Der ferne Gott: Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur 3161467736, 9783161467738, 9783161578038


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German Pages 338 [341] Year 1998

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Forschungsüberblick
2. Methode und Aufgabe
II. Mesopotamien: Sumerische Klageliteratur
1. Sumerische Stadtklagen
2. Die Balag-Klagen
3. Die Balag-Klage UDAM KI AMUS
III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes
1. Zwei frühe Zeugnisse des Untergangs von Jerusalem
1.1. Threni 2 – Jhwh als Feind Israels
1.2. Threni 5 – Das verworfene Volk – Der im Himmel thronende Jhwh
2. Die exilischen Volksklagelieder
2.1. Psalm 74 – Jhwh ist mein König von alters her
2.2. Psalm 44 – Der Schrei des verkauften Volkes
2.3. Psalm 80 – Der zertretene Weinberg
3. Die nachexilischen Volksklagelieder
3.1. Psalm 79 – Das im Gebet gewendete Gerichtswort
3.2. Die Land-/Völkerproblematik in Ps 60/108 – Ps 83 – Ps 137
3.2.1. Psalm 60 – Das uneingelöste Wort des göttlichen Kriegsherrn
3.2.2. Psalm 108 – Das Loben Jhwhs unter den Völkern
3.2.3. Psalm 137 – An den Wassern Babylons
3.2.4. Psalm 83 – Die Erinnerung an die Richterzeit
3.3. Das klagende Volk in königlicher Gestalt: Psalm 89 und Psalm 132
3.3.1. Psalm 89 – Das Volk in der Knechtsgestalt
3.3.2. Psalm 132 – Das Volk als Gesalbter
3.4. Prophetie und Kult: Psalm 85 und Jes 63,7–64,11
3.4.1. Psalm 85 – Die geschaute Heilswende
3.4.2. Jes 63,7–64,11: Jhwh – Vater und Erlöser des Volkes Israel
VI. Zusammenfassung
Anhang
Aufstellung der wichtigsten Leitworte und Themen
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Personenregister
Sachregister
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Der ferne Gott: Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur
 3161467736, 9783161467738, 9783161578038

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Forschungen zum Alten Testament herausgegeben von Bernd Janowski und Hermann Spieckermann

21

ARTI BUS

Michael Emmendörffer

Der ferne Gott Eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur

Mohr Siebeck

Michael Emmendörffer: 1983-89 Studium der ev. Theologie in Tübingen, Bethel und Göttingen; 1989-92 Assistent an der Universität Zürich; 1992-95 wiss. Mitarbeiter an der Universität Hamburg; 1995-97 Vikar der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers; 1996 Promotion. Forschungsschwerpunkte: Psalmen; Pentateuch; altoriental. Religionsgeschichte.

Die Deutsche Bibliothek Emmendörffer,

CIP-Einheitsaufnahme

Michael:

Der ferne Gott : eine Untersuchung der alttestamentlichen Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Literatur / Michael Emmendörffer. - Tübingen: Mohr Siebeck, 1998 (Forschungen zum Alten Testament ; 21) ISBN 3-16-146773-6

978-3-16-157803-8 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

© 1998 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Weissenstein in Pforzheim gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden. Der Umschlag wurde von Uli Gleis in Tübingen entworfen. ISSN 0940-4155

Meinen Eltern

Vorwort

Die vorliegende, für die Drucklegung leicht überarbeitete Untersuchung ist im Wintersemester 1995/96 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Dissertation angenommen worden. Mein Dank gilt Herrn Prof. Stefan Timm für die Übernahme des Korreferats, sowie den Herausgebern, Herrn Prof. Bernd Janowski und Herrn Prof. Hermann Spieckermann, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Forschungen zum Alten Testament. Wenn ich dabei letzterem besonders danke, so ist dieses keine unnötige Wiederholung, sondern der besondere und herzliche Dank des ehemaligen Doktoranden an seinen Doktorvater. Herr Prof. Hermann Spieckermann hat die Beschäftigung mit dem Thema angeregt und in verständnisvoller und beherzter Weise die Durchführung der Untersuchung begleitet. In der Zeit in Zürich (1989-1992) und in Hamburg (1992-1995) hat er mir als seinem Assistenten genügend Freiraum gelassen, um die Arbeit fertigzustellen. Für die Förderung und Begleitung in den zurückliegenden Jahren, die weit über das fachliche Gespräch hinausging, bin ich ihm dankbar. Als väterlicher Lehrer hat er dem Schüler den richtigen Weg gewiesen und gleich den Lotsen der großen Hafenstadt das sichere Fahrwasser und den schützenden Hafen gezeigt. Schließlich danke ich meinen Eltern für die jahrelange Unterstützung und Hilfe, die es mir ermöglichte, mich ganz der Fertigstellung der Arbeit zu widmen. Last but not least danke ich auch meiner Frau, die mir Prov 18,22 in einem neuen Lichte hat erscheinen lassen.

Northeim, Advent 1997

Michael Emmendörffer

Inhaltsverzeichnis

Vorwort I Einleitung 1. Forschungsüberblick 2. Methode und Aufgabe II. M e s o p o t a m i e n : Sumerische Klageliteratur

VII 1 2 15 17

1. Sumerische Stadtklagen 2. Die Balag-Klagen

17 22

3. Die Balag-Klage UDAM KI AMUS

28

III. Altes Testament. D i e Klagelieder des V o l k e s

39

1. Z w e i frühe Z e u g n i s s e des Untergangs v o n Jerusalem

39

1.1. Threni 2 - Jhwh als Feind Israels

39

1.2. Threni 5 - Das verworfene Volk - Der im Himmel thronende Jhwh

64

2. D i e exilischen Volksklagelieder

77

2.1. Psalm 74 - Jhwh ist mein König von alters her 2.2. Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

77 102

2 .3. Psalm 80 - Der zertretene Weinberg

121

3. D i e nachexilischen Volksklagelieder

146

3 .1. Psalm 79 - Das im Gebet gewendete Gerichtswort

147

3.2. Die Land-/Völkerproblematik in Ps 60/108 - Ps 83 - Ps 137

162

3 .2.1. Psalm 60 - Das uneingelöste Wort des göttlichen Kriegsherrn

162

3.2.2. Psalm 108 - Das Loben Jhwhs unter den Völkern 3.2.3. Psalm 137 - An den Wassern Babylons 3.2.4.Das Psalm 83 - Die Erinnerung an die Richterzeit 3.3. klagende Volk in königlicher Gestalt: Psalm 89 und Psalm 132

173 183 2192 03

X

Inhaltsverzeichnis

3.3.1. Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

203

3.3.2. Psalm 132 - Das Volk als Gesalbter

239

3.4. Prophetie und Kult: Psalm 85 und Jes 63,7-64,11

248

3.4.1. Psalm 85 - Die geschaute Heilswende 3.4.2. Jes 63,7-64,11: Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

248 261

VI. Zusammenfassung

290

Anhang Aufstellung der wichtigsten Leitworte und Themen

296

Literaturverzeichnis

302

Stellenregister

323

Personenregister

327

Sachregister

328

I. Einleitung

Die Klage „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Ps 22,2) aus der Klage des einzelnen, die auch in die Passionsgeschichte Einzug gehalten hat, ist jedermann bekannt und vertraut. Daß jedoch neben dieser Klage des einzelnen auch anklagende Fragen des Volkes gegen den Gott Israels innerhalb des Psalters anzutreffen sind, dürfte den wenigsten bewußt sein. Einen solchen Bekanntheitsgrad, wie zum Beispiel die eben zitierte Frage des Beters des zweiundzwanzigsten Psalms aufweist, kann die von Israel Jhwh entgegengebrachte Klage „Warum, Gott, hast du auf ewig verstoßen, raucht dein Zorn gegen die Schafe deiner Weide?" (Ps 74,1) nicht aufweisen. Die Ursachen dafür sind sowohl in der Vernachlässigung der Gattung „Klagelieder des Volkes" durch die alttestamentliche Psalmenforschung zu sehen, als auch darin, daß sich die Texte der „Klagelieder des Volkes" gegen eine zu schnelle Vereinnahmung in heutige Geschehens- und Sinnzusammenhänge sperren und so nicht in den vertrauten Umgang mit Psalmentexten zu gelangen vermochten. Der „garstige Graben" ist bei den Klageliedern des Volkes (KV) größer als bei den Klageliedern des einzelnen (KE). Weisen letztere einen regen und gerechtfertigten Gebrauch in Liturgie und Poimenik auf, fallen erstere aus der alltäglichen Benutzung innerhalb von Kirche und Gemeinde heraus. Verstärkt wird die Ausgrenzung dieser besonderen Gebetsgattung durch den neuzeitlichen Trend weg von der Gemeinschaft hin zur Individualisierung. Das Kollektive an sich und die Gemeinschaft sind suspekt geworden. Existiert durchaus - nicht nur im theologischen Diskurs - die Rede von der „Kollektivschuld", so ist doch der Gedanke an eine gemeinschaftlich vor Gott gebrachte Klage zumindest in den Kirchen der modernen Industriestaaten weggebrochen und fremd. Durch die neuere, in den letzten Jahren innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft zu beobachtende Hinwendung zur Erforschung der Psalmen kommen mehr und mehr auch die bisher vernachlässigten Psalmentexte - unter anderem die Volksklagelieder - wieder zu ihrem Recht. In diese Reihe der neueren Untersuchungen zu bisher weniger bekannten Psalmentexte will auch diese vorliegende Arbeit hineingestellt sein. Ziel ist es, den Texten ihre Fremdheit zu nehmen und in das Besondere dieser Gruppe von Volksklageliedern hineinzuführen. Es soll gezeigt werden, wie Israel auf die

2

/. Einleitung

Katastrophe von 587 v. Chr. im Dialog - dem Gebet - mit seinem Gott reagiert hat, wie Israel in dem Dreiklang von Klage - Bitte - Lob mit dem Zorn und der Ferne seines Gottes gerungen hat und auch über den Trümmern des zerstörten Tempels zu wichtigen theologischen Aussagen über das Verhältnis Jhwh Israel gekommen ist. Gerade auch auf dem Hintergrund neuester Bearbeitungen und Publikationen zur sumerischen Klageliteratur, die das Phänomen und die Sprache der israelitischen Volksklagelieder erklären und in den größeren Zusammenhang der altorientalischen Kulturen hineinzustellen vermögen, ist eine erneute Beschäftigung mit diesen Texten gerechtfertigt.

1. Forschungsüberblick Ein forschungsgeschichtlicher Überblick über die Arbeiten zu den Klageliedern des Volkes wird, wie jeder andere Versuch, Rechenschaft über die alttestamentliche Forschung zu den Psalmen abzulegen, mit dem Namen Hermann Gunkel einsetzen müssen. An den Arbeiten von Gunkel zu den Psalmen 1 , verbunden mit seiner formgeschichtlichen Fragestellung und der Bestimmung von Gattungen und „Sitz im Leben", gibt es kein Vorbei, aber hinter sie auch kein Zurück. In der Herausarbeitung von Psalmengattungen war Gunkel „nicht ohne Vorläufer, neben ganz unsachgemäßen Klassifizierungen, etwa solchen nach griech. Vorbild (Oden, Lieder, Elegien u. dgl.), stehen andere, die Gunkel schon recht nahe kommen, voran diejenige de Weites (Hymnen, Nationalpss, Zions- und Tempelpss, Königspss, Klagepss, religiöse und moralische Pss); Anregungen hatte J.G. Herder geliefert (bes. Vom Geist der Ebräischen Poesie, 1782/83). Aber Gunkel stellte ein großes Programm auf und führte es bis ins einzelne durch."2

1 GUNKEL, Die Psalmen, HK II/2, 4. Aufl. 1929, Nachdruck 5 1 9 6 8 ; DERS., Ausgewählte Psalmen, Göttingen, 4.Aufl. 1917; DERS., Die Psalmen, in: Reden und Aufsätze, jetzt wieder in: Zur neueren Psalmenforschung, hrsg. v. P.H.A. Neumann (WdF CXCII) 1976, 1 9 - 5 4 ; DERS./BEGRICH, J., Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, HK II Erg.-Bd., 1933, 2.Aufl. 1966. 2 SMEND, Entstehung, 193. Vgl. zu der Rolle von Gunkel für die Erforschung der

Psalmen auch BECKER, Wege, 12 ff.

Forschungsüberblick

3

Zu den Hauptgattungen der Psalmen rechnet Gunkel den „Hymnus" 3 , das „Klagelied der Gemeinde" und das „Klage- und Danklied des Einzelnen". 4 In § 4 seiner von Begrich schließlich vollendeten Einleitung in die Psalmen behandelt Gunkel die Klagelieder des Volkes und überrascht den Leser mit einem Pleroma an Textstellen, die er in diesem Zusammenhang einbezogen wissen möchte. „Zu dieser Gattung gehören 44. (58). 74. 79. 80. 83. (106). (125). Threni 5 (I Makk 3,50-53) JesSir 3 3 , l - 1 3 a 36,16b-22 (OrAsariae= AddDan 13-22) PsSal (4).7. (9). Hinzuzunehmen sind aus Liturgien, Mischungen und Überarbeitungen t 9,18-21 10,1-18 12,2-5 33,20 ff 53,7 6 0 , 3 - 7 . 1 1 - 1 4 6 8 , 2 9 - 3 2 77,8-1,0 82,8 85,5-8 89,39-52 9 0 , 1 3 - 1 7 9 4 , 1 - 7 104,35 108,13 f 115,1 f 123,2-4 126,4-6 129,5-8 Threnil,9e.f.lle,18a.b.20a.b.c.d. 21a.f.22a.b 2,20a 3,40-51 PsSal 11,8f 17,21-25 und aus prophetischen Gedichten, besonders aus prophetischen Liturgien Jes 2 6 , 8 - 1 4 a . l 6 - 1 9 a 33,2.7-9 40,27c.d 49,14.24 51,9 f 58,3a 59,9-15b 63,11-64,11 Jer 3,4 f.22b-25 4,10 10,19-21.23-25 14,2-6.7-9.19-22 31,18 f Hosea 6 , 1 - 3 14,3 f Joel 1,18-20 2,17 Micha 7,7-10.14-17; ferner vergleiche man die Gebete Einzelner, besonders von Führern des Volkes, in öffentlicher Not, meist in Prosa Josua 7 , 7 - 9 Ex 32,11-13 Dt 9,25-29 32,17-25 Hab 1 , 2 ^ . 1 2 - 1 7 Esra 9,6-15 Neh 1,5-11 9,6-37 Dan 9,4-19 I Makk 2,7-13 4,30-33 II 1,24-29 15,22-24 III 2,2-20 6,2-15 Judith 9,2-14 AddEsther 3,1-10.14-30 OrAsariae Bar 1,15-38 PsSal 2.5.8 IV Esra 8,6-16.20-36 ApBar 21.48 sowie die Gebete für den König V 20,2-6.10 72 und 28,8f 61,7 f 63,12a 84,9 f ISam 2,10d.e, dazu die Gebete des Königs Jes 37,16-20 II Chron 14,10 20,6-12 und das Königsklagelied "t 144,1-10, ferner die Bitten im Königsgebete i 132,1-10 144,5-10 und Anspielungen an Königsbitten 18,4.7 20,5." 5

Mit dieser Reihe von Belegstellen hat Gunkel das Füllhorn ausgeschüttet und disparates Material nebeneinander gestellt, welches es wie Spreu vom Weizen zu trennen gilt. Gunkel selbst ist sich dessen bewußt und rechnet daher die Texte Ps 44. 74. 79. 80. 83 und Threni 5 zu den Hauptbelegen dieser Gattung. Wegweisend für den weiteren Gang der Forschung an den Volksklageliedern ist Gunkels Identifizierung des „Sitzes im Leben" dieser Klagelieder. „Der Sitz der Gattung im Gottesdienst ist das ,Fasten' (söm), das große Klagefest, das die Gemeinde bei allgemeinen Nöten hie und da zu halten pflegt" 6 , sei es als 3

Zur kritischen Auseinandersetzung mit Gunkels Arbeiten zum Hymnus und der gegenwärtigen Hymnus-Forschung vgl. SPIECKERMANN, Hymnen, 99 ff. Spieckennann faßt seine Kritik in folgender These (aaO. 99) zusammen: „Den alttestamentlichen ,Hymnus' im Sinne einer identifizierbaren Gattung mit erkennbarer Konstanz in Disposition, Formation und Intention gibt es nicht. Es gibt ebensowenig mehrere unterscheidbare Grundformen von Hymnen im Alten Testament, vor allem den .imperativischen Hymnus' und den ,partizipialen Hymnus', die sich in ihrer unterschiedlichen traditionsgeschichtlichen Genese rekonstruieren ließen. Es gibt alttestamentliche Hymnen im Sinne einer Textgruppe, als deren Intention das Gotteslob durch eine Reihe variabler formaler und inhaltlicher Indikationen erkennbar ist. Die Konkreüon dieser Intention ist fast so vielfältig wie die tradierten Exemplare der Hymnen." 4

Vgl.

5

GUNKEL/BEGRICH, a a O .

6

GUNKEL/BEGRICH,

GUNKEL/BEGRICH,

Einleitung, 27. 117.

aaO. 117. Als Belege führt Gunkel (aaO. 117 f.) folgende Stellen an:

4

I. Einleitung

Klagefest am Heiligtum 7 oder als allgemeines Klagen und Jammern „auf den Gassen, Märkten und Dächern" oder Jn den Toren".8 Auch die Gründe für die Veranlassung solcher Feiern, anläßlich derer es in Israel zur Komposition von Klageliedern des Volkes gekommen ist, die Gunkel nennt, sind seither stets wiederholt worden. 9 Danach sind Krieg, Gefangenschaft (Exil), Pestilenz, Regenmangel, Hungersnot, Mißwachs und Heuschreckenplage die maßgeblichen Beweggründe. 10 Daß die Volksklagelieder im Psalter sich jedoch, wenn überhaupt, nur auf „Krieg" und „Gefangenschaft (Exil)" beziehen lassen, bleibt bei Gunkel unerwähnt.11 Die Hauptbausteine, die sich im Aufbau der Volksklagelieder finden (Invocatio-Klage-Bitte-Lobgelübde), werden dagegen von Gunkel deutlich herausgearbeitet.12

Dtn 9,18; Jos 7,6; Ri 20,23.26 ff; 21,2 ff; l . S a m 7,6; l . K ö n 8 , 3 3 - 3 6 . 4 4 ff; l . K ö n 21,9.12, Jes 15,2 ff.12; 16,7 ff.12; 29,4; 32,11 f; 33,7 ff; 58,3 ff; Jer 2,27; 3,21.25; 4,8; 6,26; 14,2; 36,6.9; 49,3; Hos 7,14; Joel 1,1-2,17; Am 5,16 f; Jon3,5 ff; Mi 1,8-12.16; 4,14; Sach 7,3 ff; Esra 8,21; Neh 9,1; Bittschrift an Bagoas 15.20 f.; Esther 4,3.16; 2.Chr 20,3 ff; l . M a k k 1,25-28; 3,47-54; 4,39 f; 2.Makk 1,23; 3,15-21; 3.Makk 5 , 2 5 - 5 0 f; Judith 4,18-15. 7 Vgl. Ri 20,23.26; 29,2; l.Sam 7,6; l.Kön 8,33.35; Jes 15,2; 16,12; Jer 36,6.9 vgl. 3,21; Hos7,14; Jo 1,14; 2.Chr 20,9. 8 Vgl. G U N K E L / B E G R I C H , aaO. 118 und die von ihm genannten Stellen: Jo l,5ff; Jes 24,11; 33,7; Jer 9,9.17ff; I Makk 1,25-28; Jes 15,3; Am 5,16f; Jer 14,2. 9 Vgl. exemplarisch: S M E N D , Entstehung, 1 9 8 ; K A I S E R , Einleitung, 3 3 6 ; S C H M I D T , Einführung, 3 0 6 ; R E N D T O R F F , Einführung, 1 0 6 f.; W E S T E R M A N N , Ausgewählte Psalmen, 2 5 ; DAY, Psalms, 33. 10 G U N K E L verweist (aaO. 1 1 8 ) auf L.Kö 8 , 3 3 f f . 4 4 ff; Hos 7 , 1 4 ; Jo 1.2; 2.Chr 20,9. 11 Vgl. dazu auch W E S T E R M A N N (Ausgewählte Psalmen, 2 5 ) : „Es fällt auf, daß im Psalter nur Volksklagen aus Feindesnot begegnen, bei den Erwähnungen in Prophetenbüchern dagegen fast immer Naturkatastrophen. Dieser Tatbestand ist noch nicht erklärt, auch nicht, daß uns kein Klagepsalm aus Anlaß einer Seuche überliefert ist." 12 Vgl. G U N K E L / B E G R I C H , Einleitung, 1 2 1 ff. „Damit sind die Hauptstoffmassen gegeben, in die diese Lieder (nicht anders übrigens als die Klagelieder des Einzelnen) zerfallen: es sind 1. jammernde Klagen über das Unglück, 2. flehende Bitten an Jahve, es zu wenden, wozu dann 3. allerlei Gedanken kommen, die man sich selber zum Tröste vorhält oder vor Jahve ausspricht, damit er sie vernehme und daraufhin einschreite" (AaO. 125).

Forschungsüberblick

5

Gemeinsamkeiten und Unterschiede13 zwischen der Klage des einzelnen und der Klage des Volkes werden von Gunkel ebenso erkannt wie das in den Volksklagen anzutreffende Phänomen der Aufnahme hymnischer Partien14, das Phänomen der Nachahmung „prophetischer Liturgien" und das der Nähe zur prophetischen Literatur.15 Was die zeitliche Ansetzung der Volksklagelieder anbelangt, so hält Gunkel bei aller grundsätzlichen Schwierigkeit der zeidichen Einordnung dafür, daß die im „Psalter überlieferten wohl sämtlich dem nachexilischen Zeitalter angehören" 16 , wobei er davon ausgeht, daß einigen Texten ältere Vorlagen zugrundegelegen haben, die im Laufe der Zeit diverse Überarbeitungen und Aktualisierungen über sich ergehen lassen mußten.17 G U N K E L / B E G R I C H (Einleitung, 133): „Aus dem Vorgetragenen geht hervor, daß die Volksklagelieder den ,Klageliedern des Einzelnen' im ganzen Aufriß und in vielen Einzelheiten sehr ähnlich sind, wenn sich natürlich auch anderseits starke Abweichungen finden, die durch die Natur der Sache gegeben sind: in den Volksklageliedern waltet das , Wir' vor, in den Liedern des Einzelnen das ,Ich'; jene klagen über das nationale, diese vorwiegend über individuelle Nöte, besonders über Krankheit; für jene ist der Zorn über den Hohn der Nachbarvölker bezeichnend, für diese das Bild von der Fahrt in die Unterwelt..." - Gunkels Feststellung, daß sich dieses „Wir" der Gemeinde im „Babylonischen" nicht finden ließe (aaO. 123), muß nach den neuesten Editionen und Bearbeitungen der Balag-Klagen differenzierter gesehen werden. In diesen von den Gala-Priestern vorgetragenen Texten finden sich durchaus Passagen, in denen eine 1. Pers. PI. (= Priester und Kultgemeinde) zu Worte kommt. Vgl. die Balag-Klagen ABZU PELAM, 40 f.; E TURGIN NIGINAM, d+127; M U T I N N U N U Z D I M A , c+239 ff.; E L U M G U S U N , e+161 ff. (Altbabylonische Version). c + 1 1 4 f f . (Version aus dem l.Jtsd. v. Chr.); ZIBUM ZIBUM of Enlil, a+177 ff. Vgl. auch LSUR, 227 ff. (ANET, 615 f.). 391 ff. (ANET, 618). 13

Einleitung, 134 f. Einleitung, 137 f. Von daher erklärt sich Gunkel auch die Ausbildung von Texten, die eine Verbindung von prophetischem Orakel und Volksklagelied aufweisen. Folgende Stellen führt er als Beleg an: Jes 2 6 , 8 - 1 4 a . l 4 b f, 26,16-18.19-21, 32,2.3-6, 3 3 , 7 - 9 . 1 0 - 1 2 , 49,14.15 ff, 49,24.25 f, 5 9 , 9 - 1 5 b . l 5 c - 2 0 , 63,7-64,11 65, Jer 3,22b-25 4,1 f, 14, 2-9.10, 14,19-22 15,1 f, 31,18 f.20, 51,34 f.36ff, Hosea 6 , 1 - 3 . 4 - 6 , 14,3 f.5-9, Micha 7 , 7 - 1 0 . 1 1 - 1 3 , 7,14-17.18-20, Hab 1,2-4.5 ff, 1,12-17 2,1 ff; Joel 1,5-2,11 mit dem Orakel 2,12-14 und 15-17 mit 18-27. 16 G U N K E L / B E G R I C H , Einleitung, 139. 17 G U N K E L / B E G R I C H (Einleitung, 1 3 8 f.): „Volksklagelieder, wie wir sie beschrieben haben, wird Israel von frühester Zeil an ... bis auf die späteste aufgeführt haben. Der Glaube, der sich darin ausspricht, ist im ganzen bereits derjenige des alten Israel, ein Glaube, der sich in allen Nöten an Gott klammert, eine Frömmigkeit, die dann besonders im Kreise der Heilspropheten gepflegt worden ist und das Judentum erfüllt hat. Dabei werden dieselben Gedichte immer wieder erneuert und überarbeitet worden sein. Daraus erklärt sich die eigentümlich unbestimmte Haltung fast aller dieser Lieder; um dieser Eigenschaft gerecht zu werden, muß man sich klar machen, daß es sich hier nicht sowohl um Dichtungen eines einzelnen Dichters handelt, die aus einer einmaligen Lage geflossen sind, als vielmehr um Formulare, die man, vielleicht nur wenig verändert, immer aufs neue gebraucht h a t . . . Das ist freilich auch der Grund, weshalb die zeitliche Ansetzung dieser Psalmen so außerordentlich 14

GUNKEL/BEGRICH,

15

GUNKEL/BEGRICH,

6

I.

Einleitung

In eine andere Richtung lenkte der bedeutendste und eigenwillige Schüler 18 Gunkels, Sigmund Mowinckel, die Psalmenforschung in kritischer Auseinandersetzung mit seinem Lehrer. 19 In Aufnahme der formgeschichtlichen Fragestellung legte Mowinckel, seinem Konzept der kultischen Deutung der Psalmen folgend, den Schwerpunkt auf den Kultus. Alljährlicher Höhepunkt des israelitischen Festkalenders war danach die segensspendende Feier der Thronbesteigung Jhwhs im Rahmen des herbstlichen Neujahrsfestes. Besonders deutlich läßt sich Mowinckels kultischer Ansatz bei seiner Interpretation der sog. „Thronbesteigungslieder" (besser Jhwh-Malak-Psalmen) zeigen, die für ihn agendarische Anleitungen für das Neujahrsfest darstellen. Doch auch die Interpretation der Klagelieder des einzelnen und der Danklieder des einzelnen unterliegt bei Mowinckel der kultischen Deutung, die dem jeweiligen Psalm jedoch nicht mehr gerecht wird. Im Hinblick auf die Textgruppe der Volksklagen kommt die kultische Interpretation mit der Zentrierung auf das Neujahrsfest von Seiten Mowinckels nicht so sehr zum Tragen, da auch er von dem schon von Gunkel erkannten „Sitz im Leben" dieser Texte nicht abrücken kann. 20 Anders hingegen ist es mit Mowinckels Auffassung vom „sakralen Königtum" bestellt, die davon ausgeht, daß die Klagelieder des einzelnen auch als Gebet des Königs zu verstehen seien. 21 Von hier aus erschließt sich jedoch dann für Mowinckel die Möglichkeit, die 1. Pers. Sg., die an einigen Stellen innerhalb der Volksklagen zu Worte kommt (vgl. nur Ps 44, 5.7.16; 74,12; 89), auf den davidischen König als Sprecher zu beziehen. 22 „So, evidently, the schwierig ist. Begreiflich ist zunächst, daß die uns im Psalter überlieferten wohl sämtlich dem nachexilischen Zeitalter angehören: diese waren zur Zeit der Sammlung noch beliebt und brauchbar." 18 So das Urteil von R. S M E N D (jun.) in seinem Einleitungswerk zum Alten Testament (Entstehung, 194). 19 Vgl. dazu auch B E C K E R , Wege, 18 ff. 20 Vgl. dazu M O W I N C K E L (Worship, Bd.l, 1 9 3 ) : „Just as the hymn pre-eminently belongs to the great fixed festivals, as an expression of joy and gratitude and praise, so does the national lament or congregational psalm belong to the days of humiliaüon and prayer, which were .proclaimed' on special occasions of crisis, and might be called the ,casual' or ad hoc cultic festivals.When war, defeat, imprisonment, epidemics, drought, famine, locusts, and similar public disasters occurred or threatened, a public fast-day would be .proclaimed'. The whole people, great and small, would assemble at the sanctuary. Through different ceremonies the congregation would consecrate themselves; in particular they had to abstain from certain tilings during the time of humiliation: food and drink, anointing with oil, sexual intercourse and other manifestations of normal life. Humiliation and mourning imply a state of impurity, because disaster,,curse' has befallen the soul of the person concerned." 21 Vgl. dazu auch B E C K E R , Wege, 38 ff. 22 Vgl. M O W I N C K E L , Worship, Bd.l, 225 ff. bes. 236, wo er dieses Phänomen als „oriental king-Ego style" bezeichnet.

ForschungsUberblick

1

national lament may have an individual and personal form. As we have seen, the king acts as the representative and the incorporation of the people: the cause of the people is his cause, and vice versa (.. .)."23 Auf dieser Linie liegt folgerichtig Mowinckels Unterscheidung zwischen Volksklagen der Ich-Form und denen der Wir-Form.24 Beide Arten der Volksklagen haben es nach Mowinckel mit der nationalen Not und Klage zu tun, auf der einen Seite vom König als Repräsentanten des Volkes vorgetragen, auf der anderen Seite von seiten des Volkes. Ein Blick auf die altorientalische Gebetsliteratur des assyrisch-babylonischen Raumes verleitet Mowinckel dazu, in puncto Datierung die Texte in der Ich-Form gegenüber denjenigen der WirForm als ältere Ausprägung zu erachten, von der aus sich dann erst charakteristisch für Israel - die Wir-Form entwickelt habe.25 Mit der einhergehenden Einebnung der Unterschiede in der Frage nach dem „Sitz im Leben" und der daraus resultierenden Form der Klage des einzelnen und der Klage des Volkes 26 rechnet Mowinckel auch die Psalmen 9-10; 13; 31; 35; 42-43; 55; 56; 59; 69; 94; 102; 109 und 142 27 zu den von ihm erkannten Texten der „Wir-Form" (Ps 12; 14; 44; 58; 60; 74; 79; 80; 83; 89; 144; Lam 5) 28 hinzu. Worship, Bd.l, 225. Vgl. zu den „National Psalms of Lamentation in the I - F o r m " M o w i n c k e l s Ausführungen in Worship, Bd.l, 225-246; zu den „National Psalms of Lamentation" in der „we-form" Worship, Bd.l, 193-224. 25 Vgl. dazu M O W I N C K E L (Worship, Bd.l, 194): „From the point of view of style history, the we-form is probably later than the ¡-form. This seems obvious from the fact that the style of Israelite psalmody is directly or indirectly derived from Babylonia (see below, Chap. XX 3), and in the Assyro-Babylonian psalms of lamentation such a we-form does not seem to occur; there it is in the I-form that the king represents the people, even in public distress. On the whole this representation through an individual leader, who is, or pretends to be the totality, is the earlier and more primitive idea . . . " Daß durchaus ältere mesopotamische Texte existieren, die in der Klage das „Wir" belegen (vgl. oben Anm 13), war Mowinckel noch nicht bekannt. 2 3

MOWINCKEL,

24

26

Vgl. zur Kritik an diesem Ansatz auch BECKER, Wege, 40 f und grundsätzlich Lob, 15 ff.126 27 Vgl. M O W I N C K E L , Worship, Bd.l, 219. 28 Vgl. M O W I N C K E L , Worship, B d . l , 194. Diese Fülle von Volksklagetexten ist in neuerer Zeit in unkritischer Anlehnung an Mowinckel von FERRIS, The Genre of Communal Lament in the Bible and the Ancient Near East (SBL Diss S.127), 1992 wieder aufgenommen worden. „Though there is a general lack of agreement as to just which of the biblical Psalms are indeed communal laments, in light of the above mentioned criteria, the following passages will be analyzed: Psalms 31, 35, 42, 43, 44, 56, 59, 60, 69, 74, 77, 79, 80, 83, 85, 89, 94, 102, 109, 137, 142, Lamentations ... Psalms 31,35, 42/43, 56, 59, 69, 109 and 142 are identified as communal laments by Mowinckel. These are among those he describes as ,quite personal, but in reality ... national (congregational) psalms.' In these cases, Mowinckel argues that ,in the I-form ... the king represents the people, even in public distress.' I concur" (Genre, 14). WESTERMANN,

8

I. Einleitung E n t s c h e i d e n d b e s t i m m t und geprägt w u r d e d i e w e i t e r e f o r m g e s c h i c h t l i c h e

F o r s c h u n g an d e n P s a l m e n in D e u t s c h l a n d nach d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g durch d i e A r b e i t e n v o n Claus

Westermann,29

W e s t e r m a n n ist e s darum z u tun, d a s

R e d e n zu Gott in den P s a l m e n als ein S p r a c h g e s c h e h e n z w i s c h e n Lob und Bitte zu b e g r e i f e n . 3 0 „ D i e beiden W e i s e n des Anrufens Gottes sind L o b und Bitte; s i e b e s t i m m e n als die b e i d e n P o l e alles R e d e n zu Gott. D a s gilt für a l l e s A n r u f e n G o t t e s , w o Gott den M e n s c h e n personhaft gegenübersteht." 3 1 G e r a d e d a s E l e m e n t der B i t t e erfährt bei W e s t e r m a n n e i n e q u a l i t a t i v e A u f w e r t u n g und H o c h s c h ä t z u n g , s o d a ß er - s e i n e r T e r m i n o l o g i e f o l g e n d auch d i e K l a g e l i e d e r des V o l k e s , zu d e n e n er Ps 79; 7 4 ; 4 4 ; 80; 89; 83; 60; Thr 5; Jer 14; J e s 6 3 , 7 - 6 4 , 1 2 ; H a b 1 r e c h n e t 3 2 , als Bitt- o d e r K l a g e p s a l m d e s V o l k e s o d e r knapp nur als „Bitte des V o l k e s " b e z e i c h n e t . 3 3 W e s t e r m a n n steht deutlich vor A u g e n , daß innerhalb der Klagelieder gerade auch das E l e m e n t der K l a g e e i n e gravierende R o l l e spielt. D e s s e n u n g e a c h t e t versucht er, s e i n e A u f w e r t u n g der Bitte a r g u m e n t a t i v zu u n t e r m a u e r n . 3 4 Im e i n z e l n e n w e r d e n d i e f ü n f A u f b a u e l e m e n t der K l a g e d e s 29

Die wichtigsten Arbeiten von W E S T E R M A N N („Das Loben Gottes in den Psalmen", 1954; „Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament", 1954; „Vergegenwärtigung der Geschichte in den Psalmen", 1964) liegen vereint in der Veröffentlichung „Lob und Klage in den Psalmen" vor. Nach dieser Arbeit werden die Zitate geboten. 30 Vgl. dazu W E S T E R M A N N , Lob, 2 0 . 2 8 . „Im Blick auf diese Polarität kann die Mitte des Gotteslobes in Israel im berichtenden (oder bekennenden) Lob gesehen werden. Die Mitte insofern, als in ihm (im Rückblick auf die Not) die gerade überstandene Not noch nachklingt und an das Flehen aus der Not damals angeknüpft wird. Die Mitte aber noch in einer ganz anderen Beziehung: Das berichtende Lob durchbricht die Grenze zwischen gebundener und nicht gebundener Rede (Poesie und Prosa), zwischen der Sprache des Alltags und der Kultsprache der Psalmen. Die berichtenden Lobpsalmen in der einfachsten Form haben die gleiche Struktur wie die bärük-Sätze in den geschichtlichen Büchern. Und aus dem berichtenden Lob des Volkes ist die Geschichtsschreibung Israels erwachsen. Die Arbeit hat auf dem Ergebnis Gunkels aufgebaut, daß ein Psalm nur zu verstehen ist als ein Zweig an dem Baum der Gattung; daß dieser Baum wiederum in einem Erdreich wurzelt, d. h. daß die Psalmengattungen wiederum nicht nur literarische Kategorien sind, sondern einen ,Sitz im Leben' haben. Gunkels These, der ,Sitz im Leben' für die Psalmen sei der Kult, ist hier nur bedingt angenommen. Es ist hinter das allzu allgemeine und unbestimmte Wort Kult auf den Grundvorgang des im ,Kult' von den Menschen zu Gott hin Geschehenden zurückgewiesen worden: Das polare Geschehen des Redens zu Gott als Flehen und als Loben. Dies ist der eigentliche ,Sitz im Leben' für die Psalmen. Als ein Geschehen vom Menschen zu Gott hin ist jeder Psalm ein Ganzes. Von daher läßt sich seine Struktur erkennen, die Struktur eines lebendigen Vorgangs" (aaO. 117). 31

WESTERMANN, L o b ,

3 2

V g l . WESTERMANN, a a O .

33

115. 132.

Vgl. ebenda, 39. 34 Vgl. W E S T E R M A N N (Lob, 27): „Es ist an dieser Stelle eine Bemerkung zur .Bitte' notwendig. Wenn uuserm Gegenüber von Bitte und Dank in den Psalmen ein anderes, nämlich das von Bitte und Lob entspricht, so muß dabei .Bitte' auch in einer Hinsicht anders

Forschungsüberblick

9

Volkes (I. Anrede / Einleitende Bitte I II. Klage I III. Bekenntnis der Zuversicht IIV. Bitte (Doppelwunsch) I V. Lobgelübde)35 und die Unterschiede zur Klage des einzelnen von Westermann an den entsprechenden Texten herausgearbeitet. Problematisch und kritisch anzumerken ist jedoch Westermanns Vorliebe dafür, für die Klagepsalmen des Volkes ein Ordnungsschema zu erstellen, dem sich die Psalmtexte zu unterwerfen haben.36 Einem Prokrustesbett gleich wirkt das von Westermann erstellte Schema, bei dem Umstellungen und Umgruppierungen einzelner Psalmverse nicht ausbleiben. Wegweisend hingegen ist wiederum die Erkenntnis von Westermann, daß die Klage in den Klagepsalmen dreigliedrig mit den Subjekten Gott - Wir/Ich die Feinde angelegt ist. 37 Überholt ist dagegen Westermanns Versuch, eine Geschichte der Klage nachzuzeichnen.38 Vom Postulat einer „Ur-Klage"39, die verstanden werden als unser heutiger Begriff. Deutlicher wäre das Gegenüber bezeichnet: Flehen und Loben. Wir können unter Bitte zwei Vorgänge verstehen, die im Hebräischen noch klar voneinander geschieden werden: a) Das (transitive!) Bitten um etwas (Sä'al); dieses Bitten bringt Anliegen vor. Wir verstehen unter einem Bittgebet (Tautologie!) weithin die Aneinanderreihung mehrerer Bitten. Das gibt es in den Psalmen überhaupt nicht. Es kommt (selten) vor, daß einem Psalm eine einzelne Bitte um etwas (so z.B. Fürbitte für den König) angefügt wird; ein aus mehreren Bitten summiertes Bittgebet gibt es niemals, b) Ein ganz anderer Vorgang ist das Flehen aus einer Not (intransitiv!), hebräisch hitpallel. - Dieses Rehen hat nicht in der Weise einen Gegenstand wie das Bitten; das Flehen ist immer Flehen um Errettung. Der .Gegenstand' des Flehens ergibt sich von selbst aus der Situation des Flehenden; man könnte auch sagen: der .Gegenstand' dieses Flehens ist die Klage. Daher gehört zu diesem Flehen notwendig die Klage. Nicht jenes Bitten um etwas, sondern dieses Flehen aus der Not ist also der Gegenpol des Lobens. Korrekt müßte man also statt .Bitte' bei den Psalmen stets .Flehen' sagen. Da aber unser W o r t , B i t t e ' längst beide Begriffe umfaßt, wird es schwer sein, die Vokabel Bitte und Bittpsalm durchweg zu ersetzen. Sie seien also mit dem hier vorausgeschickten Vorbehalt beibehalten. Von hier aus hat die Bezeichnung .Klagepsalm', die ja in der Forschung sich durchgesetzt hat, eine gewisse Berechtigung: Die Bitte, die hier gemeint ist, bekommt ihren Charakter durch die Klage. Auch wenn die Mitte all dieser Psalmen, ihr OKOTTOS, nicht die Klage, sondern die Bitte (bzw. das Rehen) ist, soll die Berechtigung der üblichen Bezeichnung .Klagepsalmen' nicht bestritten werden." Vgl. zur Kritik an Westermann auch SPIECKERMANN, Hymnen, 1 0 0 f. 35

Vgl. aaO. 39 ff. Vgl. die Aufbauskizze bei WESTERMANN, Lob, 4 0 . Genauso problematisch ist auch das von ihm für die Klage des einzelnen angebotene Aufbauschema (aaO. 49 f.). 36

37

38

V g l . WESTERMANN, L o b ,

128.

Vgl. W E S T E R M A N N , aaO. Lob, 1 2 5 ff.150 ff. ,J)ie Klage hat eine Geschichte. Die Klage in den Psalmen hat eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte. Wir finden sie als einen Lebensvorgang sowohl in Geschichtsberichten als auch in Prophetenschriften bezeugt; sie begegnet schon in den Auszugstraditionen (hier sogar, als Klage des Mittlers, in einer besonders starken und lebendigen Ausprägung) und sie begegnet noch in den Apokryphen, die ein höchst eigenartiges Neuerwachen der Klage aufweisen. Die Klagen des Mose, des Simson, des Elia, des Jeremia, des Hiob, des Apokalyptikers Esra gehören alle diesem Gesamtzusammenhang an; sie alle sind Klagen wie die in einen Psalm gefaßten Klagen eines Einzelnen oder des Volkes." (aaO. 128).

10

I. Einleitung

ursprünglich nur in der von einem einzelnen gesprochenen Warum-Frage bestanden haben mag, habe sich im Laufe der Zeit die Klage des Volkes, die eine kollektive Not beklagt, entwickelt. Als dritte Gruppe der frühen Klageform arbeitet Westermann die „Klage des Mittlers" heraus.40 Die Problematik besteht dabei nicht so sehr in dem Versuch Westermanns, mit all den damit verbundenen Unsicherheiten eine Entwicklungsgeschichte der Klagegebete nachzuzeichnen41, als vielmehr in der zeitlichen Ansetzung der angeblich frühen Texte innerhalb des dtr Geschichtswerkes. Mit der Datierung steht und fällt Westermanns Modell. Viele der Texte, die Westermann heranzieht, sind mit größter Wahrscheinlichkeit jüngeren Datums. Gegen Westermann wird man auch mit der Annahme, daß es die reine Form der Volksklage gegeben habe, aus der sich auf der einen Seite die exilischen Volksklagen, auf der anderen Seite als Mischform die Threni entwickelt haben sollen, aufräumen müssen. 42 Die Volksklagen, die in den alttestamentlichen Texten enthalten und erhalten sind, entstammen höchstwahrscheinlich ohne Ausnahme der exilisch-nachexilischen Zeit.43

3 9

V g l . WESTERMANN, a a O . 1 5 0 f.

40

„Als eine dritte Gruppe muß die Klage des Mittlers genannt werden. Sie ist insofern eine besondere Form, als es in ihr um die Not des Volkes geht, der Klagende aber ein Einzelner ist, der von Gott her ein Amt an diesem Volk hat. Die stärkste Ausprägung hat die Klage des Mittlers im AT in den Klagen des Mose bekommen; zur Klage des Führers tritt die Klage des Retters in der Richterzeit. In diese Linie gehört aber auch die Klage der Propheten, von Elia über Arnos und Hosea bis zu Jeremia und dem Gottesknecht bei Dtjes" (Lob, 151). 41 Mit Einschränkung sind Westermanns Ergebnisse bezüglich der „Typen" der späten Klagegebete zu übernehmen. „Man kann bei den späten Klagegebeten vier Typen unterscheiden: A: Die Struktur des Klagepsalms ist (mit Veränderungen) im wesentlichen erhalten, B: Bittgebete ohne Klage (oder nur mit Spuren oder Resten der Klage), C: Bußgebete, D: Die aus dem Gebet herausgetretene, selbständige Klage.Von diesen vier Gruppen ist B die durchaus beherrschende. Nur bei einer kleinen Gruppe ist der Charakter des Klagepsalms im wesentlichen erhalten (A); meist ist die Klage in die Bitte eingeebnet (B). Eine feste Grenze läßt sich zwischen A und B nicht ziehen; es gibt viele Übergangsformen. Das gleiche gilt für das Verhältnis von B und C. Das Bußmotiv ist in vielen Bittgebeten vorhanden; wo es den ganzen Psalm beherrscht, redet man von Bußgebet" (Lob, 155). 42 Vgl. dazu W E S T E R M A N N (Lob, 1 3 1 ) : „Sie [seil, die Klage des Volkes] muß in Israel in der vorexilischen Zeit eine wichtige Rolle gespielt haben, denn die in den Threni gesammelten Klagen, die mit Sicherheit nach 586 anzusetzen sind, stellen bereits eine Mischform dar, die die reine Form der Volksklage voraussetzt und erst nach ihr möglich ist. Dazu erweisen Klage- bzw. Bußgebete aus dem Chronikwerk und den Apokryphen in ihrer stark veränderten Form, daß die alte Volksklage durch das Exil eine tiefgehende Veränderung erfahren hat, die man wohl als ihre Brechung bezeichnen kann." 43

Dieses gilt auch für die von Westennann herangezogenen Prosa-Texte. Vgl. dazu Klagegebet, 286 ff., bes.305 f.

VEIJOLA,

Forschungsüberblick

11

Auf die Studien von Westermann folgte bald im Jahre 1969 im französischen Sprachraum die Arbeit von Edouard Lipiriski.44 Die fünf Kapitel dieser Arbeit (Chap.

I.

JOURS

DE

PÉNITENCE

DANS

L'ANCIEN

ISRAËL;

Chap.

II.

C O N V O C A T I O N A L A LITURGIE PÉNITENTIELLE; Chap. III. RITES D E L A LITURGIE PÉNITENTIELLE; Chap. IV. PSAUMES DE SUPPLICATION NATIONALE;

stellen die von Lipiriski erkannten Volksklagelieder Ps. 44,10-15.18-27; 60,3-7 et 8-14; 79; 80; 83; 85,2-8; 89,39-46.50-52; Thr. 5; Jer. 14,2-9.19-22; Jes. 59,9-15a; 63,764,11 45 in den größeren Zusammenhang von „Bußtagen", ihren Riten und Einberufungen. Struktur und Aufbau der Volksklagelieder werden von Lipiriski eingehend diskutiert und herausgearbeitet.46 Die Erkenntnis von Westermann, daß die Klage dreigliedrig aufgebaut sei, wird dabei von Lipiriski aufgenommen. 47 Nach diesen beiden Arbeiten blieb es lange ruhig um die Volksklagen. Allgemein schien durch den formgeschichtlichen Höhepunkt, den die Arbeit an den Psalmen erreicht hatte, das letzte Wort gesagt worden zu sein. Doch mit dem Abklingen der Blütezeit der formgeschichtlichen Fragestellung und der Hinwendung zu anderen Methodenschritten (stichometrische Analyse; Linguistik; Traditionsgeschichte) auch bei der Arbeit an den Psalmen eröffneten sich der Erforschung dieser Literatur neue Perspektiven und Zugänge. Zu den neueren Arbeiten zur Textgruppe der Volksklagen, die diesen Fortschritt anzeigen, sind zum einen das Werk von Timo Veijola (Verheissung in der Krise. Studien zur Literatur und Theologie der Exilszeit anhand des 89. Psalms, AASF B 220, Helsinki, 1982), zum anderen das Werk von Irmtraud Fischer (Wo ist Jahwe? - Das Volksklagelied Jes 63,7-64,11 als Ausdruck des Ringens um eine gebrochene Beziehung, SBB 19, 1989) zu nennen. Beiden Untersuchungen ist gemeinsam, daß sie sich von einem Einzeltext her der Gesamtgruppe von Volksklagen nähern und darum bemüht sind, den der Untersuchung zugrunde gelegten Einzeltext in den Gesamtrahmen der in Frage kommenden alttestamentlichen Texte theologisch und chronologisch einzuordnen. Chap. V. SACRIFICE, ORACLE ET BÉNÉDICTION)

4 4 L I P I N S K I , La Liturgie Pénitentielle dans la Bible (Le Div 52), Paris, 1969. Im Jahre 1967 war freilich schon L I P I N S K I S Arbeit zu Psalm 89 (Le Poème royal du Psaume lxxxix 1 5 . 2 0 - 3 8 , CRB 6, Paris) erschienen. 45 Vgl. L I P I N S K I , Liturgie, 43. 46 Vgl. aaO. 4 3 - 8 1 . „Sa forme classique est représentée par les psaumes bibliques de supplication nationale. Ce qui les caractérise, c'est une structure relativement fixe, dans laquelle on distingue l'appel initial à l'aide, la complainte tripartite concernant Dieu, ,nous' et l'ennemi, la profession de confiance en Dieu, la prière de demande et, éventuellement, le vœu de rendre grâces à Dieu après l'exaucement." (AaO. 43).

47

Vgl. aaO. 46.

12

/. Einleitung In seiner Analyse des 89. Psalms kommt Veijola durch den Vergleich mit

der deuteronomistischen Literatur, der exilischen Klageliteratur 4 8 und der Threni zu dem Fazit, daß dieses Volksklagelied, abgesehen von den älteren, h y m n i s c h e n Partien innerhalb des Psalms ( V . 2 - 3 . 6 - 1 9 ) sich der späteren Exilszeit verdanke 4 9 und vom Inhalt und Vokabular her dem dtr Schulkreis zuzuordnen sei. Der „Sitz im Leben", dem sich Psalm 89 verdanke, ist nach Veijolas Sicht die exilische Klagefeier. 5 0 D i e Frage nach dem geographischen Ort, an dem Psalm 89 als Komposition für eine Klagefeier haftet, wird von Veijola mit Blick auf die einschlägigen alttestamentlichen Stellen, die die für die tempellose Exilszeit wichtigen Orte Mizpa und Bethel 5 1 nennen ( M i z p a : Ri 2 0 , 1 . 3 ; 2 1 , 1 . 5 . 8 ; l.Sam 1*2

ff.; Jer 4 1 , 4 - 9 I Bethel:

Ri 2 , 1 - 5 ; 2 0 , 1 8 . 2 3 . *

2 6 - 2 8 ; 2 1 , 2 - 4 ; Sach 7 , 2 - 3 ; 8 , 1 8 - 1 9 ) , für Bethel entschieden. 5 2 48

Zu den Volksklagen, die seiner Meinung nach in die Exilszeit zu datieren sind, zählt (aaO. 175 f. u. passim): Ps 44 (exil.); 60 (exil.); 74 (exil.); 79 (exil.); 80 (exil.); [102]; 89. Thr 1-5; Jes 63,7-64,11 (exil.); Mi 7,8-20 (exil.). Vgl. dazu besonders auch aaO. 119-133. 49 Vgl. dazu aaO. 176. VEIJOLA setzt für die Entstehung des Psalms drei Phasen an: 1. Phase: einleitender Hymnus V.2-3.6-19 mit der sekundären Erweiterung in V. 17—19; 2. Phase: der ältere Hymnus wird von einem exilischen Verfasser (550-539 v.Chr.) aufgegriffen und um V.4-5.20-46 erweitert; 3. Phase: in geringem zeitlichen Abstand dazu erfährt der Psalm durch einen weiteren Verfasser die Erweiterungen V.47-49.50-52 (vgl. dazu aaO. 45 f.; 112; 117 f.). 50 Vgl. dazu aaO. 176: „Nachdem sich als Gattung des 89. Psalms das Volksklagelied herausgestellt hat, bereitet die Bestimmung seines Sitzes im Leben keine grösseren Schwierigkeiten mehr; denn es ist ein ziemlich einhellig anerkanntes Ergebnis der Gattungsforschung, dass die Volksklagelieder ihren Ort in den öffentlichen Klagefeiern hatten, die seit alters immer wieder veranstaltet wurden, wenn die Gemeinschaft von einem schweren Unglück heimgesucht wurde, und die an vielen Stellen auch in der geschichtlichen und prophetischen Literatur vorausgesetzt werden. Zudem geht aus Sach 7,2 f.; 8,18 ff. direkt und aus Deuterojesajas Verkündigung indirekt hervor, dass solche Feiem in der Exilszeit anlässlich der erlebten, alle bisherigen Nöte überbietenden Katastrophe gesteigerte Aktualität gewannen und sich zu einem regelmässig wiederholten Brauch entwickelten." 51 Vgl. VEIJOLA, aaO. 197: ,>lizpa und Bethel, die am Beginn des 6. Jahrhunderts dem Schicksal der meisten anderen Städte in Jerusalems Nachbarschaft entgangen waren, entwickelten sich in der Exilszeit zu provisorischen Zentren des Landes anstelle des zerstörten Jerusalem. Unter der Bevölkerung, die sich aus Jerusalem und anderen Ortschaften in diese Städte geflüchtet hatte, wurde die Erinnerung an Jahwes Zorngericht in Gestalt von regelmässigen Klage- und Bussgottesdiensten lebendig gehalten." 52 Vgl. aaO. 210. „Stellt man schliesslich von hier aus die Rückfrage, wo denn die genauere Heimat des 89. Psalms zu suchen sei, so spricht für Bethel eine grössere Wahrscheinlichkeit als für irgendeinen anderen Ort in Palästina. Zwar bietet Ps 89 selber keine expliziten Anhaltspunkte für diese Lokalisierung. Man muss jedoch in Betracht ziehen, dass Ps 89 von der späteren Phase der dtr Wirksamkeit Zeugnis ablegt, die offensichtlich mit Bethel verbunden war, und dass Ps 89 als seinen Vorbau einen wahrscheinlich nordisraelitischen Hymnus hat, der wie die vielen nördlichen Überlieferungen im DtrG seinen Weg sehr wohl über Bethel in den 89. Psalm und damit in das judäische Traditionswesen VEIJOLA

Forschungsüberblick A u c h die Arbeit von Irmtraud

Fischer

13

zeichnet sich dadurch aus, daß von

einem Einzeltext (Jes 6 3 , 7 - 6 4 , 1 1 ) her, zwecks traditionsgeschichtlicher und chronologischer Situierung desselben, das Ganze 5 3 in den Blick g e n o m m e n wird. Unter der Herausarbeitung von Ähnlichkeiten von Motiven, Wortwahl und Gedankengängen 5 4 zwischen Jes 6 3 , 7 - 6 4 , 1 1 und Vergleichstexten (Ps 77; 78; 74; 79; 106; 89; 44; 102; 103; Neh 9; Dan 9; Sir 36; Threni; Mi 7; Jer 14; Dtn 3 2 ) gelangt sie zu dem Ergebnis, daß Jes 6 3 , 7 - 6 4 , 1 1 ein e x i l i s c h e s „ V o l k s k l a g e l i e d mit Geschichtsrückblick und Sündenbekenntnis" 5 5 sei, welches in Palästina abgefaßt worden wäre. 56 A u f die neueste Publikation zu den Volksklageliedern von Paul

Wayne

Ferris, Jr. (The Genre of Communal Lament in the Bible and the Ancient Near East, S B L D i s s S . 1 2 7 , Atlanta, Georgia,

1 9 9 2 ) , sei noch am

Schluß

e i n g e g a n g e n . 5 7 A u f dem Hintergrund der mesopotamischen Klageliteratur versucht Ferris, die Volksklagelieder der Psalmen und der Threni einer genaueren Untersuchung zuzuführen. 5 8 D i e fünf Kapitel seiner Arbeit (1. „Introduction"; 2. „Basic Forms of Communal Lament in Mesopotamia"; 3. gefunden haben kann." (ebenda). Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Arbeit von Veijola die Ausführungen zu Ps 89 (s.u., S.190 ff.). 53 Neben den wichtigen Kontextpartien des „Tritojesaja"-Buches untersucht FISCHER (aaO. 205ff) Ps 77; 78; 74; 79; 106; 89; 44; 102; 103; Neh 9; Dan 9; Sir 36; Threni; Mi 7; Jer 14; Dtn 32. Von der Gruppe der Volksklagepsalmen behandelt sie jedoch im Grunde nur Ps 44; 74; 79 und 89 (letzterer bei FISCHER nicht als Volksklage erkannt) und auch diese eher oberflächlich. Charakteristisch für die Analyse der oben genannten Stellen klingt ihre Erklärung (aaO. 205): „Einige der besprochenen Texte werden nicht aufgrund ihrer Gattung als Parallelen untersucht, sondern aufgrund der Ähnlichkeiten einzelner ihrer Teile, etwa in bezug auf die Abfolge der Motive." Ihrem Anspruch, „innerhalb der Gruppe der Volksklagelieder eine relative Chronologie zu erstellen" (aaO. 205) wird sie nicht gerecht. Erstaunlicherweise setzt FISCHER PS 79 zeitlich vor Ps 74 an (aaO. 216). Unter Berufung auf Deissler und Gunkel notiert sie zu Ps 44 (aaO. 223): „Von seinem zeitlichen Ansatz her wird des öfteren die Makkabäerzeit vermutet." 54

Vgl. dazu aaO. 206. AaO. 282. 56 AaO. 283. 57 Das Erscheinungsdatum der Arbeit von Ferris darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß es sich bei dem vorliegenden Werk um die nicht überarbeitete Fassung der Ph.D.-Arbeit von 1984 handelt. Die Literaturliste ist dementsprechend. Die entscheidenden neuen Publikationen von M.E. Cohen (1988), St. Maul (1988), P. Michalowski (1989) und K. Volk (1989) zum altorientalischen Teil und die entsprechende atl. Literatur dieser Jahre (Veijola u.a.) sind von Ferris nicht berücksichtigt worden. 58 FERRIS, Genre, 13 f.: „As stated ... this study is an attempt to develop a unified comparative description of the Hebrew communal lament in light of the phenomenon of public lament in neighboring cultures as preserved in their literature. It will not pursue the various characteristics which lament may for one reason or another share with other forms of poetry beyond the lament literature. Our study will be directed toward the question of the influence the various communal laments may have had upon one another." 55

14

I. Einleitung

„The Lament Phenomenon in the Ancient Near East as it Relates to the Hebrew Communal Laments"; 4. „Basic Forms of Communal Lament in the Hebrew Bible"; 5. „Comparisons and Contrasts Between the Sumero-Akkadian and the Hebrew Communal Laments") deuten die Zielsetzung seiner Untersuchung an. Die Textbasis, auf der Ferris seine Analyse der Volksklagelieder 5 9 im alttestamentlichen Textbereich durchführt, überrascht durch die ungewöhnlich große Anzahl an Einzeltexten, die im einzelnen der Textgruppe der Volksklagelieder zugerechnet werden. Im Anschluß an Mowinckel nimmt er folgende Texte in den Blick: Threni; Ps 44, 60, 74, 77, 79, 80, 83, 85, 89, 102, 137 darüber hinaus auch die Psalmen 31, 35, 42/43, 56, 59, 69, 94, 109, 142. Mit der hier getroffenen Textauswahl greift Ferris hinter den Erkenntnisstand der neueren Forschung zurück. Im einzelnen untersucht Ferris sowohl den Strukturaufbau der Volksklagen (Invocation; Hymn of Praise; Expression of Confidence/Trust; Lament proper; Appeal + Motive: Deliverance; Appeal + Motive: Cursing; Protestation of Innocence; Expression of Confidence/Hope; Vow of Praise) 60 als auch die vorwiegend dargebotenen Themen und „Stimmungen" innerhalb dieser Texte. Dadurch daß Ferris recht eklektisch einzelne Textelemente aus den Quellentexten listenartig zusammenträgt, wird er den einzelnen Volksklagen in ihrer individuellen Gestaltung nicht gerecht. Eine differenzierte Einzelexegese und theologische Durchdringung der Volksklagen wird von Ferris nicht geleistet. Beides bleibt ein Desiderat. Die von Ferris aus seiner Untersuchung erzielten Arbeitsergebnisse bleiben somit im Bereich der Vermutungen. Nach der Ansicht von Ferris sind, abgesehen von Ps 42/43, 69, 74,79, 89 und 137, die in exilischer Zeit entstanden sind 61 , alle weiteren Volksklagen im Psalter vorexilischen Ursprungs. Die Threni werden dagegen ohne Ausnahme von Ferris in die nachexilische Zeit datiert. 62 Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in Themen und Strukturelementen zwischen der israelitischen und den verschiedenen Klageformen der mesopotamischen Literatur werden von Ferris

59

Die von F E R R I S (Genre, 10) herausgearbeitete Definition einer Volksklage, ist nicht besonders originell: „A communal lament is a composition whose verbal content indicates that it was composed to be used by and/or on behalf of a community to express both complaint, and sorrow and grief over some perceived calamity, physical or cultural, which had befallen or was about to befall them and to appeal to God for deliverance." 60

Vgl. dazu die Tabelle bei F E R R I S , aaO. 93. Vgl. dazu F E R R I S , aaO. 103. 1 5 7 f. 62 Vgl. FERRIS (aaO. 1 5 8 ) : „The post-exilic lament par excellence is to be seen in the five poems which make up the Book of Lamentations. Taken together, their 266 lines would be somewhat comparable to the extended city/temple lament of the Sumero-Akkadian canon." 61

Forschungsüberblick

15

nicht aus e v e n t u e l l e n literarischen V e r b i n d u n g e n erklärt, sondern aus der Parallelität v o n M i l i e u und L e b e n s v o l l z ü g e n der altorientalischen Kultur, die den Völkern dieses Kulturraumes gemeinsam wäre. 6 3

2. Methode

und

Aufgabe

Für die e x e g e t i s c h e Untersuchung der Volksklagelieder beschränkt sich d i e s e Arbeit auf den unumstrittenen Kern der dafür in Frage k o m m e n d e n Texte: Thr 2; Thr 5; P s 74; 44; 80; 79; 6 0 / 1 0 8 ; 83; 137; 89; 85 und Jes 6 3 f. V o n A n f a n g an sind d i e s e T e x t e zu Recht als die Hauptvertreter ihrer „Gattung" angesehen worden.64 D i e Z i e l s e t z u n g der Arbeit besteht darin, den Texten und ihrem j e w e i l s v e r s c h i e d e n e n Inhalt und A u f b a u in der E i n z e l e x e g e s e nachzuspüren, o h n e durch vorschnelle Strukturschemata sich der Verschiedenartigkeit und Propria der e i n z e l n e n P s a l m e n zu entziehen. Weiter soll in A n s e h u n g dieser A u f g a b e der V e r s u c h u n t e r n o m m e n werden, innerhalb der Gruppe v o n V o l k s k l a g e liedern e i n e relative C h r o n o l o g i e zu erstellen und die zum T e i l bestehenden A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s s e herauszuarbeiten. D a b e i m u ß ernst g e n o m m e n w e r d e n , w a s die T e x t e selbst nahelegen. Im Unterschied zu allen anderen Psalmengattungen lassen sie in unterschiedlicher Deutlichkeit ihre geschicht-

63 Vgl. FERRIS (aaO. 174): „There can be no doubt that there was a historical-cultural continuum which produced both collections of lament and did indeed affect the respective literary traditions as well as religious and social traditions. Though direct evidence seems to be lacking in this particular area, it would seem reasonable to assume that indeed Israel did learn from her neighbors as she did in other areas. But the tradition is both a long one and widespread. A close look at the data available just does not seem to support the theory that lament was something learned directly from the Babylonians during the exile. The Hebrew communal laments are sufficiently distinct and demonstrate an almost unique flexibility of form and style so as to warrant the conclusion of literary dependence within the ancient Near Eastern milieu. The data does support a cultural dependence upon what Mowinckel calls ,the common oriental culture' and hence, .participation in a common literary culture'." 64 Daß über diesen „Kanon" an Texten hinaus nach Einsicht einiger Exegeten noch weitere Textvertreter zu nennen wären, beruht nicht auf dem Reichtum und der Vielzahl der Texte, sondern ist auf den Mangel der jeweiligen Differenzierung und der Kriterien zurückzuführen. So zeigt allein ein unbefangener Blick in die atl. „Lehrbücher" eine divergierende Aufzählung an Volksklageliedern. SMEND (Entstehung, 198): Ps 12; 44; 58; 60; 74; 79; 80; 83; 85 (90; 137); Thr 5, „sowie eine Reihe kürzerer Stücke innerhalb einzelner

P s a l m e n und sonst im A T (z.B. H o s 6 , 1 - 3 ; Joel 1,18-20; 2,17; Jes 6 3 , 1 1 - 6 4 , 1 1 ) . " KAISER

(Einleitung, 336): „Als Beispiele der Gattung seien hier Ps 60; 74; 79; 80; 83; 85; 90; 137 und Kl 5 genannt." Vgl. dazu auch die Übersicht bei FERRIS (Genre, 16), der sich jedoch unbesehen der Mowinckelschen Auflistung derjenigen Texte, die angeblich als Klagelieder des Volkes in Betracht zu ziehen wären, anschließt (aaO. 14).

16

I. Einleitung

liehe Verortung durchscheinen. Von daher ist die Frage nach den die Texte auslösenden Ereignissen und nach der relativen Chronologie der Volksklagelieder von vorrangigem Interesse. Doch die Entstehung der konkreten Texte verdankt sich zu einem gewissen Teil bereits einer altorientalischen Tradition. Sie ist in der sumerischen Klageliteratur zu erkennen. Die grundlegende Methodik, von der die Analyse geleitet wird, ist als formgeschichtlich-traditionsgeschichtlich orientiert zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang wird in der Arbeit auch der Blick auf mesopotamische Paralleltexte bzw. Literaturgattungen geworfen, ohne deren Einbeziehung ein rechtes Verständnis der alttestamentlichen Texte nicht möglich ist. Die redaktionsgeschichtliche Fragestellung, wie sie in neuerer Zeit gerade von F.L. Hossfeld/E. Zenger für die Psalmenexegese fruchtbar gemacht worden ist, findet dabei nur am Rande ihre Berücksichtigung. Der modus procedendi der Untersuchung sieht zwei Hauptteile vor. Im ersten Teil soll das altorientalische Material beleuchtet werden, im zweiten Teil dagegen die alttestamentlichen Texte.

II. Mesopotamien: Sumerische Klageliteratur

Als Israel unter David als geeinter „Staat" mit der Hauptstadt Jerusalem in das Blickfeld altorientalischer Reiche geriet und mit derselben Hauptstadt dann 587 v. Chr. in der Folge der Belagerung durch die Neubabylonier wieder von der politischen Bühne verschwand und der Belanglosigkeit preisgegeben war, blickte man in den Hauptstädten des ehemaligen assyrischen und des darauffolgenden neubabylonischen Reiches schon auf eine lange Abfolge von Aufstieg und Untergang verschiedener Reiche zurück. Was Jerusalem - als Winzling unter diesen Reichen und alten Residenzstädten - samt seinen Bewohnern in der Katastophe des Untergangs erlitt und in Form von Klageliedern coram deo zu bewältigen versuchte, war in den Priesterkasten der alten mesopotamischen Städte nach dem Untergang der Reiche von Akkad und Ur III in speziellen Kompositionen schon in bezug auf die eigenen Götter des Pantheons bedacht und gebetet und in das Standardrepertoire der Rituale und Opferhandlungen übernommen worden. Daß Israel nicht nur in puncto Rechtsprechung und Weisheit, sondern auch in der Klageund Gebetsliteratur seine Nachbarn beerbt hat, soll im folgenden im Hinblick auf die weiter unten zu untersuchenden alttestamentlichen Volksklagen kurz skizziert werden.

1. Sumerische Stadtklagen Seit der Entdeckung und wissenschaftlichen Aufarbeitung der 22 Tafeln der sumerischen Stadtklage „Lamentation over the Destruction of Ur" 1 gilt das Interesse der alttestamentlichen Wissenschaft dieser speziellen Textgattung der mesopotamischen Literatur, da sie doch trotz aller Unterschiede die alttestamentlichen Threni besser zu verstehen lehrt.2 Seit der ersten Bearbeitung 1

Vgl. dazu die Arbeiten und Übersetzungen von: S. N. KRAMER, Lamentation over the Destruction of Ur, AS 12, Chicago, 1940; DERS., Lamentation over the Destruction of Ur, in, A N E T 3 , 4 5 5 - 4 6 3 ; JACOBSEN, Harps, 4 7 - 7 4 ; S A H G , 2

192-213.

Auf alttestamentlicher Seite stehen als Beleg für dieses Interesse an den Texten die

A r b e i t e n v o n WESTERMANN, K l a g e l i e d e r , 2 2 f f . ; KRAUS, K l a g e l i e d e r , 1 0 f f . ; HARDMEIER,

Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie, BEvTh 79, München, 1978, 325 ff. Neuere Arbeiten: GWALTNEY, W.C., The Biblical Book of Lamentations in the Context of Near Eastern Lament Literature, in,

18

11. Mesopotamien: Sumerische Klageliteratur

der „Lamentation over the Destruction of Ur" (LU) durch S.N. Kramer sind fünf weitere sumerische Kompositionen bekannt geworden, die zu der Gattung „Stadtklage" hinzugezählt werden müssen. Es sind: -

„Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur" (LSUr)3 „Eridu Lament" (LE)4 „Uruk Lament" (LW)5 „Nippur Lament" (LN)6 „Ekimar Lament"7

Während die Klagekompositionen LE, LW und „Ekimar Lament" nur in bruchstückhafter Form überliefert sind, ist es bei den Klagen LSUr, LU und LN durch die Anfertigung von „Textpartituren" gelungen, den vollständigen Textbestand zu rekonstruieren. Allen sechs Vertretern dieser Klagegattung ist gemeinsam, daß sie auf den Fall und die Zerstörung einer bedeutenden Stadt bzw. eines Stadtstaates zurückschauen und das eingetretene Schicksal der jeweiligen Stadt auf den Beschluß bzw. „das Wort" der Götter (vor allem Enlil/Mullil und An) zurückführen8. Darüber hinaus sind sie nur in altbabylonischer Form überliefert und wurden in den Schreiberschulen (curriculum) kopiert. Sie sind in sumerischer Sprache nach dem Untergang der UR IIIScripture in Context II (hrsg.v. W.W. Hallo u.a.), Winona Lake, 1983, 191-211; D O B B S A L L S O P P , F.W., Weep, O Daughter of Zion: A Study of the City-Lament Genre in the Hebrew Bible, BibOr 44, Roma, 1993; F E R R I S , P.W., The Genre of Communal Lament in the Bible and the Ancient Near East (SBL Diss S.127), 1992. 3 Vgl. zur „Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur", die im deutschen Sprachraum als „Zweite Ur-Klage" oder „Klage über Sumer und Akkad" kursierte (es handelt sich dabei nur um Ausschnitte der LSUr), die Übersetzung von S.N. K R A M E R , in, ANET 3 , 611-619 und die neueste kritische Bearbeitung (Übersetzung u. Kommentar) durch P . M I C H A L O W S K I , The Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur (Mesopotamian Civilizations 1), Winona Lake, 1989. 4 Vgl. zur „Eridu Lament" die Arbeiten von M. W. G R E E N , Eridu in Sumerian Literature. Ph.D.diss. University of Chicago, 1 9 7 5 ; DIES., „The Eridu Lament." JCS 3 0 / 3 ( 1 9 7 8 ) : 1 2 7 1 6 7 (Übersetzung u. Tafeln) und FERRIS, aaO. 2 3 . 5 Vgl. zur „Uruk Lament" M . W . G R E E N , „The Uruk Lament", in, JAOS 104 (1984), 253-279. Vgl. auch M I C H A L O W S K I , aaO. 4 ff.; F E R R I S , aaO. 21 ff. 6 Vgl. zur „Nippur Lament" M I C H A L O W S K I , aaO. 5; F E R R I S , aaO. 24; G R E E N , The Eridu Lament, JCS 30 (1978), 127. 7 Vgl. zur „Ekimar Lament" M I C H A L O W S K I , aaO. 5. 8 Trotz der hier aufgezählten Gemeinsamkeiten bestehen im einzelnen natürlicherweise Divergenzen zwischen den einzelnen Kompositionen: Vgl. dazu auch M I C H A L O W S K I (aaO. 5 f.): . f r o m the formal point of view the texts that have been grouped together under the label of ,city laments' are not homogeneous. Except for the fact that they depict in great detail the fall and destruction of cities and states, as well as a decision by the gods to undo the disaster, they have little in common."

1. Sumerische

19

Stadtklagen

Dynastie, wohl vor 1925 v. Chr. in der Isin-Larsa-Zeit9, abgefaßt worden (Haupdialekt/Emegir bei: LSUr; LE und LW; Emesal 10 : LU; LN und Teile in LE). U Die Stadtklagen, die wohl anläßlich des Wiederaufbaus der entsprechenden Städte ihre erste und letzte Aufführung erlebt haben12, weisen im einzelnen eine unterschiedliche Anzahl von Unterabschnitten (ki-ru-gü)13 auf: LSUr: 5 Kirugus LW: 12 Kirugus.

LU: 11 Kirugus

LN: 12 Kirugus

LE: 8 Kirugus

9 Die beiden Kompositionen LN und LW erwähnen den vierten Herrscher von Isin, IämeDagan ( 1 9 5 3 - 1 9 3 5 v.Chr.). Vgl. zur Datierung auch COHEN, Balag, 9 ; MICHALOWSKI, aaO. 6

u n d GREEN, J C S 3 0 ( 1 9 7 8 ) ,

128.

10

Vgl. zu diesem sumerischen „Dialekt" auch KRECHER, SKly, 12ff; KUTSCHER, ,Oh angry sea', 32 ff.; C O H E N , Balag, 32; DERS., Ertemma, 1 ff.; G W A L T N E Y , aaO. 202 und THOMSEN, Language, 285 ff. Der genaue Sinn und Zweck dieses künstlichen Dialekts ist in der gegenwärtigen Diskussion genauso umstritten wie die Frage, von wem die EmesalPassagen vorgetragen wurden (Priester/Priesterin?). 11 Vgl. dazu auch COHEN, CLAM, 38; DERS., Balag, 11. - Weitere Gemeinsamkeiten für LSUr, LU, LN, LE und LW zählt Gwaltney (aaO. 202 f.) auf: „Although the five preserved city-laments are quite individualized in theme and theme development as well as in style and structure, they have certain underlying themes in common. The most prominent theme is destruction of the total city: walls, gates, temples, citizens, royalty, nobility, army, clergy, commoners, food, crops, herds, flocks, villags, canals, roads, customs, and rites. Life has ceased. A second common theme lies in the concept that the end has come upon Sumer by virtue of a conscious decision of the gods in assembly. The invading hordes, whether Subarians, Elamites, Amorites, or Gutians, ,storm' the land by the ,word' of the gods. A third theme centers around the necessary abandonment of the city by the suzerain-god, his consort, and their entourage. The lament may scold the god for his callous abandonment. The goddess in longer or shorter monologues pleads with either her divine spouse or Enlil or the council of gods to show mercy and relent. In the fourth place, the city-laments either specifically mention, or at least presume, restoration of the city or sanctuary. As a fifth common element, the chief god eventually returns to his City with his entire company. The five laments do not all handle this theme in identical fashion, but in every case the gods return is indispensable to the plot. The final common thematic element is a concluding prayer to the concerned god involving either praise, plea, imprecation against the enemy, selfabasement, or a combination of these elements." 12 So C O H E N , Balag, 11; D E R S . , CLAM, 38: „The city laments were recited most probably at ceremonies involving the restoration of Ur, Nippur, Eridu and Uruk. The closing line of the Ur Lament indicates that the work was connected to the restoration of Ur: , 0 Nanna, in your restored city are you praised!' The mournful tone of the compositions, as well as the constant references to the destroyed shrines, suggests that the temples had not yet been rebuilt, indicating, as Th. Jacobsen and W.W. Hallo have noted, that these works were not recited to commemorate the restoration, but rather before the restoration, during the razing of the old structures." 13 Vgl. in diesem Zusammenhang auch MICHALOWSKI, aaO. 6 und C O H E N , CLAM, 31; ders., Balag, 8. Ein Strukturschema zu LSUr, LU und LE bietet die Tabelle bei FERRIS, aaO. 36.

20

11. Mesopotamien: Sumerische Klageliteratur

Nach der neuesten Bearbeitung der „Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur" von Piotr Michaiowski ist mit der folgenden chronologischen Reihenfolge der Texte zu rechnen: LSUr LU LE -» LW ->• LN. 14 Darüber hinaus hat Michaiowski zeigen können, daß als Vorläufer von LSUr die sumerische Komposition „Curse ofAgade" (CA), die wohl noch in der Ur HI-Zeit abgefaßt wurde, anzusehen ist. 15 Auch wenn all die hier genannten Texte sich einem geschichtlichen Ereignis in der Akkad - (so CA) bzw. Ur HI-Zeit verdanken, so sind sie im strengen Sinne doch keine historisch verwertbare Quellen, da sie in hohem Maße tendenziös sind und unter anderem auch der politischen Legitimation nachfolgender Herrscher dienten.16 Die Bergung, Entzifferung und wissenschaftliche Aufarbeitung des keilschriftlichen Tafelmaterials aus der Bibliothek von Assurbanipal verdeutlicht, daß die altbabylonischen Stadtklagen eine neue Klagegattung, die BalagKlagen, aus sich entließen, welche dafür sorgte, daß einzelne Formulierungen und Wendungen dieser großen Kompositionen bis in seleukidische Zeit hinein kopiert und tradiert wurden.17

14 MICHALOWSKI, 5 ff. Vgl. dazu auch H. L. J. VANSTIPHOUT, Some Thoughts on Genre in Mesopotamian Literature, in, Keilschriftliche Literaturen. Ausgewählte Vorträge der XXXIIRencontre Assyriologique Internationale, hrsg.v. K. Hecker u. W. Sommerfeld, Berlin, 1986,1-11. 15 MICHALOWSKI, aaO. 8 f. Vgl. zu „Curse of Agade" die Übersetzung von KRAMER, in, ANET 3 , 646-651; A„ FALKENSTEIN, Fluch über Akkade, in, ZA 57 (1965), 43-83 (Übersetzung und Kommentar); SAHG, 187-189; D.O. E D Z A R D , Das „Wort im Ekur" oder die Peripetie in , f l u c h über Akkade", in, DUMU-E2-DUB-BA-A, FS Ä.W. Sjöberg, Philadelphia, 1989, 99-105. 16 Vgl. dazu nur das Urteil von MICHALOWSKI (aaO. 9) über LSUr: „Seen in this light, it would be difficult to consult LSUr as a literal historical source, a text to be mined for information on the fall of the Ur III empire. As a poetic text that creates a portrait primarily oriented toward ideological goals it must be read as a symbolic act. True, Ibbi-Sin was a historical figure and Ur did fall, but the details of the end of the dynasty must be sought in the complex interrelationship of historical, economic, organizational, and propagandist« factors of the Ur III state. It is clear that, ultimately, this history will be written primarily from administrative texts. Because the laments, in general, work within a generic set of symbols of destruction and rebirth, it would be, I believe, a mistake to attempt to read the texts literally and to infer the reasons for the fall of states from such evidence." 17 Vgl. dazu nur die Übereinstimmung zwischen LU, 430-435 und der Balag-Klage UDAM KI AMUS (u4-dam ki äm-üs: „It is a storm; it touches the earth") f+225-f+270 (CLAM I, 141 f.). Dazu auch COHEN, Balag, 10; DERS. Eräemma, 25.

21

1. Sumerische Stadtklagen

Skizze:

Historische

Periode

Sprachliche Stufe

2600

Textmaterial Archaische Texte aus Fara

Frühdynastisch III

und Abu Salabich ca. 2600-

oder

2500

2500 vorsargonidisch 2400

Altsumerisch

2340 Sargonidisch oder

Inschriften aus LagaS

Dokumente und Inschriften

altakkadisch

2200 Gutäer

Gudea-Inschriften ca. 21402120

2100

Neusumerisch Administrative Texte und

III. Dynastie von Ur

2000

Rechts texte Dynastie von Isin

1900

Altbabylonisches

Königsinschriften

Sumerisch oder Dynastie von Larsa

Spätsumerisch

Literarische Texte

1800 1700 I. Dynastie von Babylon

1600

(Skizze nach: M.-L. Thomsen, The Sumerian Language, 1984, 27)

22

II. Mesopotamien: Sumerische

Klageliteratur

2. Die Balag-Klagen Die jüngste Bearbeitung der Balag-Texte18 durch Mark E. Cohen19 hat gezeigt, daß zwischen den alten sumerischen Stadtklagen und den schon in altbabylonischer Zeit bezeugten Balag-Klagen - die ersten Klagetexte dieser Gattung dürften um 1900 v. Chr. entstanden sein20 - eine enge textverwandtschaftliche Beziehung besteht, so daß mit Recht angenommen werden darf, daß die Stadtklagen (besonders LU und LN) als Vorläufer dieser Emesal-Klageliteratur angesehen werden müssen. Es sind insgesamt vier Indizien, die diese Annahme zur Gewißheit werden lassen: 1. weisen die altbabylonischen Exemplare der Balag-Klagen und die Stadtklagen dieselbe Unterteilung in kirugu (+ giägigal)21 auf 2. stimmen Balagklagen und Stadtklagen darin überein, daß sie beide die Klage über die Zerstörung von Stadt und Land aufweisen, auch wenn die Stadtklagen sich konkret auf einen historischen Vorfall beziehen, die BalagKlagen dagegen allgemeiner gehalten sind 3. sind die Balag-Klagen wie auch einige Partien aus LU und LN im Emesal-Dialekt gehalten 4. besteht Gemeinsamkeit in der Frage des „Sitzes im Leben"; die BalagKlagen sind bei Abriß und Wiederaufbau von sakralen Gebäuden (Tempeln u.a.) und wohl darüber hinaus gesungen worden, während die Stadtklagen (zumindest LU und LN) bei dem Wiederaufbau der jeweiligen Stadt (Ur; Nippur) rezitiert worden sind.22

18 Die Bezeichnung balag ist von dem Musikinstrument abgeleitet, mit dem diese Lieder aufgeführt worden sind. Die Bezeichnung „balag GN" in den Liedtexten meint „Harfe(nlied) für GN". Ob es sich bei balag wirklich um eine „Harfe" oder nicht vielmehr um eine ,Pauke" gehandelt hat, ist trotz des Hinweises von CAD B, 39 mit Verweis auf eine Abbildung aus Uruk umstritten. Vgl. dazu KRECHER, SKly, 2 1 und COHEN, Balag, 3 1 . 19 COHEN, M.E., „balag-compositions": sumerian lamentation liturgies of the second and first millennium b.c. (SANE 1/2), Malibu, 1974; COHEN, M.E., The canonical Lamentaüons of Ancient Mesopotamia (CLAM), Bd. 1 u. 2,1988. Vgl. zu den Balag-Klagen auch die Arbeiten von: K R E C H E R , J . , Sumerische Kultlyrik, Wiesbaden, 1966; K U T S C H E R , R., Oh Angry Sea (a-ab-ba hu-luh-ha): The History of a Sumerian Congregational Lament (YNER, 6), 1975; VOLK, K„ Die Balag-Komposition URU AM-MA-IR-RA-BI (Freiburger Altorientalische Studien Bd.18), Stuttgart 1989. 2 0

21

V g l . COHEN, C L A M ,

39.

Vgl. COHEN, Balag, 9 f. mit Bezug auf eine Dumuzi-Klage (CT 42, Nr. 15) bzw. C L A M , 39 in Bezugnahme auf die altbabylonische Dumuzi-Klage T C L 15, Nr.8. 22 Vgl. COHEN, Balag, 9-11; DERS., C L A M , 33-39.

2. Die Balag-Klagen

23

Z u s a m m e n mit den ErSemma- und Ersahungakompositionen gehören die B a l a g - K l a g e n zu den Emesaltexten, die seit altbabylonischer Zeit v o n der b e s o n d e r e n Priesterkaste, den gala (akkad. kalü) 2 3 ,Klagepriestern', k o m p o niert und bis in die seleukidische Zeit 2 4 tradiert und kopiert worden sind. Exkurs:

I.

ErSemma-Lieder25.

D i e Gattung der E r S e m m a - L i e d e r (6r-§6m-ma: „ W e i n e n zur S e m - P a u k e " [akkad. halhallatu-Pauke]) ist mit der der Balag-Lieder eng verwandt und v o n beiden

wahrscheinlich

die

ältere.26 Die ErSemma-Texte,

die

vom

,Klagepriester' (gala / akkad. kalü) vorgetragen wurden, sind für das z w e i t e 23

Zum gala bzw. kalü Priester vgl. AHw I, 427 f.; CAD K, kalü A, 91 ff. und die Ausführungen bei KRECHER (aaO. 2 7 ) : „Gesungen wurden die Emesallieder fast ausschließlich vom Kalü. Das sagt uns vor allem der Katalog 4 R 53, dessen balag-Kompositionen, Eräemma-Lieder und Suilla-Lieder im Kolophon als iSkar kalüti .Pensum des kalü-Amtes' bezeichnet sind." COHEN, ErSemma, 4 ff.; M A U L , aaO. 2 7 . Zu den Aufgaben der kalü-Priester vgl. auch COHEN (aaO. 5 ) : „If we choose to extrapolate from the emesal texts themselves and from information provided by first millennium s.c. ritual instructions and calendars, we may suggest the following minimum schedule of religious activities for the gala-priest in the second millennium B.C.: 1) the recitation of compositions at funerals; 2) the recitation of incantation-hymns to keep away evil demons on such occasions as the onset of a journey or the dedication of buildings and objects; 3) the recitation of lamentations and possibly erSemma's during the razing of dilapidated buildings in order to assuage the anger of the gods at seeing their holy shrines being dismantled. This may well have extended to the renovation of sacred objects; 4) the recitation of specific lamentations and erSemma's on a cyclical basis on certain days of each month. This served as a constant vigil to prevent the anger of the god over acts unknowingly committed by the city or king." 24

Die jüngsten Tafeln stammen aus Uruk (165 v. Chr.) und Babylon (112 v. Chr.). Für die seleukidische Zeit sind die Namen einer Priesterfamilie in Babylon, die sich auf einen gewissen Nanna-Utu zurückführt, belegt. Vgl. dazu C O H E N , CLAM, 24, Anm.55: „We suggest the following approximate dates for the Nanna-Utu family in Seleucid Babylon: Nanna-Utu (Kassite period, ca. 1595-1168 B.C.), Bel-apla-iddin I (240-201 B.C.), Eabalässu-iqbT I (220-177 B.C.), Bel-apla-iddin II (200-149? B.C.), Ea-balässu-iqbi II (170-? B.C.) and Bel-apla-iddin III (150-?) B.C.)." 25 Vgl. dazu COHEN, M.E., Sumerian Hymnology: The ErSemma (HUCA Suppl. No. 2) Cincinnati, 1981; K R E C H E R , SKly, 19-25.29 f.; D A L G L I S H , E.R., Psalm Fifty-one in the light of Ancient Near Eastern Patternism, Leiden, 1962, 19-21; D O B B S A L L S O P P , F.W., Weep, O Daughter of Zion: A Study of the City-Lament Genre in the Hebrew Bible, BibOr 44, Roma, 1993, 7 f.13-15; F E R R I S , aaO. 18; 25 ff. 43 ff.; GWALTNEY, a a O . 1 9 6 f f . 26

Vgl. COHEN (ErSemma, 3 7 ) : „The balag-lamentation was composed no earlier than the Old Babylonian period and subjectively we believe the ersemma to be the older genre; ... . Such speculation is supported by the literary quality of the two genres. The ersemma is a compact, well-structured composition, centering upon one theme. The balag-lamentation, on the other hand, is a very lengthy, rambling work, sometimes having no basic story line. Many of the kirugus of the balag lamentation appear to be independent entities loosely tied together, thus giving the impression that the material of the lament was gleaned from many sources and then sewn together."

24

II. Mesopotamien:

Sumerische

Klageliteratur

und erste Jahrtausend v. Chr. belegt. Den altbabylonischen Ersemma-Tcxten sind vier Charakteristika gemeinsam: 1. Alle Lieder sind im Emesal-Dialekt gehalten. 2. Nur Gottheiten27 werden angesprochen. 3. Die Texte bestehen aus einer literarischen Einheit. 4. Die Eröffnungszeile der Ersemmas enthält eine Aufzählung diverser Epitheta, Städte oder Gebäude28. Inhaltlich bieten die altbabylonischen Er§emma-Texte Erzählungen mit mythologischen Stoffen, Klagen über Katastrophen oder hymnischen Lobpreis. Ist der genaue „Sitz im Leben" der altbabylonischen Ersemmas auch nicht zu eruieren 29 , so kann er doch von dem der Balag-Klagen nicht weit entfernt gewesen sein, da die Texte aus dem 1. Jtsd. v. Chr. zeigen 30 , daß die Ersemma-Texte den Balag-Klagen als abschließender Teil angehängt wurden.31 Als Klage, bestehend aus Balag-Text + Eräemma, wurde diese Komposition bei der Darbringung von Opfern für die jeweiligen Götter oder aber beim Niederrreißen baufälliger Tempelteile gesungen, um den Zorn der Götter zu besänftigen. 32

27 Die altbabylonischen Eräemmas sind folgenden Göttern vorbehalten: Baba; Dingirmah; Dumuzi; Enki; Enlil; Gula; Inanna; Iskur; Martu; Nergal; Ningirgilu; Ninisina; Ninurta; Nisaba; Suen; Sirtur; Utu. In den Eräemmas des l.Jtsd. finden sich folgende Götter: Asarluhi; Enlil; Inanna; Marduk; Nabu; Nergal; Nintinugga; Ninurta; Panunanki. Vgl. COHEN, aaO. 18 f. 28 29

Vgl. dazu COHEN, Ersemma, 18. Für die altbabylonische Zeit ist nur eine Ritualanweisung aus Mari überliefert. Vgl.

COHEN, E r s e m m a , 4 0 . 30 Für die mittelbabylonische Zeit ist kein Textvertreter der drei Gattungen (Balag; Eräemma und ErSahunga) belegt. 31 Vgl. zu den Katalogen K^ und 4R 2 5 3 die Aufstellungen bei COHEN, Ersemma-Texte, 4 2 ff. und COHEN, C L A M (Beilage). 32

V g l . COHEN, E r s e m m a - T e x t e , 4 8 f.

