auch schwierig ist, wie tief die ungarische Assimilation des Bürgertums reichte. Die ursprüngliche Bildung und Familiensprache der Generation, die nach dem Ausgleich bis zum Ende des Jahrhunderts im ungarischen öffentlichen Leben eine entscheidende Rolle spielte, war unzweifelhaft deutsch. Nach dem Ausweis der ungarischen Post vom Jahre 1880 wurden in diesem J a h r e 27 000 000 periodische Drucksachen befördert, davon waren mehr als 10 000 000 deutschsprachig. Diese Statistik f ü h r t nicht die Zahl der ausländischen Druckschriften auf, konnte man doch in dieser Zeit fast in jedem bürgerlichen Hause nach zeitgenössischem Zeugnis die W i e ner Illustrierte, die Gartenlaube oder den Bazar finden. In bürgerlichen Familienbibliotheken finden wir nur hin und wieder einzelne ungarische Werke, während dort Goethe, Schiller, Rückert und Keller in Prachtausgaben prangten. Diese bürgerliche deutsche Bildung, die in der Zeit des Absolutismus nur vertieft wurde, konnte sicherlich nicht von heute auf morgen ungarischem Geiste und ungarischer Denkweise Platz machen, sie vermischte sich nicht einmal, sondern blieb andersartig und fremd. Johannes V a j d a bestätigt im J a h r e 1896 mit nachdrücklichen W o r t e n diese A n nahme: „Dieses wirkliche europäische Kulturelement von unübertrefflichem W e r t überschwemmte wie ein einfallendes Heer die Literatur, die höchsten Stellen des ungarischen öffentlichen Lebens und brachte in diese viel westlichen Geschmack, Fleiß, Wissen und Moral, aber was dann den Geschmack und die Moral anbetrifft, so ist nicht alles geeignet, sich mit dem Ungarischen zu vermischen." Ein anderer Zeitgenosse schreibt zur gleichen Zeit noch bitterer: „ W e d e r das Herz noch die Seele noch das Gefühl noch die Gesinnung des diese Stadt (Budapest) bewohnenden Volkes ist ungarisch." Bei der ersten magyarisierten Generation des Bürgertums kann kaum von mehr die Rede sein als von einem Sprachwechsel. Die ungarische Verwaltung und das ungarische Erziehungswesen hatten ihre deutschen Organisationsformen aus der Zeit des Absolutismus bewahrt. An der Universität lehrte man die deutsche Wissenschaft. M a n versuchte erst gegen Ende des Jahrhunderts in den ungarischen Höheren Schulen den nationalen Geist einzuführen und beauftragte mit ihrer Organisation Maurus Kärmän-Kleinmann, der sein ganzes Wissen in Leipzig erworben hatte. Der wichtigste Faktor in der Erziehung der Nation, die Armee, war nicht nur in ihrer Organisation, sondern auch in Sprache und Geist deutsch. In den vom Judentum durchsetzten Städten herrschte eine

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fremde Atmosphäre. Der hauptstädtische Bürger konnte sein Leben dahinleben, ohne daß er auch nur einen ungarischen Bauern gesehen hätte, weil, wenn er in der Umgebung von Budapest spazieren ging, er nur mit Deutschen zusammenkam (mit denen er übrigens gleichfalls keine Gemeinschaft fühlte). Er glaubte den die Lebensform bestimmenden ungarischen „Herren", daß es genüge, diese Form in ihren Äußerlichkeiten nachzuahmen und die ungarische Sprache schlecht und recht zu sprechen, um zu einem Ungarn zu werden, wie der historische U n g a r es war. So war die Assimilation der Zeit des Ausgleichs ganz anderer Natur als die der vierziger Jahre. Damals zog der politische Gedanke und die ungarische Kultur das Bürgertum fremder Zunge mit verführerischer Kraft an sich, jetzt die Konjunkturmöglichkeiten der ungarischen Staatlichkeit. Jene war eine geistige Assimilation, diese eine sprachliche und formale. Und auch als solche war sie nicht vollkommen, denn, wir werfen wiederum die Frage auf, wo hätte der Pester Bürger gut ungarisch lernen können? In der Atmosphäre von Budapest kaum. Sogar „das Genie eines Hugo oder Beranger ist nicht imstande — sagt Johannes V a j d a — sich ohne weiteres eine Sprache anzueignen wie die ungarische". In den Schulen dieser Zeit erklärte und übersetzte man den Toldi Aranys nach dem Kommentar von Albert Lehr aus dem Ungarischen ins städtische Ungarisch wie die Ilias des Homer aus dem Griechischen. W e n n wir den um die W e n d e des Jahrhunderts bestehenden Zustand vom Standpunkt der Sprachkenntnis schematisch vereinfacht festlegen wollen, dann gewinnen wir folgendes Bild: Die Söhne, die auf die Höheren Schulen und auf die Universität gingen, konnten nur noch Ungarisch, die Väter, die die leitenden Stellungen einnahmen, hatten deutsche Bildung, aber im öffentlichen Leben sprachen sie ungarisch, die Großväter aber verstanden ihre Enkel nicht, weil sie sich die Staatssprache nicht angeeignet hatten. Die Söhne gelangen erst zur Zeit des Weltkrieges und danach in führende Stellungen, das geistige Gepräge der Zeit wird von ihren Vätern und Großvätern bestimmt. So ergibt sich die groteskeste Erscheinung dieser Zeit: entschlossen und erbittert wird das deutsche W o r t verfolgt, aber dabei leben deutsche Organisationsformen und man dachte in deutschen Strukturen. Der in die Hauptstadt verschlagene wurzelechte U n g a r fand sich ratlos und fremd, er sehnte sich nach Hause und betrachtete grollend dieses Milieu, aber dann gewöhnte er sich daran. Er wurde assimiliert. „Es ist eine überraschende W a h r h e i t — so

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schreibt im Jahre 1888 ein Zeitgenosse in der „Magyar Szemle" (Ungarische Rundschau) — daß, während wir die Fremden magyarisieren, wir selbst, der Grundstamm der Nation, von T a g zu T a g den einen oder den anderen bezeichnenden Zug unseres U n g a r tums auslöschen." Der wurzelechte ungarische Geist zog sich — von dem Hohngelächter der ganzen Pester Presse und ihren wütenden Angriffen umgeben — in ein kleines Lager zurück, an dessen Spitze „der kriegerische alte H e r r " , der Ästhetiker und Dichter Paul Gyulai, stand. Es ist bezeichnend f ü r das deutsche Bürgertum, dem jedes völkische Selbstbewußtsein abging, daß es mit dem im 18. Jh. angesiedelten deutschen Bauerntum keinerlei Verbindung herstellen konnte. Dabei waren auch konfessionelle Gründe hindernd, weil die neuen Ansiedler zum großen Teil zur katholischen Kirche gehörten. Das Deutschtum in Südungarn und in Transdanubien leistete eine gewaltige Arbeit, die Generationen aufrieb, als es aus Sümpfen und Urwäldern reich tragende Ackerfelder hervorzauberte. Das Ergebnis dieser Arbeit wurde von allgemeinem Wohlstand gekrönt. In der Zeit der Leibeigenschaft schützten besondere Privilegien seine freie Entwicklung, es wurde vom Großgrundbesitz nicht unterdrückt, seine Wirtschaftskenntnis und auch seine technischen Fertigkeiten waren größer als die des ungarischen Bauern. W e d e r der Freiheitskampf noch die Zeit des Absolutismus bedeuteten f ü r den deutschen Bauern eine größere Erschütterung. Mit der guten materiellen Lage war die günstige Entwicklung seines Bildungsniveaus verbunden. Von allen Nationalitäten des Landes zeichnet er sich durch die geringe Zahl der Analphabeten aus (im J a h r e 1880 35%, in derselben Zeit ist der Landesanteil 45,57%). Seine Elementarschulen sind gut, es wird bis zum J a h r e 1879 ausschließlich in deutscher Sprache gelehrt. Das Deutschtum Südungarns kommt überhaupt erst in den 70er J a h r e n mit dem U n g a r tum in Verbindung, als die Militärgrenze wieder der ungarischen Regierung unterstellt wird. Ein starkes und fruchtbares Volk, es lebt in reinen und hellen Häusern, die Epidemien richten wenig Verheerungen an, und die Kindersterblichkeit ist gering. Als in den 70er J a h r e n die Cholera und die Kinderepidemien in den Reihen des ungarischen Bauerntums große Lücken reißen, empfiehlt der spätere Abgeordnete Professor Schwicker von der Budapester Technischen Hochschule, daß man schleunigst die entstandenen Lücken durch neue deutsche Siedler ausfüllen solle, wobei er selbst-

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bewußt erklärt: „Bei dem gefährlichen Umstände, d a ß in Ungarn die gebildeten Schichten der Magyaren auch heute noch leidenschaftliche Politiker sind und die „Politik" ihre meiste Tätigkeit absorbiert, erscheint die unverdrossen schaffende Arbeit der Deutschen als ein heilsames Gegengewicht, ohne welches der ungarische Staat rasch seinem Verfall zueilen würde." Das Gesetz vom J a h r e 1879 ordnet den obligatorischen Unterricht der Staatssprache in den gesamten einheimischen Schulen an. Damit beginnt die „Magyarisierung", die „Unterdrückung der Nationalitäten", die soviel Leidenschaft a u f r ü h r t und dem ausländischen guten Ruf des Ungartums soviel geschadet hat. Aber wie kraftlos, wie zwecklos und ergebnislos erscheinen von heutigem Gesichtspunkte gesehen diese Magyarisierungsversuche! Die nächste Station nach weiteren 12 J a h r e n war im J a h r e 1891 die Aufstellung ungarischsprachiger Kindergärten, die späte „Krönung" war das Apponyi-Gesetz vom Jahre 1907, das in den staatlichen Schulen den Unterricht in ungarischer Sprache zur Pflicht machte. Das einfache Lehren der ungarischen Sprache in ein paar Wochenstunden konnte niemanden zum U n g a r n machen, und daran hat auch das Gesetz Apponyis nichts geändert. Das deutsche oder slowakische Dorfkind lernte wohl bis zu seinem 12. Lebensjahr schlecht und recht ungarisch lesen und schreiben, aber wenn es in seine Familienumgebung zu seinen Gewohnheiten und zu seiner uralten Beschäftigung zurückgekehrt war, vergaß es bald das Gelernte. Das Volk behielt als Gemeinschaft unveränderlich seinen uralten Habitus, seine Sprache, Volksdichtung, Tracht, seine Gebräuche viel besser bei als seine Volksgenossen in der ursprünglichen Heimat. Nichts beweist besser die Ergebnislosigkeit der Magyarisierung als der Umstand, daß die Deutschen in den Dörfern der Zips wohl im L a u f e der letzten Jahrzehnte des 19. Jh.s ihr Volkstum aufgegeben haben, aber nicht zu Ungarn, sondern zu Slowaken wurden. Das Deutschtum Transdanubiens und Südungarns strömte in immer größeren Scharen in die ungarische Mittelklasse. Seine gesunde Familienpolitik hütete sich eifersüchtig vor der Teilung des Besitzes, da es aber sehr fruchtbar war, mußte es bei Aufrechterhaltung der Rechte des Erstgeborenen f ü r die Unterbringung der übrigen Söhne sorgen. Seine Vermögenslage machte es möglich, wenigstens einen Sohn, wenn er sich als begabt herausstellte, zu einem „ H e r r n " zu erziehen. Aber in dem Augenblick, in dem der schwäbische Bauernknabe seinen Fuß in die ungarische Höhere

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Schule (eine deutsche gab es außer der sächsischen nicht) setzte, ging er für sein Volk verloren: er wurde „ H e r r " und „ M a g y a r e " . Dasselbe gilt auch für die slowakischen Bauernabkömmlinge. Der Ehrgeiz der Generation nach dem Ausgleich ging noch nicht über die Lehrer-, N o t a r - und Geistlichen - L a u f b a h n hinaus, diese wurden aber, d a die ungarischen „ H e r r e n " sich nicht darum kümmerten und die Bauern nicht die Möglichkeit dazu hatten, von den Deutschen überschwemmt. W i r haben die Feststellung von Julius V a r g h a zitiert, an die zu erinnern hier genügt, daß in den evangelischen und katholischen Priesterseminaren am E n d e des J a h r hunderts der Anteil der Deutsch- und Slowakischsprachigen auf Kosten des Ungartums gestiegen war. Die dörfliche Intelligenzschicht war schon gegen das E n d e des Jahrhunderts zum guten Teil fremder Herkunft. Sie war von ihrem eigenen Volkstum getrennt und hatte keine Gelegenheit, das ungarische kennen zu lernen. Die Magyarisierungsprämien der A k a d e m i e und des Kultusministeriums wurden fast ausschließlich von Lehrern mit deutschen und slowakischen N a m e n gewonnen. Die ganze Zeit war stolz auf ihren Patriotismus, aber dieser Patriotismus überschritt um ein paar geringe G r a d e das gesunde M a ß und wurde deshalb labil. Er wurde nicht vom Instinkt gespeist. Diese dörfliche Intelligenzschicht verbreitete sich im L a n d e und begann schnell in die höheren Klassen aufzusteigen. Der Dorflehrer und Dorfnotär erzog jetzt seinen Sohn zum Professor, zum Rechtsanwalt, zum Ingenieur und Beamten, den dann nur mehr seine Herkunft vom Sohne des deutschen städtischen Bürgers unterschied. Sie trafen sich in der gemeinsamen Lebensform des ungarischen Herrn. Die niedrige Geistlichkeit deutsch-slowakischen Ursprungs aber stieg in der kirchlichen Hierarchie immer höher, und während vorher sich ungarische M a g n a t e n und Bauernsöhne in die kirchlichen W ü r d e n teilten, konnte man jetzt schon bald unter den Bischöfen keinen historischen U n g a r n finden. Dieser V o r g a n g spielt sich wie vor unseren A u g e n ab, wo man aber — es handelt sich um die zweite und dritte Generation — kaum mehr einen Unterschied zwischen historischen U n g a r n und fremden Abkömmlingen machen kann. D i e größtenteils unbewußte und freiwillige Entnationalisierung der aus deutschen und slowakischen Bauern hervorgehenden Intelligenz war j e n e hauptsächlichste „ S ü n d e " der Magyarisierungpolitik, die von deutscher und slowakischer Seite immer so leidenschaftlich a n g e g r i f f e n wurde. Auch die Gegenströmung begann von außen. Im J a h r e 1881 wurde in F a r k a s . Freiheitskampf

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Berlin und W i e n der „Schulverein" gegründet, dann im Jahre 1907 unter dem Protektorat Luegers in W i e n der „Verein zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn". Die Siebenbürger Sachsen lieferten die einheimischen Waffengefährten, die sächsischen Schulen nahmen mit Begeisterung die Schwabensöhne aus Südungarn auf, an den deutschen Universitäten bildeten sich kampfbereite Burschenschaften aus den ungarländisch deutschen Hörern, an der Prager tschechischen Universität sympathisierten die Slawen. Die Schwaben Südungarns fanden bald einen Dichter, der sie zum Selbstbewußtsein erweckte, in der Person von Müller-Guttenbrunn. F. F. Kaindl, deutscher Universitätsprofessor, der im J a h r e 1912 die Geschichte des Deutschtums im Karpatenbecken schrieb, beurteilt die Lage in Ungarn mit folgenden charakteristischen Worten: „Die stetig anwachsende Bewegung der nichtmagyarischen Völker in Ungarn wird sich nicht aufhalten lassen, ihr werden die Magyaren allein nicht standhalten, zumal da die zahlreichen Juden ihre Reihen verlassen werden, sobald es ihr Vorteil erheischt." Der Weltkrieg vollendete die Entwicklung, und seitdem erzieht das Deutschtum im Donauraum eine eigene deutsche Intelligenz.

3. Die Rolle des Judentums. Bei der Beurteilung des ungarländischen Judentums entstehen die meisten Mißverständnisse daraus, daß es gewöhnlich als eine Einheit betrachtet wird, obwohl es in seiner Struktur viel heterogener ist als irgendeine ungarländische Nationalität. Es bildet keine historische Einheit, weil seine Reihen sich unaufhörlich durdi Einwanderer von außen auffrischten. Zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten tun sich ungeheure Abgründe auf, deren Größe wir an dem Unterschied messen können, der zwischen einem ostjüdischen Hausierer und einem Budapester baronisierten Generaldirektor besteht. Auch in der Form des Glaubens sind sie nicht gleich, sie teilen sich in zwei Gruppen: in Neologen und Orthodoxe, wobei wir nicht einmal an die beiden Extreme, den religiös Gleichgültigen oder Ubergetretenen und den Zionisten, denken. Diese gesellschaftlichen Unterschiede bedeuten gleichzeitig entscheidende kulturelle Niveauschattierungen. Ganz anders ist auch der Grad der Magyarisierung und der Assimilation, wenn wir das Judentum in seinen verschiedenen Schichten oder in den verschiedenen Zeiten untersuchen. Am augenscheinlichsten sind jene Gegensätze, die die einzelnen Generationen trennen. — Trotz all dieser Unterschiede ist ein starkes Band vorhanden, welches — nach dem Verfasser eines Artikels der „Magyar-Zsido Szemle" (Ungarisch-Jüdische Rundschau) — das gesamte Judentum zusammenhält, und dies ist „die gemeinsame Vergangenheit, das gemeinsame Leiden und die gemeinsame Abstammung" sowie der fast gleichmäßige offene oder geheime Widerstand der christlichen Gesellschaft. Alle diese Faktoren müssen wir in Betracht ziehen, wenn wir den historischen Vorgang der Entwicklung der ungarischen jüdischen Intelligenz untersuchen wollen. Bis 1867 rechnet das Judentum als Nationalität, das Emanzipationsgesetz erklärt es damals aus liberaler und nationalpolitischer Denkweise heraus als Bekenntnis und läßt ihm die gesamten bürgerlichen Rechte zuteil werden. Die Statistik klärt uns darüber auf, daß im Jahre 1720 insgesamt 12 000 Juden in Ungarn lebten, 3*

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0,5% der gesamten Bevölkerung, und auch davon sind ein bedeutender Teil fremde Staatsbürger, im Jahre 1850 sind es 366 000, im Jahre 1869 542 000, schließlich im J a h r e 1910 ungefähr 1 000 000, 5% der Gesamtbevölkerung. Vom J a h r e 1850 bis zum Jahre 1920 vermehrte sich die Seelenzahl der gesamten Bevölkerung ungefähr um 60%, die der Juden um ungefähr 150%. Dieses außergewöhnliche Ausmaß der Vermehrung ist auf verschiedene Gründe zurückzuführen: auf die hohe Verhältniszahl der Geburten, auf die geringe Verhältniszahl der Säuglingssterblichkeit, auf die besseren hygienischen Bedingungen und auf ein höheres Durchschnittsalter. Die wichtigste Rolle spielt die Einwanderung aus Galizien, die besonders in den 40er und 60er Jahren gleichsam phantastische Ausmaße annahm. Vom J a h r e 1869 ab ist die jüdische Auswanderung höher als die Einwanderung, und so kommt es nicht zu einer festeren Bindung und Verwurzelung. In die östlichen Komitate strömen die fremden Juden weiterhin ein, und zu gleicher Zeit wandert der Budapester und transdanubische Jude, der der Sprache nach wenigstens schon zum Teil assimiliert ist, mit seinem erworbenen Kapital weiter in die westlichen Großstädte. Karl Eötvös, den man sicherlich nicht der Voreingenommenheit beschuldigen kann, beschreibt in seiner romanhaften PlattenseeReiseskizze folgendermaßen den W a n d e r w e g des Judentums: „Der Jude wandert bei Märmaros ein. Dort ist er noch Bettler, Tagelöhner und Branntweinausschenker. Sein Sohn kommt schon um zwei Komitate weiter nach Westen und wird Fabrikbesitzer, Händler und Großpächter. W e n n er noch ein oder zwei Komitate weiter ins Land kommt, ist er schon Großgrundbesitzer und erwirbt ein Schloß. In Budapest strebt er nach dem Adel, nach dem Abgeordnetensitz und nach dem Baronat, und wenn er schon ein paar Millionen erworben hat, zieht er nach W i e n . " In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s bilden sich in Wien, Paris, Berlin und NewYork die großen ungarischen Kolonien als jüdische Glaubensgemeindebildungen heraus. Auf Schritt und Tritt treffen wir im Westen im Wirtschaftsleben, in der Wissenschaft, in der Literatur, der Presse, der Kunst und sogar in der Politik aus Ungarn stammende Juden (z. B. M a x Reinhardt, den Theaterdirektor, M a x Nordau, den zionistischen Apostel, Ignaz Kont, Universitätsprofessor in Paris, den Maler Philipp Läszlö, den Philosophen Ludwig Stein, den Berliner Verleger S. Fischer usw.). Alois Koväcs nimmt den Auswanderungsverlust des ungarländischen Judentums in 40 Jahren auf 113 000 Seelen an. Der Platz der Ausgewanderten

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wird schnell von den viel fruchtbareren Ostjuden ausgefüllt, die keine Zeit und keine Möglichkeit haben, sich dem U n g a r t u m auch nur der Sprache nach zu assimilieren, obwohl sie natürlich ungarische Staatsbürger und vollberechtigte Glieder der ungarischen Nation sind. So wird Ungarn die Durchgangsstation des von Osten nach Westen ziehenden Judentums: es erwirbt hier die westliche Bildung, die westlichen Lebensformen und das Geld f ü r den weiteren Aufstieg. Gleichzeitig hält es auch noch im Auslande — ein wenig aus Interesse, ein wenig aus Nostalgie, ein wenig aus Sentimentalität oder Gewohnheit — an seiner ungarischen „ H e i m a t " fest und macht bereitwillig Propaganda f ü r Ungarn, aber vor allen Dingen für die künstlerischen und literarischen Schöpfungen seiner ungarländischen Glaubensgenossen, deren laute Erfolge dann in U n g a r n gewöhnlich als der Triumph des ungarischen Geistes im Auslande verbucht werden. Ein noch viel größeres Ausmaß als die Durchwanderung nahm die innere Wanderungbewegung des Judentums an. Sein W e g führt in die ungarische Stadt, in erster Linie nach Budapest. Im J a h r e 1869 sind erst 29,5% des Judentums Städtebewohner, im J a h r e 1910 schon 50,9%. „In den Dörfern — schreibt die Gesellschaftsspalte der „Magyar-Zsidö Szemle" (Ungarisch-Jüdische Rundschau) im Jahre 1911 — werden nach einer Generation kaum J u d e n wohnen, deren Zahl erwähnenswert ist." Am auffallendsten ist die V e r j u d u n g Budapests, die das Ergebnis einer andauernden Einwanderung von Osten ist und vom J a h r e 1869 bis zum J a h r e 1910 einen Anstieg von 400% zeigt. Dieses äußere und innere unruhige Fluktuieren des J u d e n tums erschwert außerordentlich die Schilderung des W e r d e g a n g s der ungarischen jüdischen Intelligenz. Das Judenkind mit Pajes, das heute noch der Schüler eines Cheders im Komitate U n g ist, wobei es außer dem Jiddisch und dem Hebräisch keine andere Sprache kann, ist morgen schon der einflußreiche Mitarbeiter einer Budapester Tageszeitung. Der kleine lahme D o r f j u d e n j u n g e , der heute noch von den Bauernkindern mit Steinen beworfen wird, ist nach ein paar Jahren die Koryphäe „der internationalen Wissenschaft" und der Freund des englischen Königs (Armin Vämbery). Ein anderer seiner Gefährten kommt aus dem größten Elend und tritt im Alter von 35 Jahren die Erbschaft von Johannes A r a n y an und wird Generalsekretär der Akademie (Wilhelm Fraknoi). W i e d e r u m ein anderer redigiert heute unter dem Namen Eugen Koväcs in Budapest eine ungarische schönliterarische Zeitschrift,

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morgen steht er schon als Eugen Robert an der Spitze eines Berliner Theaterkonzerns. Das ungarländische Judentum im 19. Jh. ist wie ein großer See, in den von Osten her trübe Bergbäche strömen, die Schmutz und Schlamm mit sich bringen und die, kaum d a ß sie ihre Last abgeladen haben, auch schon weiter nach Westen eilen. Der See aber ist dauernd in Unruhe, sein Spiegel glättet sich nie. W e n n wir die Bedeutung des Judentums im ungarischen Geistesleben (mit dem wirtschaftlichen und politischen Leben beschäftigen wir uns nicht) durchschauen wollen, müssen wir versuchen, seine verwickelte Struktur in ihre Elemente aufzulösen. Das Judentum bildet bis zum Emanzipationsgesetz eine ziemliche Einheit. Es gab auch damals schon einzelne Familien, die seit Jahrhunderten in ungarischer dörflicher Umgebung lebten und sich magyarisiert hatten, aber die überwiegende Mehrheit sprach deutsch. Auch die Einwanderer vertauschen bald den Jargon, den sie mitgebracht haben, mit literarischem Deutsch und fügen sich in die deutschsprachige W e l t der Zeit des Absolutismus ein. Die Kapitalbildung des Judentums setzt während der napoleonischen Kriege ein, als die Juden fast die einzigen Nutznießer der Heereslieferungen sind. Schon damals bilden sie eine geistige Schicht heraus, und da ihnen von den Intelligenzlaufbahnen nur die medizinische und die journalistische zur V e r f ü g u n g stehen, werfen sie sich auf diese. Die ungarländischen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften im 2. Viertel des 19. Jh.s sind fast ausschließlich in ihrer H a n d . Ihre Geisteshaltung ist konservativ, ihre Gesinnung dynastisch, f ü r die ungarischen nationalen Bestrebungen zeigen sie wenig Verständnis. Beim Ausbruch des Freiheitskampfes fliehen die meisten ungarländischen jüdischen Journalisten nach Österreich. W ä h r e n d des Freiheitskrieges spielen einige wieder die Rolle von Heereslieferanten f ü r die Honveds. D a f ü r bestraft H a y n a u das ungarländische J u d e n t u m mit einer schweren Kontribution (diese Kontribution wird nach dem Ausgleich vom König wieder dem neologischen Bekenntnis geschenkt). Der Beschluß Haynaus ist der Adelsbrief, mit dem das ungarische Judentum ein halbes J a h r h u n d e r t lang seinen Patriotismus zu beweisen versuchte, obwohl es sich in der Zeit des Absolutismus mit der größten Schmiegsamkeit bemühte, diese seine Schuld vergessen zu machen. Karl Keleti, der in seinem großen W e r k e mit Anerkennung von den neuen emanzipierten „Mitgliedern der ungarischen Nation" schreibt, sagt, indem er auf den leichten Vaterlandswechsel des

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Judentums hinweist: „Man kann es der ungarischen Nation nicht verübeln, wenn sie dem großen Patriotismus ihrer jüdischen Landsleute nicht traut und von ihnen nicht annehmen kann, daß man in jedem Unglück und in jeder Lage so auf sie zählen kann wie auf die eigenen Rassegenossen. Diese Abneigung wird noch durch das leichte Hinneigen des Juden zu jenem Element gesteigert, das irn traurigsten Zeitalter der Geschichte Ungarns ihm als Gegner gegenüberstand." Die ungarische Nation aber, die sich nicht aus ihren Illusionen reißen ließ, bemühte sich, dieses „Hinneigen", das sie z. B. einem unglücklichen rassemagyarischen Schriftsteller, Ludwig Kuthy, nie verziehen hatte, zu vergessen. Das Judentum durchlebt in den 70er Jahren, umgeben von der sympathisierenden Atmosphäre des dogmatischen Liberalismus, das goldene Zeitalter einer stürmischen Entwicklung. Niemals war die Macht des Judentums größer (durch den Staatssekretär Eduard Horn erhält es sogar Zutritt in die Regierung), dennoch steht es trotz allen Emanzipationsgesetzen dem Ungartum fremd gegenüber. Der ebenfalls judenfreundliche Soziologe Aladär György charakterisiert im Jahre 1875 seine seelische Struktur mit folgenden Worten: „Was wir von den Juden im allgemeinen auch immer halten mögen, das eine ist unbestreitbar, daß ihr Einfluß auf unser Gesellschaftsleben unaussprechlich groß ist. Kaum eine halbe Million Israeliten wohnen in diesem Lande, aber auf allen Gebieten sowohl der Wissenschaft, der Industrie wie auch der Gesellschaft, vom Handel erst gar nicht zu reden, begegnen wir vielen in leitender Stellung. Ein bedeutender Teil des Landbesitzes ist in ihrer Hand, in einzelnen Komitaten herrschen sie über ganze Gebiete, die Börse bleibt während ihrer Feiertage geschlossen und die Märkte sind leer, die Unerschöpflichkeit ihres Geldes ist fast sprichwörtlich geworden. Der Aufstieg einer solchen Nationalität kann uns nicht gleichgültig sein. Die Emanzipation hat das Eis gebrochen, in einzelnen größeren Städten treffen wir Israeliten, die Glieder unserer Nation geworden sind und die die ungarische Sprache als ihre Muttersprache betrachten. Die große Mehrheit aber sieht sich noch immer als unseren Feind an, hüllt sich in ihre religiöse Engbrüstigkeit und schrickt vor allem zurück oder ist zum mindesten allem gegenüber gleichgültig, was wir für schön und edel halten." Eine andere zeitgenössische Aufzeichnung aus den 70er Jahren stellt das Judentum geradezu als Wegbereiter der Germanisierung hin. Damals konnte sich sogar Josef Kiss, der bedeutendste Dichter des ungarländischen

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Judentums, mit seinen ungarischen jüdischen Liedern und mit seinem ungarischsprachigen jüdischen Jahrbuch nicht durchsetzen, weil er kein Lesepublikum hatte, das ihn verstehen konnte. Die jüdischen konfessionellen Zeitungen erschienen ausnahmslos in deutscher Sprache. Die Tageszeitung der gebildeten Schicht war der jüdische „Pester Lloyd", die der Mittelschicht das „Neue Pester Journal", diese Schichten füllen das deutsche Theater und die unzählig wuchernden Varietés. Die Söhne des deutschen Bürgertums stehen damals schon an der Spitze der Magyarisierung, und Eugen Rákosi-Kremsner gründet das magyarische Volkstheater. Diesem Bild der Entwicklung, das von den Zeitgenossen und den historischen Tatsachen bestätigt wird, scheint die Statistik von 1880 zu widersprechen, die zum ersten M a l e die Nationalität der ungarländischen Bevölkerung untersuchte und 55,34% des Judentums als mit ungarischer Muttersprache angibt. Abgesehen davon, daß die Volkszählung das Jiddische nicht für eine Sprache hielt und so den Ostjuden in vielen Fällen einfach als Ungarn betrachtete, wollte das Judentum für die Emanzipation in der Form seinen Dank abstatten — und dies erwartete die öffentliche Meinung gebieterisch von ihm —, daß es sich in bescheidener Mehrheit als ungarischsprachig bekannte, wenn auch seine Sprachkenntnisse nicht über ein paar Worte hinausgingen. Die obige Verhältniszahl bezeichnet wahrscheinlich gleichzeitig auch das zahlenmäßige Verhältnis des neologischen und des orthodoxen Zweiges zueinander. Die Spaltung des Judentums wurde nach Jahrzehnte langer Entwicklung durch den von Eötvös im Jahre 1868 einberufenen Judenkongreß ausgelöst. Damit begann ein Jahrzehnte langer bitterer Bruderkrieg, der sich erst dann zu legen pflegte, wenn zeitweise ein gemeinsamer Gegner die Feinde zu einer Einheitsfront zusammenschmiedete. Für das ungarische Geistesleben ist diese Spaltung nicht gleichgültig, weil sie nicht nur eine Verschiedenheit der Glaubenszweige, sondern einen Kulturbzw. Assimilationsunterschied bedeutete. Keinerlei Statistik berichtet davon, in welchem Verhältnis sich das Judentum in Orthodoxe und Neologen spaltete. Jede dieser Parteien beansprucht natürlich die Mehrheit für sich. Unzweifelhaft orthodox war das Ostjudentum und die Mehrheit in einigen größeren Städten wie in Preßburg, ödenburg und Großwardein. Dieser Teil hielt nicht nur an seinem Glauben, sondern auch an seinen geschichtlichen Traditionen, seinen Lebensgewohnheiten, sogar an seiner ursprünglichen Sprache, dem jiddischen Jargon,

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fest: es handelt sich um eine wirkliche Nationalität. Sie besuchte weniger die staatlichen Schulen, sondern erhielt Cheders, Jeschiwas aufrecht, in denen Melameden aus Galizien jiddisch und hebräisch lehrten. Ihre Rabbiner waren fast ohne Ausnahme fremder Herkunft und beherrschten die Staatsprache nicht. Jakob Steinherz charakterisiert seine orthodoxen Glaubensgenossen in den Spalten der „Magyar-Zsido Szemle" (Ungarisch-Jüdische Rundschau) im Jahre 1886 folgendermaßen: „Wer heute irgendwo in Ungarn in einen sogenannten orthodoxen Tempel tritt und dort neben der hebräischen Sprache im besten Falle nur noch deutsche Worte hört, wird sich nicht unter Ungarn fühlen, sondern wird an eine Kolonie denken, die von fremder Erde hierher verschlagen wurde." Die Orthodoxie leistete sogar auch der sprachlichen Assimilation bewußt Widerstand, weil sie darin die Gefährdung ihrer nationalen und religiösen Gemeinschaft sah. Der Rabbiner von Papa M. A. Roth legt in einer deutschsprachigen Flugschrift den Standpunkt der Orthodoxie dar (im Jahre 1904!), in der er jedes Unglück und alle Übel des Judentums auf den „unseligen Gedanken" der Assimilation zurückführt. Es ist also kein Wunder, daß die Magyarisierung des orthodoxen Judentums von geringem Erfolg begleitet war. Auch in ihren Lebensgewohnheiten wichen sie entscheidend von der christlichen Bevölkerung ab, mit ihren besonderen Feiertagen, ihrem strengen Sabbat, ihrer Ernährung, und blieben so immer fremd. Ihr einziges religiöses Presseorgan in ungarischer Sprache, das „Zsidö Hiradö" (Jüdisches Nachrichtenblatt), begann unter der Redaktion von Viador (?) im Jahre 1891 und erreichte 16 Jahrgänge. Dies ist die eigentümlichste Zeitung, die auf ungarischem Boden je erschienen ist. Ihre Artikel sind jiddisch gedacht und im gebrochenen Ungarisch geschrieben. Mit gewählten Worten kämpft sie gegen die neologischen „Brüder", die das Ungartum der Orthodoxen und ihre Treue zur Nation ständig in Zweifel ziehen. („Wenn jemand so blöde und so durchaus bösgesinnt ist, daß er sagt, daß die Neologie sich von der Orthodoxie nur in Hinsicht des Ungartums unterscheidet, dann wäre nichts leichter, als demgegenüber das Ungartum der Neologie anzuschwärzen." 1893, Nr. 32. Oder: „Jene Trauergestalten (d. h. die Neologen), wie sie ihr Ungartum zur Schau tragen und diejenigen anklagen, die den mit dem Ungartum getriebenen Humbug entlarvt haben." 1894, Nr. 7.) Und während das Blatt auf seinen inneren Spalten stolz verkündet: „In Ungarn gibt es keinen Juden, der nicht nur hinsichtlich seiner Nationalität Ungar ist, sondern an vielen Orten

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bildet gerade das Judentum das einzige magyarisierende Element", — bringt es zur gleichen Zeit im Annoncenteil die deutschsprachigen Mitteilungen der H e r m a n n s t ä d t e r , Waitzener, Raaber und sogar der Debrecener Kultgemeinden und Firmen. Das Landesbüro der Neologen ersuchte den ungarischen Kultusminister wiederholt, vom ungarischen nationalen Gesichtspunkt aus der Sonderstellung der Orthodoxie ein Ende zu machen und ihre Kultgemeinden der Oberhoheit des Büros unterzuordnen. Der jeweilige ungarische Kultusminister nahm aber die Dogmatik des Liberalismus ernster als deren übrigens lauteste W o r t f ü h r e r und war auch vom „nationalen Gesichtspunkt" nicht geneigt, das Prinzip der Religionsfreiheit zu verletzen (weshalb ihm auch dann die Anklage traf, daß er nicht patriotisch sei). Der Neologie schmerzten natürlich in Wirklichkeit nicht die nationalen Gesichtspunkte, sondern die richtige Erkenntnis der Tatsache, d a ß die sprachliche und nationale Fremdheit der Orthodoxie dem Antisemitismus immer neue N a h r u n g gab und so das Dasein des gesamten Judentums gefährdete. Die Orthodoxie, die die H ä l f t e des Judentums ausmachte, trug also nicht in größerer Zahl zur Ausbildung der jüdischen-ungarischen Intelligenz bei, sondern nur durch einige ihrer Vertreter. Ihre Abkömmlinge, die die Höhere Schule besuchten, erlernten die ungarische Sprache und entwickelten sich, schematisch betrachtet, in drei Richtungen. Es gab solche, die sich bemühten, ihr Judentum mit ihrer ungarischen Staatsbürgerschaft in Einklang zu bringen. „ W e n n wir schon unserer bürgerlichen Stellung entsprechend — schreibt das „Zsidö H i r a d ö " im J a h r e 1893 — in einigen Äußerlichkeiten von der starren Treue zum Glauben um eine Schattierung abweichen müssen, so bleiben wir doch im Herzen und im Fühlen immer J u d e n . " Es gab solche, die nach der Jahrhundertwende alle Konsequenzen ihres nation- und glaubenstreuen Judentums zogen und auf die Fahne des Zionismus schworen und der Assimilation als „dem geistigen und nationalen Selbstmord" den Krieg erklärten („Zsido Neplap", 1905, Jüdische Volkszeitung). Die dritte Gruppe wurde von jener j u n g e n Generation der Jahrhundertwende gebildet, die im strengen Geiste des Ghettos erzogen wurde und die in ihrer Reifezeit ohne Übergang vom Glauben ihrer Väter abfiel und wurzellos wurde. „Sehen wir nur unsere Jungen an", schreibt die „Zsido N e p l a p " im J a h r e 1905, ,, wie öde und abstoßend ist die seelische W e l t des modernen jungen Juden, der dem Judentum entfremdet ist! Bald kennzeichnen ihn feiges Duk-

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ken, bald widerliche Prahlerei, niedrige Interessen treiben ihn an, das Materielle füllt seine gesamte Gefühls- und Gedankenwelt aus. Nichts ist ihm heilig, weder Moral, noch Ehre, noch Charakter." In den Spalten desselben kleinen zionistischen Blattes lesen wir die folgenden prophetischen Worte: „Unsere Gegner (die assimilierten Juden) betrachten den Patriotismus als Kapital, ihr J u d e n tum dagegen als unangenehme Last. Diejenigen, die heute ihr J u d e n t u m verleugnen, werden vielleicht morgen ihr U n g a r t u m verschachern." Aus diesem dritten Element geht jene jüdische Jugend hervor, die am A n f a n g unseres J a h r h u n d e r t s die Verfechterin radikaler und internationaler Ideen ist, nach dem Kriege aber die W o r t e zur T a t machte und zur Machtvollstreckerin des Kommunismus wurde. Das neologische J u d e n t u m unterscheidet sich nicht nur dadurch von den Orthodoxen, daß es nicht das Sulchan Aruch, die uralten Formen der religiösen Praxis, annahm, sondern auch durch seine höhere gesellschaftliche Stellung. Zu den Orthodoxen gehören die sogenannten kleinen J u d e n : Dorfkrämer, Schankwirte, W a n d e r händler, kleine Stadtkaufleute und Reisende, die vom Standpunkt des ungarischen geistigen Lebens kaum in Frage kommen. Zu den Neologen gehören die Großkaufleute, Bankiers, Unternehmer, diejenigen, die geistigen Berufen angehören (Ausnahmen gibt es natürlich überall), mit einem W o r t alle, die eine bedeutende Rolle bei der Schöpfung des modernen ungarischen Staates spielen. Ihr positives religiöses Leben beschränkt sich auf den samstäglichen Tempelbesuch, auf die Abhaltung der großen Feiertage und auf eine gewisse gesellschaftliche jüdische Solidarität, aber sonst bemühen sie sich auf jede Art, sich der Umgebung anzupassen. Im L a u f e des Generationswechsels reißen die Fäden immer mehr, die sie an ihre Religion knüpfen, einige treten über, die Mehrzahl versucht aber, in den Freimaurerlogen einen Ersatz f ü r die Synagogen zu finden. Mit der politischen Macht, mit dem herrschenden Feudalismus halten sie enge Waffenbrüderschaft, weil sie sich nämlich gegenseitig ergänzen und deshalb einander helfen. Ihre Magyarisierung geht äußerlich in überraschend schnellem Tempo vor sich. Doch ist es Tatsache, daß in der zweiten H ä l f t e des vergangenen J a h r h u n d e r t s noch wenige Ungarisch können. Die Amtssprache der Budapester Börse ist bis zum J a h r e 1896 deutsch, in der Familie, in vertraulicher Umgebung und im Kaffeehause ist Deutsch die Sprache der Unterhaltung. „Zu Hause sprachen sie J a r g o n und lasen deutsche Zeitungen, aber die G r a f e n und die

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Gentry hielten sie für zuverlässige, ehrenwerte, gute ungarische Männer, weil sie für sie eine sichere politische Schleppe bildeten", schreibt B é l a Zsolt über die Generation der V ä t e r in seinem selbstbiographischen Roman, der am A n f a n g unseres Jahrhunderts spielt. Als am E n d e des vergangenen Jahrhunderts jüdische Kapitalisten das Komödienhaus gründeten, wurden sie nur durch die „nationale" Entrüstung daran gehindert, daraus ein halbdeutsches T h e a t e r zu machen. T r o t z d e m bekannten sich im J a h r e 1910 schon 75,66% des Judentums zur ungarischen Sprache, obgleich sie in Wirklichkeit mit ihrer deutschsprachigen Bildung sicher beträchtlich dazu beitrugen, daß das deutsche G e p r ä g e Budapests und der übrigen ungarischen Städte auch nach der Magyarisierung der deutschen Bürgerschaft bewahrt blieb. D e r allmählichen Assimilierung des neologischen Judentums hätte aber trotzdem nichts im W e g e gestanden, wenn man die E i n wanderung verhindert hätte und wenn das Emanzipationsgesetz nicht — wie soviele fortschrittliche ungarische Gesetze — auf dem Papier geblieben wäre. V o m ersten Hindernis haben wir schon gesprochen. Das zweite wird durch die seelische Struktur der ungarisch-deutschen Gesellschaft erklärt, die trotz allem Liberalismus dem J u d e n t u m nicht als Faktor des öffentlichen Lebens, aber als gesellschaftlichem Faktor abweisend gegenüberstand. „Niemand protestiert dagegen — schreibt T h o m a s Kóbor im J a h r e 1895 — nur paßt es nicht zur weltberühmten Ritterlichkeit des ungarischen Volkes, diese Antipathie nur in Zeichen, versteckt und nicht offen, bestimmt und ausgesprochen der Eindringlingsrasse fühlen zu lassen. Dies ist schon eine Herzlosigkeit. . . W a r u m sagt man nicht Der ehrlich, daß man den J u d e n weder roh noch gekocht m a g . " jüdische Romancier charakterisiert mit diesen W o r t e n ausgezeichnet die lügnerische geistige Atmosphäre, die seit der Emanzipation die J u d e n f r a g e umgab. J e d e r galt als ultramontaner, dunkler mittelalterlicher Geist (der größte Schimpf dieser Zeit!), der das W o r t J u d e auch nur laut auszusprechen wagte; aber sogar der, der auf dem Forum des öffentlichen Lebens mit den J u d e n ostentativ Freundschaft hielt, hätte sich geweigert, seinen jüdischen „ F r e u n d " z. B. in seine Familie einzuführen. D e r J u d e , der naiv genug war, den in der L u f t herumfliegenden lauten Schlagwörtern zu glauben und aus denselben die Konsequenzen hätte ziehen wollen, wäre bald mit bitterer Enttäuschung zur kalten und zurückstoßenden Wirklichkeit erwacht. Dabei half — in der ersten Generation — auch die T a u f e nicht.

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Es ist verständlich, daß einige Mitglieder des Judentums, die die Assimilation ernst nahmen, nach vergeblichen Versuchen wiederum in ihre ursprüngliche Volksgemeinschaft zurückfielen. Von jüdischer Seite verstand man die Assimilation so, daß die Kenntnis der Sprache, die Magyarisierung des Familiennamens und der Dienst an der herrschenden Klasse, den man f ü r eine nationale Pflicht hielt, ausreichend sei. Von ungarischer Seite forderte man das Einstellen der Einwanderung und das vollständige Aufgehen des Judentums. Deshalb hält schon Karl Keleti die Einführung der Zivilehe und die Förderung der Rassenvermischung für notwendig: „Mit der ungarisch-jüdischen Mischung — verkündet er mit irrigem Idealismus (den übrigens auch solche großen U n g a r n wie J o h a n n V a j d a , Ludwig Tolnai und auch Andreas Ady teilen) — würden wir der Heimat eine Rasse gewinnen, die je mehr sie sich vermehrt, uns um so mehr die Aufrechterhaltung des Landes sichern könnte." (Daran denkt auch Keleti nicht — und dies ist kennzeichnend f ü r die ganze Zeit — daß in diesem Lande die vielen Millionen starke ungarische Rasse, das Bauerntum, vorhanden ist, das mit seinem Blute und seiner Arbeit allein zu jeder Zeit das Bestehen des Landes gesichert hat!) Die Juden wollten aber nichts von der Rassenvermischung wissen (wegen ihrer großen Zahl wäre dies auch gar nicht möglich gewesen), und so entstand diese verhängnisvoll verlogene Lage, die von einer Katastrophe in die andere führte. Die Assimilation ging nie tiefer als an die Oberfläche. Die Juden, die sich zu assimilieren wünschten, treffen sich nach den ersten Nadelstichen, wie der Verfasser eines Artikels der Magyar-Zsido Szemle im J a h r e 1886 sagt, „jenseits der Schranke": „Ja, wir tun uns zusammen, weil wir dazu gezwungen sind, uns kann man nicht einschmelzen." Die versteckte Antipathie gegen die Juden brach in zwei Strömungen hervor. Die erste war die Bildung der antisemitischen Parlamentspartei zu A n f a n g der 80er Jahre, die in ihrer Blütezeit 17 Abgeordnete in den Reichstag schickte. Jede Rede ihres Parteiführers Viktor Istoczy wurde im Abgeordnetenhaus von einem Hohngelächter empfangen, und als ein jüdischer Abgeordneter diesen unzweifelhaft wohlmeinenden, aber unglücklichen Politiker in öffentlicher Sitzung aufforderte auszuwandern, wenn ihm die Expansion der Juden nicht gefiele, rief die Mehrheit der Parteien begeistert Beifall! Das Wirken der antisemitischen Partei fällt mit der berüchtigten Ritualmordanklage von Tiszaeszlar zusammen, die nicht nur das ungarische, sondern das Judentum der ganzen

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Welt in einem protestierenden Lager vereinigte. Das bei dieser Gelegenheit geschriebene Gedicht von Josef Kiss übersetzte man in viele Sprachen und sang man in polnischen Synagogen als Kirchengebet. Der Zusammenbruch der Ritualmordanklage, der verurteilende Brief von Ludwig Kossuth, der von seinem jüdischen Sekretär Ignaz Helfy informiert worden war, das Abklingen der Wirtschaftskrise, die Zurückhaltung der von liberalen Gedanken durchdrungenen und vor der „europäischen Verdammung" zitternden öffentlichen Meinung verurteilte die antisemitische Partei bald zu einem langsamen Tode. Das einzige Ergebnis war das Selbstbewußtwerden der Juden und ihre organisierte Zusammenfassung und die Aufhaltung des sowieso äußerlichen Vorganges der Assimilation. Die eine Äußerung dieser Veränderung war, daß im Jahre 1881 die „Egyenlöseg" (Gleichheit) als kämpferisches jüdisches Wochenblatt gegründet wurde, dann im Jahre 1884 die „MagyarZsido Szemle" (Ungarisch-Jüdische Rundschau) als wissenschaftliche Zeitschrift. Im Anfang war das jüdische Lesepublikum, das Ungarisch verstand, noch so unbedeutend und so gleichgültig, daß die „Egyenlöseg" im Jahre 1884 nicht mehr Abonnenten hatte als 79. Damals übernahm Max Szabolcsi die Redaktion, der das Blatt bald zu einem bedeutenden und verbreiteten Organ entwickelte. Es halfen ihm dabei die allmähliche Magyarisierung und das Selbstbewußtwerden der Juden, die warme Unterstützung einer neuen jüdischen Schriftstellergeneration und seine eigene Geschicklichkeit, mit der es ihm gelang, magyarische Schriftsteller als Mitarbeiter zu gewinnen wie Maurus Jökai, Franz Herczeg, Andreas Kozma und Ärpäd Zempleni. Die „Egyenlöseg" war die Schaufensterleistung des ungarischen Judentums: sie kämpfte in gleicher Weise gegen die Fremdheit der Orthodoxie und gegen den „ultramontanen" Katholizismus als Wortführerin der liberalen Ideen, begeisterte sich für die nationalen Errungenschaften, wies mit Triumph und überzeugend auf die jüdischen Erfolge hin, sie registrierte die jüdischen Schriftsteller und ebnete den Anfängern den Weg. Ihr Hauptgesichtspunkt war natürlich und verständlicherweise immer das jüdische Interesse, das sie aber mit täuschender Geschicklichkeit mit dem Interesse des Landes zu identifizieren wußte. Sie stellte die Begründung der katholischen Dorfgenossenschaften als Verletzung der liberalen Ideen hin, während sie in Wirklichkeit um das materielle Schicksal der jüdischen Dorfkrämer besorgt war. Sie führte mit der Feder einen leidenschaftlichen

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Kampf gegen die Volkshilfsaktion von Ignaz Daränyi, Eduard Egän und Nikolaus Bartha im Namen der heiligen Freiheit, in Wirklichkeit war sie aber um die Einwanderer aus Galizien besorgt. Die „Magyar-Zsidö Szemle" nahm schon offener für die Interessen der Juden Partei und geriet deshalb oft in Gegensatz zur „Egyenloseg", die eine Meisterin der Tarnung war. Die zweite Strömung gegen die Juden erscheint in den 90er Jahren parallel mit der katholischen Renaissance. Das Rezeptionsgesetz und die bürgerliche Matrikelführung sowie die jahrelang dauernden parlamentarischen Kämpfe um die Einführung der Zivilehe entwickeln neue Kampfreihen. Die Regierung wollte diese drei Fragen im Zusammenhang lösen. Das Judentum war in schwieriger Lage. Es wünschte von Herzen die Gleichberechtigung seiner Religion, aber die Zivilehe, die die Vermischung möglich machte, war ihm ebenso zuwider wie dem katholischen Klerus. Sogar Ludwig Palägyi, der schon damals ein berühmter „ungarischer" Dichter war, schreibt in der „Egyenloseg", daß bei der Mischheirat das Judentum, das materiell besser gestellt und „rassisch und geistig höherwertig sei", nur verlieren würde: „Ein großer Teil jener Eigenschaften, die das christliche Ungartum in die Mischung hineinbringen würde, . . . würde für diese Mischung nicht von dem Vorteil sein, wie die jüdischen Eigenschaften sein würden." Trotzdem tritt das Judentum — auch die Orthodoxie — im Vertrauen auf die zusammenhaltende Kraft des eigenen Selbstbewußtseins aus politischem Interesse für das Gesetz ein und steht so dem kämpferischeren Katholizismus gegenüber. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Weltkriege sind die Organe des Katholizismus die einzigen, bei denen die Judenfrage immer auf dem Plane bleibt, sie haben nur wenige christliche Leser, das Judentum aber registriert jede ihrer Zeilen. Diese Strömung führt zu einer neuen jüdischen Organisation: im Jahre 1895 wird die I M I T (Israelitische Ungarische Literarische Gesellschaft — Izraelita Magyar Irodalmi Tärsasäg), die die bewußten geistigen Kräfte des Judentums zusammenfaßt, gegründet. Als Ergebnis ihrer Arbeit läßt sie ein Jahrbuch erscheinen, das eine reiche Quelle für das jüdische geistige Leben der letzten Jahrzehnte ist, hält Vorlesungen, Sitzungen ab, im Anfang mit geringem, später aber mit immer größerem Interesse des jüdischen Publikums. Im Anfang unseres Jahrhunderts war die Mitgliederzahl in ein paar Jahren von 800 auf 2000 gestiegen. Diese Gesellschaft versucht, ihr Juden- und Ungartum nach außen hin in be-

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friedigenden Einklang zu bringen. Sie verkündet stolz, d a ß das Judentum zusammen mit A r p a d in diese Heimat gekommen sei und jede seiner Freuden und Leiden geteilt habe (!) (chasarischkabarischer Mythos). Die Assimilation sieht sie als eine längst vollendete historische Tatsache an. („Unsere Vernunft und unser Herz hat uns lange eingegeben, daß wir der Religion nach Juden, der Volksrasse nach Ungarn, und zwar in unserer glühenden Heimatliebe, im Festhalten an der heimischen Erde von den Besten sind"). Oft erwähnt sie „unsere süße und teure ungarische Muttersprache", „unsere heißgeliebte ungarische Heimat", zu gleicher Zeit bemüht sie sich, das jüdische geschichtliche und rassische Selbstbewußtsein zu stärken (Heinrich Lenkei: „Ich glaube, daß das Judentum in diesem Lande so am besten seine Pflicht tut, wenn es die wertvollen Züge seiner Rasse und Religion aufrechterhält und weiterpflegt und sich nur zwecks gemeinsamen Fortschritts und gemeinsamer Entwicklung und in seinen Idealen und in der Arbeit Schulter an Schulter an den Stamm der Nation assimiliert." 1902). W e n n dann das jüdische und ungarische Interesse trotzdem zusammenstößt, ist die Stellungnahme nicht zweifelhaft. Alle drei Presseorgane werden beim scheinbaren Suchen nach äußerer Harmonie durch eine innere Disharmonie gekennzeichnet, durch die wirre Vermischung der Begriffe von Rasse, Volk und Nation, durch die widersprechende Beurteilung des Maßes der Bedeutung und des Sinnes der Assimilation. Nur eins finden wir nicht, wie übrigens in der ganzen Zeit nicht: Streben nach wahrer Selbsterkenntnis. Die weitere Entwicklung des jüdischen Selbstbewußtseins führt in Verbindung mit der Kräftigung des ungarischen rassischen Selbstbewußtseins in der jungen jüdischen Generation der J a h r hundertwende zu einer Dissimilation. Im J a h r e 1905 schreibt ein bekannter jüdischer Dichter Geza Szilägyi bereits: „Nicht der jüdische Ursprung, sondern die vorurteilsvolle, christliche Gesellschaft ist der Grund, wenn aus dem Menschen, der als Jude geboren ist, ein Weltbürger wird. U n d ich weiß nicht einmal, ob ich den Juden wegen seines Vordrängens bewundern oder verachten soll, der trotz der kältesten Zurückweisung sich in die nationalen Schranken einzwängt." Auf welchem Gebiet, auf welcher Entwicklungsstufe und in welcher Epoche auch immer wir die seelische Struktur des J u d e n tums untersuchten, überall f a n d e n wir Gegensätze, die nicht ausgeglichen werden konnten, krankhaftes inneres Gären und ewige

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ungesunde Wandlung, woran die verlogene Stellungnahme der christlichen Gesellschaft und die erbärmliche Selbsterkenntnis des Judentums gleichermaßen schuld war. Dies war um so tragischer, als das Judentum im ungarischen öffentlichen Leben zu einer immer bedeutenderen und entscheidenderen Rolle gelangte. Deren Ausmaße sind bekannt genug, so daß ich mich nur auf die Mitteilung der wichtigsten Angaben beschränke. Infolge des Aufgehens der deutschen Bürgerschaft und der Verarmung des Ungartums gelangten die wirtschaftlichen Stellungen ohne Kampf in seine Hände, zu denen es infolge seiner Vergangenheit und seiner Kapitalkräftigkeit auch sonst prädestiniert war. Da Zeitungs- und Buchverlage sowie Theatergründungen in dieser Zeit rein kapitalistische Unternehmungen waren, also Kapital erforderten, über Kapital aber nur das Judentum verfügte, errang es neben der wirtschaftlichen Macht auch die geistige. W i r erinnern uns an die Worte von A l a d ä r György, der schon in den 70er Jahren den übermäßigen Einfluß des Judentums feststellt. Die kapitalistischen Laufbahnen waren aber infolge der großen Vermehrung des Judentums bald ausgefüllt: die jüngere Generation beginnt, die freien geistigen Berufe zu überschwemmen. Der höhere Unterricht hat zwei Vorbedingungen: Schule und Geld. Da der Jude im großen und ganzen Stadtbewohner ist, kann er seinen Sohn leichter auf die Schule schicken als der Ungar vom Dorfe, dessen Sohn in Fleiß und Ausdauer mit jenem nicht wetteifern kann. Im Jahre 1900 sind 19,31% der Schüler der Gymnasien, 39,06% der Schüler der Realschulen, 28,41% der Hochschüler Juden, die Anteilzahlen der Juden, die die Schule absolviert haben, ist aber noch viel größer, weil ein beträchtlicher Teil der Christen nicht über 4 Klassen hinauskam. Die „Magyar-Zsido Szemle" teilt schon im Jahre 1888 mit Selbstgefühl mit: „Der Vorsitzende des Hilfsvereins der Medizinstudenten, Friedrich Weiszmann, und die meisten Beamten sind in diesem Schuljahr Juden. Bald wird die Zeit kommen, wo nicht nur in der Schule, sondern auch auf einigen öffentlichen Laufbahnen, die als Rührmichnichtan angesehen werden, d a s G u t e u n d W a h r e s i e g e n w i r d." Zur gleichen Zeit ist der „nationale" Führer der juristischen J u gend W i l h e l m Weissfeld, der später unter dem Namen Väzsonyi eine gewisse Rolle in der ungarischen Politik spielt. Das erste Auftreten des Jugendführers begrüßt Eugen Räkosi in einem Leitartikel mit dem Titel „Weissfeld", wo er ihn der ungarischen Jugend als Beispiel hinstellt. Wenn wir die zeitgenössischen jüdischen OrF a r k a s . Freiheitskampf

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gane lesen, sehen wir mit Überraschung, welche gewaltige, sogar auch ihren Zahlenanteil weit überschreitende Rolle die jüdische Universitätshörerschaft im Leben der Jugend spielte. Paul Gyulai wird anläßlich seines Jubiläums von einem J u d e n begrüßt. Juden halten die Festreden im Namen der Universitätsjugend am Grabe Deäks und Kossuths, am Nationalfeiertage, dem 15. März, am 6. Oktober, bei Demonstrationen usw. J u d e n werden zu Doktoren sub auspiciis regis geweftit, sie gewinnen die Universitätspreise und natürlich auch die besten Stellungen. „Es gereicht unserem Bekenntnis zur Ehre und es dient sicherlich nur dem Besten und dem Heil der Nation — schreibt Max Szabolcsi 1895 —, daß das Judentum einen so gewaltigen Anteil an den Universitäten hat." Die Folge dieser gewaltigen Beteiligung war die Überschwemmung der geistigen Berufe (Rechtsanwalt, Arzt, Ingenieur, Journalist und Künstler), die an vielen Stellen 50% erreicht und sogar überschreitet. Denn das J u d e n t u m ist keine völkische Einheit wie die Deutschen und Slowaken, sondern auch schon wegen seiner wirtschaftlichen Struktur eine Intelligenzklasse. Aus dieser breiten Intelligenzschicht gelangt dann bis zum Weltkrieg ein beträchtlicher Teil auf die hervorragendsten Posten der geistigen f ü h r e n den Garde. Am A n f a n g des 20. Jh.s sitzen schon 16 jüdische Abgeordnete im Reichstag. Die Regierung Stefan Tisza hat außer zwei Ministern jüdischer Abstammung auch einen Staatssekretär jüdischen Bekenntnisses, der gleichzeitig der Präsident der I M I T ist (Leopold Vadàsz). Gleichzeitig ist der J u d e Franz Heltai der Oberbürgermeister von Budapest. Es wird massenhaft geadelt und baronisiert. An der Budapester Universität zählt Géza Peträssevich im Jahre 1899 26 Professoren jüdischen Bekenntnisses und 17 jüdischer Abstammung, die auch zum größten Teil Mitglieder der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sind. Die Juden Karl Csemegi-Nasch und Ladislaus Fayer schaffen das ungarische Strafrecht, das mit den Wucherern sehr sanft umgeht, Béla Földes ist der gefeierte Volkswirt der Zeit, Anton Almäsi f a ß t das ungarische Privatrecht zusammen, Ignaz Acsàdy-Adler, Heinrich MarczaliMorgenstern, David Angyal-Engel und A l a d ä r Ballagi-Bloch sind „die Historiker der Nation". Maurus Karmän-Kleinmann führt den „nationalen" Geist in das ungarische Unterrichtswesen ein, Bernhard Alexander herrscht in der Philosophie, Julius Pikler begründet die ungarische Soziologie. Armin Vàmbéry-Wamberger vertritt den „nationalen" Geist gegenüber dem Deutschen Budenz in der Frage des Ursprungs des Ungartums, Ignaz Goldziher ist

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der weltberühmte Stolz der Budapester Universität, Sigmund Simonyi-Steiner faßt die ungarische Sprache in ein System. Nur im Vorübergehen griffen wir ein paar Namen heraus (von der literarischen Rolle des Judentums sprechen wir besonders), aber auch schon diese paar Namen zeigen anschaulich das M a ß der jüdischen „Leistungen" und Möglichkeiten der Jahrhundertwende. Dahinter stand das jüdische Kapital, die gesamte ungarische Presse ebnete den W e g . Die jüdische Presse und die öffentliche Meinung betrachtete mit innerem Triumph den phantastischen W e g des Judentums und trotzdem mit ewiger Unzufriedenheit. Sie freute sich weniger darüber, was erreicht war, als es sie mehr schmerzte, daß z. B. ein Jude noch immer nicht zum Obergespan ernannt worden war. Der jüdische Schriftsteller A l a d ä r Komlos erklärt diese innere Gespaltenheit der jüdischen Seele aus ihrer Wurzellosigkeit: „Daher rührt die J a g d des modernen Juden nach Geld, Erfolg, Rang und Ruhm: damit hofft er die seiner Seele fehlende Ruhe zu gewinnen. Vergeblich: kein Vermögen und keine Karriere, das Vermögen Rothschilds und der W T elterfolg Einsteins oder Franz Molnärs bieten ihm nicht jene selbstverständliche Ruhe des Zuhause, die von selbst in der Seele jedes Bauern wächst, der in seinem eigenen Lande wohnt." Es ist sicherlich ein verhängnisvoller Seelenzustand, aber noch viel tragischer ist das ungarische Schicksal, das Jahrzehnte lang von einer jüdischen Intelligenz entscheidend beeinflußt werden konnte, deren Seelen gespalten waren, in sich selbst verworren, oberflächlich in ihrer Assimilation und im Selbstbewußtsein und Instinkt erschüttert. Zum Verständnis der jüdischen seelischen Struktur benutzte ich fast ausschließlich jüdische Literatur, weil ich mich bemühen wollte, die Lage der Juden gleichsam von innen her zu beleuchten. Von ungarischer politischer Seite scheint in dieser Zeit — nach dem Verschwinden der antisemitischen Partei — sogar der Funke des Selbstbewußtseins zu fehlen. W e n n er hier und da aufflammte, wurde er von Juden und Christen einmütig erstickt. Wiederum war ein jüdischer Schriftsteller einer der ersten, der die Gefahr des Aufschwemmens der jüdischen Intelligenz bemerkte. „Die Frage der wirtschaftlichen Umgestaltung des ungarischen Judentums wird von T a g zu T a g brennender", schreibt Franz Szekely im Jahrbuch der IMIT. „Am bedenklichsten ist der unvernünftige Drang unserer Glaubensgenossen nach den schon überfüllten Diplomlaufbahnen. Morgen wird bei uns ein großes Bildungsproletariat entstehen, und der Antisemitismus würde in erster Linie ein Kampf der

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christlichen A k a d e m i k e r gegen die jüdischen A k a d e m i k e r werden. Der Ackerbau, die G ä r t n e r e i u n d der W e i n b a u — dies ist das Gebiet, dem wir H u n d e r t t a u s e n d e unserer Glaubensgenossen zuf ü h r e n müssen." — Diese Prophezeiung w u r d e von n i e m a n d e m verstanden. Ebenso blieb die Stimme eines Predigers in der W ü s t e das im J a h r e 1899 erschienene Buch von Geza Peträssevich (Magyarorszäg es a zsidosäg — U n g a r n und das J u d e n t u m ) , in dem wir folgende schwerwiegende Sätze als die vernichtende Kritik einer ganzen Zeit lesen: „Der Bauer w u r d e nicht auf die Stufe gehoben, f ü r die er bestimmt war, der A d e l w u r d e tiefer hinabgestoßen, als es nötig gewesen wäre, natürlich deshalb, damit das J u d e n t u m die Leere ausfüllte. . . . D a s Bild der Z u k u n f t ist immer unsicher, soviel ist aber sicher, d a ß die ungarische Gesellschaft, wenn sie sich so weiter entwickelt wie am E n d e des 19. Jh.s, d a n n von der gesellschaftlichen Revolution des k o m m e n d e n J a h r h u n derts unbedingt weggefegt wird. . . . O Szechenyi, Szechenyi, w e n n du jetzt leben u n d U n g a r n sehen würdest: jetzt erst w ü r d e deine Seele wirklich verzweifeln."

