Die Macht der Sünde im Römerbrief: Eine Untersuchung vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie und -praxis. Dissertationsschrift 9783161561214, 9783161561221, 316156121X

Mit welchem Ziel schreibt Paulus den römischen Christen von der Sünde? Vor dem Hintergrund griechisch-römischer Argument

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German Pages 376 [389] Year 2019

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: „Magnificare peccatum“? Welches Ziel verfolgt Paulus, wenn er im Römerbrief mit der Sünde argumentiert?
Teil I: Macht der Argumentation – Macht des Begriffs. Der Zusammenhang zwischen Ziel und Begriffsinventar einer Argumentation
I. Macht der Argumentation: Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als heuristisches Rahmenmodell zur Bestimmung des Skopus paulinischer Texte
1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze in der Paulusforschung
1.1. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus inventorisch- kommunikativer Perspektive
1.2. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus dialektischer Perspektive
1.3. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus struktureller Perspektive
1.4. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus der Perspektive der Adressatenlenkung und persuasio
1.5. Zwischenbilanz: Die Bestimmung des Argumentationsziels eines paulinischen Textes als methodische Herausforderung
2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie und ihre heuristische Relevanz für die Auslegung theologischer Texte des hellenistischen Judentums
2.1. „…non tam ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta“ – Rhetorik als Skopustheorie?
2.2. Zielorientierung auf inventorischer Ebene: Argumentation als strategisches Abrufen etablierter Begründungskonventionen
2.2.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik
2.2.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Spuren der inventio in hellenistisch-jüdischen Texten
2.2.3. Fazit
2.3. Zielorientierung auf rationaler Ebene: Argumentation als Gedankenbewegung und Erkenntnisprozess
2.3.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik
2.3.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Die Rationalität theologischer Argumentationen in hellenistisch- jüdischen Texten auf dem Prüfstand
2.3.3. Fazit
2.4. Zielorientierung auf struktureller Ebene: Argumentation als Anordnung interdependenter Begründungssegmente
2.4.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik
2.4.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Argumentationsstrukturen in hellenistisch-jüdischen Texten
2.4.3. Fazit
2.5. Zielorientierung auf attentionaler Ebene: Argumentation als Aufmerksamkeitslenkung
2.5.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik
2.5.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Beispiele für Aufmerksamkeitslenkung in hellenistisch-jüdischen Texten
2.5.3. Fazit
2.6. Zwischenbilanz: Die Argumentationstheorie als multiperspektivische Skopustheorie
3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung
II. Macht des Begriffs: Die Funktion des Begriffs hinsichtlich des Argumentationsziels
1. Theoretische Überlegungen bei Quintilian: Das Ziel der argumentatio als Richtpunkt ihres semantischen Inventars
2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros
2.1. Beispiel 1: „iudices“ in Cic. inv. I,70
2.2. Beispiel 2: „lex“ in Cic. inv. I,68f
3. Die Frage nach dem Ziel der Verwendung eines Begriffs als Frage nach seiner Funktion hinsichtlich des Argumentationsziels
III. Die Untersuchungsmethode
1. Argumentationsanalyse
2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
Teil II: Macht der Argumentation – Macht der Sünde. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs im Römerbrief vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie
IV. Die Relevanz von Röm 1,1–17 für die Argumentation von Röm 1,18–8,4
1. Der Heidenapostel und seine heidenchristlichen Adressaten als Argumentationspartner
2. Röm 1,16f als These hinsichtlich des „römischen Problems“ und Hinweis auf die argumentative Strategie des Römerbriefes
3. Röm 1,1–17 als attentionales Zentrum von Röm 1–8 und die argumentative Architektur von Röm 1–8
V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung
1. Röm 1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm 1,18–2,8 als Ausdruck einer argumentativen Programmatik
1.1. Argumentationsanalyse: Röm 2,1–8 als Skopus der in Röm 1,18 beginnenden Argumentation
1.2. Das programmatische Schweigen von der Sünde in Röm 1,18–2,8
1.3. Zwischenbilanz
2. Röm 2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde als Argument gegen die Parteilichkeit (προσωπολημψία ) Gottes
2.1. Argumentationsanalyse: Röm 2,25–29 als Skopus der in Röm 2,9 beginnenden Argumentation
2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
2.3. Zwischenbilanz
3. Röm 3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm 2,25–29
3.1. Röm 3,1–8 als polemischer Übergang: Der ?µa?t???? als Argument gegen eine libertinistische Fehldeutung der Treue Gottes
3.1.1. Argumentationsanalyse: Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Skopus
3.1.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
3.2. Röm 3,9–31: Die universale Macht der Sünde als Argument gegen die Gerechtigkeit aus dem Gesetz
3.2.1. Argumentationsanalyse: Röm 3,27–31 als Skopus der in Röm 3,9 beginnenden Argumentation
3.2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
3.3. Zwischenbilanz
4. Röm 4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade jenseits des Gesetzes
4.1. Argumentationsanalyse: Röm 4,23–5,11 als Skopus der in Röm 4,1 beginnenden Argumentation
4.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
4.3. Zwischenbilanz
5. Röm 5,12–8,4: „magnificare peccatum“? – ein Argumentationskomplex zur Klärung der Bedeutung des Gesetzes für die heidenchristlichen Adressaten
5.1. Röm 5,12–21: Erstes Argument gegen das Gesetz – die Vorzeitigkeit von Sünde und Gnade
5.1.1. Argumentationsanalyse: Röm 5,18–21 als Skopus der in Röm 5,12 beginnenden Argumentation?
5.1.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
5.1.3. Zwischenbilanz
5.2. Röm 6,1–14: Zweites Argument gegen das Gesetz – die unmittelbare Partizipation der Gläubigen an der Heilszuwendung durch die Taufe
5.2.1. Argumentationsanalyse: Röm 6,11–14 als Skopus der in Röm 6,1 beginnenden Argumentation
5.2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
5.2.3. Zwischenbilanz
5.3. Röm 6,15–7,6: Drittes Argument gegen das Gesetz –die Befreiung aus dem Herrschaftsbereich der Sünde als Eintritt in den Dienst für Gott
5.3.1. Argumentationsanalyse: Röm 7,4–6 als Skopus der in Röm 6,15 beginnenden Argumentation
5.3.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
5.3.3. Zwischenbilanz
5.4. Röm 7,7–8,4: Viertes Argument gegen das Gesetz –die Überwindung des Gesetzes der Sünde durch die Überwindung der somatischen Existenz des Menschen
5.4.1. Argumentationsanalyse: Röm 8,1–4 als Skopus der in Röm 7,7 beginnenden Argumentation
5.4.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs
5.4.3. Zwischenbilanz
6. Echo der Sündenargumentation in Röm 8,10; 11,27 und 14,23
6.1. Röm 8,10: Der Sündenbegriff an der Schnittstelle von Argumentation (Röm 1,18–8,4) und Affirmation (Röm 8,5–39)
6.2. Röm 11,27: Israel als Teil der sündigen Menschheit
6.3. Röm 14,23: Die Sünde als Erkenntnismöglichkeit der gefallenen Welt
Bilanz: Ein Portrait der Sündenargumentation des Römerbriefs
Literaturverzeichnis
Weitere Abkürzungen
1. Quellen
1.1. Antike jüdische und christliche Quellen
1.2. Quellen zur antiken Rhetorik
1.3. Kirchengeschichtliche Quellen
2. Hilfsmittel
3. Kommentare, Monographien, Aufsätze, Artikel
Stellenregister
Begriffe, Personen, Orte
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Die Macht der Sünde im Römerbrief: Eine Untersuchung vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie und -praxis. Dissertationsschrift
 9783161561214, 9783161561221, 316156121X

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel 189

Patrick Bahl

Die Macht der Sünde im Römerbrief Eine Untersuchung vor dem Hintergrund antiker ­A rgumentationstheorie und -praxis

Mohr Siebeck

Patrick Bahl, geboren 1987; 2006–13 Studium der Ev. Theologie; seit 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kirchengeschichte II der Evangelisch-Theologischen ­Fakultät der WWU Münster; 2018 Promotion. orcid.org/0000-0002-8993-1412

ISBN  978-3-16-156121-4 / eISBN  978-3-16-156122-1 DOI 10.1628/978-3-16-156122-1 ISSN  0340-6741 / eISSN  2568-6569 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2019  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck aus der Bembo gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2017 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Das Erstgutachten wurde von Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls, das Zweitgutachten von Prof. Dr. Lutz Doering erstellt. Für die Drucklegung wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet. Das Zustandekommen dieses Buches verdankt sich vielen Menschen, die mir während meiner Promotionsphase eine große Stütze und Begleitung gewesen sind und denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Über das allgemein Übliche und Erwartbare hinaus hat meine Doktormutter Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls in zahllosen Privatissima, Leserunden und Kolloquien die kleinsten Details meiner Arbeit mit mir diskutiert und ausgeleuchtet, mich immer wieder mit ihrer Begeisterung und exegetischen Leidenschaft angesteckt und mich ermutigt, den Skopus meiner Arbeit konsequent zu verfolgen. Damit hat sie dem Ideal einer Doktormutter vollumfänglich entsprochen, worum mich viele meiner Kolleginnen und Kollegen (völlig zu Recht!) beneiden. Die fachlichen Diskussionen haben sich in der intensiven Werkstatt­ arbeit des von Prof. Hoegen-Rohls veranstalteten Oberseminars „Johannes und Paulus“, aber auch in der Forschungssozietät „Neues Testament und antikes Judentum“ fortgesetzt, in der ich vor allem von Prof. Doerings großer Exper­t ise hinsichtlich der jüdisch-hellenistischen Literaturgeschichte und Theologie profitieren konnte. Wichtige Impulse für die Arbeit gingen zudem von dem interdisziplinären Seminar zur Erforschung der Etymologie von ἁμαρτάνειν und τυγχάνειν (i. S. von „Verfehlen“ und „Treffen“) aus, dessen Teilnehmer – namentlich PD Dr. Jonathan Miles Robker, Anja Robker, Eike Herzig, Friederike Ludy-Herzig, Stefanie Ihben, Philip Eschwey, P. Rudolph de Lange, Dr. Lars Maskow –­ mir über die letzten Jahre die wichtigsten Gesprächspartner und Freunde geworden sind. Zu ihnen gehört auch Christian Pfordt, der sich trotz zahlreicher, anderweitiger Verpflichtungen in die Erstellung der Druckvorlage eingebracht und meinen Text viel genauer lektoriert hat, als er es sich zutrauen oder mir versichern wollte. Darüber hinaus haben in verschiedenen Phasen der Entstehung des Buches Dr. Anneliese Bieber-Wallmann, Dr. Heiner Kampert, Steffen Götze und Prof. Dr. Angelika Reichert die theologischen und philologischen Einzelaspekte und -probleme der Untersuchung mit mir erörtert. Mit unermüdlicher Anfeuerung haben mir meine Eltern Eckhard und Angelika Bahl,

VI

Vorwort

meine Schwiegereltern Ingrid und Frerich Ihben, meine Schwestern Melanie und Vanessa-Katharina und meine ganze Familie den Rücken gestärkt. Prof. Dr. Albrecht Beutel hat mir auf meiner Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kirchengeschichte II sehr große Freiheiten eingeräumt, damit ich meine neutestamentlichen Forschungen konzentriert voranbringen und die Arbeit fertigstellen konnte. Als deren Herausgeber hat er zudem die Aufnahme der Untersuchung in die Reihe der Beiträge zur historischen Theologie ermöglicht. Freundlich und kompetent haben mir Dr. Katharina Gutekunst und das übrige Team des Verlags Mohr Siebeck zur Seite gestanden. Der Evangelisch-reformierten Kirche und der Union Evangelischer Kirchen möchte ich für die Gewährung überaus großzügiger Druckkostenzuschüsse danken, ohne die die Veröffentlichung nicht möglich gewesen wäre. Die unter attentionalen Gesichtspunkten herausragende und alles entscheiden­ de Schlussposition dieser Danksagung gebührt meiner Frau Dr. theol. Sabine Joy Ihben-Bahl, die meine Arbeit ein ums andere Mal zur Korrektur gelesen und mit unerschütterlicher Gelassenheit und unendlicher Noblesse jede meiner promotionsbedingten Stimmungsschwankungen nicht nur ertragen, sondern immer wieder ins Gute gewendet hat. Ihr sei dieses Buch in großer Dankbarkeit gewidmet.

Inhaltsverzeichnis Einleitung: „Magnificare peccatum“? Welches Ziel verfolgt Paulus, wenn er im Römerbrief mit der Sünde argumentiert? . . 1 Teil I: Macht der Argumentation – Macht des Begriffs. Der Zusammenhang zwischen Ziel und Begriffsinventar einer Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Macht der Argumentation: Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als heuristisches ­Rahmenmodell zur Bestimmung des Skopus paulinischer Texte . . . 17 1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze in der Paulusforschung . . . 17 1.1. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus ­ inventorisch-kommunikativer Perspektive . . . . . . . . 18 1.2. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus dialektischer ­Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.3. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus struktureller ­Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.4. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus der Perspektive der Adressatenlenkung und persuasio . . . . . . . . . . . 25 1.5. Zwischenbilanz: Die Bestimmung des Argumentationsziels eines paulinischen Textes als methodische Herausforderung 28 2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie und ihre heuristische Relevanz für die Auslegung theologischer Texte des hellenistischen Judentums . 28 2.1. „…non tam ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta“ – Rhetorik als Skopustheorie? . 28 2.2. Zielorientierung auf inventorischer Ebene: Argumentation als strategisches Abrufen etablierter Begründungskonventionen 34 2.2.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen ­R hetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Spuren der inventio in hellenistisch-jüdischen Texten 37

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.2.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.3. Zielorientierung auf rationaler Ebene: Argumentation als ­Gedankenbewegung und Erkenntnisprozess . . . . . . . . 51 2.3.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen ­R hetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Die Rationalität theologischer Argumentationen in ­hellenistisch-jüdischen Texten auf dem Prüfstand . . 56 2.3.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.4. Zielorientierung auf struktureller Ebene: Argumentation als Anordnung interdependenter Begründungssegmente . . . 69 2.4.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen ­R hetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.4.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Argumentationsstrukturen in hellenistisch-jüdischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2.4.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.5. Zielorientierung auf attentionaler Ebene: Argumentation als Aufmerksamkeitslenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2.5.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen ­R hetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2.5.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Beispiele für Aufmerksamkeitslenkung in ­hellenistisch-­jüdischen Texten . . . . . . . . . . . 92 2.5.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2.6. Zwischenbilanz: Die Argumentationstheorie als ­multiperspektivische Skopustheorie . . . . . . . . . . . . 97 3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . 98

II. Macht des Begriffs: Die Funktion des Begriffs hinsichtlich des Argumentationsziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Theoretische Überlegungen bei Quintilian: Das Ziel der argumentatio als Richtpunkt ihres semantischen Inventars . . . . 107 2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2.1. Beispiel 1: „iudices“ in Cic. inv. I,70 . . . . . . . . . . . 113 2.2. Beispiel 2: „lex“ in Cic. inv. I,68f . . . . . . . . . . . . . 120 3. Die Frage nach dem Ziel der Verwendung eines Begriffs als Frage nach seiner Funktion hinsichtlich des Argumentationsziels . . . 123

Inhaltsverzeichnis

IX

III. Die Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Argumentationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . . . . . . . 128

Teil II: Macht der Argumentation – Macht der Sünde. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs im Römerbrief vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie . . . . . . 131 IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17 für die Argumentation von Röm  1,18–8,4 . . . . . . . . . . 133 1. Der Heidenapostel und seine heidenchristlichen Adressaten als Argumentationspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Röm  1,16f als These hinsichtlich des „römischen Problems“ und Hinweis auf die argumentative Strategie des Römerbriefes 136 3. Röm  1,1–17 als attentionales Zentrum von Röm  1–8 und die ­argumentative Architektur von Röm  1–8 . . . . . . . . . . . 141

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8 als Ausdruck einer argumentativen Programmatik . . . . . . . 145 1.1. Argumentationsanalyse: Röm  2,1–8 als Skopus der in Röm  1,18 beginnenden Argumentation . . . . . . . . . . 146 1.2. Das programmatische Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde als Argument gegen die Parteilichkeit (προσωπολημψία) Gottes 162 2.1. Argumentationsanalyse: Röm  2,25–29 als Skopus der in Röm  2,9 beginnenden Argumentation . . . . . . . . . . 163 2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . . . . 172 2.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29 . . . . . . 177 3.1. Röm  3,1–8 als polemischer Übergang: Der ἁμαρτωλός als ­A rgument gegen eine libertinistische Fehldeutung der Treue Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3.1.1. Argumentationsanalyse: Schwierigkeiten bei der ­Bestimmung des Skopus . . . . . . . . . . . . . . 178 3.1.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . 185

X

Inhaltsverzeichnis

3.2. Röm  3,9–31: Die universale Macht der Sünde als Argument gegen die Gerechtigkeit aus dem Gesetz . . . . . . . . . . 187 3.2.1. Argumentationsanalyse: Röm  3,27–31 als Skopus der in Röm  3,9 beginnenden Argumentation . . . . . . 187 3.2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . 197 3.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade jenseits des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . 205 4.1. Argumentationsanalyse: Röm  4,23–5,11 als Skopus der in Röm  4,1 beginnenden Argumentation . . . . . . . . . . 206 4.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . . . . 217 4.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“? – ein Argumentationskomplex zur Klärung der Bedeutung des Gesetzes für die heidenchristlichen Adressaten . . . . . . . . . 222 5.1. Röm  5,12–21: Erstes Argument gegen das Gesetz – die Vorzeitigkeit von Sünde und Gnade . . . . . . . . . . 224 5.1.1. Argumentationsanalyse: Röm  5,18–21 als Skopus der in Röm  5,12 beginnenden Argumentation? . . . . . 224 5.1.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . 231 5.1.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 5.2. Röm  6,1–14: Zweites Argument gegen das Gesetz – die unmittelbare Partizipation der Gläubigen an der ­Heilszuwendung durch die Taufe . . . . . . . . . . . . . 239 5.2.1. Argumentationsanalyse: Röm  6,11–14 als Skopus der in Röm  6,1 beginnenden Argumentation . . . . . . 239 5.2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . 245 5.2.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5.3. Röm  6,15–7,6: Drittes Argument gegen das Gesetz – die Befreiung aus dem Herrschaftsbereich der Sünde als Eintritt in den Dienst für Gott . . . . . . . . . . . . . . 254 5.3.1. Argumentationsanalyse: Röm  7,4–6 als Skopus der in Röm  6,15 beginnenden Argumentation . . . . . . 255 5.3.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . 269 5.3.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5.4. Röm  7,7–8,4: Viertes Argument gegen das Gesetz – die Überwindung des Gesetzes der Sünde durch die Überwindung der somatischen Existenz des Menschen . . 278 5.4.1. Argumentationsanalyse: Röm  8,1–4 als Skopus der in Röm  7,7 beginnenden Argumentation . . . . . . . 279 5.4.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs . . 289 5.4.3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Inhaltsverzeichnis

XI

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23 . 307 6.1. Röm  8,10: Der Sündenbegriff an der Schnittstelle von Argumentation (Röm  1,18–8,4) und Affirmation (Röm  8,5–39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 6.2. Röm  11,27: Israel als Teil der sündigen Menschheit . . . . 312 6.3. Röm  14,23: Die Sünde als Erkenntnismöglichkeit der gefallenen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Bilanz: Ein Portrait der Sündenargumentation des Römerbriefs . 329 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Weitere Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1.1. Antike jüdische und christliche Quellen . . . . . . . . . . 343 1.2. Quellen zur antiken Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . 344 1.3. Kirchengeschichtliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . 344 2. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 3. Kommentare, Monographien, Aufsätze, Artikel . . . . . . . . 345

Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Begriffe, Personen, Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

Einleitung: „Magnificare peccatum“? Welches Ziel verfolgt Paulus, wenn er im Römerbrief mit der Sünde argumentiert? Als zentrales Problem der Erschließung der paulinischen Hamartiologie erweist sich die Frage, mit welchem Ziel Paulus im Römerbrief mit der Sünde argumen­ tiert. Dass Paulus den Adressaten des Römerbriefs die Sünde einmal als alles beherrschende Macht (Röm  3,9–20; Röm  5,12–21; Röm  7,7–25), einmal als längst überwundenes Übel (Röm  3,21–26; Röm  6,1–14; Röm  7,1–6; Röm  8,1–4) vor Augen führt, hat in der Forschungsgeschichte zu kontroversen Diskus­sionen und konträren Auslegungsansätzen geführt. Ein elenktischer und ein retro­spektiver Grundtyp stehen sich dabei gegenüber, wobei der erstere die bleibende Dialek­ tik von Nachweis und Vergebung der Sünde für die Gemeinde, der andere die Gemeinde als „sündenfreien Raum“ im kontradiktorischen Gegensatz zum Herrschaftsbereich der Sünde hervorhebt. Die elenktische Interpretation der Sündenargumentation im Römerbrief ist besonders deutlich in der Reformation zur Geltung gebracht worden. Luther, dem der Römerbrief als „das rechte Heubtstück des newen Testaments, und das allerlauterste Euangelium“1 gilt, resümiert, es sei „Summarium“ des Römer­ briefes, „destruere et euellere et disperdere omnem sapientiam et Iustitiam car­ nis […] Et plantare ac constituere et magnificare peccatum.“2 Ziel des Römer­ briefes sei nichts anderes als die Sünde selber groß zu machen. Luther bestimmt den Sündenbegriff als zentralen Bestandteil einer umfangreichen theologischen Argumentation, deren Fluchtpunkt in der Überführung des Menschen als ­Sünder liegt. Besonders prägnant zeigt sich diese außerordentlich hamartiologi­ sche Lesart Luthers in seiner Vorrede zum Römerbrief von 1546. Hier bietet er eine Zusammenschau des Begriffsinventars des Textes und der Relationen zwi­ schen den einzelnen theologischen Topoi. Die Komplexität des Schreibens ­m ache es eben erforderlich, „der sprache kündig [zu] werden, und [zu] wissen was S. Paulus meinet, durch diese wort, Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerech­ tigkeit, Fleisch, Geist, und der gleichen, sonst ist kein lesen nütz daran.“3 Luther geht bei diesen Begriffsbestimmungen weit über den Römerbrief hinaus und 1 

WADB 7; 3,1 f. WA 56; 157,1–6. 3  WADB 7; 3,17–19. 2 

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erhebt für jeden Topos einen gesamtbiblischen Befund. Für die Sünde fällt die­ ser folgendermaßen aus: „SUnde heisset in der Schrift, nicht allein das eusserliche werck am Leibe, Sondern alle das Gescheffte das sich mit reget und weget zu dem eusserlichen werck, nemlich, des hertzen grund mit allen krefften.“4

Neben dieser systematisierenden Darstellung geht Luther in der Vorrede aber auch auf den argumentativen Sitz der Sünde im Römerbrief ein. In einem close reading weist er den einzelnen Begründungsabschnitten argumentative Funk­ tionen hinsichtlich des Gesamtaufrisses zu, wobei durchaus rhetorische Katego­ rien anklingen.5 Wenn Luther Röm  4 bespricht, scheint er eine confutatio vor Augen zu haben: „AM iiij. Als nu durch die ersten drey Capit. die sünde offen­ baret, und der weg des glaubens zur gerechtigkeit geleret ist, Fehet er an zu begegnen etlichen Einreden und Anspruchen […].“6 Röm  5,12–21 stellt für Luther einen Exkurs dar: „DArnach thut er einen lustigen Ausbruch und Spa­ ciergang, und erzelet, wo beide Sünde unnd Gerechtigkeit, Tod und Leben herkomen […].“7 Röm  7,7–25 tendiert zur conclusio: „DArumb schleusst S. Pau­ lus hie, das, wo das Gesetz recht erkennet und auffs beste gefasset wird, da thut es nicht mehr, denn es erinnert uns unser sünde, und tödtet uns durch diesel­ bige, und machet uns schüldig des ewigen zorns.“8 Aufs Ganze gesehen sind die einzelnen Abschnitte an der Dialektik von Gesetz und Evangelium orientiert, am Aufweis und der Vergebung der Sünde.9 Indem Paulus seine Botschaft unter dem Vorzeichen dieser Unterscheidung verkündige, versehe er im Römerbrief prototypisch das „Ampt eines Euangelischen Predigers“.10 Kurzum: Im Schlag­ wort „magnificare peccatum“ verdichtet sich in der Tat Luthers exegetische Zentralthese, was den Römerbrief angeht: Der ganze Text läuft darauf hinaus, die Sünde „groß zu machen“, um den Menschen seines Unglaubens zu über­ führen, ihn in Verzweiflung zu stürzen und für die Gnade zu disponieren. Wozu Paulus im Römerbrief von der Sünde spricht, beschäftigt auch Me­ lanchthon. In der Theologica Institutio Philippi Melanchthonis in Epistolam Pauli ad Romanos von 1520, einer wichtigen Vorarbeit zu den Loci Communes von 1521, geht Melanchthon auch auf die Funktion der Sünde im Römerbrief ein.11 Die Sünden- und insbesondere die Erbsündenlehre gebe eine Antwort auf die Frage danach, warum der Mensch die Gerechtigkeit Gottes nicht aus eigenen Kräften 4 

WADB 7; 7,27–29. Vgl. zu Luthers Rhetorik Junghans, Rhetorik, insb. 13–17. 6  WADB 7; 15,34–36. 7  WADB 7; 19,3–5. 8  WADB 7; 21,31–34. 9  Vgl. WADB 7; 13,27–31. 10  WADB 7; 13,27 f. 11  Vgl. zum Verhältnis der rhetorischen Paulus-Exegese Melanchthons und der Entste­ hung seiner Loci Schäfer, Der paulinische Ursprung, insb. 26–34. 5 

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erlangen könne. Das Reden von der Sünde bezieht Melanchthon also ganz ­funktional auf die Rechtfertigungslehre: „Dicis: Cur non adsequimur iustitiam nostris viribus? Propter peccatum originale.“12 Die bei allen Reformatoren radi­ kalisierte Hamartiologie gewinnt bei Melanchthon an beeindruckender Schär­fe: In den Loci Communes von 1521 ist von der Sünde als „[V]ivax quaedam energia“13 die Rede, der Institutio zufolge werfe die Sünde den Menschen völlig auf sich zurück, kontaminiere sein Gefühlsleben, seinen freien Willen und sein Bewusstsein.14 Sünde präsentiert sich bei Melanchthon als ausgesprochen an­ thropologisches Problem. Mit ihr zu argumentieren, dient – folgt man Me­ lanchthons Römerbriefauslegung und den Loci – in erster Linie dazu, die Mög­ lichkeit zu bestreiten, der Mensch könne seine Gerechtigkeit vor Gott aus sich selbst heraus erlangen. Diese elenktische Interpretation der Sündenargumentation im Römerbrief hat die Forschungsgeschichte nachhaltig geprägt und ist auf die ganze paulini­ sche Theologie ausgeweitet worden.15 Als wichtigster Vertreter dieser Lesart im 20. Jahrhundert kann Rudolf Bultmann gelten, der in seiner Darstellung der Theologie des Paulus die Sünde pointiert der menschlichen Existenz „vor der Offenbarung der πίστις“ zugeordnet hat,16 die durch den Glauben überwunden wird. Ihr ist ein retrospektiver Interpretationsansatz gegenübergestellt worden, der in dem Schlagwort von der paulinischen Gemeinde als „sündenfreiem Raum“ kulminiert. So vertritt schon Paul Wernle (1897), ausgehend von 1Thess, die These, dass Paulus angesichts seiner Parusiererwartung keine noch zu über­ windende Grenze zwischen Gläubigen und Heiligen kenne und der Christ tat­ sächlich nicht mehr sündigen könne.17 Hans Windisch (1908), der das paulinische Sündenverständnis im Kontext des Judentums und Hellenismus aufarbeitet, kommt zu einem ähnlichen Schluss, nämlich dass der Christ zwar noch sündi­ gen könne, sich aber darin von den Heiden unterscheide, „daß sein bewußtes Denken und Handeln von der Begierde unbeeinflusst bleibt, sündlos ist.“18 An diese Arbeiten knüpft fast ein Jahrhundert später Helmut Umbach (1999) an und bestimmt die Gemeinde dezidiert als „sündenfreien Raum“. Seine Untersu­ chung ist dreigeteilt: In einem ersten Teil widmet sich Umbach dem termino­ logischen Unterschied von „Fehlverhalten“ und „Sünde“ in der paulinischen

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CR 21; 51. Melanchthon, Loci Communes, 56 f. 14  Vgl. CR 21; 52. 15  Vgl. zur Forschungsgeschichte und zur Gewichtung der Anthropologie in der Paulus­ forschung des 20. Jahrhunderts Wischmeyer, Themen, 315–321; Hahn, Theologie, 180– 188; Schnelle, Probleme, 273–279; Bendemann, Bultmann, 24–27. 16 Vgl. Bultmann, Theologie, 191–270. Ausführliche Forschungsgeschichte bei Umbach, Christus, 25–64 und – an Umbach anschließend – Lyu, Sünde, 3–23. 17  Wernle, Sünde, 30–32. 18  Windisch, Sünde, 137. 13 

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Theologie,19 in einem zweiten Teil befasst er sich mit der paulinischen Ekklesio­ logie,20 in einem dritten mit der Anthropologie des Paulus, wobei Röm  7 und 8 im Vordergrund der Analyse stehen.21 Umbach möchte den Sündenbegriff deut­ lich vom postkonversionalen Fehlverhalten innerhalb der Gemeinde abheben: Die Sünde sei von Gott her überwunden, die fortwährende Möglichkeit des Christen sich zu verfehlen dürfe schlechterdings nicht mit dem Sündenbegriff in Verbindung gebracht werden.22 Die Sünde wird als Macht verstanden, die den Menschen ganz in Besitz nimmt und durch die Taufe ganz überwunden wird.23 Kontradiktorisch stehen sich zwei Sphären gegenüber: „Im Leben κατά πνεῦμα ist er [der Mensch, PB] Erbe der βασιλεία θεοῦ, die sich scharf vom Leben unter den ‚Mächten der Welt‘ unterscheidet, denen die Hamartia als gott­ feindliche, ja dämonische Macht zugeordnet wird. ‚In Christus‘ ist er seit der Taufe in einen ‚räumlich‘ verstandenen Machtbereich ‚eingegliedert‘, in dem er grundsätzlich den Einflüssen jener Mächte entzogen ist; auch wenn sie ihm in Form von ‚Versuchun­ gen‘ begegnen, kann er sich erfolgreich gegen sie schützen. So beschreibt Paulus indikativisch die Gegenwart des Heils.“24

Wie steht es nun aber mit den Paränesen in den paulinischen Briefen? Wozu ermahnt Paulus seine Gemeinden fortwährend? Umbach betont: Zwar seien die Gläubigen weiterhin den Versuchungen ausgesetzt, aber: „Von ‚Sünde‘ im Sinn des absolut gebrauchten Machtbegriffs ‚Hamartia‘ findet sich in allen relevanten Texten nichts.“25 Nach Umbach ‚reserviert‘ Paulus also gewissermaßen den Sündenbegriff für die Menschheit außerhalb der Kirche, die Kirche selber kann jedoch nicht von Sünde behaftet sein. Gerade in der New Perspective on Paul und ihr nahestehenden soziologischen Untersuchungen wird eine funktionale Lesart der Sündenargumentation im ­Römerbrief forciert, die sich mit der „Sündlosigkeitstheorie“ berührt. Die New Perspective konzentriert sich dabei jedoch vor allem auf Paulus’ Missionsstrategie: Der Apostel versuche das Problem der Geltung von Gesetz und Beschneidung für die heidenchristlichen Adressaten des Römerbriefs durch eine konsequente hamartiologische (und damit soteriologische) Gleichstellung von Juden- und Heidenchristen zu lösen. Prägnant sind die Überlegungen von Ed Parish San­ 19 Vgl.

Umbach, Christus, 65–214. Vgl. aaO. 215–264. 21  Vgl. aaO. 265–310. 22  Vgl. aaO. 249–252.314 f. 23  Vgl. aaO. 314. 24  AaO. 314 f. 25  AaO. 315. Auch Schnelle knüpft – vor allem unter pneumatologischen Gesichtspunk­ ten – an die These von der Gemeinde als „sündenfreiem Raum“ an: Röm  5 –8 bilde einen zusammenhängenden Argumentationsgang mit dem tauftheologischen Kapitel Röm  6 im Zentrum, der einen Prozess der Transformation der Christen forciert, an dessen Ende die Christen tatsächlich dem Geist und Christus unterstehen und der Sünde entzogen sind (vgl. Schnelle, Transformation, 66f ). 20 

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ders (1995): Angesichts des Damaskus-Erlebnisses und der Erfahrung, dass Christus und nicht das Gesetz Gerechtigkeit bewirke, komme Paulus im Rö­ merbrief nicht umhin zu behaupten, dass alle Menschen unter der Sünde stehen: „Alle, Juden wie Heidenchristen […] bedürfen der neu offenbarten Rettung. Deshalb charakterisierte er [Paulus, PB] sie als schändliche Sünder (Röm.  1–2). Diese Charakte­ risierung beruhte nicht auf empirischer Beobachtung, und auch induktiv gelangte er nicht zu der Schlußfolgerung, daß alle unter der Sünde sind. So erschüttert die Tatsache, daß sie überspitzt ist, seine Schlußfolgerung im Grunde nicht, da sie ein Reflex seiner dogmatischen Ausgangsthese ist: Die Schlußfolgerung, daß alle unter der Sünde sind, ist so fundiert wie das Dogma, daß alle der Rettung durch den Glauben an Christus bedür­ fen.“26

Sanders behauptet, dass der Sündenbegriff funktional auf das Argumentations­ ziel des Römerbriefes bezogen sei, nämlich das Gesetz als Heilsweg neben Christus auszuschließen und das νόμος-Problem für die heidenchristlichen Adressaten zu lösen.27 Darüber hinaus kritisiert Sanders aber auch die Qualität der Beweis­ führung: Gerade die Argumentation von der Sünde weise erhebliche Schwä­ chen auf. Weder Röm  1,18–32 noch Röm  5,12–21 können als Begründungen der Behauptung gelten, „daß die ganze Menschheit – bis auf Christus – unter der Macht der Sünde steht.“28 Für Sanders ist die Sündenargumentation im Rö­ merbrief unlogisch – sie solle eher überreden als überzeugen, was vor allem an ihren Kulminationspunkten (Röm  3,9 und 5,12) deutlich werde: „In beiden Fällen liegt eine Schlußfolgerung vor, die von den Argumenten, die ihr vorausgehen, unabhängig ist. Adams Sünden, so wie Paulus selbst sie formuliert, bewei­ sen nicht, daß die ganze Menschheit sündhaft ist und verdammt bleibt. Aus den ab­ scheulichen Sünden einiger Griechen und Juden folgt – auch in Paulus’ eigener Darstel­ lung – nicht, daß alle Menschen der Sünde verfallen sind. Das heißt, er hielt an der Konklusion als einer fixen Anschauung fest und suchte, wiewohl ohne logischen Erfolg, Argumente für sie vorzubringen. Anders gesagt, die Konklusion ist nicht nur unabhän­ gig von den Argumenten, sondern ihm auch an sich wichtiger als diese.“29

Unter anderen methodischen Prämissen, aber mit deutlichen Berührungspunkten zur New Perspective, widmen sich auch Timothy L. Carter (2001) und Philip F. Esler (2003) der Sündenargumentation im Römerbrief, vor allem hinsichtlich 26 

Sanders, Paulus, 130. geht (aaO. 52) in seiner Paulus-Darstellung darüber hinaus auch auf theologi­ sche und konzeptionelle Probleme bei der Verwendung des Sündenbegriffs ein: „In diesem Abschnitt des Briefes an die Römer [gemeint ist Röm  5 –7, PB] behandelt Paulus die Sünde als Macht, die Gott nicht nur entgegengesetzt, sondern auch fast ebenso mächtig ist wie er; in der Tat bleibt sie oft Siegerin. Bemerkenswert ist, daß Paulus keine anthropologische, theologische oder kosmologische Erklärung dieses Sündenbegriffs gibt. Nach jüdischer An­ schauung hat Gott die Welt geschaffen und sie für gut befunden, was nicht ohne weiteres mit der Lehre vereinbar ist, daß die Sünde eine Macht ist, stark genug, das Gesetz Gottes Kon­ trolle zu entreißen oder die Menschen der Kraft zu berauben, das Gute zu tun.“ 28  AaO. 52. 29  AaO. 54. 27  Sanders

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ihrer Wirkung auf die sozial und religiös heterogenen, römischen Gemeinden. Die Personifikation der Sünde fungiert bei Carter als ein strategisches Mittel, um die diversive Gruppenidentität der römischen Gemeinden zu dislozieren und eine neue Gruppenidentität zu schaffen: „[…] in Romans 5–8 Paul deve­ lopes a fresh understanding of the human plight and its solution in order to legi­t imate the position of law-free Gentile believers.“30 Auch für Philip F. Esler erweist sich die Überwindung disparater Gruppenidentitäten in Rom als we­ sentliches Ziel der Sündenargumentation: Paulus begründe im Römerbrief eine „leadership role“31 und versuche, die Spannungen zwischen den römischen ­Juden- und Heidenchristen zu überwinden: „He wants them to follow as he leads.“32 Insbesondere die Argumentation in Röm  1,18–3,20 solle eine gemein­ same Gruppenidentität ex negativo erweisen, Paulus „aims to show that, prior to their recategorization as believers in Christ, the Judeans and Greeks are equal in respect to a negative status, their subjection to sin, although from entirely different routes – the Greeks apart from the law and the Judeans under the law. […] One of the purposes served in this section of the letter is the elimination of any possibility that either of the two ethnic groups could accuse the other of being, prior to acquisition of the new identity, ‚holier than you.‘“33

Das strategische und performative Moment der Sündenargumentation, das bei Carter und Esler anklingt, findet eine besondere Zuspitzung bei Johan S. Vos (2002): Die Elastizität und Flexibilität bei der Handhabung von theologischen Begriffen fasst er als Hinweis auf eine argumentative Strategie, die vor allem im Kontext sophistischer Rhetorik zu verorten ist. So ergeben sich Vos zufolge im Verlauf des Römerbriefes gravierende Spannungen in der Zuordnung von Ge­ setz, Sünde und Tod. Vor allem die Aussage von Röm  5,12f – dass die Sünde ohne Gesetz nicht angerechnet werde – sei angesichts der Aussagen zur allge­ meinen Sündhaftigkeit von Heiden und Juden in Röm  1,18–3,20 und zur Leb­ losigkeit der Sünde vor dem Erscheinen des Gesetzes in Röm  7,7–12 nicht nur „strittig, sondern faktisch auch bedeutungslos“34. Die theologischen Spannun­ gen lassen sich Vos zufolge nicht auflösen, sondern entsprechen vielmehr unter­ schiedlichen Zielrichtungen der jeweiligen Argumentationsabschnitte. Und so müsse die Unterscheidung, die Röm  5,12f treffe, auf die „persuasive Funktion […] in ihrem Kontext“35 hin untersucht werden: „Um zu beweisen, daß Heil nur in Christus möglich ist, muß Paulus die möglichen Rivalen, zu denen auch das Gesetz des Moses gehört, als eine negative Macht darstellen. In die traditionelle Vorstellung von Adams Sünde und deren Folgen paßt das Bild vom 30 

Carter, Power, 208. Esler, Conflict, 359. 32 Ebd. 33  AaO. 361. 34  Vos, Argumentation, 82. 35  AaO. 83. 31 

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Gesetz als einer elementaren Unheilsmacht nicht recht. Um dem Gesetz trotzdem in diesem Zusammenhang eine negative Funktion zu geben, denkt Paulus sich die Unter­ scheidung zwischen angerechneter und nicht angerechneter Sünde aus. […] Genau wie in dem ersten Beispiel [das Verhältnis der Heiden und Juden zum Gesetz in Röm  2 ,12– 16, PB] ist Wahrheit das, was Paulus jeweils innerhalb seiner argumentativen Strategie braucht.“36

Die Sündlosigkeitsthese bzw. die These von der Gemeinde als sündenfreiem Raum wie auch die missionsstrategische Interpretation der Sündenargumenta­ tion in der New Perspective haben Modifizierungen und Widerspruch erfahren. Schon Günther Röhser (1987) schlägt vor, das Verhältnis von Indikativ und Imperativ, von Sündenvergebung und Sündenbewahrung mit Metaphern der Be­ wegung und des Wachstums zu erfassen: „Gottes rechtfertigendes und veränderndes Handeln befähigt nicht nur, sondern drängt den Menschen zu Taten der Gerechtigkeit; diese wachsen gleichsam von selbst aus seiner neuen Grundverfassung (Glaubensgerechtigkeit) hervor (deswegen auch in anderem Zusammenhang die Metapher von der ‚Frucht des Geistes‘) – so er sich dieser Bewegung (nach Röm  8,14: dem Geist Gottes) anvertraut und nicht widersetzt. ‚Widerstand‘ ist prinzipiell möglich und kann im Extremfall – Götzendienst, Unzucht, Glaubensabfall, Zerstörung der Gemeinde – zum Heilsverlust führen – was noch einmal zeigt, dass wir es auch bei den Christen – in welch abgeschwächter Form und mit welcher Bezeichnung auch immer – mit ‚Sünde(n)‘ zu tun haben.“37

Matthias Klinghardt (1997) kritisiert einerseits die Sündlosigkeitstheorie dafür, dass sie „den Ernst und den Realitätssinn, mit dem Paulus mit Verfehlungen von Christen gerechnet hat“38 verkenne, andererseits die lutherische Lesart der paulinischen Hamartiologie unter dem Schlagwort des simul iustus et peccator dafür, dass sie die feine Unterscheidung von Sünde und Verfehlung, die Paulus sehr deutlich vornehme, nicht wahrnehmen wolle.39 Klinghardt selbst möchte die Unterscheidung von „Verfehlungen“ und „Sünde“, die das zentrale Argu­ ment der Sündlosigkeitstheorie darstellt, vor dem Hintergrund einer im Alten Testament grundgelegten Züchtigungspädadogik40 verstehen: Dabei zieht er, obwohl die Sündlosigkeitsdebatte sich vor allem an Röm  6 –8 entzündet, vor allem die anderen Paulusbriefe (insbesondere 1Thess und 1Kor) heran und be­ stimmt den Zorn Gottes als Züchtigungsinstrument zur Korrektur faktischer Verfehlungen in der Gemeinde. Vor dem Hintergrund des Alten Testaments erweise sich schließlich im Römerbrief die Züchtigung (Röm  2) und Rettung (Röm  9) Israels als deutlicher Ausdruck der Bundestreue Gottes,41 so dass die Un­ 36 Ebd. 37 

Röhser, Herrschaft, 108. Klinghardt, Gericht, 78. 39  Vgl. aaO. 79 f. 40  Vgl. aaO. 64–72. 41  Vgl. aaO. 73: „Die Vorstellung eines ‚Züchtigungsgerichtes‘ stellt die entscheidende traditionsgeschichtliche Voraussetzung dar, die es erlaubt, Gottes Zorngericht über Israel in 38 

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terscheidung von Sünde und Verfehlung ekklesiologisch und eschatologisch qualifiziert sei: „Stellt man […] das Konzept der Züchtigung mit seinen erwählungstheologischen Im­ plikationen und den dazugehörigen Differenzierungen (Sünde – Verfehlungen, Verur­ teilung – Züchtigung, Heiden – Erwählte) in Rechnung, dann lassen sich Rechtferti­ gungs- und Gerichtsaussagen einander widerspruchsfrei zuordnen.“42

Die funktionale, missionsstrategische Lesart der Sündenargumentation, wie sie in der New Perspective und den ihr nahestehenden Auslegungsansätzen vertreten wurde, ist in jüngeren Forschungsbeiträgen vor allem auch dahingehend prob­ lematisiert worden, dass sie die Zentralstellung der Sündenvergebung und Rechtfertigung in der paulinischen Theologie insgesamt und im Römerbrief im Besonderen marginalisiere. So macht Simon J. Gathercole (2004) darauf aufmerksam, dass in Röm  3,20–4,25 der Tod Jesu tatsächlich Sühne für die früher geschehenen Sünden leiste und einen „act of divine condemnation of sin“43 darstelle – die Verurteilung des Sünders, wie er in Röm  1,18–32 charak­ terisiert worden sei, werde so durch Gott revidiert. Dass diese Rechtfertigungs­ theologie nicht nur auf das Observanzproblem in den heidenchristlichen Ge­ meinden Roms zugespitzt sei, wie die New Perspective immer wieder behauptet habe,44 sondern grundlegende, individualgeschichtliche Relevanz habe, zeige sich an der grundsätzlichen Gegenüberstellung des Glaubens an den auferweck­ ten Christus (vgl. Röm  4,24f ) und der Werke des Gesetzes (Röm  3,27–31; 4,1–8), die eben nicht nur als „boundary and identity markers“45 verstanden werden könnten. Die Darstellung der Gerechtigkeit aus Glauben insbesondere in der Abrahamperikope könne sich nicht nur gegen „Judaizers“ richten, sondern habe ganz und gar „the justification of the ungodly“46 im Blick. Auch Douglas J. Moo (2004) wendet sich gegen das Grundanliegen der New Perspective, Röm  5 –8 heilsgeschichtlich und missionstheologisch-funktional zu lesen. Vielmehr müs­ se der individuelle Charakter der Sündenvergebung und Rechtfertigung, wie er in den entsprechenden Kapiteln des Römerbriefs dargestellt werde, wieder stär­ ker in den Fokus rücken: „The argument of Romans 5–8 then, suggests, that the more individual, vertical-oriented, reading of Romans typical of the Refor­ mation paradigm is to some extent justified.“47 Röm  2 und 9 bruchlos mit der Erwartung seiner eschatologischen Rettung zu verbinden. Und es ist evident, daß die für die Züchtigungsvorstellung unverzichtbare Kategorie der Bundestreue Gottes gegenüber Israel und das Festhalten an seinen Verheißungen auch hier unabdingbare Voraussetzung ist.“ 42  Vgl. aaO. 80. 43  Gathercole, Justified, 179. 44  Vgl. aaO. 183. 45  Vgl. aaO. 154 f. 46  AaO. 160. 47  Moo, Law, 195.