2. Die Balag-Klagen

IL ErSahunga

25

(„Herzberuhigungsklage")33:

Bei dieser im Emesal-Dialekt 34 abgefaßten Gebetsgattung der „Klage zur Herzberuhigung (eines Gottes)" (ErSahunga) handelt es sich um vom KalüPriester gesprochene, nicht gesungene (!) Gebete. 35 „Eine zutreffendere Gattungsbezeichnung hätte nicht gefunden werden können. Denn mit einem ErSahunga-Gebet tritt der Beter mit seinem Leid vor seinen Gott. Sein Leid sieht der Beter als Folge seiner Gottesferne. Sein Gott hat sich, erzürnt über wissentlich oder unwissentlich begangenes Fehlverhalten, von dem Beter abgewandt. Das Ziel eines ErSahunga -Gebetes ist es, das ,Herz' der zürnenden Gottheit zu ,beruhigen', um damit dem über den Betenden eingebrochenen Unheil Einhalt zu gebieten."36 Neuere Textfunde haben gezeigt, daß diese Gebetsgattung schon in altbabylonischer Zeit existierte. 37 Die Texte dieser Gattung folgen dem einheitlichen Aufbauschema38: Einleitung (Als Überleitung kann eine kurze Bitte oder ein erneutes Aufgreifen des Refrains der Einleitung folgen.) Klage (Als Überleitung kann das ,Tun des Beters' beschrieben sein.) Bitte (Als Überleitung kann ein Lobversprechen oder ein Lobwunsch folgen.) Bitte um Fürbitte in Form einer Litanei (Fürbittelitanei)/Sündenbekenntnis Eriahmga-Schlußformel Im Gegensatz zu den Balag- und ErSemma-Texten, die jeweils eine nationale Katastrophe oder Unheil beklagen, ist der Klageteil der ErSahungas als 33 Vgl. dazu neben der neuesten Bearbeitung dieser Textgattung durch M A U L , S T . , Herzberuhigungsklagen - Die sumerisch-akkadischen Ersahunga-Gebete, Wiesbaden, 1988; L A N G D O N , S., Babylonian Liturgies, Paris 1913; SEUX, M . - J . , Hymnes et prières aux dieux de Babylonie et d'Assyrie, 1976, 139-168; KRECHER, SKly, 25; DALGLISH, aaO. 21 ff.; FERRIS, 67-69. 34 Den meisten aus Ninive stammenden ErSahunga-Texten ist eine akkadische Interlinearübersetzung beigefügt worden. 35

V g l . MAUL, ErSahunga, 2 5 f.

3 6

MAUL, aaO.

37

V g l . MAUL, a a O . 9 ff.

3 8

V g l . MAUL, a a O .

1.

17.

26

II. Mesopotamien:

Sumerische

Klageliteratur

„Individualklage" anzusehen. „Da in den ErSahunga-Gebeten Unheil und Not nicht als durch fremde Mächte (Feinde, Dämonen) verursachte Übel gesehen werden, sondern als Folge einer Beleidigung der Gottheit, die der Beter selbst wissentlich oder unwissentlich begangen hat, finden sich in den Klageabschnitten der Gebete auch Sündenbekenntnisse und Entschuldigungen."39 Zwischen den ErSahunga-Gebeten und den Balag-Texten sind große Ähnlichkeiten festzustellen. „Die am Ende der jungen Ersahungas stehende Fürbittelitanei (...) ist eine Kurzfassung der großen, aus Balag-Gebeten bekannten Emesalgötterlitaneien und hat strukturelle Ähnlichkeit mit der ,heart pacification unit' der ErSemmas."40 Der „Sitz im Leben" (Rituale des Götterkultes und apotropäische Rituale) dieser Texte ist nur für das 1. Jtsd. v. Chr. in Keilschrifttafeln aus Ninive, Uruk und Sultantepe in Ritualvorschriften bezeugt. 41 Danach mußte in den entsprechenden Ritualen, nachdem der kalü-Priester eine Balag-Klage und ein Er§emma-Lied gesungen hatte, ein Eräahunga gesprochen werden. Die ErSahungas, die ursprünglich einmal Individualgebete waren, sind nach Ausweis der Quellen erst sekundär in den Götterkult und die Königsrituale eingedrungen. Im Laufe der Zeit (wohl seit mittelbabylonischer Zeit) 42 wurde den sumerischen Texten von den Priestern eine akkadische Interlinearübersetzung beigefügt, um Sinn und Inhalt des Sumerischen, das seit der Ur III -Zeit durch das Akkadische verdrängt worden war, zu sichern. Das Emesal-Sumerisch entwickelte sich damit zu einer reinen Kultsprache (Arkandisziplin). Noch vor 1100 v. Chr. erfolgte die Standardisierung und die damit einhergehende Kanonisierung der Balag-Klage. Im Laufe dieses Prozesses wurden die ehemals getrennten Gattungen Balag und Ersemma zusammengeführt, indem jeweils einer Balag-Klage ein ErSemma-Lied angehängt wurde. 43 Ein für die Liturgie der kalü-Priester abgefaßter Katalog aus der Tontafel-Bibliothek von

39

MAUL, a a O . 2 1 .

40

MAUL, a a O . 15.

41

Vgl. dazu MAUL, 25 ff. Danach wurden die Ersahungas a.) im Götterkult (Einbringung von Götterstatuen/ Götterprozessionen) und in apotropäischen Ritualen (z.B. Rituale gegen den Z o m der Götter, Reinigungsrituale; Kriegsritual; Rituale gegen Pest, Seuche, Übel und Unheil) rezitiert. 42 Für den Zeitraum zwischen der altbabylonischen und neuassyrischen Zeit sind freilich keine Textbelege vorhanden. Auch hier hat der Kassitensturm ein „dunkles Zeitalter" eingeleitet. 43 Vgl. dazu 4R 53. So entspricht der Balag-Klage U D A M KI AMUS das Ersemma umun.bära.kü.ga.

2. Die Balag-Klagen

27

Assurbanipal in Ninive (4R 53) verdeutlicht dieses zur Genüge. In der linken Kolumne hat der Schreiber der Tontafel den Anfang der Balag-Klage, in der rechten den des zugehörigen ErSemma-Liedes notiert.44

1. [balag].meS [dingir.re.e.ne] 2. abzupe.el.lä.äm 3. urü a.§e.er.[ra] 4. e tür.gin7 nigin.na.am 5. d Utu.gin 7 e.ta 6. u 4 . dam ki äm . üs 7. am.e amaS.an.na 8. e.lum di.da.ra 9. e.ne.£m.mä.ni i.lu i.lu 10. an.na e.lum.e

[¿-ax...-x-NE..M ki-i dilmun nig]in-na [,..].zu [u§um gü]d nü.a [ü.li.li] en.zu sa.mar.mar [umun] .bära.kü.ga [ur.sag] abzu.ta r xT...] ¿v i.si.is a [Se.eb].6.kur.ra u.[u8] a.ba mu.un.hul

Ein Vergleich der älteren altbabylonischen Textzeugen der Balag-Klagen mit den Tontafeln aus dem l.Jtsd. zeigt, daß die Klagekompositionen im Verlauf der Textgeschichte neben der Erweiterung um die ErSemma-Partien zwei weitere Veränderungen erfahren haben: 1. Die Götter- und Tempellisten der jeweiligen Balag-Klage wurden vom kalü-Priester den Zeitumständen angepaßt.45

44

Vgl. dazu KRECHER, Skly, 20ff; COHEN, ErSemma, 42 ff. Vgl. COHEN, CLAM, 40: „UDAM KI AMUS - Although there are not many points where both versions coincide, at such junctures the differences are negligible, with the exception of the kirugu e-ne-fem zu-56 e-ne-fem-zu-56. In this instance the late version has a standard list of thirteen temples after which the refrain e - n e - f e m - z u - S f e i s repeated. The Old Babylonian recension contains only one line, referencing the Ekur. This development echoes the development of the erSemma, wherein late versions have expanded temple and god lists. ... ELUM GUSUN - In the first millennium B.C. version, a list of Enlil epithets has been expanded to include Enki, Asarluhi, Enbilulu, Muzebbasa and Dikumaham. This is similar to the late expansion noted above in UDAM KI AMUS. Further on in this opening kirugu the god list has been once more altered, Nammu and Arue have been replaced by Martu, Panunanki and Nana. However, except for an expansion of a few more lines at the end of this first kirugu and the differences already mentioned, the two kirugu's are very similar. The overlapping portions of six other kirugu's are nearly identical, except for the late replacement of god names as in the first kirugu." 45

28

II. Mesopotamien: Sumerische

Klageliteratur

2. In altbabylonischer Zeit hatten die Balag-Klagen ihren „Sitz im Leben" als Klagetexte einerseits bei Fest- und Opferzeremonien, andererseits bei dem Abtragen und Wiederaufbau baufälliger Tempelbauten. Durch die Rezitation von Balag-Klagen sollte der Zorn der Götter besänftigt werden. In neuassyrischer und seleukidischer Zeit wurden sie darüber hinaus ein fester Bestandteil regelrechter Kultkalender und Ritualvorschriften der kalü-Priester und dienten dazu, einerseits jegliches - auch durch Ominaschau erspähtes drohendes Unheil und Übel (vgl. die namburbi -Texte), andererseits den Zorn der Götter abzuwehren. So glaubte man, vor den Launen der großen Götter geschützt zu sein.46

3. Die Balag-Klage DD AM KI AMUS (u4-dam ki äm-üs) Mit der Balag-Klage u4-dam ki äm-üs („Wie der Sturm berührt es die Erde") 47 liegt eine an Enlil (Emesal: Mullil)48 gerichtete Klagekomposition vor, deren älteste Textvertreter in die altbabylonische Zeit reichen und deren jüngste Tafeln aus seleukidischer Zeit stammen. Darüber hinaus besteht die Besonderheit dieses Tafelwerkes darin, daß es Übereinstimmungen mit „Lamentation over the Destruction of Ur" 49 und „Curse of Agade" 50 aufweist, so daß die Komposition u4-dam ki äm-üs in ausgezeichneter Weise die zwischen den älteren Stadtklagen und den Balag-Klagen bestehenden Beziehungen zu belegen vermag. Den Aufbau dieser Balag-Klage zu eruieren, ist nicht nur aufgrund der Beleglage der „Tontafelzeugen" erschwert, sondern auch durch die den BalagKlagen anhaftende Unübersichtlichkeit der Struktur.51 46

Vgl. dazu COHEN, CLAM, 21 f.26.43 f.; DERS., Balag, 13-15. Vgl. die jüngste Bearbeitung dieses Textes durch COHEN, CLAM, 120-151 und die Übersicht der Handschriftenverteilung zur Partitur bei BORGER, Schlüssel zu M. E. COHEN, CLAM, BiOr 47 (1990), 20 f. 48 Vgl. auch die weiteren neun Enlil-Balag-Klagen, die von C O H E N (aaO.) bearbeitet worden sind, nämlich: UTUGIN ETA: Come Out like the Sun! / AME A M A § A N A : The Bull in his Fold / ELUM DIDARA: The Honored One who Wanders About / ENEMANIILU ILU: His Word Is a Wail! A Wail! / ANA ELUME: The Honored One of Heaven / ELUM GUSUN: Honored One, Wild Ox / AME BARANARA: For the Bull on His Dais / ZIBUM ZIBUM of Enlil: Arise! Arise! / AABBA HULUHA of Enlil: The Raging Sea. 4 9 L U , Z. 430-435 entspricht U D A M KI A M U S , Z.f+225 ff. Vgl. dazu auch C O H E N , Balag, 10; DERS., C L A M , 37 f. 50 CA, Z.152 entspricht UDAM KI AMUS, Z. 15. Vgl. dazu die Bemerkungen bei COHEN, CLAM, 34, Anm.97. 51 Im Gegensatz zu FERRIS (Genre, 3 8 ff.), der glaubt, wenigstens das Strukturmodell für einen „balag Type-B" herausarbeiten zu können (aaO. 42:1. Praise I II. Accusatory Complaint 47

3. Die Balag-Klage

UDAM KI AMUS (u4-dam ki äm-üs)

29

Aufbau: Z. 1-24:

Das Wort der Götter (Hymnus)

Z. 25-52:

Die Macht des Götterwortes (Hymnus) Refrain (Z. 53)

Z. 54-68:

Enlils Macht und Tat (Hymnus/Klage)

Z. 69-78:

Enlils Tat (Klage)

Z. 79-126: Das Wort Enlils (Klage + Bitte) [Z. 127-190/ Z.191-199/ Z.200: Klage der Göttin Ninlil] 52 Z. b+142-b+153: Das Wort der Götter (Hymnus) Refrain (Z.

b+154)

Z. b+155-c+163: Zerstörung des Tempels durch Enlil (Klage) Weggebrochen Z. d+165-f+224: Beschreibung des verwüsteten Landes und der zerstörten Städte (Klage) Z. f+225-f+277:

Emesalgötterlitanei („Herzberuhigung" + Bitte)

Z. f+278f

I III. Appeal I IV. Lament Proper) verzichtet COHEN auf den Versuch, ein gültiges Modell herauszuarbeiten, mit dem Hinweis (Balag, 7) auf drei Elemente, die allen Balag-Klagen gemeinsam seien. „The text of the lamentation consists of three basic elements, praise, narrative and importunity. The majority of the content is devoted to praising the deity, such praise displaying to the god the sincere devotion of his supplicants, the laudatory verses assuring the deity that man understands his subservient and helpless position, recognizing the overlordship of the god. A second aspect of the praise might well be the cajoling of the god, by which he might grant the desparate plea of a beleaguered nation. The narrative in the laments describes the decimation of the land, the eruption of natural forces, foreign invasions, all unleashed by the god in his unbending wrath. Described are the reactions of the goddesses, bewailing the fate of their land, their temples and their people. Several compositions detail unsuccessful attempts by various deities to intercede with Enlil on the people's behalf. The importunities are an attempt to halt the ruination of the country, the nation pleading that the heart and mind of the god be assuaged, that his favor and loving care return to his people. So too scores of other gods are invoked that they might also urge an end to a devastation that has not spared their temples and cities." 52 Vgl. dazu COHEN, CLAM, 146-151. Es handelt sich um eine Textergänzung aus N: K.2881+2786 (BL pi. LXIX obv.), O: K.3288 (BL 164) und P: MLC 1864.

30

II. Mesopotamien:

Sumerische

Klageliteratur

In einer für die Balag-Klagen ungewohnten Weise setzt die Komposition u4-dam ki äm-üs nicht mit einem Hymnus auf den Gott - in diesem Fall Enlil ein, sondern preist in einer geradezu epischen Breite, die die ersten beiden kirigu (Z.l-52) umfaßt, die Macht und Unerforschlichkeit des Götterwortes. „Sein Wort berührt die Erde wie ein Sturm. Sein Sinn ist unerforschlich." e-ne-em-mä-ni u4-dam ki äm-üs §[ä-bi nu-pä-dej. Erstaunlicherweise handelt es sich jeweils nur um männliche Gottheiten, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden. 53 In für die Balag-Klagen typischer Redundanz wird die einleitende Qualifikation des göttlichen Wortes jeder der genannten Gottheiten zugeschrieben (Z. 1-10). Die Wirkmächtigkeit desselben wird im folgenden in zwei Abschnitten zum einen in bezug auf Götter und Natur (Z. 11-24), zum anderen in bezug auf die Menschheit (Z. 25-52 = 2. kirugu) entfaltet. In seiner Allmacht erschüttert das Wort (e-ne-em; akkad. amatu) Himmel und Erde, selbst die Anunna-Götter geraten durch dasselbe ins Wanken. Seiner Unerforschbarkeit (vgl. Z.l-10: §[ä-bi nu-pä-d£]: „sein Sinn ist unerforschlich") entspricht es, daß es für diese Qualität des Wortes keinen professionellen „Wahrsager" gibt.54 Das Gotteswort bleibt dunkel. 11. e-ne-fem an-se an al-düb-ba-an-ne a-ma-tu4 Sa e-liSAN-e

ü-rab-bu

12. e-ne-fem ki-Se ki al-sig-ga-ne Sa Sap-liS er-se-ti

ü-nar--tu

13. e-ne-fem dA-nun-na in-ge16-le-em-mä-e§-a-ne sä dA-nun-na-ki in-ne-ES-ri: Sd Sä-ah-lu-uq-ti

14. e-ne-£m-mä-n6 a-zu nu-un-tuku Sim-mü nu-un-tuku a-mat-su ba-ra-a ul i-Su Sa-i-la ul i-Su „His word, which causes the heavens to rumbie above! His word, which causes the earth to shake below!

53 Folgende Götter werden genannt: An; Enlil; Enki; Asarluhi; Enbilulu; Muzebbasa; Seddukiäarra; Dikumaham. 54 Vgl. dazu auch Z.35-37: . ¿ e t me bring his word to the diviner and that diviner will lie. Let me bring his word to the interpreter and that interpreter will lie" (CLAM, 137).

3. Die Balag-Klage UDAM KIAMUS

(u4-dam ki äm-üs)

31

His word, (at) which the Anunna-gods stumble! His word has no diviner. It has no interpreter." 55 D a s z w e i t e kirugu (Z. 2 5 - 5 2 ) verdeutlicht d a s f a s c i n o s u m und t r e m e n d u m d e s G ö t t e r w o r t e s 5 6 im Hinblick auf das U n h e i l , w e l c h e s e s unter d e n M e n s c h e n wirkt. D e r U n h e i l s c h a r a k t e r d e s W o r t e s wird durch das a b e r m a l s w i e d e r h o l t e „Wehe,

sein

unterstrichen.

Wort!"

(ü/u5-a

e-ne-öm-mä-ni;

u5 = gflSu,

Trübsal57)

58

Sein Wort! Wehe, sein Wort! Sein Wort! Der Erhabene! Wehe, sein Wort! (Z.25-26) Frau und M a n n , das Land und s e i n e B e w o h n e r sind v o n d e m A u s s p r u c h der Götter betroffen. In k u n s t v o l l e m Parallelismus und C h i a s m u s wird d i e n e g a t i v e Mächtigkeit in W o r t e gefaßt. ,,Let me bring his word to the diviner and that diviner will lie. 59 Let me bring his word to the interpreter and that interpreter will lie. 60 His word afflicts a man with woe. That man moans. His word afflicts a young woman with woe. That young woman moans. As his word proceeds lightly, it destroys the land. As his word proceeds grandly, it destroys habitations, (var: it kills people) His word is a covered fermentation vat. Who may know what is inside it? (var: Inside it is whirling.) His word, whose interior is unknown, its exterior tramples down (everything). His word, whose exterior is unknown, its interior tramples down (everything). His word causes men sickness. It weakens men. When his word drifts in the heavens, indeed the country is sick. When his word walks on the land, indeed the land is diminished.

55

56

COHEN, C L A M , 136.

Es erscheinen die gleichen Götter wie in Z.3, nur mit dem Unterschied, daß statt SeddukiSarra der bekanntere Name Nabu steht. 57 Vgl. dazu auch das Glossar bei M A U L , aaO. 4 5 2 . Zur Interjektion vgl. T H O M S E N , Language, 86 f. 58 Die ersten beiden Einheiten sind parallel zueinander aufgebaut. Nach der hymnischen Beschreibung des Wortes (+ Götterliste) und der Feststellung der Verborgenheit (Wahrsager und Deuter scheitern) werden jeweils die Auswirkungen des Götterwortes geschildert. 59 Z.35. OB: [e]-ne-6m-mä-n[i ] a-zu-b[i...] FM: e-ne-öm-mä-ni a-zu ga-äm-ma-ga a-zu-bi lul-la Interlinearübersetzung: a-mat-su ana ba-ri-i ibba-ab-bal-ma ba-ru-ü äu-ü is-sa-ra-är 60 36. OB: [ e - n e R m -mü g[a?-...] lul?-[la] FM: e-ne-fem-mä-ni Sim-mü ga-äm-ma-ga Sim-mü-bi lul-la Interlinearübersetzung: ana sä-i-li ib-ba-bal-ma 5ä-i-li äu-ü is-sa-ra-ä

32

II. Mesopotamien: Sumerische

Klageliteratur

His word is a storm which chases (all) five out from a household of five. The word of Asarluhi chases (all) ten out from a household of ten."61

Die folgenden beiden Einheiten (Z. 54-68; Z. 69-78) stellen in Form einer Klage dem Gott Enlil („Herr des Windes"/ d Mu-ul-lil) ein klagendes „Ich", vermutlich die Göttin Ninlil, gegenüber. Der große hymnische Vorlauf und Preis des göttlichen Wortes, so wird es jetzt erst deutlich, gilt dem einen Hauptgott Enlil. Er ist der „Erhabene" (e-lum), dessen Wort wahr und dessen Verlautbarungen unumkehrbar sind. (vgl. Z. 57 u. 59// Z. 71 u. 73). Enlils Prädikate und Eigenschaften werden hymnisch von dem hier sprechenden Ich (= die Göttin) aufgezählt, aber gleichzeitig auch in ihren verheerenden und unheilvollen Wirkungen geschildert. 62 Genauso wie sein Schlaf ist der Gott in seinem Wesen trügerisch. In den großen Epen des mesopotamischen Raumes steht Enlil für Verwüstung und Vernichtung. Beides scheint unlöslich mit ihm verbunden zu sein. Der Zorn Enlils bringt die Ordnungen und Strukturen des Lebens durcheinander. Chaos und Destruktion sind Auswirkungen seines leidenschaftlichen Grimms. „The honored one, the lord of the lands, the unfathomable one, whose word is true, whose orders no one can challenge, he honored one, Enlil, whose utterances are unalterable, is a storm which destroys the cattle pen, which tears out the sheepfold." (Z. 56-60) „The honored one, the lord of the lands, the unfathomable one, whose word is true, whose orders no one can challenge, Enlil, whose utterances are unalterable, like the planted shuppatu-grass, like the planted elpetu-grass, like a lone poplar planted on the shore, like the cornel planted on dry land, like a lone tamarisk planted in a storm like a single planted reed the eminent one tramples me down." (Z. 6 9 - 7 8 ) 6 3

Die zerstörerische Kraft des Wortes von Enlil beklagt der vom Ausruf „bei deinem Wort, bei deinem Wort, wehe, bei deinem Wort!" (e-ne-em-zu-se e-ne£m-zu-S£ a € e-ne-em-fzu-Se]) refrainartig bestimmte Abschnitt Z. 79-126. Im

61

COHEN, CLAM, 137. Selbst die „me's" der klagenden Person bleiben vor dem Zorn Enlils nicht verschont. Zum Begriff me vgl. auch die me-Liste in „Enki und die Weltordnung", in, J. BOTTÉRO/S.N. KRAMER, Lorsque les dieux faisaient l'homme. Mythologie mésopotamienne, Paris 1989, 62

1 6 5 - 1 8 8 u n d G . FÄRBER, Art. m e , in, RIA 7, 6 1 0 - 6 1 3 . 63

COHEN, a a O . 1 3 7 f.

3. Die Balag-Klage UDAM KI AMUS (u4-dam ki äm-üs)

33

e i n z e l n e n w e r d e n d i e Hauptkultorte (Nippur, Sippar, B o r s i p p a u.a) m i t ihren T e m p e l n u n d G ö t t e r s c h r e i n e n genannt, über d i e das W o r t E n l i l s z u k o m m e n droht. „Your city Nippur! At your word, at your word, woe to the house at your word! The brickwork of the Ekur! At your word, at your word, woe to the house at your word! The Kiur, the great place! At your word, at your word, woe to the house at your word! The shrine Enamtila! At your word, at your word, woe to the house at your word! The brickwork of Sippar! At your word, at your word, woe to the house at your word! The shrine Ebabbar! At your word, at your word, woe to the house at your word! The brickwork of Tintir! At your word, at your word, woe to the house at your word! The brickwork of the Esagil! At your word, at your word, woe to the house at your word! The brickwork of Borsippa! At your word, at your word, woe to the house at your word! The brickwork of the Ezida! At your word, at your word, woe to the house at your word! The Emahtila! At your word, at your word, woe to the house at your word! The Etemenanki! At your word, at your word, woe to the house at your word! The Edaranna! At your word, at your word, woe to the house at your word!" (Z. 79-92) 6 4 S t ä d t e u n d T e m p e l s i n d v o n der Z e r s t ö r u n g bedroht, H i m m e l und E r d e s t ü r z e n , d i e F r i e d e n s o r d n u n g unter T i e r e n und M e n s c h e n ist g e s t ö r t . D a s Mutterschaf läßt d a s L a m m im Stich, d i e Mutter ihr Kind ( V g l . Z. 9 7 - 1 0 0 ) . D i e G ö t t i n v o n N i p p u r und G e m a h l i n Enlils, Ninlil, liegt niedergestreckt in ihrem H e i l i g t u m (Z. 1 0 6 f.). D a s A u s m a ß der V e r n i c h t u n g ist g e w a l t i g . D i e K l a g e schlägt in A n k l a g e um.

„Gaze at the... which has been destroyed! 65 ..., gaze at your city which has been destroyed! Father Enlil, gaze at your city which has been destroyed! Gaze at... Nippur, which has been destroyed! Gaze at... Ekur, which has been destroyed! Gaze at the Kiur and the Enamtila, which have been destroyed! Gaze at Sippar and the Ebabbar, which have been destroyed! Gaze at your city, Tintir, which has been destroyed! Gaze at the Esagil and Borsippa, which have been destroyed! Gaze at the Ezida and the Emahtila, which have been destroyed! Gaze at the Etemenanki, which has been destroyed! Gaze at the Edaranna, which has been destroyed! Your eye never tires from gazing about. Your neck doesn't straighten up from bending. When 6 6 will your heart tire from thinking?" (Z. 108-122) 6 7 64

65

COHEN, a a O . 138.

Z.108: [..-amu-un-hul-a u 6 -du l r ga-ab DU (..)]. -ga (Emesalverb) = de 6 . Die Wann-Frage wird in folgenden Balag-Klagen thematisiert (die 39 Balag-Klagen sind der Einfachheit halber nach ihrer Reihenfolge in CLAM I und II durchnumeriert!): 2 , 1 - 1 4 ; 3, 66

34

II. Mesopotamien: Sumerische I n n e r h a l b der g r o ß e n

Klageliteratur

Klagekomposition

s t e l l e n d i e v o n M.

Cohen

rekonstruierten Zeilen 1 2 7 - 2 0 0 die K l a g e der Stadtgöttin v o n N i p p u r (Nibru k i ta), N i n l i l , dar. E s gehört zu d e n Charakteristika der B a l a g - K l a g e n , d a ß s i e n e b e n d e m S e l b s t p r e i s v o n G ö t t i n e n und Göttern a u c h K l a g e n v o n S t a d t g ö t tinnen a u f w e i s e n , d i e innerhalb der litaneiartigen K l a g e a b s c h n i t t e unvermittelt n e b e n der K l a g e der Stadtbewohner zu stehen k o m m e n . 6 8 127. [urü-ta ur-re ma-ni-in-ma-al...] 128. [(x)balag-di urü-ta ur-re ma-ni-in-ma-al...] „In der Stadt ist der Feind gegen mich gesetzt worden. Eine Klage! In der Stadt ist der Feind gegen mich gesetzt worden!" D u r c h d a s W o r t der Hauptgötter, A n und Enlil (Z. 151 f f . ) , sind Stadt und T e m p e l zerstört (Z. 152 ff.), ist d e m Feind in d e n H e i l i g t ü m e r n d a s F e l d überlassen worden. „Iii my city, Nippur, the enemy has been set against me. In the brickwork of the Ekur, the Kiur, the Enamtila, within the brickwork of Sippar the enemy has been set against me. In the shrine Ebabbar, the Edikukalama within the brickwork of Tintir the enemy has been set against me. Within the brickwork of the Esagil, the shrine Eturkalama, within the brickwork of Borsippa the enemy has been set against me." (Z. 142-148) 6 9 D i e Göttin ist in ihrer e i g e n e n Stadt zur Fremden g e w o r d e n und verwaist. ,4, the lady, am a runner who has entered a strange city. I am (a merchant from) Dilmun whose ship has sunk in the swamp. I am a fisherman whose ship ... in the reed-bed. In my city I am a foreigner; in my (own) street I am a stranger. In the ... place of my mother who bore me, I am an indentwed servant.

e+165-168; (UDAM KI AMUS =) 5, 122; 6, b+247-257; 10, a+70.a+155; 12, b+86-92; 13, b+47-59.c+72; 16, a+54-59; 22, 34 f.89-91.127; 23, 1 - 2 ; 25, b+13-39; 30 (S.591); (URUHULAKE =) 34, e+111 ff. 67

COHEN, a a O . 1 3 9 .

68

Vgl. dazu z.B. die Balag-Klage üru äm-ma-ir-ra-bi („Diese Stadt, die geplündert wurde"). S. dazu: COHEN, CLAM, 536-603; VOLK, K„ Die Balag-Komposition URU AMM A - I R - R A - B I (Freiburger Altorientalische Studien Bd.18), Stuttgart 1989; S PIECKERMANN, Stadtgott und Gottesstadt. Beobachtungen im Alten Orient und im Alten Testament, Bib. 73 (1992), 1-31; bes. 9 ff. 69

COHEN, a a O . 1 4 9 .

3. Die Balag-Klage UDAM K1 AMUS (u4-dam ki äm-üs)

35

(Although) I (might) have courage, I have no strength. I, the princess, no longer (even) have courage in my (own) cella." (Z. 169-175) 70 N a c h der erneuten B e t o n u n g der Machtfülle d e s Götterwortes (Z. b + 1 4 2 1 5 3 ) und d e m Refrain in Z. b + 1 5 4 setzt die Klage abermals ein, n a c h d e m w i e d e r u m festgehalten worden ist, daß der T e m p e l zerstört ist (Z. b + 1 5 5 - 1 6 2 ) . D e r Handel ist eingestellt, das Land dem Chaos ausgesetzt. Der Kult ist sistiert, die Priester sind v o n ihrer A u f g a b e entbunden. „The merchant has been cut off. The entire country is in confusion." (Z. d+165) „Singer of dirges! From the shrine Nippur, from the brickwork of the Ekur, the Kiur, the Enamtila and the brickwork of Sippar has he been cut off." (Z. d+167-169) „The gudu-ptitsl no longer speaks happily there. The gala-priest no longer chants there ,Oh, your heart!' The gudu-priest has left... The en-priest has left the gipar-building. The gala-priest has left in sighs." (Z. d+184-188) „The fox drags his tail there." (Z. d+192) „In that place where oxen are slain men are slain. In that place where sheep are butchered men are butchered." (Z. d+200 f.) 71 S c h l i e ß l i c h m ü n d e t d i e s e große Klage, von der hier nur e i n i g e Z e i l e n dargeboten worden sind, in die alles umschließende Warum-Frage 7 2 ein. .father Enlil, (your) eyes never tire. Your neck does not straighten up. Why do you wander about?" (Z. f+223 f.) 73 D i e B a l a g - K l a g e schließt mit der großen Litanei, mit der H i m m e l , Erde und das g a n z e P a n t h e o n 7 4 aufgerufen werden, auf Enlil beruhigend e i n z u w i r k e n . Stellvertretend für die gala-Priester und die ganze Stadt sollen die großen Götter bei d e m Gott, d e s s e n Schlaf trügerisch ist, die Bitte für die Städte und ihre Heiligtümer einlegen. „,May you not abandon your city!' may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon Nippur and the Ekur!' may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon the Kiur and the Enamtila!' may each utter to you! 70

COHEN, a a O . 150.

71

V g l . COHEN, a a O . 140 f.

72

Zur Warum-Frage in den Balag-Klagen vgl. auch: (ABZU PELAM =) 1, 28-38; 4, 9098; (UDAM KI AMUS =) 5, f+224; 12, 29-32(33); 13, c+71.c+73. c+111-115.C+118; 16, c+170.172.c+188-192.195; 30 (S.589: 7.Z.v.unten). 73

74

COHEN, a a O . 141.

Zu diesen Göttern gehören: Enki, Ninki, Enmul, Ninmul, Nindashurima, Ninlil, Inanna, Meslamtaea u.a.

Endashurima,

II. Mesopotamien:

36

Sumerische

Klageliteratur

May each utter a prayer to you! ,May you not abandon Sippar and the Ebabbar!' may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon your city, Tintir!' may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon the Esagil and Borsippa!' may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon the Ezida and the Emahtila! may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon the Etemenanki!' may each utter to you! May each utter a prayer to you! ,May you not abandon the Edaranna!' may each utter to you! May each utter a prayer to you!" 75

Verbunden mit dieser Bitte sollen die Götter Enlil als den „Herrn", den rechten „Hirten", als den „Sturm, der im Hause verschlossen ist", preisen. 76 Die Kompositionen der Balag-Klagen - soviel ist deutlich geworden stehen in enger Beziehung zu den älteren, sumerischen Stadtklagen. Die BalagKlagen sind der Versuch des jederzeit vom Zorn der Götter bedrohten Menschen, den Heilszustand von Stadt, Land und Bevölkerung zu bewahren und Unheil abzuwenden. In Rituale und Kalender eingebunden, dienen sie dazu, beschwichtigend auf die Hauptgottheiten einzuwirken und sich ihrer Gnade zu versichern. Als liturgische Texte verdanken sich die Balag-Klagen den besonderen Gegebenheiten des mesopotamischen Kulturraumes. Die von den Städten und ihren Haupttempeln geprägte menschliche Gesellschaft auf der einen und das himmlische Pantheon mit seinen Haupt- und Nebengottheiten und den den Städten entsprechenden Stadtgottheiten auf der anderen Seite spiegeln sich in dieser speziellen Literaturgattung wider. Der Tempel und die Stadt stehen im thematischen Mittelpunkt dieser Kompositionen. Der charakteristische Unterschied zwischen den sumerischen Stadtklagen und den Balag-Kompositionen ist darin zu sehen, daß es sich bei letzteren um Klagekompositionen handelt, die sich auch mit der Zerstörung von Land, Städten und Tempeln befassen, aber allgemeiner gehalten sind, genauer: Aufzählungen von vielen Städten und Tempeln enthalten, die je nach Rezension des Textes geändert werden können. Hier ist mit Händen zu greifen, wie die Gattung der Stadtklage in eine formularartige Gattung überführt worden ist, die die Wiederverwendbarkeit der Texte weit über den ursprünglichen Anlaß 75

COHEN, a a O .

76

Die letzten Zeilen von U D A M KI AMUS beruhen freilich auf der Rekonstruktion von

142.

COHEN ( a a O . 1 3 5 f . ) .

3. Die Balag-Klage

UDAM KI AMUS (u^dam ki äm-üs)

37

hinaus gewährleistet - dies ist eine aufschlußreiche Parallele zu manchen alttestamentlichen Volksklagen, die diese Wandlung von der Einmaligkeit der Entstehungssituation zur Wiederverwendbarkeit als aktualisierte Traditionsliteratur durchgemacht haben. Als schlagenden Beweis für diesen Wechsel hat man bei den Balag-Klagen einen Belegbefund, den es aufgrund der unterschiedlichen Schreibkultur in Palästina nicht geben kann: eine bis in die seleukidische Zeit belegte Kopier- und Rezensionstätigkeit. Die Balag-Kompositionen sind also fast 2000 Jahre in Gebrauch gewesen. Noch eine andere Beobachtung ist bei den Balag-Kompositionen interessant und für die alttestamentlichen Volksklagelieder potentiell erkenntnisträchtig. Diese Klagelitaneien wurden von einer bestimmten Priestergruppe komponiert und betreut: den oben schon genannten gala/kalü-Priestern. Diese Priesterschaft hat für die Kompositionen einen speziellen sumerischen Dialekt verwendet (emesal) und in diesem Dialekt auch noch andere Klagekompositionen (Ergemma-Lieder und ErSahunga-Gebete) verfaßt. Die Eräemma-Lieder werden dann zuweilen als Abschluß einer Balag-Komposition benutzt, während die ErSahunga-Gebete (Klage zur Herzberuhigung [eines erzürnten Gottes]) kompliziertere Traditionskontakte zu den Balag-Kompositionen und EräemmaLiedern haben. Als interessantes Phänomen bleibt im Blick auf die alttestamentlichen Volksklagen festzuhalten, daß eine Priestergruppe unterschiedliche, aber ähnliche Textgattungen komponiert und im Kult gebraucht hat. Übereinstimmungen in Sprache und Vorstellungsgehalt können auf diesem Wege auch in alttestamentlichen Klagekompositionen zustande gekommen sein. Bei den ErSahunga-Texten ist im Blick auf die alttestamentlichen Volksklagen noch eine weitere Beobachtung von Interesse. Sind die ErSahunga-Texte auch ursprünglich Individualklagen, so sind sie doch in Ritual Vorschriften aus dem 1. Jahrtausend mit Balag-Kompositionen und ErSemma-Liedern zusammengestellt und auf diese Weise nationalisiert bzw. kollektiviert worden. Götterkult und Königsrituale sind für die EräahungaGebete somit ein sekundärer Sitz im Leben, der die Identität des in den Gebeten sprechenden Ichs grundlegend verändert hat. Solche Wege vom Individualzum Kollektivgebet sind auch in der alttestamentlichen Klageliteratur anzunehmen. Eine noch stärkere Veränderung des Sitzes im Leben ist bei den Balag-Kompostionen durch ihre in. neuassyrischer und seleukidischer Zeit erfolgte Integration in die Omen-Literatur (Namburbi-Texte) zu beobachten. Anders jedoch, als es in den alttestamentlichen Klageliedern und Psalmen zu beobachten ist, kommen in den Balag-Klagen in besonderer Weise das menschliche Gotteslob und der Selbstpreis der Gottheiten nebeneinander zu

38

II. Mesopotamien:

Sumerische

Klageliteratur

stehen. 77 Als ein für den mesopotamischen Kulturraum grundsätzlich zu betrachtendes Phänomen bleibt die Tatsache, daß sich an der Macht und Ohnmacht der jeweiligen Gottheit, an ihrer Gunst oder ihrer Mißgunst und an ihrer Stellung innerhalb des empfindlichen Beziehungsgeflechts der Götter das Wohl und Wehe der Adoranten entscheidet.78 Daß gerade die Balag-Klagen, in denen sich theologische Reflexionen und Fragen verdichten, als wichtige und angemessene Antwort des Menschen auf das Wirken der Götter empfunden wurden, zeigt der lange Prozeß der Kanonisierung und Tradierung dieser Texte bis hinab in die seleukidische Zeit. -

Wie Israel auf den Untergang der Stadt Jerusalem und den damit verbundenen Theologoumena des Zornes und der Verwerfung von seiten Jhwhs in seiner ausgeprägten Gebetstradition und in dem Angewiesen-Sein auf diesen einen Gott zu antworten versucht hat, soll in der folgenden Untersuchung der alttestamentlichen Texte näher gezeigt werden. Daß dabei gerade die ältesten Texte innerhalb der Sammlung der Threni thematische Affinitäten zu den sumerischen Stadtklagen aufweisen, soll im folgenden gezeigt werden.

77

Vgl. dazu die Balag-Klage URU AMIRABI ( C O H E N , CLAM II, 536 ff.594; V O L K , Balag-Komposition, 134 ff.), die den Selbstpreis der Göttin Inanna wiedergibt. Vgl. dazu auch SPIECKERMANN, Stadtgott, 16 f. 78 Vgl. dazu auch die Texte und Ausführungen von DIETRICH, M., „Kein schlechtes Gewissen hatte ich" - Einige babylonische Texte zum Thema Unheil als Zeichen der Gottesfeme, in, „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?" Fs O. Kaiser, hrsg. v. I. Kottsieper u.a., Göttingen 1994, 51-64. „Fehlende Verehrung der für Wohl und Leben verantwortlichen Gottheiten führt sowohl bei Land und Leuten als auch beim Individuum zu innerer und äußerer Not, die Untergang und Tod zur Folge hat. Rettung besteht nur, wenn sich die Gottheit durch Reue und eine verbesserte Lebensweise zum Erbarmen bewegen läßt." (Ebenda, 63).

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes 1. Zwei frühe Zeugnisse des Untergangs von Jerusalem: Als Gegenstück zu den alten sumerischen Stadtklagen der mesopotamischen Literatur finden sich im Literaturbereich des Alten Testaments die „Klagelieder" (Threni). Es handelt sich bei ihnen um Texte, die auf das historische Ereignis des Untergangs und der Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v. Chr. Bezug nehmen. Inhaltlich erweisen sie sich als ein Versuch, die erlebte Katastrophe in theologischer Weise zu bedenken. Die ältesten Textzeugen innerhalb dieser Textgruppe sind Threni 2 und Threni 5, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll. In unterschiedlicher Weise werden Leid und Not des Volkes dargestellt und gedeutet. Während Threni 2 in der Anklage verharrt, werden in Threni 5 Elemente der alten Tempeltheologie sichtbar, die auf das Thronen Jhwhs als Element der Vergewisserung abheben.

1.1. Threni 2 - Jhwh als Feind

1

2

3

4

5

Israels

Ach, verdunkelt3 hat in seinem Zorn der Herrb die Tochter Zion, vom Himmel zur Erde geworfen hat er die Pracht Israels und hat nicht des Schemels seiner Füße gedacht am Tage seines Zorns. Vernichtet hat der Herr, ohne Erbarmen zu haben, alle Auenc Jakobs, niedergerissen hat er in seinem Grimm die Festungen der Tochter Juda, zu Boden geschlagen, entweiht hat er das Königreich und seine Beamten. Abgehauen hat er in Zornesglut jegliches Horn Israels, zurückgezogen hat er seine Rechte vor dem Feindd, und entbrannte in Jakob wie eine Feuersglut, die um sich frißt. Gespannt6 hat er seinen Bogen wie ein Feind, stand da - seine Rechte (erhoben) wie ein Feind, und tötete jegliches, was dem Auge lieb ist, im Zelt der Tochter Zion hat er wie Feuer seinen Zorn ausgegossen. Es ward der Herr wie ein Feind, vernichtet hat er Israel, zerstört hat er ihre Paläste, vernichtet hat er seine Festungen und gemehrt hat er in der Tochter Juda Jammer und Klagef.

40

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

Er zerstörte wie einen Garten seine Hütte, er verwüstete seinen Festort. Vergessen ließ Jhwh in Zion Versammlung und Sabbat, auch hat er in seinem glühenden Zorn König und Priester verworfen. Verstoßen hat der Herr seinen Altar, entweiht sein Heiligtum; er hat in die Hand des Feindes ausgeliefert die Mauern ihrer Paläste8, die Stimme haben sie im Hause Jhwhs erhoben wie an einem Festtag. Danach getrachtet hat Jhwh, die Mauer der Tochter Zion zu zerstören. Er hatte die Meßschnur ausgespannt, nicht hat er seine Hand von der Vernichtung zurückgezogen. Wall und Mauer hat er trauern lassen, zusammen sind sie niedergesunken. In den Boden sind ihre Tore versunken, vernichtet und zerbrochen11 hat er ihre Riegel. Ihr König und ihre Fürsten sind unter den Heiden, es gibt keine Weisung mehr, auch ihre Propheten finden keine Offenbarung von Jhwh. Es sitzen schweigend am Boden die Ältesten der Tochter Zion. Asche haben sie sich auf ihr Haupt gestreut, die Säcke umgegürtet. Zu Boden gesenkt haben die Jungfrauen Jerusalems ihren Kopf. Vor Tränen sind meine Augen ermattet, gären meine Eingeweide. Zu Boden gegossen ist meine Leber wegen des Zusammenbruchs der Tochter meines Volkes, da Kind und Säugling auf den Plätzen der Stadt verschmachten. Zu ihren Müttern sprachen sie: „Wo ist Brot und Wein?", als sie wie zu Tode getroffen auf den Plätzen der Stadt verschmachteten, als sie ihr Leben an der Brust ihrer Mütter aushauchten1. Was soll ich dir gleichsetzen, mit wem dich vergleichen, du Tochter Jerusalem? Mit was soll ich dich vergleichen, um dich zu trösten, Jungfrau, Tochter Zion? Denn groß wie das Meer ist dein Bruch1. Wer könnte dich heilen? Deine Propheten haben dir Trug und Tünche geschaut, und nicht haben sie deine Schuld aufgedeckt, um dein Schicksal11 zu wenden. Sie schauten dir Sprüche voll Falschheit und Verführung. Deinetwegen klatschten die Hände zusammen alle, die des Weges zogen, gezischt und ihren Kopf geschüttelt haben sie über die Tochter Jerusalem. „Ist das die Stadt, von der man sagte, sie sei von vollkommener Schönheit, eine Wonne1 für die ganze Welt?" Wider dich haben ihr Maul aufgerissen all deine Feinde. Gezischt und mit den Zähnen geknirscht haben sie, sie haben gesprochen : „Wir haben vernichtet! Ja, dieses ist der Tag, auf den wir gehofft haben, wir haben (ihn) erlangt, wir haben (ihn) gesehen." -

Threni 2 - Jhwh als Feind Israels

17

18

19

20

21

22

41

Getan hat Jhwh, was er geplant, sein Wort hat er erfüllt, das er von Urzeit an befohlen. Eingerissen hat er und sich nicht erbarmt, auch ließ er den Feind sich über dich freuen. Er hat das Horn deines Widersachers erhöht. Schrei1" aus ganzem Herzen zum Herrn, Mauer der Tochter Zion. Laß die Tränen wie einen Bach Tag und Nacht fließen. Gönne dir keine Pause", dein Augapfel ruhe nicht! Steh auf, jammere bei Nacht, am Anfang der Nachtwachen! Schütte wie Wasser dein Herz vor dem Antlitz des Herrn! Erhebe deine Hände zu ihm wegen des Lebens deiner Kinder, [die vor Hunger an der Ecke aller Gassen verschmachten.]0 Sieh, Jhwh, und schau, wem hast du solches angetan? Dürfen Frauen ihre Leibesfrucht verzehren, die sorgsam aufgezogenen p Kinder? Dürfen im Heiligtum des Herrn Priester und Prophet erschlagen werden? Auf dem Boden der Gassen liegen Knabe und Greis, meine Jungfrauen und Jünglinge sind durch das Schwert gefallen. Gemordet hast du am Tage deines Zornes, erbarmungslos hast du geschlachtet. Wie zum Festtag hast du meinen Schrecken von ringsher gerufen. Da war keiner am Tage des Zornes Jhwhs, der entkam und entrann. Die, die ich gepflegt und aufgezogen habe, die hat mein Feind vernichtet.

Zur Übersetzung: a: Die Bedeutung und Ableitung des Hapax legomenon yj)' ist durchaus umstritten. Die obige Übersetzung geht im Gefolge der © von der Wurzel aifl (hif.) aus (vgl. auch Kraus, Klagelieder, 36, Plöger, 140 f. und Gross, Klagelieder, 18). Anders Kaiser, Klagelieder, 130: „entehren" (unter Berufung auf arab. gjb [sie!: gemeint ist ) Zions, Jerusalems, des Volkes ( j v j r r o rVrira: V.13b.; D ^ Ö I T r a : V.13a; ' n i r r a : V.llb), entzündet und ist deswegen entflammt. Behaftet wird aber auch die Berufsgruppe der Propheten (s. V.9c). Ihrer vornehmsten Aufgabe, nämlich 50

Die Formel a'xlrv ra findet sich nur noch in V.15b; Zef 3,14; 2. Kön 19,21 // Jes

37,22. 51

So nur noch in Sach 9,9.

5 2

KAISER, a a O . 1 4 3 f.

53

Vgl. zu dem Gedanken der göttlichen Hilfe neben dem KV Ps 60,4 (natf + p « ) auch Ex 15,26; Dtn 32,39.

Threni 2 - Jhwh als Feind Israels

57

die Schuld aufzudecken (]\u rf7J pi.) 54 , um somit Stadt und Land vor Irrwegen in Gegenwart und Zukunft zu bewahren, sind sie nicht nachgekommen. Das Geschick ist nicht gewendet worden (rrottf mttf)55, statt dessen haben sie Lug und Trug (bsn und Kitf)56 geschaut (ntn, vgl. V.9c: jirrt). Falschheit («utf, vgl. Ez 13,6.7.22.28) und Verführung ( ü ' n n n , Vrru) bildeten den Kern ihrer Sprüche (rnNton)57 und Botschaft. Der Vorwurf gegen die Propheten in V.14a und 14c umrahmt den Kernsatz der Schuld: *?Bm Kid -jb irrt - p t r a 14a imnttf rntin1? -pia-br ibrn^i 14b DTTHDI KTÖ RNATA "f? LIRN 1 4 c

Doch was hätten die Propheten, deren Schicksal in V.9c und V.20c bejammert wird, auch verkünden sollen? Hatte doch Jhwh von langer Hand schon insgeheim den Schlag gegen Stadt und Land geplant (so V.17). Das, was sie also geschaut hatten, mußte sich in dem Fall als obsolet und Makulatur erweisen. Jhwhs Wort war schon in Kraft und auf dem Plan von Urzeiten an. Die sich anschließenden Verse 15 und 16 rücken nochmals die Feinde der „Tochter Jerusalem" (vgl. schon V.13a) in den Mittelpunkt und lassen sie zweimal zu Worte kommen. Nach den Säuglingen in V.12 bestimmen nun die Zitate der Eroberer und Peiniger den Duktus. V.17 wird diesen Feind-Komplex dann beenden, um erneut und abschließend herauszustreichen, daß Jhwh allein an allem schuld ist, daß er sein Einverständnis, sein Ja zu dem Treiben der G e g n e r gegeben hat, daß diese im Grunde nichts anderes als sein Gerichtswerkzeug sind.

54 Der Verfasser von Thr 2 bleibt ganz dem Bilde der angeredeten Tochter verpflichtet, indem er den geläufigeren Ausdruck „die Scham/Blöße aufdecken" (vgl. mtf» n n » Ez 23,10; Hos 2,12; Lev 18,6-19; 20,11), oft im Zusammenhang von Frauen ausgesagt, hier auf das Aufdecken der Schuld bezieht. 55 Vgl. zu dieser Formel auch: Ps 85,2; 126,1; Dtn 30,3; Ez 16,53; Hos 6,11; Am 9,14. Der Verfasser/ die Verfasser von Thr 2 sind nicht zu dem Kreise der Dir oder gar zu ihren Vorläufern zu rechnen. 56 ' » n II („Tünche") ist nur noch in Ez 13,10 f,14f u. 22,28 C e n on1? ino n>K'35i 3 D an1? o'oopi Hin) n n n ) belegt. Auch dort geht es um Prophetenschelte. Die Ez-Stellen wie auch Thr 2 zeigen, daß dieser Vorwurf damals auch gerade in priesterlichen Kreisen nicht singulär war. Zu eventuellen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Ez (Nehmer) und Thr 2 (Geber), vgl. jetzt auch K A I S E R , aaO. 144 f. 57 Ob der Verfasser von Thr 2 mit niKtoo „direkt gegen die Babylonier gerichtete Unheilsankündigungen im Auge hatte, die durch den weiteren Gang der Geschichte so schlagend widerlegt worden waren" ( K A I S E R , aaO. 1 4 5 ) , bleibt bloße Vermutung und Spekulation.

58

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Spott und Schadenfreude bilden den Konnex zwischen V.15 und V.16. „Applaus" über die Tat der Eroberer, Unverständnis noch im nachhinein darüber, daß diese verwüstete Stadt für sich einmal den Anspruch postuliert hatte, Wonne für die ganze Welt zu sein, deutet sich in dem Verhalten der Vorüberziehenden ("|~n nrurba)' 58 an. Schmach und Hohn - ein Thema das die Volksklagelieder aufgreifen werden (vgl. nur Ps 44,14: m a ö b nenn "on'iörin i3,rTQ,30l7 D*7pi yA) - schlagen der Tochter Jerusalem entgegen C ^ y allein 3x: V. 15a. 16a. 17c). Sarkasmus und Infamie der Worte der Vorüberziehenden offenbaren sich jedoch erst dann, wenn man die Anspielung, die hier der Verfasser von Thr 2 den Spöttern in den Mund legt, entschlüsselt. Es ist der für das Verständnis der Ziontheologie wichtige Text Ps 48, auf den Bezug genommen wird. Ps 48: itöip-in irrfr« TJJ? ihn Vpnni mrr 2 m, ^Vi? rr-ip jiss w v . —in awa »yü na', 3 ¡NATON 1?

H T Ü . T I T Ü D - I K ? D'RFYT

A

„Groß ist und hochgelobt Jhwh in der Stadt unseres Gottes. Sein heiliger Berg, schön ragend, Entzücken der ganzen Welt, der Berg Zion hoch im Norden, Stadt des Großkönigs. ,Jhwh' ist in ihren Palästen, der sich als Schutz erwiesen hat."59 Nichts von all dem ist übrig geblieben oder hat der Katastrophe standhalten können. Jhwh selbst hat über die Stadt nicht seine schützende Hand gehalten, Zion ist nicht mehr die Wonne der ganzen Welt. Das Einst bietet im Jetzt nur noch ein Zerrbild dar. Zierde und Pracht ('B' n'rVD)60 haben der Erniedrigung weichen müssen (vgl. auch V.l). Dem Schlund der Unterwelt gleich haben die Feinde (D'TiR) ihr Maul aufgerissen, bedrohlich schreiten sie einher, um ihren Freudentag zu feiern. Sie haben, so ihr Votum, vernichtet ( i t a pi. vgl. dazu das in V.2a.5a.b.8b von Jhwh ausgesagte Handeln). Es ist der Tag, auf den sie schon lange gewartet hatten. Wie in V.l7 richtet sich auch hier der Blick in die 58

Hinter dieser Gruppe verbergen sich nicht fromme Pilger oder Wanderer, die das Land durchziehen, sondern wie Ps 80,13 und Ps 89,42 deutlich machen, sind es die Nachbarstaaten (bes. Edom), die die politische Lage und Machtlosigkeit der Besiegten ausnutzen, um ihre Machtinteressen zu vertreten, ihre eigenen Gebiete auf Kosten der anderen zu erweitern. 59 Zur Übersetzung von Ps 48 und seinem kanaanäischen Hintergrund, vgl. S P I E C K E R M A N N , Heilsgegenwart, 186 ff. 60 Vgl. zu 'S" rfr1» auch noch Ez 27,3 und Ez 28,12. Hier ist es die Stadt Tyrus, der dieses epitheton ornans zugesprochen wird. Das Gerichtswort verheißt jedoch auch dieser den Raub ihrer Schönheit. Eine Beziehung des Fremdvölkerwortes zu Thr 2 ist nicht auszuschließen.

Threni 2 - Jhwh als Feind Israels

59

V e r g a n g e n h e i t . D e r Eroberungstag hat für die Feinde den Charakter e i n e s H e i l s t a g e s a n g e n o m m e n . D a s von ihnen längst Ersehnte ist e n d l i c h wahr g e w o r d e n , hat sich schließlich doch noch in ihrer Zeit (am E n d e aller T a g e ) erfüllt. Prima vista sind e s die Feinde, die agieren und handeln. D o c h der Dichter und Verfasser v o n Thr 2 w e i ß , daß der eigentliche Verursacher Jhwh ist. V . 1 7 enthüllt das G e h e i m n i s . 6 1

B e v o r die „Tochter Zion" von ihm zur Bitte und

K l a g e a u f g e f o r d e r t wird, hält der V e r s das Fazit fest, daß Jhwh d i e s e s Vernichtungswerk vollbracht hat (ntoü ; beachte den Subjektwechsel in V . 1 7 ) : a n p - ' D ' a m s igte l r n n n J « a DPI ~IE)K m r r niw. Jhwh hat sein Wort ( m o R ) 6 2 , das er in den T a g e n der Urzeit ( n i p ^ n ' ) e r g e h e n ließ ( m s ) 6 3 , erfüllt, hat seinen Plan 6 4 , den er gefaßt hatte, umgesetzt. B e i d e G r ö ß e n , „die T a g e der V o r z e i t " und das „Wort" Jhwhs, d i e s o n s t 61

Die von BRANDSCHEIDT (aaO. 139.157) vorgeschlagene Vertauschung der Reihen-folge von V.16 und V.17 nimmt der beabsichtigten Zuspitzung der Aussage gerade die Pointe. V.17 bildet den Höhepunkt, aber auch die Peripetie zu der Klageaufforderung in V.18 f. 62 Zur m a n Jhwhs vgl. auch: Dtn 33,9; 2.Sam 22,31//Ps 18,31; Jes 5,24; 28,23; Ps 12,7; 105,19; 119,11; 138,2; 147,15. Welche genauen Vorstellungen der Verfasser von Thr 2 mit m o t verbindet, ist dem Kontext leider nicht zu entnehmen. Unzweifelhaft hat es sich jedoch um ein Gerichtswort zu handeln. „Unter dem längst ergangenen Gotteswort wird man vermutlich vor allem die Fluchandrohungen zu sehen haben, die das deuteronomische Gesetz für den Fall des Ungehorsams in Aussicht stellt (...). Auf sie würde das ,vor alters' ... besonders gut passen. Es ist jedoch durchaus möglich, daß der Dichter gleichzeitig an die vorexilische Unheilsprophetie dachte (...)." So mit letzter Klarheit KAISER (aaO. 147) und weiter: „Rechnet man damit, daß der Dichter in der Tat an die deuteronomischdeuteronomistischen Fluchandrohungen und die vorexilische Unheilsprophetie denkt, kann man ihn entweder als Vorläufer oder als Gesinnungsgenossen der nomistisch gesinnten Deuteronomisten betrachten (...)." Ebenso auch BRANDSCHEIDT (aaO. 156 f.): .Jedenfalls kündigt sich hier die dtr Auffasung an, daß die Geschichte Jahwes mit seinem Volk Erfüllung des einmal ergangenen prophetischen Drohwortes ist." - Was auch immer das heißen mag. Ob der Verf. von Thr 2 wirklich zu dem Kreis der Dtr gehört, bleibt fraglich. Die Terminologie spricht jedenfalls nicht dafür. Wie dtr geprägte Texte mit der Katastrophe von 587 umgehen, verdeutlicht Ps 79. 63 Zu ms vgl. auch noch Thr 3,37: rra t ö 'rm w i -in* nt 'd und Ps 44,5, wo allerdings im Gegensatz zu Thr 2 rTurrf1 von Jhwh entboten wird. 64 Zu dem Verbum DDI q. mit Jhwh als Subjekt vgl. auch Jer 4,28 (gegen Juda/Jerusalem); Jer 51,12 (gegen Babel); Sach 1,6; 8,14.15. Die Sacharja-Steilen setzen Thr 2 schon voraus. Vgl. auch weiter STEINGRIMSSON, ThWAT II, Sp. 599-603. W E R N E R (Studien zur alttestamentlichen Vorstellung vom Plan Jahwes, BZAW 173 (1988)) geht auf rnr leider nicht ein, sondern beschränkt seine Untersuchung auf das Verbum pir und das Substantiv nsü. K A I S E R (aaO. 136) geht in seinem Urteil fehl, wenn er schreibt: „Vor einer Datierung unmittelbar nach der Katastrophe sollte auch das in V.17 vorausgesetzte Theologem vom Plan Jahwes warnen, das sich zeitlich gesichert erst bei Deuterojesaja nachweisen läßt, vgl. Jes 46,11." Doch ein Blick auf diese Stelle offenbart, daß hier vom insD fr» die Rede ist, das Verbum DDf oder eine entsprechende Wurzel erst gar nicht vorkommt. Jes 46,11 liegt, wenn man überhaupt Beziehungen aufstellen will, als junger Text weit entfernt hinter Thr 2.

60

III. Alles Testament: Die Klagelieder

des Volkes

durchaus positive Konnotationen bei sich haben, sind hier negativ besetzt. Es ist nicht das göttliche Heilswort, sondern das Gerichtswort, es ist nicht die heilsgeschichtliche Zeit, sondern eine Zeit des Gerichts intendiert. Es geht nicht um Verheißung und Erfüllung, sondern um Androhung und Vollzug. Jhwhs Wort erweist sich als wahr und wirkmächtig. Welche Dignität und Kraft dem göttlichen Wort eignen kann, verdeutlichen hinlänglich die oben behandelten mesopotamischen Stadt- und Balag-Klagen. „The honored one of heaven, woe his word! Great An, woe his word! Enlil, woe his word! Let me bring his word to the diviner [azu] and that diviner will lie. Let m e bring his word to the interpreter [Sim-mu] and that interpreter will lie. His word afflicts a man with woe. That man moans. His word afflicts a young woman with woe. That young woman moans. As his word proceeds lightly, it destroys the land. As his word proceeds grandly, it destroys habitations." 65

Auch das Wort Jhwhs ist eingetroffen. Der Gott Israels hat erbarmungslos (vgl. V.2a und 21c) vernichtet. Den Feind Zions hat er triumphieren lassen und sein Horn ( p p ; vgl. V.3a) erhöht. Die Verse 18 und 19 bilden schon die Überleitung von diesem Wissen des Sängers zu der Klage in V.20-22. Die „Tochter Zion" bzw. „die Mauer der Tochter Zion" wird direkt angesprochen und zu einem Klage- und Bittgeschrei (pJJü in V.18a und -psö 'Kiö (Gebetsgestus) in V.19b) zu Jhwh aufgefordert. Trotz der Erkenntnis, daß Jhwh auf seiten der Feinde zu suchen ist, daß er der Initiator des grausamen Gerichts ist, ruht die Hoffnung auf diesem Gott, wiegt das Vertrauen, daß er des Einst gedenken (vgl. Thr 5) und die Wende einleiten wird, schwerer als die momentane Verzweiflung, schwerer als der status quo der Zerstörung. Tag und Nacht soll die Tochter Zion flehen und beten, soll sie ihr Herz (n*7 in V. 18a*. 19b) in Wallung bringen um der „Kinder" (D'Vni;, vgl. V. 1 lc u. 20a) willen. Die Inclusio zu V. 11 ist damit geschaffen. III. V.20-22:

Klage

„Zions"

Bitte, Klage und Anklage gegen Jhwh von seiten der Tochter Zion beschließen das Lied Thr 2. Nur in diesen letzten drei Versen wird Jhwh direkt angesprochen, bezeichnenderweise nicht von dem Sänger, der in den V . l - 1 0 Not und Elend vor Augen gestellt hattte und in den Versen 11-19 in ein vermittelndes Gespräch mit der „Tochter Zion", dem Opfer des göttlichen 65 Aus dem Text: A N A ELUME: T H E HONORED ONE OF H E A V E N , CLAM I , 2 1 5 . Das Wort Ans und Enlils steht im Mittelpunkt dieser Texte. Die Stellen, die zu diesem Topos zu buchen wären, sind Legion. Vgl. dazu auch die obigen Ausführungen zur Balag-Klage U D A M KI AMUS.

Threni 2 - Jhwh als Feind Israels

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Zornes, eingetreten war. Das Opfer selber, Stadt und Volk, versinnbildlicht durch Zion, erhebt die Stimme und benennt den Feind und Täter, Jhwh. Bitte, Klage und Anklage führen Jhwh nochmals sein gewaltiges, alles Althergebrachte negierende Gericht vor. Jhwh selbst hat das, was ihm und Israel heilig war, Tempel, Kult, Ethos und Stadt, in blindem Eifer und Zorn zunichte gemacht. Mit der Bitte und der invocatio an Jhwh gerichtet, eröffnet V.20a diesen letzten Teil. Die beiden Imperative (no'nn und nto) 6 6 sollen Jhwh zum Hinsehen bewegen. Er soll genau hinsehen und erkennen, wen ('ob bezieht sich auf „Tochter Zion", V.18) er übermäßig gestraft hat (^71) I, Wortspiel zu V.20b ))• „Mit dem Relativsatz ,wem du dies angetan' erinnert das Gebet an die Erwählung Israels bzw. Jerusalems. Es ist nicht irgendein Volk oder irgendeine Stadt, an der Gott so schrecklich gehandelt hat." 67 Das Volksklagelied Thr 5 knüpft an diese Bitte in V.20 an und führt sie zu Ende. Die sich anschließenden DR-Sätze machen das Ausmaß des Gewaltzustandes, der Anarchie und der gesetzlosen Zeit deutlich. Die rhetorischen Fragen wollen Jhwh das Ausmaß des heillosen und chaotischen Zustandes vor Augen führen. Die einzige Antwort, die der hier Gefragte geben kann, ist ein Nein. Frauen dürfen nicht ihre eigenen Kinder verspeisen (zur Teknophagie vgl. auch Thr 4,10; Dtn 28,53 ff.; 2.Kön 6,28 f.; Jer 19,9), Priester und Prophet dürfen nicht in den „geheiligten" Räumen des Tempels (tönpn, vgl. 2,7; 1,10) hingeschlachtet werden. Beides stellt ein Kapitalverbrechen und Sakrileg dar. Kinder, Priester und Prophet unterliegen normalerweise dem göttlichen Schutz, doch all dies scheint jetzt nicht mehr zu zählen. Jhwh, der Gott, der den Erzvätern und ganz Israel Söhne und Nachkommen verheißen hat, ist jetzt gekommen, um den Nachwuchs (dtibb, vgl. auch V.22c: nao von den Kindern (= Bevölkerung) Zions ausgesagt) wegzuraffen (beachte das Wortspiel zwischen D'nso und m o in V.21c). Die von und für Jhwh ausgesonderten Personen, Priester und Prophet (K'in jns s. auch : V.6.9.14), werden ermordet (nn).

66 Vgl. zu der Aufforderung an Jhwh doch zu „schauen" (rwan/ ntn) auch Thr 1,9.11.20; 3,50; 5,1. In 5,1, einem KV, ist es das Volk, welches zu Jhwh schreit und diese Bitte äußert (s.u.). Daß Thr 2,20 von diesem Gedanken nicht entfernt ist, daß hinter „Zion" dieselbe Größe zu vermuten ist, liegt auf der Hand. 67 BOECKER, aaO. 53. Vgl. dazu auch die anklagende Frage im KV Ps 74,1 (in'iiQ -ja* riüj1? nmr D'n1?» no^). Ohne Verständnis und Gespür PLÖGER (Klagelieder, 145): „Die vorwurfsvolle Frage ... ist weniger als eine Anklage zu verstehen (...), sondern enthält den berechtigten Zweifel an dem auf der Erwählung basierenden Glauben, dem Jerusalem bisher vertraut hatte."

62

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

Gerade das Schicksal von Priester und Prophet wird, obwohl nach der Kritik an diesem Berufsstand in V. 14 anderes zu erwarten wäre, Jhwh vorgehalten. Wer der eigentliche Urheber und Anstifter der Mordtaten ist, verdeutlicht die Anklage in V.21c. Jhwh selbst mordet (3~n) und schlachtet (mo) erbarmungslos. 68 V.21 setzt das Schreckensszenario fort. Alt und jung, groß und klein liegen dahingemordet auf den Gassen der Stadt. Die Alten, die eben noch geklagt (V.10), und die Jungfrauen sind wie die Knaben und Jungen vom Schwert niedergemetzelt (nin: vgl. Thr 1,20;4,9). Kulminationspunkt der Klage, die sich unversehens in Anklage gegen Gott verwandelt, sind die beiden Stichen V.21c und V.22a. Die Erkenntnis und das geheime Wissen darum, wer der eigentliche Täter ist, welches der Sänger in den Versen 1-10 und 11-17 ausgebreitet hatte, kehrt hier in der Anklage Zions wieder. Durch den Vortrag des Sängers belehrt, ist Zion zur Einsicht gekommen, daß es Gott selbst ist, der hinter all diesem Geschehen steht. „Du hast am Tage deines Zornes erbarmungslos gemordet und geschlachtet." Erbarmungslos C^nn «b, vgl. V.2 u. V.17; das Stichwort kommt in den drei Blöcken jeweils einmal vor) hat Jhwh (beachte die 2.Pers. der Verben) zugeschlagen. Der Tag seines Zornes (®]K dt, vgl. V.22b) 69 ist zum Fest- und Versammlungstag (imn DV: vgl. V.7 und V.16) der Feinde Zions und des Volkes geworden. Ausrichter und Gastgeber dieses unheilvollen, unheiligen Blutfestes ist Jhwh (V.22a). Dieses ist der Tag, auf den sie alle gehofft hatten (V.16). 70 „Schrecken" (3'3on nun: vgl. dazu Jer 6,25; 20,3.10; 46,29; Ps 31,14) und Feind (V.22c) 71 haben sich versammelt. Resümierend und von Jhwh abgewandt - die unpersönliche Form macht dieses deutlich (Jhwh wird nicht in der 2.Pers. angesprochen) - klingt die Klage aus. Den großen Zornestag Jhwhs (mn,_r]R dv: Steigerung des Ausdrucks) hat keiner überlebt. 72 Die Kinder Zions ('rinn 'nnsxsmön), gehegt und gepflegt, sind dahin. Wie die

68 Das KV Ps 4 4 (44,12.23) wird an diesem Gedanken, daß Jhwh sein Volk ausliefert, aber es auch selbst dem „Schlachten" preisgibt, später anknüpfen. 69 Zu dv vgl. auch V . l . 2 2 und Thr 1,12. «]« kommt in Thr 2 allein 6x vor (V.la.lc.3a.6c.21c.22b). 70 Als D'atfrT dt spielt er in Ps 137,7 wieder eine Rolle. 71 Beachte die Parallelität der Sätze 21c.22a (Tag des Zorns-„Feind")//22b.22c.(Tag des Zorns-„Feind"). 72 nin'"«]» d t ist so auch noch in Zeph 2 , 2 - 3 zu finden. Zu dem Ausdruck •mfci q ^ d rrn vgl. auch: Jer 42,17; 44,14; Jos 8,22.

Threni 2 - Jhwh als Feind Israels

63

Mütter ihre Kinder dahingegeben haben (v.20b), so hat auch die Stadt ihre Bewohner verloren. 73 Der Feind der Stadt (13,K) hat, unterstützt und gekräftigt durch den Beistand Jhwhs, ihnen das Leben geraubt. Der alphabetisch-akrostichische Text Thr 2 - so läßt sich zusammenfassend feststellen - ist der Versuch, die unfaßliche Katastrophe von 587 zur Sprache zu bringen. Das ist schwer genug und bedarf offensichtlich der strengen akrostichischen Form, die das Sprechen erzwingt, wo das Stummbleiben näherliegt, aber keine theologische Option ist. Die starke Konzentration des Textes auf Zion und Jerusalem ist auffällig. Wer so intensiv von der „Tochter Zion" redet, macht in der Klage überdeutlich, was verloren gegangen ist: nicht primär für das Volk, das eher im Hintergrund bleibt, sondern für Gott. Er muß erkennen, was er durch die Bestimmung seines Wortes zum Gerichtswort eine Parallele zu den Stadt- und Balag-Klagen - bewirkt hat. In V. 20-22 wird die Anklage Gottes nicht im Ton, aber in der Sache scharf. Hat Gott wirklich die Folgen seines Tuns bedacht? Das Klagelied endet trostlos. Der Katastrophe ist theologisch nichts Positives entgegenzusetzen. Nur die Klage selbst ist möglich, welche das eine Ziel hat, Gott für sein Tun zur Rechenschaft zu ziehen. Daß es bei dieser trostlosen Klage bzw. Anklage gegen Jhwh nicht geblieben ist, sondern daß Thr 2 erst den Anfang einer literarischen Produktion von Texten markiert, die sich dem Ereignis von 587 v. Chr. verdanken, zeigen die Volksklagelieder, die nach Thr 2 entstanden sind. Wie auf dem Gebiet der mesopotamischen Literatur die Stadtklagen die Komposition der Balag-Klagen aus sich entließen, so regten Thr 2 und Thr 5 auf alttestamentlicher Seite die Entstehung weiterer Volksklagelieder an. Daß der Klage über Jhwhs Handeln alsbald das Gotteslob und der Hymnus auf Jhwh an die Seite gestellt werden sollten, zeigen Thr 5 und die exilischen Volksklagelieder: Ps 74; 44; 80.

73 „In der Erfahrung der Menschen erscheint die Stadt so als Vor-Gabe, als ein Gabesubjekt, von dem man empfängt, das zum Leben versorgt, eine Größe eigener Art - auf die Bewohner bezogen, aber durchaus von ihnen unterschieden. Die Redeweise von Jerusalem als Mutter, von ihren Kindern, die sie gebiert und großzieht, also auch von der Versorgung, die sie ihnen im Land zukommen läßt, hat hier ihre Grundlage. Entsprechend kann Jerusalem gemäß diesen Vorstellungs- und Erfahrungskonnotationen ihr Wesen nicht entfalten, ihre personal erfaßte Zuwendung nicht vollziehen, wenn sie zerstört ist, also im Staub, am Boden liegt, wenn Fremde mit ihr nach Gutdünken verfahren, wenn sie nicht mehr aufgesucht ist, und vor allem, wenn ihre Bewohner getötet oder deportiert sind. " (STECK, Zion, 272 f.).

64

III. Altes Testament: Die Klagelieder

1.2. Threni 5 - Das verworfene

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

des

Volkes

Volk - Der im Himmel thronende

Jhwh

Gedenke, Jhwh, was uns geschah; schau" und sieh unsere Schmach! Unser Erbland ist Fremden zugefallen, Ausländern unsere Häuser b . Wir wurden zu Waisen, vaterlos, unsere Mütter zu Witwen0. Unser Wasser trinken wir um Geld, unser Holz kommt um einen Kaufpreis hinein. Mit einem Joch auf unserem Nackend werden wir verfolgt, wir sind müde, (doch) wird uns keine Ruhe gewährt. Nach Ägypten haben wir unsere Hand gestreckt, nach Assur, um von Brot satt zu werden. Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr. Wir müssen ihre Verfehlungen tragen. Sklaven herrschen über uns, niemand reißt (uns) aus ihrer Hand. Unter Lebensgefahr6 holen wir unser Brot, bedroht von dem Schwert der Wüste. Unsere Haut ist rissig wie ein Ofen wegen der Hungerqualen. Frauen haben sie in Zion geschändet, Jungfrauen in den Städten Judas. Hofbeamte sind von ihrer Hand gehängt worden, das Antlitz der Ältesten wurde mißachtet. Burschen haben die Mühle tragen müssen, und Knaben sind unter dem Holz gestrauchelt. Die Ältesten halten sich fern vom Tor, die Knaben vom Saitenspiel. Zu Ende ist die Freude unseres Herzens, in Trauer verwandelt unser Reigen. Gefallen ist die Krone von unserem Haupt. Weh uns, daß wir gesündigt haben! Darob wurde müde unser Herz, deshalb sind unsere Augen trübe. Wegen des Berges Zion, der verödet, auf dem Schakale umherstreifen. Du aber, Jhwh, thronst in Ewigkeit, dein Thron von Geschlecht zu Geschlecht. Warum willst du uns auf ewig vergessen, uns verlassen auf alle Zeit? Wende uns, Jhwh, zu dir zurück, so wollen wir umkehren! Erneuere unsere Tage wie von alters her! Doch fürwahr f , du hast uns ganz und gar verworfen und zürnest uns zu sehr!

Threni 5 - Das verworfene Volk - Der im Himmel thronende Jhwh

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Zur Übersetzung: a: K: o'an (= oan). Qerencrai (Imp. hif.). Vgl. dazu auch Ps 74,20 (oan); Ps 80,15 (oan); Jes 63,15 (oan); 64,8 («refln). b: Eine Ergänzung eines zweiten Verbums 1303, wie sie Westermann, Klagelieder, 172 f. (vgl. dazu auch BHK 3 ) vornimmt, ist nicht nötig, c: Zur Übersetzung vgl. auch Westermann, ebenda und Kaiser, Klagelieder, 187 (Anm. 3), der auf das sog. k - veritatis (GK 28 § 118x) hinweist. Anders Rudolph, Klagelieder, 256, der mit „unsere gleich" übersetzt, d: An einer Änderung des Textes von tlt kommt man in V.5a nicht vorbei (vgl. zur Stelle auch die Kommentare). Am plausibelsten und dem Konsonantenbestand am meisten gerecht wird die Annahme einer Haplographie, d.h. daß mit dem Wegfall eines ^i) bzw. biu (= Joch) gerechnet werden muß (vgl. so auch Brandscheidt, Gotteszom, 186 und Kaiser, ebenda.). Rudolph hingegen liest „" « n r 1 » (ebenda), e: Zu dem a-pretii (GK 28 § 119p) vgl. auch oben V.4a. f: Die von den Kommentaren zu V.22a angebotenen Übersetzungsvorschläge sind nicht überzeugend. Westermann, aaO. 173 („Oder hast du uns gänzlich verworfen, zürnst du über uns gar so sehr?"), tendiert zur Frageform (vgl. auch Brandscheidt, Gotteszorn, 188; Kraus, Klagelieder, 85 und Gross, Klagelieder, 42). „Auch wenn das nicht die wörtliche Übersetzung ist, gibt die Frageform den Sinn im Zusammenhang am besten wieder." (Westermann, ebenda). Auch der von Westermann zu Thr 5,22 ausgearbeitete Exkurs (aaO. 178 f.), der nochmals die .traditionelle Übersetzung' stark machen soll, verschafft keine nähere Klärung. Die andere Übersetzungsvariante, die auch schon für „traditionell" erachtet werden darf, bietet für den Halbvers: „Es sei denn, du hättest uns gänzlich verworfen...". So Boecker, Klagelieder, S.87. Andere Ausleger, die in dieselbe Richtung gehen, sind: Rudolph, aaO. 257; Plöger, Klagelieder, 160 und in seinerneuen Bearbeitung (19924) jetzt auch Kaiser, aaO. 189. Von den eben Genannten wird dabei jedoch übersehen, daß die Bedeutung „es sei denn daß" (= „außer") für cn 's nur nach Negationen und negativen Sätzen anzusetzen ist. Vgl. dazu HAL3, S.449 und GK 28 §163c.

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes D a s a l p h a b e t i s i e r e n d e 7 4 V o l k s k l a g e l i e d 7 5 , Threni 5, bildet in d e m j e t z i g e n

Z u s a m m e n h a n g der S a m m l u n g der K l a g e l i e d e r i m m a s o r e t i s c h e n T e x t d e n A b s c h l u ß . A l s G e b e t des V o l k e s - der Wir-Stil überwiegt, nur d i e V e r s e 1 1 - 1 4 s i n d u n p e r s ö n l i c h g e h a l t e n - bringt e s n o c h m a l s g e b ü n d e l t K l a g e , L e i d u n d Bitte v o r Jhwh. D a s v o r l i e g e n d e G e b e t ist w a h r s c h e i n l i c h bald n a c h der K a t a s t r o p h e v o n 5 8 7 v. Chr. a b g e f a ß t w o r d e n . 7 6 In e x i l i s c h e r Z e i t ist e s in J e r u s a l e m entstanden, o h n e daß die Verfasserkreise genauer e i n g e g r e n z t w e r d e n k ö n n t e n . Im G e g e n s a t z zu Threni 2, w e l c h e s vor Threni 5 g e d i c h t e t und a b g e f a ß t w o r d e n ist, enthält d a s f ü n f t e Kapitel der K l a g e l i e d e r k e i n e E l e m e n t e und M o t i v e der T o t e n k l a g e . D a s M e t r u m ( 3 + 3 : D o p p e l d r e i e r ) unterscheidet s i c h v o n d e m der übrigen Klagelieder (dort hauptsächlich 3 + 2 ) . D e r Beter, der das hier zu u n t e r s u c h e n d e G e b e t a b g e f a ß t hat, v e r w e n d e t s c h o n w i e d e r E l e m e n t e der K l a g e des e i n z e l n e n und greift für d i e Artikulation ihrer W o r t e auf das reichhaltige Spektrum der P s a l m e n s p r a c h e zurück. Threni 5 ist a u s e i n e m G u ß und in e i n e m Z u g e entstanden. V e r m e i n t l i c h e m ü n d l i c h e oder gar schriftliche Vorstufen sind nicht in Betracht zu z i e h e n . 7 7 D i e 2 2 V e r s e 74

Vgl. zur alphabetisierenden Dichtung auch Ps 33, 38 und 103. Der Versuch von hinter den Anfangskonsonanten von Thr 5 einen verborgenen Gottesspruch entdecken zu können („Die Abtrünnigen, (nämlich) das Volk verschmähte ich, (es) strafend mit Verachtung, wie dein Gott klagt."; Versuch, 317) muß als gescheitert betrachtet werden. Siehe dazu auch BRANDSCHEIDT, aaO. 188 f. 75 Daß es sich bei Thr 5 um ein „Klagelied des Volkes" (KV) handelt, ist trotz aller Bemühungen, eine andere Gattung zu eruieren (s. B R A N D S C H E I D T , aaO. 1 9 5 , die die Gattungsbezeichnung „klagende Vergegenwärtigung des Gottesgerichtes" vorschlägt) opinio communis (vgl. G U N K E L / B E G R I C H , Einleitung, 1 1 7 ; K A I S E R , aaO. 1 0 1 . 1 8 9 , der es nur eingeschränkt als Volksklagelied betrachtet: „Nur das fünfte Lied läßt sich ungekünstelt als ein Volksklagelied ansprechen. Doch auch es besitzt in seinem Aufbau derartige Abweichungen von der Gattungsvorlage, daß man es als eine literarische, nachkultische Dichtung anzusprechen hat." (aaO. 1 0 1 ) ; B O E C K E R , aaO. 8 8 ; R U D O L P H , aaO. 2 5 9 ) . So mit Einschränkung auch W E S T E R M A N N , der jedoch ob der Nähe von Thr 5 , 2 - 1 8 zu Thr 1 . 2 . 4 eine Überarbeitung eines vorexilischen Volksklageliedes und „eine Abwandlung eines Volksklagepsalms zu einem Klagelied über den Fall Jerusalems" (aaO. 180) annimmt. Thr 1 5 stellen für W E S T E R M A N N eine „Sondergruppe der Klagen des Volkes" (aaO. 8 3 ) dar. 76 Threni 5 stellt den ersten Versuch dar, die Katastrophe „theologisch" zu reflektieren. Das Gebet, das Rufen zu Jhwh, war dafür der rechte Ort. Zur Datierung vgl. auch: B R A N D T S C H E I D T , aaO. 226 ff.; P E R L I T T , Anklage, 24; W E S T E R M A N N , aaO. 180, der jedoch Thr 1.2.4. als den ältesten Kern der Sammlung annimmt (aaO. 83). (Reihenfolge der Thr bei W E S T E R M A N N : Thr 1.2.4.5.3; vgl. aaO. 95 f.); P L Ö G E R , aaO. 161; R U D O L P H , ebenda. K A I S E R , aaO. 191, datiert es um die Wende vom 5. zum 4.Jh. v. Chr. (Reihenfolge der Thr bei K A I S E R : Thr 2.1.4.5.3; vgl. aaO. 103 ff.) 77 Vgl. dagegen K A I S E R (aaO. 190), der mit einer Fortschreibung einer älteren Klage rechnet, auf die „geschichtstheologische Züge" (V.6 f.), „Leidschilderungen" (unter anderem V.18) und die V. 20 und 22 zurückzuführen seien. W E S T E R M A N N (aaO. 180) vermutet sogar, daß sich Thr 5 einer Aufnahme und Erweiterungen einer vorexilischen Volksklage verdanke: BERGLER,

Threni 5 - Das verworfene Volk - Der im Himmel thronende Jhwh

67

sind w i e folgt zu gliedern: A: V . l / B . V. 2 - 1 8 / C : V . 1 9 / D : V . 2 0 / E : V . 2 1 / F: 2 2 Skizze: funs-irrnK n u n cran -nb ¡vrrrra n v r - o r i v . i Bitte :d , -d: , 7 l r r n nnr 1 ? r o s m im 1 ™ 2 v.2-18 Klage irrun^to i r n o n n« [pm] i r r t trairv 3 T r m -ir^u t r n ö *]0D3 l n r o 4 r^min k^ nur lava iridis bä 5 :Dnb s-fob tkök t "uro a n s o 6 :ii?3o dtituu? tira« e r « i«an i r r a « 7 :DTD p-ß i n ibttin DH3D 8 : - D i o n m n 'ÄQ Inn 1 ? uiöBn 9 n n msrbr ':sn t i m : u r o i m » 10 : r n v r 'TS3 n ^ m D'tö: 11 :mm D'3pr ftra m n ante 12 n'jiöD p i n n n a n iKto: prra o m r o 13 tonran o m r a iroitf u?ön n^pr u nftrin tat*1? -ja-n i n 1 ? toiton ratö 15 :i3Han 'D Mb RT,IK uttfio rnoi> n'TSj 16 i3ön n ' w b a m b n n rrn n r t j ) 17 n a i D ^ n d^jjiiü anötö bv 18 n m Tib -¡«od ntön a b w b m n ' nrw 19 v.i9Doxoiogie: Anklage rma' "pt*1? m r u n unstön na 1 ? nnb 20 v.20 Anklage

: m p s i r a 1 tüin mtöai

mn' m'ttfn 21 v . 2 1 Bitte +

:m«3~ll> w b v na2£p 'ünOKn OKtTDK ' 3 22 V.22 Begründung: Klage/Anklage

„Abgesehen von 2-18 enthält Thr 5 nur einen Satz, der der Klage des Volkes nicht angehört und nicht angehören kann: die zweifelnde Frage in 22. (...) ein aus der vorexilischen Zeit überlieferter Volksklagepsalm wurde nach 587 für den Gebrauch in den Klageliedern um 2-18 und 22 erweitert und dadurch den Klageliedern um den Fall Jerusalems angeglichen." (Ebenda). - Abgesehen davon, daß gerade auch in den KV „zweifelnde Fragen" ihren Platz haben, vermögen beide Versuche, Vorlagen zu eruieren und einen Rumpfbestand für eine Klage geltend zu machen, nicht zu überzeugen. Das gilt auch für BRUNET (Lamentation, 153ff), der Thr 5 auf zwei Teile aufteilt: V. 1-14 (Complainte des fils des Notables: aus der Zeit um 580 v. Chr.) und V. 15-22 (Élégie sur la Ruine de Sion: aus der Zeit um 538 - 515).

68

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Analyse: Vers 1 In für die Volksklagen ungewöhnlicher W e i s e setzt Thr 5 sogleich mit einer Bitte (~ör) an Jhwh ein. Die sonst übliche und abgesetzte „invocatio" ist in V . l a e n g mit der Bitte und der Aufforderung an Jhwh, doch des eingetretenen Schicksals

(t]1? irrrriD) des V o l k e s zu g e d e n k e n , v e r s c h m o l z e n .

Der

Parallelismus membrorum in V . l macht deutlich, daß dieses ~ör 78 Jhwhs das Hinschauen (cran) und Sehen (nto) 7 9 intendiert. Hilfe und Einschreiten Gottes werden dringend erbeten. D i e übrig gebliebene Jerusalemer G e m e i n d e , das Volk Israel, das hier bittet (beachte die Suffixe der l.Pers.Pl.; die Bezeichnung DJJ oder • p a sind in Thr 5 nicht zu finden), w e i ß sich an Jhwh g e w i e s e n . An ihn,

dessen

Thron

auf

immer

und

ewig

besteht

(V.19: mrr n n «

- i m -n 1 ? -]K03 nion dVid1?) ergeht das Gebet. Er m ö g e die Schmach (nEnn) 8 0 , die dem Gottesvolk angetan worden ist, beenden. Der A n f a n g v o n Thr 5 bereitet s o w o h l die sich a n s c h l i e ß e n d e K l a g e ( V . 2 - 1 8 )

als auch

den

abschließenden Teil ( V . l 9 - 2 2 ) vor. Verse

2-18

D e r große Klagekomplex ( V . 2 - 1 8 ) skizziert in einer umfassenden Elendss c h i l d e r u n g 8 1 die N o t l a g e der judäischen B e v ö l k e r u n g (vgl. V . l l : ni>

78 "ör wird in der Bitte der KV öfters verwendet und ist abgesehen von Ps 137,7 und Ps 79,8 stets als Bitte um die helfende Zuwendung Jhwhs gemeint (Ps 74,2.18.22; 89,48.51). Zu den Konnotationen von ist vgl. auch SCHOTTROFF, Gedenken, 183-243, bes. 242; EISING, ThWAT II, Sp. 571 ff. 79 Zu den Verben mm o n als Bitte an Jhwh vgl. auch Thr 1,9.11.20; 2,20; Ps 80,15; (Ps 102,20); Jes 63,15. 80 „Zu beachten ist dabei besonders das Wort .Schmach'. Es ist eben nicht nur die drückende Not als solche, die so unerträglich ist, es ist die Schmach, die Gottes Volk von den Feinden zugefügt worden ist und die - ohne daß es direkt ausgesprochen wäre - auch Gottes Schmach ist (...)." BOECKER, aaO. 89. Dieser letzte Schritt, der Aspekt der Schmach für Jhwh, ist allerdings in Thr 5 noch nicht so deutlich. Erst im Laufe der Bewältigung der Krise und in späteren KV kommt er voll in den Blick (vgl. Ps 74,10.22; 79,12). Zu nein in den KV, s. Ps 44,14; 79,4; 89,42.51. (S. auch: KUTSCH, ThWAT III, Sp. 223-229.) 81 Gegen WESTERMANN (Lob, 137) sind die V. 2-18 als Klage im eigentlichen Sinne zu betrachten. WESTERMANN: „Während aber in den früheren Klagen die Aussagen in der l.Pers. spärlich sind und sich oft auf die Schande des Leids beschränken, erweitert sich die Wir-Klage in den späteren Klagen gewaltig durch die Schilderung des Zustandes, der durch den (in den frühen Klagen beklagten) Schlag herbeigeführt ist. Dies ist eigentlich erst ,Elendsschilderung'. Hierfür ist bezeichnend Klgl. 5. Die ausgebreitete, überschwängliche Elendsschilderung in den Threni weicht derart stark von den Volksklagen ab, daß man von Klage im eigentlichen Sinn nicht mehr sprechen kann. Die Klage ist hier über ihre Ufer geströmt und

Threni 5 - Das verworfene Volk - Der im Himmel thronende Jhwh

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rmrp ) im gefallenen Jerusalem und bringt die erlittene Schmach vor Jhwh (V.l) zu Gehör. Die über Jerusalem und Umgebung hereingebrochene Katastrophe gleicht in ihren Auswirkungen dem Schicksal manch anderer altorientalischer Stadt. 82 Die „politische" und gesellschaftliche Ordnung ist plötzlich mit dem Chaos vertauscht, die Integrität und der Schutz des einzelnen Menschenlebens zählen nichts mehr, Besitz, Reichtum und der tägliche Lebensunterhalt sind in Frage gestellt. Thr 5, 2-18 machen diesen Sachverhalt schlaglichtartig deutlich. Stadt, Land und Bewohner, vormals durch Jhwh in ihrer Sicherheit und Struktur garantiert und zugeschworen, sind nun durch das Treiben der Besatzer und Eroberer der lebensfeindlichen Sphäre ausgeliefert. Das „Erbland" (r6m) 8 3 und die Häuser sind den „Fremden" (nnt; D'-Di) zugefallen. Jhwhs Verheißungen - der Besitz des Landes und das friedvolle Wohnen darin - ein Bestandteil des Credo Israels - sind faktisch aufgehoben. „So war das besiegte Gottesvolk nicht mehr Herr im eigenen Lande, sondern der Willkür seiner Zwingherren ausgeliefert." 84 Wer die Okkupatoren im einzelnen sind, wird nicht konkretisiert, man wird jedoch nicht fehlgehen, wenn man hinter diesen Äußerungen die Babylonier vermutet. Die Taten der Sieger sprechen für sich. Keine Generation bleibt verschont. Angefangen von den Kindern, Jünglingen, Jungfrauen, Müttern bis hin zu den Alten. Die Ehre und Würde der Alten und das Schutzrecht der personae miserae sind aufgehoben. Jahrhundertealte Traditionen, das Ethos eines Volkes, sind von einem Augenblick zum anderen null und nichtig geworden. Die Beter finden sich in der Rolle der Waisen wieder, die Väter, deren Sünden man doch trägt (V.7), sind tot, die Mütter sind zu Witwen geworden. Im Gebet zu Jhwh definiert sich die Gemeinde als schutzwürdige Kinder. Ein Grund mehr für Jhwh, endlich hinzusehen (vgl. V.l). Die „Väter" bilden den logischen Mittelpunkt von V.3. Ihr Tod macht die Kinder zu Waisen, die Frauen zu Witwen (vgl. zu dem 2R p» auch die Formulierung in V.7:

hat sich in klagende Schilderung ergossen." (ebenda). Im Gefolge von BRANDSCHEIDT ( a a O .