4. Budapest und seine geistige Bedeutung. Bisher hatten wir die einzelnen Schichten der neuen ungarischen Intelligenz in U n g a r n voneinander unabhängig untersucht, obgleich sie in Wirklichkeit zusammenlebten und wirkten. Zwischen dem historischen U n g a r n und den deutschen Abkömmlingen machte das öffentliche Bewußtsein keinen Unterschied. Letztere waren nämlich von ihrem ursprünglichen Volkstum gänzlich losgerissen, es waren ,,eifrige'", sogar die eifrigsten Ungarn, unerbittlich in der Verfolgung des deutschen Wortes, die feurigen Apostel der Magyarisierung, die vollkommenen Verwirklicher der Lebensform des magyarischen „Herrn". Zwischen ihnen und den Judenabkömmlingen erhob sich aber schon eine starke, wenn auch unsichtbare Scheidewand. Der Jude, wenn er auch noch so sehr magyarisiert, sogar getauft war, konnte sich nicht vollständig von seiner ursprünglichen Gemeinschaft losreißen, einerseits, weil man ihn hier ständig als Juden registrierte, anderseits, weil die christliche öffentliche Meinung auch den in seine ursprünglichen Schranken zurückwies, der sich assimilieren wollte. Diese Gegensätze spalteten aber im großen und ganzen nur die Gesellschaft der Provinzstädte in strenge Kasten. In Budapest assimilierten sich die verschiedenen Schichten der neuen Intelligenz immer mehr aneinander. Dieses neue geistige Konglomerat leitete seit dem Ausgleich beinahe bis zum Weltkrieg die Politik des Landes, seine Literatur, Gesellschaft und Wirtschaft und bestimmte den W e g der Entwicklung des gesamten Ungartums. Es ist sicher nicht überflüssig, einen Blick auf die Eigenheiten seiner Entwicklung zu werfen, die von der Landesentwicklung abweichen. Die ungarische Kultur — darüber haben wir schon kurz gesprochen — war bis zum A n f a n g des 19. Jh.s mit der Kultur der ländlichen Adelskurien und der D o r f p f a r r e i e n beinahe identisch. U n g a r n hatte keine Großstädte im westlichen Sinne, auch keine Fürstenhöfe (seit dem Ende der siebenbürgischen Selbständigkeit). Die städtische Lebensform selbst scheint der ungarischen Seele

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Die soziale S t r u k t u r der ungarischen Gesellschaft

f r e m d zu sein. Die ungarischen adligen H e r r n kamen höchstens zu Versammlungen dorthin, oder wenn sie vermögender waren, hielten sie sich im W i n t e r übergangsweise in den Komitatssitzen auf. Ofen-Pest hatte damals kaum eine größere Bedeutung als die einer Komitatshauptstadt. Die Änderung erfolgte in der ersten H ä l f t e des 19. Jh.s, als die ungarischen romantischen Dichter die Hauptstadt zum ungarischen geistigen Z e n t r u m ausbauten. Das klassische Gebäude des Nationalmuseums prunkte damals schon dort am Rande der Stadt, bald wurde der ein J a h r h u n d e r t alte ungarische Traum, die Akademie der Wissenschaften, verwirklicht, durch die Opferbereitschaft des Volkes wurde das Nationaltheater erbaut, Stephan Szechenyi schuf das Nationalkasino und plante schon die Kettenbrücke, Andreas Fäy gründete die erste ungarische Sparkasse. Die nationalen Schriftsteller t r a f e n sich in der Kisfaludy-Gesellschaft, Kossuth redigierte das „Pesti H i r l a p " (Pester Nachrichtenblatt), Vörösmarty trug im Nationalen Kreis seine neuesten Dichtungen vor, das Komitatshaus widerhallte von den Diskussionen der größten ungarischen Politiker, die Jugend sammelte sich um Alexander Petöfi. Die Geschwisterstadt (auch Altofen mit einberechnet) hatte damals noch nicht mehr als hunderttausend Einwohner, deren überwiegende Mehrheit von Deutschen und Slawen gebildet wurde, es kann aber trotzdem kaum zweifelh a f t sein, daß so viele große ungarische Institutionen, so viel bedeutende ungarische Talente bei bewußter politischer Leitung immer mehr wurzelechte Elemente aus der Provinz an sich gezogen hätten und in ein paar Jahrzehnten das Herz des Landes zu einer ungarischen Stadt gemacht und den ländlichen Magyaren zu einem Städter assimiliert hätten. Im Jahre 1850 war nämlich auch die österreichische Volkszählung gezwungen, schon 36,6% U n g a r n in Budapest zuzugeben. W i r wissen, daß es nicht so gekommen ist, und wir haben gesehen weshalb: es gelang der absolutistischen Zeit Budapest wieder in eine deutsche Stadt umzuwandeln. Inzwischen war bis zum J a h r e 1869 die Seelenzahl der Bevölkerung auf 270 000 gestiegen. Gleichzeitig wurden aber insgesamt nur 13 000 Reformierte gezählt (der Anteil der Nationalitäten wurde leider nicht festgestellt), sie sind diejenigen, von denen wir sicher wissen, d a ß sie U n g a r n waren. Das Einströmen der Juden in die Hauptstadt hatte schon f r ü h e r begonnen, nahm aber jetzt einen größeren A u f schwung an. Im J a h r e 1869 ist ihre Seelenzahl (in runder Zahl) 45 000, im J a h r e 1900 166 000, 23% der Gesamtbevölkerung. Im

Budapest und seine geistige Bedeutung

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J a h r e 1910 leben in Budapest 63 000 Reformierte, 427 000 Katholiken und 37 000 Lutheraner. Im Hinblick darauf, daß die ursprünglich deutsche Bevölkerung der Stadt katholisch und die ursprünglich slowakische Bewohnerschaft lutheranisch war, ist unter den Budapester Katholiken und Lutheranern der Anteil der historischen Ungarn sicherlich bedeutend geringer als unter Landesverhältnissen, wo er bei den ersteren ungefähr 50%, bei den letzteren ungefähr 20% ausmacht. So bildet das historische Ungartum kaum mehr als 15 bis 20% der Gesamteinwohnerschaft Budapests. Budapest wurde, an der Vergangenheit gemessen, eine Weltstadt, und wenn es sich auch in der Sprache rasch magyarisierte, so blieb es trotzdem fremd. In der Leopoldstadt und auf der Andrässy-Straße erhoben sich die schönsten Paläste, und dabei wohnte jeder vierte Budapester Einwohner im Keller oder in Schlafstelle. Der ungarische Bauernbursche oder das Bauernmädchen aus der Tiefebene dienten fremden Herren, wie der Szekler in Bukarest. Nach zeitgenössischen Zeugnissen konnte man schon damals im Theater, in Konzerten und in Kunstausstellungen kein ungarisches Gesicht sehen. Das Judentum verkündet in seinen eigenen Organen mit Stolz: „Die Sämänner der menschlichen Kultur waren immer die Juden, auch das kommende J a h r h u n d e r t bereiten die Juden vor" („A H e t " — Die Woche 1893). Sie schufen das, „was der magyarische „ H e r r " nicht konnte oder nicht wollte: Industrie, Handel, Geldwirtschaft und das Zeitungswesen und anderes" (a. a. O. 1900). U n d so wurde aus dem deutschen Pest-Ofen eine der größten jüdischen Metropolen Europas. Dieses Vordringen des Judentums ist nicht nur eine ungarische Erscheinung. Die jahrhundertelang unterdrückten Energien des aus dem Ghetto befreiten Volkes suchen in der 2. H ä l f t e des 19. Jh.s mit phantastischem Erfolge überall nach Geltung. In England lenkt der Jude Lord Beaconsfield die englische Weltpolitik, in Paris ist Bergson der gefeierte Philosoph der Zeit. Auf den Pariser Bühnen applaudiert man Sarah Bernhard und spielt die Stücke jüdischer Schriftsteller (Bernstein, Verneuil), der Däne Brandes, der Bahnbrecher Ibsens, ist der volkstümlichste Literaturhistoriker der Zeit, in Berlin feiert Reinhardt Triumphe und revolutioniert das Theater, der Wiener Freud beeinflußt mit seiner Sexualpsychologie die Roman- und Dramenliteratur der ganzen Zeit, auf den gesamten Geldmärkten der W e l t herrschen die österreichischen, deutschen, englischen und französischen Rothschilds.

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D i e soziale S t r u k t u r

der u n g a r i s c h e n

Gesellschaft

Das ungarische Judentum produzierte keine ähnlichen in die Welt hinausposaunten Größen, aber in einem übertraf es das Judentum der gesamten westlichen Großstädte, durch seine Zahl. Dadurch erreichte es die unerhörte Intensität seines Einflusses: „Das Herz des Landes war das Medium, wodurch die Kultur der neuen jüdischen Intelligenz mit gleichmäßigem Druck das Land durchströmte", sagt Szekfü. Aber nicht nur durch seine Z a h l und seine intensive W i r k u n g unterschied es sich vom westlichen Judentum. Der deutsche J u d e hatte eine deutsche Bildung, der Franzose eine französische, der ungarische eine Mischbildung. .,Wir wären dumm genug, wenn wir glaubten, — schreibt im Jahre 1895 ein Zeitgenosse — daß man nur mit Schlagworten, oder auch mit Gewalt eine mehr als 1000 Jahre alte Volksrasse in unsere Rasse einschmelzen könne." U n d dies wäre in einer Generation, bei einer so großen Menge sicherlich auch dann nicht gelungen, wenn der Ungar die lebenskräftigste und aktivste Rasse der Welt gewesen wäre. Das Budapester Judentum, das ständig fluktuierte, hätte außerdem von der ungarischen Intelligenz eingeschmolzen werden müssen, die in der Hauptstadt sowieso zum großen Teil aus in der ersten oder der zweiten Generation Assimilierten bestand. Und so entstand in Budapest, in dieser sonderbarsten und trotzdem so sehr den U n g a r n ans Herz gewachsenen Weltstadt, eine merkwürdige Kultur, die man f ü r ungarisch hielt und die in einer besonderen Sprache redete, die man Ungarisch nannte. Die Bedeutung dieser Tatsache können wir dann wirklich erfassen, wenn wir überlegen, daß seit dem Ausgleich Budapest die ungarische Kultur bedeutete. Die Provinzstädte waren nur ein blasser Abglanz, wo man nur Zeitungen las, aber keine Bücher. Andreas Ady erwähnt, daß man in Landschlössern, die einstmals durch ihre Bibliotheken berühmt waren, kein Buch jüngeren Datums als vom Jahre 1880 fand. Damals wurde die Budapester Presse zu einer Macht im Lande, die die nationale öffentliche Meinung schuf und lenkte. Die Verlage der Hauptstadt überschwemmten das L a n d mit ihren Büchern, in den Budapester Theatern entschied sich nicht nur der einheimische, sondern der Welterfolg eines jeden ungarischen Stückes, die hier erscheinenden schönliterarischen und wissenschaftlichen Zeitschriften bestimmten den W e r t einer jeden Art von Talent. Zwischen der Hauptstadt und der Provinz klaffte eine immer größere Kluft. Die Kulturleistung Budapests diente sowieso in erster Linie dem Budapester Publikum. Dieses Publikum urteilte. Sein Geschmack lobte und verdammte und entschied über

B u d a p e s t u n d seine geistige B e d e u t u n g

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die L a u f b a h n von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern. Die kapitalistischen Kulturunternehmungen waren fast ohne Ausnahme in jüdischer H a n d . Die Akademie, die Kisfaludy-Gesellschaft u n d das Nationaltheater, die den einstigen Stolz des ungarischen Schaffens darstellten, erregten nur dann das Interesse des Publikums, wenn sie in das Kreuzfeuer der konzentrierten Angriffe der Budapester Presse gelangten. Denn dieses Publikum wußte nichts mehr von nationalen Traditionen. Im Durchschnitt war es noch fremder als die Landesintelligenz. „Der ursprüngliche Magyare ist noch immer f r e m d in der Hauptstadt des Landes", schreibt A l a d ä r Schöpflin im J a h r e 1908 in seiner schönen Studie über „Die Stadt". Die ungarischen H e r r e n hielten im Parlament Reden über 1848 und 1867, aber auch sie wurden keine Stadtbewohner. Der historische U n g a r lebte in den untersten Regionen der Einwohnerschaft und spielte keine Rolle. Er assimilierte nicht, sondern wurde an die neue Kultur und an die neue Sprache assimiliert. „Bei uns entsteht eine neue ungarische Sprache — schreibt Johannes V a j d a im J a h r e 1895, — die von einer fremden Rasse gemacht wird, die von einer dem Ungarn gerade entgegengesetzten N a t u r ist: ist es nicht beinahe sicher, d a ß diese neue Sprache im ursprünglichen ungarischen Geist Modifizierungen und Änderungen hervorrufen wird, und zwar eine verhängnisvoll nachteilige und möglicherweise lebensgefährliche!?" Auch f ü r die westlichen Kulturen bedeutet der W a n d e l der Zeit eine große innere Umgestaltung: von den uralten Formen zu den großstädtischen Formen der kapitalistischen Zeit, von der ursprünglichen und instinktiven Naturauffassung zum fremden Lebensgefühl des modernen Stadtmenschen. In U n g a r n bedeutete dieser W a n d e l eine Revolution, ohne Übergang, mit fremden W a f f e n , mit f r e m d e n Kämpfern und auf f r e m d e m Schlachtfeld. Nach der J a h r h u n d e r t w e n d e beginnt das Ungartum immer mehr das Leben Budapests zu durchdringen, seine allgemeine rassische Regeneration macht sich bemerkbar und zwar an zwei entgegengesetzten Polen: in der Tiefe der namenlosen Masse und in der W e l t der höchsten Geistigkeit. „Die Söhne der einstmaligen Dorfadligen leben in der Stadt ein Akademikerleben, — schreibt Schöpflin — der Nachfolger des ungarischen Dorfstiefelmachers näht in der Stadt feine Schuhe, und der Nachkomme von Bauernvätern arbeitet bei Fabrikmaschinen, f ü h r t eine Lokomotive oder eine Elektrische und stellt Briefe zu." J a , diese namenlose Masse

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D i e soziale S t r u k t u r

der ungarischen

Gesellschaft

steigt langsam nach oben, dorthin, wo damals schon von der ungarischen Scholle stammende Dichter und Gelehrte an der Schöpfung der wurzelhaft ungarischen und trotzdem europäisch-modernen Geistigkeit arbeiten. Nach den wenigen J a h r z e h n t e n der Überfremdung, die eine Folge des großen Blutverlustes und der politischen Unterdrückung war, trat das historische U n g a r t u m wieder in das geistige und politische Leben ein und versuchte, von den uralten Quellen seines Volkstums gespeist, sein Schicksal nach eigenem Bilde zu formen.

II. DAS ZEITALTER DER

ASSIMILATION

•I. DAS LITERARISCHE LEBEN 1. G e n e r a t i o n e n u n d

Gruppen.

Zur Zeit des Ausgleichs hielt die unter der geistigen Leitung des Romanciers Baron Sigmund Kemeny stehende sogenannte literarische Deäk-Partei die Führung des ungarischen literarischen Lebens in ihrer H a n d . Sie hatte in der Zeit des Absolutismus den ungarischen Klassizismus — die einmalige wunderbare Blüte des ungarischen Geistes — geschaffen und ihn dem allgemeinen Bewußtsein vermittelt, und gleichzeitig nahm sie als der literarische Rückhalt des ungarischen Staatsmannes Deak an der politischen Arbeit d i r neuen Staatsschöpfung teil. Ihre Reihen hatten sich in wenigen Jahren stark gelichtet. Emmerich Madäch, der Dichter der ,.Tragödie des Menschen", erlebte schon nicht mehr den Ausgleich, Eötvös, dem Schriftsteller und Kulturpolitiker, beließ das Schicksal insgesamt vier Jahre, um seine Ideen als erster parlamentarischer Kultusminister Ungarns zu verwirklichen. Kemeny aber beraubte es auch der Möglichkeit, sich mit gesundem Geiste der Früchte seiner Arbeit zu erfreuen. Oder müssen wir vielleicht eher die Gnade des Schicksals loben, d a ß sie davor bewahrt wurden, den verhängnisvollen W e g der weiteren Entwicklung zu sehen?! Sogar der Führer, Franz Deak selbst, starb im J a h r e 1876 enttäuscht und von Sorgen aufgerieben. Johannes Arany, die bedeutendste Gestalt der literarischen Deak-Partei, zog sich nach dem Tode seiner Tochter gänzlich aus dem literarischen Leben zurück, unter seinen geliebten Linden auf der Margareteninsel sann er über menschliches Schicksal, Alter, Vergänglichkeit des Ruhmes, über den Tod nach, um schließlich auch — am A n f a n g der neuen Zeit, der er innerlich fremd gegenüberstand — sich auf ewig zu entfernen. Diejenigen, die die Erbschaft dieser Großen antraten, an deren Seite sie zwei Jahrzehnte hindurch f ü r das wahrere U n g a r tum und f ü r einen geläuterten Idealismus gekämpft hatten, waren ihrer nicht unwürdig. Unter ihnen zeichnete sich vor allem Paul Gyulai aus. Die Blütezeit dieser Gruppe fällt in die Zeit des Absolutismus. Nach dem Ausgleich läßt ihre ursprünglich dichterische Tätigkeit immer mehr nach, nicht so sehr ihr W e r k ist bedeutend,

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1. Das literarische L e b e n

eher ihre Haltung. In der Politik harren sie bis zuletzt bei Deak aus, sie stellen sich gegen jederlei chauvinistische Übertreibung, hassen die Herrschaft der Phrase und sind Anhänger der nüchternen und realen Aufbauarbeit. Sie hatten die Niederlage im Freiheitskrieg viel zu intensiv durchlebt, sie hatten unter der Unterdrückung des Absolutismus viel zu tief gelitten, als daß sie die erreichten nationalen Errungenschaften hätten aufs Spiel setzen wollen. In der Literatur ist Johannes A r a n y ihr Ideal, er bedeutet für sie die vollkommenste Verkörperung des ungarischen Geistes, er ist das Vorbild, dem sie sich zu nähern wünschen, ohne ihn nachzuahmen. Nach dem Ausgleich sind alle amtlichen Machtmittel des literarischen Lebens in ihren H ä n d e n vereinigt. Alle sind bereits Mitglieder der Kisfaludy-Gesellschaft, der angesehensten literarischen Gesellschaft Ungarns, die meisten von ihnen auch der U n g a rischen Akademie der Wissenschaften. Ihr kämpferischer Geist, Paul Gyulai, ist der Redakteur der „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau), des vornehmsten literarischen Organs der Zeit, Abteilungssekretär der Akademie, Vizepräsident, dann zwei J a h r zehnte hindurch Präsident der Kisfaludy-Gesellschaft, der Nachfolger von Franz Toldy auf dem Lehrstuhl für ungarische Literatur an der Universität, Direktionsmitglied der Franklin-Gesellschaft und der Herausgeber der „Olcso Könyvtär" (Billige Bücherei). Es ist verständlich, daß er der verhaßteste literarische Führer der Zeit ist. In einer Gesellschaft ohne Grundsätze ist er der M a n n der Uberzeugung, der frei von jeder Eitelkeit ist und den seine Unpopularität wenig berührt. — Karl Szäsz, der mächtige reformierte Bischof, war seine rechte H a n d . Schon als sie in Siebenbürgen zusammen auf die Schule gingen, waren sie durch eine warme Freundschaft verbunden, die nie durch das geringste Mißverständnis gestört wurde. Karl Szasz wurde mehrmals zum zweiten Vorsitzenden der Akademie gewählt und ist neben Gyulai bis zuletzt Vizepräsident der Kisfaludy-Gesellschaft. — Nikolaus Nagy, der gleichfalls aus Siebenbürgen nach Budapest gekommen war, redigiert mehr als drei Jahrzehnte hindurch die „Vasärnapi U j s ä g " (Sonntagszeitung), Karl V a d n a y hält das wichtigste literarische Blatt der Zeit, die „Fövärosi Lapok" (Hauptstädtische Blätter), in seiner H a n d . Diese Schriftstellergruppe wird durch zwei auffallende E r scheinungen gekennzeichnet: mit geringen Ausnahmen sind sie alle Kalvinisten und alle erreichen ein sehr hohes Lebensalter.

G e n e r a t i o n e n und G r u p p e n

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Ihr Kalvinismus hat kein bekenntnismäßiges G e p r ä g e : Er bedeutet aber eine umso entschiedenere seelische und blutsmäßige Stellungnahme zu den Erscheinungen des Lebens, des ungarischen Lebens. Der ungarische Kalvinismus, besonders der siebenbürgische, ist ein Jahrhunderte altes ungarisches Geistesgut, das Ergebnis eigenartiger Bildungslaktoren, dessen sämtliche Merkmale wir als wurzelecht ungarisch empfinden. Dies bedeutet nicht, daß der katholische U n g a r nicht ebenso ein guter U n g a r wäre wie der Kalvinist, 50% der ungarländischen Katholiken sprechen aber eine fremde Muttersprache oder sind fremder Abstammung, während die ungarländischen Kalvinisten sich zu 99% aus dem geschichtlichen U n g a r t u m zusammensetzen. So kommen bei den Kalvinisten gewisse, begrifflich kaum bestimmbare massenpsychologische Gesetze zur Geltung, wodurch sowohl das öffentliche Bewußtsein wie auch ihr eigenes Selbstbewußtsein einen ursprünglicheren U n g a r n in ihnen sieht als in denen, die anderen Bekenntnissen angehören. M a n könnte darüber streiten, ob dies berechtigt ist, die geschichtliche Erscheinung aber selbst kann nicht in Zweifel gezogen werden. Auch das literarische Bewußtsein der Zeit nannte das L a g e r um Gyulai gern „kalvinistische Clique". „ I n der literarischen Welt weiß jeder — schreibt Johannes Asboth im J a h r e 1876 — daß auch heute noch für jeden, dessen Ehrgeiz es ist, Gefährte der Mediokritäten der Akademie oder der Kisfaludy-Geseilschaft zu sein, es ein halber E r f o l g ist, wenn er ein Kalvinist ist, — ein großes Hindernis, wenn er J u d e , Katholik oder Lutheraner ist." Der Kalvinismus der Gyulaipartei war aber nicht so sehr bewußt oder mit Absicht exklusiv: in die Kisfaludy-Geseilschaft und in die Akademie kamen dann und wann auch Katholiken oder gar Juden. Trotzdem bemühten sie sich, die Führung in ihrer H a n d zu halten, was ihnen bis zum E n d e des Jahrhunderts sowohl in der Akademie als auch in der Kisfaludy-Geseilschaft in vollem Maße gelang. In dieser H a l t u n g wurden sie sicherlich von ihrem Instinkt geleitet: sie glaubten, die von ihnen behüteten nationalen Traditionen so am besten sichern zu können. Nicht weniger wesentlich ist ihre andere a u f f a l l e n d e Eigenschaft (wenn man dies so nennen kann): ihr besonders hohes Lebensalter, mit dem sie ihr Geschick beschenkte. D a s Lebensalter spielt eine wichtige Rolle sowohl in dem W e r k e der einzelnen Dichter wie auch in der Entwicklung des literarischen Lebens. W e n n A r a n y im Alter von 26 J a h r e n wie Petöfi gestorben wäre, würden heute nur gewissenhafte Literaturhistoriker seinen N a m e n

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1. Das literarische L e b e n

kennen. W e n n Gyulai Madachs Schicksal geteilt hätte, hätte die neuere Entwicklung der ungarischen Literatur gewiß eine andere (noch schlimmere) W e n d u n g genommen. Aber der Kreis um Gyulai erreichte ein hohes Lebensalter voll von Lebenskraft in schöpferischer und organisatorischer Arbeit, neben ihnen wuchsen Generationen auf und gingen unter, aber sie hielten bis zum Ende des Jahrhunderts die Macht unverändert in ihrer H a n d . Ohne sie wäre das behütete Vestafeuer der nationalen Tradition sicher erloschen, sie selbst aber schauten sich immer fremder in der stürmisch sich wandelnden ungarischen W e l t um, immer enger wurde um sie der Ring der Isolierung, und sie lebten noch zum Teil, als eine neue ungarische Generation sie wieder gleichsam neu entdecken mußte. Ihnen zur Seite gingen zwei Zeitgenossen, die zur Zeit des nationalen Erwachens des Ungartums mit ihnen zusammen a u f gebrochen waren, die aber ihre lange L a u f b a h n unabhängig von ihnen, oft im Gegensatz zu ihnen gegangen waren: Maurus Jokai und Johannes V a j d a . Maurus Jökai wurde durch sein revolutionäres politisches Bekenntnis in den 60er Jahren ins Lager der Opposition geführt, er redigierte eine Tageszeitung, die Deäk und den Ausgleich mit Österreich angriff, und so gelangte er schon damals zur literarischen Deäk-Partei in Gegensatz, obgleich er Mitglied der amtlichen literarischen Gesellschaften war. Nachdem er später zusammen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Koloman Tisza seine politischen Grundsätze von 1848 aufgegeben hatte, wurde der einstmalige Revolutionär mit höfischen Ehren überhäuft. Sein Lebenselement war die Volkstümlichkeit, er liebte die Großlinigkeit des Lebens, und so konnte seine sonst so sympathische Persönlichkeit nicht den Beifall der puritanischen Denkweise Gyulais und seines Lagers gewinnen. Dazu kamen literarische und literaturpolitische Gründe, die noch zu behandeln sind. Jokai brauchte übrigens gar keinen Schriftstellerkreis oder eine Schriftstellergemeinschaft. Seine Gemeinschaft war das ganze ungarische Lesepublikum, das ihm Jahrzehnte hindurch mit besonderer Begeisterung huldigte. Seit den 70er und 80er J a h r e n nahm er an dem literarischen Leben kaum noch teil. U n d während er kaum einen Klubabend im Parlament versäumte, schickte er zu den Festsitzungen der Petöfi-Gesellschaft höchstens eine Handschrift, die von einem anderen vorzulesen war. Er w a r der Chefredakteur einer großen Tageszeitung, aber er kannte nicht einmal ihre inneren Mitarbeiter. U m die jungen Schriftsteller kümmerte er sich nicht. Er lebte

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Generationen und Gruppen

seinen Romanen und in seinen Romanen. Er erreichte ein fast so hohes Lebensalter wie sein großer literarischer Gegner Paul Gyulai. Aber während den von so vielen gehaßten Gyulai am E n d e seines Lebens späte Liebe zu umgeben begann, wurde J ö k a i s warmes Herz vom Reif der Unpopularität berührt. G a n z anders, beinahe entgegengesetzt, gestaltete sich die L a u f bahn von Johannes V a j d a , dem großen Einsamen der Zeit. In den M ä r z t a g e n des J a h r e s 1848 hatte auch ihn, so wie Petöfi und Jökai, der Rausch der Begeisterung erfaßt, dann aber zollte er reichlichen Tribut dem Vaterlande als Honvedoffizier und später, ein Märtyrer der Unterdrückung, als gemeiner Soldat des österreichischen Heeres. A l s er zurückgekehrt war, berief er sich nicht auf seine Lorbeeren: auch er wurde das Opfer der großen Enttäuschung, in der A r a n y die Kagyidai cigänyok (Die Zigeuner von N a g y i d a ) schrieb. D a s Leben zwang ihn dazu, in der Zeit des Absolutismus eine Stellung vom Feinde anzunehmen, sein Gewissen trieb ihn in den 60er J a h r e n mit zwei Flugschriften, die die nationale Selbsterkenntnis forderten und harte W o r t e gebrauchten, vor seine Nation zu treten. D i e Nation verzieh ihm weder das erste noch das zweite. Der einzige, der ihm die helfende H a n d reichte, war der Führer der literarischen D e ä k - P a r t e i : Sigmund Kemeny. Er ließ ihn im J a h r e 1870 in die Kisfaludy-Gesellschaft wählen, rehabilitierte ihn vor dem L a n d e und g a b ihm seine Lust zur Arbeit zurück. Nikolaus N a g y nahm ihn in die Redaktion der „ V a s ä r n a p i U j s ä g " auf und sicherte ihm seine Existenz. D i e Kisfaludy-Gesellschaft g a b im J a h r e 1872 seinen Gedichtband heraus. M a n kann also nicht sagen, daß die „kalvinistische Clique", wie er es glaubte und verkündete, in ihm den Katholiken und das Genie verfolgt habe. E s unterliegt keinem Zweifel, daß man seine leidenschaftliche und gespaltene Persönlichkeit als fremd empfand, und obgleich m a n sein Talent immer anerkannte, hielt man ihn doch nicht für einen außerordentlich großen Dichter. V a j d a zog sich immer mehr in seine Einsamkeit zurück und schrieb der Partei Gyulais die Verantwortung d a f ü r zu, daß er kein Lesepublikum hatte. Er hat es aber in erster Linie den strengen Kritiken Gyulais zu verdanken, daß das L a g e r der Opposition, die Petöfi-Gesellschaft, in ihm den größten Lyriker der Zeit sah und auf sein Schicksal hinwies, wenn sie sich für ihre eigene Vernachlässigung rächen wollte. D a r i n besteht V a j d a s Bedeutung im literarischen Leben der Zeit.: er vertrat den Geist der Opposition gegenüber der sogenannten „volksnationalen Schule", obgleich er selbst nie ein angreifendes F a r k a s . Freiheitskampf

f.

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1. Das literarische Leben

W o r t geschrieben hat. Er war ein Banner, das auch später von vielen hochgehalten wurde, damit man sie selbst bemerkte. V a j d a selbst hatte kaum menschliche Beziehungen zu seinen Anhängern. Nach einer Aufzeichnung besuchten ihn im Kammon-Kaffeehaus insgesamt „zwei Judenknaben", die Gebrüder Palägyi, kein anderer, zwei f r ü h gereifte jüdische Schriftsteller, die, da sie kein Publikum hatten und keinen Widerhall fanden, sich an ihn klammerten. V a j d a nahm in herzlicher Herablassung ihre Dienste an und benutzte sie als Sprachrohr seiner nationalen Ideen, die die ungarische Rasse retten und erziehen sollten, während er selbst die politische Beilage der „Vasärnapi U j s a g " redigierte und „Ratschläge" in „Liebes- und Eheangelegenheiten" zusammenstellte oder sein Jägerfachbuch in immer wieder neuer Auflage dem Druck übergab. Er erreichte ein beträchtliches Alter, gegen Ende seines Lebens umgab ihn die Liebe seiner Dichterfreunde, seine letzten Tage wurden ihm durch geldliche Unterstützung von Seiten des Staates erleichtert. Sowohl Jokai als auch V a j d a trugen zur Isolierung der Gyulai-Partei bei. Der erste wandte durch seine außerordentliche Popularität das Herz des Publikums von ihnen ab, der andere — allein schon durch seine demonstrative Einsamkeit — stellte die jüngeren Schriftsteller in Schlachtordnung gegen sie auf. Es ist wirklich auffallend, in welchem luftleeren Raum die Führer der nationalen Literatur Jahrzehnte hindurch lebten und wirkten, d a ß es ihnen nicht gelang — trotz aller ihrer amtlichen Machtmittel — sich Schüler und Nachfolger zu erziehen, die ihren müde gewordenen H ä n d e n die Fackel hätten abnehmen können. Die jüngere Generation, die berufen war, die großen T r a d i tionen nicht nur fortzusetzen, sondern mit frischen Kräften zu beleben, ging in der Zeit des Absolutismus mit tragischer Plötzlichkeit zugrunde und verschwand. Es ist die Generation Karl Zilahys. Jünglinge, die am Ende der 30er J a h r e oder am A n f a n g der 40er J a h r e aus rein magyarischer, größtenteils kalvinistischer Familie geboren waren und den Rausch des Freiheitskampfes und die Qual der Unterdrückung als Kinder durchlebt hatten, die begeistert zu den literarischen Größen der Nation aufblickten, zu einem Kemeny und zu einem Arany, und die, wobei sie allem entsagten, ihre ganze Jugendbegeisterung und ihr Wissen in den Dienst des ungarischen Geistes stellen wollten. Es ist wahr, daß Karl Zilahy, den diese Generation neben Ludwig Tolnai als ihren Führer an-

Generationen und Gruppen

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sah, harte Fehden mit Paul Gyulai ausfocht, aber es wäre ein naiver Anachronismus, wenn m a n behaupten wollte, daß die Spaltung der ungarischen Literatur damit ihren A n f a n g genommen hätte. Sogar Ludwig T o l n a i stellt in seiner Selbstbiographie fest, daß Gyulai und Zilahy derart „ins gleiche H o r n bliesen", daß man ihre Stimmen nicht voneinander unterscheiden könnte. D i e selbe seelische Einstellung, dieselbe Bildung spricht aus ihnen, denn es ist wirklich kein wesentlicher Unterschied, ob Zilahy seinen j u n g e n Freund Eugen B a j z a für den größten Dramatiker der Zeit hielt, Gyulai dagegen diese Meinung nicht teilte und die H o f f n u n g der Zukunft in Dominik Tisza sah, den wiederum Zilahy nicht schätzte. J o h a n n e s A r a n y liebte diese J u n g e n und publizierte bereitwillig ihre Arbeiten in seiner Zeitschrift. T o l n a i war sein Schüler in Nagykörös gewesen, auch in Pest ebnete er ihm den W e g . D e r j u n g e A n f ä n g e r widmete ihm seinen ersten Gedichtband. Auch Z i l a h y ehrte A r a n y , er war lieber bei ihm Korrektor als in Szilägy Stuhlrichter. M i t der Zeit wären die sich bei j e d e r Generationsablösung meldenden Gegensätze sicher verschwunden, und die beiden Generationen wären in gemeinsamer Arbeit miteinander verschmolzen. D a s ungarische Schicksal wollte es nicht so. K a r l Zilahy, sein Dichterbruder Emmerich, Eugen B a j z a , Dominik T i s z a brachte das damalige Verhängnis der ungarischen Dichter, die Lungenschwindsucht, in den 20er J a h r e n ins Grab, Severin Reviczky wurde das Opfer eines Duells, J o h a n n e s Dömötör, der zusammen mit seinen Freunden die W e r k e K a r l Zilahys herausgab und sein Leben beschrieb, setzte seinem Leben selbst ein Ende. Für diese ganze Generation trifft zu, was Gyulai auf den T o d Zilahys schrieb: „Nicht so sehr das, was er war, sondern was er vielleicht hätte werden können, nicht so sehr seine Vergangenheit wie seine Zukunft drückt den Verlust der Literatur aus." A b e r nicht nur diese zusammenhaltende Generation wurde j u n g vom T o d e dahingerafft, sondern auch ihre Zeitgenossen, die später begannen, Schriftsteller, die demselben Boden entsprossen waren und ihr reines M a g y a r e n t u m in das literarische Leben der 70er J a h r e hineintrugen: Eduard T o t h und Franz Csepreghy. D e r erste, der hungernde Wanderschauspieler, wurde, kaum daß er den großen E r f o l g seiner Volksschauspiele erlebt hatte, im A l t e r von 32 J a h r e n von der Lungenschwindsucht dahingerafft, der andere, der einstmalige Tischlergeselle, im A l t e r von 38 J a h r e n . Diese Generation, die sympathische und tragische Generation der „ T r ä u m e r " , fiel wirklich vollkommen aus. Nur einer von ihnen

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1. Das literarische Leben

erkämpfte sich einen Platz im literarischen Leben, nicht so sehr durch seine unvergleichlich reiche literarische Produktion, als vielmehr durch seine kämpferische Stellungnahme: Ludwig Tolnai. Sein Schicksal zeigt viel Gemeinsames mit dem V a j d a s . Ein individuelles Schicksal, das nicht f ü r die Zeit charakteristisch ist, wie man es oft darzustellen beliebt, sondern nur f ü r den Schriftsteller selbst. Die Partei Gyulais gab ihm bei seinem Auftreten alle Unterstützung, an der ein junger Dichter nur teilhaben kann: kaum war sein erster Gedichtband erschienen, da wählte man ihn im Alter von 29 Jahren in die Kisfaludy-Gesellschaft, man half ihm auf seiner Lebenslaufbahn, die in das reformierte Pfarrhaus zu Marosvasärhely, auf den Schauplatz bitterer Kämpfe und Enttäuschungen, geführt hatte. Seine schöne Doktordissertation über Michael Tompa wurde von Gyulai in der „Budapesti Szemle" veröffentlicht, und auf Grund derselben machte er ihn sofort zum Privatdozenten an der Universität Budapest. Und trotzdem: Gyulai hatte in seinem ganzen Leben keinen gehässigeren und agressiveren Gegner als Ludwig Tolnai. Es scheint, als ob er eine ganze Reihe von Romanen und Erzählungen nur deshalb geschrieben hätte, um Gyulai und seinen Freunden zu schaden, indem er sie unter durchsichtigen Namen auftreten ließ, wobei er sie dem Spott und der Verachtung preisgab. In seiner Zeitschrift „Irodalom" (Literatur) griff er in den 80er Jahren besonders Gyulai, und zwar in der gehässigsten und persönlichsten Weise an, nur daß er ihn darin nicht gerade des Vatermordes anklagte. Aber ebenso griff er auch Arany, seinen einstmaligen Lehrer und Meister, nach seinem Tode an. Dieser gleichsam pathologische H a ß , der die L a u f bahn eines großen ungarischen Romanciers, vernichtete, hatte persönliche seelische Gründe. Die Kritiken Gyulais gingen mit Tolnai nicht strenger um wie mit seinen besten Freunden, auf die Angriffe Tolnais reagierte Gyulai aber auch nicht. — Tolnai erreichte nur, daß alle, die Gyulai haßten, ihn als den größten Romanschriftsteller der Zeit feierten, und daß diejenigen, denen die nationale Tradition unbequem war und die Arany auch nicht verstanden, sich auf ihn als Autorität berufen konnten. Wahrlich eine traurige herostratische Rolle! Tolnai zahlte mit Elend und Einsamkeit dafür, die noch trostloser war als die V a j d a s . In den 80er Jahren standen ihm auch nur die beiden Palägyi bei, auch diese ließen ihn bald im Stich, als er sie in einem seiner Romane unter dem Namen Haläpi als elendes Geschwisterpaar auftreten ließ. In den letzten J a h r e n seines Lebens redigierte er mit Unterstüt-

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zung von A r m i n M u r ä n y i die „Kepes C s a l a d i L a p o k " (Illustrierte Familienblätter). Die M i t g l i e d e r dieser Generation stammten zum großen T e i l aus dem kalvinistischen A d e l , aus dem Adel, der in der Zeit des Absolutismus zugrunde gerichtet worden war. J e d e r bringt eine verhängnisvolle „väterliche Erbschaft" in der Form von Lungenschwindsucht oder seelischer Gespaltenheit mit. Ihr U n t e r g a n g ist umso beklagenswerter f ü r das ungarische Geistesleben, weil neben ihnen zur gleichen Zeit eine gesunde assimilierte Generation auftritt, deren seelisches Gleichgewicht nicht erschüttert ist, die mit frischer Energie, mit einer umfassenden Bildung a l l e jene Stellen einnimmt, die der ungarischen Generation zugestanden hätten. Diese J u n g e n kommen in den 60er J a h r e n in der „Kaveforras" (Kaffeequelle), dem T r e f f p u n k t der Budapester Literaten, zusammen. Ihr Senior und Organisator ist der jüdische Pressechef des ungarischen Ministerpräsidenten A n d r ä s s y s : M a u r u s Ludassy-Ganz, ihr geistiger Führer ist Eugen Rakosi (Kremsner), der noch vor kurzem im Selbstbildungskreis des ö d e n b u r g e r Benediktiner-Gymnasiums durch seine deutschen Gedichte auffiel. Dorthin kommt auch sein bester Freund aus seiner Schülerzeit Baruch Dux, der Sohn eines jüdischen Dorfkrämers aus dem Komitat ö d e n b u r g (Sopron), dessen N a m e n Rakosi in L u d w i g Döczi m a g y a r i s i e r t e . Beide w a r e n durch ein B a n d verbunden, das das ganze Leben l a n g währte. „Ich weiß — schreibt Rakosi in seinen Erinnerungen — daß unsere Freundschaft auf seine Entwicklung von sehr großem Einfluß war, und von mir kann ich sagen, d a ß w i e d e r u m n i e m a n d im Leben größeren Einfluß auf mich hatte als er." Zu ihrer Gesellschaft gehörte auch Adolf Ägai, dessen V a t e r unter dem Namen Rosenzweig aus Polen nach U n g a r n geflüchtet war, der deutsch-ungarische Schriftsteller L u d w i g H e v e s i - L ö w y , der Sohn Franz T o l d y Schedels, Stephan T o l d y , der Baron Ivor Kaas, der dänischer H e r k u n f t w a r , hier klopfte auch zuerst Joseph Kiss-Klein an. — Diese Gruppe hatte zu der ihr gleichaltrigen Gruppe Z i l a h y s keinerlei Beziehung. Rakosi schreibt zwar, d a ß es ihm g e l u n g e n sei, „sich an sie heranzuschlängeln", aber der g e f ü h l s m ä ß i g e B e i k l a n g dieses g e w i ß ungewollten W o r t e s w i r f t ein Licht auf die A r t dieser Beziehung. Die Partei G y u l a i s n a h m sie nicht mit B e f r e m d e n auf. Rakosi z. B. w u r d e schon im J a h r e 1869 im A l t e r von 27 J a h r e n M i t g l i e d der Kisfaludy-Gesellschaft (früher als der viel ältere V a j d a ) . Eine seelische V e r b i n d u n g k a m aber zwischen dem L a g e r G y u l a i s und Rakosis nicht zustande und konnte auch nicht zustande

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kommen. Das Café „Kávéforrás" war — wie ein ungarischer Literaturhistoriker sagt — die erste christlich-jüdische Vereinigung in der neuen ungarischen Literatur. Ihre deutsch-jüdischen Mitglieder bemühten sich ehrlich, vielleicht mit fast übertriebenem Eifer, sich zu assimilieren, aber sowohl in ihren literarischen Offenbarungen wie in ihrer seelischen Einstellung unterschieden sie sich von G r u n d auf von den Rasseungarn. Schon Johannes Asbóth hebt ihr Pseudo-Ungartum hervor: „ W e n n wir schon ein Rassengepräge in ihnen suchen, dürfen wir kein ungarisches, sondern müssen ein jüdisches Rassengepräge annehmen." Die Partei Rákosis versuchte gar nicht einmal, im Rahmen der amtlichen Literatur ihre Position auszubauen, sie überließ dies ohne jeden Kampf Gyulai und seinen Freunden. Eine umso größere Macht übten sie in den Organisationen des öffentlichen und literarischen Lebens aus, die von ihnen geschaffen worden waren, so daß man in den 90er J a h r e n schon mit Recht von der Herrschaft der Rákosi-Dynastie und von dem „Königreich" des ungarisch-jüdischen Dichters Joseph Kiss sprechen konnte. D a die Mitglieder dieser literarischen Gruppe mit geringen Ausnahmen ein hohes Lebensalter (Rákosi lebte 87, Ágai 80, Dóczi 74 und Joseph Kiss 78 Jahre) erreichten, so konnte ihr Einfluß ein halbes J a h r h u n d e r t hindurch direkt zur Geltung kommen. Rákosi gründet in den 70er J a h r e n das Volkstheater, wo er seine beiden Schwager unterbringt. D a n n konzentriert er seine große Organisationskraft auf das „Budapesti H i r l a p " (Budapester Nachrichtenblatt), wo er seinem jüngeren Bruder, Viktor Rákosi, ein weiteres Wirkungsfeld bietet. So reicht seine H a n d überall hin: Minister suchen seine Freundschaft, in der Politik, in der Kunst und in der Wissenschaft spricht er ein entscheidendes W o r t . — Sein Freund, Ludwig Dóczi, ist der hochangesehene Beamte des W i e n e r Außenministeriums. Er gibt sich nicht mit seinen ungarischen literarischen Lorbeeren zufrieden, er strebt auch nach deutschem Dichterruhm. Der König baronisiert ihn (Rákosi muß sich mit dem ungarischen Adel zufrieden geben). A m spätesten setzt sich Joseph Kiss durch, um dann mit der Zeitschrift „ A H é t " (Die Woche) ein literarischer Führer der Zeit zu werden. — W ä h r e n d um die Partei Gyulais die Leserschaft immer mehr schwindet, ist die Partei Rákosis in der gemischten neuen ungarischen Gesellschaft zu Hause, sie bildet den Geschmack, formt das politische Denken und lenkt die öffentliche Meinung: die Massen folgen ihr. Zusammen mit ihnen treten in der Literatur und Geschichtswissenschaft eine ganze Reihe von Altersgenossen deutscher und

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jüdischer Abstammung auf. Es nimmt im ungarischen Geistesleben die Assimilationsströmung ihren A n f a n g . Aber diese Assimilierten, ob jüdischer oder deutscher Abstammung, wuchsen noch in eine ungarische geistige Atmosphäre hinein: sie hätten etwas gehabt, woran sie sich hätten assimilieren können. Den meisten war ihr U n g a r tum nicht ein prunkvolles Kleid, das sie eilends anzogen, sondern ein Seelenzustand, eine Überzeugung, wofür sie lebten und starben. U n d wenn Gyulai sie auch als fremd empfand, so würdigte er doch ihren Willen und ihren Eifer. D a f ü r konnten sie nicht, daß ihr Instinkt unsicher war. In j e d e m überzeugten Deutschen, seltener im J u d e n , sahen sie eine unangenehme Erinnerung an eine Vergangenheit, die sie eilends auslöschen und vergessen und noch eher vergessen machen wollten, und deshalb war ihr hauptsächlichstes politisches und literarisches P r o g r a m m die unbarmherzige Magyarisierung. Räkosi griff sogar die Akademie und auch Paul Gyulai an, weil er ihren Geist nicht für genügend ungarisch hielt. Nach dem Auftreten der Räkosi-Partei erscheint mehr als zehn J a h r e in der ungarischen Literatur keine Schriftstellergruppe, die wir als Generation bezeichnen können. Es kommen einzelne, die zur Zeit des Freiheitskampfes geboren sind, und deren Kindheitserlebnisse in die Zeit des Absolutismus fallen, in eine für ihre Entwicklung sehr ungünstige Atmosphäre, und die dann Möglichkeiten suchen, sich durchzusetzen. Solche sind die Brüder Kornelius und Emil Äbranyi, Dichter und Politiker und leidenschaftliche Oppositionelle wie ihr Zeitgenosse L u d w i g Bartok. Ob sie einen Leitartikel oder eine Dichtung schreiben, sie dienen immer in erster Linie der Politik. In der Literatur ist die Petöfi-Gesellschaft der Grund, wo sie Fuß fassen und den H a ß gegen die Einrichtungen der nationalen Literatur und deren Vertreter schüren. Ihre Bundesgenossen suchen und finden sie unter den frisch Assimilierten, besonders unter den Juden. Emil Äbranyi redigiert zusammen mit Melchior P a l a g y i die Zeitschrift der Petöfi-Gesellschaft, den „ K o s z o r ü " (Kranz), Kornelius Äbranyi ist in den 90er J a h r e n der Chefredakteur des „Pesti N a p l o " (Pester Tageblatt), das unter der geistigen Leitung von Isidor B a r n a und Isidor Kälnoki steht. Einen entscheidenden Einfluß übt ein halbes Jahrhundert lang ihr Altersgenosse Zsolt Beöthy aus. Auch der A n f a n g der L a u f b a h n Beöthys wird durch ein etwas ungewisses Suchen charak-

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terisiert. Zuerst ist er Jurist und Ministerialbeamter, dann geht er zur Lehrerlaufbahn über. Er veröffentlicht Romane und Verserzählungen, und später schreibt er auf G r u n d des Materials von Toldy, aber im Geiste Gyulais seine zweibändige Literaturgeschichte f ü r den Schulgebrauch. Dadurch erwirbt er sich im Lager der Opposition zahlreiche Feinde, obwohl er bei weitem keine so kämpferische Natur ist wie sein Meister Paul Gyulai. Er bemüht sich mit jedem gut zu stehen, besucht sogar zuweilen den Stammtisch Vajdas, mit Räkosi steht er in Familienverbindung, er liebt und ehrt Jokai, einer seiner besten Freunde ist Bernhard Alexander, der beliebte jüdische Feuilletonist Räkosis. Er spielt eine bedeutende Rolle in der Akademie, ist bis zum Ende des Jahrhunderts Sekretär der Kisfaludy-Gesellschaft und in der Universität in sehr jungem Alter Nachfolger des Ästhetikers Greguss. Seine Frau ist eine gefeierte Schauspielerin, sein Sohn Ladislaus eine Zeitlang Direktor des Nationaltheaters. Im Besitz von soviel Macht und Einfluß lenkt er nicht so sehr, sondern paßt sich eher an: eine typische Erscheinung der Assimilationszeit, wenn auch vom höchsten Niveau. Aus härterem Holz war Julius Vargha geschnitzt. Er begann seine lange L a u f b a h n mit melancholischen lyrischen Gedichten und setzte sie als Statistiker fort. Als Schwiegersohn des reformierten Bischofs Karl Szäsz wurde ihm oft zum Vorwurf gemacht, wenn auch sehr zu Unrecht, daß er seinen literarischen Erfolg dieser hohen verwandschaftlichen Verbindung zu verdanken habe. Es gab wenige in dieser Zeit, die dermaßen alle brennenden Probleme der Zeit gefühlt haben wie er. Bei aller lyrischen Zartheit ließ er nicht mit sich handeln und schreckte niemals davor zurück, f ü r seine Ideen einzutreten. Unter den Jungen war er der würdigste W a f f e n g e f ä h r t e Gyulais. U m die Jahrhundertwende übernimmt er mit Beöthy das Erbe der sich zurückziehenden Großen in der Kisfaludy-Gesellschaft, aber diese ihre Wirksamkeit gehört schon in ein anderes Kapitel. Aus dieser Gruppe von Altersgenossen fand Gyulai noch einen bedeutenden Mitarbeiter: Eugen Peterfy. Der Katholik Peterfy ist von ganz anderer seelischer Struktur wie seine kalvinistischen Altersgenossen. Seine deutsche Mutter pflanzte ihm früh die Liebe zur deutschen Kultur ein, seine Schriftstellerlaufbahn begann er mit deutschen Gedichten, aber bald vertiefte er sich in das Studium der ungarischen Literatur, verlor d a n n die Lust dazu und suchte in den griechischen Klassikern Erholung und Vergessen. Er ist der

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glänzende Essayschriftsteller der „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau), der unvergeßlich bleiben wird, aber alle seine glänzenden Talente reichten nicht dazu aus, sich eine entsprechende Stellung zu erkämpfen. Er setzte seinem Leben selbst ein Ende. A m Ende der 80er J a h r e erscheint endlich eine in ihren Zielsetzungen einige neue Generation und fordert Raum in dem ungarischen literarischen Leben. Ihre Mitglieder finden sich schon sehr früh, gleichsam in ihrer Kinderzeit, sie leben zusammen oder korrespondieren häufig, achten gegenseitig auf ihre Entwicklung und gehen vereint vor. Sie sind von großen Ideen begeistert und werden von einem starken Selbstvertrauen getrieben. Ihr geistiger Führer, Julius Reviczky, schreibt im Alter von 21 J a h r e n seinem noch jüngeren Freunde Eugen Komjäthy die Worte: „Es scheint, wir sind einem großen Kriege sehr nahe. Ich denke nicht an den Krieg im Orient, sondern an den Kampf des Geistes gegen die Welt, dessen Vorzeichen ich schon deutlich sehe, mit anderen W o r t e n die junge Generation bringt einen neuen Ton und neue Ideen in die ungarische Dichtung." Diesen neuen Ton empfand das Zeitbewußtscin als kosmopolitisch: wenn wir die Herkunft und die Entwicklung der jungen Generation betrachten, brauchen wir uns auch nicht darüber zu wundern. Fast ohne Ausnahme kamen sie aus Oberungarn in die Hauptstadt und zwar aus dem Teile, wo das Landvolk meist slowakisch, die Städter deutsch sind. Fast ohne Ausnahme stammen sie aus katholischen Familien, und wenn ihr Katholizismus in der Glanzzeit des Liberalismus auch keine bekenntnismäßige Gebundenheit bedeutet (wenigstens am Anfang), so ist er dennoch in ihrer Dichtung, in ihrem W e l t gefühl und in ihrer Neigung zur Metaphysik zu spüren. Alles das ist durchaus neu in der zeitgenössischen ungarischen Literatur. Oberungarn, besonders dessen nordwestlicher Teil, hatte bisher der ungarischen Literatur wenig Dichter geschenkt. An Vorgängern und Bahnbrechern in der katholischen Dichtung hatte es aber keinen Mangel. Aber sie hatten zu V a j d a (im Gegensatz zu dem literarischen öffentlichen Bewußtsein, das sich seitdem herausgebildet hatte) geringe Beziehungen. Ihr Wegbereiter war Alexander Endrödi (Kupricz), der kaum älter als sie war und der sich schon in den 70er J a h r e n durch seine neuartigen Lieder einen guten Namen erkämpft hatte. In ihm sahen sie den jungen Meister der modernen ungarischen Lyrik. Diese Dichter hatten im Gegensatz zu der früheren Generation die Lyrik zu ihrer Ausdrucksform gewählt, wenn sie sich auch hier und da — ohne Erfolg

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— auch in anderen Kunstgattungen versuchten. Das entscheidend Neue liegt aber in der Fremdartigkeit ihrer Bildung. Sie waren zum großen Teil in fremdsprachiger Umgebung aufgewachsen, in einer Zeit, in der der nationale Gedanke schon den Sieg errungen hatte und kein Problem mehr bedeutete. Vom Freiheitskampf hatten sie nur noch gehört, die darauf folgende Unterdrückung war ihnen nicht zum Erlebnis geworden. Ihre erste Lektüre führte sie in die deutsche Literatur ein, Reviczky, der uneheliche Sohn eines germanisierten Ungarn und eines slowakischen Bauernmädchens, hörte in seinem Heim nur deutsche Worte. Auf dem Gymnasium, das er in Preßburg besuchte, begann er deutsch zu dichten, und auch noch später schwankte er lange, ob er seine Kraft nicht der deutschen Dichtung widmen sollte. Auch Eugen Komjathy dichtete gern deutsch, als Lehrer zu Szene in slowakischer Umgebung unterrichtete er in deutscher Literatur. Emmerich Gäspar dagegen interessierte sich für die slowakische Literatur und schrieb häufig in slowakischen Zeitungen. Auch Julius Rudnyanszky aus dem Komitat Neutra ging in Preßburg in deutscher Umgebung in die Schule. Diese vier bilden den bewußten Stamm ihrer Generation. Sie wollen nur der Literatur leben und deshalb hungern sie lieber als Sklaven der Redaktionen, um nur ihre eingebildete Freiheit zu bewahren. Diese Generation hat zwei gemeinsame schriftstellerische Leistungen aufzuweisen. Die eine ist das kleine literarische Blatt Eugen Komjäthys aus Balassagyarmat, die „Röpke Ivek" (Fliegende Bögen), die andere ist die Großwardeiner Anthologie des Emmerich Gaspär, die ,,Uj Nemzedek" (Neue Generation). In der Hauptstadt können sie nicht Fuß fassen und deshalb zerstreuen sie sich in der Provinz. Bevor sie noch ihren Traum zu Ende geträumt haben, rafft der Tod sie hinweg, oder irgendeine persönliche Katastrophe läßt sie verstummen. Reviczky beginnt sich kaum durchzusetzen, als er das Opfer der Lungenschwindsucht wird, Komjathy erlebt nicht einmal das Erscheinen seines ersten Buches, Rudnyanszky muß nach Amerika auswandern, von wo er blind zurückkehrt. Der letzte Band Emmerich Gäspärs erscheint im Jahre 1880, dann läßt das Elend des Lebens ihn verstummen. An der Generation Reviczkys erfüllte sich das Verhängnis der ungarischen gesellschaftlichen Entwicklung. Jene Schriftsteller, die in der Zeit des Ausgleichs aufgetreten waren, konnten sich durchsetzen. Die Söhne der neuen ungarischen Intelligenz überschwemmten mit fieberhaftem Eifer die freien Schrift-

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stellerlaufbahnen, aber als die Generation Reviczkys so weit war, waren alle Plätze besetzt. Niemand kümmerte sich um die junge Generation. Die Arztkosten Reviczkys trugen Karl Legrady (Pollak) und Sigmund Brody, die Barmherzigkeit von Joseph Kiss verschaffte ihm einen Grabplatz, Sigmund Sebök (Sternfeld) verwaltete seinen Nachlaß, die Freunde und Betreuer Komjathys aber waren die unausbleiblichen Brüder Palägyi-Silberstein. Diese Erscheinung ist symptomatisch. Seit dem Ende der 80er Jahre ist in erster Linie die ungarische jüdische Intelligenz die Schicht, die die jungen Triebe der ungarischen Literatur überhaupt der Aufmerksamkeit würdigt, mit ihren immer stärkeren Machtmitteln zur Geltung bringt und in ihren eigenen Interessenkreis einspannt. Zur gleichen Zeit verschließen sich die konservativen literarischen Kreise immer mehr vor jeder neuen literarischen Erscheinung. Die obigen Gründe erklären auch den späten Erfolg Koloman Mikszäths, des volkstümlichsten Schriftstellers aus Oberungarn. Auch Mikszäth kam aus slowakischem Milieu, aus kleinbürgerlicher magyarisierter lutheranischer Familie, also ohne jeden natürlichen Empfehlungsbrief, und so mußte er Jahre lang in Provinzredaktionen hungern, täglich Sklavenarbeiten erledigen, bis Karl Legrady (Pollak), der Herausgeber des „Pesti Hirlap" (Pester Nachrichtenblatt), ihn entdeckte und ihn nach Budapest holte. Die „Tot atyafiak" (Slowakische Gevattern) hatten einen durchschlagenden Publikumserfolg. Der Verfasser war damals schon 35 Jahre alt. Der Journalist, der einst im oppositionellen Fahrwasser gerudert war, wandelte sich bald zu einem der eifrigsten Parteigänger des ungarischen Ministerpräsidenten Koloman Tisza. Er wurde Abgeordneter des ungarischen Unterhauses wie so viele seiner Kollegen: der W e g in die ungarische Öffentlichkeit stand ihm frei. Aber inzwischen hatte er seine Jugend in unfruchtbaren Kämpfen aufgerieben, und nicht wenig Zynismus hatte sich als unreiner Satz auf dem Grunde seiner Seele abgelagert. Er wollte nicht mehr kämpfen, sondern gut leben. Die Dinge nehmend, wie sie sind, und ohne besondere Vorurteile liebäugelte er mit der herrschenden Gesellschaftsschicht. Er fühlte sich in den Parlamentsklubs und auf den Redaktionen zu Hause. Anekdoten plaudernd und Heiterkeit verbreitend, rauchte er gern die Pfeife mit seinen Kollegen im Kaffeehaus Corona oder im Kispipa-Restaurant. Er war zweifellos sehr begabt und sah und wußte sicherlich viel mehr, als er durchblicken ließ.