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Mit anderen Prämissen fragt Stephan Hagenow (2011) danach, inwiefern von einer postkonversionalen Sünde bei Paulus die Rede sein kann. Er geht davon aus, dass Paulus eine kultische Heiligkeit der Gemeinde voraussetze, was sich an der Verwendung bestimmter kultischer Termini wie „rein“, „unrein“ oder „heilig“ zeige.48 Insbesondere in Röm  3–8 verfolge Paulus die Strategie, die Adressaten als „tot“ für die Sünde zu charakterisieren, gleichzeitig aber weiter­ hin die Sünde als reale Bedrohung dieser Heiligkeit vorauszusetzen.49 Die Tau­ fe könne nicht „automatisch eine Immunisierung gegen Sünde“50 herbeiführen. Der Christ könne weiterhin sündigen, doch die Taufe ermächtige ihn dazu, durch sein Verhalten Anteil an der heiligen Gemeinde zu erlangen, was die Sünde früher noch verhindert habe: „Paulus bleibt als Theologe Pragmatiker und Gemeindemissionar. Die neu erwählte und heilige Gemeinschaft ist kein sündenfreier Raum, wo die Verfehlungen von Ein­ zelnen skandalös sind. Vielmehr ist es genau umgekehrt: Die Einzelnen erweisen durch ihr Verhalten und ihre Lebenshaltung, dass sie Anteil haben an dieser Heiligkeit. Und das ist das entscheidend Neue und das christliche Proprium im Umgang mit der Sünde: Erst durch Christus kann die ἁμαρτία den Zugang zur erwählten Gemeinschaft nicht mehr verhindern und der Einzelne ist in der Lage sich aus der Sklaverei zu befreien und sein Leben im Pneuma zu führen.“51

Hinsichtlich des Römerbriefs sei eine diachrone und synchrone Perspektive auf die Sünde zu unterscheiden. In diachroner Perspektive sei der Christ tatsächlich absolut frei von der Sünde,52 in synchroner Perspektiver sei er jedoch nach wie vor anfällig für sie.53 Umfassend bestritten wird die These von der Gemeinde als „sündenfreiem Raum“ auch von Eun-Geol Lyu (2011). Lyu kritisiert Wernle dafür, dass dieser die Beobachtung überbetone, Paulus wende den Sündenbegriff nicht explizit auf seine Gemeinden an.54 Windisch wiederum könne das Problem der Span­ nung zwischen Indikativ und Imperativ nicht befriedigend lösen, da er Be­ kehrung und Buße nicht deutlich genug voneinander unterscheide.55 Umbach schließlich übersehe „Paulus’ Besorgnis gegenüber dem sündhaften Verhalten der Christen durchgehend“56. Die für Umbach zentrale Unterscheidung von ‚Sünde‘ als präkonversionales und ‚Verfehlung‘ als postkonversionales Phäno­ men kritisiert Lyu als „äußerst künstlich“57 und vertritt demgegenüber die 48 Vgl.

Hagenow, Heilige, 69–64. Vgl. aaO. 158–161. 50  Vgl. aaO. 159. 51  Vgl. ebd. 52  Vgl. aaO. 204 53  Vgl. aaO. 205. 54  Lyu, Sünde, 4 f. 55  AaO. 5 f. 56  AaO. 16. 57 Ebd. 49 

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­ hese, dass im Römerbrief ein Protokerygma des Paulus zu Tage trete, welches T den anderen, von ihm selbst gegründeten Gemeinden bereits bekannt war und deswegen in den an sie adressierten Briefen nicht expliziert werden musste.58 Dass sich der Sündenbegriff im Römerbrief konzentriere, stehe mit diesem Pro­ tokerygma im Zusammenhang: „Paulus legt der römischen Gemeinde sein Evangelium gründlich vor, wohl um als Heidenapostel anerkannt und von ihr unterstützt zu werden (vgl. Röm  1,15; 15,24). Der Römerbrief gibt uns daher Aufschluss über die Annäherung des Paulus an fremde Hei­ den bzw. den Ausgangspunkt seines Evangeliums.“59

Lyu bekräftigt die lutherische und Bultmannsche Zentralstellung der Anthro­ pologie, indem er erklärt: „Paulus geht von ‚den Menschen vor der Offenba­ rung der pistis‘ aus.“60 Die postkonversionale Sünde und das Problem des Geset­ zes behandle Paulus dementsprechend weniger auf der ethischen, vielmehr auf der soteriologischen Ebene: „Paulus erörtert das Gesetz vor allem, um seine soteriologische Voraussetzung in Schutz zu nehmen: ‚Alle sind Sünder‘.“61 Eine andere Erklärung für die vermeintlichen Spannungen und Inkonsisten­ zen der Sündenargumentation im Römerbrief – und mit deutlicher Akzentuie­ rung der individualgeschichtlichen Bedeutung der Sündenvergebung – unter­ breiten Gerd Theißen und Petra von Gemünden (2016).62 Sie gewichten das Verhältnis von Sünde, Gesetz und Gnade vor allem vor dem Hintergrund von Röm  6–8, komme doch hier prägnant die paulinische „Verwandlungslehre“ zum Ausdruck, vor deren Hintergrund sich erst das Problemverhältnis von Ge­ setz und Sünde profilieren lasse: „Erst im Rahmen dieser transformatorischen Sicht des Menschen kann das Gesetz in den Händen des alten Menschen zu einem negativen Instrument werden. Paulus ringt darum, eine Dimension der Sünde aufzudecken, die bisher nicht sichtbar und erkennbar gewesen ist. Diesen Missbrauch erkennt Paulus, weil sich für ihn eine neue Welt geöff­ net hat. Durch den Geist ist er Bürger zweier Welten geworden. Weil er schon der neuen Welt angehört, erscheint die alte Welt um so negativer.“63

Paulus’ theologisches Ziel – „[e]in neuer Mensch sollte den alten Menschen ablösen“64 – konfligiere nun aber mit der faktischen „Unvollkommenheit der ‚Erlösten‘“65. Dies führe zwangsläufig zu Anfechtung bzw. „kognitiven Disso­ 58 

AaO. 353.

59 Ebd. 60 

AaO. 355. AaO. 356. 62  Freilich spielt die Sünde in allen von Theißen und Gemünden skizzierten Zugängen zum Römerbrief – dem bildsemantischen, i. e. S. theologischen, sozialgeschichtlichen und psychologischen – eine Rolle. 63  Theissen/Gemünden, Römerbrief, 266. 64  AaO. 455. 65 Ebd. 61 

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nanzen“66. Diese könnten den „utopischen Universalismus“ des Paulus auf der einen Seite begründen: „Weil alle Sünder sind, sind alle vor Gott gleich.“67 Auf der anderen Seite befördere der utopische Universalismus die kognitiven Disso­ nanzen „rückwirkend“68. Paulus spreche in den Passagen, in denen die Univer­ salität der Sünde forciert werde – insbesondere in Röm  1,18–32 und Röm  7,7– 25a – die frühere Existenz seiner Adressaten an, die freilich inzwischen bekehrt und von der Sünde befreit sind:69 „Bekehrte sprechen über das, was sie vermeintlich überwunden haben, aber was noch immer in ihnen wirksam ist, so, als gehöre es nur ihrer Vorzeit an. Bekehrungserzäh­ lungen ermöglichen ihnen, öffentlich über ihre weiter existierenden ‚dunklen‘ Seiten zu reden und sie neu zu bearbeiten, ohne sozial an Ansehen zu verlieren, im Gegenteil: Sie gewinnen sogar an Achtung.“70

Die Diskussion um die Funktion des Sündenbegriffs im Römerbrief hat Konse­ quenzen für die Beurteilung der Relevanz der Hamartiologie im Gesamtrah­ men der paulinischen Theologie. Vor allem das Problem des Verhältnisses von Sünde, Gesetz und Gnade wird diskutiert. Schon Helmut Merklein (1989) benennt verschiedene Potentiale des Sünden­ begriffs, die Paulus abruft und miteinander in Beziehung setzt. Der Sünden­ begriff bezeichne zuallererst die „Übertretung“ des Gesetzes von Juden und Heiden,71 werde dann aber auch dazu verwendet, um angesichts der Gnade das Gesetz gleichermaßen zu problematisieren und zu entlasten, vor allem in Röm  5,12–21 und 7,7–11: „Das Gesetz mehrt die Sünde, indem es die Sünder in die eschatologische Perspektiv­ losigkeit stürzt. Dies ist gewiß eine harte Maßnahme, die in dieser Härte vielleicht sogar erst vom Standpunkt der Gnade aus zu artikulieren ist, dennoch handelt es sich um eine gerechte Maßnahme, die nicht der Sünde Vorschub leistet, sondern im Gegenteil deren schlimme Folgen festhält. […] Von einer aktiven Rolle des Gesetzes in Bezug auf die Sünde kann nicht die Rede sein. Das Gesetz bietet weder Anlaß noch Antrieb zur Sün­ de. Die Sünde gewinnt ihre beherrschende Macht durch das Sündigen.“72

Wie für Sanders stellt es auch für Merklein eine Konsequenz des „Paradigmen­ wechsels“73, d. h. des Damaskus-Erlebnisses, dar, wenn Paulus mit der Sünde argumentiert – die Radikalität dieser Argumentation müsse als Reflex auf die erfahrene Exklusivität des Heilsgeschehens im Tod Jesu als „die entscheidende

66 Ebd. 67 Ebd.

68 Ebd. 69 

Vgl. aaO. 460.462. AaO. 464 mit Bezug auf Röm  7,7–25. 71 Vgl. Merklein, Sünde, 319–325. 72  AaO. 328 f. 73  AaO. 337. 70 

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Einleitung

eschatologische Tat Gottes zum Heil Israels und der Menschheit“74 verstanden werden. Merklein wägt den Begriff nun aber nicht wie Sanders hinsichtlich des Argumentationsziels des Römerbriefes und seiner Adressaten ab.75 Bei ihm stellt die Sünde vielmehr einen zentralen Begriff der paulinischen Anthropologie76 dar, die der Damaskus-Erfahrung konzeptionell entspricht. Merklein integriert also den Sündenbegriff in das theologische System des Paulus und versteht ihn weniger als Teil einer argumentativen Strategie: „Hermeneutisch gesehen, ist der Gedanke der allgemeinen Sündhaftigkeit – zumindest in seiner durchreflektierten Form – nur von der Warte einer Gerechtigkeit allein aus Glauben erschwinglich und stellt deren Kontrastbild dar. Um so bemerkenswerter er­ scheint es, daß Paulus die Sünde nicht einfach mit dem Unglauben identifiziert, sondern sie inhaltlich am Gesetz als Kriterium bemißt, d. h. sie als Übertretung des Gesetzes versteht.“77

Udo Schnelle (2003) räumt der paulinischen Anthropologie ebenfalls einen großen Stellenwert ein, wobei er deutlich macht, dass insbesondere die Sünden­ lehre mit der Nomologie des Paulus in engem Zusammenhang stehe: Das Nachdenken über das „Wesen und die Funktion der Sünde“ sei notwendig, wo die „hamartiologische Gleichstellung von Juden und Heiden“ behauptet werde, was vor allem für den Römerbrief gelte.78 Freilich liegt der Schwerpunkt der Darstellung – ähnlich wie bei Merklein – auf der Kontrastierung von Anthro­ pologie und Soteriologie. Zur „Hypostasierung der Sünde“ veranlasste Paulus seine „Christushermeneutik“:79 „Allein der Glaube an Jesus Christus rettet, so dass neben ihm keine weitere Instanz rettende Funktion haben kann. Die Christologie und Soteriologie und nicht die An­ thropologie bilden die Grundlage der paulinischen Sündenlehre. Paulus musste im Ga­ later- und im Römerbrief erklären, warum das Gesetz/die Tora als Lebensgabe Gottes nicht in der Lage ist, das verheißene Leben auch wirklich zu gewähren. Mit der für ­Juden (und konservative Judenchristen) inakzeptablen These, das Gesetz/die Tora sei gegenüber der Sünde zeitlich und sachlich sekundär, versucht er diesen Nachweis zu erbringen. Faktisch ist somit die paulinische Sündenlehre der Versuch einer nachträglichen Rationalisierung eines feststehenden Argumentationsziels.“80

Schnelle sieht in der spezifischen Sündenargumentation von Galater- und ­Römerbrief die Bewältigung „denkerische[r] Probleme“81: Paulus versuche, die 74 Ebd.

75  Im Kontext der Auslegung von 2Kor 5,21 deutet Merklein auch einen sprachwissen­ schaftlichen Ansatz an, wenn er kommentiert: „Paulus nutzt geschickt die unterschiedlichen semantischen Nuancen des ἁμαρτία -Begriffs“ (aaO. 343). 76  Vgl. aaO. 316.338–341. 77  AaO. 337. 78  Schnelle, Paulus, 572. 79  AaO. 574. 80 Ebd. 81  AaO. 594.

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„soteriologische Insuffizienz der Tora für Juden- und Heidenchristen und zu­ gleich die Erfüllung des Gesetzes/der Tora auch durch die Christen“82 zu be­ haupten, wobei das übergeordnete Ziel ein i. e. S. theologisches ist: „die bleiben­ de Gültigkeit des ersten Bundes und den alleinigen Heilscharakter des neuen Bundes zu behaupten“83. Die „funktionale“ Lesart der Sündenargumentation des Römerbriefs, die sich bei Schnelle andeutet, ist bei Michael Wolter (2011) noch schärfer konturiert. Er behandelt in seinem Grundriss der Theologie des Paulus die Sünde nicht einmal mehr als eigenständigen Topos, sondern befasst sich mit hamartiologischen Ar­ gumentationszusammenhängen konsequent im Kontext der Gesetzesproblema­ tik und der Israelfrage: „Beide Seiten dieses Begründungszusammenhangs – auf der einen Seite die Hervorhe­ bung, dass Gott alle aus Glauben rechtfertigt und auf der anderen die Feststellung, dass alle der Herrschaft der Sünde unterworfen sind – hat Paulus als pointierte Antithese gegen eine jüdische Erwählungstheologie konzipiert, wie er sie selbst vor seiner Bekeh­ rung vertreten hat und mit der er sich im Galaterbrief auseinandersetzen musste.“84

Wolter warnt davor, den Römerbrief als „Normaldogmatik“ zu erschließen und einer negativen Anthropologie einen soteriologischen Lösungsansatz ge­ genüberzustellen.85 Die Anthropologie stelle weniger den Problemhorizont des Römerbriefs dar, vielmehr müsse sie als adäquate Lösung des Problems der Ge­ setzesobservanz verstanden werden: Texte wie Röm  7,14–25 ließen erkennen, dass Paulus durch seine anthropologischen Argumentationen die „Erlösungs­ bedürftigkeit des Menschen aufzeigt und dabei die Machtlosigkeit des Gesetzes herausarbeitet.“86 Die Sünde nehme „dem Gesetz, das den Unterschied zwi­ schen Israel und den Völkern markiert, jede Wirkung und macht es soteriolo­ gisch macht- und bedeutungslos.“87 Die Forschungsdiskussion wirft hinsichtlich der Sündenargumentation im Römerbrief gravierende Probleme und Fragen auf: Stellt die Rede von der Sün­ de das argumentative Ziel des Römerbriefs oder aber ein zweckdienliches Mittel dar, um ein anderes, näher zu bestimmendes Ziel zu erreichen? Wie zentral ist die Sündenargumentation für den Römerbrief, aber auch die paulinische Theo­ logie im Ganzen? Handelt es sich um einen zentralen Topos oder einen „Neben­ schauplatz“88? Was ist die Sünde und wozu dient sie? Und ist es, wie Luther vorschlägt, tatsächlich Ziel des Römerbriefes, „die Sünde groß zu machen“? 82 Ebd.

83 Ebd. 84 

Wolter, Paulus, 383. 376. 86  AaO. 377. 87 Ebd. 88 Wie Lyu, Sünde, 270 die Darstellung der paulinischen Hamartiologie in der New Per­ spective auf einen Begriff bringen möchte. 85  AaO.

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Einleitung

Vorliegende Untersuchung fragt nach der Funktion des Sündenbegriffs im dynamischen Argumentationsverlauf des Römerbriefes, d. h. sie fragt danach, welches Ziel Paulus damit verfolgt, wenn er im Römerbrief von der Sünde spricht. Obwohl die skizzierten Forschungsbeiträge häufig über den Römerbrief hinausgehen, wird sich diese Arbeit schon allein deswegen strikt auf ihn konzentrieren, weil die für die Sündlosigkeitstheorie zentrale Unterscheidung von Verfehlung und Sünde hier besonders deutlich zu Tage tritt: Im Römerbrief sind diejenigen Begriffe, die Paulus in seinen anderen Briefen verwendet, um das Fehlverhalten seiner Adressaten zu benennen, völlig unterrepräsentiert,89 während hingegen der Sündenbegriff zentral ist.90 Um die Funktion des Sündenbegriffs im Rö­ merbrief zu erfassen, wird es nötig sein, ein heuristisches Rahmenmodell zu entwickeln, mit dessen Hilfe das Ziel der Argumentation des Briefes adäquat bestimmt werden kann, um dann – in einem zweiten Schritt – analysieren zu können, inwiefern der Sündenbegriff auf dieses Ziel bezogen ist, denn bei aller Vielstimmigkeit – die exemplarisch ausgewählten Auslegungsansätze zeigen, dass, wer nach dem Ziel der Verwendung des Sündenbegriffs im Römerbrief fragt, unmittelbar nach dem Argumentationsziel des Paulus und mittelbar nach dem Charakter der paulinischen Argumentationsweise fragt. Die vorliegende Untersuchung besteht – diesem Anliegen entsprechend – aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird – ausgehend von der antiken Rhetorik – eine argumentations­ theoretisch disponierte Methode der Begriffsanalyse entwickelt, mit der der Zusammenhang zwischen dem argumentativen Ziel eines Textes und seinem semantischen Inventar analysiert werden kann (Teil I). Im zweiten Teil wird unter Anwendung dieser Methode untersucht, welches Ziel Paulus verfolgt, wenn er im Römerbrief mit der Sünde argumentiert (Teil II). 89  Vgl. u. a. Klinghardt, Gericht, 74, der bezeichnenderweise keinen einzigen Beleg für einen die Verfehlung der römischen Gemeinden bezeichnenden Begriff anführt, sondern von Unzucht (1Kor 5), Götzendienst (1Kor 10), Verfehlungen beim Mahl (1Kor 11), Unordent­ lichkeit (1Thess 5,14), allgemein Verfehlung (Gal 6,1) oder Unrecht (1Kor 6,8) sprechen kann. Er gelangt zu der Schlussfolgerung (ebd.): „Obwohl die terminologische Zuordnung kein geschlossenes System erkennen läßt (schon die Umkehrung funktioniert nicht mehr), ist doch die Größenordnung der Verteilung signifikant. Im Hintergrund steht offenkundig die grundsätzliche Einsicht, daß ἁμαρτωλοί Heiden sind, nicht aber Juden oder Christen (Gal 2,15). Anders gesagt: Was Gott an seinen Erwählten durch Züchtigung bestraft, sind streng genommen keine Sünden (ἁμαρτίαι), sondern Verfehlungen.“ Auch Umbach greift in seinen „Textexegesen zu ‚Fehlverhalten‘ und ‚Hamartia‘“ auf 1Thess, 1Kor, 2Kor, Gal und Phil zurück. Einzig Röm  5,12–21 wird besprochen, wobei hier der Fehltritt freilich nicht im Sinne des Fehlverhaltens der Gemeinde interpretiert wird (vgl. Umbach, Christus, 207). 90 Vgl. Gaventa, Cosmic Power, 229 f. In keinem anderen seiner Briefe verwendet Paulus den Sündenbegriff häufiger als hier, auf den Römerbrief entfallen 60 der 81 Fundstellen des Substantivs ἁμαρτία, des Verbs ἁμαρτάνειν und des Adjektivs ἁμαρτωλός im Corpus Pauli­ num, allein 42 Fundstellen entfallen auf Röm  5 –8. In Porters und O’Donnells Aufstellung der meist frequentierten Begriffe im Römerbrief erscheint der Sündenbegriff damit noch vor πίστις und folgt unmittelbar auf Χριστός (vgl. Porter/O’Donnell, Semantics and Patterns, 161).

Teil I: Macht der Argumentation – Macht des Begriffs. Der Zusammenhang zwischen Ziel und Begriffsinventar einer Argumentation Wer danach fragt, mit welchem Ziel Paulus im Römerbrief von der Sünde spricht, muss zunächst nach der Argumentationsweise des Apostels fragen. In diesem ersten Teil der Untersuchung soll zunächst dargestellt werden, warum sich das Argumentationsmodell der antiken Rhetorik dazu eignet, den Skopus1 paulinischer Texte zu bestimmen (Kapitel I). Sodann wird im Hinblick auf die Frage nach dem Ziel der Sündenargumentation im Römerbrief mithilfe sprach­ wissenschaftlicher und diskursanalytischer Ansätze die semantische Dimension des antiken Argumentationsparadigmas erkundet, die in der antiken Rhetorik selber nur gestreift wird: Inwiefern tragen einzelne Begriffe zum Gelingen ­einer Argumentation bei (Kapitel II)? Ein Fazit bündelt die Überlegungen schließlich und überführt sie in einen Katalog methodischer Fragen, welche im zweiten Teil der Untersuchung an den Römerbrief herangetragen werden (Ka­ pitel III).

1 

Zum Begriff „Skopus“ vgl. I.2.1.

I. Macht der Argumentation: Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als heuristisches Rahmenmodell zur Bestimmung des Skopus paulinischer Texte In diesem Kapitel wird die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Rahmenmodell zur Bestimmung des Skopus paulinischer Texte erschlossen.1 Dass der Apostel in seinen Briefen argumentiert, wird oft informell vorausgesetzt, in jüngerer Zeit ist seine Argumentationsweise aber auch Gegen­ stand detaillierter exegetischer Untersuchungen gewesen. So haben sich mittler­ weile in der neutestamentlichen Exegese verschiedene Forschungsfelder etabliert, die sich kritisch mit Paulus’ Argumentationsweise auseinandersetzen. Diese For­ schungsansätze halten wichtige methodische und heuristische Pro­blem­­an­zei­gen bereit, die bei einer argumentationskritischen Untersuchung paulinischer Texte zu beachten sind (1.). Sodann wird – ausgehend von Melanch­thons Ansatz, die antike Rhetorik als kritische Methode der Exegese biblischer Texte zu verwen­ den – die rhetorische Argumentationstheorie als heuristisches Rahmen­modell zur Bestimmung des Skopus argumentativer Texte erschlossen. In diesem Zu­ sammenhang wird exemplarisch auch die hellenistisch-jüdische Argumenta­ tionspraxis der Antike beleuchtet, denn es muss die methodische Grund­frage geklärt werden, inwiefern sich Texte außerhalb des rhetorischen Schulbetriebs mithilfe griechisch-römischer Rhetorik analysieren lassen (2.). Abschließend folgt eine Zwischenbilanz: Inwiefern eignet sich gerade die Argumentationstheo­ rie der antiken Rhetorik dazu, den Skopus paulinischer Texte zu bestimmen? (3.)

1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze in der Paulusforschung Angesichts der verschiedenen Forschungsfelder, die sich mittlerweile mit der paulinischen Argumentationsweise befassen, erweist sich die Frage, welches Ziel Paulus im Römerbrief verfolgt, wenn er mit der Sünde argumentiert, als 1  Wenn hier und im Folgenden von der Argumentationstheorie im Singular gesprochen wird, so ist damit das Theoriefeld gemeint, das als fester Bestandteil der griechisch-römischen Rhetorik von allen bedeutenden Rhetoriktheoretikern mit jeweils eigenen Ansätzen und in immer wieder neuen Problemhorizonten erforscht und weiterentwickelt worden ist.

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I. Macht der Argumentation

überaus vielschichtig. Je nach dem, welchen Argumentationsbegriff man für Paulus voraussetzen möchte, ergeben sich unterschiedliche methodische Per­ spek­t iven auf das Argumentationsziel.

1.1. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus ­ inventorisch-kommunikativer Perspektive Im Zentrum einer argumentationskritischen Analyse kann die Frage nach der Situation der Findung (lat. inventio) der Argumentation und dem Verhältnis von Kommunikationsziel und abgerufenen Begründungszusammenhängen stehen – dann ginge es um das Abstraktionsvermögen und die rhetorische Kreativität des Apostels. Ferdinand Christian Baur hat, ohne den antiken Argumentationsbegriff ex­ plizit zu verwenden, den Römerbrief als umfassenden theologischen Abstraktionsprozess beschrieben: „Der Apostel befolgt überall, wo ein Gegenstand von größerer Wichtigkeit zu behan­ deln ist, nicht blos einen sehr geordneten, sondern auch sehr eigenthümlichen Gedan­ kengang. Nichts charakterisirt aber die ihm eigene Auffassungs- und Darstellungs-Wei­ se so sehr als das Bestreben, den seiner Reflexion gegebenen konkreten Gegenstand, statt ihn nur für sich zu betrachten und nur bei den empirisch gegebenen Verhältnissen zu verweilen, sogleich unter den höchsten und allgemeinsten Gesichtspunkt, von wel­ chem aus er betrachtet werden kann, zu stellen, um dann erst, nachdem der ganze Kreis der allgemeinen Betrachtung nach der ganzen Reihe der verschiedenen Momente und Gegensätze, in welche der Gegenstand logisch zerspalten werden kann, durchlaufen ist, auf den Punkt wieder zurückzukommen, von welchem die Betrachtung ausgieng, und das Allgemeine auf das empirisch Gegebene anzuwenden.“2

Baur versteht den Römerbrief als gedankliche Bewegung, die ihren Ausgangspunkt bei einem konkreten Problem der römischen Gemeinde nimmt – nach Baur der judenchristliche Gesetzesbegriff –, sich auf abstrakter, theologischer Ebene ent­ faltet und schließlich wieder zur konkreten Problemlage der Gemeinde zurück­ findet.3 Sei das Abstraktionsvermögen des Apostels schon für den Korinther­ brief prägend,4 sei es für den Römerbrief nahezu charakteristisch, auch wenn hier die Problemkonstellation erst nach und nach zu erkennen sei.5 Für Baur steht die δικαιοσύνη (τοῦ) θεοῦ des Römerbriefes (Röm  1,16f ) konzeptionell auf der gleichen Stufe wie der λόγος τοῦ σταυροῦ (1Kor 1,18) des Korintherbriefs: Bei beiden handele es sich um Zentralbegriffe einer theologisch-abstrakten 2 

Baur, Zweck, 88. AaO. 89. 4  Schon im 1. Korintherbrief demonstriere der Apostel, dass er von einer konkreten Pro­ blemkonstellation – dem „Sektenwesen der Korinthier“ (aaO. 89) – Abstand nehmen und dieser einen ihr entsprechenden theologischen Begriff bzw. einen dogmatischen Gegenstand entgegensetzen könne – das Wort vom Kreuz, das die Weisheit der Welt konterkariert. 5  AaO. 89 f. 3 

1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze

19

These,6 die Paulus hinsichtlich „konkrete[r] Verhältnisse“7 formuliere. These und Verhältnisse wiederum verhalten sich nach Baur zueinander wie Schlüssel und Schloss: Die „dogmatische[] Erörterung des Apostels“ habe „ein sehr be­ stimmtes praktisches Moment“.8 Klaus Berger unterscheidet in seiner „Formgeschichte des Neuen Testa­ ments“ grundsätzlich zwischen symbuleutischer, epideiktischer und apologeti­ scher Argumentation. Gattungsübergreifend definiert er: „Im Argument müssen die Aussagen gerechtfertigt, verknüpft und koordiniert werden. Argumentationen richten sich auf die Veränderung der Urteils- und Entschlußvoraus­ setzungen des Hörers. Dieses geschieht vornehmlich in rationaler, oft aber auch teils rationaler, teils deutlich an die Emotionen appellierender Gestalt.“9

„Argumentativ“ sei ein Text dann zu nennen, wenn er darauf angelegt sei, eine These zu begründen, und wenn er „mehr oder weniger stark argumentativ durchsetzt“10 sei. Dabei weise sich Argumentation nicht in erster Linie als feste Struktur aus, sondern hebe sich durch bestimmte Argumentationsmittel ab,11 die eingesetzt werden, um ein kommunikatives Ziel zu erreichen. Nach Berger gibt die Analyse von Argumentationen den Blick auf die ihnen zugrunde liegen­ den Konfliktsituationen frei, d. h. ihren Sitz im Leben.12 Für manche Argumen­ tationstypen im Neuen Testament lasse sich unter dieser Fragestellung auch eine Entwicklungsgeschichte nachzeichnen: Von einfachen rhetorischen Fragen bis hin zu größeren, zusammenhängenden Reden entwickle sich z. B. die apologe­ tische Argumentation. Sie könne als eine charakteristische Argumentations­ form des Neuen Testaments gelten,13 der u. a. auch der Galaterbrief zuzurech­ nen sei.14 Nach Berger beruht nun besonders die Argumentation des Paulus auf einer den theologischen Konflikten angemessenen „argumentative[n] Axiomatik“, d. h. auf spezifischen unhintergehbaren Begründungsstrukturen, auf die der Apostel in seinen Argumentationen immer wieder zurückgreife, wie z. B. „die Abfolge von Ereignissen“15, die schroffe „Gegensätzlichkeit“16 von Gott und Welt, die „Zugehörigkeit“17 zu bestimmten Machtbereichen etc.18 6 

AaO. 90 f. 87. 8  AaO. 87 f. 9  Berger, Formgeschichte, 93. 10 Ebd. 11  Vgl. aaO. 97–101. 12  Berger kann argumentative Texte auch pointiert als „Wünschelrute für Kontroversen“ (aaO. 93) bezeichnen. 13  Vgl. aaO. 110. 14  Vgl. ebd. 15  AaO. 103. 16 Ebd. 17  AaO. 104. 18 Diese Axiome haben tragende „Funktionen in der Geschichte des Urchristentums“ (aaO. 105, Hv. i. O.). 7  AaO.

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I. Macht der Argumentation

Folker Siegert definiert Argumentation als „sprachliches Problemlösungsverhalten unter Prämissen der Zwanglosigkeit. Seine Re­ geln sind eingebunden in soziale Konventionen der jeweiligen Sprachgemeinschaft und insofern auch Gegenstand historischer Forschung.“19

Um die Regeln und sozialen Konventionen, die der Argumentation von Röm  9–11 zugrunde liegen, darzustellen, unternimmt Siegert vergleichende Studien zu Ar­g umentationsmustern und rhetorischen Mitteln in der Septuaginta, indem er auf das Modell von Perelman/Olbrechts-Tyteca zurückgreift, das im Zuge der Nouvelle Rhétorique entstanden ist und das neben Toulmins Ansatz einen der bekanntesten modernen Zugänge zu argumentativen Texten darstellt.20 Sie­ gerts Analyse setzt trotz dieses anachronistischen Zugangs21 beim intendierten Leser an.22 Leitfrage sei demnach: „Welches rezeptive sprachliche Können, wel­ ches Decodierungsvermögen gegenüber verschiedenen Argumentationsweisen und Redefiguren setzen die Paulusbriefe bei ihren Lesern voraus?“23 Wie Paulus theologische Probleme bewältigt, ist also nur im Kontext der religiösen Lebens­ welt und theologischen Vorbildung der Adressaten zu analysieren. Aus inventorischer Perspektive würde sich das Argumentationsziel folglich als ein angemessener Lösungsvorschlag hinsichtlich einer textexternen Problem­ konstellation erweisen. Die verschiedenen Forschungsansätze fokussieren eine theologische Streitsituation, die Paulus unter Rückgriff auf erfolgsversprechen­ de Begründungsmuster bzw. Axiome abstrahiert und transzendiert. Argumen­ tation entsteht offenbar aus einer spezifischen inventorischen Situation heraus, in der Argumente so arrangiert werden, dass sie dem vorliegenden Konfliktfall angemessen sind und dem kommunikativen Ziel genügen. Dabei bilden die Erwartungshaltung und der Verstehenshorizont der Hörer die wesentlichen Orien­ tierungspunkte für den Redner. Den Zusammenhang von Streitsituation, Axi­ omen bzw. Prämissen und Argumentationsziel analytisch zu erfassen, wäre aus inventorischer Perspektive Hauptaufgabe der Argumentationsanalyse.

19 Vgl.

Siegert, Argumentation, unpag. I, Zusammenfassung. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Traité und Toulmin, Uses. 21  „‚Argumentation‘ in dem Sinne, wie sie hier definiert werden soll, ist nicht nur ein außerbiblischer, sondern auch ein nachbiblischer Begriff“ (Siegert, Argumentation, 16). 22  Vgl. aaO. 1. 23  Ebd. Dabei sei die Darstellung des inneren Zusammenhangs der Argumente für die Ana­ lyse der Textstrategie entscheidend, weniger die Berücksichtigung des historischen Bezugs­ rahmens: „Argumente verstärken sich am ,sachlichsten‘ dadurch, daß sie zu einem gemein­ samen Ziel zusammengehen (Konvergenz) oder sich im Hinblick auf dieses Ziel sogar decken (Kongruenz), d. h. keinerlei Spannung unter sich haben, was ein Idealfall ist.“ 20 Vgl.

1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze

21

1.2. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus dialektischer Perspektive In jüngeren Forschungsbeiträgen ist auch die Rationalität paulinischer Argu­ mentation analysiert worden. Welcher Logikbegriff an die paulinische Argu­ mentationsweise herangetragen werden darf, ist jedoch umstritten. Siegert identifiziert in Anlehnung an Perelman/Olbrechts-Tyteca „quasi-logische[] Ar­ gumentation“ in der Septuaginta.24 Ihm zufolge „beziehen viele Argumente ihre Überzeugungskraft aus ihrer Nähe zu solchen an-sich-wahren Schema­ ta“25. Dabei würden verschiedene Techniken und Verfahren angewandt, um beispielsweise eine logische „Unverträglichkeit“ zu umgehen oder im Gegenteil eine solche zu produzieren,26 um gegen den Gegner zu polemisieren. Siegert plädiert entschieden dafür, zwischen Stärke und Gültigkeit eines Arguments zu unterscheiden: „Stärke haben Argumente immer nur relativ zum Interpretationsuniversum […] der Hö­ rer. Sie erweist sich im Nachhinein und fällt in die Domäne des Historikers; ein starkes Argument ist ein wirkungsvolles (efficace). Etwas anderes, nämlich Sache philosophi­ schen Urteils, ist das gültige (valable) Argument.“27

Hinsichtlich biblischer Argumentationen gibt Siegert zu bedenken, dass der rei­ ne Syllogismus in der Septuaginta kaum zu finden sei. Wohl aber könne man Sätze wie z. B. 4Makk 5,18 in ein syllogistisches Schema übertragen, z. B. Ne­ gationen „in die semantisch entsprechenden Positionen“ oder Konditionalsätze „in die von ihnen vorausgesetzten Propositionen“28. Es überrascht angesichts von Siegerts Zugang über die Septuaginta nicht, dass er die Logik, insbesonde­ re die „kantisch-formale“ Logik, nicht zur Interpretation neutestamentlicher Texte zulassen möchte. Aus ihr sei „für unsere Zwecke nicht viel zu berich­ ten“29, was vor allem damit zusammenhänge, dass „in bestimmten Fällen selbst logisch ungültige Argumente wie gezielte Selbstwidersprüche […] sich vom Hörer in etwas Sinnvolles umsetzen lassen“30. Was Siegert problematisierend streift, rückt ins Zentrum von Moisés Mayor­ domos Studie „Argumentiert Paulus logisch?“. Schon in der alten Kirche habe die Beurteilung der paulinischen Argumentation zwischen „obscuritas und claritas“31 geschwankt: Sie entziehe sich auf den ersten Blick dem rationalen Zu­ griff, weil Paulus auf eine „feste Tradition aus seiner christlichen und jüdischen 24  AaO. 25 Ebd. 26 

50.

Vgl. aaO. 51 f. AaO. 80 (Hv. i. O.). 28  AaO. 57. 29  AaO. 88. 30 Ebd. 31  Mayordomo, Logisch, 6. 27 

22

I. Macht der Argumentation

Enzyklopädie“32 zurückgreife und „zuweilen prophetisch, apodiktisch, inspi­ riert“33 rede. Die grundsätzliche Skepsis gegenüber der paulinischen Logik nimmt Mayordomo zum Anlass, das gestörte Verhältnis zwischen Theologie und Logik aufzuarbeiten 34 und die Logik in der neutestamentlichen Exegese zu rehabilitieren 35: „Die logische Analyse operiert […] auf formaler Ebene und kann dadurch das tragende Gerüst von Argumentationen sichtbar machen.“36 Dementsprechend komme die Logik auch als theoretischer Hintergrund neu­ testamentlicher Exegese in Frage.37 Welche Kenntnisse antiker Logik Paulus konkret besessen habe, sei dabei jedoch „von untergeordneter Bedeutung“38 , denn die Quellenlage sei zu schlecht,39 die Textanalyse habe methodischen Vorrang40 und die Logik zeichne sich durch eine geistesgeschichtliche „Autar­ kie“41 aus – sie müsse nicht schulmäßig vermittelt sein. Vor dem Hintergrund eines stoischen Logikbegriffs setzt Mayordomo programmatisch um, was Sie­ gert am Rande seiner Untersuchung exemplarisch durchgeführt hat: Indem er das semantische Inventar paulinischer Texte (1Kor 15,12–20, Gal 3,6–14 und Röm  1,18–3,20) auf zentrale Wortfelder reduziert und kontrastiv gegenüber­ stellt, kann er die Texte in logisch überprüf bare Basissysteme – Syllogismen oder Enthymeme – übertragen und der Kritik unterziehen.42 Das Ergebnis der Studie fällt allerdings ambivalent aus: Die Methode sei nicht gewinnbringend auf jeden der Texte anwendbar.43 Manche Argumentationen lassen sich mit Hilfe logischer Modelle erfassen, manche sperren sich. Der exegetisch-metho­ dische Ertrag bestehe jedoch darin, dass „das ‚Scheitern‘ der logischen Analyse Probleme in der hermeneutischen Interaktion zwischen Text und auslegendem Subjekt in besonderer Weise deutlich“ mache und „andere Verstehensstrategi­ en“ erfordere, insbesondere dann, wenn implizite Prämissen vermutet werden können.44 Die logische Analyse der paulinischen Texte müsse – so Mayordo­ mos Votum – als Beitrag zur Erforschung der inventio, d. h. der Findung der paulinischen Argumente, verstanden werden, da auch schon in der Antike die Dialektik den logischen Grundgehalt des rhetorischen Argumentierens adäquat 32 Ebd. 33 Ebd. 34 

Ein Verhältnis, das er als „Graben“ (aaO. 10) oder „geschiedene Ehe“ (aaO. 8) bezeich­ nen kann. 35  Vgl. aaO. 20–26. 36  AaO. 20. 37  Vgl. aaO. 22. 38  AaO. 24. 39  Vgl. ebd. 40  Vgl. aaO. 26. 41 Ebd. 42  Vgl. aaO. 212–216. 43  Vgl. aaO. 229–231. 44  Vgl. aaO. 234.

1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze

23

erfasse. Eine rhetorische Perspektive auf paulinische Texte dürfe sich nicht nur auf die Darstellung sprachlicher Mittel und Formen beschränken.45 Aus rationaler Perspektive erweist sich als Ziel der Argumentation die logi­ sche Schlussfolgerung. Dabei ist in der Forschung umstritten, ob für paulinische Texte ein dialektischer oder aber rhetorischer Argumentationsbegriff vorausge­ setzt werden kann. Es steht die Frage im Raum, welcher Logikbegriff im Span­ nungsverhältnis von Gegenstand, Adressantem und Adressaten paulinischer Brie­fe angemessen sein kann und wie sich die Rationalität paulinischer Argu­ mentationen überprüfen lässt, wenn explizite Formen (Syllogismus, Enthymem) fehlen.