WESTERMANN

auch

191).

82

Vgl. hierzu die Stadtklagen über Ur III, den Fluch von Akkade und die Balag-Klagen. So begegnet z.B. das Bild von den Füchsen/Schakalen (Thr 5,18) als Ausdruck der Zerstörung auch in den Balag-Klagen: CLAM 4, a+223; 5, d+192; 6, b+241; 11, PBS.col ii,23 f.; 13, f+212. 83 „ i n 1 « (...) meint nicht im wirtschaftlichen Sinn den Erbbesitz allgemein, sondern auch im religiösen Sinn das von Gott gegebene Land (Dtn 27,2), das als Unterpfand der Erwählung (Dtn 6,10.18.23) jetzt in der Hand der onr, der .Unreinen' oder Heiden, sich befindet." ( B R A N D S C H E I D T , aaO. 196). Zu Jhwhs R 6 M vgl. Ps 74,2; 79,1. (s.u. Ps 79). S. auch LIPINSKI, ThWAT V, Sp. 342-360. 8 4

KAISER, a a O .

193.

70

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

•rK iKon 13TDK). Der Alltag unter Besatzungsverhältnissen ist von Abgaben (Steuern) für das Lebensnotwendigste, Wasser und Brennholz (V.4), und von Zwangsarbeit (V.5) geprägt. Auch das Brot (so V.9) kann nur unter Einsatz des eigenen Lebens den feindlichen Bedingungen und Umständen ("omn mn) 8 5 abgetrotzt werden. Die Fronarbeit für die Sieger muß pausenlos erbracht werden. Das einst von Jhwh erwählte und aus Ägypten (vgl. V.6: nnün) errettete Volk Israel, dem Ruhe in dem gelobten Land zugeschworen worden war, ist in die Knechtschaft zurückversetzt. Das Paktieren86 mit den altorientalischen Großmächten, Assur und Ägypten, hat sich für Israel nicht bezahlt gemacht. Nicht von Jhwh hat man sich den Lebensunterhalt erhofft, sondern von den politischen Mächten. Quittung dafür ist die Eroberung durch Babel. Daß Israel auf die falschen, nämlich auf menschliche Mächte gesetzt hat, verdeutlicht V.7. Es ist der Zusammenhang von Schuld und Gericht, ein Zusammenhang, der die Generationen bindet. 87 Die Väter, die ja nicht mehr sind (vgl. V.3), haben gesündigt und Schuld aufgehäuft (mon i r r a « or«) 8 8 , doch die jetzige Generation hat das Gericht auf sich zu nehmen. Ganz betont wird der Gegensatz zwischen „Vätern" auf der einen Seite und den Betern, der jetzigen Generation, auf der anderen herausgestellt (beachte die Stellung von irnnK und dem Personalpronomen um« in 7b). Es ist deutlich, daß mit der Schuld im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhanges gerungen wird. Ähnlich Ez 18,2 und Jer 31,29 („Die Väter aßen unreifes Obst, aber die Zähne der Söhne wurden stumpf.") gerät hier der scheinbar ewig gültig bleibende Grundsatz in die Diskussion und wird fragwürdig. 89 Daß es bei diesem Abschieben und Schauen auf die Väter nicht bleiben kann, daß vielmehr auch die jetzige Generation nicht makellos vor Jhwh steht, zeigt der zweite Anlauf, den der Beter in V. 16 unternimmt.

85 Im Zusammenhang des Textes sind Beduinen (vgl. Ri 6,3f) und bewaffnete Horden gemeint. Vgl. K A I S E R , aaO. 195; B R A N D S C H E I D T , aaO. 198. 86 Zu t uru vgl. Ezl7,18. V.6 ist „auf die zwischen Ägypten und Assur schwankende Vertragspolitik zu beziehen, der das davidische Reich wie vor ihm das Nordreich zum Opfer gefallen ist, auch wenn hier hyperbolisch wirtschafts- statt sicherheitspolitische Gründe für sie genannt werden." ( K A I S E R , aaO. 1 9 4 ) . S . auch BRANDSCHEIDT, aaO. 1 9 7 . 87

„Die termini ,Väter' und .Väterschuld' setzen eine längere geschichtliche und geschichtstheologische Entwicklung voraus. Aber jeder Vater in Israel zog sich diesen Satz auf den Leib: Die Großfamilie (drei, vier Generationen) bleibt nicht ungeschoren, w o ihr Haupt aus dem durch die Grundgebote abgesteckten Rahmen herausfällt. Solche Schicksalshaftung war im alten Orient eher das Gewöhnliche als das Unerwartete." (PERLITT, Vater, 1 0 2 ) 88 Zu «ort in den Thr vgl. 1,8; 4,6.13. Der Schuldgedanke hält sich auch in den übrigen Threni durch und bildet den Leitfaden. 89 Vgl. dazu nochmals PERLITT, aaO. 103; K A I S E R , aaO. 194.

Threni 5 - Das verworfene Volk - Der im Himmel thronende Jhwh

71

Erst dort kommt es am Ende der Klage zu dem eigenen Schuldeingeständnis ("UKon WIR). In einem weiteren Anlauf wird in den folgenden Versen (V.8 ff.) wieder das gegenwärtige Los des Gottesvolkes Jhwh vorgetragen. Während die Verse 8-10 und 15-17(18) in der 1. Pers. PI. gehalten sind, weisen die Verse 11-14, die einen geschlossenen Block bilden (beachte die jeweiligen Paare: Frauen - Jungfrauen [V.ll] / Fürsten - Älteste [V. 12] / Burschen - Knaben [V.13] / Älteste - Knaben [V.14]), eine unpersönliche, Bericht erstattende Form auf. Babylonier und subalterne Beamte, mit dem Begriff D'iaa (Fremden und Ausländern sind Land und Häuser zugefallen (V.2: nnr; •'"DJ), doch Knechte herrschen) zusammengefaßt, diktieren das Los der Bevölkerung. 90 Von einem Herrschen im guten Sinne (btön), wie es die Könige Israels taten, kann nicht mehr die Rede sein. Das Herrschen wird zur Willkür. Selbst Jhwh, so der geheime Vorwurf in V.8b, ist nicht eingeschritten und schreitet nicht ein, um sein Volk zu erretten (p""E).91 Die Verse 9 und 10 kehren zu dem Thema der Sicherstellung des Lebensnotwendigen zurück (vgl. V.4). Nur unter Einsatz des eigenen Lebens, vor räuberischen Banden in keiner Weise sicher, kann die Ernte eingebracht werden (vgl. zu den Formulierungen auch V.4). 92 Hungersnot und ihre Folgen zeichnen die Körper. 93 Um Schändung, Mißhandlung und Sistierung normaler Lebensvollzüge (Gerichtswesen und Gesang aller Art) geht es in den folgenden vier Versen (V. 11-14). In Zion 94 und den Städten Judas wird den Frauen Gewalt angetan, die noch verbliebenen Vertreter der Oberschicht, die „Fürsten" (onio), werden gehängt. Jung und alt sind betroffen. Keine Schicht der Bevölkerung ist ausgenommen. Unter den Bedingungen von Arbeitsdienst (V.3) 95 und Unterdrückung kommen die Ältesten nicht mehr im Tor zusammen, unterlassen (mtö: 90 Vgl. dazu auch die Ausführungen von KAISER, aaO. 194 f. BRANDSCHEIDT (aaO. 198) geht mit ihrer Eingrenzung der m a l ) auf mittellose Personen „denen, die Babylonier nach 586 Land verliehen hatten (2 Kön 25,12; vgl. Dtn 28,43 f.) und deren Schikanen die Bevölkerung hilflos ausgeliefert war" zu weit. Abgesehen davon, daß die von ihr angeführten Stellen dieses so nicht hergeben. Was es letztendlich bedeutet, wenn „Sklaven" bzw. „Knechte" herrschen, macht Prov 30,22 hinlänglich deutlich. 91 p-ß (qal) + ]• kommt nochmals in Ps 136,24 (ir-em up-isn) vor und ist dort inhaltlich auf die Rettung Israels durch Jhwh bezogen. 9 2 B O E C K E R , aaO. 92 merklich mitleidend: „Wieviel von der so dringend benötigten Nahrung mag trotz tapferen Einsatzes an rabiate Plünderer verloren gegangen sein!" 93 Zu n a IV vgl. auch Thr 3,4; 4,8 und die einschlägige Stelle Ez 37,6. Singular ist der Ausdruck a m rveu1?! . 94 Zu „Zion" vgl. noch: Thr 1,4; 2,6; Ps 74,2 Qvx"in); Ps 102,14.17.22; 126,1; 137,1.3. 95 Die Arbeit an der Handmühle (pno) galt als Frauen- und Sklavenarbeit (Ex 11,5; Jes

47,2; Ri

1 6 , 2 1 ) . V g l . KAISER, a a O .

196.

72

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Stichwortverbindung zu V.15) die Knaben ( o m m , vgl. V. 13) das Saitenspiel. Trauer C a « ) und Klage haben den Tanz und die Freude (toioo) 96 abgelöst (V.15). Freude und Tanz sind Sinnbilder für die Heilsgaben Jhwhs (vgl. Ps 30,12), mit denen er sein Volk begnadet. Wo sie ausbleiben, lebt Israel in heilloser Zeit, in einer Zeit der Ferne Gottes. Die Gerichtsdrohung der Propheten hat sich erfüllt (vgl. Jer 7,34; 16,9; 25,10 u.a.). Die Krone (mcau) 97 ist vom Kopf in den Schmutz gefallen. Von der einstigen Würde ist nichts übriggeblieben. Alles steht im Zeichen der Erniedrigung. Erst jetzt ist die bezichtigende Selbstanklage am Platze, eröffnet sich für die Beter durch den Blick auf die Schmach und die eigene Schuld die Möglichkeit zur Hinwendung zu Jhwh (V. 19-22). „Weh uns, daß wir gesündigt haben!" 98 Die Zierde Israels ist vom Himmel gefallen (Thr 2,19), den Bewohnern der Gottesstadt ihre Krone. 9 9 Die beiden folgenden Verse 17 und 18 schließen den großen Klageteil ab. Die Zusammengehörigkeit der letzten Stichoi wird durch den dreifachen Gebrauch der Präposition unterstrichen. Die Klimax läuft dabei auf die Aussage in V.18 hin. Herz und Augen der Beter sind müde (nn) 1 0 0 und trübe C^tön) wegen der gegenwärtigen Not, aber gerade auch wegen des jämmerlichen Zustandes des Tempelberges (¡vsnn) 1 0 1 . Die Präpositionalgruppen nrbu und n ^ ' V u weisen auf die in den Versen 2 - 1 6 geäußerte Klage zurück, leiten jedoch auch zu V.18 über. Die Haut ist ausgemergelt (V.10). Verstand und Geist sind getrübt. Auf dem Tempelberg tummeln sich die Schakale 102 .

96 Zu toifDD vgl. Jes 42,8; 32,13; 60,15 u.a. In Thr 2,15 [s.o.] ist der Ausdruck auf Jerusalem bezogen (purr 1 » 1 ? toiton). Das Schicksal von Stadt und Bewohnern hängt eng voneinander ab und geht terminologisch ineinander über. 97 moi) (Krone; Diadem; Kranz) kann auch auf Zion (Jes 62,3) oder Jerusalem (Ez 16,12; 23,42) bezogen werden. Jer 13,18 (Gerichtswort) meint es die herabgefallene Königskrone. Auch diese Konnotationen müssen an dieser Stelle mitgehört werden. 98 Vgl. dazu nochmals V.7. 99 „uitfm m o s ist hier ein Bild für das, was einst dem erwählten Volk und der erwählten Stadt strahlenden Glanz und hervorragende Würde verlieh (...)." (BRANDSCHEIDT, aaO. 199). 100 n n (müde, traurig, elend) kann auch die durch „Besudelung" beeinträchtigte Kultreinheit bedeuten (vgl. Lev 15,33; 20,18; Jes 30,22). Im Hintergrund schwingt diese Bedeutung mit. 101 irx-m findet sich noch in: Jes 4,5; 18,7; 29,8; Ps 48,12; 74,2; 78,68; 125,1; Ob 17.21; Mi 4,7. 102 Das Bild von den Schakalen, das der Tiefe der Zerstörung Gewicht geben soll (vgl. Jer 9,10; 10,22; Ez 13,4), findet sich als ein beliebter Topos zur Umschreibung der eingetroffenen Katastrophe auch in den Stadt- und Balagklagen. Vgl. LSur, 146.222.346-349; CA 255; LU 268; Balag-Klagen (Zählung nach CLAMy. UTUGIN ETA: 4 a+223; UDAM KI AMUS: 5 d+192; AME AMASANA: 6 b+241; URUHULAKE of Gula: 11 PBS.col.ii, 23 f.; AME BARANARA: 13 f+212 f.

Threni 5 - Das verworfene Volk - Der im Himmel thronende Jhwh Vers

73

19

In G e s t a l t e i n e r D o x o l o g i e (nttfri d r f s b mir n n « ) 1 0 3 e r g e h t n a c h der l a n g e n Klage ( V . 2 - 1 8 ) das tempeltheologisch geprägte Gotteslob. Jhwhs Thronen w i r d (aönl ROD) 1 0 4 g e p r i e s e n . A u f d e m Hintergrund d e s zerstörten T e m p e l b e r g e s ( V . 1 8 ) b l e i b t g e r a d e s e i n „ h i m m l i s c h e s ", v o m i r d i s c h e n T e m p e l getrenntes e w i g e s T h r o n e n 1 0 5 die Garantie dafür, daß trotz aller N o t die K l a g e n o c h ihren A d r e s s a t e n hat, daß Gott n o c h erhört und sieht ( V . l ) . 1 0 6 D i e V e r s e 1 u n d 19 b i l d e n s o m i t d i e t h e o l o g i s c h e K l a m m e r u m die K l a g e ( V . 2 - 1 8 ) . D i e T r a n s z e n d e n z G o t t e s e r m ö g l i c h t s e i n E i n w i r k e n in d i e I m m a n e n z .

Der

h i m m l i s c h e Gottesthron bleibt bestehen, o b g l e i c h die irdische Wohnstatt J h w h s zerstört ist. D e r der T e m p e l t h e o l o g i e n a h e s t e h e n d e V e r f a s s e r k o n n t e auf K o n z e p t i o n e n z u r ü c k g r e i f e n , d i e in der dtn-dtr S c h u l e s c h o n e n t w i c k e l t w o r d e n waren. H i e r

103 Vgl. zu der Formulierung und der nna-Konstruktion auch die Prädikationen in Ps 44,5; 77,15; 74,13 ff. 89,10-13; 102,13 f. (s.u.). Es handelt sich um Tempel-theologische Sprache. Zur grammatischen Form, vgl. M I C H E L , Tempora, § 28c. 104 Vgl. zum Ausdruck auch Ps 102,13 ( n i -rf? y o n nOn •Via'? nirr nn*i) in dessen Kontext es um die Wiederherstellung und das Heil für Zion geht. Dazu B R A N D S C H E I D T , P S 102,65; S T E C K , Eigenart, 364 f. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Jes 6,1; l.Kön 22,19; Ps 93 und dazu S P I E C K E R M A N N , Heilsgegenwart, 180-186. „Theologie der königlichen Jahweherrschaft ist keine Ideologie des himmlischen Friedens auf Erden, konstruiert in realitätsfernen Räumen einer konfliktlosen Scheinwelt. Der Blick auf die potentielle Bedrohung wird ausgehalten. Er ist jedoch mit gutem theologischen Recht nüchtern, denn die Bedrohung ist im Vergleich mit der Jahweherrschaft nicht mehr als die .unmögliche Möglichkeit'." ( S P I E C K E R M A N N , aaO. 184). Dieses gilt um so mehr für Thr 5, wobei jedoch gerade hier die Nüchternheit des Blickes durch das für unmöglich Gehaltene entscheidend, wenn auch nicht umfassend, getrübt wird. 105 Beachte die Anhäufung der Zeitbegriffe in V.19 (d'tuj1?! i m -nV) und 20 (rra^l -pK1? c o ' ) , die das nicht zu Fassende, die „Unendlichkeit" und Langzeitigkeit Jhwhs ausdrücken sollen. 106 B R A N D S C H E I D T (aaO. 2 0 0 ) vermag hingegen in dem Gedanken von V.19 keine tröstende Intention zu erkennen. „Mit V.19 beginnt die Du-Klage in Klgl 5, die eng an die Ich-Klage [sie!] angeschlossen ist und mit V.18 eine gemeinsame Aussage formuliert. V.19 richtet sich an Jahwe als den ewig thronenden Gott, dessen Macht und Herrlichkeit durch die Zerstörung Zions (V.18) keine Einbuße erleidet. Das Wissen um die Ewigkeit Gottes hat aber für das geknechtete Volk noch keinen tröstenden Charakter. (...) Jahwes Wohnstätte, der Zion, ist zerstört (V.18); er selber erleidet zwar dadurch keine Einbuße an Macht und Herrlichkeit, aber er ist für das Volk nicht mehr ohne weiteres erreichbar. ... Daß Jahwe im Regiment sitzt, ist dem Verfasser von Klgl 5 zwar gewiß (V.19), die Hoffnung auf ein helfendes Eingreifen ist für ihn jedoch in unerreichbare Ferne gerückt." (AaO. 227). Eine plausible Erklärung für die Bitten in V.l (allein 3 Imperative) und V.21 wird bei dieser Deutung von Thr 5 nicht zu erwarten sein.

74

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

hatte man rechtzeitig die R o l l e des N a m e n s Jhwhs (die s o g . DTTI-Theologie) b e t o n t und auf d i e U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n irdischer und h i m m l i s c h e r Wohnstatt mit Nachdruck hingewiesen (vgl. z.B. l . K ö n 8). 1 0 7 Vers

20

V e r s 2 0 bietet mit seiner Warum-Frage 1 0 8 nicht die Klage vor Gott, sondern die A n k l a g e g e g e n Gott. 1 0 9 Jhwh hat sie, so sehen es die Beter, v e r g e s s e n (rotf) 1 1 0 und verlassen ( a r u ) . N e b e n dem Thronen Jhwhs „von E w i g k e i t zu E w i g k e i t " ( V . 1 9 ) , n e b e n d e m L o b e n und R ü h m e n Jhwhs und seiner Taten v o n seiten s e i n e r G e m e i n d e kennt Israel auch das „ e w i g e V e r g e s s e n " J h w h s und das V e r l a s s e n s e i n auf alle Zeit

(D'IT ^ I K B ) .

Ein Blick auf Ps 2 3 , 6 (Ps 9 3 , 5 ) zeigt,

daß e s sich bei dieser „Länge von T a g e n " (D'N1 •PK) nicht um e i n e b e l i e b i g e Z e i t a n g a b e handelt, sondern dieser B e g r i f f die v o n Jhwh her qualifizierte 107 YG] ¿ AZU JANOWSKI, Mitte, 129-132: „Das Deuteronomium hat noch nicht darüber reflektiert, wie sich das Wohnen Jahwes (bzw. seines Namens) im irdischen Heiligtum zum Wohnen Gottes im Himmel verhält. Dieses Problem stellte sich - in einer Zeit, als der erste Tempel längst in Trümmern lag - erst den Verfassern des Deuteronomistischen Geschichtswerks (DtiG). In deutlicher Korrektur des alten Tempelweihspruchs 1 Kön 8,12f MT, der vom Jerusalemer Heiligtum als einer ,Stätte für dein (sc. Jahwes) Thronen/Wohnen für alle Zeiten (...)' (V.13b) spricht, bezeichnet der deuteronomistische Tempelweihbericht lKön 8,14-66 in seinem jüngeren Mittelteil V.31-51 ausdrücklich den Himmel als Stätte ,deines (sc. Jahwes) Thronens/Wohnens (...)' (V.39.43.49, ...). Damit hat der spätdeuteronomistische Redaktor nicht nur die Wohn- und Thronvorstellung des alten Tempelweihspruchs korrigiert, sondern auch die deuteronomische Theologie vom Wohnen-Lassen/ Deponieren des .Namens' an der von Jahwe erwählten Stätte entscheidend modifiziert: das (zerstörte) Heiligtum ist in erster Linie Gebetsstätte, an der der Name Jahwes anwesend ist; Jahwe selbst aber ist nicht an den Tempel gebunden, sondern er , thront/wohnt' (lö;) im Himmel und erhört von dort die Gebete seines .Knechtes' Salomo und seines Volkes Israel...." 108

Zur Warum-Frage (no1?) vgl. auch Ps 44,24.25, 74,1.11, 79,10 u. 80,13. „Das menschliche .Warum' an Gott ist zu allermeist (46mal) mit lamah eingeleitet, d.h. es ist die vorwurfsvolle Frage, mit der die Gemeinde oder ein einzelner vor Gott treten. Dabei ist dieser Vorwurf zunächst wohl immer hervorgerufen durch den Widerspruch göttlicher Verheißung und Berufung einerseits, göttlichem Handeln andererseits. ... Es ist also nicht ein .Warum', das nur Ausdruck allgemein-menschlicher Ratlosigkeit ist, sondern eine Frage, die aus der Begegnung mit Gott, mit seiner Erwählung und Berufung erwächst." (JEPSEN, Warum, 231 f.) Vgl. auch M I C H E L , Warum, 191ff, bes. 198 f. Auf Michels Unterscheidung zwischen rückwärtsgewandter svto -Frage und vorwärtsgewandter nnb- Frage muß nicht extra eingegangen werden. Daß die Warum-Frage vom Charakter des no1? spezifisch israelitisch sein soll (vgl. aaO. 207), ist durch die Untersuchung von Michel nicht eindeutiger geworden. Vgl. dazu bloß die Belegstellen innerhalb der Balag-Klagen. 109 „Rather, it seems more likely that the poems of Lamentations were composed to give voice to the community's profound grief and to protest the injustice of the city's destruction and the people's suffering. Indeed if there is any hope in Lamentations, it lies in the book's eloquent protest." (DOBBS-ALLSOPP, Study, 94). 110 Vgl. zum nstf von seiten Jhwhs auch: Ps 44,25; 74,19 u. Thr 2,6.

Threni 5 - Das verworfene

Volk - Der im Himmel thronende

Jhwh

75

„Heilszeit" bezeichnet. Es ist eine Heilszeit, die „des Menschen Zeit und jegliche Zeit sprengt" 111 . Wenn Jhwh Israel „auf alle Zeit" verläßt, so ist Israel bar jeder Güte und Huld Jhwhs und auf sich selbst zurückgeworfen. Wo Jhwh vergißt, tritt sein gnädiges und sich erbarmendes „Gedenken" (V. 1: ~bt) zurück. Von hieraus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Aspekt der V e r w e r f u n g (ORn, V.22). Auf diesem Hintergrund wird die sich anschließende Bitte in V.21 (zwei Imperative: ln'lön und ttfin), begleitet von der doch noch dem anklagenden Ton verhafteten Begründung in V.22, verständlich. Jhwh (nur hier in V.21, V.19 und V.l!) möge die Gemeinde (l.Pers.Pl. in den Suffixen) zu sich ("p1?*) zurückbringen, damit sie als Antwort darauf umkehre, wieder auf den rechten Pfad gelange. Die durch Gott bewirkte Umkehr der Menschen ist die conditio sine qua non für die Rettung und einen Neuanfang des Gottesvolkes. Erst Jhwhs Handeln eröffnet die Möglichkeit zur Umkehr, führt zur Erneuerung (ehn) der Tage und damit des Lebens. Es ist die Bitte um Entsühnung und Vergebung der „Verfehlung" (V.7.16: Kon), auch wenn dieses hier nicht geäußert wird (anders Ps 79,9). Anknüpfungspunkt für das Israel neu geschenkte Leben ist die „Urzeit" (D"rp>)112, die Zeit vor dem Fall Jerusalems, vor dem Exil, die Zeit des Bundes und des Heils und wohl noch viel mehr; beachte die anklingende mythische Dimension. Hier wird nicht die Vergangenheit Israels, damit auch die Zeit der Könige Israels, verklärt, sondern die göttliche Heilszeit - die Zeit, in der Jhwh an Israel handelte - als erneut anbrechende Zeit ersehnt und erbeten.

SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 2 7 4 . Zu mp vgl. auch Ps 44,2; 74,2.12; Thr 1,7 und Mi 7,20 (Jakob u. Abraham). Diese Stellen machen hinlänglich deutlich, daß hier die „Erzväter/eil", Heilsgeschichte par excellence heraufbeschworen wird. ,pip ist das theologische Zauberwort der Stunde des Exils. Mythisch verstandene Urzeit ist zeitlos und kultisch wiederholbar. Das ungebrochen positive Verständnis der Heilsgeschichte als mp hat sie für die Psalmtheologie zur Zeit des Exils relevant werden lassen, weil sie hilfreiche Urzeit-Erfahrung außerhalb der Tempelmauern anbot und zugleich ein Festhalten an tempeltheologischer Denkweise gestattete." (SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 129). Anders hingegen ist oip in Thr 2,17 (s.o.) begriffen. Im Kontext von Thr 2 ist hier an das in der Zeit des Abfalls Israels ergangene Gerichtsurteil (= Zeit der Gerichtspropheten und deren Verkündigung) intendiert, die Unheilszeit statt der Heilszeit. Zu mp vgl. auch K O C H , Qädäm, 248ff, bes. 258 f. „Der Sprachgebrauch der Jerusalemer kultischen Poesie setzt also voraus, daß DIJ? ein durch besondere göttliche Stiftung ausgezeichneter Zeitabschnitt gewesen ist, der von der Schöpfung bis zur Erhebung Jerusalems zur Hauptstadt und des Zions zum zentralen Heiligtum gereicht hat. Alles, was an gegenwärtiger Not zu beklagen ist, und in rix: anzudauern droht, hebt sich vom Inhalt jenes Zeitabschnittes grundsätzlich ab." (AaO. 259). S. auch KRONHOLM, ThWAT VI, Sp. 11631169 und JENNI, THAT II, Sp. 587-589. 111

112

76

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

Verse 21-22 Vers 21 bildet damit die Weiterführung und Konkretisierung der Bitte aus V. 1. Jhwh soll gedenken, sehen und endlich die Wende einleiten. Denn, so wissen es die Beter, das, was sich augenblicklich vor ihren Augen abspielt, spricht nicht für die Erwählung des Volkes Gottes, sondern für seine Verwerfung ( O R D ) 1 1 3 . Jhwh hat Israel verworfen und zürnt ihm ohne Maßen ( N S Ü P -wr-ii! Vom Schluß (V.22) her, offenbart sich erst der geheime Sinn der Bitte in V.21. Jhwh muß die Verwerfung zurücknehmen. Nur er allein, der das Volk verworfen hatte, kann die notwendige Rückkehr ermöglichen. Gegenüber Threni 2 zeigt Threni 5 schon allein im Aufbau das Bemühen, die „unmögliche Möglichkeit", den Fall von Jhwh-Tempel und Davidsstadt, zu bewältigen und in eine für Kult und Liturgie geordnete Struktur zu bringen. Der Rückgriff auf die traditionelle Tempeltheologie mit ihrer Redeweise vom „Thronen Jhwhs" und das dennoch offensichtliche Ringen zwischen den beiden Polen Klage und Gotteslob verstärken diesen Eindruck. Die Klage um Zion und Juda steht auch hier im Mittelpunkt, ist aber in eine Form eingebettet, die das Bemühen zeigt, den Rahmen gattungsgemäßer „Normalität" zu wahren. Nahezu von allen Formelementen der Gattung Klage wird Gebrauch gemacht. Das Gotteslob ertönt allerdings mit hintergründiger Absicht: Der von Ewigkeit zu Ewigkeit thronende Gott (V. 19) scheint sich das gerade vorher beklagte Elend vom Leibe zu halten zu wissen. Deshalb in V. 20 die anklagende Warum-Frage mit der in V. 21 anschließenden provozierenden Bitte, Jhwh möge doch erst einmal selbst an den Klagenden die Umkehr vollziehen, ehe sie selbst dazu willens und fähig seien. Das letzte Wort hat auch hier wieder die Anklage, die sich als Begründung der vorhergehenden Bitte tarnt (V. 22). Daß von Threni 5 aus unter Beibehaltung des Rückbezuges auf die Tempeltheologie weiter gedacht worden ist, zeigen die exilischen Volksklagelieder (Ps 74; Ps 44; Ps 80).

113

Abgesehen von Ps 8 9 , 3 9 kommt der Ausdruck DKD für Jhwhs Verwerfen in den zu

untersuchenden Texten ( K V ) nicht weiter vor. Statt dessen ist n;r der geläufigere Ausdruck, um diesen Aspekt göttlichen Handelns zu beschreiben (vgl.: Ps 4 4 , 1 0 . 2 4 ; 6 0 , 3 . 1 2 / / 1 0 8 , 1 2 ; 7 4 , 1 ; ( 7 7 , 8 ) ; 8 9 , 3 9 u. Thr 2,7); vgl. dazu oben Anm. 38. Zu a»o mit Jhwh als Subjekt,vgl.: Lev 2 6 , 4 4 ; Jes 4 1 , 9 ; Jer 7 , 2 9 ; 14,19; 3 3 , 2 4 . 2 6 ; Hos 9,17; Am 5,21 (die Feste); Thr 3 , 4 5 ; Ps 7 8 , 5 9 ( ! ) . S. auch WAGNER, T h W A T IV, Sp. 6 1 8 - 6 3 3 u. WILDBERGER ( T H A T I, Sp. 8 7 9 8 9 2 ) , der die Aussage des Textes nicht ernst n i m m t : „Aber im Grunde steht der Beter der Klagelieder ungebrochen in der Kulttradition Jerusalems, er weiß, daß eine solche Verwerfung nicht Wirklichkeit sein kann." (AaO. Sp. 889).

Die exilischen

2. Die exilischen

Volksklagelieder

11

Volksklagelieder

Die oben angedeutete Reihenfolge der Volksklagelieder (Psalm 74 - Psalm 44 Psalm 80) stellt gleichzeitig auch ihr chronologisches Verhältnis zueinander dar. Allen drei Klageliedern des Volkes ist gemeinsam, daß sie - wenn auch in unterschiedlicher Form und Breite - auf tempeltheologisches Material zurückgreifen und dieses wiederum in unterschiedlicher Weise innerhalb des Textes zur Anwendung kommen lassen. So lassen zum Beispiel die Verfasser von Psalm 74 dieses rezipierte Material innerhalb des großen hymnischen Abschnittes 74,12-17 zu Worte kommen, während die Verfasser von Psalm 80 mit Hilfe der tempeltheologischen Aussagen einerseits den Psalm in hymnischer Diktion eröffnen, andererseits aber auch innerhalb des Psalmtextes durch die bewußte Positionierung der tempeltheologischen Epitheta Jhwhs eine Gliederung andeuten. Ebenso unterschiedlich wie die einzelne Verwendungsweise des Traditionsmaterials innerhalb der Texte ausfällt, sind auch die jeweiligen Themenschwerpunkte, die die Klage des jeweiligen Psalms in den Mittelpunkt rückt. Wenn auch eine genaue Systematisierung den Texten in Gänze nicht gerecht werden kann, so soll sie trotzdem versucht werden, gerade auch im Hinblick auf die weiter unten zu behandelnden nachexilischen Klagelieder des Volkes, die die in diesen drei exilischen Psalmen anklingenden Themen aufgreifen, jedoch wiederum ihrer Zeit und der jeweiligen Trägergruppe entsprechend anders weiterverarbeiten. Grob genommen lassen sich folgende drei Themenkomplexe erkennen: a) der zerstörte Tempel: Psalm 74 b) das verlorene Land: Psalm 44 c) das Ende des davidischen Königtums: Psalm 80.

2.1. Psalm 74 - „Jhwh ist mein König von alters her" 1 2

3

Warum, a, hast du auf ewig verstoßen, raucht dein Zorn gegen die Schafe deiner Weide? Gedenke deiner Gemeinde, die du vor Zeiten erworben, die du als Stamm deines Erbteiles erlöst hast, [des Berges Zions, auf dem du dich niedergelassen hast.]b Erhebe deine Schritte zu den ewigen Trümmern, alles hat der Feind im Heiligtum zerstört.

78

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

Deine Widersacher brüllten inmitten deiner Versammlungsstätte, ihre Standarten stellten sie als Zeichen auf.0 „Es sah aus wie einer, der hereinbringt nach oben die Äxte im Waldesdickicht." d „Dann schlagen sie mit Axt und Beil auf die .Schnitzarbeit'."*1 Sie haben Feuer in deinem Heiligtum entfacht, bis auf die Erde haben sie die Wohnstätte deines Namens entweiht.6 Sie sprachen in ihrem Herzen (bei sich): „Wir wollen sie allesamt unterdrücken, alle Gottesstätten im Lande wollen wir niederbrennen."f Unsere Zeichen haben wir nicht gesehen, [es ist kein Prophet mehr da,] und es ist keiner bei uns, der wüßte, wie lange noch? Wie lange, , soll der Widersacher schmähen; wie lange soll der Feind deinen Namen ewig verhöhnen? Warum hältst du deine Hand zurück, bleibt deine Rechte in deinem Gewand verborgen?8 Doch ist mein Königh von alters her, er vollbringt Heilstaten inmitten der Erde. Du bist es, der das Meer mit Macht aufgerührt hat, der die Häupter der Schlangen über dem Wasser zerschmettert hat.1 Du bist es, der die Köpfe Leviathans zerschmettert hat, der ihn dem Volk der Wüstentiere zum Fraß vorgeworfen haü Du bist es, der Quelle und Bach gespalten hat, du bist es, der mächtige Ströme trocken gelegt hat Tag und Nacht gehören dir, du bist es, der Sonne und Licht bereitet hat. Du bist es, der alle Grenzen der Erde festgesetzt hat, Sommer und Winter, du bist es, der sie geschaffen hat. Dessen gedenk, da doch der Feind verspottet, Jhwh, da ein törichtes Volk deinen Namen verachtet! Gib nicht das Leben deiner Taube den „Raubtieren"k preis, vergiß nicht auf ewig das Leben deiner Elenden! Schaue auf den Bund, denn voll sind die Schlupfwinkel des Landes, die Stätten1 mit Gewalt! Nicht soll der Unterdrückte beschämt zurückkehren, der Arme und der Elende sollen deinen Namen preisen! Erhebe dich, , führe deinen Streit, gedenke der Schmähung von einem Toren täglich. Vergiß nicht das Geschrei deiner Widersacher, das Getöse deiner Gegner, das ständig aufsteigt.

Psalm 74 - „Jhwh ist mein König von alters her"

79

Zur Übersetzung: a: Statt des cti^k ist wie in den anderen Psalmen des „elohistischen Psalters" als Appellativum mrr zu lesen. b: Gegen Ravasi (Salmi II, 531: „il tuo possesso che hai riscatto col tuo bastone") liegt bei B2E) kein acc. instr. vor. oatf steht in der es. Verbindung (vgl. zu -|tfrn onü) auch Jer 10,16; 51,19; Jes 63,17); vgl. auch Täte (Psalms, 240 f.: „the tribe of your patrimony"). Bei in n]3Ö nt ] i ' ! n n handelt es sich um einen Nachtrag aus der Hand eines späteren Bearbeiters (gegen Ravasi (aaO. 533 A.l). Vgl. dazu Spieckermann, Heilsgegenwart, (129, Anm.19): „Der Zusammenhang mit Ex 15 hat einen Redaktor von Ps 74 zu der Ergänzung in V.2b veranlaßt, die die Verbindung im Sinne, wenn auch nicht mit den Worten von Ex 15 eindeutig herstellen soll. Die sie (und Ex 15) bestimmende ZionsOrientierung konterkariert jedoch die inhaltliche Intention von Ps 74,21, für den zerstörten Tempel im Volk theologisch Ersatz zu schaffen." Ansonsten ist der Text von m in V.2 in sich klar. Änderungen und Ergänzungen, wie sie z.B. Buhl (Psalmeme; 483.485: „* vend dit Blik * mod din Ejendel") und Duhm (Psalmen, 286: „Den Anfang der Strophe vervollständige ich durch ein oan (8510), das vor ane) wegen der Aehnlichkeit leicht ausfallen konnte.") vornehmen, sind überflüssig, c: In 4b sind gegen Gunkel (aaO. 323: „sie vollführten das Gelüste ihrer Lust" = Dimn niH lo'pei) und Kraus, Psalmen, 676 (Dittographie) keine Änderungen vorzunehmen; vgl. dazu auch richtig Täte, aaO. 242. d: Die hier dargebotene Übersetzung der Verse 5 und 6 stellt den Versuch dar, dem schlechten und nicht aufhellbaren Textbestand von ITC einen Sinn abzugewinnen. Vgl. dazu Olshausen, Psalmen, 316; Duhm, aaO. 286; Kraus, Psalmen, 676 f.; Täte, aaO. 242; Ravasi, aaO. 533 A. 3 („II testo dei V. 4-8 fe fortemente lesionato") und treffend Spieckermann (aaO. 123, Anm. 2): „V.5 f. sind in Gestalt des MT unübersetzbar, wenngleich ihr Inhalt einigermaßen deutlich ist. Sie wollen die Zerstörung des Tempels durch ein Bild (wahrscheinlich ein Mann, der im Waldesdickicht die Axt schwingt) und an einem bestimmten Objekt (...) illustrieren, ohne daß die mit fast jedem Wort verbundenen semantischen und grammatischen Probleme eine zu verantwortende Übertragung zuließen. Die Textemendationen von LXX bis Robinson (ZAW 89, 120 f.) sind die natürlichen Reaktionen auf diesen mißlichen Zustand, führen aber kaum zum ursprünglichen Text zurück." e: Zu yar p u b vgl. Ps 89,40 ( m p u b n ^ n ) und CK §119g. f: Mit dem Apparat der BHS wird man statt q'3 ein dt: (Wz. nr) lesen müssen; ohne Punktationsänderung kommt Täte (aaO. 243) aus: „The word tm should be read as a simple imperfect (plus 3rd pers. masc. pl. suffix) from, ,to oppress/ mistreat/ suppress.' The change of vowels to Q3'5 (...) is not really necessary..." ; statt des isnto ist mit © und 5*piDa (l.ps.c.pl.impf.q.) zu lesen. Vgl. dazu auch Olshausen, aaO. 317; Buhl, aaO. 486; Spieckermann, aaO. 123 Anm.4. Anders hingegen Kraus (aaO. 677), der einem Vorschlag Gunkels folgend, „Vertilgen wollen wir ihre Stätte" (= Troa om: m:) restituiert, und Ravasi, aaO. 532.547, („Siano bruciati tutti insieme i loro figli coi luoghi delle assemblee di Dio nel paese!"). g: Mit Gunkel (aaO. 324) wird man statt anpo ein m p a und statt des -pin mit Q MSS ® 2 C ~|pTi lesen müssen. Das Verbum tf» (Imp. pi.) ist nach r» 1 » (Part.pass.f.sg.q. von ( t o ) zu emendieren. Anders Täte (aaO. 240: „Why do you draw back your hand, even your right hand? (draw it) from the midst of your bosom; end it!"), der an ¡Y» als imp. pi. und der Präposition mpo festhält (aaO. 243). h: Gegen Michel, Tempora, 180 ist an der Lesung „mein König" Co1») festzuhalten. Vgl. dazu auch Ps 44,5.

80

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

i: Zu den im«-Sätzen in V.13 ff., bei denen es sich um zusammengesetzte Nominalsätze handelt (vgl. Michel, Tempora §28c u. §8,24), vgl. auch die Konstruktionen in Ps 89,1013 und Thr 5,19. j: Gegenüber Spieckermann. aaO. 124 Anm.8 wird man die Verse 13 und 14 in Gänze zum Grundbestand rechnen müssen. Die Aussage über die„Häupter der Drachen" und die „Leviathans" verdanken sich dem hier verarbeiteten kanaanäischen Traditionsstück. Vgl. den Ausspruch Anats (KTU 2.Aufl„ 1.3.111, 40: 1 iStbm. tnn. iStm. lh I mhät. btn. U ) 1 3 0 . „ m p i s t d a s t h e o l o g i s c h e Z a u b e r w o r t der S t u n d e d e s E x i l s .

Mythisch

v e r s t a n d e n e U r z e i t ist z e i t l o s und k u l t i s c h w i e d e r h o l b a r . D a s u n g e b r o c h e n p o s i t i v e V e r s t ä n d n i s der H e i l s g e s c h i c h t e als m p hat sie für d i e P s a l m t h e o l o g i e zur Z e i t d e s E x i l s relevant w e r d e n l a s s e n , w e i l s i e hilfreiche Urzeit-Erfahrung a u ß e r h a l b der T e m p e l m a u e r n anbot und z u g l e i c h e i n F e s t h a l t e n an t e m p e l t h e o l o g i s c h e r D e n k w e i s e gestattete." 1 3 1 C h i a s t i s c h a u f g e b a u t , s i n d die b e i d e n A u s s a g e n über J h w h s H a n d e l n u m m p zentriert. D i e b e i d e n V e r b e n und m p m a c h e n deutlich: e s g e h t u m d i e h e i l s g e s c h i c h t l i c h e Tat d e s E x o d u s . 1 3 2 H e i l s g e s c h i c h t e wird j e d o c h hier in - für

129

Vgl. zu diesem Gebrauch von mp neben Ps 74,2 und Ex 15,16 auch das Heilswort Jes 11,11, das den Loskauf Israels aus Assur, Ägypten und der Diaspora ankündigt. Auf den Tempelberg bezogen, begegnet nap in Ps 78,54 (uvr nn:p n e n n ) , dazu SPIECKERMANN (Heilsgegenwart, 145): „Setzt in dieser Hinsicht Ps 78 die tempeltheologische Tradition von Ex 15 fort, hat sie in Ps 78, 54.55a exilisch-deuteronomistisch bedingte Umakzentuierungen erfahren. Nicht mehr das Jerusalemer Heiligtum selbst kann wie in Ex 15,17 Ziel der Landnahme sein, denn gerade die Zerstörung des Tempels ist das theologisch zu bewältigende Problem. Vielmehr wird jetzt gut deuteronomistisch allein dem Land und (als pars pro toto) dem Tempelberg die theologische Würde zuteil, die sich vorher Volk, Land, Tempelberg und Tempel teilen mußten (vgl. Ex 15,13.17)." Vgl. dazu auch LUX AN, Thema, 19 f. 130 "au stammt ursprünglich aus dem familienrechtlichen Bereich und avancierte im Laufe der Zeit zu dem wichtigsten Ausdruck, mit dem innerhalb des AT die Exodustat Jhwhs umschrieben wird (vgl. folgende Stellen: Ex 6,6 (P); Ps 15,13; 77,16; 78,35; 106,10; Jes 63,9). Befreiung und Gründung der Beziehung zwischen Jhwh und Israel haben hier ihren Ort. Es geht um die Erwählung Israels. So auch SCHELLING (Asafspsalmen, 87): „Met het gros van de onderzoekers zijn wij van mening, dat in Ps. 74:2 verkiezing en uittocht met elkaar zijn verbonden." - Ex 15,13 steht auch hier wieder im Hintergrund (n 1 »: l r c s - p o m r r m ) . Vgl. auch STAMM, THAT I, Sp. 383-394. 131 SPIECKERMANN, aaO. 129. Zu m p vgl. auch noch die Belege in: Ps 44,2; (77,6.12); Thr (1,7); 2,17; 5,21. - Zur Stelle Ps 74 vgl. auch die Ausführungen von KOCH, Qädäm, 255 und sein Fazit (aaO. 258): „In den behandelten Psalmstellen stellt sich also 0"ip als ein qualifizierter Begriff heraus, der sich auf die Zeit der Väter bezieht und vornehmlich das Geschehen vom Exodus bis zur Weihe des Zionheiligtums als eine geschlossene göttliche ,Tat' (...) ansieht, die mit außergewöhnlichen Mitteln (K'PB) vorangetrieben wurde, mit Bund und Erwählung verknüpft ist und vor allem mit Heilshilfe (UE)'). An sämtlichen Stellen klafft zwischen dem glücklichen m p und der Jetztzeit des Psalmisten ein Graben. Was nunmehr auf Dauer bevorsteht (rraa), ist durch Not und Unheil geprägt und nicht mehr durch urzeitliches Heil." Anders sieht es jedoch in Thr 2 aus. Thr 2,17 bezeichnet mit m p die Zeit, in der Jhwh die Katastrophe über Israel in sein göttliches Wort hineingenommen hat. Vgl. dazu oben Anm. 112. 132 Vgl. dazu auch noch den späten Psalm 77, in dem Elemente der KV verarbeitet sind. Hier wird der Exodus ebenfalls in mythischer Form dargeboten (Ps 77,16-21).

88

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

die hinter Ps 74 zu vermutende Tempeltheologie - typischer Weise in mythischer Gestalt dargeboten (vgl. auch V. 15). 133 In der Darbietung von Heilsgeschichte in mythischem Gewände und Gepräge erweist sich Psalm 74 nicht als originär. Denn Hintergrund und Ermöglichung für dieses Reden ist der vorexilische Text Ex 15, auf den in Ps 74, aber auch in den anderen Volksklageliedern in Ps 44 und 80), Bezug genommen wird. 134 Des Exodus, des Grunddatums in der Geschichte zwischen Israel und seinem Gott, soll Jhwh gedenken. Wie Jhwh damals den Feind vernichtet und sein Volk errettet hat, so soll er auch nun in der Gegenwart handeln. Auf diesem Hintergrund werden die Aussagen in V. 12-17 und V . l l verständlich. Der König von Urzeit, dessen Heilstaten (V.12) im Hymnus (V. 13-17) gepriesen werden, hält seine siegreiche und rettende Rechte zurück (V.l l). 135 Vers 3 - wie V.2 eine Bitte - leitet den ersten großen Block von Psalm 74 ein, dessen Kolorit durch die dominierende Feindklage bestimmt ist. Im Mittelpunkt steht die Zerstörung und Profanierung des Heiligtums Jhwhs, die im einzelnen - einhergehend mit der Beschreibung des Feindes - dargestellt wird. Es ist Jhwhs Kultort und Heiligtum, die Stätte, an der die Gebete und Psalmen erklangen, dessen Geschick in der Klage beschrieben wird. Es ist das Heiligtum (V.3.7: täip) - damit auch Versammlungsort der Gemeinde zu den Festen (V.4.8: IUIO) 136 und Wohnstätte des Namens Jhwhs (V.7: -|Dä"ptön) 133

Vgl. dazu S P I E C K E R M A N N , aaO. 128 ff. Erwählungs- und Rettungshandeln Jhwhs werden in Ps 74 mit den gleichen theologisch bedeutsamen Verben S u und rop beschrieben, wie in Ex 15. Vgl. Ex 15,13 (n*7»«a i r o » - p o m rrm ) mit Ps 74,2 und Ex 15,16 ( m p i r o s -inj)'"!» nin' -|aj> inj>,--ij>) mit Ps 74,2. Im Gegensau zu Ex 15,17 ("jn^ra i n ) besteht die rrtm Jhwhs in Ps 74,2 nicht in dem Gottesberg, sondern in dem Volk ( M J ) selbst. Vgl. dazu auch S P I E C K E R M A N N , aaO. 128 f.: „Im prächtigsten theologischen Gewände präsentiert sich das Volk indessen durch die Bezeichnung 1 |i (A u ose) ,Stamm deines Erbbesitzes'. Es reklamiert damit für sich die Unmittelbarkeit zu Gott, die Ex 15 in konkreter Wahrnehmung des Ausdruckes .Erbbesitz' und anscheinend im Gefolge alter Tempeltheologie allein dem Jerusalemer Tempel(berg) zugesprochen hat (15,17). Verbindet Ex 15 mit dem Volke vor allem die Vorstellung der Auslösung (VKJ, 15,13), das auf dem i n ' m -in ,dem Berg deines Erbbesitzes' seine Bleibe findet, so stellt sich das Volk in Ps 74 expressis verbis in diese Tradition (mp m p ,[die Gemeinde,] die du vor Zeiten erworben', 74,2a, vgl. Ex 15,16). m p ,Urzeit' ist die Zeit des Exodus, und das Volk, das jetzt die Katastrophe des Exils erlebt, steht in der Tradition des Volkes, das im Exodus Rettung erfuhr, und bietet sich Jahwe als Folgebesitz für das Eigentum an, das ihm in der Katastrophe verlorengegangen ist." 134

135 Auf dem Hintergrund von Ex 15 (15,6.12) wird die in V . l l geäußerte Klage erst recht verständlich. Ex 15,6: „Deine Rechte, Jhwh, sich machtvoll verherrlichend, deine Rechte Jhwh, zerschmettert den Feind." (3'* p - i n m i r -[ro' n a a n w iro 1 ). Zur Übersetzung

und Ex 136

1 5 v g l . SPIECKERMANN, a a O . 9 6 f f .

Vgl. zu dieser Bezeichnung auch Thr 2,6. Erst die Priesterschrift wird später diesen Ausdruck in Erinnerung an den Tempel aufgreifen und das für diese Quelle typische ,3egegnungszelt" (ISM X ' TK ) kreieren (Ex 27,21; 28,43 u.ö.).

Psalm 74 - „ Jhwh ist mein König von alters her"

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das dem Feind (V.3: mR; vgl. noch V.18) und den Widersachern Jhwhs (!) (V.4: l ' n ü ; vgl. auch V.23) in die Hände gefallen ist. Es ist die Katastrophe von 587 v. Chr. (vgl. 2.Kön 25,9 ff.), die Jhwh in der Feindklage vorgetragen wird. In die Retrospektive genommen und in die Form der Psalmensprache gegosssen, schatten sich Sieg, Eroberung und Verwüstung Jerusalems durch die Neubabylonier ab. Damit reiht sich Ps 74 in das Ensemble zweier weiterer Texte ein - Thr 2 und Psalm 79 - , die ebenfalls die Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums reflektieren (Thr 2,6 f.; Ps 79,1 unter Nennung von Jerusalem). Er zerstörte wie den Garten seine Hütte, er verwüstete seinen Festort. Vergessen ließ Jhwh in Zion Versammlung und Sabbat, auch hat er in seinem glühenden Zorn König und Priester verworfen. Verstoßen hat der Herr seinen Altar, entweiht sein Heiligtum; er hat in die Hand des Feindes ausgeliefert die Mauern ihrer Paläste, die Stimme haben sie im Hause Jhwhs erhoben wie an einem Festtag. (Thr 2,6 f.) Jhwh, Heidenvölker sind in dein Erbe eingedrungen, haben deinen heiligen Tempel verunreinigt, Jerusalem haben sie in Trümmer gelegt. (Ps 79,1) Chronologisch geordnet, ergibt sich die Reihenfolge: Thr 2 - Ps 74 - Ps 79; Threni 2 als massive Anklage gegen Gott, der sein eigenes Heiligtum zerstört und entweiht hat; Psalm 79 als das Gebet der Herde Jhwhs (vgl. das Lob in V.13), das das Geschick Jerusalems (genannt in V.1.3) beklagt. In Ps 79,1 sind es die „Heidenvölker" (D'U: Wandel der Terminologie gegenüber Ps 74), die in das Erbe (n*7ra: hier nicht mehr im Sinne von Ps 74,2) Jhwhs eingefallen sind und den Tempel (tö~rp * 7 D ' N ) entweiht (KDCD) haben. Punkt für Punkt malen die Verse 3-9 die Katastrophe aus, um Jhwh, von dem man weiß, daß er der Gott des Exodus ist und in Urzeiten den Feind besiegt hat, zum Einschreiten zu bewegen.137 Das Heiligtum ist zerstört (V.3). Jhwhs Widersacher schreiten über die heilige Stätte, halten ihr Gelage ab (JKB vgl. V.23: ]TWÖ) und okkupieren und reklamieren die heilige Stätte durch Setzen ihrer Standarten (mnn im Gegensatz zu denen der Gemeinde in V.9) für sich und ihre Götter (V.4). Auf welche mn« der Feinde Vers 4b genau anspielt, ist kaum noch zu erhellen. Man wird dabei sowohl mit den „Feldzeichen"/ „Standarten" der 137 Dazu notiert SCHELLING (Asafspsalmen, 2 1 3 ) : „De dichter (of latere bewerker) laat zieh uitstekend plaatsen na de verwoesting van Jerusalem. Zijn indringende en aandachtige beschrijving van de verwoesting van het heiligdom wekt de indruk dat hij afkomstig is uit kringen nabij de cultus."

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

neubabylonischen Besatzer als auch mit „Zeichen" aus dem Bereich der Omenschau und -praxis rechnen müssen. Im Gegensatz zu V.4 wird es sich in V.9a um ein Gegenwart und Zukunft deutendes „Gotteszeichen" handeln, das durch priesterliche Opferschau (Hepatoskopie) oder prophetische Schau ermittelt wurde.138 Es ist nicht mehr der Herr vom Zion, der auf seinem Berge ruft (so Jer 25,30; Jo 4,16; Am 1,2 (sek.)) 139 , sondern es sind die gottwidrigen, chaotischen Mächte. Mit Feuer und Brand (7a; vgl. auch 2.Kön 25,9; Jes 64,10) haben die Feinde ihr vernichtendes und schändliches Werk zum Abschluß gebracht. Vers 5 und 6 sind Ausmalungen eines späteren Ergänzers. Wie „beliebt" die genaue Schilderung einer Tempelzerstörung als Motiv auch in der altorientalischen Literatur war, zeigen: die Klage über Ur III (Z. 245; 258; 340); Klage über Nippur (Z. 98) und der Fluch über Akkad (Z. 125). Bis in den Staub ist das Heiligtum entweiht. Durch die Verweigerung und das Zusehen Jhwhs (V.l 1) sind den Zerstörern göttliche Kräfte gewachsen. Sie vergreifen sich an dem Heiligtum eines anderen Gottes. Die Trümmer, die sie hinterlassen, sind „ewige" (rm V.3). Es ist nicht Jhwh, der sich hier an dem Tempel C"?n pi. Ez 24,21) und Königtum ( ^ n pi. Thr 2,2; Ps 89,40) vergreift, sondern die Jhwh-feindlichen und Israel-feindlichen Mächte, die sich ihre Kraft geliehen haben. Das Feindeszitat (V.8) - ein Element aus den Klagen des einzelnen, das jedoch auch in Ex 15,9, Ps 79,10 und 83,5 belegt ist macht den Wahn der Widersacher Jhwhs (V.4) deutlich: die Vernichtung Israels (vgl. Ps 83,5) und die Zerstörung der Stätten des Gottes der Besiegten haben sie sich zum Ziel gesetzt.140 138 Der spätere Glossator von 9a|3 weist die „Zeichen" unmißverständlich der prophetischen Zunft zu. Vgl. zu hebr. ni» das akkadische Äquivalent ittu(m) II (AHw , 406: Zeichen, Zeichnung, Kennzeichen v. Personen (Göttinnen), ominöses Zeichen; verabredetes Zeichen). Zu dessen Bedeutungshintergrund s. auch SPIECKERMANN, aaO. 126, Anm. 12; LORETZ, Leberschau, 98 ff.: „In V.4 wird von den Zeichen und Symbolen der Gegner die Rede sein, dagegen in V.9 von den Zeichen, die dem Opferschauer als Grundlage für seine Aussagen dienen" (aaO. 101). Der syntaktische Gebrauch mit D'to in 4b spricht jedoch eher für „Stelen" oder „Standarten". S. auch STOLZ, THAT I, Sp. 91-95, der sich für „Feldzeichen" in V.4 und „kultische Orakel" (Kulipropheten) in V.9 ausspricht (aaO. Sp. 93). 139 *e) bezeichnet ursprünglich das Brüllen des Löwen (Ps 104,21; Ri 14,5; Jes 5,29; Jer 51,38; Am 3,4.8) und wird dann als Metapher auf Jhwh übertragen. Neben den oben genannten Stellen noch: Ho 11,10; Hi 37,4. Zum Löwen in der atl. Bildersprache, vgl. BOTTERWECK, Gott und Mensch in den alttestamentlichen Löwenbildern, FS Ziegler II, 117— 128. 140 Hinter •pirnaio wird man gegen DONNER (aaO. 44 f.) keine Synagogen vermuten dürfen. Vielmehr soll durch den Plural die Hybris des Handelns hervorgehoben werden. Daß man trotz der josianischen Reform auch um und nach 587 v. Chr. mit anderen Heiligtümern neben Jerusalem rechnen muß, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. auch SPIECKERMANN,

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Das Hauptheiligtum in Jerusalem ist zerstört (V.7.3). Doch es ist „nur" die Wohnung des Namens Jhwhs (V.7; vgl. dazu l.Kön 8 und die dtn-dtr Theologie). Jhwh selber hört damit nicht auf, der Gott Israels zu sein. Im Gegensatz zu den Göttern des mesopotamischen Bereiches ist Jhwh nicht an Tempel oder Götterbild gebunden. Psalmen und Gebete, Klage und Bitte finden selbst in dieser Situation der totalen Zerstörung noch ihren Adressaten. Jhwh hat sich abgewandt und damit die zeichenlose Zeit (V.9), die Zeit des Nicht-Wissens, anbrechen lassen. Die eigenen vertrauten Zeichen bleiben aus. 141 Die Markierungen und Zeichen des Feindes scheinen das Feld zu behaupten und den Sieg davon zu tragen. Doch Jhwh kann - davon ist die bedrückte Gemeinde überzeugt - das Blatt wieder wenden. Er wird zu den „ewigen" Trümmern seines Tempels zurückkehren. Aus diesem Wissen heraus ergeht die Bitte in V.3 „erhebe deine Schritte", ergeht der Ruf „erhebe dich!" in V.22. Das „wie lange" (vgl. n D ~ t r in V.9b und in Anknüpfung daran 10a Tia""ii?)142 und „warum" (vgl. Rückbindung an V.l) werden zu den die Gemeinde in dieser Zeit beschäftigenden Hauptfragen. Wieso kann Jhwh dem Treiben der Feinde zuschauen, ohne einzugreifen. Geht es doch um seine Ehre und seinen Namen, die mißachtet werden (V.10, vgl. V.18), geht es doch um sein Volk. So endgültig, wie die Verwerfung von Seiten Gottes erscheint (V.l), ist auch das Schmähen von seiten der Sieger (rmb V.10). Der Gott, dessen Rechte sich in dem heilsgeschichtlichen Exodus siegreich erwiesen hatte (vgl. Ex 15), überläßt dem Gegner das Feld. Psalm 74,10 ähnlich ertönt die Klage in dem älteren Text Threni 2: Abgehauen hat er in Zornesglut jegliches Horn Israels, zurückgezogen hat er seine Rechte vor dem Feind und entbrannte in Jakob wie eine Feuersglut, die um sich frißt. (V.3)

aaO. 126 Anm. 12, SCHELLING , Asafspsalmen, 223 und den aparten Erklärungsversuch von GELSTON (A Note on Psalm Lxxiv 8, VT 34 (1984), 82-87), die „ ,meeting-places of God' as precursors of the synagogue" zu deuten (aaO. 86). 141 Die rhythmische und metrische Überfüllung von V.9 ist ein Hinweis darauf, daß 9a|3 ein späterer Nachtrag ist. Der spätere Ergänzer mag sich bei seiner erklärenden Deutung und Einschränkung des Personenkreises auf die „Propheten" durch Thr 2,9 veranlaßt gesehen haben. ,.Zeichen" sind dann in diesem Kontext nur noch die visionär geschauten. Vgl. dazu auch LORETZ, Leberschau, 98 ff. („Ps 74,9 ist in seiner ursprünglichen Form auf den Opferschauer (bärü), und nicht mit dem Glossator auf den Propheten gemünzt." AaO. 100); SPIECKERMANN, a a O . 1 2 3 f., A n m 5. 142

Vgl. zu nD-i» Ps 79,5; 89,47. Zu "na~w Ps 80,5.

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

II. Teil

Innerhalb des Psalmgefüges bilden die Verse 12-17 einen erratischen Block. 143 Durch das Waw-adversativum in V.12 (DTibRi) und das nRr"Di in V.18 sind die Zäsuren deutlich markiert. Was in den Versen 12 ff. im einzelnen folgt, ist ein Rückgriff auf disparates traditionsgeschichtliches Material. Vertrauensbekenntnis (V.12a) und Hymnus stehen dicht nebeneinander. 144 Im Kontext des Psalms vermittelt dieser hymnische Teil zwischen Klage (V.l-11) und Bitte (V. 18-23). Die Bitte der Gemeinde an Jhwh wird durch Rückgriff auf Material der Tempeltheologen vorbereitet. Doch mit dieser Funktionsbeschreibung von Vermittlung und Vorbereitung ist die Rolle, die dem Hymnus von seinen Verfassern aus dem Priesterkreis zugedacht ist, noch nicht umfassend charakterisiert. Zumindest zwei weitere Funktionen werden bei genauerem Hinsehen deutlich: Erstens macht der Hymnus den Kontrast zwischen Einst und Jetzt offenkundig, jedenfalls offenkundig für Jhwh und das Volk. Gleichzeitig weckt er jedoch durch die lobende Vergegenwärtigung der Heilstaten Jhwhs neues Vertrauen und eröffnet die Bitte. Zweitens - und mit dem ersten Punkt eng verbunden - bildet der Hymnus das große „Dennoch". Er signalisiert das Festhalten der Beter am untergegangenen Tempel und seinen Traditionen. Trotz Untergang und Vernichtung bleibt das Bekenntnis zu Jhwh, der Ordnung und Beständigkeit der Schöpfung garantiert, bestehen.

143 L O R E T Z (Leberschau, 92) ist in seinem Urteil, daß die V. 13-17 inhaltlich und kolometrisch eine Einheit bilden, zuzustimmen. Er schießt jedoch weit über das Ziel hinaus, wenn er behauptet, daß V. 12-17 nicht „als ursprünglicher und notwendiger Teil der Volksklage zu erweisen" seien und V.13-17 einen sekundären Zusatz bildeten (aaO. 93). 144 In das Aufbauschema von WESTERMANN (Lob, 40) läßt sich der Hymnus freilich nicht integrieren, so daß dieses Element Westermann auch in Erklärungsnöte führt. Westermann rettet sich jedoch aus der Bedrängnis durch die Kategorie der „Erweiterung": ,£ine eigenartige Veränderung hat dieser Teil in Ps.74,13-17 erfahren, wo der zusammenfassende Satz Vers 12, der von Gottes Heilshandeln spricht, in 13-17 erweitert ist durch ein Lob Gottes des Schöpfers, das aber das Schöpferhandeln Gottes ganz analog seinem Eingreifen in die Geschichte schildert: 13: ,du hast machtvoll das Meer aufgestört...' ". (AaO. 41 f.).Von Analogie kann hier nicht die Rede sein, zumal nicht auf die „Geschichte" Bezug genommen, sondern mythologisches Material verarbeitet wird. Die „Geschichte" kommt erst in V.15 in den Blick. Vor diesem Hintergrund klärt sich auch das mangelnde Verständnis der hymnischen Partien bei KÜHLEWEIN (Geschichte, 101 f.) und seine Unterscheidung von „Geschichte" und „Schöpfung". Zur Kritik an Kühlewein vgl. auch SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 131.

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Das Vertrauensbekenntnis in V.12 bietet die der Tempeltheologie entspringende Jhwh-Königsaussage, hier erweitert um die Prädikation des „Heilsstifters" (nune)' baa); vgl. dazu auch Ps 44,5: 145 npi?' mimS' 'Dbo mrrnrm Du bist mein König, Jhwh, der du das Heil Jakobs entbietest. Das Suffix der 1. Pers. Sg. von ' ^ n ist ebenfalls wie in Ps 44,5 kollektiv zu verstehen. 146 Jhwh ist der „König" von Urzeit (mpo) an. In Urzeiten, so V.2, hat Jhwh sich sein Volk Israel erworben. Das Vertrauensbekenntnis in V.12a weist somit auf die „mythisch" verstandene Heilsgeschichte in V.2 zurück. Das die Beziehung Gottes zum Volk Israel begründende Heilsgeschehen - die Erwählung - steht auch hier im Hintergrund. Der nominale Stil erhebt dies zur Gewißheit. Trotz der Zerstörung des Tempels, trotz der Sistierung von Kult und Ritus bleibt Jhwh der König, wenn auch ohne Tempel. 147 Wie es Jhwh in der Vergangenheit bewiesen hat, so kann er auch in der Gegenwart Heilstaten vollbringen und zwar „inmitten der Erde" (pun 3"ipn)148. Der momentan ferne Gott wird sich dann als der nahe erweisen, ¡rune)1 umfaßt sowohl das im Hymnus gepriesene Wirken Jhwhs - Chaoskampf und Schöpfung - als auch das Exodusgeschehen (vgl. V.15). Hymnische Diktion und nominaler Stil prägen den Fortgang der sich anschließenden Stichen. Die nun folgenden sieben nrm-Aussagen - sogenannte

145 In Wortfeld und Gebrauch der gleichen Lexeme ^sü, ¡JE)1 und "fra stimmen Ps 44 und Ps 74 überein. „Heilsgeschichtlich"-thematisch geht es in Ps 44 jedoch um Vertreibung der Völker und Landnahme; in Ps 74 um Exodus, Chaosdrachenkampf und Erschaffung von Tag und Nacht, der Gestirne, der Grenzen und Jahreszeiten. Vgl. auch KOCH, Qädäm, 254 f. 146 Damit wird die Ansicht VOSBERQS (Studien, 28 ff.) zurückgewiesen, der die Verse 1217 und den ganzen Psalm 74 als ,Fürbitte eines Einzelnen für sein Volk" charakterisiert. ,.Dafür, daß Ps 74 die Fürbitte eines Einzelnen für sein Volk darstellt, spricht nicht nur das malki, sondern ebenso gewichtig die Bitten, in denen auf das bedrängte Volk hingewiesen wird. In den Klagen ist der Beter mit seinem Volk solidarisch (,wir'). Der 74. Psalm ist das Fürbittgebet eines Einzelnen" (aaO. 28). 147 Die Bezeichnung und Betitelung Jhwhs als " ^ o entspringt tempeltheologischer Tradition (vgl. SPIECKERMANN, aaO. 130). Völlig abwegig ist es, wenn VOSBERG (aaO. 32 f.) den Versuch unternimmt, den "f»-Titel von der „Schöpferrolle" Jhwhs her zu interpretieren. 148 Der präpositionale Ausdruck mpn begegnet in dieser Gestalt auch noch in V.2. Es scheint, daß der Verfasser des Gebets dem Handeln der Feinde innerhalb des Tempels das Handeln Jhwhs auf Erden (Ausweitung und Globalisierung) bewußt gegenüberstellt. Das Handeln der Feinde geht damit letztendlich in dem umfassenden Agieren Jhwhs auf und wird damit gleichzeitig aufgehoben. - Die von S C H E L L I N G (Asafspsalmen, 5 4 ) geäußerte Vermutung, daß mit der Wendung p u n mpn eine Anspielung auf Ägypten vorläge, entbehrt jeder Grundlage.

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

z u s a m m e n g e s e t z t e N o m i n a l s ä t z e 1 4 9 - , allein aufgebrochen durch d i e Eigentumsprädikation in 16a, stecken e i n e R e i h e v o n inhaltlichen Prädikationen ab. 1 5 0 A l t e s tempeltheologisches Material ist in dieser Kompilation j ü n g e r e m Material zur S e i t e gestellt. D a s „ C h a o s k a m p f m y t h o l o g e m " 1 5 1 ( V . 1 3 - 1 4 ) , w e l c h e s sich traditionsgeschichtlich gesehen

kanaanäisch-palästinischer

Herkunft verdankt, k o m m t in diesem Z u s a m m e n h a n g neben der E i g e n t u m s erklärung 1 5 2 (Tag und Nacht) zu stehen. 1 5 3 D i e mythischen Feinde (¡m 1 ?, DTjn und D'), deren B e s i e g u n g ( A K - F o r m e n : ~ n s ; ~Qtö; p n ) durch Jhwh in den Stichen V. 1 3 - 1 4 b e s u n g e n wird, sind die prominenten Antagonisten in dem aus Ugarit bekannten Baal-Mythos. 1 5 4 149 150

Y G I MICHEL,

Tempora § 28c.

Zu den nrm-Aussagen in Ps 74 vgl. die ebenfalls in hymnischen Partien stehenden Aussagen in: Thr 5,19 (Thronen Jhwhs); Ps 44,5 (Jhwh-malak); Ps 89,10-13.18 (Chaoskampf/Eigentumsprädikation/Schöpfungsaussage); [102,13.14 (Jhwhs Thronen); 77,15 (Wunder; Völkerherr)]. 151 Zum Begriff vgl. die Ausführungen von PODELLA, Chaoskampfmythos, 283 ff. 152 Vgl. dazu auch den jüngeren, Ps 74 nahestehenden Ps 89 (V.12: pt* "["r«]» trad i 1 ?) und die Ausführungen von METZGER, Eigentumsdeklaration, 4 1 ^ 5 . „Die Eigentumsformel konstatiert, daß Jahwe der Eigentümer der Welt und die Welt das Eigentum Jahwes ist. Damit ist gesagt, daß Jahwe über die Welt verfügt, daß sie sein Heirschafts- und Wirkungsbereich ist, es besagt aber zugleich, daß Jahwe den Bestand und die Versorgung der Welt sichert und seinem Eigentum Schutz gewährt" (ebenda, 49 f.). In diesem Zusammenhang überrascht aber die Bemerkung von METZGER (ebenda, 50), daß die Eigentumsdeklaration in Verbindung mit der Schöpfungsaussage „formgeschichtlich im Hymnus (Ps 95; 24; 100), im Klagelied (Ps 74; 89) und bei Deuterojesaja im Erhörungsorakel (Jes 43,1)" begegne, so als ob man es bei den Partien in Ps 74 und 89 nicht gerade mit hymnischen Stücken innerhalb von Volksklagen - und dies macht gerade das besondere aus - zu tun hätte. 153 Vgl. dazu auch ILLMAN, Thema, 17 ff. „Die Erschaffung der bewohnbaren Welt, des Kosmos, gehört mit dem Chaoskampf eng zusammen, kann aber doch als ein selbständiges Motiv betrachtet werden" (aaO. 18). 154 Das Ensemble von Jam (Meeresgott), Tnn (Tunannu) und „Schlange" erscheint in der Rede Anats (KTU 2.Aufl„ 1.3.111,37^12): mn. ib. yp*. 1 b'l. srt I 1 rkb. 'rpt. 1 mhät. mdd I il ym.l klt.nhr.il. rbm I 1 iätbm. tnn. iätm. 1h I mhät. btn. 'qltn I Slyt. d. Sb't. raSm. Als Ltn (Lotanu) wird die Schlange in der Botschaft Mots an Baals bezeichnet (KTU 1.5.1, 1-3). Zum Text und der Übersetzung des Baal-Mythos, vgl.: DIETRICH/LORETZ/SANMARTÍN, The Cuneiform Alphabetic Texts from Ugarit, Ras Hani and Other Places (KTU: second, enlarged édition) (ALASP, Bd. 8), Münster 1995; GORDON, C.H., Ugaritic Textbook, AnOr 38,1965; O L M O LETE, G . DEL, Mitos y leyendas de Canaan según la tradición de Ugarit, Fuentas de la ciencia bíblica 1, 1981; MOOR, J.C. DE, An Anthology of Religious Texts from Ugarit, 1987; DERS./ SPRONK, K., A Cuneiform Anthology of Religious texts from Ugarit, 1987; CAQUOT, A./ SZNYCER, M./ HERDNER, A., Textes Ougaritiques, Tome I: Mythes et légendes, 1974; S M I T H , M. S., Interpreting the Baal cycle, UF 18 (1986), 313-339 (übersichtliche Darstellung der verschiedenen Interpretationsansätze); LORETZ, O . , Ugarit und die Bibel. Kanaanäische Götter und Religion im Alten Testamnet, 1990; KAISER , 0., Die mythische Bedeutung des Meeres in Ägypten, Ugarit und Israel (BZAW 78), 2 1962; SCHMIDT, W.H.,

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Psalm 74 - „Jhwh ist mein König von alters her"

In stark adaptierter und „synkretistisch" verschmolzener Form 1 5 5 wird auf d i e s e n M y t h o s , der auch d e m älteren T e x t E x 15 s c h o n z u g r u n d e lag, z u r ü c k g e g r i f f e n . 1 5 6 G e h t e s im k a n a a n ä i s c h e n M y t h o s um

Königtum,

Gottesherrschaft und in letzter K o n s e q u e n z um den T e m p e l , s o auch in der G e g e n w a r t der V e r f a s s e r v o n Ps 74. Der T e m p e l Jhwhs ist zerstört, s e i n e Königsherrschaft ist durch die Zeichen der fremden Götter und den Sieg der Feinde scheinbar in Frage gestellt. D a s verbindende Glied z w i s c h e n V . 1 3 - 1 4 und den Versen 1 6 - 1 7 stellt das B i k o l o n in V . 1 5 dar. A l s interpretatio

israelítica

knüpft e s an d i e

m y t h o l o g i s c h e A u s s a g e in V . 1 3 f. an ( V . 1 5 a - 13a II 15b - 14b) und enthält eine A n s p i e l u n g auf den E x o d u s (Landnahme) (Dpa und tön' hif.) 1 5 7 . Jhwh, der damals d i e Feinde b e z w u n g e n hat (vgl. auch Ex 15), ist der Gott des Exodus. Tag und Nacht und Gestirne gehören ihm, letztere - s o 16b - hat er geschaffen. Ordnung und Struktur hat Jhwh dem Ablauf der Gezeiten (V.17b: S o m m e r und Winter; v g l . dazu auch G e n 8 , 2 2 ) und der T a g e s z e i t ( V . 1 6 a ) g e g e b e n . D i e Grenzen

(rrbna; v g l . n o c h D t n 3 2 , 8 [nxa hif.]; Jes 1 0 , 1 3 ) , d i e Jhwh als

U r h e b e r und Garant der S c h ö p f u n g g e g e b e n hat, b e z i e h e n sich auf den R h y t h m u s und die A b f o l g e der z y k l i s c h e n P r o z e s s e , aber auch auf den G e g e n s a t z z w i s c h e n Ordnung und Chaos. A u c h dem „Meer" (v.13) sind seine Grenzen gesetzt. D a s Chaos ist gebändigt. Königtum Gottes in Ugarit und Israel (BZAW 8 0 ) , 2 1 9 6 6 . Vgl. zu den Beziehungen von Ps 7 4 zum Baals-Mythos auch LORETZ, Leberschau, 1 0 1 ff.; D A Y , Dragón, 21ff; SCHELLING (Asafspsalmen, 5 4 ff.); PODELLA, aaO. 3 0 5 ff. 155 Ein solches Element könnte D"SI7 Di1? tat« in 14b darstellen. Vielleicht deutet sich hier die Verschmelzung von kanaanäischem Baal und dem aus der Siegelkunst belegten BaalSeth (ägyptisierend) an, der oft im Kampf gegen die Apophisschlange dargestellt wird. NORIN (Meer, 58-76) geht bei seiner Analyse und traditionsgeschichtlichen Deduktion von Liwjatan, Tannin, Rahab, Jam und Nahar zu weit, wenn er die ersten drei Wesen aus dem ägyptischen Raum und dem Apep-Mythos ableiten will, dagegen den kanaanäischen Hintergrund nur für Jam und Nahar anerkennt. Zu Liwjatan und den verschiedenen atl. Überlieferungen, in denen dieses Wesen innerhalb der atl. Texte (Ps 104, Jes 27) wiederkehrt, vgl. auch LIPIÑSKI, ThWAT IV, Sp. 521-527. 156 Weitere Entwicklungsstufen bei der Aneignung dieses Mythenstoffes in exilischnachexilischer Zeit bilden Ps 89, Jes 51 und Jes 27. 157 Zu »pa vgl. auch noch Hab 3,9 (pi.); zu tía' hif.: Jos 2,10 (Exodus); 4,23 (Jordanüberquerung); 5,1 (Jordan); Jes 42,15; 44,27; Jer 51,36. Vgl. dazu N O R I N , Meer, 111-114, SCHELLING, Asafspsalmen, 56 f. und SPIECKERMANN, aaO. 130: . f a s t unmerklich wird der Götterkampf in V. 15 durch eine Aussage fortgesetzt, die nicht in kanaanäischer Tradition vorgedacht worden ist, sondern Exodusthematik in mythischem Gewände darstellt. Nur durch sie erklärt sich die Handlungsfolge .spalten' (upn) und .austrocknen' (e)T hi.), während die Objekte völlig der mythischen Sphäre entstammen. Die Verbindung von Exodus und Götterkampf ist bereits aus dem vorexilischen Text Ex 15 bekannt. War sie in dieser Dichtung jedoch allem Anschein nach seltenes Thema gehobener Kultlyrik gewesen, gewinnt sie in Ps 74 neue theologische Valenz."

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

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Der H y m n u s V . 1 3 - 1 7 zielt somit nicht auf eine als fest vorauszusetzende A b f o l g e von Chaoskampf mit anschließender Schöpfung, sondern erweist sich als ein gewachsenes Stück. 1 5 8 D i e Absicht, die sich hinter dieser Häufung von Prädikationen verbirgt, besteht darin, den so angerufenen Gott zum Handeln für die Gegenwart zu bewegen. 1 5 9 III. Teil Der letzte große Teil des zu untersuchenden Psalms ist v o m Ton und Duktus der Bitte geprägt. Er zerfällt in die beiden unterschiedlich langen Abschnitte V . 1 8 - 2 1 , der eine spätere sekundäre Erweiterung des P s a l m s ist, 1 6 0 und V . 2 2 - 2 3 . G e m e i n s a m ist diesen beiden Teilen, daß Jhwh j e w e i l s zum „Gedenken" (-or in V . 1 8 und 22) und zum „Nicht-Vergessen" (rDörr1?« V. 19 und 2 3 ) aufgefordert wird. D a s v o n Jhwh erbetene „ G e d e n k e n "

bzw.

158 Vgl. dazu schon NOTH (Mythus, 39): „Auch sonst finden sich im A.T., besonders seit Deuterojesaja, noch mannigfache Hinweise auf die Schöpfungsgeschichte, sogar z.T. mit noch viel stärkerer Anspielung auf die eigentlich mythischen Züge, vor allem auf den Chaosdrachenkampf, immer aber in der Gedankenverbindung, daß der Gott, der einst die Welt geschaffen hat, nun Herr über sie und ihre Geschichte ist, vor allem, daß er deshalb nun als der einzige wahre Helfer in gegenwärtiger Bedrängnis in Betracht kommt." Vgl. auch SPIECKERMANN, aaO. 131 und PODELLA, Chaoskampfmythos, 318 f.: „Aus der Diskussion exemplarischer Texte zum Thema .Chaoskampf' im Alten Testament folgt, daß terminologisch explizit nur dann von einem Kampf gesprochen wird, wenn ein (erneutes) Eingreifen JHWHs gegen aktuelle Feinde/Gegner erwartet wird. Das Chaoskampfmythologem ist demnach fest situiert in Kontexten, wo kollektive Notzeiten sprachlich bewältigt werden. Das heißt hier, Not und Feinde werden im religiösen Symbolsystem dämonisiert und personalisiert, so daß man mit ihnen .umgehen' und die Notlage einer Lösung zuführen kann. Es wurde weiterhin deutlich, daß die Weltschöpfung, creatio prima, nicht als Folge oder Resultat eines Chaoskampfes verstanden werden kann. Im Kontext der JHWH-KönigsPrädikaüonen begegnen zwar personalisierte Chaosmächte, doch wird gerade nicht erzählt, wie sie den Kosmos gefährden und anschließend überwältigt werden. Sie stehen vielmehr ganz im Dienst der Entfaltung der Königstitulatur. Sie geben nicht an, wie JHWH König wurde, sondern vermitteln die Gewißheit, daß JHWH in seiner Funktion als König auch die chaotischen Mächte und Gewalten niederhält und ihnen überlegen ist" (aaO. 319). Vgl. zu

d e m K o m p l e x a u c h KLOOS, C o m b a t , 7 2 - 8 6 ; ALBERTZ, W e l t s c h ö p f u n g , 1 1 0 - 1 1 6 ,

GÖRG,

„Chaos" und „Chaosmächte" im Alten Testament, BN 70 (1993), 48-61; HERRMANN, Das Aufleben des Mythos unter den Judäem während des babylonischen Zeitalters, BN 40 (1987), 97-129. 159

WESTERMANN (Lob, 41 f.) geht fehl, wenn er die V. 13-17 nur als „Lob Gottes des Schöpfers" begreift. 160 Der singulare Gebrauch des Jhwh-Namens (rrrr in V.18) innerhalb des Psalms, der Stil und die inhaltliche Ausrichtung (vgl. besonders V.21) sprechen für die Annahme einer späteren Hinzufügung. Der Ergänzer dürfte auch schon den Sintflutprolog und -epilog im Auge haben (vgl. V.20) und durch V.17 angeregt worden sein. Vgl. zur Aussonderung von V.18 ff. auch SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, Anm. 11, S.125 f., der in diesen Versen einen Nachtrag aus den seleukidischen Religionsverfolgungen sieht.

Psalm 74 - „Jhwh ist mein König von alters her"

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„Anrechnen" steht in beiden Fällen im Zusammenhang des „Verhöhnens" und „Schmähens" des Feindes bzw. des törichten Volkes oder Toren (-[Dttf i s w taj nm *prt m a in V.18 und bnr'ün -[riEnn V.22). Das „NichtVergessen" dagegen bezieht sich zum einen auf das klagende Subjekt (V.19) im Gesamtkontext des Psalms ist es das Volk zum anderen auf die lärmenden Gottesfeinde (V.23: j i i s *7ip 1'op JlWtf). V. 18-21

Der Imperativ ~or - hier wie in V.2 im Sinne von Gedenken (vgl. im Gegensatz dazu V.22) - leitet diesen Bitteteil, der von Imperativen und Vetitiven durchsetzt ist, ein. Das nRr bezieht sich auf den hymnischen Teil (V.12-17) zurück und ist als Fazit einzuordnen, das nach einer Konsequenz verlangt. „All dessen gedenk, Jhwh!"- „und handele nun auch so", wäre zu ergänzen. Darüber hinaus wird in V.18 ein Rückbezug auf den Klageteil ( V . l - 1 1 ) deutlich, der durch die Wiederaufnahme bestimmter Leitwörter aus V.10 markiert ist (*pn aus V. 10a - in V. 18a I Diti + piu aus V.lOb - in V. 18b aufgenommen). Daß der Bitteteil V. 18-21 eine geschlossene Komposition darstellt, ist auch daran ersichtlich, daß V.18b antithetisch auf V.21b bezogen ist. Die einen - der Feind (MK) und das törichte Volk O»: DU) - machen den Namen Jhwhs verächtlich, die anderen - der Arme ('au) und Elende (jvnR) loben den Gottesnamen. Im Mittelpunkt der Bitten stehen die drei Subjekte: Jhwh (an den die Bitten ergehen), der Feind (TIK)/ das törichte Volk (BU DU)161 und, diesen gegenüber gestellt, die Armen vgl. V. 21 'OD) / Elenden (Sg. in V. 21: ]vntt vgl. auch y i in V.21) 162 . Das Verhöhnen und Schmähen Jhwhs und seines Namens (V.18; vgl. V. 10.22) soll der Gott Israels den Feinden zu passender Zeit - so wie er damals die gottfeindlichen Mächte besiegt hat - vergelten. In Aufnahme der Sprache aus der Klage des einzelnen soll mit nnK (vgl. auch V.3.10) unterstrichen werden, daß diese Feind-Gruppe dem einzelnen (vgl. im folgenden die Bezeichnungen: der Arme und Unterdrückte) nachstellt. Mit der Erwähnung des Handelns des DD dagegen wird deutlich gemacht, daß

161 Vgl. zu diesem Ausdruck auch noch: Dm 32,6 C?n3 do = Israel).21 (taa "Ii = das feindliche Volk). Zur Konnotation von „töricht, gottlos" s. auch Ps 14,1; 39,9; 53,2; Jes 32,5 f. Vgl. dazu auch NASUTI, Asaph, 70. 162 Zu )V3H in den Psalmen vgl. noch: Ps 9,19; 72,4.12; 107,41; 109,31; 35,10; 37,14; 40,18, 70,6; 49,3; 72,13; 82,4; 86,1; 109,16.22. Zu ^ vgl.: Ps 9,10; 10,18.

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III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

diese Feinde auch die Feinde Jhwhs sind, die diesem Gott gerade seine Macht, Hoheit und sein Königtum absprechen. Sie verachten seinen Namen (vgl. V.10). Die Feinde sind Gottes Feinde. Die Suffixbildungen in V.4 Cp-K) und V.23 (-pnp / "['"ra) verdeutlichen dieses. Durch die Betonung des Jhwh-Namens (V.18 und 21) greift der Verfasser dieser vier Verse ein Element des Grundbestandes auf (V.7: "[ntti~pttfn; V.10) und unterstreicht dessen Bedeutung. Mit seiner Namens- und Armutstheologie zeichnet der späte Ergänzer jedoch neue Farben in das Gesamtspektrum des Psalms. V.19 und V.21 verdanken sich der späten Sprache der „Klagen des einzelnen". 163 Leben (n'n/ÖBJ) und Lebensermöglichung stehen im Mittelpunkt des chiastisch aufgebauten V. 19. Das Leben der Taube (= wie im Alten Orient Bild für den Klagenden bzw. die Klagenden) 164 soll den Raubtieren (= Bild für die Feinde des Beters bzw. die Beter) nicht ausgeliefert werden; das Leben der „Elenden" (beachte das Suffix der 2. Pers. Sg.) soll Jhwh nicht auf ewig (nsa1? vgl. V . l . 10) vergessen. Im gleichen Ton ist auch V.21 gehalten, der zusammen mit V.19 die Bitte von V.20 umrahmt. Der Unterdrückte, Arme und Elende auf der einen Seite und das „Gotteslob" auf der anderen Seite, kommen hier in den Blick. Die theologische und inhaltliche Ferne dieses Bikolons zu dem Grundbestand des Psalms und dem Bitteteil in V.22 f. ist mit Händen zu greifen. Während für den ursprünglichen Psalm nur die Beschämung Jhwhs im Vordergrund stand, kommt mit der Bitte in V.21 (^«-Konstruktion wie in V.19) der Gedanke auf, daß der „Unterdrückte" ("sp) bei einem Untätigsein Jhwhs „beschämt" (D*7D part. nif.) werden könnte. V.20 - von V.19 und V. 21 eingerahmt - bietet eine Bitte mit Begründung ('5-Satz). Jhwh wird aufgefordert (Imperativ, vgl. V.18), auf den „Bund" ( r v o ) zu blicken (ona Imper. hif.)165, da die Winkel (^ttinn pl.) 166 und Stätten

163 Vgl. dazu auch W E S T E R M A N N (Lob, 45): „Die Formulierung des Lobgelübdes weist bei einigen Psalmen (115,6-8; 74,21b) eine deutliche Nähe zur KE auf." 164 Vgl. als exemplarischen Beleg dafür die von M A U L (Gebete, 20) zitierten Verse eines ErSahunga-Gebetes ( I V R 2 2 9 " n 5 , Rs. 8-10): „Wie lange noch, meine Herrin, bleibt dein Gesicht abgewandt? Wie eine Taube jammere ich, in Mühsal harre ich aus!" 165 Zu 033 hif. mit vgl. auch noch: Ps 104,32 (Jhwh); Hi 28,24 (Jhwh), ohne Ps 102,20 (Jhwh). Ohne Präposition ist der Imper. hif. neben den wichtigen Stellen Thr 5,1 (Jhwh); Ps 80,15 (Jhwh); Jes 63,15 (Jhwh); 64,8 (Jhwh) noch in Ps 13,4; 84,10; 142,5; Gen 15,5; l.Kön 18,43; Hi 35,5; Thr 3,63 belegt. 166 Daß es sich bei den p n - o ä r i D („Schlupfwinkel des Landes") nicht um liebliche Verweilorte und um die „Ecke von nebenan" handelt, sondern diese schon eher in den Bereich der Todessphäre und der Gottverlassenheit gehören, macht der sonstige Gebrauch von fcfno deutlich: im Sinne von „Finsternis" in Jes 29,15; 42,16; Ps 88,19; „dunkler Ort". Thr 3,6; als Bezeichnung des Todesreiches: Ps 88,7; 143,3.