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Zur Zeit der ersten Erfolge Mikszäths hat sich der ungarische Leserkreis bereits stark vergrößert, und immer drängender wird die Forderung nach dem guten ungarischen Roman. Dieses Bedürfnis führte sicherlich dazu, daß am Ende der 80er Jahre in der Altersklasse nach Reviczky die freimütigste und unmittelbarste menschliche Offenbarung, die Lyrik, vollkommen an Boden verliert und neue Romanschriftsteller das Publikum erobern. Sie kommen einzeln, setzen sich einzeln durch, Schicksal und Laufbahn eines jeden ist anders. Außer der einen, auffälligen Tatsache, daß sie alle fast gleichen Alters sind, können wir unter ihnen keine inneren Beziehungen beobachten. Als erstem gelingt es Alexander Brody, „durchs Ziel zu gehen". Er ist noch nicht 21 J a h r e alt und erregt schon beträchtliches Aufsehen mit einem Buch, das er selbst den ersten ungarischen naturalistischen Roman nennt. Von dieser Zeit an ist er der verhätscheltste Liebling der Budapester Presse und des dankbaren hauptstädtischen Publikums, die offizielle Literatur verschließt sich ihm aber bis zuletzt. Er bemüht sich, sein Judentum mit seinem begeistert zur Schau getragenen Ungartum auszusöhnen, aber es bleibt nur bei einem unfruchtbaren Bemühen. Er fällt aus einem Extrem ins andere. Bald erfüllt ihn grenzenloses Selbstvertrauen und leidenschaftliche Kampflust, bald ist seine Arbeitskraft gelähmt, und er sinkt teilnahmslos und müde in sich selbst zurück. Die wohlwollende Unterstützung Jökais hatte seine L a u f b a h n geebnet. Er verbringt sein Leben zum großen Teil im Kreise jüdischer Literaten, mit sich selbst, seinem eigenen und dem ungarischen Schicksal überworfen. Er ist vielleicht der erste ungarischsprachige jüdische Dichter, der nichts mehr vom Ghetto weiß und deshalb den Dank der vergangenen jüdischen Generation f ü r die Emanzipation nicht mehr fühlt. Er will die herrschende Klasse, die liberalistischen Befreier des Judentums, nicht mehr mit gefälligen Schmeicheleien ködern, sondern fordert als Gesellschaftskritiker seinen Anteil an der Gestaltung des ungarischen Schicksals. In anderen Bahnen verläuft der Lebensweg Franz Herczegs. Der Kreis der Akademie und die ungarische Leserschaft begrüßen den Sohn des deutschen Bürgermeisters und Apothekers zu W e r schetz schon bei seinem ersten Auftreten mit Liebe und Anerkennung. Meisterhaft trifft er den Ton, der das Herz des Lesers dieser Zeit zu bewegen versteht. Er hatte im Banat deutsche Erziehung genossen, das in seiner Jugend noch unter österreichischer Militärverwaltung stand. Trotzdem erscheint er als fertiger unga-

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rischer Schriftsteller, er kennt die ungarischen Überlieferungen, e r kennt auch die ungarische Gesellschaft, und w e n n er auch dem Volke gegenüber immer gleichgültig bleibt, so verrät doch nur der f r e m d e Klang einiger w e n i g e r W o r t f ü g u n g e n und das auch nur in seinen ersten W e r k e n , d a ß er nicht in die ungarische Sprache hineingeboren ist, sondern sie erlernt hat. Noch nicht 30 J a h r e alt, ist er bereits M i t g l i e d der Kisfaludy-Gesellschaft, Abgeordneter, Herausgeber von Zeitschriften, mit einem W o r t e eine Macht. Er sucht wie J o k a i oder Mikszäth seine Freunde lieber unter den Politikern als unter den Zeitungsschreibern. Er ist der treueste W a f f e n g e f ä h r t e Stephan Tiszas bis zu dessen Tode. Seine literarische Rolle w i r d nach der J a h r h u n d e r t w e n d e immer bedeutender. Geza Gärdonyi ist nicht nur der Zeitgenosse Herczegs, sondern gleichfalls deutschstämmig, w e n n auch nur väterlicherseits, w i e er. Dem Sohn des Dorfschlossers, dem einfachen Volksschullehrer, ist die gesellschaftliche L a u f b a h n im öffentlichen Leben versagt geblieben. Wahrscheinlich sehnte er sich auch nicht danach. Die nervöse Unrast der Hauptstadt behagte ihm nicht, sein oft betrogenes Herz fühlte sich zur Einsamkeit hingezogen. W e n n er auch erst Ziegler hieß, können w i r ihn nicht als einen Assimilierten ansprechen: er genoß ungarische Erziehung, — sein V a t e r hatte an dem ungarischen Freiheitskrieg teilgenommen —, die schönsten J a h r e seiner J u g e n d verbrachte er auf dem ungarischen platten Lande. Er beteiligte sich nicht gern an dem Literaturbetrieb der Hauptstadt, er zog sich bald in seine Einsiedelei zu Erlau zurück und brach jegliche Beziehungen zum literarischen Leben Budapests ab. Ein Altersgenosse dieser Schriftsteller ist auch Sigmund Justh, der Adelssprößling einer alten ungarischen Grundbesitzerfamilie, ein vornehmer und begüterter l i t e r a r y gentleman, der die l a n g e Reihe der nach Paris w a l l f a h r e n d e n modernen ungarischen Schriftsteller eröffnet. Er ist ein gern gesehener Gast der bekanntesten Pariser literarischen Salons, er ist ein weitgereister M a n n , und dennoch hat er sein wurzelechtes U n g a r t u m bewahrt. In dieser Zeit ist er der einzige ungarische Dichter, der sich um das kulturell vernachlässigte L a n d v o l k bekümmert, in Szabadszenttornya, seinem Dorfe, von den B a u e r n klassische Theaterstücke spielen l ä ß t und das Bauernvolk zum H e l d e n seines geplanten Romanzyklus macht. Seine Kollegen sieht er gern auf seinem Schlosse zu Gast. Er hält Reviczky für den größten ungarischen L y r i k e r , er steht mit Michael Szabolcska in freundschaftlichem Briefwechsel und

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zeigt ihm sein geliebtes Paris. Budapest sagt ihm nicht zu. Er ist der erste ungarische Dichter, der die Schriftsteller nach rassischen, ungarischen Gesichtspunkten organisieren möchte. Im J a h r e 1891 schreibt er an Szabolcska: „ W i r haben mit Feszty große Pläne. W i r möchten aus der „Vasärnapi U j s ä g " (Sonntagszeitung) eine anständige und im Prinzip antisemitische Revue machen." Auch den Mitarbeiterstab hatte er schon um sich gesammelt. Der große Plan aber scheiterte, er hatte bald die Lust verloren. Er schreibt an seinen Freund: „Pest liebe ich von T a g zu T a g weniger. Du wirst bald sehen, noch ein paar J a h r e und nur der Jude kann es hier zu etwas bringen. W i r können eben nicht mit denselben W a f f e n kämpfen wie sie." Im J a h r e 1894 wird er im Alter von 31 Jahren von der Lungenschwindsucht dahingerafft. Sehr f r ü h fällt Zoltan Ambrus durch seine tiefschürfenden Kritiken auf, sein erstes Buch erscheint aber erst im J a h r e 1893. Auch er liebt Paris wie Justh, aber in seinen Werken suchen wir vergebens Spuren kämpferischen Geistes oder irgendwelche T e n denz. Als einen Künstler, den die Wellen des Alltagslebens nicht berühren, interessiert ihn alles, was schön ist, und deshalb zeigt er auch ehrliches Verständnis f ü r jedes jüngere Talent und jede jüngere Bestrebung. Man nahm ihn auch als Mitglied in den konservativen literarischen Gesellschaften auf, aber seinem N a m e n begegnen wir auch an der Spitze der jungen radikalen Zeitschriften. In diesem Falle bedeutet es nicht Opportunismus, sondern ein Stehen über den Dingen. Er lebt in höheren Sphären, das Durchschnittspublikum hat kaum einen Zugang zu ihm, die Generation der jüngeren Schriftsteller findet aber kein edleres Vorbild als ihn, das sie zur Achtung vor dem schriftstellerischen H a n d w e r k erziehen könnte. Diese vier soeben genannten Schriftsteller sind Katholiken. W i r erwähnen deshalb diese Tatsache, weil nach der katholischen Räkosi- und der katholischen Reviczky-Generation auch diese die rassische und geistige Erschöpfung des historischen kalvinistischen Ungartums zu beweisen scheint. Die kalvinistischen geistigen Führer der Zeit waren auch nicht unempfindlich gegenüber dieser ungünstigen Entwicklung, und aus dem Grunde begrüßten sie mit besonderer W ä r m e auch das A u f t r e t e n des Kalvinisten Andreas Kozma. Als Bankbeamter hatte er enge Beziehungen zu jüdischen Kreisen, was auch den Beginn seiner L a u f b a h n beeinflußte. Z u m nationalen Dichter wurde er erst nach der Jahrhundertwende. Einen noch größeren Triumph bedeutete das Erscheinen Michael

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Szabolcskas. Karl V a d n a y hatte ihn entdeckt, seine Gedichte teilte er in den „Hauptstädtischen Blättern" an erster Stelle mit. In seinem ersten Briefe schreibt er ihm die folgenden charakteristischen W o r t e : „ W i r sehen es alle gern, wenn aus dem Kreise der Geistlichkeit unserer Konfession ein neuer Dichter hervorgeht, weil dies als ein neuer Beweis für das seelische U n g a r t u m des ungarländischen Kalvinismus gelten kann." Der Literaturwissenschaftler Zsolt Beöthy stellte ihn der ungarischen Öffentlichkeit als den neuen Petöfi vor. Szabolcska wurde so hoch eingeschätzt, daß er sich Zeit seines Lebens im Schweiße seines Antlitzes abquälte, seinem Rufe gerecht zu werden. Doch nach seinen Anfangserfolgen wiederholte er sich in eintöniger Weise. Dies wurde ihm zur Quelle ständiger Bitterkeit — wovon auch sein Briefwechsel offenkundig zeugt —, und das ist vielleicht ein G r u n d neben anderen Gründen dafür, d a ß er nach der Jahrhundertwende die junge Literatur mit so unerwarteter Schärfe angriff. W e n n diese vielen Talente zumeist auch keine inneren Beziehungen zueinander hatten, suchten sie sich, da sie alle auf einmal und in größerer Zahl auftraten, notwendigerweise ein Organ, in dem sie sich frei und ungezwungen äußern konnten. Diesen günstigen psychologischen Augenblick traf Joseph Kiss, als er zu Weihnachten 1889 die Zeitschrift „A H e t " (Die Woche) gründete und die junge Generation um sich versammelte. Nach zehn J a h r e n fragte er sich verwundert, als er an den Beginn seiner L a u f b a h n zurückdachte: „Ob wohl irgendeine Gesetzmäßigkeit im Erscheinen der Talente herrscht oder ob es bloßer Zufall war, d a ß in der ersten Zeit der „A H e t " sofort eine ganze Reihe von neuen ursprünglichen Talenten auftauchte, die gänzlich voneinander verschieden w a r e n ? " Zu dieser Zeit, in den 90er Jahren, beginnt sich jener biologische Prozeß in entscheidender Weise auszuwirken, der zu A n f a n g der 70er J a h r e das ungarische Volk dezimiert hatte. Ungarische Mütter gebaren auch damals Kinder, unter denen sicher viele mit Talenten begabt zur W e l t kamen, aber diese Generation ging verloren. Die Leere füllte das J u d e n t u m aus. Neben Joseph Kiss sehen wir seinen Schwager und bis zuletzt inneren Mitarbeiter Thomas Kobor (Adolf Bermann), den ersten bedeutenderen Schilderer des ungarischen Judentums. Sein Hilfsredakteur w a r Jahre lang Emil Makai (Fischer), ein ehemaliger Rabbinerzögling, der durch Übersetzungen hebräischer Dichter auffiel. Hier schärfte seine Klinge Ignotus (Hugo Veigelsberg), hier schrieb Eugen H e i -

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tai (Herzl) seine ersten Lieder. Ich habe nur die bekanntesten Namen hervorgehoben, deren T r ä g e r zum großen T e i l e l a n g e Zeit hindurch eine entscheidende Rolle in der d a m a l i g e n Literatur spielten. Neben ihnen und um sie bewegte sich unablässig ein immer neuer Schwärm j u n g e r jüdischer Schriftsteller, die nach Unterkunftsmöglichkeiten suchten. Von diesen j u n g e n jüdischen Literaten läßt sich in noch gesteigerterem M a ß e sagen, w a s w i r von Brody gesagt haben. Sie w a r e n größtenteils a m A n f a n g der 70er J a h r e nach dem Ausgleich und nach der Emanzipation als vollberechtigte Bürger des neuen U n g a r n s geboren. Ihre V ä t e r w a r e n noch in einer deutschsprachigen Bildungsatmosphäre aufgewachsen, aber sie selbst besuchen bereits ungarische Schulen und wollen , , U n g a r n " werden, obwohl sie zum großen T e i l nur die verballhornte ungarische Großstadtsprache lernen. Die nationale Gesellschaft, die ihre V o r g ä n g e r noch mit aufrichtiger Freude begrüßt hatte, erschrickt vor ihrem massenhaften A u f t r e t e n und w i l l sie hinter den M a u e r n eines geistigen Ghettos einschließen. Diese kalte Zurückweisung r a d i k a lisiert sie. Der Rückweg zu ihrem jüdischen Glauben ist ihnen infolge ihrer geistigen Einstellung abgeschnitten, denn für a l l e gilt, was Ignotus über M a k a i schreibt: ,,Sein J u d e n t u m ist wie bei den meisten J u d e n der Intelligenz nicht religiöser Natur, sondern bedeutet Festhalten an der Rasse in den Traditionen des Blutes." Sie lasssen sich in die Freimaurerlogen aufnehmen, k ä m p f e n für „allgemein menschliche" Ideen, sind mit den bestehenden u n g a r i schen Verhältnissen unzufrieden und greifen mehr oder w e n i g e r offen die herrschenden Klassen als das Haupthindernis, das sich ihrer Karriere entgegensetzt, an. Thomas Kobor gibt sich keiner Täuschung hin, w e n n er bereits im J a h r e 1895 die L a g e k l a r kennzeichnet: „Jetzt, wo der J u d e sich zu regen beginnt, muß er beobachten, d a ß sich die ganze ungarische Gesellschaft in geschlossener Front gegen ihn aufstellt. . . Der Grund ist einfach der: die jüdische Generation, die jetzt ins Leben, in die L i t e r a t u r , in die Wirtschaft und in die Politik eintritt, w u r d e bereits frei geboren, sie fühlen sich als freie Menschen. . . Der ganze Schwärm der Eskimos w u r d e auf die w e n i g e n Seehunde losgelassen." A u s dieser richtigen Erkenntnis zog aber das J u d e n t u m nicht die nötigen Folgerungen. Seinen Machtinstinkten folgend, überließ es sich dem massenpsychologischen Ausbreitungsgesetz und setzte sich auf immer wichtigeren Gebieten des ungarischen Lebens durch, obwohl es wahrlich nicht a n ermahnenden und prophetischen W o r t e n

Generationen und Gruppen

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aus d e m eigenen L a g e r fehlte. Ignotus schreibt in der „ A H e t " v o m J a h r e 1899 f o l g e n d e W o r t e , die in t r e f f e n d e r W e i s e die zwiespältige L a g e des J u d e n t u m s beleuchtet: „ ( D e r J u d e ) b e g e h r e nicht g e g e n d a s Gesetz der M i m i k r y auf, und wenn er nicht will, d a ß m a n ihn verschlinge, nehme er sich d a v o r in acht, die v e r r ä terischen Eigenschaften noch selbst zu steigern. L e h r m e i s t e r k a n n j e d e r nur f ü r seine eigene R a s s e sein, weil der L e h r e r schlägt, einen Schlag ertragen wir von einem f r e m d e n L e h r e r nicht. . . . J e t z t aber g e r a t e n die J u d e n oft in die falsche L a g e , d a ß sie mit ihrer Person die Sache der Gerechtigkeit kompromittieren . . . . weil sie noch vor nicht l a n g e r Zeit u n d besonders in ihren unteren Schichten oft wirklich F r e m d e w a r e n u n d aus a n d e r e n L ä n d e r n k a m e n ; sie sind in vielem a n d e r s und leben abgeschlossen von der herrschenden R a s s e u n d den herrschenden Schichten." E s sind g o l d e n e W o r t e , die aber Ignotus selbst a m wenigstens beherzigte, als er nach der J a h r h u n d e r t w e n d e die toternsten W a h r h e i t e n der neuen ungarischen L i t e r a t u r vor den breiteren Schichten durch seine F ü h r u n g „ k o m p r o m i t t i e r t e " und als er sich in der überheblichen Rolle eines Lehrmeisters der ungarischen N a t i o n gefiel. D i e „ A H e t " g e w ä h r t nicht nur den j u n g e n jüdischen T a lenten R a u m , sondern auch ihren gleichzeitig a u f t r e t e n d e n christlichen Zeitgenossen, die von ihr zum T e i l erfolgreich „ a s s i m i l i e r t " wurden. Ihre A n f ä n g e r a r b e i t e n entsprechen v o l l k o m m e n d e m G e i s t e dieser Zeitschrift. N u r einem von ihnen, A l e x a n d e r S a j o (Heringer), g e l a n g es, in dieser U m g e b u n g seinen eigenen, w e n n auch leisen T o n zu bewahren. In dieser Zeit taucht auch A l a d a r Schöpflin auf als der innere M i t a r b e i t e r der „ V a s a r n a p i Ü j s ä g " (Sonntagszeitung), der fern von j e d e r T a g e s p o l i t i k in seinen L i t e raturbesprechungen den ernsten modernen Bestrebungen den W e g ebnet, ohne sich von den klassischen Ü b e r l i e f e r u n g e n zu lösen. Schließlich entdeckt Zsolt Beöthy nach Szabolcska ein neues lyrisches T a l e n t : G e z a L a m p e r t h . E r stellt ihn als unverdorbenen, urmagyarischen „dörflichen" Dichter vor und stellt ihn den volksf r e m d e n städtischen Dichtern gegenüber, wobei er mit d e m W o r t p a a r „dörflich-städtisch" offensichtlich den ungarischen-jüdischen G e g e n s a t z aufdecken will. D i e nichtjüdischen Dichter, von denen wir nur w e n i g e nennen konnten, können sich g e g e n ü b e r der geschlossenen Front ihrer j ü d i schen Altersgenossen nicht durchsetzen. D i e s e n jüdischen L i t e r a t e n f ä l l t die F ü h r u n g gleichsam in den Schoß, und z w a r in erster L i n i e i n f o l g e j e n e r biologischen Tatsache, d a ß eine gleichaltrige u n g a r i Farkas, Freiheitskampf fi

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1. Das literarische Leben

sehe Generation schon in der Wiege zugrunde gegangen war. So erfolgte gegen das Ende des Jahrhunderts eine vollkommene Überfremdung des ungarischen literarischen Lebens. Es verdient erwähnt zu werden, daß der Statistiker Karl Keleti im Jahre 1881 feststellt, daß die Schrumpfung des Ungartums in großem Ausmaße bis zum Jahre 1877 anhielt und dann ihr Ende fand. In diesem Jahre wurde Andreas Ady geboren, der die geistige und literarische Regeneration des Ungartums einleitete. Franz Herczeg schreibt in der ersten Nummer der „TJj Idök" (Neue Zeiten) im Jahre 1895 die prophetischen Worte: „Es möge nach uns eine Generation mit europäischer Bildung erstehen, die nicht nur ungarisch spricht, sondern auch deren Blut, deren Denken und Temperament ungarisch ist, so wird der Bestand der ungarischen Nation damit besser gesichert sein, als wenn sie von einer Million Bajonette verteidigt würde." Diese ersehnte Generation stand damals schon jung und tatbereit an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, aber als sie ihren Siegeszug in das ungarische Leben antreten wollte, glaubte die ungarische Gesellschaft ebenso wenig an sie wie die Juden an den erwarteten und prophetischen Messias. 2. D i e O r g a n e

des l i t e r a r i s c h e n

Lebens.

Zu den wichtigsten Faktoren des literarischen Lebens zählen jene Organe, die zwischen dem literarischen Werk und dem Publikum stehen und die Rolle des Vermittlers spielen. Es kann nicht gleichgültig für ein Volk sein, in wessen Macht sich die Organe des geistigen Blutkreislaufes befinden, wie z. B. die literarischen Gesellschaften, die die Talente prüfen, durch Preisausschreiben Anregungen geben und mit Vorträgen vor das Publikum treten. Die Presse, Tageszeitungen und Zeitschriften, die den Schriftstellern Raum und Existenz sichern, sie ermuntern, bekritteln oder verschweigen, lenken gleicherweise den Geschmack des breiten Publikums, wie auch die Theater, die mit der Unmittelbarkeit des lebendigen Wortes auf das Publikum wirken können, und schließlich die Verleger, von deren Einstellung, Geschmack und Geschicklichkeit das Schicksal einer Schriftstellerlaufbahn abhängen kann. Ohne diese Organe ist die Wirkung des größten Talentes nicht größer als die des Vortragenden im Radio, in dessen Aufnahmeapparat der elektrische Strom nicht eingeschaltet wurde. Die vornehmste und gerade deshalb umstrittenste öffentliche Einrichtung der Zeit ist die Ungarische Akademie der Wissen-

Die Organe des literarischen Lebens

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Schäften. Nur eine ihrer Sektionen beschäftigt sich mit der schönen Literatur und mit der Literaturwissenschaft, und nur diese steht im Kreuzfeuer des Interesses der Presse. Von ihrer sonst weitreichenden wissenschaftlichen Wirksamkeit erlangt das Publikum kaum Kenntnis. In der W a h l ihrer Mitglieder wurde sie, wenigstens solange, als tatsächlich völkische Ungarn darüber bestimmten, von keinerlei rassischen Gesichtspunkten geleitet, und deshalb unterliegt die Ungarische Akademie der Wissenschaften — mit Ausnahme der schönliterarischen und historischen Sektion — in großem Maße der Überfremdung, die bis zum Ende des J a h r hunderts anhält. So zählt die sprachwissenschaftliche Sektion im J a h r e 1895 sieben Mitglieder jüdischer Abstammung, die philosophische Sektion acht. Im Hinblick darauf, daß sie alle nicht nur sehr aktiv, sondern auch sehr fruchtbar sind, stellt Joseph BänocziWeiss schon im Jahre 1884 mit überheblichem Stolz fest: „Unter allen Rassen unseres Vaterlandes bemüht sich der Jude am meisten mit dem Ungarn, unsere Literatur und unsere Wissenschaft auszubauen und zu stärken," und ebendort: „Das oberste Forum unseres Vaterlandes ist unparteiisch und begrüßt mit anerkennendem gutem W i l l e n unsere Bestrebungen." Eine ähnliche „ W ü r d i gung" läßt im J a h r e 1892 die „Magyar-Zsido Szemle" (UngarischJüdische Rundschau), wenn auch in einem etwas ironischen Ton, der Akademie zuteil werden: ,, (Die Akademie) schliff unter dem Einfluß des Liebesbündnisses, das man auf Grund von jüdischen Goldpapieren schloß, ihre aus rostigen Zeiten stammenden antisemitischen Gefühle ab." Unter den „rostigen Zeiten" muß man zweifellos die Zeit Szechenyis verstehen, deren Traditionen nur noch die unter Gyulais persönlicher Leitung stehende schönliterarische Sektion bewahrt. Bis zum Ende des Jahrhunderts gelingt es keinem Juden — auch kaum einem Assimilierten — eine Bresche zu schlagen, nicht etwa weil antisemitischer Widerstand es ihm verwehrt, sondern infolge der instinktiven kalvinistisch-ungarischen Einstellung der Gyulai-Partei. Schriftsteller jüdischer Abstammung, die wegen ihrer literaturhistorischen Verdienste in die Akademie gewählt werden, werden in andere Abteilungen abgeschoben, wie etwa Bänoczi in die sprachwissenschaftliche oder Bernhard Alexander in die philosophische. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts nehmen mit biologischer Gesetzmäßigkeit nacheinander die Mitglieder deutscher Abstammung ihren Platz in der schönliterarischen Sektion ein. Sie sind so zahlreich, daß sie allmählich das Ubergewicht erlangen. H"

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1. D a s literarische

Leben

Die schönliterarische Sektion der Akademie hat ihre Macht nicht der dichterischen Wirksamkeit ihrer Mitglieder zu verdanken, sondern den literarischen Preisen, deren Verteilung von ihrer W a h l abhängt. Es handelt sich um Stiftungen adliger ungarischer H e r r e n aus einer anderen Zeit, damals entsprachen sie dem Zeitgeist, sie bezweckten die Stärkung des historischen Bewußtseins der ungarischen Nation. Ihre Vorschriften wurden nach dem Ausgleich immer unzeitgemäßer, aber anscheinend bestand keine Möglichkeit, davon abzuweichen. Vier Preise hatte man dazu bestimmt, das ungarische historische D r a m a zu entwickeln, je ein weiterer Preis zeichnete vaterländische Dichtung, vaterländische Oden und erzählende vaterländische Dichtung aus, d. h. Kunstgattungen, die in der materialistischen, traditionsfeindlichen und fortschrittlich eingestellten Zeit gründlich aus der Mode gekommen waren. Anwärter fanden sich in großer Zahl, hauptsächlich Anfänger, die von einem Preise den Ruhm und auch oft eine Existenzmöglichkeit erhofften. Einigen gelang es auch, durch einen Preis der Akademie die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zu lenken. Einen literarischen W e r t hatten diese eingereichten Arbeiten kaum, und die literarische Entwicklung wurde dadurch auch kaum gefördert. Seit den 80er J a h r e n befaßte sich die Akademie mit der Veröffentlichung von Büchern. Sie publizierte wissenschaftliche Bücher, viele wertvolle Originalarbeiten, zum großen Teil aber Übersetzungen, d. h. Übersetzungen wissenschaftlicher Arbeiten, die in ihrem Ursprungsland schon als klassisch angesehen wurden. Die „Originalarbeiten" mußten oft die Anklage über sich ergehen lassen, daß sie gleichfalls nur Übersetzungen seien. Niemals bewegten so viele Plagiatprozesse und Skandale die ungarische wissenschaftliche W e l t wie gerade in dieser Zeit. Die ungarische Wissenschaft war noch ein viel zu junger Trieb, als d a ß sie schon sofort auf allen Gebieten originale Köpfe hätte hervorbringen können. Einige große ungarische Gelehrte hatte es schon f r ü h e r gegeben, einige wenige, wie die beiden Mathematiker Bolyai oder der Sprachwissenschaftler Samuel Gyarmathy hatten sich bereits dem Gedächtnis der europäischen wissenschaftlichen W e l t eingeprägt. Doch ein allgemein wissenschaftliches Leben regte sich erst nach dem Ausgleich von 1867. Die Akademie begann ihre Arbeit als eine sprachpflegende Gesellschaft, an der Universität lehrten zum großen Teil fremde Professoren. In der Zeit des Absolutismus hatte j a die ungarische Jugend keine Möglichkeit gehabt, sich wis-

Die Organe des literarischen Lebens

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senschaftlich zu bilden. W i r brauchen uns also nicht zu wundern, daß sich unter den neuen ungarischen Gelehrten die Assimilierten in der Uberhand befanden, und auch darüber brauchen wir uns nicht zu wundern, daß die ungarische wissenschaftliche Literatur mit Ubersetzungen und „Überarbeitungen" begann. In den 70er Jahren entstehen nacheinander ungarische wissenschaftliche Gesellschaften, nacheinander erscheinen auch wissenschaftliche Zeitschriften, die in mehr oder weniger engen Beziehungen zur Akademie stehen. Gabriel Szarvas gibt den „Nyelvör" (Sprachwart) heraus, sein ihm am nächsten stehender Mitarbeiter, späterer Nachfolger ist Sigmund Simonyi (damals noch Steiner). Diese Zeitschrift setzt sich zum Ziel, die ungarische Literatursprache zu verbessern. Mit demselben Stab von Mitarbeitern, über die Szarvas im „Nyelvör" verfügt, arbeitet auch Paul H u n falvy (Hunsdorfer) an den „Nyelvtudomanyi Közlemenyek" (Sprachwissenschaftliche Mitteilungen). Gustav Heinrich veröffentlicht zusammen mit Maurus Kleinmann (später Kärman) das „Magyar T a n ü g y " (Ungarisches Unterrichtswesen), dieser leitet wieder zusammen mit Emil P. Thewrewk die „Egyetemes Philologiai Közlöny" (Allgemeine Philologische Mitteilungen), Ludwig Aigner redigiert die einzige literaturhistorische Zeitschrift jener Tage, den „Figyelö" (Beobachter), und Wilhelm Fraknoi (Franzi) die „Magyar Könyvszemle" (Ungarische Bücherrundschau). Ihre Mitarbeiter nehmen sie sich aus dem Kreise der eben erst Assimilierten. Historische ungarische Namen finden wir in überwiegender Zahl nur unter den Mitarbeitern der von Koloman Thaly redigierten historischen Zeitschrift „Szäzadok" (Jahrhunderte), die aber als Vertreter einer älteren Generation langsam verschwinden. Dies soll aber nicht heißen, daß wir nicht auch unter dem historischen U n g a r t u m in dieser Zeit hervorragenden Vertretern der Wissenschaft begegnen, wie Aaron Szilady, Ä r p a d Kärolyi, Alexander Szilägyi und Roland Eötvös. Die Akademie gab nur eine Zeitschrift heraus, den „Akademiai ßrtesitö" (Akademischer Anzeiger), in dem sie über die Arbeit ihrer Mitglieder berichtete, gewöhnlich aber betrachtet man die „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau) als akademische Zeitschrift, die von der Akademie unterstützt wurde; unter der Schriftleitung von Paul Gyulai ist die „Budapesti Szemle" das einzige kritische Organ der Zeit, das über ein hohes Niveau verfügt. Sie publiziert in erster Linie wissenschaftliche Artikel aus allen Gebieten des geistigen Lebens, es finden sich auch viele Uber-

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1. Das literarische Leben

Setzungen darin, wie man auch das nicht leugnen kann, daß die Mitarbeiter mit der Zeit immer mehr von den Assimilierten gestellt werden, aber hier schreiben auch Paul Gyulai, Karl Szasz und Eugen Peterfy ihre Kritiken, Kritiken, die nicht dem Bedürfnis des Tages dienen, sondern auf Jahrzehnte hin für die Beurteilung der literarischen Entwicklung richtungsweisend sind. Die „Budapesti Szemle" wird bei ihrem Erscheinen kaum von ein paar Hundert gelesen, ihre Urteile aber gehen trotzdem ins literarische öffentliche Bewußtsein über. Jede Nummer bringt auch Gedichte, aber ihre Verfasser wählt Paul Gyulai bereits aus seiner engsten Umgebung aus. Als verwandtes Blatt können wir die „Fövärosi Lapok" (Hauptstädtische Blätter) ansehen, die sich anfangs nur der Literatur widmeten. Als literarischer Tagesanzeiger brachten sie in jeder Nummer Gedichte, Erzählungen, Besprechungen und Literaturnachrichten. Karl Vadnai, der Herausgeber, sah die jungen Dichter gern, viele von ihnen wurden durch seinen Zuspruch gefördert. Er maß wohl mit akademischen Maßstäben, aber er gab ihnen eine dehnbarere Auslegung. Die Arbeit der Akademie und der Kisfaludy-Gesellschaft würdigte er immer eingehend. Assimilierte treffen wir selten in den Spalten seines Blattes: als diese in grösserer Zahl erschienen, hatte die Zahl seiner Leser schon sehr abgenommen. Vadnai klagt Szabolcska im Jahre 1891 sein Leid: „Seit der Mitte der 70er Jahre haben die neuen Generationen damit begonnen, immer mehr den Zeitungsklatsch der schönen Literatur vorzuziehen. Auch die „Fövärosi Lapok" haben sich gezwungen gesehen, Raum und Opfer immer mehr für den journalistischen Teil auf Kosten der Belletristik zu bringen." Es half aber auch nichts mehr, als man den politischen Teil erweiterte. Das ursprüngliche Lesepublikum war ausgestorben, ein neues war nicht an seine Stelle getreten. Auch die „Vasärnapi tJjsäg" (Sonntagszeitung), das verbreitetste Familienblatt, war von akademischem Geist durchdrungen. Es war ein Grundprinzip des Herausgebers Nikolaus Nagy, niemand in seiner Empfindlichkeit zu verletzen. Wenn er in der einen Nummer dem König Franz Joseph huldigte, dann brachte er in der nächsten sicher Bilder und Artikel über dessen Erzfeind Ludwig Kossuth. Auf dem Titelblatt brachte er in gleicher Weise die Portraits bekannter Christen und Juden des öffentlichen Lebens. Eine problemlose Stimmung herrscht in diesen Blättern, der aufbauende und versöhnende Geist der Zeit der Assimilation. Lange

Die O r g a n e des literarischen Lebens

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Jahre hindurch ist ihr hauptsächlichster Romanschriftsteller Jules Verne. Daneben bekommen aber auch die besten ungarischen Namen der Zeit ihren Platz. Unter den Dichtern kommen Karl Szäsz und Johann Vajda, Joseph Kiss und Julius Reviczky gut neben einander aus. J e weiter aber die Zeit fortschreitet, umso reservierter wird die Haltung der Zeitung, hier und dort läßt sie auch schon eine mißbilligende Stimme über die Überfremdung der ungarischen Dichtung vernehmen. Ihre literarischen Besprechungen sind trotzdem eher gut gemeinte Mitteilungen als strenge Bewertungen. Ihre W i r k u n g kann nicht bestimmt werden, aber es ist unzweifelhaft ihr Verdienst, daß sie in erster Linie das rein magyarische Lesepublikum der Provinz zusammenhielt und ihr eine gute und gesunde Lektüre in die Hände gab. Gleichsam die „Erweiterung" der schönliterarischen Sektion der Akademie ist die Kisfaludy-Gesellschaft (begründet im J a h r e 1836). Ihre Mitglieder wählt sie nach gerade ebenso konservativen Grundsätzen aus wie die Akademie. In den 70er Jahren zählt sie nur zwei Mitglieder jüdischer Abstammung: Adolf Ägai und Adolf Dux. Dieser wurde für seine Petöfi-Übersetzung in die Gesellschaft gewählt. Von den Dichtern nimmt man bis zum Ende des Jahrhunderts nur Ludwig Doczi auf, von den Schriftstellern nur zwei: Anton Rado (als Kunstübersetzer) und Bernhard Alexander (als Philosophen), beide in den letzten Jahren des Vorsitzes Paul Gyulais. Unter der Leitung Paul Gyulais kann die Gesellschaft ihren konservativen Charakter bewahren. Auch die Mitglieder, die der Gesellschaft ihre Unterstützung angedeihen ließen, gehen aus den Reihen des historischen Ungartums hervor. Julius Vargha stellt im Jahre 1907 fest: „Jene Quellen, die das Vermögen der Kisfaludy-Gesellschaft speisen, kommen nicht aus der wohlhabenden Schicht der heutigen Gesellschaft, — von dort sikkern nur dünne Adern —, sondern aus den tieferliegenden Schichten der Vergangenheit." Zu deutsch: das jüdische Kapital sah die Kisfaludy-Gesellschaft nicht als die ihrige an, es spürte darin einen antisemitischen Beigeschmack und hielt sich deshalb von ihr fern. Die Vermögenslage war infolgedessen auch nicht sonderlich günstig. Es langte weder für irgendwelche Preisausschreiben noch für eine Zeitschrift. Nur die Festsitzungen, die nicht viele besuchten, die aber viel Staub in der Tagespresse aufwirbelten, brachten sie mit der breiteren Öffentlichkeit in Berührung. Über die Tätigkeit ihrer Mitglieder berichtete sie in ihrem Jahrbuch, das auch nur von den Mitgliedern gelesen wurde. Sehr bedeutend w a r aber ihre

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1. Das literarische

Leben

Tätigkeit in der Herausgabe von Büchern. Ihre Ausgaben standen im Dienste einer Bildung von europäischem Niveau: sie boten die Klassiker der Weltliteratur in guten Übersetzungen und sammelten liebevoll die Überlieferungen der ungarischen literarischen Vergangenheit. Jüngere Dichter unterstützte die Gesellschaft kaum. Die Dichter, die mit dem „Kastengeist" der Kisfaludy-Gesellschaft unzufrieden waren, gründeten im Jahre 1876 die PetöfiGesellschaft. Sie wählten Jokai zum ersten und Karl ßjszaki (Neriinger) zum zweiten Präsidenten. Bei der A u f n a h m e von Mitgliedern ging die Gesellschaft nicht sonderlich streng vor, und aus dem G r u n d e konnte sie sich auch zu keinem besonderen Ansehen aufschwingen. Ihr Verlag, in dem sie nur Originalwerke erscheinen lassen wollte, konnte es nicht mit jenen Unternehmungen aufnehmen, die auf rein geschäftlicher Grundlage arbeiteten. Ihre Vorlesesitzungen erfreuten sich anfangs einer gewissen Beliebtheit, aber allmählich verlor sich das Interesse. E i n großes Verdienst konnte die Gesellschaft f ü r sich buchen: sie pflegte erfolgreich und mit großer, tiefgehender W i r k u n g auf die ungarische Mentalität den Petöfi-Kult. Allerdings muß es merkwürdig erscheinen, wenn es aber auch f ü r die damaligen geistigen Verhältnisse sehr sprechend ist, daß die erste große Petöfi-Biographie, die die Gesellschaft veröffentlichte, eine Ubersetzung aus dem Deutschen ist (Alexander Fischer). Im Laufe der Zeit aber kam die Petofi-Gesellschaft den Traditionen, die die Kisfaludy-Gesellschaft vertrat, innerlich immer näher. Sie war die Schwelle, über die vor allem die assimilierten Dichter ohne Schwierigkeit ins Innere des Heiligtums eintreten konnten. Einem Teil von ihnen blieb der Eintritt bis heute verwehrt, den schriftstellernden Frauen, die in dieser Zeit in immer größerer Zahl auftraten und die Gyulai um keinen Preis aufnehmen wollte. Ziemlich ansehnlich war die Zahl ihrer Mitglieder jüdischer Abstammung, wobei — wie übrigens später auch in der Kisfaludy-Gesellschaft — einer den anderen nach sich zog. Joseph Kiss empfiehlt Bartok seinen Glaubensgenossen Makai in der Form: „ W ä h l t ihn, mein Sohn, einen Juden, es schadet ihm nichts, uns kann es vielleicht von Nutzen sein. M a n wird sagen, die Petöfianer arbeiten im Geiste ihres Meisters, nicht so wie die Kisfaludianer, die die jungen, aufgeweckten J u d e n nicht leiden mögen." Die Gesellschaft nahm auch Makai auf, aber auch diese „Weitherzigkeit" stärkte nicht ihr Ansehen. G e r a d e das Blatt von Joseph Kiss spottet darüber: „Eigent-

D i e O r g a n e des literarischen L e b e n s

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lieh wäre es die Aufgabe dieser Gesellschaft, die gebundenen Flügel des Genius der Literatur zu lösen . . . oh, was für ruhige Leute sitzen hier, die hübsche Filigrangedichtchen vorlesen. Sonst trüben sie kein Wässerchen und machen keinerlei Revolution, am wenigsten — in der Literatur." Die Petöfi-Gesellschaft versuchte sich auch im A n f a n g mit der Herausgabe einer Zeitschrift. Das Blatt der Petöfi-Gesellschaft erschien wöchentlich, dann wurde es unter dem N a m e n „Koszorü" (Kranz) zu einer Monatsschrift umgestaltet, um dann als Wochenblatt sein Ende zu finden. W ä h r e n d eines 8jährigen Dahinvegetierens wurde die Zeitschrift von Josef Szana, dann zur Zeit ihres Eingehens von Emil Äbranyi und Melchior Palägyi redigiert. U m sie gruppierte sich die weltanschauliche und persönliche Opposition gegen Gyulai, die für die Freiheit des Schriftstellers (die in dieser Zeit wirklich von niemand gefährdet wurde) eine Lanze brach, gegen den Materialismus kämpfte und das Primat der Phantasie verkündete. Sie lobten ausdauernd V a j d a und Tolnai und stellten Johannes Arany als mittelmäßigen Dichter hin. Die ungarische Literaturgeschichtsschreibung machte sich allerdings ihre W e r t u n g nicht zu eigen, und so verklangen diese neuen Schlagworte wirkungslos. Den ,,Koszorü (Kranz) setzte im Jahre 1887 Melchior Palägyi (Silberstein) unabhängig von der Gesellschaft unter dem Titel ,,Uj nemzedek" (Neue Generation) fort, wobei er mit dem Juden Julius Varsänyi zusammenarbeitete. Sie erreichte insgesamt zehn Nummern. Dies war das erste ungarische schönliterarische Blatt, das von einem Schriftsteller jüdischer Abstammung redigiert wurde und das vor allen Dingen mit jüdischen Mitarbeitern arbeitete. Die Opposition gegen die Akademie und die Kisfaludy-Gesellschaft beschränkte sich nicht auf diese Zeitschriften und auf deren Mitarbeiter. Es saßen nämlich bei jeder Tageszeitung — wie Gyulai wohl wußte — Journalisten, die von den akademischen Preisrichtern ihrer schönsten H o f f n u n g e n beraubt worden waren. Alle diese waren geschworene Gegner der beiden traditionellen nationalen Einrichtungen und ergriffen jede Gelegenheit, deren Kredit zu untergraben. Das Publikum zollte ihren A n g r i f f e n gern Beifall, schon aus politischer Antipathie. Gyulai nahm den Feldherrn des Freiheitskrieges A l a d ä r Görgey in Schutz, den „Vaterlandsverräter", und schreckte auch nicht davor zurück, Kossuth, dem Götzen der Nation, einige unangenehme Wahrheiten zu sagen. Er w a r ein unerschütterlicher Anhänger des Ausgleiches,

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1. Das literarische Leben

auch als die Massen von den revolutionären Leidenschaften beherrscht wurden. Dies alles verstärkte seine Unpopularität. Am Ende des Jahrhunderts schlugen die Presseangriffe, die sich gegen ihn und gegen die unter seiner Leitung stehenden Einrichtungen richteten, stellenweise einen T o n an, vor dessen Wiederholung sich die Feder des späteren Chronisten sträubt. „Korrumpierte Gesellschaft", „einträgliche Werkstatt bezahlter Kompilatoren" usw. sind Ausdrücke, die zu den milderen gehören. Gyulai antwortet kaum auf das „Geschrei" gegen die Akademie, aber seine Stimme hätte sowieso nicht weit gereicht. So gelingt es, die zwei wichtigsten ungarischen Bildungseinrichtungen (und bald auch darauf die dritte) vor dem übrigens kritiklosen und wurzellosen großen Publikum in Mißkredit zu bringen, jenes Forum, das berufen gewesen wäre, der nationalen Kultur die Richtung zu weisen, im Geiste Szechenyis auf Gefahren aufmerksam zu machen und zur Selbsterkenntnis zu erziehen. W e n n es seine Stimme erhob, so wurde diese bald von lautem Hohngelächter übertönt. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung wurde von der Presse übernommen. Zur Zeit des Ausgleiches waren Baron Sigmund Kemeny und Maurus Jokai die führenden Geister der ungarischen Presse, ihre Mitarbeiter gingen aus den Reihen des historischen Ungartums hervor. Drei kurze Jahrzehnte genügten, um die Lage so gründlich zu verändern wie nirgends sonstwo auf dem Gebiet des ungarischen Geisteslebens. Schon im J a h r e 1890 ist der Redakteur des „Pesti N a p l o " (Pester Tageblatt), des Blattes Kemenys, Joseph Veszi (Weiss), der Redakteur des Blattes Jökais Edmund G a j a r i (Bettelheim). Diese Auslese ist die Folge eines schnellen Emporsteigens des Judentums. Karl Keleti beobachtet in den 70er Jahren, daß in der Presse die jüdischen Journalisten in einer erschreckend großen Zahl erscheinen. Ihre MimikryNatur, mit der sie sich jeder politischen Konstellation schnell anpassen können, die Vielseitigkeit ihrer Interessen, die Lebhaftigkeit ihres Geistes, der auch in der täglichen Sklavenarbeit nicht nachläßt, ihre Schmiegsamkeit, ihre Fertigkeit im Stil und ihre Oberflächlichkeit, mit einem W o r t e alle ihre Eigenschaften gaben ihnen eine vortreffliche Empfehlung f ü r diese L a u f b a h n mit, in einer Zeit, als die Journalistik noch nicht so sehr ein Mittel zur nationalen Erziehung war, sondern eher ein Geschäftsunternehmen des jüdischen Kapitals. A n der Spitze der Blätter stehen noch allgemein bekannte ungarische Namen, aber an den Schreibtischen der Redaktionen arbeiten schon jüdische Journa-

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listen. Die katholische Presse kann sich nicht durchsetzen, und das antisemitische Blatt Verhovays erlebte ein schmähliches Ende. Wirklich volkstümlich werden besonders zwei Blätter, das „Pesti H i r l a p " (Pester Nachrichtenblatt) und das „Budapesti H i r l a p " (Budapester Naehrichtenblatt), das erste begründet Karl Legrady (Pollak), der Joseph Csukässy (Hecht) mit der Redaktion betraut. Csukässy tritt im J a h r e 1881 aus und gründete mit Eugen Räkosi das „Budapesti Hirlap", das bald in sein alleiniges Eigentum übergeht. Die eine Zeitung zählt 35 000, die andere 30 000 Abonnenten. Im J a h r e 1891 beginnt das „ M a g y a r Hirlap", dessen Leitartikel Ignotus schreibt, im Jahre 1893 unter dem N a m e n von Ludwig Hollo das „Magyarorszäg" (Ungarn), im J a h r e 1893 gründet Ludwig Veszi das „Budapesti N a p l o " (Budapester Tageblatt), früher bereits Viktor Külföldi (Jakob Mayer) das Blatt der ungarischen Arbeiterschaft, die „Nepszava" (Stimme des Volkes). Das Judentum war im Hauptquartier der ungarischen Presse angelangt. In seiner H a n d sind auch die deutschsprachigen Zeitungen, der „Pester Lloyd" und auch das „Neue Pester Journal", das Sigmund Brody zum steinreichen Mann machte. Diese Presse hat man so oft charakterisiert und kritisiert, daß wir uns mit einer kurzen Untersuchung ihres literarischen Wirkens begnügen können. Seit den 80er Jahren bieten die Tageszeitungen der Mehrzahl der jungen Schriftsteller Zuflucht und Existenz. Dem Kreis um Gyulai war es noch gelungen, in höheren, amtlichen Stellungen unterzukommen, sie konnten es sich gestatten, in der Dichtung eine nationale B e r u f u n g und einen edlen Zeitvertreib zu sehen. D e r ungarische Journalist hängt dagegen vom Geist seiner Zeitung ab, er darf nur das schreiben, was ihm die Direktion in A u f t r a g gibt oder das Interesse des hinter der Zeitung stehenden Kapitals verlangt. Seiner persönlichen Weltanschauung oder seiner politischen Uberzeugung darf er nicht Ausdruck geben. W e n n er nicht gerade seine Artikel schreibt, sondern an einem literarischen W e r k arbeitet, muß er dennoch immer darauf acht geben, nicht mit seinem Brotgeber zusammenzustoßen. Die Zeitungen, die unter dem geistigen Diktat der Juden stehen und von dem jüdischen Kapital abhängen, — bei welcher Zeitung vom Ende des Jahrhunderts wäre es auch schon anders gewesen? — lassen der Begabung oder der schlechten Laune des Journalisten weiten Spielraum: er darf seiner Unzufriedenheit mit den ungarischen Verhältnissen Ausdruck geben, er kann die Gentry angreifen und die katholische

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1. D a s literarische L e b e n

Kirche, mit einem W o r t alles, nur ein W o r t ist tabu und dieses heißt: Jude. Die Empfindlichkeit kennt hier keine Grenzen. Ludwig Tolnai wagte es, in seiner Zeitschrift „Irodalom" (Literatur), die mit jüdischem Geld finanziert wurde, ein strenges Urteil über den jüdischen Dichter Joseph Kiss zu fällen. „In ein oder zwei hingeworfenen Worten — so schreibt er in seiner Selbstbiographie — verletzte ich den jüdischen Ritus. Da verlor ich meine vornehmsten jüdischen Abonnenten." Auch sein Geldgeber zeigte ihm den Rücken, und Tolnai mußte das Blatt einstellen. Sehr bald hatte er sich eines anderen besonnen, und als er Armin Muränyis Blatt redigierte, klingt sein Urteil über die Juden bereits entgegenkommender: „Ich habe ihr Herz, ihre glänzende Begabung kennengelernt, die einstmals die größte Bereicherung U n g a r n s sein wird." W e n n der christliche Journalist leben wollte, so mußte er sich assimilieren. Thomas Kobor und Ignotus versuchten es noch zu Anf a n g ihrer Laufbahn an die jüdische Frage zu rühren, leidenschaftslos zur Selbsterkenntnis zu erziehen, aber sie hatten keinen Erfolg. Im Jahre 1916 wurde die Judenenquete des „Huszadik Szäzad" (Zwanzigstes Jahrhundert), der erste Versuch jüdischer Soziologen, ihren eigenen Problemen offen ins Auge zu sehen, von den Juden mit der größten Empörung aufgenommen. In dieser Zeit klagt man im allgemeinen, daß die Zeitungen es versäumen, etwas f ü r die ungarische Literatur zu tun. Sie förderten wohl ein oder zwei Kunstgattungen wie die Novelle und das Feuilleton, aber ihre Romane in Fortsetzungen beziehen sie bereits aus dem Ausland. Das „Orszäg-Viläg" (Land und Welt) nimmt im J a h r e 1884 gegen dies unwürdige V e r f a h r e n der Zeitungen in leidenschaftlicher Weise Stellung: „Für die Pflege der ungarischen Roman- und Erzählungsliteratur tun die Tageszeitungen nur wenig. W i r können die Produkte der französischen Literatur in ihren Feuilletons lesen . . . Unsere eigene Literatur verfügt über viele beachtliche Kräfte. W a r u m wenden sich die Tageszeitungen an ein fremdes Land? Deshalb, weil es bedeutend billiger ist." D a ß die Lage sich auch später nicht besserte, darauf weist ein Mitarbeiter der „A H e t " hin: „Die Tagespresse hat uns das Lesepublikum bis zum letzten M a n n geraubt, um es für die ausländische Literatur zu gewinnen, die sie aus Gründen reiner Spekulation (weil es billiger ist) dem ungarischen Leser in Unmengen auftischt." Die Presse erfüllte also ihre Aufgabe gegenüber der literarischen Produktion in ungenügendem Maße. Ihren wesentlichen

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Zweck sah sie in dem wirtschaftlichen und politischen Interesse der Zeitung, aber nicht darin, den Publikumsgeschmack zu bilden. Zu A n f a n g waren bei der Beurteilung der Literaturwerke noch die allgemeinen politischen Gesichtspunkte entscheidend: „Aus allem machen wir Politik — schreibt Sigmund Bodnär im Jahre 1878 — auch bei den politischen Tageszeitungen kann man solche Fragen hören wie: Zu welcher Partei gehört der Verfasser? W e n n zur unsrigen, dann werden wir ihn loben. Steht er auf einem anderen Standpunkt, dann werden wir ihn herunterreißen." Später hängt die Beurteilung des Schriftstellers in immer größerem Maße davon ab, wie er zum Judentum steht. „Es ist ein Gradmesser für die Qualitäten der Völker, wie sie sich den Juden gegenüber verhalten", schreibt Ludwig Palägyi (Silberstein) im Jahrbuch der I M I T , „wie auch die Größe der Persönlichkeit dadurch bestimmt wird, inwieweit sie geneigt ist, den W e r t ihrer jüdischen Mitmenschen anzuerkennen." Überheblicher konnte man den jüdischen Standpunkt schon nicht mehr vertreten. So konnte es kommen, daß das Publikum von den Schöpfungen bedeutender christlicher Schriftsteller nicht einmal Kenntnis nehmen konnte, mittelmäßige jüdische Schriftsteller aber zu Größen der Weltliteratur ausposaunt wurden. Das ungarische Judentum hat die ungarische Presse zwar ausgebaut, aber in vollem Besitze der Macht verlor es irgendwie das Maß. In ihren H ä n d e n lag das empfindlichste Instrument, das die nationale öffentliche Meinung zu formen pflegt, aber es gab nicht acht auf das Gewissen der ungarischen Nation, sondern folgte blindlings seinen eigenen Jahrtausende alten Instinkten. Nicht anders ist die Lage auch bei einem großen Teil der schönliterarischen und gesellschaftlichen Zeitschriften. Die ungarischen Verleger suchen die deutschen Familienblätter aus der Gunst des Lesers zu verdrängen, und deshalb bemühen sie sich auch, ihm einen ungarischen Abklatsch zu bieten wie das „Magyarorszäg" (Ungarn) und die „Nagyviläg" (Große Welt), das „Orszäg-Vilag" (Land und Welt), den „Magyar Szalon" (Ungarischer Salon), der für das vornehme Publikum berechnet ist, die „Szemle" (Rundschau), die sich rühmte, Magnaten zu ihren Redakteuren zu haben, die „Kepes Csaladi Lapok" (Illustrierte Familienblätter) oder den „Magyar Geniusz" (Ungarischer Genius), von dem Gyulai schreibt: lucus a non lucendo . . . Sie alle vertreten weder literarische noch politische Prinzipien, es handelt sich gewöhnlich um Geschäftsunternehmungen jüdischer Verleger, die ein möglichst

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großes Lesepublikum an sich ziehen wollen, der geistige Gesichtspunkt, der sie leitet, ist die Zerstreuung. Bei diesen Unterhaltungsblättern arbeiten fast alle Schriftsteller der Zeit mit. A m Ende der 80er J a h r e begannen sich infolge des katholischen Erwachens und infolge kirchenpolitischer Kämpfe weltanschauliche Fronten herauszubilden. Der Katholizismus wendet sich mit starkem Einsatz der Arbeit der Neuorganisation auf dem Gebiete des gesellschaftlichen, politischen und geistigen Lebens zu. Die „Szent Istvän Tärsulat (Sankt-Stephans-Gesellschaft), die im J a h r e 1887 ihre literarische Abteilung begründet, veröffentlicht die „Katholikus Szemle" (Katholische Rundschau) als gesellschaftliches und literarisches Organ. Ein J a h r darauf wird die „Protestans Irodalmi Tarsasäg" (Protestantische Literarische Gesellschaft) mit der „Protestans Szemle" (Protestantische Rundschau) gegründet. Keines von beiden ist ein ausgesprochen kämpferisches Organ: sie wollen das religiöse Selbstbewußtsein steigern und das Glaubensleben verinnerlichen. Diesem Zwecke dienten auch ihre schönliterarischen Mitteilungen und Besprechungen. Neben der „Katholikus Szemle" existiert noch als katholisches Kirchenblatt das im J a h r e 1863 gegründete „Magyar Sion" (Ungarisches Zion). Als literarisches Kampfblatt des Katholizismus gibt Julius Rudnyanszky im Jahre 1888 die „Magyar Szemle" (Ungarische Rundschau) heraus. Im Geleitwort bittet er den hohen Klerus um Unterstützung, um „die Talente der katholischen Literatur, die drauf und dran sind, sich endgültig in alle W i n d e zu zerstreuen, unter einer Fahne zu sammeln." Anscheinend ist es ihm nicht gelungen, diese Unterstützung zu gewinnen, denn im nächsten Jahre bereits verkauft er sein Blatt und scheidet bald auch aus der Schriftleitung aus. Die „Magyar Szemle" ist zu dieser Zeit schon nicht mehr katholisch, sondern — unter der Redaktion von Joseph Kaposi — eine „allgemeine gesellschaftliche und literarische Zeitschrift". Der Mitarbeiterstab besteht zum großen Teil wohl aus Katholiken, aber die Zeitschrift schöpft ihre prinzipiellen Gesichtspunkte weniger aus ihrer katholischen Weltanschauung als vielmehr aus ihrem scharf aggressiven Antisemitismus. Mit dieser offenen Einstellung steht sie so ziemlich allein und ist deshalb eine sehr interessante Zeiterscheinung. M a n muß sich wundern, daß sie es auf 18 Jahrgänge brachte. Der Herausgeber opferte wegen der geringen Zahl von Abonnenten ein ganzes Vermögen dafür. H e f t i g greift die Zeitschrift die ungarische Presse an. „ W i r könnten die Presse zwingen — so schreibt sie — daß sie sich, solange

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sie nicht wieder ehrlich ungarisch und christlich geworden ist, irgendwie unserem Geschmack anpaßt und wenigstens den A n s c h e i n des Ungartums und des Christentums aufrecht erhält." Sie ist davon überzeugt, daß „wir uns ohne die unerbetene Fürsprecherei der jüdischen Presse schon längst mit den Nationalitäten hätten gütlich einigen können." Die „Magyar Szemle" glaubt, daß in der ungarischen Literatur die „jüdisch-ungarische Epoche" angebrochen sei. „Diese nach Tausenden zählende und ständig wachsende Gruppe — so schreibt sie — tritt mit einem besonderen und ausgesprochen eigenen Nationalbewußtsein auf den Plan. Von wem einmal bekannt ist, daß er J u d e ist, der hat schon nach dem Erscheinen seiner Erstlingsarbeiten sofort Anteil an der Anerkennung der Tagespresse. . . W e n n sie aber bei einem ungarischen Autor antisemitische Gefühle entdecken, dann richten sie ihn mit ständigen Beleidigungen oder durch Totschweigen zugrunde." — Zu gleicher Zeit schreibt die „Budapesti Szemle", daß „der Antisemitismus in U n g a r n nur ein flüchtiger böser T r a u m war und jetzt Gott sei Dank bereits jeder daraus erwacht sei." Anscheinend fanden die Klagen der „Magyar Szemle" nicht den W e g in die Redaktionsstube der „Budapesti Szemle". — Diese Stimmen dringen schon, wenn auch vereinzelt, aus dem stummen Chor des noch zum Schweigen verurteilten Ungartums in die Öffentlichkeit, sie zeigen deutlich an, daß sich die geistige Lage langsam zu verschärfen beginnt und daß das gesunde U n g a r t u m gegen den geistigen, seelischen und materiellen Druck einer f r e m d e n Rasse aufbegehren wird. Die „Magyar Szemle" hatte vergebens, zum Nachteile des Katholizismus, mit einer offiziellen katholischen Unterstützung gerechnet; die im Jahre 1891 beginnende Zeitschrift „filet" (Leben), ein Organ der jungen jüdischen Intelligenz, nimmt den Kampf gegen die katholische Kirche in ihr Programm auf: „Das „ £ l e t " hat es auf sich genommen, auf literarischem W e g e und mit literarischen Mitteln die Macht der katholischen Geistlichkeit zu brechen und die Freiheit der menschlichen Gesellschaft und den Liberalismus zu retten." Es f a n d e n sich auch zuweilen christliche Mitarbeiter ein, den Geist der Zeitschrift bestimmt aber die junge jüdische Generation. Dieser Geist liebt in außerordentlichem Maße die Abwechslung, er ist unausgegoren und reich an Widersprüchen. Diese Literaten fordern die Regierung auf, den Religionsunterricht zu beseitigen und die katholische Geistlichkeit aus dem öffentlichen Leben zu entfernen, aber in einem Atem verübeln sie

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es dem Universitätsprofessor Gustav Schwarz, daß er als Jude seine Universitätsvorlesungen zum jüdischen N e u j a h r begann; Béla Vikar, der seit dem 2. Jahrgang die Schriftleitung führt, äußerst sich über die Überlegenheit des jüdischen Glaubens: „Im wesentlichen ist heute dieser Glaube der Glaube jedes gebildeten Menschen." Die schärfsten Angriffe gegen den Katholizismus richtet Géza Szilägyi. A n seiner Seite schwingt der erfolgreich assimilierte Ärpäd Zempléni das Schlachtschwert, indem er den Zusammenschluß aller Protestanten und J u d e n gegen die finsteren ultramontanen Mächte fordert. Wilhelm Mezöfi schreibt im Geiste von Karl Marx über den „wirklichen Sozialismus", Karl Sebestyén verlangt aber die Vertiefung des nationalen Geistes. Géza Szilägyi beginnt hier seine erotischen Gedichte zu veröffentlichen, die hart an der Grenze der Pornographie stehen; auf diesem Betätigungsfeld findet er in Edmund Gero einen würdigen Rivalen, der unter dem Pseudonym Ilona Vargha — auch der N a m e Gero ist bereits ein Schriftstellerpseudonym — einen Roman sexuellen Inhalts schreibt. Gleichzeitig greifen sie mit vereinten Kräften den ungari sehen Kultusminister an, da er den „unsittlichen" Roman Mikszäths ,,A kis primàs" (Der kleine Primas) als Schullektüre zuließ. Sie schätzen V a j d a sehr und loben Tolnai, aber mit gleichen W o r ten der Anerkennung schreiben sie auch über Paul Gyulai. Von U n g a r n halten sie kurz und lapidar folgendes: dies „sei das Land der verblödeten großen Magnaten, die die hohen Stellungen gepachtet haben wie die Juden das Regal". W e n n die jüdischen Schriftsteller sich auch schon untereinander so außerordentlich unterscheiden, so klafft ein noch größerer Gegensatz zwischen ihnen und ihren christlichen Kollegen. Diese vertreten in den Spalten dieser seltsamen Zeitschrift den wurzelechten ungarischen Rassegedanken. Ludwig Katona bemerkt, daß die ungarische Gesellschaft in gefährlicher Weise überfremdet sei: „ W e n n heute vielleicht schon mehr Menschen in unserem Vaterland ungarisch sprechen als vor 20 Jahren, so ist dies noch kein endgültiger Beweis dafür, daß die ungarische Staatsidee und ihr belebendes Element, der nationale Geist, auch im Bewußtsein der der Sprache nach magyarisierten Elemente tiefer Wurzel geschlagen hätte." Benedikt Jancsó kritisiert unbarmherzig Joseph Kiss, der seiner Meinung nach „in manchen unbewachten Augenblicken verrät, daß die Kunst der ungarischen Sprache ihm nicht angeboren, sondern nur erlernt sei". U n d während der eine jüdische Mitarbeiter dem Literaten Ignotus als dem ersten der ungarischen Dich-

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ter den Lorbeerkranz reicht, stellt ein paar Blätter weiter der christliche Mitarbeiter über ihn fest: „Die Verdrehtheit, das übermäßige Affektieren, trübe Lügen, träumerische Pose, arrogantes Urteil über alles herrscht dort, wo auch er treuer Untertan ist." In der einen Nummer wird der jüdische Schriftsteller Desider Szomory als „starkes, großes, fühlendes, offenherziges ungarisches Talent" gefeiert, in der folgenden Nummer zieht Karl Lyka das Magyarentum des bedeutenden ungarischen Malers Michael Munkäcsy in Zweifel: „Können wir es wagen, die Gedichte Lenaus, die Musik Haydns und die Bilder Pettenkofens als ungarisch anzusprechen? Munkäcsy können wir nicht für einen wirklich großen ungarischen Künstler halten. . . . In seinen Werken finden wir wohl genügend ungarisches Kostüm, aber sie sind nicht vom wahren ungarischen Geist durchweht." — Die Liebe zum eigenen Volkstum schließlich äußert sich am kräftigsten in dem Artikel Turis, der über den deutschen und jüdischen Charakter Uberlegungen anstellt und erklärt, daß der ungarische Selbstschutz auch zum Rassenhaß berechtigt. Das „filet" war die erste Zeitschrift, die ihre Aufmerksamkeit im gesteigerten Maße dem Westen zuwandte. Die Redaktion lud Ibsen im J a h r e 1891 nach Budapest ein, der Dichter kam auch, und man veranstaltete ihm zu Ehren ein großes Bankett, nach der Aufführung der „Nora" spannte ihm die Jugend die Pferde vor dem W a g e n aus. Die Zeitschrift bringt einen Originalaufsatz von Brandes und als erste auch mit Übersetzungen versehene Besprechungen über die Werke Baudelaires, Gerhart Hauptmanns, Knut Hamsuns und Nietzsches. So können wir diese Zeitschrift mit Recht als den Vorläufer der späteren ungarischen literarischen Zeitschriften ansehen. In ihr stoßen jene Gegensätze, die auch später versteckt vorhanden waren, hart aufeinander. Sie verkündet als Grundprinzip: Raum der Persönlichkeit, sie ehrte das Talent und bis zur Selbstaufgabe die dichterische Freiheit. Das „filet" hatte kaum sein Erscheinen eingestellt, als dem ungarischen Rassenschutzgedanken ein neues Kampforgan, die „Jelenkor" (Gegenwart), erstand. Sie wurde von Melchior Palagyi in Gemeinschaft mit seinem Bruder redigiert, beide schrieben in dem kleinen Wochenblatt, der große Geist Johannes V a j d a inspirierte ihre Artikel. Nach dem Tode V a j d a s gesteht Ludwig P a l a g y i selbst ein: „Wenn ich meine Meinung über das öffentliche Leben einer Untersuchung unterziehe, dann kann ich kaum noch unterscheiden, was ich aus mir geschöpft und was ich von F a r k a s , Freiheitskampf

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V a j d a gelernt habe." W i r können ruhig feststellen, d a ß er a l l e s von V a j d a gelernt hat, nicht nur er, sondern auch sein älterer Bruder Melchior. Könnten denn wohl aus dem H i r n u n d aus dem Herzen Melchior Palagyi-Silbersteins diese Zeilen stammen: „Soweit das Auge schaut, zeigt sich uns überall ein im Schmutz watendes und darin erstickendes Leben. . . W i r sammeln Anhänger für das Ungartum, wir verbreiten unsere Sprache und im Eifer der Magyarisierung bemerken wir nicht, daß wir selbst uns immer mehr unseres Ungartums begeben, daß wir U n g a r n dem Geiste untreu werden, mit dem wir anderen gefallen wollen. W i r wollen die anderen gewinnen und währenddessen verlieren wir uns selbst." — Die Zeitschrift will f ü r die Selbständigkeit des ungarischen Geistes kämpfen, will ihn aus den Fesseln des deutschen Denkens befreien, deshalb greift sie die Akademie an, die nach ihrer Meinung den deutschen Gedanken verbreitet. Sie greift Budapest an, „das berufen wäre, Führer des Ungartums zu sein", aber wenn es sich in der heutigen Richtung weiterentwickelt, ,,wird es vielleicht der Sprache nach einmal ungarisch sein — aber in der Begeisterung f ü r die nationalen Ziele kann es nie dem U n gartum angehören." Bestürzt schaut sie auf das wachsende Lager der assimilierten deutschen und jüdischen Schriftsteller, auf dieses neue Heer von Schriftstellern, „das nicht nur die Traditionen unseres Vaterlandes nicht kennt, sondern sich auch unsere Sprache noch nicht angeeignet hat: mit seinem aus den Tageszeitungen geschöpften Wissen unseren Geist vergiftet und erniedrigt, die ungarische Nation dazu verführt, fremde Götzen anzubeten, und U n g a r n zur bemitleidenswertesten Kolonie des Auslandes macht." Die einzige Zeitschrift, die Anteil an dem Leben des Volkes nimmt, schreibt zur Zeit des Milleniums, der T a u s e n d j a h r f e i e r des ungarischen Staates: „Man hätte das ungarische Millenium zum wirklichen Fest des Volkes machen müssen. . . N u r die uneigennützige Pflege des materiellen und geistigen Interesses des ungarischen Volkes sichert die führende Rolle unserer gebildeten Klassen und das Bestehen der Jahrtausende alten ungarischen Tradition." — Dies sind die quälenden Gedanken und schicksalhaften Mahnungen des großen Schülers Szechenyis aus dieser Zeit. Der alte V a j d a selbst tritt nicht auf den Plan, sondern benutzt als Sprachrohr seiner tiefen Gedanken zwei kaum assimilierte jüdische Schriftsteller. Aber niemand hörte auf ihn. Seine Zeitschrift wurde so gründlich vergessen, daß wir in den ungarischen literaturgeschichtlichen W e r k e n und Nachschlagewerken nicht einmal den

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Titel finden. Nach dem Tode V a j d a s ging die Zeitschrift auch ein, Melchior P a l ä g y i aber, der gegen den deutschen Gedanken kämpfte, verdingte sich als „deutscher" Philosoph. Er starb in Darmstadt als anerkannter Gelehrter im Jahre 1924. Im Jahre 1897 nimmt es Alexius Benedek auf sich, eine kritische Zeitschrift zu gründen, die ausschließlich der rein ungarischen Mentalität dienen soll. Die Mitarbeiter der drei Jahrgänge der „Magyar Kritika" (Ungarische Kritik) kommen zum großen Teil aus den Reihen der jungen jüdischen Intelligenz, die geistige Leitung hält aber Benedek — vielleicht der einzige wurzelechte M a g y a r e in der Schriftleitung — fest in der Hand. Sein kritisches Grundprinzip lautet: „Als eine Forderung ersten Ranges, die wir an das W e r k des ungarischen Dichters stellen, sehen wir den wahrhaft ungarischen Geist an." Mit Schmerzen sieht er, daß „sich neben die ungarische Seele die fremde Seele eingedrängt hat." Ständig greift er das Lager von Jospeh Kiss an, dessen Denkungsart ihm vollkommen fremd und zuwider ist. Von Kobor, Pekär und Franz Molnar stellt er fest, daß "keiner von ihnen ungarisch denken kann, nur die Namen ihrer Gestalten sind ungarisch. Oder auch nur ihre Umgebung. Ihre Denkweise ist es nicht." Er ist aber auch mit Paul Gyulai nicht zufrieden und fordert mit scharfen Worten seine Entfernung von der Leitung der Kisfaludy-Gesellschaft. Hier klingen vielleicht persönliche Beweggründe mit. Die „Magyar Kritika" ist das letzte ehrliche kritische Bekenntnis in unserem Zeitalter, das keine Rücksichten kennt. „ M a g y a r Szemle", ,,£let", „Jelenkor", „Magyar Kritika" — alle diese Zeitschriften übten keine große Wirkung aus, aber in ihrer Unausgegorenheit sind sie interessante und charakteristische Äußerungen einer widerspruchsvollen, trüben Zeit. Sie sprechen weniger zum Leser als eher zu den Dichtern. Generationen messen darin ihre Kräfte mit den schmerzvollen und ungelösten Fragen des ungarischen Lebens. Der Erfolg mußte ihnen versagt bleiben, aber durch sie blicken wir schärfer in die Zeit als durch jene Unterhaltungsblätter, die die Gunst des Publikums suchten und in erster Linie zerstreuen wollten. In den 90er Jahren wurde die ungarische Literatur durch zwei Zeitschriften dieser Art, durch die „A Het" (Die Woche) und die „Üj Idök" (Neue Zeiten), bereichert. Den Mitarbeiterstab der „A Het" hatten wir schon kurz charakterisiert, mit ihrer Geistesart werden wir uns aber noch beschäftigen müssen. Es lag sicherlich nicht in der Absicht von Joseph