1.3. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus struktureller Perspektive Die Struktur der paulinischen Argumentation ist aus verschiedenen Blickwin­ keln untersucht worden. Im Fokus stehen die Abgrenzung einzelner Begrün­ dungssegmente, ihre Interdependenz untereinander und die Identifizierung des Höhepunkts der Argumentation. Johannes Winkel nimmt eine „Argumentationsanalyse“ von Röm  9 –11 vor und weist einzelnen Abschnitten des Textes unterschiedliche argumentative Funktionen zu. Röm  9 –11 sei insgesamt in eine Einleitung (Röm  9,1–5) und drei Argumentationsgänge (Röm  9,6–26; 9,27–10,21 und 11,1–32) zu untertei­ len. Die einzelnen Argumentationsgänge seien dann noch einmal binnenge­ gliedert und zeichneten sich teilweise als positive Argumentationen, teilweise als Abwehrreden gegen gegnerische Argumentationen und als Schlussfolgerun­ gen bzw. Abschlusssequenzen aus. Beispielsweise stelle Röm  9,6a eine Aus­ gangsbehauptung dar, auf die zwei „präzisierende Einschränkung[en]“ folgten (Röm  9,6b und 9,7a). Daran schlössen sich zwei Begründungen (Röm  9,7–9 und 9,10–13) an.46 Manche Segmente wiesen auch eine „Folgerung“ auf (wie z. B. Röm  9,18).47 Winkel nennt keine klaren Kriterien zur Abgrenzung der Seg­ mente. Welchen Vorbildern Paulus bei der Gestaltung der Argumentation folgt, lässt er offen. Siegert resümiert zu „Auf bau und ‚Gedankenführung‘“ der Argumentation in Röm  9–11, dass Paulus wie auch die meisten anderen neutestamentlichen Schriftsteller keine trennscharfe, periodische Sequenzierung seiner Argumenta­ tionen verfolge:48 Weder seine Gliederung noch die Themen seiner Argumen­ tation gebe er explizit an. Außerdem biete er kaum Zusammenfassungen und „Übergangsformeln“, die zu einem anderen Thema überleiten.49 Paulus ge­ 45 

Vgl. aaO. 238 f. Winkel, Argumentationsanalyse, 68 f. 47  AaO. 69. 48  Siegert, Argumentation, 196. 49  AaO. 198. 46 Vgl.

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I. Macht der Argumentation

brauche allerdings im hohen Maße Partikel, die als implizite Gliederungsmerk­ male gedeutet werden könnten. Unter dieser Voraussetzung lege der Apostel – so Siegerts Urteil – bei der Gestaltung des Textauf baus „[g]roßes Geschick“50 an den Tag und lasse den Leser an der „Entwicklung seiner Gedanken teilneh­ men“51. Besonders der Römerbrief weise – im Gegensatz zu anderen, weniger gegliederten Briefen wie Phil oder 1Thess – eine deutliche Sequenzierung auf. Hans Dieter Betz, einer der Begründer des Rhetorical Criticism, gliedert den Galaterbrief unter Zuhilfenahme des antiken Redeschemas. Der Galaterbrief müsse als Verteidigungsschreiben verstanden werden, seine grundlegende Prämisse sei die Geisterfahrung der Adressaten (Gal 3,1–5),52 obwohl die Unzugänglich­ keit dieser Erfahrung in einem markanten Spannungsverhältnis zum rationalen Proprium des Textes stehe: „Als ekstatische Erfahrung ist jede Erfahrung des Geistes per definitionem irrational, d. h. sie unterliegt nicht rationaler Kontrolle oder rationalem Verständnis. Ein Versuch, solch ein irrationales Phänomen mit Hilfe rationaler Argumente zu verteidigen, erscheint absurd. Dennoch ist gerade dies die Verteidigungsstrategie des Paulus.“53

Dieser rationale Anspruch, mit dem Paulus die Geisterfahrung der galatischen Adressaten in ihren theologischen Konsequenzen erschließe, erweise sich für den Galaterbrief als strukturbildend. Innerhalb des von ihm als probatio bestimm­ ten Hauptteils des Briefes grenzt Betz wiederkehrende Sequenzen (bestehend aus These, Beweis und Schlussfolgerung) ab,54 in denen Paulus jeweils auf be­ stimmte Topoi zurückgreife: die Erfahrung des Geistes (Gal 3,1–5), die Schrift (Gal 3,6–14), den anthropologischen „Bereich“ (Gal 3,15–18), die „christliche Tradition“ (Gal 3,19–4,11), die Freundschaftsethik (Gal 4,12–20) oder eine alle­ gorische Interpretation der Schrift (Gal 4,21–31).55 Nach Betz erweist sich die Struktur der paulinischen Argumentation also immer als Ausdruck des rationa­ len Grundanliegens des Apostels: Dass Paulus auf bestimmte, feste Formen zu­ rückgreife, liege daran, dass ihm an einem vernünftigen Nachvollzug seiner Argumente gelegen sei. Aus struktureller Perspektive erweist sich das Argumentationsziel als Höhe­ punkt, zu dem eine Argumentationssequenz hinstrebt. Die Forschung hat mit unterschiedlichen Modellen und Terminologien gearbeitet, um in den Paulus­ briefen einzelne Begründungssegmente voneinander abzugrenzen, ihre Inter­ dependenzen untereinander darzustellen und einen Höhepunkt der Argumen­ 50  AaO.

196. 197. Vgl. zur Stilistik der Gedankenführung auch Dobschütz, Wortschatz, 56–58. Er betont (aaO. 56): „Man sieht das stark Argumentierende und Folgernde in der Gedankenbewegung.“ 52 Vgl. Betz, Galaterbrief, 70 f. 53  AaO. 79. 54  Vgl. aaO. 61–66. 55  Vgl. ebd. 51 AaO.

1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze

25

tation zu bestimmen. Dabei hat sich herausgestellt, dass Paulus andeutungswei­ se die Strukturen und Abgrenzungen seiner Argumentation explizit macht und auf Partikel und bestimmte Formeln zurückgreift, mit denen er seine Gedanken­ führung sequenziert. Inwiefern diese Gedankenführung argumentationstheo­ retisch erfassbar und für die Frage nach dem Skopus paulinischer Argumenta­ tion wesentlich ist, ist jedoch offen und bedarf daher weiterer Klärung.

1.4. Die Frage nach dem Argumentationsziel aus der Perspektive der Adressatenlenkung und persuasio In der Forschung werden persuasive Strategie und Adressatenlenkung in pauli­ nischen Texten aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht. Mal wird für Paulus eine sophistische Argumentationsweise veranschlagt, mal wird von einer „Strategie“ hinsichtlich der Adressaten gesprochen, mal wird die Lenkung der Adressaten als kalkulierter Wechsel von Anrede und abstrakter, theologi­ scher Argumentation verstanden. Johan S. Vos’ Untersuchung nimmt ihren Ausgangspunkt bei der ambivalen­ ten Beurteilung der Rhetorik in der Antike. Rhetorik sei immer eine zwielich­ tige Kunst 56 und moralisch umstritten 57 gewesen. Immer wieder habe sie Fehlentwicklungen 58 durchlaufen, die im polemischen Begriff der „Sophistik“ kulminieren. Gerade dieser „sophistische Aspekt“ der paulinischen Argumen­ tation steht im Fokus des Interesses der Studie von Vos. Er liest Paulus im Kon­ text der Rhetorik als „Kunst, recht zu behalten“59. Die faktische Durchset­ zungskraft und sophistische Tendenz der paulinischen Argumentation stehe dabei grundsätzlich in einer Spannung zur Selbstcharakterisierung des Apostels: Paulus gehe entschieden gegen den Vorwurf vor, er würde unredlich argumen­ tieren,60 diffamiere jedoch die gegnerische Seite und kritisiere deren „falsche Rede“61, entwickle also deutlich „persuasive Strategien“62 . Damit unterstreicht Vos den pragmatischen Aspekt paulinischen Argumentierens, denn „persuasi­ ve“ Strategien sind Ausdruck hoher Anpassungsfähigkeit des Redners an den Adressatenhorizont.63 Vor allem aber zeigt Vos, dass Paulus nicht nur mit „tech­ nischen“ (z. B. Autoritätsbeweisen) und „untechnischen“ Beweisen, d. h. dem „Arsenal logischer und hermeneutischer Techniken“64 arbeitet, sondern auch mit Mitteln, die aus rationaler Perspektive u. U. als unredlich oder fragwürdig 56 Vgl.

Vos, Argumentation, 1. Vgl. aaO. 4. 58  Vgl. aaO. 6. 59  AaO. 24. 60  Vgl. aaO. 25. 61 Ebd. 62  AaO. 26. 63  AaO. 24. 64  AaO. 25. 57 

26

I. Macht der Argumentation

erscheinen, in rhetorisch-pragmatischer Hinsicht jedoch höchst wirkungsvoll und zielorientiert sind. Vos’ Untersuchung ist damit als Plädoyer dafür zu lesen, Paulus’ Argumentation nicht zu verharmlosen oder zu rationalisieren, sondern als Kind ihrer Zeit zu verstehen. Wolfgang Fenske definiert „Argumentation“ kommunikationstheoretisch und in historisch-kritischer Verantwortung: „In einer Argumentation begründet ein Adressant (Sender) seine Aussage in einer be­ stimmten Situation/Zeit aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Vorgaben vor bestimm­ ten Adressaten.“65

Auch für Fenske bilden Rhetorik und Logik die geistesgeschichtlichen Rah­ menbedingungen und theoretischen Grundlagen für die paulinische Argumen­ tationsweise.66 Dementsprechend stehen in Fenskes Studie die Mittel der persuasio und die Figuren des Syllogismus und Enthymems im Vordergrund. Fenske bezieht darüber hinaus aber auch „inhaltliche, syntaktische, semantische, prag­ matische Brüche“67 mit in seine Analyse ein, so dass in der paulinischen Argu­ mentation ein Moment der (pragmatisch zu analysierenden) Unbestimmtheit bleibe, „weil Sprache gerade in dieser fragmentarischen, assoziativen Aus­ drucksweise schillernd ist.“68 Fenske wählt bewusst den Begriff der „Strate­ gie“69, d. h. er setzt bei Paulus ein planvolles, vorausschauendes und zielorien­ tiertes Argumentieren voraus. Für die Paulusbriefe und insbesondere den Römerbrief ist in der Tradition Rudolf Bultmanns immer wieder die Diatribe ins Spiel gebracht worden.70 Thomas Schmeller diskutiert im Rahmen seiner Untersuchung verschiedene Interpretationsansätze, die die Verteilung der hervorstechenden diatribenhaften Abschnitte im Römerbrief zu erklären versuchen.71 Weder „inhaltliche Krite­ rien“ – als seien überall dort, wo Paulus als „Lehrer“ auftrete, die diatribenhaf­ ten Elemente besonders dominant –72 noch der „Bezug zur Mündlichkeit“73 – als seien insbesondere die Abschnitte, die der Redeform näherstehen, diatri­ bisch durchsetzt – noch das Kriterium der „Unabhängigkeit von der konkreten

65 

Fenske, Verantwortung, 13. Vgl. aaO. 14. 67 Ebd. 68 Ebd. 69  AaO. 15. 70 Vgl. Bultmann, Stil. 71  Schmeller, Diatribe, 407 nimmt eine Klassifizierung der Passagen vor: „Besonders deutliche Analogien“ zur Diatribe bestehen in Röm   1,18–2,11; 8,31–39 und 11,1–24. Röm  2 ,17–24; 7,7–25; 9,19–21 weisen „[d]eutliche Analogien“ auf. In Röm  3,1–8; 3,9a–c; 3,27–31; 4,1–2; 6,1f; 6,15; 9,14; 9,30–33; 10,18f; 12,3–8; 13,3b–4; 13,11–14; 14,4.10–12 be­ stehen „[e]ntfernte Analogien“. 72  AaO. 413. 73  AaO. 414. 66 

1. Klärung der Forschungsfrage im Kontext argumentationskritischer Ansätze

27

Kommunikationssituation“74 können Schmeller zufolge die Einbindung der dia­t ribischen Passagen erklären. Auch die „Stellung im Brief körper“ lasse keine Rückschlüsse darauf zu, wann und wozu Diatribe angewendet werde.75 Schmeller schlägt in Abgrenzung zu diesen Ansätzen das „Relationsprinzip“ vor: „Auffällig ist also zunächst, daß die ‚diatribenartigen‘ Abschnitte nicht in sich geschlos­ sen sind, kein eigenes Thema behandeln, sondern in Verbindung mit der theologischen Argumentation des vorangehenden oder folgenden Kontextes stehen. Besonders inter­ essant ist aber, wie diese Verbindung aussieht: alle Abschnitte bemühen sich (mehr oder weniger deutlich) darum, die in ihrem jeweiligen Kontext mit theologisch objektivie­ render Tendenz dargelegten Gegenstände zu subjektivieren und zu personalisieren. M. a. W.: Was im Kontext einigermaßen neutral und allgemeingültig vorgetragen wur­ de, wird in den ‚diatribenartigen‘ Stücken mit dem (meistens nur ansatzweise erreich­ ten) Ziel einer persönlich betreffenden Wirkung noch einmal behandelt.“76

Schmeller unterscheidet zwischen reflektierenden bzw. erklärenden Texten und solchen, in denen Paulus diatribenhaft verdichtet, was er vorher argumentativ erschlossen hat, insbesondere dann, wenn er annehmen musste, man könne (oder wolle) ihn missverstehen.77 Im Falle des Römerbriefes sei diese Strategie noch einmal von besonderer Bedeutung, weil Paulus die Adressatengemeinde nicht kenne und nicht voraussetzen könne, dass er Anerkennung bei ihr fin­ de.78 Argumentation erscheint im Lichte der Untersuchung Schmellers als kal­ kuliertes Wechselspiel von Erklärung und Zuspitzung. Aus persuasiver Perspektive zeichnet sich als Argumentationsziel ab, was den Adressaten unmittelbar zur Anschauung gebracht wird und sich vom übrigen Text als adressatenorientierte Ansprache abhebt. Die vorgestellten Forschungs­ ansätze betonen den strategischen und persuasiven Zug der paulinischen Argu­ mentation und fragen insbesondere nach dem Verhältnis der Passagen, in denen Paulus über theologische Sachverhalte reflektiert, zu denen, in denen er mit den Adressaten face to face kommuniziert. Adressatenorientierung und Aufmerksam­ keitslenkung dürfen bei einer argumentationskritischen Untersuchung also nicht ausgeblendet werden, vielmehr wäre es Aufgabe einer persuasiv dispo­ nierten Argumentationsanalyse, die subtile Führung und Lenkung der Adressa­ ten auf zentrale Aspekte und Schlussfolgerungen darzustellen.

74  AaO.

416. AaO. 417 f. 76  Vgl. aaO. 419 (Hv. i. O.). 77  Vgl. aaO. 421. 78  Vgl. aaO. 423. 75 

28

I. Macht der Argumentation

1.5. Zwischenbilanz: Die Bestimmung des Argumentationsziels eines paulinischen Textes als methodische Herausforderung Eingangs wurde behauptet, dass, wer nach dem Ziel der Verwendung des Sün­ denbegriffs im Römerbrief fragt, nach der paulinischen Argumentationsweise fragen müsse. Nun muss angesichts der verschiedenen argumentationskritischen Ansätze in der Paulusforschung die Ausgangsfrage nach dem Argumentationsziel im Römerbrief viel differenzierter betrachtet werden, als es zunächst den An­ schein hatte, denn je nach dem, welchen Argumentationsbegriff man für Paulus primär voraussetzen möchte, verändert sich die Frage nach dem Ziel paulini­ scher Argumentation. Ziel kann – gewissermaßen losgelöst vom Text – die Lösung eines kommunikativen Problems bzw. einer Konfliktsituation sein (1), die vernünftige Deduktion einer Schlussfolgerung (2), der Höhepunkt einer Struktur (3) oder auch eine rhetorische Zuspitzung, auf die Paulus seine Adres­ saten persuasiv – offensichtlich oder subtil – hinlenkt (4). Im folgenden Kapitel wird gezeigt, dass die griechisch-römische Rhetorik der Antike die verschie­ denen Elemente bzw. Aspekte des Argumentierens, wie sie von der Forschung untersucht werden, in eine zusammenhängende Theorie integriert, die in der Dreidimensionalität von Redner, Gegenstand und Publikum ein zielorientiertes Sprachsystem entwirft, das überzeugen soll. Diese Theorie wird dabei helfen, den Skopus der paulinischen Argumentation zu ermitteln.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie und ihre heuristische Relevanz für die Auslegung theologischer Texte des hellenistischen Judentums 2.1. „…non tam ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta“79 – Rhetorik als Skopustheorie? Die antike Rhetorik wurde nicht erst im 20. Jahrhundert als heuristisches Rah­ menmodell zur Analyse biblischer Texte herangezogen. Sah schon Augustin in Paulus das ciceronische Ideal des „orator perfectus“ verwirklicht und konnte dessen Briefe als Musterbeispiele eines ausgewogenen, verhaltenen Lehrstils le­ sen,80 hat in der Reformationszeit vor allem Melanchthon eine rhetorische Ana­ lytik entwickelt, mit der er nicht nur römische und griechische Klassiker, son­ dern auch biblische, vor allem paulinische Texte einer eingehenden rhetori­ schen Kritik unterzog. So unterscheidet der Reformator konsequent zwischen dem präskriptiven Charakter der Rhetorik und ihrem deskriptiven Nutzen: „[…] non tam ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena 79 

80 

Melanchthon, Elementa Rhetorices, 22. Vgl. Aug. doctr. IV, 5–7.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

29

scripta […]“81. Die antike Rhetorik solle nicht in erster Linie als Anleitung zur Redenproduktion, sondern vielmehr als Methode dienen, um den Skopus von Texten, auch biblischer Texte, zu bestimmen.82 Was ist der Skopus? In den ­Elementa Rhetorices (1531) verwendet Melanchthon den Begriff propositio i. S. eines präskriptiven Fachterminus: propositio ist das Anliegen, das der Redner bei der Ausarbeitung seiner Rede oder Predigt verfolgt.83 Den Begriff „Skopus“ nutzt er als analytischen Komplementärbegriff: Der „scopus orationis“ wird als „finis ora­ tionis“, „praecipua intentio“ oder „summa consilij“ von den Rezipienten identifi­ ziert.84 Das ganze Verstehen eines Textes hängt für Melanchthon also davon ab, ob der Skopus adäquat erfasst worden ist. Bei der Identifizierung des Skopus kann die Kenntnis der Redegattungen helfen, anhand derer die Rede einer bestimm­ ten Gebrauchsform (beratend, anklagend, belehrend oder ermahnend) zugeord­ net wird,85 auf Textebene kristallisiert sich der Skopus als eine organisierende Mitte, von der aus der Text seine Struktur, seine Richtung und sein Woraufhin erhält. Den Skopus zu verfehlen, führe zwangsläufig dazu, Nebengedanken eines Textes falsch zu akzentuieren, was sich bei der Lektüre biblischer Texte als beson­ ders fatal erweise.86 So kann Melanchthon den Verfall des sprachlichen Triviums mit dem Verfall der abendländischen Theologie unmittelbar in Beziehung zuein­ ander setzen: Nur weil die Zentralaussage, insbesondere der paulinischen Texte, aus den Augen verloren wurde, konnte ihre Auslegung durch philosophische und scholastische Interpretamente verdunkelt werden.87 Die genuin theologische Aufgabe einer rhetorisch disponierten Exegese biblischer Texte besteht nun dar­ in, ihren Fluchtpunkt festzustellen, denn der Skopus eines Textes erweist sich als Kriterium der Unterscheidung von Haupt- und Nebensache. Melanchthons Frage nach dem Skopus antizipiert gewissermaßen das Spannungsver­ hältnis von Interpretation und Überinterpretation, dem sich im 20. Jahrhundert vor allem Umberto Eco gewidmet hat.88 Nach Eco besteht das Interpretieren eines Textes in der Annäherung des empirischen Lesers an den Modell-Leser: „Ein Text ist ein Me­ 81 

Melanchthon, Elementa Rhetorices, 22. ebd.: „Haec utilitas mouit homines prudentes ad excogitanda praecepta, ut in commune consulerent omnibus, et adolescentes, non tam ad recte dicendum, quam ad pru­ denter intelligenda aliena scripta praepararent.“ Vgl. zum Skopus in der antiken Rhetorik Stoellger, Skopus, 947–949, zur Bedeutung des Skopus bei Luther aaO. 950 f. Vgl. zu Me­ lanchthons rhetorischer Auslegung der Paulusbriefe ausführlich Classen, Rhetorical Criti­ cism, 144–160. 83 Vgl. Melanchthon, Elementa Rhetorices, 60: „quae sit principalis quaestio, seu pro­ positio, quae continet summam negocij, ad quam omnia argumenta referenda sunt, velut ad principalem conclusionem“. Vgl. auch aaO. 72. 84 Ebd. 85  Vgl. aaO. 36. 86  Vgl. aaO. 62. 87 Vgl. hierzu insbesondere Melanchthon, Wittenberger Antrittsrede, 46.48.59f (= CR 11; 17 f.24f ). 88  Vgl. zur Grundlegung des Begriffspaars Interpretation und Überinterpretation insbe­ sondere Eco, Interpretation, 52–74 und Eco, Grenzen, 47–53. 82 Vgl.

30

I. Macht der Argumentation

chanismus, der seinen Modell-Leser hervorbringen möchte. Der empirische Leser ist ein Leser, der eine Vermutung über den vom Text postulierten Modell-Leser aufstellt. Das heißt, daß der empirische Leser nicht über die Intentionen des empirischen Autors, sondern über die des Modell-Autors Vermutungen anstellt. Der Modell-Autor ist jener Autor, der, als Textstrategie, einen bestimmten Modell-Leser hervorbringen möchte. […] Der Text ist weniger ein Parameter zur Bestätigung der Interpretation als vielmehr ein Objekt, das die Interpretation bei dem zirkulären Versuch, sich aufgrund dessen zu bestätigen, was sie konstituiert, selber erschafft. Zweifellos ein hermeneutischer Zirkel par excellence.“89 Inwiefern der Text selber, d. h. die „intentio operis“90 dazu beiträgt, den Modell-Leser hervorzubringen, und damit doch zum kritischen Parameter seiner eigenen Interpretation werden kann,91 wird von Eco eingehend diskutiert:92 Es müsse Merkmale des Textes geben, die die eine Interpretation „ökonomischer“ als die andere erscheinen lassen. Für Melanchthon gewährt die Rhetorik ein verlässliches Rahmen­ modell, das helfen kann, die intentio operis eines Textes einzugrenzen, indem sie nach dessen Gravitationszentrum fragt.

Das folgende Kapitel greift Melanchthons Ansatz konstruktiv auf. Zum einen wird gezeigt, dass die antike Argumentationstheorie in der Tat auf mehreren Ebenen zielorientiert und im höchsten Maße pragmatisch disponiert ist. Die Argumentation (lat. argumentatio) bildet neben exordium, narratio und peroratio einen festen Bestandteil der Rede93 und deren sachlichen Kern, den logos. Aris­ toteles’ Rhetorik, Ciceros De Inventione, die Rhetorica ad Herennium oder Quinti­ lians Institutio Oratoria stellen auf verschiedenen ästhetischen Ebenen weitrei­ chende sprachphilosophische und anthropologische Überlegungen zur Findung und Gestaltung von Argumentationen an, die ein Redner beachten soll, möch­ te er seine Kommunikationsziele realisieren.94 Zum anderen wird gezeigt, dass sich konkrete theologische bzw. religiöse Argumentationen mit Hilfe der griechisch-römischen Argumentationstheorie beschreiben lassen – kurzum: Die Argumentationstheorie erweist sich nicht nur als Produktionstheorie, sondern hat auch deskriptive Relevanz. Wie lässt sich 89  AaO. 90 Ebd.

91  AaO.

49.

51. AaO. 139–163. 93 Vgl. Stroh, Macht der Rede, 49 f. Die Abfolge der Redeteile könne durchaus variie­ ren (vgl. aaO. 98f ). Gelegentlich tauche die argumentatio vor der narratio auf und lenkt die Adressatenperspektive auf die narratio. Gelegentlich werden die Redeteile auch „vermengt“ (vgl. aaO. 104: bei Andokides; vgl. aaO. 193: bei Demosthenes). Die narratio könne teilweise durch argumentative Einschübe unterbrochen und bekräftigt werden. 94 Die Texte und Übersetzungen folgen, wo nicht anders angegeben: Nüsslein, Th. (Hg.): Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern (lateinisch-deutsch), Düsseldorf/Zürich 1998; Nüsslein, Th. (Hg.): Rhetorica ad Herennium (lateinisch-deutsch), München 1994; Rahn, H. (Hg.): Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher (lateinisch-­ deutsch), Darmstadt 52011; Ross, W.  D. (Hg.): Aristoteles. Ars rhetorica. Griechischer Text (Scriptoum classicorum bibliotheca), Oxford 1959; Sieveke, F. G.: Aristoteles. Rhetorik, München 1980. 92 

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

31

der heuristische Wert der Argumentationstheorie überprüfen? Markus Tiwalds und Folker Siegerts Untersuchungen weisen darauf hin, dass eine argumenta­ tionskritische Perspektive auf paulinische Texte keinesfalls hermetisch aus der griechisch-römischen Rhetorik entwickelt werden darf, sondern auch die Ar­ gumentationspraxis des hellenistischen Judentums berücksichtigen muss bzw. das Verhältnis von Schulrhetorik und theologischer Argumentation in antiken jüdisch-hellenistischen Texten näherhin zu klären hat. Siegert erinnert daran, dass die Septuaginta nicht nur als normative und narrative Quel­ le der Identität, des Geschichtsbildes und der Religion des Judentums, sondern auch als Kompendium von Argumentationsformen, also als wesentliches Artikulations- und Sprachsystem des hellenistischen Judentums verstanden werden müsse. Sie sei „das Ma­ terial, das auch Paulus vorlag […]: wenn irgendetwas, so hat die Septuaginta die Sprach­ kompetenz des Paulus geprägt; […] Die Reichhaltigkeit argumentativer Mittel, die sie bietet, enthebt uns weitgehend der Frage, an welche Schule zu Tarsus oder Jerusalem Paulus noch gegangen sein muß, um so sprechen zu können.“95 Tiwald verortet Paulus „in Schriftgebrauch und Schriftargumentation voll und ganz in den damals üblichen Usancen“96 des jüdischen Synagogengottesdienstes und macht mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass Paulus „keine Schulung in pagan-hellenistischer Rhetorik“ aufwei­ se.97 Die Synagogenpredigt spielt in Tiwalds Entwurf die Rolle einer Vermittlungs­ instanz: Durch sie sei Paulus zwar nicht rhetorisch geschult, aber doch in Form von Imi­tation und Assimilation geprägt gewesen. Diese Prägung erstrecke sich letztlich nicht nur auf die Anwendung rhetorischer Einzelelemente, sondern auch auf seinen „Argumentationsstil“98 oder stereotype „Argumentationsmuster“99. Beide Begriffe werden in Tiwalds Untersuchung jedoch nicht genauer definiert und die jüdischen Vor­ bilder paulinischer Argumentationspraxis bleiben im Dunkeln: Diatribenstil100 und die Verwendung von „Versatzstücke[n] aus jüdischen und urchristlichen Predigten“ bei Paulus und Lukas101 seien nur vage Hinweise, aus denen sich die Argumentationsweise der Synagogenpredigt keineswegs „herausdestillieren“102 lasse.

In Anschluss an die Untersuchungen von Siegert und Tiwald, die davon ausge­ hen, dass Paulus nicht unmittelbar durch rhetorischen Unterricht geschult, son­ dern vielmehr indirekt durch eine jüdische Argumentationskultur geprägt wur­ de, sollen die theoretischen Überlegungen der griechisch-römischen Rhetorik anhand konkreter Textbeispiele aus dem antiken hellenistischen Judentum ins Prakti­ sche gewendet werden. Dies stellt freilich ein methodisch heikles Unterfangen dar: Können mit Hilfe der antiken Rhetorik Argumentationen analysiert wer­ den, selbst wenn ein schulrhetorischer Hintergrund nicht evident ist? Melanch­ 95 

Siegert, Argumentation, 23. Tiwald, Hebräer, 62. 97  AaO. 129. 98  AaO. 130. 99  AaO. 129. 100  Vgl. aaO. 134. 101  AaO. 135. 102  AaO. 136. 96 

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I. Macht der Argumentation

thon jedenfalls zeigt sich zuversichtlich, dass die Rede – hier sei hinzugesetzt: auch die Argumentation als Teilsegment der Rede – ein Sprachsystem darstelle, das sich unabhängig von rhetorischer Ausbildung realisiere.103 Freilich kann Melanchthon dann auch wie ganz selbstverständlich die biblischen Texte einer rhetorischen Untersuchung unterziehen.104 Wenn Argumentation tatsächlich ein ‚natürliches Sprachsystem‘ darstellt, das sich in jeder politischen, juristischen oder theologischen Konfliktsituation manifestiert, und wenn es sich bei den rhetorischen Produktionsstadien der inventio, dispositio und elocutio um Prozesse handelt, die selbst ohne rhetorische Ausbildung nachvollzogen werden, müsste auf der einen Seite die präskriptive Funktion der griechisch-römischen Rheto­ rikhandbücher relativiert werden – sie erschienen dann als theoretische Margi­ naltexte einer blühenden Argumentationskultur, die diese kritisch in den Blick nehmen und zu formalisieren und zu regulieren versuchen. Auf der anderen Seite würde sich so ihr heuristisches Potential erweisen, böten sie doch, da sie die rhetorische Ästhetik der Zeit widerspiegeln, eine belastbare Methodologie und Terminologie, um das Sprachphänomen „Argumentation“ adäquat inter­ pretieren und Rückschlüsse auf den ihm zugrundeliegenden Gestaltungsprozess ziehen zu können. Für diese „praktische“ Perspektive gestaltet sich die Auswahl von Quellen­ texten schwieriger als für die theoretische. Die Textauswahl, die den exem­ plarischen Studien zugrunde liegt, soll hier von drei Seiten begrenzt werden. Erstens kommen im Spiegel der griechisch-römischen Argumentationstheorie keine argumentativen Kleinformen wie z. B. Kurzexegesen, die spezifischen Auslegungsregeln folgen,105 oder abduktive Argumentationen in rabbinischer Zeit106 in Frage, sondern rhetorisch disponierte Mesotexte, d. h. argumentationes als Bestandteil größerer literarischer Zusammenhänge. Als wichtigstes Such­ kriterium kann dabei die Situation des theologischen Streits fungieren: Wo Dis­ sens über eine theologische Frage herrscht, werden Argumentationen nötig.

103 Vgl.

Melanchthon, Elementa rhetorices, 20–24. loci communes in ihrer Erstauflage von 1521 wollen dezidiert keine Dogmatik sein, sondern geben sich als eine Leseanweisung und ‚inventorische Untersuchung‘ der wesentli­ chen biblischen Begründungszusammenhänge zu verstehen (vgl. Melanchthon, Loci com­ munes, 15.25). Sie entstehen aus der Grundüberzeugung, dass die Rhetorik ein probates Mittel der kritischen Bibellektüre darstelle: Durch sie könne man die Hauptthemen der Theologie aus der Heiligen Schrift gewinnen und in die Heilige Schrift zurücktragen. Die Loci stellen dogmatische Themenbereiche dar, denen einzelne Schriftstellen zugeordnet werden können. Dieser dynamische Prozess ist deutlich unterschieden von der scholastischen Lehrmethode, die „ad frigidas et alienas a Christo disputationes“ (aaO. 24) führe. 105 Vgl. Müller, Qal-Wachomer, 73–75. Vgl. auch Stemberger, Talmud und Midrasch, insb. 26–28. 106  Die rechtshistorische Untersuchung von Reichmann behandelt in erster Linie dialek­ tische Kleinformen und nimmt keine größeren Redezusammenhänge in den Blick, vgl. die durchaus präganten Beispiele bei Reichmann, Abduktives Denken, 39–50. 104 Die

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

33

Zweitens wird die Auswahl der Texte vom Anliegen des zweiten Teils der Untersuchung geleitet. Folgende inhaltliche und theologische Merkmale pauli­ nischer Argumentation im Römerbrief können als Kriterien dienen: 1. Paulus legt alttestamentliche Texte aus (z. B. in Röm  4,1–22), arbeitet also i. w. S. exegetisch. 2. Paulus tritt mitunter prophetisch-apokalyptisch und mit Emphase auf (z. B. in Röm  1,18–32; 2,1–5). 3. Für die paulinischen Briefe spielen ethische Fragestellungen bzw. der parä­ netische Aspekt eine große Rolle (Röm  6,1–14). 4. Paulus arbeitet mit Offenbarungsinhalten und dem Alten Testament als Of­ fenbarungsquelle (Röm  3,9–31, insbesondere 3,21–26). 5. Paulus profiliert die religiöse Identität seiner Adressaten, indem er die Merk­ male der eigenen religiösen Gruppe definiert und die Abgrenzung gegen­ über anderen Gruppen erörtert. Drittens sollen solche Texte herangezogen werden, denen die Forschung bereits ein argumentatives oder zumindest rhetorisches Potential zugesprochen hat. Folgende (prominente) Texte bieten sich auf der Grundlage dieser Kriterien an: 1.  Philos Pentateuchauslegung als exegetische Argumentation,107 2. d ie Epistel Jeremias als i. w. S. prophetische Argumentation, die freilich ins Paränetische tendiert, wenn der Verfasser auf die Abkehr von den babyloni­ schen Götzen insistiert, 3. d as Testament Judas aus den Patriarchentestamenten als ethische bzw. parä­ netische Argumentation,108 107  Philos Exegesen lassen sich drei großen Schriftenreihen zuordnen (quaestiones et solutio­ nes in Genesim et Exodum, allegorischer Kommentar und expositio legis). De opificio mundi ist zur expositio legis zu zählen, wobei die Zuordnung freilich nicht unumstritten ist (vgl. Böhm, Rezeption, 23–29). Nach Niehoff, Exegesis, 169–185, insb. 175f sei die expositio legis dem Spätwerk Philos zuzurechnen, das unter dem Eindruck der Rom-Gesandtschaften entstan­ den sein könne und sich vor allem an Nicht-Juden wende. 108  Entstehungszeit, -ort und Textgeschichte der Patriarchentestamente werden kontro­ vers diskutiert. Die Forschung hat versucht, christliche Redaktionsschichten und Interpola­ tionen zu isolieren, ein Grundbestand des Textes dürfte jedoch älter sein. Zwei Interpreta­ tionsmodelle dominieren die Forschung (vgl. Ulrichsen, Grundschrift, 24–26): Das eine Interpretationsmodell geht von einer jüdischen Grundschrift aus, die zuerst jüdisch, dann christlich überarbeitet worden ist. Das andere geht von einer christlichen Redaktionsarbeit aus, die die verschiedenen jüdischen Quellen erst zusammenstellt. Dabei variiert die ange­ nommene Entstehungszeit der Testamente vom 2. vor- bis zum 2. nachchristlichen Jahrhun­ dert. Becker betont, dass sich die christlichen Interpolationen gut abgrenzen lassen und eine Grundschrift rekonstruierbar sei (vgl. Becker, Einleitung, 23). Dann kann der Text im Alexan­d ria des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, aufgrund der Angabe in TNaph 5,8 wahrscheinlich zwischen 200–174 datiert werden (vgl. aaO. 25). Die mannigfaltigen Proble­ me der Textgeschichte können hier nicht vertieft werden.

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I. Macht der Argumentation

4. d ie Rede des Eliphas in Hi 4f als Vertreterin einer biblischen, d. h. alttesta­ mentlichen Argumentation, 5. d ie Rede des Hohepriesters Eleazar im Aristeasbrief, die eine apologetische bzw. protreptische Argumentation darstellt. Trägt das synthetische Miteinander von Theorie und Praxis auch der Kritik der Forschung an einem paulinischen Argumentationsbegriff, der hermetisch aus dem rhetorischen Schulbetrieb entwickelt wird, Rechnung, korrelieren die un­ ter 1. erschlossenen Forschungsfelder zur paulinischen Argumentation mit der folgenden Darstellung der antiken Argumentationstheorie. Ein kommunikati­ ves Ziel mit Hilfe einer Argumentation zu erreichen, macht es erforderlich, die stofflichen Möglichkeiten in einer inventio zu sondieren (2.1.), eine rationale Verstehensbewegung zu entwickeln (2.2.), eine Begründungsstruktur zu kon­ struieren (2.3.) und die Aufmerksamkeit der Adressaten so zu lenken, dass sie tatsächlich überzeugt werden (2.4.). Dies soll im Folgenden gezeigt werden.

2.2. Zielorientierung auf inventorischer Ebene: Argumentation als strategisches Abrufen etablierter Begründungskonventionen 2.2.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik In der inventio legt der Redner die Strategie einer Argumentation fest, indem er Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung von wahrscheinlichen und wah­ ren Aussagen im Spannungsfeld von Argumentationsziel und Adressatenhori­ zont sondiert. Gerd Ueding und Bernd Steinbrink definieren: „Inventio ist die Bezeichnung für das Auffinden der Gedanken und stofflichen Möglich­ keiten, die sich aus einem Thema bzw. aus einer Fragestellung entwickeln lassen. Vor­ aussetzung dafür ist das sorgfältige, gründliche Studium aller Umstände, die mit der zu behandelnden Sache in Zusammenhang stehen […].“109

Die argumentatio, sei sie positive Beweisführung (probatio) oder Widerlegung (confutatio), beruht auf Argumenten, Indizien und Exempeln, die anhand kodi­ fizierter Suchraster, der loci, ermittelt werden. Cicero widmet sich den loci u. a. im zweiten Teil seiner Frühschrift De Inventione. Dabei behandelt er in erster Linie die loci, die für eine Gerichtsrede relevant sind, geht aber davon aus, dass sich die Methode ihrer Befragung mühelos auf beratende oder Festrede übertra­ gen lasse.110 Wer argumentiert, befindet sich stets in einer Situation des Streits: Die besonders von Cicero forcierte Konfliktsituation ist mehr als bloße Rede­ kulisse, sondern Ursprung der Findung der Argumente. Cicero schildert para­ digmatisch einen Mordfall und benennt drei wesentliche Horizonte, die für die Konstruktion von Begründungszusammenhängen relevant sind: 109  110 

Ueding/Steinbrink, Rhetorik, 214. Vgl. Cic. inv. II,12 (Nüßlein 172f ).