Psalm 74 - „Jhwh ist mein König von alters her"

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(mw)167 der Erde voller Gewalttat seien.168 oon („Gewalttat") bezeichnet hier, wie auch schon in der durch die prophetische Kritik vorgegebenen Tradition169, einen im wahrsten Sinne gottlosen, heillosen und rechtlosen Zustand, das Gegenteil von Recht und Gerechtigkeit. Dem Zustand vor der Sintflut ähnlich 170 empfindet der Verfasser dieses Nachtrages die Situation im Land. Chaos und Gewalt beherrschen den Alltag. In diesem Zusammenhang wird auch die Bitte in V.20a, Jhwh möge doch auf den „Bund" schauen (eo3 hif. Imper.), verständlich. Mit r v n ist das Grunddatum der Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott angesprochen. Spätestens seit dem Exodusgeschehen und der Begegnung Israels mit seinem Gott am Sinai - so die Sichtweise der beiden Hauptströmungen, der deuteronomischen und priesterschriftlichen, innerhalb der alttestamentlichen Traditionen - besteht das bindende Gemeinschaftsverhältnis zwischen Israel und seinem Gott, auf das beide verwiesen sind. „Das Bundesmotiv wird nicht in seinen Einzelheiten entwickelt. Es hat aber dieselbe Funktion wie die Erwählung in V 2: in dieser schwierigen Situation, in der der Tempel in Trümmern liegt und der Feind das Volk und seinen Gott verhöhnt, sind Erwählung und Bund das einzige, worauf man sich berufen kann." 171 Man wird jedoch nicht so weit gehen dürfen und behaupten können, daß der rm-Begriff an dieser Stelle deuteronomisch gefüllt sei.172 Dafür wird die Rolle des Volkes und die eventuelle Schuld desselben, die Anlaß für das Verstoßen von seiten Jhwhs sein könnte, in diesem Psalm nicht thematisiert. Wie der deuteronomische Bundesgedanke in der Exilszeit weiter ausgeführt und aufgenommen worden ist, vermögen dagegen die entsprechenden Stellen der 167

Zu den „Stätten" bzw. „Auen" (mw) vgl. auch Thr 2,2 (Stätten Jakobs), Ps 79,7 (ma Stätte Jakobs) und 83,13 (Stätten Jhwhs). Der Begriff wird in Verbindung mit Jhwh oder Jakob (= Israel) als Genitivobjekt verwendet und umreißt damit sowohl das „heilige Land" und seine Ortschaften als auch für Jhwh ausgegrenzte Orte. Beides hängt insofern zusammen, als Jhwh ja der Eigentümer des Landes ist und - um in dem in den KV oft benutzten Bild zu bleiben - als Hirt bzw. Besitzer der Aue Israel weidet. Vgl. dazu auch RJNGGREN, ThWAT V, Sp. 2 9 3 - 2 9 7 , bes. 295 f. 168 oon+K^D findet sich noch in: Gen 6,11.13; Ez 7,23; 8,17; 28,16; Mi 6,12; Zeph 1,9. 169 Vgl. dazu Am 3,10; Mi 6,12; Jes 59,6; 60,18; Jer 22,3; 51,35; Ez 7,23; 8,17; 28,26; 45,9. Vgl. dazu auch STOEBE, THAT I, Sp. 583-587; HAAG, ThWAT II, Sp. 1050-1061. 170 Vgl. dazu die Charakterisierung des Zustandes der Erde vor der Sintflut im priesterschriftlichen Prolog Gen 6,11: oon p « n B'n^Kn 'ja1? p * n n n ö n i . Zur Konstruktion von oon mit a^o vgl. auch: Gen 6,13; Ez 7,23; 8,17; 28,16; Mi 6,12; Zeph 1,9. 171

172

ILLMAN, T h e m a , 2 1 .

So z.B. KRAUS, Psalmen, 682: „Um Jahwe zum Eingreifen herbeizubitten, wird unter Bezug auf deuteronomische Theologie - an den Bund ... appelliert."

100

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Deuteronomisten zu zeigen. D a s deuteronomisch-deuteronomistische D e n k e n ist dem Grundbestand des Psalms, der von der T e m p e l t h e o l o g i e (vgl. H y m n u s V . 1 2 f f . ) b e s t i m m t ist, f r e m d . 1 7 3 A u c h für die E r w e i t e r u n g s s c h i c h t

des

P s a l m s und den Verfasser der Verse V . 1 8 ff., dem das priesterliche D e n k e n näher zu liegen scheint, trifft dieses Urteil zu. 1 7 4 U n g e w ö h n l i c h und singulär im Alten Testament ist die Formulierung nna 1 ? c o n . 1 7 5 S i e setzt voraus, daß dieser w i e ein Z e i c h e n (vgl. dazu die Priesterschrift) oder e i n e U r k u n d e in dinglicher Form vorliegt. G e l ä u f i g e r ist die Bitte oder A u s s a g e , daß Jhwh seines B u n d e s gedenkt (~o?) oder gedenken m ö g e .

Verse

22-23

M i t der anklagenden Bitte der Verse 2 2 und 23, die von A n f a n g an zu d e m Grundbestand des G e b e t s gehört und sich ursprünglich unmittelbar an den H y m n u s a n g e s c h l o s s e n haben, klingt der Psalm ohne L o b g e l ü b d e mit e i n e m V e r w e i s auf die Feinde sekundären Versen

in V . 2 2 ; D'op I D'VB in V . 2 3 ) aus. W i e in den

18 f f . ist der T o n v o n I m p e r a t i v e n

(V.22: nnip I

-or I n a n ) und Jussiv ( V . 2 3 : nsttfrr1?«) getragen. Inhaltlich stellt sich dieser Teil als eine Wiederaufnahme der Verse 3 - 1 0 , genauer V . 3 und V . 4 dar. D e r Imperativ n o n n aus V . 3 wird mit dem nmp in V . 2 2 , URttf

in V . 4 v o m

173 S P I E C K E R M A N N (Heilsgegenwart, 133): „Ps 74 wagt zwar Hoffnung, aber eine Erklärung für die Katastrophe gibt er nicht, kann sie wohl noch nicht geben, weil er letztlich ganz in den gedanklichen Bahnen der Tempeltheologie bleibt. Der aber war der Gedanke der Schuld (fast) fremd." 174 Ob der Verfasser in V.20 an den Bundesschluß nach der Sintflut (Gen 9,8-17) denkt, muß als eine Möglichkeit, aber nicht als die einzige, betrachtet werden. Das tertium comparationis wäre dann in dem Element des „Chaos" zu sehen. In der Sintflutgeschichte bricht dasselbe in der Form von Wasser in die Welt ein. Die rinn in Gen 9, verbunden mit dem an Noah ergehenden Segen, wäre die Zusage Jhwhs, dem Chaos hinfort zu wehren. An dieses Versprechen will der Verfasser von V.20 Jhwh erinnern. Daß diese Überlegungen einer gewissen Plausibilität nicht entbehren, vermag zumindest die Jes-Apokalypse zu zeigen, in welcher neben der Erwähnung des Chaoskampfmotivs auf die Sintflutgeschichte angespielt wird. Vgl. auch die Überlegungen von T Ä T E (Psalms, 252 f.): „The reference to the covenant in v 20 is an unusual expression ... It assumes that God is being charged with ignoring the obligations of his covenant. The reference is most probably to Yahweh's covenant with Israel (Exod 19:4-6; 24,8) rather than to the Davidic covenant (Pss 89:3,39; 143:11-12) or to the covenants with Noah (Gen 9:8-17) or to that with Abraham (Gen 17:2-14). Cf. Ps 78:10, Isa 64:8. The idea of .covenant' is that God has taken on himself commitments to his people which he should not forget (...)." Zu rinn in den KV vgl. noch: Ps 44,18; 83,6 (profan gebraucht); 89,4.29.35.40. Im Gegensatz zu Ps 89 nimmt Ps 74 nicht auf den Davidsbund Bezug. „König" ist im Kontext von Ps 74 nur Jhwh. Das irdische Königtum ist obsolet. Die deuteronomische Füllung des Bundesbegriffs steht im Hintergrund von Ps 44, mit der sich die Verfasser von Psalm 44 gerade auseinandersetzen.

175

So auch von

SCHELLING

(Asafspsalmen, 99) beobachtet.

Psalm 74 - „Jhwh ist mein König von alters her"

101

jiRiö (Vnt*tö)176 in V.23 wieder aufgenommen. 177 Jhwh wird in Anlehnung an die Sprache der Klage des einzelnen 178 dazu aufgefordert, wie damals gegen die Chaos-Feindmächte, die sein Königtum bedrohten und in Frage stellten, jetzt gegen die „geschichtlichen", aktuellen Feinde, die nicht nur das Volk, sondern wiederum Jhwh selbst und seinen Tempel angegriffen haben, aufzustehen und sich als Held, der die Oberhand behält, in seiner Epiphanie zu erweisen: 179 nicht Theomachie und Chaoskampf wie im Hymnus, sondern Kampf gegen den geschichtlichen Feind, der jedoch durchaus in mythisch-mythologischem Gewände in Ps 74 daherkommt. In der Nominalbildung der letzten beiden Verse fällt der starke Gebrauch der Suffixe der 2. Pers. Sg. (= Jhwh) auf. Die Beter verdeutlichen und hämmern Jhwh ein, daß es sein „Kampf' ist, den er zu führen hat, daß es schließlich seine Schmach ist und die Beschämung von Seiten des Toren (bna Sg.: Sprache der KE) sich gegen ihn richtet (vgl. schon V.10). Täglich triumphieren die Feinde Jhwhs (~['Dp und " p n x in V.23), doch dürfen sie nicht ewig ( n ^ b ) schmähen (Bezug zu V.10). „Das ... "Dr .gedenke' klingt (im Unterschied zu V.2) wie in Ps 137,7; es ist Ruf nach Rache um Jahwes eigener Ehre willen (,deine Schmach', 74,22). Triumph und Omnipräsenz des Feindes sind zur religiösen Bedrohung geworden: für Jahwe! Denn es ist das Geschrei der Widersacher, das ,ständig aufsteigt' (V.23), also zum Ersatz für das Gotteslob des Gebetes und des Opfers geworden ist."180

176 Jim» steht auch sonst im Alten Testament (Hos 10,14; Am 2,2; Jes 13,4; 25,5; 66,6; Jer 25,31; 46,17) für das Getöse und den Lärm von Feindvölkern und Kriegsheeren, kann aber auch, gerade im Vergleich mit dem Brausen von Wasser, das Chaotische bezeichnen (Jes 17.12 f; Jer 51,55; Ps 65,8), womit ein innerer Bezug zu der Aussage des Hymnus an dieser Stelle wieder vorläge. 177 Vgl. auch die Wiederaufnahme von "p-nü aus V.4 durch j r a in V.23. 178 S P I E C K E R M A N N (Heilsgegenwart, 132): „Sprache und Gedankenwelt sind ganz der tempeltheologischen Sphäre zugehörig, genauer: der Klage des einzelnen entlehnt, was noch einmal an Ps 43 gut illustriert werden kann, wenn nicht dieser Text ohnehin dem Dichter bei der Formulierung mancher Passagen vor Augen gestanden hat. Er hat jedoch neue provozierende Akzente gesetzt. Aus der Bitte des Beters um Gottes Hilfe (.führe meine Sache!' 43,1) ist ein eigentümliches Gemisch aus Bitte und Anklage geworden, Jahwe möge endlich seine eigenen Angelegenheiten beherzt in die Hand nehmen (.führe deine Sache!' 74,22)." 179 Zu noip (Imper. qal) vgl. auch neben Ps 44,27: Ps 3,8 (KE); 7,7 (KE); 9,20; 10,12; 17.13 (KE); 35,2; 82,8; 132,8; Num 10,35 (Ladespruch). (Zur Belegrate und sonstigen Konnotationen von mp vgl. A M S L E R , THAT II, Sp. 635-641; G A M B E R O N I , ThWAT VI, Sp. 1252-1274). Zu nnn (Imper. qal) vgl. auch Ps 35,1 (KE); 43,1 (KE), 119,154; Mi 6,1 (Ankündigung des Gerichts gegen Israel); 1 Sam 25,39; Thr 3,38. Als Antwort und Verheißung auf die exilischen Bitten: Jer 50,34 (Jhwh gegen Babel); 51,36 (Jhwh gegen Babel). 180

SPIECKERMANN, a a O .

132.

102

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

Das „tägliche Brandopfer" (TDTin rfril?)181 bringen die Feinde des Volkes und Jhwhs durch ihren Jubel dar (vgl. V.4: die Standarten der Feinde als Zeichen der Inbesitznahme). Tempel und Altar sind entweiht, der Opferdienst ist pervertiert. Das „Vergiß nicht!" (rotörrbR) der Gemeinde hält Jhwh dieses in Erinnerung und erhofft ein Eingreifen des Gottes Israels in baldiger Zukunft. In gleicher Weise wie Ps 44 (V.24-27) schließt dieses Volksklagelied mit anklagender Bitte und wirft seine Hoffnung auf den Chaoskämpfer und Schöpfergott.

2.2. Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes 2

\ mit unseren Ohren haben wir gehört, unsere Väter haben uns erzählt, ein Werk hast du getan in ihren Zeiten, in den Tagen b der Vorzeit. [Du bist es, deine Hand]c die Heidenvölker hast du vernichtet, sie aber hast du gepflanzt, du hast Völker zerschlagen0, sie aber hast du ausgebreitet*. Denn nicht mit ihrem Schwert haben sie das Land eingenommen, auch hat ihnen ihr Arm nicht geholfen, sondern deine Rechte und dein Arm und das Licht deines Antlitzes, denn du hattest Wohlgefallen an ihnen. Du bist mein König, Jhwh, der du das Heil Jakobs entbietest/ Mit dir stoßen wir unsere Feinde nieder, in deinem Namen treten wir die zu Boden, die sich gegen uns erheben. Denn nicht auf meinen Bogen vertraue ich, noch bietet mein Schwert mir Hilfe, sondern du rettest uns vor unseren Feinden und läßt diejenigen, die uns hassen, zuschanden werden. preisen wir zu aller Zeit und deinen Namen wollen wir loben in Ewigkeit.8 Doch du hast verstoßen und beschämst uns und ziehst nicht mit unseren Heeren aus.h Du läßt uns vor dem Feinde weichen, und die, die uns hassen, machen Beute.' Du gibst uns wie Schlachtschafe hin und hast uns unter die Völker zerstreut.

3

4

5 6 7 8 9 10 11 12

181

So die Bezeichnung für das täglich zweimal erbrachte Brandopfer in: Ex 29,42; Num 28,6.10.15.31; 39,16 u.a.

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

103

Du verkaufst dein Volk für nichts und wirst durch ihren Verkaufserlös nicht reich. Du machst uns zur Schmach bei unseren Nachbarn, zu Spott und Hohn bei denjenigen, die um uns herum sind.J Du machst uns zum Spottlied unter den Heiden, zum Kopfschütteln bei den Völkern. k Allzeit steht meine Schmach vor mir, und die Scham meines Gesichtes bedeckt mich wegen der Stimme des Verhöhners und Lästerers, wegen des Gesichts des Feindes und des Rachgierigen. All dies hat uns getroffen, doch wir haben dich nicht vergessen und deinen Bund nicht gebrochen! Unser Herz ist nicht gewichen, und unsere Schritte sind nicht von deinem Weg abgewichen, nein, vielmehr hast du uns am Ort der Schakale zerschlagen und uns mit Finsternis bedeckt.1 Wenn wir den Namen unseres Gottes vergessen hätten und unsere Hände zu einem fremden Gott ausgestreckt hätten, hätte dieses nicht durchschaut, da er es doch ist, der die Geheimnisse des Herzens kennt. Ja, deinetwegen werden wir täglich getötet, werden wir wie Schlachtvieh geachtet. Wache auf, warum schläfst du, Herr, wache auf, verstoße nicht auf ewig! Warum verbirgst du dein Antlitz, vergissest unser Elend und unsere Bedrückung? Denn zum Staub zerfließt unser „Leben", klebt an der Erde unser „Leib". Erhebe dich, uns zur Hilfe und erlöse uns um deiner „Gnade" willen.

Zur Übersetzung: a: Ps 44 befindet sich in der Reihe des elohistischen Psalters, d.h. daß anstatt des Q'rf» in V.2 mrr zu lesen ist; vgl. auch V.9 und V.22. b: Einige Mss weisen ein 'D's („wie in denTagen") auf, doch in Anbetracht des Parallelismus zu Drr,D,a ist der Konsonantenbestand von ni so als explizierende Apposition zu belassen. c: Der Anfang von V.3a ist gestört. Das "|T nr* macht einen „sekundären" Eindruck und will nicht recht zu V.2 oder Anfang von V.3 passen. Die Einfügung greift der Aussage von V.4 (-[Sinn -p'ü'-o) vor. C und 5 haben das nnK weggelassen und f r als Subjekt zu V.3 aufgefaßt (= „deine Hand hat Völker vertrieben"). Baethgen (Psalmen, 126) liest f ntt» und zieht es zu V.2 („in der Vorzeit Tagen .deineWunder'"), Gunkel (Psalmen, 187) schlägt ein rrntoi) („die deine Hand vollbracht") vor.

104

111. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

d: inn hif. Nävi I, „übeltun") ist mit 1 (vgl. dazu auch Wellhausen) in ihn (vgl. Ps 2,9) zu ändern. Aramaismus für f r i . Gunkel (Lagarde) schlägt J n » („du hautest ab") vor. e: Zu dem Hintergrund des Bildes vgl. auch Ps 80,12. Gunkel (aaO. 187) ändert ohne Grund in o'^niöni (= „du pflanztest sie"), f: Der Imperativ ms in 5b ist mit ® a ' S inTODZU ändern. Zu der «vrnrw-Konstruktion vgl. auch Ps 74,13 ff. und vgl. GK §141h; Michel, Tempora §28c u. §8,24. g: ^ r r II pi. + 2, sonst stets mit dem Akk. verbunden. Vgl. zu frrij in einem „echten" Lobgelübde Ps 79,13. h: In den folgenden Versen (V.10-15) finden sich PK-Formen. Auch wenn die Katastrophe zurückliegt (vgl. AK-Form: nrat), wirkt sie sich bis in die „Gegenwart" der betenden Gemeinde aus. - Vgl. dazu Ps 60,12. i: Bei Tb liegt ein dat. eth. vor. Mss Hier © C lesen Kh. j: Vgl. dazu Ps 79,4. k: Das D'oic'» ist mit dem Apparat der BHS in •'OKta zu ändern. 1: Recht abenteuerlich nehmen sich die Änderungsvorschläge von Gunkel (aaO. 188; Übersetzung, 184: „daß du uns wie ,den Drachen' mißhandelt [hast]") aus, der statt crin ein p n (= „Drache") liest und für ffpnn die Bedeutung „gleichwie", „anstatt" annimmt. Skizze:

j'rstoo r n p - ' n 1 ? rmn 1 ? i

•rfr-nso irrrnK iiuntí unno 2 V.2 Invocatio -|T nrw 3 :mp 'ira o r n o rbus bvs torftiöm a m / h a m nwarn rehin d ' u

IN1? nirtövrK1? ornn pt< HOT na-ina «b '3 A :orm "pss nui nw-iri irir-o apa' munti' ^ n lorrnnn 5 V.5 Doxologie n r o p 0133 imö3 rmi i r i s -[3 6

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105

24 v.24-27 Bitte 25 26 27

Analyse: Daß Psalm 44 zu der hier zu untersuchenden Psalmengruppe der Klagelieder des Volkes gehört, ist in der Forschung opinio communis. 182 Er entstammt der Zeit nach dem Fall Jerusalems (587 v.Chr.) und läßt noch deutlich das theologische Ringen der israelitischen Gemeinde um ihr Verhältnis zu Jhwh, dem Gott der Väter und des Volkes Israel, der ja im Jerusalemer Tempel präsent war, erkennen. 183 Die Korrelation zwischen Form und Inhalt sind hier 182 Die Kennzeichnung von Ps 44 als „Klagelied des Volkes" ist in der Forschung - im Gegensatz zu der Datierung desselben - unumstritten. Vgl. GUNKEL, Psalmen, 184; KRAUS, Psalmen, 480; LIPINSKI, Liturgie, 43 (V.10-15.18-27); RAVASI, Salmi I, 778.780; CRAIGIE, Psalms, 3 3 1 ; V E I J O L A , Verheissung, 121; FISCHER, W O ist Jahwe?, 222; GERSTENBERGER, Psalms, 185; G R O S S , Geschichtserfahrung, 210; BAUDOZ, J . - F R . , «Elohim, de nos oreilles nous l'avons entendu...», NRT 113 (1991), 25.33. Einen Sonderweg in dieser Frage beschreitet B E Y E R U N (Innerbiblische Aktualisierungsversuche: Schichten im 44. Psalm, ZThK 73 (1976), 446-460; 453.457), wenn er zwischen einem „davidischen Königsgebet" (44,2-9) und dem eigentlichen Volksklagelied (44,10-27) unterscheidet und zwei Schichten annimmt. Im Anschluß an Beyerlin jetzt auch ZENGER (HOSSFELD, F.-L./ ZENGER, E., Psalmen, 271278; 271 f. u. Rache, 114 ff.), der zwischen 44,2-9 als vorexilischem Bittpsalm (Zeit Josias) und 44,10-27 als exilischem Volksklagepsalm unterscheidet. Zur Kritik an dieser Position vgl. auch VEIJOLA, aaO. 121 Anm.21. 183 Ein Blick in die Psalmenkommentare der Vergangenheit und Gegenwart offenbart ein Pleroma an Datierungsvorschlägen. Beispielhaft dafür ist das Urteil von CRAIGIE (Psalms, 332 f.): „The information contained within the psalm is not sufficiently precise to allow it to be linked to any particular occasion or military defeat, though there have been numerous attempts to do so. The psalm has been linked to disasters in the Maccabean period, the Persian period, and to various periods within the history of the Hebrew monarchy. The recent attempt by Parker (JQR 68 [1978] 152-68) to link the psalm to the crushing of the Phoenician Revolt of 345-44 B.C. by Antiochus III Ochus, unconsciously demonstrates the impossibility of finding hard evidence to date the psalm. On the other hand, it is likely that in the psalm's history in Hebrew life and worship, it was used in a variety of situations from the time of the monarchy, through the Maccabean period, and beyond (see further W. Beyerlin, art. cit.). All that can be reasonably proposed is that the psalm's origins are to be found at some point in the history of the (preexilic) monarchy, when the king continued to function as the commander of Israel's armies." Die Datierungsfrage offen lassen GUNKEL (Psalmen, 187; jedoch mit deutlicher Kritik an der makkabäischen Einordnung), KRAUS (Psalmen, 481) und GERSTENBERGER (Psalms, 185), wobei gerade letzterem andere Fragestellungen wichtiger erscheinen: „It is much more important to understand the sociological and ecclesiastical setting." - Datierungen: Davidszeit: DELITZSCH (Psalmen, 327) I Exilszeit: JANSSEN (Juda,19);

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111. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

n o c h i m F l u s s e . D e u t l i c h erkennbar ist, d a ß d i e K l a g e d e s V o l k e s a u s der K l a g e d e s e i n z e l n e n h e r a u s g e w a c h s e n ist. U n t e r Z u h i l f e n a h m e e h e m a l i g e r t e m p e l t h e o l o g i s c h e r G e b e t s f o r m e n wird d i e erlittene N o t , d i e A b w e s e n h e i t Gottes, im Text wiedergegeben. P s a l m 4 4 - in t e m p e l l o s e r Z e i t e n t s t a n d e n - ist n i c h t e i n u n ü b e r l e g t e s Schreien zu Jhwh, sondern ein Klagegebet, w e l c h e s , z w i s c h e n

lobendem

B e k e n n t n i s und Bitte, Gott das L e i d e n des V o l k e s anklagend vorhält. D i e G l i e d e r u n g d e s P s a l m s ist d e u t l i c h v o r g e g e b e n . S o m i t l i e g t f o l g e n d e A u f t e i l u n g d e s T e x t e s nahe: 1 8 4 A ) : V . 2 - 9 I B ) : V. 1 0 - 2 3 1 C ) : V . 2 4 - 2 7 .

(Verheissung, 79); PERLITT (Anklage, 24 f.) I Perserzeit: SCHMIDT (Psalmen, 84) I Makkabäerzeit: schon die Antiochener; Nicolaus von Lyra; Calvin,; D U H M (Psalmen, 186); BAETHGEN (Psalmen, 126: zur Zeit von Antiochus Epiphanes t 168) - Vgl. dazu auch die Übersicht über die diversen Datierungen bei RAVASI, Salmi I , 779 f. - Ein Vergleich von Ps 44 mit den „Volksklageliedern" Ps 60 und Ps 79 zeigt, daß die letzteren unseren Psalm schon voraussetzen und einzelne Formulierungen aufgreifen („Schmach", „Hohn und Spott": Ps 44,14/79,4; die Klage darüber, daß Jhwh nicht mit den Heeren ausgezogen sei: 44,10/60,12; (44,27/60,13a; 44,6/60,14b)). Darüber hinaus ist die Nähe von Ps 44 zu anderen exilischen Texten unverkennbar (das „Vergessen" (roe)) auf Seiten Jhwhs: Thr 5,20/Ps 44,25; der Ausdruck -lirm aw) Thr 2,3/44,11; das Morden Jhwhs ( n n ) : Thr 2,4.20.21/44,23; das Kopfschütteln der Feinde: Thr 2,15/44,15; das Schlachten (nno): Thr 2,21/44,23; das „definitive" Verstoßen von Seiten Jhwhs: Ps 74,1/44,24; die Gott-König-Aussagen: Ps 74,12/44,3.5). Schon die Grundschicht von DÜes kennt Ps 44 (Ps 44,13/Jes 50,1;52,3). Weiter kann angeführt werden, daß Ps 44 die „Vätergeneration" noch im positiven Lichte sieht und der Gedanke der Sünde des Volkes als Ursache für die Notlage nicht in den Blick kommt. VEIJOLA

Psalm 44 muß insofern vor solchen Psalmentexten entstanden sein, die den Erfolg des Durchsetzens der dtr. Sichtweise (Freispruch Gottes durch den Aufweis der Schuld des Volkes) anzeigen (so: Ps 78; 105; 106; 81; vgl. dazu auch: 44,2/78,3; Ps 44,24/78,65). Im Gegensatz zu Ps 44 wird hier schon der große Abriß der Heilsgeschichte bzw. Unheilsgeschichte dargeboten (Ps 78; 105; 106). 184 Zur vorgeschlagenen Gliederung vgl. auch die Gliederung von RAVASI, Salmi I , 782: V.2-9 (V.2-4IV.5-9)/ V.10-23 (V.10-17IV.18-23)/V.24-27; ZENGER (Psalmen, 271): „2-9 heilsgeschichtlicher Rückblick (Vergangenheit); 10-23 Schilderung der Katastrophe (Gegenwart); 24-27 Bitte um Beendigung der Katastrophe durch ein Eingreifen JHWHs (Zu kunft)"; CRAIGIE (Psalms, 332): „God's past acts as basis for current confidence (44:29)"/„The Lament (44:10-23)"/„Concluding prayer (44:24-27)". Abweichend davon: OLSHAUSEN (Psalmen,194): V.2-9/V.10-17/V.18-23/V.24-27; GUNKEL (Psalmen, 184 ff.): V . 2 - 4 / V . 5 - 9 / / V . 1 0 - 1 7 / V . 1 8 - 2 3 / V . 2 4 - 2 7 ; GERSTENBERGER (Psalms, 182 f.): V . 2 - 9 : „Hymnic remembrance"/V.10-17: „Complaint'VV.18-23: „Protestation of innocence"/V.2427: „Petition"; CROW, The Rhetoric of Psalm 44, ZAW 104 (1992), 394: V . 2 - 4 / V . 5 9/V.10-17/V.18-23/V.24-27 und die Zusammenstellung bei VAN DER L U G T (Structuren, 259 f.), der wie folgt gliedert (aaO. 256 f.): A: V.2: „inleiding op stanza I"/1: V.3-9: „de uitredding van de vaderen, tweemaal beloten met een lofprijzing (v.5 en 9)"/ II.: V. 10-17: „de huidige nood van het volk"/ III.: 18-25: „de trouw aan God ondanks de nood (v.18-21) waar blijft nu de verlossing? (v.22-25)"/ B.26-27: „samenvatting: de nood van het volk (v.26) en gebed om uitredding (v.27)."

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

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Eine erste B e s t a n d s a u f n a h m e zeigt, daß der Teil A von Vertrauens- und „ B e k e n n t n i s a u s s a g e n " geprägt ist, T e i l B die Entfaltung der K l a g e b z w . Anklage Gottes beinhaltet und Abschnitt C die abschließende Bitte enthält. I. V.2-9:

Das Bekenntnis

zum Gott der

Väter

Der das Gebet einleitende Eingangsteil ( V . 2 - 9 ) ist gerahmt von der „invocatio" Jhwhs in V . 2 und dem abschließenden, uneigentlichen „Lobgelübde" in V . 9 . 1 8 5 Innerhalb dieser neun Verse, e s sind durchweg Bikola, die für sich g e n o m m e n fast s c h o n w i e e i n a b g e s c h l o s s e n e r Psalm wirken, wird in d e m T o n e i n e s Vertrauenspsalms das Bekenntnis 1 8 6 zum rettenden Gott entfaltet. 1 8 7 Der Blick auf die Textstruktur verrät, daß den A u s s a g e n von V . 2 - 9 e i n e s o r g f ä l t i g e Komposition zugrunde liegt, die die inhaltliche Ausrichtung des Textes auch in formaler Hinsicht zu unterstreichen vermag.

185 Dazu die Beobachtung von WESTERMANN (Lob, 44): „In der KE folgt auf die Bitte das Lobgelübde, das dann oft übergeht in Gotteslob; hier wird also oft innerhalb eines Psalms die Klage in Lob gewandelt. Daß eine KV in deutlichem Gotteslob endet, begegnet bei den kanonischen Psalmen niemals, wohl aber später. Auch das Lobgelübde begegnet in den KV selten. Das Gelübde im eigentlichen Sinn ist doch wohl ursprünglich Sache des Einzelnen, und daher hat das Lobgelübde seinen Ort in Rehen und Loben des Einzelnen. So begegnet denn auch in den babylonischen Psalmen niemals ein pluralisches Lobgelübde. Um so mehr ist zu beachten, daß es in den Psalmen der Bibel doch einige Male begegnet: In 79,13 steht es in engster Verbindung mit dem Bekenntnis der Zuversicht, 44,9 am Ende der Erweiterung des Motivs 2 - 4 zu einem LV 5-9." Man wird aber in Ps 44,9 beachten müssen, daß dieses „Lobgelübde" gegen Westermann nicht einen Psalm abschließt, sondern in einem atypischen Sinne als Markierung des Kontrastes Einst (V.2-9) - Jetzt (V.10-23) bewußt von dem Verfasser des Psalms als stilistisches Mittel eingesetzt ist. Es heischt Aufmerksamkeit und reißt den Graben zwischen dem Handeln der Gemeinde und dem Jhwhs weit auf. 186 YGJ a u c h MOWINCKEL, Worship, 196. 187 So auch schon WESTERMANN (Lob, 44): In „44 sind die Verse 5-9, für sich gehört, ein vollständiger LV." Gerade dieser Eindruck der Abgeschlossenheit und Einheit, den die Verse 2-9 ausstrahlen, verführt BEYERLIN (aaO. 449) und ZENGER (aaO. 271 f. u. Rache, 114) dazu, den Abschnitt V.2-9 vom übrigen Psalm zu trennen. Auch die 5 von Zenger für seine Position zusammengetragenen Argumente vermögen nicht zu greifen; so z.B. das zweite Argument: „Das in 5 - 8 ausgedrückte Gottvertrauen, insbesondere das Vertrauen in den >Namen< Gottes, wird in 10-27 nicht fortgeführt." Allein der Blick auf 44,21 beweist, daß auch für den folgenden Psalmteil das „Vertrauen" in den Namen Gottes von elementarer Bedeutung ist. Die Abtrennung der V.2-9 vom übrigen Psalm beraubt den Text seiner Spitze. Man vergleiche nur V.4 und V.25. Das „Antlitz" Jhwhs, welches bei der Vertreibung der Völker so hilfreich war, ist nun verborgen. Näher an die Intention des Psalms kommt CRAIGIE (Psalms, 333): „If Ps 44 ended with v 9, it would be a marvelous victory hymn, but because it continúes directly to lament, the puzzled and perplexed tone of the opening verses becomes clear. The opening verses set the stage for the striking contrast which now follows."

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Der Psalm beginnt mit der Anrufung Jhwhs in V.2a. Das Gebet zu Jhwh wird im folgenden durch die Gemeinde mit der Aussage eröffnet, daß sie mit eigenen Ohren von den Vätern von dem Werk Jhwhs, das er in deren Tagen vollbracht hätte, gehört habe (i^-hbo lrtYQK THJnto irimn). Die 1. Pers. PI. hält sich in den Endungen durch. Erst in V.13 wird das redende Subjekt deutlich. Stilistisch gekonnt wird das Gebet eingeleitet. Dazu gehören die Alliteration in den Endsilben (13-), die logische Verschränkung der Glieder (das Hören vor dem Erzählen) und die verwendete Paranomasie (rfeiffl ^ds). „Wir haben gehört - unsere Väter haben erzählt." Die Gemeinde, die hier betet, definiert ihren eigenen Standpunkt im Abstand zu den Vätern, denkt geschichtlich und versteht sich als Empfänger von mündlicher Tradition.188 Es geht um Tradition: traditio und traditum. Diejenigen, die hier beten, sind keine Augenzeugen der Taten Jhwhs, sondern leben aus der Tradition der Väter.189 Die Väter, im ganzen Psalm durchweg positiv gewertet190 und Generationen umfassend, haben von dem „Heilswerk" C?»B)191 Jhwhs berichtet; von dem Werk in den Tagen der „Urzeit/Vorzeit" (•"[£).192 Das, was mit (n1?!® *7J?B), dem Heilswerk - wie auch in anderen Klageliedern des Volkes wird hier auf Einzelereignisse der Heilsgeschichte Israels rekurriert - genau gemeint ist, führen V . 3 - 4 aus.193 V.3 bietet in chiastischer Formulierung die Explikation: 188 p s 44 2 weist in seiner Thematisierung der „väterlichen Überlieferung" eine gewisse Nähe zu Aussagen aus der dtn-dtr Schule (Ri 6,13; Ps 78,3; 2.Sam 7,22) auf. Darin ist ein deutliches Indiz dafür zu sehen, daß der Verfasser bzw. die Verfasser des Psalms die dtn-dtr Schule und ihre Terminologie kennen, ohne jedoch selbst, wie es der Fortgang des Psalms (V.18 f.) zeigt, zu dieser Schule zu gehören. Man kennt die gegnerische theologische Partei. Eine merkwürdige Auffasung des dtn-dtr Geschichtsverständnisses vertritt Zenger (Psalmen, 275), wenn er schreibt: „Die >Ur-Tat< der Landnahme ... wird als beinahe mythisches Anfangsgeschehen beschworen, das als solches wiederholbar und aktualisierbar ist (vgl. zu diesem dtn/dtr Geschichtsverstandnis besonders Dtn 5,3)." 189

Über das Ziel hinaus schießt Kraus (Psalmen, 482), wenn er in seinem Kommentar äußert: „Offensichtlich wird hier nicht auf die kultische Hauptüberlieferung, sondern auf die Familien- und Sippentradition angespielt." 190 Damit steht der Ps im Gegensatz zu der Grundüberzeugung der Deuteronomisten, die diesen die Schuld für Israels Scheitern zuschreiben. 191 Vgl. dazu neben Ps 64,10; 77,13; 90,16; 92,5; 104,23; 109,20 gerade auch Hab 1,5 (DS'Q'n ^db ^¡iej-'d). Vgl. auch Illman, ThWAT VI, Sp. 697-703, bes. 699 f. 192 Vgl. zu den m p 'n' Mi 7,20 (Väterzeit: Abraham; Jakob); Jes 51,9; Thr 1,7 und die D'?1S",D•, in Jes 63,11. Zu Dtp vgl. auch noch die Belege in: Ps 74,2.12 (s. dazu oben); (77,6.12); Thr (1,7); 2,17; 5,21 und Spieckermann, Heilsgegenwart, 129. - Zur Stelle vgl. auch die Ausführungen von Koch, Qädäm, 254: „Von dij? als einer heilvollen Vorzeit ist mehrfach in kollektiven Klageliedern des Psalters die Rede, und zwar stets an betonten Stellen mit geprägtem Worthof, als Trostgrund für die Notleidenden oder als Motiv für das göttliche Eingreifen." Vgl. dazu oben Anm. 112. 193 Vgl. zu diesem Abschnitt auch Westermann (Lob, 41): „Die zu Gott flehende

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

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„ H e i d e n v ö l k e r " (Q'ia) 194 hast du vertrieben - Thematisierung der V e r n i c h t u n g 1 9 5 s i e aber e i n g e p f l a n z t , z e r s c h l a g e n hast du V ö l k e r (D'QR1?), s i e aber hast du s i c h a u s b r e i t e n l a s s e n . " D a s S u f f i x der 3.pers. PI. der V e r b e n b e z i e h t s i c h j e w e i l s auf die „Väter". D e m v e r n i c h t e n d e n , g e g e n die V ö l k e r gerichteten H a n d e l n J h w h s (D'ia und D'BK1? b e g e g n e n a u c h in der K l a g e ! V . 1 5 ) , steht j e w e i l s d a s f ö r d e r l i c h e , p o s i t i v e H a n d e l n J h w h s an d e n V ä t e r n g e g e n ü b e r . M i t d e m B i l d

vom

P f l a n z e n 1 9 6 und A u s b r e i t e n - g e d a c h t ist w o h l an e i n e n W e i n s t o c k und s e i n e S c h ö ß l i n g e 1 9 7 - und der A u s s a g e über die Vertreibung der V ö l k e r wird d a s h e i l s g e s c h i c h t l i c h e G e s c h e h e n der „ L a n d n a h m e " im S i n n e einer v o n J h w h her g e w i r k t e n L a n d g a b e geschildert. 1 9 8 „ M i t der für d i e im A l t e n Orient und in Altisrael verbreiteten I d e o l o g i e d e s . H e i l i g e n K r i e g e s ' t y p i s c h e n V o r s t e l l u n g , d a ß die G o t t h e i t s e l b s t im K r i e g m i t k ä m p f t und d i e W a f f e n d e s H e e r e s , i n s b e s o n d e r e d e s K ö n i g s , führt u n d stärkt, b e t o n t 4 in Kontrastmetaphern, daß Israel s e i n e n L a n d b e s i t z nicht s i c h

Gemeinde weist Gott auf sein Heilshandeln in der Vergangenheit. Dies geschieht meist am Anfang des Psalms nach dem einleitenden Hilferuf, z.B. 44,2-4; 85,2-4. Diese Stücke sind nicht eigentlich .Bekenntnis der Zuversicht', obwohl sie ihm sehr nahe stehen, sondern eines der Motive, die Gott zum Eingreifen bewegen sollen. Viele dieser Psalmen sind beherrscht von der Spannung: ,So hast du früher getan—und jetzt ?' Dieses Hinweisen Gottes auf seine früheren Heilstaten geschieht in der 2. Person: ,du hast getan...' Das ist die Struktur des berichtenden Lobes. Indem Gott auf sein früheres Heilshandeln hingewiesen wird, wird er über diesem Handeln gelobt. So gibt es also in einer Reihe von KV berichtendes Lob, das hier den Sinn eines Motivs hat, das Gott zum Eingreifen in die jetzt brennende Not bewegen soll. So ist es Ps. 44,2-4; 85,2-4; 74,lb-2; 80,9-12; Jes. 63,7-9.llb-14; Ps. 106,8-11.43-46." Die Stellen 85,2-4; 7 4 , l b - 2 bilden jedoch dabei einen Sonderfall. 194 Die Übersetzung von Diä durch „Heidenvölker" soll den mitschwingenden Gegensatz zwischen dem von Jhwh auserwählten Israel und den übrigen „Feindvölkem" verstärken. 195 Bei 0 r (hif.) handelt es sich um einen dtn-dtr geprägten Ausdruck für das Agieren Jhwhs gegen die „FremdVölker". Vgl. Ex 34,24; Dtn 9,5; 11,23.24; Jos 23,5.9; l.Kön

1 4 , 2 4 ; 2 1 , 2 6 ; 2 . K ö n 1 6 , 3 ; 1 7 , 8 ; 2 1 , 2 . V g l . a u c h SCHMID, T H A T I, S p . 7 7 8 - 7 8 1

und

LOHFINK, T h W A T III, S p . 9 5 3 - 9 8 5 , b e s . S p . 9 6 1 f. 196

Die wichtigsten Belege für dieses mit JJOJ ausgedrückte Bild sind: Ex 15,17; 2.Sam 7,10; Jer 18,9; 31,28; 32,41; Am 9,15; Ps 80,9. 197 (Vgl. dazu Ps 80, 9: naam O'u a)un i r o n O'-ISOQ ]B: : „Einen Weinstock hobst du aus Ägypten aus, vertrieben hattest du Völker, ihn hattest du eingepflanzt." In Ps 80 wird in den Dimensionen des davidischen Großreiches gedacht. Vgl. zur Weinstock- Metaphorik auch BEYERLIN, 44. Psalm, 451 f. Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund für das Bild vom „Pflanzen", das sowohl Ps 80 als auch Ps 44 beinhalten, bietet Ex 15,17: lOKnn -[rotf1? ]13D -|nSna i n s lDiioni. „Du brachtest sie hin und pflanztest sie ein auf dem Berg deines Erbbesitzes, der Stätte deines Thronens ..." - Zur Übersetzung und zum Text von Ex 15 vgl. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 96-115. 198 Zum Motiv „Vertreibung der Feinde - Hineinführung ins Land" vgl. auch KÜHLEWEIN, Geschichte, 151 f.

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111. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

selbst, sondern a u s s c h l i e ß l i c h s e i n e m Gott verdankt ,.." 1 9 9 D a s a g i e r e n d e Subjekt ist allein Jhwh; m e n s c h l i c h e s Zutun k o m m t nicht in den B l i c k . V . 4 knüpft daran mit den z w e i begründenden '3-Sätzen an. D e r Gabecharakter des L a n d e s ( p n ) wird deutlich. N i c h t mit S c h w e r t ( 3 i n V . 4 , v g l . V . 7 ) und Manneskraft ist das „gelobte Land" e i n g e n o m m e n worden 2 0 0 , sondern Gottes R e c h t e , sein Arm und das Licht seines Antlitzes ("pa n « ) 2 0 1 haben d i e s e s e r m ö g l i c h t . B e w u ß t wird d e m uint der Väter der » i n J h w h s gestellt.

202

gegenüber-

D i e theologisch g e w i c h t i g e Begründung für das Handeln Jhwhs an

den Vätern Israels ist in Jhwhs Gefallen ( r t n ) an ihnen zu sehen. 2 0 3 A n dieser Stelle wird auf den Erwählungsgedanken rekurriert. Unter allen Völkern ist gerade das kleinste zu seinem E i g e n t u m s v o l k erwählt worden.

199

ZENGER, Psalmen, 275. Vgl. dazu auch schon G. v. RAD in seiner nicht unum-stritten gebliebenen Studie über den atl. Vorstellungskomplex vom „Heiligen Krieg". „Wollten wir die in die Psalmen übergegangenen Vorstellungsmuster des heiligen Krieges erheben, so würden wir noch einmal einen Eindruck von dem Reichtum gewinnen, der ursprünglich von einer bestimmten kultischen Institution ausgegangen sich in alle Gebiete und Betätigungen des religiösen Lebens ausgestreut hat. Die ältesten Psalmen sind später anzusetzen als die letzten heiligen Kriege. So handelt es sich in all den Texten, die da herangezogen werden könnten, um ein Nachleben der alten Motive, um Übertragungen in neue Verhältnisse oder gar nur noch um stereotype Reminiszenzen in der Gebetssprache aus einem kanonisch gewordenen Traditionsgut. Doch muss man sagen, dass in dem mächtigen narba -na: n w -na:i tiri) mrr (Ps. 24,8) das Alte noch unvermindert und in herrlicher Kraft nachklingt. Dass in der Gattung der Königspsalmen (Vgl. Ps. 18; 20; 21; 144) und besonders der Volksklagelieder (Ps. 44; 60) die alten Motive eine besondere Pflege finden mussten, bedarf keiner Erklärung. Blickt man aber auf die geschichtlichen Rückblicke, d.h. auf die epischen Darstellungen der Heilsgeschichte, oder auch auf die kurzen Apostrophierungen der Vergangenheit, so fällt auf, dass für sie die Zeit der grossen Kriegstaten Jahwes die Zeit der Wüstenwanderung und Landnahme ist, während die Richterzeit, d.h. die Zeit der eigentlichen heiligen Kriege, demgegenüber ganz zurücktritt. So stark ist die geschichtliche Wirklichkeit von der übermächtig gewordenen kanonischen Tradition überdeckt." (Der Heilige Krieg im alten Israel, AThANT 20, Zürich, 3. Aufl. 1958, 81 f.). Vgl. dazu auch OLLENBUROER, Zion the City of the Great King. A Theological Symbol of the Jerusalem Cult, JSOT.S 41, 1987, 1 0 1 ff. 200 Terminus technicus für die Charakterisierung der „Landnahme" stellt das 0 T (qal) + p t * dar. Signifikant sind die zu buchenden Belege, die wiederum in die Richtung dtn-dtr Schulsprache verweisen: Dtn 1,8; 2,21; 4,1.5.22; 6,18; 8,1; 11,8; Jos 1,15; 23,5. 201 Das „Licht seines Antlitzes" ist an dieser Stelle im strafenden und vernichtenden Sinne gebraucht und versinnbildlicht das „sinaitische" Element (Gottesschrecken), nicht das priesterliche, helfende (vgl. etwa V.25). ZENGER (Psalmen, 275) verkennt diese Tatsache, wenn er „Licht des Angesichts 4d als Zuwendung und Rettung" kommentiert und zum Vergleich mit Ps 80,4.8.20 und Num 6,24 auffordert. 202 Zwei weitere Stellen, die sich der hier erkennbaren Ideologie vom Jhwh-Krieg verdanken, sind l.Sam 17,47 und Jos 24,12. 203 Zudem Bedeutungsspektrum vonmn/p:n vgl. Ps 85,2.

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

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In der Formulierang dieses Gedankens weist der Verfasser bzw. die Verfasser eine erstaunliche Nähe zu dem „Credo" der dtn-dtr Schule auf. Dort heißt es in Dtn 4,37 f.: 204 • n s n n Vin iron vjsn -|Küvi v-int» u n n -inm -prmmn nn« '3 mm 37 nrn dvd nbra a x u r n n -[b-nnb i^an 1 ? -pen -]nn D'nsm d,l?-!3 cru ttimnb 38 Weil er deine Väter geliebt und ihre Nachkommen erwählt hat, hat er dich herausgeführt mit seinem Angesicht durch seine große Kraft aus Ägypten, damit er vor dir her Völker vertreibe, die größer und stärker sind als du, und dich hineinbrächte, um dir ihr Land zum Erbteil zu geben, wie es heute ist. Die hymnisch-doxologische ^ b a RVrnnK-Aussage 205 in V.5 markiert im folgenden einen deutlichen Einschnitt. Gleichzeitig bildet sie innerhalb der Verse 2-9 die Mitte und den Höhepunkt. Mit einer dem tempeltheologischen Bereich entstammenden Formulierung preist die Gemeinde Jhwh. „Du bist mein König, Jhwh, der du ,Heilstaten' Jakobs (gen.obj.) entbietest." - Mit diesem kollektiv zu verstehenden Bekenntnis zum Gott-König Jhwh 206 wird der „heilsgeschichtliche" Teil V.3-4 zusammengefaßt, andererseits der vom Bekenntnis getragene Teil V.6-8 eröffnet. Jhwh ist es, der das „Heil" allein bewirken kann. 207 Hinter dem Ehrentitel ,Jakob" verbirgt sich das „RestIsrael". An die Doxologie von V.5 anknüpfend, entfalten V.6-8 nun das Vertrauensbekenntnis der Gemeinde zu Jhwh. V.6 (beachte den Chiasmus; "¡nan und "p jeweils betont vorangestellt!) greift das „du" von V.5 auf. Mit Jhwh und in seinem Namen (vgl. zu Dttf: V.9; V.21) will die Gemeinde ihre Feinde „zu Boden stoßen" (rtu)208 und „zertreten" (on) 2 0 9 . „Mit der Kraft des Urzeit204 Die Bedeutung des Verweistextes Dtn 4 wird erst dann richtig erhellt, wenn man den Kontext der oben zitierten Aussagen bedenkt. Dtn 4,9.23 warnen vor dem „Vergessen" der Heilsstiftungen und des Bundes Jhwhs. Dtn 4,13 rückt letzteren in die Mitte. Erst vor diesem Hintergrund erlangen die Aussagen in Ps 44,18 (Bund) und Ps 44,21 (Nicht-Vergessen) das rechte Verständnis. Gegen die dtn-dtr Schultexte nimmt Ps 44 dezidiert Stellung. 205 Vgl. dazu auch das KV Ps 74,12: p « n mpn mp'*¡), ^ss mpo 'D'td o-n^Hi und die dortigen nr* -Sätze! 206 Ygj ( | a z u a u c j , ¿ig tt*7M1 's^d -Aussagen in Ps 5,3 und 68,25. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund für diese Aussagen ist in der Tempeltheologie (vgl. Jes 6,5) zu sehen. 207 Der Ausdruck maiif rra (pi.) ist in dieser Form einzigartig im AT. Mit "ton begegnet ms noch in Ps 42,9, mit ro"n in Lev 25,21 und Ps 133,3. 208 Zu dieser Konnotation von na (pi.) vgl. noch Dtn 33,17 (gegen die Völker) und 1. Kön 22,11 (gegen die Aramäer). 209 Neben der Stelle Sach 10,5, an der ,Juda" das logische Subjekt zu Voia bildet, sind folgende Belege zu nennen, bei denen jeweils Jhwh selbst das Subjekt bildet: Jes 14,25; 63,6;

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HI. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Kriegsgottes wollen sie wie Wildstiere mit ihren Hörnern die Feinde zu Boden stoßen und mit den Füßen zertrampeln (...)-"21° Waren es in dem Abschnitt V.3.4, der von der von den Vätern übermittelten Tradition handelte, die Gojim und Völker, die vernichtet wurden, so sind es jetzt die „Feinde" ( w i s ) und „Widersacher" (V'Dj?), die in der gegenwärtigen Zeit und aktuellen Situation die Antagonisten der Gemeinde darstellen. Daß allein Jhwh Schutz und Rettung bieten kann, verdeutlichen die beiden angeschlossenen '3-Sätze (begründend) in V.7 und V.8. Mit einer im kollektiven Sinne (exemplarisches Ich!) zu verstehenden „Ich"-Aussage wird festgehalten, daß „Bogen" und „Schwert" nicht (2x vb) vertrauenswürdig noch hilfreich sind (V.7), sondern allein Jhwh die Gemeinde (Wechsel in die l.Pers.Pl. in den Suffixen) vor Feinden retten kann und die „Hasser" beschämt. Das Vertrauen der Gemeinde (vgl. nen in V.7) - so der Grundtenor - ist allein auf Jhwh gerichtet. Im Wissen darum, daß allein er den Sieg ermöglichen kann, diesen aber auch wie einst den Vätern schenkt, fühlen sich die Beter für den Kampf mit den Feinden ausreichend gerüstet. Daß Jhwh jedoch auch überlieferte Traditionen durch sein Handeln widerlegen und sich in der Gegenwart als ein anderer als der aus der Vergangenheit bekannte Gott erweisen kann, davon zeugt die Klage in Ps 44. Skizze: •rfmao trrroK m a ö m t t a mir 2 "]T nrw 3 :cnp 'ira arrn'a nbus Via torfTiöm m a 6 i m Ducmi nehm D'u r b nirgfrTW1? nirnn

nzh' crnro 16 '3 4

:Drrcn ' 3 - p s -roti - j u n n - p ' n ' - o



a p i r mintf' ms mir o'td NvrnnK 5 nrop oi33 -[otön ms u n s - p 6 :ning)Ti vb n u n ncn« TKöpn «b 7 :rrKti,2n lrwtom ir-ixo lrmövr '3 8 — in 1 » rrrü d n i h -jöeJi a v r r t s t V n mmn 9

Ps 60,14. Letzterer Beleg ist auch insofern von besonderem Interesse, als dieses KV, welches jünger als Ps 44 ist, sich im Wortlaut an Ps 44 anlehnt, wobei nun Israel als Subjekt in den Blick kommt. Ps 60,14 lautet: u n s oi:r mm VrrniDi» n ' i i ^ a . 210

ZENGER, P s a l m e n , 2 7 6 .

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

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Die Kompositionsstruktur, die den Versen 3-8 zugrunde liegt, ist deutlich erkennbar. Vers 3 steht in Beziehung zu V.6, die beiden 'S-Sätze von V.4, wobei der erstere zwei NV Negationen aufweist, stehen in Korrelation zu den Versen 7 und 8. Die Doxologie in V.5 stellt gleichsam die „Spiegelachse" dar. Das Bekenntnis zu dem in der Väterzeit handelnden Gott wird an dem GottKönig-Preis (V.5) gebrochen und bildet sich auf der Bekenntnisseite der gegenwärtigen Gemeinde ab.211 Das scheinbare „Lobgelübde" (V.9) 212 bildet den Abschluß des ersten Teiles. Jhwh selbst (betonte Voranstellung von D'rfw) und seinem Namen (ratf: vgl. V.6 und V.21!) gebühren allzeit Ruhm (Vbn) und Lob (rrr). Die hier verwendeten Zeitbegriffe (Dvn~b3 und DVia1?) sind insofern wichtig, als sie einerseits später wieder aufgegriffen (Dvn-1» in V. 16.23), andererseits durch andere Begriffe in der Klage (n^b in V.24) konterkariert werden. II. V. 10-23:

Das der Schlachtung preisgegebene

Volk

Die Verse 10-23 bilden die Klage. Die Abgrenzung nach vorne ist durch die Konjunktion (*]$; einen Gegensatz markierend) angezeigt, die Zäsur nach hinten stellt der Imperativ rni» in V. 24 dar, der den Bitte-Teil eröffnet. Innerhalb des Klageabschnittes können nochmals zwei Blöcke unterschieden werden: a) V. 10-17 und b) V. 18-23. Daß die gegenwärtige Notsituation der zu dem Gott der Väter betenden Gemeinde eher an diesem Gott verzweifeln läßt, wird Jhwh mit ungemildeter Härte vorgehalten. 213 In minutiöser Aufzählung wird Jhwh sein gegen sein Volk gerichtetes feindliches Agieren geklagt; die Konsequenzen, die dieses göttliche Handeln für das Gottesvolk bewirkt, werden nicht verschwiegen

211

Vgl. dazu auch den Gebrauch der Wurzel std' in V.4.5.7.8; ann in V.4 und V.7; das Verhältnis von crpij'j/ta^ä in V.3 zu irop/B'-tf in V.6! 212 Vgl. zum Lobgelübde auch Ps79,13, (80,19b) und die obigen Bemerkungen dazu. 213 Vgl. dazu auch W E S T E R M A N N (Lob, 1 3 5 ) : „Neben ... anklagenden Fragen stehen die Anklagen in der Aussageform. Sie begegnen in der KV häufig und in oft erschreckender Schärfe. Sie bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Vorwurf und Urteil. Aber zum Verurteilen Gottes werden sie niemals; denn niemals sind diese Sätze objektives Feststellen; sie bleiben stets persönliche Anrede."

114

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

(beachte die Fünfer-Gruppe von V e r b e n 2 1 4 , j e w e i l s 2.Pers.Sg. mit Jhwh als Subjekt: «3 , ön-iann-näan-iB , ton-wn , iöFi). 215 Jhwh hat sein V o l k (erst V . 1 3 w e i s t das a v auf) v e r s t o ß e n 2 1 6 , er hat e s b e s c h ä m t und ist - im G e g e n s a t z zu d e m v o n den Vätern ü b e r l i e f e r t e m „Gottesbild" - nicht mit den Heeren des V o l k e s a u s g e z o g e n . Jhwh hat sein V o l k im Verlaufe einer kriegerischen Auseinandersetzung im Stich gelassen. In für d i e V o l k s k l a g e n klassischer T e r m i n o l o g i e wird im e i n z e l n e n die e i n g e t r o f f e n e N o t und Katastrophe beschrieben. Jhwh hat das V o l k v o r d e m F e i n d e w e i c h e n lassen, e s zur Plünderung den „Hassern" freigegeben, so daß diese nach Lust und Laune Beute machen können. V. 11 bildet den inhaltlichen G e g e n s a t z zu der Vertrauensaussage von V . 8 . D i e V e r s e 10 und 11 gehören e n g zusammen: Niederlage im Krieg. 2 1 7 Der „treue Hirte" hat sich seinem W e s e n nach verändert und die Z ü g e e i n e s Schlächters angenommen. Grausamer kann der Vorwurf nicht ausfallen. Jhwh hat sein V o l k w i e Schlachtschafe hingegeben, sein V o l k unter die Heiden (D'iJ;

214 Zu dem Problem der adäquaten temporalen Wiedergabe der Verben in V.10b-14 vgl. auch KOHLEWEIN (Geschichte, 36 f.), der sich aufgrund seiner künstlichen Unterscheidung von „klagender Schilderung" und „klagendem Bericht" für eine vergangenheitliche Übersetzung der Imperfecta ausspricht. „Wenn man bedenkt, daß sich der Auszug der Heere, die Niederlage, die Plünderung, die Zerstreuung unter die Heiden usw. nicht gleichzeitig in der Gegenwart, in der das Gebet gesprochen wurde, abgespielt haben kann, so wird man kaum von einer .Schilderung der gegenwärtigen Not' sprechen dürfen. Vielmehr haben wir einen .klagenden Bericht' vor uns, der auf die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zurückschaut, auf Ereignisse, die die Not erklären, in welcher sich die Beter in der Gegenwart noch befinden. Der Bericht beginnt in der 2. Pers. Perf., fortgesetzt zunächst durch ein Imperf. cons. Die Imperfekta in V 10b-14 geben dann Folgen von Ereignissen an (...), während die Perfekta im jeweils zweiten Teil der V 11-13 die Ereignisfolge nicht fortsetzen (vgl. auch die Inversion in V 11 0 . " 215 Vgl. dazu auch CROW (The Rhetoric of Psalm 44, ZAW 104,1992, 397): „The salient feature of v.10-17, as was mentioned above, is the formal structure of v. 10-15: every bicolon begins with a second-person Singular >you< verb. Each line describes God as taking an active röle in Israel's destruction." 216 Als Ausdruck für das Verworfensein von seilen Jhwhs ist das rat innerhalb der KV zahlreich belegt. Vgl. dazu oben Anm. 38. 217 Vgl. zur Rolle der Feinde auch KOHLEWEIN (Geschichte, 40): „Die Feinde werden mehr oder weniger als Werkzeuge Jahwes gesehen, die seinen Willen ausführen. (...) Das Tun oder Spotten der Feinde ist nicht selbständige Aktion, sondern geschieht als Ausführung des Planes Gottes oder als Folge der Tat Gottes. Weil dies die Beter wissen, ist es ihnen möglich, Jahwe um Rettung aus der Hand der Feinde zu bitten; denn auf diese Bitte zielt ja auch die berichtende Feindklage ab."

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

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vgl. dazu V.3) zerstreut (mi, pi.) 218 . Die Katastrophe von 587 v.Chr. mit erfolgter Exilierung schattet sich hinter diesen Ausdrücken ab. (Zu ' P D R D vgl. r r a o |«if in V.23). Wie in dem exilischen Klagelied Ps 74 (74,1: |t«ia ~[BR jitfu' nmr -|!Vinn) wird das Bild von der Herde Gottes und Jhwh als dem Hirten aufgegriffen, um Jhwh sein für die Gemeinde unbegreifliches Handeln zu verdeutlichen. Mit einem weiteren Bilde, das dem merkantilen Bereich entlehnt ist, wird aufgezeigt, wie unverständlich und töricht das göttliche Tun ist. Jhwh entledigt sich seines Volkes (|in_»?7n Nur an dieser Stelle tritt das Subjekt Da hervor. Er verkauft sein Volk unter Wert: Das Suffix der 2.Pers.Sg. („dein Volk") zeigt, daß dieses Volk, das Jhwh dahingibt, in einer besonderen Beziehung zu ihm steht, sein Eigentum ist ,219 Die Verse 14 und 15 nehmen Dta aus V.10 auf und zeigen Jhwh auf, daß er die Gemeinde dem Spott und Hohn der Nachbarn preisgegeben habe. 220 Das Schicksal des Volkes Gottes ist den Heiden allemal noch einen Spottspruch wert, schadenfreudiges Kopfschütteln 2 2 1 bei den Völkern. V.14 und 15 gehören eng zusammen; das un'ön verdeutlicht dieses. Das Objekt göttlichen Vernichtungshandeln aus der Vergangenheit (d'gk1? und D'ia; vgl. V.3) wird hier zum Subjekt der Schadenfreude gegen Israel. Die folgenden Verse 16 und 17, jeweils Bikola, bilden eine Einheit und schließen die Reihe der Notschilderungen ab. Auffallend ist der plötzliche Wechsel in die l.Pers.Sg. in V.16. Mit konventioneller Psalmensprache aus dem Bereich der Klage des einzelnen wird hier die Feindklage vorgetragen. Hinter dem „Ich" (V.16) ist wiederum das kollektive Ich - der Gedanke der corporate personality - zu vermuten. Mit geprägter Sprache wird der Klage der Gemeinde nochmals Ausdruck gegeben. Scham und Schande (zu nobs vgl. schon V.10) bezeichnen die eingetretene Bedrohung und Störung (zum Dirr 1 » 218

Das rn(, pi. wird oft in den Unheilsankündigungen benutzt, die auf das Exil und die damit verbundene Deportation anspielen: l.Kön.14,15; Lev 26,33; Ez 5,10;12,15 (passim); Ps 106,27. Vgl. dazu auch B E Y E R L I N (aaO. 456): „Bedeutsamer ist, daß im überkommenen Volksklagepsalm V. 10 ff. die einschneidenden Jahre 587-86 dominante Voraussetzung sind: Am greifbarsten ist dies im Passus V. 12b 13. Heißt es nämlich im Halbvers 12b >unter die Völker zerstreutest du uns und n^pn), seinen Schlaf 2 3 2 endlich beenden 2 3 3 und nicht e w i g (nsjb, d.h. e w i g ; definitiv!) 2 3 4 verstoßen (mr vgl. dazu V. 10: Rückbezug!). Das Nichteingreifen Gottes, das Zulassen der feindlichen Mächte und die erlittene Not werden mit dem göttlichen Schlaf erklärt. 235 Schlaf und 232

Vgl. zu dieser für Israel untypischen Klage, daß Jhwh schläft, auch Ps 78,65: ]"D p n n o -11313 ' n * fp'i. „Da erwachte wie ein Schlafender der Herr, wie ein vom Wein bezwungener Held." Zur Übersetzung von Ps 78 vgl. auch SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 139. „Ganz verhalten klingt hier die aus exilischer Zeit gut bekannte Anklage Gottes und das tiefe Entsetzen über sein Handeln nach" (ebenda, 147). Vgl. zu dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Ps 44,24 auch die Ergebnisse von BATTO (The Sleeping God: An Ancient Near Eastern Motif of Divine Sovereignity, Bib. 68 (1987), 153-177). Er kommt zu dem Ergebnis, daß für die Rolle des Götterschlafes in den altorientalischen Texten zwei Aspekte von entscheidender Bedeutung sind: 1. „Rest as a divine prerogative" (aaO. 156 ff.). 2. „The sleeping deity as a symbol of divine rule" (aaO. 159 ff.). Zur Stelle Ps 44,24 kommt er zu dem Schluß: „Here again the motif of the sleeping deity is used to express Israel's belief in Yahweh's absolute kingship (cf. malki, v.5). But this very conviction gives her the confidence to appeal for help. Yahweh's reign is supreme and he can be counted on to ,awaken' and to maintain that right order which he decrees as creator and sovereign of all" (aaO. 170). 233

Zu fT? hif. Imperat. vgl. auch Hab 2,19; Ps 35,23; 59,6. Vgl. dazu schon die Kommentierung von Ps 74,1.10. 235 Zu der Redeweise vom „Gottesschlaf" im Alten Testament und in den altorientalischen Texten vgl. die Studie von M C A L P I N , Sleep, Divine & Human, in the Old Testament, JSOT.S 38, Sheffield 1987, bes. 181 ff. M C A L P I N hat in seiner Studie die drei Haupttypen der Rede vom Götterschlaf herausgearbeitet und charakterisiert sie folgendermaßen (aaO. 191 ff.206): „Three major types of sleep (diurnal, annual, and untimely) were identified, and it was suggested that each had its own setting (often liturgical), and each its own hermeneutic" (AaO. 206). Im Blick auf Ps 44 erkennt er auf den „untimely sleep" und notiert (aaO. 195): „However, there is a ... type of divine sleep, untimely sleep, the sleep which leaves the god's people helpless. This type was encountered most clearly in , 0 Angry Sea' 234

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

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Verstoßen, hier parallel gesetzt, stehen für die unheilvolle Abwesenheit des angerufenen Gottes. Daß Jhwh als ein schlafender Gott gedacht wird, ist außergewöhnlich. Gerade spätere Texte wissen darum, daß der „Hüter" Israels eben nicht schläft. 236 Siehe, nicht schlummert noch schläft der Hüter Israels. Der Herr ist dein Hüter, der Herr ist dein Schatten zu deiner Rechten. (Ps 121,4-5) btmutr mittf |tö" tfn mrn 1 ? ran i r o ' t _1 7S mrr -pmzJ nvr Ist die nnVFrage 237 in V.24 schon von einem anklagenden Ton getragen, so erst recht die zweite Warum-Frage in V.25. Jhwh hat sein Antlitz verborgen 238 (vgl. zu l ' Ä das D'JB in V.4!), er hat das Elend der Beter vergessen.239 Konnte die Gemeinde von sich selber behaupten, Jhwh nicht vergessen zu haben, so weiß sie jedoch mit aller Bestimmtheit, daß dieser Vorwurf ihrem Gott gegenüber mit Recht zu erheben ist (rottf: vgl. dazu auch Thr 5,20: „Warum willst du uns ewig vergessen?"). Das Vergessen Gottes, sein Schlaf und die Verhüllung seines Antlitzes sind Bilder, um seine Abwesenheit, die erst das Unheil ermöglicht, zu artikulieren (vgl. dazu auch nmbm ir^J) osm in V.20). Wo Jhwh nicht anwesend ist, sich selber sogar zurückgezogen hat, sind die Beter der Sphäre der Jhwhfeindlichen Welt und dem Tode ausgesetzt (vgl. V.26). „Leben" (tzm;) und Leib (]D3), genau in dieser Reihenfolge, sind dem Tode nahe und p « ) , stehen für die Todesverfallenheit. meint hier im Gegensatz zu V.4 nicht das gelobte Land, sondern den unheilsvollen Bereich der Scheol. Mit konventionell-traditionellen Bildern wird die Lebensbedrohung der Gemeinde beschrieben. Mit einer Bitte um die Epiphanie Jhwhs schließt dieser Teil. Jhwh, der ja sein eigenes Volk verkauft hat (~on in V.13), soll es wiederum erlösen ( m s ) . Daß dies kein „Allerweltsbegriff" ist, sondern ihm eine bestimmte theologische Valenz zugrunde liegt, zeigen Stellen wie Dtn 7,8; 15,15; 24,18; Ps 78,42. Es geht jeweils um das Erlösen Israels aus Ägypten. and in the balags, and it is this type which we encounter in the Old Testament references to YHWH's sleep." 236 Auch Deuterojesaja muß sich mit dem Vorwurf der Exilsgemeinde, daß Jhwh „matt und müde" sei und das Geschick Israels vergessen habe, auseinandersetzen; vgl. Jes 40,27 ff. 237 Zur no1?-Frage vgl. die KV: Ps 74,1.11; 79,19;80,13; Thr 5,20; Jes 63,17 und die dort gemachten Bemerkungen. 238 Vgl. zu diesem klassischen Ausdruck für die Verborgenheit Jhwhs (mo hif. + c n s ) auch: Ps 13,2; 88,15; Jes 8,17; 54,8; 64,6; Jer 33,5. 239 Ygj (jj^u a u c j j ¿ig Vorwürfe der Exilsgemeinde bei DtJes.

120

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Die Bitte und das Vertrauen der Gemeinde, daß dieser Gott, der verstößt, auch helfen kann, sind nicht zuletzt in der „Gnade" Jhwhs begründet (ion). Seiner Gnade wegen soll Jhwh tätig werden und die wendende Rettung herbeiführen. „Es ist dieser Begriff, der wie kaum ein anderer geeignet ist, Jahwes freundliche Zuwendung zum Menschen in der Perspektive der Psalmen theologisch zu konkretisieren, weshalb er in ihnen auch reichlich Verwendung gefunden hat. Die ganze Rettungs-, Hilfs- und Schutzterminologie des Psalters hat in ion, häufiger zusammen mit not« ,Treue', gleichsam eine inhaltliche Mitte, die zugleich ihre prävalente Stellung in Wesen und Wirken Jahwes anzeigt. Im nort ist Jahwe nicht nur der daseiende, sondern der hilfreich ,nahseiende' Gott." 2 4 0 Resümee Daß Ps 44 sich dem gängigen, formgeschichtlichen Aufbauschema für das „Klagelied des Volkes" (vgl. die Schemata bei C. Westermann: Anrede-KlageBekenntnis der Zuversicht-Bitte-Lobgelübde) 241 widersetzt (beachte eben die ungewöhnliche Positionierung des „Lobgelübdes" in V.9) ist vor dem Hintergrund des inhaltlichen Duktus und der Aussageabsicht zu erklären. Es mag paradox klingen, aber um sich der Anwesenheit des abwesenden Gottes Jhwh versichern zu können, ihn für das Gebet der Gemeinde zu „öffnen", bedarf es des langen, einleitenden „Traditions- bzw. Bekenntnisstückes". Dieses umso mehr, als daß zum einen auf dem Hintergrund der Jhwh in Erinnerung gerufenen Heilsgeschichte der Kontrast zu der gegenwärtigen Situation des Volkes umso schärfer ausfällt, zum anderen gleichzeitig der mögliche Vorwurf, die Not und Katastrophe habe sich das Volk selber zuzuschreiben, da es seinen Gott vergessen habe, von vornherein falsifiziert wird. In dem durch die Doxologie und Vertrauensaussagen eröffneten Raum können Klage und Bitte, doch vom Zorn abzulassen und einzugreifen, ergehen. Die Gemeinde ist und bleibt auf den einen Gott, der sich in der Urzeit als „Völkervernichter" erwiesen hat, auch und gerade in der Gegenwart angewiesen. Das erinnernde Wachrufen einzelner Ereignisse aus dem Bereich der Heilsgeschichte wird zum theologischen Vademecum in der Exilszeit. Die theologische Deutungschiffre rinn für das Verhältnis Jhwh - Volk und die Tatsache, daß das Volk in den Mittelpunkt des Gebetes gerückt wird, eröffnen den Psalmen ein für die Wendezeit des Exils wichtiges und neues Thema. Ps 44 ist dafür ein gutes Beispiel. Hier wird nicht mehr der Verwüstung des Tempels, der Gottesstadt gedacht, nicht über den Verlust von König und 2 4 0

SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 2 9 0 .

2 4 1

WESTERMANN, L o b , 3 9 f f .

Psalm 44 - Der Schrei des verkauften Volkes

121

Priester geklagt, sondern die Beziehung von Volk und Jhwh neu erprobt. Die alten Institutionen, Tempel und Königtum, sind weggebrochen und desavouiert, geblieben ist allein das Volk als Gegenüber zu Jhwh. In tempelloser Zeit wird aus dem „Tempelgott" der „Volksgott", muß an den von den Vätern überlieferten heilsgeschichtlichen Taten und Überlieferungen angeknüpft werden. Sie sind Garanten für das zukünftige Rettungshandeln Jhwhs, sie allein ermöglichen einen Hoffnungsgrund in der Zeit der Katastrophe.

2.3. Psalm 80 - Der zertretene Weinberg 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Du, Hirte Israels, höre, der du Joseph wie Schafe treibst, der du auf den Cheruben thronst, erscheine vor Ephraim, Benjamin und Manasse! Biete deine Macht auf und komm uns zur Hilfe! \ stelle uns wieder her b , laß dein Antlitz leuchten, so werden wir gerettet. Jhwh, [Elohim] Zebaoth c , wie lange zürnst du beim Gebet deines Volkes? d Du speistest sie mit Tränenbrot, mit Tränen in dreifacher Menge tränktest du sie.® Du hast uns zum Streitobjekt unserer Nachbarn gemacht, unsere Feinde spotten lachender Dritten nach sich gezogen und erklärt auch insofern aufs beste die aus leidvoller Erfahrung fließenden Worte, jeder, der des Wegs daherkommt, habe sich an dem schutzlos gewordenen Weingarten vergriffen (Ps 80,13)."

Psalm 80 - Der zertretene Weinberg

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v e r w ü s t e n , so sind die Feinde über das V o l k hergefallen und haben e s vernichtet. D i e Größe der Verheerung und auch Verunreinigung der kultischen Stätten wird durch das Bild vom Keiler 304 , der mit seinen Hauern die Schonung durchpflügt, e i n g e f a n g e n . Durch die actio überlassen.

dei ist den Feinden das Feld

Ä h n l i c h k l i n g t e s f r a p p i e r e n d e r w e i s e in e i n e m

späteren

Volksklagelied, Psalm 89, das in vieler Hinsicht mit Psalm 8 0 vergleichbar ist und mehrere Übereinstimmungen in den Formulierungen aufweist: 3 0 5 nFinq V - J $ : I D n n ö v n n . r b s

FIKI.S

VJ?^ 1 ? n s i n r r n ^ - n n g i r 1 ? ^ inotü Du hast all seine Mauern eingerissen, Alle, die des Weges vorüberzogen, Spott.

(Ps 89,41

V.15-18:

seine Festungen hast du in Schutt

plünderten

ihn, den Nachbarn

gelegt.

war er ein

f.)

Bitte

W i e der Refrain (V.4.8.20) innerhalb des Psalmes und die Klage in V . 5 setzt die Bitte in V . 1 5 mit der Anrufung Jhwhs ein. Jhwh Zebaoth m ö g e umkehren ( « r m ö , qal Imp.) 3 0 6 , v o m Himmel schauen (D'nön cna, hif. Imp.), sehen ( n m , 304 Hinter TB'Q Ttn ist wohl zu Recht eine Anspielung auf Edom vermutet worden. So auch schon in äthHen 89,12.66. Vgl. dazu auch VEIJOLA, Verheissung, 109 f. und SCHELLING, Asafspsalmen, 228. 305 Y G ] C J A Z U A U C H VEIJOLA (aaO. Anm. 5 , 81): „Den meisten ist die grosse Ähnlichkeit zwischen Ps 80.13 und Ps 89,41a.42a aufgefallen, und seit Ewald ... wurde oft mit einer literarischen Anleihe von Ps 80 in Ps 89 gerechnet..." Und weiter grundsätzlich (aaO. 81): „Besonders in der älteren Exegese war es dem damaligen Stand der Forschung entsprechend üblich, dass man, sobald man auf einige Ähnlichkeiten zwischen Texten dieser Gruppe [seil, exilische Klageliteratur] aufmerksam wurde, daraus entweder auf literarische Abhängigkeit oder gemeinsame Verfasserschaft schloss. Beide Annahmen dürften jedoch eine voreilige, einseitig literarisch orientierte Lösung eines Problems darstellen, dessen Wurzeln in Wirklichkeit tiefer liegen. Angesichts der grossen Anzahl und Dichte der sprachlichen Berührungen wäre es nämlich ein hoffnungsloses Unternehmen, den Nachweis zu erbringen, welcher Text jeweils als Vorbild bei der Abfassung des anderen gedient habe, und von vornherein unwahrscheinlich ist die Vermutung, dass alle diese Klagelieder, die heute in drei verschiedene Sammlungen (Threni, Psalter, Propheten) eingereiht sind, Produkte eines einzigen Dichters wären. Vielmehr müssen wir uns mit der allgemeinen Auskunft begnügen, dass die äusseren und manchmal auch inneren Ähnlichkeiten durch einen gemeinsamen zeit- und gattungsgeschichtlichen Hintergrund bedingt sind." 306 Abwegig dagegen erscheinen die Vermutungen von SCHREINER (aaO. 109), wenn er schreibt: „Es könnte jedoch mit der Bitte im hebräischen Text auch auf den Ladespruch angespielt sein, dessen zweiter Teil lautet: ,Kehre zurück Jahwe der Scharen der Tausendschaften Israels' (Num 10,36). Der Spruch dürfte die siegreiche Rückkehr des Gottes mit seiner heiligen Lade nach dem Kampf gegen die Feinde aussagen. Dann wäre Ps 80,15 die Gegenwart des im Kampf siegenden Jahwe erfleht. Jedoch ist wegen des unsicheren Textes die

142

111. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

qal Imp.) und „mustern" (ips, qal Imp.). Die vier Imperative bestimmen den Ton der Bitte und weisen die Richtung für das erflehte Handeln Gottes auf. Jhwh, den das Volk als Kerubenthroner in und aus dem Tempel Jerusalems kannte, dessen Heiligtum jetzt aber in Schutt und Asche liegt307, soll aus seiner dem Volk gegenüber verhängten Abwesenheit umkehren und von seiner himmlischen Wohnstätte gnädig niederschauen. Die Beter von Ps 80 wissen, daß, bevor sie selbst wiederhergestellt sind und ihnen geholfen werden kann (vgl. den Refrain), Jhwh selbst sich wenden muß. Bei Jhwh selbst liegt der Anfang und Ausgangspunkt jeder Rettung. Allein dieser Punkt verdeutlicht das besondere Gewicht, das der Bitte gerade in den Klageliedern des Volkes zukommt. Somit steht auch die Bitte in V.15 ganz unter dem Gesichtspunkt der erhofften Epiphanie Jhwhs (vgl. V.2 f.). Den Weinstock bzw. Sprößling/Garten 3 0 8 möge Jhwh, so wie er es in der Vergangenheit bei der Anpflanzung, Hege und Pflege des jungen Weinstockes getan hat, fürsorglich mustern (npa)309 und sich seiner annehmen. Das rettende Handeln ist dabei impliziert. Die inclusio, die die beiden Stichen V.15b und 16a bilden, ist deutlich (beachte das nw |aa (V.15) —»|sa (V.9)l nua: (V.16)-> naon (V.9)). Den Weinstock, den Jhwhs Rechte 310 gepflanzt hat, möge er in Augenschein nehmen. Die beiden Stichen in dem sich anschließenden V. 17 bieten die Begründung und Motivation für die Bitte. Der Weinstock - gleichzusetzen mit dem Volk Israel, Jerusalem und Tempel - ist durch Feuer und Schwert zerstört. Niedergebrannt und abgehauen (rroa, part. pass. qal, f.) 311 liegt er dort. Vom Drohen (mi») 312 Jhwhs gehen Weinstock und Sprößling/Garten (vgl. V.16a) ursprüngliche Aussage des Verses (15a) und ihr Inhalt nur vermutungsweise zu erheben." 307 Der Tempel als solcher ist in Ps 80 kein Gegenstand der Klage oder Begründung einer eventuellen Bitte. Nur die Epitheta Jhwhs spiegeln die Sphäre und Größe des Heiligtums wider. 308

Zur Textverderbnis in V. 16 s. die Anmerkungen zur Übersetzung. ,.Das überprüfende Nachschauen Gottes, sein Heimsuchen hat meist einen strafenden Charakter, wie etwa in der Formel über den heilswilligen und fordernden Gott: ,der die Schuld der Väter nachprüft' (Ex 34,7; N u m 14,18; Dt 5,9). Doch es geschieht auch zum Heile (Ps 8,5; 106,4; Zach 10,3). Daß Jahwe in diesem Sinne nach seiner Herde (Zach 10,3), nach seinem Weinstock sehe, erfleht Ps 80,15." (SCHREINER, aaO. 109). 310 W o in den Psalmen von Jhwhs „Rechte" (j'B') die Rede ist, ist an seine heil- und siegbringende Macht gedacht. Vgl. dazu innerhalb der Volksklagen Ps 44,4; 60,7; 74,11 309

8 9 , 1 4 ; 1 0 8 , 7 u n d FABRY/SOGGIN, T h W A T III, S p . 6 5 8 - 6 6 3 . 311

TOD qal f i n d e t sich im A T nur n o c h in Jes 3 3 , 1 2 . Dort b e z e i c h n e t es interessanterweise das Gericht Jhwhs an den Völkern. e)M3 + «p(D gehören auch dort zum Ensemble. 3,2 rriBJ, „Schelten", „Drohen", findet sich im A T allein 14x: Jes 30,17; 5 0 , 2 (Jhwh); 5 1 , 2 0 (Jhwh gegen die Söhne von Jerusalem!); 66,15; Ps 18,16//2.Sam 2 2 , 1 6 ; Ps 76,7 (Jhwh); 80,17 (mit O'JB Jhwhs nur hier); 104,7 (Jhwh gegen die Urflut); Hi 26,11; Prov

Psalm 80 - Der zertretene Weinberg

143

zugrunde. V . 1 7 b ist also nicht als Feindbitte anzusehen 3 1 3 , sondern z u s a m m e n mit V . 1 7 a als B e g r ü n d u n g für die an Jhwh gerichtete Bitte. 3 1 4 U m so mehr erfleht die G e m e i n d e gerade auf dem Hintergrund dieser A u s s a g e das gnädige Leuchten und das Zugewandtsein des göttlichen Antlitzes. D i e Beter w i s s e n um die ambivalente E i g e n s c h a f t des Antlitzes Jhwhs. E s kann sich w i e einst im T e m p e l d i e n s t fürsorglich, aber auch w i e einst g e g e n die F e i n d e bei der L a n d n a h m e und jetzt g e g e n das V o l k als vernichtend-feindlich z e i g e n . D i e Beter des Psalms flehen Jhwh g e g e n Jhwh an. D i e Segens- und Beistandsbitte V . 1 8 schließt den Bitteteil V . 1 5 - 1 8 ab. Für den „Mann der Rechten" J h w h s und d e n „ M e n s c h e n " 3 1 5

- b e i d e s steht im Parallelismus - wird J h w h s

13,1.8; 17,10; Qoh 7,5. Ein anderes Derivat der Wurzel findet sich in der Fluchandrohung gegen Israel in Dm 28,20 (nunn). Vgl. auch CAQUOT, ThWAT II, Sp. 51-56. „Der religiöse Gebrauch von ~u>i und rna: ist auf die lyrische und prophetische Literatur konzentriert. Diese Wörter sind stark anthropopathisch gefärbt und bezeichnen fast immer eine bedrohliche Manifestation des Zornes Gottes. Wenn man von Gott sagt, daß er .schreit', so bezeichnet man damit sicher nicht sein sanftes richterliches Vorgehen bei einer Verurteilung. Vielmehr sieht man in solchen Belegen in Gott einen wilden Kämpfer, der in seinem Zorn , schreit', um seine Feinde wegzujagen. Hier treten die Erscheinungsweisen Gottes als sanfter Beurteiler und liebevoller Erzieher zurück." (CAQUOT, aaO. Sp. 53). 313 So GUNKEL, Psalmen, 351.355: „Nicht: ,sie, die Israeliten, kommen um', Ewald, Baethgen u.a., denn die Deutung des Bildes auf Menschen erfolgt erst in 18, sondern mit Wellhausen: ,sie (die das getan haben) mögen umkommen'..."; KRAUS, Psalmen, 724: „17 erbittet Jahwes Einschreiten gegen die Feinde. "pB rnia ist die Gegenwart Gottes im Gericht seiner Theophanie. Verbunden mit der Bitte um Überwindung der Feinde ist eine Fürbitte für den König." Gunkel und Kraus nehmen deshalb nach Wellhausen an V.17a Emendationen vor. KRAUS (aaO. 718) übersetzt: „,Die ihn verbrannt, zerstört', mögen vergehen vor deines Angesichts Drohen!" 314 So richtig SCHREINER (aaO. 110): „Auch V. 17b könnte man auf das Volk Israel beziehen. Vor dem Drohwort Gottes - so sieht es die Schöpfungstheologie - mußte das Meer einst in die ihm angewiesenen Grenzen zurückweichen (Ps 18,16; 104,7). Seine Wirkung verspürten das Schilfmeer (Ps 106,9, vgl. 68,31) wie die feindlichen Völker (Ps 9,6) oder die gegen Sion anstürmenden Feinde (76,7). Wenn dieses Drohen als Gerichtswort sein eigenes Volk trifft, wäre auch dieses dem Untergang geweiht. Darum fleht der Psalm, daß das zomig drohende Antlitz Gottes sich in das heilvoll leuchtende verwandle." 315 Neben Ps 80,18 und Ps 8,5 sind folgende Belege fürD-nrp zu buchen: Num 23,19; Jes 51,12; Ez 2,1 (allein 28x in Ez!); Hi 16,21; 25,6; 35,8. Im Kontext von Ps 80 wird man dabei jedoch nicht an den „Davididen" oder König denken, sondern an das Volk Israel. Eine Deutungslinie, die die späteren deuterojes. Schichten ausziehen werden (Jes 41,8 ff. u.a.). Anders hingegen SCHREINER (aaO. 110): „Der Menschensohn (V. 12b) kann nach dem Parallelismus niemand anderer sein als ,der Mann dieser Rechten', also der König. Natürlich ist hier nicht die danielische Gestalt, der ,Menschensohn' (Dan 7,13) als Symbol der Gottesherrschaft, der später Heilstrager herrscherlicher Prägung wurde, gemeint. Der Ausdruck bezeichnet nur den einzelnen Menschen, einen aus der Gattung Menschheit, in Ps 8,5 allerdings, vielleicht nur zufällig, den (einen), den Jahwe nur wenig geringer als einen Gott gemacht, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat (8,6). So ist die Wendung durchaus passend

144

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

fürsorgliche Hand 3 1 6 , die für sein heilspendendes und s e g n e n d e s Handeln steht, in einem priesterlichen Tone erbeten. Diesen erwählten M e n s c h e n hat Jhwh sich „ g r o ß g e z o g e n " ("[^ riüDR) 317 . D e n sprachlichen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund für V.18 bilden das Umfeld des Königtums 3 1 8 und entsprechender alttestamentlicher Texte, die ehedem dem König und Davididen galten. Prominentester Text unter diesen ist Ps 110: 'iW 1 ? n>T DK] 1

f bn ? onn Tprrk rvitfHni) Spruch Jhwhs an meinen Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, deine Feinde als Schemel deiner Füße.

bis ich

hinlege

(V.l)

D i e W e i n s t o c k - A l l e g o r i e und Makrostruktur des P s a l m s lassen nun aber deutlich erkennen, daß bei dem „Menschen", den Jhwh sich großgezogen hat, nicht mehr an den König, sondern das Volk Israel in Gänze gedacht ist. 3 1 9 A u c h hier greift die kollektivierende Deutungstendenz der exilischen Zeit. D i e in Psalm 8 0 angelegten Grundzüge wird der jüngere Psalm 89 kräftiger und deutlicher herauskehren. Nahtlos schließt sich an V . 1 8 das Treuegelübde in V . 1 9 mit dem Wunsch nach Leben an.

als Bezeichnung für den Herrscher, den Jahwe eingesetzt und dem er seine Stellung verliehen hat. Ihm, den Gott für sich stark gemacht hat, soll er beistehen." 316 Zu der Wendung "w + rrn + v vgl. noch: 2. Kön 3,15; Ez 1,3; 3,14.22; 37,1; Esr 7,6.28; 8,31. 317 p » pi. kommt allein 19x im AT vor: Dtn 3,28; 15,7; Jes 35,3; 41,10 (Zuspruch der Hilfe Jhwhs für Knecht Jakob-Israel!); 44,14; Am 2,14; Nah 2,2; Ps 89,22 (Zuspruch der Hilfe Jhwhs für Davidide/Volk); Hi 4,4; 16,5; Prov 8,28 u.a. Vgl. dazu auch VAN DER W O U D E , THAT I, Sp. 209-211; S C H R E I N E R , ThWAT I, Sp. 348-352. 318 So auch G U N K E L , Psalmen, 3 5 3 ; T Ä T E , Psalms, 3 1 5 ; B E Y E R L I N , aaO. 1 3 f. 16 f.; S C H R E I N E R , aaO. 1 1 0 . Beide letzteren datieren jedoch den Psalm aufgrund dieser Anspielung des Textes in josianische Zeit. 319 Gegen B E Y E R L I N (aaO. 13 f.: ,J3er judäisch-jerusalemische König als solcher ist der Mann zur Rechten Jahwes; V.18 ist Königsfürbitte.") und S C H R E I N E R (aaO. 110: „Mit dem .Mann deiner rechten Hand' ist sicherlich der König gemeint... Über ihn soll Jahwe schützend seine Hand halten.") mit G U N K E L (aaO. 353: „Gemeint ist dabei nicht etwa der Messias (...), ein König (...) oder Hohepriester, was den Zusammenhang des Gedichtes ganz zerreißen würde, sondern selbstverständlicherweise das Volk.") und B E C K E R (Deutung, 572: „In Ps 80,16.18 dürften die Wendungen ,Sohn', ,Mann der Rechten' und ,Menschensohn' aufgrund des Kontextes das Volk bezeichnen. Wahrscheinlich stammen sie aus dem Bereich der Königsideologie."). - Daß in späterer Zeit dieser Vers durchaus messianisch gedeutet und gelesen werden konnte, steht auf einem anderen Blatt.