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Kiss, eine jüdische literarische Zeitschrift zu redigieren. Sein Ehrgeiz verstieg sich zu höheren Zielen. Er achtete peinlich darauf, daß man unter seinen Mitarbeitern die besten ungarischen Namen zählte. Nach zehn Jahren sagt er selbst mit einigem Zynismus: „Nach altem literarischen Brauch verzierte auch ich die erste Nummer mit berühmten Namen." Er konnte nichts dafür, daß diese Größen des Landes nicht in seiner Zeitschrift schrieben und auch die jüngeren christlichen Talente langsam ausblieben. Joseph Kiss war auch wegen seines Terrors berüchtigt. W e n n er über jemand sein Netz geworfen hatte, ließ er ihn nicht in Ruhe, bis er ein Manuskript aus ihm herausgepreßt hatte. W e n n es nicht anders ging, pflegte er aus kürzlich erschienenen Gedicht- oder Novellenbänden einige Abschnitte mitzuteilen, wobei er den Anschein erweckte, als hätten die Verfasser ihn um die Mitteilung gebeten. Sein Mitarbeiterstab, den das Inhaltsverzeichnis zeigt, ist zum großen Teil fiktiv. Die führenden Geister der Zeitschrift sind bis zum Ende des Jahrhunderts Thomas Kóbor, Ignotus, Eugen Heltai, Alexander Bródy, Elias Pollàk, dann Emil Makai und Franz Molnàr. Neben ihnen spielen Zoltän Ambrus, Andreas Kozma und Béla Tóth eine geringere Rolle. Das geistige Profil der Zeitschrift wird von der Mentalität der zuerst erwähnten Autoren bestimmt. Diese Literaten-Mentalität ist nicht nur instinktiv, sondern bewußt und gewollt jüdisch. Die Chroniken, die sich mit den Tagesproblemen befassen, die literarischen Plaudereien und Literaturkritiken und die politischen Artikel kennen nur einen Gesichtspunkt und dieser ist: das jüdische Interesse. Die Zeitschrift nimmt eifrig am Kampfe um die Rezeption an der Seite des Judentums Anteil, anfangs blickt sie mit Sympathie auf die A g r a r bewegungen, solange sie sich gegen die verhaßten herrschenden Klassen richten, aber schon die Aktion Darànyis zur Rettung des Landvolkes greift sie erbittert an, weil sie um das eingewanderte Dorfjudentum besorgt ist. Sie ist ein geschworener Gegner der Akademie und der Kisfaludy-Gesellschaft, Kóbor nennt Gyulai einen „Schädling der Nation", aber als die Akademie David Kohn auszeichnet, feiert die Zeitschrift ihn „als den großen Geist, der für das künftige große Jahrhundert bestimmt ist". Sie greift die katholische Kirche mit vergifteten Pfeilen an, aber als ein Kohn katholischer Erzbischof von Olmütz wird, ist sie außer sich vor Freude. Sie berichtet über jedes jüdische Ereignis und reagiert auf jeden Angriff. Ihr Judentum beschränkt sich aber nicht mehr auf die Verteidigung, sie geht mit spitzer Feder und scharfem

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Geiste zum Angriff über. Sie fordert nicht etwa Gleichberechtigung, sondern verkündet die Überlegenheit des Judentums, weil — nach den W o r t e n des Ignotus — es viele Juden gibt, Ungarn aber außerordentlich wenige. Sie haben hier in diesem Lande das wirtschaftliche und geistige Leben geschaffen, hier kann der Antisemitismus keine Wurzeln schlagen. Ihre Dichter sind mit der ungarischen Sprache unzufrieden, „die kein einziges W o r t hat, das imstande wäre, einen einzigen ihrer Gedanken in voller Treue wiederzugeben". Sie fordern f ü r ihren Budapester Jargon nicht nur Bürgerrecht, sondern sie sind davon auch überzeugt, daß er die zukünftige ungarische klassische Sprache sein werde. Sie schreiben die größten Dithyramben über sich, über kaum flügge jüdische Talente. Eugen Heltai ist noch nicht 20 J a h r e alt, als ein Titelblatt sein Portrait in der Freiwilligen-Uniform bringt. Ihr Leserkreis ist derart verjudet, daß Joseph Kiss sich entschuldigen muß, als er zu Weihnachten eine Festnummer erscheinen lassen will. In seinen redaktionellen Mitteilungen bemerkt er zu diesem Zugeständnis, daß „dies niemanden täuschen solle". Sie stehen mit ihren Lesern in einer so unmittelbaren Beziehung wie die vortragenden Künstler eines Kabaretts mit dem Publikum. Hier herrschen keine Phrasen und keine abstoßende Steifheit. Diese Literaten sprechen sich hier über ihre persönlichen Angelegenheiten aus, sie reden sich einander immer nur mit dem Vornamen an. Sie verurteilen das Publikum nicht zu einer passiven Rolle, es hat das Recht, hineinzureden. Sie stimmen darüber ab, wen man f ü r den größten ungarischen Dichter halten könne, mit dem sanften Hinweis, sich unter den Mitarbeitern umzusehen. Natürlich entfallen die meisten Stimmen auf Joseph Kiss, aber auch die übrigen kommen nicht schlecht dabei weg. Die begeisterten Antworten werden in vollem U m f a n g e wiedergegeben. Ein andermal kann das Publikum sich darüber äußern, wem es am liebsten die Regierung des ungarischen Staates anvertrauen würde. Joseph Kiss leugnet nicht, daß auch er Stimmen erhielt. Kiss war gewiß seinen Anhängern ein gestrenger Herr, der sie die Achtung vor dem W o r t e lehrte, sein Hauptgesichtspunkt war aber nicht die Bereicherung der Literatur, sondern der Geschäftsgewinn. D a r i n war er nicht übermäßig feinfühlig. Anzeigen druckte er auf dem Titelblatt und auch im Texte ab, er gab eine Kochbuchbeilage, und als ihn eine Tageszeitung angriff, daß er im Interesse einer Spielbank auf der Margaretheninsel in Budapest f ü r Geld Artikel geschrieben hätte, antwortete er, daß er l e i d e r

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nur die H ä l f t e der von seinen Gegnern angegebenen Summe bekommen hätte. Er ließ sich gern feiern, und seine Anhänger hielten ihn f ü r den größten ungarischen Dichter. „Er schreibt selten" — schreibt einer von ihnen — „aber der Tag, an dem ein Gedicht von ihm erscheint, ist ein Feiertag f ü r die ganze ungarische Nation." Keine geringere Autorität als Franz Herczeg spricht von Kiss noch nach Jahrzehnten folgendermaßen: „Die mit mir gleichaltrige Schriftstellergeneration . . . blickte mit solch andächtiger Verehrung zu ihm auf, wie dies bei ganz Großen üblich ist. W i r sahen ihn als einen blutsmäßigen ungarischen Dichter, als ein Glied in der lyrischen Kette, die mit Valentin Balassa beginnt." Die „andächtige", jugendliche Verehrung hinderte Franz Herczeg nicht, ein Konkurrenzunternehmen von großer Durchschlagskraft zu eröffnen, die „ Ü j Idök" (Neue Zeiten, 1895). W ä h r e n d Joseph Kiss sich auf seine eigene K r a f t verlassen mußte, stand hinter den „ Ü j Idök" ein großer Verlag: Singer und W o l f ner. Franz Herczeg erwies sich als ein ausgezeichneter Redakteur, so daß sich seine Zeitschrift in kurzer Zeit rühmen konnte, mehr Abonnenten zu haben als die ,,A H e t " und die „Vasärnapi Ü j s ä g " zusammen. Sie wurde wirklich zu einem modernen Familienblatt, dessen Mitarbeiterstab sich aus den besten Talenten der Zeit zusammensetzte, da Singer der Verleger der meisten war. Die Hauptmitarbeiter waren Koloman Mikszäth und Alexander Brödy, Hilfsredakteur Robert Täbori (der nach den W o r t e n H e r czegs der bescheidenste Mensch der W e l t war, nur auf eins wäre er stolz gewesen, auf seine jüdische Abstammung), später Paul W o l f ner-Farkas. Herczeg bemühte sich ehrlich, getreu seinem zitierten Programm, die Zeitschrift in ungarischem Geiste zu leiten, was ihm auch durchaus gelang. Gedichte brachte er selten, aber einen umso größeren Raum sicherte er der Erzählung. Außer seinen eigenen W e r k e n sind hier Mikszäths und Ambrus' neuere Romane erschienen. In seinen Rezensionen war er zurückhaltend und hatte in erster Linie die Interessen des Verlages im Auge. Später erhebt er seine Stimme auch zuweilen — gleichsam in Randbemerkungen — zu den schwereren Problemen der Literatur. *

Das Nationaltheater ist als traditionelles und staatliches Kulturinstitut dazu berufen, nicht nur zu zerstreuen, sondern auch zu erziehen. Es besitzt eine ausgezeichnete Schauspielertruppe, aber verfügt über wenig gute ungarische Stücke, im J a h r e 1878—79 gelangten an 185 Abenden insgesamt 47 ungarische Theaterwerke

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zur Aufführung. Das Publikum zieht damals noch das deutsche Theater vor, noch lieber aber geht es in die in den Vorstädten gedeihenden jüdischen Varietes, wo es sich an üblen Witzen, die im Jargon vorgetragen werden, belustigen und sich wie zu Hause fühlen kann. Die Lieder über Fanni Schneider und Sami Goldstein verdrängen sogar in den ungarischen Häusern der Provinz die ungarischen Volkslieder. Die L a g e des Nationaltheaters ist schwierig, weil die Presse, besonders die oppositionelle, jede Initiative mit offenkundiger Mißbilligung aufnimmt. Der Theaterkrieg nimmt nie ein Ende, obwohl Eduard Paulay während seiner langen Direktion alles versucht, die Pflege der Tradition mit dem Geist der Neuzeit zu vereinigen. Es ist nicht seine Schuld, daß die ungarische Dramenliteratur keine Werke hervorbringt, die der Zeit standhalten, und so sieht er sich gezwungen — besonders seitdem das im Jahre 1884 gegründete Opernhaus ihm die Aufführungen von Musikwerken abnimmt, sein Programm mit ausländischen Stücken zu ergänzen, die fremde gesellschaftliche Verhältnisse und einen fremden Geist widerspiegeln. Eine große Konkurrenz für das Nationaltheater bedeutet das „Nepszinhäz" (Volkstheater), das Eugen Räkosi im Jahre 1875 begründete. Hier zieht „die Nachtigall der Nation", Luise Blaha, ständig ein großes Publikum an. Eugen Räkosi selbst ist der Meinung, daß der Pester dort gelernt hat, ungarisch zu lachen und ungarisch zu weinen." Das „Nepszinhäz" hat für die sprachliche Magyarisierung des Pester Publikums viel getan, nur daß Räkosi und seine Freunde das Ungartum mit dem Verstände und dem Herzen des Außenstehenden deuteten und ungarische Typen schufen, wie sie sie gern gesehen hätten und wie der Ausländer ihn auch heute noch sieht: jauchzend tanzt er den Csardas, in der Hand schwingt er den Fokos, auf der weiten Puszta reitet er wilde Pferde ein, als Betyär ist er der Fanatiker der Freiheit, in seiner Liebe urkräftig und leidenschaftlich und auch noch im Sterben läßt er sich von den Zigeunern ein feuriges Lied vorfiedeln. Das Pester Publikum, das das wahre ungarische Volk nie gesehen hatte, stellte sich den Ungarn wirklich so vor, und als dann später wirkliche völkische Schriftsteller auftraten und versuchten, das Volk mit seinen quälenden Problemen zu zeigen, wurden sie vom Publikum entrüstet zurückgewiesen, das mit Räkosi an der Spitze in ihnen die Zerstörer ihrer Illusionen sah. Das Zeitalter ist stolz auf sein „Nepszinhäz" und auf seinen Publikumserfolg, den es für einen Erfolg des Ungartums hält. Nur eine einzige oppositionelle Stimme

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läßt sich hören, die „Magyar Szemle" vom J a h r e 1893: „Die ungarische Volksstückliteratur liegt im Sterben — schreibt der Verfasser des Artikels, — dies ist die Sünde der E w a , Rakosi und Piufsich. W e n n sie überall getötet haben, was den ungarischen Geist aufrechterhielt und was ihrem verlogenen U n g a r t u m den W e g verstellte . . . warum sollten sie das Volksschauspiel am Leben gelassen haben. . . Die Stücke Szigligetis sind unsterblich, weil sie den Charakter, die Gewohnheiten und die Denkweise des ungarischen Volkes widerspiegeln. Aber diese Denkweise, diese Bräuche und dieser Charakter müssen zugunsten des neuen Jerusalems untergehen. D a n n schaffen sie ein neues U n g a r n nach ihrem Bekentnis und nach ihrem Bilde." Das Volkstheater hätte seine ursprüngliche Aufgabe sicher besser erfüllt, wenn seine besten Dichter Eduard Toth und Franz Csepreghy nicht nur ein paar J a h r e bei ihm geblieben wären. So brachte das Theater an Stelle von Volksstücken immer mehr Ausstattungsstücke, es wurde zu einem Geschäftsunternehmen. Im Jahre 1889 brannte das deutsche Theater nieder, und ein neues wurde an seiner Stelle nicht erbaut. Jüdische Kapitalisten hätten die G r ü n d u n g eines neuen deutschen Theaters für ein gutes Geschäft angesehen, aber mit Rücksicht auf die „öffentliche Mein u n g " wollten sie auch ungarischen Stücken darin Platz geben. Die Entrüstung der öffentlichen Meinung der Nation offenbarte sich diesmal in ungewohnter Stärke und wollte sich sogar damit nicht zufrieden geben, daß nur zur H ä l f t e deutsche Stücke gespielt werden sollten. Die lautesten Sprecher der öffentlichen Meinung waren die deutschen Ratsherrn der Hauptstadt. So wurde nach schweren Kämpfen im J a h r e 1895 das „Vigszinhäz" (Lustspielhaus) gegründet. Dieses Theater machte die leichten Gesellschaftsstücke französischer Schriftsteller (die zum großen Teil jüdischer Abstammung waren) volkstümlich, in denen schlüpfrige Verwicklungen um das Ehedreieck die Hauptrolle spielten. Es erzog eine erstrangige Schauspielergarde, aber gleichzeitig trug es auch beträchtlich zur Lockerung der Moral der Hauptstadt bei. Ebenfalls jüdisches Kapital begründete im J a h r e 1897 das „Magyar Szinhäz" (Ungarisches Theater), das auch die Operette in sein Programm aufnahm. Die Direktion übernahm im nächsten J a h r e der 25 jährige Ladislaus Beöthy, der sich bald zu einer Theatergroßmacht auswuchs. „Ein großer Teil seiner Erfolge — schreibt der bekannte ungarische Literaturhistoriker Eugen Pinter über ihn — ist außer seinem angeborenen Geschäftssinn seiner

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engen Verbindung mit dem Judentum zuzuschreiben. Nach seinem Tode beklagte ihn die „Egyenlöseg" (Gleichheit), die Zeitung der Konfessionsjuden, als die Hauptstütze der jüdischen Kultur." Die Tätigkeit Beöthys, wie auch die des „Magyar Szinhäz", gehört schon der nächsten Epoche an. Das ungarische Theater brachte ausgezeichnete Schauspieler hervor, deren Ruhm auch nach ihrem Tode nicht verblaßte. Aus der Entwicklung der ungarischen Gesellschaft und aus der Struktur der ungarischen Theater ergibt sich von selbst, daß in die ursprünglich rein ungarische Schauspielergarde immer mehr f r e m d e Elemente aufstiegen, die in der Hauptstadt schlecht und recht ungarisch gelernt hatten. Palägyi, der die Sprache der ungarischen Schauspieler beobachtet (im J a h r e 1895), stellt fest, daß „der eine mit deutschem Tonfall spricht, der andere mit der f ü r die jüdische Rasse typischen singenden Aussprache redet, der dritte die ungarischen W o r t e slowakisch betont ausspricht . . . sogar das Nationaltheater hat mehrere berühmte Schauspieler, die nicht gut ungarisch können." Diese Schauspielergarde ist aber dazu berufen, das Pester Publikum das literarische Ungarisch zu lehren. U n d was der J u d e Palägyi noch beanstandet, das preist nach ein paar J a h r e n der rein ungarische Zoltän Szäsz schon als unsterblichen Erfolg: nach seiner Meinung macht der jüdische singende Tonfall die einförmige und flache ungarische Diktion melodisch und f a r big. Diese A r t soll den neuen ungarischen Theaterstil prägen. Diese Forderung, die in einer Tageszeitung an führender Stelle erscheint, bezeichnet wohl den Höhepunkt der Überfremdung der ungarischen Theaterkultur. W ä h r e n d wissenschaftliche und literarische Gesellschaften, Zeitschrifterl, Tageszeitungen und Theater aus traditionellem ungarischem Boden emporwuchsen und nur mit der Ü b e r f r e m d u n g der Gesellschaft in die H ä n d e von eben erst Assimilierten kamen, so hat das ungarische Verlagswesen keine ungarische Wurzel. Es lebten wohl einmal, in der Zeit der Reformation und Gegenreformation, auch auf ungarischem Boden berühmte und arbeitsame Drucker, die religiöse Schriftsteller, aufopfernde Verleger und auch Buchhändler in einer Person waren, aber dieser Typus ging f ü r immer verloren. Als am Ende des 18. Jahrhunderts die ungarische Literatur wieder neu zu blühen begann, gab es keine U n t e r n e h mer, die dem ungarischen Buche zum Siege verholfen hätten. Franz Kazinczy (1759—1831), der große Reformator der ungari-

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sehen Literatur, lebte mit seiner Familie in wahrem Elend, nur um seine Bücher drucken lassen zu können. Den Vertrieb übernahmen seine Freunde. Die Dichtungen Berzsenyis lagen 13 Jahre im Schubfach, bis katholische Geistliche das Geld zu den Druckkosten zusammenlegten. Petöfi hat das Erscheinen seines ersten Bandes neben der Unterstützung Vörösmartys der Opferbereitschaft eines braven ungarischen Handwerksmeisters zu verdanken. Es gab damals in U n g a r n schon Verleger, deutsche Unternehmer, die von der aufstrebenden städtischen Kultur hierher gelockt worden waren, wie Wiegand, Landerer, Heckenast, Geibel und Emich. Zuerst verbreiteten sie deutsche Bücher, ohne Rücksicht auf die Staatsgrenzen; als dann aber auch das ungarische Buch sich als Geschäft erwies, nahmen sie auch die ungarischen Schriftsteller auf. Das war bei ihnen nicht Sache des Herzens, wir wissen z. B. von Landerer, der sich mit Hedkenast vereinigte, daß er der beauftragte Spion der österreichischen Geheimpolizei war. In der Zeit des Absolutismus gründete Maurus Rath sein Verlagsunternehmen. Er war der Verleger der literarischen DeâkPartei, so auch der W e r k e Aranys. Seine Geschäftsbegabung war nicht sehr entwickelt, und so verstaubten gerade die Werke der ungarischen Klassiker im Magazin, anstatt d a ß sie zum großen Publikum gesprochen hätten. Heckenast fühlte sich nach dem Ausgleich in der ungarisch werdenden Hauptstadt nicht mehr wohl, er zog sich nach Preßburg zurück, wo er nur noch deutsche Bücher herausgab. Aus seinem Unternehmen bildete sich im Jahre 1873 die „Franklin Târsulat" (Franklin-Gesellschaft), deren erster Direktor Wilhelm J u r a n y war, nach Maurus Rêvai ein „guter braver Deutscher, der niemals Ungarisch gelernt hatte, obwohl er an der Spitz eines ungarischen Literaturunternehmens stand." Bei Franklin erledigte aber J u r a n y wahrscheinlich nur den geschäftlichen Teil, der Geist des Unternehmens wurde von der Direktion bestimmt, in der Gyulai eine entscheidende Rolle spielte. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß im Verlage der Gesellschaft die „Budapesti Szemle" und die „Vasarnapi Üjsag", die „Olcso Könyvtär" (Billige Bibliothek) und die Serie der ungarischen Klassiker, die „Régi M a g y a r Könyvtär" (Altungarische Bibliothek) und die Bibliothek der ungarischen Romanschriftsteller und die große Ausgabe der W e r k e von Johannes Arany, usw. usw. erschienen, um die bedeutende Arbeit kennenzulernen, die die „Franklin T â r s u l a t " seit dem Ausgleich im Interesse der ungarischen Kultur geleistet hat. Die junge Lite-

Die O r g a n e des literarischen Lebens

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ratur unterstützte sie nicht sehr, ein konservativer Geschmack kennzeichnet sie, aber sie gab wiederum nie ihr Firmenzeichen f ü r minderwertige Bücher her. Gustav Emich ertrug das Tempo des neuen ungarischen Lebens auch nicht und gestaltete deshalb sein Unternehmen im J a h r e 1868 unter dem Namen „Athenaeum" zu einer Aktiengesellschaft um. An der Gründungsversammlung nahmen auch die beiden größten Romanschriftsteller der Zeit, Kemeny und Jökai, teil, aber die Verhandlung ging in deutscher Sprache vor sich, weil auch Emich die ungarische Sprache nicht beherrschte. Das „Athenaeum" ist schon viel beweglicher als die Franklin-Gesellschaft, es wird von prinzipiellen Gesichtspunkten nicht gebunden, gibt gleicherweise Zeitungen der Regierungspartei und der Opposition und sogar auch klerikale Blätter heraus, billige Romanserien, die sie zu Zehntausenden auf den Büchermarkt wirft, im Athenaeum erscheint die ungarische Milleniumsgeschichte und die illustrierte Literaturgeschichte Beöthys. Auch von diesen können mehrere zehntausend Exemplare verkauft worden sein. A n Kapitalskraft wird es bis zum Ende des Jahrhunderts immer stärker, seine Macht wächst. Damals steht es schon unter der Leitung von Direktoren jüdischer Abstammung, es umfaßt die neueste ungarische Literatur und begründet mächtige Zeitungsunternehmungen. W i r finden auch dort eine hervorragende altruistische Ausgabe: die Reihe der „Schriften von Ludwig Kossuth". Von Altruismus kann man in dieser Zeit aber nicht leben, der Buchverlag wird — worüber die Schriftsteller oft klagen — zu einem abstoßenden Geschäft, das Buch zur Handelsware, an dem jeder verdient, nur der Autor nicht. Deshalb kann auch Ludwig Aigner mit seinen Ausgaben auf keinen grünen Zweig kommen, als er mit der „Nemzeti Könyvtär" (Nationalbibliothek), die alten ungarischen Schriftsteller zu neuem Leben erwecken will. Die frisch eingewanderten jüdischen Verleger sind gewandter, sie überschwemmten das Land mit broschierten Ausgaben, sie bieten den breiten Massen eine leichte und billige Lektüre, gewöhnen ihnen das Lesen an und verderben von vornherein ihren Geschmack und ihre Urteilsfähigkeit. Größer ist der Ehrgeiz des im J a h r e 1885 gegründeten Unternehmens „Singer und W o l f n e r " , das mit seinen rot eingebundenen Romanserien einen ungeheuren Erfolg hat. Es bringt viele ausländische Schriftsteller, aber publiziert auch gern neue ungarische Romane (von Tolnai, Herczeg, Brody usw.). Gleichzeitig schafft die Firma die ungarische Kinder-

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literatur. Längere oder kürzere Zeit wirken die Firmen Mehner, Wodianer, L a u f f e r usw. Auch von L a u f f e r sagt Rêvai, daß „er niemals ungarisch gelernt habe, jedes Rundschreiben in deutscher Sprache erließ, jeden Vertrag deutsch formulierte und gewissermaßen von jedem seiner Geschäftsfreunde forderte, daß sie Deutsch könnten und deutsch korrespondierten." Von solchen Verlegern konnte man nicht verlangen, daß sie mit innerem Verständnis der ungarischen Kultur dienten. Unter ihnen ist das Verlagsunternehmen der Gebrüder Rêvai eine seltene Ausnahme, das von ihrem Vater, Samuel Rosenberg, gegründet wurde. Sein Sohn Johannes Maurus Rêvai hatte eine vornehme L a u f b a h n eingeSeine schlagen, mehrere Male war er Reichstagsabgeordneter. Verlegertätigkeit verschaffte ihm die Freundschaft vieler bedeutender ungarischer Männer, ihm hat Jokai die hundertbändige Prachtausgabe seiner W e r k e und das 100 000 G u l d e n - H o n o r a r d a f ü r zu verdanken. Seine Lektoren waren begabte junge Schriftsteller. Aus seinen Memoiren wissen wir, daß die Verlegerrnoral nicht auf hoher Stufe stand. Der eine Verleger war bemüht, den anderen auszustechen, kaum hatte der eine irgendein U n t e r n e h men zustande gebracht, als sich schon der andere beeilte, ihn mit einem ähnlichen zu übertrumpfen. Als Franklin z. B. die „Magyar Remekirok" (Ungarische Klassiker) herausbrachte, ließ die Firma Lampel-Wodianer in Verbindung mit einem W i e n e r jüdischen Kolporteur, Max Herzig, die „Képes Remekirôk" (Illustrierte Klassiker) erscheinen, natürlich ohne Johannes Arany, weil nämlich seine W e r k e das Eigentum der Franklin-Gesellschaft bildeten. „So brachten sie von neuem das Ausland mit seiner Rigorosität und Unbarmherzigkeit hinein — schreibt Rêvai erbittert — mit der man U n g a r n als ein Balkangebiet ansah, das man ausbeuten könnte." Einer machte dem anderen Konkurrenz, und das ungarische Publikum bezahlte den Preis. A m Ende der 80er J a h r e begann auf dem Büchermarkte das sogenannte Abzahlungsgeschäft. Dadurch konnten die Pester Verleger leichter an das Publikum herankommen und für ihre Ausgaben eine hohe Auflagezahl erreichen. Der Büchermarkt lag fast ausschließlich in der H a n d jüdischer Agenten, an deren Geschäftsmethoden sich Rêvai mit Schaudern erinnert. Das historische U n g a r t u m machte nicht einmal einen Versuch, die wichtigsten T r e u h ä n d e r seines geistigen Lebens, den Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverlag, seiner Leitung unterzuordnen,

Die literarische Bildung des ungarischen Lesepublikums

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„In der ungarischen Aristokratie und Mittelklasse — schreibt Gyulai im J a h r e 1879 in der „Vasärnapi Ü j s ä g " (Sonntagszeitung) — war nicht soviel Unternehmungsgeist vorhanden, durch Zeichnung von Aktien eine große Zeitung zu begründen." Sie hatten wirklich nicht soviel Unternehmungsgeist, und so kam es am Ende des Jahrhunderts soweit, daß in Budapest nur eine Tageszeitung unter christlicher Leitung stand, das „Budapesti H i r l a p " (Budapester Nachrichtenblatt) von Eugen Räkosi-Kremsner, das führende Organ des ungarischen Illusionismus und Pseudoimperialismus. N u r zwei größere Zeitschriften stellten sich den jüngeren Talenten zur Verfügung: die Zeitschrift von Joseph Kiss und die von Franz Herczeg. Die Verlagsunternehmungen — mit Ausnahme der amtlichen — gehorchten dem jüdischen Kapital.

3. D i e

l i t e r a r i s c h e B i l d u n g des Lesepublikums.

ungarischen

Nachdem wir die gesellschaftliche Schichtung des Lesepublikums untersucht haben, wenden wir uns der literarischen Bildung des ungarischen Lesepublikums zu, deren Höhe oder Tiefstand von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Literatur sein kann. In Deutschland führt auch der Kleinbürger, der seine Klassiker im allgemeinen mehr oder weniger gut kennt, Goetheund Schillerzitate im Munde; wenn er sich auch nicht bewußt in die Klassiker vertieft hat, so hat er doch teil an dem Bildungsgut, das das geistige und literarische Leben bis in die kleinsten Verästelungen durchdrungen hat. Die jungen Generationen schöpfen aus ihnen K r a f t und Anregung, sie finden in ihnen das allgemein verbindliche Maß, an dem sie jede neuere Erscheinung messen können. Die Dichter der neuen Generationen bauen wieder weiter auf ihnen, sie reißen sich nie von dem Mutterboden los, der sie genährt hat. Alles Neue aber findet ein verständnisvolles Publikum. Die ersten entscheidenden und haftenden Eindrücke, die die literarische Bildung und den literarischen Geschmack des breiteren Publikums in großen Zügen bestimmen, vermittelt die Schule. Franz Toldy, der „Vater der ungarischen Literaturwissenschaft", verfaßte im J a h r e 1864/65 die erste Literaturgeschichte f ü r Höhere Schulen, ein umfangreiches Handbuch, in dem Toldy mit einer sich bis in die unwichtigsten Einzelheiten verlierenden Gründlichkeit die Literatur vom Mittelalter bis zur Zeit der Romantiker (Vörösmarty) durchpflügt, auf Grund von Urteilen, die bereits Kazinczy,

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1. Das literarische Leben

der Reformator des neueren ungarischen Schrifttums, ausgesprochen hatte. Er dachte aber nicht daran, an seine Zeitgenossen, die „Epigonen" Petöfi und Arany, Kemeny u n d Jökai, besonders viel W o r t e zu verschwenden. Anderthalb Jahrzehnte lang unterrichteten die Lehrer nach dieser Literaturgeschichte oder solchen, die auch nur ein einfacher Abklatsch von Toldy waren. In den Jahren 1877/79 veröffentliche Zsolt Beöthy seine zweibändige Literaturgeschichte, die f ü r mehrere Jahrzehnte den ungarischen Unterricht ausschließlich beherrschte. Diese Arbeit, die der literarischen Entwicklung durchaus gerecht wurde, vereinte — wie man nicht müde war zu betonen — Gründlichkeit des Wissens mit Schönheit des Ausdrucks. Beöthy, der sich das Urteil Gyulais zu eigen gemacht hatte, sah in Sigmund Kemeny den größten ungarischen Romanschriftsteller, in Johannes A r a n y den größten ungarischen Dichter, Petöfi und Jökai behandelte er ein wenig stiefmütterlich, die Neueren erwähnte er nur flüchtig. Obwohl das gegnerische Lager Tolnais ihn heftig angriff, konnte es doch nicht verhindern, daß das gebildete Publikum Beöthys Literaturgeschichte allgemein anerkannte, umso mehr, als sich die staatlichen Behörden d a f ü r einsetzten. Dies verdiente sie auch im gewissen Sinne, sie ist eine schöne und edle Schöpfung, f ü r lange Zeit bildet sie die Grundlage im Universitätsunterricht und in der wissenschaftlichen Forschung, aber in den Höheren Schulen ist sie fehl am Platze. W e d e r Lehrer noch Schüler konnten mit diesem Buche zu Rande kommen. W e g e n des großen Umfanges mußte der Lehrer zufrieden sein, wenn er vor dem Abschlußexamen bis Kazinczy kam, wenn er nicht vielleicht schon vorher stecken geblieben war. So erstickte diese Literaturgeschichte in dem Schüler jedes Interesse f ü r die ungarische Literatur, der damals schon Zola las, wie er sich auch überhaupt in der französischen Literatur besser auskannte als in der ungarischen. W i e aber hätte auch ein Schüler, der erst in der Schule Ungarisch zu lernen begann, mit Formulierungen fertig werden können wie: „Seine tiefe und klare Einsicht in die Geheimnisse der menschlichen Seele wie auch in das dunkle Innere der wogenden Beziehungen der menschlichen Gesellschaft, ein scharfer Verstand, der imstande ist, alles auf seine Beweggründe zurückzuführen und in die Grundzellen zu zerlegen, sein Reichtum an gründlichen und eindringlichen Kenntnissen zahlreicher Zweige der Wissenschaft wie auch an originellen Ideen, ein reiches phantasie- und anschauungsbegabtes Talent, das unter der Herrschaft eines immer sicheren Urteils

D i e literarische Bildung des ungarischen Lesepublikums

Hl

arbeitet, der Kampf menschlicher Leidenschaften, das tiefe, gleichsam bittere Mitleid mit dem Elend des Lebens, das sich aber nur mit den Mitteln des epischen Dichters offenbart: alles dies würde Kemeny nicht nur bei uns, sondern auch in jeder reicheren Literatur auf einen der ersten Plätze stellen." Der Schüler, der diese Periode lernte, als wenn er sich einen chinesischen Text einprägen müßte, dachte auch im späteren Alter nur mit Schaudern an Sigmund Kemeny zurück und nicht weniger an Zsolt Beöthy. Es gab sicherlich dann und wann auch Schüler, die sich von der stilistischen Schönheit dieses Buches f ü r die ungarische Literatur gewinnen ließen, aber auf die Mehrzahl der aufwachsenden ungarischen Intelligenz wirkte das Buch abschreckend. — Dazu kam noch, daß die Schule nicht über den Lehrplan des österreichischen U n t e r richtsministers G r a f e n T h u n hinausgekommen war und nicht die Zeit dazu aufbringen konnte, die literarischen W e r k e selbst lesen zu lassen, nur Aranys „Toldi" machte eine Ausnahme, aber auf welche Art, darauf haben wir schon hingewiesen. So wuchs die ungarische Intelligenz in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts auf. Sie konnte wohl einige leicht rezitierbare Petöfi- und A r a n y Gedichte auswendig, sie las einen oder zwei Jokai-Romane, die Gesamtheit der ungarischen Literatur aber bedeutete f ü r sie nichts anderes als eine A n h ä u f u n g langweiliger Daten. Zahlreiche aufschlußreiche Zeugnisse von Zeitgenossen bestätigen es. Ignotus schreibt im Jahre 1902: „ W i e viele waren in rein ungarischer U m gebung aufgewachsen — auch unter meinen Altersgenossen gab es einige — . . ., die noch nach J a h r e n ihre Versäumnisse schnell nachholen mußten, weil sie zur gleichen Zeit, wo sie sich geschämt hätten, Voltaire oder auch Rudolf Baumbach nicht zu kennen, ihre eigene Literatur außer Jokai, Petöfi und Johannes A r a n y nur aus Schulbüchern kannten." W e n n Gyulai in dieser Zeit von nationalen Traditionen sprach, begriffen nur wenige, was er darunter verstand. Als später Andreas A d y sich mit Vorliebe auf Csokonai berief, fragte ihn einmal Joseph Kiss spöttisch: „ W e r ist schon dieser Csokonai, heute schreibt schon jedes Schulkind bessere Gedichte." — Melchior Palägyi bezeichnet die Vörösmarty-Studie Gyulais als „Musterbild asiatischer Rückständigkeit", der Name Petöfis aber tauchte nur als Symbol der Freiheit auf dem Banner der politischen Kämpfe auf, der Tiefe seiner Dichtung wurde diese Zeit nicht gerecht. „Kazinczy, Berzsenyi, Kölcsey, Vörösmarty, Petöfi, Madäch, sie beriefen sich noch auf Inspiration und innere Einge-

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bung — schreibt Johannes V a j d a mit der Feder Melchior Palägyis — sie schrieben mit ihrer Seele und brachten ihr Herz der Nation dar. . . Wo sind diese Großen geblieben und wo das Publikum, das sie verstanden hat? W o sind die berufenen Vertreter des ungarischen Geistes geblieben und wo ist die Nation geblieben, die noch an ihre Apostel glauben konnte?" Dieses Publikum, die Bewohner adliger Kurien und Dorfpfarreien, Beamte alten Schlages, war immer mehr zusammengeschrumpft. Die Schule erfüllte nicht ihre Aufgabe, weil sie sie nicht erfüllen konnte, wenn sich auch hier und dort ein begeisterter Lehrer fand, der sich über den Lehrplan und über das Lehrbuch hinwegsetzte und Seele in die tote Materie goß. — Die Generationen, die die Schule verlassen hatten, hatten noch weniger Möglichkeiten, sich weiter zu bilden. Die Literaturgeschichte Siegmund Bodnars (1893), die übrigens Fragment geblieben war, vermochte schon wegen ihres wissenschaftlichen Charakters und ihrer philosophischen Unterbauung den ungarischen Durchschnittsleser nicht zu interessieren. Es dauerte bis zum Millenium (1896), bis schließlich das literaturgeschichtliche W e r k erschien, das die literarische Bildung des großen Publikums heben wollte. Auch dieses Werk ist dem Eifer Zsolt Beöthys zu verdanken, die ganze Nation war stolz darauf. Es sind zwei umfangreiche Bände, reich illustriert, ein Meisterwerk des ungarischen Buchgewerbes. Es ist keine ausgeglichene Arbeit, sie besteht aus 99 Studien, die die Entwicklung der ungarischen Literatur bis zum Ausgleich behandeln, wobei das Hauptgewicht auf die älteren Zeiten gelegt wird. Die einzelnen Studien sind nur durch die chronologische Reihenfolge verbunden, Wiederholungen finden sich häufig, auch W i d e r sprüche. Beöthy, bekannt wegen seiner ausgleichenden Natur, bemühte sich alle zeitgenössischen geistigen Gegensätze auszugleichen: unter seinen 44 Mitarbeitern befinden sich gleicherweise Katholiken, Protestanten und Juden. Trotzdem ist freilich die Unzufriedenheit groß. Die Protestanten verübeln es ihm, daß er mit der Darstellung des Reformationszeitalters den Juden Albert Kardos beauftragt hatte. Die Katholiken werfen ihm protestantische Voreingenommenheit vor, die „Rassemagyaren" beanstanden die übermäßige Beteiligung von Verfassern jüdischer Abstammung. Dieses Prachtwerk kauften zwar sehr viele, aber nur wenige lasen es. Es ist auch keine leicht zu bewältigende Lektüre, und gerade für die Beurteilung der neueren Literatur gibt es keinerlei Richtlinien. Eine viel größere Wirkung erreichte Beöthy mit seinem ,,A

Die literarische Bildung des ungarischen Lesepublikums

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magyar irodalom kis tükre" (Kleiner Spiegel der ungarischen Literatur), der gleichfalls zur Zeit der Tausendjahrfeier des ungarischen Staates erscheint und sich bald in weiten Kreisen verbreitet. Es ist vielleicht die künstlerischste ungarische wissenschaftliche Arbeit, eine wahre epische Dichtung. Der Grundgedanke, der das Buch wie ein roter Faden durchzieht, ist: „Unsere Literatur hat der Seele der Nation nicht nur Ausdruck gegeben, sondern sie auch aufrecht erhalten." Dieses Buch ist ein der Vergangenheit zugewandtes Glaubensbekenntnis, das aber leider in der Hand unbedeutenderer Schüler bald zur leeren Dogmatik erstarrt. Vom Ausgleich bis zum Millenium waren drei Jahrzehnte vergangen und währenddessen war ein neues Ungarn aufgewachsen, gegen dessen Unkenntnisse in der Literatur auch die in edler Absicht geschriebenen Bücher Beöthys nicht mehr helfen konnten. Jene junge Generation aber, für die sie den W e g der Entwicklung hätten angeben können, begeisterte sich einerseits für Joseph Kiss und seine Trabanten, andererseits aber glaubte sie, daß mit der „antinationalen" Lyrik Andreas Adys ein Bruch in der Entwicklung der „nationalen" Literatur eingetreten sei. Die ungarischen literarischen Gesellschaften konnten nicht viel zur Verbreitung der literarischen Kenntnisse des großen Publikums beitragen, weil sie auf taube Ohren stießen, in der Presse aber wurde der literarische Geschmack von Leuten bestimmt, die die ungarischen literarischen Traditionen nicht kannten und sie deshalb mit oberflächlicher Überlegenheit beiseite schoben. Langsam war es dazu gekommen, daß sich der ungarische Leser gänzlich auf seine Zeitung verließ, die ihn nicht nur über politische Tagesfragen unterrichtete, sondern auch bemüht war, alle seine nicht sonderlich anspruchsvollen geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Bücherkauf kam langsam aus der Mode. Die Leserinnen in der Provinz fanden in der Bibliothek der Landeskasinos Ohnet, Marlitt, Frau Beniczky, weiter gingen ihre Ansprüche nicht. „Es ist wirklich sehr wenig ermunternd für den Schriftsteller — schreibt Karl Keleti — wenn er daran denken muß, daß niemand sein Buch, das er mit seinem Herzblut geschrieben hat, liest, weil sich unter fünfzehn Millionen Ungarn nicht einmal einige Hundert finden, die ein ernsteres literarisches Buch kaufen." Die weite Verbreitung des Abzahlungsgeschäftes war für den Verleger von Nutzen, aber umso weniger f ü r die Schriftsteller und für die Literatur. Der Mann aus der Provinz, der z. B. die einundzwanzig Prachtbände der „Oszträk-Magyar Monarchia iräsban Farkas, Freiheitskampf 8

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1. Das literarische Leben

es kepben" (Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild) auf Teilzahlung kaufte, um damit seine Wohnung zu schmücken, glaubte, daß er alle seine Pflichten gegenüber der ungarischen Kultur erfüllt habe. Dieses Zeitalter, das mit immer neuen Unternehmungen und Gründungen beschäftigt war, ist — wie sich auch die „Fövärosi Lapok" (Hauptstädtische Blätter) beklagen — in Wirklichkeit ein Zeitalter der Antikultur. Allen zeitgenössischen Zeugnissen können wir entnehmen, daß fast ausschließlich die jüdische Intelligenz Bücher kauft, wie sie auch die Theater und die Konzertsäle füllt. Schriftsteller und Verleger sind in gleicher Weise bestrebt, sidi dem Geschmack dieser Intelligenz anzupassen.

II. DAS LITERARISCHE WERK. 1.

Literarische

Richtungen.

Das literarische Bewußtsein des 20. Jahrhunderts teilt die Dichter der Zeit des Ausgleichs in zwei Lager. In das eine reiht es die Vertreter des Realismus, der „volksnationalen Schule", ein. Es nennt sie die Petöfi-Arany-Epigonen (Gyulai, Levay, Szasz, Vargha, Kozma, Szabolcska, Edmund Jakab). In das andere stellt sie die Impressionisten und Romantiker, die Phantasiebesessenen, die Wegbereiter der neuen Literatur (Vajda, Kiss, Reviczky, Komjäthy). Ähnliche Fronten bilden sich — nach diesen literarischen Anschauungen — auch auf dem Gebiete der Roman- und Dramenliteratur heraus. In dieser Beleuchtung erscheint Paul Gyulai als der edle, aber hartnäckige Vertreter der volksnationalen Tradition, der jede neuere literarische Erscheinung zurückweist, weil er ihr verständnislos gegenübersteht und die nüchterne Vernunft höher schätzt als die Kraft der Phantasie, der jede literarische Erscheinung an Johannes Arany mißt, in dem er nicht nur die Vollendung der ungarischen literarischen Entwicklung sieht, sondern von dem er auch glaubt, daß von ihm aus kein W e g weiterführe. Gegen ihn stellt sich sowohl in der Dichtung als auch in der Kritik eine starke Opposition, die Gegner des akademischen Konservativismus, die Fürsprecher der Entwicklung, die glauben und bekennen, daß mit Johannes Arany die ungarische Literatur nicht stehen geblieben sei, die geneigt sind, in jedem neuen Talent ein bahnbrechendes Genie zu sehen und dem Volksnationalen das allgemein Menschliche gegenüberzustellen. Die bisher einheitliche ungarische Literatur hat sich gespalten, verkündet das 20. Jahrhundert, manchmal mit dem Ausdruck des nationalen Schmerzes, manchmal mit hämischer Schadenfreude. W e n n wir uns von der Voreingenommenheit beider Richtungen frei machen, die Ergebnisse der Entwicklung im 20. Jahrhundert unberücksichtigt lassen und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deren Ablauf untersuchen, und zwar auf Grund des zeitgenössischen 8*

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2. Das literarische W e r k

literarischen Bewußtseins, dann können wir ein Bild der Literatur der Zeit zeichnen, das vom obigen etwas abweicht, aber wohl eher der Wahrheit entspricht. Der gefeierte Dichterfürst der 70er J a h r e ist Johannes Arany. Die Epen „Buda h a l ä l a " (Der Tod Budas) und „Toldi szerelme" (Die Liebe Toldis) und die späten Balladen werden nicht nur von dem akademischen Kreis mit fast huldigender Begeisterung aufgenommen, sondern auch von der Presse. Es gab vielleicht nur einen Menschen in diesem Lande, der damit unzufrieden war: der Dichter selbst. „Der Ruhm ist größer als das Verdienst", schreibt er. „Welch große Arbeit erwartete mich noch! . . . W i e wenig hat sich halbwegs erfüllt. Und wieviele Hoffnungen haben mich im Stich gelassen!" Diese strenge, fast vernichtende, posenlose Selbstkritik steht wirklich einzigartig in der Weltliteratur da. Dieselbe Selbstkritik und Bescheidenheit kennzeichnet auch seine geringeren Dichterkollegen und Freunde, Gyulai, Levay und Karl Szasz. Sie sind zwar Epigonen, aber jeder von ihnen hat seinen eigenen Ton. Sie sind keine Dichter mit großen Ansprüchen, aber die Harmonie des Rhythmus, der Form und des Gefühls herrscht in allen ihren Dichtungen. Nach den 70er Jahren verstummen sie langsam. Karl Szäsz übersetzt Dante und das Nibelungenlied, Gyulai greift nur ausnahmsweise zur Leier, Levay, der Übersetzer von Burns, ist noch der fruchtbarste. Sie beanspruchen für sich nicht den Namen eines genialen Dichters, und sie haben auch keinerlei Sinn für die Reklame der neuen Zeit. Der Tagespresse steht es frei, Gyulai offen anzugreifen und totzuschweigen. In seiner Zeitschrift „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau) erhebt sich kein Wort zu seiner Verteidigung. Auch über die Dichtung der übrigen Freunde kennen wir hier nichts anderes als sachliche und strenge Kritik. Als im Jahre 1880 die gesammelten Gedichte Levays erscheinen, die Produktion von 35 Jahren, urteilt Eugen Peterfy in der „Budapesti Szemle" unter anderem folgendermaßen über sie: „Soweit Levay ein wirkliches lyrisches Talent ist, bewegt er sich in engen Grenzen. Oft macht er einen Eindruck wie der Sänger, der eine Arie immerzu wiederholt." — Ihre Selbsterkenntnis und ihre Bescheidenheit sind nicht von dieser Zeit, in der z. B. die überlaute Presse Joseph Kiss als den genialsten ungarischen Dichter ausposaunt. Sie verfügen über jene sittliche Grundlage, von der aus sie mit berechtigtem Selbstbewußtsein urteilen können. Von e i n e r Verantwortung kann man sie, vor allem aber Gyulai, nicht freisprechen: sie haben es versäumt, dem ungarischen Pub-

Literarische Richtungen

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likum eine kongeniale W ü r d i g u n g der Dichtung der Klassiker in die H a n d zu geben. W i r lesen selten etwas über A r a n y in den Spalten der „Budapesti Szemle". Eine Festrede oder dann und wann ein Artikel konnten diesem Mangel nicht abhelfen. Sie hatten das M a ß f ü r die Beurteilung seiner Dichtung, aber sie vergaßen sie zu deuten, und deshalb wurden Gyulai und sein Kreis später eine bequeme Beute leichtfertiger Angriffe. Nicht die Dichtung spaltete sich nach dem Ausgleich, sondern die Kritik: es begann das oberflächliche Zeitalter des „Aneinandervorbeiredens". „Die öffentliche Meinung" verübelte ihnen besonders die strenge Kritik an zwei ihrer Zeitgenossen, an Jökai und V a j d a . Sie schadeten aber keinem von beiden, denn sie konnten den Publikumserfolg Jokais nicht verhindern und an der Unpopularität V a j d a s hatten sie keinen Anteil. Gyulai und sein würdigster W a f f e n g e f ä h r t e , Peterfy, tadelten an Jokai nicht die Phantasie im Namen der „nüchternen Mittelmäßigkeit", wie dies ihre Gegner gern glauben machen wollten, sondern die Ungezügeltheit der Phantasie. Mit tief eindringender Analyse und erstaunlichem Scharfblick lösten sie das dichterische Werk in seine Elemente auf. Sie suchten darin die Abgerundetheit der Komposition, die Plastik der Charakterisierung, die Harmonie von Inhalt und Form und die Ausdruckskraft der Sprache. Nur ästhetische Gesichtspunkte interessierten sie. „Mit der Weltanschauung selbst geben wir uns nicht ab — schreibt Gyulai an einer Stelle — es soll nur wahre Dichtung sein, durch die sie ausgedrückt wird." Mit Goethe bekannten sie, daß jede wirkliche Dichtung Gelegenheits-, d. h. Erlebnisdichtung sein müsse, mit Arany, daß der Dichter vom realen Leben ausgehen müsse, weil man mit „einem abstrakten Ideal" nicht singen könne, infolgedessen konnten sie auch keinen Zugang zu Jokai finden. Die Phantasie des großen Märchenerzählers entfernte sich weit von der Wirklichkeit, seine Charaktere waren nicht von dieser Welt, in seinen Zeitschilderungen ließ er sich kaum von irgendeiner geschichtlichen Studie beinflussen. Es ist sein Verdienst, daß er das nichtmagyarische Publikum an die Lektüre ungarischer Romane gewöhnt hat, aber gleichzeitig prägte er ihnen ein falsches Bild vom ungarischen Leben ein. Er züchtete Illusionen in einer sich in Illusionen wiegenden Zeit. Er selbst lebte in dem Glauben, daß er kein romantischer Dichter, sondern ein Realist nach der A r t von Dickens sei. Gyulai schätzte den bei weitem unbedeutenderen Albert Pälfy höher, weil er den Geschmack des Publikums nicht durch ihn bedroht sah. Peterfy zog

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2. Das literarische W e r k

den anspruchslosen Baksay vor, weil er in seinen einfachen Dorferzählungen den Spiegel des wirklichen Lebens und die Wirkung des unmittelbaren Erlebnisses sah. Das unsterbliche Verdienst Jokais ist die Entwicklung des ungarischen schönen Prosastiles, es gibt kaum einen jungen Romanschriftsteller, der nicht von ihm gelernt hätte, die Zeit gab aber trotzdem den Freunden Gyulais recht: der neue ungarische Roman entwickelte sich nicht in der Richtung des Romantizismus, sondern in der des Realismus. Jökai schrieb bis zum Alter von 50 Jahren seine besten Romane. Seine fruchtbare Produktion hielt aber auch weiter an. Nacheinander erschienen seine Werke. Der Roman „Tengerszemü hölgy" (Die Frau mit den Meeraugen) wurde im Jahre 1890 sogar von der Akademie ausgezeichnet. Gern versenkte er sich in die ungarische historische Vergangenheit, schreckte aber auch vor neuartigen Versuchen nicht zurück (er strebte z. B. nach dem Ruhme Jules Vernes in seinem Roman ,,A jövö szäzad regenye" — Der Roman des kommenden Jahrhunderts). Und während seine Volkstümlichkeit in Ungarn immer mehr zurückging, wurde sein Name im Auslande neben dem Petöfis der bekannteste ungarische Name. Alle jene ausländischen Romane mit ungarischem Stoff, in denen wir von maskierten Banditengrafen, von rätselhaften Schlössern im Schildgebirge, von wilden Abenteuern in der Puszta lesen können, ehren in ihm ihren Meister, aber dafür kann er ebenso wenig, wie dafür, daß das Ausland Ungarn und das Ungartum lange so gesehen hat, wie er es in eine romantische Zeit zurückprojeziert geschildert hat. Die Literaturgeschichtsschreibung hat in vieler Beziehung die strenge Meinung Gyulais und Peterfys über Jökai gemildert, wie sie sich auch die Verurteilung Johannes V a j d a s nicht gänzlich zu eigen machte. Das tiefste dichterische Jugenderlebnis Johannes V a j d a s war der Romantiker Vörösmarty, bis zum Ende seines Lebens begeisterte er sich für ihn, außerdem liebte er Berzsenyi sehr und den romantischen Petöfi. Jokai hielt er für einen großen Zauberer. Diese dichterische Sympathie kennzeichnet auch die dichterische Entwicklung V a j d a s selbst. Er ist kein Nachfolger des volkstümlichen Petöfi, selbst Arany hat auf ihn keinerlei Einfluß gehabt. Er kam auch nicht nach ihnen, sondern entwickelte sich neben ihnen als der würdige Fortsetzer der Berzsenyi-VörösmartyTradition. Gyulai schrieb über Vörösmarty die schönste Biographie. Diese legte für mehr als ein halbes Jahrhundert den Dichter im literarischen Bewußtsein als den Verfasser des Nationalepos

Literarische Richtungen

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„Zalän f u t a s a " (Die Flucht Zalans) und des „Szozat" (Spruch) fest. Für das Verständnis seines wirklichen Wesens fehlte Gyulai das Organ. A n dem Märchenspiel „Csongor es T ü n d e " (Cs. und T.) bewunderte er die Musikalität der Sprache, ohne den Flug seiner Phantasie in metaphysische Höhen wahrzunehmen. Die wunderbare Alterslyrik Vörösmartys erwähnt er gerade nur, aus dem Dithyrambus „Ven cigäny" (Alter Zigeuner) hört er einen patriotischen Akkord heraus. W i r brauchen uns nicht zu wundern, daß er V a j d a s erschütternde und hartnäckige Leidenschaftlichkeit, seine in die Unendlichkeit greifende kosmische Phantasie, seine vor der Befriedigung zitternde und diese dennoch qualvoll danach dürstende, jungfräuliche Empfindsamkeit nicht verstehen konnte. Er neigte dazu, in diesem himmelstürmenden inneren Kampf eine krankhafte Überspanntheit zu sehen, in seinem metaphysischen Sehnen eine flache und seichte Philosophie. „Der Dichter kann alles wagen — schreibt er im J a h r e 1877, als er V a j d a s Versroman „ A l f r e d " kritisierte (es ist seine letzte Kritik über V a j d a , dann schweigt er über ihn) — aber der Natur und dem menschlichen Herzen, das man schildern soll, darf man nicht untreu werden." V a j d a war sicherlich seinem eigenen Herzen nicht untreu, aber dieses Herz sahen nur wenige. Beöthy charakterisierte ihn in seiner Literaturgeschichte folgendermaßen: „Seine Dichtung ist durch sinnliche Auffassung, durch wirres Philosophieren und durch die Jagd nach dem Außergewöhnlichen gekennzeichnet." Diesen Satz über V a j d a mußten Generationen von jungen U n g a r n Jahrzehnte lang auswendig lernen. Die „Sinnlichkeit" V a j d a s aber ist die lauterste Sehnsucht des Mannes nach der Idee der Frau. Sie gilt das ganze Leben hindurch nur einer Frau. Seine Philosophie schafft wohl kein System, aber sie entspringt dem gleichen Lebensgefühl wie seine Liebe, sie ist ein Kampf mit den schwierigsten Fragen des Daseins. Er jagt nicht hinter dem Außergewöhnlichen her, denn es brennt in seiner Seele. V a j d a setzt Vörösmarty fort, aber bei aller seiner Größe erreicht er ihn nicht. Die Töne aus der Alterslyrik Vörösmartys schwingen in ihm weiter, er bringt aber durch sein Liebeserlebnis ein neues Element hinein, doch seine Ausdruckskraft ist oft gebrochen. Neben wunderbaren, leuchtenden Sätzen stolpern wir zuweilen über öde Prosa, der Rhythmus seiner Gedichte läßt oft die innersten Seiten der Seele erklingen, anderswo schlägt er, als ob irgendwas in ihm zerrissen wäre, Dissonanzen an. Seine Sprache erinnert zuweilen an die „Eisenzeit" der ungarischen Sprache, an

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die ersten Bücher der Spracherneuerung, ein andermal erschüttert er durch die K r a f t seines Ausdrucks und seine tauige Frische. W i r brauchen uns nicht zu wundern, d a ß Gyulai, der immer auf das Ganze sah, V a j d a schon wegen seiner inneren seelischen Struktur nicht anerkennen konnte. Das Lesepublikum schreckte aber vor jeder ernsteren Lektüre zurück. So zog sich V a j d a immer mehr in seine menschenfeindliche Einsamkeit zurück. Er wußte, d a ß er ein begnadeter Dichter war, und er hatte das Gefühl, daß die Partei Gyulais in der Akademie (wohin man ihn nicht einmal gewählt hatte) und an den übrigen W a r t e n des literarischen Lebens sich seinen Platz angemaßt hatte. Er hatte tiefe und fruchtbare Gedanken über die Gestaltung des ungarischen Lebens und seiner Zukunft, aber er verstreute seine Ideen zum großen Teil in anonymen Artikeln. Das Schicksal des Magyarentums sahen auch die Freunde Gyulais nicht anders als er. Es ist eine schwere Versäumnis der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung, daß seine Prosastudien bis heute noch nicht gesammelt sind. Die zeitgenössischen „oppositionellen" Schriftsteller scharten sich gern um ihn, aber ohne daß sie ihn wirklich hätten verstehen oder ihm hätten folgen können. Mit V a j d a trat kein Bruch — man kann das nicht nachdrücklich genug betonen — in der einheitlichen Kontinuität der ungarischen Literatur ein. A r a n y und V a j d a bedeuten gleicherweise jeder eine hohe Stufe der ungarischen dichterischen Entwicklung, zwei verschiedene Widerspiegelungen der einheitlichen ungarischen Seele. Zwischen den „Öszikek" (Herbstgedichte) Aranys und der philosophischen Dichtung V a j d a s ist an vielen Stellen innere Verwandtschaft spürbar. Andreas Ady betrachtete Johannes V a j d a als seinen Vorgänger, aber wenn Johannes Arany ihm nicht vorausgegangen wäre, dann hätte die ungarische Dichtung niemals die Höhe erreicht, die durch seinen Namen bezeichnet wird. Der J a h r g a n g 1874 der „Budapesti Szemle", der einen Überblick über die „neueste" ungarische Lyrik gibt, stellt fest, daß sich seit Vörösmarty, Petöfi und A r a n y ein ständiger Verfall zeige. Sie erwähnt kurz die Generation Dalmadys, in der sie noch etwas zu würdigen findet, genauer beschäftigt sie sich mit der jüngeren Generation der Äbränyis, in der sie einen weiteren großen Verfall sieht. N u r zwei Dichter hebt sie mit einiger Sympathie hervor: Alexander Endrödi, der „ein Gefühl f ü r die innere Form" hat, und Joseph Kiss, der „mit seinen jüdischen Liedern würdig auffiel und seitdem, wenn auch wenig, mit der Stimme des Gefühls und zu-

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weilen der Leidenschaft dichtete". — Gyulai verhielt sich der neueren Dichtung gegenüber nicht von vornherein abweisend, und er wußte auch den Eifer kleinerer Talente zu würdigen. Auch das ist nicht wahr, was seine Gegner dem öffentlichen Bewußtsein einhämmerten, daß er mit A r a n y die Entwicklung der ungarischen Dichtung als f ü r beendet ansah. Auf der Festsitzung der KisfaludyGesellschaft vom Jahre 1880 sprach er folgende, schnell vergessene, f ü r seine gesamte Stellungnahme aber außerordentlich bezeichnende W o r t e : „Auch die größten Meisterwerke der Vergangenheit genügen nicht den Bedürfnissen der Gegenwart, weil sich die Ideen und die Gefühle modifizieren und verändern und jede Zeit das Echo ihrer eigenen Kämpfe, Leiden, Freuden und Schmerzen von ihren Dichtern erwartet. . ." Der kämpferischste junge Dichter hätte die innere Zielsetzung und den Sinn der neuen Bestrebungen gewiß nicht besser formulieren können. In derselben Rede ergreift Gyulai, Aranys Gedankengängen folgend, die Partei der „kleineren Dichter": „Diese kleineren Dichter lassen das Vestafeuer der Dichtung nicht erlöschen, an dem das kommende Genie dann seine göttlichen Fackeln entzünden kann, sie bewahren die Traditionen der Sprache und des Geschmackes und verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart." W e n n er trotzdem die neuen Dichtersterne der 70er Jahre streng kritisierte, so hatte er d a f ü r seine Gründe. Sie bedeuteten wirklich eher einen Verfall als eine Entwicklung. Dalmady und die übrigen Zeitgenossen verstummten bald, und die Brüder Äbranyi suchten in der Politik jene Lorbeeren, die sie in der Dichtung nicht gefunden hatten. Ludwig Bartok, Emil Äbranyi, aber besonders Aladär Benedek hielt die damals schon klüngelhafte Zeitungskritik für die größten „Genies", den letzteren sogar f ü r den würdigen Nachfolger Petöfis. Diese Literaten zeichneten sich nicht nur durch ihre oppositionelle politische Haltung, sondern auch durch ihre revolutionären Gefühle aus, was sie nicht so sehr von Petöfi, als eher von ihren gemeinsamen Meistern, von Beranger, Victor Hugo und Heine, gelernt hatten. Bei ihnen prägt sich in dieser Zeit am entschiedensten die Ideenwelt des Sozialismus aus, die Geißelung der gesellschaftlichen Vorurteile und die Forderung freierer Moral. Die Perdita-Dichtung nach deutschem und französischem Muster beginnt in Mode zu kommen (Christensen: „Die Lieder einer Verlorenen", ungarische Ubersetzung 1877). Ich glaube, daß J o hannes A r a n y im Jahre 1877 gegen diese jungen Dichter sein Gedicht „Kozmopolita költeszet" (Kosmopolitische Dichtung) ge-

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schrieben hat, das Reviczky auf sich bezog, den aber A r a n y damals noch kaum kannte. Der große ungarische Klassiker nahm es seinen jungen Zeitgenossen sicher nicht übel, daß sie keine patriotischen Lieder schrieben (er selbst schrieb auch keine mehr), sondern das, daß sie sich innerlich dem Ungartum entfremdeten und sich fremden Ideologien verschrieben. Diese Generation erschütterte wohl gewisse Schranken, die den dichterischen Ausdruck einzelner Themen bisher verhindert hatten, aber weder in der Form, noch in der Sprache brachten sie Neues. Der begabteste unter ihnen ist Emil Äbranyi, er bereicherte vor allen Dingen die Rezitationsdichtung, indem er von J a h r zu J a h r für den Nationalfeiertag (15. März) sein eigenes „Märzgedicht" schrieb. In dieser Gruppe von Zeitgenossen zeichnete sich in den 70er Jahren Ladislaus Arany durch sein auf hohem künstlerischem Niveau stehendes Epos „Der Held der Fata Morgana" aus, das in der Zeit des nationalen Widerstandes die schwere Enttäuschung der erwachsenen Generation im Geiste von Johannes Arany widerspiegelt. Zu dieser Zeit entsteht eine wahre „Enttäuschungsliteratur", die ziemlich beträchtlich ist. W ä h r e n d diese Schriftsteller die ungarische Gesellschaft einer strengen Kritik unterziehen, führen ihre assimilierten Zeitgenossen, die Räkosi und Doczi, das Publikum in die W e l t des griechischen Märchens: sie schaffen das neue ungarische romantische Drama. Jene werden in ihrer Zeit wenig gelesen, diese erringen einen außerordentlich großen Publikumserfolg. Die Gesellschaftskritik verklingt aber ebenso ohne Echo, wie sich auch der Triumph der Räkosis als vergänglich erweist. Beide haben in der ungarischen Literatur keine unmittelbare Fortsetzung. Das Publikum, das die russischen Romanschriftsteller in Übersetzungen liest, besonders Turgenjew, Gogol, später Tolstoi, aber auch die Engländer Dickens und Thackeray und den Amerikaner Bret Harte, sucht im ungarischen Roman und im Drama gleicherweise immer mehr die Widerspiegelung seines eigenen Lebens. (Turgenjew ist in dieser Zeit derart populär, daß „es kaum einen Roman oder eine Erzählung von ihm gibt — wie Thomas Szana im Jahre 1882 schreibt — die nicht bei uns sozusagen noch feucht von der Druckerschwärze einen Ubersetzer gefunden hätten.") Für die ungarischen Romanschriftsteller stellt Gyulai selbst das neue Programm bereits im Jahre 1873 auf: „Haltet uns den Spiegel der ungarischen Gesellschaft vor. Zeichnet die Eigenheiten und das Innenleben der Aristokratie, der Mittelklasse, des Bürgertums,

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der W e l t des Schriftstellers und des Künstlers, des Volkes und der Nationalitäten, die ewigen menschlichen Leidenschaften verbunden mit den Elementen der neuen L a g e und der neuen Bestrebungen. Seid echte Romanschriftsteller, Kritiker der Gesellschaft, Sittenschilderer und Wächter der Idee." Dieses Programm wird am getreuesten und künstlerischsten von Ludwig Tolnai verwirklicht, dem aber jegliche Volkstümlichkeit versagt bleibt. Das ungarische Lesepublikum verstand aber die getreue Schilderung der ungarischen Gesellschaft so, wie sie sie bei Jökai, dann später bei Mikszäth und Herczeg vorfindet: sie sollte heiter, unterhaltend und ohne dunkle Schatten sein. Die Stellungnahme Gyulais ist sowohl der Partei Räkosis wie der Partei Tolnais gegenüber gleich. Dort schätzt er die dichterische Sprache, den ungewohnten Reiz der dramatischen Diktion, wenn er auch das schlechte Ungarisch und den Mangel an Charakterisierungskunst bei Doczi stark geißelt, hier würdigt er mit Verständnis, besonders bei Tolnai die künstlerische Sicherheit der Charakterisierung, die gute ungarische Sprache, aber die dichterische Wahrheit findet er nirgendswo. Der Laufbahn Tolnais hätte es sicherlich genützt, wenn man ihn ein wenig wärmer gewürdigt hätte, weil kein Zweifel besteht, daß in dieser Zeit niemand so vollendete ungarische Prosa schreiben konnte wie der Marosväsärhelyer reformierte Pfarrer. Für die Schönheiten des Lebens hatte er kein Gefühl, die warmen Gefühle der Güte, der Barmherzigkeit, der Freundschaft und der Liebe kannte er kaum, aber mit wunderbarer Kunst kann er die oft unterbewußten kleinen und größeren Boshaftigkeiten der menschlichen Instinkte, die Niederträchtigkeiten des Gesellschaftslebens schildern und die schwärenden und schmerzenden Wunden der ungarischen Probleme aufzeigen. Ein, zwei Worte, ein abgerissener Satz: und ein ganzes Seelenbild tut sich vor uns auf. Im dichterischen Realismus ist er der würdigste Schüler Johannes Aranys, der als erster sein Talent als Prosaschriftsteller entdeckte und ihn zum Schreiben von Novellen ermunterte. Unter seinen ersten W e r k e n befinden sich Meisterstücke, über die sich seitdem kaum ein ungarischer Schriftsteller aufgeschwungen hat. In seiner Zeit pflegte man ihn mit Turgenjew und Thackeray zu vergleichen, aber wenn er auch von diesen einige Handwerksgriffe gelernt haben sollte, seine Art zu schildern und seine Anschauung vom Leben schöpfte er nur aus sich selbst. In den 90er Jahren schreibt er unter dem Titel „Sötet viläg" (Dunkle W e l t ) seine Lebensge-