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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– Der Vorwurf des Verbrechens („intentio criminis“: „Du hast getötet“), – dessen Zurückweisung („depulsio“: „Ich habe nicht getötet“) – und die sich daraus ergebende Streitfrage („quaestio“ bzw. „constitutio“: „ob er getötet hat“). Aus dem Spannungsfeld von Anklage, Verteidigung und Beurteilung ergeben sich die loci, also die Suchraster, anhand derer sich die Argumente finden lassen. Cicero geht von drei Klassen von loci aus, die mit der Tat in Verbindung stehen: – Die loci a causa umfassen die Gründe für die Tat, die bekräftigt oder entkräftet werden sollen. Hier geht es um die (natürlich parteiische, d. h. für die Ankla­ ge oder Verteidigung relevante) Reflexion und Auswertung aller Aspekte, die mit den Motiven zur Tat zu tun haben. – Die loci ex persona umfassen alle Persönlichkeitsaspekte der am Prozess Be­ teiligten, worunter Geschlecht, Name, Herkunft, aber auch Lebensweise, Schicksal oder Verwandtschaftsverhältnisse fallen, die positiv oder negativ ausgewertet werden können. – Die loci ex facto ipso fächern alle Aspekte der Tat an sich auf: ihre Ausführung, ihr Verlauf, ihre Folgen etc.111 – Über diese loci, die mit der Tat und den Tatbeteiligten unmittelbar in Verbin­ dung stehen, hinaus benennt Cicero die loci communes112 , die vor allem der Steigerung („amplificatio“) einer sicheren Sache dienen.113 Es handelt sich um loci, die herangezogen werden, um die Beweisführung der Gegenseite zu diskreditieren (z. B. Diskreditierung von Zeugen) bzw. die eigene zu stützen (z. B. die Bekräftigung von Zeugenaussagen) oder um Empörung oder Weh­ klagen hervorzurufen (z. B. die besondere Verwerflichkeit eines Elternmor­ des).114 Cicero mahnt in diesem Zusammenhang an, dass die loci communes nur äußerst sparsam in die argumentatio einfließen dürfen: Im Idealfall sollen sie unterstüt­ zend wirken und die sicheren Beweise flankieren.115 Neben dem Argument bilden die Indizien die zweite Stütze der probatio. Quintilian teilt sie in zwingende (neccesaria) und nicht zwingende (non neccesaria) Indizien ein, abhängig von der Wahrscheinlichkeit und Gültigkeit der Kausalkette, in der sie stehen. Die zwin­ genden legen eine Handlung nahe, die nicht zwingenden weisen auf eine Handlung hin und haben nur durch andere Beweise Kraft.116 Beispiele bilden bei Quintilian das dritte Kunstmittel der probatio und bieten Vergleichspunkte über die Momente der similitudo, des Unähnlichen oder des Entgegengesetzen. Sie sind in Quintilians Rhetorik Teil der 111 

Vgl. Cic. inv. II,16 (Nüßlein 176f ). Vgl. Cic. inv. II,48f (Nüßlein 204–207). 113  Vgl. Cic. inv. II,48 (Nüßlein 204f ). 114  Vgl. ebd. 115  Vgl. Cic. inv. II,49 (Nüßlein 206f ). 116  Vgl. Quint. inst. V,9,1–16 (Rahn 542–547). 112 

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„inductio“, eine Nahelegung durch ein Beispiel: Wer im Verhör (oder im Monolog, dann rhetorisch) in Hinblick auf die Frage, wer der edelste Mensch sei, das Beispiel anführt: „Was ist der edelste Apfel? Nicht der beste?“, legt die Antwort durch das Mo­ ment der Ähnlichkeit nahe.117

Die Herleitung der Argumente aus den loci ist durch die Enzyklopädie des Red­ ners und den Verstehenshorizont der Hörer begrenzt. Nur die hinsichtlich des gegebenen Publikums angemessenen loci sollten abgerufen werden. Dies erfor­ dert vom Argumentierenden eine genaue Kenntnis seiner Adressaten und der Gegenstände, über die er spricht. Hans Georg Coenen fasst zusammen: „Der rhetorisch argumentierende Parlamentarier […] läßt die logischen Gesetze unter­ schwellig wirken und nennt nur Zwischenglieder einer Ableitungskette. Der Natur­ wissenschaftler versucht durch Beobachtung und Experiment neue Erkenntnisse zu gewinnen, die er als Argumentationsgrundlage nutzen kann. Der Anwalt, wie ihn die klassische Rhetorik beschreibt, schöpft seine Argumente aus dem schon vorhandenen Kenntnis- und Meinungsreservoir.“118

Insbesondere Ciceros Argumentationstheorie ist weder formalistisch noch äs­ thetizistisch, sondern im hohen Maße pragmatisch. Die Gewandtheit des Red­ ners bemisst sich vor allem an seiner Tugend, über die Welt und den Menschen Bescheid zu wissen,119 vor allem aber müsse er die Fähigkeit zur Abstraktion speziellerer Fragen haben: Nur durch eine möglichst breite ἐγκύκλιος παιδεία kann der Redner die Verstehenshorizonte seiner Hörer antizipieren und „versu­ chen, jeden speziellen Fall (d. h. eine Hypothese oder finite Frage) zu einem allgemeinen (einer These oder infiniten Frage) zu machen.“120 Der prak­ tisch-philosophische Impetus der ciceronischen Rhetorik weist darauf hin, dass die antike Argumentationstheorie Züge einer Rezeptionsästhetik trägt, die ständig zwischen der Wahrheit des Gegenstandes und der dringenden Notwen­ digkeit ihrer Vermittlung und Applikation auf die Adressaten oszilliert.121 Der inventorische Aspekt des Argumentierens besteht also konkret darin, dass der Argumentierende in Abwägung der Enzyklopädie und Erwartungshaltung sei­ ner Adressaten und des Gegenstands seiner Rede solche Begründungsmuster abruft und gestaltet, die seinem Argumentationsziel zuträglich sind. 117 

Quint. inst. V,11,4 (Rahn 598f ). Coenen, Rhetorisches Argumentieren, 67. Zum Verhältnis von Philosophie und Rhetorik vgl. grundlegend Andersen, Garten der Rhetorik, 184–193. Die beiden Fächer berührten sich in vielen Punkten, so z. B. in ihren praktischen Argumentationsübungen, seien aber vor allem darin produktiv aufeinander bezogen, dass die Dialektik die Unterschei­ dung von Wahrem und Falschem einübe, während die Rhetorik die „sprachliche Ausdrucks­ fähigkeit“ erweitere (vgl. aaO. 193). 119 Vgl. Ueding/Steinbrink, Rhetorik, 34. 120  AaO. 35. 121  Vgl. zur Aufarbeitung dieses schleichenden Entfremdungsprozesses zwischen Rheto­ rik und Strafprozess und zur Entstehung einer ausufernden Schulrhetorik Eisenhut, Ein­ führung, 68–72. 118 

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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2.2.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Spuren der inventio in hellenistisch-jüdischen Texten Die theoretischen Erwägungen sollen nun ins Praktische gewendet werden: Gesucht werden Spuren der inventio in theologischen Texten des hellenistischen Judentums. Ein prägnantes Beispiel für die strategische, am Ziel der Rede orientierte Abrufung etablierter Begründungszusammenhänge findet sich in der Rede des Hohenpriesters Eleazar im Aristeasbrief. Sie stellt einen Schlüsselmoment und Höhepunkt des Briefes dar:122 Aristeas, Protagonist des Briefes und Gesandter des ägyptischen Königs, trifft auf den Jerusalemer Hohepriester und befragt ihn hinsichtlich der Strenge und Legitimität der jüdischen Speisegebote. Da in der Rede die Frage nach Abgrenzung und Stabilisierung der religiösen Identität des (alexandrinischen) Judentums besonders prägnant zum Ausdruck kommt, spielt sie in der Diskussion darüber, ob es sich beim Aristeasbrief um eine jüdische Apologie, identitätsstiftende bzw. selbstaffirmative oder eine protreptische Schrift handelt, eine zentrale Rolle. Victor Tcherikover vertritt die Auffassung, der Aristeasbrief müsse als identitätsstiften­ de, d. h. nach innen gerichtete, konsolidierende Schrift verstanden werden. Er führt dafür mehrere Gründe an: 1. Die Literatur des alexandrinischen Judentums weise gene­ rell die Tendenz auf, sich nach innen, d. h. an jüdische Leser zu wenden. 2. Es bestehe in ptolemäischer Zeit keine Notwendigkeit, eine Apologie von der Qualität eines Jo­ sephus („Contra Apionem“) zu verfassen. 3. Das Kolorit der Schrift, das sich jüdischen Hörergewohnheiten anpasse und mit seiner Tendenz zur „glorification“ eher für jüdi­ sche Diasporajuden zugänglich sei, spreche für die konsolidierende Tendenz. 4. Die Wahl des Pseudonyms „Aristeas“ wäre für pagane Leser durchschaubar gewesen. 5. Die Rede des Eleazar scheine bei allem Interesse für die jüdische Ethik, das in der alexan­ drinischen Oberschicht vorhanden gewesen sein mag, für Griechen insgesamt nicht von Belang gewesen zu sein, weil es sich um zu voraussetzungsreiches Expertenwissen han­ dele.123 Die Vertrautheit mit der griechischen Kultur und der grundsätzliche Respekt ihr gegenüber stoßen sich Tcherikover zufolge jedoch mit der schroffen Distanzierung, die der Hohepriester Eleazar in seiner Rede und vor allem mit dem Bild der „Wälle aus Eisen“ propagiere,124 um das Judentum vor paganen Einflüssen zu schützen. Der histo­ rische Hintergrund dieser theologischen Erwägungen sei in einem schleichenden Assi­ milationsprozess im 2. Jahrhundert v. Chr. zu erblicken, in dem viele alexandrinische Juden sozial und politisch aufstiegen und ihre jüdische Identität hinterfragten bzw. aus Karrieregründen verleugneten.125 George E. Howard liest den Aristeasbrief hingegen als Apologie und Selbstlegitimation des alexandrinischen gegenüber dem Jerusalemer Judentum. Die Rede des Hohenpriesters Eleazar überführe das palästinische Judentum seiner sektiererischen, weil exklusivistischen Grundausrichtung und seiner grundsätz­ 122 Vgl. zur Stellung der Rede im Gesamtauf bau des Aristeasbriefs Wright, Aristeas, 248–251. 123 Vgl. Tcherikover, Ideology, 60–63. 124  Vgl. aaO. 63. 125  Vgl. aaO. 80 f.

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lichen Verfehlung des Gesetzes.126 Der Jerusalemer Hohepriester trete gegenüber der ptolemäischen Delegation weder „superior or arrogant“ auf127 und lege die Gesetze so aus, dass offenkundig sei, dass das palästinische Judentum sie verfehle, da sie auf „piety and justice“ abzielten.128 Dementsprechend bestimmt Howard dann auch die Gattung der Schrift: „The genre of literature to which this Letter belongs is apology. It is, however, contrary to popular opinion, an apology to Palestinian Judaism rather than to the Gen­ tile world. In this respect it points out the main difference between Palestinian Judaism and Diaspora Judaism. The former was sectarian, the latter ecumenical.“129 Nach Rein­ hard Feldmeier dokumentiert die literarische Produktion Alexandriens „das Bemühen des Diasporajudentums, das jüdische ‚Gesetz‘ und den jüdischen Glauben vor dem Fo­ rum der hellenistischen Welt zu rechtfertigen“130. Durch die Überzeugungsarbeit des Hohenpriesters Eleazar gelange der Hof beamte Aristeas zur Anerkennung des jüdischen Gesetzes und der jüdischen Orthopraxie „als Inbegriff und Ziel dessen, was die pagane Philosophie als gut und wahr erkannt hat“131 und erweise sich auf diese Weise als „– in der späteren Terminologie – ein ‚Gottesfürchtiger‘. Der ideale Grieche ist sozusagen ein ‚anonymer Jude‘, wie umgekehrt der gebildete Jude das hellenistische Menschenideal verkörpert.“132 Die Tendenz zur Negativdarstellung des Heidentums in der Eleazarrede sieht Feldmeier „in scheinbarem Widerspruch zu dem hier dokumentierten Bemühen, die Tora vor dem Forum der paganen Philosophie als vernünftig zu rechtfertigen“133. So bestimmt er den Aristeasbrief aufgrund der Darstellung des Judentums als überlegene Lebenspraxis als eine Art Werbeschrift, die die „religiösen Überzeugungen der Menge“ und die „Lebensführung der Masse“ kritisiere.134 Feldmeier urteilt: „Das Judentum wird dabei gewisserma­ ßen mit dem Ideal der hellenistischen Welt identifiziert, die Juden verkörpern nach der Darstellung des Aristeasbriefes in geistig-religiöser wie in ethischer Hinsicht das, was die anderen erstreben.“135 Auch Lutz Doering macht darauf aufmerksam, dass die textimmanente Unterscheidung von intendierten und expliziten Adressaten ein besonderes Kunstmittel des Briefes darstelle, durch das den jüdischen Lesern eine Fremdwahrnehmung der eige­ nen Religion ermöglicht werde: „[…] Jews might profit from reading Arist. not by di­ rectly identifying with the Gentile addressee but by rereading this communication ‚bet­ ween Gentiles‘ – in other words: by receiving it in the mode of ‚reading someone else’s letter‘.“136 Judith Lieu legt die schillernde Metapher der undurchdringlichen Mauern in der Rede Eleazars unter der Überschrift „Boundary and Identity in Early ‚Judaism‘ and ‚Christianity‘“137 und im Kontext der rhetorischen Etablierung von boundary markers aus, die akut in Frage gestellt werden, d. h. die sich „permeabler“ erweisen, als Eleazar es in seiner Rede darstellt.138 Gerade der Zusammenhang von Speisegeboten und sexu­ eller Enthaltsamkeit bzw. Domestizierung der Sexualität müsse vor diesem Hintergrund 126 Vgl.

Howard, Letter, 345. 346.

127  AaO. 128 Ebd.

129  AaO.

348. Feldmeier, Weise, 22. 131  AaO. 23 (Hv. i. O.). 132  AaO. 26 (Hv. i. O.). 133  AaO. 27. 134  AaO. 30 f. 135  AaO. 33. 136  Doering, Jewish Letters, 224. 137  Lieu, Walls, 297. 138  Vgl. aaO. 309: „Stability and continuity are claimed by appeal to the past, but this is a 130 

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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verstanden werden: Israel unterscheide sich von den anderen Völkern und müsse diese Unterscheidung internalisieren.139

Der Argumentation Eleazars liegt ein inventorischer Gestaltungsprozess zu­ grunde, der unmittelbar im Text greif bar wird. Der Autor des Aristeasbriefs erörtert – durch die Maske des Hohenpriesters – die rigorose Strenge der jüdi­ schen Speisegebote in einem weitreichenden theologischen Horizont und möchte deren Lebensdienlichkeit im Kontext anderer Frömmigkeitspraktiken des Judentums beweisen. Er abstrahiert von der konkreten Konfliktsituation, indem er bestimmte Axiome aktiviert: So werden die Gebote dadurch zustim­ mungspflichtig, dass sie auf den religiösen Kernbereich des Judentums zurück­ geführt und vor allem im monotheistischen Bekenntnis zu dem Einen Gott, der den Tun-Ergehen-Zusammenhang garantiert, verankert werden:140 „(131) Nun hat unser Gesetzgeber (νομοθέτης ἡμῶν) [Mose] zuerst die Gebote der Fröm­ migkeit und Gerechtigkeit erlassen (τὰ τῆς εὐσεβείας καὶ δικαιοσύνης ), und er lehrte jede Einzelheit (ἕκαστα περὶ τούτων) – nicht allein als Verbot, sondern auch als Belehrung (οὐκ παγορευτικῶς μόνον ἀλλ᾿ ἐνδεικτικῶς) – und belehrte [uns] auch über die schlimmen Folgen und die von Gott entstehenden Unglücke für die Schuldigen. (132) Vor allem und zuerst zeigte er (προϋπέδειξε γὰρ πάντων πρῶτον), dass ein Gott allein ist und seine Kraft durch alle Dinge offenbar wird, weil jeder Ort von seiner Herrschaft angefüllt ist, und er zeigt, dass nichts, was von Menschen auf Erden im Geheimen geschieht, für ihn verborgen ist (λανθάνει), sondern dass alles, was jemand tut – selbst das, was noch ge­ schehen wird (τὰ μέλλοντα γίνεσθαι) – für ihn offenbar ist (φανερά).“

Welchem Ziel dient der Rückgriff auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang und das monotheistische Bekenntnis? Die Passage von Arist 139–142 gibt Aufschluss über den Skopus des Textes: „(139) Weil nun der Gesetzgeber (νομοθέτης) [Mose], der weise war, dieses alles durch­ schaut hatte – wobei er von Gott mit der Erkenntnis aller Dinge ausgestattet wurde –, umgab er uns mit undurchdringlichen Wällen und eisernen Mauern (ἀδιακόποις χάραξι καὶ σιδηροῖς τείχεσιν), auf dass wir uns niemals mit den anderen Völkern vermischen – rein [oder: „geordnet“] an Körper und Seele, losgelöst von den irrwitzigen Lehren, den Einen Gott in der ganzen Schöpfung fürchtend. (140) Deswegen nennen uns die Ober­ priester der Ägypter, die Einsicht in viele Dinge haben und in solchen Sachen bewan­ dert sind, Menschen Gottes (ἀνθρώπους θεοῦ). Das steht den übrigen nicht zu – es sei denn, einer fürchtet Gott wahrhaftig –, aber sie sind Menschen des Essens und Trinkens und der Kleidung. (141) Denn ihr ganzer Wille richtet sich auf diese Dinge. Bei ihnen – also bei uns (τοῖς δὲ παρ᾽ ἡμῶν) [den Menschen Gottes] – zählen diese Dinge jedoch nichts, bei ihnen ist die Betrachtung (ἡ σκέψις) das ganze Leben hindurch auf die Herr­ schaft Gottes (τοῦ θεοῦ δυναστείας ) gerichtet. (142) Damit wir nun niemals verunreinigt conceit made necessary by the novelties of the present. Where rhetoric constructs the boundary as immutable and impenetrable, we may suspect actual invasion and penetration.“ 139  Vgl. aaO. 309 f. 140  Der griechische Text und die Verseinteilung folgen der Edition von Wendland, P.: Aristeae ad Philocratem epistula, cum ceteris de origine versionis LXX interpretum testimo­ nis, Leipzig 1900. Übersetzung hier und im Folgenden: PB.

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werden und – weil wir uns mit den schlechten Menschen abgeben – verdreht werden (διαστροφάς), umgab er uns von allen Seiten her mit Geboten wegen der Speisen und Getränke und wegen des Berührens und Hörens und Sehens (ἁγνείαις καὶ διὰ βρωτῶν· καὶ ποτῶν καὶ ἁφῶν καὶ ἀκοῆς καὶ ὁράσεως νομικῶς ).“

Arist 139 stellt ein Substrat der Passage von Arist 130–138 dar: Nach Arist 139 errichtet Mose die „Mauern und Wälle“ der Speisegebote, um das jüdische Volk von den fremden Völkern und deren Götzenverehrung zu separieren. Mit Arist 140 tritt jedoch ein anderer Aspekt in den Vordergrund der Argumentation: Die Ausrichtung auf den Einen Gott sei ein Charakteristikum der (hier als Fremd­ bezeichnung gebrauchten) „Menschen Gottes“, die von den weltlichen Dingen Abstand nehmen und ihre σκέψις, d. h. ihre Anschauung auf Gott richten. Das Bild der Mauern und Wälle, d. h. das exklusivistische Moment der j­üdischen Gesetzgebung wird damit gedämpft, denn Aristeas verdeutlicht, dass die Speise­ gebote nicht nur ein kulturelles Unterscheidungsmerkmal darstellen, das sich aus der historischen Faktizität der Toragesetzgebung ergibt, sondern die Interaktion des Menschen mit seiner Außenwelt generell – Kleidung, Speisen und Getränke – regulieren. Die jüdischen Reinheitsgebote stellen einen Aufruf zur Askese und Weltabwendung bzw. Selbstprüfung der conditio humana dar. Auch in Arist 142 beschränkt sich der Nutzen der Reinheitsgebote darauf, den Umgang mit dem Schlechten abzuwenden, wohingegen der Aspekt der Observanz gegenüber den Geboten zurücktritt: Eine Sanktionierung des Gebotsverstoßes wird von Eleazar ja nicht explizit in den Blick gefasst. Das Konflikt­potential, das sich aus Einhal­ tung und Nicht-Beachtung der Speisegebote ergibt, wird auf diese Weise umge­ lagert: Nicht der Verstoß stellt den religiösen Fehltritt dar, sondern die Fremd­ götterverehrung – die Speisegebote dienen der bewussten Abgrenzung von den fremden Göttern und der Internalisierung des Gottesverhältnisses. Arist 139–142 legen es nahe, „Wälle und Mauern“ als Hinweise auf die Monolatrie und ethische Vervollkommnung der Gottesmenschen zu verstehen. Die Wendung καὶ ποτῶν καὶ ἁφῶν καὶ ἀκοῆς καὶ ὁράσεως νομικῶς weist ebenfalls in diese Richtung, denn hier wird das Sehen und Hören explizit mit den Speisegeboten in Verbindung gebracht. Es geht um ein umfassendes Vollkommenheitsstreben, das sich aus der Anerkennung und Verehrung Gottes erst ergibt. Eleazar spricht mit dem Bild von den Mauern und Wällen also offenbar kein rigoroses Akkulturationsverbot aus: Die Mauern sollen keine jüdische Identität jenseits der ägyptischen Gesellschaft konstituieren, sondern vielmehr für ein positi­ ves Verständnis der Speise- und Reinheitsgebote werben, das die Gottesbezie­ hung und religiöse Ethik bereichern und vervollkommnen kann. Die Front, gegen die Eleazar argumentiert, ist demnach nicht in erster Linie die heidnische Religion, sondern die geistlose Menge derer, die die Gebote losgelöst von der Gottesbeziehung propagiert.141 Die Argumentation richtet sich nach innen, 141 Vgl.

Feldmeier, Weise, 30f und sehr prägnant Wright, Aristeas, 264: „Although the

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nicht nach außen. Die inventorische Leistung des Hohenpriesters liegt folglich darin, anerkannte Prämissen, mithin theologische loci, für den vorliegenden theologischen Konfliktfall – die umstrittene Bewertung der Speisegebote – zu gebrauchen und aufzubereiten: den Tun-Ergehen-Zusammenhang und die Le­ bendigkeit eines Gottes, der die Bestrafung und Belohnung der Taten des Men­ schen gewährleisten kann. Ein anderes Beispiel für einen inventorischen Prozess im Sinne der antiken Rhetorik findet sich im Buch Hiob, dem die Forschung oft einen argumentativen Charakter zugeschrieben hat. Tremper Longman charakterisiert das hebräische Hiob-Buch als ein weisheitliches Kräftemessen und Aufeinanderprallen von Weltanschauungen, wobei es nur vorder­ gründig um das Leiden des Gerechten gehe.142 Das Setting von Anklage, Prozess und Urteil wie auch die Rechtsmetaphorik, die sich massiv im Hiob-Buch niedergeschlagen habe, können ihm zufolge als Hinweise auf die Konfliktsituation und Streitkultur ver­ standen werden, in deren Horizont das Hiob-Buch entstanden sei. James L. Crenshaw geht noch darüber hinaus und bezeichnet es als „a dispute, perhaps even a philosophical disputation. The disputants discuss matters on which reasonable people disagree, appe­ aling to warrants they believe to be valid“143. Norman C. Habel charakterisiert die Rede des Eliphas wiederum als „paradigm for sapiential counseling“144 und verortet sie in einem grundsätzlichen Dissens zu Hiobs Weltanschauung: „The rhetoric of Eliphaz reflects the role of a friend offering wise counsel to Job […]. Eliphaz’ intention is to convince Job that restoration is possible if he accepts Eliphaz’ considered advice, groun­ ded as it is in traditional teaching and personal experience.“145 Habel zeigt damit das argumentative Gefälle der Argumentation Eliphas’ an: Es geht um eine strittige These, die durch Prämissen der traditionellen Weisheitsschule und persönliche Lebenserfah­ rung gestützt werden soll.

Die Komposition von narrativer Rahmenhandlung und poetisch-diskursiven Texten im Mittelteil hebt dabei bewusst vom historischen Moment – der Heim­ suchung einer konkret fassbaren, historischen Person Hiob – ab, wie Longman treffend bemerkt: „The highly literary nature of the book, especially the large poetical part, triggers cer­ tain expectations and reading strategies: 1. As mentioned above, it calls the reader to slow down and reflect on the compact meaning of the composition. 2. It imparts a uni­ claim that the Jews do not ‚mingle at all with any other nation‘ might seem to exclude any­one who is not a Jew, the setup, tone and language of this section, as we have seen (and will see below), frame those Gentiles who share these criticisms as allies of the Jews in their alle­ giance to the one God, and Ps.-Aristeas attempts to distinguish between those Gentiles who get and share Jewish monotheism from those who remain mired in idolatry of any sort.“ 142 Vgl. Longman III, Job, 32: „[…] the various parties in the disputation ( Job, the three friends, and Elihu) assert their own variety of wisdom and ridicule the wisdom of the others. They each vie to demonstrate that their wisdom is superior and able to handle the problems that life presents (as made concrete in Job‘s affliction).“ 143  Crenshaw, Job, 55. 144  Habel, Job, 118. 145 Ebd.

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versal quality to the topic of the book. It signals that the issues, debates, and conclusions are not just relevant to this particular situation but are important to all who read it. 3. It distances the action of the story from a concrete historical event […].“146

Es handelt sich also um eine „gelenkte“ Argumentation, insofern sie durch den narrativen Rahmen, die Struktur des Dialogs und die Aussageintention des Autors/der Autoren, die ‚auf etwas hinaus wollen‘, was jenseits der einzelnen Redebeiträge der Freunde liegt, determiniert ist. Die Septuaginta hat die argumentativen Strukturen des hebräischen Hiob adaptiert, sofern die kontrovers diskutierten Abhängigkeitsverhältnisse zwi­ schen griechischem und hebräischem Text dies zulassen.147 Hier soll der Schwerpunkt auch deswegen auf dem griechischen Text des Hiobbuches liegen, weil er Paulus nähersteht und an einigen Stellen explizit von ihm zitiert wird.148 Die Rede des Eliphas ist für eine argumentationskritische Untersuchung beson­ ders geeignet, denn sie bildet den programmatischen Ausgangspunkt, das „basic argument of the friends as they, as sages, try to help Job navigate his prob­ lems.“149 Der theologische Dissens zwischen Hiob und Eliphas besteht in der unterschiedlichen Bewertung von Hiobs Heimsuchung. Indem er in Hi 4,1–6 einen Widerspruch zwischen dem Trost, den Hiob anderen zuspricht, und dem subjektivistischen Insistieren auf der eigenen Schuldlosigkeit aufdeckt – „[i]nte­ grity and hope mean different things to Job and to Eliphaz“150 –, greift Eliphas Hiobs Standpunkt an und postuliert, dass dessen Einblick in die Weisheit Gottes unzulänglich sein muss. Um zu beweisen, dass Hiob zu Recht bestraft wird, ruft Eliphas zwei Begründungszusammenhänge ab. Zum einen erinnert er (Hi 4,7: μνήσθητι) Hiob an den Tun-Ergehen-Zusammenhang – ein tief in der alttesta­ mentlichen Tradition verankertes und damit starkes, ehrwürdiges Argument: „(7) Erinnere dich: Welcher Reine ist je umgekommen oder wann sind die wahrhaftig Wahren je umgekommen?“151 146 

Longman III, Job, 31. Vgl. zur Forschungslage bzgl. des griechischen Hiob Kepper/Witte, Job, 2043–2045. Die hier herangezogenen Kommentare beziehen sich auf den hebräischen Hiob. Jede Refe­ renz muss natürlich auf ihren Wert für die Auslegung des griechischen Textes geprüft wer­ den. Die Abweichungen zwischen LXX-Text gegenüber dem masoretischen Text relativie­ ren die Einschätzungen der Kommentatoren des hebräischen Textes hinsichtlich seiner argu­ mentativen Disposition jedoch nicht (vgl. zu den Zusätzen, Auslassungen und Veränderungen aaO. 2047–2052). Was hinsichtlich der Argumentationstechnik für den HiobLXX gilt, kann in gleicher Weise auch für den hebräischen Hiob behauptet werden, unabhängig davon, in welchem Verhältnis hebräische und griechische Version zueinander stehen und wie die grie­ chische Fassung datiert wird. 148  Röm  11,35 nimmt Bezug auf Hi 41,3; 1Kor 3,19 auf Hi 5,12; Phil 1,19 auf Hi 13,16, wobei ein Vergleich von 1Kor 3,19 und Hiob 5,12 zeigt, dass Paulus bereits auf eine hebräi­ sche Revision der LXX zurückgegriffen haben könnte (vgl. Kepper/Witte, Job, 2078). 149  Longman III, Job, 114. 150  So in Bezug auf den hebräischen Text aaO. 125. 151  Übersetzung hier und im Folgenden PB. 147 

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Damit setzt er noch nicht beim Dissens, sondern bei einer theologischen Über­ einstimmung zwischen sich und Hiob an.152 Der gemeinsamen Prämisse wird jedoch in Eliphas’ weiterer Argumentation eine andere Funktion zugewiesen: Hiobs Klage bezieht sich ja darauf, dass er unter der Voraussetzung des Tun-Er­ gehen-Zusammenhangs nicht von ihm betroffen sein dürfte, weil er sich keines Vergehens bewusst ist. Eliphas verknüpft nun das erste Argument mit einem zweiten Begründungszusammenhang, der sich ihm als persönliche Erfahrung bzw. Offenbarung erschlossen hat: „(13) Furcht aber und ein Geräusch des Nachts, wenn Furcht auf die Menschen fällt, (14) Schaudern aber kam auf mich und ein Zittern erschütterte gewaltig meine Knochen, (15) und ein Geist ging über mein Antlitz und Haar und Fleisch sträubten sich. (16) Er stand da, und ich erkannte ihn nicht: Ich sah, und es war keine Gestalt vor meinen Au­ gen, aber ich hörte ein Flüstern und eine Stimme: (17) Was denn? Kann ein Sterblicher vor Gott rein sein oder ein Mann schuldlos angesichts seiner Werke? (18) Wenn er näm­ lich seinen Knechten [oder: „Kindern“] nicht vertraut, und irgendetwas Ehrloses seiner Engel bemerkt, (19) träfe er [„auch“] die, die Häuser aus Lehm bewohnen, aus dem auch wir selbst – aus seinem Lehm – sind, sie – wie die Art der Motte.“

Eliphas habe in einem Traum bzw. einer Vision (Hi 4,13: νυκτερινή) eine Him­ melstimme vernommen,153 die ihn über Gottes Misstrauen gegenüber seinen Dienern und Engeln in Kenntnis gesetzt habe (Hi 4,18: εἰ κατὰ παίδων αὐτοῦ οὐ πιστεύει, κατὰ δὲ ἀγγέλων αὐτοῦ σκολιόν τι ἐπενόησεν […]).154 Der Fokus der Argumentation verschiebt sich damit auf die Frage nach den Erkenntnismög­ lichkeiten des Menschen hinsichtlich seiner Schuld vor Gott.155 Eliphas bezwei­ felt grundsätzlich, dass der Mensch „rein“ vor Gott dastehen könne (Hi 4,17: Τί

γάρ; μὴ καθαρὸς ἔσται βροτὸς ἐναντίον κυρίου ἢ ἀπὸ τῶν ἔργων αὐτοῦ ἄμεμπτος ἀνήρ;), wo Gott doch einen besonders harten Maßstab an die Menschen anlege

und nicht einmal über die Verfehlungen seines eigenen Hofstaates hinwegsehe (Hi 4,18).156 Würde Hiob den Tun-Ergehen-Zusammenhang noch anerkennen – das Problem liegt Eliphas zufolge auf einer „erkenntnistheoretischen“ Ebene: Der Mensch könnte seine Verfehlungen gar nicht überblicken, weil er um sein Tun nicht weiß.157 Die inventorische Leistung des Eliphas besteht darin, den Tun-Ergehen-Zu­ sammenhang und das Misstrauen Gottes gegenüber seinen Geschöpfen funk­ 152 Vgl.

Crenshaw, Job, 57. Vgl. zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Traums Habel, Job, 127. Er rückt ihn in die Nähe des Nachtgesichts Abrahams in Gen 15,12. Vgl. auch Longman III, Job, 119 f. Vgl. auch Ebach, Hiob, 61, der die Vision in prophetischen Traditionen verortet. 154  Vgl. zu angelologischen Deutungsmustern im griechischen Hiob Kepper/Witte, Job, 2053.2077. 155  Vgl. zum forensischen Moment dieser Offenbarung Crenshaw, Job, 59 f. 156  Vgl. auch Habel, Job, 129: „The argumentation of vs. 18–19 is designed to validate the pivotal topic statement (v. 17) disclosed to Eliphaz in his odd vision.“ 157  Vgl. aaO. 128 f. 153 

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I. Macht der Argumentation

tional aufeinander zu beziehen, um die wesentliche Schlussfolgerung von Hi 5,8–27 zu generieren: Hiob solle seine Meinung revidieren und sich zu Gott bekehren. Wie steht es um die Erfolgsaussichten dieser Argumentation? Es ist bemer­ kenswert, dass sich der Text selber als Argumentation ernst nimmt und als sol­ che verstanden werden möchte. Eliphas scheint am Ende der Rede mit seiner Argumentation „zufrieden“ zu sein, wie auch Habel konstatiert: „Eliphaz apparently claims that his doctrines have been verified by techniques approved in the wisdom tradition. It is therefore proper for Job to accept his counsel as the valid word of one wise man to another.“158

Er hat „den Ball“ in Hiobs Feld zurückgespielt und ruft ihn dazu auf, seinen Ratschlag anzuerkennen und anzunehmen (Hi 5,27): „Sieh, das haben wir so erklärt, wie wir es gehört haben. Erkenne es für dich selbst und verstehe es!“ Dass Eliphas’ Rede nur Teil eines größeren literarischen Diskurses ist, ist bei ihrer argumentationskritischen Beurteilung jedoch zu bedenken. Angesichts der „highly literary nature of the book“159 stellt sich die Frage, ob die Argu­ mentation Eliphas’ überhaupt überzeugen soll. Eliphas antizipiert den Ausgang des Hiobbuches und „sagt Richtiges“160, insofern er Hiobs Dialog mit Gott vorwegnimmt und auf die schöpfungstheologischen Implikationen des Tun-Er­ gehen-Zusammenhangs hinweist. Überzeugend ist die Argumentation ange­ sichts der Gesamtlinie des Buches jedoch gerade wegen der ‚theologisch-argu­ mentativen‘ Herangehensweise Eliphas’ nicht. Das Problem besteht nicht nur im Mangel der „persönliche[n] Beziehung“161 oder im fehlenden Mitleid. Es erschöpft sich auch nicht in Eliphas’ Wahl der Bilder, die Hiobs Lebenssituation auf zynische Weise verzerren,162 sondern das Problem ergibt sich aus einer un­ terschiedlichen Perspektive des Redners auf die Situation Hiobs und einer völ­ lig konträren Gewichtung von Folge und Ursache des Leids. Zugespitzt: Das Problem der Argumentation von Hi 4f ist ihr streng argumentativer Charakter! Der weitere Verlauf des Buches wird Hiob schließlich Recht geben: Er genügt dem Tun-Ergehen-Zusammenhang und wird dennoch als Schuldloser heim­ gesucht. Das Erklärungsmuster des Eliphas erweist sich als unzureichend, sein Nachtgesicht als trügerisch. Enzyklopädien sind ständigen Veränderungsprozessen unterworfen – das Be­ zugssystem, aus dem die Prämissen einer Argumentation gewonnen werden, erweist sich nur in seinem konkreten historischen Kontext als valide. Wie eng mitunter der Geltungsbereich von Prämissen abgesteckt ist, lässt sich besonders deutlich an den exegetischen Argumentationen Philos ablesen. Philos Bibel­ 158  AaO.

137. Longman III, Job, 31. 160  Ebach, Hiob, 66. 161  Bräumer, Hiob, 115. 162  Vgl. aaO. 115 f. 159 

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kommentare stellen zweifelsohne einen Höhepunkt der antiken jüdischen Ar­ gumentationskultur dar, denn in dem alexandrinischen Gelehrten fließen grie­ chische Enzyklopädie, rhetorisches Talent und jüdische Theologie zusammen. Philos exegetische Methode ist dabei nur vor dem Hintergrund seines theologi­ schen Sprachverständnisses, dem eine rhetorische, antisophistische Programma­ tik eignet,163 und seiner Bibelhermeneutik zu verstehen.164 Sie erschöpft sich auch keineswegs in der exegetischen Technik der Allegorie: Das Ziel seiner Exegese ist die philosophische Aneignung des Pentateuchs durch den vernunft­ begabten Menschen, damit dieser zum Guten befähigt wird – Exegese hat bei Philo eine pädagogische, motivierende Dimension.165 Eine rhetorische bzw. argu­ mentationskritische Analyse der philonischen Bibelauslegungen legt sich zudem auch aus dem historischen und biographischen Kontext nahe, in dem sie ent­ standen sind: Falls sie aus dem jüdischen Synagogengottesdienst in Alexandrien hervorgegangen sein sollten, sind mündliche Vorstufen, pragmatische Adressa­ tenorientierung und eine in ihrem Ursprung rhetorische Situation wahrschein­ lich.166 Die Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin spielt jedenfalls für Philos 163 Vgl.

Otte, Sprachverständnis, 73: Echtes Sprechen gelinge bei Philo nur in der Kor­ relation von Wahrheit, Kairos und günstigen Umständen. Es könne Wahrheit aufdecken, worin seine besondere Kraft „im Kampf mit der unechten Sprache der Sophisten“ (aaO. 74) liege. Ziel der Sprache sei es, dem Gegenüber die Wahrheit zu erschließen und ihn zur Zu­ stimmung zu bewegen. Der Exeget schaffe für dieses Sprachgeschehen den „qualifizierte[n] Raum“ (aaO. 76f ). 164  Die theologische Allegorese hat ihren Ursprung wahrscheinlich in der stoischen Ho­ merexegese und wurde auch schon vor Philo von anderen Vertretern des alexandrinischen Judentums praktiziert (vgl. Böhm, Rezeption, 69f und Siegert, Kommentar, 58). Daneben muss aber auch die Diairese, d. h. die pyramidische Unterscheidung von „ὄν“ und „μή ὄν“ zur Gewinnung der möglichst präzisen Definition eines Begriffs (vgl. Christiansen, Tech­ nik, 34–36) als exegetisches „Werkzeug logischer Operationen“ (aaO. 29) berücksichtigt werden. Die platonische Diairese nach dem Vorbild des Sophistes ist Christiansen zufolge von Philo als Methode zur exegetischen Erschließung zur „Ideenschau“ adaptiert worden. Das Schauen der Idee, also das Erfassen der göttlichen Wahrheiten im biblischen Text (vgl. aaO. 30f ), lasse sich nur im Modus der Allegorie bewerkstelligen. Platonische Diairese und philo­ nische Allegorese überschneiden sich nach Christiansen darin, dass die allegorische Technik „die ὀνόματα der heiligen Schriften nach Gattungen und Art zu trennen und zu verknüpfen vermag“ (aaO. 31). Amir verankert die Allegorese Philos in seiner besonderen Offenbarungs­ theologie, die sich von rabbinischer, d. h. palästinischer Exegese darin unterscheide, dass Philo von einer mittelbaren Offenbarung ausgehe und „für ihn Mose als der Verfasser der Tora gilt“ (Amir, Gestalt, 110), während hingegen die rabbinische Exegese die Tora unmit­ telbar mit dem Wort Gottes identifiziere, wobei Mose „keine andere Rolle als die des Schrei­ bers oder des Überbringers“ (aaO. 108) zukomme. Konkret schlage sich diese Differenz in einer unterschiedlichen exegetischen Methodik nieder, bei Philo die Allegorese, in der rab­ binischen Tradition der Midrasch (vgl. aaO. 112–116): „Der Midrasch kann einen in der Bibel erzählten Vorgang in eine andere Zeit versetzen – die Allegorie hebt ihn aus der Kate­ gorie der Zeit überhaupt heraus“ (aaO. 118). 165 Vgl. Böhm, Rezeption, 80–83. 166  In welchem Verhältnis der synagogale Lehrvortrag und Philos Pentateuchkommenta­ re stehen und ob die Vorträge als Vorlagen für die Kommentare, die Kommentare als Hilfs­ mittel für die Vorträge oder aber als Anregungen zur weiterführenden, privaten Lektüre

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I. Macht der Argumentation

Biographie und Bildungsideal eine nicht unerhebliche Rolle: Obwohl über die Bildungshintergründe Philos wenig bekannt ist, rekurriert er häufig auf das enzyklopädische Bildungsideal, wobei er auch ἡ περὶ τοὺς ῥητορικοὺς λόγους μελέτη nennt.167 Mireille Hadas-Lebel urteilt: „Philo adds rhetoric to sharpen the spirit in speculation and engage in expression, sometimes associated with its ‚twin sister‘ dialectic, which helped discerning between true reasoning and ­false.“168 Die philosophische „Propädeutik“169, zu der auch die Rhetorik zählt, scheint jedenfalls in den jüdischen Kreisen Alexandriens von großer Bedeutung gewesen zu sein. Folgendes Beispiel aus Philos Pentateuch-Kommentar kann paradigmatisch für seine exegetische Argumentationsweise stehen:170 „(13) In sechs Tagen, sagt er [Mose], sei der Kosmos erschaffen worden (δημιουργηθῆναί ), nicht weil der Schöpfer eine Zeit nötig hatte – denn es ist klar, dass Gott alles zugleich geschaffen hat, nicht nur, indem er es angeordnet, sondern auch indem er es gedacht hat –, sondern weil für die entstehenden Dinge (τοῖς γινομένοις ) eine Ordnung nötig war. Zu einer Ordnung gehört eine Zahl, von allen Zahlen aber ist nach den Gesetzen der Natur die passendste die Sechs, denn von der eins an [gezählt] ist sie die erste vollkom­ mene, weil sie nach ihren Teilen gleich und aus ihnen zusammengesetzt ist, zur Hälfte aus der Drei, zum Drittel aus der Zwei und zum Sechstel aus der Eins. Und man sagt, dass sie männlich und auch weiblich ist und sich durch beiderlei Kräfte stimmig zusam­ mensetzt (κἀκ τῆς ἑκατέρου δυνάμεως ἥρμοσται): Männlich ist in den Dingen, die sind, das Ungerade, das Gerade aber ist weiblich. Von den ungeraden Zahlen macht den Anfang die Drei, von den Geraden die Zwei, und ihr Produkt ist die Sechs. (14) Es war aber nötig, dass die Welt als vollkommenstes der gewordenen Dinge nach einer voll­ kommenen Zahl entstand – nach der Sechs –, weil sie dazu bestimmt war, in sich selbst die Geschöpfe, die aus der Paarung heraus entstehen (τὰς ἐκ συνδυασμοῦ γενέσεις ), zu gedient haben, kann jedoch nicht zweifelsfrei gesagt werden (vgl. aaO. 108f ). Die Penta­ teuchauslegung in den Synagogengottesdiensten bestand nach Böhm in einer „monologi­ sche[n] Lehrmethode“ (aaO. 96), die keine Anschlussdiskussionen o. ä. kannte, sondern ein selbständiges Philosophieren initiieren sollte (vgl. aaO. 95 und Siegert, Kommentar, 20–23). Eine Retraktation der Lehrinhalte geschah wahrscheinlich im privaten, familiären Bereich (vgl. Böhm, Rezeption, 97f ). Jedenfalls muss die Situation der argumentativen Bewältigung eines hermeneutischen Dissenses und die ursprüngliche Adressatenorientierung für die Aus­ legung der Pentateuchkommentare Philos beachtet werden, wobei kontrovers diskutiert wird, ob Proselyten und Gottesfürchtige als implizite Adressaten der synagogalen Gesetzes­ auslegungen in Frage kommen (vgl. zur Diskussion aaO. 99–104), was „eine gewisse geistige Herausforderung für das Judentum bedeutet und zumindest potentielle Integrationsüberle­ gungen und -bestrebungen verursacht hat“ (aaO. 105). Rhetorische Momente und Struktu­ ren sollten nicht von vornherein zugunsten dialektischer und allegorischer Lesarten vernach­ lässigt werden, auch wenn Siegert aufgrund des hohen Grades der Literarisierung für Philos Kommentare feststellt: „es ‚riecht nach der Öllampe‘“ (Siegert, Kommentar, 15). 167  Darauf weist Hadas-Lebel, Philo, 56 mit Bezug auf Agr 18 hin. 168 Ebd. 169  Böhm, Rezeption, 90. 170  Die Verseinteilung folgt Philonis Alexandriae: De Opificio Mundi (in: Cohn, L. / Wendland, P. [Hg.]: Philonis Alexandrini opera quae supersunt, Vol 1, Berlin 1896, 1–60). Deutsche Übersetzung hier und im Folgenden PB.