Psalm 80 - Der zertretene Weinberg V. 19: Treuegelübde

145

+ V.20 (R)

V. 19 beschließt das Klagelied mit zwei Gelübden: a) einem „Treuegelübde" zu Jhwh (19a: •jiao JiDrabi) 320 und b) einem bedingten „Lobgelübde" 3 2 1 (19bß: «"ip5 fjncöni) 322 . Einerseits gelobt die betende Gemeinde, von Jhwh (beachte das "[on) nicht abzuweichen (JTO qal) 3 2 3 , sondern ihm trotz der erlittenen Not im Vertrauen auf sein rettendes Wirken die Treue zu halten; Treue, die die Beter auch v o n ihrem Gott, dem Hirten seiner Schafe (vgl. V.2) erwarten. Andererseits verpflichten sie sich dazu, den Namen Jhwhs zu verkünden und bekannt zu m a c h e n , w e n n -

und nun k o m m t die B e d i n g u n g , unter der d i e s e s

Lobgelübde steht, - wenn Jhwh ihnen das Leben schenkt, das überhaupt erst die Möglichkeit zum Gotteslob eröffnet. D i e Bitte „laß uns leben" (vnn) bildet in Vers 19 den Dreh- und Angelpunkt. D i e G e m e i n d e bekennt sich zu dem einen Gott, Jhwh, und bittet auf diesem Hintergrund um die Verleihung von Leben. Leben ist im Zusammenhang von P s a l m 8 0 , w i e überhaupt in den Psalmen, nur in der B e z i e h u n g

320

und

Vgl. zu dem Inhalt dieses Gelübdes auch Ps 44, 19: LRNTFK am I N 1 ? N R M JIO]-«1? i m » '30. Wozu Israel sich in Ps 80,19 verpflichtet, wird Jhwh in Ps 44 anklagend vorgehalten. Denn obwohl die Gemeinde in Treu und Glauben zu ihrem Gott hielt, hat dieser sie verworfen und der Not ausgeliefert. In den Bereich der Spekulation und auch nur dahin gehören die Ausführungen von S C H R E I N E R (aaO. 111): „ C . Westermann erinnert zu V. 19 an Jos 24,16-18: ,Da antwortete das Volk und sprach: Fern sei es von uns, Jahwe zu verlassen, um anderen Göttern zu dienen ... Jahwe vertrieb vor uns alle Völker und die Amoriter, die Landesbewohner. Auch wir wollen Jahwe dienen; denn er ist unser Gott.' Ob die Verpflichtungsformel, die hinter V. 19 steht, etwa auf den Josia-Bund anspielt, ist nicht zu sagen. Die Möglichkeit besteht." 321 Zum Lobgelübde vgl. auch die Ausführungen bei W E S T E R M A N N , Lob, 4 4 : „In der KE folgt auf die Bitte das Lobgelübde, das dann oft übergeht in Gotteslob; hier wird also oft innerhalb eines Psalms die Klage in Lob gewandelt. Daß eine KV in deutlichem Gotteslob endet, begegnet bei den kanonischen Psalmen niemals, wohl aber später. [Vgl. dagegen aber Ps 79,13: M.E.] Auch das Lobgelübde begegnet in den KV selten. Das Gelübde im eigentlichen Sinn ist doch wohl ursprünglich Sache des Einzelnen, und daher hat das Lobgelübde seinen Ort in Flehen und Loben des Einzelnen. So begegnet denn auch in den babylonischen Psalmen niemals ein pluralisches Lobgelübde. Um so mehr ist zu beachten, daß es in den Psalmen der Bibel doch einige Male begegnet: In 79,13 steht es in engster Verbindung mit dem Bekenntnis der Zuversicht, 44,9 am Ende der Erweiterung des Motivs 2 4 zu einem LV 5-9. In 106,47b, 80,19 und Ps.Sal. 8,33b ist es final oder konsekutiv mit der Bitte verbunden. An den beiden letzten Stellen ist ein Handeln gelobt: ,wir wollen nicht wanken...'" 322 Zur Formel neb mp vgl. auch: Gen 4,26; 12,8; Jes 64,6; Ps 79,6; 105,1; Ps 116,13; 2. Kön 5,11; Jes 43,11; Jer 10,25 u.a. 323 Zu DO sind folgende Belege zu buchen: 3x qal im AT: Ps 53,4; 80,19; Prov 14,4; nifal: 13x: Ps 35,4; 40,15; 44,19; 70,3; 78,57; 129,5; Jes 50,5; 42,17; 38,22; 59,13; Jer 46,5; Zeph 1,6; Mi 2,6.

146

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

Konzentration auf den einen Gott zu denken. Für gelungenes Leben ist die Grundvoraussetzung die Zuwendung dieses Gottes (V.15) zu seinem Volk. Die vorangehenden Analysen haben gezeigt, daß die Volksklagen jeweils von unterschiedlichen Themen (Tempel; Land; Königtum) bestimmt sind. Auch hinsichtlich der Träger- bzw. Verfassergruppen, denen diese drei Klagelieder zuzuordnen sind, besteht keine Übereinstimmung. Während sich die Verfasser von Psalm 74 durch den deutlichen Rückgriff auf altes mythisch tingiertes Traditionsmaterial auszeichnen und somit wohl dem näheren Kreis der „Tempeltheologen" angehören, weisen die theologischen Aussagen von Psalm 80 auf einen Verfasserkreis hin, der durchaus in die Nähe der Tempeltheologen zu rücken ist, jedoch sich im Gegensatz zu dem Verfasserkreis von Psalm 74 dadurch auszeichnet, daß er das Material für die neue Situation des Exils und seiner Klagefeiern transponiert hat, indem unter anderem das Volk mit den königlichen Insignien in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Situation von Psalm 44 und seiner Verfasser ist wiederum nur vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der großen theologischen Bewegung des Exils, dem Deuteronomismus, angemessen zu verstehen. Gerade Psalm 44 vermag zu zeigen, wie das Bild von den Klageliedern des Volkes verzerrt würde, wenn man die Texte ohne Differenzierungen einem dtn-dtr Verfasserkreis zuschriebe. Die Divergenzen im Hinblick auf die Verfasser der Psalmentexte lassen sich auch an den nachexilischen Volksklageliedern zeigen, die im folgenden untersucht werden sollen. 3. Die nachexilischen

Volksklagelieder

Die in diesem Abschnitt zu untersuchenden Volksklagelieder (Ps 79; 60; 108; 83; 137; 89; 85; Jes 63 f.) stammen alle wahrscheinlich aus nachexilischer Zeit. Sie rücken damit in zeitliche Nähe zu dem „Kontrolltext" Joel 2, der von einem Aufruf zur Volksklage berichtet 324 und selber den zweiten Tempel in Jerusalem schon voraussetzt. Die thematischen Schwerpunkte bzw. Leitthemen, von denen sich die Klage der jeweiligen Psalmen leiten lassen, stimmen mit denjenigen, die in den exilischen Volksklageliedern zu erheben waren, überein, wobei jedoch, typisch für die nachexilische Zeit, gewisse Umakzentuierungen und Erweiterungen hinzukommen. Psalm 79 greift das Thema des zerstörten Tempels auf, um von dort aus den für diesen Psalm 324 YGJ Z U J 0 J ? 5_I4; 2,15-17a, dem sog. „Aufruf zur Volksklage" auch WOLFF, Aufruf, 48 ff. und PODELLA, Fasten, 156 ff.

Die nachexilischen

147

Volksklagelieder

spezifischen Komplex von Leid und Verschuldung in den Blick zu nehmen. Die Psalmen 60, 108, 83 und 137 sind in dem weiter unten folgenden Untersuchungsteil unter der Rubrik „Land/ Völker" zusammengestellt worden. Die Land- und Feindvölkerproblematik sind die beiden Brennpunkte dieser Texte. Das Charakteristische an der nachexilischen Zeit und den aus dieser Epoche stammenden alttestamentlichen Texten, die sowohl im Pentateuch als auch im Prophetenkanon zu finden sind, ist die Auseinandersetzung und Abgrenzung gegenüber den Fremd- und Feindvölkern. Daß darüber hinaus im Zuge der Rückwanderung der Exilierten und der Neuaufteilung der ehemaligen Größen „Israel und Juda" durch die persische Machtpolitik gerade auch die Frage nach dem Besitz und Verlust des ehemals von Jhwh verheißenen „heiligen Landes" aufgeworfen wurde, ist nur allzu verständlich. Der dritte Themenkomplex „Untergang des davidischen Königtums" wird in Anlehnung an Psalm 80 von Psalm 89 wieder aufgenommen, wobei die in Ps 80 schon angelegte „Royalisierung des Volkes" vollends in der Gestalt des "na und rrtfn zum Tragen kommt. Wiederum typisch für die nachexilische Zeit ist das Verschmelzen der ehemals getrennten Gruppen von Heilsprophetie auf der einen Seite und Gerichtsprophetie auf der anderen innerhalb des Kultes des zweiten Tempels. Dieses Phänomen ist schon in Joel 1 und 2 zu beobachten und hat innerhalb der Volksklagelieder seinen Einzug in den beiden Texten Psalm 85 und Jes 63 f. gehalten. „Gericht" und „Heil" treten in der Kultprophetie des zweiten Tempels unmittelbar nebeneinander und bilden somit gerade in dieser Vermittlung eine höhere Einheit.

3.1. Psalm 79-Das 1 2 3 4 5

im Gebet gewendete

Gerichtswort

Jhwh, Heidenvölker sind in dein Erbe eingedrungen, haben deinen heiligen Tempel verunreinigt, Jerusalem haben sie in Trümmer gelegt. Die Leichen deiner Knechte haben sie den Vögeln des Himmels zum Fraß vorgeworfen, das Heisch deiner Frommen den Tieren der Erde. Sie haben ihr Blut im Umkreis von Jerusalem wie Wasser ausgeschüttet, und es war niemand, der begrub. Eine Schande waren wir unseren Nachbarn, Hohn und Spott bei denjenigen, die um uns herum wohnten. Wie lange, Jhwh, willst du auf ewig zürnen, soll dein Zorneseifer wie Feuer brennen?

148 6 7 8 9 10

11 12 13

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

Schütte deinen Zorn über 1 die Heidenvölker aus, die dich nicht kennen, über Königreiche b , die deinen Namen nicht anrufen. Denn sie haben Jakob gefressen 0 , seine Aue haben sie verwüstet. Rechne uns nicht die Sünden der Vorfahren an, dein Erbarmen komme uns schnell entgegen, denn wir sind sehr schwach! Hilf uns, du Gott unseres Heils, wegen der Ehre deines Namens und errette uns und sühne unsere Verfehlungen um deines Namens willen! Warum sollen die Heidenvölker d sprechen, „wo ist denn ihr Gott?" - Es möge vor unseren Augen unter den Völkern e sichtbar werden die Rache für das ausgegossene Blut deiner Knechte. Das Stöhnen der Gefangenen komme vor dich; nach der Macht deines Armes laßf die Kinder des Todes übrig. Vergilt unseren Nachbarn siebenfach ihre Schmähung, mit der sie dich verachteten, Herr! Doch wir sind dein Volk und die Schafe deiner Weide, wir werden dich ewig preisen, von Geschlecht zu Geschlecht werden wir deinen Ruhm verkündigen.

Zur Übersetzung: a: Jer 10,25 bietet die Präposition bsi. Da aber in späten Texten der Gebrauch zwischenund *7ä schwankt, ist eine Änderung von m in Ps79,6 nicht unbedingt angezeigt. Vgl. zu dem Gebrauch der Präpositionen GK §119g ff. b: Jer 10,25 weist statt rrD^oo ein mnwtfo auf. Dazu s. u. c: Der Singular wird mit Jer 10,25 et mit Mss Vrs in den Plural geändert, te«. d: Das O'in von tlt muß nicht geändert werden. Die pc Mss ®BS K (s. BHS) haben sich von dem folgenden crun leiten lassen. e: Lies mit Qere und mit Mss D'ux f: m Imp.hif. von -in': „laß übrig"; 5 undC: nnn (Wz. ira): „befreie", vgl. Ps 105,20; 146,7. Skizze: TV3tn 1 -ftöip 'wrrnK ikdb •jn'rm d,-d i t c v.i^t Das tcri)1? •'TtÜl-rriK inte eingetroffene 1 trattin ijiy ? bmn - p n j ; nbnrnK ura 2 Gericht spu-irrn 1 ? - p ' o n "ifcn naip j'KI D^ÜI-P rra , 20 D'QS DDI IDDÖ 3 n r n a n o 1 ? obpi JÜ1? iraatöb nain w n 4

Psalm 79 - Das im Gebet gewendete

Gerichtswort

149

q n i w p t ö t c m a - i m n ns: 1 ? «]3«n m r r nn—ii? 5 v.5-12 Bitte um -pirr-K 1 ? HOK D ' U r r 1 » -[ran "[BÖ 6 Vergebung und : i m p « b -JDtÖn "ItDK mD^nn ^J» Entsühnung notön VTUTWi a p i r - n n ' 2 7 n u n m b i ' 3 j a n i n m p 1 -inn ffítím rau? tís—orn-1?« 8 -|Oí)-TDD - Q T b r W & ' r f * TO 9 :-|0(ö jün1? •n , ni»Dn J 7r -iB3i •n'rsni •rrn 1 ?« r r * D'un n n » r n a h 10 qiaitfn " p a i r m nnpa i r r i f r D ' m m v : n m n n ' n -irvn - p n r ^ i n TOK np]« -pa 1 ? Kinn 11 : ' n n -ps-irr -ittto D n s n n o p ' n - b « D'runtö í r » ^ ntöm 12 t t i n 1 ? o ^ i ü b -jb n-m -[rnriD j r ü i

-[nu i m t t i 13 v . 13 Das Volk jhwhs q n b n n -|B03 Lobgelübde

Analyse: M i t P s a l m 7 9 g e l a n g t m a n innerhalb der zu untersuchenden V o l k s k l a g e n in e i n recht s p ä t e s S t a d i u m der Entstehung und Formulierung v o n K l a g e g e b e t e n 3 2 5 . Kennzeichen,

die d i e s e s Urteil erhellen können,

sind zum einen

die

V e r w e n d u n g b e s t i m m t e r alttestamentlicher T e x t e und T e x t k o m p l e x e . B e z u g g e n o m m e n wird s o w o h l auf Prophetentexte (Jeremia; Joel) als auch auf ältere K l a g e k o m p o s i t i o n e n . Z u m anderen ist e s die T e r m i n o l o g i e , die e i n e Datierung

325

Zu den Datierungsvorschlägen, die zu Ps 79 gemacht worden sind, sei hier nur eine kleine Auswahl gegeben: Makkabäerzeif. D U H M ; BAETHGEN; OLSHAUSEN; Perserzeit: GUNKEL; Exilszeit: DEISSLER (Deissler rechnet jedoch mit Überarbeitungen in der makk. Zeit); FISCHER (Wo ist Jahwe?, 2 1 6 : exil. Kern mit späteren makk. Überarbeitungen); VEIJOLA (Verheissung, 1 0 7 u. passim: exilisch/nachexilisch); JANSSEN (Juda, 1 9 f.); SEYBOLD (Einführung, 8 7 ; Asaph-Psalmen, 1 4 5 f.); ILLMAN, Thema, 2 8 ; M O W I N C K E L (Psalmenstudien VI, 4 2 ) rechnet noch mit einer Entstehung kurz nach der Eroberung unter Jojachin; SCHELLING (Asafspsalmen, 216 f.): „Als volksklaaglied hoort Ps. 79 oorspronkelijk thuis in de cultus. De totale psalm ademt een cultische sfeer. Wat we van Ps. 74 hebben gezegd, geldt in ruime mate ook voor Ps. 79; alleen weidt de laatste minder uit over het verwoeste heiligdom. In vs. 1 noemt hij de ontwijding van de heilige tempel en wellicht doelt hij in vs. 2 met de knechten op de cultusdienaren. Het gedieht zou gebruikt kunnen zijn tijdens liturgische plechtigheden, waarin men de catástrofe van 587 herdacht. Van zulk een herdenking gingen verootmoediging en vermaning uit. De auteur (of de bewerker) zal behoord hebben tot de gelederen van cultische klingen van na de ballingschap." - Die Datierung des Textes in die makkabäische Zeit geht schon auf die Kirchenväter zurück (vgl. B A E T H G E N , Psalmen, 2 4 9 : Theodor v. Mops.; Theodoret; Athanasius u.a.). Äußerst beliebt sind in diesem Zusammenhang ganze Belegketten aus den Makkabäerbüchern, die die vermeintliche geschichtliche Situation von Ps 7 9 charakterisieren sollen: l.Makk 1 , 3 0 - 3 9 . 4 6 - 5 2 ; 2.Makk 8 , 2 - 4 . Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, daß l.Makk 7,17 unseren Text kennt und voraussetzt, somit Ps 79 also schon davor entstanden sein muß.

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

150

in d i e n a c h e x i l i s c h e Zeit angeraten sein läßt 3 2 6 . A n d e r s als in den älteren „ K l a g e l i e d e r n des V o l k e s " 3 2 7 darf im Hinblick auf die Beter und V e r f a s s e r d i e s e s G e b e t e s der schriftgelehrte U m g a n g mit alttestamentlichen T e x t e n und w o h l auch schon „Büchern" vorausgesetzt werden. K l a g e und Bitte, die auch in d i e s e m

G e b e t das G e r ü s t a u s m a c h e n ,

werden dabei gerade

unter

Zuhilfenahme entlehnter Worte formuliert. D e r m a s o r e t i s c h e Überlieferungszustand des P s a l m s ist gut, s o daß auf größere textkritische Eingriffe verzichtet werden kann. A u c h literarkritische Operationen 3 2 8 k o m m e n nicht in Betracht. In metrischer Hinsicht ist ein W e c h s e l z w i s c h e n Trikola und B i k o l a zu verzeichnen. Es ergibt sich folgende Gliederung, die der A u s l e g u n g zugrunde gelegt wird: 329 :

326

Die direkten und indirekten Bezugnahmen von Ps 79 auf andere alttestamentliche Texte sind mannigfaltig. Neben den wichtigen inhaltlichen Bezügen (direkte, aber veränderte Zitate!) in V.6.7 zu Jer 10,25; V.4 zu Ps 44,14 sind weitere stichwortartige Aufnahmen atl. Texte zu verbuchen: V.l: (Jer 26,18; Mi 3,12); V.2: (Jer 7,33; 16,4; 34,20) V.5: (Ps 89,47); V . l l : (Ps 102,11); V.13: (Ps 102,22). Zu dem Verhältnis von Ps 79 zu Jes 63 f., vgl. FISCHER, 214 F., wobei die im einzelnen bestehenden Bezüge zwischen diesen beiden Texten durchaus differenzierter gesehen werden müßten. Zu weiteren Textbezügen vgl. auch die Tabelle bei RAVASI, Salmi II, 658. 327 Zu diesen „älteren Klageliedern des Volkes" gehören Ps 74, Ps 80 und Ps 44. Deutlich erkennbar, setzt Ps 79 diese Texte voraus. 328 Vgl. auch REVENTLOW, Gebet, 1 9 3 : „Im Unterschied zu der Meinung von H . J . Kraus, der mit Eingriffen rechnet, die der Text in seiner Überlieferungsgeschichte erlitten habe, und das Metrum für tief gestört hält..., kann man in Ps 79 eine wohlgeordnete Struktur erkennen, die mit den Stilmitteln hebräischer Poesie ... kunstvoll arbeitet und so der gedanklichen Gliederung eine genau entsprechende Form veleiht [sie!]."- Die Umstellungen, die D U H M (Psalmen, 308 ff.) zwischen Ps 79 und Ps 80 vornimmt, muten recht aben-teuerlich an. 329 Zu der vorgeschlagenen Gliederung vgl. auch: KITTEL, SCHMIDT, VEUOLA, Verheissung, 124, FISCHER, W O , 214 und SCHELLING, Asafspsalmen, 43: A . klacht over de nood van het volk 1-4:1. tempel en stad verwoest door de n'i] 1 /II. de inwoners vernietigd en bespot 2-4: 1. de inwoners vernietigd 2-31 2. het volk bespot 4 // B. gebed om bevrijding 5-12: I. gebed om straf voor de eru 5-7 / II. gebed om vergeving van de zonde 8-9 / III. gebed om straf voor de D ' U en bevrijding voor het volk 10-12 // C. lofprijzing 13- Die von R E V E N T L O W (Gebet, 194 ff.) vorgeschlagene Einteilung: V.1-3(4). V.5-7. V.8-10a. V.10aß-12. V.13, vermag hingegen nicht zu überzeugen. Eine andere Gliederung auch bei RAVASI (Bd. II, 661): V. 1 - 4 / V.5-9// V. 10-13. Vgl. auch VAN DER L U G T (Structuren, 330 f.): I.: V . l ^ t / II.: V.57-V.8-9/ III.: V.10-12-B.: V.13. - Wieso WESTERMANN (Lob, 40) in seiner Skizze zu Ps 79 V.l3a („Wir, dein Volk und Herde deiner Weide") als „Bekenntnis der Zuversicht" zwischen Klage (V.l.4.5) und Bitte (V.8.9.6) positioniert, bleibt wohl sein Geheimnis.

Psalm 79 - Das im Gebet gewendete Gerichtswort

151

Gliederung: A.: V . l - 4 - Das eingetroffene Gericht B.: V.5-12 - Die Bitte um Vergeltung und Entsühnung C.: V . 1 3 - D a s Volk Jhwhs A. Das eingetroffene Gericht

(V.l-4):

Die Not- und Situationsbeschreibung, somit auch die Ursache für die erhobene Klage, setzen mit der für diese Psalmengruppe typischen invocatio Jhwhs ein 330 . Ihm, dem Gott Israels, wird das folgende Gebet von seiner Gemeinde vorgebracht. Achtet man genauer auf die Verwendung der Ausdrücke für Gott, so kann man leicht erkennen, daß der eigentliche Name für den Gott Israels, nämlich Jhwh, nur in der klagenden Frage von Vers 5 vorkommt, während sonst Elohim oder Adonai gebraucht werden. Mit der Notbeschreibung setzt das Gebet ein. Die Beschreibung der eingetroffenen Katastrophe folgt dabei einem bestimmten Gefälle. Zuerst wird die Entweihung und Zerstörung der allerheiligsten Orte und der Kultstätte beklagt (V.l), bevor das eigene menschliche Schicksal in den Blick genommen wird (V.2—4). In ein Trikolon gefaßt, eröffnet V. 1 die Beschreibung der gegenwärtigen klagevollen Situation. „Heidenvölker" (vgl. V.6.10) sind in dienen: 331 Jhwhs eingefallen, der Tempel ist entweiht 332 worden. Interessanterweise wird in 330

Vgl. zur „invocatio" auch Ps 44,2; 60,3; 74,1; 80,2 und Thr 5,1. Dazu G U N K E L (Einleitung, 121 f.): „Diese Sitte erklärt sich aus einer Urzeit, da die Betenden viele Götter kennen, und das Gebet daher zunächst den Namen des Gottes nennen muß, an den es sich richtet, damit dieser es vernehme und herbeikomme. Derselbe Brauch im Klagelied des einzelnen ... Daher ist es auch verständlich, daß diese Anrufung des Gottesnamens an den wichtigsten Stellen im folgenden Gebet wiederholt wird: die Betenden haben sich dadurch ursprünglich vergewissert, daß der Gott ihren Worten Gehör schenkt..." 331 nbra, im Psalter 21mal belegt, wird in den Pss - wie auch im übrigen AT - im Sinne vom „Land Israels" (so Ps 78,55; 68,10) oder für das „Volk Israels" (Ps 74,2; 28,9) gebraucht. In Ps 79,1 jedoch ist mit rV?m der Tempel und das Tempelareal gemeint, vergleichbar mit Ex 15,17 („Berg deines Erbbesitzes"). Zu Ex 15 vgl. S P I E C K E R M A N N , Heilsgegenwart, 96-115. Zum Verhältnis von Ex 15 zu Ps 79, ebenda, 109, Anm 41.- Zur Verwendung von N ^ M für das Volk, vgl. auch aaO. 147, Anm.31. - F I S C H E R , Wo ist Jahwe?, 214, irrt, wenn sie unsere Stelle parallel zu DL) und " P I N N ]KÜ(V.13) auf das Volk Israel bezieht und darin eine weitere Parallele zu Jes 63 f. erkennt. Im Gegensatz zu V.2 geht es in V.l gerade um die „heiligen Stätten". So richtig auch REVENTLOW, Gebet, 197, Anm. 25. Zu RRTM s. auch LIPINSKI, ThWAT V, Sp. 342-360, bes. 358 und W A N K E , THAT II, Sp. 55-59, bes. 58. 332 Zu H O B , vgl. auch M A A S S , THAT I, Sp. 6 6 4 - 6 6 7 und A N D R £ ( R I N G G R E N ) , ThWAT III, Sp. 3 5 2 - 3 6 6 , bes. Sp. 3 6 3 f. - Zu unserer Stelle bemerkt GUNKEL richtig: „Das Gedicht BEGRICH

152

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

d i e s e m P s a l m nur v o n „Heidenvölkern" und den „Nachbarn" geredet, während d a s s o n s t g e b r ä u c h l i c h e V o k a b u l a r für die F e i n d e , a n « und

s i c h nicht

findet. D i e Stadt Jerusalem ist in Schutt 3 3 3 und A s c h e v e r s u n k e n ( T e m p o r a d u r c h w e g i m Perfekt gehalten). E s sind die h e i l i g e n Stätten Israels, d i e hier b e t r o f f e n sind. D e r T e m p e l , der Ort der Präsenz Jhwhs, Jerusalem, d i e Stadt D a v i d s , sind den Feinden z u m Opfer gefallen. Klimaktisch und dramatisch ist das zerstörerische

W e r k der H e i d e n v ö l k e r in W o r t e n

festgehalten:334

bDVi) 335 ist v o n den

e i n g e d r u n g e n - e n t w e i h t - zerstört. D a s H e i l i g t u m

H e i d e n g e s c h ä n d e t (KDB). Deutlich wird in den Formulierungen d e s P s a l m s auf kultische

Terminologie

Sühnegedanke,

und k u l t i s c h e s

der in V . 9

thematisiert

Denken wird,

zurückgegriffen. und

die

Häufung

Der der

„ S ü n d e n b e g r i f f e " in V . 8 und V . 9 , w e i s e n darauf hin. T e m p e l und Stadt sind b e t r o f f e n . 3 3 6 D a ß Jerusalem hier n e b e n d e m T e m p e l e x p l i z i t e r w ä h n t w i r d , w e i s t auf die späte Zeit der Entstehung d i e s e s G e b e t e s ( v g l . n o c h P s 1 3 7 ) 3 3 7 .

hebt daraus absichtlich dasjenige hervor, was Jahve beleidigen und zum furchtbarsten Zorn gegen die Feinde entflammen muß ..., darum beginnt es la, ebenso wie ) eine erleichternde Formulierung 9.) 108,11 weist gegenüber 60,11 (TIÜO TB) ein i ß D TB auf 10.) in 108,12a ist im Vergleich zu 6 0 , 1 2 a ein nn« weggefallen.

Vergleiche dazu die folgende Aufstellung: Ps 57, 8-12 '31? pro D'nbK n1? pro 8 '•ras m i r 9 :mnmi rrrtöK nnitf ¡ T V I M t m i bnan rrvu> tD'D«-^ p n m !rm D'Din -pin io qrran D'pnitf-~!i>i -pori d'QÖ-tj; II TE» p u n - b n bv DT6k D'ntö-bü n n n 12 Ps 60,7-14

rinn -p'o' ninöin "['TT jiübrv p n b 7 poui DDIÖ npbrm N R ^ A « "itfipa I M ¡RRTBK 8 :'ppnn rnirr 'itfm n»o nnsKi ntzto 'bi -iü'jj 'b 9 :'i?innn nefrs -pbttfK arur 1 ?» ' s m TD 10 :Dn«-"tD '3m 'n i i m TJJ 'J^T 'n 11 n r n u a x a D'n1?« KsrrK1^ ynrar D T 6 K nnn-nbn 12 :DIH nuictfri -IÜD m i r u y n n n 13 nr-is Di3' «im ' r r r n t o D'n^Kn 14 : T I M ITDO

409

V g l . d a z u a u c h TOURNAY, R B 9 6 ( 1 9 8 9 ) , 2 5 , RAVASI, S a l m i III, 2 2 1 f.

177

Psalm 108 - Das Loben Jhwhs unter den Völkern Psalm 108 läßt sich in folgende Teile untergliedern: 410

I. V. 2 - 5 : Selbstaufforderung zum Lob und Hymnus I II. V . 6 - 7 : Aufruf und Bitte I III. V . 8 - 1 0 : Selbstpreis Jhwhs IIV. V. 11-12: Klage I V. V.13: Bitte I VI. V.14: Bekenntnis der Zuversicht Skizze: arö T o m T B l DY!1» n 1 ? p : 2 V.2-5 Lob und :Tn3"*]K m n m i riTttfK Hymnus nnctf r r n m n m "xun rm:> 3 t D ' D ^ D - p n m i mrr d ' d m -[-nt* 4 :~|noK n'pntü-nui "pon D'mö-^n V n r o 5 q - n r o p K r r b s bm DTib« D'oertu n o n 6 - | r n ' n r e i i n J T T ]i:6iv junb 7

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Bitte

DTI1?»« 8 v.8-10 Gotteswort r p p n n r n v r 'tum rmn a n a o mö:n ? -w1?: ^ 9 u i s n i K nttf17B-''7J> '"an ' s r n TO a r a 10 : N «

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n r n r c m dti 1 ?« noi-kVi unrat n'n'^-K'pn 12 v . 11-12 Klage : m « rmizin «iiöi u m m i s i ^ T o n 13 v.13 Bitte : i r t i 013' «im ^ n - n ö w

410

14 V.14 Bekenntnis der Zuversicht

Vgl. dazu auch den Gliederungsvorschlag bei M I L L A R D (Komposition, 60): V.l: Überschrift; V. 2a: Vertrauensäußerung; V.2b-5: Ankündigung eines Dankliedes; V. 6 f.: Bitte mit Begründung; V. 8-10: Zitat eines Orakels; V. 11-13: erneute Bitte; V. 14: Vertrauensäußerung. Der Aspekt der Klage und des Klageteiles kommt bei dieser Gliederung von M I L L A R D nicht mehr zur Geltung. Genauso überraschend klingt sein im Anschluß an dieses Schema von ihm getroffene Urteil: „Die Disposition mit der einleitenden und abschließenden Vertrauensäußerung legt für Ps 108 insgesamt die Bezeichnung Vertrauenslied nahe. Doch ist die Nähe der Neukomposition dieses Psalms mit ihrer Lobliedankündigung in der ersten Hälfte zu den Weisheitspsalmen mit klagendem Schluß beachtlich. Von daher erklärt sich auch das Weglassen der zweiten Vershälfte in Ps 108,2a gegenüber der Vorlage: Ps 108 ist keine Dichtung, sondern Prosa." - Was auch immer das heißen mag. Und weiter: „Auch Ps 108 fügt sich damit in das gewonnene Bild: Die Rückwendung vom Lob in die Klage ist ein weisheitliches Motiv." (Komposition, 60). Vgl. dagegen die dem Text angemessenere Gliederung von RAVASI (Salmi III, 223). V.2-5: „Preludio di todah"; V.6-7: „Doppia antifona"; V.8-10: „II grande oracolo divino"\ V.l 1-13: ,jMmentazione sulpresente e attes dell' irruzione di Dio"; V.M., Antifona finale".

178

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Analyse: Mit einer Vertrauensaussage eröffnet das erste Kolon den jetzigen Psalm. „Mein Herz ist fest (gegründet), Jhwh." - Die Gemeinde - das Ich ist hier wie im folgenden kollektiv zu begreifen - eröffnet die Anrufung Jhwhs (vgl. D'tfTK) mit dieser grundlegenden Bestimmung 411 . Das darauffolgende Kolon bietet die beiden Kohortative mom und ¡TViöR, die - wie es auch der Beter in Ps 57 beabsichtigt hatte - das solenne Gotteslob einleiten sollen. Es ist die Selbstaufforderung zum Lob und Preis Jhwhs. Die beiden gewählten Verben sind die klassischen Ausdrücke für die Eröffnung der hymnischen Diktion. „Singen" und „Spielen" 412 leiten gleichzeitig zu der Aufforderung an die Instrumente in V.3 über. Doch anders als in Ps 57 schließt V.2 mit einer durch *]R413 angeschlossenen Hervorhebung von TQ3. Das „Ich" (die Gemeinde) und der Kabod stimmen das Loblied an. Die inhaltliche Aussage von V.2 ist so zwischen die Pole Jhwh auf der einen und Kabod der Beter auf der anderen Seite gespannt. Der Kabod - die göttliche Anteilgabe an den Menschen - fällt mit in das Lob ein und gibt Jhwh die Ehre. „Wo also in den Psalmen zu den verschiedensten Zeiten und in verschiedenen Perspektiven von TOS und verwandten Phänomenen gesprochen wird, ist Jahwe niemals fern. Darin liegt überhaupt die Eigenart der göttlichen Herrlichkeit ... Sie ist überall als Entäußerung des (im Tempel thronenden) Deus praesens, ohne in den Pantheismus abzugleiten, weil sie - schon in ihrer terminologischen Unfaßbarkeit aufscheinend - unverfügbare, freie Gnadengabe Jahwes bleibt. Sie gründet den Menschen und gewährt ihm Heil, ohne auf Heilsgeschichte zu basieren. Jahwe gibt dem Menschen und der Welt Herrlichkeit, ohne sich zu berauben. Und Aufgabe des Menschen und der Welt ist die Rückerstattung des Empfangenen, ohne sich ihrerseits zu berauben,

411 Vgl. zu 2b + 1133 auch Ps 78,37 und 112,7. Als fest gegründet (]133 nif.) wird sonst im AT der Erdkreis (tan: Ps 93,1; 96,10) oder der Thron Davids (2.Sam 7,16.26) bezeichnet. 412 Die Wurzel not (pi.) kommt allein 38x in den Psalmen vor. Als Selbstaufforderung zum Lobpreis findet sich m o m noch in: Ps 7,18; 9,3; 18,50; 27,6; 59,18; 61,9; 71,22.23; 75,10; 101,1; 104,33; 144,9; 146,2. In 57 Psalmenüberschriften erscheint das entsprechende Nomen -NOTO. Vgl. dazu BARTH, ThWAT II, Sp. 603-612. 413 Es handelt sich hier um den Gebrauch der Konjunktion die das folgende Glied hervorhebt. Vgl. GK § 104c. Eine Änderung nach mii) von Ps 57,9 ist nicht notwendig. Dazu M I L L A R D (Komposition, 60, Anm. 3 3 3 ) : „Schwieriger ist hingegen der Schluß von Ps 108,2: HiaS"«)« (,Zorn meiner Ehre') sollte angesichts der nochmals anderslautenden Übersetzungen nicht vorschnell entsprechend Ps 57,9 korrigiert werden."

Psalm 108- Das Loben Jhwhs unter den Völkern

179

nämlich als Gotteslob. Wahres Leben kann nur Loben sein ... ." 414 „Herz" (2*7) und „Herrlichkeit" ( m s ) des Menschen bilden die Klammer um das anzustimmende Gotteslob. Der Aufforderungsstil setzt sich in V.3 fort. Der Blick wendet sich von der „Herrlichkeit" der Beter zu den typischen Musikinstrumenten altisraelitischer Psalmenmusik, Harfe und Leier ("733 und TTO)415. Sie sollen aufwachen ("TU? III, Imp. qal.) 416 und in den Lobpreis Jhwhs mit einstimmen. Es ist nicht Jhwh, der wie in Ps 44,24 zum Aufwachen aufgefordert wird, sondern die Instrumente, die mit den Betern zusammen das „Morgenrot" ("intö)417 wecken sollen. Die Zeit der Morgendämmerung und des frühen Morgens nach dunkler, vergangener Nacht, ist die Zeit für die Hilfe und das Heil Jhwhs am Morgen.418 Die Dunkelheit der Nacht, das Chaos, die Gegenwelt, sind am Morgen gebannt. Epiphanie und eingreifendes Helfen Jhwhs können mit dem anbrechenden Tag, mit dem neuen Licht erwartet werden. Die Metapher der Morgenröte steht für die Heilszeit, für das Eingreifen Gottes. Das heißt also nicht, daß davon ausgegangen werden muß, daß Ps 57 und somit auch Ps 108 nur am Morgen gebetet werden konnten. Die Metapher hat sich von jeder zeitlichen Beschränkung und Verortung gelöst und steht für die Konnotation der göttlichen Hilfe. Aufwachen und Aufwecken bilden das Gerüst des Bikolon in V.3. Die Wurzel TU? steht im Mittelpunkt. Die beiden Stichen in V.4 sind im Parallelismus membrorum geformt. Jhwh steht im Mittelpunkt. V.4a streicht das Loben und Danken der Gemeinde (rrr, hif.) innerhalb der Völker heraus (D'NA und D'QK)419. V.4b bringt den Aspekt des Spielens (int) hinein und knüpft damit an V.3 an. Zusätzlich bewirkt der Gebrauch dieses Verbums (mr) eine Inclusio zum Anfang des Psalms in V. 2b. Für die Gemeinde und ihre Tradenten der Psalmen, die die Neukomposition von Ps 108 vorgenommen haben, ist gerade das Moment des Gotteslobes angesichts der Völker und mitten unter ihnen das zentrale Anliegen. Durch den Makrokontext wird man auf die im folgenden aufgezählten drei Völker 414

SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 225. Vgl. zu den Bezeichnungen für die Musikinstrumente und deren Identifizierung mit den aus dem Alten Orient bekannten Instrumenten, SEIDEL, Musik, 73-129.144-156. "733 415

außer Ps 108 noch: Ps 33,2; 57,9; 71,22; 81,3; 92,4; 144,9; 150,3. V o n den 41 B e l e g e n im A T z u 1133 a l l e i n i n d e n P s s : P s 3 3 , 3 ; 4 3 , 3 ; 4 9 , 5 ; 5 7 , 9 ; 7 1 , 2 2 ; 8 1 , 3 ; 9 2 , 4 ; 9 8 , 5 ; 147,7; 149,3; 416

137,2;

150,3.

Zur Form vgl. noch: Ps 44,24; 57,9 (2x); 59,5. Zu-irrc) vgl. noch: Jes 8,20; 14,12; Hos 6,3; Jo 2,2; Ps 22,2; 57,9; 139,9. 418 Vgl. JANOWSKI, Hilfe 1989, 180 ff.; SPIECKERMANN, Erde, 433, zu Ps 57,9: „Dafür [seil., daß Ps 57 sich der Tempeltheologie verdankt] spricht schon die Herrlichkeitsbegabung des Beters (...), die ihn instand setzt, durch das Gotteslob aus der Nacht der Bedrohung heraus die Zeit des Morgens, nämlich die Zeit der heilvollen Zuwendung Jahwes, herbeizusingen." 419 Zur ungewöhnlichen Form von D'DK"1» vgl. TOURNAY , RB 96 (1989), 25. 417

180

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

gewiesen. Die Beter dieses nachexilischen Textes werden dabei jedoch wohl auch die Situation Israels in Judäa und in der Gola des persischen Reiches vor Augen gehabt haben. Das Loben Jhwhs wird in und unter die Völker getragen. Es wird dadurch seinem universalen Charakter gerecht.420 „Denn groß vom Himmel herab ist deine Güte, bis zu den Wolken deine Treue." Die beiden Kola von V.5 (Parallelismus membrorum) bieten die Begründung für das ergehende Gotteslob. An Jhwh sind seine „Güte" (ion) und „Treue" (nnK) zu rühmen. 421 Genauso groß und universal wie das Gotteslob sind auch die beiden wichtigsten und theologisch stark besetzten Begriffe und Eigenschaften Jhwhs. Beide, Treue und Güte, erstrecken sich über und bis zum Himmel, umspannen in ihrer Größe Erde und Völker. Die „Güte" strahlt vom Himmel und über den Himmel herab, die Treue reicht bis zu den Wolken (D'pntf)422. Im Wissen um diese Dimensionen können Lob, Bitte 420

TOURNAY (RB 96, 1989, 26): „Déjà le vA ,je te rends grâce parmi les peuples' donne à la suite une portée tout à fait universaliste." „II annonçait l'humiliation du paganisme environnant et l'avènement du Règne de Dieu dans l'univers." Vgl. dazu die eher erheiternde Kommentierung der Stelle Ps 57,10 durch DELITZSCH (Psalmen, 400): „Sein Lobgesang soll aber nicht in engem Räume kaum gehört verhallen: er will als Evangelist seiner Rettung und seines Retters in der Völkerwelt auftreten ..., sein Beruf geht über Israel hinaus, die Erlebnisse s e i n e r Person sollen der M e n s c h h e i t zugute k o m m e n - wir v e r n e h m e n hier das Selbstbewußtsein einer allumfassenden Mission, welches David von Anfang bis zu Ende seiner königlichen Laufbahn begleitet hat..." 421

Vgl. zu V.5 auch die recht freie Übersetzung von HOUTMAN (Himmel, 174): „Ja, eindrucksvoll (manifestiert sich) vom H i m m e l . . . deine Barmherzigkeit, und zum Firmament ... (erhebt sich) deine Treue." 422 crprrii findet sich noch in: Ps 18,12; 36,6; 57,11; 68,35; 77,18; 78,23; im Sg. noch in: Ps 89,7; 89,38. Vgl. dazu auch die einschlägige Arbeit von HOUTMAN, Der Himmel im Alten Testament; hier bes. zu cpnitf S. 2 0 ff. Treffend bemerkt HOUTMAN: „ A u s der Verwendung von apnälpnä gewinnt man den Eindruck, daß es ein poetisches Äquivalent zu •'oitf darstellt. Genauso wie D'DÖ ist D'pna) - wie croef wird es in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet - mit Sicherheit eine eher allgemeine Umschreibung und nicht eine Bezeichnung einer bestimmten Gestalt des Himmels." Rührend dagegen wirken seine Bemühungen, eine nähere Einordnung der Wolken vorzunehmen: „An anderen Stellen (Jer. 51:9; Ps 36:6; 57:11; 108:5; Hi 35:5) ist nicht an (einen) tiefhängende(n) Wolken(himmel) zu denken, da an genannten Stellen angenommen wird, daß cpne) weit von der Erde entfernt sind. Höchstens können die weit von der Erde entfernten Federwolken (Cirrostratus-Wolken) gemeint sein. D i e Übersetzung ,Wolken' führt an diesen Stellen zu einem Antiklimax." (AaO. 22). Bei der Übersetzung von cpnti wird man sich der Aporie von HOUTMAN (aaO. 24) anschließen müssen: „Wir können schließen, daß die alttestamentlichen Angaben Joüons Meinung unterstützen, daß D'pnö nicht die Bedeutung .Wolken' hat; jedoch kann D'prifö zur Umschreibung des Wolkenhimmels verwandt werden. Wie kann man c'pntö am besten übersetzen? W i e auch in vielen anderen Sprachen fehlt im Deutschen ein adäquates Synonym für Himmel. Darum ist keine uniforme Übersetzung möglich. Die Übersetzung . L u i t (Lüfte)' ist zu allgemein und zu wenig spezifisch; die Übersetzung .Firmament' und ,die Höhe' sind dagegen wieder zu spezifisch. Man wird sich bei der Übersetzung von O'prœ) durch den Kontext leiten lassen müssen."

Psalm 108 - Das Loben Jhwhs unter den Völkern

181

und Klage vor Jhwh gebracht werden, ion und nnK423 sind groß (Vni). Die in Ps 108 in Veränderung zu Ps 57 gebrauchte Präposition bva macht diese Aufund Abwärtsbewegung, die Tragweite und Erstreckung beider Größen deutlich. 4 2 4 Es gibt keinen Raum zwischen Himmel und Erde, der Jhwh verschlossen bliebe. Die sich anschließenden Verse 6 (= Ps 57,12) und 7 (= Ps 60,7) bilden die auf den Lob- und Hymnusteil folgende erste Bitte des Volkes. Jhwh selbst, dessen Güte und Treue Himmel und „Wolken" umgreifen, wird aufgefordert, sich als der Pantokrator über eben diesen Himmel, der sich über Israel und den Völkern erstreckt, zu erheben (nnn, imp. q.) 425 und seine Überlegenheit zu erweisen. Die Gemeinde erbittet von Jhwh seine göttliche, herrliche Überlegenheit, die sich in der Situation der Beter unter den Völkern als rettender Gegenwartserweis realisieren möge. Himmel und Erde gehören Jhwh. Der transzendente Gott ist durch seine Herrlichkeit (TOS) immanent auf Erden. Das Kolon V.6b schließt damit nicht nur den Reigen der zu preisenden „Eigenschaften" Jhwhs ("ion; noK; TOD) ab, sondern verdeutlicht im Rückbezug auf V.2b den inneren Zusammenhang von Geber und Begabten, Geschenk und Beschenktem. Erst durch die Anteilgabe

423

no« ist allein 37x in den Pss belegt: Ps 15,2; 19,10; 31,6; 45,5; 51,8; 85,11.12; 89,15 u.a. Vgl. dazu auch JEPSEN, ThWAT I, Sp. 313-348: „So ist no» etwas, was Gottes Wesen bestimmt, was zu Gottes Gottheit gehört, was den Menschen auf diesen Gott vertrauen läßt, no« ist Gottes Zuverlässigkeit, die dem Menschen zugewandt ist, so daß er bei ihr Schutz suchen darf." (Sp. 340 f.). 424 Der Vorschlag von HAL (S. 782), "an wie - angeblich auch - in Gn 40,19; Hi 19,6 und Est 3,1 mit „über ... hinaus" zu übersetzen, greift zu kurz und zerstört den Sinn, der durch die bewußte Setzung der Präpositionen ausgedrückt werden soll; auch RAVASI (Salmi III, 219) bringt dieses in seiner Übersetzung („Grande fin sopra i cieli b il tuo amore") nicht zum Ausdruck. Dazu auch HOUTMAN (Himmel, 175): „Wenn Ps 57:11 in der Tat die Priorität im Vergleich mit Ps. 108:5 besitzt, dann kann man nur sagen, daß die Ausdrucksweise durch die Veränderung v o n i s in ^ a a erweitert wurde." Vgl. zu dem Präpositionenwechsel zwischen 108,5 und 57,11 auch SPIECKERMANN, Erde, 434, Anm. 33. 425 nrni auch noch in Ps 21,14; 57,6; 57,12. Die partizipiale Wendung m in den jüngeren Psalmenstellen 113,4; 138,6; 46,11; 99,2 streicht die Aussage der Beter in Ps 108 deutlich heraus. Jhwh soll sich gegenüber den Völkern als der alleinige, mächtige Gott und letztendlich auch als Schöpfer erweisen. Ps 99,2: „Groß ist Jhwh in Zion, erhaben ist er über alle Völker (D'nan- 1 »- 1 » um d u 'tiu ]vsa m ) " ; Ps 113,4: J h w h ist erhaben über alle Völker, und seine Herrlichkeit über die Himmel!" ( m m D'Döi mrr crirtrr'pi) Di). Die Vorstufe zu diesen Aussagen bietet das tempeltheologisch geprägte Trishagion der Seraphen (Jes 6,3: i i i a s p r c r 1 » »bp: „Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit.").

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

an der Herrlichkeit Jhwhs ist der Beter - hier die Gemeinde - imstande, Lob und Bitte vor Gott zu bringen. 426 An die Bitte in V.6 knüpft im jetzigen Zusammenhang die folgende Bitte in V.7 (= 60,7) nahtlos an. Durch das Zusammenfügen zweier „Bitthälften" der beiden ehemals getrennten Psalmhälften war es den Verfassern von Ps 108 möglich, sowohl aus den beiden Gebetshälften einen neuen Psalm für ihre Zeit und ihr Anliegen zu schaffen, als auch eine in sich „konsistente" Bitte zu formulieren, die die Nahtstelle nicht erkennen läßt. Der Finalsatz in V.7, der inhaltlich die Bitte bietet, unterstreicht den Gedanken des rettenden Helfens aus V.6 (fbri nif.; wö1 Imp. hif.) und erfleht das göttliche Einschreiten (po') für die Gemeinde. Notsituation und Klage, aufgrund derer die Bitte an Jhwh um seine Hilfe ergeht, verdeutlichen im Kontext von Ps 108 die in der zweiten Hälfte des Psalmes stehenden Verse 11 und 12. Vers 7 stellt sich damit als der Stimmungsumschwung vom Lob zur Bitte und Klage dar. In seinem Kern weist V.7 auf V.13 voraus und bildet zusammen mit diesem die Klammer um das Gotteswort in V.8-10 und die Klage in V. 11.12. Krasser als in Ps 60 folgen in Ps 108 auf das Lob und Rühmen durch die Gemeinde der Selbstruhm Jhwhs. 427 Dem Lob der Gemeinde unter den Völkern in V.4 entsprechend, rühmt sich der angerufene Gott seiner Macht über die drei prominenten Völker, Edom, Moab und Philistäa. Das Lob der Gemeinde wird durch die Gottesworte aufgenommen. Singular für die Psalmen, stellen die Verse 8 - 1 0 jetzt die göttliche Antwort auf die Verse 2-7 dar, wird das menschliche Rühmen gleichsam im Himmel, vor Jhwh und von Jhwh aufgegriffen und fortgesetzt. Ps 60 analog schließt sich der Klageteil in den V . l l und 12 an. Stellten diese Kola innerhalb von Ps 60 die Wiederaufnahme und Weiterführung des ersten Klageabschnittes aus 60,3-5 dar, so bieten sie dagegen in Ps 108 die erste und gleich letzte Artikulation von Klage im Gebet. Die Inclusio, die in Ps 426 Vgl. zu diesem Aspekt auch SPIECKERMANN, Erde, 4 3 3 : „Dieser von Gott verliehenen, wahrhaft herrlichen Fähigkeit steht dialektisch die Bitte um Gottes herrlichen, nämlich reuenden Gegenwartserweis gegenüber (...). Der Beschenkte kann und soll von seinem Geschenk zwar Gebrauch machen, aber nur im Wissen darum, daß beide - Beschenkter und Geschenk - bleibend einen größeren Eigentümer haben." 427 Dieses Moment wird noch durch die von den Kompilatoren vorgenommene Veränderung in V.lOb verstärkt ('iiinrn-» ninna). Es ist Jhwh als Kriegsmann, der „jauchzt" (ntSöK in V.8a) und „jubelt" (uunnn in V.lOb). Das Gotteswort ist durch beide Verben eingerahmt. Gegenüber Ps 60 ist es im jetzigen Kontext nur Jhwh, der singt und sich rühmt. Der Part Philistäas ist diesem genommen. Vgl. dazu auch R A V A S I (Salmi III, 2 2 7 ) : „Questa lista dei domini di Die e del suo alleato Israele, domini intangibili, è nei vv.8.10 da due verbi di esultanza che sembrano quasi dare all'oracolo il tono di un bolletino di vittoria: alaz (v. 8) è il grido onomatopeico di giubilo allunico signore della terra, concessa inusufrutto a Israele, la terü'ah è l'urrah! della vittoria (v. 10) e sigla questo oracolo bellico-teologico, anima delle conquiste di Israele in passato, fonte di speranza nel presente disperato."

Psalm 108-

Das Loben Jhwhs unter den Völkern

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60 durch das Wort rar gegeben war (V.3 —» V.12), ist jetzt weggebrochen. Die Klage steht in Ps 108 isolierter und überrascht in der Abfolge der Kompositionsteile. 428 Bitte (V.13) und Vertrauensäußerung (V.14) bilden wie in Ps 60 auch in Ps 108 den Abschluß des Gebetes. Im Gegensatz zu Ps 60 können beide, Bitte und Vertrauen, auf den Eingangshymnus und das Lob Jhwhs zurückblicken und sich dadurch legitimiert fühlen. Die Psalmenbeter wissen um die Wirkmächtigkeit und Macht Jhwhs, dessen Treue, Güte und Herrlichkeit die ganze Welt umspannen. Israel und die Völker leben in und unter der Herrlichkeit des Gottes Israels. Psalm 108 kann aufgrund der Tatsache, daß das mit einer umfassenden Hoffnungsperspektive verbundene Gotteslob die Klage zurückdrängt, nur noch bedingt als Volksklagelied bezeichnet werden. Daß gerade die Völker und Nachbarstaaten an sich und das Verhältnis zu ihnen für das nachexilische Israel zu einem vorrangigen Problem wurden, belegen nicht nur die Partien der entsprechenden Fremdvölkersprüche bei den großen „Schriftpropheten", sondern auch die im folgenden zu behandelnden Psalmen 137 und 83. Wenn auch in beiden Texten in je unterschiedlicher Weise der Fremd- und Feindvölker gedacht wird, so ist das beiden Psalmen gemeinsame Element in der an Jhwh gerichteten Bitte, strafend gegen die Völker einzuschreiten, zu erkennen.

3.2.3. Psalm 137 - An den Wassern Babylons An den Strömen Babels - dort haben wir gesessen und geweint, als wir Zions gedachten. An die Pappeln im Lande 3 hatten wir unsere Leiern gehängt. Denn dort forderten unsere Häscher b von uns Lieder, unsere Peiniger 0 Freude: „Singt uns eines von den Zionsliedern!" Wie könnten wir auf fremdem Boden Jhwhlieder singen? Wenn ich dich vergäße, Jerusalem, so soll meine Rechte vergessen werden. d Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich nicht deiner gedächte, wenn ich nicht Jerusalem zu meiner höchsten Freude emporhöbe.

1 2 3 4 5 6

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Warum MILLARD (aaO. 60) die Verse 11-13 zusammenzieht und als „erneute Bitte" betitelt, ohne auch nur mit einem Worte die hier formulierte Klage anzusprechen, bleibt unverständlich.

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Rechne, Jhwh, den Edomitern den Tag von Jerusalem an, die sprachen, „Reißt nieder! Reißt nieder bis auf den Grund in ihr!"6 O Tochter Babel, du Verwüstetet wohl dem, der dir heimzahlt dein Verbrechen, das du uns angetan hast.8 Wohl dem, der deine Kinder ergreift und am Fels zerschmettert!

Zur Übersetzung: a: Mit riDinn ist „Babel" (vgl. Via: taa) gemeint. b: In den exilisch-nachexilischen Texten wird der Sachverhalt der Deportation besonders mit rnö (qal) ausgedrückt: vgl. 1. Kön 8,46.47.50; Jer 50,33; Fs 106,46 und Jes 14,2. c: Die genaue Ableitung des hap.leg. *L?L?in bleibt ungewiß, vgl. HAL3, 1567 und die dort diskutierten Vorschläge („Spötter", „Plünderer"; „die, die uns in die Sklaverei führen"). Der Parallelismus membr. legt jedoch eine synonyme Bedeutung von irVyin zu •UI^HIÖ nahe. Vgl. zu dem Problem auch Spieckermann, Heilsgegenwart, 115 Anm. 2, und seine berechtigte Kritik an dem Vorschlag von Hartberger (Babylon, 207.212), rt^in mit „Dauerweiner" (= „unsere verweinten Landsleute") zu übersetzen (aaO. 212). d: Lies mit © (= emXiiadeirj) rtadn nicht als Qal, sondern als Nifal. Mit Spieckermann (aaO. 115 Anm. 3) wird man hier ein Passivum divinum anzunehmen haben. Abenteuerlich dagegen wirkt die Erklärung von Hartberger (aaO. 209): „Die Hand soll schon gleich beim Schwur ihre Vorsicht vergessen und die Kehle zudrücken. Dem entspricht auch der weitere Schwur. Die deutsche Übersetzung ,sich vergessen', die zwar semantisch abweicht, wäre angemessen." Kellermann (Psalm 137,45) hält an dem Qal fest und geht von einer verkürzten Redeweise aus. Gegen Gunkel, Psalmen, 582 (örtsn = „es versage"), Kraus, Psalmen, 1082 (tdron = „es verdorre") und Auffret, Psaume 137, 347, kommt eine Vertauschung der Radikale nicht in Betracht. e: Zum Ausdruck mcrn na ru> (Wz. rru>) vgl. auch Hab 3,13. f: tu bietet rrrntän („die Verwüstete"; Part. pass. Qal v. TTIÖ). © (rj TaXaimßpos) folgt tu. Im Gefolge von S C er' fassen es Gunkel (aaO. 582), Kraus (aaO. 1082) und Ravasi (Salmi III, 168 f.: „devastatrice") aktivisch auf („du Verwüsterin"). Kellermann (aaO. 45) möchte das rnniön „im Sinne eines lateinischen Gerundivums" (= „du der Vernichtung Geweihte") übersetzen. Hartberger (aaO. 210 f.) und Spieckermann (aaO. 116 Anm. 5) verstehen es im Anschluß an Jer 4,30 im übertragenen, moralischen Sinne von „du Verdorbene". Die Übersetzung von Loretz (Psalm 137,408) „Tochter Babel, du zur Zerstörung bestimmt!" vernebelt mehr, als daß sie Licht in die Sache brächte. Man wird es bei der Lesart von tlt belassen müssen und im Kontext von Jer 50.51 als prophetische Vorwegnahme eines zu erwartenden Geschehens ansehen müssen. g: Mit Gunkel (aaO. 582), Kraus (aaO. 1082) und Spieckermann (aaO. 116 Anm. 5) wird man V.8b als sekundären Zusatz, der sich an Jer 50,15.29; 51,11.56 anlehnt, ansehen dürfen.

Psalm 137 -An den Wassern Babylons

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Skizze: :|v:rnn

Tod

w m - b i uaz)' otb taa n r m bs 1 v . l - 4 D i e G o l a sirnrus irbn roira m i u ^ i 2 Situation nnnto l r ^ i m •viö-'-cn u r n t i UI'THIÖ DE) O 3 :¡vs T ö n -u1? w i ö n a : n r n n bs

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t'rD' nrtón abÖlT -jrDltítCDN 5 V.5-6 „Schwur" 's-om ort 1 ? ^ • t ó V p m n 6 rrinnfo (TFM bs nbitírrnK nbiJK K^-DK D^tílT DV HK a n « '32*7 m,T "131 7 V.7-9 Feindbitte : r a mo'n IJ> ru> n a a n o ^ n :xh rtoasö i ^ m r n « -fb-Q^ttí'tí n ö « rrrntín tarnn 8 i j j b o r r 1 » -p^birnK pan rrwti HOK 9

Psalm 137, der sich w i e ein erratischer Block im Psalter ausnimmt, sprengt j e g l i c h e f o r m a l e und inhaltliche E i n o r d n u n g . 4 2 9 Zeit und U m s t a n d der A b f a s s u n g durch den Psalmendichter haben ihn zu diesem Zeugnis v o n der Zerstörung Jerusalems (Zions) werden l a s s e n . 4 3 0 C h r o n o l o g i s c h g e s e h e n , gehört Psalm 137 wahrscheinlich in die frühe nachexilische Zeit. 431 Anhand der 429 Vgl. dazu auch SPIECKERMANN (Heilsgegenwart, 116): „Ps 137 antwortet auf die politische Liquidation mit der religiösen Kapitulation. Der Form nach ist der Text kaum mehr als Gebet zu bezeichnen, denn die einzige Anrufung Jahwes in V.7 leitet weder Lob noch Klage ein, sondern den Rachewunsch, der sofort über die Form des Gebetes hinauswächst. Kein anderes Ereignis als das babylonische Exil kann diese religiöse Depression bedingt haben, und folglich kommt auch kaum eine andere Epoche für die Entstehung des Psalms in Frage." K R A U S (Psalmen, 1083) unterliegt einem Trugschluß, wenn er von V. 3 ( ] V S TÍ)) her kommend glaubt, Psalm 137 einer Gattung „Zionslieder" zuordnen zu können. Vgl. zu den Versuchen, Ps 137 formgeschichtlich einzuordnen, auch die Aufstellung bei K E L L E R M A N N (Psalm 137, 52 f.). 430 Im Unterschied zu den übrigen Klageliedern des Volkes werden von diesem golaorientierten Verfasser die sonst typischen Theologoumena ausgespart. Dazu gehören: 1. der Zorn Jhwhs 2. die typischen Warum- und Wie lange-Fragen 3. die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld 4. der Blick auf das Volk 5. Aspekte der Heilsgeschichte 6. der Kontrast zwischen Einst und Jetzt. Es bleibt zu fragen, ob Psalm 137 nicht deshalb so große Unterschiede zu den anderen KV aufweist, weil der Verfasser einem anderen Kreis, nicht dem der Tempeltheologen, entstammt. 431 Für die früh-nachexilische Zeit sprechen zumindest: 1. der in V.l-3 vorgenommene Rückblick auf die Gola-Situation 2. die theologische Aufwertung von Jerusalem 3. die Konzentration auf die Gegenüberstellung der beiden Städte: Jerusalem - Babel 4. das Überwiegen des „Fluches" gegen die Fremdvölker, wobei Ps 137 als Vorstufe zu Ps 83 zu sehen wäre 5. aramäische Formenbildung in V.6 ( ^ s m ) 6. Ps 137 reiht sich in die Reihe der

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

auffälligen Struktursignale, die Psalm 137 darbietet, kann derselbe in drei Abschnitte untergliedert werden:432 I.: V . l - 4 / IL: V.5-6 / III.: V.7-9 I. Verse 1-4: Auffälligerweise setzt der Psalm in V.l mit einer Ortsangabe (nrra vgl. auch V.2) ein. Eine Anrufung (invocatio) Jhwhs ist hier unterblieben. Mit der betonten Voranstellung der Ortsangabe (Exposition der Trauersituation; vgl. zum Dtö in V. 1 auch V.3) eröffnet der Beter die für den Psalm wichtige Szene der Gefangenschaft im babylonischen Exil. 433 „An den Strömen Babels - dort friihnachexilischen Fremdvölkersprüche der Prophetenredaktion. - Folgende Datierungsvorschläge finden sich in der Literatur, wobei die exilische Situierung noch immer die klassische darstellt: I . Exilszeit: D U H M (Psalmen, 454); K R A U S (Psalmen, 1083 f.) mit seinem Votum (aaO. 1083): „Ps 137 ist der einzige Psalm des Psalters, der sicher datierbar ist."; SPIECKERMANN (aaO. 1 1 6 ) : babylonisches Exil; HARTBERGER (aaO. 200); FREEDMAN (The Structure of Psalm 137, in, Near Eastern Studies in Honor of W.F. Albright (ed. Hans Goedicke), 1971, 187); O G D E N (Prophetic Oracles against Foreign Nations and Psalms of Communal Lament: The Relationship of Psalm 137 to Jeremiah 4 9 : 7 - 2 2 and Obadiah, JSOT 24 [1982], 89 ff.); ZENGER (Rache, 108) I II. Nachexilische Zeit: G U N K E L (Psalmen, 580): kurz vor oder nach 538 in der Diaspora gedichtet; KELLERMANN (Psalm 137, 52): Zeitraum von etwa 521 bis 445 v. Chr; ALLEN (Psalms, 239): „The early years of return from exile, either before the rebuilding of the temple (537-516/5 B.C.) or of the city walls (537-445 B.C.) were evidently the period in which the psalm was composed." Auf Grund seines Kompositionsmodells von Ps 137 ist L O R E T Z (aaO. 412 f.) zu einem Sonderweg verpflichtet. So datiert er das „Edom-Lied" (V.7-9) in die Exilszeit, das „ B a b e l - L i e d " ( v . l - 4 ) in nachexilische Zeit und das „ L i e d " V.5-6 in die Exilszeit. 432 An neueren Gliederungsvorschlägen zu Ps 137 finden sich folgende: SPIECKERMANN (Heilsgegenwart, 115 ff.): V. 1-3/V.4-6/V.7-9; so auch OGDEN ( aaO. 89 ff.); LORETZ (Psalm 137, 407 ff.): V.l-^/V.5-6/V.7-9; so auch ALLEN (Psalms, 235); FREEDMAN (aaO. 188 ff.): V.1-2/V.3/V.4-6/V.7/V.8-9; HARTBERGER (Babylon, 213): V.1-4/V.5-6/V.7/V.8-9. Vgl. dazu auch die Gliederungsliste bei VAN DER LUGT (Structuren, 439): „Köster (1837): 1-4.5-9 (4.5) Meier (1853), 45^*6: 1-3.4-6.7-8 (12.12.12) De Wette (1856): 1-3.4-6.7-9 (3.3.3); zo ook Ewald (1866) Ley (1875), 229: 1-3.4-6.7-8.9 (3x 2 .Dekameter' en een slotvers) Delitzsch (1894): 1-2.3.4-5.6.7.8-9 (6x2) Von Faulhaber (1913), 15: 1-2.3.4-5.6.7.8-9 (.SubjektsWechsel') Gunkel (1926): 1-2.3.4-5.6.7.8-9 (...); verg. Duhm (1922) Condamin (1933), 180-181: 1-3.4-6.7-9 (1.3/1.3/2.2) Calfcs (1936): 1-2.3/4-5.6/7.8-9 (2.2/2.2/2.2) Herkenne (1936): 1-3.4-6.7-9; zo ook NAB (1970) Pannier/Renard (1950): 1 ^ . 5 - 6 . 7 - 9 ; zo ook Magne (1958), 194-195; verg. Dahood (1970) Kraus (1972) Kellermann (1978), 43 Kissane (1954): 1-3.4-6.7-9 (4.4.4); zo ook Mowinckel (1957), 55 Freedman (1971): 1 2.3.4-6.7.8-9 (5.4.8.4.5; a.b.m.b.a) Van der Ploeg (1974): 1-3.4-6.7.8-9 ." V A N DER L U G T (Structuren, 437) schlägt folgende Gliederung vor: I.: V.l-3/ II.: V.4- (hif.) + T » vgl. noch: l.Sam 13,22; Prov 15,5; 19,25. D'nss (Part. pass. qal von ]Bü) findet sich nur an dieser Stelle. 466 „Das Zitat ist eines der stärksten stilistischen Mittel, eine Person zu charakterisieren. Mit ihm tritt der Sprecher gleichsam in den Hintergrund und läßt den Geschilderten selbst zu Worte kommen." (KEEL, Feinde, 176). Zu den „Feind- und Gottlosenzitaten" als fingierte Zitate vgl. die Untersuchungsergebnisse von KEEL (aaO. 176 ff.). In die Reihe der Beispiele für einen Sitz im Leben dieser „Feindworte" (Rechtsleben im alten Israel; Maqlü-Serie im Alten Orient) wäre auch das Zitat des israelitischen Königs in der Mesa-Stele (KAI, Nr. 181, Z.6) einzuordnen: „Sein Sohn folgte ihm (auf dem Thron). Auch er dachte: Ich will Moab unterdrücken." (Übersetzung und Bearbeitung von H.-P. MÜLLER, in, TUAT I, 646-650). 467 Eine ähnliche Drohung und Ankündigung findet sich im AT nur noch in Jer 42,2.42 in bezug auf Moab. In einem Fremdvölkerspruch wird Moab - diesmal von Jhwh - die Ausrottung des Volkes vorhergesagt. Zu TO (hif.) vgl. noch: Ex 23,23; l.Kön 13,34; Sach 11,8; 2.Chr 32,21; Hi 20,12. Zum Ausdruck in diesem syntaktischen Zusam-menhang. 472 So auch K R A U S (aaO. 743): „Dem Bund Jahwes mit Israel tritt der .Bund' (nna), tritt die Koalition der Völker und Verbände entgegen." 4 7 3 S E Y B O L D , Asaph-Psalmen, 146 f. 474 Zur Klage und Bitte in Psalm 8 3 vgl. auch das Urteil von W E S T E R M A N N (Lob, 1 3 2 ) : „Die Klage in Ps. 83 ist völlig beherrscht von dem Bezug auf die Feinde. Auch die Bitte ist in diesem Psalm nur eine Bitte gegen." 471

Psalm 83 - Die Erinnerung an die Richterzeil

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behilft sich Israel in dieser N o t gerade dadurch, daß e s den Feind beim N a m e n nennt. Ironie der G e s c h i c h t e : D i e N a m e n v o n im L a u f e der G e s c h i c h t e v e r s u n k e n e n V ö l k e r sind gerade durch das Gebet Israels erhalten geblieben; w e n n g l e i c h - und diese Einschränkung m u ß gemacht werden - die N e n n u n g der V ö l k e r in V . 7 - 9 nicht historisch verwertbares Material liefert. 4 7 5 D i e geschichtliche Situation, aus der heraus der Psalm verfaßt worden ist, läßt sich nicht m e h r erhellen. D i e oben schon genannten Kriterien lassen - w e n n man denn eine Datierung des Psalms vornehmen möchte - auf die nachexilische Zeit s c h l i e ß e n . B e s o n d e r s b e l i e b t bei den älteren K o m m e n t a t o r e n war d i e B e z u g n a h m e auf 1. Makk 5 . 4 7 6 P s 8 3 wäre demnach mit den Ereignissen der Makkabäerzeit zu korrelieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte Psalm 8 3 j e d o c h vor der Makkabäerzeit entstanden sein. D i e Aufzählung der 10 Völkernamen (Edomiter; Ismaeliter; Moab; Hagriter; G e b a l ; A m m o n ; A m a l e k ; Philistäa; Tyrus; A s s u r (= S e l e u k i d e n ? ) ; [ S ö h n e L o t s = M o a b und A m m o n , vgl. G e n 19]) 4 7 7 wird man d a g e g e n nicht zum 475 Vgl. auch ILLMAN, Thema, 3 4 : „Diese Koalition von Nachbarvölkern spiegelt aber kaum eine bestimmte geschichtliche Situation wider, sondern ist vielmehr ein konkreter Ausdruck für das Völkersturmmotiv, das auch anderswo auftaucht." Ähnlich auch NASUTI, Asaph, 1 1 1 f. und ZENOER (Rache, 1 0 1 ) : „Gegenüber den in der Exegese immer wieder unternommenen Versuchen, diesen Abschnitt auf eine einmalige historische Konstellation hin auszulegen, muß festgehalten werden: Schon allein von der poetisch-symbolischen Konfiguration des Abschnitts her ist angezeigt, daß es um die katastrophische Seite der Geschichte Israels überhaupt geht. Die genannten Völker- und Stammesnamen stehen emblematisch für die von Israel in seiner Geschichte als feindlich erlebte und befürchtete Völkerwelt, in deren Mitte es lebt." Gegen MOWINCKEL (Worship, 197): „The background of such a psalm is some definite historical event. The enemies are real and historical; they are the ,nations' who have attacked and invaded Israel (or Judah), and now are oppressing it. In Ps. 83 the names of the enemies are explicitly mentioned: Edom, Moab, the Ishmaelites and the Hagarenes, Gebal, Ammon, Amalek, and the in habitants of Tyre, and Asshur also is joined with them." 476 Exemplarisch für viele sei hier nur auf DUHM, Psalmen, 319 ff. verwiesen: „Ps 83, dessen Inhalt sich mit dem von I Mak 5 vollkommen deckt, muß bald nach 165 a. Chr. gedichtet sein, noch vor den Erfolgen der Makkabäer in Galiläa und im transjordanischen Gebiet" (aaO. 321). 477 Die lockere Aufzahlung der Völker umfaßt Gebiete, die von Jerusalem aus gesehen im Süden (Edom), Osten (Ammon; Moab), Westen (Philistäa) und Norden (Tyrus; Assur) liegen. Zu den Völkernamen vgl. auch folgende atl. Belege: Edom: Ps 60,10; 137,7; Ex 15,15; Jes 34,5-6; 63,1; Ez 35,1-15; Ismaeliter: Gen 17,20; 25,18; 37,25-28 (vgl. dazu: K N A U F , Ismael, 1 ff.); Moab: Ps 60,10; Ex 15,15; Ri 3,12-30; l.Sam 14,47; 2.Sam 8,12; 2.Kön 3,4-24; Jes 15-16; Jer 48; Zeph 2,8-11; Jes 25,10; Hagriter (Ostarabien): l.Chr. 5,10.1920; l.Chr 27,30; 11,38 (vgl. dazu KNAUF, Ismael, 53 f. 144); Ammon und Amalek: Ri 3,13; 2.Kön 24,2; Jer 41,15; 49,1; Ex 17; Num 24,20; l.Sam 15. Gebal (Byblos): Jos 13,5; 1. Kön 5,32; Ez 27,9. [Ob es sich bei Gebal um Byblos (so TÄTE, aaO. 347) oder um einen arabischen Stamm südlich des Toten Meeres (so KRAUS, aaO. 743) handelt, ist umstritten. K N A U F (Ismael, 10 ff.) schließt einen Bezug auf Byblos aus: „Aber gbl V.8 kann unmöglich Byblos sein, das - mangels Reibungsflächen - niemals in militärische Auseinandersetzungen

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Nennwert nehmen dürfen, sondern sie als fiktives ensemble horrible werten müssen, ähnlich der beliebten Aufzählung von Völkern im DtrG. Drei der hier aufgezählten Völker - Edom, Moab und Philistäa - sind auch noch in dem späten Volksklagelied Ps 60 (Ps 60,10//108,10; vgl. zu Edom auch Ps 137,7) anzutreffen. Im Zusammenhang der Katastrophe von 587 v. Chr. spielten gerade Moab und Edom eine besondere Rolle, die ihnen ein Andenken in Israel eintrug. Verse 10-19 Die folgenden Verse 10-19 sind als Bitte gegen den Feind zu charakterisieren. Typischerweise dominiert der Imperativ-Stil. Mehrfach (V.10: ntoJJl V.12: rrttil V.14: mrntfl V.17: Rbn) wird Jhwh von der Gemeinde aufgefordert, gegen die Feinde mit vernichtendem Schlage einzuschreiten. Das, was die Feinde (vgl. V.5) sich zum Ziele gesetzt hatten - nämlich Israel zu vernichten - erbittet das Gottesvolk jetzt gegen die Völker selbst. Innerhalb dieses großen Bitte-Teiles lassen sich drei Abschnitte erkennen und voneinander abheben. In einem ersten Teil (V. 10-13) wird „unter Berufung auf die großen Ereignisse des Heiligen Krieges in der Frühgeschichte Israels das Einschreiten Gottes erfleht. Die großen Gottestaten der Vergangenheit sind für die bittende Gemeinde Exempel eines machtvollen Eingreifens, die nunmehr Jahwe vorgehalten werden: Handle wieder in dieser Weise! In der Richterzeit hat der Gott Israels in souveräner Machtbekundung jene Völker überwunden, die mit ähnlichen Vernichtungsplänen umgingen."478 Heilsgeschichte wird damit im Kontext von Psalm 83 nicht benutzt, um den Kontrast zwischen Einst und Jetzt herauszustellen oder um die glorreiche Vergangenheit heraufzubeschwören, damit sie in der Gegenwart wieder mit Israel verwickelt war. Also bezeichnet es die Landschaft el-öibäl, das Nordende von esSarä. Dieser Name für jene Landschaft taucht um 500 v.Chr. zum erstenmal auf und kann nicht viel älter sein ... ."]; Philistäa: Ps 60,10; Ex 15,14; Tyrus: Am 1,9-10; Jes 23,1-18; Jer 2 5 , 2 2 ; Ez 2 6 - 2 8 . Welche Größe mit „ A s s u r " gemeint sein könnte, ist umstritten. KRAUS denkt an das Großreich Assur (aaO. 743). GUNKEL freilich identifiziert die Nennung von Assur mit einem nordarabischen Stamm der Assuriten (Gen 25,3.18) (aaO. 365). Man wird wohl damit rechnen müssen, daß „Assur" als Deckname für eine Großmacht im Norden der nachexilischen Zeit (Perser; Seleukiden) steht. So auch TÄTE (aaO. 345): „The dating of the psalm tends to follow the historical situation presupposed. If .Assyria' in v 9 is taken as a direct historical reference, contemporary with the composition of the psalm, it would point to a date between the ninth and seventh centuries B.C.E. (...). It is more likely, however, that Assyria is mentioned as an example of one of the great world powers allied with the small states around Israel. It is rather strange that Egypt and Babylon are not mentioned, but Ezra 6:22 provides some evidence of Assyria as a stereotyped reference to a foreign power..." 478

KRAUS, aaO. 743 f. Vgl. dazu auch ILLMAN, Thema, 38.

Psalm 83 - Die Erinnerung an die Richterzeit

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zugunsten der Gemeinde für sie selber Realität werde. Heilsgeschichte wird hier im Sinne des Gerichts an den Feinden gebraucht, um Dritte ihrem gerechten Urteil zuzuführen. 4 7 9 So wie Jhwh damals durch seine charismatischen Führer und Richter das Volk rettete (Debora und Barak gegen Sisera und Jabin: Ri 4 f.// Gideon gegen die Midianiterfürsten Oreb, Seeb, Seba und Zalmunna: Ri 7 f.) so soll Jhwh jetzt in analoger Weise rettend eingreifen. 480 Der Charakterisierung der gegenwärtigen Feinde der Gemeinde entsprechend (V.5), wird auch den „klassischen" Feinden ein sonst - auch gerade in den Traditionen der Schichten des Richterbuches - nicht belegtes Zitat in den Mund gelegt. In einem Akt performativer Rede481 wird ihr gottwidriges Treiben auf einen Nenner gebracht. Die Auen Gottes (DTi^K miu) 4 8 2 , Land und Erbbesitz Jhwhs wollen sie in Besitz nehmen (e)t: Landnahmeterminologie), damit die Landnahme Israels rückgängig machen. Zwei weitere Teile von Feindbitten (V.14-16// V.17-18) schließen sich an diesen ersten Block an. Schwerpunkt und gestecktes Ziel dieser Bitten ist ebenfalls der Untergang (Vbm in V.16 und V.18) 483 der Feinde. Sind in den V. 14-16 die Bilder im weitesten Sinne der Natur entnommen und an theophane Elemente angelehnt (Radkraut, Spreu, Feuer, Sturm, Sturmwind) 484 , so werden in den V. 17-18 Schmach und Schande (V.17: ]V5p; V.18: 479

Vgl. dazu auch KÜHLEWEIN (Geschichte, 5 7 ) : „Der Bittende weist Jahwe gleichsam auf einen Präzedenzfall hin und will ihm eine Richtlinie für sein jetziges Tun an die Hand geben. Die Struktur des Redens von Vergangenem wäre dann nach Ps 83,10-12 so zu bestimmen: ,Tue den Feinden jetzt genauso, wie du ihnen damals getan hast'." 480 Zu Midian vgl.: Ri 6,1.3.6.7.33; 7,1.2.7.8.; 8,5.12; Midian-Tag: Jes 9,3; 10,26; 60,6; Hab 3,7; Sisera: Ri 4,2.7.9.13; 5,20.26.28; l.Sam 12,9; Jabin: Jos 11,1; Ri 4,2.7.17.23.24 (bis); Oreb: Ri 7,25; 8,3; Seeb: Ri 7,25; 8,3; Seba: Ri 8,5-7.12.151.18.21; Zalmunna: Ri 8,5-7.10.12.15. Zu den textlichen Problemen, die die V.lOf. aufgeben, sei nur erwähnt, daß das „Midian" in V.10 nicht in die Aufzählung paßt und zu früh kommt (vgl. V.12) und daß der Schlachtort „Endor", der sich hier auf die Midianiter in V.12 bezieht, in Ri (Ri 7,1: Tin ]'D) nicht belegt ist. Vgl. dazu auch SCHELLING Asafspsalmen, 83 f. - In den Personennamen erkennt NASUTI (Asaph, 113 f.) wiederum Nordreichstraditionen bzw. den ephraimitischen Traditionsstrom. 481 Vgl. zu dieser Charakterisierung des „Feindzitates" auch JANOWSKI (Feindbild, 1 3 7 ) im Zusammenhang von Ps 13: „Der Feind macht das Todesgeschick des Beters definitiv und zwar mittels performativer Rede (,Sprachhandlung'), wie sie im Feindzitat V.5a (,Ich habe ihn überwältigt!') formuliert wird." 482 Zurra auf Jhwh bezogen vgl. noch Ex 15,13, wo es um die Wohnstatt Jhwhs geht. Im Hintergrund von Ps 83 dürfte aber eher die spätere Verwendungsweise im PI. bezogen auf Jakob/ Israel stehen. Vgl. dazu: Ps 74,20 (pl.); 79,7 (sg.); Thr 2,2 (apa- murta). 483 Zu *»ia pi. in V.16 vgl. noch: Ps 2,5; Esr 4,4; 2.Chr 32,18; 35,21; Eccl 5,1; 7,9; Hi 22,10. Zu 'jna ni. in V.18 vgl. noch: Ex 15,15; l.Sam 28,21; Jes 13,8; Ps 6,11; 30,8; 48,6; 90,7; 104,29; Hi 21,6. 484 Zu (Radkraut: Gundlia Tournefortii L.: distelähnliche, wilde Artischockenpflanze)

202

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Verbformen "En und tön) 4 8 5 der Feinde in den Blick g e n o m m e n . S c h m a c h und Schande, die sonst in den übrigen Volksklageliedern von dem V o l k als Zeichen erlittener

Not

beklagt

werden,

rücken

hier in

den

Mittelpunkt

des

ist n i c h t e t w a

die

Vernichtungswunsches g e g e n die Feinde. Ziel und Hauptanliegen

der B i t t e n in V . l O f f .

W i e d e r h e r s t e l l u n g des V o l k e s , sondern der G e d a n k e , daß gerade in ihrem U n t e r g a n g d i e F e i n d e zu der e n t s c h e i d e n d e n G o t t e s e r k e n n t n i s werden, daß - pro gloria

kommen

dei - sie den N a m e n Jhwhs suchen (V. 17b) 4 8 6 , Jhwh

e r k e n n e n 4 8 7 und ihm als dem „Höchsten" (ivbr) 4 8 8 und A l l e i n i g e n h u l d i g e n w e r d e n (V. 19). 4 8 9 „ D i e Vernichtung der Feinde und die Anerkennung J h w h s als der ,Äljön' ist es, w a s die Gemeinde hier erbittet." 490 Kennzeichnend für die nachexilische Zeit ist das Phänomen, daß zum e i n e n die Frage nach d e m Bestand und der Garantie des einst verheißenen L a n d e s und z u m anderen die Frage nach dem Verhältnis Israels zu den V ö l k e r n in den Mittelpunkt gerückt werden. Darüber hinaus k o m m t e s innerhalb der nache x i l i s c h e n G e m e i n d e zur t h e o l o g i s c h e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m w e g gebrochenen Königtum und der David-Dynastie.

12mal belegt vgl. noch: Ps 77,13; Jes 17,13; 5,28; 28,28; Jer 47,3; Ez 10,13; 12,6 u.a. Zu tf> (Spreu) 16mal belegt: Ex 15,7; Jes 5,24; 33,11; 40,24; 41,2; Jer 13,24; Jo 2,5; Ob 18; Nah 1,10. Zu ICD (Sturm): Jer 23,19; 25,32; 30,23; Am 1,4; Ps 55,9. Zu naio (Sturmwind): Jes 5,28; 17,13; 21,1; 29,6; 66,15; Jer 4,13; Am 1,14; Nah 1,3; Hi 21,18 u.a. 485 Zu 16mal belegt vgl. noch: Nah 3,5. Zu 0T3 (26mal in den Pss belegt) vgl. noch: Ps 6,11; 22,6; 25,3; 31,18; 35,4.26; 37,19 u.a. Zu ncn vgl. noch folgende Psalmenbelege: Ps 35,4.26; 40,15; 70,3; 71,24. 486 ZueJpn +QE) vgl. noch: Jer 50,4; Hos 3,5; 5,6; Ps 105,3; Prov 28,5; 2.Chr 11,16. 487 Vgl. dazu auch die Bitte in Ps 79,6, in der den Völkern, die Jhwh nicht kennen, der göttliche Zorn gewünscht wird. Die Formulierung von Ps 83 gerät in die Nähe der „Erkenntnisformel", die gerade für Stil und Sprache in Ez (Ez 6,7.13; 11,4.9.10 u.ö.) und PB (Ex 6,7) typisch ist. Vgl. dazu auch WESTERMANN (Lob, 44 f.): „In einigen Psalmen steht an der Stelle des Lobgelübdes ein anderer Ausblick in die Zukunft: Die Feinde sollen (nämlich durch Gottes Eingreifen gegen sie) erkennen, daß Gott Herr ist: 83,17b.19; Jes.Sir.36,5; 36,22b; Add.Dan.22. Wahrscheinlich steht hinter diesem Psalmschluß die von Hesekiel so oft gebrauchte Wendung, z.B. 6,14; 7,27." 488 Zu p^D (48mal im AT belegt) vgl.: Dtn 32,8; 2.Kön 15,35; Ps 47,3; 73,11; 77,11; 78,17.35.56; 89,28; 91,1.9; 92,2; 97,9. 489 Die Völker sind dem Gericht Jhwhs unterworfen und können diesem nicht entrinnen. Von dem Gedanken des Völkergerichts her legt sich eine genauere Datierung des Psalms nahe, jedoch nur unter der Prämisse, daß man sich des hypothetischen Charakters dieser bewußt bleibt. Es wäre zu überlegen, ob der Psalm nicht in nachpersischer Zeit abgefaßt worden wäre, und die Intention der Psalmbeter nicht mit der der Fortschreibungsschichten des Jesaja-Buches oder darüber hinaus des Dodekapropheton zu korrellieren wäre. Zu diesen Fortschreibungsschichten vgl. STECK, Abschluß, 27 ff. 490 ILLMAN, Thema, 38.

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

203

In welcher Art und Weise Israel auf den Wegfall des davidischen Königshauses und der damit in Frage gestellten Verheißung für dasselbe von seiten Jhwhs geantwortet hat, vermag der im folgenden zu untersuchende Psalm 89 zu zeigen. Es wird dabei deutlich werden, daß Psalm 89 das oben schon behandelte Volksklagelied, Psalm 80, voraussetzt und dessen inhaltliche Linien aufgreift und weiter auszieht.

3.3. Das klagende

Volk in königlicher Psalm 132

3.3.1. Psalm 89 - Das Volk in der

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Gestalt: Psalm 89 und

Knechtsgestalt

[1 Ein Maskil491 Ethans, des Esrachiten.] Die Gnaden 3 Jhwhs will ich ewig besingen, von Geschlecht zu Geschlecht deine Treue mit meinem Munde kundtun. Denn ich sage: Die Gnade ist gebaut für ewig, die Himmel sind es, in denen deine Treue fest gegründet ist.b „Ich habe mit meinem Erwählten einen Bund geschlossen, meinem Knecht, David, habe ich geschworen: Auf ewig will ich deinen Samen festmachen, deinen Thron von Geschlecht zu Geschlecht bauen." Die Himmel preisen deine Wundertat, Jhwh, ja, deine Treue in der Versammlung der Heiligen. Denn wer im Gewölk gleicht Jhwh, ist Jhwh ähnlich unter den Göttersöhnen? Ein Gott, der im Rat der Heiligen Furcht einflößend ist, großd und gefürchtet bei allen, die um ihn herum sind Jhwh, Gott Zebaoth, wer ist wie du? e und deine Treue sind um dich herum. Du bist es, der über das Brausen des Meeres herrscht, wenn seine Wellen sich erheben, bist du es, der sie besänftigt. Du bist es, der Rahab zermalmt hat wie einen Erschlagenen', du bist es, der mit seinem kräftigen Arm seine Feinde zerstreut hat. Himmel und auch die Erde gehören dir, der Erdkreis und seine Fülle, du hast sie gegründet.

491 Zu Maskil vgl. die Ausführungen von KOENEN, Ma6k.il - >Weehselgesangn. c: 2 Mss © S C und Hier bieten statt "jr^b den Plural "i'k'tb; so auch Veijola (Verheissung, 27) in seiner Übersetzung. Gunkel (aaO. 384) verkennt die Pointe der Satzaussage, wenn er wie folgt übersetzt: „Sie preisen im Himmel dein Wundertun, Jahve ..." Es sind die „Himmel", die nach m Jhwh preisen, d: Mit© (jieyaç Kai 4>oßep0s) S C O istnm in m abzuändern und zu 8b zu ziehen. Vgl. dazu auch Kraus, aaO. 781; Veijola, aaO. 30. e: Der Text von m ist an dieser Stelle verderbt, rr l'on ist als Verlesung von -port anzusehen. Vgl. zu dem Problem auch Gunkel, aaO. 390; Kraus, aaO. 781; Veijola, aaO. 30; dagegen Täte, der an der Lesart von m festhält („Who is like you, O Mighty Yah?", aaO. 407). f: Zu der Konnotation von Vn vgl. Gunkel, aaO. 390 f. g: Lies mitK Hier £ e n n (2. pers. sg. hif.) gegen Q Mss 8 5 1 (enn 3.pers.sg. f.q.) und Veijola, aaO. 28. h: Anders Eißfeldt (Psalm 80, 134 Anm. 2), der auf die Studien von Nötscher (Zum emphatischen Lamed, VT 3,1953, 372-380) und Moran (The Hebrew Language in its Northwest Semitic Background, FS W.F. Albright [1961], 54-72) zurückgreift, und das ^ als emphatisches (vgl. GK § 143e) übersetzt. So auch Norin, Meer, 116 und Täte (aaO. 410: „Truly, Yahweh is our shield, and the Holy One of Israel is our king!", aaO. 407). Vgl. dagegen zur vorgelegten Übersetzung auch Veijola, aaO. 28 und die Bedenken von Becker (aaO. 574) gegen das emphatische b. i: Lies statt ira („Hilfe") -in ( „ D i a d e m " , „Krone"). Vgl. dazu Kraus, 781; Veijola, 31 und dessen berechtigte Kritik an den Vorschlägen (z.B. von Lipiñski, aaO. 35 ff.), statt des KJ) das ugaritische gzr (.Jüngling") als Synonym für n r n zu lesen.- Zu dem Textbefund von 4Q236: DJ) ]o v n [ n 'nn-in] [ - a j i [•?!> it]is nu) -io»n -pnal 1 ? m m tk] vgl. Gleßmer, Das Textwachstum von Ps 89 und ein Qumranfragment, BN 65 (1992), 55-73. j: Statt TB« (für -ib» von vid: „ich will brechen") lies wie in 2.Sam 7,15 l.Chr.17,13 mit Mss Hier 5 von („ich will entziehen"); vgl. dazu auch Gunkel, aaO. 394; Veijola, aaO. 31. k: Gegen Lipiñski (aaO. 76) ist im Kontext von V.36 mit 'ühpn nicht das Heiligtum („sanctuaire") gemeint, sondern Jhwhs „Heiligkeit". V.36a ist mit 34b (ttfrpa) zu vergleichen. In der Erneuerung der Zusage Jhwhs an David durch Nathan (2.Sam7) ist das „Heiligtum" fehl am Platz. 1: Gegen Kraus (aaO. 780 f.: „Wie der Mond soll er ewig dauern und, .solange es Wolken gibt', währen." = prm) lini ), Lipiñski (aaO. 77 f.: „il est fixé au ciel à jamais!") und Clifford (HThR 73, 1980,46, Anm. 28: „Despite textual witnesses to the contrary, MT wë'ëd, ,and a witness', should be emended to .forever. ' It appears to be an instance of a breek-up of the stereotyped phrase 'öläm wä'ed, .forever and ever', found e.g, in Pss 10.16 ...") verbietet sich jede Änderung des Konsonantenbestandes von in . Vgl. auch Veijola, aaO. 29. 34, Anm. 5; ders., Davidverheißung, 137 ff.; Täte, aaO. 408.411. m: Statt des '»"ist in m ist TM—ist zu lesen (vgl. V.51; Thr 5,1; Ps 137,7); vgl. dazu auch Veijola, aaO. 32. n: Gegen den masoretischen Text entscheidet sich Ravasi (Salmi II, 824: „Ricorda, Signore, l'insulto fatto al tuo servo.") für den Singular.