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Werk

schichte, wir entnehmen daraus mit Überraschung, daß alle seine Romane die epische Erweiterung einzelner Erlebnisse sind. Nach seinen Enttäuschungen in Marosväsärhely verdüstert sich seine Seele noch mehr. Als ein vom Leben Ausgestoßener irrt er in den Straßen Pests umher, nirgendswo kann er sich festsetzen. Von nun an haben seine Romane nur eine Inspirationsquelle und diese ist: die Rache. Rache an allen, aber besonders an jene, die im Besitz der Macht sind. Er schreibt zahllose Romane, meist traurig schmerzende, verzerrte Schöpfungen, wenn auch sein außerordentliches Talent sogar diese zu wertvollen Dokumenten macht. Seine Werke sind bis heute noch nicht gesammelt, wir verfügen nicht einmal über die vollständige Biographie seiner Romane. Das heutige literarische Bewußtsein pflegt V a j d a und Tolnai nebeneinander zu stellen. W i r müssen feststellen, daß sie sich im Leben nicht gekannt haben, V a j d a las erst in den letzten Jahren seines Lebens das eine oder andere von Tolnai, Tolnai äußerte sich über V a j d a zurückhaltend. Zwischen dem romantischen Lyriker und dem realistischen Romanschriftsteller gibt es kaum ein anderes Band, als daß beide auf der Seite der literarischen Opposition standen. Gegen Ende der 70er Jahre tritt die Lyrikergeneration Reviczkys auf, die erste junge Generation, deren H a l t u n g von einer eigenen philosophischen Weltanschauung getragen ist und die bemüht ist, sich auch eigene ästhetische Prinzipien zu schaffen. Ihr begabtester Dichter und Theoretiker ist Julius Reviczky. Die Belesenheit Reviczkys in der Weltliteratur ist überraschend groß. Beinahe noch im Kindesalter vertieft er sich in Schopenhauer, er kennt die Dichter des modernen Pessimismus, Poe, Heine und Baudelaire. In seinen Gedichten meldet sich das neue Lebensgefühl des modernen Menschen. Seine ästhetischen Studien und seine Kritiken zeugen von einem ausgedehnten Wissen und von ehrlicher Vertiefung. Obwohl er die Dichtung Gyulais scharf angreift, seine eigenen Freunde zuweilen übermäßig lobt, so besteht doch in den Grundprinzipien kein großer Unterschied zwischen ihm und Gyulai und besonders zwischen ihm und Peterfy. Für Petöfi und die volkstümliche Dichtung kann er sich nicht erwärmen. Die „ P h a n tastik" Jokais greift er oft an, dagegen huldigt er A r a n y ohne jeden Vorbehalt. Sein Ideal ist die nationale Dichtung, die auch das ewig Menschliche zum Ausdruck bringt. So sieht er die Dichtung Aranys. Aranys „Öszikek" (Herbstgedichte) bezeichnen, wie es viele bemerkt hatten, das erste Erscheinen des Lebensgefühls

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des modernen Stadtmenschen in der ungarischen Dichtung. A r a n y singt von dem alten Kellner, von der bettelnden, herabgekommenen Gentry, vom „Nepliget" (Volkspark), von der M a r g a r e t e n insel und vom Korso: alles städtische Bilder, die der alternde Dichter mit dem Zauber seines Humors überstrahlt. Peterfy bemerkt außerdem, daß in einigen seiner letzten Gedichte „der plastische A r a n y nur durch den Rhythmus, durch den süßen Wechsel des Lautes und des W o r t e s ein gewisses musikalisches W o h l g e f ü h l in der Seele der Leser erweckt." In diesen Gedichten „spiegelt er die Musik des Rhythmus und der Seele wider". A r a n y der Impressionist! Endrödi, der über eine reiche Farbenpalette verfügt, Reviczky, der Stimmungsträumer, versuchen ähnliche W i r k u n g e n zu e i reichen, bei ihnen ist das rhythmische und bedeutungsmäßige E l e ment im Gedicht noch ausgeglichen, bis schließlich z. B. bei Ady die Musikalität vielfach zum T r ä g e r der Bedeutung wird. Reviczky stellt also weder in der Dichtung noch in der T h e o rie einen Bruch mit der Hauptrichtung der Literatur dar. Nach ihm ist das Hauptelement der Dichtung der Humor, den er bei niemand mit einer solchen künstlerischen Vollkommenheit wie gerade bei A r a n y findet. Trotzdem stellt ihn das heutige literarische Bewußtsein in eine Linie mit V a j d a , Joseph Kiss und Komj ä t h y , die als die literarische Opposition Aranys bezeichnet werden. U b e r die A n g r i f f e gegen Arany schreibt Reviczky: „Meister, verzeihe, daß ich sie erwähne, spatzenhirnige, leere Geiferer, man sollte es nicht für möglich halten, daß es Leute gibt, die Johannes A r a n y bemäkeln. — Es ist eine alte W a h r h e i t , daß auch der blendende Strahl der himmlischen Sonne für den Blinden keine Sonne ist." Reviczky hatte keine persönlichen Beziehungen zu V a j d a , ihre pessimistische Weltanschauung stammte aus ganz verschiedenen Quellen. Die Dichtung K o m j ä t h y s schätzte er nicht, den er des öfteren ermunterte, die Dichtung aufzugeben und Philosoph oder Theoretiker zu werden. K o m j ä t h y ist in der ungarischen Literatur eine ganz allein dastehende Erscheinung, er hat keinen Vorgänger und keinen Nachfolger. Reviczky stand auch der Dichtung des viel älteren Joseph Kiss fremd gegenüber. Das Urteil über Joseph Kiss in dieser Zeit bewegt sich im allgemeinen zwischen E x t r e m e n . L a n g e Zeit nahm die öffentliche Meinung keine Kenntnis von ihm, am wenigsten seine Glaubensgenossen. D i e erste Anerkennung erhielt er von der

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„Budapesti Szemle", den ersten T r i u m p h erntete er in der Kisfaludy-Gesellschaft, wo noch Franz Toldy seine Ballade „Judit Simon" vorlas. Ein paar J a h r e später (im Jahre 1882) rezitierte der W i e n e r jüdische Schauspieler Lewinszky, der Petöfi im Auslande bekannt gemacht hatte, in Pest unter großem Erfolge einige seiner Dichtungen, und jetzt wurden auch schon die Glaubensgenossen von Kiss auf ihn aufmerksam und stempelten ihn zum Nachfolger Aranys und zum größten ungarischen Dichter. Dieses übertriebene Lob rief gleichsam die Gegenwirkung hervor. Nicht nur Paul Gyulai, sondern auch Ludwig Tolnai (dies war der einzige Punkt, in dem sie übereinstimmten) protestierten sehr heftig gegen die Verherrlichung von Joseph Kiss, indem sie sein Nichtungartum nachwiesen, die PseudoVolkstümlichkeit seiner Balladen und die sprachlichen und formalen Mängel seiner Dichtung aufzeigten. Die Presse verkündete triumphierend, daß Joseph Kiss der erste ungarische städtische Dichter sei, obgleich, wie wir gesehen haben, Johann Arany ihm darin nicht nur voranging, sondern ihn auch weit übertraf. Sie verkündete, daß er mit den Dichtungen über das Judentum ein neues Element in die ungarische Literatur gebracht habe, obwohl die ersten jüdischen Balladen und viel bessere nicht er, sondern Ludwig Tolnai geschrieben hat. Im J a h r g a n g 1882 schreibt man in der „Budapesti Szemle" über ihn: „Er empfindet tief und stark das Schicksal seiner eigenen Rasse, das ist eins der Geheimnisse seiner W i r k u n g — auf seine Glaubensgenossen. . . Ihn neben unseren größten lebenden ungarischen Dichter zu stellen, ist entweder Einfalt oder gröbste Reklame." Zur gleichen Zeit lesen wir im Gegenorgan der „Budapesti Szemle" im „Koszorü" (Kranz): „Die heutige W i r k u n g und Bedeutung von Joseph Kiss findet auch darin nicht ihren Grund, wo sie ihn finden müßte, sondern stattdessen im rassischen Gepräge seiner Volksballaden. . ." Nach ein paar Jahren schreibt Ludwig Tolnai in der „Irodalom" (Literatur): „Seine Bedeutung ist nicht so sehr allgemein national als eher spezifisch jüdisch bekenntnismäßig. . . Als Dichter des ungarischen Ghettos verdient er Anerkennung." Reviczky urteilt im „Koszorü" milder, aber nicht weniger niederschmetternd. „Die Unmittelbarkeit der Persönlichkeit, die bei Joseph Kiss selten vorhanden ist, ist in der Lyrik das, was bei der Blume der D u f t ist, und wenn wir die Poesie mit den Blumen vergleichen, dann ist die Blume von Joseph Kiss die Tulpe: sie ist geruchlos." W i r sehen also, d a ß das ungarische literarische Bewußtsein der 80er J a h r e in Joseph Kiss mit ungewohnter Einmütigkeit nur

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den Dichter des Judentums sehen wollte. J e mehr sich die literarische und gesellschaftliche Macht des Judentums verstärkt, um so stärker wächst der Dichterruhm von Joseph Kiss, am Ende der 90er J a h r e ist er schon „König", der ungarische Dichterfürst. Er vergißt aber nie jene harte Zurückweisung, die ihm zuteil wurde, er vergißt aber Tolnai und Reviczky und lebt seine ganze Erbitterung und seine unterdrückte Sehnsucht nach Rache in Angriffen gegen Gyulai und die „offizielle" Literatur aus, indem er auch seinen Schülern sein Gefühl einsuggerierte. Es ist gleichsam ein Symbol der literarischen Entwicklung, daß Reviczkys letzter Band, wenn auch mit der mißbilligenden Kritik Levays, mit dem Zeichen der Kisfaludy-Gesellschaft erschien. Reviczky hätte sicherlich bald den W e g zum Forum der offiziellen Literatur gefunden, wo Endrödi schon den Boden für ihn vorbereitet hatte. W e d e r er noch Endrödi gehören zur prinzipiellen Opposition Gyulais, ihre Dichtung aber ist nur eine neue Stufe in der Entwicklung, in der sich das veränderte Lebensbild und der veränderte Formentrieb einer jungen Generation meldet. W e n n wir jetzt nun die sogenannte prinzipielle Opposition gegen den ungarischen Klassizismus in Augenschein nehmen, die sich am Ende der 70er J a h r e und in der ersten H ä l f t e der 80er Jahre um die Zeitschrift der Petöfi-Gesellschaft, den „Koszorü", gruppiert, finden wir in ihren A n g r i f f e n viel Negatives und eine sehr geringe prinzipielle Grundlage. Die führenden Geister der Opposition sind Ludwig Tolnai, Emil und Kornel Äbränyi, Ludwig Bartok, Sigmund Bodnar, Franz Irmei und der lauteste: Melchior Palagyi. Tolnai können wir von vornherein aus dieser Gruppe ausschalten, er wird in seinen A n g r i f f e n nicht von literarischen Uberzeugungen, sondern von beleidigter persönlicher Empfindlichkeit geleitet. In seiner Studie über den Dichter Tompa feiert er Johannes Arany noch als das größte ungarische Genie. Ein paar J a h r e später findet er in A r a n y nicht einmal Spuren des Genies. Er hat eine Studie geschrieben, in der er feststellt, daß der ungarische Dichter ein Kosmopolit sei, der von seinen ausländischen Meistern jeden fremden Kniff gelernt und nach U n g a r n gebracht habe, usw. usw. Es wäre schade, diese Verirrung Tolnais von neuem zu wiederholen. Übrigens schreibt er auch von Berzsenyi, daß er ein mittelmäßiger Horaznachahmer sei, von Vörösmartys Lyrik, daß sie „schwülstig, selten tief und noch seltener w a h r " sei. Er hat selten ein anerkennendes W o r t , und wenn dies der Fall ist, dann kleidet er es in eine sonderbare Form.

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Eine ähnliche Voreingenommenheit verblendet die beiden Ä b r ä n y i und auch Bartök, w e n n auch bei ihnen zu dem Gefühl persönlicher Kränkung auch noch die politische Leidenschaft hinzukam. Es genügt, einen Abschnitt von Emil Ä b r a n y i zu zitieren, um den agressiven Stil all seiner K a m p f g e f ä h r t e n kennen zu lernen: „ W u t und Erbitterung e r g r e i f e n den Dichter, w e n n er sieht, d a ß schurkische Prinzipien und prinzipienlose Schurken eine Rolle spielen, dann sieht er sich gezwungen, in ein g a l l i g e s Lachen auszubrechen, w e n n er diese Herde von Histrionen sieht, die an der Spitze der Völker schreiten und die Herrschaft f ü r sich fordern." W u t und Erbitterung sind sicher keine treuen R a t g e b e r f ü r den Kritiker. Sie holen ihre Gesichtspunkte aus einem Gebiet außerhalb der Literatur, doch begründen sie damit leider eine fortdauernde Schule. Die prinzipielle S t e l l u n g n a h m e der übrigen M i t g l i e d e r der Opposition können w i r in folgenden Punkten zusammenfassen: Sie bekennen sich zur W e l t a n s c h a u u n g des Idealismus und kämpfen gegen den Materialismus, sie wollen für die ungarische L i t e r a tur europäische Perspektiven, aber gleichzeitig befürchten sie die Entfremdung. A m Dichter schätzen sie am meisten die Phantasie, die volkshafte Dichtung halten sie f ü r g e r i n g w e r t i g e r als die intellektuelle und e r w a r t e n vom Dichter, d a ß er die Ideen seiner eigenen Zeit verdolmetscht, oder wie Edmund Rädel schreibt: ,,Das Übel liegt darin, daß unsere neuere Dichtung mit den Ideen der Zeit und ihrem Geiste nicht Schritt halten kann. Sie nimmt keine Notiz von den gründlichen W a n d l u n g e n des staatlichen, nationalen und gesellschaftlichen Lebens, von der realistischen philosophischen Schule, von den Erfordernissen des Intellektualismus, und in der Zeit Darwins, Schopenhauers, H a r t m a n n s (die Philosophie des Unbewußten), der Kommune, des Sozialismus, des Nihilismus und der himmelstürmenden Metaphysik, in der Zeit der SiemensL a m p e n läßt sie f a d e Liebeslieder e r k l i n g e n . " — W e n n w i r alles zusammenfassen, treffen w i r bei diesen Oppositionellen auf keinen Gedanken, dessen künstlerische, tiefer eindringendere, ungarischere Formulierung w i r nicht in den Kritiken G y u l a i s oder P e t e r f y s finden würden. Da sie aber trotzdem einen Gegner brauchten, machten sie A r a n y , G y u l a i und L e v a y zu volkshaften Dichtern, die ihre Lieder durch Verstandesarbeit abzirkeln, w e i l ihre P h a n tasie seicht und flach und zu philosophischem Gedankenflug nicht geeignet sei. In dieser Deutung ist das herrliche Epos A r a n y s „Buda h a l ä l a " (Budas Tod) die scheintote und erstarrte Schöpfung

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der naiven Nachahmung" (Sigmund Bodnär), „bei Levay überwiegt die Tätigkeit des Verstandes, obgleich das eigentliche Kunstorgan immer die Phantasie ist" (Thomas Szana). Gyulai ist ein mittelmäßiger Dichter und ein ungerechter Kritiker und überhaupt „schätzt das akademische Urteil nur den Dichter, der mit künstlerischer Sorgfalt, mit Studien, mit nüchternem Verstände und mit kalter Überlegung, die Phantasie zügelnd . . seine W o r t e schreibt." (Franz Irmei.) Von diesen Behauptungen, deren Leere und U n wahrheit von hundert über hundert Urteilen der Rezensionen Gyulais und Peterfys widerlegt werden, widerhallte die Presse, und der brave Leser glaubte es. Als dann später der Kampf gegen die Gesamtheit der akademischen Literatur begann, f a n d e n die Angreifer die ganze oppositionelle Phraseologie fertig vor. Darin liegt die ganze Bedeutung jenes Feldzuges. Der Feldzug der Opposition hatte übrigens kein langes Leben: mit der Einstellung des „Koszorü" (1885) trat bald eine Beruhigung ein. Ludwig Tolnai, Sigmund Bodnär und Melchior Palägyi benutzten wohl auch später noch jede Gelegenheit, die akademische „Prokatorkritik" herabzusetzen, ihre Artikel aber erschienen zerstreut in Zeitschriften, die nur von wenigen gelesen wurden und kaum eine W i r k u n g hatten. Die Petöfi-Gesellschaft selbst glitt immer mehr ins konservative Fahrwasser, und ihr Konservativismus w a r oft ebenso leer und laut wie ihre einstige Opposition. Von ihren temperamentvollsten Mitgliedern wurde Ludwig Bartok im J a h r e 1883, Emil Äbränyi im Jahre 1885 in die Kisfaludy-Gesellschaft gewählt, wo sie dann innerhalb dieses Rahmens Paul Gyulai Unannehmlichkeiten machten. Nicht nur das A u f w e r f e n von literarischen G r u n d f r a g e n , sondern größtenteils durch ihre Politik gelang es ihnen, die tagespolitischen Gesichtspunkte mit den literarischen so gründlich zu verquicken, d a ß die rein literarische Kritik zum großen Schaden der ungarischen Entwicklung immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. In den 80er J a h r e n nimmt die ungarische Roman- und Novellenliteratur einen kräftigen Aufschwung. Gregor Csiky aber gibt mit den „Proletärrok" (Proletarier) das erste bedeutendere Beispiel für das ungarische Gesellschaftsdrama. Neben den wie Pilze aus dem Boden schießenden Romanserien, die übrigen zum größten Teil Ubersetzungen ausländischer Schriftsteller bringen, hat auch die Presse an der Entwicklung der modernen schönen Prosa einen gewissen Anteil. Besonders die beiden neuen großen Tageszeitungen, das „Pesti H i r l a p " (Pester F a r k a s , Freiheitskampf

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Nachrichtenblatt) und das „Budapesti H i r l a p " (Budapester Nachrichtenblatt), zeichnen sich dadurch aus, daß sie f ü r jüngere T a lente Entwicklungsmöglichkeiten schaffen. Das „Pesti Hirlap" entdeckt, wie wir schon erwähnt haben, Koloman Mikszäth, der bald Jokai die Volkstümlichkeit strittig macht, das „Budapesti Hirlap" bahnt Viktor Räkosi den W e g , später dann Franz Herczeg. Die in der letzten Zeit auftretenden Schriftsteller hüten sich überhaupt davor, irgendeine Beamtenstellung anzunehmen und wollen bei den Zeitungen unterkommen. Ihre literarische Produktion wird vom Tagesbedarf der Zeitung entscheidend beeinflußt: es wird das Feuilleton und die Feuilletonnovelle geboren, die insgesamt ein paar Spalten füllen. Beide Varianten haben im Auslande schon anerkannte große Meister (z. B. Janin), in U n g a r n gebührt den Schriftstellern dieser Epoche das Verdienst, diesen W e g vorbereitet zu haben. Gyulai betrachtet besorgt diese Entwicklung: er befürchtet die Zersplitterung des Talentes, die Erschütterung des Glaubens an den Ernst der Arbeit des Künstlers. Für kleinere Talente hat er auch recht, aber ein Mikszäth, ein Herczeg, ein Ambrus können auch in dieser leichten Kunstgattung Künstlerisches und Bleibendes schaffen und haben auch noch genug Zeit und Kraft f ü r große und umfassende Werke. Der wirklich große ungarische Roman läßt aber vorläufig noch auf sich warten. Mikszäth erringt mit den „Tot atyafiak" (Slowakische Gevattern) seinen ersten entscheidenden Erfolg, dann erzählt er mit herzerfrischendem Humor von seinen guten Paloczen, einem alten ungarischen Volksstamm. Das Publikum ist f ü r diese „Spezialitäten" begeistert, aus denen eine wahre Mode ersteht. Tömörkeny und Sebök erschließen das Szegediner Volksleben, Stefan Barsony zerstreut seine Leser mit Jagdgeschichten, Alexius Benedek erzählt von den Szeklern, Gärdonyi wird volkstümlich, als er den Bauern-Gabriel Göre und seine Gevattern auf der Pester literarischen Arena aufziehen läßt, wo schon vorher die bunjevazische Gyurkovics-Familie des Franz Herczeg mit allgemeiner Begeisterung aufgenommen worden war. Das Publikum hatte genug von der schweren Problematik der zeitgenössischen Romanliteratur, es wollte sich zerstreuen und sich erheitern. Die neue erzählende Literatur verläßt, wenn sie auch das Exotische bevorzugt, wenigstens anfangs nicht den ungarischen Boden. Es ist gerade eins der Geheimnisse des Erfolges Mikszäths, d a ß wir ihn in seiner Sprache, in seiner Denkart und in seiner Freude an der Anekdote als wurzelechten Magyaren empfinden, als den rea-

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listischen Nachfolger Jokais. In seinen Spuren gehen auch Herczeg und Gardonyi. Den übrigen Mitgliedern der ihnen folgenden Generation von Schriftstellern ist aber das ungarische Vaterland schon zu eng, sie sehnen sich hinaus, vor allen Dingen nach Paris. Es ist sicher etwas Instinktives in der Franzosenanbetung dieser Generation: sie wuchsen in einer Zeit auf, in der der deutsche Gedanke mit fast ausschließlicher Macht auf weiten Gebieten des ungarischen geistigen Lebens herrschte. Die Lyrik ihrer Altersgenossen steht unter dem entscheidenden Einflüsse Jungdeutschlands, ihre Philosophie schöpfen sie aus Schopenhauer. Es war aber immer der größte Stolz der ungarischen Geistigkeit, daß sie die verschiedensten ausländischen Einwirkungen aufnehmen konnte, ohne daß sie sich selbst dabei aufgegeben hätte. In Frankreich erlebte damals der große Roman seine neue Blütezeit. Der Glanz Zolas war schon im Verschwinden. Der Naturalismus war im Abstieg, aber Maupassant, Bourget, Pierre Loti, Anatol France verzeichnen ihre ersten Welterfolge. Paris war damals wirklich die Hauptstadt der W e l t , in seinen Salons gaben sich die Künstler und Schriftsteller der verschiedenen Nationen ein Stelldichein, aus allen Ländern strömte die Jugend hierher, die lernen und schaffen wollte. In den 80er Jahren ist im geistigen Leben von Paris das Wort M a g y a r e kein unbekannter Begriff mehr. Früh erkämpften sich die Emigranten, dann Franz Liszt und später Michael Munkacsy für sich und ihre Generation Anerkennung und Sympathie. Als der begeisterte „Parisanbeter" Sigmund Justh dorthin kommt, nehmen ihn die exklusivsten literarischen Kreise und Salons mit offenen Armen auf. Er knüpft persönliche Freundschaften mit hervorragenden Persönlichkeiten der französischen Geistigkeit an und erreicht einen ernsten Erfolg mit der französischen Veröffentlichung seiner Erzählungen „Puszta könyve" (Pusztabuch). Es bildet sich um ihn ein ganzer ungarischer Literaturkreis. Allen zeigt er Paris, auf alle hat das „große Leben" und die neue französische Romanliteratur einen entscheidenden Einfluß. Justh bewahrt am besten seine Eigenart, er übernimmt aus dem französischen Roman nur die Philosophie und die Psychologie, aber wie er Paris mit ungarischen Augen betrachtet, ohne darin aufzugehen, so inspiriert auch ein tief eingewurzeltes rassisches Empfinden seine Phantasie, wenn er seine Romane schreibt. Sein erstes W e r k widmet er Paul Gyulai, einer Pariser ungarischen Freundin schickt er zur Hochzeit einen Roman von Sigmund Kemeny zum Geschenk. Die ungarische Vergangenheit ist ihm heilig, im Volke sieht er

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nicht ein interessantes T h e m a , sondern die Urquelle der ungarischen Rasse und die einzige Möglichkeit der ungarischen Zukunft. Sein früher T o d — er teilt damit das Schicksal K a r l Zilahys, E d u a r d Toths und J u l i u s Reviczkys — ist einer der empfindlichsten Verluste der ungarischen Literatur. „ W e n n das Schicksal vielleicht seinem Leben nicht eine so kurze Spanne bestimmt hätte, — schreibt das Elet (Leben) im J a h r e 1894 — dann wäre aus ihm der ungarische Schriftsteller geworden, auf den wir gewartet haben: der die Schätze seines in dem kultivierten Westen erworbenen reichen Wissens durch ein starkes, unbestechliches, dem Blute entstammendes Nationalgefühl verstärkt." — Zoltän Ambrus läßt sich schon viel mehr von Paris und der französischen Literatur gefangen nehmen, deren künstlerischster Vermittler er in U n g a r n ist. Die ungarischen Probleme seiner Zeit interessieren ihn kaum; daß er auch über sie etwas zu sagen hat, zeigte er in seinen humoristischen Skizzen über die jüdische Familie Berzsenyi. Sein wirkliches Erlebnisgebiet ist die hohe Sphäre der Kunst, seine Ausdrucksform der psychologische Roman, der durch ihn in U n garn eine hohe Entwicklungsstufe erreicht. — Pekär ist am wenigsten selbständig. In den Novellen seiner Frühzeit verpflanzt er Paris nach Budapest, er liebt die schlüpfrigen Themen und das fremde Milieu, auch seine Sprache ist derart fremdartig, mit Gallizismen gespickt, das eine eifrige Leserin der „ H e t " (wie sie dem Redakteur stolz mitteilt) ihn mit einem französischen Wörterbuch liest. Nicht nur diese Schriftsteller hielten sich in dieser Zeit in Paris auf und nicht nur diejenigen, die Paris besuchten, standen unter französischem Einfluß. Schon der „ A n a t o l " von Stefan T o l d y , die D r a m e n und Romane von Kornelius Äbränyi und auch die lyrische Dichtung von Emil Äbränyi spiegeln den entscheidenden Einfluß der französischen Literatur wieder. Gregor Csiky studierte die Pariser Bühne, bevor er seine Gesellschaftsdramen schrieb. Die Zeit lobt in A n d r e a s Kozma den französischen Esprit, Franz Herczeg hat viel von M a u p a s s a n t gelernt, Sigmund J u s t h führte aber auch Szabolcska durch seine geliebten Salons. D i e Welt des Westens hat vielleicht nicht einmal in der Zeit Kazinczys mit solch elementarer G e w a l t in das ungarische Geistesleben eingeg r i f f e n wie nach dem Ausgleich. D i e besten ungarischen Schriftsteller vertieften sich in die klassischen Schöpfungen der Weltliteratur und lieferten vielfach auch an Stelle von eigenen Arbeiten Ubersetzungen. Nach den Worten des übelwollenden Rezensenten

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wurden die Akademie und die Kisfaludy-Gesellschaft zu wahren Übersetzerwerkstätten. Auf die nie aufhörenden Angriffe antwortet Julius Vargha mit Recht: „Die von geweihten Händen vorgenommene Kunstübersetzung macht unsere Nationalliteratur nur reicher, erweitert sie und macht sie universeller, ohne sie zu verderben." Sakuntala, die Frithjofsaga, Homer, das Nibelungenlied, Dante, Shakespeare, Moliere, Milton, Goethe, Schiller, Heine, Byron und Puschkin — alle finden ihren ungarischen Dolmetscher. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß die jüdischen Schriftsteller, die in den 80er Jahren nur vereinzelt auftreten, dann aber in immer größeren Mengen erscheinen, sich hauptsächlich nach ausländischen Mustern richten. Es zeigen sich aber auffällige Unterschiede zwischen ihnen und den christlichen Schriftstellern. Anders ist der Geist und der Stil ihrer Schöpfungen, wie auch ihre Reaktion auf die ausländischen Einwirkungen eine andere ist. Auch die christlichen Schriftsteller werden vom Geist des Materialismus berührt, ohne daß sie aber in ihrem ursprünglichen Idealismus erschüttert werden. Sie schmelzen in ihren Stil und in ihre Sprache viel Fremdes ein, aber dies beeinflußt nicht den ungarischen Geist Wenn sie auch fremde Gebiete aufsuchen, ihrer Denkformen. bleibt doch ihr Lebensbild durch ihr Volkstum oder ihr seelisches Magyarentum determiniert. Da die Rasse nach der richtigen Feststellung von Ignotus das Grundelement jeder Kunst ist, so ist es nur allzu natürlich, daß die jüdischen Schriftsteller, soweit sie wirklich begabt sind, in erster Linie ihrer eigenen Rasse künstlerischen Ausdruck geben. Die Uniform zu wechseln ist leicht, sagte zu dieser Zeit Ignotus, aber die Seele zu wechseln ist unmöglich. Die Mehrheit der jetzt an die Öffentlichkeit tretenden jüdischen Schriftsteller wuchs in Budapest auf oder wurde dort erzogen: es sind städtische Dichter. Aber diese Stadt trägt, wie wir gesehen haben, nicht den Charakter, wie die übrigen westeuropäischen Metropolen, sie ist nicht der dem wurzelechten Volke eines Landes eigene geistige Mittelpunkt: das Profil ihrer Geistigkeit bestimmt um die Zeit der Jahrhundertwende nicht das Rassenmagyarentum, sondern das Judentum. Deshalb kann die städtische Dichtung auch nichts anderes sein als der Ausdruck der städtischen jüdischen Geistigkeit. Die Entwicklung der ungarischen Literatur wurde dadurch nicht unterbrochen, sondern es wuchs nur ein neuer, sagen wir regionaler Ast, wie es einstmals die lateinische humanistische Dichtung war oder später die religiöse Literatur

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der einzelnen Bekenntnisse, und dennoch handelt es sich um eine alleinstehende Erscheinung, die mit keiner von diesen beiden verglichen werden kann. D i e Sprache entscheidet noch nicht über die nationale Zugehörigkeit eines Literaturwerkes. P a n a i t Istrati schrieb französisch, und trotzdem ist er ein rumänischer Romanschriftsteller. D i e zionistische Dichtung erscheint in hebräischer, jiddischer, deutscher, französischer usw., auch in ungarischer Sprache. W i e aber die lateinische humanistische Dichtung einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der ungarischen Literatur ausübte, so bildet auch die ungarische jüdische Literatur ein Kapitel der Entwicklung der neueren ungarischen Literatur. Adolf Ä g a i (Rosenzweig) bereitete den W e g vor. Ihn hielt das damalige verdorbene öffentliche Bewußtsein nicht nur f ü r einen ungarischen Schriftsteller, sondern f ü r einen ausgesprochen nationalen Dichter: für den Schöpfer des ungarischen Feuilletons. J o s e p h Kiss ist der erste jüdische Dichter, der die Geistigkeit des ungarischen J u d e n zum Ausdruck bringt. Er beginnt seine L a u f bahn mit jüdischen Liedern und beendet sie mit dem Epos über seinen Urahnen, den Rabbiner M a y e r Litväk. A l e x a n d e r Brödy ist der erste bedeutende ungarische jüdische Romanschriftsteller. Auch er steht unter französischem Einfluß wie seine Zeitgenossen, aber er bringt den Naturalismus Zolas roh, unausgegoren in der Spiegelung seiner eigenen unausgeglichenen und romantischen Persönlichkeit. In seinen Romanen und D r a m e n schweift er in ungarischen Landschaften umher, aber am ehesten ist er in dem jüdischen Milieu Budapests zu Hause. Er sieht den J u d e n mit kritischen Augen, aber gleichzeitig mit der verhätschelnden, manchmal geißelnden Liebe des Blutsverwandten. Seine Weltanschauung ist von einem öden Materialismus determiniert, dem er vergeblich durch eine Flucht in heitere Sphären zu entgehen sucht. Ein Zeitgenosse von ihm ist E d u a r d Kabos, der vor allem durch seine Novellen bekannt wurde. D i e Sammeltitel seiner zu dieser Zeit erschienenen B ä n d e : ,,A koldusok" (Die Bettler), „ P o r " (Staub), bezeichnen schon das Milieu, in das der Dichter hinabsteigt. „ E i n flügellahmer Romantizismus", so charakterisiert Peterfy seinen Schriftstellerstil. T h o m a s Kobor bricht schließlich mit diesem Romantizismus, seine Romane führen nun in eine bis dahin unbekannte Welt, in die dunklen und öden Behausungen des Budapester Ghettos, in das geschlossene Reich des erbarmungslosen Geistes Jehovas. D i e A u g e n dieses Dichters werden nicht durch irgendwelchen affektierten Sentimentalismus verschleiert, wie

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z. B. bei Stefan Szomahäzy, er übt keine ungarische Mimikry, er gibt sich offen und ehrlich. In seinen Romanen ist Ungarn nur der Rahmen, innerhalb dessen das Judentum sein besonderes und eigenes Leben lebt. Zu diesen Romanschriftstellern gesellt sich noch eine ganze Reihe von Lyrikern. Ludwig P a l ä g y i hat am frühesten Erfolg, er verliert bald die Verbindung zu seinen jüngeren jüdischen Zeitgenossen. In seinen ersten Bänden stellt er sich als leidenschaftlicher Sozialist vor, der die nationalen Grenzen verachtet und dessen Herz der darbenden und unterdrückten Menschheit gehört. Ignotus tritt mit einem kleinen Epos „Slemil keservei" (Die Leiden Schiemils) in die Literatur ein, mit der treffenden Zeichnung des Seelenzustandes eines jungen Juden. Später erklärt er in seinen lyrischen Versen der landläufigen Moral den Krieg und besingt mit dem Liberalismus eines von den Fesseln der Religion und der Vorurteile freien Menschen die Liebe und das Leben. Eugen Heltai schreibt leichte und ein wenig frivole Lieder im Ton der Alltagssprache, wobei er Sentimentalismus mit zynischen Offenheiten verquickt. Heine ist sowohl der Lehrmeister von Ignotus wie von Heltai. Man hält Geza Szilägyi für den Schüler Baudelaires, er gibt als erster in der ungarischen Dichtung dem Sexualismus unverhüllten und beredten Ausdruck. Emil Makai wird durch die Ubersetzung hebräischer Dichtung bekannt und durch Operettentexte populär. Desider Szomory lebt 15 Jahre in Paris, in Ungarn schreibt er vorläufig nur ein, zwei Novellenbände und ein „Dramolett" (im Nationaltheater aufgeführt!), dessen Titel „Pentek este" (Freitag Abend) und dessen Hauptheld ein Rabbiner ist. Diese jungen Schriftsteller blicken damals noch zum großen Teil mit überlegener Verachtung auf die „nationale Literatur", ohne sie überhaupt zu kennen. Von Ignotus stammt das berüchtigte Wort, daß Johannes Arany bei aller gigantischen Größe unvollkommen sei, weil er übermäßig volkshaft sei, sein Hauptheld Toldi sei ein „ziemlich antipathischer Bursche". Sie sind davon überzeugt, daß in Kürze die ungarische Literatur das sein wird, was sie schreiben, weil es nämlich viele Juden gäbe, aber wenig Ungarn. Josef Bänoczi verkündet im Jahre 1893 mit strotzender Überheblichkeit: „ W i e viel tiefer, farbiger und kräftiger würde das Studium des Hebräischen den ungarischen Geist machen. Geben wir dem großen Publikum in die Hand . . . was die jüdische Geistesschärfe und Phantasie, die jüdische Meditation und Hingabe zur Bereicherung des Weltgeistes geschaffen hat — und wir haben in

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würdiger Weise zur Stärkung des Ungartums beigetragen". Die „Talente" des ungarischen Judentums haben damals wirklich alles getan, um den „stumpfen" ungarischen Geist (wie Doczi sagte) durch die jüdische Phantasie zu ersetzen. Man kann die Uniform wechseln, aber nicht die Seele: sie haben, insoweit sie begabt waren, ihre eigene Seele gegeben. Von ungarischen Traditionen nicht belastet, an fremden Meistern geschult, machten sie viele neue, obwohl nicht immer wertvolle Ideen populär, sie brachten etwas Fremdes in den ungarischen Rhythmus, f ü r die weitere ungarische Entwicklung bedeuteten sie nur exotische Farben, aber keine wirkliche Befruchtung. Da sie ein großes Lesepublikum hatten, trugen sie in verhängnisvoller Weise dazu bei, daß die zusammengewürfelte ungarische Intelligenz die Urteilsfähigkeit verlor oder garnicht einmal erlangte, die Urteilsfähigkeit, die ihr ermöglicht hätte, zwischen wirklicher ungarischer Dichtung und fremder zu unterscheiden. — Sehr viel schadeten sie vorübergehend der ungarischen Dichtersprache. Am A n f a n g waren sie sich auch dessen bewußt. Ignotus sagt noch im Jahre 1893, daß in der „Hauptstadt infolge von tausend fremden Einflüssen eine fremde ungarische Sprache herrscht, deren schädliche und verderbliche ständige Einwirkung nicht genügend durch Lektüre ausgeglichen wird und mit welcher nur das gesunde Sprachgefühl fertig werden kann, und woher hätte der in der Hauptstadt geborene, hier erzogene, hier lebende Schriftsteller es sich aneignen können." Aber bald machen sie aus diesem natürlichen Fehler eine Tugend. Sie brüsten sich beinahe mit dem Nichtkönnen der Sprache, und Ignotus verkündet im J a h r e 1899 gegenüber einem echtungarischen Schriftsteller schon stolz, daß bald ihre Dichtersprache die wurzelechte klassische ungarische Sprache sein würde. Z u m Glück der ungarischen Geistigkeit hat die Entwicklung ihn auch hier Lügen gestraft. W e n n es heute auch noch verfrüht wäre, ein endgültiges Urteil über ihre Literatur zu sprechen, so scheint es doch wahrscheinlich, daß sie nur eine vorübergehende Episode auf einem Grenzgebiet der ungarischen literarischen Entwicklung bleibt, die keine Fortsetzung haben wird, wie sie auch keine Vorstufe hat. Das Einströmen der fremden Strömungen löste im ungarischen Geistesleben schon gegen das Ende der 70er Jahre eine starke Gegenwirkung aus. Schon vorher hatte Gabriel Szarvas seine sprachschützlerische Bewegung eingeleitet, in der er im Namen des besseren Ungartums der Spracherneuerung den Krieg erklärte. Unerbittlich rottete er die fremdklingenden neugebildeten

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W ö r t e r aus, darunter auch solche, die Vörösmarty, Petöfi oder A r a n y schon zu ungarischen W ö r t e r n gemacht hatten. Seine treuesten W a f f e n g e f ä h r t e n waren Assimilierte, die sich unter dem Schutze seines Ansehens einreden konnten, daß es genüge, W o r t e ungarischen Klanges nebeneinander zu setzen oder fremde W o r t e mit ungarischer Orthographie zu schreiben, um den Stil wurzelecht magyarisch zu machen. J o h a n n A r a n y und Paul Gyulai wandten sich mit Recht gegen diese Bewegung, wobei sie betonten, daß der Geist der Sprache nicht im W o r t e , sondern in der Wortverknüpf u n g und in der Gedankenstruktur liege. Ihre Stimme reichte nicht weit, während Eugen Räkosi durch den „Budapesti H i r l a p " ein halbes Jahrhundert hindurch die Gedanken von Gabriel Szarvas in seiner eigenen marktschreierischen Auslegung in weiten Kreisen populär machte. Damit nahm die verhängnisvolle Strömung der „Ungartümelei" ihren A n f a n g , die auch bald auf das Gebiet der Literatur übersprang und die sowieso schon ungeklärten Begriffe über das Magyarentum noch mehr verwirrte. Das Leitwort der literarischen Gegenströmung gab Johann A r a n y mit seinem Gedichte „Kozmopolita költeszet" (Kosmopolitische Dichtung), das später in übler Weise mißverstanden wurde. Im Wörterbuche Gyulais und Peterfys fehlten die Wertbezeichnungen „kosmopolitisch" und „national". Sie betrachteten, wie wir schon erwähnt haben, nur das W e r k : sie suchten darin das Künstlerische, das Dichterische und das Ursprüngliche, das Talent, und es war ihnen ganz gleichgültig, ob der Dichter ein Christ oder ein Jude war oder ob er von ungarischen Vorbildern ausging oder ob fremde Muster ihn inspirierten. Gyulai liebte Joseph Kiss nicht, weil er ihn f ü r einen mittelmäßigen Dichter hielt, aber von dem ersten Bande des Ignotus sprach er mit ungewohnter Anerkennung. Peterfy kritisierte gleicherweise Mikszäth, Justh, Petelei, Herczeg und Brody oder Kabos. Als er über den „nationalen Genius" schreibt, nimmt er scharf gegen jede Art von U n g a r tümelei Stellung: „Gegenüber dem Chauvinismus sollen wir die Selbsterkenntnis üben, wir brauchen nicht die Verkümmerung unseres ungarischen Geistes zu befürchten, wenn er zuweilen auch fremde N a h r u n g zu sich nimmt. Der L ä r m der Chauvinisten ist in dieser Hinsicht auch deshalb schädlich, weil er der Zurückgebliebenheit, der Unwissenheit, der Oberflächlichkeit und der Prahlerei viel mehr entgegenkommt als dem nationalen Gedanken. Vor dem Sieg dieser schönen Eigenschaften möge uns aber der Genius der Nation bewahren."

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Die Strömung der Ungartümelei ging anfangs auch nicht von der Akademie oder von der Kisfaludy-Gesellschaft aus, sondern von der Presse Räkosis und von der Petöfi-Gesellschaft (!). Thomas Szana richtet im J a h r e 1882 an Ludwig Kossuth einen Beschwerdebrief, in dem er darlegt, d a ß „die ungarische schöne Literatur unter dem Einfluß fremder Muster ein kosmopolitisches Gepräge angenommen habe und daß die Strömung dieser fremden Produkte das nationale Empfinden, den guten Geschmack und auch die Sitten vergifte." Kossuth betont in seiner Antwort die Wichtigkeit des nationalen Empfindens, obwohl er die Notwendigkeit der europäischen Orientierung hervorhebt. Er verurteilt scharf den Naturalismus als schädliches Gift. Der erste naturalistische Roman (der von Brödy) erschien erst im J a h r e 1884. Thomas Szana zieht also die Glocke, bevor das Feuer ausgebrochen ist. Die Zeitschriften der Petöfi-Gesellschaft kämpfen ständig gegen den fremden Einfluß und fordern eine originale ungarische Literatur, aber das „ G i f t " verbreitet sich. Die Reisen nach Paris nehmen, wie wir gesehen haben, ihren Anfang, der französische Einfluß verstärkt sich, und die Verteidiger des nationalen Genius stellen sich auf den Schanzen auf. Mit sehnendem Herzen erwarten sie das Entsatzheer, das die Fahne des wirklichen Ungartums vor sich herträgt. Niemals wurde soviel über ungarisch rassischen und ungarisch nationalen Geist geschrieben wie in dieser Zeit, als die Assimilierten die H a u p t w o r t f ü h r e r waren und als sehr wenige wußten, was man darunter verstehen sollte. Jede neue Zeitschrift beginnt im Zeichen dieses Gedankens. Am besten formuliert Franz H e r czeg die neue Forderung in der ersten Nummer der „ Ü j Idök" (Neue Zeiten): „Die Individualität der Nation ist die Grundlage jeder Kultur. W o das rassische Gefühl fehlt, dort gibt es kein gesellschaftliches Leben. . . W e n n wir eine nationale Gesellschaft organisieren wollen, d a n n genügt es nicht, wenn wir ungarisch fühlen: wir müssen ungarisch leben." Nur die Zeitschrift „A H e t " (Die Woche) scheidet bewußt aus dieser begeisterten Schar aus, deren „wertvoller Inhalt darin besteht, was den Geist des modernen Menschen erfüllt und seine Nerven erregt." (Ein überraschendes jüdisches Selbstbekenntnis.) W ä h r e n d in den 70er J a h r e n der deutsche Geist der Sündenbock sein sollte, so nimmt der französische jetzt diesen Platz ein. So schreibt Johannes V a j d a im J a h r e 1896: „In unserer Literatur wütet die neueste Krankheit: die Frankomanie, die Götzenanbetung des Französischen, die Krankheit der französischen A f f e k -

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tiertheit, des Französelns, wütet schon eine gute Zeit als verheerende Epidemie mit ständig zunehmender Heftigkeit." Die „Magyar Szemle" klagt darüber, d a ß die jungen ungarischen Schriftsteller, um Stoffe, Stimmungen und E r f a h r u n g e n zu sammeln, nach Paris reisen, aber sie schöpfen dort nicht aus den reinen Quellen des französischen Geistes: „Ihr Meister ist Zola, ihre Dramatiker sind Becque und Prévost und ihr Dichter Baudelaire. Sie lieben den französischen Geist nur in seiner verkümmerten lüsternen und erniedrigten Form, f ü r den sie ihr U n g a r t u m verleugnen." Auch die „Jelenkor" (Gegenwart) darf in diesem Chor nicht fehlen: „Der rechtgläubige Mohammedaner sehnt sich nicht so sehr nach Mekka, wie der ungarische Schriftsteller nach Paris. W i e wird er sich sehnen, schmachten und rasen, wenn er wirklich einmal hier zu Hause in dieser öden ungarischen Kolonie leben muß." Dies sind nur einige Akkorde aus dem reichen Chore, der zunächst noch einige ehrliche und reine Stimmen enthält, später aber immer lauter und immer verwirrter klingt. Der aus Paris nach dem ungarischen Brachfeld zurückkehrende arme Andreas Ady wird von diesem wütenden Stimmenorkan empfangen, der schon seit einem J a h r zehnt ständig um die ungarischen Köpfe braust. Er wird auf ihn losgelassen, wenn er auch garnicht für ihn bestimmt ist. Noch ein zweites wird ihnen zum Vorwurf gemacht: der H a n g zum Kosmopolitismus. Der erste, den der Vorwurf trifft, ist Ludwig Palâgyi. „Unseres Wissens — schreibt die „Vasärnapi Ü j s ä g " (Sonntagszeitung) im Jahre 1889 — ist Ludwig Palâgyi der erste Ungar, und gebe es Gott, daß er auch der letzte sei, der sich ganz offen als Kosmopoliten bezeichnet." Als die jüdischen Literaten in großen Scharen vor die Öffentlichkeit treten, werden sie der Einfachheit halber Kosmopoliten genannt, da das W o r t Jude tabu ist. „Zuweilen wurde nicht das geschriebene W e r k , sondern nur die Nase des unschuldigen Autors als kosmopolitisch abgestempelt," schreibt Melchior Palâgyi bekümmert in seinem Blatt, in der „Jelenkor" (Gegenwart). Im öffentlichen Bewußtsein bildet sich immer mehr — unter verschiedenen euphemistischen Bezeichnungen — der Begriff einer f ü r sich alleinstehenden jüdischen Literatur heraus. Diesen Begriff formuliert am prägnantesten der Verfasser eines anonymen Artikels in der „Magyar Szemle" vom Jahre 1895: „Innerhalb von anderthalb Jahrzehnten ist eine ungarisch-jüdische Literatur entstanden, die den Stempel einer besonderen literarischen Schule trägt. Dies ist das jüdisch-ungarische Zeitalter." W a s diese antisemitische Zeitschrift offen ausspricht,

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empfinden viele. Ludwig Tolnai, den man sicherlich nicht der Voreingenommenheit beschuldigen kann, weist in seiner Rezension über Joseph Kiss auf einige G r ü n d e der Gegenströmung hin: „Es gibt einen Punkt, wo auch der loyalste Christ leicht zum Antisemiten wird. W e n n man sagt: ihr christlichen Dichter seid nichts, hier ist ein jüdischer Volksschullehrer, ein jüdischer Bankbeamter, und dieser ist ein wahrer Dichterkönig und heißt Joseph Kiss. . . Es ist wirklich nicht klug f ü r eine so kluge Rasse, derart zu reden." Dies schrieb Tolnai noch im J a h r e 1887, als die jüdische Anmaßung noch im Keime verborgen lag. Ihre wirklichen Orgien feierte sie erst später. Nach sieben Jahren stellt Tolnai schon resigniert fest: „Heute ist unsere ganze Literatur verjudet, und zwar durch unsere Faulheit." W i r haben gesehen, d a ß auch Sigmund Justh, der sich vergebens mit der Herausgabe einer rassenmagyarischen Zeitschrift versucht hatte, ebenso dachte. In der Zeitschrift „Élet" (Leben) stellt ein Schriftsteller unter dem Pseudonym Satur Betrachtungen über die „gegenwärtige Literatur" an, die nach seiner Meinung besonders im Kreise um die „A H é t " (Die Woche) erschreckende Zeichen der Dekadenz zeige. Unverständliche französische Laute, darunter auch deutsche und englische, erfüllen die Luft, schreibt er. Färb- und kraftlos ist die Sprache im M u n d e von Schriftstellern, die weder ungarisch fühlen, noch ungarische L u f t einatmen und in ungarischer Erde festverwurzelt haften bleiben wollen. Es ist beinahe merkwürdig, sagt er weiter, wie sehr die Pester Sprache dem Pester Geist gleicht. Sie ist kosmopolitisch, ein Mischmasch, ohne jede kräftigere Farbe und ohne Charakter. Satur erkennt nur zwei als wirkliche ungarische Schriftsteller an: Andreas Kozma und Béla Tóth. Auch Melchior Palàgyi stimmt in diesen reich besetzten antisemitischen Chor ein: „Und während die jungen ungarischen Schriftsteller die Stimme der alten literarischen Sünder von Paris nachahmen — schreibt er in der „Jelenkor" (Gegenwart) — sind andere dabei, in die ungarische Literatur eine bisher nicht geahnte Klangfarbe hineinzubringen: den galizisch jüdischen Geist." Das übrigens immer philosemitisch eingestellte „Orszag-Viläg" (Land und Welt) meint im ruhmreichen J a h r e des Milleniums, d a ß die zeitgenössische ungarische Literatur „sich ins Labyrinth des Kosmopolitismus verirrt habe", das unter der Schriftleitung Ottokar Prohäszkas erscheinende „Magyar Sion" (Ungarisches Zion) teilt die ungarischen Schriftsteller geradezu in drei G r u p p e n ein: in christliche Schriftsteller, von denen es nur wenige gibt, dann in Schriftsteller, „die

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wohl Christen sind, aber deren Arbeiten kosmopolitischen, um nicht zu sagen jüdischen Geistes sind", wie Andreas Kozma, Julius Szävay, Julius Pekär und schließlich in Schriftsteller jüdischer Konfession, „von denen es viele, sehr viele gibt, so d a ß wir garnicht alle aufzählen können." Jetzt stimmt auch bereits die „Budapesti Szemle" und die Kisfaludy-Gesellschaft hier und dort in dieses Stimmenkonzert mit ein, obwohl weder Gyulai, noch Peterfy ihre bisherige Zurückhaltung aufgeben. Gyulai stellt, als er im J a h r e 1895 die Gedichte von Ignotus kritisierte, mit zurückweisender Strenge fest: „ W e r die ungarische Nation und ihre Literatur nur ein wenig kennt, der weiß, d a ß dieser Ton der Natur des ungarischen Menschen ganz und gar widerspricht. . . Der Ton, der in Ignotus' Gedichten erklingt, ist ein fremder Ton in unserer Literatur; wer sich an den Quellen des nationalen Empfindens genährt hat, wird diesen Ton nie zulassen. . ." In diesem J a h r erscheint der Band „Tristia" von Geza Szilägyi mit einem Vorwort von Adolf Silberstein. Die „Budapesti Szemle" stellt in einem f ü r diese vornehme Zeitschrift ungewohnten T o n fest: „Diese Dichtung ist ein Ekel erregender Sumpf, eine Dichtung, die ins Bordell gehört." In der Kisfaludy-Gesellschaft erhebt Julius Vargha in dem Sekretariatsbericht vom J a h r e 1896 seine Stimme, um dann von J a h r zu J a h r immer bitterer und schärfer seine Klagen zu wiederholen: „Unsere Literatur steht dem Nationalen von T a g zu T a g fremder gegenüber. Es droht uns bereits die Gefahr, daß sie eines Tages nur noch der Sprache nach ungarisch, aber in ihren Gefühlen und in ihren Auffassungen ganz f r e m d sein wird." U n d wenn er hier erst von drohenden G e f a h r e n spricht, so stellt er im Jahre 1900 als Tatsache fest: „Der fremde Geist durchdringt unsere Literatur stärker denn je. Das W o r t ist ungarisch, aber die Seele ist nicht mehr die unsrige." Ich habe die Äußerungen des literarischen Bewußtseins vom J a h r h u n d e r t e n d e mitgeteilt, um nachzuweisen, d a ß bereits vor Ady und seiner Generation nicht nur die oppositionelle, sondern auch die sogenannte nationale Phraseologie in ihren Grundzügen feststeht. Z u A n f a n g hatte sie noch eine Tatsachen- und Erlebnisgrundlage, ihre Redensarten stumpften aber immer mehr zu leeren Phrasen ab, die d a n n gedankenlos auf Dichter angewandt wurden, die nicht nur nicht fremden Geistes, sondern die künstlerischen Herolde des schon verloren geglaubten Rassemagyarentums waren. Die „ A H e t " betrachtete düster die immer stärker werdende Gegenströmung, da sie sich über ihre Bedeutung und ihren Sinn

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vollkommen im klaren war. „Die ungarische Literatur — schreibt Thomas Köbor im J a h r e 1895 — nahm mit berechtigter und verdienter Begeisterung einen deutschstämmigen Erzähler von glänzenden Talenten auf, der treu und mit Vorliebe von Raizen, Bunjewazen und Schwaben schreibt (Franz Herczeg) . . . In Sigmund Justh, der ein sehr düsteres Bild von der ungarischen Gesellschaft gemalt hat, sah man einen Ungarn. . . Es kommt niemand in den Sinn, Johannes V a j d a oder Alexander Endrödi unpatriotisch zu nennen, weil sie nicht in der volkhaften Richtung arbeiten. Die Abstammung ist es also nicht, die Muster, die Richtung und die Ideen sind es auch nicht." Die Schriftsteller, von denen man sagt, d a ß sie nichts in der ungarischen Literatur zu suchen hätten, „daß sie keine Ungarn seien, ihr Vaterland verachten, sind alle Juden."' Diese W o r t e werden von der zeitgenössischen literarischen Kritik bestätigt, und nichts beweist besser, wie stark diese Frage die jüdischen Literaten beschäftigte, als daß Ignotus nach zwei Jahren denselben Gedanken wieder aufnimmt: „Die ungarische Literatur ist geduldig. . . Es fällt niemand ein, Franz Herczeg die T ü r zu weisen. Unter den heutigen Aposteln des U n g a r t u m s steht an erster Stelle Eugen Räkosi, der deutscher, und Baron Ivor Kaas, der dänischer Abstammung ist." Nur das emanzipierte Judentum, „das in der Form immer deutlicher werdender Golfströme in den Gewässern des ungarischen öffentlichen Lebens herumwirbelt", wird ausgeschlossen, und „in einigen Kreisen besteht ein so starker Antisemitismus, daß die Juden stolz darauf sein können. . . Kurz, mit voller Ehrlichkeit glaube ich, daß es für den Antisemitismus in U n g a r n viel zu viel Juden gibt, U n g a r n dagegen sehr wenig." Ignotus geht hier schon zum Angriff über, wie übrigens in der ganzen Zeit sein jüdisches Selbstbewußtsein und sein Selbstgefühl das stärkste und das hervorstechendste ist. Das literarische Bewußtsein vom Ende des J a h r h u n d e r t s erkannte die Dualität der ungarischen und der ungarischsprachig jüdischen Literatur — wie wir es auch bei den Äußerungen einer jeden Partei gesehen haben — als Tatsache an. Eine einzige Stimme erhebt sich gegen diese Anschauung, Ludwig Palägyi schreibt als Antwort auf den Artikel von Ignotus: „ W i r glauben, d a ß man sich von jüdischer Seite oder von judengegnerischer Seite vergebens bemüht, die Einheit der ungarischen Literatur zu zerbrechen. Es wird der T a g kommen, wo man staunend sehen wird, d a ß es eine Zeit gegeben hat, wo sich in die W ü r d i g u n g der nationalen Literatur solche konfusen Stimmen der ungarischen Ge-

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sellschaft eindrängen konnten." Dieser Protest, dessen Prophezeiung nicht eingetroffen ist, beweist gleichfalls die ungewohnte Stärke des zeitgenössischen literarischen Bewußtseins. D i e führenden Geister des ungarischen literarischen Lebens sahen deutlich, daß es nicht genüge, über die Entartung der nationalen Richtung und über das starke Vordringen der jüdischen Literatur zu klagen: diesen modernen Schöpfungen müsse man die W e r k e des „nationalen G e n i u s " gegenüberstellen. D a aber ein solcher „ G e n i u s " nicht erschien, wäre es ihre A u f g a b e gewesen, die Kenntnis des ungarischen Klassizismus zu vertiefen und die großen ungarischen Dichter der Vergangenheit, in denen sich das ewige Antlitz des ungarischen Volkes und der ungarischen Rasse widerspiegelt, den ungarischen Lesern näherzubringen. Dadurch hätte die Zeit einen sicheren Maßstab für den Ausdruck des wahren Wesens ungarischer Kultur gewonnen. Dieser A u f g a b e diente nach dem Vorbild Gyulais mit wirklicher H i n g a b e und kongenialem Verständnis nur Eugen Peterfy. Seine Essays über Balassa, B a j z a , Kisfaludy, Kazinczy, Szechenyi, Eötvös, Kemeny und J o hannes A r a n y weisen mit dem Ideenreichtum eines großen Geistes und der Einfühlungsgabe eines feinfühligen Psychologen ständig auf die unvergänglichen Werte des U n g a r t u m s hin. W e r sah sie schon außer ihm? Sehr wenige. D i e Literaturwissenschaft ging in der an und für sich nützlichen Registrierung historischer Daten auf. Zwei sonst ausgezeichnete, jüngere Vertreter dieser Wissenschaft, Friedrich Riedl und L a d i s l a u s Negyessy, waren in dieser Zeit vor allem durch ihre Lehrbücher bekannt geworden. Zsolt Beöthy, im Besitze der ganzen Macht des literarischen Lebens, wäre mit seiner unvergleichlichen rhetorischen B e g a b u n g berufen gewesen, die Kenntnis des wirklichen U n g a r t u m s in weiteren Kreisen zu verbreiten. Dies war auch das Ziel des „ A m a g y a r irodalom kis tükre" (Kleiner Spiegel der ungarischen Literatur), aber in seinen Folgen wirkte dieses kleine Meisterwerk, wenn auch nicht auf das Publikum, so doch auf die Literaturwissenschaft verhängnisvoll. Beöthy projezierte die patriotische Ideologie seiner Zeit in die Vergangenheit der ungarischen Literatur. Seine Gegner f r a g t e n mit Recht, inwieweit der nationale Geist z. B. durch die Liebesgedichte B a l a s s a s , die Epen Gyöngyösys, die Übersetzungen Kazinczys und das D r a m a Madächs zum Ausdruck käme. Im weiteren Sinne bringt natürlich jeder ungarische Dichter den ungarischen Geist zum Ausdruck, worüber und wie er auch schreiben möge, nur daß man den nationalen Geist nicht mit Patriotismus

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oder Volkhaftigkeit gleichsetzen kann. Beöthy selbst aber tat es und noch mehr seine Schüler. Sie erhoben das geistesgeschichtlich systematisierende Prinzip zum Kriterium: in den Schöpfungen ihrer eigenen Zeit sahen sie nicht auf das Künstlerische wie Peterfy und Gyulai, sondern sie suchten die Widerspiegelung patriotischer Gefühle. Dadurch verengten sie außerordentlich den Begriff der nationalen Literatur, diese Einstellung löste d a n n verständlicherweise eine ebenso übertriebene Gegenströmung aus. Zsolt Beöthy suchte eifrig nach einem „nationalen" Dichter, den er als Vorbild auf den heiligen Altar der ungarischen Literatur stellen konnte, und diesen f a n d er in Michael Szabolcska, den er mit seinem warmen Pathos als den würdigen Nachfolger Petöfis, den lang erwarteten großen ungarischen Lyriker, feierte. „Auch dieser Umstand stellt Szabolcska bereits in die vorderste Reihe unserer Literatur, daß er durch und durch Magyare ist und die reine unverfälschte ungarische Seele zum Erklingen bringt", schreibt die „Vasärnapi Ü j s ä g " (Sonntagszeitung), wobei sie hinzufügt: „Dies ist kein gering zu schätzendes Verdienst, wenn die fremden Elemente unsere nationale Individualität zu überdecken drohen." Hier ist das neue Kriterium: das Ungartum als W e r t messer der Kunst. Einstmals, noch vor Kazinczy, galt es beinahe als Verdienst, wenn überhaupt jemand Ungarisch schrieb. Zwischen den beiden Auffassungen ist nur ein Nuancenunterschied. Nach einer hundert Jahre lang währenden gewaltigen Entwicklung war das Ungartum wieder zum Ausgangspunkt zurückgelangt. Gyulai teilte Beöthys Begeisterung nicht. Die „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau) schreibt im J a h r e 1892 über Szabolcska: „Er ist weder ein Phänomen noch eine Überraschung und keinesfalls der Dichter, der in die gewohnte Musik der heutigen ungarischen Lyrik einen Ton hineinbrächte, der eine neue W e n d u n g bedeuten könnte. Es genügt, wenn er in der Reihe der .kleineren Sänger' Longfellows einen würdigen Platz einnimmt." D a ß sich seine Meinung auch später nicht änderte, beweist eine Rezension, die aus der „Budapesti Szemle" vom J a h r e 1899 stammt: „Es ist ein Armutszeugnis f ü r die Phantasie des Dichters (Szabolcska), wenn er sehr häufig und wiederholt denselben Gegenstand oder ähnliche besingt." Szabolcska hat zweifellos ein paar unvergeßlich schöne ungarische Gedichte geschrieben, aber jene Volkhaftigkeit, wegen der ihn seine Freunde lobten, war eine literarische Entwicklungsstufe, die schon zu Zeiten Petöfis überschritten war. Als man ihn als den Fortsetzer Petöfis hinstellte, vergaß man alles, was Johan-

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Richtungen

nes Arany, Sigmund Kemeny und Paul Gyulai über den Charakter der volksnationalen Literatur geschrieben hatten, und anstatt Szabolcska an den ungarischen Klassikern zu messen, wie es Gyulai getan hatte, wurden sie auf das Niveau Szabolcskas herabgewürdigt. In jenen aber, die es wagten, die neuen „nationalen" Dichter mit berechtigter Strenge zu kritisieren, sah m a n die Verräter der nationalen Tradition. Den Preis dieser merkwürdigen Verwirrung der Meinungen zahlte dann eine große ungarische Dichtergeneration. Nach Szabolcska entdeckt Beöthy, wie wir schon erwähnt haben, Geza Lamperth, dessen im J a h r e 1897 erschienenen Gedichtband er mit einem Vorwort dem Publikum vorstellt. Dieses Vorwort, das in eingehender Analyse D o r f - und Stadtdichtung gegenüberstellt, bringt den bereits verstummten Paul Gyulai wieder zum Reden und ruft Ignotus auf den Kampfplatz. Die drei Äußerungen sind die aufschlußreichsten literaturgeschichtlichen Ereignisse vom Ende des Jahrhunderts. Gyulai faßt den Gedankengang Beöthys kurz und anschaulich zusammen: „Nach Beöthys Bericht stehen sich im Lager unserer jungen Dichter unter verschiedenen Bezeichnungen eigentlich die Welt des Dorfes und die W e l t der Großstadt gegenüber. Der eine schöpft seine Inspiration aus der Ursprünglichkeit und der K r a f t der ungarischen Natur, aus ihren einfachen Gefühlen und Bildern. Der andere wird durch das erregte Nervenleben der großen Masse erhitzt, um den tausendfarbigen und in tausenderlei Formen wimmelnden W i r r warr des Lebens mit dem Blitzlicht des dichterischen Gefühls und des dichterischen Gedankens zu durchdringen. Budapest ist heute größer, reicher und schöner als früher, aber sein Leben ist bei weitem noch kein u n g a r i s c h e s Großstadtleben. Seine Dichtung gibt zwar den Straßenlärm wieder, schöpft aber aus dem Leben der Stadt weder Gefühle noch Ideen, die mit unserem Ungartum und mit unseren Zielen in Einklang stehen. Damit die hauptstädtische Entwicklung die geforderte Richtung einschlage, wünschen wir auch noch, daß das Leben und die Dichtung der ungarischen Provinz und des ungarischen Dorfes einen möglichst großen und tiefen Einfluß auf sie ausübe. An wirklicher ungarischer Dichtung gibt es auch bisher keine andere als die Dichtung der ungarischen Provinz und des ungarischen Dorfes. Die Versuche, die unternommen wurden, um etwas ganz anderes zu beginnen, zeigen, d a ß die A b w e n d u n g von dieser Dichtung und ihren großen T r a d i tionen auch f ü r den nationalen Geist einen Riß bedeuten würde. Farkas,

Freiheitskampl

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2. Das literarische Werk

Die Dichtung der neuen ungarischen großen W e l t k a n n sich nur aus der Dichtung der alten ungarischen kleinen W e l t entwickeln. Deshalb verdient Lamperth unsere Anerkennung, der bei den großen Dichtern des ungarischen Dorfes nicht nur Muster suchte, sondern auch seine Ideen und seine Eingebungen aus der ungarischen Natur schöpfte. Seine Inspiration u n d seine Schule sind gleicherweise ungarisch." Das ist der G e d a n k e n g a n g Beöthys, aus dem klar genug hervorgeht, daß er sicher an etwas anderes denkt, als was er sagt, denn was verstand er wohl unter der fremdartigen städtischen Dichtung anderes als die neue ungarische jüdische Literatur. Seine Freunde, Eugen Räkosi, Andreas Kozma und Franz Herczeg, wollte er wohl kaum aus dem Kreise der eigentlichen ungarischen Literatur ausschließen, diese waren aber alles andere als „Dorfdichter". Paul Gyulai nimmt aber die Aufteilung Beöthys in die beiden dichterischen Bezirke ernst, er vertieft sich in diese Theorie, analysiert sie und läßt uns gleichzeitig nicht im unklaren darüber, welcher Abgrund schon den Schüler von seinem Meister trennt. Er erkennt die Berechtigung der Aufteilung nicht an. „Seit Urzeiten ist der Gegenstand der Dichtung das menschliche Herz, die Natur, der Staat und die Gesellschaft. . . . Aus diesen schöpfte der Dichter seine Inspiration, ob er nun auf dem Dorfe oder in der Stadt wohnte. . . W a r u m sollten Zrinyi und Balassa Dorfdichter sein, wo doch beide aus der Renaissance schöpften und unter dem Einfluß der Kämpfe f ü r Glauben und Vaterland schrieben? . . . Auf die Dichtung Petöfis und Aranys hatte die Umgebung der ungarischen Landschaft, in der sie geboren wurden, wohl großen Einfluß, aber wieviel andere Einflüsse kamen dazu, teils literarische, teils politische. Auch das ist wahr, — und hier folgen die nachdrücklichsten Sätze Gyulais — d a ß sie mehr als ihre Vorgänger aus der Volksdichtung schöpften und das Nationale und das Künstlerische auf einer höheren Stufe vereinigten, aber die Volksdichtung ist mehr als die Dichtung eines Dorfes oder einer Landschaft, sie ist die Dichtung des ganzen Volkes und ein Vermächtnis vieler Jahrhunderte, wie die Sprache selbst wohl eine der Hauptquellen der nationalen Dichtung, aber es doch nicht ausschließlich ist, und w e n n B e ö t h y d i e g a n z e ungarische nationale Dichtung Dorfdicht ung nennt, d a n n s t e l l t er sie n i e d r i g e r als die V o l k s d i c h t u n g . . . Nicht das Dorf und die Hauptstadt entscheidet über das Schicksal des Dichters, sondern das Zusammenwirken von vielen Dingen, besonders das allgemeine Geistes-

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leben, die nationale Entwicklung und sein eigener Genius." — Gyulai faßt hier in prägnanten W o r t e n gleichsam als literarisches Vermächtnis das literarische Bekenntnis seiner großen Generation zusammen. Von Lamperth selbst hat er keine hohe Meinung. Es ist wahr, sagt er, daß er des öfteren den ungarischen nationalen Rhythmus erklingen läßt wie viele andere seiner Gefährten und daß er sich bemüht, ungarische nationale Gegenstände zu besingen. „Aber das hat noch n i e m a n d zum Dichter gemacht, und auch der Begriff der nationalen D i c h t u n g u m s p a n n t v i e l m e h r , w e i l er verschiedene Dichterpersönlichkeiten umfassen, neue Stoffe erobern und der Dolmetsch neuer Ideen sein kann, aber gewöhnlich äußert er sich so, w i e d e r D i c h t e r dies a l l e s eben zum A u s d r u c k bringt und dem Geist der Nation e i n i m p f t." Die Gedichte Lamperths hält er „ f ü r nette Reimübungen". Es handelt sich hier um Gedanken von so entscheidender Bedeutung, daß der „Freiheitskampf" der ungarischen jüngsten Literatur vielleicht eine andere W e n d u n g genommen hätte, wenn sie sich dem Bewußtsein der Zeit tief eingeprägt hätten. Aber sogar bei den unmittelbaren Mitarbeitern Gyulais brachten sie keine tieferen Saiten zum Schwingen. Nur ein „geistiger Führer" wurde auf sie aufmerksam: Ignotus. Ignotus kam Paul Gyulai immer mit der tiefsten Ehrfurcht entgegen und ergriff auch jede Gelegenheit, um dies — auch in den Spalten der feindseligen und gehässigen „ A H e t " (Die Woche) — zum Ausdrude zu bringen: „Gyulai ist einer der letzten unschätzbaren Gestalten jener Richtung, die bei uns mit Szechenyi begann, — schreibt er an einer Stelle im J a h r e 1892 — er baut zerstörend auf, gestaltet verneinend, und er wäre kein Mensch, wenn er sich nicht zuweilen irrte und nicht zuweilen ungerecht wäre. Aber durch dieses vergängliche Dunkel strahlt umso glänzender seine reine Uberzeugung und sein guter Wille. Er soll über uns schimpfen und uns schlagen ad multos annos." So dachten damals noch sehr wenige und noch wenigere schrieben so über Gyulai. Ignotus hat sehr viel von ihm gelernt. Auch seine Ansicht über die Gedichte Lamperths ist, daß sie „keine Gedichte, sondern Seminararbeiten seien", von Beöthy schreibt er aber, daß dieser „einer tausendjährigen Nation ins Gesicht sage, d a ß sie ihre N a tionalität in der Ochsenherde suchen, die Kunst auf dem Misthau1U*

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2. Das literarische Werk

fen bauen und ihre Individualität hinter Unwissenheit und Einfältigkeit verschanzen solle." Dieser agressive Ton bezeichnet gleichzeitig jene Entfernung, um die Ignotus — bei vielfach gleichen Ideen — unter Gyulai steht. So entstehen zum Ende des Jahrhunderts in verhängnisvoller Weise neue Kampffronten. Péterfy war gestorben, der greise Paul Gyulai zog sich immer mehr vom literarischen Leben zurück. Er wußte noch, was nationale Tradition bedeutete, für ihn war sie das große Erlebnis seines Lebens und der innere Sinn seiner leidenschaftlichen Kämpfe. Sein Platz wird von Zsolt Beöthy eingenommen, dem auf der anderen Seite Ignotus gegenübersteht. Sie beide bezeichnen in tragischer Vertauschung der Rollen die Spaltung der ungarischen Literaturanschauung. 2. H i s t o r i s c h e s B e w u ß t s e i n Gesellschaftsbild.

und

Jedes Volk verfügt über einen unerschöpflichen Kräftespeicher, und dies ist die geschichtliche Vergangenheit. Ein Volk, das seine Vergangenheit vergißt und das Bewußtsein der ihm bestimmten Aufgaben verloren hat, geht unaufhaltsam seinem Ende entgegen. Wissenschaftliche Geschichtswerke lesen nur wenige, aber die Dichtung schöpft aus ihnen ihre Inspirationen, gießt sie im Gedicht, im D r a m a oder im Roman in eine künstlerische Form und verwurzelt so die Lehren einer großen Vergangenheit in dem Bewußtsein des Volkes. In der Zeit des Absolutismus hatte das Ungartum außer den klassischen Schöpfungen der Literatur auch die großen Werke der ungarischen Geschichtsschreibung geschaffen. Aber die nach nationaler Selbsterkenntnis strebende große historische Arbeit Ladislaus Szalays „konnte in der liberalen Welt, die in der Geschichte der Vergangenheit immer nur ihr eigenes Spiegelbild bewundern wollte, niemals volkstümlich werden (Szekfü)." In den 60er und 70er J a h r e n las das Publikum lieber die Werke Michael Horvâths, des Kultusministers der 1848er Revolution, die weniger die Geschichte des Ungartums als vielmehr die Geschichte des ungarischen Freiheitsgedankens geben. Unsere Zeit schöpft daraus zwei große Illusionen. Die eine ist die Legende von der unveränderlichen Kontinuität der tausendjährigen Verfassung, die andere, daß die bezeichnendste nationale Eigenschaft des Ungartums der Freiheitsdrang sei. Diese beiden Ideen liefern, zu phrasenhaften Gemeinplätzen verzerrt, die motorische Kraft der staatsrechtlichen Kämpfe.