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enthalten, und deswegen wurde sie nach einer gemischten Zahl gebildet, der ersten geraden-ungeraden (ἀρτιοπέριττον), weil sie die Idee des männlichen Samens und die Idee des den Nachwuchs empfangenden Weiblichen enthalten sollte. (15) Jedem der Tage ordnete er [Gott] einige Teile des ganzen zu, ausgenommen dem ersten, den er nicht selbst ‚den ersten‘ (πρώτην) nannte, damit er nicht mit den anderen zusammen gezählt wird, sondern mit einer glücklichen Bezeichnung (ὀνόματι εὐθυβόλῳ) bedachte, als er ihn ‚eins‘ nannte (μίαν), weil er in ihm die Natur der Einheit sah und ihm deswe­ gen eine solche Bezeichnung übertrug. Von den Dingen, die den ersten Tag umfassen, müssen wir sagen, was möglich ist, weil alles unmöglich ist. Er umfasst nämlich die gedachte Welt und ragt heraus, wie das Wort [die Schrift] über ihn sagt. (16) Weil Gott nämlich – wie Gott eben (ὁ θεὸς ἅτε θεός) –, vorausahnte, dass eine schöne Nachbildung nicht ohne eine schöne Vorausbildung entstehen kann und dass keines der wahrnehm­ baren Dinge makellos (ἀνυπαίτιον) ist, das nicht nach einem Urbild und einer geistigen Idee (ἀρχέτυπον καὶ νοητὴν ἰδέαν) gebildet wurde, prägte er, als er diese sichtbare Welt schaffen wollte, die geistige vor, damit er, indem er ein körperloses und gottähnliches Beispiel gebrauchte, die körperliche vervollkommnete – ein jüngeres Abbild eines älte­ ren –, wobei sie so viele wahrnehmbare Arten enthielt, wie in der geistigen vorhanden waren. (17) Es ist aber nicht erlaubt, zu sagen oder anzunehmen, dass sich die aus den Ideen zusammengesetzte Welt an irgendeinem Ort befindet. Auf welche Weise sie aber entsteht, werden wir in einem uns nahestehenden Bild nachvollziehen: Wenn eine Stadt gegründet wird – wegen der Ehrliebe eines Königs oder wegen irgendeines Führers, der sich uneingeschränkte Vollmachten verschaffen möchte und gleichzeitig über Verstand verfügt, sein Glück zu vervollständigen –, so kommt ein in der Architektur ausgebilde­ ter Mann und betrachtet die Temperatur und die Lage des Ortes und zeichnet zuerst nahezu alle Teile der Stadt, die vollendet werden soll, für sich auf: Tempel, Gymnasien, Verwaltungsgebäude, Märkte, Häfen, Werften, Straßen, die Ansätze der Mauern, die Fundamente der Wohnhäuser und der anderen öffentlichen Gebäude. (18) Dann zeich­ net er – wie in einem Siegel – in seiner Seele die Umrisse eines jeden auf und malt die gedachte Stadt, deren Bilder er in seinem ihm angeborenen Erinnerungsvermögen schwenkt und die Merkmale noch stärker einprägt; die so beschaffenen Dinge beginnt er als guter Handwerker (δημιουργὸς ἀγαθός) – während er das Beispiel anblickt (ἀποβλέπων εἰς τὸ παράδειγμα) –, aus Stein und Holz zu errichten, wobei er für jede der unkörperlichen Ideen das körperlich Seiende genau nachbildet. (19) Ähnlich muss man sich bei Gott vorstellen, dass er – während er überlegt hat, eine Großstadt zu errichten – zuerst ihre Umrisse ersann, aus denen er eine gedachte Welt zusammengesetzt hat – und dann erst die wahrnehmbare Welt nach jenem Beispiel. (20) Wie nun die Stadt, die im Architekten geplant gewesen ist, nicht einen Platz außerhalb seiner hatte, sondern in der Seele des Künstlers eingeprägt war, so hat auch die aus ­Ideen bestehende Welt kei­ nen anderen Ort als die göttliche Vernunft (ἢ τὸν θεῖον λόγον), die diese Dinge geordnet hat. Was für einen anderen Ort seiner Kräfte kann es geben, der passend wäre, – ich sage nicht: alle, sondern – eine unvermischte Idee, welche auch immer, aufzunehmen und ihr Raum zu geben? (21) Eine Kraft aber ist die weltschaffende Quelle, die das wahrhaftig Gute hat. Wenn nämlich irgendjemand die Ursache erfassen möchte, aus der das Ganze erschaffen wurde, scheint er mir das Ziel nicht zu verfehlen, wenn er sagt – was auch schon einer der Alten gesagt hat –, dass der Vater und der Schöpfer gut sei; deswegen hat er [der Vater] auch die Gnade seiner Vollkommenheit der Natur nicht vorenthalten, die aus sich selbst heraus nichts Schönes an sich hat, aber fähig dazu ist, alles zu werden. (22) Denn sie war aus sich selbst heraus ungeordnet, ohne Eigenschaft, unbelebt, unausgegli­

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chen, voll von Wechselhaftigkeit, Disharmonie und Verstimmung. Veränderung und Verwandlung erhielt sie aber – hin zu den abgestimmten Gegensätzen, zur Ordnung, zu Eigenschaften, Beseelung, Gestimmtheit, Zusammenklang, und all solches von besserer Art. (23) Von keinem Beistand – denn wer sonst war damals da? –, nur von sich selbst beraten, wusste Gott, dass es nötig war, die Natur mit uneingeschränkten und reichen Gaben zu bedenken, weil sie ohne göttliches Geschenk nichts Gutes hätte erlangen können. Aber nicht nach der Größe seiner eigenen Gnadengaben – sie sind grenzenlos und endlos –, sondern nach den Kräften derer, die bedacht wurden. Denn nicht so, wie Gott dazu in der Lage ist, Gutes zu tun, kann das Geschöpf das Gute ertragen, weil seine [Gottes] Kräfte zum einen übermäßig sind, und weil das Geschöpf zu schwach ist, es zu empfangen; es würde versagen, wenn er nicht wohl gemessen jedem das Passende zuteilen würde. (24) Wenn aber jemand einfachere Ausdrücke verwenden möchte, kann er sagen, dass die gedachte Welt nichts anderes ist als die Vernunft des welterschaffenden Gottes (θεοῦ λόγον ἤδη κοσμοποιοῦντος ), denn die gedachte Stadt ist auch nichts anderes als der Gedanke des Architekten, der geplant hat, eine Stadt zu errichten. (25) Dies aber ist die Meinung des Mose, nicht meine. Wenn er im Folgenden die Schöpfung des Men­ schen beschreibt, erklärt er ausdrücklich, dass er nach dem Abbild Gottes (κατ’ εἰκόνα θεοῦ) gebildet worden sei. Wenn aber der Teil Abbild eines Abbildes ist, ist es klar, dass auch das Ganze ein Bild ist (εἰ δὲ τὸ μέρος εἰκὼν εἰκόνος [δῆλον ὅτι] καὶ τὸ ὅλον εἶδος )171. Diese ganze wahrnehmbare Welt, wenn sie größer ist als das menschliche Abbild, ist eine Nachahmung des göttlichen Bildes, und es ist klar, dass auch das ursprüngliche Siegel (ἡ ἀρχέτυπος σφραγίς ), das wir gedachte Welt nennen, selber das Beispiel, die ursprüngliche Idee der Ideen, die Vernunft Gottes selbst ist.“

Philo polemisiert nicht gegen die Auslegung anderer Exegeten oder gibt seine eigene als unwiderlegbar oder ultimativ aus.172 Die gegnerische Prozesspartei ergibt sich nicht aus einem exegetischen Wettstreit, sondern aus einem Wett­ streit des Textes mit der menschlichen ratio, die den literalen Sinn des biblischen Textes in Frage stellt. Damit steht die ‚exegetische Ausgangslage‘ der inventori­ schen Situation nahe, wie sie die römische Argumentationstheorie beschreibt: Argumentieren ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis von Vorwurf (intentio criminis), Zurückweisung (depulsio) und Streitfrage (quaestio bzw. constitutio). Aus dieser Situation erschließen sich die loci, anhand derer sich Argumente entwi­ ckeln lassen. Um zu begründen, dass der Literalsinn des biblischen Textes stim­ mig ist, greift Philo auf mehrere Begründungszusammenhänge zurück und ge­ staltet sie hinsichtlich seiner Auslegung des Sechs-Tage-Werks und der Bedeu­ tung des ersten Tages aus: (1)  Die zahlensymbolischen Spekulationen hinsichtlich der Harmonik der Zahl Sechs, die im Stoizismus und Pythagoreismus eine herausragende Rolle gespielt haben.173 171 

Vgl. zu dieser Lesart I.2.3.2. Böhm, Rezeption, 84 f. 173 Vgl. Creese, Rhetorical, 259: „Philo hopes to show, by appeal not only to the Greek text of Genesis but also Stoicism and the Pythagoreanising Platonism current in Alexandria during his generation, that the biblical account of the world’s creation is universally true, and 172 Vgl.

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(2)  Der Rekurs auf die Stadtmetaphorik. Sie ist für Philo auch andernorts belegt. Die „Stadt“ dient ihm mal als exegetisches Thema, mal als Ziel einer theolo­ gisch qualifizierten Zivilisationskritik.174 (3)  Die mittelplatonistische Timaeus-Rezeption, in der die Vernunft Gottes als Sitz der Ideenwelt beschrieben wird. Die „demiurgic creation“175 des Timaeus wird dabei von Philo in „two separate accounts“ unterteilt: „There is a creation of the immaterial noetic world in the mind of God, and there is a creation of physical reality from the model of the noetic world and unformed matter.“176 Die inventorische Leistung Philos besteht also darin, philosophische Inter­ pretamente und lebensweltlich relevante Allegorien so miteinander ins Verhält­ nis zu setzen, dass der die Vernunft herausfordernde Literalsinn des biblischen Textes erklärt und verteidigt werden kann. Wie steht es nun um die Erfolgsaus­ sichten der Argumentation Philos? Mit der Stadtallegorie könnte Philo auf die Gründung von Alexandrien durch Alexander den Großen und seinen Architekten Dinocrates anspielen und damit ein äußerst anschauliches, in der Enzyklopädie der alexandrinischen Le­ ser verwurzeltes Bild aktivieren.177 Auch wenn sich die Bildelemente der Stadtallegorie – aufs gesamte Oeuvre Philos gesehen – auf eine Vielzahl von Theologumena beziehen können,178 spielen in dieser Passage vor allem der plan­ volle, vorausschauende Auf bau und die Abwägung der natürlichen Vorgaben, die die Errichtung der Stadt begrenzen, eine Rolle. Es wäre daher auch über Gebühr, eine umfassende Stadtsymbolik in diesen Abschnitt hineinzulesen, da sich die Argumentation eigentlich nicht um die Architektur der Welt, sondern um den Architekten und das Verhältnis seiner Vernunft zur Schöpfung dreht. Hinzu kommt: Es geht in dem Abschnitt um eine Begründung der Ortslosig­ keit dieser gedachten Schöpfung, nicht um die Begründung einer aktiven „ad­ ministration“179 oder „monarchia“180 i. S. einer supranaturalistischen creatio continua. Gott stellt die Lebensbedingungen der Schöpfung durch die Anordnung der verschiedenen funktional aufeinander bezogenen Systeme her (Gymnasien, Hallen etc.), die der Mensch vorfindet, wie auch David T. Runia pointiert fest­ hält: „Philo reveals a positive attitude towards the classical Greek conception of the polis as the ideal and ‚natural‘ structure for human living, constructed and organized in such a way as to ensure the well-being and concord of its citi­ that its truth is therefore philosophically accessible and not merely the domain of one parti­ cular religious sect within an empire of many cults.“ 174 Vgl. Runia, City, 367–372. 175  Robertson, Mind, 426. 176 Ebd. 177 Vgl. Runia, City, 365. 178  Vgl. aaO. 365 f. 179  AaO. 365. 180  AaO. 366.

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zens.“181 Die „Stadt“ bietet sich also als besonders anschauliches Bild für Gottes Schöpfungsordnung an, da sie das kulturelle, ökonomische und soziale Gemeinwohl ordnet und gewährleistet. David Creese wägt vor allem die zahlensymbolische Auslegung bzw. die arithmetischen Prämissen des Harmoniegedankens hinsichtlich der potentiellen Leserschaft ab. Der Argumentation liege als wesentliche Prämisse das rechte (musikalische) Verhältnis der Zahlen untereinander zugrunde, so dass Philos Auslegung der wissenschaftlichen Enzyklopädie seiner Leser entgegenkomme: „Canonices was therefore the most credible authority for any statement about the har­ monic significance of a ratio, and by referring to it Philo could attempt to hide the in­ consistery in his analysis of the hebdomad. The success of this attempt will have varied according to the reader’s knowledge of mathematical harmonics; probably few knew the science well enough to have questioned the assertion. If it was a rhetorical strategy, then it was a good one: simple and reasonably likely to be effective.“182

Charakteristisch für Philos Argumentation ist darüber hinaus die ausgeprägte und explizite Begriffsanalytik, die sich sowohl in der Technik (Allegorie und Diairese) als auch in der literarischen Ausgestaltung der Argumentation nieder­ schlägt. Philo erschließt einzelne Begriffe – in der obigen Passage z. B. die „Ver­ nunft“ –, indem er sie etymologisch aufarbeitet, ihr semantisches Potential auf­ fächert und auf bestimmte, für die Allegorese und philosophische Interpreta­t ion bedeutsame Aspekte einengt. Die Argumentation Philos ist also auch semantisch disponiert – ein Umstand, auf den noch zurückzukommen sein wird.183 2.2.3. Fazit Nach diesen Eindrücken aus Argumentationstheorie und -praxis lässt sich ein erstes Zwischenfazit ziehen: Aus inventorischer Perspektive erweist sich der Sko­ pus als ein Such- und Organisationskriterium, das der Argumentierende ange­ sichts eines konkreten juristischen, politischen oder theologischen Dissenses definiert und das er seiner Auswahl der Begründungszusammenhänge und Prä­ missen zugrunde legt. Dem Redner dient dieses Kriterium in der unanschau­ lichen, vorsprachlichen Findungsphase der Argumentation (inventio) als Leit­ prinzip der Zusammenstellung und Befragung der loci, in der konkreten Argu­ mentation tritt es als diejenige Passage in Erscheinung, von der her alle anderen Begründungszusammenhänge ihre Funktion und Beweiskraft erhalten – es er­ weist sich als das, das unbedingt begründet werden muss, selbst aber nichts be­ gründet. Die inventorische Frage kommt damit an der Schnittstelle von syn­ chroner und diachroner Methodik zu stehen, insofern die Begründungszusam­ menhänge, auf die der Argumentierende zurückgreift, historisch und sozial 181 Ebd. 182 

183 

Creese, Rhetorical, 265. Vgl. Kapitel II.

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vorgegeben sind. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich zudem noch zeigen, dass die inventio auch semantisch spezifiziert ist (vgl. Kapitel II). Was die Relevanz der Argumentationstheorie als Skopustheorie angeht, lässt sich festhalten, dass die jüdisch-hellenistischen Argumentationen ganz offen­ sichtlich durch einen Dissens hervorgerufen werden, der der Findungssituation, wie Cicero sie beschreibt, entspricht. Die theologischen Konflikte in den unter­ suchten Texten ergeben sich vor allem aus ethischen und theologischen Diskur­ sen: Es geht um Speisegebote, Fremdgötterverehrung oder weisheitliche Inter­ pretamente wie den Tun-Ergehen-Zusammenhang. In manchen Texten wer­ den Thesen positiv und unpolemisch begründet (Philo), in manchen werden gegnerische Thesen aufgegriffen und entkräftet (Eliphas). Dem biblischen Text kommt dabei eine besondere Funktion und Würde zu: Er kann sowohl Anlass zur Argumentation geben, wenn er missverständlich ist oder von der gegneri­ schen Seite „falsch“ ausgelegt wird, als auch selber Beweismittel für eine These werden. In Philos Auslegungen ist der Bibeltext vor allem Bestandteil der strit­ tigen These – es steht eine hermeneutische Schwierigkeit im Raum, die vom Exegeten unter Zuhilfenahme weiterer, meist philosophischer Fragestellungen und Erklärungsmuster allegorisch überwunden werden muss. Die conditio humana und allgemeine philosophische Prinzipien werden wie in den römischen Prozessreden auch in jüdischen Texten eingeblendet, um Begründungszusam­ menhänge zu vertiefen oder abzusichern. Bei Hiob bezieht Eliphas das Welt­ wissen (den Tun-Ergehen-Zusammenhang in der Natur) und das Nachtgesicht als besondere Offenbarungsform mit in seine Argumentation ein. In der Rede des Hohenpriesters im Aristeasbrief bezieht der Redner seine Prämissen aus der Beobachtung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs und anerkannten Überle­ gungen über den Stellenwert von Reinheitsgeboten als Unterscheidungsübung. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass diese Prämissen ihren Sitz in der Enzyklopädie der Adressaten der Argumentation haben. Die Beobachtung der Welt und der conditio humana werden zur Klärung des theologischen Konflikts herangezogen und argumentativ verwertet.

2.3. Zielorientierung auf rationaler Ebene: Argumentation als Gedankenbewegung und Erkenntnisprozess 2.3.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik In der antiken Rhetorik stellt die Argumentation in ihrem Kern eine logische Gedankenbewegung dar, die als Ziel eine rationale Schlussfolgerung verfolgt. Damit stellt die Argumentation ein Schwellenphänomen zwischen Rhetorik und Philosophie dar. Während sich beide, Dialektik und Rhetorik, mit dem Wahren beschäftigen, bediene sich die Rhetorik auch der nicht-logischen Überzeugungsmomente (Ethos und Pathos), auch wenn diese nicht aus sich

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selbst heraus wirken können, sondern auf den Logos angewiesen bleiben und sich auf ihn beziehen: „Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten: Sie sind nämlich entweder im Charakter des Redners [d. h. Ethos, PB] be­ gründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu versetzen [d. h. Pathos, PB], oder schließlich in der Rede selbst, d. h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen [d. h. Logos, PB].“184

In Aristoteles’ Definition der Aufgabenfelder der Rhetorik zeigt sich deren doppeltes Gesicht: Die logische Korrektheit eines einzelnen Arguments stellt zwar den Kern der Rede dar, genügt aber im Regelfall nicht – Argumentieren muss auch die Affekte der Adressaten im Blick haben, um „das Publikum von der bestmöglichen Lösung eines offenen Problems zu überzeugen.“185 Darüber hinaus unterscheiden sich Dialektik und Rhetorik nach Aristoteles insbesondere hinsichtlich der Konstruktion ihrer Schlüsse: Die Dialektik kons­ truiere den Syllogismus und die Induktion, die Rhetorik das Enthymem und das Beispiel.186 Enthymem und Beispiel bilden rhetorische Varianten von Syllo­ gismus und Induktion187 und damit den eigentlichen Logos der Rede: „Jeder gewinnt aber die Überzeugungsmittel durch Beweisen, indem er entweder Bei­ spiele vorbringt oder rhetorische Schlüsse (Enthymeme) formuliert, und außer­ dem durch sonst nichts.“188 Enthymem und Beispiel thematisieren Sachverhalte, „die – allgemein gesprochen – sich auch anders verhalten können […]“189; sie stützen sich weder ausschließlich auf Logik – das wäre zu komplex für den durchschnittlichen Zuhörer190 – noch auf Unbewiesenes – das wäre nicht er­ folgversprechend,191 sondern vielmehr auf den Zwischenbereich, das Wahr­ scheinliche, so dass ein Enthymem oft „aus kürzeren [Prämissen, PB] als aus denen des Syllogismus […] bestehen“ könne.192 Bekanntes und allgemein Aner­ kanntes müsse nicht bewiesen werden: „Wenn nämlich etwas davon [d. h. eine Prämisse, PB] ein allgemein Bekanntes ist, so braucht man es gar nicht erst auszusprechen; der Zuhörer fügt es nämlich selbst hinzu.“193 Aristoteles nennt folgendes Beispiel: „Um zum Ausdruck zu bringen, daß Doreius einen Kranzwettstreit gewonnen habe, genügt es zu sagen, daß er einen Sieg bei den olympischen Spielen gewonnen habe. Man braucht 184 

Aristot. rhet. I,2,3 (Sieveke 13). Ueding/Steinbrink, Rhetorik, 28. 186  Vgl. Aristot. rhet. I,1,11;14 (Sieveke 9 f.11f ). 187  Vgl. Aristot. rhet. I,2,8 (Sieveke 14f ). 188 Ebd. 189  Aristot. rhet. I,2,13 (Sieveke 16f ). 190 Vgl. zu den grundsätzlichen Unterschieden zwischen dialektischem Argument und dessen rhetorischer Ausgestaltung Coenen, Rhetorisches Argumentieren, 115 f. 191  Vgl. Aristot. rhet. I,2,13 (Sieveke 16). 192 Ebd. 193 Ebd. 185 

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nicht hinzuzufügen, daß der Preis bei den olympischen Spielen ein Kranz ist, denn das weiß jeder.“194

Ist das Beispiel auch trivial – an ihm lassen sich die Grundgestalt des Enthy­ mems und der logische Anspruch des rhetorischen Argumentierens umfassend nachvollziehen. Das Enthymem arbeitet mit stillen Prämissen, d. h. Präsupposi­ tionen, und kann zu Recht als „die laschere rhetorische Gebrauchsform des formstrengen Syllogismus“195 bezeichnet werden. Die Prämisse, der Kranz sei ein olympischer Gewinn, kann vom Rhetor bei den Hörern vorausgesetzt wer­ den, muss aber nicht entfallen. Die Verkürzung des Syllogismus liegt im Ermes­ sen des Redners.196 Dem Enthymem an sich – darauf macht Øivind Andersen mit Nachdruck aufmerksam – wohne nun der besondere Reiz inne, dass das Publikum hier gleichsam am Übergang von Altem zu Neuem partizipiere und eine Erkenntnis gewinne:197 „Es bewirkt im kleinen, was der Redner mit seiner Rede im großen erreichen will, nämlich das Publikum dazu zu bringen, die Sache genauso wie er selbst anzusehen. […] Es fordert Übereinstimmung. Es verbindet Redner und Zuhörer miteinander.“198

Cicero greift das aristotelische Modell des Enthymems auf und teilt dessen prag­ matischen Ansatz – ob der Redner seine Prämissen offenlegen muss, entscheidet sich am Vorwissen der Hörer –, erweitert jedoch das Enthymem zum Epichei­ rem bzw. zur ratiocinatio, indem er den Prämissen Stützungen hinzufügt. Bei Cicero avanciert die Grundbewegung des logischen Schlusses dann sogar zur rhetorischen Struktur (vgl. I.2.4.). Cicero stellt eine fünfteilige Musterargumentation vor:199 Die ratiocinatio bestehe aus einer Darlegung des Ganzen der Beweisführung (Ciceros Beispiel: „Besser wird das besorgt, was mit einem Plan durchgeführt wird, als das, was ohne Plan gehandhabt wird“). Der „wortreiche“ („copiosissimis verbis“) Beweis des ersten Teils schließe sich daran an (Beispiel: Die Überlegenheit des planvollen Vorgehens in Haus und Hof, Mi­ litärwesen, Nautik – „wo mit einem Plan vorgegangen wird, ist es nützlicher“). Im dritten Teil solle man „das, was man zeigen will, aus der Bedeutung des Obersatzes“, also das „Eigentliche“ der ratiocinatio hinzunehmen (Beispiel: „Das Weltall wird besser als alle anderen Dinge geleitet“), was man wiederum in einem vierten Teil beweist (Beispiel: „Die astronomischen Beobachtungen, der Tageszyklus etc. zeigen, dass das Weltall am Nutzen aller Dinge orientiert ist“). Fünftens sei eine Schlussfolgerung zu ziehen, die die gesamte Argumentation, aber vor allem den dritten und vierten Teil berücksichtige (Beispiel: „Nach einem Plan also wird das Weltall geleitet“ oder, wenn 194 

Ebd. (Hv. i. O.). Coenen, Rhetorisches Argumentieren, 83. 196  Vgl. auch Fuhrmann, Die antike Rhetorik, 90f, und Stroh, Macht der Rede, 175. Zur Unterscheidung von Wahrscheinlichkeitsprämissen und Allsätzen vgl. Coenen, Rheto­ risches Argumentieren, 84–86. 197  Vgl. auch Aristot. rhet. II,23,30 (Sieveke 156f ). 198  Andersen, Garten der Rhetorik, 153. 199  Vgl. Cic. inv. I,58f (Nüßlein 102f ). 195 

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I. Macht der Argumentation

Ober- und Untersatz berücksichtigt werden sollen: „Wenn das besser durchgeführt wird, was nach einem Plane, als das, was ohne Plan geleitet wird, nichts aber von allen Dingen besser geleitet wird als das gesamte Weltall, wird also das Weltall durch einen Plan geleitet“). Charakteristisch für die ratiocinatio ist, dass erst im dritten Teil ihr eigent­ licher Gegenstand genannt wird und dass die Zusammenfassung nicht nur auf die propositio rekurriert, sondern sich vielmehr auf assumptio und assumptionis approbatio konzent­ riert. Außerdem besteht die eigentliche Verbindung zwischen Ober- und Untersatz in der „Nützlichkeit des planvollen Vorgehens“ (in der aristotelischen Logik: der Mittelbe­ griff ). Der ratiocinatio liegt damit der klassische syllogistische Schluss zugrunde: 1. All­ gemeine Prämisse (die Regel), 2. Stützung der allgemeinen Prämisse, 3. Speziellere Prämisse (der Fall), 4. Stützung der spezielleren Prämisse, 5. Deduktiver Schluss aus beidem.

Auch Quintilian diskutiert im Spannungsfeld von Logik und persuasio traditio­ nelle Definitionen der Rhetorik und nähert sich einer allgemeinen Begriffsbe­ stimmung an, die beides umfasst: Wahrhaftigkeit im sentire und persuasives Mo­ ment im dicere: „[…] probabilis et illi voluntatis qui ‚recte sentire et dicere‘ rhetorices putaverunt.“200 Argumentation und Argumente stehen an der Schnitt­ stelle von sentire und dicere, denn in der argumentatio müssen sowohl Vernunft als auch rhetorische Angemessenheit zum Tragen kommen.201 Die argumentatio ga­ rantiert den Übergang von etwas Zweifelhaftem zu etwas Nicht-­Zweifelhaftem durch etwas anderes, das nicht zweifelhaft ist, bzw. den Übergang von etwas Bekanntem zu etwas Neuem. Dabei zeigt sich das rhetorische Moment der Ar­ gumentationstheorie Quintilians vor allem darin, wie „pragmatisch“ er sich die Übergänge vorstellt. Argumente müssen keineswegs den hohen Ansprüchen aristotelischer Logik, sondern in erster Linie ihrem Ziel genügen und glaubhaft sein. Dabei gebe es drei Grade des Glaubhaften, die in jeder Argumentation zum Tragen kommen:202 Der erste Grad – das Glaubhafteste – umfasse das, was 200 

Quint. inst. II,15,37 (Rahn 242f ). bei Quintilian ist argumentum ein offener Begriff, den er als terminus technicus nicht nur in Rhetorik und Philosophie, sondern z. B. auch in den Künsten (Quint. inst. V,10,9 [Rahn 550f ]) oder auf der Bühne, in narrativen Texten und als Angabe für die ganze Thematik einer Rede vorfindet: „sed argumentum quoque plura significat. Nam et fabulae [!] ad actum scaenarum compositae argumenta dicuntur, et orationum Ciceronis velut thema ipse exponens Pedianus inquit: ‚argumentum tale est‘ […]“ (ebd.). Nach Quintilian kann jede Materie, die zu einem festzulegenden Ziel führt, Argument sein: „Quo apparet omnem ad scri­ bendum destinatam materiam ita appellari“ (ebd.). Der Begriff ist also nicht so streng festge­ legt, wie es gelegentlich in der Forschungsliteratur den Anschein macht (vgl. z. B. Siegert, Argumentation, 16). Quintilian eignet ihn sich vielmehr an und beschäftigt sich explizit mit dem Argument, „quod probationem praestat“ (Quint. inst. V,10,10 [Rahn 550f ]), ohne je­ doch andere „Argumentationsformen“ auszuschließen. Das Argument, das der probatio dient, besticht bei Quintilian vor allem dadurch, dass es eine vernünftige Überlegung darstellt, eine „ratio probationem praestans, qua colligitur aliquid per aliud, et quae quod est dubium per id, quod dubium non est, confirmat, necesse est esse aliquid in causa, quod probatione non egeat“ (Quint. inst. V,10,11 [Rahn 550–553]). 202  Vgl. zu den verschiedenen Graden des Wahrscheinlichen auch Andersen, Garten der Rhetorik, 142 f. 201  Noch

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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annähernd immer gilt; der zweite Grad sei das Wahrscheinliche; der dritte das Glaubhafte, was lediglich gilt, wenn kein Widerspruch erhoben wird.203 Diese Klassifizierung des Glaubhaften ist mit Ciceros Epicheirem verwandt: Die Ap­ probationen der Prämissen müssen am glaubhaftesten sein, um die wahrscheinlichen Prämissen zu stützen. Diese wiederum garantieren das Gelingen der Schlussfol­ gerung, die solange unsicher bleibt, bis sie durch das Epicheirem als sicher erwie­ sen worden ist. Für Quintilian zeigt sich im Epicheirem der hypothetisch-prag­ matische Zug rhetorischer Argumentationspraxis im G ­ egensatz zur Logik: Es erschließe nicht wie der Syllogismus Wahres durch Wahres („vera colligunt veris“ – gemeint ist die Konklusion, die sich aus zwei wahren Prämissen ergibt), sondern finde sich vor allem dort, wo es um das Glaubhafte gehe („frequentior circa credibilia est usus“).204 Es enthält also notwendigerweise nicht-logische Momente. In der griechisch-römischen Argumentationstheorie beruht demnach die argumentatio im Allgemeinen auf einer rationalen Gedankenbewegung, in der ver­ schiedene Erkenntnisbereiche (Wahrscheinliches, Unwahrscheinliches und Si­ cheres) sinnvoll und angemessen miteinander verknüpft werden. Der Stellen­ wert der Logik wird jedoch bei den einzelnen Rhetoriklehrern unterschiedlich stark gewichtet. – Bei Aristoteles wird der dialektische Syllogismus zum Enthymem zurückge­ baut, d. h. ein logisches Argument wird hinsichtlich der Erwartungen und des Vorwissens des Hörers modifiziert, d. h. vor allem verkürzt. – Die aristotelische Hörerorientierung präfiguriert den pragmatischen Ansatz, den Cicero programmatisch weiterverfolgt. Die rationale consecutio von Prä­ misse zu Konklusion fungiert bei Cicero sogar als präferierte Argumenta­ tionsstruktur, wobei er jedoch im Gegensatz zu Aristoteles nicht nur Kürzun­ gen, sondern auch Erweiterungen des Syllogismus, nämlich Stützungen der Prämissen, vorschlägt. – Quintilian warnt vor einer rationalen Überfrachtung der Argumentation, un­ terscheidet aber verschiedene Erkenntnisbereiche voneinander (Neues, Altes, Sicheres, Unsicheres, Wahrscheinliches), anhand derer sich der Argumentie­ rende Rechenschaft über die Schlüssigkeit seiner Gedankenbewegung und die Validität seiner Argumente ablegen kann. Diese Differenzierung in ver­ schiedene erkenntnistheoretische Bereiche korreliert gewissermaßen mit Ciceros Epicheirem: Wahrscheinlich sind die Prämissen, sicher(er) deren Be­ gründungen, unsicher das, was bewiesen werden und sich als sicher heraus­ stellen soll.

203 

204 

Vgl. Quint. inst. V,10,16 (Rahn 552f ). Quint. inst. V,14,14 (Rahn 656f ).

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I. Macht der Argumentation

2.3.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Die Rationalität theologischer Argumentationen in hellenistisch-jüdischen Texten auf dem Prüfstand Wiederum soll die theoretische Perspektive in die Praxis hellenistisch-jüdischer Argumentation gewendet werden. Dabei steht jedoch zunächst das Problem im Raum, dass in der neueren Argumentationsforschung der logische Anspruch theologischer Argumentation im Allgemeinen und biblischer Argumentation im Besonderen auf dem Prüfstand steht, weil deren Prämissen einer logischen Analyse angeblich nicht standhalten können und ideologisch gefärbt seien. Klaus Bayers Argumentationstheorie schließt theologische bzw. religiöse Argumentatio­ nen von vornherein aus dem Diskurs aus: „Es gibt gewiss keine Gesellschaft, in der alle Überzeugungen und Normen argumentativ in Zweifel gezogen werden dürften: Meist gilt für zentrale religiöse und politische Dogmen ein Argumentationstabu.“205 Lauri Thurén postuliert: Moderne wie auch antike (aristotelisch-logische) Argumentations­ kritik könne nur eingeschränkt biblische Argumentation nachvollziehen, da in ihr Fak­ toren zum Tragen kommen, die in einer streng logischen Argumentationsanalyse außer Acht gelassen werden müssen: „Religious argumentation, or any ideological argumen­ tation, is not identical with, for example, juridical or modern political reasoning, and this imposes also some methodological requirements. Seen from a normative point of view, much of religious reasoning is problematic indeed. Many chains of thought could be directly classified as fallacies. […] Many argumentative techniques in the Bible are disliked by ancient theorists as well as modern scholars.“206 Als Beispiele für problema­ tische argumentative Techniken führt Thurén den Rekurs auf Autoritäten wie Heilige Schriften, einzelne Personen (Apostel, Propheten etc.) oder auch göttliche Offenbarun­ gen an. Ähnliche Kritik erhebt auch schon William F. Albright. Er verortet z. B. die prophetischen Texte der Bibel in einem Zeitalter, das die griechische Art des Begrün­ dens nicht gekannt, geschweige denn nötig gehabt habe. Gemessen an römischen Argu­ mentationsnormen müsse man sogar behaupten, dass prophetische Texte nicht argumen­ tieren, weil ihnen die kausale bzw. konsekutive Kohärenz fehle und sie ihre Autorität aus einer unmittelbaren Offenbarung beziehen, um zu überzeugen: „In order to under­ stand the view-point of Yahwistic thinkers of the Prophetic Age (since we cannot direc­ tly control the ideas of their predecessors), we must bear in mind that they lived in an age of empirical logic, many generations before the dawn of systematic philosophical reasoning. Nowhere in the prophetic writings of pre-exilic times is there any hint of cosmic speculation. The prophets were not interested, so far as we can tell, in how the world had come into existence or how the forces of nature operated; it was quite enough for them to know that God controlled them.“207

Gegen die Vorbehalte kann im Allgemeinen eingewendet werden, dass die rhetorische Argumentationstheorie, wie sie Cicero und der Auctor ad Herennium ent­ wickeln, deutlicher zwischen den rationalen Übergängen, die der Argumenta­ tion zugrunde liegen, und dem sachlichen Gehalt der Prämissen, die der Enzy­ klopädie der Adressaten entlehnt sind, unterscheidet, als Thurén oder Albright 205 

Bayer, Argumentation, 19. Thurén, Argumentation, 90. 207  Albright, Stone Age, 251. 206 

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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es mit ihrem rationalistischen Argumentationsbegriff voraussetzen. Die rhetorische Argumentationstheorie ist sehr zurückhaltend darin, die Enzyklopädie der Adressaten und die loci einer Sachkritik zu unterziehen. Als Prämisse bzw. ratio eignet sich, was vom Auditorium akzeptiert wird. Aus dialektischer Perspektive muss daher nicht in erster Linie die Legitimität der Prämissen, auf die sich reli­ giöse Argumentation stützt, sondern vielmehr ihre gedankliche Struktur und die Verknüpfung der verschiedenen Erkenntnisbereiche, aus denen sie ihre Be­ gründungszusammenhänge schöpft, geprüft werden.208 Dies zeigen die folgen­ den exemplarischen Untersuchungen. In Eliphas’ Rede lassen sich anhand des Schemas der ratiocinatio Prämissen, Stützungen und Konklusionen bzw. anhand der Unterscheidung Quintilians folgende Erkenntnisbereiche voneinander unterscheiden:209 – A ls Prämissen, die nicht eigens begründet werden, kommen der Tun-Erge­ hen-Zusammenhang und das Nachtgesicht von Gottes Misstrauen gegenüber seinen Engeln in Frage. Im Modell Quintilians sind sie dem Erkenntnis­bereich des Sicheren zuzuordnen, weil sie nicht mehr eigens begründet werden. – Das Wahrscheinliche, das durch diese Prämissen gestützt wird, besteht in der Heimsuchung des Schuldigen und der Schuldigkeit Hiobs. – Das Unsichere, das durch die Argumentation als sicher erwiesen werden soll, besteht in der These, dass Hiob zu Recht von Gott bestraft wird. Im Epicheirem lässt sich die rationale Verknüpfung dieser verschiedenen Berei­ che folgendermaßen darstellen: Ausgangslage (Hiobs Situation in Hi 1–3): Hiob (akzeptiert den Tun-Ergehen-­ Zusammenhang, sieht aber keine Schuld bei sich und) klagt Gott an. Obersatz (das Wahrscheinliche) Gott sucht die Schuldigen heim. Stützung (das Sichere) Eliphas’ Welterfahrung: Der Tun-Ergehen-­ Zusammenhang, das Bild vom Löwen. 208  Vgl. schon Augustin in Doctr. II,52.127 (Green 70), der zwischen den Regeln logi­ scher Verknüpfung von Aussagen und dem Wahrheitsgehalt der Aussagen unterscheidet, so dass selbst eine unsichere Aussage durch die logische Verknüpfung mit einer anderen zu einer sicheren werden könne: „Quapropter aliud est nosse regulas connexionum, aliud sententiarum veritatem [Hv. PB]. In illis discitur quid sit consequens, quid non consequens, quid repugnans. […] In veritate autem sententiarum ipsae per se sententiae, non earum connexio consideran­ da est. Sed veris certisque sententiis, cum incertae vera connexione iunguntur, etiam ipsae certae fiant necesse est.“ 209  Für die Rede des Eliphas weist Habel auf syllogistische Strukturen in Hi 4,17–21 hin: „The didactic argument of 4:17–21 is constructed according to a traditional pattern repeated in 5:14–16 and 25:4–6. The underlying logic of the argument is a progression from the lesser to the greater, as follows: God the creator above is pure. Beings of a higher order than hum­ ans are not pure. Humans belong to a lower order than these beings. Humans are therefore not pure“ (Habel, Job, 120). Was den Abschnitt von griechisch-römischen Syllogismen un­ terscheide, sei seine dezidierte Inszenierung als Traum und Offenbarung: „His [Eliphaz’] syllogism is revealed as an oracle, not a truth deduced from logic or observation“ (aaO. 120).

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I. Macht der Argumentation

Untersatz (das Wahrscheinliche) Stützung (das Sichere)

Hiob kann vor Gott nicht gänzlich schuldlos sein. Gott legt einen besonders harten Maßstab an die Menschen an und hegt grundsätzlich Misstrauen gegen seine Geschöpfe. Schlussfolgerung (das Unsichere, Gott sucht Hiob wegen einer Schuld heim. das als sicher erwiesen wird) Die „Konsequenz“ Hiob muss Unrecht haben, was seine Unschuld angeht, und darf die Strafe Gottes nicht hinterfra­ gen. Er muss sich zu Gott bekehren und seine Schuld akzeptieren, so dass Gott sich ihm wieder zuwendet. Tabelle 1: Rekonstruierte ratiocinatio der Argumentation des Eliphas in Hi 4f

Dieses Epicheirem bildet nur die eine Hälfte der Argumentation ab: Dass Gott denjenigen, der sich zu ihm bekehrt, belohnt und sich seiner annimmt, steht im Hintergrund der Aufforderung Eliphas’, Hiob solle sich zu Gott bekehren. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang garantiert also auch die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands analog zur Bestrafung und ermöglicht es Hiob, ange­ messen auf Gottes Strafe zu reagieren: Ausgangslage (Hiobs Situation in Hi 1–3): Hiob (akzeptiert den Tun-Ergehen-­ Zusammenhang, sieht aber keine Schuld bei sich und) klagt Gott an. Obersatz (das Wahrscheinliche) Gott sucht die Schuldigen heim. [Derer, die sich bekehren, nimmt er sich an.] Stützung (das Sichere) Eliphas’ Welterfahrung: der Tun-Ergehen-Zusam­ menhang, das Bild vom Löwen Untersatz (das Wahrscheinliche) Hiob kann vor Gott nicht gänzlich schuldlos sein. [Er kann sich aber zu Gott bekehren.] Stützung (das Sichere) Gott legt einen besonders harten Maßstab an die Menschen an und hegt grundsätzlich Misstrauen gegen seine Geschöpfe. Schlussfolgerung (das Unsichere, Gott sucht Hiob wegen einer Schuld heim. das als sicher erwiesen wird) [Würde er sich zu Gott bekehren, würde er sich seiner annehmen.] Die „praktische Konsequenz“ Hiob muss Unrecht haben, was seine Unschuld angeht, und darf die Strafe Gottes nicht hinterfra­ gen. Er muss sich zu Gott bekehren und seine Schuld akzeptieren, so dass Gott sich ihm wieder zuwendet. Tabelle 2: Rekonstruierte ratiocinatio (erweitert) der Argumentation des Eliphas in Hi 4f

Eliphas argumentiert also im rhetorischen Sinne logisch – er setzt verschiedene Erkenntnisbereiche in ein angemessenes und transparentes Verhältnis zueinan­

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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der, doch ist die Logik des Eliphas der eines Quintilians oder Ciceros ebenbür­ tig? Robert Gordis macht für das Hiobbuch zu Recht gegen Albrights Konzept der „evolution of human reasoning“210 geltend, dass die verschiedenen Begrün­ dungstypen nicht in ein Deszendenzmodell von „proto-logical reasoning“, „empirical-logical“ und „formal logic“ eingetragen werden dürfen, sondern in der Antike nebeneinander existieren. Die Lebensbereiche, in denen die eine oder andere Art des Begründens vornehmlich genutzt werde, dürfen nicht so hermetisch vonei­ nander abgegrenzt werden, wie Albright es annimmt.211 Zum zweiten besitze die formale Logik „strong emotive aspects in addition to its intellectual charac­ ter“212 , die sich nicht vom logischen Moment trennen lassen. Zum dritten ver­ kenne der Ansatz die Möglichkeiten und Kräfte der proto-logischen Begrün­ dungsformen, wo doch die Assoziation „the most natural technique of human thought“ darstelle.213 Gordis warnt davor, die assoziative Logik einer formalen Logik unterzuordnen. Stattdessen sei die Komplementarität der Begründungsfor­ men für biblische Texte nahezu charakteristisch: „It would, therefore, seem that the ancient Semitic mind possessed a strong affinity for associational logic, while the formal logic which emerged among the Greeks had to be consciously introduced into Semitic thought in the Middle Ages with Islamic and Je­ wish Philosophy.“214

Gemessen an dem stets adressatenorientierten Epicheirem der römischen Rhe­ torik betont Gordis’ Ansatz das assoziative Moment biblischer Begründungs­ formen (gerade in der weisheitlichen Literatur) fast zu stark und stellt es als Spezifikum biblischen Argumentierens dar. Seine Warnung „[t]he Book of Job belongs both to poetry and to religion. It therefore follows that the principle of literary organization will be associative rather than logically relevant“215 wird schon von der griechisch-römischen Schulrhetorik eingeholt, die die pragmati­ schen Erwägungen und assoziativen Übergänge in die rationale Grundstruktur der Argumentation integriert – man denke z. B. an die weitschweifende Arznei-­ Metapher in Cic. inv. I, 68f,216 die Cicero als fraglos legitime Stützung seiner Prämissen betrachtet. Eliphas steht Cicero also in nichts nach. Assoziation und Bildersprache dürfen nicht als Spezifika biblischer Argumentation ausgewiesen oder als archaische Argumentationsformen disqualifiziert werden. 210 Vgl.