Psalm

89 - Das

Volk

in der

Knechtsgestalt

o: Täte (aaO. 408) wird dem Text von m nicht gerecht, wenn er "[treta rrapu mit „who scomed your anointed at every step" wiedergibt. Skizze: in'«1? VOÖD

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208

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes qirtön-ni; m m m n OKnrn nmr nnro 39 v.39-52 Klage m n p » 6 n ^ n -[-na r v - a n m w 40 :nnno v - i : n o reto v r r n r 1 » rens 41 ¡vjDtöb n e i n r r n y n n n ^ - b s notó 42 tvn'iK-Vs nnnion v i s p ' m a n n 43 tnnnbnn i n o ' p n «Vi e i n t e í :rtórr*)R 44 ¡ n r r u o p » 6 w a s ! n n o n ratón 45 :nbo ntí-a r b a r r a j n v a h s ' d ' r n x p n 46 q n a n tó«-iD3 - u n n r r a b m o r í m r r n n - i i ) 47 t D - n c n - 1 » n « i 3 Kitf-nn-1?!) -ibrrnn --Dr 48 :nbo b w r - r n IBEÜ zbry n i r n i K i ' «Vi r r r r -121 ' n 49 q r a i n x n i n 1 ? runtí] T W D'TÁMN - p o n ¡TR 50 « ' n ú n r n - 1 » ' p ' n n TIKÖ - p i r r a i n ' r w - o r 51 q n ' t í D t r a p i ) i b t i -kok m r r - p T * lB-in ntto 52 [:]D«i ]dk dr\±> m r r - [ T o 53]

Ein nach Inhalt und Traditionsrezeption besonderes Textkorpus 492 unter den erhaltenen Volksklageliedern stellt Psalm 89 dar.493 Er stammt - wie weiter unten begründet werden soll - aus nachexilischer Zeit 494 und ist denjenigen Texten zuzuordnen, die in den Klage- und Fastenfeiern der nachexilischen Zeit

492 Diese Besonderheit des Psalms ist unter anderem dafür verantwortlich, daß in der gegenwärtigen Psalmenexegese die Ansichten hinsichtlich des Textes so stark divergieren. „Nach M. Luthers Worten herrscht ,in psalmo 89 maxima contrarietas'. Wer sich heute mit diesem Psalm beschäftigt, wird aber bald bemerken, dass unter seinen neuzeitlichen Auslegern eine womöglich noch grössere contrarietas herrscht, so dass von einem sich anbahnenden Konsens in der wissenschaftlichen Beurteilung des 89. Psalms keine Rede sein kann" (VEIJOLA, Verheissung, 1 1 ) . 493 Auf die Einordnung von Ps 89 in die Reihe der sog. „Königspsalmen" (Ps 2; 18; 20 f.; 45; 72; 101; 110; 132; 144) sollte endlich verzichtet werden. Welche Verwirrung durch die oberflächliche Klassifizierung in „Gattungen" erfolgen kann, zeigt eindrücklich SEYBOLD, welcher Ps 89 a) den Königspsalmen zuordnet (Einführung, 45); b) den „sog. Geschichtspsalmen" (aaO. 47) und schließlich richtig c) den „exilischen Volksklagepsalmen" (aaO. 54). 494 In der Frage der historischen Ansetzung von Ps 89 gehen die Positionen weit auseinander. Folgende Datierungen sind zu finden: Vorexilisch: DELITZSCH (Psalmen, 576: 10. Jhdt.); K R A U S (aaO. 784: terminus post quem 609, terminus ad quem das Exil); LIPISISKI (aaO. 91: V.l-5.20-38: 8. Jhdt; Ps 89 als Ganzes jedoch in der Exilszeit (S.77)); CLIFFORD (HThR 73 (1980), 47)1 Exilszeif. V E I J O L A (aaO. 209 u. passim); J A N S S E N (Juda, 20); VOSBERG (Studien, 31: „Die Psalmen 74; 89 und 102 sind Fürbittgebete, in denen ein Mann, der an den Folgen von 587 leidet, um die Behebung der geschichtlichen Not seines Volkes bittet."); TOURNAY (RB 83 (1976), 388); SEYBOLD (Einführung, 54)1 Nachexilisch: G U N K E L (aaO. 396: Ps 89 als Ganzes aus dem 5.Jhdt.); BAETHGEN (Psalmen, 274); T Ä T E (aaO. 417: „All in all, the fixing of a specific historical context is an uncertain business, but the present psalm is probably either exilic or post-exilic (i.e., after 597 B.C.E., but more probably after 500 B.C.E.)." I Makkabäisch: DUHM (Psalmen, 340: beide Teile des Psalms [I: V.2-19 I II: V.20-47.50-52] makkab.).

Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

209

ihren Sitz i m L e b e n h a b e n . 4 9 5 A n d e r s als in den Threni und den übrigen Klageliedern des V o l k e s wird in Ps 89 an dem für Israel entscheidenden T h e m a d e s d a v i d i s c h e n K ö n i g t u m s und d e s s e n V e r h e i ß u n g e n angeknüpft. D i e s e s geschieht j e d o c h nur zu dem Z w e c k , um anhand der Gestalt und des G e s c h i c k s d e s K ö n i g s - d e s G e s a l b t e n J h w h s - die erlittene N o t und das Elend d e s V o l k e s Israel im G e b e t vor Jhwh zu bringen. D i e A n a l y s e folgt der durch die Textsignale vorgegebenen Gliederung, die eine Einteilung in drei B l ö c k e erkennen läßt:

496

I. V . 2 . 3 ( 4 . 5 ) 6 - 1 9 : H y m n u s II. V . 2 0 - 3 8 : Gottesrede i n . V.: 3 9 - 5 2 : K l a g e

Analyse: I. Teil:

V.2-19

Ein breit angelegter und ausgeführter Hymnus, der nur durch die Verse 4 und 5, d i e e i n e Prolepse zu der Gottesrede in V . 2 0 - 3 8 darstellen, unterbrochen wird, bildet - im G e g e n s a t z zu Psalm 7 4 , bei w e l c h e m der H y m n u s z w i s c h e n

495 Y G I dagegen zur exilischen Datierung V E I J O L A (aaO. 210); S E Y B O L D (Einführung, 87: exilische Klagefeier); JANSSEN (Juda, 20). Die formgeschichtliche Zuweisung von Ps 89 (Gattung; Sitz im Leben) steht und fällt mit der Entscheidung, wie man die auf den ersten Blick disparat erscheinenden Teile des Psalms einordnet und welches Subjekt (König oder Volk) man als Sprecher annimmt. Das Dilemma, in welches man dann geraten kann, verdeutlicht schon G U N K E L in seinem Psalmenkommentar, der in Ps 89 neben einem „nordisraelitischen Schöpfungshymnus" (V.2-3.6-19), ein „Königsorakel" (V.4-5.20-38) und ein eigentliches Klagelied „nach Art der Volksklagelieder..., nur mit dem Unterschiede, daß hier nicht sowohl die Not des Volkes, als die des .Gesalbten' 39 und .Knechtes' 40 Jahves, d.h. des rechtmäßigen Königs, beklagt wird" (Psalmen, 394), erkennt. In der „Einleitung" von G U N K E L / B E G R I C H werden die Verse V.39-52 jedoch sowohl bei den „Volksklageliedern" (Einleitung, 117) aufgelistet, als auch bei den „Königspsalmen" (aaO. 140). MOWINCKEL, der Ps 89 vorexilisch datiert, erkennt in dem Text einen im Namen des Königs geschriebenen „Klagepsalm ... für eine Bußfeier gelegentlich einer militärischen Niederlage" (Psalmenstudien III, 37). Zur Einordnung von Ps 89 als Kultdrama für eine sterbende und auferstehende Gottheit in der skandinavischen traditionsgeschichtlichen Forschung (bes. G.W. Ahlström), vgl. die Kritik von V E I J O L A (Die skandinavische traditionsgeschichtliche Forschung. Am Beispiel der Davidüberlieferungen (1983), in, DERS., David. Gesammelte Studien zu den Davidüberlieferungen des Alten Testaments (SFEG 52), Göttingen, 1990, 106-127 [S.107 ff.]). 496

Vgl. dazu auch die Gliederung von R A V A S I (Salmi I I , 837): V.2-5: „Solenne introduzione tematica" I V.6-19: „Z/ inno cosmico" (vv.7-9/w.lO-15/vv.16-19)1 V.20-38: ,^'oracolo storico „I V.39-52: ,JM lamentazione presente" (vv.39^t6/vv.47-52).

210

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Klage und Bitte plaziert ist - den Eingangspart dieser großen Klagekomposition.497 Die Makrostruktur von Psalm 89 besteht damit aus der Abfolge von Gotteslob (V. 2-19*), Gottesrede und Klage. Zwischen Lob und Klage wird der Bogen geschlagen. Die in Ps 89 zu beobachtende Eröffnung durch einen Hymnus und gleichzeitigen Preis der Gottheit ist nichts Außergewöhnliches, sondern sowohl in der altorientalischen Literatur (vgl. Balag-Klagen und Su.il.lä-Texte) der Normalfall als auch in den untersuchten Klageliedern des Volkes des öfteren anzutreffen (Ps 44; 80). Im konkreten Fall von Psalm 89 erscheint die vorliegende Komposition um so mehr im Lichte altorientalischer Gebetsliteratur, als die Kompilation von älterem, tempeltheologischem Traditionsmaterial und die barocke Anhäufung von Gottesepitheta den Ton angeben. In das kosmische Szenario von Himmel und Götterversammlung sind die Taten Jhwhs - Chaoskampf und Schöpfung - und seine Herrschaftsattribute eingezeichnet. Doch nicht, um im schwebenden Raum der Transzendenz zu verweilen, sondern mit dem Ziel, in der Kondeszendenz im Volk Israel und seinem König auf Erden Wirklichkeit zu werden. Es geht um die alles entscheidende Bewegung von oben nach unten, vom Himmel auf die Erde, um die Durchdringung der Schöpfung mit Jhwhs Treue und Güte, um Ordnung und Struktur, die erst das Leben vor seinem Angesicht ermöglichen. Belehnung und Begabung Israels durch Jhwh sind das Ziel dieser Bewegung. Den Introitus bildet die Selbstaufforderung in V.2 mit angeschlossener Begründung ('D mit im Koinzidenzfall stehenden 'mnK) in V.3. Das „Ich" der drei Verben wird nicht näher eingeführt. 498 Wichtiger als der Lobende ist das Lob. 499 Der Parallelismus in V.2 und V.3 läßt an betonter Stelle die Leitwörter des folgenden Hymnus und darüber hinaus des ganzen Psalms

497

Vgl. zu dem Unterschied der Plazierung des Hymnus in Psalm 74 und Psalm 89 auch Studien, 29, Anm. 19. 498 Zu dem 'En in 2b vgl. das 'Erna* in Dtn 32,1. - Dm 32 gehört unter anderem zu den Texten, die der Verfasser von Ps 89 kennt und in seiner Komposition anklingen läßt. 499 Gegen WESTERMANN (Lob, 42) ist festzuhalten, daß es nicht nur um die „Erinnerung an Gottes Heilshandeln" geht, und der Psalm „wie ein berichtendes Lob eingeleitet wird", sondern daß es sich, wenn man der Terminologie von Westermann folgt, um „beschreibendes Lob" (Hymnus) handelt. Nach Westermann (Lob, 25) liegt doch der Unterschied gerade darin, daß „der sogenannte Hymnus Gott lobt über seinem Tun und Sein im Ganzen (beschreibendes Lob), während das sogenannte Danklied Gott über einer bestimmten Tat lobt, von der der Gerettete in seinem Lied erzählt oder berichtet (berichtendes Lob; man könnte auch sagen: bekennendes Lob)". VOSBERG,

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

211

anklingen. Die „Gnadentaten" (DHon, vgl. V.50; Jes 55,3; 63,7)/ „Gnade" (Ton, V.2.3.15.25.29.34.50) 5 0 0 und die „Treue" (nra*, V.2.3.6.9.25.29. 34.50) Jhwhs sind Gegenstand des Hymnus. Bei DHon und rmnK handelt es sich nicht um altes Vokabular, sondern um junge theologische Begriffe, die für die exilische wie für die nachexilische Zeit charakteristisch sind. 501 Diese Beobachtung ist für die Datierung des Psalms von entscheidender Bedeutung, da sie darauf hinweist, daß der Hymnus - wie noch weiter zu zeigen sein wird - zwar älteres Material 502 aufgreift und verarbeitet, selber jedoch jünger ist und schon gar nicht aus dem Nordreich Israels (wegen V.13: Tabor) stammt, wie es noch Gunkel annahm. 503 Gnade und Treue sind in dem Himmel (Casus-pendens-Konstruktion in 3b) fest verankert: „gebaut" (run) und „gegründet" (¡13). Von dieser göttlichen Bestandsgarantie geht der Dichter aus, darauf baut er sein Vertrauen und sein Lob. Im Hinblick auf die in V.20 ff. folgende Gottesrede sind V.2. und V.3 insofern wichtig, als dieser Gedanke der Beständigkeit, des Gegründetseins der Gnade und Treue Jhwhs, die auf den Knecht und das Volk Jhwhs bezogen sind, mehrfach wiederholt wird (V.25.29.34). Im Blick auf die Klage in V.39 ff. erweist sich der Auftakt des Hymnus als relevant für die Gesamtkomposition, da die eingetroffene Katastrophe zwar an der Gnade, Treue und den Zusagen Jhwhs zweifeln läßt, Verfasser und die Gemeinde aber an dem Vertrauen auf die Perseveranz der göttlichen Treue auch in ihrer Klage angewiesen bleiben. Wie die „Zeitbegriffe" cbu) und n i n b auf die von Jhwh gegebenen Verheißungen anspielen (vgl. V.5.29.37), so auch die beiden 500

Die deutsche Übersetzung dieser entscheidenden hebräischen Begriffe muß zwangsläufig hinter dem Hebräischen zurückbleiben und ist nur imstande, Bruchstücke der Sinnbreite einzufangen. 501 Vgl. zu DHon (18mal im AT) noch: Jes 55,3; 63,7; Ps 106,7; 107,43; Thr 3,22. Zu nre» (allein 22 mal in den Pss) vgl. noch: Ps 33,4, 37,3; 88,12; 100,5; 119,30.86.75.138; Dtn 32,4. 502 In diesem Zusammenhang mutet die Schilderung von MOWINCKEL (Psalmenstudien III, 37) immer noch rührend an: „Der Dichter wollte einen Klagepsalm im Namen des Königs für eine Bußfeier gelegentlich einer militärischen Niederlage komponieren. Er wollte als Hintergrund der Klage die früheren schönen Erfahrungen und die Verheißungen Jahwä's aufstellen, um dadurch die Bitte um Hilfe eindrucksvoll motivieren zu können. Da hat er im Psalmenschatz des Tempels Umschau gehalten und sich einige Bausteine für die Komposition erwählt, nämlich einen Hymnus auf Jahwä als den Schöpfergott und den jetzt seinen Thron besteigenden König Israels (...) und ein (Neujahrsfest)orakel an das Königshaus." 503 GUNKEL, Psalmen, 389: „Da der zuletzt genannte König [seil, in V.19] kein anderer als der zur Zeit des Dichters regierende sein kann, stammt das Lied aus der Königszeit Israels und zwar aus einer Zeit, da Jahves Volk ruhmvoll und frohlockend dastand. Da es ... Tabor und Hermon als die Haupt-Kultusstätten Israels erwähnt und von Jerusalem schweigt, muß es aus dem Nordreich herrühren und also vor 722 gedichtet worden sein."

212

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

Verben in V.3 NN und )"D, die in der Nachkommenszusage und Thronzusage in V.5 aufgegriffen werden. Bei den „Gnadentaten Jhwhs" (mrr non) handelt es sich - soviel ist deutlich - um die David durch Jhwh gegebenen Verheißungen (vgl. 2.Sam 7). Abrupt wird der Hymnus, der in V.6 fortgesetzt wird, durch die beiden Bikola in V.4 und V.5 unterbrochen. Die Verbformen weisen die l.Pers.Sg., auf, doch der Inhalt und die Diktion machen deutlich, daß es nicht mehr um das Lob Jhwhs geht, sondern Jhwh selbst (vgl.V.21-38) redet. Die Verse 4 und 5 stellen einen Vorgriff auf die Gottesrede („Gottesorakel") in V.20 ff. dar. Der enge Zusammenhang zwischen Hymnus und Gottesrede wird durch diese Verzahnung, die schon auf den Verfasser von Psalm 89 zurückgehen dürfte, erhellt. Es geht um die von Jhwh seinem Erwählten ("vm) und Knecht Cntf) gemachte Zusage der Beständigkeit von Nachkommenschaft (Dynastie) und Thron. Den „Bund" ( ¡ v a kommt in Ps 89 allein viermal vor: V.4.29.35.40) hat Jhwh geschlossen, sich damit eine Selbstverpflichtung und einen Schwur auferlegt. (Vgl. dazu im einzelnen V.29.35.36.37). Beständig wie die Gnade und Treue Jhwhs, so wird die davidische Dynastie sein. Damit lassen diese beiden Verse ein Faktum anklingen, das die Gottesrede in V.21 ff. voraussetzt: Die Bundschließung zwischen Jhwh und David. Nur in V.4 wird explizit von rinn r r o gesprochen. Die in V.4 geäußerte Vorstellung von der David-ima, die in 2.Sam 7 bezeichnender Weise fehlt, zeigt, daß Psalm 89 in ein jüngeres Stadium der Davidtheologie gehört. „Es fällt auf, dass der Terminus rmn als Bezeichnung für die Davidverheissung in der dtr Theologie noch gänzlich fehlt, obwohl er dort in anderen Zusammenhängen eine eminent wichtige Funktion hat. Die mit einiger Sicherheit datierbaren Texte, in denen er begegnet, sind jünger (Jes 55,3; Jer 33,21; 2.Chr 13,5; 21,7; vgl. 2.Chr 7,18)." 504 Auch die Bezeichnung Davids als TTQ ist nicht der Regelfall, sondern die Ausnahme. Denn „das Wort "vm .Erwählter' (V.4) ist ein Terminus, der sich nur hier und an der textlich äusserst unsicheren Stelle 2.Sam 21,6 auf den König bezieht; in dem gesamten übrigen Vorkommen - das restlos jünger ist als Ps 89,4 - ist dabei immer die Rede von Israel, nur einmal von Mose (Ps 106,23). Von daher kann es nicht wundernehmen, dass bereits die Übersetzer von LXX und Targum aus Ps 89,4 T r a einen nationalen Ton vernommen haben."505 504

VEIJOLA, aaO. 68. Anders dagegen KRAUS (aaO. 786), für den die Datierung und Ansetzung der Vorstellung von der David-Berit nicht entschieden ist: „Dabei wird zu bedenken sein, daß in der neueren Forschung die zeitliche Ansetzungsmöglichkeit für eine Rede vom Davidsbund strittig ist." 505 VEIJOLA, aaO. 140. Die weiteren Stellen sind: Jes 42,21; 43,20; 45,4. Im PI. noch in: J e s 6 5 , 9 . 1 5 . 2 2 ; P s 1 0 5 , 6 . 4 3 ; 1 0 6 , 5 ; l . C h r 1 6 , 1 3 .

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

213

Damit verweist schon die Formulierung in V.4 auf den Tatbestand in Psalm 89, daß die auf David bezogenen Verheißungen Jhwhs im Grunde als Aussagen nationalen und kollektiven Charakters auf das Volk Israels zielen. Die folgenden Verse 6-15 bilden den Höhepunkt des Hymnus und sind nochmals zu unterteilen: V.6-9: Ruhm und Lob im himmlischen Thronrat I V.10-13: die göttlichen Taten I V.14-15: Macht, Herrlichkeit und Königtum Jhwhs. Gut altorientalisch mit kanaanäischem Kolorit mutet dieses Hauptstück des Hymnus an. 506 Genauso wie in Psalm 74 wird man für Psalm 89 in Rechnung stellen müssen, daß es sich bei dem in den Versen 6-15 dargebotenem Material um in mehreren Stufen gewachsenes tempeltheologisches Psalmengut handelt; Traditionsgut, das in exilisch-nachexilischer Zeit in Absetzung von dtr. Theologie wieder prononciert zur Sprache kommt. Auf das „irdische" Lob des Sängers in V.2-3 folgt in den Versen 6-9 die kosmisch dimensionierte, himmlische Akklamation. Psalm 19,2 ähnlich ( b t r - n n s o n s o n D'nitfn: „Die Himmel sind Herolde der Herrlichkeit Gottes") 507 verkünden die Himmel, die nach V.12 Jhwhs Schöpfung sind 508 , seine Wundertat (K*?S) 509 . Mit Wunder bzw. Wundertat dürfte inhaltlich das gemeint sein, was die Verse 10-13 im einzelnen ausbreiten: Chaoskampf und Schöpfung. Im Gegensatz zu Psalm 74 wird in Psalm 89 nicht auf das Exodusgeschehen angespielt, da im Mittelpunkt dieses Psalms die an David

506 w o l l t e man Veijola in seiner Analyse von Psalm 89, die davon ausgeht, daß Psalm 89 in drei Phasen gewachsen sei (a): V.2-3.6-19, mit V.17-19 als sekundären Erweiterungen! b): V . 4 - 5 . 2 0 - 4 6 [spät-dtr.]l c): V . 4 7 - 4 9 . 5 0 - 5 2 [spät-dtr.]; aaO. 45 f.209 f.), folgen, so müßte man hinlänglich begründen können, wie es Verfassern aus dem Umkreis der Dtr wovon Veijola ja ausgeht - möglich gewesen sein könnte, dieses „polytheistische" Material als Vorbau für die eigene Klagekomposition aufzunehmen. Zu dem Erweis, daß es sich nicht um Verfasser aus dem dtr. Kreis handeln kann, s. auch unten. 507

Zu Psalm 19 und der Übersetzung vgl. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 6 0 - 7 2 . 508 SPIECKERMANN (Erde, 422): „Nach Ps 19,2 ist der Himmel imstande, von Gottes Herrlichkeit (kbwd H) zu künden, und in Ps 89,6 wird derselbe Himmel aufgefordert, Jahwes Wunder und Treue ipl' und 'mwnh) ,in ecclesia sanctorum' (Vulgata iuxta LXX et Hebr.) zu preisen, welche keine anderen als die bereits aus Ps 29,1 bekannten Göttersöhne sind (vgl. Ps 89,7f). Der Himmel vermag diese Aufgabe zu übernehmen, weil er wie die Erde mit ihrer (Herrlichkeits-) Fülle Gottes Eigentum (geworden) ist, wie Ps 89,12 in modifi-zierender Adaption von Ps 24, l f sagt." 509

ZUH'JB v g l . n o c h : E x 1 5 , 1 1 ; J e s 9 , 5 ; 2 5 , 1 ; 2 9 , 1 4 ; P s 7 7 , 1 5 ; 7 8 , 1 2 ; 8 8 , 1 1 . 1 3

CONRAD, T h W A T V I , S p . 5 6 9 - 5 8 3 .

und

214

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

e r g a n g e n e n V e r h e i ß u n g e n s t e h e n . 5 1 0 Der Sänger preist die mrr n o n , die H i m m e l verkünden d a g e g e n Jhwhs Wundertat und Treue (zu roiDR v g l . auch V . 9 : Ringkomposition). E s geht um die Macht, Herrlichkeit und Unvergleichlichkeit Jhwhs innerhalb der h i m m l i s c h e n G ö t t e r v e r s a m m l u n g . Jhwh ist nicht primus sondern der princeps

inter

pares,

und oberste Gott. Jhwh ist das Gottkönigtum (vgl. die

T h r o n a u s s a g e in V . 1 5 ) zu e i g e n . D i e n o m i n a l e D i k t i o n und d i e J h w h b e i g e f ü g t e n Attribute unterstreichen dieses. Er ist der m i n m~i p i i » b « . 5 1 1 M i t der U n v e r g l e i c h l i c h k e i t s a u s s a g e wird Jhwh eine Prädikation e n t g e g e n gebracht, w i e sie auch sonst in der altorientalischen Gebetsliteratur zu finden ist, nur m i t d e m e i n e n Unterschied, daß die in V . 6 . 9 erwähnten D'ttfnp und D,t7K ' n zu reinen Statisten degradiert worden sind. Ein V e r g l e i c h z w i s c h e n Psalm 8 9 und Psalm 2 9 beweist deutlich, daß Psalm 8 9 ein spätes Produkt der P s a l m e n d i c h t u n g darstellt. Mit D'^R '33 wird auf die Götter der h i m m l i s c h e n Ratsversammlung

a n g e s p i e l t . D i e A u s d r ü c k e D'ttfnp bnp und D ' t i n p ' T i o

verdeutlichen dies. 5 1 2 Ihren traditionsgeschichtlichen Ursprungsort haben beide B e z e i c h n u n g e n in der kanaanäischen M y t h o l o g i e . Im B a a l - M y t h o s und Keret-Epos w e r d e n d i e um El und Baal agierenden Götter mit diesen B e n e n n u n g e n belegt. 5 1 3 Jhwh ist 510 Vgl. auch KAISER, Ugarit, 143. Dagegen NORIN (Meer, 115): „Ich möchte mich daher den wenigen Forschern anschliessen, die erklärt haben, die fraglichen Verse in Ps 89 bezögen sich auf den Exodus." Zur Kritik an Norin, vgl. DAY, Dragon, 26 f. 511 Zu »TD (Part.sg.nif.) vgl. noch: Ex 15,11; Zeph 2,11; Ps 47,3; 66,5; 68,36; 76,13; 96,4. Das p m (Part.nif von p s ) ist dagegen nur hier belegt. 512 Dazu SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 172: „Wichtiger ist die angesprochene Gruppe, die Göttersöhne, die, wie die ugaritischen Texte lehren, die Götter selbst sind und in ihrer Gemeinschaft die göttliche Ratsversammlung darstellen." Völlig abwegig dagegen ist die Interpretation von HOUTMAN (Himmel, 170 f.), die dem traditionsgeschichtlichen Befund in keiner Weise gerecht wird: „Mit r e h p Snp sind unseres Erachtens die Himmelskörper, Sonne, Mond und Sterne, gemeint. Gewöhnlich pflegt man an die Himmelsbewohner zu denken (vgl. Hi. 5:1; 15:15; Dan. 4:10,14,20). Da aber für den altorientalischen Menschen die Grenze zwischen den Gestirnen und den ,Sterngeistern' wahrscheinlich fließend gewesen ist, meinen wir, hier an die Himmelskörper denken zu können, in denen sich nach altorientajischer Vorstellung die Himmelsbewohner manifestieren (...). Wegen des Ineinanderfließens der Himmelskörper mit den Himmelsbewohnern entsteht bei unserer Auffassung auch nicht, wie es den Anschein haben könnte, ein plötzlicher Übergang von V.6 zu V.7-9, wo über das Loblied der himmlischen Ratsversammlung gesprochen wird." - „Wahrscheinlich" ist an dieser Auffassung gar nichts. 513 Vgl. dazu die Hinweise bei SCHMIDT (Königtum, 26-29): „Die Götterversammlung trägt die Bezeichnungen: dr ü ,Kreis (bzw. Familie) Eis' oder dr bn il,Kreis der Söhne Eis', mphrt bn il .Gesamtheit der Söhne Eis'." „Führt El das Prädikat ,der Heilige', so können wahrscheinlich die Götter auch ,Söhne des Heiligen' genannt werden. Jedenfalls ist dies die nächstliegende Übersetzung des mehrfach belegten Ausdrucks bn qdS, der von dem parallelen bn il ,Söhne Eis' kaum zu trennen ist." (AaO. 26 u. 28). Vgl. dazu auch LORETZ,

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

215

einzigartig unter den Göttern im Gewölk (pnctfn), er ist - wie es der Gesamtkontext von Ps 89 jetzt nahelegt - der treue Zeuge (V.38: p»o pnen in), der seinem Knecht David die Verheißung für „Thron und Altar" gegeben hat. Als Ausweis für die Macht des Gottkönigs Jhwh Zebaoth bietet der folgende Block, V.10-13, in hymnischer Diktion das Chaoskampfmythologem (V.l 1), Eigentumsdeklaration (V.12a) und Schöpfungsaussage (V.12b.l3a). Damit rückt Psalm 89 in große Nähe zu Psalm 74, in dem schon dieselben Elemente erschienen, wenn auch mit starken Abweichungen. p « n mpn nmiti1 bss mpn ^ba D'nrrbD D'rn 'ttfm rnntti d1 -[ran rn-ne nn* D " ^ dj?1? -unn im1? '¡tfm rccn nrm p n nnm nebin nn« "rm j-'jin rrnpa nn« etottfi niKn niron IVIR nb,Lp -¡'p-^« ov -¡^ • r r a ' nrK *pm p p p * mVnr 1 » r m n nn«

Doch ist mein König von alters her, er vollbringt Heilstaten inmitten der Erde. Du bist es, der das Meer mit Macht aufgerührt hat, der die Häupter der Schlangen über dem Wasser zerschmettert hat. Du bist es, der die Köpfe Leviathans zerschmettert hat, der ihn dem Volk der Wüstentiere zum Fraß vorgeworfen hat. Du bist es, der Quelle und Bach gespalten hat, du bist es, der mächtige Ströme trocken gelegt hat Tag und Nacht gehören dir, du bist es, der Sonne und Licht bereitet hat. Du bist es, der alle Grenzen der Erde festgesetzt hat, Sommer und Winter, du bist es, der sie geschaffen hat. (Psalm 74,12-17) Auf die Elemente, in denen Ps 89 und Ps 74 voneinander divergieren, soll in der Analyse näher eingegangen werden. In auffälliger Parallelität zu Ps 74 bietet der Hymnus von Psalm 89 in den Versen 10 f.(14) eine Anspielung auf den aus dem ugaritischen Baal-Mythos bekannten Chaoskampf. Die Konstruktion der Satzglieder in V.10 f. weist mit ihren nr«-Aussagen eine auffällige Entsprechung zu Psalm 74 auf. Die mit nna gebildeteten „zusammengesetzten Nominalsätze" erweisen sich damit als die adäquate Ausdrucksmöglichkeit für den Hymnus. Doch bei aller Überein-

Ugarit, 5 6 - 6 5 (bes. 6 0 f.); KLOOS, Combat, 16 ff.

216

111. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Stimmung, die die beiden B e l e g s t e l l e n für das C h a o s k a m p f - M y t h o l o g e m erkennen lassen, dürfen die charakteristischen Unterschiede nicht übersehen werden. D a s Feind-Ensemble, g e g e n w e l c h e s Jhwh in mythischer Zeit seinen S i e g errungen hat, ist in Psalm 8 9 ein anderes als in Psalm 74. N e b e n den M e e r e s gott Jam, durch rnto und D'bj repräsentiert, sind in Psalm 8 9 Rahab 5 1 4 und die • ' T W als Mitstreiter getreten. Während beide Kola in 7 4 , 1 3 f. qatal-Formen a u f w e i s e n , ist die A u s s a g e in 8 9 , 1 0 präsentisch (10a Partizip - 10b x-jiqtol), in 8 9 , 1 1 w i e d e r u m d a g e g e n perfektiv (x-qatal) formuliert. 5 1 5 D i e Herrschaft (btöm) Jhwhs über das M e e r - Zeichen seines Königtums - resultiert aus dem in mythologischer Vorzeit errungenen Sieg über die Chaosgestalten (V. 11) und s e i n e F e i n d e ( V . l l b ) . A u f die die Feinde n i m m t die a b s c h l i e ß e n d e Bitte in V . 5 2 dergestalt B e z u g , daß Jhwh, der Gottkönig und C h a o s b e z w i n g e r , auch die aktuellen Feinde der Gemeinde bezwingen möge. 5 1 6 W i e in Ps 7 4 f o l g e n auch in Ps 8 9 , 1 2 - 1 3 auf die C h a o s k a m p f v o r s t e l l u n g E i g e n t u m s - und S c h ö p f u n g s a u s s a g e n , o h n e daß damit intendiert wäre, die S c h ö p f u n g als l o g i s c h e und zeitliche F o l g e der Ü b e r w i n d u n g d e s C h a o s 514 Nach Ausweis der atl. Texte (Ps 89,11; Jes 51,9; Hi 9,13; Hi 26,12; in Jes 30,7 u. Ps 87,4 wird n m als Metapher für Ägypten gebraucht) handelt es sich dabei um ein mythologisches Chaosungeheuer, das zu Jam gehört. „Im Gegensatz zu Itn und tnn ist rahat in Ugarit nicht bezeugt. Man wird hier nicht auf den Zufall der Textüberlieferung verweisen können, da die Aufzählung in KTU 1.3, III, 36 ff. (...) eine erhebliche Anzahl von Monstren aufführt, von denen manche keine Nachklänge in späteren Überlieferungen haben (...)" (RÜTERSWÖRDEN, ThWAT, Sp. 375). Es wird sich bei dieser Größe 3 M um eine traditionsgeschichtlich gesehen junge Gestalt handeln. So auch RÜTERSWÖRDEN (aaO. Sp. 376): „Da Rahab weder in Ugarit erscheint noch in vorexil. Texten des AT belegt ist, wird man davon auszugehen haben, daß die Verschränkung zwischen Rahab und den anderen Chaosgestalten erst ein Produkt der exil. Zeit ist." Ps 89 legt diese Vermutung nahe. Eine vage Spekulation bleibt die etymologische Ableitung von NORIN (Meer, 75), der es vom ägyptischen n-ÜJb: „die krumme Schlange" ableitet. „Der Ausdruck rähäb hat dann auch eine klare Beziehung zu dem mhn des Ägyptischen, das als Bezeichnung der Apepschlange belegt ist" (ebenda). Man wird es wohl bei dem Urteil von SCHMIDT (Königtum, 50 f.) belassen müssen: „Wie sich aus den Anklängen im Alten Testament ergibt, daß der Drachenkampfmythos in sich nicht einheitlich ist, vielmehr ,in vielen Varianten bestanden haben' wird, so ist auch sein Ursprung kaum einheitlich, sondern liegt in verschiedenen Kulturkreisen. Da die Kanaanäer Israels engste Nachbarn waren, haben die Israeliten sicher bei ihnen ... Mythen kennengelernt, wie sie die Ras Schamra-Texte aufweisen. Doch ist damit keinesfalls anderer Einfluß, etwa durch Mesopotamien und Ägypten, ausgeschlossen."- Vgl. auch noch DAY, Dragon, 25-28.39; SCHMIDT, Königtum, 50 f. 515

Vgl. dazu auch PODELLA, aaO. 305 f.; RÜTERSWÖRDEN, ThWAT VII, Sp. 377. PODELLA (aaO. 305): „Der Terminus ,deine Feinde' begegnet hier und in V.52 zur Bezeichnung derjenigen, die aktuell ob der Not Israels spotten und lachen. Da V . l l weder mit V.10 noch mit V.12-13 syntaktisch verbunden ist, da auch keine Deixis zwischen diesen Versen vorliegt, dient auch hier das Chaoskampfmythologem zur Parallelisierung mythischer und konkreter Not..." 516

Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

217

anzusehen. 517 Im rein nominalen Stil werden in V.12a Himmel und Erde Jhwh als Eigentum zugeschrieben. Wenn auch nicht in bezug auf Himmel (D'Ditf) und Erde (pH) von „Schöpfung" die Rede ist, so steht die Eigentumsprädikation doch im Kontext von V.12b-13a, in denen die Bewegung vom „Gründungsgeschehen" (10') zur „Schöpfung" (tro im Sinne von creatio primordialis)518 übergeht. In Anlehnung an die Diktion von V . 1 0 b . I I a hält der „zusammengesetzte Nominalsatz" 519 in V.12b die Gründung vom „Erdkreis (tan) 520 und seiner Fülle" fest. Eigentumsaussage und „Gründungsaussage" verdanken sich tempeltheologischem Gut, wie es z.B. in Ps 24,1 f. belegt ist:521

na mö'i tan nmtai p n n mn'1? nuis' n n m - t a i m o ' D'n'-ta m n - o

Jhwh gehört die Welt und ihre Fülle, der Erdkreis und seine Bewohner. Denn er ist's, der sie über den Meeren gegründet, über den Strömen bewahrt. Vom Inhalt her gesehen, weicht die Aussage in Ps 89,12 von der in Ps 74,16 ab. Die Eigentumsaussage in Psalm 74 bezieht sich auf Tag und Nacht. Die in Psalm 74 formulierte „Setzungsaussage" wiederum hat die Sonne zum Objekt (Ps 74,16: tdnttfi -iiho n i r s n rinn n'r 1 ? "[V-^h dv i 1 ?). Der „geweitete" Horizont von Ps 89 erweist sich gegenüber Ps 74 als spätere Entwicklung. Das Kolon 13a - der Struktur nach parallel zu 12a aufgebaut - führt die Schöpfungsaussage von 12b fort. Zaphon/Nord und Süd hat Jhwh geschaffen (H~n), womit Ps 89 eine singulare Aussage im Alten Testament trifft. 522 Es ist 517

V g l . d a z u a u c h PODELLA, C h a o s k a m p f m y t h o s , 3 0 5 - 3 1 0 . Z u d e n V . 1 2 - 1 3 v g l . a u c h

METZGER, E i g e n t u m s d e k l a r a t i o n , 4 1 - 4 3 . A b s u r d ist d e r H i n w e i s v o n HOUTMAN ( H i m m e l , 8 4

Anm. 35) auf die „Vorstellung der Schöpfung als Kampf in der kanaanitischen Welt und im AT (Ps. 74:12 ff.; 89:9 ff.; Hi. 26:12 f.; Jes 51:9 usw.)". 518 Zu den klassischen Belegen für ton qal gehören: Gen 1,1; 1,27; 2,3; Jes 40,26.28; 42,5; 45,18; 65,17. Dabei handelt es sich um exilisch-nachexilische Texte. Die Wurzel «na ist in den Pss seltener belegt. Im qal: Ps 51,12; 89,13.48. Im nif.: Ps 102,19; 104,30; 148,5. 519 Ob die grammatikalisch-syntaktische Beschreibung des Satzgefüges in V.12b als „verbal perfektiv (x-qatal)" (PODELLA, aaO. 305) in terminologischer Hinsicht treffender ist, mag dahingestellt sein. 520 Das Nomen tan ist allein 34mal im AT belegt (Jes: 9mal; Pss: 15mal). Doch nur in Ps 89,12 in der Syntax mit i o \ Damit liegt ein weiteres Indiz für die „späte Sprache" in Ps 89 vor. 521 Zu Ps 24 und der Übersetzung, vgl. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 196 ff. 522 Vergleichbar ist höchstens noch Ps 90,2, der vom „Geboren-werden" der Berge spricht

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

218

zu R e c h t vermutet worden, daß mit den beiden Größen

pn' und jiQ2i in 13a

nicht die H i m m e l s r i c h t u n g e n , Nord und Süd, intendiert sind, sondern die mythisch tingierten Götterberge Zaphon und A m a n u s g e m e i n t sind. 5 2 3 N a h t l o s schließt sich das Kolon 13b (invertierter Verbalsatz; x-jiqtol) an. Parallel zu den b e i d e n „Götterbergen" in 13a, die d e m Verb vorangestellt waren, sind die b e i d e n in 13b genannten B e r g e , Tabor und H e r m o n 5 2 4 , innerhalb des Satzg e f ü g e s als Subjekt betont vorangestellt. 5 2 5 D i e Götterberge sind e n t m y t h o logisiert und Jhwh untergeordnet. S i e sind von Jhwh g e s c h a f f e n und z o l l e n ihm das gebührende Lob. Im Verein mit dem H i m m e l ( V . 6 ) und d e m V o l k ( V . 1 7 ) bringen sie Jhwh ihren Lobpreis dar. „Erst mit dem L o b p r e i s d e s G e s c h a f f e n e n ist die S c h ö p f u n g zu ihrem Ziel gelangt. D e r L o b p r e i s d e s G e s c h a f f e n e n ist Antwort auf das S c h ö p f u n g s g e s c h e h e n (V. 12b. 13a), in ihm v o l l z i e h t sich z u g l e i c h die Anerkennung des E i g e n t u m s a n s p r u c h e s J a h w e s (V.12a)."526 D i e sich anschließenden V e r s e 14 und 15 rücken die M a c h t f ü l l e und das „ R e g i m e n t " des Gottkönigs in den Mittelpunkt. Arm, Hand und die R e c h t e 5 2 7 Jhwhs - pars pro toto versinnbildlichen sie die Jhwh e i g n e n d e H e i l s m a c h t ( r t r o n n Dioa). 523 Vgl. dazu K R A U S , Psalmen, 7 8 8 ; T Ä T E , aaO. 421 und M E T Z G E R (aaO. 42): „Der Terminus ps* , säpön, ist im Hebräischen nicht nur Bezeichnung der Himmelsrichtung .Norden', sondern zugleich Eigenname eines in Nordsyrien gelegenen Berges, der heute die Bezeichnung dschebel el-akra' trägt. Der Zafon-Berg war aber in der ugaritischen Mythologie der Wohn- und Thronsitz des Gottes Baal." Anders wiederum HOUTMAN (aaO. 214), der bei der Erörterung von Ps 89 und anderer einschlägiger Stellen zu folgendem überraschenden Ergebnis kommt: „Unseres Erachtens braucht man keine enge Beziehung zwischen |1BX und dem ugaritischen $pn anzunehmen. Die Vorstellung, daß die Götter im Norden auf einem Berg thronen, existierte auch bei anderen Völkern." Ratlos macht dagegen die Auslegung von e N O R I N (Meer, 115 f.): „Zu den Worten säpön w jamin in V. 13 bietet LXX die interessante Parallele ßoppav Kai öaXaaaa". Diese Lesart entspricht einem hebräischen säpön w e jam, das in seiner Eigenschaft als lectio difficilior Anspruch darauf erheben kann, primär zu sein. Damit wird der mythologische Zug noch stärker hervorgehoben. Jhwh ist sowohl der Schöpfer des Gottesberges Säpön wie auch seines eigenen Widersachers jam." 524 Die Belege für Tabor und Hermon im AT sind folgende: Tabor: Ri 4,6.12.14; 8,18; Jos 19,22; Jer 46,18; Hos 5,1; Ps 89,13; l.Chr 6,62. Hermon: Dtn 3,8.9; 4,48; Jos 11,3.17; 12,1.5; 13,5.11; Ps 89,13; 133,3; Cant 4,8; l.Chr 5,23. 525 Dazu M E T Z O E R (aaO. 4 3 ) : „Dem Inhalt und der Satzstruktur nach steht V.13a in Parallele zu V.12b; das Stichwort Zafon verbindet V.13a mit den Bergen Tabor und Hermon in V.13b. Berge, die in der Umwelt Israels als Wohn- und Thronsitz von Göttern galten, sind Schöpfungen Jahwes (V.13a), bringen Jahwe Lobpreis dar (V.13b) und erkennen damit dessen Eigentumsanspruch an." 5 2 6

527

METZGER, a a O . 4 2 .

Diese drei „Körperteile" Jhwhs sind sonst mit der Heilstat der Erlösung Israels aus Ägypten eng verknüpft. Vgl. dazu die Formeln „mit starker Hand" (npm T I ) in Ex 13,9; Dtn 6,21; 7,8; 9,26 und „mit starker Hand und mit ausgerecktem Arm" (mo: m m nptn T 3 ) : Dtn 4,34; 5,15; 7,19; 11,2; 26,8; Jer 32,21; Ps 136,12. Vgl. auch Ps 44,4.

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

219

werden wegen ihrer Erhabenheit und Mächtigkeit gelobt. Mit seinem Arm hat Jhwh Rahab zerschlagen (V.l 1), mit seinem Arm und seiner Hand hält er aber auch an seinem König (V.22) fest. Wenn Jhwh seine Rechte sinken läßt, sie seinem Volke entzieht und die Rechte des Feindes stärkt (V.43), dann ist dieses der Beginn der Katastrophe. Gut altorientalisch 528 werden der Nimbus des Throns und die Insignien der Herrschaft Jhwhs beschrieben. Die vier Attribute und Garanten seiner gerechten Herrschaft, nnR, "ton, ddöd undpi:*, bilden den Sockel seines Throns und stehen wie Genien vor ihm. 529 Der Thron Davids, des Mandatars Jhwhs auf Erden, dessen Bestand und Dauer in der Gottesrede David verheißen wird (V.5.30.37), bietet dagegen immer nur ein unvollkommenes Abbild des gottköniglichen himmlischen Throns. Glanz und Bestand können dem irdischen Herrschaftsthron entzogen werden (V.45). Von Jhwh, seinem himmlischen Thron und der himmlischen Ratsversammlung wird der Blick in V. 16-19 auf die irdischen Gefilde und das Beziehungsgefüge beider Räume gelenkt. Jhwhs Herrlichkeit, Hoheit und Gerechtigkeit schatten sich in Israel (V.16-18a) und seinem König (V.18b-19) ab. Israel partizipiert an Jhwhs Hoheit, oder, besser gesagt, ist durch Jhwh begnadet. Der „Glückwunsch" (he)«) 530 setzt die Zäsur zu dem vorderen Abschnitt. Das Volk (DP kommt nur noch in V.20 vor), dem hier gratuliert wird, ist natürlich Israel. Die Determination von DJ?, die in V.l6-18a gewählte Form der Verben und Suffixe (3. Pers.Pl.) lassen die Preisung distanziert und unpersönlich klingen, doch der Wechsel der Suffixformen in die 1. Pers. PI. in V.l8b-19 holt das Volk in das Gebet der Gemeinde wieder hinein. Zum Proprium dieses Hymnus gehört es, daß, nachdem das Gotteslob angestimmt worden ist, ein „Volkslob" erklingt. Das enge Verhältnis zwischen Geber und Nehmer, zwischen Gott und Volk bringen die Stichen in V.16 ff. deutlich zum Ausdruck. Das Volk kennt die n e n n 5 " , den Jubelruf, der dem Gottkönig Jhwh gilt. Es kennt den Hymnus, 528 Zu den Belegen aus dem mesopotamischen Bereich vgl. ,$eschwörung bei UTU" (SAHG, Nr.43, 221 ff.) und die Gebetsbeschwörung an Iätar (SAHG, Nr. 62, 333 ff.). Zu den ägyptischen Parallelen vgl. B R U N N E R , H„ Gerechtigkeit als Fundament des Thrones (1958), in, DERS., Das Hörende Herz. Kleine Schriften zur Religions- und Geislesgeschichte Ägyptens, hrsg. v. W. RÖLLIG (OBO 80), 1980, 393-395. Zu den atl. Aussagen über Jhwhs Thron vgl. auch Ps 47,9 und Ps 93,2. 529 Vergleichbar mit Ps 89,15, wenn auch andersgeartet sind die Aussagen in Ps 8 5 , 1 1 14. 530 Der män-Glückwunsch ist 25 mal in den Pss und 43mal im übrigen AT belegt. Auf Israel bezogen ist er dagegen nur noch in Ps 33,12, 144,15 und Dtn 33,29, wobei es sich bei allen drei Texten um eher junge Gebilde handelt. 531

Das N o m e n kommt im AT allein 34mal vor. Davon in den Pss: 27,6; 33,3; 47,6; 89,16; 150,5. Die Bandbreite der Bedeutungen reicht von Kriegsgeschrei, Siegesgeschrei und Huldigungsruf für den König bis hin zum „kultischen" Jubelruf. Vgl. dazu R I N G G R E N ,

220

111. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

das Gotteslob und den Dank, den es Jhwh abzustatten gilt. Das Volk hingegen ist durch die Heilsgegenwart des deus praesens (V.16b) beschenkt. Parallel zu V.16 ist das Bikolon in V.17 aufgebaut. Der Jubel (V:) über den Namen Jhwhs ergeht täglich. Gemeinsam mit den numinosen Mächten, den Bergen (V.13), antwortet das Volk in seiner Freude auf seine Belehnung. Jhwhs Macht und Gerechtigkeit, die die Verse 14 und 15 beschrieben, manifestieren sich in dem Volk und verleihen diesem Gestalt (Dn: V.17b; vgl. zur Von auch V.18b.25b.43a) und Kraft (V.18a). Israel partizipiert an der göttlichen Gerechtigkeit und „Zierde". 5 3 2 Erst auf diesem Hintergrund erschließt sich der Sinn der schon besprochenen Klage von Thr 2,1 in seiner ganzen Tragweite:533 ¡vs-ra-nn 'HR i s l a n'ü' •ante' m « a n p «

D'oeta -[,L?ttfn

1BK DV3 V ^ - T D i n -DP« 1 ?!

Ach, verdunkelt hat in seinem Zorn der Herr die Tochter Zion, vom Himmel zur Erde geworfen hat er die Pracht Israels, und hat nicht des Schemels seiner Füße gedacht am Tage seines Zorns. V.18b führt die Reihe der Gnadentaten, die Jhwh an dem Volk vollzieht, fort. V.18 steht im Gegensatz zu V.17 und V.19 ganz im Zeichen des „Du" (nn«), Jhwh ist die Zierde Israels und in seinem Wohlgefallen erhebt er das „Horn" (vgl. V.25.) Israels, den König. Das Suffix in 18b, wie die Suffixe in dem zweiten 'D-Satz in V.19, wechselt unerwartet von der 3.Pers.Pl. (18a) in die l.Pers.Pl.. Emphatisch und affirmativ erhebt jetzt das Volk, von dem vorher distanziert die Rede war, die Stimme. Der Mandatar Jhwhs auf Erden, der König Israels, lebt in der Gnade Jhwhs, gehört diesem 0? possessoris in V.19) und garantiert die Gemeinschaft zwischen Gott und Volk. 534 Er ist Horn und Schild des Volkes. Das mbn in 19b leitet zu der angeschlossenen Gottesrede über.

ThWAT VII, Sp. 4 3 4 - 4 3 8 . 532 Der Hymnus in Ps 89 verdankt sich der jerusalemischen Tempeltheologie. In diese Beobachtung reihen sich auch die Verse 10 ff. ein. Ein Blick auf Ps 2 9 und Ps 9 3 - 9 6 bestätigt dieses. 533 Vgl. dazu auch die Klage in Jes 63,12 (mixon arir) und 64,10 OmnBm usjnp rvn). 534 •»-lO1 tfnpn ist 32mal im AT belegt, wobei allein die hohe Belegrate in Jes (27mal) überrascht. In den Pss ist es nur in Ps 71,22, 78,41 und 89,19 zu buchen.

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

221

II. Teil: V. 20-38 Das Scharnier zwischen Hymnus und Klage-Bitte-Teil (V. 39-52) bildet die durch das besondere Metrum (3+3) und die Einleitung (V.20aa) hervorgehobene - Gottesrede in den Versen 20a/3-38. Der priesterliche Verfasser 5 3 5 von Ps 89 läßt nach dem Gotteslob des ersten Teils nun den Besungenen selber zu Worte kommen. In Anknüpfung an die Verse 4 und 5 wird die für die Davidtheologie und für das nachexilische Israel wichtige Nathansweissagung aufgegriffen und einer relecture unterworfen. Der Verfasser bedient sich älteren Materials (2.Sam 7; Dtn 26; 32), welches er in produktiver, theologischer Interpretation536 umformt. Die Exposition in V.20a knüpft an den aus 2.Sam 7 vorgegebenen Handlungsrahmen an (2.Sam 7,17.17) an und weist die in V.20 ff. folgenden Gottesworte als Inhalt der Nathansvision aus. (Vgl. dazu die obige Skizze von 2.Sam 7) Die Gottesrede läßt sich in drei Abschnitte unterteilen: a) V.20a/?-26: Erwählung und Salbung Davids als Mandatar Jhwhs b) V.27-30: Bundesformel und Bundesinhalt (Dynastie- und Thronzusage) c) V.31-38: auf der einen Seite Strafen für den Fall, daß der menschliche „Bundespartner" den Bund bricht; auf der anderen Seite die Bekräftigung des göttlichen Partners, den Bund zu halten und nicht zu brechen; Betonung der Unmöglichkeit, daß ein Bundesbruch von seiten Gottes begangen werden könnte. Das „Gottesorakel" wird durch die Redeeinleitung in 20aa feierlich eröffnet. Die Zeitpartikel m markiert den Einschnitt zwischen Hymnus und dem folgenden Teil und weist auf die vergangenheitliche Perspektive hin. Die Worte, die damals Jhwh in der Vision (Aufnahme von 2.Sam 7,17: ]vrn) 535 Das in Ps 89 benutzte tempeltheologische Traditionsgut und die ausgeformte Davidtheologie legen diesen Schluß nahe. Nur ein Priester kann angesichts des Zornes Jhwhs (V.39 ff.) von Jhwh als demjenigen reden, der seinen feierlich zugeschworenen Bund gebrochen (V.40) habe und zum Lügner geworden sei (Umkehrung von V.36). Prophetische und priesterliche Kategorien und Redeweise vermischen sich in Ps 89. Spätestens zur Abfassungszeit von Ps 89 müssen beide Gruppen - Kultpropheten und Priester - eine Einheit gebildet haben. Die Anfänge liegen bei Ez. Die weitere Entwicklung dieses Prozesses ist in Joel zu sehen. 536

Zur A b h ä n g i g k e i t von Ps 8 9 von 2 . S a m 7, vgl. auch VEIJOLA, aaO. 6 0 - 6 9 . VEIJOLA

(aaO. 69) spricht in diesem Zusammenhang von „poetische(r) Interpretation". Doch dieses Attribut greift zu kurz. Zur theologischen Interpretation und Erweiterung von 2.Sam 7 gehört das Eintragen des rinn-Gedankens, der in 2.Sam 7 nicht vorkommt und Kennzeichen für ein späteres Stadium innerhalb der Davidstheologie ist. Unmöglich dagegen ist die Ansicht von MÜLLEN (The Divine Witness and the Davidic Royal Grant: Ps 8 9 : 3 7 - 3 8 , JBL 102 (1983), 209): „That Ps 8 9 : 2 0 - 3 8 provides an exegetical interpretation of Nathan's oracle seems quite probable but such does not necessitate a literary dependency between the psalm and 2 Sam 7:14-16."

222

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

sprach, sind schon Traditionsgut geworden. Mit dem Einst baut der Verfasser den Kontrast zu dem folgenden Jetzt in der Klage (V.39 ff.) geschickt auf. Bei der Nennung der Visionsempfänger bleibt V.20 recht unkonkret. Die junge und in diesem Zusammenhang ungewöhnliche - Bezeichnung DTOn 537 , die durch 2.Sam 7 nicht vorgegeben ist, spielt auf die beiden Gestalten Samuel und David an. Dadurch, daß beide „historischen Gestalten", die von der Tradition als „Fromme" par excellence hingestellt werden, nicht benannt sind, wahrt die Gottesrede zugleich geschichtliche Fiktion und Aktualität für die Gegenwart des betenden Volkes. Den D'Ton korrespondieren die dnau in V.51. V.20aß-26 Das exzeptionelle Verhältnis zwischen Jhwh und David rücken die sieben Bikola in den Vordergrund. David, der Erwählte Jhwhs (V.20b: n r a ) und Knecht, ist von Gott selbst - wie es die Verbformen (l.Pers.Sg. qatal) unterstreichen - gekrönt, erhöht, gefunden und gesalbt worden. Die Reihenfolge der ersten drei Handlungsverben (tön - a n - bu+mtö)538 überrascht auf den ersten Blick, klärt sich dann jedoch, wenn man begreift, daß 'ntön die Endgültigkeit des Erwählungsprozesses dokumentieren will. Wie Jhwh das Volk Israel in der Wüste gefunden hatte (Dtn 32,10), so hat Jhwh seinen Gesalbten, David, gefunden. Die eigentliche Klimax der vier Kola in V.20a/?21 besteht in der betont an das Ende gesetzten „Salbungsaussage" in 21b (invert. VS). 5 3 9 537 Eine Änderung des Plurals in den Singular wie es - für viele exemplarisch - G U N K E L (Psalmen, 385.393) und K R A U S (Psalmen, 779.781) vornehmen, ist nicht notwendig (so auch VEIJOLA, aaO. 116 f.). Völlig abwegig sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von K R A U S (aaO. 790): „Es wäre denkbar, daß in 20-38 prophetische Gottessprüche zusammengefaßt sind, die im Kult des .königlichen Zionfestes' zu verschiedenen Zeiten den Regenten der Dynastie Davids übermittelt wurden. So würde denn der in 39 einsetzenden Klage über den Niedergang des Königtums eine Summe von prophetischen Verheißungen vorangestellt sein." Merkwürdig bleibt auch die Einlassung von G E S E (Davidsbund, 127). „Ps 89,20 spricht von mehreren Kultpropheten, denen Jahwe die Dynastieverheißung in der Nacht offenbart, aber das mag eine Weiterbildung sein." 538 Daß der Verfasser von Ps 89 das Material anderer sog. „Königspsalmen" kennt, verdeutlicht der Ausdruck •w+mitf, der nur noch in Ps 21,6 belegt ist. Auch der dem König verheißene Sieg gegen die Feinde (V.23 ff.) greift neben 2.Sam 7 auf Ps 2 und Ps 21,9 f. zurück. 539 Neben der Stelle l.Sam 16,1, auf die in V.21 Bezug genommen wird, sind als exemplarische Beispiele für die Königssalbung l.Sam 10,1; l.Kön 1,39; 2.Kön 9,1 zu nennen. Als Subjekt der Salbung erscheint Jhwh in folgenden Fällen: l.Sam 10,1; 15,17; 2.Sam 12,7; 2.Kön 9,3.6.12; 2.Chr 22,7; Ps 45,8; Jes 61,1. Vgl. zu nitfD/rrtfn auch SEYBOLD, ThWAT V, Sp. 4 6 - 5 9 (55 f.), der jedoch die Sinnintention von Ps 89 verkennt. Seiner Meinung nach spielt „das speziell auf die Salbung des Königs zugeordnete theologische Konzept eine geringere Rolle, was sich auch daran zeigt, daß die Bezeichnung nur Ps 89,39 f.

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

223

Die ersten drei Kola ordnen dem Aktionsverb, dessen Subjekt jeweils Jhwh ist, in allen drei Fällen ein epitheton ornans als Objekt bei. David ist der Held, der Erwählte und Knecht. Besiegelt ist das Ganze durch die Salbung. Das in diesem Zusammenhang als „heilig" apostrophierte Öl (ehp jntö) weist einen deutlichen Unterschied zu dem sonstigen im AT erwähnten Salböl. Der K o n k o r d a n z b e f u n d zeigt, daß diese Terminologie nur in späten, priesterschriftlichen Schichten zu finden ist (Ex 30,25[2x]; 37,29; Num 35,25). Damit kommt ein weiteres Indiz hinzu, das für die Annahme einer späten Abfassung von Ps 89 spricht. Mit der sakralrechtlichen Salbung als Signum ist die unsichtbare res des Beistandes durch Jhwh impliziert (V.22). Die Hand und der siegreiche Arm des göttlichen Chaosbezwingers (vgl. zu T und m r V.14) bilden die Garantie für die „Gründung" (ps) 5 4 0 und den Halt ( p n pi„ vgl. Ps 80,16.18; Jes 41,10) des Thronprätendenten. Schutz und Trutz gegen die Feinde (rf?lirpl D'Ktönl D'lli) werden durch den Königsgott Jhwh erteilt. In deutlicher Aufnahme von 2.Sam 7,10 (DtrN: irraii1? tfnir'n) und der Königsideologie (vgl. Ps 2; 21) ist die chiastisch gebildete Beistandsaussage formuliert. Im Gegensatz zur älteren Stelle 2.Sam 7,10, an der die Ruhe vor den Feinden dem Volk verheißen wird, ergeht im Kontext von Ps 89 die Zusage an den Gesalbten. Diese Umdeutung macht deutlich, daß die Einzelgestalt des rrttin in sich Züge des Volkes aufgenommen hat. Das sog. Phänomen der Kollektivierung und Nationalisierung greift auch an dieser Stelle. Parallel zu den V.22-24 sind die Stichen in V.25-26 aufgebaut. Der Beistandsaussage (V.22: cm // V.25: cm) folgt die Konsekutivaussage (V.23 f.: göttl. Schutz vor den Feinden // V.26: göttl. Befähigung zur Machtausübung über Meer und Flüsse). Der König ist durch Jhwh „begnadet". „Güte" und in besonderer Akzentuierung verwendet ist. Das aller Glaubenserwartung zuwider laufende Schicksal des Königs: ,Du hast verstoßen und verworfen, bist ergrimmt über deinen Gesalbten, hast preisgegeben den Bund mit deinem Knecht, hast sein Diadem zu Boden getreten', wird hier Gott klagend zum Vorwurf gemacht, indem auf die dem Gesalbten zugesprochenen Privilegien verwiesen wird (Erwählung, Bund, Insignien), die das Handeln JHWHs als inkonsequent gegenüber den ,Gnadenbeweisen, wie du sie David geschworen bei deiner Treue' (v. 50), erscheinen lassen. Am Ende steht wie bei Ps 18, 51; 132,17; 1 Sam 2, 10 (vgl. Ps 28, 8) die Bitte um erneutes Gedenken an den Gesalbten." Dagegen ist festzuhalten, daß einerseits das „theologische Konzept" in Ps 89 - und zwar in V. 2 0 ff. durchaus eine gewichtige Rolle spielt, daß andererseits sich in V.52 hinter dem „Gesalbten" das Volk verbirgt. 540

Zu D D + p nif. vgl. noch Ps 78,37 (Herzen). Zu nif. sind die entsprechenden atl. Aussagen in Betracht zu ziehen, die sich auf den göttlichen/königlichen Thron (2.Sam 7,16; l.Kön 2,45; Ps 93,2; Prov 16,12; 25,5; 29,14; l.Chr 17,14), den „Erdkreis" ftnn: Ps 93,1; 96,10; l.Chr 16,30), die david. Königsmacht ( l . S a m 20,31; l.Kön 2,12.46) und Dynastie (2.Sam 7,26; l.Chr 17,24) beziehen.

224

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

„Treue" Jhwhs (vgl. V.2.3.9.15) sind ihm gegeben. Der Name des Gottes Israels, dem Schöpfung und Volk (V.13.17) Lob zollen, verleiht ihm Kraft (pp Dil vgl. V.18) 541 und befähigt ihn, die alten mythischen Feinde Meer (D1) und Flüsse (nnna) zu beherrschen. Eine Deutung von V.26, die nur im strengen Sinne auf den geographischen Aspekt im Sinne einer Großreichsbeschreibung abhebt 542 , greift zu kurz. V. 27-30 Die eigentliche theologische Hauptaussage, die das Proprium der Gottesrede ausmacht, bieten die Bikola V.27-30. Die enge Beziehung und Intimität des Verhältnisses zwischen Jhwh und seinem Gesalbten, die der einleitende Teil der Jhwh-Worte aufgezeigt hatte, kulminiert in der Aussage über das VaterSohn-Verhältnis und den Bundesschluß zwischen dem Erwählten und Jhwh. Als Traditionsmaterial lagen dem Verfasser von Ps 89 die königsideologischen Aussagen von Ps 2 und 2.Sam 7 vor. Die dort belegte „Adoptionsformel" (Ps 2,7: -pm'T' Dvn nn« 2.Sam 7,14: p 1 ? ^ - i r r r «im an1? iVrpnK mk) nimmt in Ps 89 den Rang einer „Bundesformel" ein. V.27 und V. 28 zeichnen das dialogische Geschehen - wie es im Grunde auch jedem Psalmgebet zugrundeliegt - zwischen menschlichem und göttlichem Partner nach. Der Anrede Jhwhs als WIE)' -rm (vgl. Ps 95,1; 18,47// 2.Sam 22,47) und n « in V.27 (x-jiqtol + 2 NSS) folgt die Antwort Jhwhs, die in der Erwählung und Erhöhung dieses einen besteht. Der Gesalbte Jhwhs entspricht in seiner Akklamation des „Vaters" seiner von Anfang an ergangenen Berufung und Begabung durch den göttlichen Geber. Der König Israels ist nach Ausweis von V.28 durch Jhwh vor allen anderen „Königen der Erde" erwählt. So wie Jhwh der Höchste im himmlischen Thronrat ist, so ist sein irdischer Mandatar der Höchste unter den Herrschern der Erde. Gegenüber den älteren Aussagen von Ps 2 und 2.Sam 7 hat sich unter der Hand die zweite Hälfte der „Formel" verändert. Es fällt auf, daß an der entsprechenden Stelle in V.28 nicht von „Sohn" (p) die Rede ist, sondern statt dessen dem König die Attribute 1133 („Erstgeborener") und jv^i) („Höchster") beigelegt werden. Im Hintergrund von V.28 steht nicht so sehr 2.Sam 7,9 ( p K 3 1IÖK n ^ - u n ottir» ^ n j 00 - p 'nto«), als vielmehr eine kleine Gruppe 541

Vgl. dagegen die klagenden Partien in Thr 2,3 und 2,17.

542

S o z . B . GUNKEL, aaO. 3 9 3 u n d VEUOLA, D a v i d v e r h e i ß u n g , 1 4 3 - 1 5 1 . VEIJOLA k o m m t

zu diesem Urteil, da er erstens den Hymnus V . 2 - 3 . 6 - 1 9 für ein „selbständiges, von dem nachfolgenden Orakel (V.20 ff.) unabhängiges Gedicht" (aaO. 143 f.) hält, zweitens die Einmaligkeit einer solchen Aussage, daß Jhwh den König zum Chaosüberwinder machte, anführt und drittens eine enge Nähe von V.26 zu Ps 80,12 annimmt.

Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

225

von Texten, auf die durch diese Epitheta angespielt werden soll. „Dass der König Gottes Erstgeborener sei, ist ein im AT völlig singulärer Gedanke, der nur hier bezeugt ist. Dagegen wird diese Würde Israel in verschiedenen Zusammenhängen zugestanden, unter denen Ex 4,22 mit seinem traditionsgeschichtlichen Hintergrund in Hos 11,1 die Grundlage und Jer 31,9 der Nachklang sein dürfte." 543 Mit dem Stichwort TDn rücken die Stellen Ex 4,22; Hos 11,1 und Jer 31,9 in den Vordergrund. Mit dem Stichwort kommen die Aussagen über die Stellung Israels unter den Völkern in Dtn 26,19; 28,1 in den Blick. 544 Zieht man darüber hinaus noch die Beobachtung hinzu, daß in exilischnachexilischen Texten die „Vater-Aussage" hauptsächlich in bezug auf das Volk Israel begegnet (Dtn 32,6; Jer 3,4.19; im Volksklagelied: Jes 63,16; 64,7), erhebt sich die anfängliche Vermutung zur Gewißheit, daß die schon beobachteten kollektiven Züge auch an dieser Stelle zum Tragen kommen (vgl. dazu auch unten V.31 ff.). Vers 29 bietet eine zweifache „Bestandsaussage". Die „Gnade" Jhwhs (vgl. V.3.15.25) und der geschlossene „Bund" sind auf Dauer angelegt. Die n'-n Jhwhs (beachte das Suffix der 1. Pers.Sg.; vgl. V.35), die hier an die Stelle der nnr» gerückt ist, ist „fest" und „treu" (|DK, nif.), wie der Zeuge und Stifter des Bundes, Jhwh. 5 4 5 V.30 unterstreicht nochmals den Inhalt der Bundeszusage, die in der Nachkommensverheißung und Thronzusage (vgl. V.5.37) - die Garantien für eine ewige Dynastie - besteht. V.

31-38

Der Schlußteil der Gottesrede läßt sich in zwei Unterabschnitte gliedern: a) V.31-33: Sanktion bei Bundesbruch b) V.34-38: erneute Garantieabgabe für die Beständigkeit der rinn. In deutlicher Aufnahme von 2.Sam 7,14 nennen die V.31-33 die göttliche „Konventionalstrafe" für den Fall des Bundesbruchs. 2.Sam 7,14: miira

543

p b 'bTrrr KTII I^TTHK du* ' n yyni n w n j e n vnrom

So richtig VEIJOLA, aaO. 1 4 1 . Zu dem aus dem kanaanäischen Schrifttum bekannten und im AT 53mal belegten Gottesepitheton jr 1 » vgl. auch ZOBEL, ThWAT VI, Sp. 131-151. 545 Die große Nähe von V.29 zu dtn/dtr Partien ist nicht zu leugnen. So z.B. zu der Schlüsselstelle über die Erwählung Israels in Dtn 7 (bes. Dtn 7,9). Daß dagegen das Volk den Bund gebrochen habe, wissen sowohl die Dtr als auch die von ihnen beeinflußten Texte, z.B. Ps 78,37: LRR-OA UDM] H 1 ?! IDB I I A R « 1 ? D A 1 ? ! . 544

226

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Psalm 89,31-33 t p 1 ? ' »6 'DstöDDi ' m i n m

nii) r DK

trottf' «b Tnsai ib^rr 'nprroK :mu> g m m oattfs aaitia T i i p a i

Im Stile der altorientalischen Vertrags- und Rechtssprache werden Protasis (2 DD-Sätze in V.31 f.) und Apodosis (V.33: syndetisch angeschlossen) aufgezählt. Die Uminterpretationen von 2.Sam 7, die der Verfasser vorgenommen hat, sind nicht zu übersehen. Bezog ¿ich das Gotteswort in 2.Sam 7 noch auf den einzelnen, den Nachkommen Davids, Salomo, so ist das von Ps 89 in den Blick genommene Subjekt, welches sich vergeht, in den Plural gesetzt. Charakterisierte 2.Sam 7 den Gott Israels als TraiSayojyos-, der auf die Vergehen des Sohnes wie ein Vater mit „menschlichen" Erziehungspraktiken reagiert, so erscheint Jhwh in Ps 89 als der „strafende Vater", der das Vergehen (utöa) und die Sünde (jiu) heimsucht (ipa). 5 4 6 Genau, wie die in V.31 f. genannten Objekte min irani npn D'DBltfn erinnern auch die vier Verben (aru, •^n, bbn, lotö) an die (dtn-) dtr Sprache, wie sie z.B. in Dtn 26 (Bundesschluß zwischen Jhwh und Israel) belegt ist. Dtn 26,17 lautet: T o n n n s ^ i n , n l ?K'7 -[b nvn 1 ? D v n m a n n

mir-n«

i ^ p a ü n o ' n vasitfai r m s m v p n notöbi

Der Verfasser von Psalm 89 benutzt das dtr Vokabular, gibt mit Hilfe dessen die Strafbestimmung wieder, um im Grunde die gegenwärtige Situation der Gemeinde zu beschreiben. Die für den „Bundesbruch" in Aussicht gestellte Strafe ist mittlerweile eingetroffen (V.39 ff.), Jhwh hat das Volk mit seinem „Gericht" heimgesucht. Der Verfasser von Psalm 89 fügt sich nur scheinbar in das Bild der dtr Schule. Denn er greift die Terminologie und den Schuldspruch gegen das Volk von seiten der Deuteronomisten nur auf, um die viel größere Schuld auf seiten Jhwhs aufzuweisen. Diesen Schluß legen die sich anschließenden Verse 34—38 nahe. Sie bilden das crescendo zu der in V.39 ff. 546 Ygj a u c j , |ji e Beobachtungen von Veuola (aaO. 61 f.): „Anstelle des Verbums mfl Hi. .sündigen' wird in Ps 89,33 das entsprechende Substantiv ]l» ,Sünde' gewählt und das Verbum ra' Hi. .züchtigen' durch npo Qal .strafen' ersetzt, was die geläufige Wendung ]U) TpB .die Sünde strafen' ergibt, die häufig auch in der dtr Literatur begegnet (Ex 20,5; 34,7; Nu 14,18; Dtn 5,9), und zwar gewöhnlich als Bestandteil der zweigliedrigen Bekenntnisformel .der die Sünde der Väter straft bis ins dritte und vierte Geschlecht an den Kindern aller, die mich hassen, der aber Gnade übt bis ins tausendste Geschlecht an den Kindern derer, die mich lieben und meine Gebote halten' (Dtn 5,9-10; vgl. Ex 20,5-6; 34,7)."

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

227

einsetzenden Klage. Der Verfasser läßt Jhwh in pleonastischer Weise seine Treue zu David und dem „Bund" beteuern. In kunstvoller chiastischer Anordnung betonen V.34 f. die Unverbrüchlichkeit von Gnade, Treue, Bund und Wort Jhwhs (nato jcnn). tsk-k 1 ? nom 34

Tinnen -ipoN-KVi wun X mitf« Hb 'raía kütoi

TT-O ^ntc* 1 ? 35

Die vier Akkusativobjekte sind jeweils von einem mit R1? negierten Verbum (~i~iB; nptí; rotö pi.) abhängig. Höchst außergewöhnlich ist es, daß Jhwh in beschwörendem Tone sich dazu bekennt, nicht - wie es nach gängiger dtr Sichtweise das Volk Israel getan hat - bundesbrüchig zu werden. Mit dem göttlichen Schwur in V.36 (untó, Rückbezug zu V. 4) 547 , David wirklich nicht „belügen" zu wollen, werden die Zusagen über die Treue (V.34 f.), aber auch die wiederholte Nachkommen- und Thronzusage (kosmische Perseveranz der Dynastie) promulgiert. Der Zeuge in den Wolken - und damit ist niemand anders als Jhwh gemeint 548 - ist treu (pK nif., vgl. schon in V.29). Die Klage in V.39 ff. zeigt, daß die eigentliche Intention des Verfassers von Psalm 89 erst dann richtig erfaßt wird, wenn man die Negationen in V.34.35 wegläßt. Denn Jhwh - so hat es die eingetroffene Not gezeigt - hat ja seine Gnade und Treue gebrochen und ist seinem einmal gegebenen Wort und dem Bund untreu geworden. Die Behauptung, daß sich Ps 89 dtn-dtr Kreisen verdanke 5 4 9 , ist nur insofern richtig, als der Verfasser von Ps 89 die dtr Schulsprache und Terminologie kennt, sie jedoch gerade gegen diese theologische Richtung wendet, um das Volk freizusprechen, Jhwh aber anzuklagen.

547 Die weitere Entfaltung des von Jhwh dem David gegebenen Schwurs findet sich in dem nach Ps 89 entstandenen Ps 132 (dort V.11.12). 548 Mit VEIJOLA, (Davidverheißung, 137-143; ders., The Witness in the Clouds: Ps 89:38 (1988), in, DERS., David. Gesammelte Studien zu den Davidüberlieferungen des Alten Testaments (SFEG 52), Göttingen, 1990, 154-159) gegen MULLEN (JBL 102, 1983, 218: „We may conclude, therefore, that the figure in Ps 89:38, the .witness in the heavens,' is possibly to be identified with the sun or the moon...") und MOSCA (JBL 105, 32 ff.), der hinter der Gestalt des .Zeugen" den davidischen Thron vermutet. - Die textkritischen

Änderungen

von

GUNKEL ( a a O . 3 9 4 ) u n d v o n KRAUS ( a a O . 7 8 1 ) tun d e m

Konsonantenbestand Gewalt an. 549

So z.B. in den Arbeiten von VEIJOLA vertreten.

erhaltenen

228

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

III. Teil: V. 39-52 Abschluß und Höhepunkt des Psalms bildet der letzte große Klageteil des Psalms (V.39-52). Hymnus (V.2.3.6-19) und Gottesorakel (V.20-38) stellen genau genommen nur das Präludium dar, um das eigentliche Anliegen des Gebets vorzubereiten. Das Lob Jhwhs und seiner Herrlichkeit und das ZuWorte-Kommen-Lassen dienen nur dem einen Zweck, Jhwh den Kontrast von Einst und Jetzt, den Widerspruch zwischen Verheißung und Nicht-Erfüllung schonungslos deutlich zu machen. Gottesrede (vgl. Ps 60) und Hymnus (vgl. Ps 74; 44; 80) sind der Klage des Volkes keine artfremden „Gattungsbestandteile" 550 , sondern sind - im Gegenteil - Versatzstücke und Traditionselemente aus den Gebeten des ersten Tempels, die in der Zeit des Exils und der nachexilischen Zeit in dem Formulieren der Jhwh-Gebete eine neue Sinndimension erfahren. Psalm 89 ist ein Text, der diese Elemente aufgreift und sie in seiner ihm eigenen Komposition darbietet. Denn entgegen aller Regel und Gewohnheit erschließen sich der Sinn und Intention von Ps 89 erst vom Ende her. Die Schilderung der eingetroffenen Not und des Elends (V.39-46: hauptsächlich AK-Formen in der 2.Pers.Sg.) mit anklagendem Ton und die beiden Fragen (V.47.50) mit angeschlossener -Dt-Bitte (V.48 mit Weiterführung in V.49 und V.51 mit untergeordnetem "ittfK-Satzgefüge in V.52) bilden das Grundgerüst des letzten Abschnitts, der in sich geschlossen ist und nicht in mehrere Schichten aufgegliedert werden darf. Damit wird der Sichtweise von Veijola und Floyd widersprochen, die aus jeweils verschiedenen Gründen hinter V.46 eine Zäsur vornehmen, anstatt dieselbe vor V.39 anzusetzen. 551 Das Waw-adversativum in V.39 macht dagegen zur Genüge deutlich, daß ein Hauptabschnitt gerade hier anzusetzen wäre. Notschilderung, Fragen und Bitten, die in V.39 ff. zu erkennen sind, gehören - wie es die exilischen Klagetexte hinlänglich zeigen - durchaus zusammen und sind nicht zu trennen. Gegen die Annahme sekundärer Erwei-

550

Vgl. dazu auch den Vergleich von Ps 89 mit anderen einschlägigen Texten, den u.a. (Verheissung, 120-133) durchgeführt hat. Aufgrund stichometrischer Gründe gelangt V E I J O L A zu diesem Urteil (aaO. 46; 88 ff.; 91; 112 und passim) und weist die V.47-49 und V.50-52 seiner dritten Entstehungsphase des Psalms zu. Veijola kommt jedoch selbst nicht darum herum, V.47-52 derselben „exilischen Epoche" wie 89,4-5.20-46 zuzuordnen und die sprachliche Verwandtheit beider Partien anerkennen zu müssen, die durchaus auf denselben Verfasser schließen lassen. Doch der von ihm hoch veranschlagte „einschneidende stichometrische Bruch zwischen diesen beiden Einheiten" zwingt ihn zu der Annahme, „dass Ps 89,47-52 von einem anderen Zeitgenossen noch während des Exils in Anlehnung an Ps 89,2-46 verfasst wurde" (aaO. 91). Zu F L O Y D , vgl. aaO. 446. VEIJOLA 551

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

229

terungen und Auffüllungen sprechen die im einzelnen sich abzeichnenden Vernetzungen und Verzahnungen, die der letzte Abschnitt aufweist. Una manu ist der Psalmtext als nachexilisches Gebet der Gemeinde konzipiert. Die Verse 39-46 bringen in Form der Not- und Elendsbeschreibung, der Skizzierung der jämmerlichen Gegenwart die direkte Anklage gegen Jhwh. 552 Der Blick geht auf die Verwerfungstat Jhwhs zurück; die AK-Formen machen das deutlich. Das Ereignis ist eingetroffen und geschehen. Einst und Jetzt bilden den im einzelnen zu belegenden größten Kontrast. Die Weissagungen und Verheißungen, die Psalm 89 in Aufnahme und relecture von 2.Sam 7 in den Versen 20-38 im einzelnen vortrug, sind nicht in Erfüllung gegangen. Das in den Vätergeschichten belegte treue Handeln Jhwhs, die Grundkonzeption von Verheißung und Erfüllung ist umgestoßen und hat sich als trügerisch erwiesen. Im einzelnen werden die Verheißungsaussagen revoziert. Damit aber noch nicht genug, wird Jhwh (vgl. V.40.50 im Gegensatz zu V.29.35.36) des Meineids bezichtigt. Der Gott Israels steht als Lügner da. Wie schon oben thematisiert und angesprochen, ist dies nicht mehr die Sprache der Deuteronomisten. Die Deuteronomisten, die in exilischer Zeit angetreten waren, Jhwh von der Anklage und Schuld zu befreien und die Schuld bei dem Volk suchten, sind von dieser Art von Theologie, wie sie in Psalm 89 aufscheint, um Welten getrennt. Das kunstvolle Arrangement, das die Erinnerung an die ergangene Verheißung dem Nachweis des Ausbleibens derselben schonungslos gegenüberstellt, ist in das theologische Gedankengebäude der Deuteronomisten nicht integrierbar. In diesem Zusammenhang bleibt es unverständlich, warum Veijola, der in seinem opus magnum Psalm 89 minutiös auf den traditionsgeschichtlichen und sprachlichen Hintergrund abklopft, doch an der Herkunft des Psalms aus dtr Kreisen festhält: „Der Verfasser von Ps 89 verkündet wieder das sola gratia, tut es aber noch in einer nomistischen Sprache. Alle diese Indizien sprechen dafür, dass in Ps 89,4-5.20-46 einer spricht, der mit der dtr Terminologie und Theologie intim vertraut ist und auch selber unter ihrem Einfluss lebt, der jedoch die nomistische Phase hinter sich gelassen hat. Dieser Beobachtung entspricht die in der neueren Erforschung der dtr Literatur zunehmend klar werdende Erkenntnis, dass hinter dem Siglum DtrN kaum eine Einzelperson steht, sondern viel eher ein Kreis von Bearbeitern, die neben gemeinsamer Basis durchaus noch ihre besonderen Anliegen vertreten. Der Dichter von Ps 89,4552 Vgl. auch W E S T E R M A N N (Lob, 135): „In den Gott anklagenden Fragen und Aussagen liegt der Schwerpunkt der Volksklage in Israel. Es gibt keine Klage des Volkes, in der sie ganz fehlten; der Vorgang der Klage ist in diesem Motiv konzentriert." „In vielen Psalmen hat dieses Glied der Klage sich mit anderen verbunden. Das deutlichste Beispiel dafür ist Ps. 89, 3 9 - 4 7 . Hier ist alles Anklage Gottes ..." (aaO. 135, Anm.33).

230

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

5.20-46 dürfte seine Heimat unter den späteren Vertretern dieses Kreises gehabt haben." 553 Doch schon die von Perlitt in seiner Arbeit über die „Bundestheologie im Alten Testament" vorgelegten Ergebnisse hätten vor einem Schluß in diese Richtung warnen müssen. Im Zusammenhang von 2.Sam 23,1-7 bemerkt Perlitt: „Diese recht .späten', David in den Mund gelegten Verse vertragen sich nicht mit dem dtr Gebrauch von m n , aufs beste dagegen mit Ps 89, wo die Unverbrüchlichkeit der an David ergangenen Gnadenerweise so hoch besungen wird, um Gott des Bundesbruchs anklagen (v.40a: ^^ni? r n a nn~sHt3) und den Wandel der Situation von seiner Eidestreue erhoffen zu können (v.50). Das ist einerseits vor dem Zusammenbruch der Dynastie (vielleicht sogar genauer: vor dem Ende Josias!) nicht sinnvoll, also auch kaum möglich, andererseits aber auch nicht (mehr) Sprache und Theologie des Dtr. Ps 89 spricht von der Verschuldung der Davididen (v. 31a) in der Sprache des Dtr, aber gleichsam kasuistisch und nebenbei; die Generalschuld fällt auf Jahwe, der die *m non und damit den ganzen Strom seiner Selbstverpflichtungen nicht durchgehalten hat."554 Als Beleg dafür, daß Ps 89 nicht mehr in exilische, sondern in die nachexilische Zeit einzuordnen ist, sind folgende Indizien anzuführen: 1.) die Abhängigkeit von 2.Sam 7 2.) der Gedanke der David-Berit 3.) die auffällige Abhängigkeit von älteren Klageliedern und exilischen Texten (Thr 2; Ps 80) und 4.) der Rekurs auf das davidische Königtum dergestalt, daß das Volk als kollektives Ich die Gestalt des rrtön ausfüllt. V. 39-46: In deutlicher Zäsur zu dem vorherigen Teil V.20-38 setzt das Bikolon in V.39 mit dem Waw-adversativum ein. „Du aber" (nnRi) wendet sich an Jhwh, der in der Gottesrede in der Wiederholung seiner von ihm beeideten Verheißung zu

V E I J O L A , aaO. 7 7 f. Nur folgerichtig ist es denn auch, wenn V E I J O L A Psalm 8 9 in die exilische Zeit in das Umfeld der deuteronomistischen Schule in Bethel situiert: „Man muss jedoch in Betracht ziehen, dass Ps 89 von der späteren Phase der dtr Wirksamkeit Zeugnis ablegt, die offensichtlich mit Bethel verbunden war, und dass Ps 89 als seinen Vorbau einen wahrscheinlich nordisraelitischen Hymnus hat, der wie die vielen nördlichen Überlieferungen im DtrG seinen Weg sehr wohl über Bethel in den 89. Psalm und damit in das judaische Traditionswesen gefunden haben kann. In Ermangelung näherer Indizien lässt sich der geographische Sitz des Psalms in Bethel natürlich nur vermuten, während sein kultischer Sitz im Leben in den exilischen Klagefeiern so gut wie sicher erscheint" (aaO. 210). Vgl. auch V E I J O L A , Klagegebet, 306 f. Wie hingegen ein dtr gearteter Text und Psalm aussieht, vermag ein Blick auf Ps 79 zu zeigen. 5 5 3

5 5 4

PERLITT,

Bundestheologie, 50 f.

231

Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

W o r t e g e k o m m e n war. 5 5 5 E s ist nicht mehr der h y m n i s c h e Duktus, der den T o n für d a s b e t o n t e P e r s o n a l p r o n o m e n (nnn) abgibt ( v g l . V . 1 0 f.), s o n d e r n d a s v o r w u r f s v o l l e „ D u " der A n k l a g e und Enttäuschung, das den T e n o r bildet. In k l i m a k t i s c h e r W e i s e wird das H a n d e l n J h w h s aufgezählt: „verstoßen" (rat) 556 , „ v e r w o r f e n " (OKD)557 und „erzürnt" ("Ol? II hitp.) 5 5 8 . V e r w e r f u n g und göttlicher Zorn (vgl. auch V . 4 7 ) - damit reiht sich P s 8 9 in die R e i h e v o n Threni und der a n d e r e n K l a g e l i e d e r d e s V o l k e s e i n - sind für d i e e i n g e t r e t e n e Katastrophe verantwortlich. G e t r o f f e n hat die V e r w e r f u n g den rrttin (betonte H e r v o r h e b u n g durch A c h t e r g e w i c h t ) . D e r „Gesalbte" J h w h s (zu "irrtön vgl. auch V . 5 2 ) ist s o m a c h t e s das s o n s t auch auf das V o l k b e z o g e n e Verb rat und der f o l g e n d e K o n t e x t ( b e a c h t e a u c h d i e N e b e n e i n a n d e r s t e l l u n g v o n " p m « und "¡rpttfn in V . 5 2 ) deutlich - k e i n e Einzelgestalt, auch nicht e i n David

redivivus,

sondern

d i e k o l l e k t i v e G r ö ß e , das V o l k . „ V o n V . 3 9 an wird d i e Ü b e r t r a g u n g der V e r h e i ß u n g a u f d a s V o l k g r e i f b a r , u m d e r e n t w i l l e n der g e s c h i c h t l i c h e R ü c k b l i c k g e g e b e n w o r d e n ist. D e r .Gesalbte' v o n V . 3 9 ist Israel." 5 5 9 555

Man wird den Untersuchungsergebnissen von LIPINSKI (Le Poème royal) und VEIJOLA (Davidverheißung) wohl zustimmen müssen, daß in Sprache und Gedankenwelt von Psalm 89 altorientalische Vertragsterminologie und Topik durchschimmert. Doch ob die Anspielung auf diese „Verträge" dem Verfasser des Psalms bewußt war und dieser sein Gebet in diesem Sinne verstanden wissen wollte, bleibt fraglich. Die Anordnung der jetzigen Teile (Hymnus Gottesrede - Klage - Bitte) ist und bleibt auch ohne diesen Traditionshintergrund, verständlich. So geht VEIJOLA (Davidsverheißung, 140) zu weit, wenn er in V.39-46 eine Entsprechung zu dem Fluchabschnitt der altorientalischen Verträge erblickt. Diese Kategorisierung wird dem Abschnitt nicht gerecht. Es geht nicht um Fluchandrohung bei Nichteinhaltung, sondern um die Klage, daß der Bundesgott seine Verheißung und seinen Bund gebrochen hat und darüber hinaus den ,3undestreuen" in das Elend stürzt. Der aus der Analogie der Fluchabschnitte der Verträge aus dem Alten Orient gezogene Schluß auf Ps 89 vermag nicht zu überzeugen. Anders hingegen verhält es sich mit dem Abschluß des großen „Gesetzeskorpus" in Dm. Dm 27 und 28 bilden dort den ,.Fluchabschnitt". 556 rm ist innerhalb der KV das meistgebrauchte Lexem, um die Verwerfung von Seiten Jhwhs in Worte zu kleiden. Vgl. dazu oben Anm. 38. 557 Typisch für den exilischen Sprachgebrauch und für dtr Texte ist das Wort DHO. ES „signalisiert im exilischen Sprachgebrauch eine grundlegende Wandlung in Gottes Innerem, die katastrophale Folgen für sein Volk hat" (VEIJOLA, Verheissung, 97). Hauptbelege sind: a) für die Verwerfung des Volkes: Thr 5,22; Lev 26,44; Jes 41,9; Jer 7,29; 14,19; 33,24.26; Hos 9,17 I b) Verwerfung Jerusalems: 2. Kön 23,27 I c) Verwerfung Israels: 2. Kön 17,20; Jer 6,30; 31,37; Ps 78, 59.67; Thr 3,45. 558 Für die Bezeichnung des Zorns Jhwhs nur noch in: Dtn 3,26; Ps 78,21.59.62. 559 BECKER, Deutung, 574. Vgl. zu dem Phänomen der Übertragung des Titels rrizto auf das Volk auch Ps 132. Zu den kollektivierenden Zügen in Ps 89 vgl. auch V E I J O L A , Verheissung, 135-143. „Immerhin scheint es ... sicher, dass Ps 89 in seiner aus spätexilischer Zeit stammenden Endgestalt sich nicht mehr allein mit dem Schicksal des davidischen Königshauses befasst, sondern in Wahrheit schon die Tragweite der diesem verliehenen göttlichen Verheissung wie auch ihres Untergangs auf das Volk Israel ausgedehnt hat" (ebenda, 143).