Historisches B e w u ß t s e i n u n d Gesellschaftsbild

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Dieser Geist gebiert die W e r k e Koloman Thalys und die Kuruzzenlieder. Das Zeitalter des Ausgleichs besizt keinen einzigen Historiker, der groß genug ist, um auf das ungarische Volk erzieherisch einwirken zu können. „Es ist das Zeitalter — schreibt Julius Szekfü — wo unter der Ägide der Ungarischen Akademie der Wissenschaften die Herausgabe der historischen Quellen beginnt, wo die Historiker die Bibliotheken und Archive des eigenen Landes und des Auslandes aufsuchen, und wenn sie von dort zurückkehren, oft ohne jeden Kommentar das gefundene, meist wertvolle historische Quellenmaterial mitteilen. Es gibt in dieser Zeit in Ungarn akademische Gelehrte, von denen wir, wenn wir ihre Lebensarbeit durchgehen, nicht einmal über die Tatsachen ihre Meinung erfahren, zu denen sie Quellen von entscheidender Bedeutung herausgegeben haben. . . Die Historiker der Akademie entfernten sich immer mehr von ihrem Volke. Sie lieferten es, da sie seine politischen und historischen Bedürfnisse nicht befriedigten, Elementen aus, die die Ansprüche der Wissenschaft nicht als bindend ansahen. Eine nationale Geschichte, wie sie die ganze Nation brauchte, wollte Jahrzehnte lang niemand schreiben, aber trotzdem fühlte die ungarische Nation, daß sie einer bedurfte, und so nahm sie an, was andere ihr anboten." Niemand las die W e r k e Ladislaus Szalays, die Bücher Michael Horväths waren schon in den 80er Jahren vergriffen. Die neue ungarische Intelligenz wuchs auf, ohne die Vergangenheit der Nation, der sie angehörte, zu kennen. Im 18. J a h r h u n d e r t war es ganz anders gewesen. Jetzt maßten sich die allmächtigen Journalisten ein Urteil über historische Tatsachen an, die erst vor kurzem eingewandert waren und vielleicht nicht einmal eine ungarische Schule besucht hatten. Die „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau) stellt im J a h r e 1895 mit Recht fest: „Eine der auffallendsten und schmerzlichsten Mängel unserer allgemeinen Bildung ist unser ungenügende Sinn f ü r Geschichte." Diesem Mangel wollte die zehnbändige „Milleniumi Magyar Törtenet" (Ungarische Milleniumsgeschichte) abhelfen, die in einer Festausgabe in der Redaktion des verdienstvollen Alexander Szilägyi mit dem Vorworte des Fürstprimas Kolos Vaszary erschien. Die Mitarbeiter sind überwiegend jüdischer Abstammung. Uber das Zeitalter der Christianisierung U n g a r n s z. B. schrieb der Jude Heinrich Marczali. M a n verkaufte 20 000 Exemplare dieses Geschichtswerks. Es diente aber weniger der Lektüre als eher zur Zierde der Hausbibliothek. W i r finden keine Spuren, daß es eine

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2. Das literarische Werk

größere W i r k u n g hervorgerufen hätte, d a f ü r war es schon wegen seines großen Umfanges und der großen Zahl seiner Mitarbeiter nicht sehr geeignet. A m A n f a n g des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der Autodidakt Ignaz Acsädy (Adler) eine Zusammenfassung f ü r das breitere Publikum unter dem Titel „ A magyar birodalom törtenete" (Geschichte des ungarischen Reiches), in der er vom Standpunkte des Außenstehenden einen von einer stark betont materialistischen Weltanschauung getragenen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Ungartums gab. Die schöne Literatur hätte die Versäumnisse der Geschichtsschreibung wieder gut machen können, wenn Persönlichkeiten wie Josef Katona und Sigmund Kemeny da gewesen wären. Obwohl die akademischen Preisaufgaben in erster Linie historische D r a men, dann Romane verlangten, war die Produktion doch sehr gering und mittelmäßig. Die besten Schriftsteller der Zeit kümmerten sich nicht um die Vergangenheit der ungarischen Nation. In den 70er Jahren führte das Nationaltheater zwar viele historische Dramen auf, aber gerade zu dem Zeitpunkt, wo die Stärkung des historischen Bewußtseins in der neuen Intelligenz eine nationale Pflicht gewesen wäre, machten die Schriftsteller Ausflüge in die Vergangenheit fremder Völker, als ob die ungarische Geschichte sie nicht interessierte. Räkosi und Doczi kann man es nicht verübeln, wenn sie zum Schauplatz ihrer neuen romantischen D r a men die griechische W e l t wählen, vor allem Doczi nicht, wenn er ü b e r „ D i e Z e r s t ö r u n g J e r u s a l e m s " ein historisches Drama schreibt, f ü r ihn war es ein nationaler Stoff. Auch Anton Varadi (Weber) war mit dem ungarischen Leben noch nicht derart verwachsen, daß wir ihm vorwerfen könnten, d a ß er Themen aus dem Alten und Neuen Testament dramatisierte (Ischarioth, Moses), wie auch Ivor Kaas eine dramatische Dichtung über „Das jüngste Gericht" schrieb. Aber auch Szigligeti verließ den ungarischen Boden, sein letztes historisches Drama handelt von dem dänischen Staatsmann Struensee. Maurus Jokai führt uns auf der Nationalbühne die tragische Gestalt Miltons vor Augen. Ärpäd Berczik führt uns mit dem dänischen Grafen Kanut in die Heimat Struensees. — Die Lage veränderte sich in den 80er J a h r e n nur wenig. Ein bedeutender Teil der Werke, die mit einem akademischen Preis ausgezeichnet worden waren, kam nicht auf die Bühne und erschien auch nicht im Druck. Außer dem „Bölcs Salamon" (Der weise Salamon) des Epikers Karl Szäsz, der nicht lange auf dem Spielplan stand, wurde in diesem Jahrzehnt der „Spartacus" von

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Csiky aufgeführt, der die Römerzeit heraufbeschwört. Nur einer der Helden von Rakosis „Endre es J o h a n n a " (Andreas und J o hanna) ist Ungar, der Schauplatz und die historische Atmosphäre sind italienisch. Das völkisch zusammengewürfelte Theaterpublikum Budapests hätte vergebens, wenn es überhaupt einen solchen Wunsch hatte, darauf warten können, daß man vor ihm auf der Bühne die großen Ereignisse der ungarischen Vergangenheit vorführen würde, um ihm den inneren Sinn der tragischen Kämpfe und der europäischen Sendung Ungarns zu deuten. Ein solcher Dichter fand sich in dieser Zeit nicht. Die letzte große Leistung der historischen Epik war das W e r k Aranys „Buda haläla" (Budas Tod). Arany fand mehrere Nachahmer, aber ihre Epen waren zum großen Teil Totgeburten: sie hatten kein Publikum. Der Leser verlangte Romane. Josef Eötvös sprach in den 40er Jahren dem historischen Roman bei der Entwicklung des einheitlichen Geistes der nationalen Gemeinschaft eine große Rolle zu. Seine historischen Romane schrieb er nach historischen Vorstudien und mit didaktischen Absichten, ohne dem Künstlerischen etwas zu vergeben. Für Sigmund Kemeny war die historische Vergangenheit Siebenbürgens mehr als ein Thema, sie war ihm ein wirkliches seelisches Erlebnis. Er lebte in dieser schweren Atmosphäre und konnte sie mit ungewöhnlicher Kraft veranschaulichen. Er wurde aber nur gelobt und nicht gelesen. In der Zeit des Ausgleichs ist Maurus Jokai der begeistertste Vertreter des historischen Romans. Es ist sein großes Verdienst, daß er die romantische W e l t seiner Jugend, die an Ereignissen reiche patriarchalische Zeit der 30er und 40er Jahre, in seinen Schöpfungen verewigte. Eine junge Generation nach der anderen lernte daraus die Geschichte einer großen Zeit. Diese Zeit ist das persönlichste Erlebnis des bezaubernden Märchenerzählers, die durch das Prisma der glücklichen Erinnerung in prächtige Farben aufgelöst erscheint. Nicht die Wahrheit der historischen Fakten ist ihm wichtig, sondern die lebendige Stimmung der historischen Atmosphäre. E r stellte der Jugend Vorbilder hin, daran war er aber schon nicht mehr schuld, daß diese Jungen überzeugt waren, würdige Nachfolger der Generation Petöfis zu sein, wenn sie Straßendemonstrationen z. B. gegen die Wehrgesetzvorlage organisierten. In den 80er Jahren schweifte die Phantasie Jokais auch gern in frühere Zeitalter zurück: das historische Milieu diente ihm aber nur als Rahmen, um die romanhaften Verwicklungen etwas wahr-

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scheinlicher zu machen. A u ß e r ihm versuchte sich noch Karl P. Szathmäry mit historischen Romanen, mit geringerer Phantasie und geringer veranschaulichender Kraft. D i e folgenden Generationen von Romanschriftstellern lebten der G e g e n w a r t und kümmerten sich nicht um die Vergangenheit. L a n g s a m geht die Andacht vor den ungarischen historischen Traditionen verloren, und wir kommen zu Mikszäth, der mit Humor und mit nicht wenig Zynismus die historischen G r ö ß e n der ungarischen Vergangenheit heraufbeschwört. I m J a h r e 1883, als er für das V o l k die Lebensgeschichte J ö k a i s in Versen schrieb, fängt er sein Epos folgendermaßen an: „Ihr höret die T a t e n des Weltenbesiegers Matthias, ihr seht auch noch jetzt die rechte H a n d des Heiligen Stephan, das Sausen des Schwertes des Heiligen Ladislaus ist auch jetzt noch in den W o l ken zu hören, wenn hier G e f a h r droht. . . Sie bemühten sich um das W o h l e r g e h e n des Landes, für einen kleinen Strahl des Ruhms. U n d wenn wir es auch mit D a n k sagen, ihr Name sei gesegnet, dennoch war es ein anderer, der uns die ganze W e l t eroberte und zwar ohne Blut, und der nicht Strahlen des Ruhms auf uns streute, sondern mit voller H a n d eine leuchtende Sonne. . . " Dieser größte U n g a r , der den Glanz dieser heiligen Könige verdunkelt, ist Maurus J o k a i . „ D e m frivolen A n f a n g — schreibt Paul Gyulai — entspricht die Fortsetzung." Gyulai meint mit „ F r i v o l i t ä t " das Epos, das gilt auch für die sonstigen W e r k e historischer F ä r b u n g Mikszäths. In der „ Ü j Zrinyiäsz" (Neue Zrinyiade) erweckt er den Szigetvärer Helden zu neuem Leben, dessen Märtyrerhaupt sein großer Urenkel, der Epiker Zrinyi, mit der überirdischen Gloriole der heldenhaften Selbstaufopferung umgeben hatte. Bei Mikszäth tritt er als unterschlagender Bankdirektor und als leidenschaftlicher Frauenverführer auf, und wenn wir auch einen tiefen Einblick in die bedenklichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Zeit Mikszäths gewinnen, so wird unsere geschichtliche Pietät doch schmerzlich verletzt. Die Zeitgenossen Mikszäths lachten aus vollem Herzen darüber. W o h e r hätten die eben erst vor kurzem assimilierten Schriftsteller geschichtliche Kenntnisse nehmen sollen, wie hätten sie am historischen Bewußtsein der Nation teilhaben können, als der G e danke der historischen T r a d i t i o n nur noch ein von wenigen behüteter Schatz war. W i r brauchen uns nicht zu wundern, wenn Ludwig Palägyi in den 80er J a h r e n in einem Gedicht sagt: „ W i r brauchen nichts aus der Vergangenheit, wir haben Religion und alten Aberglauben abgeschüttelt. . . " U n d Ignotus sagt später:

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„ G e g e n ü b e r der Vergangenheit haben wir nur eine Pflicht: vergessen." D e r historische R o m a n erwachte erst am A n f a n g des 20. J a h r hunderts zu neuem Leben, als er Vertreter findet wie Franz Herczeg und Géza Gârdonyi. Herczeg ringt, als sein U n g a r t u m sich immer stärker verinnerlichte, im Roman und auch im D r a m a mit den schwierigsten F r a g e n der Nation ( „ P o g ä n y o k " (Heiden), „ É l e t k a p u j a " (Tor des Lebens), „ B i z a n c " (Byzanz) usw. Christentum-Heidentum, Osten-Westen), Gârdonyi belebt mit ungewohnter K r a f t die Atmosphäre vergangener Zeiten. Beide tragen im beträchtlichen M a ß e zur Stärkung des historischen Bewußtseins des neuen Ungartums bei, aber inzwischen waren seit Sigmund Kemény Jahrzehnte vergangen, Generationen waren herangewachsen, ohne daß sie die Verbindung mit der ein J a h r t a u s e n d alten Vorgeschichte der Entwicklung des U n g a r t u m s gefunden hätten. D a s Lesepublikum wollte auch in der schönen Literatur sein eigenes Spiegelbild bewundern, es erwartete von seinen Schriftstellern Gesellschaftsdramen und Gesellschaftsromane. Mikszâth sagt in einer seiner Novellen: „ W e n n der T o d ein T r a u m ist, dann weiß ich gut, daß die Fortsetzung der K i n d e r j a h r e dort gesponnen wird, das übrige bleibt weg, wir werfen es ab wie ein schlechtes K l e i d . " J e d e r wirkliche Schriftsteller spinnt die Eindrücke und T r ä u m e seiner K i n d e r j a h r e ein ganzes Leben hindurch in seinen W e r k e n weiter. Die Erlebnisse des Mannesalters verdichten sich nur noch selten zu künstlerischer Gestaltung. Sicherlich ist das zum Teil der Grund, daß wir in den Werken der bedeutenderen Dichter der Zeit vergeblich eine wirklichkeitsgetreue gesellschaftliche Widerspiegelung der Zeit des Ausgleichs suchen. M a u r u s J o k a i macht nicht einmal den Versuch, um z. B. ein Bild von der neuen Budapester Gesellschaft, deren gefeierte Gestalt er war, zu entwerfen. L a d i s l a u s A r a n y kehrt im „Délibâbok hose" (Held der F a t a morgana), Paul Gyulai im „ A régi udvarhâz utolso g a z d â j a " (Der letzte Besitzer des alten Herrenhauses), J o h a n n Asboth im „Âlmok â l m o d o j a " (Träumer der T r ä u m e ) in die Zeit des Absolutismus zurück. Die beiden besten Romane L u d w i g T o l nais „ A z u r a k " (Die Herren) und „ A bâroné ténsasszony" (Die gnädige F r a u Baronin) beleben mit den Mitteln mörderischer Satire gleichfalls die Zeit des Absolutismus. Mikszâth bekennt von sich selbst, daß sich sein Herz immer in das eigenartige L a n d seiner Kinderj ä h r e zurücksehne, zu den Slowaken und Paloczen und in die romantische W e l t der Herren des Komitats: „Ich war

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damals wirklich noch ein Kind, als ich zu den Herren des Komitats kam. Ich freue mich sehr, d a ß ich noch unter den alten Tafelrichtern lebte und d a ß vor meinen Augen der letzte Glanz dahinschwand, den der Ruhm der Vergangenheit auf die stolzen Komitatswappen w a r f . " Daher stammt der kritiklose, warme, vom Herzen kommende Humor, diese zarte und sonnige Sentimentalität, die uns seinen Zynismus vergessen läßt und alle seine W e r k e vergoldet. Es hätte auch übermenschlicher Begabung bedurft, wenn man in der ständig sich wandelnden, wirren und trüben neuen ungarischen Gesellschaft die innere Struktur der Veränderungen hätte sehen und deren geheimen Sinn hätte erklären wollen. Eine einzige Schicht gab es in dieser Gesellschaft, die seit Menschengedenken unveränderlich blieb: das ungarische Bauerntum. Im A n f a n g war es auch Mode in der ungarischen Literatur. Uber seine kurze Rolle im Volkstheater in den 70er J a h r e n und über den Charakter dieser Rolle haben wir schon gesprochen. In der schönen Prosa Baksays und Abonyis nimmt es einen vornehmen Platz ein, wenn es sich auch nicht um den sich in Arbeit und Elend abquälenden Bauern handelt, sondern eher um den idealisierten Helden der Volkslieder. Tolnai ist vielleicht der erste Schriftsteller, der tiefer in die Gesellschaft des Dorfes hineinsieht, ihre gesellschaftliche Schichtungen wahrnimmt, den ungarischen Bauern realistisch, wenn auch mit wenig Sympathie zeichnet, obwohl ihn eigentlich dieses T h e m a garnicht interessiert. In dem ,,Az ü j föispän" (Der neue Obergespan) scheint ein vertrauender Glaube an die uralte und reine K r a f t des Bauernvolkes aufzuleuchten, aber der Hauptheld, der von Bauern abstammende Obergespan, ist nur eine blasse Figur, gut genug dafür, die Verderbtheit der Herren- und Bürgerklasse der Komitatsstadt noch schärfer hervorzuheben. — Koloman Mikszäth beginnt, wie wir schon erwähnt haben, am A n f a n g der 80er J a h r e die Mode der völkischen Besonderheiten, aber auch das blieb nur eine vorübergehende Erscheinung. Mikszäth selbst schrieb manche meisterhafte Skizze über Bauerntypen, über bäuerliche Denkart, aber in seinen späteren Werken spielt das Landvolk dennoch eher die Rolle des Statisten als die des Haupthelden. Es gibt einen einzigen Schriftsteller in dieser Zeit, dem das Schicksal des ungarischen Bauern am Herzen liegt: Sigmund Justh. Er sucht „die philosophische Weltanschauung und den Geist der kommenden Ungarn, die in der Muttererde wurzeln", er plant

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einen mächtigen Romanzyklus. „Die Genesis der Zuchtwahl", in der er von Gesellschaftsschicht zu Gesellschaftsschicht fortschreitend zeigen will, wie sich allmählich die völkische Weltanschauung durchsetzt. „Idealismus gepaart mit Nüchternheit, unerschütterliches geistiges Gleichgewicht", darin sieht er das Wesen des Geistes des ungarischen Volkes. Alles ist schwankend und dem Verderben ausgesetzt in der ungarischen Gesellschaft, die Macht des Geldes verdirbt moralisch und seelisch („A penz l e g e n d ä j a " — Die Legende des Geldes), die Aristokratie tanzt ihren Totentanz, nur die von einer Bauernmutter geborene Elisabeth Czobor zeichnet sich durch ihre innere Stärke und ihren unerschütterlichen Adel aus („Fuimus"), nicht weniger stark und großherzig ist die einfache Julcsa Ganyo. Justh findet in der Sekte der Nazarener jenes Bekenntnis, das der Seelenwelt des ungarischen Volkes am besten entspricht, darin sucht nach vielen P r ü f u n g e n und Leiden auch Julcsa Gänyo Zuflucht. Jusths Ideal ist das rassisch reine und starke Ungartum, er wünscht, die Z u k u n f t nicht allein auf das Volk aufzubauen, sondern auf Volk und Adel gleichzeitig, auf den Gesellschaftskörper, „der mit seinen W u r z e l n tief, tief in den Körper der Muttererde eindringt". Justh steht mit seinem in die Z u k u n f t weisenden Idealismus allein unter den Romanschriftstellern dieser Zeit. Seine Romane erregten kein größeres Aufsehen, ihre wahre ungarische Geistigkeit war dem Lesepublikum fremd, das den f r ü h verstorbenen Schriftsteller bald vergaß. Seine assimilierten Zeitgenossen hatten zu dem ungarischen Landvolk keinerlei innere Beziehungen, umso größer war aber ihr Publikumserfolg, und so wurde der ungarische Bauer in der Literatur unterschlagen. Vergebens sang Andreas Kozma über ihn eine Lobesode in den Spalten der „A H e t " : „Der ungarische Bauer ist die Kraft und das Leben. Die Nation ist verloren, wenn er zu nichts geworden ist. Aber wenn nur er übrig bleibt — ohne all die übrigen, auch dann kann die Zukunft der Nation wieder aufgebaut werden." Es sind prosaische Zeilen ohne jeden dichterischen Schwung, aber sie sind wahr, aber noch wahrer ist ein Lied Viktor Dalmadys von den Auswanderern: „Ich klage das Vaterland an, es vergißt seine Kinder, läßt sie bis zum Ende der W e l t auseinandergehen. Mit keinem W o r t e fordert es sie zum Bleiben auf, es lockt sie nicht zurück, hilft ihnen nicht." — Das Lieblingsthema der ungarischen Gesellschaftsromane und Gesellschaftsdramen der Zeit ist der Niedergang des Adels und das Vordringen des Judentums. Die Gegenüberstellung dieser

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beiden Schichten liefert den Schriftstellern den denkbar interessantesten Stoff. Die Auffassung ändert sich nach Zeiten und Autoren. In den 70er J a h r e n beobachten Ladislaus Arany, Johannes Asbóth und ihre Altersgefährten gleicher Abstammung mit tiefem Schmerz den unaufhaltsamen Niedergang des ungarischen Adels, ihre Bilder sind in düsteren Farben gemalt, um aufzurütteln und zur Selbstbesinnung aufzurufen. Baläzs, der Held des Epos „Fata Morgana", sieht sich erschreckt in der fremden Hauptstadt um: „So geht unsere Rasse zugrunde, und an ihrer Stelle lassen sich hergelaufene Abenteurer nieder, die unser Heimatland überschwemmen. . . Hätte ich doch Worte wie Donner, um zu rufen: mein Vaterland rotte diese Rasse von Parasiten aus." — Eugen Räkosi dagegen macht einen jungen Deutschen, Albert Gerber, zum Helden seines romantischen Romanes „A legnagyobb bolond" (Der größte Narr). Dieser Gerber läßt seinen Namen in Béla Csongor ändern und leitet eine Bewegung im Interesse der Magyarisierung der Hauptstadt ein, weil er glaubt, daß „sich in den Quellen dieser Erde und in dem mit den Blumen spielenden W i n d e eine W u n d e r wirkende Kraft befände. W e r von ihrem Wasser trinkt, wer ihre L u f t einsaugt, den fesselt sie; wen sie mit jungfräulichen Lippen berührt, den bindet sie mit zauberhaitem Geheimnis an sich." Stephan Toldys Einstellung ist bereits viel radikaler. Der Hauptheld seines Dramas ,,Az ü j hazafiak" (Die neuen Patrioten) ist Ervin Csipkey, dessen Namen vor kurzem noch Spitzer lautete, er ist das Ideal des Verfassers, der neue Magyare, dem die Aufgabe, das Land aufzubauen, anvertraut ist. Darnay, der Vertreter des Adels, klagt vergeblich: „O Kamerad, wir leben in einer traurigen Welt. Die ältesten Familien des Landes gehen zugrunde, neue Menschen treten an ihre Stelle, die Deutschen und die Juden drängen uns überall hinaus." Gsipkey-Spitzer sagt ihm stolz ins Gesicht: „Diese Rasse muß zugrunde gehen, sonst hat der U n g a r keine Z u k u n f t . " Joseph Vészi (Weiss) beeilte sich, dieses Stück ins Deutsche zu übersetzen und im deutschen Theater auch a u f f ü h r e n zu lassen, nachdem es auf der Nationalbühne einen „würdigen" Erfolg errungen hatte. Ebendort feiern im J a h r e 1880 Gregor Csiky mit den „Proletàrok" (Proletarier) seinen ersten großen Triumph mit einem Drama, das die deklassierten ungarischen „ H e r r e n " dem Gelächter preisgibt, und der alte Joseph Szigeti den letzten Erfolg mit dem Stück „ A rang és mód" (Der Titel und die Mittel), das ein bestürzendes Bild des Beamtenelends entwirft. Csiky, durch den Erfolg

Historisches Bewußtsein und

Gesellschaftsbild

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angeeifert, schrieb noch eine Reihe von Gesellschaftsdramen, in denen die schwer dahinfließenden D i a l o g e der französischen Thematik die resignierte Geste des Verfassers zu bestätigen scheinen: „ W o gibt es schon eine ungarische G e s e l l s c h a f t ! " A m A n f a n g der 80er J a h r e verfassen die Schriftsteller eine Unzahl von Gesellschaftsromanen. Ihr Gehalt ist nicht sehr wertvoll, aber sie charakterisieren in ausgezeichneter W e i s e die Zeit, in der sie geschrieben wurden. Kornelius Äbränyi jun., der das Leben der Aristokratie in romantischer Beleuchtung nach französischem Muster schildert, stellt in den „ R é g i és ü j nemesek" (Alter und neuer Adel) den ungarischen M a g n a t e n und den reichgewordenen J u d e n gegenüber. Der Hauptheld ist der Sohn eines jüdischen Millionärs Felix Rözsay, der in Adel, Wissen und sogar in sportlichen Fähigkeiten die hervorragendsten Aristokraten hinter sich läßt. Dieser Roman wirkt heute schon humoristisch, nicht infolge der Charakterisierungsweise seines Verfassers, sondern durch seine plumpe Naivität. — Emil K a z â r vertieft sich mit einer gewissen N e i g u n g zur A n a l y s e in die Geschichte des Niedergangs der uralten Szalardi-Familie und läßt etwas von ihrer T r a g i k ahnen. Er hat recht, wenn er schreibt: „ D e r Boden macht überall Revolution gegen die alten Besitzer." Der Sieger ist in diesem Roman der jüdische Parvenu M a x Sommer, der alte Szalârdi liegt tot auf der Schwelle seines Schlosses, als der neue Besitzer einzieht, weil in dieser Zeit die ultima ratio der Revolver, der T o d des „ H e r r n " , ist. — Auch das Pester J u d e n t u m findet, und zwar aus seinem eigenen Kreise, einen strengen, wenn auch nicht sehr begabten Gesellschaftskritiker: Ignaz Acsâdy. Der Hauptheld von „Fridényi b a n k j a " (Die B a n k Fridényis) ist ein aus M ä h r e n eingewanderter jüdischer Abenteurer, der ein ungarisches Mädchen zur Frau nimmt, durch seine Betrügereien zu großer Macht kommt und dann schimpflich Bankrott macht. Bei seinen Geschäften helfen ihm ungarische Herren und Magnaten, die sich aber bei Zeiten zurückziehen: ihre Ehre hat keine Flecken abbekommen. Der Autor ist noch taktvoll, seine Nachfolger sind es schon weniger. Es kommt in diesem R o m a n ein getaufter J u d e vor, Kondossy, „auf dessen Gesicht man noch die Spuren sehen kann, die kein T a u f w a s s e r abzuwaschen vermag. In der Politik ist er entsetzlich konservativ, im Gesellschaftsleben stark antisemitisch", und ein jüdischer Bankier Pinkl, der „ein richtiger freigelassener S k l a v e war, roh, stolz, prahlerisch, vordringlich und ehrgeizig in einer Person, wen er nicht finanziell aussaugen konnte, den hätte

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er gern zu Tode peinigen mögen". Dies sind Typen, die wir später — in gemilderter Form — immer wieder antreffen. Es ist unmöglich, jeden Roman, der im L a u f e der 80er Jahre erschienen ist, auch nur zu erwähnen, am düsterten ist vielleicht Julius Reviczkys „Apai örökseg" (Väterliche Erbschaft), die Selbstbiographie des Dichters, die tragische Geschichte des noch mehr heruntergekommenen Sohnes eines heruntergekommenen großen Herrn. Ein ähnliches T h e m a bearbeitet Alexander Gozsdu im „fihes Farkas" (Hungriger W o l f ) mit einer selten tief eindringenden Seelenanalyse. Gida Ordas von Kisspäl, der außer seinem adligen Namen gleichfalls nichts von seinem Vater geerbt hat, sieht sich gezwungen, sich bei dem untalentierten Sohne des Ministerialrates Martin Potak, der slowakischer Abstammung ist, als Erzieher zu betätigen. Er muß tatenlos zusehen, wie sich Deutsche und Slowaken in die höchsten Stellen teilen, wo Korruption und bezahlte Verbindungen Orgien feiern. Er muß sich mit einer Diurnistenstellung zufrieden geben, obgleich er eine nicht alltägliche Begabung in sich fühlt. Er wird immer verbitterter und gerät ins tiefste Elend. — Nicht weniger düstere Bilder von der Gesellschaft der Zeit zeichnen Arnold Vertesi und Edmund Ivänyi. Paul Gyulai hielt es f ü r gut, gegen diese Strömung zu protestieren: „Es ist schon ganz und gar Mode geworden, unsere staatliche und gesellschaftliche Korruption mit Triumph zu verkünden und sie auch dort zu finden, wo sie nicht vorhanden ist und wo sie vorhanden ist, sie so groß zu malen, daß ein vernünftiger Mensch nicht d a r a n glauben kann." Es ist interessant zu beobachten, d a ß der ungarische Adel, die Gentry, in den realistischen und pessimistischen Romanen der 80er Jahre nur noch eine Rolle als untergehende Proletarierklasse spielt, als ob sich ihr Schicksal schon endgültig erfüllt und sie ihren Platz den deutschen, slowakischen und jüdischen Assimilierten abgegeben hätte. Ludwig Palagyi hält sich schon f ü r berechtigt, von ihr zu schreiben: „Die ihr stolz einhergingt in Gold und Purpur, verwest liegt ihr unter mir im Staube, euer Name ist verhaßt, euer A n denken wird verabscheut, ich könnte euch mit den Füßen stoßen, ich könnte euch bespeien." (Csalädi sirbolt — Familiengruft.) — Tolnai ist einer der wenigen, in dem noch ein adliges Selbstbewußtsein lebt. Seine scharfe Satire richtet sich nicht so sehr gegen die Gentry, als eher gegen die Bürgerparvenus und gegen die Führer des geistigen Lebens. Seine Feder ist am mörderischsten, wenn er über emporgekommene Handwerker, über aufgeblasene Bauern

Historisdies Bewußtsein u n d Gesellschaftsbild

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oder — unter durchsichtigen N a m e n — über die Parteigänger Gyulais herfällt. Eine Erzählung aus seinem Buche „A mai Magyarorszäg" (Das heutige Ungarn) f ü h r t uns in eine Komitatshauptstadt, wo der Obergespan ein gewesener Bretterhändler, der Oberarzt ein Barbier im Ruhestand u n d der Archivar eigentlich ein Tischlergeselle ist. Im „Oszlop-barö" (Säulenbaron) und im „A polgärmester ü r " (Der Herr Bürgermeister) aber läßt er das ganze ungarische literarische Leben vorüberziehen, wobei er alles G i f t über Gyulai und die Brüder Szasz ausgießt. Er ist viel zu leidenschaftlich, um gerecht sein zu können. Von diesen düsteren Romanen abgestoßen, sehnte sich das Publikum nach zerstreuender Unterhaltungslektüre, und deshalb nahm es auch mit so begeisterter Freude den Humoristen Mikszath, später Herczeg, Viktor Räkosi und Pekär auf, die wohl gleichfalls über den Niedergang des Adels schrieben, aber wenigstens in einer heiteren, unterhaltenden Form und, was Mikszäth und Herczeg betrifft, mit viel mehr Talent. Mikszath lebte, wie wir gesehen haben, mit ganzer Seele in dieser untergehenden W e l t und bemühte sich, sie f ü r alle Zeiten zu verewigen. Er glaubte auch an den Adel, an die Überlegenheit seiner Lebensform, an seine nationale Aufgabe, und vielleicht bewunderte er ihn auch ein wenig mit der Kritiklosigkeit eines Menschen, der einstmals außerhalb dieser Kreise stand und den sie jetzt mit all ihrer Liebe umgaben. Ziemlich gleich ist auch der Standpunkt Franz Herczegs, so in seinen lustigen Geschichten über die Gyurkovics-Familie, aber auch in seinen zeitgenössischen ernsteren Romanen („Fenn es lenn" — Oben und unten, „Szabolcs häzassäga" — Die Heirat des Szabolcs). Im öffentlichen Bewußtsein setzte sich d a s Bild vom Adel fest, das sie geschaffen haben: der ein wenig frivole, aber bezaubernde Herr, dessen Lebenshaltung vom Zweikampfkodex geregelt wird, der herrlich zu leben und nicht weniger schön zu sterben versteht. Auch sie schrieben einen Totentanz, aber sie verdeckten den grinsenden Totenschädel mit einer Blumendecke. Die Assimilierten lernten aus diesen Romanen die Lebensweise des ungarischen „ H e r r n " kennen, nach diesen Romantypen richteten sie sich ihr eigenes Leben ein, und als schon ein guter Teil der einstmaligen ungarischen „ H e r r e n " in d u m p f e n Büros Akten kopierte, mimten sie ihre vermeintliche Lebensform weiter. Andreas A d y beobachtete, wieviel Jokai-Typen in diesem Lande herumlaufen, am A n f a n g des 20. Jahrhunderts waren die Gyurkovics-Jungen sicher schon in der Mehrheit. Als d a n n auf dem Kampfplatz des

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literarischen Lebens wirklich ein ungarischer Herr mit aristokratischem Stolz und mit dem Bewußtsein seines U n g a r t u m s und seines alten Geschlechts erschien, schlössen ihn die neugebackenen Gyurkovics-Nachahmer entrüstet aus ihren Reihen aus. D a s Gesellschaftsbild der Schriftsteller jüdischer Abstammung machte von Generation zu Generation bezeichnende Wandlungen durch. Adolf Ä g a i ist ein begeisterter Anhänger der Assimilation, in seinem Witzblatt „Borsszem J a n k ö " (Hans Pfefferkorn) schuf er zwei J u d e n t y p e n : Itzig Spitzer und Salomon Seifensteiner. U n garisch können beide noch nicht recht, aber sie „ f ü h l e n " ungarisch. Es sind wirklich Propagandatypen, während ihnen gegenüber Tobias Kraxelhuber den feindlichen Pangermanismus und der A d lige Berci Mokäny die Unbildung des ungarischen Aristokraten vertreten. In den 80er J a h r e n verwendet Ägai sein bestes Talent auf die Verspottung des Antisemitismus. — Die judenfeindliche Zeitströmung erweckt auch in Doczi das jüdische Selbstbewußtsein. Im J a h r e 1889 wird im Nationaltheater sein Stück „ V e g y e s p ä r o k " (Mischehen) aufgeführt, das das Problem der jüdisch-christlichen Ehe behandelt. D i e verarmte Gentry spielt darin eine sehr unsympathische und lächerliche Rolle, die Weisheit und den H u m a nismus vertritt der jüdische Arzt Gold, den Geist der neuen Zeit Malvine, die Tochter des jüdischen Millionärs Rozsay, die „ j e n e T u g e n d , j e n e Vaterlandsliebe und jenen Stolz verachtet, der nur auf den Adelsbrief gegründet ist". D a s Grundprinzip Döczis lautet, daß „die N a t u r keinen Unterschied macht. W o zwei Herzen sich treffen, dort verschwindet jeder R a n g und Reichtum, Rasse und Sitte und wird zunichte". — Dasselbe T h e m a variiert er in dem Roman „ E g y vegyes h ä z a s s ä g " (Eine Mischheirat), dann in seiner Romanskizze „ M i ß M a r y " . Der ungarische Rassenstolz erleidet in beiden schändlichen Schiffbruch, der „höhere jüdische Humanism u s " und das „geistige Übergewicht" erringen den Sieg. Der H e l d des zuletzt genannten Romans ist der Rechtsanwalt Egervary, der trotz seines ungarischen N a m e n s ein getaufter J u d e ist und der unerschütterlich den jüdischen Standpunkt verteidigt. Doczi fühlt das J u d e n t u m entschieden als Rasse, aber er glaubt an die Möglichkeit der vollständigen Assimilation und hält sie für wünschenswert. D a s einzige Hindernis sieht er in der „beschränkten Voreingenommenheit" der christlichen ungarischen Gesellschaft. A l e x a n d e r B r o d y betrachtet das jüdische Problem schon mit viel entschiedenerem Selbstbewußtsein. In seinem ein wenig wirren psychologischen R o m a n „ F a u s t orvos" (Doktor Faust) kommt

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ein jüdischer Arzt vor, der aus Liebe zu einem Mädchen zum Christentum übertritt, er kann aber nicht zur Ruhe kommen, weil er den Fluch Jehovas auf sich fühlt. Brody geht schon nicht mehr so sanft mit der Gesellschaft der ungarischen Herren um wie Agai, er sympatisiert nicht mit ihnen und hält auch die Verschmelzung f ü r unerwünscht. Sein zeitgenössischer Roman, „A nap lovagja" (Der Sonnenritter), ist eine beißende, wenn auch oberflächliche Satire auf die Korruption der Herren, sie hat nur zwei edle Gestalten, Hans, den jüdischen Journalisten, und Samuel, den aufopfernden Freund des Helden. Brody kritisiert bitter und scharf die Verhältnisse seiner Zeit und hält den J u d e n dem Christen f ü r überlegen, seinen Werken und seiner Stellungnahme gibt dennoch nicht nur seine materialistische Weltanschauung, sondern auch seine jüdische Abstammung eine ganz neue Färbung. Die jüdischen Gestalten der christlichen Schriftsteller sind leblose Puppen, erdachte Phantome, die Träger von einzelnen Ideen, die Brodys sind Gestalten aus Fleisch und Blut. Durch ihn tritt die jüdische Geistigkeit entscheidend in die ungarische Literatur ein. Die J u d e n Brodys leben in der ungarischen Gesellschaft und wünschen sich dort festzusetzen. Mit dem viel begabteren Thomas Kobor gelangen wir, wie wir schon erwähnt haben, in die geschlossene W e l t des Judentums. In seinen Romanen „Ki a ghettobol" (Heraus aus dem Ghetto) oder ,,A csillagok feie" (Zu den Sternen) ist die ungarische Gesellschaft nur noch blasser Hintergrund. I n den 90er Jahren nimmt die kritischere Betrachtung des Judentums ihren Anfang. Die Rolle der Generationen wird aber schon vertauscht. In den früheren Romanen und Dramen waren die jüdischen Väter in Gefühl, Moral und Sprache noch fremdartig, die Generation der Söhne, die der Ervin Csipkeys und Oszkär Rozsays, erscheint aber als eine schon vollständig assimilierte und aufbauende Generation, die in U n g a r n einer großen Z u k u n f t entgegensieht. In den Romanen der J a h r e um das Millenium sind die Väter zwar nicht ungarischer geworden, aber sie treten als große Geschäftsleute, Begründer von Dynastien, als leitende Köpfe der Gesellschaft und Wirtschaft auf, während mit den Söhnen ein neuer, degenerierter Typus seinen Einzug in die Literatur hält. In „Atlaszcsaläd" (Familie Atlas) von Gregor Csiky kämpft sich der alte Samuel Atlasz von einem Hausierer zum Millionär und Großgrundbesitzer auf, er wohnt im Schloß, ist Patron des katholischen Pfarramtes des Ortes, wenn er auch innerlich weiterhin der arme, kleine, geduckte jüdische Hausierer bleibt. Einer seiner Söhne ist Parkas, Freiheitskampf H

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2. Das literarische Werk

aber schon Ministerialsekretär, lebt in Budapest das Leben eines großen Herrn, tritt auch als Abgeordneter auf, dann fälscht er einen Wechsel und kommt ins Gefängnis. Seine Tochter wird wegen ihres Geldes von einem Grafen geheiratet, der bisher ein armer Eisenbahner aus der Provinz war, ein Mensch mit schwachem Willen, der das Geld seines Schwiegervaters verspekuliert und sich dann eine Kugel durch den Kopf jagt. Nur sein Sohn Alexander gerät nicht auf die schiefe Ebene, in ihm will Csiky den vollständig assimilierten Juden zeigen, wenn er auch von ihm sagt: „ E r trägt dasselbe Kleid wie die übrigen, er kämmt sein Haar so wie die übrigen, er lebt, denkt, spricht, flucht ebenso saftig wie die anderen. Und dennoch bleibt irgend eine unsichtbare Wand, die ihn von den übrigen trennt und nicht zuläßt, daß man ihn für einen ihnen Zugehörigen hält." Das ungarische Judentum hat in ein paar Jahrzehnten einen ungeheuren Weg zurückgelegt. Kaum war es an die Spitze gelangt, als bei ihm auch schon der Vorgang der Degeneration begann. Die Romanliteratur spiegelt auch diesen Vorgang wider. Von den christlichen Schriftstellern machen Zoltän Ambrus und, ihm folgend, auch Franz Herczeg am Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuch, dieses immer brennender werdende gesellschaftliche Problem zu behandeln. Sowohl für sie, wie auch für ihre Zeit ist die Form, in die sie ihre Gedanken kleiden, charakteristisch. Sie erzählen nicht, sondern lassen erzählen, dialogisieren, diese Form befreit sie davon, ihre eigene Meinung und ihr eigenes Urteil mitzuteilen. Sie lassen humoristische Gestalten auftreten, behandeln auch die schwierigsten Fragen mit Humor, was ihrer kritischen Auffassung die Schärfe nimmt. Wenn wir aber von der Form absehen, dann ist das Bild, das sich aus den Werken von Ambrus und Herczeg vor uns auftut, überraschend genug. Baron Berzsenyi ist in seiner Jugend eingewandert, anfangs konnte er auch nicht Ungarisch, aber als er bemerkte, daß es ihm vom Nutzen war, lernte er es schlecht und recht. Er verdient viel Geld und erwirbt dazu noch den Baronsrang und politischen Einfluß. Von seinen Geschwistern lernte der eine — so sagt er selbst — ebenfalls die ungarische Sprache, „die ich mir angeeignet habe, der zweite ist aber heute noch deutscher, der dritte sogar Schweizer Staatsangehöriger, was nichts schadet, weil man in jedem Vaterlande sein Vaterland lieben kann. Sie verstehen vielleicht auch heute noch nicht einmal, weshalb ich aus Prinzip Ungar geworden bin. . ." — Er hat zwei Töchter, die schon aus Uberzeugung Antisemiten

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sind, mit verfeinerter Bildung und degeneriert. Ambrus zeichnet sie übrigens mit Liebe und Sympathie und weniger streng als ihre zwölf Bräutigame, unter denen wir ausgezeichnete Gentry- und Judentypen finden. Franz Herczeg läßt zwei Journalisten auftreten, den Juden Andor und den aus einer adligen Familie stammenden Andräs. Andor arbeitet in der Zeitung des Singer und ist verliebt in Ada, die Tochter seines Chefs. Singer ist der Typus des plötzlich reichgewordenen Juden, er führt ein großes Haus und wünscht eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen. Er ist ungebildet und herzlos, sein Sohn Stephan, Husareneinjähriger, ist eine blasierte und degenerierte Gestalt, seine Tochter ist ein hypermodernes Geschöpf, die mit den Männerherzen spielt, aber selbst weder Herz noch Gemüt hat. Um diese Familie kreisen die beiden guten Freunde, von denen der erste bei aller Frivolität warm gefühlvoll ist und mit Hingabe an Andräs, dem träumenden Dichter und dem feinen Herrenkind, hängt: „Andor leidet an der geheimen Perversität der ungarischen Juden. Immer hat er einen christlichen Freund, für den er begeistert ist, für den er immer auf den Beinen ist und den er bedient." In der Hülle des Humors hören wir hier Sätze wie: „Die Leopoldstadt (das Budapester Judenviertel) ist ein wichtigerer Faktor des Landes als Klein-Kumanien und die Pferdehirten." Oder: „Ganz Ungarn ist liberal, aber deshalb kann doch niemand den Juden ausstehen. Der J u d e selbst nicht. . . . Der getaufte J u d e gilt nur im Auge der Christen ein wenig als Christ — unter den Juden nicht." Die Romane von Ambrus und Herczeg werden mit Stillschweigen aufgenommen, sowohl sie wie auch die jüngeren Schriftsteller hüteten sich darauf, das heikle Problem des Judentums noch einmal anzurühren. Nur der unter dem Pseudonym Cipriän schreibende Josef Andor machte noch einen kühnen Versuch („Ket vilag közt" — Zwischen zwei Welten): er beleuchtet die jüdische Assimilation vom Gesichtspunkt der katholischen Weltanschauung. Seine Hauptheldin, die Tochter des steinreichen Lazarus Grün, charakterisiert sich selbst folgendermaßen: „Ich lebte zwischen zwei Welten, aber gänzlich habe ich zu keiner von beiden gehört. Zu der einen, in die mich meine Geburt gestellt hat, gehörte ich nur körperlich, zur anderen zog mich eine dunkle Ahnpng meiner Seele. Ich verabscheute die eine, d a ich sie so gut kannte, die andere zog mich durch ihre Unbekanntheit ebenso sehr an, wie ich midi vor ihr hätte fürchten sollen." Für Andor ist die Judenfrage 11*

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2. Das literarische W e r k

kein gesellschaftliches, auch kein ungarisches, sondern ein psychologisches Problem. Damit steht er in seiner Zeit allein, die sich nicht wenig auf ihr psychologisches Wissen zugute tat, aber die Seele selbst vergessen zu haben schien. 3. W e l t a n s c h a u u n g

und

Nationalgefühl.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wand sich ganz Europa in einer Weltanschauungskrise. Die stürmische Entwicklung der Wissenschaft und der Technik, die Vollendung der kapitalistischen Gesellschaftsumbildung, die Krisis des Katholizismus und der Sieg des politischen Liberalismus erschütterten die traditionellen Lebensformen und Lebensanschauungen bis in ihre Grundfesten. Die christlichen Konfessionen, die Vertreter der transzendentalen Weltanschauung, begannen ihren Einfluß auf die Massen oder wenigstens auf die sie führende Intelligenz zu verlieren. Renan formt ein neues von W u n d e r n und Göttlichem freies, menschliches Christusbild und findet begeisterte Anhänger. Darwin leuchtet in die Geheimnisse der Natur, seine Entwicklungstheorie, die den Menschen des Charakters seiner Gottähnlichkeit beraubt, legt schlummernde Instinkte frei. Der Positivismus von Auguste Comte stellt eine neue Weltordnung auf, die Gott aus dem All ausschaltet. Er legt auch die Grundlagen zur Soziologie, die M a r x zu einem System ausbaut, das auf der Grundlage des Klassenkampfes steht. ,,Die W e l t ist W i l l e und Vorstellung", verkündet Schopenhauer, auf den sich alle Pessimisten vom Ende des Jahrhunderts als ihren Meister berufen. H. Taine wendet die Prinzipien des Materialismus auf die Geisteswissenschaften an, ihm folgt auch Zola. — Es gibt sicherlich nicht viele, die sich mit wissenschaftlicher Vorbildung in die neuen Systeme vertiefen, die neuen Ideen verbreiten sich aber trotzdem, wenn auch verdünnt und verzerrt in Leitartikeln, in politischen Reden, in Romanen und in Gedichten und rufen eine große Verwirrung in den Geistern hervor. Die alten Ideen Gott, Vaterland, Mensch verblassen, der Egoismus feierte seine Orgien, die Gesellschaftsklassen reißen sich um die Beute. Das neue Lebensprinzip, das Lebensprinzip des zu Ende gehenden Jahrhunderts, lautet: wenn es keinen Gott, kein Jenseits gibt und der Mensch unbeschränkter Herr der Natur ist, dann muß man dieses bißchen Dasein ausnutzen, weil die Zeit vergeht und das unendliche Dunkel des Grabes seine düsteren Schatten vorauswirft.

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Die ungarische Seele wird von der weltanschaulichen Krise der Zeit in einem historischen Stadium getroffen, wo sich vor der Nation wohl die Aussicht auf große Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, aber wo an den tiefsten Wurzeln der Gesellschaft bereits der W u r m der Zerstörung und des Verfalls nagt. Niemals wäre die Ausrichtung der Geister, die feste weltanschauliche Grundlage und ein einheitlicher nationaler Geist notwendiger gewesen als damals, wo alles sich in G ä h r u n g und W a n d l u n g befand. D e r positive christliche Glaube und die Idee des Vaterlandes waren in den Jahrhunderten zur harmonischen Einheit in der Seele des ungarischen Menschen verschmolzen, die jeden Gedanken und jede T a t bestimmte, sowohl im Privatleben wie auch in den Kämpfen, die für die Allgemeinheit ausgefochten wurden. Diese Harmonie finden wir in den großen U n g a r n wieder wie z. B. in Peter Pazmäny, Nikolaus Zrinyi, Franz Räkoczi oder Valentin Balassa, Peter Bornemissza und Gabriel Bethlen. Die geistige Strömung der A u f k l ä r u n g hatte dem Nationalismus neue N a h r u n g gegeben, und wenn sie auch die Beziehung des Individuums zur positiven Religion lockerte, so tötete sie doch nicht den Gottesglauben in ihm. Die U n g a r n der Romantik, ob Katholiken oder Protestanten, trafen im gemeinsamen Nationalgefühl und in der deistischen Weltanschauung zusammen. „Die heiligste Religion ist das Vaterland und die Menschheit", sagt Vörösmarty. Die Intensität des Nationalgefühls erreicht die Innerlichkeit der religiösen Andacht, die Seele dieser U n g a r n war vollkommen von der Idee des Vaterlandes erfüllt, Religion, Liebe und Familiengefühl waren in den Hintergrund gedrängt: „ W a s ist mir die Welt, wenn ich kein Vaterland habe? Mit verfluchter Seele rufe ich vergeblich in die große Unendlichkeit: wofür ich lebte, ist schon zunichte", singt Vörösmarty. Der Zusammenbruch des Freiheitskrieges treibt Szechenyi, Vörösmarty und Bajza zum W a h n s i n n und zum T r ü b sinn. Bei Petöfi verschmilzt der Begriff des Vaterlandes mit dem der Freiheit. Sein Schlachtruf lautet Freiheit und Liebe. Sein Freiheitsbegriff ist weitgespannt, das ist sein Gott, den er anbetet, für den er bereit ist, sein Leben und auch seine Liebe zu opfern. Er beschränkt sich nicht auf die ungarische Nation, sondern umfaßt alle Unterdrückten der Menschheit. Sowohl U n g a r n wie auch die Freiheit gehen in der Schlacht bei Vilagos (1849) zugrunde, die Menschheit schaut dem Ringen des Ungartums stumm zu. Die schwere Enttäuschung vertiefte das nationale Gefühl der ungarischen Klassiker, machte sie aber auch

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gleichzeitig hellsichtig und kritisch. Die verhängnisvolle Prüfung brachte sie einander näher wie Hiob zu Gott. Die neuen weltanschaulichen Strömungen glitten an ihnen ab. Der Kalvinismus war sowieso im realen Lebensgrunde verwurzelt, er kannte keine Wunder und keine Heiligen; Renan, Comte und die übrigen bedeuteten für sie keine revolutionäre Neuerung, ihr Glaube an die Prädestination sicherte ihnen gerade in diesen kritischen Zeiten eine feste, sittliche Grundlage, der kein Materialismus etwas anhaben konnte. Die späte philosophische Dichtung Johannes Aranys, „Honnan es hovä" (Wohin und woher), legt von dieser festgefügten religiösen Grundlage Zeugnis ab, die der gemeinsame Schatz aller, von Gyulai, von Karl Szäsz und Levay, war: Und woher kommst du, Seele? . . . Im Dunstkreis dieser Erde erst Bist du Flamme und leuchtest, Schreitest du durch ihn hindurch, Wiege und Grab ist Dunkelheit. Flammst du dann erst Im Geschöpfe auf und vergehst mit ihm? . . . Oder kamst du aus der Unendlichkeit Auf unbekannter, langer Bahn, Und kehrst auf dieser wieder zurück? O, wenn diesseits und jenseits Dieses winzigen Gefunkeis Fortsetzung nicht war und nicht ist, Wie kurz ist das Leben! — Du antwortest, Seele. Es war eine Zeit, da man leugnete Die flüchtige Sternschnuppe, Sie sei nichts, nur irdischer Dunst, Sie flamme auf, stürze und verbrenne. Jetzt leugnet man den Geist. Er sei nichts, nur Zusammenspiel Von Hirn, Blut und Nerv, Das jäh ein Ende nimmt, Wenn Hirn, Blut und Nerv zerfallen. Der Stoff sei unsterblich. In Gras und Baum belebe er sich von neuem, Vereinige sich und strebe auseinander Ewig und rastlos.

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A n dieser Auferstehung doch Habe der Geist nicht teil. Er sei ein leerer Schall, nirgendswo, Ein bloßer W a h n des blöden Hirns, Den Jahrhunderte uns hinterließen Und der das Wissen nur verwirrt. 0 ihr, die ihr meinem besseren Teile Schon auf dieser Erde eine tiefe Gruft grabt, So sicher ist also euer Wissen, Daß Verteidigung ohne Sinn ist? W a s in so viele Herzen geschlossen Seit dem Beginn der W e l t lebte, Darauf hoffte der Hindu, der Parse, Deswegen flammten so viele Altäre, Ertönten auf Zion die Psalmen, Daß Leben nicht nur solange währt, W i e du hier unten in den Körper gebannt bist, Sondern es einst von neuem wieder auflebt Und eingeht in ein Gras, in einen Baum Oder durch ein Tier hindurch. Es wird eine Zeit kommen, daß die Seele wieder eingeht In ihre alte hehre Gestalt Geläutert, frei Und auf der „Insel der Seeligen", W i e der glückliche Hellene glaubte, Oder an dem Orte der Benedeiten W i e der Christ es hofft, Glorreicher weiterleben wird. Ich leugne es nicht — W a s glaubt der Gelehrte? Dies sei seine Sache. Diese Religiosität, die zwar keine bekenntnismäßigen Formen kennt, aber den Materialismus leugnet, ist ein Vermächtnis des Liberalismus, der bei dem reformierten Pfarrer Baksay mit der Andacht zum Christusglauben verbunden ist. Ihre Sehnsucht gilt dem schönen und beschaulichen Familienleben, und wenn sie einmal des Lebenskampfes müde geworden sein sollten, dem friedlichen Dahingehen, das alle Schrecken von sich abgetan hat. Joseph Lévay singt:

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2. D a s literarische W e r k

„Ich habe die große W e l t nicht aufgesucht, Sie hat mich nicht viel gesehen — Ein Himmelsgewölbe über mir, Eine treue Erde unter mir, So blieb ich im Tale am Ufer des Sajo." W e n n sie an den Tod denken, variieren sie in erstaunlicher Ubereinstimmung den berühmten „Epilog" Aranys. Dieser Zug beruht nicht auf dichterischem Einfluß, sondern auf innerer seelischer Verwandtschaft. U n d wenn Arany zum Abschied singt: „Das Leben liegt hinter mir. Es hat mir nicht das gegeben, was ich erwartet habe: Manchmal war es mehr, und wenn ich um etwas bat oder etwas brauchte, weniger", so schlägt auch der alte Gyulai denselben Ton an: „Ich habe mehr als sechzig Jahre gelebt, vieles hat sich erfüllt, was ich nicht erhofft habe, wenig davon, was ich ersehnt habe". . . Es ist die Resignation des Alters. Ein leiser Schmerz klingt hinein, der Schmerz um die nicht gelebten oder verlorenen Freuden, das quälende Unzulänglichkeitsgefühl einer nicht vollendeten Arbeit, die immer wieder aufbrechende W u n d e vieler Lebensenttäuschungen. Ein einziges Mal bricht auch aus Arany eine aus der Tiefe steigende Bitterkeit hervor. Ein Gelage ist das Leben, Trinken mußt du, unbesehen, Von der Freude, von der Trauer, Von dem Ausbruch, von dem Lauer. Trinken, tief bis auf die Neige, Lust auf Kummer, Leid auf Freude — Viele trinken wild, verwegen, Mancher, wie ich, nippt nur eben. Von den alten Zechkumpanen Unter dem Tisch sind die Bravsten: Ich nur, der den Rausch so scheute, Sitz auf der Bank auch noch heute. Doch klag ich den leeren Bechern: W i e armselig war mein Zechen! H ä t t ich ohne Scheu getrunken, Auch ich läge schon längst unten!