Gordis, Job, 513. Vgl. aaO. 514. 212 Ebd. 213 Ebd. 214 Ebd. 215  AaO. 515. 216  Cic. inv. I,68f (Nüßlein 112): „Denn wie man glauben soll, von der Medizin gehe nichts aus, außer was auf den Nutzen des Körpers zielt, weil sie ja um dessentwillen einge­ setzt ist, so glaubt man nach allgemeinen Übereinkommen, daß von den Gesetzen nichts ausgeht, außer was dem Staate dienlich ist, weil sie ja um seinetwillen erlassen sind.“ 211 

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I. Macht der Argumentation

Ein weiteres Beispiel für beachtenswert rationale Stringenz in religiösen bzw. theologischen Texten sind die paränetischen Argumentationen der Testamente der 12 Patriarchen, die an die Abschiedssituation von Gen 49 angelehnt sind. Im Zent­ rum der folgenden argumentationskritischen Untersuchung steht die Argumen­ tation für einen maßvollen Weingenuss im Testament Judas (TJud 14,1–16,4):217 „(14,1) Und nun, meine Kinder, betrinkt euch nicht mit Wein, denn der Wein lenkt den Verstand von der Wahrheit ab und erregt den Geist des Zorns (νόημα ὀργῆς ) und führt die Augen zur Abschweifung (πλάνην). (2) Denn der Geist der Unzucht (πνεῦμα τῆς πορνείας ) nutzt den Wein – wie einen Diener – zur Vergnügung, weil diese beiden die Kraft des Menschen fortziehen (ἀφιστῶσι). (3) Wenn nämlich einer Wein bis zur Be­ trunkenheit trinkt, erregt er durch schmutzige Gedanken den Geist zur Unzucht und erhitzt (ἐκθερμαίνει) den Körper zur Lust, und auch wenn die Ursache der Begierde offenbar ist, tut er die Sünde und schämt sich nicht. (4) Der Betrunkene schämt sich nämlich für nichts. (5) Denn siehe, der Wein hat auch mich verwirrt, so dass ich mich nicht vor der Menge derer in der Stadt schämte, weil ich mich vor den Augen aller zu Thamar hinausschlich, die eine junge Frau war, und ich tat eine große Sünde und ent­ hüllte die Decke von der Unreinheit meiner Söhne. (6) Als ich Wein getrunken hatte, scheute ich nicht das Gebot Gottes und nahm eine kanaanäische Frau. (7) Deswegen braucht der, der trinkt, Verstand, meine Kinder. Und das ist der Verstand des Weintrin­ kens (σύνεσις τῆς οἰνοποσίας ), dass man, solange man Scham hat, trinkt. (8) Wenn man aber die Grenze überschreitet, wirft er [der Wein] den Geist der Verwirrung in den Verstand. Und er bringt den Betrunkenen dazu, Ehrloses zu reden (ἀισχρορρημονεῖν) und gesetzlos zu handeln und sich nicht zu schämen, sondern sich für die Ehrlosigkeit zu rühmen und sie für schön zu halten. (15,1) Wer Unzucht treibt, nimmt nicht wahr, wenn ihm Schaden angetan wird, und schämt sich nicht, wenn er Ehrloses tut. (2) Denn auch wenn jemand herrscht und Unzucht treibt, wird er der Herrschaft entkleidet, und wird der Unzucht dienen, wie auch ich entkleidet wurde (γυμνωθείς ). (3) Ich gab näm­ lich meinen Stab, das ist die Stütze meines Stammes. Und auch meinen Gürtel, das ist die Kraft. Und das Diadem, das ist die Ehre meiner Königsherrschaft. (4) Und als ich für diese Dinge Buße tat (μετανοήσας ), nahm ich keinen Wein und kein Fleisch mehr zu mir bis ins Greisenalter, und sah keine Freude mehr. (5) Und der Engel des Herrn zeig­ te mir, dass die Frauen bis in die Ewigkeit einen König wie auch einen Armen beherr­ schen. (6) Und dem König nehmen sie die Ehre, dem Mann die Macht, und dem Armen die äußerste Unterstützung des Bettelns. (16,1) Beachtet nun, meine Kinder die Grenze des Weins (ὅρον οἴνου). Denn in ihm sind vier böse Geister: der Leidenschaft, des Ver­ langens, der Maßlosigkeit und der Gier. (2) Wenn ihr in Freude Wein trinkt, mit Furcht vorm Herrn, werdet ihr bewahrt. Wenn ihr nämlich trinkt, ohne bewahrt zu werden und wenn euch die Furcht Gottes verlässt, wird das Übrige Betrunkenheit und die Schamlosigkeit stellt sich ein. (3) Wenn aber nicht [einige von de Jonge gebotene Zeu­ gen bieten: „Wenn ihr aber verständig leben wollt“], trinkt überhaupt keinen Wein, damit ihr nicht sündigt mit Worten des Übermuts und des Streits und der Nachrede und der Übertretung der Gebote Gottes, damit ihr nicht in eurer Zeit verdorben werdet. (4) Und der Wein enthüllt die Geheimnisse Gottes und der Menschen, wie auch ich die 217  Die Verseinteilung und Übersetzung folgt der Edition von de Jonge, M. (Hg.): The Testaments of the Twelve Patriarchs (PVTG I/2), Leiden 1978. Übersetzung hier und im Folgenden PB.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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Gebote des Herrn und die Geheimnisse meines Vaters Jakobs der Kanaanäerin Batsua [vgl. 17,1] verriet, von denen Gott gesagt hat, dass sie nicht enthüllt werden sollen. Und der Wein ist schuld am Streit und der Unordnung.“

Die Argumentation von TJud kann in ein epicheiremisches Schema übertragen werden, so dass sich die verschiedenen Erkenntnisbereiche deutlich vonein­ ander abheben: Paränese: „Betrinkt euch nicht!“ Obersatz (das Wahrscheinliche) Die Unzucht stellt eine Gebotsübertretung dar. Stützung (das Sichere) Der Verlust von Würde, Macht und Ansehen lässt auf einen Tun-Ergehen-Zusammenhang schlie­ ßen. So ist es auch bei Juda gewesen. Untersatz (das Wahrscheinliche) Der maßlose Weingenuss führt zur Unzucht. Stützung (das Sichere) Die Unzucht instrumentalisiert den Wein und macht den Menschen nachsichtig gegenüber der Unzucht. So ist es auch bei Juda gewesen. Schlussfolgerung (das Unsichere, Der maßlose Weingenuss stellt eine Gebotsüber­ das als sicher erwiesen wird) tretung dar. Die „praktische Konsequenz“ Paränese: „Betrinkt euch nicht!“ Tabelle 3: Rekonstruierte ratiocinatio der Argumentation Judas

Der Untersatz stellt eine Ableitung aus TJud 14,2.4; 15,1 und 16,2 dar, seine Begründung ergibt sich aus TJud 14,2–5.8. Dass die Unzucht eine Gebotsüber­ tretung darstellt, ergibt sich aus der Begründung von TJud 15,2–6. Die Kon­ klusion ist aus TJud 16,3 abzuleiten. Der Zusammenhang zwischen Weingenuss und Unzucht wird mit großem Aufwand begründet, während die Charakteri­ sierung der Unzucht als Gebotsübertretung über das Juda-Tamar-Beispiel ledig­ lich illustriert wird. Die (noch) zweifelhafte Gesetzeswidrigkeit des Wein­ genusses wird durch die unzweifelhafte Gesetzeswidrigkeit der Unzucht zu­ mindest in die Nähe einer Übertretung gerückt.218 Argumentation muss, damit sie Argumentation im Sinne Quintilians ge­ nannt werden kann, mindestens die Erkenntnisbereiche des Sicheren und Un­ 218 

Das Testament Judas steht paradigmatisch für die ethische Argumentation der Patriar­ chentestamente. Es zeichnet sich ein stereotypes Muster ab: Ein zweifelhafter ethischer To­ pos wird unter Zuhilfenahme einer unzweifelhaften Prämisse eindeutig bewiesen. Im Testa­ ment Dans (TDan 3,1–5,3) ist es z. B. der Zorn, der mit Hilfe einer weiteren Prämisse nega­ tiv konnotiert wird: 1. Obersatz: Der Herr geht von einer Seele fort, die von Zorn und Beliar beherrscht wird. 2. Stützung des Obersatzes: Gott liebt die Wahrheit und den Frieden, nicht den Zorn. 3. Untersatz: Zorn ist Blindheit der Seele und Besessenheit durch Beliar. 4. Stützung des Untersatzes: Wer zornig ist, erkennt seine eigenen Freunde und Verwandten nicht mehr wieder. Für ihn wird Zorn zu einer zweiten Seele, einer zweiten Natur. 5. Schlussfolgerung: Von einer zornigen Seele weicht Gott. Die Paränese lautet dieser Schlussfolgerung entsprechend: „Bewahrt euch vor dem Geist der Lüge und dem Zorn! Liebt Wahrheit und Langmut!“

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I. Macht der Argumentation

sicheren zueinander in Beziehung setzen. Mitunter lässt sich aber auch die Ver­ kürzung des Syllogismus zum rhetorischen Enthymem beobachten, wie es Aris­ toteles vorschlägt. Die pseudepigraphe Epistel Jeremias knüpft an die Fiktion eines Schreibens des Propheten Jeremia an die babylonische Diaspora an und warnt die Juden vor der Akkulturation.219 Der griechische Text dürfte auf ein hebräisches Original zurückgehen,220 wobei jedoch Datierung, Autor und Ad­ ressaten umstritten sind.221 Reinhard Gregor Kratz bestimmt die Gattung der Epistel als Traktat 222 und widerspricht der Auffassung, dass der Text eine bloße Anthologie von Götzenpolemiken darstelle.223 Vielmehr müsse festgestellt wer­ den: „Der wohlüberlegten Struktur entspricht eine wohlstrukturierte Argu­ mentation.“224 Die Komposition des Briefes „will auf diese Weise den Nachweis führen, daß die Exilierten in Babylon die dort ver­ ehrten Götter nicht zu fürchten brauchen, da diese sowohl der materiellen Beschaffen­ heit als auch den von ihnen erwarteten Wirkungen nach in Wahrheit keine Götter sind. Der Gedanke ist nicht sonderlich originell oder differenziert, aber mit sonderbarem Fleiß und beinahe schon systematischer Akribie durchgeführt.“225

Im Brief Jeremias lassen sich besondere rationale Strukturen entdecken. Im Hintergrund der Argumentation steht als Axiom ein spezifischer Gottesbegriff, der offenbar einer weisheitlichen Tradition entspringt:226 Bei Jahwe handelt es sich um einen lebendigen Gott, an dem sich die babylonischen Götter messen lassen müssen.227 Die positiven, d. h. auf den Jahwe-Glauben bezogenen Prämis­ sen sind nicht explizit im Text greif bar, wohl aber die negativen, konfutatori­ 219 

Zur Rezeption von Jer 10 und 29 vgl. Kratz, Rezeption, 3–17. Kratz, Jeremia, 74. 221 Belegt ist ein griechisches Fragment der Verse 43–44 in Qumran (vgl. Himbaza, ­Jeremia, 769f ). Terminus post quem ist also das babylonische Exil, terminus a quo die Entstehung des Qumran-Textes (vgl. Kratz, Jeremia, 82). Kratz (ebd.) datiert ihn in die „Wende vom 3. zum 2. Jh. (unter Antiochus III.)“, was sich vor allem aus der relativen Chronologie der Re­ ferenztexte ergebe. Da der Brief an Jer 10 und 29 angelehnt sei, geht Kratz davon aus, dass er als „Appendix“ zum Jeremiabuch und – im Spiegel der Götzenpolemik von Jes 40–48 – viel­ leicht auch im Kontext einer gesamtprophetischen Redaktion entstanden sei (vgl. Kratz, Rezeption, 26–29; Meyer, Jeremia, 488), auch wenn er über diesen Horizont hinaus eine eigenständige Rezeptionsgeschichte entwickelt habe (vgl. Kratz, Rezeption, 30f ). Dass die Übersetzung ins Griechische eine neue historische Situation vorausgesetzt hat, ist möglich – offenbar zirkuliert der Brief in der Makkabäerzeit in Kreisen der jüdischen Elite (u. U. ist 2Makk 2,1–2 eine Anspielung auf den Brief, vgl. Himbaza, Jeremia, 769). Auch Adams, Epistle, 149 ist sehr optimistisch, was die Identifizierung des Briefes in 2Makk 2,1f angeht. Doering, Jewish Letters, 156 vermutet, dass der Brief im Kontext von Strömungen entstanden sein könnte, die die Restauration des Tempelkults unter persischer Herrschaft als „ongoing state of ‚exile‘“ (ebd.) verstanden haben könnten. 222 Vgl. Kratz, Jeremia, 75. 223 Vgl. Kratz, Rezeption, 1–4. 224  Kratz, Jeremia, 76. 225  AaO. 77. 226  Vgl. aaO. 85. 227  Vgl. ebd.: „Das alles verbindet sich zu einer an der äußeren Erscheinung der Dinge 220 Vgl.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

63

schen Argumente hinsichtlich der fremden Götter. So lassen sich für die einzel­ nen „Strophen“ der Argumentation (unvollständige) Epicheireme, mithin En­ tyh­meme, rekonstruieren. In EpJer 7–14 thematisiert „Jeremia“ die Geschöpflichkeit der Götzen:228 „(7) Denn ihre Zunge ist von einem Bildhauer geschnitzt, sie selbst sind mit Gold und Silber überzogen, Lüge sind sie und unfähig, zu reden. (8) Und wie für eine weltlieben­ de junge Frau (παρθένῳ φιλοκόσμῳ) nehmen sie Gold und stellen Kränze her für die Häupter ihrer Götter. (9) Dann geschieht es aber auch, dass die Priester von ihren Göt­ tern Gold und Silber wegnehmen und für sich selbst verwenden; sie geben davon auch den Huren im Bordell. (10) Sie schmücken sie wie Menschen mit Kleidern, silberne und goldene und hölzerne Götter! Diese aber schützen sich nicht vor Rost und Motten. (11) Nachdem sie mit einem purpurnen Gewand angezogen worden sind, wischen sie ihnen das Angesicht ab wegen des Staubes aus dem Haus [gemeint ist hier und im Folgenden: Der bzw. die Tempel], der reichlich auf ihnen ist. (12) Und er hält ein Zepter wie ein Mensch, ein Richter eines Landes, der den, der gegen ihn sündigt, nicht tötet. (13) Er hält ein Schwert in der rechten Hand und eine Axt, aber wehrt sich nicht gegen Krieg und Räuber. (14) Von daher ist verständlich [bzw. erkennbar],229 dass sie nicht Götter sind; fürchtet euch also nicht vor ihnen!“

Es lässt sich folgendes Enthymem rekonstruieren:

230

Obersatz230 Untersatz (das Wahrscheinliche)

Jahwe ist kein Geschöpf (implizit). Die babylonischen Götzen sind Geschöpfe und bedürfen der Fürsorge. Stützung (das Sichere) Sie müssen durch Handwerker hergestellt und durch Kultpersonal gereinigt werden. Schlussfolgerung (das Unsichere, Die babylonischen Götzen sind keine Götter. das als sicher erwiesen wird) Die „praktische Konsequenz“ „Fürchtet euch nicht vor ihnen!“

Tabelle 5: Rekonstruiertes Enthymem aus EpJer 7–14

In EpJer 15–22 schildert „Jeremia“ den Verfall der Götzen: „(15) Denn wie ein Gefäß vom Menschen nutzlos wird, wenn es zerbrochen ist, so geht es auch mit ihren Göttern zu, wenn sie in den Häusern aufgestellt sind. (16) Ihre Augen sind voll von dem Staub der Füße derer, die eintreten. (17) Und wie für jemanden, der ei­nem König Unrecht getan hat, die Höfe wie für einen, der zum Tode weggeführt wird,231 orientierten, empirisch-rationalen Götterkritik, die doch hintergründig zugleich auf dem jüdischen Bekenntnis und der Auslegung normativer Schriften des späteren Kanons beruht.“ 228  Übersetzung hier und im Folgenden PB. 229  Vgl. zu der Übersetzung von γνώριμος Adams, Epistle, 180 f. 230  Der Obersatz scheint hier wie auch in den folgenden Enthymemen sicher und nicht nur wahrscheinlich zu sein, denn er wird nicht durch eine Stützung erweitert oder explizit angeführt. 231  Die Funktion des Ausdrucks ὡς ἐπὶ θανάτῳ ἀπηγμένῳ ist unsicher. Vgl. Adams, Epist­ le, 182 f.

64

I. Macht der Argumentation

verschlossen sind, bewahren die Priester ihre Häuser mit Türen und Schlössern und Riegeln, damit sie nicht von Räubern geplündert werden. (18) Lichter entzünden sie, auch mehr als für sich selbst, von denen sie nicht eines sehen können. (19) Es ist mit ihnen wie mit einem Streben im Tempel, sie sagen, ihre Herzen werden aufgefressen; wenn aus der Erde Würmer sie und ihr Gewand fressen, nehmen sie es nicht wahr. (20) Geschwärzt ist ihr Antlitz vom Qualm im Hause. (21) Auf ihren Leib und ihr Haupt flattern Fleder­ mäuse, Schwalben und die Vögel, wie auch die Katzen.232 (22) Von daher erkennt ihr, daß sie nicht Götter sind; fürchtet euch also nicht vor ihnen.“

Folgendes Enthymem liegt zugrunde: Obersatz Untersatz (das Wahrscheinliche)

Jahwe kann sehen und gebietet der Natur (implizit). Die babylonischen Götzen sind blind und der Natur ausgeliefert. Stützung (das Sichere) Sie werden durch den Tempelbetrieb verschmutzt und von Tieren heimgesucht. Schlussfolgerung (das Unsichere, Die babylonischen Götzen sind keine Götter. das als sicher erwiesen wird) Die „praktische Konsequenz“ „Fürchtet euch nicht vor ihnen!“ Tabelle 6: Rekonstruiertes Enthymem aus EpJer 15–22

Und in EpJer 23–28 schildert der Briefschreiber die Geistlosigkeit der Götzen: „(23) Denn das Gold, das sie zur Ausschmückung umkleidet – wenn niemand den Rost von ihm wegwischt, so strahlen sie nicht; denn auch, als sie gegossen wurden, nahmen sie es nicht wahr. (24) Um jeden Preis sind die erworben worden, in denen kein Geist ist. (25) Ohne Füße werden sie auf Schultern getragen, während sie den Menschen ihre Wertlosigkeit zeigen; es schämen sich aber auch diejenigen, die sie anbeten, weil sie von ihnen aufgehoben werden müssen, wenn sie auf die Erde stürzen. (26) Wenn jemand ihn aufrecht hingestellt hat, kann er sich von sich aus nicht bewegen; wenn er schief steht, kann er sich nicht richten, sondern wie für Tote werden ihnen die Opfergaben hinge­ stellt. (27) Ihre Opfer verbrauchen aber ihre Priester und verkaufen sie; ebenso salzen ihre Frauen davon ein und geben weder einem Armen noch einem Hilflosen davon ab. Die Unreine und Wöchnerin rühren ihre Opfer an. (28) Wenn ihr daraus erkannt habt, dass sie nicht Götter sind, so fürchtet euch nicht vor ihnen.“

Auch hier geht der Briefeschreiber von einer „stillen“ Prämisse aus: Obersatz Untersatz (das Wahrscheinliche) Stützung (das Sichere)

Jahwe hat Geist (implizit). Die babylonischen Götzen sind geistlos. Sie sind bewegungs- und empfindungslos.

232 Bei ὡσαύτως δὲ καὶ οἱ αἴλουροι handelt es sich offenbar um einen alexandrinischen Zusatz („Katzen können nicht ‚fliegen‘“, vgl. Kratz, Jeremia, 95), der im Kontext der ägyp­ tischen Bastetverehrung steht, vgl. Kratz, Jeremia, 96. Hurowitz, Flying Cats, 95 geht von einem Übersetzungsproblem aus und möchte die Katze als ein „divine symbol[]“ verstehen, das getilgt werden soll.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

65

Schlussfolgerung (das Unsichere, Die babylonischen Götzen sind keine Götter. das als sicher erwiesen wird) Die „praktische Konsequenz“ „Fürchtet euch nicht vor ihnen!“ Tabelle 7: Rekonstruiertes Enthymem aus EpJer 23–28

In all diesen Fällen bilden die Eigenschaften des jüdischen Gottes die Negativ­ folie für die argumentationes gegen die babylonischen Götzen. Dabei wird, wie Kratz zu Recht bemerkt, die Polemik des Briefes den realen theologischen Grundlagen der babylonischen bzw. – berücksichtigt man den historischen Kontext – persischen oder seleukidischen Götterverehrung sicherlich nicht ge­ recht, sondern die Epistel „[bricht] die differenzierte Bildertheologie gewissermaßen empirisch oder auch rationa­ listisch auf, indem sie nur sieht, was tatsächlich zu sehen ist, in den Bildern die Bilder, in den Gestirnen und anderen Naturphänomenen […] ihre – unsichtbar, nämlich vom unsichtbaren Gott gelenkte – Funktion in der Natur. So werden die Bilder ihrer transzendentalen Implikationen entleert und die kultische Verehrung profanisiert, Gott und Bild gegen das babylonische Selbstverständnis in eins gesetzt.“233

Es handelt sich bei der Epistel Jeremias um eine ausführliche, bisweilen ausufern­ de Argumentation, die vor allem über Inferenzprozesse, d. h. vor allem durch die Nahelegung der positiven Prämissen hinsichtlich des Wesens Gottes die Über­ legenheit des Glaubens an Jahwe gegenüber der Götzenverehrung verdeutlicht. Die inventorische Leistung des Argumentierenden besteht also in erster Linie darin, die Beobachtungen hinsichtlich des babylonischen Götterkultes am jüdi­ schen Gottesbegriff zu messen. Kritik an einer konträren Position setzt also nicht immer eine Explikation der korrespondierenden, eigenen Position voraus. Ein Beispiel für besonders komplexe rationale Strukturen, die über die übli­ che Korrelation von konkretem Fall (assumptio) und allgemeiner Regel (propositio) hinausgehen und ineinander verschachtelt sind, bieten Philos Pentateuchexe­ gesen. Der zweite Teil der Exegese von Gen 1, in dem es um die besondere Würde des ersten Schöpfungstags geht, besticht durch eine bemerkenswerte rationale Kinetik. Philo verfolgt zwei Fragen, zum einen die nach dem Zusam­ menhang von Urbild und Abbild und zum anderen die nach der Lokalisierung der Ideenwelt. Als exegetische Hauptthese lässt sich bestimmen: „Der erste Tag ist für die Erschaffung des Urbilds, der geistigen Idee, der sichtbaren Welt vorgesehen. Damit befindet sich die Ideenwelt an keinem immanenten Ort.“

Diese These wird anhand zweier Gedankenbewegungen begründet: In der ers­ ten geht es um die Frage nach dem Verhältnis von Urbild und Abbild.

233 

Kratz, Jeremia, 80.

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I. Macht der Argumentation

Obersatz (das Wahrscheinliche) Stützung (das Sichere) Untersatz (das Wahrscheinliche)

Gottes Schöpfung ist eine materielle Schöpfung. Fehlt Einer materiellen Schöpfung liegt ein geistiges Urbild zugrunde. Stützung (das Sichere) Allegorie vom Architekten Schlussfolgerung (das Unsichere, Gottes Schöpfung liegt ein geistiges Urbild das als sicher erwiesen wird) zugrunde. Tabelle 8: Rekonstruierte ratiocinatio aus Opif. mund. 13–25

Dann folgt die Erklärung des Begriffs der Vernunft: Obersatz (das Wahrscheinliche)

Ein Urbild beruht auf der rechten Zuteilung und dem rechten Maß. Stützung (das Sichere) Allegorie vom Architekten Untersatz (das Wahrscheinliche) Gottes Vernunft ist Ort der rechten Zuteilung und des rechten Maßes bzw. Gottes Vernunft ist rechte Zuteilung und rechtes Maß. Stützung (das Sichere) Gott gibt jedem so viel, wie er ertragen kann. Schlussfolgerung (das Unsichere, Ort des Urbildes ist Gottes Vernunft. das als sicher erwiesen wird) Tabelle 9: Rekonstruierte ratiocinatio aus Opif. mund. 13–25

Dieses zweite Epicheirem erweist sich nun insofern als problematisch, als dass die Lokalisierung des Urbildes in Gottes Vernunft nicht das letzte Wort in die­ ser Sache ist. Im sich anschließenden Vers (Opif. mund. 25), der die Argumen­ tation zu Gen 1 insgesamt abschließt, wird das Urbild nicht mehr nur in der Vernunft verortet, sondern mit Gottes Vernunft identifiziert: „Wenn er im Folgenden die Schöpfung des Menschen beschreibt, erklärt er ausdrück­ lich, dass er nach dem Abbild (κατ’ εἰκόνα θεοῦ) Gottes gebildet worden sei. Wenn aber der Teil Abbild eines Abbildes ist, ist es klar, dass auch das Ganze ein Bild ist (εἰ δὲ τὸ μέρος εἰκὼν εἰκόνος [δῆλον ὅτι] καὶ τὸ ὅλον εἶδος ). Diese ganze wahrnehmbare Welt, wenn sie größer ist als das menschliche Abbild, ist eine Nachahmung des göttlichen Bildes (μίμημα θείας εἰκόνος), und es ist klar, dass auch das ursprüngliche Siegel (ἡ ἀρχέτυπος σφραγίς ), das wir gedachte Welt nennen, selber das Beispiel, die ursprüngli­ che Idee der Ideen, die Vernunft Gottes selbst ist.“234

Wozu vollführt Philo diese letzte, sperrige Gedankenbewegung und wozu greift er plötzlich auf den Begriff εἶδος zurück, der in der bisherigen Argumen­ tation keine Rolle gespielt hat? J. G. C. van Winden widmet sich dem Problem der Logik von Opif. mund. 25 und fragt: „How can the doctrine of Moses that man was made after God’s image be an argument in favour of the coinciding of 234 

Übersetzung wie oben PB.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

67

God’s logos and the world of ideas?“235 Er untersucht insbesondere die Funktion des Begriffs εἶδος in der obigen Argumentation. Philo wolle begründen, dass der Mensch Teil der Schöpfung sei und dass das, was von ihm ausgesagt werden könne, auch von der Schöpfung als ganzer ausgesagt werden darf: „The argu­ ment ‚from the part to the whole‘ is a kind of a fortiori argument, but how could one argue from ‚the part‘ to ‚the whole form‘?“236 Van Winden unterbreitet nun angesichts der logischen Spannungen, die der Text bereitet, einen radikalen Vorschlag: Er nimmt eine Konjektur vor und löst εἶδος als εἰ δὲ ὅ auf, so dass ein neuer Satz in paralleler Struktur zum nächsten erkennbar 237 und die Funktion der Abschlussargumentation klarer wird, denn dann würde die Argumentation von Opif. mund. 25 folgendermaßen verstanden werden müssen: Obersatz (das Wahrscheinliche)

Wenn der Mensch als Teil des Kosmos als Abbild von Gottes Logos geschaffen wurde, dann ist der ganze Kosmos als Abbild von Gottes Logos geschaffen. Untersatz (das Wahrscheinliche) Die frühere Argumentation hat gezeigt, dass der Kosmos als gedankliches Bild von Gottes Logos geschaffen worden sei. Schlussfolgerung (das Unsichere, Logos und gedanklicher Kosmos fallen im Akt der das als sicher erwiesen wird) Schöpfung zusammen, weil der gedankliche Kosmos ein Abbild des Logos ist.238 Tabelle 10: Rekonstruierter Syllogismus aus Opif. mund. 25 nach van Windens Konjektur 238

Van Winden rechtfertigt seine textkritische Entscheidung damit, dass er die Funktion des letzten Argumentationsgangs insgesamt hinterfragt, in dem Philo eine vergleichsweise schwerfällige und redundante Gedankenbewegung voll­ zieht und gewissermaßen im letzten Moment einen völlig neuen Aspekt in die Argumentation einführt. Er bestimmt den Nutzen des Abschnitts unter der Voraussetzung, dass εἰ δὲ ὅ gelesen wird, folgendermaßen:

235 

Van Winden, World, 212. AaO. 213. 237  Vgl. aaO. 214 f. Die Konjektur sähe folgendermaßen aus: εἰ δὲ τὸ μέρος εἰκὼν εἰκόνος δῆλον ὅτι καὶ τὸ ὅλον [εἶδος]. εἰ δὲ ὅ σύμπας οὗτος ὁ αἰσθητὸς κόσμος, εἰ μείζων τῆς ἀνθρωπίνης ἐστίν, μίμημα θείας εἰκόνος, δῆλον ὅτι καὶ ἡ ἀρχέτυπος σφραγίς, ὅν φαμεν νοητὸν εἶναι κόσμον, αὐτὸς ἂν εἴη τὸ παράδειγμα, ἀρχέτυπος ἰδέα τῶν ἰδεῶν ὁ θεοῦ λόγος. Dann müsste folgender­ maßen übersetzt werden: „Wenn aber der Teil Bild eines Bildes ist, ist es klar, dass auch das Ganze [„ein Bild ist“, PB]. Wenn aber diese ganze wahrnehmbare Welt, wenn sie größer ist, als das menschliche Abbild, eine Nachahmung des göttlichen Bildes ist, ist klar, dass auch das ursprüngliche Siegel, das wir gedachte Welt nennen, selber das Beispiel, die ursprüngliche Idee der Ideen, die Vernunft Gottes selbst ist.“ 238  Vgl. aaO. 215. 236 

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I. Macht der Argumentation

„Why does he endeavour to identify the world of ideas with the logos of God? The answer, I think, should be: because Philo tries to reduce as far as possible the multiplici­ ty in his system. There is not a logos of God and the ideas within him, but these two are one and the same reality.“239

Philo bemühe sich also um Klarheit und eine gewisse Uniformisierung der Be­ griffe. Van Windens These, εἶδος nach εἰ δὲ ὅ aufzulösen, hat also vieles für sich, geht es doch Philo in dem letzten Abschnitt nach eigener Auskunft darum, „schlichtere Worte“ (γυμνοτέροις χρήσασθαι τοῖς ὀνόμασιν) zu finden und Ver­ wirrungen zu vermeiden – die Menschenschöpfung als Erklärungsmuster her­ anzuziehen scheint in diesem Fall ein angemessener „Umweg“ zu sein, der das Verhältnis von Bild und Abbild noch einmal aus einer anderen Perspektive er­ klärt. Der εἶδος-Begriff hingegen, der nur in diesem Zusammenhang auftaucht und nicht weiter erklärt wird, wirkt in der ansonsten ausgewogenen Argumen­ tation sperrig, wenig konkret und vor allem nicht zielführend. 2.3.3. Fazit Nach diesen Untersuchungen kann ein vorläufiges Fazit gezogen werden: Aus rationaler Perspektive erweist sich der Skopus der Argumentation als Schluss­ folgerung aus mindestens zwei Prämissen, die eine allgemeine Regel und einen konkreten Fall repräsentieren. Die Schlussfolgerung stellt also das Relat zwi­ schen zwei Erkenntnisbereichen dar, die zuvor in keinem unmittelbaren, argu­ mentativen Zusammenhang gestanden haben. Bezüglich der Evidenz einer argumentationstheoretisch basierten Skopus­ bestimmung in theologischen Texten des hellenistischen Judentums kann der Negativbefund, den die Vertreter neuerer Argumentationsforschung geltend machen, nicht bestätigt werden: Die Texte beruhen trotz ihres religiösen Inhalts und ihrer Bezugnahme auf übernatürliche Offenbarungsquellen auf einer ratio­ nalen Gedankenbewegung bzw. dem Grundprozess der ratiocinatio. Die Er­ kenntnisbereiche des „Sicheren“, „Wahrscheinlichen“ und „Unsicheren“ lassen sich kontrastiv voneinander abheben, ihre Verknüpfungen kritisch darstellen und prüfen. Religiöses Argumentieren ist also nicht per se unlogisch, sondern beansprucht innerhalb seines Adressatenhorizonts Rationalität und Evidenz, insofern es seine Prämissen in ein rational angemessenes Verhältnis zueinander setzt.

239 Ebd.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

69

2.4. Zielorientierung auf struktureller Ebene: Argumentation als Anordnung interdependenter Begründungssegmente 2.4.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik In den antiken Handbüchern werden die Gestaltungsmöglichkeiten der „Parti­ tur“240 einer argumentatio sehr kontrovers diskutiert, gemeinsam ist ihnen je­ doch, dass sie Argumentation als eine Struktur beschreiben, die konsequent zu einem Höhepunkt, einer eindeutig ausgewiesenen Zusammenfassung führt. Cicero kennt wie Aristoteles zwei Arten der Argumentation – die inductio und die ratiocinatio.241 Die Induktion arbeitet mit einem vergleichenden Pro­ gress: Durch Verkettung von nicht zweifelhaften Sachverhalten, die zustim­ mungspflichtig sind („non dubiis captat assensiones“), erreiche der Redner die Zustimmung der Hörer zu einem strittigen Sachverhalt.242 Cicero referiert einen sokratischen Dialog, in dem Xenophon und seine Frau einer Be­ fragung unterzogen werden: „Wenn dein Nachbar ein besseres Pferd hat, als deines ist, möchtest du dann lieber dein Pferd oder seines?“ Xenophon habe geantwortet, dass er lieber das des Nachbarn besäße. Sokrates habe darauf hin die Frage immer wieder neu im Kontext anderer Lebensbereiche (Kleidung, Geld, Grundstück) formuliert – bis hin zur entscheidenden Frage nach der besseren Frau bzw. dem besseren Mann. Diese sei jedoch von den beschämten Eheleuten unbeantwortet geblieben. Aufgrund der ratio rogandi, so Ciceros Beobachtung, werden Sachverhalte, die für sich zweifelhaft erscheinen, in unzweifelhafte überführt – 243 es handelt sich i. w. S. um eine mäeutische Methode. Die Schlussfolgerung müsse – so Cicero – vom Befragten selber oder – im Falle von dessen Schweigen – vom Redner gezogen werden.244 Die inductio besteht also aus drei Teilen: der Konstruktion mehrerer Ähnlichkeiten, der Angabe des Sachverhalts, der zugegeben werden soll, und der Schlussfolgerung, die daraus gezogen werden muss.

Das Epicheirem bzw. die ratiocinatio stellt – wie unter I.2.3.1. bereits angedeutet – bei Cicero eine komplexe Form der argumentatio dar, die das aristotelische Enthymem erweitert. Cicero definiert die ratiocinatio als „die Art der Rede, die aus sich selbst etwas Glaubwürdiges herauslockt, was, vorgetragen und an sich erkannt, sich durch die eigene Kraft und Vernunftmäßigkeit bekräftigt.“245 Cicero diskutiert die Frage, ob die ratiocinatio drei- oder fünfteilig ausfallen müsse, wobei er sich kritisch mit der aristotelischen Tradition des Enthymems auseinandersetzt. Die Verfechter des dreiteiligen Auf baus (Obersatz, Untersatz und Schlussfolgerung) füh­ ren an, dass zusätzliche Beweise und Stützungen von Ober- und Untersatz nicht als ei­ gene Bestandteile aufzufassen seien, sondern vielmehr „substantiell“ zu den jeweiligen 240 

„partitio“ (Quint. inst. IV,5,1 [Rahn 498–501]). Vgl. Cic. inv. I,50 (Nüßlein 92f ). 242  Vgl. Cic. inv. I,51 (Nüßlein 94f ). 243  Vgl. Cic. inv. I,53 (Nüßlein 96f ). 244  Vgl. Cic. inv. I,54 (Nüßlein 96–99). 245  Cic. inv. I,57–59 (Nüßlein 100–105). 241 

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I. Macht der Argumentation

Sätzen dazugehören.246 Sie argumentieren – laut Cicero –, dass unbewiesene, d. h. fal­ sche Prämissen per se keine Geltung haben können. Cicero wendet jedoch ein, dass, wer auf ein dreiteiliges, syllogistisches Modell insistiere, weniger die Redepraxis als die Lo­ gik im Blick habe,247 deren Grenzen jedoch viel zu eng für die Erarbeitung von Argu­ mentationen in konkreten Redesituationen und daher kaum praxistauglich seien: „Ich möchte aber, daß man erkennt, daß ich sehr wohl weiß, daß auch auf viele andere un­ verständliche (obscuris) Arten Beweisführungen in der Philosophie erörtert werden, für die sich eine bestimmte Theorie durchgesetzt hat. Aber diese passen, wie ich glaube, nicht zur Praxis des Redners.“248 Cicero verteidigt eine fünfteilige argumentatio, indem er zeigt, dass Ober- und Untersatz je nach Lage der Beweisführung schwach oder stark sein können und dementsprechend einen Beweis benötigen. Satz und Beweis als dialek­ tisches Amalgam zu verstehen (i. S. einer „unhintergehbaren Prämisse“), sei deswegen nicht möglich, weil die Stützung nicht zum „Nämlichen“, zur „Substanz“ des Satzes gehören könne („idem esse“).249 Cicero führt Beispiele an: Er erklärt, dass es nicht nötig sei, einen eindeutigen Obersatz zu beweisen wie z. B.: „Wenn ich an dem Tage, an dem dieser Mord geschehen ist, in Athen war, kann ich nicht an dem Mord beteiligt gewesen sein.“250 Man solle stattdessen gleich den Untersatz hinzufügen: „Ich war aber in Athen an diesem Tage.“ Dieser Untersatz solle nun unbedingt approbiert werden, dann könne unmittelbar die Zusammenfassung folgen. Auch auf den Beweis des Untersatzes könne man unter bestimmten Umständen verzichten. Sein Beispiel ist ein Obersatz wie „Wenn es sich gehört, weise sein zu wollen, dann ziemt es sich, Philosophie zu betreiben.“ Während dieser Obersatz bewiesen werden müsse (weil er strittig ist – manche meinen, Philosophie sei unnütz oder schädlich), komme der Untersatz („Es gehört sich aber, weise sein zu wollen“) ohne Begründung aus, weil er von allen Seiten akzeptiert wer­ de.251 Cicero kennt sogar den Fall, dass weder Ober- noch Untersatz eines Beweises bedürfen: „Wenn man mit größter Mühe nach der Weisheit streben soll, muß man mit größter Mühe die Torheit meiden [Obersatz]. Mit größter Mühe aber soll man nach der Weisheit streben [Untersatz]. Also muß man mit größter Mühe die Torheit meiden [Zu­ sammenfassung].“252

246 

Vgl. Cic. inv. I,60 (Nüßlein 104f ). Cic. inv. I,60 (Nüßlein 104f ): „non tam ad usum dicendi […] quam ad rationem praeceptionis.“ Damit scheint Cicero ein sehr deutliches Votum zur Frage abzugeben, ob Aristoteles seine Rhetorik eher für Redner oder Philosophen (vgl. Stroh, Macht der Rede, 181) geschrieben hat. 248  Cic. inv. I,77 (Nüßlein 122f ). 249  Cic. inv. I,62 (Nüßlein 106f ). Deswegen liegt Ottmers, Rhetorik, 82f völlig richtig, wenn er erkennt, dass in Ciceros Epicheirem Ober- und Untersatz im Grunde Enthymeme bilden, es also aus mehreren Subsystemen besteht. Unsachgemäß ist es jedoch, das Epicheirem als „detailliertere Ausführung des Enthymems“ darzustellen, wie Ottmers (aaO. 80) vor­ schlägt. Er kommt zu dem Schluss, dass das Enthymem viel flexibler sei als das Epicheirem, das „sehr umständlich, fast schablonenhaft wirkt“ (aaO. 81) und dass in der ratiocinatio „die Argumentation im Grunde zu einem schematischen Abspulen von fünf Teilschritten erstarrt ist“ (ebd.). Dies entspricht dem Anliegen Ciceros überhaupt nicht, dem viel an der Flexibili­ tät der Beweisführung gelegen ist und der als hauptsächlichen Orientierungspunkt auch der ratiocinatio die Verstehenshorizonte der Hörer bestimmt. 250  Cic. inv. I,63 (Nüßlein 106–109). 251  Vgl. Cic. inv. I,64f (Nüßlein 108–111). 252  Cic. inv. I,66 (Nüßlein 110f ). 247  Vgl.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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Abhängig davon, für wie akzeptabel er sie hält, muss ein Argumentierender dem Ober- oder Untersatz Stützungen hinzufügen.253 Cicero zeigt damit, dass Struktur und Umfang der ratiocinatio von der Überzeugungskraft ihrer Sätze, d. h. von pragmatischen Momenten, abhängig sind.254 Die Rhetorica ad Herennium, die lange Zeit Cicero zugeschrieben wurde, nennt diejenige argumentatio am vollständigsten und vollkommensten („absolu­ tissima et perfectissima“255), die folgende fünf Teile berücksichtigt, welche zu­ mindest terminologisch an Cicero angelehnt sind: 1. Die propositio bildet die Inhaltsangabe der Argumentation („Propositio est, per quam ostendimus summatim, quid sit quod probari volumus“256). 2. Die ratio gibt den Grund bzw. die Begründung für die Intention der Argu­ mentation an, formuliert also das Ziel und die Tendenz der Argumentation („Ratio est quae causam demonstrat, verum esse id, quod intendimus, brevi subiectione“257). 3. Die confirmatio rationis stärkt – z. B. durch andere Beweise – die kurz entfalte­ te ratio („Rationis confirmatio est ea, quae pluribus argumentis conroborat breviter expositam rationem“258). 4. Bei der exornatio handelt es sich nicht um eine rein stilistische „Ausschmük­ kung“, vielmehr geht es um weitere Gründe, die die Sache zieren und be­ reichern und dadurch die Argumentation bekräftigen („Exornatio est, qua utimur rei honestandae et conlocupletandae causa, confirmata argumenta­ tione“259). 5. Die conplexio260 fasst die argumentatio zusammen. Erlaubt ist es in Einzelfällen, auf exornatio und conplexio zu verzichten, z. B. bei sehr kurzen argumentationes („sin et brevis erit argumentatio“261). 253  Kolmer/Rob-Santer, Studienbuch Rhetorik, 167f rücken das Epicheirem in die Nähe von Toulmins Argumentationsschema, was höchst problematisch ist, da Cicero eine argumentationsimmanente Konzession nicht kennt und das Epicheirem vom Syllogismus deulich abheben möchte. 254 Vgl. Coenen, Rhetorisches Argumentieren, 70: „Rhetorische Argumentation hat ih­ ren Platz, wo strengere Methoden der Beweisführung entweder nicht zur Verfügung stehen oder den ungeschulten Adressaten nicht erreichen würden. […] Es gibt Grade der Verläßlich­ keit, die vom rhetorischen Allerweltsargument bis zum wissenschaftlichen Beweis reichen. Gute Rhetorik bietet den höchsten Grad an Verläßlichkeit, den der Stoff, die verfügbare Zeit und das Aufnahmevermögen des Adressaten zulassen. Wer unterhalb dieses Niveaus bleibt, mißachtet nicht nur die Sicherheitsstandards der Wissenschaft, er verstößt auch gegen die Anforderungen der Rhetorik.“ 255  Rhet. Her. II,28 (Nüßlein 88–101). 256 Ebd. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Ebd. 260  Nüßleins Ausgabe der Rhetorica ad Herennium bietet durchweg conplexio statt complexio (wie in Nüßleins Cicero-Ausgabe). 261  Rhet. Her. II,30 (Nüßlein 90–93).

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I. Macht der Argumentation

Wie sind die verschiedenen Teile der Argumentation inhaltlich aufeinander be­ zogen? Auch die Rhetorica ad Herennium bietet eine Musterargumentation, an­ hand derer die verschiedenen Teile veranschaulicht werden. Die folgende Über­ sicht gibt das von Rhet. Her. II,28f gebotene Beispiel wieder: propositio [oder expositio] – est, per quam ostendimus summatim, quid sit quod probari volumus ratio – est quae causam demonstrat, verum esse id, quod intendi­ mus, brevi subiectione rationis confirmatio – est ea, quae pluribus argumentis conroborat breviter expositam rationem

Causam ostendemus Ulixi fuisse, quare interfecerit Aiacen.

Wir werden darstellen, daß Ulixes einen Grund hatte, den Aiax zu töten.

Inimicum enim acerrimum de medio tollere volebat, a quo sibi non iniuria summum periculum metuebat.

Er wollte nämlich seinen erbittert­ sten Feind beseitigen, von dem ihm, wie er nicht zu Unrecht fürchtete, höchste Gefahr drohte.

Videbat illo incolumi se incolumem non futurum; sperabat illius morte se salutem sibi conparare; consueverat, se iure non potuerat, iniuria quavis inimico exitium machinari: cui rei mors indigna Palamedi testimonium dat. Ergo et metus periculi hortabatur eum interimere, a quo supplicium verebatur; [et] consuetudo peccandi maleficii suscipiendi removebat dubitationem.