232

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des

Volkes

Erwählung (V.4) und Verwerfung (V.39) stehen einander gegenüber. Entgegen seiner Zusage (V.22.25.29.34) hat Jhwh „Treue" und Beistand entzogen. V.39 ist die eröffnende Überschrift des Klageteils. Was im einzelnen in den angeschlossenen Versen folgt, ist die nähere Charakterisierung der „Verwerfung". „Verpflichtung" und „Setzung", die Jhwh eingegangen ist, indem er mit seinem Gesalbten die m a geschlossen hat (V.4), hat Jhwh entgegen seinem Versprechen (V.35: 'rinn VntCR1?! 29.4) heuchlerisch gebrochen; so die Anklage in V.40. Die Insignien des Königs hat Jhwh seinem Knecht entzogen. Die Krone 560 , die Jhwh ihm selber aufgesetzt hatte (V.20), hat er entwürdigt (Vn) 561 . Der Mandatar Gottes auf Erden, der nach Ausweis von V.19 Jhwh gehört und in einem besonderen Verhältnis zu seinem Suzerän steht (V.4.19.20.21-38), ist entmachtet und erniedrigt. Der Heilige Israels (V.19: ' n n i r tinp) profaniert das Heilige, begeht ein Sakrileg. Die unheilige Zusammenstellung von TK3 und bbn unterstreicht dies. Die Nähe zu den Threni und den exilischen Volksklagen wird auch im Gebrauch dieser beiden Schlüsselwörter deutlich. 5 6 2 Threni 2 klagt über die Entweihung des Königtums und der Beamtenschaft (V.2: nntoi ns'pnn Vth) und die Profanierung des Heiligtums durch Jhwh (V.7: löipn Ti« innin mir mr). Ps 89 und Threni 2 sind weit davon entfernt, dtr zu sein. Auch Ps 74,7 klagt über die Entweihung des Heiligtums, jedoch in Form der Feindklage (V.7: "|Gtti~ptÖD ibbn p« 1 ?). In Ps 74 ist es jedoch nicht Jhwh, der handelt, sondern die Feinde, denen Jhwh die Möglichkeit zu ihrem Agieren eröffnet hat.

560 Zur Königskrone ( i n ) vgl. auch: 2.Sam 1,10; 2.Kön 11,12; Ps 132,18; 2.Chr 23,11. Erst in priesterschriftl.-priesterl. Kreisen wird sie zum Zeichen des Hohenpriesters (Ex 29,6; 39,30; Lev 8,9). Daß auch diese Aussage in V.40 kollektiv verstanden werden kann, verdeutlicht die Klage in Thr 5,16: „Die Krone unseres Hauptes ist gefallen." 561 Zu ^ n auf Jhwh bezogen vgl. auch noch: Jes 43,28; 4 7 , 6 (Erbe/Volk); Ez 24,21 (Heiligtum); Jes 23,9; Ez 28,16. Für das Handeln des Menschen: a) Bund entweihen: Mal 2,10; Ps 55,22; b): Sabbat entweihen: Ex 31,14; Jes 56,2.6; Ez 20,13; c): Das Heiligtum entweihen: Lev 21,12.23; Ez 22,26; d) Gottes Namen: Lev 18,21; Jer 34,16; A m 2,7; Mal 1,12.

562 Vgl. dazu auch VEIJOLA (aaO. 99 f.), der daraus jedoch Argumente für seine exilische Datierung von Ps 89 bezieht.

Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

233

Die Aussage von V.41 setzt den Feldzug der Babylonier voraus. Mauern und Städte, d.h. die Grenzfestungen 563 , sind in Schutt und Asche gelegt. 564 Mit seiner Klage setzt V.41 die Reihe von Texten (Thr 2,2.5.7 f.; Ps 80,13) fort, die dasselbe Thema zum Inhalt hatten. Besonders Ps 80 - eine Volksklage, die älter als Ps 89 ist - steht in frappierender Nähe zu V.41. 1~n '-DJ?- 1 » rrnm n n u n s i a nn1? Warum hast du seine Wälle eingerissen, so daß alle, die des Weges ziehen, von ihm pflücken? (V.13) Derselbe historische Vorfall wird hier in zweierlei Weise theologisch aufgearbeitet und im Gebet vor Jhwh gebracht.565 Das in V.42 folgende Bikolon greift auf die aus den älteren Klageliedern des Volkes und Threni bekannten Wendungen und Formulierungen zurück. Die Topik und eingeschliffene Sprache dieser Texte ist in V.42 mit Händen zu greifen. V.42a schildert, daß in Folge der mangelnden Wehrhaftigkeit des Landes (V.41) Land und Bevölkerung der Plünderung (ooiö qal) 5 6 6 durch „Vorüberziehende" ( y n ' " o r 4 » ) preisgegeben sei. Die gleiche Klage über das Ausplündern des Landes ergeht in Ps 44,11 (mb lotti u'ioöo) und in Ps 80,13, der aufgrund des Bildes vom Weinberg/Weinstock vom „Pflücken" (l~n ' - n i r t a nnR; VmK) spricht. Die Akteure des Plünderns finden auch in Thr 1,12, Thr 2,15 und Ps 80,13 Erwähnung, wobei sie in den letzten beiden Texten pejorativ als Spötter und Plünderer charakterisiert werden. 5 6 7 Der 563

Zu r r r n vgl. noch: Num 32,16.24.36; l.Sam 24,4; Zeph 2,6; Nah 3,17. r r r u bzw. n ( i ) m wird im AT „vorzugsweise zur Bezeichnung von Einfriedungen, die aus Steinen zum Schutze der Herde errichtet wurden," benutzt. „Was die .befestigten Städte' (-cnn n o ) für die Menschen, das bedeuten die .Einfriedungen' für die Herde" (VEIJOLA, aaO. 100). VEIJOLA (aaO. 100 ff.) macht darauf aufmerksam, daß es sich bei den in V.41 erwähnten Fortifikationsanlagen um die judäischen Grenzfestungen handelt. Zu "üon als Bezeichnung für „Festung" im weitesten Sinne sind folgende Belege zu buchen: a) Sg.: Jos 17,29; Hab 1,10; Ps 108,11; b) PL: 2.Kön 8,12; Mi 5,10; Nah 3,12,14; Thr 2,2.5. 564 Als eindrückliche Zeitzeugnisse und historische Dokumente, die ein Licht auf die letzten Tage der Festungen Lachisch und Aseka werfen, stehen die 1935-38 entdeckten 21 Lachisch-Ostraka (besonders wichtig: Nr. 3,4 und 6; KAI, Nr. 192-199) zur Verfügung. nrinn („Untergang"; „Zerstörung") ist ein eher selten gebrauchtes, junges Wort im AT: Jes 54,14; Jer 17,17; 48,39; Prov (7x): 10,14 f.29; 13,3. 565 In die Reihe dieser beiden Texte ist noch Jes 5 traditionsgeschichtlich einzufügen (Jes 5 ->Ps 80 ->Ps 89). 566 YGI Z U COS)/¡TOS) die hauptsächlich im DtrG vorkommenden Belege: Ri 2,14; l.Sam 14,48; 17,53; 2.Kön 17,20; Jer 30,16. 567 Vgl. zu der Wendung -pn n a s " 1 » auch VEIJOLA (aaO. 104-106) und sein Fazit: „Der exilische Horizont der Wendung "|-n ' m a - 1 » wird noch zusätzlich durch das vielfache

234

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Parallelismus in V.42 macht deutlich, daß unter den Plünderern auch die „lieben" Nachbarn („seine Nachbarn": V33Ö) zu finden sind, dener „er" (bezogen auf RVTTFD und H I aus V.39.40) zur Schmach geworden ist. Auch mit dieser Klage über die erlittene Schmach 568 und über das Verhalten der angrenzenden Nachbarstaaten (Moab; Ammon; Aram; aber vor allem Edom) 569 , die mit EMDttf bezeichnet werden, steht Psalm 89 nicht allein da. Ein Blick auf die Gruppe der Volksklagen zeigt, daß diese Klage fest zum Standardrepertoire zu zählen ist:570

Ps 44,14:

irnn'no 1 ? obpi a»1? irasfl1? n a m lairton

Ps 80,7:

loVuü'r lrrrKi lrastf1? JHD lairton

Ps 79,4:

irmn'ao1? o^pi au1? inDd1? nsnn ir'n

Ps 79,12:

'rtR -psnri nöt* a n a i n Dp'n-1?« D'njnttf irastf1? nein

Schmach und Spott sind jedoch nicht nur Gegenstand der Klage, sondern ebenfalls Bestandteil der Bitte (vgl. V.51 f.). Wie Krankheit und Anfeindung durch die Feinde in den Klagen des einzelnen, gehören Spott und Hohn in der Gruppe der Klage des Volkes in die Kategorie und in den Machtbereich der Jhwh-feindlichen Welt und des Todes. Sie sind Begleiterscheinungen der erlittenen Katastrophe. Auch hinter dem Subjekt in 42b und den Suffixen der 3. Pers. Sg. steht keine Einzelgestalt mehr, sondern das Volk als „corporate personality".

Vorkommen der kürzeren Fassung (-) BI) -QIB in verschiedenen prophetischen Katastrophenankündigungen des 6. Jahrhunderts beleuchtet, die das Schicksal Judas (Jer 18,16), Jerusalems (Jer 19,8 D; vgl. Ez 5,14), Edoms (Jer 49,17) oder Babels (Jer 50,13) ansagen. Nach diesem Befund beurteilt, haben (-) "jB/yn nna-'ps eine gewichtige Funktion in der Vollstreckung des göttlichen Strafgerichts gegen Juda und Jerusalem 587 gehabt" (aaO. 106). 568 Zu nenn vgl. noch: Ps 44,14; 74,22; 79,4; 80,7. Vgl. dazu oben Anm. 80. Zu D'»a) vgl. noch: Ps 31,12; 44,14; 79,4.12; 80,7; Jer 12,14; 49,10.18; 50,40. Die Nähe der „Katastrophenformeln" (s. zum Ausdruck, V E I J O L A , aaO. 106 f.) zu den Droh- und Gerichtsworten der dtr Literatur ist frappierend, aber nicht verwunderlich. Beide Verfassergruppen sind als gegenseitige Zeitgenossen darum bemüht, das Schicksal Judas theologisch zu verarbeiten. 569 v g | z u r R 0 n e Edoms in den Wirren um 587 v. Chr. und zum atl. Edomhaß auch KELLERMANN, Psalm 137, 54-58; DERS., Erwägungen, 61-64; VEIJOLA, aaO. 107-110. 570 „Konventionelle Bilder der .Volksklagelieder' schildern die Not", wie K R A U S (aaO. 792) dazu richtig vermerkt.

Psalm 89 - Das Volk in der Knechtsgestalt

235

Im A n s c h l u ß an V . 4 2 w e n d e n sich die Verse 4 3 - 4 6 in ihrer Anklage wieder direkt an Jhwh ( V e r b f o r m e n in der 2.Pers.Sg.) und malen in der Gestalt d e s „königlichen Knechts" das erlittene Elend aus. 5 7 1 Im Kampf g e g e n die Feinde und Widersacher hat Jhwh dem „Gesalbten" nicht beigestanden, sondern im G e g e n t e i l auf der Seite der Feinde mitgekämpft und diese sogar noch gestärkt ( V . 4 3 . 4 4 ) . 5 7 2 Durch die Niederlage in der Schlacht g e g e n die Feinde sind die A u s s a g e n d e s H y m n u s ( V . 1 8 ff.) und der göttlichen Verheißung ( V . 2 0 b - 2 5 ) w i d e r l e g t w o r d e n . 5 7 3 Dadurch daß Jhwh sich auf die Seite des F e i n d e s v o n K ö n i g und V o l k g e s c h l a g e n hat, haben selbst die W a f f e n ihrem Träger nicht mehr gehorcht (beachte in 4 4 a den A n s c h l u ß durch

sondern sich g e g e n

den e i g e n e n Träger g e w e n d e t . 5 7 4 Letzte K o n s e q u e n z aus dem Entzug der 571

Vgl. zu dem Problem, daß sich in V.40 ff. die kollektiven mit den individuellen Zügen mischen auch V E I J O L A (aaO. 136): .Allerdings ist einzuräumen, dass in den drei letzten Versen der Klage (V.44—46) wiederum Bilder und Motive begegnen, die eine individuelle Deutung auf den Verlust eines Königs zumindest nicht aussschliessen, obwohl sie auch metaphorisch als Hinweise auf das Geschick des Volkes verstanden werden können. Aufs Ganze gesehen ist das Eigentümliche in der Klage V.39-46, dass sie keine durchgehende Unterscheidung zwischen kollektiven und individuellen Zügen erlaubt, weil beide in einer eigenartigen Mischung in- und durcheinandergehen, so dass im Endeffekt der Eindruck eines kollektivierenden Gesamtcharakters des Abschnitts stehenbleibt." 572 Vgl. dazu auch Thr 2, 4.5.17b; Jes 63,10; Jer 6,1-6; 21,5. 573 Eine genauere historische Fixierung und Ausdeutung der Schlacht verbietet sich von vornherein. Wie in den anderen Klageliedern des Volkes, die Anspielungen auf „militärische Niederlagen" erwähnen (Ps 44; 60), wird man davon ausgehen müssen, daß es sich dabei um eine Stereotype handelt, die sich vom konkreten historischen Vorfall gelöst und in dieser Form in die Gebetsliteratur Eingang gefunden hat. Daß gleichwohl der Fall Judas und Jerusalems (587 v. Chr.) das Hauptereignis ist, dem sich all diese Redewendungen verdanken, bleibt unbestritten. Ganz anders W A R D (VT 11, 1961, 388): „We need not look to the destruction of Jerusalem for the sufficient explanation of lxxxix 39-52, however. The division of the Davidic Solomonic kingdom, and the failure of Judah to realize its grandiose hope of universal dominion (lxxxix 22-28, cf. Pss. ii, lxxii, cx), is a more likely occasion for the lament. If one objects that the cultic expression of that hope was figurative and hyperbolic, influenced by Oriental courtstyle, we will answer that the lament is equally hyperbolic. Therefore, such an argument is irrelevant. If the sociopolitical triumphs of the united monarchy gave rise to the pretensions of the royal psalms, as they probably did, then the major checks to the fulfillment of those pretensions, from the revolt of Jeroboam I to the final demise of Zedekiah, would readily have given rise to a lament such as Ps. lxxxix 3952." 574 Y G [ DAZU A U C H ciie Untersuchungsergebnisse von V E I J O L A (Davidverheißung, 131136), der auf die Fluchlisten zweier altorientalischer Verträge (Kaäkäervertrag; Asarhaddonvertrag) aufmerksam macht, die einen mit V.44a vergleichbaren Passus enthalten, und zu dem Schluß kommt, „daß auch Ps 89,44a mit 3iü) Hi. in genau dem gleichen Sinne zu verstehen und entsprechend zu übersetzen ist: ,Du hast die Schneide seines Schwertes gegen ihn selber gekehrt.' So hat sich gezeigt, daß auch Ps 89 an dieser Stelle unter dem Einfluß der traditionellen vorderorientalischen Vertragsterminologie steht, die das Vorbild auch für Jer 21,4 und Ahiqar IX 126 geboten hatte" (aaO. 136).

236

111. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Gnade und Treue (~ion und mn») durch Jhwh ist die Widerrufung der Salbung durch den Entzug des „Glanzes" (~ina)575. Die göttliche Begnadung und Begabung des Königs wird durch den Geber zurückgenommen. Damit einher geht der Sturz des Thrones (V.45b: zu pH1? vgl. V.40), dem ewige Dauer verheißen war (vgl. V.5.30.37). In die Sprache der Klage des einzelnen fällt der Verfasser in V.46 zurück. Der Auserwählte, der Jhwh mit „mein Vater" anruft (vgl. V.27), ist von ihm der Jugend beraubt, mit Schande (niöin)576 bedeckt worden. 577 Unter Verwendung des hebräischen Ausdrucks n'm1?^ spielt der Verfasser auf die D^iu-Aussagen der Gottesrede (V.29.37.38) und des Hymnus (V.2.3.5) an. Anstatt die Dauer des Thrones und der Dynastie zu gewähren, hat Jhwh die kurze Lebensspanne der Jugend578 noch verkürzt. Der Komplex V.47-52 schließt den Psalm ab. Formal gesehen, begegnen in diesem letzten Teil allein drei Fragen (V.47.49.50) und zwei nsr-Bitten (V.48.51). Mit einer für die Gruppe der Volksklagen typischen „Wie-lange"-Frage 579 setzt V.47 ein. Das Verworfensein (V.39), Not und Elend ( V . 4 0 ^ 6 ) der jetzigen Situation gehen auf das Verborgensein ("ino, den Gegensatz dazu in V.16) 5 8 0 und den Zorn (nDn)581 Jhwhs zurück. Ähnlich klingt die Frage in der Volksklage Psalm 79: inmp

-imn n ^ tpan mrr np-nu

(V.5)

575 Vgl. dazu noch Ex 24,10. Jhwh erscheint den.Ältesten und Mose in seinem Glänze. 576 nttfo gehört zu den selteneren Wörtern im AT. Im Kontext von Trauer, Untergang und Tod wird es auch in Ez 7,18; Ob 10 und Mi 7,10 verwendet. 577 Der Spekulation darüber, auf welchen König an dieser Stelle angespielt wird, stehen wegen der unspezifischen Aussage Tür und Tor offen. Für die verschiedenen Datierungsvorschläge müssen David, Rehabeam, Ahas oder Jojachin herhalten (vgl. dazu V E I J O L A , aaO. 111, Anm. 7 9 ) . Wenn überhaupt, dann wird man wohl mit VEIJOLA (aaO. 111) eine Anspielung auf Jojachin (2.Kön 24,8-16) und dessen Deportation vermuten dürfen. 578 Es muß offen bleiben, ob der Verfasser mit dem Ausdruck voi^a 'Q' eine Anspielung auf die c'Dttf 'n' (V.30) aus der Gottesrede beabsichtigt hat. 579 Zu no"-U> vgl. noch: Ps 79,5 und 74,9. Die andere Fragepartikel TIQ'U) ist in Ps 74,10 und 80,5 belegt. Ob die Frage nach der Dauer (wie lange?) in jedem Fall „eine schon länger andauernde Unglückssituation" (so VEIJOLA, aaO. 112) voraussetzt, bleibt fraglich. Vgl. dazu auch Anm. 263. 580 Der klassische Ausdruck für die Verborgenheit Gottes und dessen Heilsentzug ist "ino (+ vgl. auch im KV Ps 44,25). Er findet sich in prominenter Weise in den Gebeten des einzelnen (KE) (Ps 10,11; 13,2; 22,25; 27,9; 30,8; 51,11; 69,18; 88,15; 102,3; 143,7 [Hi 13,24; 34,29] und in folgenden Texten, die vom Verborgensein Jhwhs vor seinem Volk reden: Dtn 31,17 f.; Jes 8,17; 54,8; 57,17; 59,2; 64,6; Jer 33,5; Ez 39,23 f.; Mi 3,4. 581 Wie schon des öfteren betont, spielt der Zorn Jhwhs als Interpretament in den KV eine gewichtige Rolle: Ps 60,3; 74,1; 79,5.6; 80,5; 85,4.6; 89,39.47; Thr 2.

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

237

Grund und Ursache für den Zorn Jhwhs bleiben den Betern ein Rätsel. Über die eigene Schuld und eigene Verfehlungen wird in Psalm 89 nicht nachgedacht. Die Dauer des Zorns und die Ursache für diesen bleibt den Betern verschlossen. Ganz vom Ton und Duktus der Klage des einzelnen bestimmt sind die beiden Bikola in V.48 und 49. Die Bitte (48a) und die klagenden Fragen (48b49b) knüpfen inhaltlich an V.46 an, weiten das Thema jedoch aus und stellen grundsätzlich die Frage nach dem Sinn und der Zielgerichtetheit des Menschen (48b) und thematisieren seine Todesverfallenheit (V.49). Dem "r^rr („Leben"; „Lebensdauer") in 48a sind die drei Antonyme Ritö, nin und blNtö gegenübergestellt. 5 8 2 Ob V.48 und 49 von Anfang zu dem Grundbestand von Ps 89 dazugehört haben, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden. 583 Daß das Thema der Todesverfallenheit auch in Ps 44,26 als Motivation für das erhoffte Eingreifen Jhwhs genannt wird, ist nicht zu übersehen. Dennoch stellt sich anhand des weisheitlichen Gepräges, des zu vermutenden jungen Alters der Sprache und der Thematik (Menschenschöpfung: Ausweitung von V.12.13 [tca]) die Frage, ob diese beiden Verse nicht im Zuge der Verkettung (concatenatio) und Endredaktion des Psalters an ihre jetzige Stelle eingefügt worden sind. 584 Bezüge zu Ps 88 und Ps 90 sind mit Händen zu greifen. Die klagende iVR-Frage 585 in V.50 faßt die im einzelnen vorgebrachten Anklagen gegen Jhwh zusammen, indem sie die Leitwörter non (hier PI. D'ion, vgl. V.2) und mion (vgl. V.2.3.6.9.25.34) nochmals aufgreift und ihre ausbleibende Realisierung dieser unterstreicht. Die Verheißungen 586 , die Jhwh gegeben (V.20-38) und beeidet hatte (V.34-38), sind nicht eingetroffen. Hier wird Gott gegen Gott angerufen. 587 582 Daß es sich bei Y n um ein recht junges Wort aus dem Bereich der Weisheit handelt, verdeutlicht der Konkordanzbefund. Belegt ist es nur noch in: Ps 39,6 (spät-weisheitlich); Hi 11,17. 583 Daran ändert auch nichts, wenn K R A U S in V.48 einen König sprechen hört, der „die Nichtigkeit des Lebens und die Todverfallenheit aller Kreatur" (aaO. 792) beklagt. Zur Kritik an Kraus und den anderen Vertretern, die an dieser Stelle den König als Sänger des Psalms annehmen, vgl. auch V E I J O L A , aaO. 113-117. 584 Ähnlich T Ä T E (Psalms, 427): „These two verses seem rather stränge in the context, since they introduce subject matter not mentioned before in the psalm and are placed in an .envelope' structure, or insertion patter, between vv 47 and 50 (...)." „One may suspect that vv 4 8 - 4 9 have been added to the psalm to bring it into line with individual laments, probably in the post-exilic period (...)" (aaO. 428). 585 Vgl. dazu auch Jes 63,11. 586 Das OTtöm entreißt die „Gnadentaten" der menschlichen Zeitrechnung und macht ihren Charakter als „urzeitliche Gründungstat" deutlich. Es kommt damit dem sonst gebräuchlichen eng recht nahe. 587 Vgl. dazu auch die Kommentierung von S P I E C K E R M A N N (Erde, 425 f.): „Anstelle von Gottes Herrlichkeitspräsenz auf Erden seine Gerechtigkeit im Sinne seiner Gnade(ntaten) (hsd

238

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

D i e abschließende Bitte in V.51 f. läßt es zur Gewißheit werden, daß der rrttfn in V . 3 9 als kollektive Größe zu deuten ist. Jhwh m ö g e der S c h m a c h ( n e i n , vgl. V . 4 2 ) gedenken, die seinen Knechten (Q'nau; das S u f f i x unterstreicht die Beziehung zu Jhwh) zuteil geworden ist. V . 5 2 b zeigt, daß e s sich bei diesen „Knechten" um den „Gesalbten" handelt. In auffälliger W e i s e wird in V . 5 1 b die Konstruktion durchbrochen, da die Verb- und S u f f i x f o r m e n singularisch gebildet sind. Diese Beobachtung erhellt sich jedoch, wenn davon ausgegangen wird, daß die corporate

personality

des V o l k e s im Hintergrund

steht. 5 8 8 D a s Volk als ganzes erleidet die Not und Schmach durch die Feinde Jhwhs (-prrTK). Im Grunde - so wird es abschließend Jhwh vorgehalten - sind e s nicht die Feinde des Volkes, sondern die Feinde Jhwhs. Jhwh, das V o l k Israel und die Heilsgeschichte dieses Volkes mit seinem Gott - sie ist mit den irrtÖD rropl) gemeint, w e l c h e zugleich die vestigia

Dei sind - sind in uner-

träglicher W e i s e der Verspottung preisgegeben. 5 8 9 A l s abschließendes Ergebnis bleibt festzuhalten, daß der A n n a h m e von VeijolaS9°,

daß V . 4 7 - 5 2 ein den Versen 3 9 - 4 6 angefügtes Stück sei, wider-

und hdsjm) und seiner Wahrheit (= Verläßlichkeit, Beständigkeit, 'mwnh, vgl. V.l, aber auch V.2 f.6.9.25.34) wieder glaubwürdig und lobenswert zu machen, ist die Absicht des Dichters von Ps 89. Aber er scheitert daran, denn der Hymnus gerät zur bitteren Klage:, Wo sind deine Gnadentaten von ehedem, Herr, die du David bei deiner Wahrheit ('mwnh) zugeschworen hast?' (V.50). ,Du aber hast verstoßen, hast verworfen, bist im Zom entbrannt gegen deinen Gesalbten' (V.39, vgl. V.40ff), welcher das Gottesvolk selbst ist (vgl. V.51f). Wahrscheinlich ist dieses Scheitern am Gotteslob theologisch kalkuliert. Die Diskrepanz zwischen Wollen und Vollbringen soll Jahwe zum Handeln bewegen. Wo die Gnadentaten von ehedem unkenntlich (vgl. V.50) und in der Gegenwart nicht die Herrlichkeitsfülle, wohl aber der Hohn (t. emend.) der Völker und die Gotteslästerung der Feinde erfahrbar sind (vgl. V.51f), da steht der Vorsatz zum ewigen Lob der Gnadentaten (vgl. V.2) auf unsicheren Füßen, da ist der schenkende Gott dringlich nach erneuter Zuwendung gefragt." 588 Vgl. zur kollektiven Deutung von V.51 f. auch B E C K E R , Deutung, 574; V E I J O L A , aaO. 137 ff. Anders wiederum K R A U S (aaO. 792): „Auch in 51 scheint ein König zu sprechen. Er bittet um Jahwes gnädiges Aufmerken und stellt sich selbst dar als einer, der den Hohn der Völker trägt (...)." Genauso auch DAY (Dragon, 26): „Unlike the comparable ps. 74 an exilic date appears to be ruled out, since following the reference to the king's humiliation we find him alive and still speaking in vv.51-2 (...). The psalm must therefore be pre-exilic." 589 Der Plural rrapi kommt neben der weniger bedeutenden Stelle Ct 1,8 nur noch in Ps 77,20 (yrrap») im Zusammenhang einer Anspielung auf das Exodusgeschehen vor und bezeichnet hier die verborgenen „Spuren Gottes". 590 Vgl. dazu V E I J O L A S Ausführungen und Begründung: „Mithin ist als Ergebnis der sprachlichen Kontrolle festzuhalten, dass Ps 89,47-52 unter diachroner Betrachtung offenbar in die gleiche, d.h. exilische Epoche gehört wie Ps 89,4-5.20-46, weshalb die Kenntnis dieses Psalms in seiner Endgestalt dem Deuterojesaja durchaus zuzutrauen ist. Allein auf die Sprache gesehen würde nichts daran hindern, die abschliessende Einheit V.47-52 von demselben Verfasser herzuleiten wie die vorangehende V. (4-5.)20-46. Allerdings bliebe dann der einschneidende stichometrische Bruch zwischen diesen beiden Einheiten ohne eine befriedigende Erklärung, und deshalb müssen wir annehmen, dass Ps 89,47-52 von einem

Psalm 89 - Das Volk in der

Knechtsgestalt

239

sprochen werden muß. Im Gegenteil hat sich gezeigt, daß sich die Verse 47.50-52 in den Duktus und die Makrostruktur von Psalm 89 organisch einfügen und mit den Versen 39-46 ein geschlossenes Gebilde ergeben. Ps 89 ist somit ein einheitlicher Text aus nachexilischer Zeit, der zwar vorauslaufende Traditionen intensiv verarbeitet, nicht aber vorformulierte Texte (etwa einen nordisraelitischen Hymnus) inkorporiert hat. Hauptsächlicher Gesprächspartner ist die deuteronomistische Theologie, deren Anliegen (der Schuldaufweis des Volkes und die „Rechtfertigung" Gottes) aber gerade nicht positiv aufgenommen und weitergeführt, sondern - zum Teil in deuteronomistischer Travestie - aufs schärfste kritisiert wird. Ps 89 will in seiner Intention vom Ende her verstanden sein: von der Klage her, daß Gott die Gnadenzusagen an David (verstanden als corporate personality für das Volk) nicht eingehalten habe. Kosmisches Gotteslob und göttliche Verheißungsrede werden durch diese Klage theologisch desavouiert und sollen die anklagende Aufforderung an Gott zum Gedenken zur wirkmächtigen Bitte machen. Psalm 89 zeigt deutlich, daß auch in nachexilischer Zeit die Klage bzw. Anklage gegen Jhwh ein bestimmendes Element der Volksklagelieder gewesen ist. Psalm 89 und der im folgenden zu besprechende Psalm 132 verdeutlichen, daß in nachexilischer Zeit Israels Existenz unter der Völkerwelt immer wieder die Frage der Erwählung aufgeworfen hat. Die Differenz zwischen verheißungsvoller Tradition und verheißungsloser Existenz ist in diesen Volksklagen vor Gott mit der anklagend-dringlichen Bitte gebracht worden, seinen eigenen Verheißungen treu zu bleiben. Davon, daß die Idee der Nationalisierung und Kollektivierung der Gestalt des Gesalbten, wie sie schon in Ps 89 begegnete, in der weiteren nachexilischen Gebetsliteratur ihre Spuren hinterließ, legt Psalm 132 beredtes Zeugnis ab.

3.3.2. Psalm 132 - Das Volk als Gesalbter 1 2 3

Gedenke, Jhwh, bezüglich Davids all seiner Erniedrigung", der Jhwh geschworen hat, der dem Starken Jakobs das Gelöbnis gegeben hat. „Wahrlich, ich will nicht in das Zelt meines Hauses gehen, ich will nicht das Bett meines Lagers besteigen;

anderen Zeitgenossen noch während des Exils in Anlehnung an Ps 8 9 , 2 - 4 6 verfasse wurde" (aaO. 91. Vgl. auch aaO. 112.135).

240 4 5 6 7 8 9 10 11 12

13 14 15 16 17 18

Zur

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

ich gönne meinen Augen keinen Schlaf, meinen Lidern keinen Schlummer, bis daß ich einen Platz für Jhwh finde, eine Wohnstätteb für den Starken Jakobs!" Siehe, wir haben von ihr gehört in Ephrata, gefunden haben wir sie in den Gefilden Jaars. Laßt uns zu seiner Wohnung gehen, laßt uns uns niederwerfen vor dem Schemel seiner Füße! Erhebe dich, Jhwh, zu deinem Ruhesitz, du und die Lade deiner Macht! Deine Priester sollen sich kleiden mit Gerechtigkeit und deine Frommen sollen jubeln! Um Davids, deines Kechtes, willen, weise deinen Gesalbten nicht ab! Geschworen hat Jhwh dem David - fest, nicht wird er davon abrücken: „Von der Frucht deines Leibes werde ich dir auf den Thron setzen!0 Wenn deine Söhne meinen Bund und meine Satzungen halten, die ich sie lehren werde, werden auch ihre Söhne auf immer auf deinem Thron sitzen!" Denn Jhwh hat sich den Zion erwählt, ihn als Sitz gewollt. „Dies ist mein Ruhesitz auf immer; hier werde ich thronen, denn ich habe diesen gewollt. Seine Speise will ich segnen, seine Armen will ich mit Brot speisen und seine Priester will ich mit Heil kleiden und seine Frommen sollen jubeln. Dort werde ich David ein Horn sprießen lassen, bereite ich meinem Gesalbten eine Leuchte. Seine Feinde werde ich mit Schande kleiden, aber über ihm wird seine Krone strahlen." Übersetzung:

Psalm 132 ist aus textkritischer Sicht her gesehen gut erhalten.591 Konjekturen und Emendationen können vermieden werden. a: Der inf. pu. triaü (Vrm> II: „geplagt, gedemütigt sein bzw. werden") sollte auch als solcher wiedergegeben werden; mit Baethgen (Psalmen, 391) gegen Gunkel (Psalmen, 564. 568: „sein Kasteien"); Duhm, (Psalmen, 444: „sein Bemühen"); Kraus, Psalmen, 1054 („sein Sichplagen") und Kruse (VT 33, 296 f.: „efforts" = inf. cs.qal). Sehr beliebt, aber unnötig ist die Ergänzung nach Neh 5,19 um ein rrrnob („zum Guten"). So schon bei Duhm (aaO. 444) angedeutet und zuletzt umgesetzt bei Kruse (aaO. 281.296). 591 So auch E I S S F E L D T , Psalm 1 3 2 , 4 8 5 ; F R E T H E I M , Psalm 1 3 2 , dann doch mehrere Eingriffe in den Konsonantenbestand vornimmt.

289,

wobei

FRETHEIM

Psalm 132 - Das Volk als Gesalbter

241

b: Bei rvuacta handelt es sich um einen amplifizierenden Plural, vgl. GK § 124b. c: Kraus gibt sich mit dem Zustand des Textes von !U nicht zufrieden (aaO. 1055: „Am Anfang des zweiten Vollverses in 11 fehlt das Objekt. Dem Sinne nach ist zu vermuten, daß üo^o o d e r f f n (12ay) ausgefallen ist.") und ergänzt unnötigerweise ein cp'pQ. Damit wird Ps 132, der davon lebt, daß die Aussagen auf das Volk bezogen werden können, zu sehr eingeengt. Kraus läßt sich von seiner Idee eines „königlichen Zionfestes" leiten (vgl. ebenda, 1059).

Bei Psalm 132 handelt es sich um eine späte Frucht der Psalmendichtung.592 Da Ps 132 die Textkorpora von 2.Sam 6-7 5 9 3 und Psalm 89 voraussetzt 594 , selber wiederum in 2.Chr 6,41 ff. aufgenommen wird, liegt die Datierung des Textes 592

Bei der gattungsgeschichtlichen Einordnung von Ps 132 gehen die Meinungen stark auseinander. Gemeinhin wird er den sog. Königspsalmen (2; 18; 20; 21; 45; 72; 89 [s. dazu oben!]; 101; 110); zugerechnet (vgl. KAISER, Einleitung, 340; SMEND, Entstehung, 200; DAY, Psalms, 88; MILLARD, Komposition, 70.219., passim; SEYBOLD; Wallfahrtspsalmen, 42; Einführung, 98). SEYBOLD rechnet den Text sowohl zu den Königspsalmen (Einführung, 98) als auch zu den „großen Geschichtspsalmen wie 44; 78; 80; 105; 106" (aaO. 115). Zu den Problemen der Einordnung von Ps 132 vgl. auch FRETHEIM, Psalm 132, 289. 593 In seinem Aufbau ist Ps 132 an der inhaltlichen Reihenfolge von 2.Sam 6 f. ausgerichtet. Der Sorge um die „Lade" (2.Sam 6) in den V.l-10 mit Davids Gelübde folgt die Verheißung Jhwhs (2.Sam 7). Auch wenn V.8 die Lade Jhwhs (ys ]TK) erwähnt, so spielt sie doch für den Gesamtzusammenhang und die Intention von Ps 132, der eine einzige große Bitte (V.l. 10) ist, eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen die an David gegebene Verheißung und der Zion. Auf den Kopf gestellt wird das Verhältnis zwischen Geberstelle (2.Sam 6 f.) und Nehmerstelle (Ps 132) durch GESE (Davidsbund, 129): „Auf jeden Fall sind die von Ps 132 vertretenen theologischen Traditionen wesentlich älter und stellen die Folie dar, von der 2Sam7 sich gerade abheben will." 594 Zu der Beziehung von Ps 132 zu Ps 89 vgl. auch VEIJOLA (Verheissung, 72 f.): „Die Zahl der sprachlichen Berührungen mit Ps 132, einem relativ kurzen Text (mit 18 Versen), ist auffallend gross (28 Berührungen durch 16 Wörter und Ausdrücke). In diesem Fall kann jedoch keine Rede davon sein, dass ein Dichter vom anderen abgeschrieben hätte. Die sprachlichen und thematischen Verbindungen erklären sich weit natürlicher durch die Annahme, dass diese beiden Psalmen .ungefähr auf derselben horizontalen Linie stehen' und als ihren gemeinsamen Bezugsrahmen die Davidverheissung von 2Sam 7 haben, die jeder von ihnen auf seine Weise anhand der dtr Schulterminologie und -theologie weiterführt." Vgl. auch TOURNAY, Voir, 163. An Übereinstimmungen zwischen Ps 132 und Ps 89 sind folgende Punkte zu nennen: 1. Nennung Davids (132,1/89,4.21.36.50); 2. Ehrentitel Knecht (132,10/ 89,4.21.40 51(pl.); 3. tvitfo (132,10.17/89,39.52); 4. Eid Jhwhs (132,11 ff./89,4.36.50); 5. Bestätigung der Verläßlichkeit der Verheißung (132,11/89,34-38); 6. Gebote (132,12/ 89,31 f.); 7. die Frommen (o'-ron: 132,9.16/89,20); 8. Krone, Diadem ( m : 132,18/ 89,20.40); 9. Horn ( p p : 132,17/89,25). Genauso wie die dtr Einordnung von Ps 89, die VEIJOLA vornimmt, anzuzweifeln ist, so auch seine dtr Etikettierung von Ps 132. Auch bezüglich Ps 132 wird man sagen müssen, daß dem Verfasser des Psalms die dtn-dtr Schulsprache und ihre Theologoumena (Davidverheißung als Jhwhs Eid: 2.Sam 3,9-10; Ps 89,4.36.50; Ps 132,11) bekannt sind, er jedoch nicht dieser Schulrichtung zugeordnet werden darf. Bei allen Übereinstimmungen zwischen 2.Sam 7, Ps 89 und Ps 132 kann in bezug auf Ps 132 von einem „dtr Mutterboden" (VEIJOLA, aaO. 73) keine Rede mehr sein.

242

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

in d i e n a c h e x i l i s c h e Z e i t auf der H a n d . 5 9 5 W e i t e r e I n d i z i e n , d i e

diese

Einordnung unterstützen, sind: a) die b e t o n t e V e r w e n d u n g d e s Stilmittels der w ö r t l i c h e n R e d e ( S c h w u r D a v i d s : V . 3 - 5 und S c h w u r Jhwhs: V . l l a y - 1 8 ) b) der G e d a n k e der Personality,

corporate

der sich in V . l und V . 1 0 abschattet c) die A r m u t s t h e o l o g i e ( V . 1 5 :

D'JvnR) d) das P e r s o n e n e n s e m b l e : V . 9 . 1 6 : D T o n und c n r o / V . 1 5 : D'rrnR e) J h w h als „Gesetzeslehrer". V . 1 2 f ) A u f n a h m e älterer A u s d r ü c k e zur b e w u ß t e n A r c h a i s i e r u n g (npl)' T3R; Ladespruch [ N u m 10,35] in V . 8 ) 5 9 6 g) t h e o l o g i s c h e A u f w e r t u n g d e s Z i o n ( E r w ä h l u n g in V . 1 3 : T D ) 5 9 7 h) D a v i d als T y p o s d e s F r o m m e n und Gerechten. D e r k u n s t v o l l k o m p o n i e r t e P s a l m 5 9 8 , der im j e t z i g e n Z u s a m m e n h a n g

-

redaktionsgeschichtlich g e s e h e n - in die Wallfahrtspsalmen 5 9 9 e i n g e b u n d e n ist, zerfällt mit s e i n e n Brennpunkten, d e m S c h w u r D a v i d s und Jhwhs, in f o l g e n d e Abschnitte: I . V . 1 - 1 0 : a ) V . 1 - 5 I b) V . 6 - 1 0

II. V . l l - 1 8 : a) V . l l - 1 2 I b) V . 1 3 - 1 8

595

In der Frage der Datierung von Psalm 132 gehen die Standpunkte in der gegenwärtigen Psalmenforschung auseinander, wobei das Schibboleth hauptsächlich in der vorexilischen oder aber exilischen Ansetzung liegt. Für eine vorexilische Datierung treten ein: G U N K E L (Psalmen, 568); G E S E (Davidsbund, 119: frühe, vorexilische Zeit); E I S S F E L D T (Psalm 132,483.485); KRAUS (Psalmen, 1061: belastet durch seine Hypothese eines „königlichen Zionfestes"); D A Y (Psalms, 91.96 f.); SEOW (Myth, 202: 10. Jhdt. im Zusammenhang der Reichstrennung); KÜHLEWEIN (Geschichte, 145). Für die exilische Datierung: VEUOLA (aaO. 75 Anm.16.), SPIECKERMANN (Heilsgegenwart, 95: spätexilisch); BECKER (Deutung, 576: exilisch-nachexilisch). Für eine nachexilische Verortung: DUHM (Psalmen, 447: makkabäisch), BAETHGEN (Psalmen, 390); TOURNAY, Voir, 163. 596 Vgl. dazu auch VEIJOLA (aaO. 75): „Somit kann Ps 132 unmöglich eine archaische Kulttradition repräsentieren. Vielmehr erklären sich die archaisch anmutenden Züge als bewusste Archaisierungen von der Hand eines jüngeren Dichters, der seinem Gedicht ein altertümliches Gepräge zu geben versuchte." S E Y B O L D , der Ps 132 als neubearbeiteten „Königspsalm und Hieras logos des Zionheiligtums" einstuft (ZAW 91 [1979], 266), glaubt, in seiner Analyse mehrere Teilstücke herauslösen zu können: „1. ein königspsalmähnliches Fragment v. 1.10 (Prosa); 2. ein ,Ladegedichtzitat' (O. Eißfeldt) v.6-9 oder ein .RitualAuszug' (H.-J.Kraus) 3. eine theologische Ergänzung v. 12 (Prosa)" (aaO. 256, Anm.46). 597

Vgl. dazu neben Ps 78,68 auch Sach 1,17; 2,12; 2.Chr 6,6; 7,12.16; 12,13. Besonders auffällig und manieristisch sind die gehäuften Stichwortwiederholungen und -wiederaufnahmen; vgl.: sota in V.2 und 11; 3p»' "ratf? in V.2 und 5, V«ia in V.3 und V.7; Vhsd in V.5 und 6; rrascto in V.5 und 7; nrrun in V.8 und V.14; D'-i'on und c : r D in V.9 und V.16; Vttfn1? in V.9.16.18; V)N in V.9 und V.16; Vaiü) in V.10 und V . l l ; -^-«OD1? in V . l l und V.12; i T n s in V.12 und V.14; Vrn* in V.13 und V.M. 599 Vgl. zu den Wallfahrtspsalmen die Studie von S E Y B O L D , Die Redaktion der Wallfahrtspsalmen, ZAW 91 (1979), 247-268; DERS., Die Wallfahrtspsalmen. Studien zur Entstehungsgeschichte von Psalm 120-134, BThSt 3,1978 und MILLARD, Die Komposition des Psalters. Ein formgeschichtlicher Ansatz, FAT 9, Tübingen 1994, 35—41.76-80. 598

Psalm 132 - Das Volk als Gesalbter

243

Skizze: rtösan TE) I I. v . i - i o jirraü-^a n« -rn1? mrr-TDr -in« 1 ? -na ni-r1? yyö: 2 s'jrcr to-iirbu tfwJicDR ' i r n bnan 3 :nman 'ZSZSB 'rr 1 ? rattf jnicaK A :npir • m a b m o e t a mrr 1 ? m p n » ö d r - i s 5 n i r - n t o n rrorciD n r n a a n m s t t f - n n 6 t v b n Dirf? mnntöa vrrmtönb n«i33 7 qt» nn« -¡nrnnb mir rraip 8 •Axrr -['Tom p-rc-Kün'r - p r o 9 qi-rön nttirr1?« y m » - m n r n n 10 m n o mti'-Hb r m m b nvr-mtti] 11 11. v . l l - 1 8 q^KOD 1 ? rvttiK -pQ3 n e n m n b « ir ' m s i ' n n a y n vtoiö'-dk 12 q'ynoa1? u ö ' - u m » o r r a - r n i-b 3(010*7 m * mrp - r c r o 13 : r r r m o a ö i m B -11m» 'nman-nm m :onb irniDK n ' j v a « - p n n - p n r r r s 15 :"urv p r r - r o m ÜB)' ¡ön1?« m r o i 16 tTrttfn1? -u TID-IU -rn 1 ? p p rrnüK de) 17 : n n p s ' rtin nein t ö n 1 » va,TK 18

Analyse: I.

V.l-10

D e n Charakter der Bitte, den Psalm 132 in Gänze vermittelt, unterstreichen die Verse 1 und 10, die aufeinander bezogen sind und den Teil V. 2 - 9 umrahmen. D e r „Erniedrigung" (mar) 6 0 0 Davids soll Jhwh gedenken 6 0 1 und um d i e s e s Knechtes 6 0 2 willen den Gesalbten und sein Gebet - ein solches stellt Ps 132 ja dar - nicht abweisen. D i e S u f f i x e der 2.Pers.Sg. in V . 1 0 sprechen Jhwh an und z e i g e n ihm, daß beide, der Knecht David - hier als Heilsgestalt und 600

Zur Form und Übersetzung des Infinitivs s. oben. Mit der „Erniedrigung" ist sowohl das im folgenden (V.2-5) beschriebene Verhalten Davids als auch darüber hinaus - wenn man mit dem Gedanken der Kollektivierung auch bei der Gestalt Davids Emst macht - das dem Volk Israel durch das Exil und die folgenden Wirren der nachexilischen Zeit beigefügte Elend gemeint. Eine lockere - wenn auch nur vermutungsweise - Anknüpfung an 2.Sam 7 scheint auch hier im Hintergrund zu stehen, insofern auch 2.Sam 7,10 (myA n^ur'sa iB,o,-Ktj) dem Volk ein Ende der Erniedrigung/Bedrückung verheißt. 601 Zum Imperativ mar vgl. auch Ps 74,2.18; 89,48.51. 602 Zu dem auch altorientalisch verbreiteten Ehrentitel „Knecht" für David vgl. auch 2.Sam 7,5.8; Ps 89,4.21.36.

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III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

-vermittler fungierend - und der Gesalbte, mit dem in diesem nachexilischen Gebet nur das Volk gemeint sein kann,603 im besonderen Verhältnis zu Jhwh stehen. Bitte ( V . l - 1 0 ) und Verheißung (V. 11-18) konzentrieren sich in der stilisierten Gestalt Davids. 604 Die Reziprozität des Verhältnisses zwischen David und Jhwh verdeutlichen einerseits der an V.l anknüpfende "lÖR-Satz (V.2), andererseits der Verbalsatz in V . l l . 6 0 5 Der Schwur Davids (V.2: N W 1 ? METO I Ö K ) wird durch den Schwur Jhwhs ( V . l l : m 1 ? nw-jnitfa) erwidert. Anders als in Ps 89,27 f. wird in Ps 132 auf die Beschreibung des Vater-Sohn-Verhältnisses verzichtet und statt dessen die Innigkeit des bestehenden Verhältnisses beider durch die gegenseitig korrespondierenden Eide einerseits, andererseits durch die vom Verfasser von Ps 132 pointiert dargestellte Sorge Davids um einen angemessenen Platz für Jhwh (V.5: Dipn) und die Entsprechung durch die Erwählung Zions von Seiten Jhwhs ( V . O . 14) skizziert. 606 Midraschartig wird in den Versen 2 - 5 (Rahmung durch npir T2R in V.2b und 5b) der Stoff von 2.Sam 6 f. zur Ehre Davids wiedergegeben. 607 Von dem

603 Mit B E C K E R , Deutung, 5 7 6 gegen K R A U S (aaO. 1 0 6 4 : „Aufmerksamkeit aber gilt dem König. Er tritt an die Stelle Davids. Um Davids willen möge er nicht abgewiesen werden!"). 604 Dazu SPIECKERMANN (Heilsgegenwart, 163): „In Ps 132 erfahrt die Heilsgeschichte nochmals eine Ausweitung. Hier ist es der .Knecht David', um dessentwillen der rrön .Gesalbte' Jahwes, in welchem sich das Volk wiedererkennt, der göttlichen Zuwendung weiterhin gewiß sein kann (V.10. 17)." 605 Ähnlich auch SPIECKERMANN (ebenda): „Davids Schwur zu Jahwe (V.2) und Jahwes Schwur zu David ( V . l l ) , in dessen verheißungsvolle (jedoch nicht bedingungslose, vgl. V.12) Selbstverpflichtung das Volk sich eingeschlossen weiß, bilden ein komplementäres Verhältnis, welches vor allem den theologischen Rang Davids in der Spätzeit deutlich werden läßt." 606 Dem Suchen und Finden (KSn) Davids in Ps 132,5 korrespondiert die Jhwh-Aussage von Ps 89,21, seinen Gesalbten gefunden zu haben. 607 Um den Eindruck von der Frömmigkeit dieses vorbildlich handelnden Davids zu steigern, scheut sich der Verfasser von Ps 132 nicht, das „luxuriöse" Zedernhaus des Königs (2.Sam 7,2: D ' n » n ' a ) in eine ärmlichere Zeltkonstruktion (Ps 132,3: 'rra bnn) zu verwandeln.

Psalm 132 - Das Volk als Gesalbter

245

Gedanken beunruhigt, daß Jhwh keine adäquate Wohnstätte innehabe (V.5: nißlön; cnpo), hat der Knecht Jhwhs dem „Starken Jakobs" 608 sein Gelübde (TU und JOÖ nif. V.2) abgelegt. Daß das Volk Israel zwischen diesen beiden Polen, nämlich David und Jhwh, steht, verdeutlicht im Gesamtkontext des Psalms das Aussagegefälle der Verse 6-9, welche zwischen dem Schwur Davids und der Gottesrede stehen. Auf diese dritte zu Worte kommende Stimme innerhalb des Psalms entfallen mit Bitte und Übergängen die Verse 1-2. 6-11 und 13. Die Verse 6-9 fungieren insofern als Schnittstelle zwischen Davidrede und Gottesrede, als das Volk, welches hier das Wort ergreift, im Gegensatz zu David (V.3-5) um den Ort der Gottespräsenz und Wohnung Jhwhs weiß (V.6.7) und zur großen Wallfahrt einlädt. Um welche Gottesstätte es sich dabei handelt, zeigt die Gottesrede in V. 11 ff. auf. Es ist der Zion, den sich Jhwh erwählt hat (V.13: "im). Das Rad der Geschichte ist in V.6 ff. zurückgedreht. Gegenwart der nachexilischen Gemeinde und die Vergangenheit der Heilsgeschichte vermischen sich und verschmelzen zu einer Einheit. Die Zäsur zwischen V.6 (Volk) und V.5 (David) ist durch die Interjektion und den plötzlichen Wechsel der Verbformen in die l.Pers.Pl. deutlich gesetzt. „Wir haben von ihr gehört" - „wir haben sie gefunden". Im Gegensatz zu David (V.5) lebt das Volk in dem Wissen um die Gottestätte. Gewisse Schwierigkeiten bereiten die femininen Suffixe der Verbformen (rraantö und rraön) in V.6. Üblicherweise behilft man sich damit, daß man beide Suffixe auf die Lade (|riR) Jhwhs bezieht, die in V.8 erwähnt wird, und dementsprechend die Verse 6 ff. im Lichte der Ladeerzählungen (l.Sam 6 f.; 2.Sam 6 f.) deutet. 609 608

Zu dem an dieser Stelle archaisierend verwendeten Gottesnamen npw T3K vgl. auch noch Gen 49,24; Jes 49,26; 60,16; (Jes 1,24: ^mür Tau). Aufschlußreich für Ps 132 ist der pointierte Gebrauch des Epithetons in den Jesaja-Schichten. Es handelt sich jeweils um Zusagen an und Aussagen über Zion. Ps 132 setzt diesen Verwendungskontext voraus. In den Gesamtrahmen seiner Interpretation eines „königlichen Zionfestes" paßt K R A U S ' Kommentierung: „Dieser Name läßt deutlich eine gesamtisraelitische, amphiktyonische Tendenz der Erzählung erkennen" (aaO. 1062). - Mehr über dageSierte und nicht-dageäierte Formen, als über theologisch relevante Verwendungsweisen von "van unterrichtet KAPELRUD (ThWAT I, Sp. 43-46). „Auch in dem alten Tempelpsalm (Ps 132), wo David und seine Nachkommen mit der Lade und dem Bunde in enger Verbindung stehen und Aussagen aus dem alten nordisraelitischen Kultbereich bewahrt sind, ist ,der Starke Jakobs' erwähnt (v.2 und 5). Der Psalm zeugt von der durch David erfolgten Verschmelzung von nordisraelitischen und judäischen Kulttraditionen" (ebenda, Sp. 45). 609 So G U N K E L (aaO. 566); D U H M (Psalmen, 445); K R A U S (aaO. 1062 f.); E A T O N (Kingship, 125 f.); S E Y B O L D (Wallfahrtspsalmen, 32), S E O W (Myth, 165). Die Ortsangabe "wntD wird dementsprechend als Anspielung auf Kiijath Jearim (D'-ur rmp) in l.Sam 7,1 f. und 2.Sam 6,2 gedeutet ( G U N K E L , aaO. 566; KRAUS, aaO. 1063; skeptisch dagegen BAETHGEN, Psalmen, 392). Daß mit nrns» auf die Davidstradition (vgl. u.a. Ruth 4,11; Mi 5,1) angespielt werden soll, ist evident. Völlig abwegig dagegen ist es, zur Lösung des Problems

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Iii. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

Fraglich wird diese Interpretation jedoch dadurch, daß die Lade nur an den beiden Stellen l.Sam 4,17 und 2.Chr 8,11 mit femininem Genus konstruiert ist. Als alternative Deutung der femininen Suffixe bestünde die Möglichkeit, den Zion (hebräisch feminin) als Bezugsobjekt in Erwägung zu ziehen. Die Aufforderung in V.7 (fiktive Wallfahrt) und die Aufforderung an Jhwh in V.8 (Anspielung auf den Ladespruch in Num 10,35) hätten ihren adäquaten Zielort dann auf dem Zion, wobei nrazta, r b n D"rn (V.7)und nm» (V.8) als deutlicher Verweis auf diesen verstanden werden könnten. Eine nähere Klärung erhalten die Aussagen von V.8 und V . 9 (festliche Investitur der Priester mit durch Jhwh; Jubelruf der „Frommen") durch die Worte Jhwhs (nrruo in V.8 und V.14 II D'Tom + Obj. Wön 1 ? + m r o in V.9 und V.16). II. V. 11-18 Den Höhepunkt des Psalms, auf den alles hinläuft, bildet der in V . l l herausgehobene Gottesschwur ( V . l l : -rn1? mrvjnttf]; korrespondierend mit V.2). Dieser letzte große Block des Psalms zerfällt bei genauerem Hinsehen in zwei Teile, die durch ihre jeweilige Einleitung in V . l l und V.13 thematisch gekennzeichnet sind. 1.) V . l 1-12: Davidsthron und Nachkommenschaft durch Eid Jhwhs bekräftigt. 610 2.) V . 1 3 - 1 8 : Erwählung des Zion motiviert durch Jhwhs Wunsch (Vmn). In der Mitte des David-Abschnittes kommt die Bundes- und Gebotsaussage zu stehen. Umrahmt ist sie von der Nachkommen- und Thronverheißung in V . l l ("[b-Koa1? tvttfR -[303 n s o ) 6 1 1 auf der einen Seite und der ausgeweiteten Verheißung, die sich auf die Söhne bezieht, in V . 1 2 ( i s - n s Dim-Da -IVkod1? miti1) auf der anderen Seite. Gegenüber Psalm 89 ( V . 2 9 - 3 3 ) sind in dem Konditionalsatz in Ps 132,12aa (yan nniö'-D« mo 1 ?« lr ' m m T i n a ) gewisse Akzentverschiebungen zu beobachten. Erstens zielt der Begriff rr-Q in Ps 132,12 nicht mehr auf den Davidsbund, sondern den „Sinaibund". 6 1 2 bezüglich der Ortschaften eine Änderung des Konsonantenbestandes vorzunehmen, wie es z.B. von ROBINSON (DO Ephratah and Jaar Really Appear in Psalm 132,6?, ZAW 86, 1974, 221) vorgeschlagen wird. 6 1 0 Zum TO« in V . l l a vgl. 2.Sam 7,28. 6 1 1 Zu - p o n n s vgl. noch Dtn 7,13; 28,4.11.18.53; 30,9. 6 1 2 Mit PERLITT (Bundestheologie, 52: „So behält Ps 132 (anders als Ps 8 9 ) den Terminus nnn dem umfassenderen Israelbund vor, begnügt sich für die Davidverheißung mit dem (sach-identischen) Schwur und muß mit dieser Zuordnung keinesfalls .wesentlich älter' sein als 2 S 7, wo der spezielle ,Davidbund' ohnehin vermieden wird."); VEIJOLA (Verheissung, 73) gegen GESE (Davidsbund, 117: „Der Inhalt dieses Ps 132,12; 89,4; 2Sam 23,5 sog. Bundes ist die Zusage Gottes, daß für alle Zukunft Nachkommen Davids auf dem Thron in Jerusalem sitzen werden.") und KRAUS (aaO. 1064: „Aber es liegt doch wohl näher,

Psalm 132 - Das Volk als Gesalbter

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Zweitens ist der Inhalt des Sinaibundes - in Ps 89 allein durch vier Nomina umgrenzt (V.31 f.) - in dem Begriff n s zusammengefaßt. Jhwh ist der Gesetzeslehrer. 613 Drittens werden das Scheitern des Haltens der Gebote und die daraus resultierende Straffolge nicht in den Blick genommen. Die nachexilische Situation des Verfassers von Ps 132 schattet sich auch an diesem entscheidenden Punkte ab. Waren das Scheitern Israels am sinaitischen Gesetz für die Deuteronomisten und den Kreis um Ps 89 noch ein brennendes Problem, so nimmt der Verfasser von Ps 132 diese Möglichkeit nicht mehr in das Kalkül. Für die Gruppe der Frommen und Armen (V.15 f.) von Ps 132 sind die Unverbrüchlichkeit der David- und Zionsaussage zur Glaubensgewißheit geworden. David und Zion hängen in Ps 132 untrennbar zusammen. Ein in der 3.Pers.Sg. gehaltener, einleitender Satz (vgl. V . l l ) steht den Versen V. 1 3 - 1 8 , voran. Dieser thematische Block behandelt die Erwählung des Zion. Mit dem begründenden an V.12 angeschlossen, macht er den engen Konnex zwischen dem „Hause David" und dem Sitz Jhwhs (V.13: ntöm) auf dem Zion deutlich. Jhwh hat sich den Zion erwählt, ihn gewollt und ist gewillt (vgl. die zweimalige Vmn in V.13 und V.14), auf diesem in Ewigkeit zu thronen, genauso ewig, wie auf dem Throne Davids ein Nachkomme sitzen soll (vgl. das - u r n y in V . 1 4 und V.12!). Gegen das Faktum der historischen Erfahrung, die von der Zerstörung und dem Fall Jerusalems zeugt, wird die Dignität des Zions hochgehalten. Ort der Gottespräsenz auf Erden ist und bleibt der Zion. Der Zion ist der locus classicus des Jhwh-Segens (V.15), der sich auch in der Speisung der „Armen" erfüllt. 614 Der Gottesdienst mit den von Jhwh mit Heil begnadeten Priestern und den Frommen (V.16) findet an diesem Ort seine Erfüllung (beachte den Rückbezug auf V.9). Zu den verheißenen Segenstaten Jhwhs gehört schließlich auch die Verheißung eines von Gott Erkorenen durch „Horn" (pp) 6 1 5 und „Leuchte" (13) 616 versinnbildlichten Heilsträgers für das Volk. Wie in V.10 greift auch hier die Kollektivierung der Gestalten "rn und rntfn.617 Geschieht das Bekleiden

an den Davidsbund zu denken [vgl. Ps 89,4.29; Jes 55,3; 2S23.5; Jer 33,21]."). 6 1 3 In bezug auf Jhwh findet sichln 1 ? (pi.) noch in Ps 25,4.5.9; 71,17; Jer 32,33; Jes 48,17. In den dtn-dtr Schichten des AT ist diese Tätigkeit auf die Unterweisung Israels durch Mose beschränkt. 6 1 4 Mit O'jva* kommt in Ps 132 das für die Nachexilszeit typische Phänomen der Armenfrömmigkeit in den Blick. 6 1 5 Vgl. zu p p auch Ps 89,25; Ez 29,21. 6 1 6 Die genaue Konnotation von U (vgl. noch: L.Kön 11,36, 15,4; 2.Kön 8,19) ist umstritten. Für GUNKEL (Psalmen, 567 f.) und DUHM (Psalmen, 447) ist es ein Sinnbild für den Fortbestand der Familie. Vgl. dazu auch die Kommentare. 6 1 7 Mit BECKER (aaO. 576): „In V 17 erscheint David sozusagen nur noch als Typus des Volkes, das der eigentlich gemeinte Gesalbte und Verheißungsträger ist."

248

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

durch Jhwh in dem einen Fall zum Heil (V.16: ÜTÖ' ¡Ö'O'TK), SO in dem anderen zum Unheil und Verderben (V.18: nein ö'n1?»). Die Zusage der Feindesvernichtung an den „Gesalbten", wie sie schon in Ps 89,23 f. anzutreffen war, begegnet in Ps 132,18 - im wahrsten Sinne des Wortes - in neuem Gewände. In dem Glanz der Krone (~ir:)618 des Gesalbten spiegelt sich der Triumph über die Feinde wider. Psalm 132 zeigt, daß auf dem Hintergrund von 2.Sam 6 f. und Ps 89 der Versuch unternommen wird, den Davidschwur gegenüber Jhwh (V.l-10) und den Jhwhschwur gegenüber David (V. 11-18) in einem komplementären Verhältnis zu begreifen. Läßt sich jener die Gottesgegenwart im Volke angelegen sein, so dieser die Zuwendung zu den „Armen", „Priestern" und „Frommen". Könnten die Schwüre ihre Realisierung heraufführen, wären die Verhältnisse ideal. Doch diese sind auch hier nicht so, sondern stehen unter der klagend-anklagenden Aufforderung an Jhwh, der Erniedrigung Davids (= des Gesalbten = des Volkes) zu gedenken. Die Differenz zwischen verheißungsvoller Tradition und verheißungsloser Existenz ist auch in dieser Volksklage vor Gott mit der anklagend-dringlichen Bitte gebracht worden, seinen eigenen Verheißungen treu zu bleiben. In einem letzten Untersuchungsteil sollen noch die zwei verbleibenden Texte, Psalm 85 und Jes 63,7-64,11 einer eingehenden Würdigung zugeführt werden. Auch diese beiden Gebetstexte können ein Charakteristikum der nachexilischen Zeit verdeutlichen. Beide Texte zeigen, daß in dieser Zeit Kult und Prophetie noch näher zueinander gefunden haben. Die ehedem in der vorexilischen Zeit getrennt zu findenden Phänomene der Gerichts- und Kultprophetie sind in der nachexilischen Zeit zu einer Einheit verschmolzen.

3.4. Prophetie

und Kult: Psalm 85 und Jes

63,7-64,11

3.4.1. Psalm 85 - Die geschaute Heilswende 2 3

Jhwh, du hast Wohlgefallen an deinem Lande gefunden, das Geschick Jakobs hast du gewendet." Du hast die Schuld deines Volkes vergeben, all ihre Sünde hast du zugedeckt.

618 Zu "in vgl. auch Ps 89,20.40. Auf der Linie von Ps 132 liegt die spätere Investitur des Hohenpriesters mit dem ehemals königlichen Diadem.

Psalm 85 - Die geschaute Heilswende 4

249

D u hast h i n w e g g e n o m m e n deinen ganzen Zorn, hast die Glut deines Zornes abgewandt.

5

Stelle uns wieder her, Gott unseres Heils! Brich doch mit deinem U n m u t g e g e n uns. b

6

Willst du auf e w i g g e g e n uns zürnen, willst du dir deinen Zorn von Geschlecht zu Geschlecht bewahren?

7

Willst du uns nicht wieder beleben, so daß dein Volk sich deiner erfreut?

8

Jhwh, laß uns deine Gnade sehen, schenke uns dein Heil

9

Ich will hören, w a s Gott [Jhwh] c redet; ja, er verheißt Frieden seinem V o l k und seinen Frommen, sie sollen nicht zur Torheit zurückkehren. 11

10

Ja, nahe ist seine Hilfe denen, die ihn fürchten, so daß Herrlichkeit in unserem Lande wohnt.

11

Gnade und Treue begegnen sich, Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.

12

Treue sproßt aus der Erde hervor, und Gerechtigkeit schaut v o m H i m m e l herab.

13

Darüber hinaus gibt Jhwh Segen, s o daß unser Land seinen Ertrag gibt;

14

daß Gerechtigkeit vor ihm wandele, den W e g für seine Schritte bahne. 6

Zur

Übersetzung:

a: Zur Wendung matf ratf (K) (nie), qal) vgl. auch die anderen Belege im AT: Dtn 30,3; Jer 29,14; 30,3; 31,23; 48,27; Ez 16,53; 29,14; Hos 6,11; Am 9,14; Zef 2,7; 3,20; Ps 14,7//53,7; 126,1; Hi 42,10. rras) mit niö (hif.): Jer 32,44; 33,7.11.26Q; 49,6.39Q; Ez 39,25; Jo 4,IQ; Thr 2,14. Vgl. zur Wendung auch HAL, 1289 f.; Täte, Psalms, 364; Beyerlin, Träumende, 42 ff.; Willi-Plein, SWB SBWT, 58 ff.62 f. b: Zu unie) (Imper. qal + Suff.) vgl. Täte (aaO. 365: „The meaning of this verbal expression is a major problem in this psalm. One option is to read the qal mis) (,turn us') as equal to the hiphil in Ps 80:4, .O God, restore (un'cin) us'..."). der sich für „tum us" als Übersetzung entscheidet, und die Ausführungen von Willi-Plein, aaO. 58. Vgl. auch das i m l n in Ps 80,4. c: rrvv ^«n sieht merklich aufgefüllt aus. Ein späterer Ergänzer wird m/p zur näheren Bezeichnung hinzugefügt haben. Anders Täte (aaO. 365): „The combination of rrrr 'sei, ,the God, Yahweh,' is stränge, and some commentators prefer to omit the "»n (...). However, the MT punetuation indicates that ,the God' (...) and , Yahweh' should be read with different Colons, though, of course, they are in apposition." d: tf*»1? •nn!),-'?K inV.9 hat die verschiedensten Deutungen und Varianten der Übersetzungen gezeitigt. Schon die © (Kai em TOVS emarpetpewras rrpös' avröv KapSiav) weist eine Abweichung von IU auf. Vgl. zu den Deutungsmöglichkeiten auch Täte, aaO. 365 f. und Willi-Plein (§WB §BWT, 58, mit der Übersetzung: „sie sollen nicht wieder zur Blödigkeit zurückkehren." und der Bemerkung: „kslh muß ein Negativbegriff sein, etwa im Sinne der neudeutschen .Blauäugigkeit'.")

250

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

e: Gunkel (Psalmen, 375) schlägt vor, statt p - f t Din in V.14b von til -®h („und Gradheit"); Kraus (Psalmen, 753) konjiziert nach o i ^ i und übersetzt mit „und ,Heil' auf seinen Spuren". Zur oben vorgeschlagenen Übersetzung vgl. auch Täte (aaO. 364: „Righteousness will go before him, and prepare a way for his footsteps."). Skizze:

mnrn m p - ' n b

ns» 1 ? I

snpir rrotti rotö nw i m 2 :nbo D n a o r r 1 » r r a s -inj; iu; riKtoa 3 v.2-^ Rückblick auf das :-|E* pnnn rrertti - i n - m r 1 » n a c * 4 Heilswerk jhwhs J™ ^ ' ^ V l 1 0 5 V.5-8 Bitte + Klage 6 mi -]BK -[töon u n - ^ x n DVufrn 6 t - p - n o t o ' -[qsji i r n n mtön nntcKbn 7 : t f r ] n n -[¡JÖ'-I - p o n n w t u m 8 •1*7(0 i m 1 ' 3 [mir] *7Kn -|2TTin HiJDItfR 9 V.9-14 Die göttliche trfros 1 ? -QltÖ'-bKI VTOTrtKI lM-^H Verheißung für das Volk M I P -[« 10 T O S L^ÖB 1BE)' npti: DI'RTDI p t ü ITÖJS: n n t ? n o n 11 :*)piö3 D'DIÖD p-RAI r m n p t t n NO« 12 i h ' p i t |nn xcrm man p mn ,_ DJ 13 :VQJJS p n 1 ? ATO'I I^N 1 v:*b P I Ü U

Das Volksklagelied Psalm 85 verdankt sich in seiner besonderen Form und Ausgestaltung nachexilischer Entstehung.619 Im Rahmen einer der zahlreichen, 619 Die Nähe in Aufbau und Inhalt zu Ps 126, theologische Affinitaten zu DtJes und die „späte Sprache" (vgl. nur V.9: w o r i und V.10: i m ' ) lassen auf die hier angesetzte Entstehungszeit des Psalms schließen. So auch O L S H A U S E N , Psalmen, 3 5 0 ; H U P F E L D , Psalmen, B d . 3 , 4 6 7 ; B A E T H G E N , Psalmen, 2 6 4 ; D U H M , Psalmen, 3 2 7 ; R A V A S I , Salmi II, 7 6 1 f.; K R A U S , aaO. 7 5 5 ; DEISSLER (Psalmen, 3 3 0 : „Der historische Hintergrund des Liedes sind die nachexilischen Nöte. Eine genauere zeitliche Fixierung ist nicht möglich, des allgemeinen Liedcharakters wegen auch zum Verständnis nicht nötig."); V E I J O L A , Klagegebet, 3 0 3 A n m . 6 5 ; R O K A Y , Datierung, 5 2 ; S A D A N A N D A , Revelation, 1 6 7 . Eine nachexilische Neuinterpretation des seiner Meinung nach schon vorexilisch existierenden Grundbestands des Psalms nimmt BECKER (Israel, 5 8 f.) an. „Es will jedenfalls beachtet sein, daß die Befreiung aus dem Exil nur andeutungsweise zum Ausdruck kommt; vom Sion, von der Heimkehr, vom Volk der Unterdrücker ist nirgends die Rede. Das ist immerhin sonderbar, wenn der Psalm als Gesamtkomposition direkt im Hinblick auf die Befreiung abgefaßt worden sein sollte. Es ist hingegen verständlich, wenn anderswo geprägte Vorstellungen und

Psalm 85 - Die geschaute Heilswende

251

regelmäßig abgehaltenen Klagefeiern dieser Zeit dürfte das Gebet seinen „Sitz im L e b e n " haben. D i e Intention und das Grundanliegen v o n Ps 85 haben s o w o h l Mowinckel

als auch Weiser,

jeder auf seine Art, in ihrer Z u w e i s u n g

des Psalms zu einem Fest verkannt. Der eine, indem er das Gebet als Bitte um „Frieden und ein gutes Jahr" dem Neujahrsfest zuordnet 620 , der andere, indem er Ps 85 „der Tradition des Festkults beim Herbstfest (V.13), in dem die Heilsgeschichte als Vergegenwärtigung der gnädigen Führungen Gottes (Erlösung aus Ägypten, Verleihung des gelobten Landes) von der Gemeinde immer wieder miterlebt wurde", 621 zuordnet. Das Proprium des Psalms macht seine Dreigliedrigkeit aus, die drei Zeitebenen einschließt. Der erste Block ( V . 2 - 4 ) schaut auf die von Jhwh vollzogene W e n d e zurück. In sachlicher Nähe zu denjenigen Bestandteilen der älteren Volksklagelieder, in denen in dem Kontrast zwischen „Einst - Jetzt" Jhwh Momente aus der Heilsgeschichte und glücklicheren Tagen des Volkes vorgehalten werden, w e i s t dieser Teil des Psalms auf die Vergangenheit zurück. 622 Die von Jhwh bewirkte Wendungen nur neu interpretiert worden sind. Die Neuinterpretation des Psalmes ... drängte sich der nachexilischen Gemeinde förmlich auf. Die große Wende des Schicksals konnte nur das Ende des Exils sein, und der ganze Psalm las sich ohne Schwierigkeit als Heilsbotschaft für die nachexilische Situation" (ebenda). Mit einer noch späteren Entstehung des Textes rechnet Gunkel (aaO. 375). ,Zeitalter. Judentum; genauere Ansetzung unmöglich..." In vorexilische Zeit datiert den Psalm W E I S E R , Psalmen, 389. Skeptisch gegenüber einer nachexilischen Datierung auch W I L L I - P L E I N . Völlig abwegig ist die zeit- und traditionsgeschichtliche Einordnung von Ps 85 bei G O U L D E R (Korah, 98-120), der sich anschickt, für das Heiligtum in Dan des 9./8. Jhdt. v. Chr. einen nordisraelitischen Festzyklus herauszuarbeiten, in den er Ps 85 integriert. „42-43 and 84,1 have argued, were pilgrimagepsalms for the autumn-festival at Dan, chanted as the national procession approaches the sanctuary. 44 and 85 were national laments to be used in the same context following a day of contrition preceding the feast..." (aaO. 121; vgl. auch 239). 620 Y G I MOWINCKEL, Psalmenstudien III, 57. „Und nun verstehen wir auch die Stimmung in Ps. 85. Das Neujahrsfest ist zugleich Abschluß- und Dankfest des alten Jahres und Anfangsfest des neuen. Der Segen, der sich zunächst im Regen, dann in glücklichem Säen, dann in Bewahrtwerden vor allen Gefahren im Laufe des Sommers - Glutwind, Heuschrecken, Beduinenrazziaen usw. - und endlich in reicher Ernte zeigen und bewahren muß, soll jetzt durch den Kult, durch das erneute Kommen Jahwä's, durch die Erneuerung des Bundes, durch die Setzung einer neuen Schicksalsreihe (»Wendung des Schicksals0'), Leben und Gottesfreude (nnto).

Analyse V. 2—4: Rückblick

auf das Heilswerk

Jhwhs

Vers 2 eröffnet den Psalm mit der invocatio

Jhwhs. Betont vorangestellt ist das

Verbum (PK-Form von n : n , qal). 6 2 5 „Wohlgefallen", „Gnade" ( n : n ) 6 2 6 hat Jhwh mit seinem Land - e s ist ja sein Besitz (vgl. das Suffix der 2.Pers.Sg.) gehabt. Konkretisiert und weiter ausgeführt wird diese A u s s a g e in V . 2 b . Jhwh, der Gott Israels, hat das Geschick Jakobs gewendet (rvnttf mtti) 627 . In dieselbe Richtung geht auch die Aussage des wohl wenig älteren nachexilischen Psalms 126: 6 2 8 anche visibile un'inclusione che unifica il salmo: nel v. 13 6 in giuoco la AbweichungVerkehrungVerkehrtheitVerdrehtheitBeugungKrümmungVergehen< erscheint nicht in wörtlich zu verstehenden Zusammenhängen, sondern in metaphorischer Anwendung auf allermeist theologische - Sachverhalte, die mit Hilfe der Metapher sachlich disqualifiziert werden. Auch für 'awon gilt daher grundsätzlich ... : Es ist ein Begriff, der eine bestimmte konkrete Handlung oder Verhaltensweise nicht konkret benennt, sondern formal disqualifiziert, und der doch seiner Herkunft nach das zu Disqualifizierende nicht abstrahiert, sondern inhaltlich als Tatphänomen konkret festhält" (ebenda, 238). „Erst recht erstaunlich ist es, wenn gesagt wird, daß Gott den 'awon der Menschen trägt. Auch hier richtet die Wendung den Blick grundsätzlich auf die Aktivität des Trägers: Gott. Daß dies geschieht, daß Gott selbst den 'awon von schuldigen Menschen an deren Stelle trägt, ist das Erregende und das Eigentliche in der Wendung ns' 'awon. Das ist die Grundaussage, der Grundvorgang. Daß dadurch, daß Gott den 'awon selbst trägt - so wäre sekundär zu verstehen - dem Menschen der 'awon weggenommen, vergeben wird, ist die Auswirkung des Grundvorgangs. Die Begriffe >wegnehmen, vergeben, verantwortlich sein< interpretieren also den Grundvorgang, während 'awon ihn unmittelbar nennt." (ebenda, 221). 631 Die Konstruktion n«on + n o s (pi.) ist im AT nur noch in Neh 3,37 (rmon+ p a ) belegt und scheint einem späten Sprachstadium zu entstammen. Andere Kombinationen mit

Psalm 85 - Die geschaute Heilswende

255

zentrale T h e m a der V o l k s k l a g e n . N e b e n den e i n s c h l ä g i g e n S t e l l e n in den Threni (Thr 2 , 1 4 , 5 , 1 6 ) w i d m e t s i c h nur n o c h der späte P s a l m 7 9 d i e s e m T o p o s , i n d e m er d i e B i t t e u m S ü n d e n v e r g e b u n g artikuliert ( 7 9 , 9 : "IBS lrnKDiv^u) und d e n W u n s c h , Jhwh m ö g e die V e r f e h l u n g e n der V ä t e r nicht anrechnen, v o r Jhwh bringt ( 7 9 , 8 ) . 6 3 2 D i e M ö g l i c h k e i t für e i n e n N e u a n f a n g und e i n L e b e n vor Jhwh w e r d e n s o m i t v o n J h w h selbst erschlossen. V . 4 w e n d e t sich innerhalb dieser

Heils-

R e t r o s p e k t i v e d e m gerade für die e x i l i s c h e n - n a c h e x i l i s c h e n T e x t e n w i c h t i g e n T h e m a d e s Zornes G o t t e s zu. 6 3 3 D a s B e z i e h u n g s g e f l e c h t und der innere Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n d e m „ V e r g e h e n " d e s M e n s c h e n auf der e i n e n Seite und d e m daraus resultierenden Zorn G o t t e s auf der anderen S e i t e ist den B e t e r n präsent. W i e J h w h a l l e V e r f e h l u n g e n (bD) s e i n e s V o l k e s v e r g e b e n hat, s o hat er auch s e i n e n g a n z e n (*7D) Z o r n ( m a r ) 6 3 4

hinweggenommen

und

die

Glut

seines

Zornes

(*]K | n n n ) 6 3 5 a b g e w a n d t . Zorn und Z o r n e s g l u t hatten und h a b e n ihre Zeit. NOA (pi.) sind die folgenden: Hi 31,33 (DÜTE); Ps 32,5 (]I»; nachexil.); in der qal-Form von NOD noch in Ps 32,1 (RMORI + NOS). Zu N»on s. auch die Untersuchung von KNIERIM, aaO. 19-112. 632 In Ps 89,33 (nachexilisch) werden ]ID+«Z)B der Gemeinde in dem göttlichen Orakel in den Blick genommen. 633 Zum Zorn und ,Zürnen" Jhwhs vgl. auch die folgenden Texte: Thr 2; Ps 60,3; 74,1; 79,5.6; 80,5; 89,39.47; dazu auch SPIECKERMANN (aaO. Anm. 22, 247): „Die Vorstellung von Gottes Zorn ist in wahrscheinlich vorexilischen Texten nur dreimal belegt (allesamt Klagen des einzelnen), ohne daß ihr Verhältnis zur gleichzeitigen Feindklage ausgemittelt wäre: Ps 6,2; 27,9; 102,11 (V.l-12 Fragment eines Klageliedes des einzelnen). Von der Exilszeit ab ist diese Vorstellung merklich häufiger belegt: Ps 18,8.16 (als Teil der redaktionellen Theophanieschilderung V.8-16); 2I,10ay (redaktioneller Nachtrag ...); 38,2.4 (...); 44,10.24 (Volksklage); 56,8b (redaktioneller Nachtrag, Gottes Zorn gegen die Völker); 60,3 (Volksklage); 60,12 = 108,12; 74,1 (Volksklage); 76,8.11; 77,8.10 (...); 78,21.31.38. 40.49 f.58 f.62 (Gottes Zorn gegen Israel und Ägypten); 79,5 f. (Volksklage); 80,5 (Volksklage); 85,4-6 (übernommenes Element der Volksklage); 88,8.15.17 f.; 89,39.47 (Volksklage); 90,7.9.11.15; 94,14; 95,11; 103,9; 106,23.29.32 f.40.43 (...); 118,18? Bei der Vorstellung vom Zorne Gottes tritt deutlicher als bei derjenigen von der persönlichen Schuld zutage, welch prägenden Einfluß die Volksklage der Exilszeit für sie gehabt hat. Dasselbe ist jedoch auch für den Gedanken der persönlichen Schuld anzunehmen. Daß die geringe vorexilische Bezeugung beider Vorstellungen kein Zufall ist und daß einschneidende Ereignisse der Volksgeschichte in dieser Hinsicht religiöse Veränderungen bewirken können, ist der akkadischen Gebetsliteratur zu entnehmen, in die, offensichtlich durch die Kassitenherrschaft bedingt, die Gedankenverbindung von göttlichem Zorn und individuellem Sündenbewußtsein Einzug gehalten hat..." 634

rrai) findet sich allein 34mal im AT, davon 22mal allein für den göttlichen Zorn. Von diesen letzteren seien folgende Stellen genannt: Thr 2,2; Jes 9,18; 10,6; Jer 7,29; Ez 7,19 (Tag des Zorns); Zeph 1,15.18 (jeweils Tag des Zorns). Zusammen mit «pn kommt es jedoch auffälligerweise nur in Ps 85 vor. Vgl. auch SCHUNCK, ThWAT V, Sp. 1033-1039; SAUER, THAT II, Sp. 205-207. 635 Zu p r o (Vrnn), das 12mal im AT vorkommt, vgl. folgende Stellen: Ex 32,12; Dtn

256

III. Altes Testament:

Die Klagelieder

des

Volkes

Sündenvergebung und Zurücknahme des Zornes sind zwei Seiten einer Medaille. Das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Beendigung des Zornes heißt dann konkret - wie es auch V.2 äußert - sich wieder dem Menschen zuzuwenden, Gefallen an der Schöpfung und dem menschlichen Gegenüber zu haben, das Schicksal des Volkes zu wenden. Wendung der Zornesglut leitet die Wende des Geschicks ein. Alles Handeln geht jedoch nur von Jhwh aus. Der Mensch ist und bleibt der Beschenkte. Jeglichem Synergismus wird an dieser Stelle eine Absage erteilt. V. 5-8: Bitte und Klage: Das Ausstehen des vollkommenen Heils Dem Ton und Tenor der Verse 2-4 völlig entgegengesetzt, folgt der BitteKlage-Teil in den Versen 5-8. So, als ob es die Aussagen von V.2-4 gar nicht gegeben hätte, bittet die Gemeinde um Wiederherstellung durch Jhwh und hofft auf das Ende seines Zorns. „Nun aber setzt die Stimme der Gemeinde ein und singt ihr Klagelied ... : auf das strahlende Dur des Anfangs folgt nun ein dunkles Moll." 636 Ein Blick auf den Aufbau dieser vier Bikola in V.5-8 läßt folgendes Schema erkennen. Die Verse 5 und 8 - jeweils Bitten, die ähnlich aufgebaut sind (1. Imperativ; 2. Vokativ: a.: TOT1 'nbn in V.5 I b.: nvr in V.8; 3. Stichwort rahmen die beiden in der Mitte stehenden klagenden Fragen V.6 und V.7. Der göttliche Zorn und die „Wiederbelebung" des Volkes sind die zentralen Inhalte dieser beiden Verse. Mit einem gewissen Rückbezug auf die Verse 2 und 4 bittet die Gemeinde Jhwh, den Gott ihres Heils (•))!)& Tt^R)637, in Vers 5 darum, sie wieder herzustellen, mit seinem Unmut und Zorn ( O J J D ) Z U brechen. Die Beter wissen sich noch immer unter dem Zorn Jhwhs. Das, was die Verse 2 - 4 dankend im Gebet Jhwh vorgebracht haben, ist noch nicht in Gänze zum Zuge gekommen. Die gegenwärtige Situation straft das Heilshandeln Jhwhs an Jakob 638

13,18; Jos 7,26; 2.Kön 23,26; Jon 3,9. In diesem Zusammenhang interessieren besonders die beiden dtr bestimmten Stellen Ex 32,12 (Fürbitte Moses) u. 2.Kön 23,26 (Resümee zu Josia). Beide Texte reden vom nie) des Zorns Jhwhs, in Ex 32 als Bitte formuliert, in 2. Kön 23 als Feststellung, daß Jhwh von seinem Zorn gegen sein Volk nicht abließ. 636

637

S o treffend GUNKEL, aaO. 3 7 3 .

Zu UMÜ' ' t f » vgl. noch Ps 79,9; 65,6; l.Chr 16,35. Die Wurzel Mtf' spielt in Ps 85 eine exzeptionelle Rolle (V.5.8.10) 638 Zu 0fl3 (25mal als Nomen im AT) vgl. auch noch: Dtn 32,19; l.Kön 15,30; 2.Kön 23,26. Das Verbum dj)3 (hif.) hat besonders in der dtr Schule an zunehmender Bedeutung gewonnen. „Besondere theologische Bedeutung kommt dem deuteronomistischen Sprachgebrauch zu, der das Verbum ... dazu braucht, ein Fehlverhalten des Menschen vor Gott und dessen entsprechende Reaktion zu beschreiben." STOLZ, T H A T I , Sp. 8 4 0 . Vgl. auch LOHFINK, T h W A T IV, Sp. 2 9 7 - 3 0 2 .

Psalm 85 - Die geschaute

Heilswende

257

Lügen. Der kleine Kreis, der hier zu dem Gott Israels betet, - es dürfte sich dabei um den Zirkel der D'Ton und D'KT aus V.9 ff. handeln - erlebt den Alltag unter dem Zeichen des Zorns. V.5 unterstreicht nochmals deutlich, daß es gelungenes Leben (vgl. V.7: irnn nutin) nur vor und mit Jhwh geben kann, Bedingung dafür ist aber das Ende seines Zorns. Zorn und Zürnen Jhwhs bedeuten ja Abkehr von seinem Volk. „Brich mit deinem Zorn!" - dtr Kreisen kann diese Bitte nicht entstammen. Für die Deuteronomisten war es ausgemachte Sache, daß das Volk Gottes Bund und Treue gebrochen hatte. Hier jedoch wird Jhwh aufgefordert, mit seinem Unmut und Widerwillen gegen Israel zu brechen (-na). 6 3 9 . Die beiden Fragen in V.6 und 7, die als echte, vom klagenden Tone getragene Anfragen an Jhwh zu charakterisieren sind und nicht als bloße „rhetorische Fragen" 640 , stellen nochmals die beiden Pole - Gottes Zorn und menschliches Leben - einander gegenüber. Dem Zorn Jhwhs widmet sich V.6. 641 Die Frage nach der Dauer des göttlichen Zornes, die in V.6a mit dem kaum zu bestimmenden „Zeitbegriff' D^u;1? gestellt wird, erheischt als Antwort ein „Nein, nicht auf ewig!". DVUJ1? wird zwar von ~rn n b in 6b expliziert - es geht um ein Generationen übergreifendes Geschehen - , doch meint es, dem sonst in den Volksklagen oft gebrauchten nü: ähnlich, ein definitives Handeln Jhwhs. Israel weiß zwar, daß Jhwh „die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, am dritten und vierten Glied" heimsucht, weiß jedoch auch darum, daß Jhwh „ein barmherziger und gnädiger Gott ist, langmütig und von großer Güte und Treue, der Güte bewahrt den Tausenden, der Schuld, Frevel und Sünde vergibt" (Ex 34, 6 f.) 642 . •Viu1? thront Jhwh im Himmel (Thr 5,19; Ps 102,13), n^iiJ1? ergeht das Gotteslob der israelitischen Gemeinde (Ps 44,9; 79,13), DVII?1? kann und darf aber nicht Jhwhs Zorn dauern. 643 Wie Jhwh seinen Zorn in der Vergangenheit weggenommen hat (V.4), so soll er auch in der gegenwärtigen Situation der Gemeinde handeln. Wie V.6, bietet auch V.7 eine klagende Frage, wobei der Adressat, an den diese gerichtet ist, durch das Personalpronomen nriK deutlich betont ist. Jhwh,

639

Zur theologischen Sinnbreite von N A vgl. KUTSCH, T H A T II, Sp. 4 8 6 - 4 8 8 ;

RUPPERT, T h W A T V I , S p . 7 7 3 - 7 8 0 . 6 4 0

641

S o TÄTE, a a O . 3 7 0 u n d WILLI-PLEIN, a a O . 5 8 .

Zu«p» und«]« vgl. auch: Ps 60,3; 74,1; 79,5; Thr 2. 642 Vgl. zu Ex 34 und der sogenannten „Gnadenformel" SPIECKERMANN, „Barmherzig und gnädig ist der Herr...", Z A W 102 (1990), 8 ff. 643 f t o qal (30mal im AT) findet sich des öfteren m i n o n (Jer 31,3; Ps 109,12; 36,11), mit jedoch nur in Ps 85.