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Der Pessimismus dieser Dichter ist keine leere angelernte Geste, sondern der traurige Trieb des ungarischen Bodens. Die Niederlage von Vilägos war f ü r sie eine schwere Enttäuschung, aber sie brach nicht nur ihre Kraft nicht, sondern spornte ihren Schöpfertrieb an. Sie stellten damals ihren Mann, als U n g a r sein Anklage und Last bedeutete. Die wirkliche Enttäuschung folgte erst nach dem Ausgleich. Diesem schmerzlichen Gefühl verleiht J o h a n n A r a n y wiederum künstlerische Form: W i e wir hofften! Welch Enttäuschung! In uns selber liegt die Schuld! . . . Nur ein Ziel galts zu erreichen — Hinter dem Ziel dann zu scheitern: Das macht unsre Seelen wund. W i e viel Hefe in der Gärung, W i e wenig Wein! . . . Manchen drängt' Gar vaterlandstreu' Gewissen Zu erhaschen jeden Bissen, Damit's j a kein andrer fängt. W i e viel Prahler! welch Getöse! U n d das Schiff stets tiefer sank. Es genügt nicht zu beteuern, Lernen mußt du richtig steuern, Klug lieben dein Vaterland. Oder müssen wir, ganz gleich wie, Unterliegen rettungslos? Soll eine W e l t uns verschütten? Äußere Gewalt uns stürzen? . . . . Ist die Fäulnis unser Los? / Juli 1877 / Dieser Schmerz brennt im Herzen aller. „Welche Tugenden gebar dein Leiden, — schreibt Gyulai von seiner Nation — dein Glück wieviel Sünden!" D a n n später wieder: „Es ist schwer, dich immer zu lieben, noch schwerer, dir treu zu dienen, eine fixe Idee hältst du f ü r Weisheit, und f ü r eine Tugend, was Sünde gegen das Vaterland ist. Die T a t geht in der Flut der W o r t e unter. U n d die Wirklichkeit verschwindet in den T r ä u m e n . " Je weiter die Zeit vorwärtsschreitet, umso glänzender entwickelt sich äußerlich die

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2. Das literarische Werk

Macht und der Reichtum des ungarischen Staates, umso düsterer wird aber der nationale Pessimismus dieser Dichter. K a r l Szasz singt: „ D a ß der U n g a r untergehen wird, das ist der quälende T r a u m vieler meiner Nächte . . . Es winkt das Schicksal, die Reihe ist an uns. D i e Heimat Ä r p ä d s und des Heiligen Stephan wird nichts anderes sein — o Entsetzen! — als die Fußspur eines Eroberers." — J o s e p h L e v a y aber: „Ich fürchte, das W o r t ist über uns ausgesprochen, unser Gebet dringt nicht mehr in den Himmel, und unsere Fehler immer wieder zu ertragen, langweilt Gott auch schon." Die Verzweiflung ergreift L e v a y so stark, daß er sich — wie einstmals Kölcsey und K a r l K i s f a l u d y — schon von seinem Ungartum, diesem quälenden Nessushemd, frei machen möchte: „ W ä r e ich ein Stein, ein Sturm, Meer oder Blitz!: O wenn ich nur dieses G e f ü h l ablegen könnte! W e n n mich nur das Leben oder der T o d in eine andere Welt versetzen könnte! . . . O wäre ich heute alles, nur nicht U n g a r ! " A n der Intensität ihres Schmerzes können wir die T i e f e ihrer Vaterlandsliebe messen. W e n n sie das Wort Nation oder das Wort Vaterland in den M u n d nehmen, sind sie mit ihrem Herzblut dabei. Sie singen keine patriotischen Lieder mehr: „ Ü b e r das Vaterland habe auch ich einstmals ein kühnes Wort gesprochen, als es noch gefährlich war: Jetzt bin ich gleichgültig und feige geworden." (Arany) Die weltanschauliche Krise in Europa berührte die protestantischen Kirchen weniger, umso größere Verheerungen richtete sie unter den Anhängern der katholischen Kirche an. Von der Zeit der A u f k l ä r u n g an galt die katholische Kirche als der letzte Überrest des finsteren Mittelalters, als Hemmschuh jeden Fortschritts und als Verneinung der angebeteten Freiheit. J e d e r neue wissenschaftliche Sieg, j e d e s technische Ergebnis und j e d e naturwissenschaftliche Entdeckung wurden in der W e i s e gefeiert, daß man gleichzeitig die Totenglocke des Katholizismus läutete. D e r K a m p f Garibaldis gegen die päpstliche Kirche war der Kampf der Freiheit gegen Unterdrückung und Sklaverei. D i e Verkündigung des D o g m a s der Unfehlbarkeit schlug der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung ins Gesicht. A l l e diese weltgeschichtlichen Ereignisse lösten auch in U n garn entscheidende Wirkungen aus. Schon der frühe Liberalismus blickte mit Befremden auf die ungarische katholische Kirche. Dieses Befremden schlug in der absolutistischen Zeit in offenen H a ß

Weltanschauung und Nationalgefühl

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um und steigerte sich dann nach dem Ausgleich noch mehr. Der ungarische hohe Klerus hatte w ä h r e n d der Zeit der nationalen Unterdrückung seine dynastischen Gefühle offen zum Ausdruck gebracht und wenig Verständnis f ü r den heldenhaften Widerstand der Nation gezeigt. Dies hat ihm die liberale nationale öffentliche Meinung nie verziehen. Von den zurückgekehrten Emigranten hatten viele an der Seite Garibaldis gekämpft, viele waren Mitglieder von Freimaurerlogen und bemühten sich, auch in U n g a r n Logen zu gründen und den H a ß zu schüren. J o h a n n Asbóth schreibt im J a h r e 1876: „Mir ist bekannt, daß im Kultusministerium die A u f n a h m e der Sekte der Nazarener unter die geduldeten Konfessionen den Gegenstand von Studien bildet. Ich beantrage, daß seine Exzellenz einen Gesetzesvorschlag in der Richtung einbringe, daß jetzt in U n g a r n auch die katholische Kirche zu den geduldeten Konfessionen gehören solle. — Denn jetzt wird sie nicht sehr geduldet. In U n g a r n weiß jeder, daß sich von den Karpaten bis zur Adria — und zwar mit Recht — erregte W o r t e der Entrüstung erheben würden, wenn jemand die jüdische Religion, die jüdischen Zeremonien und jüdische Glaubensgrundsätze zum Gegenstande des Spottes machen würde, aber niemand denkt daran, wenn ein solcher Spott die katholische Kirche trifft. In U n g a r n weiß jeder, daß es jedem ungestraft erlaubt ist, sich für sein Bekenntnis und seine Kirche offen und öffentlich zu betätigen, nur den Katholiken nicht, weil jeder weiß, d a ß so etwas nicht vorkommt, d a ß ein Katholik — ein Laie, nicht ein Priester — dies tun könne, ohne der Gegenstand des Spottes, des Angriffs und der Verdächtigung zu werden. In U n g a r n weiß jeder, daß es bei jeder Konfession einige Individuen gibt, die schon beim Hören des Wortes Katholik von keiner geringeren inneren W u t ergriffen werden als der spanische Kampfstier, wenn die Picadores ein rotes Tuch vor ihm schwenken." — Diese Antipathie nahm während der Regierung des Kalvinisten Koloman Tisza nicht nur nicht ab, sondern verstärkte sich noch. Ihren Höhepunkt erreichte sie am Ende des Jahrhunderts in den Kämpfen um die E i n f ü h r u n g der Zivilehe. Die katholische Kirche ertrug es lange stumm, wenn die hohe Geistlichkeit ihre Stimme vernehmen ließ, dann versicherte sie, daß sie verläßlich liberal wäre. Inzwischen hatte in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien der Reformkatholizismus seinen Siegeszug angetreten, dessen Wellen aber erst um die J a h r hundertwende nach U n g a r n schlugen. Sein Einfluß meldete sich zuerst nicht im Geistesleben, sondern in der Politik.

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2. D a s literarische W e r k

W i e man auch über den Katholizismus als kirchliche Organisation denken mag, so unterliegt doch eins keinem Zweifel, daß die Verflachung der katholischen Weltanschauung in dieser Zeit, wo die kalvinistischen M a g y a r e n aus dem geistigen und gesellschaftlichen Leben immer mehr hinausgedrängt wurden, dem M a terialismus zu einem leichten Siege verhalf. Der Materialismus konnte nun in seiner rohesten Form im ungarischen öffentlichen Leben triumphieren, ohne daß ihm irdendetwas im W e g e gestanden hätte. Schriftsteller und Dichter, die in dieser Zeit mit geringerem oder größerem Talent die Stimme des Geistes ertönen ließen, wurden von vornherein totgeschwiegen. Der größte unter ihnen ist zweifellos J o h a n n e s V a j d a . W i e p a r a d o x es auch klingen mag, die Dichtung J o h a n n e s V a j d a s wird in ihren tiefsten Wurzeln vom Katholizismus gespeist, und vielleicht ist er auch deshalb seinen Zeitgenossen und der Zeit so fremd. Es läßt sich nicht leugnen, daß ihn seine Liebe, die sein ganzes Leben ausfüllt, an eine irdische, j a sogar sehr irdische F r a u knüpft, aber diese F r a u ist für ihn nicht Wirklichkeit aus Fleisch und Blut, sondern die höchste Idee, nach der er sich mit fast religiöser Andacht sehnt, ohne H o f f n u n g , sie j e zu erreichen. Sein Wort- und Bildmaterial schöpft er aus Psalmen und aus kirchlichen H y m n e n : Ich Ein Ich Das

liebe dich, weil du unfaßbar bist, Zauberschleier dich umhüllt. lieb dich, weil du ein Geheimnis bist, doch mit Glauben mich erfüllt.

Ich liebe Erglänzt Im Gras, D i e Gott

dich: auch unerreichbar, überall dein Gesicht: im T a u und in den Blumen, taucht in sein Sonnenlicht.

D u bist der Herr allein, du bist das All. Dein N a m e bleibe ungenannt: Es kennt dich nicht, doch fühlt das Herz Deine allmächtige Gewalt. Dich liebe ich — auf meinen Knien Bet ich dich an, ewige Hut, Vergib, was ich an Sünden habe, Sieh nur darauf, was in mir gut.

Weltanschauung u n d N a t i o n a l g e f ü h l

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Seine Philosophie ist nichts anderes als der Kampf des katholischen Menschen, der sich bereits von den positiven Formen de? Glaubens gelöst hat, mit den quälenden Problemen des Lebens und des Todes, der Vergänglichkeit und der Ewigkeit. „ W i e weit sich der einzelne Katholik oder Kalvinist unter dem Einfluß der Zeit und der modernen Lehren — schreibt Johannes Asboth — von den Grunddogmen seines Bekenntnisses gelöst hat, ist einerlei. Der kalvinistische und katholische Geist bleibt in allem trotzdem den Grunddogmen nahe und wird mehr oder weniger auch in dem Individuum zum Ausdruck kommen, das sich am entschiedensten von den konfessionellen Dogmen losgesagt hat". Asboth geht von dieser These aus, als er Ladislaus Arany, Zsolt Beöthy und Emil Äbränyi deutet, aber auch auf Johannes V a j d a können wir sie anwenden. V a j d a hat kein fest umrissenes, selbständiges philosophisches System, alle seine philosophischen Gedichte sind eigentlich eine Reihe von Fragen: „ W a s wird aus uns, wohin kommen wir? W a s liegt auf dem Grunde der Särge und Gräber?" — Es ist dieselbe Frage, die auch der alte Johannes A r a n y auf warf und mit den W o r t e n des Glaubens beantwortete. Die weit ins Kosmische ausgreifende Phantasie Johannes V a j d a s kann sich aber mit dieser Antwort nicht so einfach begnügen. Die Philosophie des Materialismus hat tiefe Spuren in seine Seele gegraben: „Auf dieser weiten Welt ist nichts ewig, nur das ganze, das einzige selbst, die Zeit und die Materie." Aber in diesem Gedanken findet sein ruheloses Herz keine Befriedigung. Vergehen und Tod schrecken ihn nicht, aber „der Gedanke des ewigen Seins ist es, der meine Seele mit Schauder erfüllt". Das Grauen vor dem Leben im Jenseits durchbebt fast jede seiner Dichtungen, und dieses verzweifelte Grübeln über die Letzten Dinge wäre nicht denkbar, wenn er nicht an das ewige Leben glaubte. Er möchte den Sinn der Ewigkeit begreifen: ein ohnmächtiges Ringen. Ist sie das Reich ewiger W o n n e oder ewigen Leidens? U n d erlischt das Selbstbewußtsein niemals? Es ist eine endlose Marter f ü r V a j d a , daß er an der ständigen Bewußtheit seiner Qualen leidet: „Töte mich, töte mich ganz. Töte auf ewig meine Seele. Kein Gedanke werde in meinem Hirn geboren. Es darf nicht wissen, d a ß es war und noch werden kann. . . In diesem einen, o Herr, sei barmherzig, und ich will dir verzeihen, daß du mir dieses bittere Totenhausleben gegeben hast, um das ich dich nicht gebeten habe." U n d als er immer wieder vergeblich an verschlossenen T ü r e n pocht, klammert er sich, nirgendswo einen Ausweg findend, „an den Sargstrick des Glaubens".

2. Das literarische W e r k

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Die Rose verwelkt, verweht wird das Blatt! Ist Hoffen vergeblich, ist Glaub ohne Macht? Oh gibt es denn gar nichts, was Trost uns verhieße, Auf neuen Lenz jenseits des Grabens verwiese? Es senkt sich der Sarg in die Grube und mählich Erdröhnen die Schollen: auf immer, auf ewig, Die Liebende wirft sich aufschluchzend aufs Grab: Noch niemals der Friedhof heraus etwas gab?! Am Himmel ziehn Wolken sich scheuchend und jagend. Die Herde kehrt heim. Die Sonne versinkt. Das Glockengeläute verklingt in den Abend. Schon krächzen die Eulen, die Fledermaus schwirrt. Die Mutter am Grabhügel klagt ihre Qual. Dann leuchtet ein Stern auf, Mondhelle strahlt, Der Wind an dem Kreuz aber flüstert und wacht: Erblühn wird die Rose und grünen das Blatt! An einer anderen Stelle spricht diese Sehnsucht nach einem festgegründeten Glauben in den Tönen tiefer christlicher Demut: „Plötzlich ist mir, als ob ich deinen unermeßlichen Abgrund sehe: Unendlichkeit. Ich sinke verzweifelt nieder, mein Herz ist beklommen, es schwindelt mir. — Dann ist mir, als ob ich am Beichtaltar nur noch eine leise Stimme höre: Denke, mein Sohn, nicht darüber nach, besser ist es, du weißt es nicht." Die philosophische Dichtung Vajdas ist, wie die religiöse Dichtung im allgemeinen, im wesentlichen nicht gedanklicher, sondern gefühlsmäßiger Natur. Und deshalb, weil sie so persönlich ist, wäre es verlorene Mühe, darin den Einfluß ausländischer Philosophen finden zu wollen. Den Pessimismus gab ihm nicht die Zeit ein, wenn sie ihn auch nährte; er entsprang seiner eigenartigen seelischen Struktur. Seine Weltanschauung ist nichts anderes als invertierter Katholizismus. Sein Nationalgefühl stimmt, wie es nicht weiter verwunderlich ist, mit dem seiner kalvinistischen Zeitgenossen überein: es wird aus denselben Quellen gespeist, die Erlebnisgrundlage ist die gleiche. Die Zeit des Ausgleichs bedeutet auch für ihn eine schwere Enttäuschung: Anmerkung:

W o der Ubersetzer der Gedichte nicht namentlich genannt

ist, stammen die Ubersetzungen von Mitgliedern des Ungarischen Instituts Berlin.

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Nationalgefühl

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Ich liebte dich in deiner T r a u e r , Solange Unglück war dein Los. Nichts scheuchte mich von deiner Seite, Ob Kerker drohte oder T o d . D u warst gefesselt, arm, geplündert — W ä r s t doch geblieben, wie du warst: Auch weiter hätten wir gelitten, Keiner von uns hätt j e geklagt. D u hattest einen Schatz, ein Mittel, D a s immer wieder W u n d e r wirkt, D a s auch das Schlimmste wieder gutmacht, W e n n alles schon verloren ging. Dies höchste Gut war deine Ehre. Unersetzbar ist ihr Verlust. Sie hast du sinnlos hingeworfen, A l s du dich wieder frei gewußt. D e r reine Busen, der uns stillte, W i r d jetzt von fremder Gier betleckt. D a r f ich unter dem Dache leben, D a s heute Schand' und Schmach bedeckt? W o bist du hingeraten, Heimat, W i e soll ich denken heut von dir? K a n n ich dich auch noch weiter lieben? Ohne daß ich die Ehr' verlier? Diese neue Zeit, die „unverständliche, verdrehte W e l t " , hat der alternde Dichter schon nicht mehr verstanden, aber es gab für ihn eine Q u e l l e des Glaubens, der ihn weit aus den Reihen seiner Zeitgenossen hervorhob: „Sollte es hier also nichts Unversehrtes mehr geben? D a s ist nicht möglich! Eins gibt es: das Volk. Der S t a m m des uralten Baumes der Nation ist noch gut, nur das L a u b zerfrißt die häßliche Raupe. . . D i e tausendjährige Eiche schlägt immer wieder aus, zu einer glänzenderen und ruhmreicheren großen W e n d u n g . Sie wird im zweiten J a h r t a u s e n d blühen, reicher belaubt, schöner. . . Mein Vaterland, wenn auch dein Himmel sich immer mehr verdüstert, ich kann nicht sterben ohne diesen G l a u b e n ! " Diesen Glauben teilen nur wenige mit J o h a n n e s V a j d a , des untergehenden neuen Herculaneums letztem Wächter, dessen Erkennungszeichen ist: ein erhobenes H a u p t und eine leere H a n d !

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2. Das literarische W e r k

Von den Mitgliedern der nächsten Generation sind Baksay, Tolnai und Dömötör kalvinistische Geistliche, Wilhelm Györy ist lutheranischer und Gregor Csiky katholischer Geistlicher. Ihr Amt, deren Bürde die meisten aus innerer Berufung auf sich genommen hatten, bestimmte ihre Weltanschauung. Die weltanschaulichen Erschütterungen der Zeit trafen sie nicht, sie konnten weder in ihrem Glauben wankend werden, noch ließen sie sich ihres lauteren Idealismus berauben. Tolnai wird zuweilen von bohrenden Zweifeln gepeinigt, Csiky tritt zu einer anderen Konfession über, dennoch wirkt in ihren Dichtungen unvermindert die K r a f t des christlichen Ethos. Ihre weltlichen Zeitgenossen, wie der Kalvinist Ladislaus A r a n y oder die Katholiken Viktor D a l m a d y und Johannes Asboth, sind in der gleichen positiven religiösen W e l t betrachtung verwurzelt, so daß es beinahe scheint, als ständen wir hier dem religiösen Bekenntnis einer Generation gegenüber. Es ist eine Generation, die in der Zeit des Absolutismus in der herben Zucht strenger Religiosität zu M ä n n e r n herangereift war und die durch diese Erziehung gleicherweise von den Ansteckungen des Liberalismus und der neuen Zeitideen bewahrt blieb. N u r vor einem behütete sie ihre Erziehung nicht: vor der pessimistischen Anschauung über Leben und Nation. Johannes Asboth meint, sie alle hätten ihre Werke nach dem „Rezept" Schopenhauers geschrieben, obwohl er nicht glaube, daß einer von ihnen die W e r k e des deutschen Philosophen gelesen hätte. „ W e n n sie das Leben so auffassen, es so sehen und wenn es sich in ihnen so spiegelt und nicht anders, in ihnen, die junge Menschen sind und ihre bestimmenden Eindrücke aus der Gegenwart nehmen, kann man dies viel eher aus der gegenwärtigen Lage des gesamten nationalen Lebens erklären." Ihr nationaler Eifer lenkt ihre Augen aber schon nicht mehr so sehr nach innen, wo sie über ihre eigenen Mängel hätten erschrecken können, wie vielmehr auf ihre U m gebung, deren Ü b e r f r e m d u n g sie mit Entsetzen erfüllt. Der Held in dem Epos Ladislaus Aranys sehnt sich aus der fremden Stadt nach dem einfachen Leben auf dem Lande: „Ich fühle mich glücklicher auf dem Dorfe, wo ich dieses häßliche Treiben nicht sehe und den schmutzigen Lärm, wo das W o r t vielleicht rauh ist, aber nicht gezwungen, vielleicht roh, aber offen und treu und vom Scheitel bis zur Sohle ungarisch." In dem Epos „Hunok h a r c a " (Kampf der Hunnen) erinnert der Dichter an das verhängnisvolle Beispiel der Hunnen, die von den f r e m d e n Goten vernichtet wurden, obwohl die H u n n e n sie mit aller Liebe in ihren Kreis

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a u f g e n o m m e n hatten. Eine ähnliche f r e m d e Strömung überschwemme jetzt auch das U n g a r t u m , die letzte G e f a h r nahe, alle U n g a r n müßten zusammenstehen und dann ,,. . . kann der E r oberer kommen, offen und heimlich, noch gehört diese E r d e dir, noch bist du hier der H e r r " . Viktor D a l m a d y schlägt noch erbittertere T ö n e an, wenn auch in weniger dichterischer Form: „ V e r achte den Fremden, der in deine Heimat kommt und zu faul ist, die Sprache zu lernen, die die deine ist. — D u l d e nicht den Schamlosen, wessen Sohn er auch sei, weil er hier der H e r r sein wird, du aber der Fremdling." W e n n er noch in diesen Zeilen seine Nation vor der drohenden G e f a h r warnt, stellt er später resigniert fest: „ S o übermütig ist bei uns der Fremde geworden; hochmütig trägt er sein stolzes Haupt, er sieht diesen Boden schon als den seinigen an, er wartet nur auf die Gelegenheit, daß er auch wirklich der H e r r w i r d . " Diese Generation wird von einem hohen Gedankenflug getragen, ihr tragisches Erlebnis ist der Zusammenbruch dieser Ideenwelt. „ W i r haben keine Ideale mehr, Gott allein weiß, wohin sie so plötzlich dahingegangen sind! Herbstlicher Wind, der kalte W i n d des Egoismus weht, auf den Feldern wächst kein Kranz mehr", singt Viktor D a l m a d y , von dem Todeshauch des ungarischen Verfalls berührt. Diese Enttäuschung verwandelt das Blut im Herzen Tolnais zur ätzenden Säure und verzerrt das Antlitz der Muse A l a d ä r Benedeks zu einer zynischen Grimasse. Bei den assimilierten Zeitgenossen finden wir keine Spuren dieses nationalen Pessimismus. Eugen Rakosi (Kremsner) sieht nur die T u g e n d e n des Ungartums, seine Fehler kaum, die G e f a h r der nationalen Ü b e r f r e m d u n g schreckt seinen zukunftsfrohen, sich in Illusionen bewegenden Geist nicht. In j e d e m Eingewanderten sieht er ein willkommenes Objekt der Assimilation und eine weitere Möglichkeit, die ungarische Nation stark und groß zu machen. D i e öffentliche Meinung wird nicht von den wenig beachteten Dichtern der Zeit geführt, sondern von der Feder dieses glänzenden Publizisten und seiner Trabanten, die ihre eigenen Anschauungen vom U n g a r t u m für die allgemein gültigen erklären. Ihre Weltanschauung ist das Produkt des zerfallenden Liberalismus, aus diesem Liberalismus schöpfen sie ihre Rechtfertigung. Aus diesem G r u n d e blicken sie, ob sie nun Katholiken oder J u d e n sind, mit unverhohlener Abneigung auf die katholische Kirche. T o l d y schreibt nicht nur ein wissenschaftlich drapiertes Pamphlet gegen die Jesuiten, sondern er verhöhnt auch den Katholizismus in einem D r a m a , wo ein Geistlicher als hinterhältiger Intrigant seinen F a r k a s , Freiheitskampf

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2. Das literarische Werk

dunklen Geschäften nachgeht. Der jüdische Literat Doczi geißelt in der Pose eines Tugendapostels in seinem Drama „Csok" (Der Kuß) einen „küssehungrigen" Geistlichen als die Verkörperung der Sdieinheiligkeit. Die Gruppe der ein Jahrzehnt später an die Öffentlichkeit tretenden Schriftsteller, deren Mitglieder Mikszäth, die Äbränyis, Ludwig Bartök, Ludwig Posa und Andreas Szabö sind, machen sich diesen Liberalismus mit innerer Genugtuung zu eigen. Der Ausgleich trifft sie in einem Entwicklungsstadium (sie sind alle ungefähr 20 Jahre alt), wo die Jugend, wenn sie dem Glauben ihrer Kindheit kritisch und ablehnend gegenübersteht, empfindlich auf jede revolutionäre Ideenströmung reagiert. In der Politik sind sie alle Oppositionelle, Anhänger der 48er Prinzipien, extrem Radikale. Ihr großes Vorbild ist Petöfi, der für die Freiheit der Welt kämpfte und sich an die Spitze aller Geknechteten stellte. Emil Äbränyi, der begabteste Lyriker dieser Gruppe, trägt „das Leid von Millionen": „Solange es einen Menschen gibt, der im Elend lebt, der vor Hunger krank ist, solange es einen Bettler gibt, ebenso ein irdisches Wesen wie mich, der ich im Schöße des Wohlstandes lebe — weine ich, leide ich." — Andreas Szabo sagt von seiner Muse: „Mensch ist Mensch, das ist ihr höchster Grundsatz, Rang und Titel vergißt sie leicht, auch mit Königen scherzt sie und biedert sich mit Göttern an. Auf die Gunst der Macht gibt sie nichts, sie betet keine goldenen Götzen an, während sie den Soldaten und den Priester verspottet, belustigt sie sich froh unter Studenten." In der Verspottung der Geistlichen treffen sie sich alle. In dem Roman „A különös häzassäg" (Die seltsame Ehe) verfaßt Koloman Mikszäth eine wahre Anklageschrift gegen die katholische Kirche. Die Tragödie seines Haupthelden verursacht die sündige Liebe eines wollüstigen Geistlichen, den die Kirche mit ihrem Ansehen deckt. — Umsonst ist die Suche Emil Äbränyis nach Gott: „Ich bin zu den Priestern gegangen, ich habe sie der Reihe nach aufgesucht — und ich habe — o Himmel — heilige Händler gefunden, die aus Gott ein Geschäft machten." — Andreas Szabo erhebt Anklage durch den Mund der Arbeiter gegen das verderbte Pfaffentum: „Und ihr Kapuzenmönche, dunkle heilige Väter, faselt nicht von der anderen Welt . . . Auch Gott verliert seinen Kredit, wenn ihr uns in seinem Namen zum Narren haltet, und wenn wir euch in die Hölle geworfen haben sollten: Nicht Gott, nein, Gerechtigkeit braudien wir." — Audi Ludwig Bartok schließt sich diesem Verdammungsurteil an, wenn er in

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dem Gedicht „Szent Kolumbus" (Heiliger Kolumbus) über den Papst spottet, der selbst Kolumbus unter die Heiligen aufnimmt, da es an Heiligen fehlt, die für ihn ein gutes Geschäft bedeuten. — Und wenn sie die vermeintlichen alten Götzen stürzen, greift ihre Schmähsucht und Respektlosigkeit auch auf das Gebiet der Moral über. Mikszath widmet sich oft mit besonderer Freude der Schilderung verfänglicher und pikanter Vorgänge, und wenn er seine Frauengestalten auch nicht entkleidet, so streichelt er sie mit schlüpfrigen Worten, daß sie nackter vor uns stehen, als wenn sie ohne Kleider wären. — Andreas Szabo verficht die unbedingte Losung des horazischen Carpe diem! Er besingt vielleicht als erster in der ungarischen Literatur seine Liebe zu einer verheirateten Frau und liefert den gehörnten Ehemann dem Gelächter aus. — In seinem kleinen Epos „Egy pap szerelme" (Die Liebe eines Geistlichen) malt Emil Äbränyi in aufreizenden Farben die sinnliche, leidenschaftliche Liebe einer Frau zu einem Priester. — Der „hungrige Wolf" Gozsdus liest mit der leichtfertigen Frau seines Brotgebers Baudelaires „Les fleurs du mal". Andere seiner Helden schwören auf Darwin. Äbränyi und Bartok erneuern in der patriotischen Dichtung das schwungvolle Pathos, hinter dem aber schon nicht mehr die Triebkraft steht wie etwa das flammende Herz Vörösmartys oder das leidenschaftliche Feuer Petöfis. Sie machen den Eindruck, als ob sie ein wenig eine Rolle spielen, die Rolle Petöfis, und während des Dichtens schon an den Rezitator und den Beifall des Publikums denken. „Wenn mich jemand an den Iden des Märzen nach meiner Religion fragte, würde ich offen und ehrlich antworten: Meine Religion ist das Vaterland!" bekennt Äbränyi. Über das Schicksal des Ungartums quälen ihn keine Zweifel: „Was ihr auch immer sagen mögt, es ist mein heiliger Glaube, daß der Ungar nicht untergehen, sondern leben wird." Und worauf gründet sich dieser Glaube? Der Ungar hat eine große Tugend: er ist der „treueste Verteidiger der Freiheit". Diese Dichter sind die bezeichnenden Vertreter der Zeit, als Günstlinge der liberalen Presse geben sie in der öffentlichen Meinung den Ton an. Auf jedes politische Ereignis reagieren sie mit einem Liede, man kann sich keinen Nationalfeiertag ohne ihre etwas leer dröhnenden Deklamationen denken. Für sie alle gilt die politische Xenie Gyulais wohl mit Recht: „Unsere Sehnsucht ist größer als unser Wille, und unser Blut wallt leicht auf. Wir schütteln die Früchte unseres Kampfes, wenn sie noch nicht reif 12*

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2. Das literarische W e r k

sind, und nationaler als national verderben wir — des Beifalls wegen — das Nationale." Der „Herzton" der folgenden Generation verliert sich in dem Brausen des Beifallssturmes, mit dem die Äbränyis bedacht werden. Die Generation Reviczkys ist eine katholische Generation. Ihre metaphysische Sehnsucht sprengt wohl die dogmatischen Fesseln, aber die Quelle ihrer Gedanken und Gefühle ist und bleibt der Idealismus und das Gedankengut des Katholizismus. Diese Dichter vertiefen sich in philosophische Systeme, ohne aber Befriedigung daraus zu schöpfen. Auf ihrem Lebenswege begleitet sie eine kurze Zeit lang Schopenhauer, aber immer wieder kehren sie zu dem Ausgangspunkt ihrer J u g e n d j a h r e zurück, zum kirchlichen Katholizismus. Sie sind als individuelle Dichter Egozentriker: Die Frage der Gemeinschaft, der Nation, der Gesellschaft und der Menschheit berührt sie nur wenig, nicht einmal die Sorge um ihr eigenes irdisches Wohl. Die W e l t des Übersinnlichen ist ihre Welt, im Reich der Ideale und der Ideen fühlen sie sich geborgen. Den unmittelbarsten Ausdruck des Egozentrismus finden wir bei Eugen Komjäthy: „Ich kenne keine andere Macht, als die in meinem Herzen leuchtet. Fremder Gott! Du hast keine Macht! Uber mich bin nur ich H e r r . " — Er fühlt in mystischer Verzükkung, daß seine Seele der Mittelpunkt des Kosmos, die Sonne, sei, deren „ W ä r m e und Glanz nach allen Seiten strömt, das dichte Dunkel verscheuchend, und sich in Millionen Strahlen zerstäubt, um durch jedes Herz zu dringen". Alle ringen mit den großen Fragen des Daseins, mit den Fragen des Lebens, des Todes und der Unendlichkeit, über alle senkt sich der dunkle Schatten des Pessimismus: „Wielange muß ich noch das Leben tragen — fragt Julius Indali — das so peinigend, so freudlos ist? W i e l a n g e werde ich noch so seufzen: oh warum hat Gott mich geschaffen!" Ihr Pessimismus ist nicht das Erzeugnis eines philosophischen Gedankensystems. Reviczky warnt in seinem f ü r den jungen Pessimisten ( „ I f j ü pesszimistänak") bestimmten Gedicht seinen jungen Freund vor dieser modernen Seuche: „Laß ab von dieser Lehre, daß der Mensch ein reißendes Tier sei, überlasse das Nachgrübeln über die Letzten Dinge der gezeichneten Kaste der Verdammten, die geboren werden, um in T r ä n e n zu leben." Sie aber gehören zu den Gezeichneten. Nicht die besondere Lage ihrer Nation und auch nicht die Ideen der Zeit machen sie zu Pessimisten, sondern ihr eigenes Lebensschicksal, ihre eigenen sensiblen Empfindungen, aus denen sie sich befreien möchten, selbst um den Preis des Todes.

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Ihre Verzweiflung ist eine unbefriedigte Liebe zum Leben. Reviczky fühlt sich als moderner Tantalus: „Ich liebe das Leben! Das Leben, die Liebe, der Gesang und der Frühling ziehen mich an. . . Wer kann dafür? . . . Ich bin so geboren, deshalb werde ich doch nicht glücklich werden." Er ist „der verirrte Wanderer des Heils", den der Fluch seines Lebens immer weitertreibt. Sie alle möchten das Leben mit starken Händen festhalten, aber sie sehen, daß „die Welt — nur Stimmung ist". Alle drei, Reviczky, Komjathy und Rudnyanszky, besingen, als ob sie an einem Dichterwettbewerb teilnähmen, den Rauch der Zigarre und der Zigarette, das Symbol des dahinfliehenden Lebens. Hedonistische Sehnsüchte erwachen in ihnen: „Genieße froh den Augenblick, was dein Schicksal dir bereitwillig bietet", verkündet Ladislaus Inczedy, der Dichter der „süßen Verwunderungen". Nur wenige finden den W e g zur Harmonie: Komjathy im brennenden Feuer seiner eigenen Seele, Endrödi in der Gnade des Glaubens: „Das Leben ist düster, das Leben ist traurig, der Kranz wird hier aus Dornen gewunden, wir irren durch kalte Einöden im Nebel, im Sturme, immer weiter, weiter. Nur ein kleiner Stern leuchtet uns auf dem Wege: wachet und betet." Aus dem Egozentrismus führen nur zwei Wege zur Gemeinschaft, Liebe und Mitleid. Ihre Liebe ist nichts anderes als die Spiegelung des Ichs in einer verwandten Seele, nicht so sehr Erlebnis, wie Erinnerung. Sie alle lieben den frühen Frühling mehr als den Sommer, die Sehnsucht mehr als die Erfüllung, nur wenige fahren in den Hafen eines ruhigen Familienlebens ein. Auch in der Gemeinschaft suchen sie die verwandten Seelen, nicht die Reichen und Stolzen, sondern die Armen und Gestrandeten. In ihren Adern brennt nicht das Feuer des Revolutionärs oder des Welterlösers. Die Ordnung des Lebens kann man nicht umstoßen, aber man kann: brennende Tränen trocknen und den Schmerz der Wunden mit liebender Hand lindern. Diese Demut, die viele Christuszüge trägt, weist auf den slawischen Charakter dieser Dichter hin, und vielleicht ist dies auch das Erlebnisgebiet, auf dem die slawische Abstammung Endrödys, Reviczkys und Rudnyänszkys sich am ausdrucksvollsten äußert. Christus erscheint ihnen allen als der Gott der Armen und Leidtragenden: „Kommt in die Tempel weinen, schlagt an eure sündige Brust und bittet den großen Gott der Liebe um ein gutes und reines Herz. Sprecht zu den Weinenden und Trauernden ein tröstendes Wort. Umarmt und verzeiht einander: so tut Buße." (Reviczky) — „Dort ist

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2. Das literarische Werk

Gott leibhaftig, nur wo das Elend mit der Verlockung der Stunde kämpft . . ., wo nach unfruchtbaren Kämpfen das Leben Schande, Enttäuschungen und Reue bringt und sich der Wanderer im wegelosen Dunkel verirrt und dennoch nicht hoffnungslos verzagt." (Rudnyanszky) — Reviczky neigt sich dem Straßenmädchen mit dem zarten Gefühl des Mitleids zu: „Nicht nach dem reinen Honig der Wonne dürsten meine Lippen, wenn sie dich küssen; was mich zu dir zieht, ist Mitleid, ich liebe dich, Liebste, aus Erbarmen." Das Wort Vaterland und Nation fehlt in ihrer Dichtung, sie loben sie nicht und sie kritisieren sie nicht. „Mit dem Vaterlande beschäftigte er sich nicht, — schreibt Reviczky als Selbstbekenntnis über Alexander Endrödy — was ich auch für natürlich halte. Endrödy begann gegen Ende der 60er Jahre zu schreiben, als der österreichisch-ungarische Ausgleich schon hergestellt war und die Dichtungen Johannes Aranys bereits vorlagen. — D a er vom Vaterland und vom Volk schweigen mußte, wird die Leier Endrödys von den zwei ewigen Motiven aller Dichtung inspiriert: von der Liebe und der Natur." — Vom Volk schreiben sie auch aus dem Grunde nicht, weil sie nicht aus dem Volke stammen, vom Vaterlande aber sprechen sie deshalb nicht, weil sie die Vergangenheit nicht kennen, in der Zeit des Absolutismus aufgewachsen waren, die Unterdrückung ihnen nicht zum Erlebnis geworden war und sie über das Vaterland nach dem Ausgleich nichts zu sagen wußten. Später wären sie, wenn es ihnen das Lebensschicksal vergönnt hätte, sicherlich mit den Überlieferungen der ungarischen Nation verwachsen wie Alexander Endrödy, der mit seinen Kuruzzenliedern den Lorbeer errang, den die Zeit ihrer „unnationalen J u g e n d " versagt hatte. Reviczky, Indali, Komjäthy starben allein, verlassen und unbekannt: diese starke und begabte Lyrikergeneration ging für ihre Zeit verloren. Aber trotzdem zogen sie eine Furche auf dem ungarischen Brachfelde, und so bereiteten sie den W e g vor für ihren großen Zeitgenossen Ottokar Prohaszka, der in der verödeten, materialistischen Welt die Fackel des gläubigen Idealismus hochhielt, die ihren Händen entfallen war. Auch Prohaszka ist ein Dichter, wenn er auch in Prosa schreibt, der Dichter des unendlichen Kosmos, der die Religion mit der modernen Wissenschaft in Einklang bringt. Er singt nicht für sich und von sich, sondern wendet sich an die seelisch Wankelmütigen und an die Irrenden, um sie in eine reinere und gesundere Welt zu führen. Seine Saat reifte nur langsam, und noch viele Schläge mußten die Nation treffen, ehe sie ihn hörte und verstand.

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Ein Zeitgenosse der Dichter um Reviczky, aber nicht ein Angehöriger dieser Gruppe ist der Kalvinist und Rasseungar Julius Vargha. Seine Dichtung entfaltet sich erst in der großen nationalen Katastrophe des Weltkrieges zu ihrem herbstlichen Farbenreichtum, aber es ist schon deshalb interessant, die Dichtungen seiner Jugend hier zu behandeln, um den Unterschied zu verdeutlichen, der ihn von seinen katholischen Gefährten trennt. Wir denken nicht an die äußeren Scheidewände, daß jene zum großen Teil aus der nationalen Gesellschaft ausgestoßen waren und als arme Schlucker ihre Zeit in Nachtcafes vertaten, während er ein vornehmer Staatsbeamter war, sondern an die Verschiedenheit ihrer seelischen Welt. Auch Vargha ist im Pessimismus befangen, der aber bei ihm, wie es scheint, nur eine Zeit- und Lebensalterserscheinung ist: „Der Tod, in dem jedes Herz seine Ruhe findet, ist mir nichts, ich fühle, daß er nicht Erleichterung geben kann, nur die Vernichtung. . . Mein Körper, meine Seele, mein Ruhm und mein Name mögen so völlig vergehen, in das Nichts zurückfließen, als ob ich nie gewesen wäre." Er findet aber sein seelisches Gleichgewicht bald wieder in der Lehre der Prädestination: „ T u , was du tun mußt, dann überlasse das übrige dem Himmel, pfusche nicht in die himmlische Weisheit hinein. . . Warum bestürmst du den Himmel mit deinen Gebeten, törichter Mensch, wo du nicht wissen kannst, womit er segnet, womit er schlägt." Nachdem er sich aus der erstickenden Atmosphäre der Todessehnsucht seiner Jugend befreit hat, strahlt uns aus allen seinen Dichtungen dieser absolute kalvinistische Gottesglaube entgegen. Vargha gerät nur dann aus dem Gleichgewicht, wenn er an sein ungarisches Volk und an dessen Zukunft denkt. Schon in seiner frühesten Jugend legt er in einem seiner ersten Gedichte ein Gelübde ab: „Solange dieses Hirn brennt und sich mein Arm bewegen kann, kämpfe ich für dich, mein untergehendes Volk, und meine Hand stumm auf meinem blutenden Herzen, erwarte ich den Kampf auf dem Kampfplatz." Diese sorgenvolle Liebe zum Vaterland trennt ihn wohl am entschiedensten von seinen katholischen Zeitgenossen, aber auch von den Dichtern um Äbränyi. Die Partei Gyulais sucht ihn deshalb in ihren Kreis zu ziehen, da sie in ihm einen ihnen verwandten Nachfolger erblickt. Die kleineren Nachfolger, Vargha und Reviczky, stehen nebeneinander, wie vor ihnen die großen Gestalten Aranys und Vajdas, die verschiedenen Widerspiegelungen der ewigen ungarischen Seele. — Reviczky bringt der T o d zum Verstummen, Julius Vargha für lange Zeit die aufreiben-

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2. Das literarische W e r k

den Sorgen im Beruf. Nach ihrem ersten Auftreten vergeht ein unfruchtbares Vierteljahrhundert, bis dann wieder zwei ungarische Lyriker erscheinen: Ady und Babits. Uber die Generation der Herczeg-Gardonyi-Justh und über ihre Weltanschauung haben wir schon gesprochen. Zu dieser Gruppe gehören noch Andreas Kozma und Ärpäd Zempleni. Beide leben im heutigen literarischen Bewußtsein als wurzelechte nationale Dichter, der erste als der Dichter der ungarischen Symphonien, der andere als der Dichter der turanischen Lieder. Diese Schöpfungen ihres reifen Mannesalters breiteten Vergessen über ihre Anfänge, durch die sie, wenn auch auf der Seite des Ausgleiches, mit dem weitherzigen Liberalismus der Äbranyis verbunden sind. In dem Maße, wie sie von Herzen Kalvinisten sind, hassen sie auch die Welt der katholischen Geistlichkeit: „Mit Klagen bestürmen sie ständig Rom gegen das Vaterland, unsere freien Rechte streuen sie dort alle untreu als Lehen aus." Beide sind begeisterte Philosemiten und unterstützen das Judentum in allen seinen Bestrebungen, so auch im Kampfe um die Aufnahme ins Ungartum. — Ihrer geistigen Haltung widerstrebt jedes Philosophieren. Kozma schreibt eine Satire über die „Ismen", in der er besonders den Pessimismus zum Gegenstand des Spottes macht. Er steht streng auf dem Boden der Wirklichkeit und schätzt die Wissenschaft höher ein als den Glauben. Er ist der zeitgemäße Poet des liberalen Zeitalters, der größte Erfolg fällt ihm durch seine Vers-Chroniken zu, die von Sonntag zu Sonntag in geistreicher Form, in kerniger ungarischer Sprache und mit einem gepflegten Gefühl für Rhythmus Rechenschaft über die Tagesereignisse ablegen. Zu seinem ersten Bande schrieb der Jude Baron Ludwig Doczi das Vorwort. Sein Nationalgefühl hat in seinen ersten Dichtungen einen starken sozialen Beigeschmack, auch darin ist er ein würdiger Nachfolger Emil Äbranyis, wenn er auch nüchterner ist: „Die Tyrannei bricht zusammen, das Volk erhebt sich, es soll weniger Leibeigene, dafür mehr Maschinen geben. — Manches Schloß, dessen tiefes Gefängnis ihr stolzer Turm bedeckte, stürzt täglich in Ruinen zusammen, die Ruinen zerfallen, ihre Steine sind noch für Schulen gut, — es wird weniger Pfaffen, dafür mehr Lehrer geben." Dieser revolutionäre Geist, der die Fabrik zur Kirche macht und den Verstand auf den Altar hebt, paart sich bei Kozma mit einem blutsmäßigen Nationalgefühl. Und das Blut ist stärker als der Geist: Kozma fühlt sich auch nicht wirklich zu seinen

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Nationalgefühl

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Geistesgefährten hingezogen, sondern zum ungarischen Bauern und zum Landadligen, der den Boden bebaut. Er schreibt über einen Besuch, den er bei einem Grundbesitzer in der Provinz machte: „Ich hatte für die modernen Ideen Feuer gefangen, der „ H e r r " lächelte nur über mich, und damit die hochgeschraubte Lampe nicht rauchte, schraubte er sie ruhig herunter, — er tat dies nie schnell. . . Heute gibt es hier schon eine Nation, ein Volk, ein Meer, aber diese Handvoll ungarischer Adliger, diese schützte die Burg selbst tausend J a h r e lang, — W e n n sie heute müde und zerlumpt sind, — d a n n werden sie von ihren Lumpen gepriesen. — So denkt der „ H e r r " . Die Weisheit hat Lücken und hat auch keine, aber wie er es, von seinem wahren und edlen Glauben erfüllt, sagte, führte er auch mich weit, weit mit sich hinweg." — So gelangt auch Kozma später, nachdem sich die Begeisterung f ü r die „modernen" Ideen gelegt hatte, zur Lebensanschauung des „ H e r r n " , der in der Dichtung außer ihm auch sein Bruder, unter dem Namen Nikolaus Bärd, einfachen, aber künstlerischen Ausdruck verleiht. Nicht nur in seinem Kalvinismus, auch in seinem ungarischen Rassegefühl empfindet er Michael Szabolcska als verwandt. Den reformierten Geistlichen begeistern nicht die Ideen der modernen Zeit. W e n n er auch viel gereist ist und viel gesehen hat, so sehnt er sich trotzdem immer wieder zur Theiss, in sein Dorf zurück. Im Pariser G r a n d - C a f e denkt er ebenso an die Heimat wie in der Halle der G e n f e r Universität. Er ist eine einfache Seele, den ein vertrauender Glaube über jede Lebenskrise hinweghilft: „Hier, hier in meinem Herzen klingt der Gesang, der H e r r ist stark, groß, gut und ewig! — Weiter, weiter, und ich erneuere mich in meinem gebrochenen Glauben und genese. W i e ein Opferfeuer flammt meine Seele auf, mein Seufzer wird zum Gebet. . . U n d hundert Stürmen mich entgegenstellend, schreite ich lächelnd meines Weges." — Die Dichtung Szabolcskas ist anspruchslos, ein einförmiger sanfter Flötenton neben der ungarischen Symphonie Aranys und der mächtigen wagnerischen Musik V a j d a s , trotzdem lauschen wir ihr gern, sie langweilt nie, sie strahlt einen eigenartigen harmonischen Zauber aus. Doch sie verging wie eine flüchtige Stimmung, die die Zeit anspricht und mit der Zeit versinkt. In den 90er J a h r e n verstummen bald jene Dichter, die ihrem Volke vieles zu sagen hatten: V a j d a , Gyulai, Levay, Vargha. Der Dichterkreis um Reviczky schweigt. I n der Lyrik übernehmen die

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2. Das literarische Werk

Dichter jüdischer Abstammung, mit Joseph Kiss an der Spitze, die Führung. Joseph Kiss wurzelt mit seiner ganzen Persönlichkeit tief in der jüdischen Lebensanschauung. Er bedeutet wirklich einen ganz neuen, wenn auch fremden Ton in der ungarischen Literatur. Die Verfechter der strengen orthodoxen jüdischen Geistigkeit halten zwar seine jüdischen Lieder und seine im Auftrage der jüdischen Budapester Gemeinde geschriebenen „Feiertage" für ein wenig weltlich, nichtsdestoweniger ist er der einzige bedeutende bekenntnismäßig gebundene religiöse Dichter der Zeit. Auch über seinen anderen Dichtungen geistert der düstere Schatten der dörflichen Synagoge, wo Juden mit Pajes und langen Barten hebräische Worte murmeln und, mit ihrem Körper sich wiegend, Jehova, den unbarmherzigen Gott, anbeten. In seinen Adern kreist das Blut Ahasvers, der vergebens Hütten baut, Schätze auftürmt, vergebens bereit ist, auch seine Rasse zu verraten, und der doch nirgendswo eine Heimat findet. Seine Mutter sieht er in dem Bilde einer Madonna: „Eine Jüdin war meine Mutter, Maria nannte man sie auf dieser Erde. Ich bin ihr Sohn, ein armer Verirrter, und trage zusammenbrechend das Kreuz." — Ein Jude wird sicherlich stolz auf „Jehova" sein, der mit dramatisch geballter Kraft in schnell abrollenden Bildern und im düsteren Tone meisterhaft die jüdische Seele zum Ausdruck bringt. — Das Gefühl der Unterdrückung entlädt sich in jähen Ausbrüchen, aber es ist immer in erster Linie das Schicksal des Judentums, das sein Blut empört. Er wird nur durch eine Gestalt der ungarischen Vergangenheit inspiriert, durch den ungarischen Bauernführer Georg Dozsa: „Solange noch ein Herz schlägt, das sich darüber empört, daß Geburt erniedrigen und in die Hölle stürzen kann, ruht die Seele Dozsas nicht." — Er schreit auf, als die Ritualmordanklage von Tiszaeszlar im Lande Anhänger findet oder als sich die Nachricht verbreitet, daß die Soldaten des Zaren die Juden niedermetzeln. In seinen Ohren klingt schon der Marschschritt der neuen Marseillaise, bei deren Klängen sich die irregeleiteten und enttäuschten Millionen erheben. Er feiert seinen Großvater Reb Mayer Litväk als den neuen Gründer des Vaterlandes, der größer als Arpad war, da er nicht mit dem Schwerte, sondern mit dem Liede eroberte. Zuweilen breitet er seine flehenden Arme dem „ungarischen Vaterlande" zu aus: „Der Klang der Klage um das Vaterland tönt nicht in mein Lied am Wegrain hinein. . . Und doch liebe ich dich, mein teueres Land! Wie der Baum den Boden, wo die Blüten nieder-

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fielen. Ich habe dich immer geliebt wie Cordelia, und deinetwegen trage ich das Nessushemd des Spottes. Ausgestoßen ging ich immer, versagtest du doch mir deine belebende Brust." — Dieses Bekenntnis ist nicht Liebe zum Vaterlande, sondern zum Geburtslande, die unabhängig von Staatsform und nationaler Gemeinschaft auch in der Seele des primitivsten Menschen lebt. In dem Gefühl, aus der ungarischen völkischen Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein, faßt er seine Grabschrift in den sentimental selbstquälerischen Worten ab: „Eine freie Beute war er in seinem Vaterlande, ausgestoßen, arm und heimatlos, das Grab gibt ihm vielleicht Ruhe, aber vielleicht speit auch das ihn aus." — Dieser Schmerz erwuchs ihm nicht aus den Lebensumständen, sondern aus dem Minderwertigkeitsgefühl des Juden. Wieviel mehr konnten sich Vajda und Reviczky ausgestoßen fühlen, die nicht in der satten und gedämpften Atmosphäre einer Budapester Luxuswohnung lebten, die nicht im Scheinwerferlicht unaufhörlicher Huldigungen und nicht an der Spitze einer sich gut rentierenden Zeitschrift standen und weder Mitglieder der Akademie der Wissenschaften noch der Kisfaludy-Gesellschaft waren: und doch klagten sie ihr „Vaterland" nicht an. Dies ist keine posierende Geste bei Kiss, sondern ein ewig brennender Schmerz, der jüdische Schmerz. Joseph Kiss ist der bedeutendste ungarischsprachige Dichter des ungarischen Judentums. Ihm folgen Heinrich Lenkei und Anton Rado, deren anspruchslose Dichtung nur der Sprache nach ungarisch ist. Einen jüdischen Klage- und Triumphgesang stimmt Radö im „Titusbogen" an: „Was an Greueln sich der menschliche Verstand nur auszudenken vermag, was es an Leiden und Klagen gibt, das alles fraß sich in deine Seele, das trugen alles deine Schultern, elender Paria, du meine verfolgte Rasse. . . Und wenn auch das Schicksal Judäa in alle Winde zerstreute: seine heiligen Zeichen nahm es überall mit sich, das alte Rom ist schon seit anderthalb Jahrtausend gestorben, und Jehova hat seine Götter überlebt." Ludwig Palägyi scheidet aus diesem Kreise aus, ihn knüpfen nur wenige Fäden an das bewußte Judentum, auf seinem abwechslungsreichen Lebenswege irrt er weit von ihm ab, bis er wieder zerknirscht zu ihm zurückfindet. Das Judentum, vor allem aber seine eigene gesellschaftliche Stellung und der am Ende des 19. Jahrhunderts herrschende Pessimismus lösen in ihm eine düstere revolutionäre Stimmung aus. Sein Herz gehört den Unterdrückten, singt er, er haßt die Vergangenheit, kennt keine Grenzen

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2. Das literarische W e r k

zwischen den Völkern, und zum ersten M a i schreibt er für die Arbeiterschaft das Lied: „Zeigen wir, d a ß wir keinen H e r r n über uns haben und daß der unser Diener ist, den wir an die Spitze der Regierung setzen. . . W i r sprechen Recht, wir verteilen Gnade und können keine andere Macht ertragen. . . Zwischen den Völkern hat der H a ß aufgehört. Arbeiter der Welt, wir sind e i n Volk!" Nicht Liebe leitet ihn zu den Unterdrückten, sondern der H a ß des unterdrückten Juden. Und als auch er langsam auf den Fittichen des Ruhmes emporgetragen wird, bewirbt er sich erfolgreich mit einer patriotischen Ode um einen akademischen Preis. Er kehrt sich von seiner materialistischen Vergangenheit ab und wird der Sänger des idealistischen und nationalen Gedankenfluges. In seiner philosophischen Dichtung ,,Az i f j ü szerzetes" (Der junge Mönch) versucht er, seine neue Weltanschauung darzulegen. Sein Bruder versieht die Dichtung mit einem erläuternden Vorwort. Der junge Mönch begeht Selbstmord, und um den Leichnam singt der Chor der Mönche: „Glücklich ist, wer diese Erde auf ewig verlassen hat, glücklich, wer das irdische Spiel zu Ende gespielt hat und nicht hin und hergeworfen und nicht hin und hergetrieben wird in einem unfruchtbaren Kampfe." Dieses Gedicht ist ein geiferndes Pamphlet gegen den Katholizismus, ein trauriges Zeugnis f ü r den weltanschaulichen W i r r w a r r am Ende des J a h r hunderts. Die junge iüdische Dichtergeneration, die sich um die Zeitschrift „A H e t " (Die Woche) schart, Heltai, Makai, Szilägyi und die übrigen, sind schon gefühlsmäßig vom J u d e n t u m als religiöser Gemeinschaft geschieden. Das literarische Bewußtsein des 20. J a h r hunderts will ihre Bedeutung darin sehen, daß sie die ersten wahren Dichter der Stadt waren, die die ungarische Lyrik ihres pathetischen Tones und ihrer unnatürlichen H a l t u n g entkleideten, die dem Pharisäertum die Maske vom Gesicht rissen und es tapfer und offen wagten, von ihren Instinkten zu singen. D a sie außerhalb der nationalen Gesellschaft standen, stellten sie sich über sie, urteilten und verurteilten nach Willkür. Aber dies alles war nichts Neues. Auch die Dichter um Reviczky waren Dichter der Stadt und gehörten gleichfalls nicht der nationalen Gesellschaft an. Schon Petöfi hatte einmal das Pathos ausgerottet, es war nicht leicht, seine schlichte Unmittelbarkeit zu erreichen, aber wenn er von U n g a r n oder von den Qualen und Freuden der Liebe sang, gab ihm die Begeisterung oder die persönliche Erschütterung hohe, doch erfühlte W o r t e ein. Die sinnliche Liebe hatte auch schon

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früher ihren beredten Ausdruck gefunden, durch A l a d ä r Benedek, Ladislaus Inczedy und andere, die auch gern einmal die Straßenmädchen zu ihrer Muse machten, aber auch echte und warme Töne fanden, wenn sie ein idyllisches Lied zum Lobe des Familienlebens sangen. Das Neue, das die jungen Lyriker jüdischer Abstammung brachten, war im wesentlichen das, d a ß die W e l t ihrer Erlebnisse von den Mauern der Budapester Mietskasernen und Kaffeehäuser umgrenzt war, sie kannten die N a t u r nicht und das ungarische Dorf noch weniger. Sie gössen die Schale ihres Spottes über jedes Pathos aus, da ihre flügellahme Einbildungskraft stets an schalem Zeuge klebte. Sie lachten über die Leidenschaft der Liebe, denn für sie waren die Frauen ein sinnliches Spielzeug, je abwechslungsreicher, desto erregender, ihr Herz war bald ausgekühlt, sie waren abgestumpft und großer Gefühle nicht fähig. Die ihrem Lehrmeister Heinrich Heine abgelauschte und stereotyp angewandte Ironie war nicht der Rückschlag eines enttäuschten Idealismus, sondern eine schauspielerische bald sentimentale, bald spöttische Haltung. Heltai singt das schnoddrige Lied: „Meine hochverehrten Kollegen aus der Provinz . . . stürzen sich über mich Armen her, weil ich ihnen nicht genug ungarisch bin und ich noch kein Lied auf das Vaterland angestimmt habe. . . W e n n mein Herz einst erkaltet und mein verehrtes H i r n weich geworden ist, singe ich auch von Familienfreuden und von der großen Wäsche. Meine hochverehrten Kollegen aus der Provinz, reicht mir dann eure H a n d und schreibt mich in die Z u n f t ein, wenn auch ich einmal impotent bin." Dieser Ton wäre in der ungarischen Dichtung wirklich neu gewesen, wenn wir Verse dieser A r t Dichtung nennen könnten. Es ist sicherlich kein Zufall, d a ß Heltai wie auch Makai ihre durchschlagendsten Erfolge mit Kabarett- und Operettenchansons errungen haben. Das Großstadtpublikum klatschte ihnen begeistert Beifall. Das Neue, das sie brachten, waren nicht die Möglichkeiten neuen seelischen Ausdrucks, sie beschieden sich mit dieser A r t von Alltagslyrik, die dem Budapester Durchschnittspublikum gerade recht war. Der begabteste unter ihnen, Emil Makai, der von der religiösen Dichtung ausgegangen war, ist bald gestorben. Die Lyrik Heltais verstummte immer mehr, Ignotus (Veigelsberg) hängte die Leier an den Nagel, um auf anderen Gebieten einer „würdigeren" Beschäftigung nachzugehen. Ihre Dichtung ist typisch für die Lyrik am Jahrhundertende, ein charakteristisches Kennzeichen der weitgehenden Überfremdung der ungarischen Literatur.

III.