Er sah, daß er nicht wohlbehalten sein werde, solange jener wohl­ behalten sei; er hoffte, durch den Tod jenes Mannes sich Rettung zu verschaffen; er war gewohnt, wenn er es nicht mit rechten Mitteln konnte, mit jedem beliebigen unrechten Mittel einem Feind den Untergang zu bewir­ ken; dafür gibt der unverdiente Tod des Palamedes ein Zeugnis ab. Also ermunterte ihn auch die Furcht vor einer Gefahr, den Mann zu beseitigen, von dem er selbst den Tod fürchtete, und seine Gewöhnung an Vergehen drängte sein Bedenken gegen eine schlechte Tat zurück.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

exornatio – est, qua utimur rei honestandae et conlocupletan­ dae causa, confirmata argumentatione

Omnes enim cum minima peccata cum causa suscipiunt, tum vero illa, quae multo maxima sunt maleficia, aliquo certo emolumento inducti suscipere conantur. Si multos induxit in peccatum pecuniae spes, si conplures scelere se contaminarunt imperii cupiditate, si multi leve conpendium fraude maxima commutarunt, cui mirum videbitur, istum a maleficio propter acerrimam formidi­ nem non temperasse? Virum fortissimum, integerrimum, inimicitiarum persequentissi­ mum, iniuria lacessitum, ira exsuscitatum homo timidus, nocens, conscius sui peccati, insidiosus inimicum in­ columem esse noluit: qui tandem hoc mirum videbitur? Nam cum feras bestias videamus alacres et erectas vadere, ut alteri bestiae noceant, non est incredibile putandum istius quoque animum ferum, crudelem atque inhumanum cupide ad inimici perniciem profectum; praesertim cum in bestiis nullam neque bonam neque malam rationem videamus, in isto plurimas et pessumas rationes semper fuisse intellegamus.

73

Alle Menschen nämlich begehen ganz kleine Vergehen, wenn ein Grund dazu vorhanden ist, besonders aber versuchen sie, wenn sie irgendein sicherer Vorteil dazu veranlaßt, auch die aller­ schlimmsten Untaten zu vollbrin­ gen. Wenn viele Menschen die Aussicht auf Geld zu einem Vergehen verleitete, wenn sich mehr Menschen mit einem Verbrechen befleckten aus Herrschsucht, wenn viele einen geringen Gewinn gegen einen ganz schlimmen Betrug eintausch­ ten, wem erscheint es da verwun­ derlich, daß dieser Mann da wegen der schlimmsten Furcht nicht von einer schlechten Tat ließ? Einen so heldenhaften, untadeligen, in seiner Feindschaft unbeugsamen, durch ein Unrecht gereizten, von Zorn entflammten Mann wollte der ängstliche, ruchlose, seines Vergehens sich bewußte, heimtückische Mensch beseitigen; daß sein schärfster Feind unversehrt sei, wollte der unredliche Mann nicht. Wem erscheint dies schließlich verwun­ derlich? Denn da wir die wilden Tiere feurig und aufgerichtet einherschreiten sehen, damit sie einem anderen Tier schaden, muß man es nicht für unglaublich halten, daß auch dieses Mannes wilder, grausamer, unmenschli­ cher Sinn gierig auf das Verderben seines Feindes aus war, zumal wir bei den wilden Tieren überhaupt keine von der Vernunft gelenkte Überlegung, weder eine gute noch eine schlechte, sehen, dieser Mensch aber, wie wir erkennen, immer sehr viele ganz schlechte Überlegungen hatte.

74 conplexio – est, quae concludit breviter, conligens partes argu­ mentationis

I. Macht der Argumentation

Si ergo pollicitus sum me daturum causam, qua inductus Ulixes accesserit ad malefi­ cium, et si inimicitiarum acerrimam rationem et periculi metum intercessisse demonstravi, non est dubium quin confiteatur causam male­ficii fuisse.

Wenn ich also angekündigt habe, ich würde die Ursache angeben, aus der heraus Ulixes zu der schlimmen Tat schritt, und wenn ich gezeigt habe, daß bitterste Feindschaft und Furcht vor der Gefahr dazukamen, muß man zweifellos zugeben, daß ein Grund für die böse Tat bestand.

Tabelle 11: Textpräsentation von Rhet. Her. II,28f in der Übersetzung von Nüßlein, Th. (Hg.): Rhetorica ad Herennium (lateinisch-deutsch), München 1994, 88–93, dargestellt nach Begründungsabschnitten

Anhand des Beispiels wird deutlich, dass die propositio, die der Autor der Rhetorica ad Herennium auch gelegentlich expositio nennen kann, das strittige Thema der gesamten Beweisführung benennt – hier wird deutlich, worum es in der Argumentation gehen soll, d. h. der Argumentierende formuliert eine Über­ schrift bzw. Eingangsthese, von der die Beweisführung abhängt. Die ratio scheint hinsichtlich der propositio eine unmittelbare Begründung darzustellen („enim“): Odysseus hatte einen Grund für den Mord, weil ihm eine Gefahr vor Augen stand. Die rationis confirmatio bestätigt den kausalen Zusammenhang von propositio und ratio. Der Redner schildert die Gründe für Odysseus’ Tat und liefert verschiedene Argumente („argumentiis“), die den Bezug zwischen propositio und ratio stützen: Neid, Angst vor Verlust etc. Dabei stellt jedoch – wie das Beispiel zeigt – die confirmatio nicht nur eine weitere Begründung der Begründung dar, sondern die ratio wird als ratio der propositio bekräftigt, d. h. in ihrer kausalen Interdependenz von der Leitthese bestätigt. Die exornatio abstrahiert die ratio und confirmatio auf einer anthropologischen, historischen und kulturellen Ebene: Die Verbindung zum eigentlichen Fall liegt in gewissen Vergleichsmomenten, wie sie z. B. die conditio humana bietet („omnes“, „homo“; der Vergleich mit den „bestiae“). Echte stilistische Ausschmückungen finden sich aber auch: Rhetori­ sche Fragen, Aufzählungen, Pleonasmen, Vergleiche. Die exornatio operiert aber eindeutig im Modus des Argumentativen. Sie stellt eine sach­liche Weiterfüh­ rung und verallgemeinernde Darlegung des Falls dar. Die conplexio umfasst eine Auswertung der gesamten Argumentation – in ihr läuft die gesamte Tendenz der Argumentation zu einer aussagekräftigen Wertung zusammen. Die Rhetorica ad Herennium bietet nun auch einen umfangreichen Katalog handwerklicher und struktureller Fehler, die der Redner bei seiner Argumen­ tation unbedingt vermeiden sollte. Diese Aufstellung ist insofern aufschluss­ reich, als dass sie das Problem mangelnder Kohärenz einer Argumentation ein­ gehend beleuchtet. So sei eine expositio fehlerhaft, wenn sie in unangemessener Weise pauschalisiere (Bei­ spiel: „Niemand kann durch einen einzigen Blick und auch nicht im Vorübergehen in

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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Liebe verfallen“262), zu weit aushole oder eine wesentliche Erwägung vergesse.263 Die ratio sei dann fehlerhaft, wenn sie hinsichtlich der expositio nicht angemessen sei – wegen ihrer „Unzulänglichkeit oder wegen ihrer Gehaltlosigkeit“264. Außerdem müsse sie ei­ nen „zwingenden Grund“ („necessariam causam“) anführen, um echte ratio zu sein,265 und sie dürfe nicht einfach nur die expositio mit anderen Worten wiederholen bzw. Be­ lege für die expositio anführen, die nur einen ihrer Bestandteile oder sogar ihr Gegenteil beweisen.266 Der größte Teil des Katalogs entfällt auf Fehler in der confirmatio, was ihre Relevanz für das Gelingen der ganzen Argumentation zeigt, da hier die eigentliche Überzeugungsarbeit stattfindet. Sie dürfe u. a. nicht mögliche Gründe für die ratio als notwendige ausweisen;267 nicht zu allgemein gestaltet sein;268 sich nicht selbst entkräften oder Klischees bedienen; nicht noch Zweifelhaftes als bereits Sicheres darstellen und ein Verbrechen durch den Verdacht desselben begründen wollen;269 sie dürfe sich nicht gegen Richter oder Zuhörer richten;270 sie müsse alle Punkte bekräftigen, die die expositio angegeben hat.271 Die Fehler, die dem Redner in der exornatio unterlaufen können, werden in der Rhetorica ad Herennium recht pauschal besprochen, doch der Katalog zeigt, welche Bandbreite an rhetorischen und argumentativen Möglichkeiten die exornatio bie­ tet: Gleichnisse, Beispiele, richterliche Vorentscheidungen, Steigerungen und alles an­ dere, was die Beweisführung verstärke.272 Eine conplexio sei dann fehlerhaft, wenn sie nicht „kurz und bündig abgeschlossen wird“273 und nicht pointiert zusammenfasst, was die einzelnen Teile der Argumentation hinsichtlich des Argumentationsziels geleistet haben.

Zwischen Ciceros Ansatz und dem der Rhetorica ad Herennium zeigen sich trotz der terminologischen Gemeinsamkeiten gravierende Unterschiede. Bei Cicero dient die ratiocinatio als argumentative Grundstruktur und Methode der Selbste­ valuation: Der Redner soll sich über die philosophische Grundbewegung seiner Argumentation im Klaren sein und diese als Form internalisieren, wenngleich er frei ist, einzelne Segmente zu vertauschen oder auszulassen. Die argumentatio der Rhetorica ad Herennium hingegen ist im Idealfall linear aufgebaut, an der differenzierten Begründung der propositio interessiert und auf das ostendere hin ausgerichtet. Sie ist stärker adressatenorientiert – im Fokus steht der Progress der Argumentation, der in der conplexio gipfelt.274 Was beide Modelle miteinander verbindet, ist ihre Kinetik: Argumentieren ist ein Prozess, in dem zwischen 262 

Rhet. Her. II,33 (Nüßlein 94–97). Vgl. Rhet. Her. II, 32–34 (Nüßlein 94–99). 264  Rhet. Her. II,35 (Nüßlein 98–101). 265  Vgl. Rhet. Her. II,36 (Nüßlein 100–103). 266  Vgl. Rhet. Her. II,37f (Nüßlein 102–105). 267  Vgl. Rhet. Her. II,39 (Nüßlein 104–107). 268  Vgl. ebd. 269  Rhet. Her. II,41 (Nüßlein 108–111). 270  Vgl. Rhet. Her. II,43 (Nüßlein 110–113). 271  Vgl. ebd. 272  Vgl. Rhet. Her. II,46 (Nüßlein 116–119). 273 Ebd. 274  Die Anordnung der einzelnen Argumente in der Rede wird in der Rhetorik pragma­ tisch gehandhabt: Die stärksten Argumente sollten am Anfang und Schluss stehen, die schwächsten in der Mitte (vgl. Rhet. Her. III,18 [Nüßlein 150f ]). 263 

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I. Macht der Argumentation

inhaltlich oder formal abgegrenzten Begründungssegmenten Interdependenzen hergestellt werden, um ein kommunikatives Ziel (die conplexio) zu erreichen.275 2.4.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Argumentationsstrukturen in hellenistisch-jüdischen Texten Die nun folgende Analyse der Argumentationsstruktur ausgewählter Texte aus dem hellenistischen Judentum muss beides – das Trennende, d. h. die Segmentierung der Argumentation in einzelne gedankliche Schritte, und das Verbindende, d. h. die kausale Interdependenz – im Blick behalten. Zudem muss die Argumen­ tationsanalyse auch die Elastizität und Flexibilität der gegebenen Argumenta­ tionsstrukturen anerkennen, d. h. sie darf den Texten nicht vorschnell eine Ide­ alstruktur überstülpen. Dies würde auch den Rhetorikhandbüchern selber zu­ widerlaufen, da diese die Möglichkeit der Inversion und Auslassung einzelner Segmente nicht nur erlauben, sondern auch dezidiert begrüßen. Das ciceroni­ sche Monitum „[…] in allen Dingen ist die Einförmigkeit die Mutter der Über­ sättigung“276 bringt das methodische Problem des intrikaten Verhältnisses ­zwischen theoretischem Ideal und rhetorischer Wirklichkeit auf den Punkt: Inwiefern sich mit Hilfe des rhetorischen Paradigmas konkrete Argumenta­ tionsstrukturen adäquat analysieren lassen und ob eine rhetorische Methode bei der Analyse konkreter Textstrukturen hilfreich sein kann, ist an den Texten selber zu prüfen. Der Auf bau der Rede des Hohenpriesters Eleazar zeigt eine große Kunst­ fertigkeit. Die Rede besteht aus zwei Argumentationsgängen: Beide sind linear aufgebaut, doch der erste ist invertiert und strebt vom Allgemeinen ins Speziel­ le. Ausgangspunkt der Rede ist Aristeas’ Frage nach der übermäßig strengen Speisegesetzgebung und der Ursache für die Speise- und Berührungsverbote mancher Tiere (Arist 129), obwohl die Schöpfung „eine Einheit“ sei (Arist 129). Im ersten Teil der Rede (Arist 130–149) argumentiert Eleazar in drei Schritten, um Sinn und Ziel der mosaischen Gesetzgebung aufzuzeigen und das Problem der rigiden Gebotsobservanz nach und nach einzugrenzen. Der erste Abschnitt reicht von Arist 130 bis 133.277 In Arist 130 formuliert Eleazar eine Grundannahme: Der Umgang des Menschen mit Gutem oder Schlechtem hat Auswir­ kungen auf seinen Charakter und sein Lebensglück. Bei dieser Einleitung handelt es sich nicht um eine Eröffnungsthese, die direkt auf die Anfrage des Aristeas Bezug nehmen würde (auch wenn Eleazar mit θεωρεῖς augenscheinlich auf ihn eingeht), sondern um die Formulierung einer anthropologischen Grundeinsicht in einem weiten, theologi­ schen Horizont. In Arist 131–133 wird diese Grundannahme konkretisiert: Die Gebote 275  Dabei können – wie die Beispiele erkennen lassen – die Interdependenzen durchaus implizit bzw. kaschiert sein. Übergang und Abgrenzung der Segmente sind vor allem inhalt­ licher Natur und müssen nicht durch formale Signale angezeigt werden. 276  Cic. inv. I,76 (Nüßlein 120–123). 277  Vgl. auch Wright, Aristeas, 253.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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wollen darauf hinweisen, dass es nur einen Gott gebe, der Einsicht in das verborgene Tun des Menschen nehmen könne. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang, wie er in Arist 130 beschrieben wird, wird von diesem Gott garantiert – dass Gott das Böse straft, ma­ nifestiert sich in den von Mose gegebenen Geboten und stellt den verbindlichen Richt­ punkt der jüdischen Frömmigkeit dar.278 Der zweite Abschnitt reicht von Arist 134 bis 139: In Arist 134–137a formuliert Ele­ azar eine Negativfolie zu dem in Arist 131–133 beschriebenen Glauben: Die Götzenver­ ehrung der nichtjüdischen Völker stellt eine Dummheit dar, denn die Menschen haben Macht über ihre Götzen und nicht umgekehrt. Die Völker verdinglichen ihren Glau­ ben, so dass das Göttliche als lebendige Macht ad absurdum geführt und die Schöpfung zum Schöpfer verkehrt wird (vgl. v. a. Arist 136). Der Zusammenhang zwischen der Einzigkeit Gottes und seiner Omniszienz, wie ihn der letzte Abschnitt zugrunde gelegt hat, wird in diesem Abschnitt insofern vertieft, als Eleazar den Götzen der fremden Völker ein Nicht-Bewusstsein vorwirft (Arist 135) – sie können die Taten der Menschen nicht beurteilen, denn sie sind nicht lebendig. Zugespitzt wird diese Polemik durch eine rigide Verurteilung der heidnischen Götzenanbetung (Arist 137a–138): Die Dummheit der fremden Völker ist grenzenlos. In Arist 139 zeigt Eleazar eine Zäsur an: συνθεωρήσας οὖν ἕκαστα σοφὸς ὢν ὁ νομοθέτης. Auf die letzten Passagen blickt Mose, der Gesetzge­ ber, als Weiser (εἰς ἐπίγνωσιν τῶν ἁπάντων) und Bevollmächtigter Gottes zurück. Mit ἕκαστα ist das Vorige – genauer: Arist 134–138 – gemeint, weswegen sich eine kausale Übersetzung des Partizips συνθεωρήσας nahelegen würde. In Arist 139 kommt eine theologische These zu stehen (Arist 130–133): Mose habe das Volk Gottes mit unüber­ windbaren Mauern und Wällen umgeben (Arist 139 ἀδιακόποις χάραξι καὶ σιδηροῖς τείχεσιν), damit es sich nicht mit den Völkern vermische, die die anderen, toten Götter anbeten. Damit sind jedoch noch keine speziellen Speisegebote gemeint, sondern offen­ bar alle Gebote, die eine Unterscheidung Israels von den Völkern forcieren. Der dritte Abschnitt umfasst Arist 140–143a: Ausgehend von der ägyptischen Fremd­ bezeichnung der Juden als „Menschen Gottes“ (Arist 140), die darauf hinweise, dass die Juden nicht Speisen, Getränken und Kleidung, sondern der τοῦ θεοῦ δυναστεία (Arist 141) nacheifern, spezifiziert Eleazar seine Argumentation ein weiteres Mal – dieses Mal hinsichtlich der Speisegebote und der Gebote διὰ […] ἀκοῆς καὶ ὁράσεως (Arist 142). In Arist 142 nimmt Eleazar auf die Anfrage des Aristeas von Arist 129 (was eigentlich ist der Sinn der Speisegebote, wo doch die Schöpfung eine Einheit ist?) explizit Bezug: Alles werde tatsächlich durch eine Macht regiert, die Speisegebote haben dennoch ihren tieferen Sinn (ἒχει λόγον βαθύν) in der Separation Israels von den Völkern.279 In Arist 143b–149 wendet Eleazar seine Argumentation abschließend auf ein Beispiel an (Arist 143b: χάριν δὲ ὑποδείγματος ἓν ἢ δεύτερον ἐπιδραμών σοι σημανῶ): Die Unrein­ heit bestimmter Tiere ergebe sich aus deren Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit – sie zu verspeisen oder zu berühren stellt eine Kontamination mit ihrer Unvollkommenheit dar. Die Berührungs- und Konsumverbote stehen also im Zusammenhang mit der An­ erkennung Gottes v. a. als allwissenden Gott, der vom Menschen Gerechtigkeit fordert. Die Unreinheit mancher Tiere ergibt sich aus Gottes Forderung nach der Abgrenzung des gerechten Juden vom Ungerechten – ihre Anerkennung stellt einen Bekenntnisakt bzw. ein besonderes Identitätsmerkmal des Volkes Gottes unter den unreinen Völkern dar. Das erste Ziel der Rede ist damit erreicht. 278 

279 

Vgl. aaO. 253 f. Vgl. aaO. 268.

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I. Macht der Argumentation

Eleazar kreist die Frage nach der Rigorosität der Speisegebote in drei Schritten ein, bevor er ein konkretes Beispiel anführt: 1. A rist 130–133: Die Gesetzgebung erweist sich als Offenbarung der Macht Gottes, das Böse zu strafen (Tun-Ergehen-Zusammenhang). 2. Arist 134–139: Die Gesetze stellen Mauern gegenüber anderen Völkern dar, die behaupten, mächtigere Götter zu verehren (‚ethnische‘ Spezifizierung). 3. A rist 140–143a: Die Speisegebote dienen als Unterscheidungsmerkmal zwi­ schen der Lebensweise Israels und der der Völker. [4.  Beispiel (Arist 143b–149): Die Speisegebote dienen der Einübung in die Ge­ rechtigkeit: das Beispiel von den gerechten und ungerechten Vögeln.] Es ist bemerkenswert, dass sich die dreistufige Anlage der Argumentation auch semantisch niederschlägt. Auf der ersten Stufe werden die Gesetze als „Gesetz­ gebung“ (τῆς νομοθεσίας) bezeichnet. Auf der zweiten Stufe wird der Gesetzes­ begriff überhaupt nicht explizit gebraucht, lediglich von den Mauern ist die Rede. Auf der dritten Stufe taucht der Begriff νομικῶς zumindest als Adverb in Verbindung mit ἁγνείας auf (Arist 142). In der Beispielpassage werden die Ge­ bote lediglich durch das Demonstrativum vertreten. Eleazar argumentiert also vom Größeren ins Kleinere und geht fast mäeutisch i. S. einer inductio vor: Die Speisegebote werden im Kontext der ganzen mosaischen Gesetzgebung und der Israel gewährten Einsicht in den Tun-Ergehen-Zusammenhang erklärt. Unmittelbar auf das Beispiel von Arist 143b–149 folgt ein zweiter Argu­ mentationsgang. Hier geht Eleazar vor allem den Speisegeboten nach, die die Nutztiere betreffen,280 während er im vorigen Abschnitt in erster Linie Rein­ heit und Unreinheit der Vögel allegorisch ausgelegt hat. Nun stellt er eine The­ se auf, die er progressiv begründet (Arist 150a): Die Gebote bzgl. der Nutztiere seien „wegen ihres Symbolgehalts“ erlassen (Arist 150: ἐπὶ τούτων καὶ τῶν κτηνῶν τροπολογῶν). Mit Arist 150b–152 tritt der Hohepriester einen ersten Beweis dieser These an, der im Schema der Rhetorica ad Herennium einer ratio gleichkäme: Die Unterscheidung von Zweihufigkeit und Spaltung der Klauen leite dazu an, alles „nach der Gerechtigkeit“ zu beurteilen. Eleazar deutet an, dass Tiere mit gespaltener Klaue auf die Unterscheidung (διαστέλλειν) von Gut und Böse hinweisen, wobei er vor allem sexualethische Problem­ fälle ins Spiel bringt – hier unterscheide sich das Judentum fundamental von anderen Völkern, die sich fortwährend sexuell vergehen.281 Mit Arist 153–154 führt Eleazar den Beweis von Arist 150b–152 weiter, insofern er voraussetzt, dass demjenigen, dem die Unterscheidungsfähigkeit möglich sei, auch die Gabe der Erinnerung (Arist 153: τῆς μνήμης κεχαρακτήρικεν) eigne, die durch das Wie­ derkäuen symbolisiert werde. Das Wiederkäuen erinnere an Leben und Bestehen (Arist 154: τῆς ζωῆς καὶ συστάσεως ἐπίμνησις ) – es weise darauf hin, dass das Leben durch die Auch wenn er die Vögel wieder erwähnt: τούτων (Arist 150). zum Zusammenhang von Reinheitsgeboten und sexueller Enthaltsamkeit Lieu, Walls, 308 f. 280 

281  Vgl.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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Nahrung seinen Bestand habe, also von außen am Leben gehalten werde. Es deutet sich hier eine vertiefende Begründung an, die im Schema der Rhetorica ad Herennium einer confirmatio entsprechen würde. Dass sich die Gabe des Unterscheidens und die Gabe des Erinnerns entsprechen, wird in Arist 155–160 forciert: Eleazar macht deutlich, dass die Speisegebote in einem Zu­ sammenhang mit anderen jüdischen Religionspraktiken wie Trank- und Speiseopfer, der Anbringung des Sch‘ma an Tor und Armen (nach Dtn 6) oder der Rezitation von Gebeten beim Erwachen und Schlafengehen stehen. Der Abschnitt identifiziert διαστέλλειν mit ἐπίμνησις (Unterscheidung und Erinnerung) und parallelisiert so die Einhaltung der Speisegebote mit anderen Frömmigkeitspraktiken des Judentums. Das Erinnern an Gott den Herrscher und Erhalter impliziert das Tun des Gerechten, wie Arist 159 nahelegt: Mit Gott ist auch seine Mahnung zur Gerechtigkeit präsent. Die Argumente des Abschnitts sind zwar nicht redundant, aber vor allem der Rekurs auf die anderen jüdischen Religionspraktiken ist additiv und könnte entfallen, ohne die kausa­ le Interdependenz der vorigen Passagen zu unterminieren. Der Zusammenhang zwi­ schen der Einhaltung der Speisegebote und der Erinnerung an die Macht Gottes findet durch diesen Abschnitt eine Bestätigung, wird aber nicht mehr in eine neue Richtung gelenkt. Die Passage kann daher durchaus sachgemäß als exornatio bestimmt werden. Mit Arist 161–169 wendet der Hohepriester ein weiteres Mal seine theologischen Erwägungen paradigmatisch an: Er fasst zusammen, dass die Gesetze nicht unüberlegt, sondern wegen der Wahrheit und zur Besserung der Lebenshaltung erlassen worden sind (Arist 161: οὐ γὰρ εἰκῆ καὶ κατὰ τὸ ἐμπεσὸν εἰς ψυχὴν νενομοθέτηται) und als Hin­ weis auf den rechten Logos verstanden werden können (Arist 161: σημείωσιν ὀρθοῦ λόγου).282 Dabei stehen Unterscheidungsfähigkeit und Erinnerung auf der gleichen Stu­ fe (vgl. Arist 161: τῆς λογίας τῆς κατὰ τὴν διαστολὴν καὶ μνείαν), die Passage zielt aber vor allem darauf, die Einhaltung der Speisegebote als Vergegenwärtigung Gottes und damit als Wiedererinnerung zu charakterisieren, während die Unterscheidungsfähigkeit in den Hintergrund tritt: Die Nahrungsaufnahme und der Kontakt mit der Tierwelt seien des­ wegen so streng reglementiert, damit der Mensch „sich nicht gehen“ und zu Unrecht hinreißen lasse (Arist 162: μήτε τῇ τοῦ λόγου δυναστείᾳ συγχρωμένους ἐπὶ τὴν ἀδικίαν τρέπεσθαι). Mit Arist 168b–169 wird der zweite Argumentationsgang pointiert zusam­ mengefasst (in Arist 168 weist die Wendung „nun auch bezüglich dieser Dinge“ darauf hin, dass der zweite Argumentationsgang vom ersten abgegrenzt werden muss und nun abgeschlossen ist) und die theologische und anthropologische Tiefendimension der Speise- und Reinheitsgebote wird festgehalten: Alle Gebote weisen auf die Gerechtig­ keit hin, die die Menschen gegen andere Menschen üben sollen; alle Gebote zielen auf das gerechte Zusammenleben der Menschen, wobei sie sich Gottes als des Herrschenden erinnern (Arist 168: μεμνημένοι τοῦ δυναστεύοντος θεοῦ). Auf dieser Grundlage basiere ihr Gemeinwesen (Arist 169: τὴν τῶν ἀνθρώπων συναναστροφὴν δικαίαν). Es handelt sich um eine paradigmatisch angelegte conplexio.

In Arist 130–149 und 150–160 liegen lineare Argumentationen vor, die das Problem der Speisegebote ausgehend von einem größeren theologischen Hori­ zont schrittweise eingrenzen. Die Rede ist äußerst geschickt aufgebaut: Im ers­ ten Argumentationsgang (Arist 130–149) sind die Begründungen der theologi­ 282  Vgl.

zur allegorischen Auslegungstechnik hier und im ganzen Aristeasbrief Wright, Aristeas, 276–283.

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I. Macht der Argumentation

schen These vorgeordnet, so dass erst nach und nach deutlich wird, worauf die Argumentation hinausläuft und welches Ziel der Priester verfolgt. Die theolo­ gischen Prämissen werden dadurch gewissermaßen kaschiert, eine Strategie, die in Ciceros Argumentationskonzept durchaus vorgesehen ist, um den Einwän­ den des Gegners zuvorzukommen. Im zweiten Argumentationsgang (Arist 150–169) begründet Eleazar schrittweise eine vorangestellte These. Die Qualitätsmerkmale der Sequenzierung und Kinetik erfüllt die Rede da­ mit vollumfänglich, vor allem für den ersten Teil fällt es jedoch schwer, den einzelnen Segmenten die Funktionsbezeichnungen, wie sie die oben dargestell­ ten Rhetorikkonzepte vorschlagen, zuzuweisen, da die Reihenfolge der in der Rhetorica ad Herennium vorgesehenen Begründungsabfolge umgekehrt ist: Eine einfache Umkehrung des Schemas – als könnte die exornatio am Beginn und die expositio am Schluss zu stehen kommen – würde die Interdependenz der Ab­ schnitte aber auch nicht sachgemäß abbilden. Zwar argumentiert Eleazar vom Abstrakten ins Konkrete, doch wird damit die Kausalitätskette nicht umge­ kehrt: Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und die Separation Israels von den Völkern sind so aufeinander bezogen, dass das Frühere die argumentative Grundlage für das Spätere bildet. Tatsächlich handelt es sich eher um eine inductio: Dadurch, dass das Bekenntnis zu dem Einen Gott zustimmungspflichtig ist, können es auch die mosaischen Gesetze sein – und schließlich auch die rigoro­ sen Speisegebote. Für die zweite Argumentation lässt sich hingegen der lineare Progress von These bzw. expositio (Arist 150a), ratio (Arist 150b-152), rationis confirmatio (Arist 153–154) exornatio (Arist 155–160) und conplexio (Arist 161–169) nachvollziehen, bildet doch Arist 153–154 eine Vertiefung des basalen Kausal­ zusammenhangs von Arist 150a und Arist 150b–152, während Arist 155–160 dessen exemplarische, additive und abstrahierende Weiterführung darstellt. Eine weitere Besonderheit der Rede liegt in ihrer Tendenz zur Narration. Vor allem in Arist 130–143a driftet Eleazar immer wieder in eine lebhafte Erzählung über die mosai­ sche Gesetzgebung und den ägyptischen Polytheismus ab. Die argumentative Relevanz der Erzählung wird dabei jedoch immer wieder eingeholt, d. h. die Erzählung wird zum Gegenstand der theologischen Interpretation und Argumentation. Erzählung und Ar­ gumentation schließen sich also nicht von vornherein aus, sondern die Argumentation kann in den Modus der Narration diffundieren, ohne dass der argumentative Charakter des Textes verloren geht, ein Umstand, der für den Römerbrief zu beachten ist (vgl. Röm  7,7–13).

Ein anderes prägnantes Beispiel, bei dem die Argumentationsstruktur anhand rhetorischer Kategorien analysiert werden kann, ist die Rede des Eliphas in Hi 4 f. Insgesamt führt Hi 4,1–5,7 durchaus stringent und zielorientiert zu einer conplexio in Hi 5,8–27 hin. In Hi 4,1–6 stellt Eliphas eine Diastase zwischen dem Trost fest, den Hiob anderen spendet, und dem eigensinnigen Insistieren auf der eigenen Schuldlosigkeit. Eliphas postuliert, dass Hiobs Einblick in die Weisheit Gottes unzureichend sein muss.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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In Hi 4,7 tritt Eliphas in die eigentliche Argumentation ein. Indem er an den Tun-Er­ gehen-Zusammenhang appelliert, setzt er nicht beim Dissens, sondern bei einer theolo­ gischen Übereinstimmung zwischen ihm und Hiob an.283 Im Folgenden geht es in erster Linie um die Bekräftigung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Es handelt sich bei Hi 4,7 um eine theologische These. In Hi 4,8f schreitet Eliphas zur Begründung dieser These. Mit εἶδον zeigt er an, dass es sich bei dieser Begründung um eine subjektive Erfahrung handelt.284 Eliphas kann aus seinen Beobachtungen die folgende Regel bzw. Lebensweisheit ableiten: Gottes Zorn sucht die Ungerechten heim (πνεύματος ὀργῆς αὐτοῦ), er übt eine aktive Verfol­ gung des Unrechts. Mit dem Bildwort von den Löwen (Hi 4,10f ) führt Eliphas die vorige Begründung fort, indem er sie metaphorisch weiterentwickelt:285 Gottes Macht entzieht dem Löwen und dem Insekt die Lebensgrundlage, so dass sie sterben müssen und ihre Nachkommen übereinander herfallen. Der Abschnitt nimmt auf das ganze vorige Gefüge von These und Begründung Bezug, indem er über das Motiv des Verlusts der Nachkommen und des Entzugs der körperlichen Integrität die Situation Hiobs einblendet. In Hi 4,12 setzt Eliphas neu ein.286 Argumentationsstrategisch ist der Abschnitt 4,12– 21 im Kontext von Eliphas’ Erwägungen bzgl. des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu verstehen, denn erst jetzt tritt der Dissens zwischen Hiob und seinen Freunden deutlich zu Tage.287 Der Tun-Ergehen-Zusammenhang per se wird von keiner Seite in Frage gestellt. Eliphas habe aber in einem Traum bzw. einer Vision (Hi 4,13: νυκτερινή ) eine Himmelstimme vernommen,288 die ihn über Gottes Misstrauen (Hi 4,18: εἰ κατὰ παίδων αὐτοῦ οὐ πιστεύει, κατὰ δὲ ἀγγέλων αὐτοῦ σκολιόν τι ἐπενόησεν […]) gegenüber seinen Söhnen/Dienern und Engeln in Kenntnis gesetzt habe.289 Hi 5,1–7: Die These von der mangelnden Erkenntnisfähigkeit des Menschen hin­ sichtlich seiner Schuld vor Gott wird nun auf den konkreten Lebensvollzug angewandt. Es handelt sich – ähnlich wie das Bildwort vom Löwen – um ein Beispiel mit exornati­ vem Charakter. Das Sprichwort 290 sagt: Der Dumme (Hi 5,2: ἄφρονα), Unkundige begehrt gegen die Heimsuchungen Gottes auf, verzweifelt an seinem Schicksal, ist letzt­ lich zum Scheitern „verflucht“ – wie dem Löwen geht ihm die Nahrung aus, wie dessen 283 Vgl.

Crenshaw, Job, 57. Habel, Job, 126: „Eliphaz testifies to his personal experience of the doctrine of retribution. He adopts the traditional metaphor of sowing and reaping to emphasize the necessary nexus between wickedness and destruction […].“ 285  Was auch daran deutlich wird, dass das Schicksal des Löwen nicht näherhin erläutert wird. Vgl. ebd. 286  Hi 4,13–21 stellen eine zusammenhängende Offenbarungsrede dar. Die Verse werden von manchen Kommentatoren in die Szene von Hiobs Verfluchung der eigenen Geburt dis­ loziert. Vgl. zu der Frage Crenshaw, Job, 61. 287 Vgl. Ebach, Hiob, 58: „Wie ist dieses Spannungsverhältnis [zwischen dem Tun-Erge­ hen-Zusammenhang und dem Argument von der mangelnden Erkenntnisfähigkeit des Menschen, PB] zu erklären? Handelt es sich um alternative Erklärungen des Unheils, das ei­ nen Menschen trifft, oder um komplementäre?“ 288  Vgl. zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Traums Habel, Job, 127. Er rückt ihn in die Nähe des Nachtgesichts Abrahams in Gen 15,12. Vgl. auch Longman III, Job, 119 f. Vgl. auch Ebach, Hiob, 61, der die Vision in prophetischen Traditionen verortet. 289  Vgl. zu angelologischen Deutungsmustern im griechischen Hiob Kepper/Witte, Job, 2053.2077. 290 Vgl. Longman III, Job, 122 f. 284 Vgl.

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I. Macht der Argumentation

Nachwuchs werden auch seine Nachkommen im Tor, d. h. am Gerichtsort erschlagen (Hi 5,5–7).291 Eingeblendet wird hier (stärker als in den vorigen Abschnitten) das Ge­ fälle zwischen Hiobs Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation und der hintergrün­ digen theologischen Wahrheit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Eliphas versucht zu beweisen 292: Wer seine Schuld nicht anerkennt, ist beschränkt und in seinen Lebenskräf­ ten gehemmt; er schlägt Wurzeln (Hi 5,3: ἐγὼ δὲ ἑώρακα ἄφρονας ῥίζαν βάλλοντας ) und sieht keinen Ausweg aus seinem Dilemma. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang bleibt als theologisches Prinzip unberührt. Wer ihn nicht anerkennt und über die Möglichkeit seiner Unschuld vor Gott reflektiert, muss zwangsläufig an ihm leiden. Die conplexio (Hi 5,8–27) besteht formal aus einem Hymnus auf das Schöpfungshan­ deln Gottes, den Eliphas in poimenischer Absicht Hiob zur Nachahmung anempfiehlt. Dem Menschen ist es weder möglich, um seinen Stand vor Gott zu wissen, noch kann er dem Anspruch Gottes genügen – das muss er nicht reflektieren oder hinterfragen, er muss es vielmehr akzeptieren und sich bekehren. Hier appliziert Eliphas die bisherige Argumentation auf die Situation Hiobs: Der bisherigen Argumentation entspricht der Rat zur Umkehr. In der Abschlussformel Hi 5,27 unterstreicht Eliphas den argumenta­ tiven Charakter seiner Rede.293 Die Eingangsfrage wird aufgelöst, Eliphas weist „seine“ Weisheit als überlegen aus und regt Hiob dazu an, seine Argumentation zu überneh­ men. „Since he [Eliphaz] and his friends are wise men, Job should take it on their autho­ rity.“294

Die Rede des Eliphas berührt sich insofern mit Argumentationsmodellen der griechisch-römischen Rhetorik, als dass sie klar segmentiert, sequenziert und auf ein Ziel hin orientiert ist. Eliphas zeigt – nach und nach – die Gründe für die These auf, dass Hiob nicht schuldlos sein kann und sich deswegen zu Gott be­ kehren soll. Ein Gefälle von expositio, ratio und rationis confirmatio in Hi 4,7; 4,8f und 4,10f ist erkennbar. Der Übergang von Hi 4,11 zu Hi 4,12–5,7 erweist sich aus argumentationstheoretischer Perspektive jedoch als problematisch, will man ein lineares Schema an die Argumentation herantragen. Bei Hi 4,12–21 handelt es sich – bezogen auf die Ausgangsthese – um eine zweite ratio, die in Hi 5,1–7 bekräftigt wird, denn Eliphas setzt in Hi 4,12 neu ein und konstruiert die Argu­ mentation aus einer anderen Perspektive, was der linearen Struktur der Rhetorica ad Herennium gerade nicht entspricht. Viel prägnanter als das lineare Schema der Rhetorica ad Herennium würde die ciceronische ratiocinatio die Argumentations­ struktur der Rede Eliphas’ beschreiben können, wie bereits unter I.2.3. dar­ 291 Vgl.

Habel, Job, 131: „The city gate, where Eliphaz has seen the downfall of the fool (v. 4) is the social arena for legal and commercial matters to be handled. In the gate, justice was to be guaranteed (Prov. 22:22; Deut 21:19–21; Ruth 4:1–11).“ Vgl. auch Crenshaw, Job, 62. 292 Vgl. Habel, Job 119: „Eliphaz then testifies to a personal knowledge of what happens when the fools lose control (vs. 3–5).“ 293  Vgl. aaO. 137: „The phrase hinne-zo’t, ‚behold this‘, ‚this indeed‘, or ‚yes, this‘ is a ty­ pical summative introduction to the closing message of Eliphaz (cf. 20:29; 33:12, 29). Just as at previous points where he validated his teaching with an appeal to personal experience (4:8; 5:3), Eliphaz now concludes by asserting that all the prior teaching which underlies his coun­ sel has been tested by careful investigation.“ 294  Longman III, Job, 131.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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gestellt worden ist: Eliphas begründet zunächst die eine Prämisse – den Tun-Er­ gehen-Zusammenhang –, dann die zweite – dass es unmöglich ist, zu wissen, wie man vor Gott da steht – und zieht daraus eine praktische Konsequenz: Auch wenn Hiob sich für unschuldig hält – er muss sich zu Gott bekehren. Für Philos Exegesen fragt schon David T. Runia nach der „Structure of ­Philo’s Allegorical Treatises“. Auf der einen Seite – so Runia – bestehe in der Philoforschung Einigkeit darüber, dass Philos Hauptanliegen exegetischer Natur sei und apologetische und philosophische Tendenzen „primaly effectuated by means of his exegetical activity“ seien;295 dass der Bezug zum biblischen Text die „basic continuity of the exegesis“ leite296 und dass die quaestio-solutio-Abfolge, die im Zusammenhang mit der synagogalen Bibelauslegung stehen könnte, das Fundament auch für die allegorischen Bibelkommentare bilde.297 Auf der anderen Seite sei jedoch umstritten, ob es eine „uniform method (e.g. the quaestio and solutio)“ gebe oder Philo nicht verschiedene exegetische Ansätze verfolge. Außer­ dem müsse gefragt werden, woraus sich eigentlich die Kohärenz eines Traktats – über den jeweiligen Auslegungsabschnitt hinaus – ergibt, und ob Philo mit seinem Ansatz ein „writer sui generis“ sei, dessen exegetische Methoden sich von denen seiner Kollegen grundsätzlich unterscheiden.298

Auf der Grundlage der Analysen von Deus und De Gigantibus – sie zählen zur Gruppe der allegorischen Kommentare Philos – entwickelt Runia folgendes Strukturschema: a) Einführung bzw. Überleitung aus dem vorigen Kapitel b) Zitat des hauptsächlichen biblischen Ausgangstexts („main biblical lemma“) c) einführende Beobachtungen (häufig: quaestio oder Zielangabe) d) Hintergrundinformationen (notwendig für die Allegorie) e) detaillierte allegorische Erklärung f ) Beispiel/Vergleich/Illustration/Gegensatz g) allegorische Applikation auf die Seele (oft „Diatribe“) h) Beweis oder Zeuge i) Konklusion oder Rückkehr zum hauptsächlichen biblischen Ausgangstext 299 Das Strukturschema, das Runia vorschlägt, zeigt beachtenswerte Parallelen zur griechisch-römischen Argumentationstheorie. Vor allem die Funktionselemen­ te expositio, ratio und rationis confirmatio lassen sich leicht auf Runias Modell über­ tragen, wenn man als zentrales Begründungselement die Allegorie annimmt.

295 

Runia, Observations, 112.

296 Ebd. 297 Ebd. 298 

299 

AaO. 112 f. Vgl. aaO. 122 f. Übersetzung PB.

84 expositio

ratio rationis confirmatio/ exornatio conplexio

I. Macht der Argumentation

Einführung bzw. Überleitung aus dem vorigen Kapitel Zitat des hauptsächlichen biblischen Ausgangstexts („main biblical lemma“) einführende Beobachtungen (häufig: quaestio oder Zielangabe) Hintergrundinformationen (notwendig für die Allegorie) detaillierte allegorische Erklärung Beispiel/Vergleich/Illustration/Gegensatz allegorische Applikation auf die Seele (oft „Diatribe“) Beweis oder Zeuge Konklusion oder Rückkehr zum hauptsächlichen biblischen Ausgangs­text

Tabelle 12: Vergleich zwischen Runias Modell der Argumentationsstruktur in Philos Bibelkommentaren und der Argumentationsstruktur nach Rhet. Her. II, 28 f.