258

111. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

Herr über Leben und Tod, soll seinem Volk (beachte das Suffix von ~|QÜ in 7b; vgl. V.3.9) das Leben wieder schenken (rrn pi.+nitti) (vgl. Ps 80,19), so daß es sich seines Gottes wieder erfreuen (noto)644 kann. Die Bitte um Heil und Leben, hat einen deutlichen theologischen Zusammenhang. Nur dadurch daß Jhwh sich seinem Volk wieder zuwendet und seinen Zorn verschließt, ist auf seiten der Beter qualifiziertes Leben möglich. Leben heißt im alttestamentlichen Sinne Leben vor und für Gott. Ein Leben im Schatten Jhwhs, in der Sphäre seines Zorns, ist eine unmögliche Möglichkeit und von vornherein dem Tode preisgegeben. Leben heißt aber auch, seinem Gott zu danken und ihn zu loben. Nichts anderes ist mit nnto im Kontext von Ps 85 gemeint. Es ist keine alltägliche Freude, Freude über dieses oder jenes aus dem zwischenmenschlichen Bereich, sondern erst von und durch Jhwh qualifizierte Freude; Freude, in Abhängigkeit von und Geborgenheit in diesem Gott zu leben. Gotteslob konkretisiert sich im Gottesdienst, in der Feier im Tempel. In der Zusammenschau mit V.2 ergibt sich noch ein anderes Bild. Jhwh schenkt Leben und ermöglicht erst Freude und Lob auf seiten des Menschen. Jhwhs Wohlgefallen und Freude wiederum leitet auch die Wende der Not und des Schicksals - nicht griechisch, sondern altorientalisch begriffen - ein. Vers 8 in der Kunstform des Chiasmus gestaltet - bietet die abschließende Bitte des Abschnitts V.5-8. Jhwh, hier wie in V.2 (V.5) ausdrücklich benannt, möge der Gemeinde seinen lon sehen lassen (n«~i hif.) 645 , der „Gott des Heils" (V.5) möge ihnen sein Heil ( D T F ' ) schenken ( ¡ M ) . ion (vgl. V . l l ) und BE}' (vgl. V.5.10), die im Zentrum dieser Bitte stehen, leiten zu dem Orakelteil V.9-14 über. V.8 macht nochmals deutlich, daß Jhwh allein Heilsspender ist. Er offenbart und gibt. Wenn Jhwh sein Volk sein „Heil" sehen läßt, dann wendet sich dessen Geschick (vgl. V.2), dann gibt das Land seinen Ertrag (vgl. V.13). Dem Handeln Jhwhs entspricht das Ergehen der Erde. Läßt Jhwh sein Angesicht schauen, so ergeht es dem Land und seinem Volk wohl. Verbirgt Jhwh sein Antlitz, so stehen dem Land und dessen Bewohnern Unheil bevor. So oder so prägt das Angesicht Jhwhs das Antlitz der Erde. 6 4 6

644 Zunoto+a bezogen auf Jhwh vgl. noch: Jes 25,9; Jo 2,23; Ps 5,12; 9,3; 21,2; 31,8; 32,11; 33,21; 48,12; 63,12; 64,11; 66,6; 70,5; 90,14; 104,34. Vgl. VANONI, T h W A T VII, Sp. 8 0 8 - 8 2 2 . 645

Vgl. zu n m hif. mit Jhwh als Offenbarungsterminus auch: Num 8,4, 2.Kön 8,13; Jer 24,1; 38,21; Ez 11,25; Am 7,1.4; 8,1; 7,7; 2.Kön 8,10; Ex 33,18. In Ps 60,5 ist e s allerdings nöp, das Jhwh seinem Volk zu sehen gab. 646 Zu ]ro vgl. auch V.13a und 13b. Zu dem „Geben" und „Nehmen" von seiten Jhwhs im A T vgl. SCHREINER, Gottes Verfügen durch „Geben" und „Nehmen" in der Sicht der Psalmen, in, FS N. Füglister, 1991, 3 0 7 - 3 3 1 .

Psalm 85 - Die geschaute

V. 9-14: Die göttliche

Heilswende

259

Verheißung für das Volk

V.9 markiert mit seiner Selbstermunterung und dem Aufmerksamkeitsruf zur prophetischen Audition ("QTTiD nuntöK) einen deutlichen Einschnitt zu den vorherigen Klagen und Bitten. Der Personenwechsel von der l.Pers.Pl. zur l.Pers.Sg. verdeutlicht, daß hier ein bisher ungenannter Dritter das Wort erhebt, um als Vermittler zwischen Jhwh und Volk zu agieren und dem Volk die Antwort Jwhs auf sein Gebet zu geben. Wie man sich im einzelnen diesen Wechsel zu erklären hat, muß offen bleiben. Schattet sich hier eine Liturgie ab? Ist der Sprecherwechsel auf das Auftreten eines Kultpropheten oder Priesters zurückzuführen? 647 Ist dem Textbestand von V.2-8 dieser Orakelteil vielleicht erst sekundär zugewachsen? Eine passende, allseits befriedigende Antwort darauf ist schwierig. Am ansprechendsten ist der Gedanke, daß Ps 85 die Klagefeiern des zweiten Tempels widerspiegelt und somit sowohl den Part des Volkes als auch den des Kultdieners wiedergibt. Grundtenor der Botschaft, die auf Jhwh zurückgeführt wird, ist die Zusage von Dibiö. Der deutsche Begriff „Friede" vermag nur einen Bruchteil des hebräischen Bedeutungsspektrums einzufangen. Was sich damit verbindet und gerade in der Situation der Psalm 85 betenden Gemeinde aktuell wird zeigen die theologisch-poetischen Bilder in den Versen 10-14. Das ganze Ensemble von p i ü , not*, "ton und JJtti' ist darunter zu begreifen. In immer neuen Bildaussagen soll dem Volk auf verschiedene Weise die Ansage des von Gott verheißenen mbö-Zustandes illustriert werden. V.9 als solcher scheint dabei mehrere Erweiterungen und sekundäre Auffüllungen erfahren zu haben. Nicht nur daß die Formulierung und Nebeneinanderstellung von 17Kn und mrr sehr unbeholfen klingt (Erweiterung durch b«n?), auch die Zuspitzung der Heilszusage auf die D'Tort648 mit angeschlossener Mahnung (n^ODb nimmt der universellen Verheißung ihre Aussagekraft. Die Wurzel aittf ist in V.9 auf das Volk bezogen, während sie in dem großen Komplex V.2-8 dem Handeln Jhwhs vorbehalten blieb. Affirmativ (Interjektion -JK) hält V.10 die göttliche Botschaft (wieder in der 3.Pers.Sg.) fest, daß das „Heil" (im)') den Jhwh-Fürchtigen nahe (nnp) 6 4 9 ist 6 4 7 G U N K E L ( G U N K E L / B E G R I C H , Einleitung, 1 3 8 ) deutet Ps 8 5 im Sinne einer Nachahmung prophetischer Liturgie. K R A U S (aaO. 7 5 7 ) behilft sich mit der Annahme, daß in Ps 8 5 ein •Vad-Prophet dem Volk mit einem „Heilsorakel" antwortet. 648 Zudenn-Ton vgl. noch: l.Sam 2,9; Ps 30,5; 31,24; 37,28; 85,9; 97,10; 148,14; 149,9; Prov 2,8; Ps 116,15; Ps 149,1.5; 50,5; 16,10; 52,11; 79,2; 132,9; 145,10; 2.Chr 6,41; Ps 89,20. 649 Zu nnp vgl. auch noch: Jes 13,6; 51,5; Ez 30,3; Ps 34.19; 119,151; 145,18. „Nahe" ist ansonsten im AT - das Gegenteil des Heils Jhwhs - auch der Tag Jhwhs: Jo 1,15; 4,14, 2,1; Ob 15; Zeph 1,7.

260

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

und der T i n a 6 5 0 Jhwhs dem Land des Volkes einwohnt ( p t f ) 6 5 1 . Nach den „Frommen" in V.9 wird jetzt den Gottesfürchtigen (D'K-p)652 das Heil angesagt. Sowohl hinter dieser Formulierung als auch hinter dem Gedanken, daß die „Herrlichkeit" Jhwhs nicht im Tempel oder der Stiftshütte einwohnt, sondern im „Lande", leuchtet die nachexilische Zeit mit ihrer theologischen Gedankenwelt auf.653 Die Verse 11 und 12 verbinden vier theologisch komplexe Vorstellungen: Di^tö - p i s - ni?K - ion: Gnade und Treue - Gerechtigkeit und Frieden. Als personifizierte Größen prägen sie den weisheitlichen Ton und Inhalt von V . l l . Als zwei Paare sind die vier Größen einander zugeordnet. Gnade und Treue begegnen einander (öjb)654, Gerechtigkeit und Frieden küssen sich (ptQ]). Die der Gemeinde bevorstehende Zukunft wird hier eschatologisch-soteriologisch verklärt. Zu der momentanen Gegenwart der Beter steht die aufleuchtende Zukunft im schärfsten Kontrast. Die auf V.ll folgenden Verse versuchen je für sich dieses Bild mit weiteren Farben auszumalen. Ob sich Teile dieser Verse späteren Nachträgen verdanken, ist erwägenswert, läßt sich aber nur vermuten. V.13 und V.14 unterliegen diesem Verdacht. Während in V.12 noch - gegenüber V . l l steht hier schon ein anderes Bild im Vordergrund - „Treue" und „Gerechtigkeit" eine dominierende Rolle spielen, wird ihr aktiver Part in V.13 zurückgedrängt. Treue sproßt aus der Erde ( f i K n ) , die Gerechtigkeit schaut vom Himmel (D'neto). In einer gegenläufigen Bewegung von unten nach oben und von oben nach unten werden die Räume dazwischen von beiden Heilsgrößen getragen.655 pi^ ist an die Stelle Jhwhs

650

l i n s („Herrlichkeit") kommt allein 49mal im Psalter vor: Ps 29,1.9; 30,13; 66,2; 73,24; 85,10; 115,1; 8,6; 84,12; 79,9; 104,31; 102,16; 108,6 u.a. 102,17; 106,20; 96,7. 651 Zu der Wendung n a a + p d vgl. auch Ps 26,8 (Tempel) und die einschlägigen priesterschriftlichen Belege: Ex 24,16 (Sinai); Ex 40,34.35 (die Kabod-Wolke über der Stiftshütte); sonstige Belege von "irns + h'?o: Ex 40,34.35; Num 24,21; l . K ö n 8,11; Ez 43,5; 44,4. 652 Zu o u t vgl. noch: Ps 25,14; 34,8.10; 85,10; 111,5 I 'mHalte dich nicht zurückedert körte tijd hebben (zij) uw heilig volk verdreven"', Begründung aaO. 28 f.) für die Beibehaltung der Lesart von tu. i: Die dargebotene Übersetzung folgt dem Vorschlag von Beuken (aaO. 38. „."), die das Problem, welches das Gefüge flsfin rtiü orn in 4b aufgibt, unter Beibehaltung des Konsonantenbestandes am elegantesten löst. Anders hingegen verhält es sich bei den Kommentatoren, die der Lesart der © (8IÄ TOVTO ¿RRXAVTJDRIIIIU) folgen und das Dtf' in Abß durch «dB (Westermann, Jesaja, 310: „durch unsere Untreue frevelten wir" = T^Don JKten) oder a h (Duhm, aaO. 471 f.) ersetzen; vgl. dazu auch den Vorschlag der BHS. Fischer (aaO. 21-25.(25)) macht sich für die Konjektur würni cfru) c m «orai („und wir sündigen auf ihnen ewig und freveln") stalle. Doch das Bekenntnis, „ewig (dru)) zu freveln", kann an dieser Stelle nicht intendiert sein. Es bleibt zu erwägen, ob das d7\s nicht als Rückverweis auf die Heilsgeschichte (vgl. 63,9.11 und 63,19!) gedeutet werden und somit den Konnex zwischen den Sünden der Wüstengeneration und der gegenwärtigen Gemeinde im Sinne einer Schuldgemeinschaft andeuten soll. - Ohne seine Entscheidung näher zu erläutern, bietet Koenen (aaO. 253) folgende Übersetzung: „Sieh, du zürntest, und wir verfehlten uns (weiter), >indem du dich verbargst«, und wir >sündigten< (weiter)." j: nB-i(D („Brand", „Brennen", vgl. Lev 10,6; Num 19,6.17; Jes 9,4: äM n ^ i s o na-ilp'? nirn) kann in der hier vorliegenden Konstruktion mit tö» nur unzulänglich als „Raub" des Feuers (so auch HAL, 1268; Fischer, aaO. 4: „Raub der Flammen") wiedergegeben werden. Duhm (aaO. 473) und Koenen (aaO. 254) behelfen sich mit dem unglücklichen Ausdruck ,3rand des Feuers".

Jes 63,7-64,11: Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel Skizze: m r r n b n n T o m mrp n o n 7 1. a: 63,7.8-10 "Ttoizr rvnb ava-a-ii n w "ufrias—itìn rvion r o n i D Dbnr-tóK Tipe)' k1? nnn 'njr-|K m i n a d r r a - t a a 9 tirttfin1? o r ò T H • a t t i v i V3S "[K^m K'p • • » 3 »in i n c o r n i ì r a m a :DVIÌJ , J 7 3 n i t o r i • l JD3 , I itónp m - m n - m a n n n n n m 10 :D3Tlrf73 Kin TIK1? Ol1? '[QT'l ne)D • V u n i T " O H il •ut« 'B-i nK t r a D^unn rrt* ntónp r r r m n in-ipn afon ¡ t r in-iRori u n r rtón l ' o ^ - ¡ ^ i d 12 otti t> rntoy1? a - n e n ero u p i 3 •.'bti^ v b i m a n o i o s r m n r a as'Vin 13 • o m n m r r r r n Tiri n » p 3 3 n o n 3 3 u : r n « a n otó -jb rntoub - p i ; rum p

b: 63,11-14

- | m « B n i -[tìip tara n m i cratón a n n 15 11. a: 6 3 , i 5 - i 9 a - p a n finn -[n-ra:i - p u p rrR T3'3« n n t c s 16 :ipBnnn -pomi 13TD' v b ' a n f c n •ujrr DH-QK ' 3 r-jotó nVirD 13*71*3 i r a « n w n n « - p i c r a m b rreJpn - p n n n v r i3i)nn nn1? 17 qrvTm 'D3tì - p n a p n b 3itö q t z h p o 10013 13ns "[tìnp-na ìtdT -ureo 1 ? 18 o r r b u -|Diö « i p r K b c n nbtìm« 1 ? o b i ^ n i3"n 19 :iVt3 n n n -p3BD r r r v D'ozi ¡imp-Kib tìKTipnn m a D'onn e)« m p s 64:1 : i r n ' D'13 "['3BD -¡ntti s n r t n^ra n n n -p3ao i t t t m p i « b m m u -|mioj>3 2 i r nei ì i m t ì - i ò dVimdi 3 n b T D n c ò ntoi?' -[nbit D ' n 1 * r m t c r R b fi? - p - o r - p a - r n p n s n t o n toto-n* ru>3B 4 tridui d^iì) a n 3 «orai riosp n n t r j n •UTIpTTta OHI) 13331 13*53 KDD3 ' m i 5 t i a t ò ' n r o tuiiri u t a n t a s b ^ i "]3 p ' t n n ^ - m u n o -|de)3 tcnp-pRi 6 :1331D~r3 1331001 13120 ~p3B m n f f T ' 3

b:

63,i9b-64,6

266

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

nnR ira* mir nrrn 7 t i t o "]T nfourn ircr nnm mnn i:ra«

c: 64,7-ii

- o m l a V ^ R i -iKn~ty mrr t ^ p n - b « 8

vn -|¡zhp n u 9 n f e -[nu « r o n jn montó DbtíiT nirn ~mn jrx ir na* m ^ n höh ímKsni ítóip m 10 :rn-irn mn imano - 1 »! tí» na-itíb mn n w n s ia»m ntínn mm peann n^R-bun 11 •OTO

Das Gebet Jes 6 3 , 7 - 6 4 , 1 1 , das sich in seinem jetzigen Kontext in den Fortschreibungsschichten des Tritojesajabuches wie ein erratischer Block ausnimmt 659 , stellt innerhalb der Textgruppe der Volksklagelieder 660 ein spätes Produkt dar. Als Gebet der nachexilischen Gemeinde 661 legt dieser Text neben 659

Daß Jes 65-66 im jetzigen Kontext des Jesajabuches als korrigierende Antwort auf das Gebet fungieren, haben STECK (Studien, 36 ff.221 ff.; Abschluß, 92) und K O E N E N (Ethik, 159) - jeweils mit einem anderen redaktionsgeschichtlichen Ansatz und Modell - hinlänglich bewiesen. Dabei ergeben sich folgende Bezüge: 65,1-7 ->• 63,15-17a; 65,8-10 -> 63,17b; 65,11-12 63,18; 65,13-16 - 63,19a; 65,17-18a - 63,19b-64,3; 65,18b-19 - 64,4; 65,20-23 - 64,5-7; 65,24 - 64,8; 65,25 - 64,9; 66,1^1 - 64,10 I 66,5b-6 63,1964,2; 66,7-11 64, 3-6; 66,12-13 64,7; 66,14 64,8; 66,15-24 - 64,1 9 f. (vgl. S T E C K , Studien, 221 f.; KOENEN, Ethik, 162 f.). Warum das Gebet Jes 63,7-64,11 gerade nach den Heilsaussagen 60,1-63,6 von der Schlußredaktion des Jesajabuches eingestellt worden ist, bleibt trotz der drei von STECK (Studien, 38 f.) angebotenen Erklärungs-vorschläge im Dunkeln. STECK (aaO. 39) macht sich stark für die dritte „Möglichkeit, nämlich ein konkretes, aber zeitlich weit näherliegendes Ereignis in Jerusalem und im Lande, das bei den Jesaja-Tradenten das Klagegebet 63/64 und seine sachliche Überschreitung in der anschließenden Gottesantwort ausgelöst hat, die deuteronomistisch wie 587 v.Chr. gesehene Einnahme Jerusalems durch Ptolemaios I., ... geschehen im Jahre 302/301 v.Chr., die sich unter harten Umständen vollzog." Hinter die Ergebnisse der Arbeiten von STECK und KOENEN fällt A. AEJMELAEUS (Der Prophet als Klageliedsänger. Zur Funktion des Psalms Jes 63,764,11, ZAW 107 (1995), 31-50) wieder zurück. Nach AEJMELAEUS wurde möglicherweise „ein älterer, frühexilischer Psalm bei der Erarbeitung" des Textes „benutzt, was die Berührung mit den Klagepsalmen des Psalters und der Psalmensprache erklären würde" (aaO. 46). In die gleiche, falsche Richtung geht auch ihre Skizzierung eines „Seelsorgepropheten" (aaO. 36 f.47), auf den sich Jes 63,7-64,11 angeblich zurückführen ließe. 660

Daß Jes 63,7-64,11 zu der Textgruppe der Klagelieder des Volkes zu zählen ist, ist allgemeiner Konsens. So auch: LIMNSKI (Liturgie, 43); WESTERMANN (Jesaja, 311, jedoch mit der Einschränkung, daß Westermann glaubt, eine Trennung in zwei Psalmen 63,7-14 und 63,15-64,11 vornehmen zu müssen, wobei 63,15-64,11 dann das KV darstellt); PAURITSCH (Gemeinde, 160 f.222; auch P A U R I T S C H sieht in dem Stück Jes 63,7-14 einen „Geschichtspsalm"); ELLIGER (Einheit, 30 f.); STECK (Studien, 39.233 ff.; Abschluß, 91); FISCHER (aaO. 256 u. passim), die die formgeschichtliche Gattungsbestimmung dann doch arg strapaziert, wenn sie die Gattung „Volksklagelied mit Geschichtsrückblick und Sündenbekenntnis" vorschlägt (aaO. 256. 282); BEUREN (Jesaja, 10); W E B S T E R (JSOT 47 (1990), 90); KOENEN (Ethik, 157 ff.). 661 Entstehungs- und Abfassungszeit des Gebetes Jes 63,7-64,11 lassen sich aufgrund der

Jes 63,7-64,11: Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

267

Jer 14, H a b a k u k und Jo 2 Z e u g n i s d a v o n ab, daß die G e b e t s f o r m

des

V o l k s k l a g e l i e d e s gerade auch in den prophetischen Tradentenkreisen zur Formulierung ihrer theologischen Neubesinnung und Gegenwartsversicherung an B e d e u t u n g g e w a n n , zumal in der Frage nach dem Zorn Jhwhs, der Frage nach der V e r s c h u l d u n g des M e n s c h e n und der daraus resultierenden Haftung v o n A n f a n g an eine heimliche Affinität z w i s c h e n prophetischer Literatur und Volksklageliedern bestanden hat. Ein für die nachexilische Zeit typisches Phänomen zeigt sich darin, daß die beiden Trägergruppen, die sich par excellence

mit Jhwhs Wort auseinander-

setzen, - nämlich Propheten und Kultpriester - miteinander v e r s c h m e l z e n . 6 6 2 Gericht J h w h s k o m m t hier neben der Gnade und seinem Heil zu stehen, der Zorn Gottes neben seinem Erbarmen. D i e für die vorexilische Zeit bedeutsame Unterscheidung

zwischen Gerichtspropheten

auf der e i n e n

Seite

und

Heilspropheten auf der anderen Seite k o m m t - bedingt durch den politischen, s o z i a l e n und t h e o l o g i s c h e n Druck der Katastrophe von 587 v. Chr. - in der Zeit der Reorganisation der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Perserzeit zum Erliegen. Das, w a s in Person und Botschaft Ezechiels als Koinzidenz von

bestehenden Bezüge zu anderen atl. Texte eingrenzen. Danach bilden Threni 2 und 5, die älteren Klagelieder des Volkes und DtJes den terminus a quo. Als terminus ad quem ist das Kapitel Jes 65 anzusehen, welches sich als Antwort auf Jes 63,7-64,11 zu erkennen gibt, damit aber auch jünger als Jes 63 f. ist. Die hymnische Einleitung Jes 63,7 (vgl. Ps 89), die verarbeitete Tradition und die Terminologie (nw n o n ; tinp rrn; lra« ¡TUT) sprechen für die oben vorgeschlagene nachexilische Ansetzung des Textes. Daß in diesem Punkte in der Forschung kein Konsens herrscht, verdeutlicht der Blick in die einschlägigen Werke. Danach ergeben sich folgende Datierungsvorschläge: Exilszeit: WESTERMANN (aaO. 307: kurz nach 587 v. Chr.); PAURITSCH (aaO. 145.222.224.253), FISCHER (aaO. 256: Exilszeit, nach 560 v.Chr.); WILLIAMSON ( Z A W 1 0 2 ( 1 9 9 0 ) , 4 8 - 5 8 ) . l Früh-nachexilisch:

LIPINSKI ( L i t u r g i e , 7 2 f.); ELLIGER

(Einheit, 98: zwischen 538 und 520 v. Chr.); AEJMELAEUS, A., Der Prophet als Klageliedsänger. Zur Funktion des Psalms Jes 63,7-64,11, ZAW 107 (1995), 49 (zwischen 530-520 entstanden). Bis in das 4. Jhdt. hinab geht STECK mit seiner zeitlichen Einordnung: „Dazu fügt sich aufs beste, was sich uns bereits in Überlegungen andernorts nahegelegt hat: Womöglich die Entstehung, auf jeden Fall aber die redaktionelle Anfügung des großen Volksklageliedes 63,7-64,11 hinter Jes 60-63,6 ist als Reflex zu sehen auf den Feldzug Ptolemaios I., auf dem er Syrien-Palästina aus dem Machtbesitz des Antigonos und Demetrios auf Dauer zurückerobern konnte und dabei auch 302/1 v.Chr. Jerusalem mit Härte einnahm, wobei es offenbar zu beträchtlichen Zerstörungen und in Stadt und Land sogar zu Deportationen größeren Ausmaßes kam" (Abschluß, 91). Zu den Vorschlägen in den älteren K o m m e n t a r e n v g l . ELLIGER ( a a O . 9 4 - 9 9 ) . 662 Vgl. dazu auch die Bemerkungen von MOWINCKEL (Psalmenstudien III, 24 ff.), der im Gefolge seiner Untersuchungen eine Verbindung zwischen Propheten und Tempelsängern konstatiert.

268

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

prophetischem Amt und priesterlichem Herkommen zum ersten Mal in Erscheinung getreten ist, trägt in der Epoche staatlicher Bedeutungslosigkeit Israels seine Früchte. In diesen zeitlichen Rahmen ist Jes 63,7-64,11 hineinzustellen. In der Rückschau auf das Ereignis von 587 v. Chr., das mit der Zerstörung Jerusalems (64,9), des Zion (64,9)663 und des Tempels (63,18; 64,10) einherging, wird in dem theologisch aufgewerteten Beziehungsgefüge von Vater (Jhwh) Sohn (Volk Israel) das Verhältnis Israels zu seinem Gott in Bitte und Anklage vor Jhwh gebracht und definiert. Als Argumentations- und Deutungsmuster dient die Einbeziehung der Heilsgeschichte. Auf Exodus (63,9 [*7to], 11-14.16 [*7iu]) und Wüstenwanderung (63,8-10) wird in dem Text an entsprechenden Stellen angespielt, wobei die Zeitebenen - Heilsgeschichte hier, Gegenwart der betenden Gemeinde da - verschmelzen. Die Wüstenwanderung des Gottesvolkes und sein „Murren" werden nun auf das Israel nach dem Fall Jerusalems bezogen. Wie das Gericht Jhwhs das murrende Volk in der Wüste getroffen hatte, so traf es auch das vorexilische Israel, das von Jhwhs Wegen abgewichen war. 664 Hoffnung auf Rettung erwächst jedoch aus dem Glauben Israels an seine mit Jhwh erlebte Heilsgeschichte. Grunddatum für die Konstituierung des Verhältnisses zwischen Jhwh und seinem Volk Israel war und ist - und daran knüpfen die Beter von Jes 63 f. an - die Rettung aus Ägypten und am Schilfmeer. Wie in Ps 74 und Ps 80 geht der Rekurs auf den Exodus. Unter seinem Namen (63,16) hat sich Jhwh seinem Volk in diesem Rettungsgeschehen geoffenbart, seine „Gnade" (~ion; 63,7) und sein Erbarmen (D'nm; 63,7.15) Israel erwiesen. Dem zum Feind gewordenen 663

Als ein Indiz unter anderen für die späte Abfassungszeit des Gebetes darf die unproblematische Nebeneinanderstellung von und oftshr in 64,9 angesehen werden. Beide Größen verschmelzen zu einer Einheit. 664 Daß die Verfasser des Gebetes - im Gegensatz zu den Deuteronomisten - die Schuldfrage nicht eindeutig auf Seiten des Volkes sehen, sondern Jhwh selbst anklagen, an dem Scheitern des Volkes mitschuldig zu sein (63,17), ist das aKauSaXou des Textes. Vor diesem Hintergrund ist auch das angebliche „Sündenbekenntnis", wie es viele Exegeten in 6 4 , 4 b - 6 ausgemacht haben, anders zu gewichten. Nur wenn dieses Schuldbekenntnis vom Kontext isoliert und in den Mittelpunkt gestellt wird, kann man zu dem Urteil gelangen, daß Jes 6 3 , 7 - 6 4 , 1 1 in die Linie dtn-dtr Texte zu stellen sei. So z.B. STECK, Studien, 236 Anm.45, wobei er jedoch gerade mit Hinweis auf Jes 63,17a und 64,6b zu bedenken gibt: „Wie ein Strang der Nationalklagetradition zeigt sich das Gebet in solcher Sicht der Volksgeschichte und der Gründe katastrophaler Gegenwartserfahrung beeinflußt von dtr. Perspektive, ohne freilich in Anlage und Formulierung so homogen dtr. gestaltet zu sein, daß seine Bildung dtr. Traditionsträgem zugewiesen werden könnte; insbesondere die nachgerade skeptischen Sünde-Unheil-Aussagen des Gebets weisen gegenüber traditionell-dtr. Formulierungen ein ganz eigenartiges Gepräge auf und sind neben Stellung des Gebets und Alter der Klagetexte, zu denen Beziehungen vorliegen, ein weiteres Indiz, daß der Text nicht einfach aus frühexilischer Zeit stammen kann." (aaO. 237 f.).

Jes 63,7-64,11: Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

269

Bundesgott (63,10), der in Zorn entbrannt (64,4) sich verborgen hält (64,6) und sein Erbarmen entzogen hat (63,15; 64,11), wird das ecparra^ des Gründungsgeschehens vorgehalten. Bis zum Beweis des Gegenteils darf davon ausgegangen werden, daß auch Jes 63 f. im Rahmen der Klagefeiern, wie sie durch Sach 7 und Joel 2 belegt sind, seine Anwendung fand. Das heißt, daß mit der Möglichkeit, daß Jes 63 f. selbst zur Zeit des zweiten Tempels gedichtet und gebetet worden ist, gerechnet werden muß. Die Annahme, daß Jes 63 f. nur einen Sitz in der Literatur gehabt habe, wie es sich bei einigen Schichten in „Tritojesaja" zeigen läßt, greift zu kurz. Die der Analyse zugrunde gelegte Gliederung 665 sieht folgendermaßen aus: I. 63,7-14:

a) V.7I V.8-10 b) V.l 1-14

II. 63,15-64,11:

a) V.15-19a I b) V.19b-6 I c) V.7-11

Analyse: I.

63,7-14

V. 71 V.8-10 Die hymnische Einleitung von Im bildet die Prämisse, unter der das sich im folgenden entfaltende Volksklagelied steht. Der Gnadentaten (nw non späte Terminologie; vgl. Jes 63,7b/?; Ps 89,2) und der „Ruhmestaten" (n^nn; Ps 78,4) 606 s o j j g e d a c ht werden. Die beiden Constructus-Verbindungen stehen im 665 Die in der exegetischen Literatur zu Jes 63,7-64,11 angebotenen Gliederungen stimmen grundsätzlich in einem Punkt überein, indem sie zwischen 63,14 und 63,15 eine Hauptzäsur setzen. Alle weiteren Unterabschnitte dagegen differieren. So sind etwa folgende Einteilungen zu finden: W E S T E R M A N N (aaO. 307): I . 63,7-14: 7a: Einleitung/ 7b-9: Gott als Retter/10: Israels Abwendung/11-14: „Geschichtsrückblick" I II. 63,15-64,11: 15-16: Bitte/ 17-19a: Klage/ 19b-64,4a: Bitte/ 4b-6: „Sündenbekenntnis"/ 7: Bekenntnis der Zuversicht/ 8 - 1 0 : Bitte/ 11: abschließende Frage; K O E N E N (aaO. 157 f.): 6 3 , 7 - l l a : 7: hymn. Selbstaufforderung/ 8 - l l a : Lob/ 6 3 , l l b - 1 4 : Klage/ 63,15-19a: Bitte-Klage-Not/ 63,19b64,4a: Bitte/ 64,4b-6: Sündenbekenntnis/ 64,7-11: Bitte; PAURITSCH (aaO. 145 ff.): 63,7-14: Geschichtspsalm/ 63,15-19a: Bitten und Klagen/ 63,19b-64,4a: Zwischenstück/ 64,4b-8: Redeteil/ 64,9-11: Abschluß; BEUREN (aaO. 10 f.): 63,7/ 8 - l l a / l l b - 1 4 a / 14b/ 15-19 (64,15a/ 5b-9/ 10-11/ 12 (11), FISCHER (aaO. 27): I.: 63,7-14: V.7/ 8-10/ 11-14 I II. 63,1564,11: 15—19a/ 19b-64,4a/ 4b-8/ 9-11. Die oben dargebotene Gliederung geht mit der von E L U G E R (aaO. 30) herausgearbeiteten konform. 666

Zu rftnn vgl. auch Ex 15,11 (K1» ntoa rf?nn m u ) . Daß dieser aus dem Bereich der Tempeltheologie stammende Text von den Verfassern von Jes 63 f. vorausgesetzt wird, machen nicht nur die Stichwortaufnahme in 63,7 deutlich, sondern auch das „Bild" in 63,13.

270

111. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

deutlichen Parallelismus und verweisen aufeinander. Das Verb T D T R kommt betont in der Mitte zu stehen. 667 Ps 89 ähnlich hebt auch in Jes 63 das Ich des Lobenden an, um Jhwh zu preisen, genauer, zu gedenken. Hinter diesem Ich kann sich - wie oft angenommen - einerseits ein Sänger 6 6 8 , der vor der Gemeinde das Lied anstimmt, verbergen, andererseits ist auch die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß mit dem „Ich" die Gemeinde als corporate personality das Gotteslob anstimmt (vgl. das „Ich" in 63,15b). Die hymnische Diktion unterstreicht, daß das Gotteslob im Vordergrund steht. Gotteslob ist die Antwort des Menschen auf das zuvor geschehene Handeln Gottes, auf sein zuvorkommendes Gnadengeschehen. Lob und Hymnus haben - wie es Jes 64,10 zeigt - ihren Ort im Tempel Gottes (umKam nenp rrn). Dieses wird in 7a/?-7b entwickelt und in den weiteren Versen 8 - 1 4 als das heilsgeschichtliche Geschehen des Exodus und der Bewahrung Israels auf der Wüstenwanderung benannt. Von der l.Pers.Sg. wechselt die Aussage in die 1. Pers.Pl. (u'Tnj). Die Vermutung, daß mit dem „Ich" in 7aa die Gemeinde zu Worte kommt, bestätigt sich. An der Gemeinde, dem Hause Israel (^mte' rva) 669 , wie es 7b näher erklärt, hat Jhwh segensreich gehandelt (bna)670. Mit dem zweifach betonten bn: in V.7 kommt zum erstenmal schon der besondere persönliche Aspekt der Beziehung Jhwh n pnn) 6 9 4 zu dem aus 63,7 bekannten „Erbarmen" (D'nrn). Zwischen hymnischer Eröffnung des Gebets in 63,7 und der Klage in 63,15 ergibt sich somit ein seltsamer Widerspruch. In der Gegenwart der Gemeinde wird das erbarmende Handeln, das der Hymnus pries, gerade vermißt. Jhwh hält dieses wie auch sich selbst zurück (vgl. ps« hitp. in 63,15 und 64,11). Der Gegensatz zwischen dem Einst, der Heilszeit (Exodus), und dem Jetzt ist schmerzhaft spürbar. Durch das mit dem begründenden '3 angebundene Nominalsatzgefüge in V.16 (16aa; 16b) wird Jhwh mit akklamatorischer und bekenntnishafter Dramatik an seine besondere „familiäre" Bande gegenüber Israel erinnert. Wie die Israeliten Jhwhs Söhne sind (63,8), so ist doch Jhwh auch der Vater 692 Zu diesem seltenen Ausdruck bnt im Sinne einer „erhabenen Wohnung" (so HAL, 252) vgl. auch noch das in Jes 63 f. vorausgesetzte „Tempelweihgebet" l.Kön 8,13 und 2.Chr 6,2. In Parallele zu )13Q ist hier von "WI die Rede (l.Kön 8,13: ' m a n:a •'D'JID -inmöS ]13D "^nr rra). 693 Zu den rrna: Jhwhs vgl. auch noch Ps 20,7; 106,2; 150,2. 694 Diese seltene Constructus-Verbindung ist nur noch in Jes 16,11; Jer 31,20 und Ct 5,4 belegt.

Jes 63,7-64,11:

Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

279

Israels. Der Vater-Gedanke, der in Ps 89,27 noch durch die Rolle des Davididen vermittelt in das Spiel kam, ist hier von dieser königlichen Ableitung völlig gelöst. Jhwh ist der Vater des Volkes. In der Errettung Israels aus Ägypten und in der Wüstenzeit hat sich Jhwh ein für allemal zu diesem Volk bekannt und sich den Namen „Erretter" ("übt« vgl. das biu in 63,9) 695 erworben 696 . Der herrliche Gottesname, von dem schon in 63,12b und 63,14b die Rede war, besteht in dem Titel „unser Erretter". Die Absolutheit des Ausgerichtetseins Israels erweist sich nicht nur in dem besonderen Vater-Sohn-Verhältnis und in dem Epitheton Jhwhs „unser Erlöser", sondern auch darin, daß die gesamte Vätergeschichte und Genealogie des Volkes negiert wird. Die beiden mitangeschlossenen invertierten Verbalsätze machen diese von der Struktur und dem Inhalt her deutlich, d t t d k und ^mer stehen den mit«1? negierten Verben in 16a/? und 16ay jeweils betont voran. Die Radikalität der Aussage der Beter, daß Abraham sie nicht kenne, Israel bzw. Jakob und damit der Stammvater Israels von ihnen nichts wisse, wird erst dann deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß mit dieser Behauptung die gesamte Väterlradition, die von dem Bund Jhwhs mit Abraham und den ihm und Jakob gegebenen Verheißungen zeugt, zugunsten der seit dem Exodus bestehenden göttlichen Vaterbeziehung aufgegeben wird. Mit dieser alttestamentlichen Spitzenaussage, die sich gegen die Geschichte Gottes mit den Vätern für die Gegenwart Israels mit seinem Gott entscheidet, wird im Makrokontext des Jesajabuches die Verkündigung eines Dtjes getroffen. 697 „Blicket hin auf Abraham, euren Vater, und auf Sara, die euch geboren hat; denn ich rief ihn, den einen, und ich segnete ihn und mehrte ihn. "(Jes 51,2) „Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich erwählt habe, Same Abrahams, meines Freundes; du, den ich ergriffen von den Enden der Erde und von ihren fernsten Gegenden her gerufen habe, und zu welchem ich sprach: Du bist mein Knecht, ich habe dich erwählt und nicht verschmäht... "(Jes 41,8 f.) Die hintere Umrahmung der Vateraussage von V.16 bilden -< wie oben schon erwähnt - die Klage bzw. Anklage und die Bitte in 17a und 17b. Die zweite, 695

Zu dem Namen und Titel „Erlöser " bzw. „Erretter" für Jhwh vgl. auch folgende Belege in den jes. Schichten: Jes 41,14; 43,14; 44,6.24; 47,4; 48,17.20; 49,7.26; 54,5.8; 59,3; 60,16. 696 Die Zeitbestimmung o'tijkj weist wiederum in die Tage der Heilsgeschichte. 697 Jes 63,16 verhält sich damit konträr zu der Fülle exilisch-nachexilischer Texte (vgl. nur das Programm der Priesterschrift!), die gerade an den Verheißungen der Väter (gen. obj.) festhalten. Vgl. z.B. Mi 7, 20; „Du wirst an Jakob Wahrheit, an Abraham Güte erweisen, wie du von den Tagen der Vorzeit her unseren Vätern geschworen hast."

280

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

nach der Wo-Frage in V.15b begegnende Frage, ist die für die Volksklagelieder typische Warum-Frage (HD1?, vgl. Ps 44,24.25; 74,1.11; 79,10; 80,13; Thr 5,20) in 17a«. In anklagendem Tone wird dem Vater des Volkes vergegenwärtigt, daß nicht das Volk an etwaigen Verfehlungen gegen seinen Gott schuld sei, sondern Jhwh selbst sein Volk dazu bringe, von dem rechten Pfad abzuweichen. Jhwh, der Israel auf den richtigen Wegen aus Ägypten durch das Meer und in der Wüste geführt hat (vgl. 63,8-14), läßt es jetzt von den Gotteswegen ("psnn; vgl. dazu 64,4) abweichen. War zur Zeit des Exodus das Herz Pharaos, dann während der Wüstenwanderung das Herz des Volkes Israel verstockt, so ist es nun Jhwh, der für die Verhärtung des Herzens des Volkes, die zu nachlassender Gottesfurcht führt (Vorwegnahme von 63,1964,6), sorgt. Aufgrund seines Zorns (64,4) und seines Entzugs der Heil ermöglichenden Anwesenheit (64,6) sind die Beter in die jetzige Situation geraten, in der der Feind über das Volk herrscht und Jhwh entmachtet erscheint (63,18 f.). Deshalb ergeht die Bitte (17b), daß Jhwh sich den Betern wieder zuwende (mö, vgl. auch Ps 80,15). Die in 17b angeführten Ehrentitel unterstreichen das besondere Verhältnis der Beter zu ihrem Gott. Es sind seine Knechte ("[H3JJ; vgl. Ps 79,2.10; 89,51) und die Stämme seines Erbbesitzes (-[n*7m 'eatti; vgl. Ps 74,2). Es ist die Sprache der Volksklage, die auch an dieser Stelle wieder durchscheint. Notbeschreibung und Feindklage in V.18 und 19 schließen den Block V. 15-19 ab. Während der Parallelismus in V.18 das Agieren der Feinde (18b: ir-iü) vorträgt, zeigen die Kola in V.19 die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Gottesvolk auf. Die Feinde haben das Volk „in Besitz genommen" und den Tempel zerstört. Die Inbesitznahme Israels durch die Feinde (eh') bewirkt eine scheinbare Veränderung der Besitzverhältnisse. Von dem Herrscher 0?tfn in V.19) und Vater über sein Volk, Jhwh, geht das Besitzrecht in Feindeshand über. Die Beter wollen Jhwh zum Handeln veranlassen. Jhwh muß diesem unnatürlichen Zustand und dieser durch den Feind bewirkten verkehrten Bestimmung des Volkes, das von Jhwh doch seit ewigen Zeiten regiert wird und über dem als Gottes Eigentum sein Name ausgerufen worden ist (V.19b), ein Ende bereiten. Dem UJün1? des Feindes steht das göttliche Dbiao gegenüber. Die Beter, die sich selber als tönp'nu 698 bezeichnen, wissen, daß der Feind nicht auf ewig das Feld beherrschen wird. Der Tempel mag zerstört, der Kult sistiert sein, doch Jhwh wird sich seines Volkes erbarmen. 698 Vgl. dazu auch noch Jes 62,12 und Dan 12,7. Dastinp"DJ)macht wie das in 64,9 das enge Verhältnis zu Jhwh nochmals deutlich. Das Volk ist durch die Heiligkeit Jhwhs ausgesondert und begnadet. Trotzdem, so zeigt es das sog. „Sündenbekenntnis" in 64,4-6, ist es vor dem Scheitern in all seiner Heiligkeit nicht bewahrt.

Jes 63,7-64,11:

Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

281

63,19b-64,6 Bei dem folgenden Abschnitt 63,19b-64,6 könnte man leicht den Eindruck gewinnen, daß er disparates Material enthielte, das sich nicht miteinander vereinbaren ließe. Denn während 63,19b-64,3 eine Theophaniebitte der Gemeinde darbietet, beinhaltet der Teil von 64,4-6 ein sog. Schuldbekenntnis, das sich jedoch bei näherem Hinsehen als Anklage gegen Jhwh entpuppt. Was beide Unterabschnitte über alle Unterschiede hinweg jedoch zusammenhält, ist das jeweilige Agieren Jhwhs. Drückt die Theophaniebitte den Wunsch der Gemeinde nach dem machtvollen Eingreifen Jhwhs aus, so weisen Schuldbekenntnis und Anklage auf die Verborgenheit und sein Nicht-Handeln hin. Die Ambiguität göttlichen Handelns wird somit in den Blick genommen. Auf der einen Seite wird das schreckende und richtende Handeln (tremendum) erwartet, auf der anderen Seite das rettende Handeln (salvandum) Gottes erhofft. 19b-3 Die Theophaniebitte ist durch die -AK-Form 699 als Wunsch der Gemeinde kenntlich gemacht. Als Reaktion auf die Not und das Elend der Gegenwart ausgelöst durch das Treiben der Feinde (vgl. V.18 f.) - ergeht die Bitte an Jhwh, dem heillosen und gottlosen Zustand (vgl. V.19b), der eine Ohnmacht Jhwhs nahelegen könnte, eine Ende zu setzen. Die Theophaniebitte 700 umfaßt 63,19b-64,lb, wobei der Vergleich in la sich als spätere Ergänzung verdächtig macht. 7 0 1 Von der Größe des erhofften Geschehens - Machterweis und Offenbarung vor den Völkern - lenkt la durch die Naivität seines Naturalismus

699 Zu »l^ als Wunschpartikel und dem ungewöhnlichen „Perfekt"-Gebrauch an dieser Stelle, vgl. auch GK §151e. 700 Der Theophanietext Jes 63,19b-64,l ist neben Ps 144,5 f. das einzige Beispiel für eine Theophanieschilderung in Form einer Bitte, wie JEREMIAS (Theophanie, 129 f.) richtig feststellt. Die weiteren Ergebnisse der Theophanie-Studie von JEREMIAS zeigen jedoch, wie euphorisch die formgeschichtliche Forschung gerade in den 60er Jahren betrieben wurde. Denn Jeremias ordnet die seiner Meinung nach „formgeschichtlich alte Theophaniebitte Js.63,19b64,1" (ebenda, 160) in sein Entwicklungsschema einer Form der Theophanieschilderung ein. Danach ließe sich eine Entstehung aller Theophanieschilderungen aus einer „zweigliedrigen Form mit zweigliedrigem Inhalt, die in Am.1,2; Mi.1,3 f.; Ps.46,7 und Js.63,19b vorliegt und sich hinter Ri.5,4 f. und Ps.68,8 f. zu erkennen gibt", aufzeigen (ebenda, 15). Auch W E S T E R M A N N (Jesaja, 313) glaubt hinter Jes 63,lb-64,12 eine „sehr alte Epiphanietradition" erkennen zu können. Die Kritik von FISCHER (aaO. 168) an der Position von Jeremias weist in die richtige Richtung: „Der wahrscheinlich treffendere Erklärungsversuch ist wohl eher eine Anlehnung bei der Formulierung der beiden Verse an alte geläufige Formen." 701

So in seinem Urteil auch PAURITSCH (aaO. 155 f.). Anders W E S T E R M A N N (aaO. 314), der sich für die Ursprünglichkeit dieses Verses ausspricht, letztendlich sein Urteil jedoch wieder offenläßt und relativiert. Für D U H M (Jesaja, 470 f.) stellt 64,1a kein Problem dar.

282

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

ab. 702 Jhwh soll es nicht beim bloßen Hinsehen (vgl. cnn in V.15) belassen, sondern sich von der Transzendenz in die Immanenz begeben. Daß dieses Herabfahren (TP) 7 0 3 kosmisch dimensioniert zu denken ist, verdeutlicht die Wirkungsbeschreibung des Geschehens. Die Berge erbeben ( ^ f , nif.) 704 , und der Himmel muß zerrissen werden, „gleichsam als ob dieser eine trennende Scheidewand zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre bilde, und daher als Voraussetzung für Jhwhs Kommen beseitigt werden müsse." 705 Skizze: •bn o n n - p s n r r r v D'ntti runp-Ki 1 ?—i [¡titcnran crn t r e n n ö k m p s ] IKTP tTtl "['BD 7 H 2 6 "[DtÖ u n i n b — '

Das Ziel der Theophanie, um die die Gemeinde bittet, ist in la/3 angegeben. Zwischen den -pan-Konstruktionen in 63,19b und 64,1b steht die entscheidende Aussage. Es geht um die Offenbarung des Namens Jhwhs vor seinen Feinden ("p"B).706 Es sind dieselben Widersacher und Feinde, die auch die Gemeinde bedrängen (vgl. das 'uns in 63,18). Diese haben dafür gesorgt, daß Israel in einen Zustand der Namenlosigkeit geraten ist und von seiner eigentlichen Bestimmung, Jhwhs Gegenüber zu sein, nichts mehr erahnen läßt. Seinen Namen, den er sich im Vollzug der Geschichte mit Israel erworben hat, nämlich „Erlöser" Israels, soll Jhwh seinen Widersachern kundtun. Das 702

Eine ähnliche Beschreibung findet sich auch in Ps 83,15, der Jhwhs Handeln an den Völkern, das letztendlich wiederum zu seiner Offenbarung führt, erhofft. 703 Ein ähnlicher Gebrauch von TP im Zusammenhang einer Theophanie findet sich noch in Mi 1,3 (DipQ). Vgl. dazu auch J E R E M I A S , aaO. 15 und F I S C H E R , aaO. 170 ff. Zu den weiteren Tp-Belegen, die jeweils Jhwh zum Subjekt haben, vgl.: Gen 11,5.7; 18,21; 46,4; Ex 3,8; 19,11; Num 11,17; Jes 31,4 Ps 18,10 = 2.Sam 22,10; Spr 30,4; Neh 9,13. -n< hat danach als terminus technicus für Theophanien und Theophanieelemente zu gelten. Vgl. FISCHER, a a O . 704

170.

Vgl. dazu auch Ri 5,5. 705 So treffend FISCHER, aaO. 169. Der hier vorliegende Gebrauch des Verbums inp ist für das AT singulär. Vgl. auch J E R E M I A S , Theophanie, 14 f.- „Das Verb m p ist in diesem Zusammenhang singulär. Üblicherweise wird m p für das Zerreißen von Kleidern (vgl. Gen 37,29.34; Num 14,6; Jos 7,6 u.ö.) oder auch des Königtums verwendet ( l S a m 15,27 f.; 28,17; lKön 11,1 lf; u.ö.). Es begegnet als Ausdruck für vielfältige Arten des Zerstörens ( l K ö n 13,3.5 den Altar; Koh 3,7; Jer 36,23 die Buchrolle, Hos 13,8 im Sinne von Zerfleischen; Joel 2,13 als Aufforderung, die Herzen zu zerreißen, um einen veräußerlichten Bußritus zu verinnerlichen)" (FISCHER, aaO. 169). 706 Yg| a u c j , F I S C H E R (aaO. 167 f.): „Der folgende durch Inf. hif. u'iin^ eingeleitete Versteil gibt das eigentliche Ziel des Handelns JHWHs an, das Offenbarmachen seines Namens unter den Feinden und wiederum die Wirkung seines Handelns, diesmal unier der Völkerwelt."

Jes 63,7-64,11: Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

283

Leitwort Dtö spielt somit auch in diesem Abschnitt, wie in den Absätzen zuvor, eine entscheidende Rolle. Die Vorstellung, daß die Völker wie die Berge erzittern werden, unterstreicht die Universalität und Größe dieser Offenbarung. Daß für das nachexilische Israel das Verhältnis Jhwhs zu den Völkern und auch das eigene Verhältnis zu diesen wieder an Bedeutung zunahm, verdeutlicht der Textbefund. Auch in den anderen späten Klageliedern des Volkes, Psalm 79 und 83, klingt die Bitte Israels an, daß Jhwh und Jhwhs Name den Völkern bekannt werden möge (Ps 79,10; 83,17-19). Vergegenwärtigt man sich, daß kurze Zeit zuvor Israel als Kleinstaat auf der politischen Bühne des Vorderen Orients in die Bedeutungslosigkeit zurückgefallen war, wird die Ungeheuerlichkeit dieses Anspruchs gegenüber den Völkern erst richtig deutlich. Noch unter das »"b des Wunsches aus 63,19b sind die folgenden Stichen in 64,2a-3b einbegriffen, wobei 64,2b als sekundärer Eintrag aus 63,19b auszuscheiden ist. 707 Unter der Hand gerät der Wunsch in V.2-4a zu einem Bekenntnis und Lob Jhwhs. In den Offenbarungszusammenhang sind Jhwhs große Taten (nnrra) hineinzustellen, durch die er sich schon im Zusammenhang des Exodus ausgewiesen hatte.708 Durch die Vollbringung dieser Taten möge er sich den Feinden und Völkern kundtun, sich den Ohren, Augen 7 0 9 der Menschen durch seine Großtaten bezeugen. Es wäre ein Eingreifen Gottes, das die Gemeinde selber kaum zu hoffen wagte (64,2), aber aller Welt das Wesen Jhwhs offenbarte: das Wesen eines Gottes, der dem Harrenden (64,3bß) willfährt und dem von der Freude 710 erfüllten Gerechten, der Jhwhs gedenkt, entgegenkommt (64,4a). Das Einschreiten Jhwhs, das die Gemeinde erhofft und erbittet, wäre somit ein Macht- und Gottesbeweis dieses Gottes Israels.711 Im jetzigen Kontext leitet 64,4a, gleichzeitig den Schluß des ersten Unterabschnittes markierend, zu dem folgenden Komplex 4b-6 über. Mit den Stichworten p-nc (vgl. 64,5), D'DN (vgl. 63,17) und JUB ist die Überleitung 707

708

So auch schon DUHM (aaO. 471); PAURITSCH (aaO. 156).

Vgl. zu rmou noch Dm 10,21; 2.Sam 7,23 und Ps 106,22. An letzterer Stelle wird die Verbindung zum Exodus nochmals deutlich. 709 Es ist zu überlegen, ob V.2 und V.3 nicht auf Jes 6, 10 (Verstockungsauftrag: l1? t»B-n atöi ]'3' m ^ i sae)' v:mni vrsa n**T,-]B uitfn vrsi m a n vami) anspielen sollen. Die in Jes 6,11 angekündigte Verwüstung der Städte wäre dann eingetreten (64,9) und dem Volk wären wieder Augen und Ohren geöffnet. Das machtvolle Eingreifen Jhwhs - von dem Volk als Wunsch geäußert - würde von Israel verstanden. Die Verstockungszeit (Jes 6,10; vgl. 63,17) hätte ein Ende gefunden. 710 Die Wurzel tato ist auch sonst in den jesajanischen Schichten belegt: Jes 35,1; 61,10; 62,15; 65,18.19; 66,10.14; 711 Bei allem Wohlwollen gegenüber dem Textbestand des Gebetes kann man sich an dieser Stelle nicht des Eindrucks erwehren, daß die Verse nicht ex una manu entstammen und mindestens eine Erweiterungsschicht vorliegt.

284

III. Altes Testament: Die Klagelieder

des Volkes

vollzogen. Was sich im folgenden anschließt, ist das Schuldeingeständnis Israels, auf den Wegen Jhwhs (vgl. 64,4b; 63,17) gescheitert zu sein und sich mit )ii) beladen zu haben. In der Klage (64,4b; 6b) wird der Grund für dieses Scheitern deutlich. Jhwh war Israel nicht entgegengekommen (so 64,4a), sondern hatte und hat sich in seinem Zorn von seinem Volk abgewandt, ihm seine Heilspräsenz entzogen, so daß ein Schuldig-Werden des ganzen Volkes, keiner ausgenommen (vgl. das i f e in 64,5a.5b.7b.8b), schon vorgezeichnet war. Die Klammer um 64,4b-6b bilden die beiden Aussagen in 4b (na^p nn»C|n) und 6b ( " p s r n n o m s ) , die den Zorn Jhwhs und seine Abwesenheit thematisieren. Wie es in der Anklage von 63,17 schon anklang, liegt für die Beter die causa peccatorum in dem Entzug der Heilsgegenwart durch Jhwh. Das Verbergen des Angesichts - klassischer Ausdruck dafür - hat das Volk der Jhwh-feindlichen Machtsphäre ausgeliefert (64,6b). Das Scheitern Israels auf den Wegen Jhwhs ohne den Wegbegleiter Jhwh, der doch in heilsgeschichtlicher Vorzeit das Volk aus Ägypten und durch die Wüste geführt hatte, blieb nicht aus (64,4b). Mit den kultischen Begriffen für Unreinheit und Verschuldung (Kort, Raa und DHD TQ) klagen die Beter über ihre jetzige Verfassung, wobei diese Klage und Anklage Jhwhs mit der Vergänglichkeitsklage in 64,5 einhergeht. Das von Jhwh erwählte, heilige Volk (enp ~DJJ vgl. 63,18) ist durch die „Sünde" kultisch verunreinigt und schuldbeladen. Ihre „Rechtstaten" (impnx, Bezug zu 4a) sind als solche nicht mehr zu erkennen. Die Beter sind der Vernichtung durch ihren ¡H) ausgeliefert. Es sind diese drei Subjekte, die in dieser Gebetsaussage zum Tragen kommen. Auf der einen Seite steht Jhwh, der sich aufgrund der Verfehlungen im Zorn von seinem Volk und den „Söhnen, die nicht lügen" (63,8), abgewendet hat. Auf der anderen Seite befindet sich das Volk, das sich durch den Zorn Jhwhs in seine Schuld immer tiefer verstrickt hat und dem Tode ausgeliefert ist. Als drittes Subjekt kommt die Macht der „Sünde" ins Spiel, die, personalisiert gedacht, als dritte Kraft das Volk gefangen hält und dafür sorgt, daß das Volk seinen Gott nicht mehr anruft und sich zu ihm bekennt (64,6a). Die Übereinstimmungen der Auswirkungen des Agierens der Feinde in 63,18 f. und der Sünde in 64,5 f. erhellen schlaglichtartig, daß beide - D ,- A und PU - derselben Unheilssphäre angehören. Daß es bei einem Verharren in dieser Klage bzw. Anklage auf Seiten der Beter nicht bleibt, weist der letzte große Abschnitt auf.

Jes 63,7-64,11:

Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

285

64,7-11 Dem ersten Bitte-Klage-Teil (63,15-19a) ähnlich, weist auch der zweite BitteKlage-Teil dieses Gebets Elemente des Vertrauensbekenntnisses712, der Bitte, der Gott-Klage und Feindklage auf. Gegenüber 63,15-19 lassen die letzten Stichen jedoch eine andere Reihenfolge der Formelemente erkennen, so daß die Abfolge Bekenntnis (acclamatio) - Bitte - Feindklage - Gott-Klage zustande kommt. Mit einem Waw-adversativum 713 und dem betonten nnu-Einsatz in 7a (gleichzeitig Alliteration zu dem folgenden nn«) wird das aus vier Gliedern bestehende Nominalsatzgefüge eingeleitet. Dem nominalen Stil korrespondiert die inhaltliche Aussage. In der bewußt gewählten Abfolge Jhwh - Israel Jhwh - Israel bekennt sich die Gemeinde zu Jhwh als ihrem Vater und darüber hinaus zu Jhwh als ihrem Schöpfer. In dem Bild vom Ton und seinem Töpfer begreift sich Israel als das geschöpfliche Gegenüber Gottes.714 Die Gemeinde ist ein Gebilde der Hand Jhwhs ("[T niaan). Die Polarität und Komplexität der gegenseitigen Beziehung zwischen Jhwh und Israel wird durch die Anordnung der Aussagen nochmals verdeutlicht. Inhaltlich wird nicht nur auf 63,16 (Vateraussage von seiten Israels formuliert) und 63,8 (Sohnesaussage von Seiten Jhwhs) Bezug genommen, sondern findet darüber hinaus eine Steigerung und Erhebung der Aussage in den Rang einer Bundesformel statt. Jhwh ist der Vater, der Erlöser (63,16), aber über alles hinaus gerade auch der Schöpfer. Werden und Vergehen, Vernichtung und Errettung hängen von ihm ab. Gerade auf dem Hintergrund der Vergänglichkeitsaussage in 64,5 und der Klage der Gemeinde, der vernichtenden Macht (T) der eigenen Sünden preisgegeben zu sein, erhält das Bekenntnis zu Jhwh dem Schöpfer und seiner Macht (T) einen neuen Klang. Bei Jhwh ist Neuschöpfung und Errettung möglich. Die Bitte in V.8, die nochmals an den Hauptgedanken des vorherigen Abschnittes (V.19b-6) anknüpft, bildet den eigentlichen Skopus des Gebets. Ganz im Ton der beiden Jussiv-Konstruktionen (rpprr'TR und "Dtn ii>i7~'?K), 712 Vgl. zum Bekenntnis der Zuversicht auch W E S T E R M A N N (Lob, 4 2 f.): „Es hat seinen Platz zwischen Klage und Bitte: 74,12; 115,9-11; 85,7; 60,6-7a; 1 0 6 , 4 3 ^ 6 ; Jes.64,7; Jer. 14,9b; Klagel.5,19. Aber es begegnet auch auf die Bitte folgend oder mit der Bitte verbunden, so stets in den späten Psalmen (in denen z.T. die Klage ganz weggefallen ist): Jes. 63,16; 64,3b; Jer 14,22; Add.Dan. 1,17c." 713

Vgl. zu dem Waw-adversativum auch die Ausführungen bei

WESTERMANN

(Lob,

53 ff.). 714 Zum Hintergrund des Bildes vgl. auch innerhalb des ,Jesaja-Buches" Jes 29,16 und 45,9. Beide Stellen gebrauchen ebenfalls das Gegenüber von Ton (nah) und Töpfer/Bildner (is*). Anders als in Jer 18,4.6 ist das Bild vom Töpfer in Jes 63 f. positiv gewendet und Ausdruck des Vertrauens.

286

III. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

die jedoch als Crescendo zu dem Kreon |n von 8b zu werten sind, soll die Bitte Jhwh dazu bewegen, von seinem Zürnen (^¡¿p; vgl. 64,4b und Thr 5,22) 715 und dem „Anrechnen" 716 der Schuld (pi); vgl. 64,5b.6b) der Gemeinde abzulassen. Eine vergleichbare Bitte findet sich auch in dem ebenfalls jungen Volksklagelied Ps 79, dessen deuteronomistischer Hintergrund in jedem Fall deutlicher ist als der von Jes 63 f. Dort heißt es: -wo -mbi 'D -pnrn mmp' -nn •'ottito ran? ub—orrrbK Rechne uns nicht die Sünden der Vorfahren an, dein Erbarmen komme uns schnell entgegen, denn wir sind sehr schwach! (Ps 79,8) Das ist es, was auch die Gemeinde von Jes 63,7-64,11 hofft, daß nämlich das Erbarmen Jhwhs (vgl. 63,7.15) über den Zorn Jhwhs triumphieren und der Vater sich seiner Söhne erbarmungsvoll wieder annehmen und zuwenden wird. Der betonte Imperativ urcon p soll Jhwh im wahrsten Sinne des Wortes die Augen für seine Gemeinde und sein Volk, welches sie doch alle sind ("ito; vgl. 64,5a.5b.7b) 717 , öffnen. 718 Er soll das „Du" des Gebets, das ihm in Gestalt seines Volkes entgegentritt, beachten und nicht bei sich selbst im Zorn verharren. Auch soll er nicht sein Augenmerk auf die außerhalb und innerhalb dieser Beziehung Jhwh - Volk als Störfaktor wirkende „Schuld" Israels richten. ~[Di? bildet den Schlußpunkt der Stellen des Gebets, an denen auf das Volk Israel verwiesen wird (63,8.11.14.18). Die folgenden Verse 9 und 10 gehören eng zusammen und bieten, wie die Verse 18 und 19 in dem ersten Bitte-Klage-Teil, die Not- und Elendsbeschreibung. 7 1 9 Stand in 63,18-19 das Gottesvolk (-[Oip-QD; V.18) im Zentrum der Aussage, so sind es nun die „heiligen Stätten". Der trostlose Zustand der Stadt bzw. Städte und des Tempels - in dieser klimaktischen Reihenfolge - werden Jhwh in der Klage vorgebracht. Wie dem Volk in 63,18, 715 Die beiden Textstellen Jes 64,8 und Thr 5,22 berühren sich an dem zentralen Punkt der Bitte um Beendigung des göttlichen Zorns. Thr 5,22 heißt es: unDHa dkb-qk ' 3 ~mo"H) nssp. 716 Gegenüber 63,7.11 und 64,4 ist für das 13t in 64,8 eine andere Konnotation anzusetzen. Stand das nst bei den ersten drei Stellen des Gebets für das positive Vergegenwärtigen und Erinnern, so beinhaltet es in diesem Kontext von Sünde und Schuld den Aspekt des richterlichen Anrechnens (iustitia distributiva). 717 Anders als in Jes 65 f. (bes. 65,8-15) ist in dem Gebet 63,7-64,11 innerhalb der erwähnten Größe „Volk" noch keine Separierung in verschiedene Gruppen zu erkennen. 718 Vgl. zur Bitte «renn auch Thr 5,1 («nBin-rm ™-n o'ari). Die Übereinstimmung in der Terminologie zwischen Jes 63 f. und den anderen Volksklageliedem bestätigt die oben vorgenommene Eingruppierung des Gebets in die Reihe dieser Texte. 719 Vgl. dazu auch BEUREN, aaO. 45 f.

Jes 63,7-64,11:

287

Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes Israel

so ist auch diesen Bauwerken jeweils das Attribut ttnp beigegeben. Es handelt sich somit nicht um irgendwelche Objekte, sondern um solche, die von und für Jhwh ausgesondert sind. Es sind der Zion, Jerusalem und der Tempel, das Gebetshaus, in dem Jhwh von den Vätern angerufen wurde (64,10 63,19). Wie die Beschreibung der Folgeerscheinungen der Katastrophe in 63,19 mit der Verbalwurzel ¡rn ausgedrückt wurde, so wird auch in 64,9-10 die Zustandsbeschreibung durch das konstatierende rrn allein viermal 720 wiedergegeben. In einem synthetischen Parallelismus beklagt V.9 im Stile der Volksklage 721 die Verwüstung ("nm/ nonti)722 des Zions und Jerusalems. Das von Jesaja (6,11) und den folgenden Propheten angekündigte Gericht ist eingetroffen. Tort'! "fm 'nD-ny ~IDKI u RRONTTF RMTÖN RRA-WM DTK J'RN D'RNI NÖV ¡'KN N N I ) TKKTDK HBK I I I

Und ich sprach: Wie lange, Herr? Und er sprach: Bis die Städte verwüstet sind, ohne Bewohner, und die Häuser ohne Menschen, und das Land zur Öde verwüstet ist... (Jes 6,11) Die Städte und der Tempel sind verwüstet. Pleonastisch wird dieses festgehalten. Das Suffix in •qtfnp n v macht deutlich, daß es sich dabei um Jhwhs Besitz handelt. Daß mit den „heiligen Städten" nicht, wie I. Fischer meint, auf „die Städte des Südreiches, auf die befestigten Orte des , heiligen Landes'" 7 2 3 angespielt werden soll, sondern, wenn auch in dieser Form ungewöhnlich, darunter Zion und Jerusalem zu subsumieren sind, legt der erkennbar angelegte Parallelismus nahe. Die Skizzierung der Notsituation und der „geistlichen Leere" aus 63,19 wird durch die Aussage in 64,10, die die Tempelzerstörung thematisiert, erhellt. Der Tempel, dessen Erfüllung und Bestimmung im Loben Jhwhs durch die Tempelgemeinde lag, ist vernichtet. 724 Dieselben Attribute, die schon die himm720

Vgl. zu dieser Beobachtung auch PAURITSCH, aaO. 168; BEUREN, aaO. 46. Vgl. zur Beschreibung der Verwüstung z.B. Thr 2,1-10; Thr 5,18 (ooötf ]vx"in b ä 13-iD'n crt>»iBf); Ps 79,1. 722 Zu naiQ/riDO!} vgl. die folgenden Belege, die sich zumeist in prophetischen 721

G e r i c h t s w o r t e n f i n d e n : 1. IRRA: Jer 1 2 , 1 0 ; J o 2 , 3 ; I 2 . NOOIÜ: Jer 4 , 2 7 ; 6 , 8 ; 9 , 1 0 ; 1 2 , 1 0 f.; 3 4 , 2 2 ; 4 4 , 6 ; E z 6 , 1 4 ;

1 2 , 2 0 ; 1 4 , 1 5 f.; 1 5 , 8 ; 3 3 , 2 8 f . ; J o e l 2 , 3 ; M i

1,7;

10,22; 7,13;

Zeph 1,13. Vgl. dazu auch die Zusammenstellung bei FISCHER, aaO. 201. 723

724

FISCHER, a a O . 2 0 1 .

Die kurze Vernichtungsbeschreibung in 64,10b deckt sich mit den in den KV geläufigen Bildern. Vgl. Ps 74,7; 79,1; Thr 2,4. Daher mag es auch kein Zufall sein, wenn in 64,10 der Begriff fällt, der sowohl in Thr 1,10 f. als auch in Thr 2,4 seine Verwendung

288

Hl. Altes Testament: Die Klagelieder des Volkes

lische Wohnung Jhwhs C?ar) in 63,15 charakterisierten, begegnen nun auch bei der Kennzeichnung des „Hauses" Gottes (63,15: -|rn«sni -|Enp tat -> 64,10: "urnnsm "Möip ¡rn). Die besondere Bedeutung und Funktion des Tempels werden dadurch erneut unterstrichen. Er ist die Schnittstelle zwischen Himmel und Erde. Der Suffixwechsel macht deutlich: Dieser Tempel ist das Haus Israels, von ihm aus erging die Begnadung Israels, er war die Voraussetzung für die Anteilhabe Israels an Jhwhs Herrlichkeit und Heiligkeit. Der Referenztext Thr 2,1 macht dies ganz klar: p » D'DBn Y^tön li'STB'nt« t t * isna n'ir ro 1 « iaN DV3 v'pn-n'Tn "opiiV! bNnto1 rn»sn Ach, verdunkelt hat in seinem Zorn der Herr die Tochter Zion, vom Himmel zur Erde geworfen hat er die Pracht Israels, und hat nicht des Schemels seiner Füße gedacht am Tage seines Zorns. Wie bei den in 64,9 verwendeten Synonymen für die „Wüste" ("am/ noaei) die prophetische Gerichtsbotschaft mitzuhören war, so weist auch m i n in 64,10 auf deren Erfüllung hin.725 An Jhwh verzweifelnd und in Anklage gegen ihn klingt das Gebet mit seiner letzten Frage in 64,11 aus. Die Verborgenheit Jhwhs (64,6), sein SichZurückhalten (pBK vgl. schon 63,15), das Schweigen und die Bedrückung durch Gott lasten zu sehr (vgl. zu "iRcnu 64,8) auf der Gemeinde. Threni 5,22 vergleichbar verzweifeln die Beter ob der Zügellosigkeit des Zorns an ihrem Gott. Doch die mannigfaltigen Heilserweise und Zeichen des Erbarmens Jhwhs, die Israel im Laufe seiner Geschichte von diesem Gott zuteil geworden sind, lassen die Beter immer wieder in das Gespräch mit diesem Gott in Form des Gebetes eintreten. Klage, Anklage, aber auch Lob des Vaters, Erlösers und Schöpfers haben hier ihren Ort. Wie schon oben bemerkt, sind die Verfasser der nachexilischen Volksklagelieder gerade nicht innerhalb einer Trägergruppe zu suchen, sondern entstammen nach Ausweis der Texte verschiedenen Verfasserkreisen. Während Ps 79 durchaus der dtr Schule zugeordnet werden kann, erweist sich Ps 89 nicht als dtr Produkt, sondern als eine Komposition, die zwar die dtn-dtr Schulsprache aufnimmt, im Grunde aber durch die dem Psalm eigene Verarfindet. 725 Zum Erweis dieser Tatsache genügt ein Blick auf die anderen Belegstellen von r m n : Jer 7,34; 22,5; 25,9-18; 27,17; 44,2.22; Ez 5,14; 13,4; 33,24.27; 35,4.

Jes 63,7-64,11:

Jhwh - Vater und Erlöser des Volkes

Israel

289

beitung gerade der dtr Sichtweise widerspricht. Zwischen den Psalmen 60, 85 und Jes 63 f. wiederum besteht in dem Element des Gotteswortes eine gewisse Nähe, ohne daß sie aber einem einzigen Verfasserkreis zugeordnet werden dürfen. Das allen Texten Gemeinsame und sie Einende ist nicht so sehr das klagende Volk, sondern der Adressat der Gebete: Jhwh. Daß Jhwh in Threni 2 als „Feind" bezeichnet werden kann, dagegen in Jes 63 f. als Vater angerufen wird, zeigt den langen Prozeß, der Israel in seinem Angewiesensein auf diesen einen Gott in Klage, Bitte und Lob aufgegeben war. Der „Zierde" Israels (m«E3n: Thr 2,1 und Jes 64,10), die in vorexilischer Zeit mit dem Tempel verbunden und mit dessen Zerstörung scheinbar weggebrochen war, konnte in Israel erst nach diesem Ringen mit seinem Gott selbst wieder Raum gegeben werden, nämlich in dem Volk selber. Mit dem Untergang des salomonischen Tempels und der davidischen Dynastie wurde das Volk des Exodus das unmittelbare Gegenüber des zürnenden, sich aber auch erbarmenden Gottes Jhwh.

IV. Zusammenfassung

Die Untersuchung der Gruppe von Volksklagen hat gezeigt, daß innerhalb dieser Textkompositionen nicht eine einzige überall anzutreffende Form und Struktur der Volksklage existiert, die formgeschichtlich in einem einzigen Gattungsschema für alle Texte verbindlich erhoben werden könnte. Die Hauptaufbauelemente sind zwar die Anrufung (invocatio), Klage und Bitte, letztere können jedoch gerade in verschiedenster Weise hintereinander gestellt, kombiniert und mit hymnischen Partien oder einem Lobgelübde zergliedert werden. Auch das Postulat eines einzigen Verfasserkreises geht bei den Volksklageliedern - wie oben gezeigt werden konnte - ins Leere. Dies ist umso einleuchtender, je mehr man mit dem Gedanken Ernst macht, daß diese Texte sich verschiedenen Entstehungssituationen verdanken. In diesem Zusammenhang ist nochmals zu unterstreichen, daß das Abfassen von Volksklageliedern, die ihren Ausgangspunkt bei den Threni 2 und 5 haben, mit der Exilszeit nicht ein Ende fand. Auch in der Zeit des zweiten Tempels kam es in den verschiedenen theologischen Gruppen zur Formulierung dieser speziellen Klageform. Die exilischen und nachexilischen Volksklagelieder - vorexilische Texte sind nicht erhalten1 - spiegeln dabei einen bestimmten „Verarbeitungsprozeß" der Katastrophe von 587 v. Chr. wider. Mit den Stichworten „Nationalisierung" und „Kollektivierung" läßt sich dieses Phänomen umschreiben. Durch den Wegfall der königlichen Dynastie einerseits, durch die Zerstörung des Tempels andererseits mußte das Volk als Größe an sich unweigerlich in das Zentrum und den Mittelpunkt rücken.

1 Es mag durchaus in vorexilischer Zeit Klagelieder des Volkes gegeben haben, jedoch sind über diese Klagekompositionen keine weiteren Erkenntnisse zu gewinnen, da sie sich in den Texten des Psalters und des Pentateuchs nicht nachweisen lassen.

IV.

291

Zusammenfassung

Skizze:

Jhwh

Volk

In der Aufnahme heilsgeschichtlicher Elemente (Exodus; Landnahme; JhwhKrieg-Ideologie) und tempeltheologischer Traditionselemente (Chaoskampf; „Schöpfung") wurde die Situation der Gemeinde und des Volkes Israel jeweils neu gedeutet und im Gebet vor Jhwh gebracht. Klage und Anklage gegen Jhwh, die Bitte um seine Rück- und Wiederkehr spiegeln dabei Israels Auseinandersetzung mit dem „fernen Gott" und seinem Zorn wider. Das von Jhwh erwählte Volk Israel hat mit seinem Gott in dieser Zeit der größten Not gerungen und gestritten, ohne das Bekenntnis zu diesem einen Gott jemals zu leugnen. Die augenscheinliche Ohnmacht dieses Gottes, seine Abwesenheit und Ferne galt es für Israel zu erfahren. Welcher große Prozeß zu bewältigen war, lassen die Volksklagen hier und da erahnen. Klage und Anklage gegen den Gott Israels kommen da neben Hymnen und Vertrauensbekenntnis zu stehen. Ehemals tempeltheologisch gedeckte Aussagen erweisen ihre Gültigkeit in neuen Zusammenhängen. Die Spannbreite der Texte und ihrer theologischen Aussagen zeigen der Anfangstext unserer Untersuchung Thr 2 und der Schlußtext Jes 63,7-64,11. Sieht Israel dort, beeindruckt und erschüttert vom Untergang Jerusalems, Jhwh auf Seiten der Feinde stehen, so rühmt es sich hier wieder seines Vaters Jhwh und weiß sich von ihm geschaffen und erhalten. Viele Jahrzehnte liegen zwischen diesen Texten. Es sind Texte, die die Zeit und die Erfahrungen, die die Menschen mit Gott in ihrer Zeit machten, widerspiegeln.

292

IV.

Zusammenfassung

Tabelle:

Untergang Jerusalems 587 v. Chr.

Exilszeit

Threni 2 Threni 5

Psalm 74 Psalm 44 Psalm 80

Nachexilische

Zeit

Psalm 79 Psalm 60 Psalm 108 Psalm 137 Psalm 83 Psalm 89 Psalm 132 Psalm 85 Jes 63,7-64,11

Daß die „theologische" Reflexion dieser „Trümmerzeit" jedoch nicht nur den Deuteronomisten mit ihrer Rechtfertigung Jhwhs überlassen wurde, sondern daß es neben dieser einen bedeutsamen Richtung, die dann spätestens mit Nehemia 9, Esra 9 und Daniel 9 zur Vorherrschaft gelangte, auch andere Kreise in Israel gegeben hat, die in exilischer-nachexilischer Zeit über das Verhältnis Israels zu seinem Gott nachdachten, lassen die exilischen und nachexilischen Volksklagelieder noch deutlich erkennen. So ist hier zum Beispiel der exilische Psalm 44 zu nennen, in dessen inhaltlichem Duktus anstelle einer Klage über den Verlust von Tempel und Stadt, König, Priester- und Prophetentum das leidende Volk zur Sprache kommt. Dem Gott der Heilsgeschichte, der sich einst als Völkervernichter erwiesen hat, wird die Dringlichkeit seines Eingreifens aufgezeigt. Das geschieht in starken anklagenden Worten, verbunden mit der Unschuldserklärung des Volkes, das seine Bundestreue nicht in Zweifel ziehen läßt. Die terminologische Nähe und inhaltliche Ferne zur sich parallel entwickelnden deuteronomistischen Theologie ist hier deutlich zu beobachten. Auf der anderen Seite gerät der nachexilische Psalm 89 in den Blick, dessen hauptsächlicher Gesprächspartner eben die deuteronomistische Theologie ist,

IV. Zusammenfassung

293

deren Anliegen (der Schuldaufweis des Volkes und die „Rechtfertigung" Gottes) aber gerade nicht positiv aufgenommen und weitergeführt, sondern zum Teil in deuteronomistischer Travestie - aufs schärfste kritisiert wird. Gerade diese Vielfalt der in den Klageliedern des Volkes zu Worte kommenden Stimmen macht den Reiz dieser Textgruppe aus. Die Verfasser der Gebetstexte - Gebete zu Jhwh sind sie ja in erster Linie - sind damit sowohl bei den Tempeltheologen, bei Abkömmlingen dieser, bei den Deuteronomisten und Kultpropheten zu suchen. Daß die Psalmenüberschriften (Asaph-Psalmen: Ps 74; 79; 80; 831 Korach-Psalmen: Ps 44; 85) für die nähere Identifizierung der Verfasser in keiner Weise etwas austragen, ist trotz der in der neueren Psalmenforschung beliebten Annahme, von den Überschriften her bestimmte Tradentengruppen ausfindig machen zu können 2 , nochmals deutlich festzuhalten. Ein neues Schlaglicht auf das Verhältnis der Threni und der aus ihnen sich entwickelnden Volksklagelieder haben die Balag-Klagen (vgl. oben) geworfen. Diese spezielle sumerische Textgruppe von Klagekompositionen, die selber wiederum von den sumerischen Stadtklagen abhängig ist, hat den Entwicklungs- und Entstehungsprozeß der alttestamentlichen Volksklagelieder nicht nur im Sinne eines Vergleichsmodells einer Literaturwerdung begreifbarer gemacht, sondern darüber hinaus gezeigt, daß zwischen den sumerischen und den alttestamentlichen Klagekompositionen in der Bewältigung des Themas „Zorn Gottes" und in Einzelformulierungen ein zu vermutendes Abhängigkeitsverhältnis besteht.3 2 Vgl. dazu z.B. den symptomatischen Beitrag von SEYBOLD, Das „Wir" in den AsaphPsalmen, in, Neue Wege der Psalmenforschung, hrsg.v. K.Seybold u. E. Zenger (Herders Biblische Studien, hrsg. v. H.-J. Kloeck u. E. Zenger, Bd.l), Freiburg 1994, 143-155. 3 Vgl. dazu auch GwALTNEY, The Biblical Book of Lamentations in the Context of Near Eastern Lament Literature, in, Scripture in Context II (hrsg.v. W.W. Hallo u.a.), Winona Lake, 1983, 205 ff. Vorsichtiger und zurückhaltend fällt die Beurteilung von FERRIS (Genre, 167-175) aus. „But the tradition is both a long one and widespread. A close look at the data available just does not seem to support the theory that lament was something learned directly from the Babylonians during the exile. The Hebrew communal laments are sufficiently distinct and demonstrate an almost unique flexibility of form and style so as to warrant the conclusion of literary dependence within the ancient Near Eastern milieu. The data does support a cultural dependence upon what Mowinckel calls ,the common oriental culture' and hence, .participation in a common literary culture." (AaO. 174 f.). Vgl. auch DOBBS-ALLSOPP, Study, 157 ff., welcher den Versuch unternimmt, das Genus Stadtklage anhand ausgewählter atl. Texte herauszuarbeiten. Die Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in Themen und Motiven gehen nach DOBBS-ALLSOPP auf eine gemeinsame Vergangenheit zurück (aaO. 158): „Nonetheless, several features make it likely that the two genres had some type of closer past connection: 1) the close parallels that have been cited throughout this study (e.g. haunt of wild animals [...], songs turned into lament [...], wide open gates [...], plundering of sanctuary and turning it into a garden hut [...], famine inside and sword outside [...], piles of

294

IV.

Zusammenfassung

Skizze:

Israel

Mesopotamien

Threni

Sumerische Stadtklagen

y Klagelieder des Volkes

Balag-Klagen

Das „missing link" zwischen den sumerischen Stadtklagen und den alttestamentlichen Threni bzw. Volksklageliedern stellen somithin die sumerischen Balag-Klagen dar, die von der Gruppe der gala/kalü-Priester über Generationen hinweg bis in die seleukidische Zeit tradiert worden sind. 4 Die corpses [...], geographical motif [...], father does not turn back for children [...]); 2) the personification of cities and countries, which is almost certainly a partial adaptation of the weeping goddess motif; and 3) some of the structural affinities ... (e.g. authorial points of view [...], focus [...], the formal resemblances between the balags and communal laments [...]). The nature of this connection, when it occurred, how it came about, etc., unfortunately, is difficult (if not impossible) to determine. It seems probable that the direction of the influence is from Mesopotamian to Israel, but even this is not completely certain." DobbsAllsopp kommt in seiner Studie zum Fazit (aaO. 159 f.): „To summarize, the main conclusions of this study are as follows: 1) the Hebrew Bible contains evidence of a citylament genre comparable to the one in Mesopotamia; 2) the biblical genre appears to be native to Israel and generically related to the Mesopotamian genre; and 3) some evidence suggests that the two genres had some type of closer contact." 4 Damit wäre auch die in der atl. Forschung öfters gestellte Frage, wie man sich die Vermittlung zwischen den sumerischen Stadtklagen des 2. Jtsd. v. Chr. und den Threni bzw. Volksklageliedern vorstellen könnte, einer begründeten Antwort zugeführt worden. Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. die von W E S T E R M A N N innerhalb seiner Auslegung der Threni (Klagelieder, 31) gestellte Frage: „Wie solche Strukturverwandtschaft in zeitlich und räumlich weit voneinander entfernten Texten zu erklären und was aus ihr zu folgern ist, ist eine Frage, die bisher leider kaum beachtet und kaum bearbeitet wurde, der jedoch näher nachzugehen sich gewiß lohnen würde." Die von ihm dann im folgenden entwickelte Lösung liegt ganz auf der Linie seines Genesiskommentars (ebenda): „Es wäre möglich, daß die ersten Erfahrungen der Zerstörung von großen Städten, die ja eine kleine Welt für sich bildeten, in manchen Kulturkreisen einen so tiefen Eindruck auf die davon Betrof fenen machten, daß sie dem Rang

IV.

Zusammenfassung

295

Kenntnisnahme und Beeinflussung entsprechender Priesterkreise in Israel durch diese Texte kann sowohl in neuassyrischer als auch in neubabylonischer Zeit erfolgt sein. In der Kenntnis der entsprechenden mesopotamischen Klageliteratur kam es auf israelitischem Boden mit dem Fall Jerusalems (587 v. Chr.), die Hauptstadt des Nordreiches Samaria war schon 722 v. Chr. gefallen, zur Ausbildung der sich in den Threni und den Volksklagen niederschlagenden Gebetsliteratur. Auch hier waren es die Kultagenten, die diese Texte verfaßten, und in Klage, Bitte und Lob um das Erbarmen des einen Gottes Israels, Jhwh, rangen. Daß Jhwh nicht auf ewig der ferne Gott geblieben ist, sondern als der nahe Gott seinem Gottesvolk im Laufe der gemeinsamen Geschichte beigestanden hat, gehört zur Grunderkenntnis der Geschichte Israels.

von Urerfahrungen der Menschheit nahekamen; zu der Erfahrung von Naturkatastrophen, die eine ,Welt' vernichten, tritt die Erfahrung der Zerstörung einer großen Stadt durch menschliche Gewalteinwirkung, das übermächtige Heer der Eroberer. So wie bei der Flut alles Lebendige vernichtet wird, so auch bei der Eroberung einer Stadt. Es war eine neue Erfahrung, die an vielen Stellen auf der ganzen Welt in einem Kulturstadium gemacht wurde, in dem eine bewaffnete Großmacht imstande war, ganze Städte dem Erdboden gleichzumachen. Es war eine Menschheitserfahrung, die auch bestimmte Ausdrucksformen prägte, die an ganz verschiedenen Stellen auftauchen konnten. Diese Vermutung bekäme eine Stütze, wenn der Vergleich in der Klage über die Zerstörung der Stadt Ur, nämlich ihrer Vernichtung durch den .großen Sturm', den Anu über die Stadt loszubrechen gebietet, eine Anspielung auf die große Naturkatastrophe der Urzeit ist."

296

Anhang:

Aufstellung

der wichtigsten

Leitworte

und

Themen

Aufstellung der wichtigsten Leitworte und Themen Fragen:

Warum? (nia1?) Ps 44, 24

rmbrarn-^Ksnypn ^

Ps 44,25 Ps 74, 1 Ps 74, 11 Ps 79,10 Ps 80,13 Thr 5,20

j^n nab ™ 24

iKn"?! irjr rottin -rnon ^nsTna1? 25 spring

^a«

n^'p nrar D'rfMj nnb 1

n1» [^pii] ifsin rngp ^'n'i ^t a'itfn na1? 11 orrn^R nsN D'ian nn«1 nnb 10 jy\ n^iJ-^s m-itji nni: rana na1? 13 uaron lanssön rra;1? nab 20 Wie lange? (na~iiJ und Tin-ir)

Ps 74,9 Ps 74,10 Ps 79,5

i7-rs unK-Kbi R'n; Ti»-]'* ir*n ab wnhiK 9 ins;1? ^nö rri« fug1 -a *pjr D'rfrK 'ro-iBio :fjni«p töicins nrnn nxt? *]jKn nvr nn-ro 5

Aufstellung

der wichtigsten

Leitworte

und Themen

297

Ps 80,5 rfpsm

raitfy

D'nbR mrr 5

Ps 89,47 :^nnn tüK-ina -iiqn

nnon mrr nn~ii> 47

Themenbereiche: „ Schöpfung" Ps 74, 16.17 :e)ptöi -ritm n t n n nnnt nb'b ^ f p i s nv •q'p 16 sarny hfir *p/n f'j? pnt r r f a a r 1 » nasn nn« 17 Ps 89,12.13 :nrno,; nri« hkVdi bnn p « D'ntö ^ 12 •.WV, 1P0? ]in-]öi Tbri Dnmri nn« pn1/! p s s 13

„Exodus" Ps 74,15 :|n't* rri-nj rtöain nn« bmi pro ni?j?n nn« 15 Landnahme" Ps 44,1-4 Kti-rtBo UTTÜR irjma m-fr« 2 •«IT nnK 3 :n-i|? 'D1? arvon n'pra bub ¡•n'peini d'b«1? m n djjqfii ntönin tria 1 in ? nyttiirrRb niii-in p*t k ö t D3~irn vö 4

Ps 80,9.10 f. tnyam crlä tf-un jron nn^nn ]sa 9 rpK-^DTii rntf-¡0 öitöni iras1? rraa 10 ^ R T I R majai n ^ o n n 103 11

298

Aufstellung der wichtigsten Leitworte und Themen

,,Chaoskampf' Ps 74,13-15 rD'an-^j? D'ran ^tötq rnaiö er ^ u n n-nia nn« 13 asb bstjD ia;nn irn1? 'ÖK-J nn« u qri'K rrhrn rœfaïn nn« bmi run nrpn nn* 15 I » -

1 -

R : -

T -

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I T : -

RTT-R

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Ps 89,10-11 tongön nn« v'p: «itoa cm n w n btöin nn« 10 ^ ' y l n nTfQ jrhra nn-j bbm nusn nn« 11

Epiphanie-Bitte Ps 80,2 «joi' |Kk3 iii nrmn ^Nnte' na1! 2 rrefjoi jp'ni a n s » ^s1? 3 :nirain n n r e n 3ös „Sünde" Ps 44,19 ff. (negativ) 'aq untöR Dm m1? nin« jtorub 19 •.nio'ps? wty odfii n^n nipp? urvoi '3 20 nr b*b was fchs?i irrf?« aö ÖTOÖ-DK 21 n1? ninbrn v f KVT'3 nKt—iprr D'nbK wfrn 22 Ps 79,8.9 nfcn ui^n '3 y ç r n w i j r inn D'töto üb—orn-b« 8 Iptf-Tin? niR-bi? lautö' 'rf?« iriro 9 qnttf i^nb irnKorrbi; -1031 tfrsm Ps 85,3 tn 1 » DnKQrr^D ¡ro? îjbjj ¡to

3

Ps 89,33 :DÏU> D'ÜM?! Diiös cotfri 'rnpBi 33 Thr 2,14 bsni Kitti ^ irn m hpotf] ^n'ntö rrrti1? ^Jur1«} -i^raVi 0 :D,rTnöi kkd niKta "f? irrn

Aufstellung

der wichtigsten

Leitworte

und Themen

299

Thr 5,7.16 nirrffu) [umro] un» [DTKI] m/K wpn irrü« i u1? «pH« utöto rnD» tfps; 16

^KQn Hymnische Stücke: •^bn- Aussagen Ps 44,5

niuitö-; nra D'nb« 's'pn KirrnnK 5 Ps 74,12 : p « n njpa rrüJKö;

D-IJ>D 'abn irrfrKi 12

Thronen Ps 80,2 *)ov ans nrmn bK-itp1 njn 2 ntpai jn'ni a n s « 'mb 3 tnirsin n n r o n 30'' Thr 5,19 ni-n -rt1? *|Kt?9 nttfn n^iub mir nn« 19

Ps 44,5

nrw-Aussagen :npjr rrüiitö* nra DTf?« 'abn Kirrnn« 5

Ps 60,12//108,12 D'H^K K^n-Mibi unmr irrf?» nriKUfrn 12 Ps 74,13-17 ffl'Dn-ba D'ran 'ÖK-J FTBIÖ D; rn-yis nn« ayb ^dkd ia;nn jrn1? "ttfio fixs-i nn« qn-1« rrhrn ntönin nros bmi )'ri?o napn nn« •.¡öneh - i t a rrtrsn nn« r f r b DV ^ ton-is^ nn« *p/n p p ni'yor'» nssn nn«

13 14 15 16 17

300 Ps

Aufstellung der wichtigsten Leitworte und Themen 83,19 : p w r l 7 3 - , 7 i > iv'pp ^ - n 1 ? m i r ^ptö n n H r s

Ps

89,10-13.18.39 : n n a ö n nr»? v 1 ?: K i t a c m n n o a *?tüin rrn»* 10 ^ r y i R rnra fflnicr

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12

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Stichworte und typische Verbindungen: „ v e r s t o ß e n " (rat) Ps 4 4 , 1 0 i i r n i i a x a «sn-Rbi w 1 ? ? ™

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Ps 44,24 tn^; 1 ? m m - 1 » n y p n

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