DAS ZEITALTER DER REGENERATION

I. Das literarische Leben. Die Generation Adys. Glänzende Leitartikel läuteten gleichsam den Morgen des zwanzigsten Jahrhunderts ein, jenes zwanzigsten Jahrhunderts, von dem man die Erfüllung aller ungarischen T r ä u m e erwartete. Das Leben strafte wie so oft die prophetischen Journalisten Lügen. An Stelle der aufbauenden Ordnung übernahm das gärende Chaos die Herrschaft. Große Unruhen erschütterten die W e l t und zeichneten die schwarzen Male eines nahenden, verhängnisvollen Zusammenbruchs an den Himmel. Der englisch-burische Krieg machte den Anfang, unmittelbar darauf erfolgte ein Zusammenstoß der weißen und gelben Rasse im Fernen Osten, dann flammten die Feuerzeichen der russischen Revolution in der Nacht des Zarismus auf. Der Balkan stand schon in Flammen, der ewige Brandherd, Österreich lag in Agonie, in Frankreich träumte jedes Kind von der großen Revanche, der deutsche Kaiser blickte selbstbewußt auf die Welt seiner Gegner. Der von Europa befruchtete junge Körper Hungarias zuckte unter qualvollen Schmerzen. Ob neues Leben schaffende W e h e n ihre Glieder quälten oder eine tötliche Krankheit, darauf die Antwort zu geben war nur die Z u k u n f t berufen. In der Politik übernahm an Stelle einer um die Nation besorgten und überlegenden Voraussicht eine hemmungslose und rücksichtslose Leidenschaftlichkeit die Herrschaft. Die erste Regierung des G r a f e n Stephan Tisza wurde vom Mob hinweggefegt. Es kam die Regierung der sogenannten Trabanten, der „Beauftragten des österreichischen Kaisers", sie setzte die ungarische Verfassung außer K r a f t und appellierte an das Volk, die Straße rührte sich, und in den Adelskomitaten waren die Gemüter empört. Die Komitate siegten. U n d es kam die „nationale" Koalition mit den berauschenden W o r t e n der nationalen Freiheit und Selbständigkeit auf den Lippen, mit dem sich duckenden Geiste des Kompromisses und egoistischer Machtgier im Herzen. Die bald darauf eintretende nationale Enttäuschung brachte wiederum Stephan Tisza in Amt und W ü r d e n , Parkas,

Freiheitskampf

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1. Das literarische Leben

aber inzwischen war das Ansehen des mit Stuhlbeinen kämpfenden, mit Kindertrompeten obstruierenden, tintenspritzenden ungarischen Parlaments auf das Niveau eines Zirkus gesunken, die politischen Sitten verwilderten zusehends, die öffentlichen Skandale nahmen einen großen Raum in der Tagespresse ein. Es ist kein W u n d e r , daß die ungarischen Nationalitäten laut ihre Stimme erhoben und immer tiefere Spalten in das zerfallende Gefüge des ungarischen Staates schlugen. Die von den Phrasen der Budapester Zeitungen benebelte ungarische öffentliche Meinung nahm von diesen verhängnisvollen Bestrebungen gar keine Kenntnis, wie es denn auch gelang, die drohenden Bewegungen der sich stark organisierenden Arbeiterschaft zu bagatellisieren. Die weiten ungarischen Puszten des Bauern blieben aber stumm wie der Tod. Chaos in der Politik, Chaos in der Gesellschaft. Die Überfremdung der Führerschicht erreicht ihren Höhepunkt. Es ist unmöglich, die Ausmaße der Assimilation in dieser Zeit genau zu bestimmen. Später, in der Zeit der staatlichen Zerrissenheit, gab es viele, die vor dem Weltkrieg an der Spitze ungarischer chauvinistischer Bewegungen gestanden hatten und auf einmal ihrer fremden Abstammung bewußt wurden. Es gab aber auch solche, die selbst — oder mindestens ihre Eltern — nur gebrochen Ungarisch sprachen und sich dennoch trotz aller Verfolgungen als U n garn bekannten. Die Struktur der ungarischen Gesellschaft wird immer verwickelter. Die völkische Vermischung, besonders in den Städten zwischen den Deutschen und Ungarn, nimmt immer größere Ausmaße an. Vorerst ist noch alles in Gärung, das Selbstbewußtsein trübt sich, der Instinkt ist unsicher geworden. Dies ist ein verhängnisvolles Unglück am Vorabend großer nationaler Ereignisse. Das Judentum nimmt an der Rassenvermischung kaum Anteil, umsonst fordert dies von ihm das unsicher gewordene rassische Bewußtsein des Ungartums. „Das jüdische Blut ist, wenigstens für uns, wertvoll und teuer", schreibt der Rabbiner Isaak Pfeiffer im J a h r e 1913 im „Huszadik Szazad" (Zwanzigstes Jahrhundert), „wer sagt, daß es sich in fremden A d e r n nicht zu einem rassenmörderischen Gifte verwandelt? . . . Das jüdische Blut ist kein absoluter W e r t . Dies ist es nur unter dem Himmel des jüdischen Lebens, unter f r e m d e n Strahlen entfärbt es sich." Eine Rassenvermischung des ungarischen Juden finden wir fast nur in den oberen Schichten der Gesellschaft, in der W e l t der Aristokratie und des Geistes. Ludwig Tolnai ist wohl der erste, der ein jüdisches M ä d -

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Die Generation Adys

chen zur Frau nimmt, damals galt es noch als revolutionär. Viele folgten den „Bahnbrechern". Für den umgekehrten Fall gibt es kein nennenswerteres Beispiel. Es ist dem J u d e n t u m gelungen, — der Ubertritt zum Christentum hat niemals größere Ausmaße angenommen — seine historische Struktur zu bewahren, aber es vermischte sich trotzdem immer mehr mit den übrigen Schichten der ungarischen Gesellschaft. Der Beginn des J a h r h u n d e r t s bezeichnet den Gipfel seiner Macht, danach konnte wirklich nur noch ein Absinken folgen. W i r finden seine Vertreter an jedem hervorragenden Platz des ungarischen Lebens. Es gibt unter ihnen baronisierte Bankmagnaten, Freunde ungarischer Aristokraten und revolutionäre Sozialdemokraten. Sie betätigen sich an der Seite Tiszas in der Regierungspartei, sie organisieren die Demokraten, begründen die Radikale Partei, stellen sich an die Spitze des freimaurerischen Galilei-Kreises und f ü h r e n die Arbeiterorganisationen auf die Straße. Der laute Chauvinist und der fluchende Internationalist vertragen sich miteinander. Der zionistische Journalist diskutiert mit dem jüdischen Redakteur eines katholischen Blattes, der zionistische Weltkongreß zu Basel stellt fest, daß es den Juden in wenigen L ä n d e r n so gut gehe wie in U n g a r n , wo der Antisemitismus nur noch sich im leisen, bekümmerten Flüstern äußert. Thomas Köbor konnte in der ,,A H e t " (Die Woche) vom Jahre 1910 stolz und mit Recht von sich schreiben: „In der Literatur gaben mir die besten Zeitungen ihre besten Spalten her. In der Politik stellten sie mir ein ganzes Orchester zur Verfügung. Ich bin dort angelangt, wohin nur wenige kommen, und ich kann hinzufügen: ich bin überall dort, wohin ich wollte. . ." Diesen letzten Satz hätte jeder ungarländische Jude von sich sagen können, auch der, der erst vor kurzem mit dem Bündel auf dem Rücken aus Polen durch den Pass von Verecke nach U n g a r n gekommen war. Die Spannung wächst immer mehr, und als sie der Allgemeinheit bewußt wird, nimmt auch schon der Vorgang der Gesundung seinen A n f a n g . D a das literarische Leben einer der empfindlichsten Sektoren des gesellschaftlichen ist, spiegelt sich in ihm jeder Widerspruch deutlich wider, aber gleichzeitig ist dies auch das Gebiet, das die ersten Zeichen der ungarischen Wiedergeburt aufweist. In dem literarischen Generationswechsel geht die Ablösung der Wache unter Fanfarenstößen und lautem Schlachtenlärm vor sich. Bevor wir von der jungen Generation des 20. Jahrhunderts sprechen, halten wir es für notwendig, — wenn es auch ein wenig 18"

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1. D a s literarische

Leben

schematisch ist — die noch in der neuen Zeit wirkenden, älteren bedeutenderen Erscheinungen des literarischen Lebens, das Spiel der verschiedenen Kräftefaktoren zu skizzieren, die die Jungen am A n f a n g des neuen Jahrhunderts erwarten. Verglichen mit der Zeit des Jahrhundertsendes traten nun viele entscheidende W a n d l u n g e n ein. Die noch lebenden, aber schon in Vergessenheit geratenen Zeugen der großen literarischen Vergangenheit gaben sich der ruhigen Betrachtung hin und lächelten nur noch weise zu den leidenschaftlichen Kämpfen der „Jungen". „ W i r werden sehen, was dabei herauskommt", pflegte Paul Gyulai zu sagen, der den Präsidentensitz der Kisf aludy-Gesellschaft aufgab und bald auch seinen Universitätslehrstuhl verließ. Er redigierte nur noch die „Budapesti Szemle", bis ihn der Tod hinwegrief. Vor einem halben Jahrzehnt war ihm Maurus Jokai im Tode vorangegangen. Nach seinem T o d e gewinnt die Nation ihn wieder zurück, die — das hat sie immer ausgezeichnet verstanden — dem großen Märchenerzähler ein gewaltiges Begräbnis veranstaltete. Am A n f a n g des Jahrhunderts geht auch Karl Szasz dahin, wobei er in der kalvinistischen Kirche gewiß eine größere Leere zurückließ als im literarischen Leben. N u r Josef Levay blieb noch hier als letzter Wachtposten: seine zarte, empfindsame ungarische Seele blieb vom Schicksal nicht davon verschont, den Weltkrieg zu sehen. Mit einer unerschütterlichen Frische wiederholt er seine Lieder, dennoch ist er noch zu Lebzeiten zur Vergangenheit, zur edlen Tradition geworden. Es folgt Koloman Mikszäth, „der Dichter der Nation", wobei unter Nation das U n g a r n der „ H e r r e n " zu verstehen ist. Seine Rolle ist eher passiv, er duldet, daß man ihn feiert, freut sich auch darüber, aber er fordert f ü r sich keine führende Stellung. Er wird mit vielen W ü r d e n überhäuft, und jede Zeitung und jede Zeitschrift ist stolz darauf, wenn sie seine Schriften veröffentlichen kann. Er ist Hauptmitarbeiter der „Vasarnapi Üjsäg", der ,,Üj Idök" und seit 1903 der „ Ü j s ä g " (Zeitung), wo er — vielleicht aus Pietät gegen den Vater, vielleicht auch aus Überzeugung — die Politik Stephan Tiszas unterstützt. Er schreibt — in romanhafter Form — die Biographie Jokais, ein paar unvergeßliche Erzählungen und seinen problematischsten Roman „A Noszthy fiü esete Toth M a r i v a l " (Die Geschichte des Noszthy-Jungen und der Maria Toth). Er hängt gern seinen Erinnerungen nach, es scheint, d a ß das Leben über ihn hinwegschreitet, aber er lebt im Denken und Fühlen mit jenen zusammen, die die Heldengestalten eines ver-

Die Generation Adys

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gangenen und niemals wiederkehrenden U n g a r n s sind. J a h r für J a h r gibt er seinen Almanach heraus, in dem er bereitwillig die Arbeiten junger Schriftsteller veröffentlicht, wenn er auch seelisch weit von ihnen entfernt ist. In die literarischen Kämpfe greift er nicht ein. Als er trotzdem einmal das W o r t ergreift, stellt es sich heraus, d a ß er die junge ungarische Literatur nur noch vom Hörensagen kennt. Sein 40jähriges Schriftstellerjubiläum wird im J a h r e 1910 von der Nation mit fürstlicher Pracht begangen, so wie noch nie ein Schriftsteller auf ungarischem Boden gefeiert wurde. Sein Geburtsdorf wird nach seinem N a m e n benannt, der Staat schenkt ihm das Gut seiner mütterlichen Ahnen, von seinen W e r k e n erscheint eine Prachtausgabe, der König schickt einen hohen Verdienstorden, und die Akademie wählt ihn zu ihrem Ehrenmitglied und die Budapester Universität zum Ehrendoktor. W i e erhebend diese Ehrung auch ist, so hat sie doch einen etwas demonstrativen Charakter. Die Erde grollt, der Boden schwankt und in der L u f t kreischen die Sturmvögel, die Herrenklasse bringt dem Dichter ihre Huldigung dar, der ihr mit Treue, Liebe und seinen Talenten gedient hat. Nach der Feier vergehen kaum zwei Wochen und die Fahnen der Nation legen einen Trauerschleier an: Koloman Mikszäth ist auf ewig dahingegangen. Mikszäth findet im letzten Jahrzehnt seines Lebens einen späten Rivalen in dem alten Karl Eötvös, der älter als er ist und der auf D r ä n g e n seiner Verleger seine ein wenig zerfließenden Erzählungen und Erinnerungen nacheinander erscheinen läßt. Auch er belebt eine vergangene Zeit, und seine kräftige ungarische Sprache, seine wurzelecht wirkende Denkart bedeuten fast eine Neuheit in jener Zeit, die schon langsam das Ungarische zu vergessen beginnt. Das Schicksal von Eötvös ist, daß man ihn viel lobt, seine Bücher in vielen Exemplaren verkauft, aber wenige ihn lesen, die Schriftsteller halten ihn f ü r einen Dilettanten mit gutem Geschmack, worin sie auch sicherlich Recht haben. Im literarischen Leben spielt er keine Rolle, sein literarisches Lebenswerk war in seiner Zeit ein wahrer Anachronismus, heute ist es eine wertvolle Schatzkammer des Lebens und der Gestalten einer dahingegangenen Zeit. Eötvös, dem 60. Lebensjahre nahe, trat als „ A n f ä n g e r " auf, seine literarische L a u f b a h n war eine ein paar J a h r e dauernde vorübergehende Glanzzeit. Seine zwei assimilierten Zeitgenossen, Eugen Rakosi und Joseph Kiss, können bereits auf eine Vergangenheit von mehreren Jahrzehnten zurückblicken. Sie beide sind die

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1. Das literarische Leben

erklärten literarischen Führer der Zeit: eine wahrlich symbolische Erscheinung. Räkosi hatte zwar seine besten W e r k e schon geschrieben, aber durch das „ B u d a p e s t i Hirlap", das von den gesamten Tageszeitungen sich am eindringlichsten mit der Literatur beschäftigt, lenkt er durch seine Urteile und durch sein Lob das literarische Interesse breiter Schichten. Er ist eine Autorität, mit der jeder rechnen muß. Zu seinem 70. Geburtstage-schreibt Franz Herczeg über ihn in den „ Ü j Idök": „ W e n n Eugen Räkosi altert wie die Eiche, dann verrät er — zum ersten M a l in seinem Leben —, daß germanisches Blut in seinen Adern fließt. Die Engländer und die Deutschen sind diejenigen, die im 70.—80. Lebensj a h r e Bücher schreiben und Heere befehlen, neue Reiche gründen und in ihren Mußestunden Holz hacken. U n d die U n g a r n sind diejenigen, die sich im 50. Lebensjahre einen Lehnstuhl kaufen, in dem sie bis zum Ende ihres Lebens die Pfeife rauchen." Eugen Räkosi, die germanische Eiche, lastete mit dem ganzen das Sonnenlicht auffangenden Gewicht ihres dynastischen Laubwerkes auf dem ungarischen literarischen Leben. Es gehörte eine wunderbare U r k r a f t dazu, daß in diesem Schatten ein neues ungarisches Leben emporsprießen konnte. Joseph Kiss spielte in den 90er J a h r e n noch die Rolle des Hauptmäzens der jungen Talente, und dies war er auch, solange sie seine Kreise nicht störten und aus jener Schicht kamen, aus der auch er hervorgegangen war. Zur Zeit der Jahrhundertwende genoß er stolz seine „königliche Macht". Ein Heer von Höflingen umgab ihn, und es gab keinen ungarischen Lyriker, der es mit ihm hätte aufnehmen können. V a j d a war gestorben, die großen Epigonen verstummten nacheinander, von Reviczky und Komjäthy sprach niemand mehr, Szabolcska, Kozma und Lamperth aber erwiesen sich nicht als gefährliche Rivalen. Es gab ein paar Jahre, wo man mit einigem Recht sagen konnte, daß er der „größte" ungarische Lyriker der Zeit sei. Diese Bewertung war aber relativ: sie bezeichnete nicht seine den Zeiten standhaltende, absolute Größe, sondern den Tiefpunkt des vorübergehenden Verfalls der ungarischen Lyrik der Zeit. Dennoch wirkte sie eine lange Zeit hindurch verwirrend und entwickelte in ihm selbst einen cäsarischen Stolz. Als dann die Jungen „an seinem Fenster zu klopfen begannen", ergriff ihn eine maßlose Erbitterung und Eifersucht. Er war niemals fruchtbarer als in den ersten J a h r e n des J a h r hunderts, niemals wünschte er fanatischer Ehrungen und Anerkennung als jetzt. Als er sich dem 60. Lebensjahr näherte, schreibt

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er seine ersten patriotischen Gedichte, in der Hoffnung, daß das amtliche Ungarn von ihm Kenntnis nehmen würde. Aber nur sein eigenes Blatt nimmt unter feierlichen Äußerlichkeiten Notiz von diesem Jubiläum und jene Schriftsteller, die der Dichter um die Abfassung von Preisoden gebeten hatte. Joseph Kiss beginnt in seiner Erbitterung wieder, revolutionäre Lieder zu dichten und belebt die Erinnerung an seinen Großvater Reb Mayer Litväk. Im Jahre 1907 feiert er wiederum, diesmal das 4. Jahrzehnt seiner Schriftstellertätigkeit und das 2. Jahrzehnt der ,,A Het". Damals läßt ihn zwar sein erprobter Generalstab mit Ignotus an der Spitze im Stich, aber jene konservative Schicht, die bisher befremdet auf ihn gesehen hatte, beginnt, ihn jetzt zu entdecken. Den Grund für diese eigentümliche Erscheinung erklärt der Jahrgang 1907 der ,,Üj Idök": „Es ist unser Interesse, daß sich jetzt der dankbare Blick der Nation Joseph Kiss zuwende, denn auf fast jedem Gebiete unseres geistigen Lebens wütet ein wahrer Bauernaufstand. Graue Mittelmäßigkeiten von phantastischer Kühnheit hausen in den Burgen des Geistes. In solchen Zeiten ist es Pflicht und Verdienst, den wahren W e r t zu erkennen und zu retten." So treffen sich Eugen Rakosi und Joseph Kiss wieder. Einstmals hatten sie sich gemeinsam auf den W e g gemacht, schon vor sehr langer Zeit. Dann hatten sich in den 90er Jahren ihre Wege getrennt, der eine wurde ein Apostel des ungarischen Chauvinismus, der andere verkündete die Suprematie des westlichen Geistes und erklärte jeder Ungartümelei den Krieg. Der gemeinsame gefährliche Gegner bringt sie zusammen. Den 70. Geburtstag von Joseph Kiss feiert im Jahre 1913 schon die „ganze Nation", Eugen Rakosi hält die Festrede und in der Reihe der Feiernden fehlt auch die KisfaludyGesellschaft nicht. So brauchen wir uns nicht zu wundern, daß die Jungen, die geneigt gewesen wären, in Kiss ihren Meister zu ehren, auf ihn nicht mehr rechnen konnten. „Nur das wäre nötig gewesen, — schreibt der Jude Max Fenyö im Jahre 1910 im „Nyugat" (Westen) — daß er ohne Neid, vielleicht mit ein wenig Liebe auf die Sänger der neuen Lieder der neuen Zeiten gesehen hätte, daß er die literarischen Gesichtspunkte wenigstens ebenso schätzen würde wie die wirtschaftlichen. U n d die literarische Entwicklung hat Joseph Kiss schön beiseite geschoben. Noch niemals ist ein Baumeister von einem niedrigeren T u r m heruntergefallen." Als Paul Gyulai von der Leitung der Kisfaludy-Gesellschaft zurücktrat, gelangte auf Empfehlung Eugen Rakosis sein Schwager Zsolt Beöthy in den Präsidentensessel. Beim Scheiden Gyulais

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schreibt Andreas Kozma im J a h r e 1901 traurig an Szabolcska: „Es ist noch ein Glück, d a ß Beöthy da ist, der kann noch mit seiner unendlichen Liebenswürdigkeit und seiner geschickten Taktik den äußeren Schein wahren, daß wir mit Pietät an die große Vergangenheit denken und daß die viel kleinere Gegenwart eine noch größere Z u k u n f t anstrebt." Diese paar W o r t e charakterisieren vortrefflich die literarische Führertätigkeit Beöthys, über die sich zur gleichen Zeit auch Ignotus äußert: „Gyulai war ein Richter, der urteilt, Beöthy ist ein Rechtsanwalt, der ausgleicht." Möglichst mit jedem gutstehen und den Kampf vermeiden, das mochte irgendwie das Leitprinzip Beöthys sein. Vergebens versuchte man sowohl von rechts als auch von links seine Meinung über die neuen Zeiten herauszuprovozieren, vergebens erwartete man von ihm Führung und Deutung, er hüllte sich in den T a l a r seines großen Ansehens und schwieg. In seinen Festreden, die er in der Kisfaludy-Gesellschaft hielt, verstand er es virtuos, mit schönen W o r t e n nichts zu sagen. In sein Notizbuch trägt er klagend ein (man hatte ihn viel dazu gedrängt): „ W a r u m schreibe ich nicht über futuristische (sie!) Dichter, über Ady und Genossen? Diese kann man nur auf zweierlei Weise behandeln, humoristisch oder pathologisch. Ich bin aber weder Humorist noch Psychiater." Man hätte von dem Präsidenten der Kisfaludy-Gesellschaft vielleicht erwarten können, daß er f ü r seine Überzeugung auch offen eintreten würde, weil der Kampf noch immer mehr wert ist als das Schweigen. Aber auch das ist eine schöne Aufgabe: sich in die Vergangenheit zu versenken, auf die alten W e r t e hinzuzeigen, das historische Bewußtsein der Zeit zu vertiefen, eine Brücke zu schlagen, die das Gestern mit dem Morgen verbindet. Niemand hätte Beöthy diese Zurückhaltung übelnehmen können, wenn er darauf nicht einmal, ein einziges Mal, herausgetreten wäre. Als man das Schauspiel „Liliom" von Franz Molnär spielte, ging er auf die Bühne, stellte sich dem jungen jüdischen Schriftsteller vor und begrüßte ihn warm. Er begnügte sich nicht mit dieser Auszeichnung, zusammen mit Bernhard Alexander empfiehlt er ihn im Jahre 1911 mit bewegten W o r t e n der von ihm geleiteten Gesellschaft als Mitglied. In dieser Empfehlung lesen wir unter anderem: „Das Talent Molnärs . . . ist in der jungen ungarischen Literatur des letzten Jahrzehnts zweifellos das hervorragendste. . . Er ist der einzige, der im heutigen ungarischen Leben für seine Dichtung ein ganz neues Gebiet gefunden hat. . . In den kleinen Helden der Jungen der Pal-utca pulst die Seele des stärker werdenden

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und künftigen Ungartums." Er schließt seine Empfehlung damit, daß er dies als seine Pflicht gegenüber der Kisfaludy-Gesellschaft angesehen habe. (Molnär ist damals trotzdem durchgefallen, die Gesellschaft widersetzte sich in großer Mehrheit ihrem Präsidenten, aber all das war mit keinerlei Folgen verbunden.) Neben Beöthy stieg der Sekretär der Gesellschaft, Julius Vargha, immer höher, als das lebendige Gewissen einer großen Vergangenheit. In seinen Sekretärsberichten läßt er auch jetzt von J a h r zu J a h r die Gefahrenglocke ertönen, sein T o n wird immer bitterer, und während sich seine Dichtung vertieft, zeigt er immer weniger Verständnis f ü r die „neuen Lieder der neuen Zeiten". U m ihn gruppieren sich die prinzipientreuen Elemente der Gesellschaft, zwischen denen die einstmaligen weltanschaulichen Gegensätze allmählich verblassen und der Altersunterschied zu nichts zusammenschrumpft, so Emil Äbränyi, Alexander Endrödy, Edmund Jakab, Michael Szabolcska, Nikolaus Bärd und sogar Andreas Kozma. „ W e r in seiner Jugendzeit nicht revolutionär war, hat kein Herz, wer im Alter nicht Reaktionär ist, hat keinen Verstand", schreibt in dieser Zeit in der ,,A H e t " ein junger Schriftsteller, der später den Präsidentensitz der Gesellschaft einnimmt: Geza Voinovich. Diese Dichter hatten schon den größten Teil ihrer L a u f b a h n beendet, hatten schon lange das revolutionäre Fieber der Jugend durchgemacht, schreiben Kuruzzenlieder, „ungarische Symphonien" und dörfliche „Nachrichten", schauen in die Vergangenheit zurück und ehren Stephan Tisza. Es sind die Epigonen der Epigonen, das letzte sich glättende Kräuseln eines großen Wellenschlages. M a n tat ihnen unrecht, wenn man sie der neuen Lyrik gegenüberstellte. Sie sind alle Dichter vom Ausgange des Jahrhunderts mit einem bestimmten Platz innerhalb der Zeit und hier und da mit einem bleibenden originellen Ton. Im neuen J a h r h u n d e r t bedeutete f ü r sie im großen und ganzen die Kisfaludy-Gesellschaft d a s literarische Leben, ihre Feierlichkeiten, Festversammlungen, Preisausschreiben und Wahlen. Die Petöfi-Gesellschaft erhebt nach dem Tode Jokais Franz Herczeg in den Präsidentensessel. Er ist der berufenste Erbe jenes nationalen Thrones, den ein paar kurze J a h r e noch Mikszäth innehatte. Die ungarische Nation braucht immer ein Idol, eine „Weltberühmtheit", der sie sich rühmen kann. Die literarische Macht und das Ansehen Herczegs wachsen immer mehr. Er ist der Freund und W a f f e n g e f ä h r t e Stephan Tiszas, Redakteur der „ Ü j Idök", dann auch des „Magyar Figyelö" (Ungarischer Beob-

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achter). Sein W o r t hat in der T a g e s p r e s s e Gewicht, er ist der beliebteste Dramatiker des Nationaltheaters, seine Romane werden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er mißbraucht seine Macht nicht und gibt seine kühle und vornehme Zurückhaltung nicht einen Augenblick auf. Immer mehr vertieft er sich in die Problematik des Ungartums, aber er selbst steht immer irgendwie außerhalb. In seinem ersten historischen Roman, in den „ P o g ä n y o k " (Heiden), ist das U n g a r t u m nur Rahmen, er schreibt von den Petschenegen, sympathisiert mit den revolutionären Heiden, aber macht das Christentum zum Sieger. Als er über seine eigene Zeit in einem D r a m a „ Ü j Mohäcs elött" (Vor einem neuen Mohäcs) ein aufrüttelndes Urteil sprechen will, überlegt er es sich und verlegt die Ereignisse des D r a m a s in die Vergangenheit und nach Byzanz. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er davor zurückschreckt, Farbe zu bekennen, dazu ist er ein vielzu echter Dichter und großer Künstler. Er ist sich auch sicher seiner L a g e sehr bewußt, und die H e m mungen, die sich aus seiner A b s t a m m u n g ergeben, was in dieser Zeit eine Seltenheit ist, verdienen nicht T a d e l , sondern Anerkennung. Er sucht nie Ehrungen, und wenn ihn die ungarische Nation zu ihrem größten Dichter macht, so geschieht das wenn auch nicht gegen seinen Willen, so doch auf j e d e n Fall ohne seine aktive Mitwirkung. Er blickt nicht mit Antipathie auf die neue Literatur. Er selbst will A n d r e a s A d y in der Petöfi-Gesellschaft als Mitglied empfehlen. In seiner Zeitschrift räumt er nicht nur anerkennenden Rezensionen Raum ein, sondern auch den Werken einzelner junger Dichter. W e n n sie nicht zu großen L ä r m machten, die politischen Leidenschaften nicht so sehr aufrührten und den politischen Führer nicht so sehr gegen sie aufbrächten, würde er vielleicht auch Partei für sie ergreifen. Er ist keine kämpferische Natur, er vermeidet die Gegensätze und schont Empfindlichkeiten. Er streitet sich nicht, sondern arbeitet. Er ist eine edle germanische Eiche (um uns seines eigenen Vergleiches zu bedienen) auf ungarischen Boden verpflanzt, von der ungarischen Sonne mit L a u b gesegnet, eine typische, aber sympathische Persönlichkeit der Zeit der Assimilation. Seine Rolle und der G l a n z seiner L a u f b a h n kennzeichnen nicht ihn, sondern die ungleichartige ungarische Gesellschaft. Sein N a m e wird in dieser Zeit immer häufiger zusammen mit dem Gardonyis erwähnt, der, nachdem er im J a h r e 1901 den Roman „ E g r i C s i l l a g o k " (Erlauer Sterne) hatte erscheinen lassen, auf einmal in die erste Reihe der zeitgenössischen Romanschriftsteller gelangt. Zur gleichen Zeit erringt er mit seinem Volksstück

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„A bor" (Der Wein) im Nationaltheater einen großen Erfolg. Nach langer Zeit gelangt zum ersten Mal das wirkliche Volk wieder auf die Bühne. Seine Fruchtbarkeit als Schriftsteller ist außerordentlich groß. Seinem ersten historischen Roman folgt „A läthatatlan ember" (Der unsichtbare Mensch), dann „Isten rabjai" (Die Gefangenen Gottes). Alle drei bilden bald eine beliebte Jugendlektüre. Er schafft einen historischen Roman von neuem Typus, in dem nicht die Schilderung der Zeit wichtig ist, auch nicht das Lebensbild der allgemein bekannten historischen Persönlichkeiten, sondern die Seelenwelt der kleinen Leute vergangener Zeiten. U n d während in diesen W e r k e n der Dichter seine Objektivität bewahrt, trägt er in seine Gesellschaftsromane seine Lyrik hinein: seine enttäuschte Liebe zum Leben, seine ein wenig wirre Philosophie und seinen Abscheu vor der W e l t der Frau. Der Dichter selbst zieht sich schon im J a h r e 1897 aus dem literarischen Leben in seine Einsiedelei zu Erlau zurück, in seine abgeschlossene Welt, zu seinen Büchern, wohin nur selten der L ä r m des Lebens dringt. Zur neuen Literatur führt von hieraus keine Brücke. Und doch ist seine ewige Sehnsucht die große Lyrik. „Jetzt da ich der T ü r des Heiligen Petrus schon sehr nahe bin, — schreibt er im Jahre 1916 an Szabolcska — blicke ich mit einer gewissen Langweile auf die Arbeit meines Lebens. Wozu diese vielen Geschichten, die ich in Fronarbeit zusammengeschrieben habe! Sie werden gelesen und weggeworfen. Nur das Lied ist schön, das Lied ist ewig!" Die neuen Lieder verstand er nicht mehr. Auch seinen Zeitgenossen Viktor Räkosi, den immer lustigen Spaßmacher, führt der W e g am A n f a n g des Jahrhunderts zur ungarischen Vergangenheit und zur ungarischen Problematik. Die Erzählungen ,,Korhadt fakeresztek" (Verfaulte Holzkreuze), aus der Zeit des Freiheitskampfes, ernten mit ihren warmen und gefühlvollen Rückerinnerungen fast den gleichen Erfolg wie die ein wenig leichten Witze von Sipulusz. (Unter diesem Decknamen schrieb er seine humoristischen Erzählungen.) Sein Roman „Elnemult harangok" (Verstummte Glocken) zeigt in der Literatur zum ersten Mal, wie man die Nationalitätenprobleme mit ernster Bestürzung zu erkennen beginnt. Als ob Siebenbürgen schon unter rumänischer Herrschaft stünde, so wirkt der Roman, wenn wir ihn heute lesen. Eine aufrüttelnde Anklage gegen den ungarischen Staat, der das ungarische Volk in einem gefährdeten Grenzgebiet gleichgültig untergehen läßt. Rakosi geißelt die Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des Volkes, die öffentlichen Skandale

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und den Hochmut des Adels in diesem Buche, in dem sich die beginnende Unzufriedenheit zum ersten Male meldet. Unter den Romanschriftstellern ist Zoltan Ambrus der einzige, der sich mit verstehendem Herzen der Jugend zuwendet. Nach seinem Austritt aus der Redaktion der „A H e t " arbeitet er als Schriftleiter bei verschiedenen Zeitschriften, die zwar nur ein kurzes Leben haben, durch die er aber in ein nahes Verhältnis zu den jungen Talenten kommt, die er kennt und liebt. Merkwürdigerweise nimmt ihm das niemand übel. Die „ A l t e n " schätzen ihn ebenso sehr wie die Jungen. Er ist ein anerkanntes Mitglied der offiziellen literarischen Gesellschaften und ein gern gesehener Gast an den Kaffeehaustischen. Zu einem solchen Ansehen kann man in der lebenden ungarischen Literatur mit nur literarischen Schöpfungen nicht kommen. Seine Persönlichkeit strahlte irgendeine unsichtbare K r a f t aus, die Ehrfurcht gebot. Er war ein „Herr", ein wirklicher ungarischer H e r r in einer Talmiwelt, zurückhaltend und vornehm, ein europäischer Geist, der nicht mit exotischen N a m e n um sich warf, sondern die innerste Seele der westlichen, besonders französischen Literatur kannte. Den W i r r w a r r des ungarischen Lebens sah er nur von oben, er mischte sich nicht in die Kämpfe ein, er erwartete von niemand etwas und stand niemandem im Wege. Seine großen Romane waren nur für wenige bestimmt, sie erzogen Schriftsteller und gefährdeten niemand in seiner Popularität. Er setzte sich nie in Worten, Artikeln und Abhandlungen f ü r die junge Literatur ein, aber er lieh seinen Namen dem Titelblatt der Zeitschrift „ N y u g a t " (Westen), und diese Geste fiel damals schwerer ins Gewicht als ein noch so kämpferischer Artikel. So sehr Ambrus die billige Öffentlichkeit des literarischen Marktes mied, so sehr war sie das Lebenselement Alexander Brodys. Am A n f a n g des Jahrhunderts macht auch er sich von Joseph Kiss unabhängig, er gründet unter dem Titel „Feher Könyv" (Weißes Buch) eine Monatszeitschrift, wo er selbst j e d e Seite schreibt und wo er große revolutionäre Enthüllungen verspricht. Nach kaum einem J a h r e kündigt er gebrochen den Zusammenbruch seines Unternehmens an: „Frierend und gedemütigt sehe ich, daß ich von dem, was ich geplant und sogar versprochen habe, kaum etwas eingelöst habe. . ." Dennoch läßt er sich nicht entmutigen, er wendet sich neuen Plänen zu, schreibt nacheinander Theaterstücke, die von der Budapester Presse mit lautem Hosianna aufgenommen oder erbittert angegriffen werden. Es sind chaoti-

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sehe Schöpfungen, in denen sich eine Talmivolkssprache mit dem jüdischen Jargon der Hauptstadt vermischt. Er steht außerhalb der offiziellen Gesellschaft, er ist ein echter Bohemien, er wagt vieles, aber im entscheidenden Augenblick schrickt er zurück. Zuweilen sieht er überraschend klar, aber seine Überzeugungen flakkern nur auf, erlöschen schnell oder wechseln überraschend. Im J a h r e 1904 schreibt er über Stephan Tisza: „In dem Augenblick, in dem alle sein Lob singen, sehe ich den Schatten seines glänzenden Sturzes. Er wird 20 J a h r e Ministerpräsident sein — das sagen auch jetzt schon seine Gegner. W i r d aber diese Monarchie noch 20 J a h r e in dieser Form bestehen?!" — Gleichzeitig sagt er über Räkosi: „Er war es, der dem Ungartum die meisten vergifteten, falschen und schädlichen Schlagworte gab. . . Er ermunterte die Nation in ihrem Hochmut und schürte ihren verhängnisvollen H a n g zur Ungerechtigkeit, er lehrte sie sich mit einer chinesischen Mauer zu umgeben. . . Der Kreuzritter wurde im Kampfe groß, aus dem Dichter und dem Theaterdirektor wurde der größte oder vielleicht der einflußreichste Held der ungarischen Seele." Er wirkte auf die junge Generation nicht nur durch seine geniehaft großen Gesten ein, sondern auch durch das, was er zu sagen hatte, trotzdem ging er eigene Wege, verschlungene Wege, auf denen man ihm nicht folgen konnte. Der „Nyugat" weigerte sich, ihn an sich zu fesseln. Im Jahre 1903 schreibt Geza Voinovich folgende bedeutsame Worte in der ,,A Het": „Der Krieg der Alten und der Jungen geht jetzt seinem Ende entgegen. Die junge Generation hat sich aus eigener K r a f t emporgekämpft." Dieser Satz ist eine interessante Äußerung des literarischen Bewußtseins der Zeit. Die junge Generation, auf die Voinovich hier anspielt, ist die junge Garde der „A H e t " : Ignotus, Heltai, Szomory, Szilägyi, Thomas Kobor und die übrigen jüdischen Dichter. Der „Krieg" der 90er Jahre hat sich wirklich gelegt. Die Zeitschriften, die die Opposition zur „A H e t " und zur sogenannten jüdischen Literatur bildeten, waren der Reihe nach eingegangen. Die letzte Nummer der „Magyar Szemle" (Ungarische Rundschau), der kämpferischsten und ausdauerndsten Zeitschrift, erschien im Jahre 1903. Der Laufbahn der Jungen, der kaum 30jährigen jüdischen Schriftsteller, stand nichts mehr im Wege. Es gelang ihnen, sich überall durchzusetzen. Ihre Literatur bildete nun „die neue ungarische Literatur", ihre Generation war „die große Schriftstellergeneration". W a s kümmerten sie sich darum, daß sich die offiziellen literarischen Gesell-

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schaften vor ihnen verschlossen, wo ihnen der Z u g a n g zur ganzen ungarischen Öffentlichkeit o f f e n stand. V o n der „ A H e t " zogen sie sich allmählich zurück. T h o m a s Kobor, der noch lange getreu zu ihr hält, erhält bei der neuen Zeitung Stephan Tiszas, bei der „ T J j s ä g " (Neuigkeit), eine vornehme Stellung und schreibt nun begeisterte Leitartikel und „ M a h n u n g e n " im Interesse der konservativsten ungarischen Politik. In seinen Romanen bleibt er sich selbst und seiner geschlossenen jüdischen Weltanschauung treu. — Sein Freund Ignotus unterstützte die Politik Andrässys, des Gegenspielers Tiszas. Durch seine literarischen Essays und kämpferischen Artikel wirft er sich langsam zum literarischen Führer seiner Zeit auf. Die jungen jüdischen Intellektuellen scharen sich schon früh um ihn, der „ N y u g a t " (Westen) aber verschafft ihm das Forum, das seinem N a m e n dem literarischen Bewußtsein für immer einprägt, da seine Gedichte und Novellen schnell vergessen wurden. Die Generation A d y s beschenkte ihn f ü r seine zeitlich bedingte Geste mit etwas, das er sich aus eigener K r a f t nie hätte erkämpfen können, mit der literarischen Unsterblichkeit. — A u s der biegsamen G a r d e der „ A H e t " bekommt j e d e politische Schattierung ihren K ä m p f e r . Es waren nur wenige, die die Literatur nicht mit der Politik verquickten. Zu ihnen gehörte auch Eugen Heltai, der im J a h r e 1904 einen durchschlagenden E r f o l g mit den ungarischen Liedern des ,.Janos vitez" (Ritter J o h a n n ) erringt. M a n las auch gern seine leichten und heiteren Erzählungen, in denen er sich als der gleiche Bohemien zeigt wie in seinen Anfängergedichten. Lachend verspottet er die bürgerliche Moral, wobei er hier und da die falschen T r ä n e n der Sentimentalität fallen läßt. M a n pflegte Murger anzuführen, wenn man von ihm sprach, aber in seinen Schriften kommt doch deutlich der Unterschied zum Ausdruck, der zwischen der Budapester Theresienstadt und dem Quartier L a t i n besteht. Im literarischen Leben spielt er eine immer bedeutendere Rolle, als Direktor des Lustspieltheaters, dann als Leiter des Athenaeum-Verlages. Als Desider Szomory aus Paris zurückkehrte, wurde er bald der gesuchte, wenn auch viel angegriffene Autor des Nationaltheaters. Er schreibt historische Stücke von großer Konzeption, in denen das dramatische Leben pulsiert, und der E r f o l g wäre ihm in dieser liberalen Zeit sicherlich einstimmig zuteil geworden, wenn seine Sprache, die sich selbstherrlich über alle elementaren Gesetze der G r a m m a t i k hinwegsetzt und nach irgendeiner sonderbaren Musikalität strebt, nicht den W i d e r s t a n d herausgefordert hätte. Der „ S z o m o r i s m u s " wird gleichsam zum Begriff

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und beschäftigt sogar das Parlament. Das Budapester Publikum strömt in überschwenglicher Begeisterung ins Theater, dasselbe Publikum, das mit wollüstigem Schaudern die naturalistischen Gedichte Geza Szilägyis liest. — Das einzige christliche Mitglied verwandten Geistes, das zu diesem Lager gehört, ist Julius Pekar, den am A n f a n g des Jahrhunderts die Kisfaludy-Gesellschaft mit einiger Zurückhaltung und mit väterlichen Ermahnungen in die Reihen ihrer Mitglieder aufnimmt. Pekar verspricht auch, sich zu bessern, an Stelle schlüpfriger französischer Themen wählt er die Erinnerungen der historischen Vergangenheit. Seine Assimilation an die Kisfaludy-Gesellschaft ist ebenso radikal wie früher an die „ A Het". Wir haben die Heerschau der Jahrhundertwende beendet. Wir sahen, wie sich fünf literarische Führer, nicht so sehr durch das Gewicht ihrer Schöpfungen wie eher durch ihre Rolle in dieser Zeit, aus der mehr oder weniger grauen Schar der Mittelmäßigkeiten heraushoben, nämlich Zsolt Beöthy, Eugen Räkosi, Joseph Kiss, Franz Herczeg und Ignotus (Veigelsberg). Zsolt Beöthy lebt in der exklusiven Sphäre der Akademie, der Universität und der Kisfaludy-Gesellschaft, zur Literatur seiner Zeit sucht er, wohl mit Absicht, kaum in eine nähere Beziehung zu kommen. Die eigentlichen Führer sind die letzten vier. Ihnen kann kein junger Schriftsteller aus dem Wege gehen, der leben und sich durchsetzen will. Denn sie verfügen über die Zeitschriften, ihr Urteil leitet gleicherweise die Verleger wie das Publikum. Alle vier sind erst seit kurzer Zeit assimiliert. U m sie kreist das literarische Leben der Zeit. Die älteren Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts ungarischer Abstammung ziehen sich immer mehr in die Einsamkeit des Alters und des Vergessens zurück. Ihre Leserschaft schrumpft zu einem kleinen Lager zusammen, das noch treu zu den öffentlichen Festsitzungen der literarischen Gesellschaften geht und auf die offiziellen Ausgaben der Akademie abonniert. Auf dem Forum macht sich vor dem neuen jüdischen-deutschen-ungarischen Publikum der Hauptsadt, abgesehen von einigen wenigen als Bannerträger der ungarischen Nation vorgeschobenen Größen, das einstmalige, einmal viel angegriffene und geschmähte Lager der „ A H e t " breit. Das Publikum paßt sich ihnen in Struktur und Geist allmählich an. Ihnen gehört die Tagespresse, das Theater, ihnen gehören „die besten Spalten der besten Blätter". Dies ist die Zeit, wo es dem ausländischen Betrachter scheint, als wenn es keine wurzelechte

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ungarische Literatur gäbe. Carl Busse schreibt in seiner bekannten Geschichte der Weltliteratur im J a h r e 1913: „Das reine Magyarentum hat immer an einem Mangel kulturschöpferischer Kräfte gelitten." Denn man sieht, daß seine Literatur fast alles Schöpfungen von deutschen, slawischen und jüdischen Abkömmlingen sind: „ U n d schon daraus ergibt sich ihre internationale Bedeutungslosigkeit." Zur selben Zeit verkündet der rumänische Dichter und Politiker Oktavian Goga in einem ungarländisch rumänischen Blatte mit stolzer Befriedigung: „Die ungarische Nationalliteratur hat in der Dichtung mit Petöfi und Johannes Arany, in der Prosa mit Mikszäth ihr Ende gefunden und hat der Budapester jüdischen Nationalliteratur Platz gemacht, die in unseren T a g e n herrscht. Die ungarische Literatur ist bei ihrer gegenwärtigen Produktion nicht fähig, uns zu magyarisieren, sie könnte uns höchstens semitisieren. D a f ü r haben wir uns aber zu sehr mit den T a n n e n w ä l d e r n befreundet, in denen sich H e r r Hugo Veigelsberg (Ignotus) so schlecht fühlt." Diese Erklärungen sind nicht deshalb bedeutungsvoll, weil sie wahr wären, sondern weil sie von dem Schein Zeugnis ablegen, den die damalige Äußerung der ungarischen Literatur erweckte. Damals beginnt „die ungarische Literatur", die Bühnen des Auslandes zu erobern. Damals beginnen sich die ausländischen Verleger für die ungarische Romanproduktion zu interessieren, damals bildet sich eine Achse Budapest-Wien-Berlin, aber auf dieser Achse laufen nur Wagen, die mit dem jüdischen Firmenschild versehen sind. Dies ist der Rahmen, die Situation und der Geist, der die jungen Schriftsteller, die um die Jahrhundertwende etwa 20 J a h r e alt sind, erwartet. Es kommen viele, aus allen Bereichen des ungarischen Lebens, sie setzen sich alle auf verschiedene Art durch und werden mit verschiedener Wertbezeichnung in die Geschichte der ungarischen Literatur einziehen. Es gibt einige, die bis zum Weltkrieg noch nicht zu W o r t kommen, andere, die f r ü h beginnen, andere wieder, die heute schon fast vergessen sind, und zum Glück f ü r die ungarische Literatur auch solche, deren Lebenswerk noch immer kräftig ist und sich weiterentwickelt. W e n n wir über sie alle schreiben wollen, können wir notgedrungen nur eine f r a g mentarische Skizze geben. Wieviele Talente wurden am A n f a n g ihrer Entwicklung zeitweise auch von den scharfsinnigsten Kritikern als Genies ausposaunt, von denen wir heute schon nicht einmal den Namen mehr wissen. Das W e r k , das die Zeiten überdauert, ist ein seltenes Geschenk. Aber wenn auch das W e r k ver-

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gessen wird, so zeichnet sich doch die Rolle in der Geschichte ab, die der Schriftsteller in seiner Zeit gespielt hat. W e r k und Rolle charakterisieren in gleicher Weise den Schriftsteller, die Zeit und die d a m a l i g e Gesellschaft. Nach den Voraussetzungen ist es nur natürlich, daß von den j u n g e n Schriftstellern sich die jüdischer A b s t a m m u n g am ehesten durchsetzen. D a sie zum großen Teil in der Stadt oder sogar in der H a u p t s t a d t geboren sind, werden sie durch ihre früh entwickelte Intelligenz und durch ihre vielseitigen Interessen oft schon in den Schuljahren ins literarische Leben hineingerissen, wo weit geöffnete Pforten sie erwarten. Sie beginnen nicht einheitlich, wie die ihnen vorausgehende Generation, die ihnen den W e g vorbereitet hatte. D i e strukturellen und geistigen W a n d l u n g e n des ungarländischen Judentums kommen in ihnen zum ersten M a l stärker zum Ausdruck. Es kommen G e l d m a g n a t e n aus ihren Budapester Palais, und es kommen viele aus der Provinz, wo sie beinahe noch in Ghettos wohnten. Es sind verschiedene gesellschaftliche und geistige Lebenskreise, und nichts ist charakteristischer für sie und die Zeit, d a ß sich die meisten von ihnen trotzdem irgendwie auf der Mitte des Weges treffen. G e g e n Ende des 19. Jahrhunderts tauchten um den greisen Paul G y u l a i im stark konservativen Milieu der „Budapesti Szemle" (Budapester Rundschau) j u n g e jüdische Intellektuelle auf, die d a m a l s vielleicht noch von einem bürgerlichen Leben und von einer L a u f b a h n an der Universität träumen, die wir dann bald an der revolutionären Front wiedersehen werden. Zu Füßen Gyulais sitzt als treuer Schüler B a r o n L u d w i g H a t v a n y , der ein wenig degenerierte Sproß einer reichen Familie mit unermeßlichem Ehrgeiz im Herzen. B a l d wird ihm der heimische Rahmen zu eng, er sucht in Berlin sein geistiges Heim, wo er mit einem deutsch geschriebenen W e r k ungewohntes Aufsehen erregt. Nach seiner Rückkehr nach U n g a r n wird er der Mäzen der jungen Literaten, trotzdem kann er sich weder für Berlin noch Budapest entscheiden, und wenn ihn in U n g a r n irgendwelche Kränkungen treffen, ist er sofort bereit, „deutscher Schriftsteller" zu werden. — D i e „ B u d a pesti S z e m l e " bringt die ersten Artikel Oskar Jäszis, der später im „ H u s z a d i k S z ä z a d " sein Betätigungsfeld findet, und die ersten Artikel M a x Fenyös, der seine Stellung in der Wirtschaft mit seinen literarischen Ambitionen in Einklang zu bringen versteht, und schließlich G e o r g Lukäcs, der mit seinem Buch über das P a r k a s , Freiheitskampf

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D r a m a den Preis der Kisfaludy-Gesellschaft gewinnt. Ihnen allen stehen sämtliche Möglichkeiten, eine offizielle Stellung zu bekleiden, offen. Denn in den traditionellen Gesellschaften, an der Akademie und an der Universität führen Zsolt Beöthy und Bernhard Alexander das entscheidende W o r t . W a s treibt sie dennoch nach einer kurzen Rolle bei den Konservativen in das revolutionäre Lager? Ihr Blut, ihr Schicksal, ihr Gewissen oder ihr Ehrgeiz? Es ist nicht so leicht, auf diese Frage zu antworten. — In Paul W o l f n e r - F a r k a s haben sie einen Zeitgenossen, der den entgegengesetzten W e g geht. Der Sohn des reich gewordenen, populären Verlegers wird in Berlin Anhänger der sozialdemokratischen Doktrinen, er will in U n g a r n die Bildung der Arbeiter heben, schreibt Artikel im revolutionären Sinne in der Zeitschrift ,,Huszadik Szäzad" (Zwanzigstes Jahrhundert), und als ihn die Parteigänger Jäszis dort hinausdrängen, taucht er auf einmal als Anhänger Stephan Tiszas auf und beginnt als stellvertretender Redakteur der „ Ü j Idök" (Neue Zeiten) einen erbitterten Kampf gegen die neue Literatur und vor allem gegen seine Glaubensgenossen, die darin eine Rolle spielen. Er ist konservativer und nationaler als sein Chefredakteur Franz Herczeg. Die jungen Schriftsteller melden sich zuerst bei Joseph Kiss. Franz Molnär, der kaum 20 J a h r e alt ist, wird in den Stab der inneren Mitarbeiter der ,,A H e t " aufgenommen. Man sieht in ihm zunächst einen nicht unbegabten Heltai-Schüler, aber bald schlägt er einen eigenen Ton an, und seine durchschlagenden Bühnenerfolge heben ihn bald aus seiner Umgebung heraus. Er findet ernste Rivalen in Melchior Lengyel und Ludwig Biro, die zu A n f a n g des 20. Jahrhunderts noch aus den ungarischen Landstädten dem Mittelpunkt des literarischen Lebens zustrebten, der für sie nicht mehr das endgültige Ziel, sondern nur das Sprungbrett f ü r den Welterfolg bedeutet. Alexander Brody, Melchior Lengyel, Ludwig Biro und Andreas Nagy sind die gefeierten Autoren der Budapester Theater, die siegreichen T r ä g e r des „ungarischen Namens" in den vom jüdischen Geiste verseuchten europäischen Hauptstädten, besonders in Berlin und New-York, sie bezeichnen den Gipfelpunkt des geistigen Aufstrebens des ungarischen Judentums. Die Älteren waren in irgendeiner Weise noch an den ungarischen Boden gebunden, wenn m a n ihnen auch zu A n f a n g ihr Judentum und ihre Fremdheit vorgeworfen hatte. Die Jungen werden mit einstimmiger Anerkennung aufgenommen, obwohl sie aus Uberzeugung „Weltbürger" sind.

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Die Zeitschrift ,,A H é t " bringt die ersten Gedichte von Renée Erdös, die damals noch in einer Budapester jüdischen Schule unterrichtet. Ihr kühner, hemmungsloser Exhibitionismus r u f t arge Bestürzung und Aufsehen hervor. Es taucht auch der ewig kindliche Ernst Szép auf, der sein erstes Buch im Alter von 16 J a h r e n erscheinen läßt. Ernst Osvât schreibt die gediegensten Kritiken der „A Hét". Er gibt sich nicht damit zufrieden, jedes W e r k f ü r sich zu analysieren, sondern er fügt den Schriftsteller und sein W e r k in die Kette der ungarischen Entwicklung ein. Ein konservativer Geschmack prägt den Charakter seiner Besprechungen, mit warmer Anerkennung würdigt er Alexander Endrôdi und Viktor Râkosi; Franz Herczeg hält er f ü r einen bedeutenden Dichter. Bei der „A H é t " spielt er nur eine kurze Gastrolle, er bemüht sich bald, eine eigene Zeitschrift als Sprachrohr seiner Altersgenossen zu schaffen. Kaum 25 Jahre alt, ist er eine anerkannte Größe unter den Jüngsten, die sich immer dichter um ihn scharen. Er entdeckt Oskar Gellért, der noch fast ein Kind ist. Auf besonderen Seitenwegen geht Béla Révész, der Mitarbeiter der „Népszava" (Stimme des Volkes), der Dichter der Gestrandeten und der Proletarier. Sein erstes Buch erscheint im J a h r e 1899. Ein solches massenhaftes Auftreten junger jüdischer Schriftsteller — wir haben nicht alle genannt — und ihr schneller Erfolg im literarischen Leben der Hauptstadt bestätigt den Anschein, als ob die ungarische Literatur bereits vollständig überfremdet wäre. Diese Überfremdung ist aber ganz anderer Natur als in der vorangehenden Epoche. Die Generation der Ignotus-Heltai-Gruppe war in Sprache und Kultur eben erst assimiliert. M a n merkt es ihren Anfängerarbeiten noch an, daß die Umgangssprache im Elternhause deutsch war und daß noch der Geist des Ghettos über ihrer Wiege schwebte. Ihr Judentum ist durchaus rassebewußt, wenn auch nicht mehr aus religiösen Quellen gespeist. Zwischen ihnen und der ungarischen Gesellschaft steht noch eine Scheidewand. Ihr Publikum bildet sich erst, sie müssen sich erst ihren Platz unter der ungarischen Sonne erkämpfen. Die jungen Heranwüchslinge erwartet dagegen schon eine verständnisvolle und wohlwollende Leserschaft, die sich aus der neuen Intelligenz zusammensetzt. Kein Bannkreis ist mehr um sie gezogen, ihr Judentum ist nicht mehr neuartig, weder eine exotische noch problematische Erscheinung, sondern ein natürlicher selbstverständlicher Zustand. W o h i n auch ihre Augen blicken, sehen sie Geist von ihrem Geiste. Sie sind auch bereits in ungarischsprachiger Umgebung aufgewachsen, 14*

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ihre Muttersprache ist ungarisch: in ihnen erreicht die Bildungsassimilation den höchsten Grad. W e n n einzelne von ihnen auch früh in die Politik überschwenken, so halten sich die verhältnismäßig Wertvollsten, die Lyriker, von allen politischen und gesellschaftlichen Kämpfen fern. Es sind die typisch Intellektuellen, sie schweben in der W e l t des beziehungslosen Geistes, sie sind entwurzelt. Doch wie in allen Zeiten größter Bedrängnis, wenn es scheint, als ob das rassenmäßig ungarische Blut aus dem Kreislauf ungarischen Lebens ausgeschaltet sei, wird das eigentliche Ungartum wieder neu geboren. Ein unerklärlicher, fast mystischer Vorgang! Ungarischer Erde entsprossene Dichter begeben sich wie von einem geheimnisvollen Ruf angesprochen, ohne voneinander zu wissen, auf den Weg. Es ist eine eigenartige historische Erscheinung, daß fast immer die Dichter und Gelehrten neue Quellen und neue Frucht aus dem ungarischen geistigen Brachfelde wecken. Die rassische und biologische Regeneration des Ungartums, die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt, offenbart sich ebenfalls zunächst in ihrer geistigen Welt. Die meisten jungen magyarischen Dichter kommen aus der ländlichen Mittelklasse, die verhältnismäßig von fremdvölkischer Einschmelzung frei geblieben war, aus den Familien der kleinen Grundbesitzer, Beamten, Lehrer und H a n d werker, aus jener Schicht, wo noch eine reine und traditionelle Atmosphäre herrscht. Sie besuchen verschiedene Schulen, sie kennen sich noch nicht, die meisten von ihnen kommen spät zu W o r t oder setzen sich erst spät durch. Die „A H e t " des Jahrhanges 1899 berichtet über das in der Provinz erschienene erste Buch eines jungen Dichters, wobei sie über den Verfasser schreibt, „daß er ein kräftiges Talent zu sein scheine, der, wenn er einmal seine Kinderschuhe ablegen sollte, breitere und ungewohnte Spuren hinterlassen würde." Dieser Dichter ist Andreas Ady. Seine Laufbahn, auf der ihn die apokalyptischen Reiter in absonderlichen Kurven einem grauenvollen Ende entgegentreiben und über der der Stern des Unheils und seltener Begnadung leuchtet, läßt sich mit der keines anderen Menschen vergleichen, wie auch seine Dichtung eine einmalige, wunderbar strahlende Blüte des ungarischen Geistes ist. Er ist der Sohn eines adligen kleinen kalvinistischen Grundbesitzers. Nach seiner Gymnasialzeit in Zilah und nach einem abgebrochenen Studium der Jurisprudenz in Debrecen wird er Journalist. Seine erste

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bedeutendere Lebensstation ist Großwardein. Es ist eine Provinzstadt, deren geistiges Profil um die Jahrhundertwende von dem reichen jüdischen Bürgertum bestimmt wird. A d y redigiert ein radikales und oppositionelles Blatt, das vom jüdischen Kapital finanziert und vom jüdischen Geiste geleitet wird. Seine Kollegen sind sämtlich Juden. In dieser Umgebung bildet sich seine A n schauung von der ungarischen Welt. W e n n er auch außer Zeitungen und Zeitschriften nicht viel liest, ist er Persönlichkeit genug, um mit eigenen Augen zu sehen. Seine Lage formt nicht seine Uberzeugung, sondern die Perspektive seines Blicks. „Mein Glaube ist außer dem notwendigen und richtig dosierten Antisemitismus, den ich auch gegen viele Arier liebevoll nähre, — schreibt er später — der, daß Gott nur e i n Gutes für den U n g a r n geschaffen hat, den Juden. Er ist ein Gegengift, das uns gegen unser wirres und träumerisches Blut und gegen unser finsteres Orientalentum gegeben wurde, antiveronal." Können wir uns über diese Ansicht wundern? — In Großwardein erscheint im J a h r e 1903 sein zweiter Gedichtband „Mégegyszer" (Noch einmal). Seine Zeitung feiert ihn als den genialsten ungarischen Dichter. In Budapest nimmt A l a d ä r Schöpflin in der „Vasarnapi Ü j s ä g " (Sonntagszeitung) mit anerkennenden Worten Kenntnis von ihm. Alexander Bródy bringt einige seiner Gedichte in seiner Zeitschrift. Kaum findet er einigen Widerhall, als er im J a h r e 1904 Großwardein verläßt und der Frau Leda nachreist. Das lange Jahre andauernde Liebesabenteuer mit Leda in Paris, wo er seine schönsten Gedichte schreibt, nimmt seinen Anfang. Auch Frau Leda ist Jüdin, wie auch die ganze Umgebung jüdisch ist. In Paris halten sich im Sommer 1905 Eduard Kabos, Ludwig Biro, Ernst Szép und Béla Révész auf. Révész hält eine ganzes Leben hindurch neben ihm als W a f f e n g e f ä h r t e seiner durchkämpften und durchzechten Nächte aus. Ady sieht Paris mit ungarischen Augen, wie einstmals Sigmund Justh. Er schickt dem konservativ-chauvinistischen ,,Budapesti H i r l a p " (Budapester Nachrichtenblatt) unter anderem „Pariser Briefe". Er steht noch vor dem Scheidewege. Nach seiner Rückkehr nimmt ihn die radikale Zeitung Veszis, das „Budapesti Napló", auf, dann bringt ihn Révész zu der sozialdemokratischen „Népszava" (Volksstimme). Bei Ràkosi klopft er vergebens an, Joseph Kiss blickt mit neidischer Eifersucht auf ihn, die „ Ü j Idök" mißbrauchen seinen Namen. In der „Vasarnapi Ü j s ä g " erscheinen in einem J a h r g a n g vier bis fünf Gedichte, das ist aber kein Geltungsbereich f ü r seine üppige Fruchtbarkeit, keine Existenz-

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möglichkeit für ein verschwenderisches Leben. Nach dem Erscheinen der beiden Gedichtbände „Üj versek" (Neue Gedichte), 1906, und „Ver es a r a n y " (Blut und Gold) kommt er zu Ignotus, Hatvany und Osväth. Er kennt kaum einen ungarischen Dichter, Journalisten, Redakteur und Verleger, der nicht jüdischer Abstammung wäre. Die neue Jugend hört aber schon auf sein Wort. Zuerst kommen sie einzeln und ohne jegliche Beziehungen, wie Julius Krüdy, von dem schon im Jahre 1897 ein Band mit Erzählungen erschienen war (er war damals 19 Jahre alt). Auch er stammt aus dem östlichen Ungarn, aus der Nyirseg, er ist schon in sehr jungen Jahren Journalist in der Provinz, dann in Pest. Franz Herczeg, Joseph Kiss und die „Vasärnapi IJjsäg" bringen gern seine Arbeiten, es erscheinen von ihm eine Reihe Erzählungen und Romane bei den verschiedensten Verlegern, bekannt und volkstümlich wird sein Name trotzdem nicht. Seine Kollegen schätzen ihn. Aus dem Osten, aus Szathmär, kommt Margit Kaffka. Sie schafft den neuen ungarischen Frauentypus nicht nur in der Literatur, sondern sie verkörpert ihn auch im Leben. Der jüngste Redakteur Oskar Geliert entdeckt sie als Lyrikerin, dann ebnet ihr A l a d a r Schöpflin den W e g . Nach einem kurzen Aufenthalt in Miskolc kommt sie in die Hauptstadt. Ein Landsmann von ihr ist Sigmund Moricz. Er bereitet sich für die Lehrerlaufbahn vor und wird Journalist. Die „Üjsäg" nimmt ihn im Jahre 1903 in den Mitarbeiterstab auf, er ist vielleicht der einzige Christ dort. Vorläufig kennt noch niemand seinen Namen. Neben diesen Schriftstellern, die zunächst noch einsam ihren W e g gehen, können wir auch noch die Namen von Cäcilie Tormay, Koloman Harsänyi, Gabriel Olah und A l a d a r Bodor erwähnen, von denen allen die ersten Arbeiten am Anfang des Jahrhunderts erscheinen. W i r können schon die Bildung von einzelnen Gruppen beobachten. Eine solche Gruppe bildet sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Budapest im literarischen Seminar Ladislaus Negyesys. Die jungen Studenten lesen hier nicht wissenschaftliche Abhandlungen vor, sondern eigene Gedichte und Erzählungen, sie rezitieren, kritisieren und diskutieren unter der wohlmeinenden Führung ihres Professors. Sie sind der Schönheit verfallen, sie kennen die ungarischen Uberlieferungen und begeistern sich für die großen Dichter der westlichen Literaturen. Es werden fruchtbare Freundschaften geschlossen, Zukunftsträume und Gedichte ausgetauscht, und die Verbindungen reißen selbst

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dann nicht ab, wenn sich die Wege scheiden. Hier hebt sich schon Michael Babits, der Sohn des Amtsrichters von Szekszârd, der Zögling der Fünfkirchener Zisterzienser, aus der Reihe seiner Kameraden heraus. Zu seinen Freunden zählt Desider Kosztolânyi, der bald die Universität verläßt, um als Journalist frei der Kunst des ungarischen Wortes, seiner fanatischen Liebe, leben zu können. Szeged schickt Julius Juhâsz, Debrecen Arpad Toth. „Als ich in den Jahren 1900 die Pester Universität besuchte, — schreibt Julius Juhâsz in seinen Erinnerungen — war das Interesse der literarischen Jugend fast auschließlich ästhetischer Natur. . . Die größten Gegensätze lebten in guter Eintracht oder kämpften friedlich miteinander, aber ihre Stellungnahme war im allgemeinen ästhetisch. Diese Zeit war das goldene Zeitalter des Individualismus. . . Aber im Innern eines jeden lebte die ungarische Erde und die ungarische Seele, der Weinberg von Szekszârd, der Palicser See, die Hortobâgyer Puszta, das Ufer der Theiß, der Kuß unserer Mutter, das Lied unserer Amme, alles Dinge, die jenseits aller Ästhetik und Soziologie dem Künstler und dem Menschen Ton und Farbe verleihen." — Diese Jugend steht jetzt noch Andreas Ady und auch der Budapester Literatur fern. Ihr sind die Kampiparolen, das laute Parteigängertum, vielleicht auch die Sprache der Budapester Literatur fremd. Kosztolânyi setzt sich am frühesten durch. Er ist ein ständiger Mitarbeiter von Joseph Kiss, aber er schreibt auch in den „Üj Idök" und in jeder Zeitung, die ihn auch immer wieder gern sieht. Er ist keiner politischen Partei verpflichtet, weder jetzt noch später. Babits horcht in seiner „Verbannung" in Fogaras, wo er als Gymnasiallehrer angestellt ist, auf die Pester Stimmen, Arpad Toth ist Journalist in Debrecen, Julius Juhâsz wandert von einer Schule in der Provinz zur anderen. Jahre vergehen, bis sie sich wieder treffen, um an der „Lese des Geistes" teilzuhaben, wie Babits sich ausdrückt, die sich vorläufig ohne sie abspielt. Eine andere Gruppe, die vielleicht noch enger zusammenhielt, bildet sich im Eötvös-Collegium in Budapest. Die Rolle des Eötvös-Collegiums im ungarischen Geistesleben wartet noch der eingehenden Darstellung. Es wurde im Jahre 1896 als Lehrerbildungsanstalt für Höhere Schulen mit der Unterstützung von Baron Roland Eötvös nach dem Vorbild der Pariser École Normale gegründet, mit der Aufgabe, eine wissenschaftlich gebildete, in der Weltliteratur unterrichtete ungarische Lehrergeneration heranzuziehen. In ihrer reichhaltigen Bibliothek finden sowohl die

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ersten Ausgaben der ungarischen Klassiker, wie auch die neuesten Meisterwerke der französischen, der deutschen und der englischen Literatur ihren Platz. Sein Gründer und erster Leiter Geza Bartoniek liebt die Jugend und schätzt die Persönlichkeit. Er kennt nur eine Disziplin, die Disziplin der produktiven Arbeit. Die Mitglieder des Collegiums wählt er — Vorschriften bestanden f ü r ihn kaum — so aus, daß sich die Studenten rein ungarischer Abstammung immer in der Mehrzahl befinden, besonders unterstützt er die Minderbemittelten, die Söhne ungarischer Bauern, kleiner Beamten und Lehrer, denen er durch eine Freistelle den Beginn ihrer L a u f b a h n ermöglicht. Seinem Liberalismus steht jede prinzipielle Judengegnerschaft fern; daß aber trotzdem das Collegium kaum ein jüdisches Mitglied aufzuweisen hat, wird neben seinem Instinkt vielleicht auch durch die materielle Unergiebigkeit der Lehrerlaufbahn erklärt. Erstrangige Lehrer, eine reiche Bibliothek, die frei benutzt werden kann, materielle Sorglosigkeit, weite Perspektiven und große Möglichkeiten bestimmen den Geist des Collegiums. In den Sommerferien gehen die Mitglieder mit der materiellen Unterstützung des Direktors und in Begleitung seiner Empfehlungsbriefe ins Ausland, vor allem nach Paris. Mit der Ecole Normale steht das Collegium im Austausch, es bekommt von dort französische Fachkräfte, die besten Vertreter französischen Geistes. So bildet sich hier eine Gemeinschaft, die miteinander eng verschmolzen und für ein ganzes Leben bestimmt ist, eine ungarische geistige Elite. Das Collegium wird schicksalshaft gerade in dem Augenblick gegründet, in dem sich die rassische Regeneration auszuwirken beginnt. Hier erhalten zur Zeit der Jahrhundertwende jene ihre geistige Ausbildung, die berufen sind, die ganze ungarische Wissenschaft umzugestalten, wie, um nur die wichtigsten Namen zu nennen, Zoltan Gombocz, Johannes Horvath, Julius Szekfü, Tibor Gerevich und Zoltän Kodäly, die Neuschöpfer der nationalen Wissenschaften, der ungarischen Sprachwissenschaft, Literaturgeschichte, Geschichtsschreibung, Kunst und Musikgeschichte. Das Übergewicht des lateinischen Geistes in der Erziehung des Collegiums macht sie von dem deutschen wissenschaftlichen Geist, der das ganze zeitgenössische ungarische wissenschaftliche Leben unter seinem Einfluß hält, unabhängiger und ermöglicht es ihnen — im Besitze einer umfassenden europäischen Bildung —, die ungarische Eigengesetzlichkeit zum Siege zu führen. Ihr Lebenswerk reift erst nach dem Weltkriege, aber den Namen von Zoltän Gombocz treffen wir bereits in den Spalten

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der jungen kämpferischen Zeitschriften an, Johannes Horvàth erregt großes Aufsehen durch eine Studie über A d y und die zeitgenössische Lyrik, Zoltän Kodàly bietet zusammen mit Béla Bartók seine volkskundliche Liedersammlung der Kisfaludy-Gesellschaft an, das Buch von Julius Szekfü „A szamüzött Ràkóczi" (Ràkóczi in der Verbannung) bringt die ganze ungarische „öffentliche Meinung" in Aufruhr. Es ist eine große Generation, so daß wir bis zu Sigmund Kemény, Ladislaus Szalay und Paul Gyulai zurückgehen müssen, um ihresgleichen zu finden. — Aus dem Eötvös-Collegium gehen nicht nur Gelehrte hervor, sondern auch bedeutende Dichter: Desider Szabó, Géza Laczkó und Aladàr Kuncz, die f r ü h in der kämpferischen Gruppe der jungen Schriftsteller erscheinen. U n d es bringt, was auch nicht unwichtig ist, eine namenlose, aber für die ungarische Kultur begeisterte und gebildete Generation von Lehrern hervor, die in den Provinzstädten ein verständnisvolles Lesepublikum bilden. In unserer Heerschau hatten wir die Schriftsteller jüdischer und ungarischer Abstammung gesondert behandelt. W i r hatten d a f ü r unsere Gründe, wie man sofort sehen wird. Im literarischen Leben standen sich diese beiden Lager nicht nur nicht gegenüber, sondern verschmolzen im Gegenteil zu einer Waffengemeinschaft. Die jungen jüdischen Literaten schließen sich keiner jüdischen Gemeinschaft an, sie machen sich von fast allen rassischen Banden frei und streben in ihren Werken nach dem Ausdruck des allgemein Menschlichen, wobei sie die jüdische Problematik genau so umgingen wie die ungarische. Sie schätzen die Persönlichkeit und das geistige Niveau. Auf dieser Ebene, die sich über das alltägliche Leben erhebt, können sie sich leicht mit ihren ungarischen Kollegen treffen, es gibt zwischen ihnen keinerlei Reibungsflächen. Die Lebensumstände treiben sie gleichsam einander in die Arme. Irgendwie stehen sie alle außerhalb der offiziellen ungarischen Gesellschaft, die Juden, weil sie Juden und Schriftsteller, die U n garn, weil sie fast ohne Ausnahme Journalisten und Lehrer sind, also zwei Berufen angehören, die die höhere ungarische Gesellschaft nicht als ebenbürtig anerkennt. Für ihre Isolierung gibt es auch andere Gründe. W ä h r e n d in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts die stetige Kontinuität der ungarischen literarischen Generationen noch fruchtbar zur Geltung kam, brach am Ende des Jahrhunderts, wie wir gesehen haben, diese Kontinuität ab. W o h i n und an wen hätten sich

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die jungen ungarischen Dichter des beginnenden 20. Jahrhunderts wenden sollen? Die Generation, die ihnen vorausgehen sollte, war ausgefallen, unter den älteren gab es keinen großen Dichter, der sie verstanden hätte oder deren W o r t genug Gewicht besessen hätte, die Gleichgültigkeit des ungarischen Publikums zu brechen. Sie hatten nur zwischen Eugen Räkosi, Joseph Kiss, Franz Herczeg und Ignotus zu wählen. Es ergab sich ganz natürlich, daß sie sich Ignotus anschlössen. Die Generation stand, wenn sie sich auch immer mehr vor ihrem eigenen jüdischen Publikum durchsetzte, wegen ihrer seelischen Struktur und ihrer Bildung und Abstammung der offiziellen Literatur gegenüber. Ignotus schrieb mit Recht im J a h r e 1908: „Unter den Anathemas, die man jetzt unseren jungen Genossen an den Kopf wirft, gibt es kaum eins, das nicht auch schon mir an den Kopf geflogen wäre." — Der Kreis um Ignotus sah selbstgefällig und in verzerrter Perspektive in der jungen Generation, deren rein ungarischer Flügel aber durchaus anders beschaffen war als der der Ihrigen, die Bestätigung ihrer selbst und neue Hilfskräfte in ihrem Geltungskampf. Es ist daher kein W u n d e r , d a ß Ignotus sie seinem Publikum vorstellte und ihnen zum Erfolg verhalf. W e g e n der Reserviertheit, j a Antipathie der übrigen „ F ü h r e r " und des Mangels eines aufnahmefähigen ungarischen Publikums hatten die Jungen auch außer ihm keine andere Möglichkeit. Babits schreibt von sich in seinem biographischen Roman: „. . . so stand er auf dem Schlachtfeld, allein wie das Lamm, das sich zwischen zwei Herden verirrt hat, schwankend um sich sieht und selbst nicht weiß, zu welcher es gehört." So verschmolzen die beiden Flügel der jungen Generation miteinander und mit der Partei des Ignotus. Ein schärferer Beobachter hätte aber schon beim Auftreten der jungen Generation den Unterschied wahrnehmen können, der sich auf dem geistigen Antlitz der zusammenmarschierenden jungen Schriftsteller ungarischer und jüdischer Abstammung abzeichnete. W i r denken hier nicht so sehr an die rassischen und blutsmäßigen Unterschiede,