Die Elemente, die in diesem Schaubild der rationis confirmatio zugeordnet sind, ließen sich tendenziell auch der exornatio zurechnen, wenn man diese vor allem als abstrahierende Passage versteht, die die Begründung konstruktiv auf einer allgemeineren Ebene oder paradigmatisch weiterführt. Philos Bibelauslegung – das legen Runias Analysen nahe – bleibt jedenfalls unterbestimmt, wenn sie nicht auch im Rahmen der antiken Rhetorik interpretiert wird, denn die „Me­ thode“ der Allegorie schlägt sich in einer bestimmten Art des Argumentierens nieder. Exemplarisch lässt sich die von Runia vorgeschlagene Argumentations­ struktur auch an De Opificio Mundi 13–25 nachvollziehen, selbst wenn die Schrift dem Corpus der expositio legis zuzurechnen ist.300 Opif. mund. 13a 301 bildet die zu begründende exegetische These, bzw. den Untersu­ chungsgegenstand, der im folgenden Text erörtert werden soll: Gott habe die Welt in sechs Tagen geschaffen, nicht aus Unvollkommenheit, sondern weil die Entstehung der Dinge Ordnung brauche. Der Gottesbegriff an sich spielt in der folgenden Argumenta­ tion keine explizite Rolle, stellt sich jedoch in der Ausgangsthese als der eigentlich kri­ tische Punkt heraus, der entschieden werden muss, obwohl die Parenthese die gleichzei­ tige Schöpfung durch Gott als allgemein anerkannte Prämisse darstellt (γὰρ […] εἰκός). Die theologische Grundüberzeugung, dass Gott Schöpfer der Welt sei, erscheint im Lichte des Literalsinns des biblischen Schöpfungsberichts, der von sechs Schöpfungsta­ gen spricht, zumindest dubios. Implizit kann aus der Eingangsthese die Notwendigkeit der folgenden arithmologischen Auslegung abgeleitet werden: Die Sechs-Zahl verweist auf eine philosophische Argumentationsebene, die sich nicht aus dem Literalsinn der Worte Moses’ ergibt und in ihrem buchstäblichen Sinn missverständlich wäre: „Any literal interpretation should of course be dismissed. How could God act within time when time did not yet exist, when the planets, an aid to measuring that world, were not yet created? One must rather understand that this is about logical order.“302 Die Kon­ 300  Geboten wird in den Anmerkungen der Text dann, wenn die Verssegmentierung bei Cohn zu grob ist. 301  „In sechs Tagen“ bis „weil für die entstehenden Dinge eine Ordnung nötig war“. 302  Hadas-Lebel, Philo, 129.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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junktion „weil“ (ἐπειδή ) deutet an, dass der Ausdruck „sechs Tage“ von Mose bewusst gewählt worden ist, um auf etwas anderes zu verweisen. In argumentationstheoretischer Hinsicht liegt hier das zu Begründende vor, das in der Rhetorica ad Herennium als expositio bezeichnet werden würde. Die Strukturmerkmale des Runia-Modells finden sich allesamt in dem Abschnitt wieder: ein Zitat des hauptsächlichen biblischen Ausgangstexts („main biblical lemma“) und eine einführende Beobachtung, die mit der quaestio oder Ziel­ angabe korrespondiert. In Opif. mund. 13b303 wird der Begriff der Ordnung erläutert, bzw. der Begriff τάξις wird erweitert (δέ): Die Einhaltung einer Ordnung sei immer mit einer Zahl zu erfas­ sen. Für die Schöpfung – so die spezifizierende These – sei die Zahl Sechs die passends­ te. Diese Überlegung ist vom vorigen Abschnitt abzugrenzen, da er die Argumentation enger führt und den Zusammenhang zwischen Ordnung und Zahl begründet bzw. eine These bezüglich des Zusammenhangs von Schöpfung und der Zahl Sechs konstruiert wird. Dass die Zahl Sechs der Schöpfung Gottes am ehesten entspreche, greift die exe­ getische Hauptthese auf, führt sie jedoch auch weiter. Es handelt sich also um beides: eine Spezifizierung des zu Begründenden und eine Begründung, insofern diese die Voraus­ setzung für die folgende Deutung darstellt. Sie ist in jedem Fall zur ratio zu rechnen, weil sie über die expositio des eigentlichen Themas hinausreicht. Runias Kategorien fassen die Funktion dieses Abschnitts noch präziser, wenn man von einer für die Allegorie not­ wendigen Hintergrundinformation ausgeht. In Opif. mund. 13c304 wird die Zahl Sechs vor dem Hintergrund pythagoreischer Zahlensymbolik erläutert.305 Weil sie eine aus den einfachsten, geraden und ungeraden Zahlen zusammengesetzte Größe sei, könne sie keineswegs aufs Geratewohl von Gott für die Schöpfung gewählt worden sein, sondern repräsentiert bedeutsame Einzelele­ mente, die das männliche und weibliche Prinzip in der Ideenwelt repräsentieren. In den Kategorien von Runia bildet dieser Abschnitt das Zentrum der Begründung, die ei­ gentliche Allegorie. Im rhetorischen Schema müsste man den Abschnitt der ratio zuord­ nen: Erst hier wird die Bedeutung der Sechs für die Argumentation voll erfasst. In Opif. mund. 14 führt Philo den Gedanken aus, dass die Prinzipien des Männlichen und Weiblichen wesentlich an der Schöpfung beteiligt gewesen sind. Damit folgt aber auch gleichzeitig die Schlussfolgerung und der Beweis der exegetischen Hauptthese: Gott hat die Welt in sechs Tagen geschaffen, nicht aus Unvollkommenheit, sondern weil die Entstehung der Dinge Ordnung braucht. Man könnte auch sagen, dass die exegeti­ sche Hauptthese dadurch begründet wird, dass die geschaffene, materielle Welt aus den Ideen der Zahlen für das Weibliche und Männliche geschaffen sein muss, weil sich beide Prinzipien in der Welt wiederfinden und die Harmonie der vorfindlichen Schöp­ fung der Harmonie der arithmetischen Zusammensetzung der Sechs entspricht.306 Es handelt sich um eine rationis confirmatio, die in den Kategorien Runias wohl am ehesten der Illustration oder dem Beweis zuzurechnen wäre. 303  „Zu einer Ordnung gehört eine Zahl, von allen Zahlen aber ist nach den Gesetzen der Natur die passendste die Sechs.“ 304  „[…] denn von der eins an [gezählt] ist sie die erste vollkommene, weil sie nach ihren Teilen gleich und aus ihnen zusammengesetzt ist“ bis „und ihr Produkt ist die Sechs“. 305  Vgl. dazu ausführlich Hadas-Lebel, Philo, 166–169. 306 Vgl. Creese, Rhetorical, 261: „Harmony is therefore a principle of very high order in Philo’s exegesis of the biblical cosmogony: harmony and number are interlinked, inscribed both in the movements of the spheres and in the rational human soul. They function as a mirror, reflecting in ways accessible to human comprehension the grandeur of God’s creative world.“

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I. Macht der Argumentation

Opif. mund. 15a 307 leitet zur nächsten Hauptthese über und macht auf die besondere Würde des ersten Tags aufmerksam. Es gibt keine umfassende Zusammenfassung des vorigen Abschnitts, sondern es handelt sich um eine Rückkehr zum biblischen Text (Ru­ nia), indem bedacht wird, warum der erste Tag „Tag Eins“ genannt wird. Opif. mund. 15b–17a 308 bilden die neue exegetische Hauptthese: „Der erste Tag ist für die Erschaffung des Urbilds, der geistigen Idee, der sichtbaren Welt vorgesehen. Diese Ideenwelt befindet sich an keinem weltimmanent bestimmbaren Ort.“ Die zwei­ te exegetische Hauptthese ist wie die erste doppelt angelegt. In ihr wird einerseits der erste Tag mit der Schöpfung der Ideenwelt gleichgesetzt, andererseits aber auch die Möglichkeit ausgeschlossen, die Ideenwelt in der materiellen Welt zu finden. Die Frage nach dem Ort der Ideenwelt hängt also unmittelbar mit der Frage nach ihrer Entstehung zusammen, denn wenn es sich tatsächlich um die Ideenwelt handelt, die Gott am ersten Tag erschaffen hat, ist die Frage nach deren Ort falsch gestellt. Die folgende Argumen­ tation sucht also beides zu begründen: die Entstehung der Ideenwelt am ersten Tag und deren Ortslosigkeit. Es handelt sich um die exegetische Hauptthese, die expositio bzw. nach Runia um das Zitat des hauptsächlichen biblischen Ausgangstexts („main biblical lemma“) und die einführende Beobachtung (quaestio oder Zielangabe). Opif. mund. 17b.18309 erläutern den Zusammenhang von Urbild und sichtbarer Welt. Das Beispiel engt die Eingangsthese auf den Zusammenhang von Urbild und sichtbarer Welt ein und tangiert damit zugleich die Frage nach dem Ort der Ideenwelt. In dem „Gleichnis“ von der Stadt und dem Bauherrn wird die Entstehung der geistigen Welt in der Seele verortet. Sie geht der materiellen Welt voraus und stellt eine Einprägung der Vorstellung im Geist Gottes dar. Dass es sich um eine „Allegorie“ handelt, wird von Philo nicht deutlich gemacht – erst im folgenden Abschnitt legt er sie aus. Beide Ab­ schnitte gehören jedoch zusammen und bilden einen Begründungszusammenhang, denn ohne die folgende Allegorese bleibt das „Gleichnis“ argumentativ unterbestimmt. Der Abschnitt bildet den Auftakt zur ratio. Opif. mund. 19f stellen nun die eigentliche Begründung der exegetischen Hauptthe­ se dar. Die vorangegangene Allegorie wird einer ausführlichen Allegorese unterzogen: Der Ort des Urbilds ist nicht die sichtbare Welt, sondern Gottes Vernunft. Diese Schlussfolgerung wird sogleich in die Frage nach dem Ort dieses Urbilds überführt, die bisher nur hinsichtlich der sichtbaren Welt verneint wurde. Aus dem Gleichnis legt sich eine Antwort nahe: Als Ort der geistigen Welt kommt die Vernunft Gottes in Frage. Bei diesem Abschnitt handelt es sich im Modell der griechisch-römischen Rhetorik um die ratio, die hier aber auch (vorläufig) zusammenfasst und schlussfolgert. In Runias Termi­ nologie bildet dieser Teil zusammen mit dem vorangegangenen die detaillierte allegorische Erklärung.

307  „Jedem der Tage ordnete er einige Teile des ganzen zu, ausgenommen den ersten, den er nicht selbst den ersten nennt, damit er nicht mit den anderen zusammen gezählt wird, sondern mit einer glücklichen Bezeichnung (ὀνόματι εὐθυβόλῳ) bedachte, als er ihn ‚eins‘ nannte, weil er in ihm die Natur der Einheit und ihm eine solche Bezeichnung übertrug.“ 308  „Von den Dingen, die den ersten Tag umfassen, müssen wir sagen […]“ bis „Es ist aber nicht erlaubt, zu sagen oder anzunehmen, dass sich die aus den Ideen zusammengesetzte Welt an irgendeinem Ort befindet.“ 309  „Auf welche Weise sie aber entsteht, werden wir in einem uns nahestehenden Bild nachvollziehen […]“ bis „[…] wobei er für jede der unkörperlichen Ideen das körperlich Seiende genau nachbildet.“

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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In Opif. mund. 20–23 wird die Erläuterung des Vernunftbegriffs und der Lokalisie­ rung der Ideenwelt in der Vernunft Gottes nachgeholt: Vernunft meint vor allem das rechte Maß, die kluge, vorausahnende Zuteilung und die Kalkulation des menschlichen Aufnahmevermögens – damit setzt dieser Abschnitt die allegorischen Begründungen des vorigen Abschnitts fort und erst jetzt wird klar, inwiefern die Vernunft Gottes tat­ sächlich mit dem Urbild der Welt zusammenhängt: Die Schöpfungsordnung folgt der Vernunft Gottes. In der rhetorischen Terminologie handelt es sich um eine rationis confirmatio, nach Runia um ein Beispiel, das aber auch Momente der allegorischen Appli­ kation auf die Seele und des Beweises bereithält. Bei Opif. mund. 24f handelt es sich um eine weitergehende Begründung, aber auch um eine Zusammenfassung des ganzen Argumentationsgangs. Obwohl er durch die Einleitung („einfachere Worte“) nahelegt, dass er den Gedankengang abschließen möchte, eröffnet Philo noch einen letzten Begründungszusammenhang, der das Ver­ hältnis zwischen Schöpfung und Geschöpf klären soll. Von der Geschaffenheit des Men­ schen nach dem Ebenbilde Gottes schließt Philo pars pro toto auf die Schaffung der Welt nach dem Ebenbild Gottes. Wenn das am ersten Tag geschaffene Urbild tatsächlich Gottes Vernunft entspricht, wird die Frage nach dem Ort der Ideenwelt umfassend be­ antwortet: Sie ist nicht nur in der Vernunft Gottes zu verorten, sondern mit der Vernunft Gottes gleichzusetzen. Damit kommt der Ideenwelt eine Priorität vor den geschaffenen Dingen zu, so dass die exegetische Hauptthese bewiesen wäre. Es handelt sich um eine Mischung aus exornatio und conplexio bzw. Zusammenfassung. In der Terminologie Runi­ as changiert der Abschnitt zwischen Beweis und Konklusion. Philo greift einen anderen biblischen Text zur Stützung auf, will aber auch die bisherige Argumentation zuspitzen und zusammenfassen.

Die Strukturanalyse vor dem Hintergrund des Modells Runias kann deutliche Parallelen zum griechisch-römischen Argumentationsparadigma aufzeigen: Einzelne Segmente können durch hervorstechende metakommunikative Wen­ dungen abgegrenzt werden und insbesondere der lineare Progress von These zu Begründung ist deutlich erkennbar. Wie im Aristeasbrief wird die Struktur je­ doch an einigen Stellen durchbrochen: Die „Hintergrundinformationen“, die zur Allegorie nötig sind, sind zwischen expositio und ratio anzusiedeln, insofern sie sowohl eine Spezifizierung der These als auch eine Vorbedingung für das Gelingen der Begründung bilden. Auch die Zuordnung zu ratio confirmationis und exornatio gelingt nicht zweifelsfrei. Eine Zusammenfassung des ersten Argumen­ tationsdurchgangs fehlt – Philo setzt unmittelbar mit einer neuen Erklärung ein. 2.4.3. Fazit Hier lässt sich ein vorläufiges Fazit ziehen: Aus struktureller Perspektive erweist sich der Skopus einer Argumentation als diejenige Passage, zu der die Argu­ mentation schrittweise hinführt. Die griechisch-römische Argumentations­ theorie kennt verschiedene Arten von Argumentationsmodulen, die aufeinan­ der bezogen werden müssen, damit sie in einem „argumentativen Gefälle“ das kom­munikative Ziel realisieren, das u. a. von der Rhetorica ad Herennium als conplexio bezeichnet wird.

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I. Macht der Argumentation

Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie wurde in der Analyse der Texte des hellenistischen Judentums evident: Die Texte weisen Argumen­ tationsstrukturen auf, die mit Hilfe griechisch-römischer Argumentations­ modelle erfasst und benannt werden können, und die Autoren greifen auf Grundbausteine des Begründens wie These, Begründung, Abstraktion und Zu­ sammenfassung zurück. Generell lässt sich dabei beobachten, dass die Argu­ mentationsstruktur bei Philo gegenüber den Textpassagen aus Hiob segmen­ tierter und differenzierter ausfällt, was u. U. etwas mit deren originär mündli­ chen Entstehungssituation zu tun hat. Im Aristeasbrief ist die Argumentation äußerst kunstvoll aufgebaut und schöpft mit einer Art ‚zoom in‘ von einem größeren anthropologischen Horizont in das konkrete theologische Problem die Möglichkeit der Inversion der Begründungssequenz aus.

2.5. Zielorientierung auf attentionaler Ebene: Argumentation als Aufmerksamkeitslenkung 2.5.1. Theoretische Erwägungen der griechisch-römischen Rhetorik „[…] praesens tamen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum.“310

Unter Aufmerksamkeitslenkung soll hier dezidiert kein rhetorisches Stilmittel verstanden werden. Die attentionale (von lat. attentio: „Aufmerksamkeit“) Ge­ staltung bestimmt den gesamten Findungsprozess einer Argumentation und er­ gibt sich zwangsläufig aus deren zeitlicher Ausdehnung: Der Adressat ist darauf angewiesen, durch die Rede „geführt zu werden“, da seine Aufmerksamkeit begrenzt ist. Der Redner macht sich die Dauer der Rede und die begrenzte Aufmerksamkeit der Adressaten zunutze, indem er vor allem zum Ende seiner Argumentation hin bestimmte Aspekte verdichtet, zusammenfasst, auf die Ad­ 310  Augustin, conf. 11,38 (Flasch 618f ): „Was in der Gegenwart lebt, ist meine Aufmerk­ samkeit: Was zukünftig war, wird durch sie hinübergebracht, dass es so das Vergangene werde.“ Bemerkenswerte Aussagen zum Verhältnis von Aufmerksamkeit und Zeit konzent­ rieren sich im 11. Buch der Confessiones Augustins: Aufmerksamkeit bedeutet bei Augustin die bewusste Wahrnehmung der Gegenwart und stellt eine theologische Tugend dar, denn die Erfassung der Gegenwart als eigenes, zeitliches Kontinuum ist dem Menschen eigentlich nicht gegeben – er ist von seiner natürlichen Anlage her nur dazu in der Lage, einen Um­ schlag von Zukunft in Vergangenheit, d. h. das Fließen der Erwartung der Zukunft hin zur Erinnerung an die Vergangenheit zu registrieren (vgl. conf. 11,37 [Knöll 307]), während sich Gott in ewiger Gegenwart und Ruhe befindet und es bei ihm kein Früher und Später und keine „Zerrissenheit zwischen den Zeiten“ gibt (vgl. conf. 11,15f [Knöll 290f ]). Aufmerk­ samkeit für die Gegenwart wird nur von Gott her ermöglicht und transzendiert das Zeiter­ leben: Wo Gott mit dem Menschen interagiert und ihm den Heiligen Geist zueignet, stellt sich eine Dilatation der Gegenwart ein, so dass der Mensch an der Ewigkeit Gottes partizi­ piert und sich in kritischer Distanz zum Fluss von Zukunft zur Vergangenheit befindet (vgl. conf. 11,37f [Knöll 307f ] und conf. 11,3.34 [Knöll 281 f.304f ].

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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ressaten appliziert, andere wiederum in den Hintergrund treten und gewisser­ maßen verschwimmen lässt. So entsteht eine argumentationsimmanente Per­ suasivität, die sich aus der Spannung von Abstraktion und Fokussierung der konkreten Entscheidungssituation, in der sich die Adressaten befinden, und dem Verhüllen und Zeigen der verwendeten Argumente ergibt. In der argumentatio lenkt der Argumentierende die Aufmerksamkeit seiner Adressaten insbesondere auf die Zusammenfassung: Hier wird der Ertrag der Argumentation und der eigentliche Erkenntnisgewinn sichtbar, der durchaus mit einer emotionalen Regung der Adressaten einhergehen kann. So beschreibt Quintilian den „Aha“-Effekt, wenn durch eine Argumentation etwas Zweifel­ haftes zu etwas Sicherem wird: „Nichts ist fester als das, welches aus Zweifelhaf­ tem sicher geworden ist“ („nulla esse firmiora, quam quae ex dubiis facta sunt certa“).311 Und wiederum Augustin räumt – viel später und in Abgrenzung zur sophistischen Rhetorik – der schlichten, annähernd unrhetorischen Argumen­ tation einen attentionalen Primat ein: Es genüge gelegentlich, das Wahre zu zeigen und durch das bloße unprätentiöse Argumentieren den Hörer in einen Verstehensprozess zu verwickeln, an dessen Ende er die These des Belehrenden bejaht und in seiner Existenz so getroffen wird, dass sich sein Handeln verän­ dert.312 Das Phänomen der Aufmerksamkeitslenkung im rhetorischen Kontext steht mittlerwei­ le auch im Fokus der klassischen Philologie. Insbesondere Melanie Möller hat unter­ sucht, wie Cicero das Aufmerksamkeitspotential des Redners und Hörers und Mecha­ nismen der Aufmerksamkeitslenkung theoretisch ins Auge fasst: „Rhetorik besteht in ihrem kommunikativen Kern aus der Aufmerksamkeitsfähigkeit von Redner und Hö­ rer. Um sich Gehör zu schaffen und Erfolge zu erzielen, muss der Redner mit den Mit­ teln der Aufmerksamkeitserregung, -steuerung und -zerstreuung eng vertraut sein. In­ dem er seine theoretische Kenntnis der wahrnehmungstheoretischen Probleme mit seiner praktischen Erfahrung im Umgang mit den funktionalen Modi der Aufmerksam­ keit verbindet, gelingt es dem Redner, Neugier und Staunen zu evozieren. Andererseits sollte er auch in der Lage sein, Konzentration (als Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum) herbeizuführen. Angesichts dieser Kenntnisbreite avanciert die Aufmerk­ samkeit zum vielleicht wichtigsten Bestandteil der Rede- und Kommunikationstheo­ rie.“313 Möller bestimmt Aufmerksamkeit als „ontologische Kraft, die den Objekten ebenso ihren Platz in der jeweiligen Gesprächsrealität zuweist wie den am Gesprächs­ 311  Quint. inst. V,12,3 (Rahn 616–619). Wenn die Richter durch eine spektakuläre Wen­ de im Prozess von der Unschuld des Angeklagten überzeugt werden, selbst wenn dies nicht den Tatsachen entspricht, ist der Effekt nur schwerlich durch Logik zu widerlegen. 312  Vgl. Doctr. IV,28.76 (Green 138) und Doctr. IV,56.147 (Pollmann 205): „Wenn der Redner komplizierte Fragen löst und mit unvermuteter Argumentation beweist, wenn er äußerst scharfsinnige Aussagen gleichsam aus bestimmten Höhlen, von wo man es nicht er­ wartet hätte, hervorholt und darlegt, wobei er den Irrtum des Gegners überführt und lehrt, daß das falsch ist, was von jenem scheinbar Unwiderlegbares gesagt wurde, […] dann ruft gerade der verhaltene Redestil so große Beifallskundgebungen hervor, daß kaum erkannt wird, daß er verhalten ist.“ 313  Möller, Aufmerksamkeit, 77.

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I. Macht der Argumentation

prozess beteiligten Subjekten.“314 Der Redner deutet also auf etwas hin, das das Publi­ kum (noch) nicht sieht: „Der Interaktion von Redner, Text(präsentation) und Publikum entspricht das Zusammenspiel von Wirklichkeit, Scheinhaftigkeit und Aufmerksam­ keit.“315

Für die Rede als Makrotext stellt in erster Linie die peroratio das attentionale Zen­ trum dar, doch auf mesotextueller Ebene kommt auch den conplexiones der ein­ zelnen argumentationes die Funktion zu, die Aufmerksamkeit der Adressaten zu gewinnen. So beschreibt die Rhetorica ad Herennium eine Form der Hörerlen­ kung, die abhängig von der Gliederung einer Argumentation ist. Zwei mögliche Ziele seien hierbei vom Redner in Betracht zu ziehen: Der Redner könne die Aufmerksamkeit („attentos“) oder die Belehrbarkeit („dociles“) des Publikums im Auge behalten. Diese Ziele erreiche er, indem er entweder ankündige, etwas Neues oder Ungewöhnliches („de rebus magnis, novis, inusitatis“) vorzutragen, oder indem er jeden einzelnen Punkt der Thematik nacheinander behandele und sich sozusagen induktiv dem Ziel der Rede nähere („numero exponemus res“).316 In Ciceros Beispielen wird das Phänomen der argumentationsimmanen­ ten Attentionalität besonders anschaulich: Im Beispiel von Cic. inv. I, 70 spricht Cicero die Richter direkt an, definiert ihr Amt als Gesetzesgehorsam und ent­ wickelt von dort aus eine komplexe Argumentation. Am Schluss appliziert er die Argumentation auf die Richter zurück: Definition nach Cic. inv. I,67 propositio, per quam locus is breviter exponitur, ex quo vis omnis oportet emanet ratiocinationis approbatio, per quam id, quod breviter expositum est, rationibus adfirmatum probabilius et apertius fit

314 

Übersetzung Cic. inv. I,70 Ihr Herren Richter, die ihr nach dem Gesetz vereidigt Recht sprecht, müßt den Gesetzen gehorchen. [wird von Cicero in diesem Beispiel ausgelassen]

AaO. 83. AaO. 86. Bei Möller liegt das Hauptaugenmerk auf den Produktionsstadien von elocutio und eloquentia bzw. auf Ethos und Pathos (vgl. ebd.), dennoch sei im Grundsatz auch die inventio am Aufmerksamkeitspotential der Hörer orientiert: „Die konkrete Arbeit der inventio konzentriert sich daher auf das Suchen und Finden von Argumenten und Materialien. Gele­ gentlich findet sich jedoch – und zwar schon bei Cicero und dem Auctor ad Herennium – ein weiterer Gebrauch, der den Findungsbegriff auch auf die anderen partes orationis appliziert, besonders auf exordium und conclusio […]“ (aaO. 165). Auch die Auswahl der loci folge einer attentionalen Programmatik: Dem iudicium des Redners sei es anheim gestellt, die Argumen­ te zu finden. Die inventio stehe im Spannungsfeld von exspectatio und admiratio: „Erwartung und Aufmerksamkeit scheinen einander nicht nur zu bedingen, sondern koinzidieren gera­ dezu; eine auf alle Phänomene (omnia) gleichermaßen bezogene Aufgeschlossenheit verleiht der Redesituation einen existentiellen Zug: In ihrer aufmerksamen Erwartung hängen die Hörer gleichsam von der Leistung des Redners ab, d. h. ihm allein obliegt die Erfüllung ihrer Erwartungen“ (aaO. 193). 316  Vgl. Rhet. Her. I,7 (Nüßlein 14f ). 315 

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

assumptio, per quam id, quod ex propositione ad ostendendum pertinet, assumitur assumptionis approbatio, per quam id, quod assumptum est, rationibus firmatur

complexio, per quam id, quod conficitur ex omni argumentatione, breviter exponitur

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Ihr könnt aber den Gesetzen nicht gehorchen, wenn ihr nicht das, was im Gesetz niedergeschrieben ist, befolgt. Denn welches zuverlässigere Zeugnis seines Willens konnte der Gesetzgeber hinterlassen als das, was er selbst mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit nieder­ geschrieben hat? Wenn die schriftlichen Aufzeichnungen nicht vorhanden wären, würden wir mit großer Mühe nach ihnen forschen, damit aus ihnen der Wille des Gesetzgebers erkannt würde, und dennoch würden wir dem Epaminondas nicht er­lauben – nicht einmal wenn es außerhalb eines Gerichtsverfahrens wäre –, daß er uns die Absicht des Gesetzes auslegt, geschweige denn daß wir zulassen, daß dieser jetzt, wo ein Gesetz vorhanden ist, den Willen des Gesetzgebers nicht nach dem, was ganz offenkundig niederge­ schrieben ist, sondern nach dem, was seiner Sache dienlich ist, auslegt. Wenn ihr, meine Herren Richter, verpflichtet seid, den Gesetzen zu gehorchen, und wenn ihr das nur könnt, wenn ihr befolgt, was im Gesetz niedergeschrieben ist, warum fällt ihr nicht das Urteil, dieser habe gegen das Gesetz gehandelt?

Tabelle 13: Textpräsentation von Cic. inv. I,70 in der Übersetzung von Nüßlein, Th. (Hg.): Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern (lateinisch-deutsch), Düsseldorf/ Zürich 1998, aufgeschlüsselt nach der idealen Argumentationsstruktur (Cic. inv. I,67)

In der complexio317 wird die Argumentation in einen Handlungsimpuls über­ setzt. Dazu lenkt der Argumentierende die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf nur wenige „Spots“ der Argumentation zurück: Die Ausdrücke „nieder­ geschriebenes Gesetz“ und „gegen das Gesetz“ werden in der complexio noch einmal genannt, während andere Aspekte der Argumentation ihren argumen­ tativen Zweck erfüllt zu haben scheinen und in den Hintergrund treten. In der complexio bringt der Argumentierende prägnant zum Ausdruck, warum sich sein Publikum in seinem Sinne entscheiden soll. Auf der complexio liegt also das attentionale Gewicht. 317 

In Nüßleins Ausgabe von inv. wird complexio, in seiner Ausgabe der Rhet. Herr. conplexio verwendet.

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I. Macht der Argumentation

Auch im Argumentationsmodell der Rhetorica ad Herennium tritt das Prinzip der Aufmerksamkeitslenkung deutlich zu Tage. Die Rhetorica kultiviert dabei noch stärker als Cicero den Wechsel zwischen „Explikation“ und „Applikati­ on“: Die Explikation dient dazu, notwendige Klarheit zu schaffen, die Applika­ tion fasst die wesentlichen Punkte der Argumentation zusammen und wendet sie auf die konkreten Entscheidungsträger an. Neben adressatenorientierter Ap­ plikation und argumentationsimmanenter Verdichtung erscheint die ‚explizite Ausweisung des Argumentationsziels‘ als Möglichkeit, einen attentionalen Ziel­ punkt anzuzeigen: Der Redner macht durch metakommunikative Ausdrücke deutlich, dass die Argumentation in der Zusammenfassung ihren prägnanten Ausdruck und ihren Höhepunkt findet. Ein Beispiel:318 „Wenn ich also angekündigt habe, ich würde die Ursache angeben, aus der heraus Uli­ xes zu der schlimmen Tat schritt, und wenn ich gezeigt habe, daß bitterste Feindschaft und Furcht vor der Gefahr dazukamen, muß man zweifellos zugeben, daß ein Grund für die böse Tat bestand.“

Hier verweist der Argumentierende explizit auf die expositio seiner Argumenta­ tion und stellt fest, dass seine Beweisführung erfolgreich abgeschlossen ist. 2.5.2. Die heuristische Relevanz der Argumentationstheorie: Beispiele für Aufmerksamkeitslenkung in hellenistisch-jüdischen Texten Die Aufmerksamkeitslenkung in der antiken Rhetorik scheint vor allem der mündlichen Performanz geschuldet zu sein, d. h. dem lebendigen Vortrag, der mit der Erwartung, Ermüdung und schwankenden Konzentration der Hörer rechnen muss. Attentionalität ist allerdings auch ein literarisches Phänomen, d. h. auch Autoren neigen dazu, rhetorisch auszuweisen, was als Skopus einer Argumentation verstanden werden soll. Der attentionale Höhepunkt, d. h. das, worauf die Aufmerksamkeit der Leser gelenkt wird, kann unterschiedlich gela­ gert sein. Der attentionale Höhepunkt der Rede Eleazars besteht bspw. in der Zu­ spitzung der Argumentation auf konkrete ethische Beispiele. Der Hohepriester entfernt sich im Verlauf seiner Argumentation zunächst von seinem Gesprächs­ partner Aristeas und dessen ursprünglicher Anfrage, indem er sie grundsätzlich erörtert,319 bevor er in zwei Passagen seine Argumentation konzentriert und sie auf die ursprüngliche Ausgangsfrage anwendet: Zum einen in Arist 143b.144, indem er ankündigt, er wolle die irrige Ansicht korrigieren, die Speisegebote 318 

Rhet. Her. II,28f (Nüßlein 88–91). θεωρεῖς („du siehst“) scheint Eleazar an die von „Aristeas“ geschilderte Gesprächs­ situation von Arist 128–129 unmittelbar anzuknüpfen. Eine These, die als solche kenntlich gemacht wird und auf die Anfrage des Aristeas nach den Speisegesetzen antwortet, ent­ wickelt Eleazar jedoch hier nicht, vielmehr entfernt sich der Hohepriester mit seiner Rede­ eröffnung von Aristeas (vgl. auch Wright, Aristeas, 248). 319 Mit

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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seien um der Tiere willen erlassen ( χάριν δὲ ὑποδείγματος ἓν ἢ δεύτερον ἐπιδραμών σοι σεμανῶ. μὴ γὰρ εἰς τὸν καταπεπτωκότα λόγον ἔλθῃς […]). Das sich anschlie­ ßende Beispiel der Unterscheidung von zahmen und wilden Vögeln reicht bis Arist 149.320 Zum zweiten in Arist 161–169: In Arist 161 redet Eleazar sein Ge­ genüber wiederum direkt an und weist die argumentative Bedeutung des vori­ gen Abschnitts explizit aus (δέδεικται δέ σοι καὶ τὸ περισσὸν τῆς λογίας τῆς κατὰ τὴν διαστολὴν καὶ μνείαν […]).321 Die folgende Passage, die – unterbrochen durch eine kurze Intervention des Aristeas – bis Arist 169 reicht, erläutert die Symbolik des Verbotes, Mäuse und Wiesel zu berühren oder zu verspeisen. Dann erklärt Eleazar, dass seine Argumentation zu einem Ende gekommen sei.322 Unter attentionalen Gesichtspunkten kommt den Passagen von Arist 143b–149 und Arist 161–169 ein besonderes Gewicht zu, weil der Hohepriester die Aufmerksamkeit der Leser auf die ursprüngliche Anfrage des Aristeas nach der Praxis der Speisegebote zurücklenkt und mit der Lebenswelt der Adressaten der Schrift verschränkt, in der Würde und Nutzen der Speisegesetze offenbar auf dem Prüfstand stehen.323 In Arist 143b–149 und 161–169 zeichnen sich handlungsorientierte conplexiones ab. Der Höhepunkt der Rede des Eliphas besteht in der Überführung der Argu­ mentation in ein Gebet bzw. eine Meditation über die Schöpfungsmacht Got­ tes. Eliphas lenkt die Aufmerksamkeit seines textimmanenten Gesprächspart­ ners Hiob und – durch ihn hindurch – die der Leser des Hiobbuchs: Nachdem er sich ab Hi 4,7 zusehends von der Situation seines Gesprächspartners entfernt und seine Argumentation fast durchweg ohne Adressatenbezug konstruiert, scheint er in Hi 5,8–27 eine conplexio zu formulieren. Er wendet vor allem den zweiten Teil der Argumentation (die Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten des Menschen) in einen Handlungsimpuls und empfiehlt Hiob in poimenischer Absicht sein eigenes Lob des Schöpfers zur Nachahmung. Damit möchte er nicht die Lebenssituation Hiobs verändern (das könnte er in der Logik seiner eigenen Ausführungen auch nicht), sondern vielmehr erreichen, dass Hiob es 320  Und ist ebenfalls auf Aristeas bezogen. Auch in Arist 146 spricht Eleazar in der 2. Person Singular, wenn er auf die verbotenen Vögel zu sprechen kommt: εὑρήσεις. 321 Vgl. Wright, Aristeas, 305–307. 322  Vgl. Arist 168–169. 323 Wenn Aristeas diesen Ausführungen seine Zustimmung erteilt (καλῶς , Arist 170), antizipiert der Autor die gewünschten Reaktionen seiner Leser, die Eleazars Auslegung zu­ stimmen und das Gesetz eingedenk dieses theologischen Horizonts praktizieren sollen. Die paradigmatischen Passagen von Arist 143–146 und 161–168 scheinen als conplexiones der Ar­ gumentation zu fungieren, die die Erzählwelt übersteigen und das Problem der Speisegebote für die jüdischen Adressaten des Textes aktualisieren. Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal Doering, Jewish Letters, 224, der den Verfremdungseffekt beschreibt, den jüdische Leser bei der Lektüre des Briefes erlebt haben dürften. Dieser Verfremdungseffekt schlägt sich auch und besonders stark in der Rede des Eleazar nieder, wenn die jüdischen Leser ei­ nem Gespräch zwischen dem heidnischen Aristeas und dem Jerusalemer Hohenpriester lau­ schen und über Axiome ihrer eigenen Religion gewissermaßen neu aufgeklärt werden.

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I. Macht der Argumentation

endlich aufgibt, Gottes Motive zu hinterfragen, und seine begrenzten mensch­ lichen Erkenntnismöglichkeiten anerkennt: Dem Menschen ist es weder mög­ lich, seinen Stand vor Gott zu erkennen, noch kann er dem Anspruch Gottes genügen. Dieses Dilemma muss er nicht reflektieren oder hinterfragen, sondern vielmehr akzeptieren und sich zu Gott bekehren. Bei Hi 5,27 handelt es sich um ein rhetorisches Ausrufezeichen in Form eines quod erat demonstrandum, das den conplexiven Charakter der Passage unterstreicht: Die Eingangsfrage ist aufge­ löst, Eliphas hat „seine“ Weisheit als überlegen ausgewiesen und regt Hiob und den Leser dazu an, die Argumentation zu übernehmen. In den Patriarchentestamenten verdichtet sich die Argumentation als ethischer Appell. Der Wechsel von Explikation zu Applikation ist deutlich ausgeprägt. In TJud 14,1 wird eine ethische Weisung in Richtung der Adressaten, die hier als „Kinder“ des Patriarchen angesprochen werden, formuliert: Καὶ νῦν, τέκνα μου, μὴ μεθύσκεσθε οἴνῳ. Diese ethische Weisung wird in eine theologische These überführt (TJud 14,2), die unpersönlich ausgedrückt wird. Sie wird ausführlich erklärt, ohne die Adressaten weitergehend zu involvieren. Zwar wird immer wieder die Anrede τέκνα μου eingestreut (so in TJud 14,4 und 14,7), die Argu­ mentation distanziert sich aber mehr und mehr von den Adressaten und begrün­ det die theologische Ausgangsthese in Rückgriff auf die Juda-Geschichte. Erst wieder in TJud 16,1–4 wird die Argumentation auf die Adressaten angewendet, was sich in der häufigen Verwendung der 2. Person Plural niederschlägt (TJud 16,1: φυλάσσεσθε οὖν, τέκνα μου; TJud 16,2: πίνητε μή; TJud 16,3: μηδὲ ὅλως πίετε). TJud 16,1–4 zeichnet sich also als appellative conplexio der Argumenta­ tion ab. In einer ausführlichen Einleitung (EpJer 1–6) legt der Autor der Epistel Jere­ mias eine Situation zugrunde, in der der anvisierte Grundkonflikt in Form ei­ ner kurzen narratio skizziert wird: Das Exil als langjährige Sündenstrafe Gottes (EpJer 1) bedingt einen enormen Kulturdruck, denn die Juden werden mit den babylonischen Götzen und Tempelfesten konfrontiert. Der Verfasser formuliert einen Ratschlag, der als propositio oder Leitmotiv der Argumentation gelten kann und sich an Jer 10,5 anlehnt: „(4) Achtet nun aber darauf, dass nicht auch ihr den Fremden gleich werdet und euch Furcht vor ihnen ergreift, (5) wenn ihr die Menge seht, vor und hinter ihnen, die sie anbetet; sprecht zu euch: Dich muss man anbeten, Herr. (6) Denn mein Engel ist mit euch, er sucht eure Seelen.“

Der folgende Brief besticht durch einen Wechsel von explikativen Textpassagen – in denen in erster Linie bewiesen wird, dass es sich bei den babylonischen Göttern nicht um Götter handelt – und kurzen Applikationsformeln – in denen strophenartig die Explikationen zusammengefasst und die Leitthese von EpJer 4–6 wiederaufgegriffen wird, indem die Adressaten dazu aufgerufen werden, die babylonischen Götter nicht zu fürchten: μὴ οὖν φοβηθῆτε αὐτούς (EpJer 14),

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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ὅθεν γνώσεσθε ὅτι οὔκ εἰσιν θεοί· μὴ οὖν φοβεῖσθε αὐτά (EpJer 22), γνόντες οὖν ἀπὸ τούτων ὅτι οὔκ εἰσιν θεοί, μὴ φοβηθῆτε αὐτούς (EpJer 28) etc. Am Ende des

Briefes wird die Argumentation noch einmal pointiert zusammengefasst: „(69) Denn wie im Garten eine Vogelscheuche, welche nichts bewahrt, so sind ihre hölzernen und vergoldeten und versilberten Götter. (70) Von der gleichen Art wie der Dornstrauch im Garten, auf dem sich jeder Vogel ausruht, so auch wie ein Toter, der in die Finsternis geworfen wird, sind ihre hölzernen und vergoldeten und versilberten Götter. (71) Auch deswegen, weil der Purpur und das Gewebe an ihnen faulen, erkennt ihr, dass sie nicht Götter sind; sie selbst werden zerfressen und eine Schande im Lande sein. (72) Besser also ein gerechter Mensch, der keine Götzen hat, denn er wird von Schande fern sein.“

Der zentrale Gedanke der Argumentation wird hier noch einmal gebündelt: Die babylonischen Götter sind wie der Rest der Schöpfung dem allmählichen Verfall ausgesetzt. Die Juden sollen sich von ihnen fernhalten. Der Autor lenkt die Aufmerksamkeit seiner Adressaten im Verlauf des Briefes also immer wieder zur Grundsituation des Briefeingangs zurück, indem er seine Argumentation refrainartig auf die Adressaten zuspitzt und ihnen rät, sich von den babyloni­ schen Götzen zu distanzieren. Dass der Brief den römischen Grundsatz, Einförmigkeit sei die Mutter der Übersättigung, unterläuft und stattdessen auf stereotype Applikationsformeln und argumentative Redundanz setzt,324 lässt darauf schließen, dass der Autor zur Einübung von Musterargumentationen anregen will, was in der römischen Rhetorik keine Analogie kennt, wo Argumentationen den Fall entscheiden, aber nicht durch Iteration und Internalisierung Identitäten stiften soll. Die Ar­ gumente grenzen den jüdischen Glauben theologisch gegen den babylonischen Kult ab und dienen als selbstaffirmativer „Schutzmechanismus“: Die Argumen­ tation hat identitätsstabilisierenden Charakter. 2.5.3. Fazit Als Fazit kann festgehalten werden: Aus attentionaler Perspektive erweist sich der Skopus einer Argumentation als das, was der Argumentierende in Richtung seiner Adressaten verdichtet, zusammenfasst oder paradigmatisch konkretisiert. Als Teilsegment der Rhetorik ist die Argumentationstheorie auf die Steuerung und Nutzbarmachung der Aufmerksamkeit der Adressaten hin ausgerichtet: Vor allem die conplexio soll offenbar so gestaltet sein, dass der Hörer ihr besondere Aufmerksamkeit schenkt, während das vorgeschaltete Begründungssystem bzw. die „Explikation“ zu ihr hinführen und sie zustimmungspflichtig machen soll. 324 Vgl. Nickelsburg, Jewish Literature, 37f: „Although our author’s purpose is argu­ mentative the progression of the book shows little development in the argument. Similar arguments, techniques, and implications recur from section to section. The author’s technique is to overpower the reader by repetition and reinforcement.“

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I. Macht der Argumentation

Zur Beschreibung der attentionalen Dimension des Argumentierens eignen sich verschiedene Metaphern: – Mit der Partitur der Argumentation (vgl. I.2.4.) korrespondiert eine attentio­ nale Phrasierung. Der Argumentierende wird alles daran setzen, die conplexio als solche auszuzeichnen, insbesondere dann, wenn er sie auf die Adressaten anwendet, um einen Handlungsimpuls zu formulieren. – Die conplexio ist der Gravitationspunkt der Argumentation: Erst in der conplexio wird deutlich, welche Aspekte der Argumentation zentral oder peripher ge­ wesen sind – die bisherige Argumentation wird in der conplexio elementari­ siert, zugespitzt und ausgewertet. Anders ausgedrückt: Das Ziel der Argu­ mentation wird erst von ihrer conplexio her erkennbar, auch wenn in der expositio bzw. propositio das Thema benannt wird. – Die Argumentation erscheint als ein attentionales Relief: Die Zusammenfas­ sung hebt sich, vor allem wenn sie sich direkt an die Adressaten wendet, von der abstrakteren Explikation ab. Beides steht jedoch nicht nebeneinander, sondern bleibt aufeinander bezogen: Damit die conplexio hervorstechen kann, muss der Rest der argumentatio zurücktreten. Das Konkrete tritt als Konkretes nur vor dem Hintergrund des Abstrakten in Erscheinung. Im folgenden Schema lassen sich die verschiedenen Dimensionen der Attentio­ nalität des rhetorischen Argumentierens zusammenfassen: expositio/ ratio rationis confirmatio exornatio propositio Streuung (der Argumente) Erklären Abstraktion Explikation

conplexio Konzentration Zuspitzen/Elementarisieren/­ Anwenden Konkretion Applikation

Tabelle 14: Dimensionen der Attentionalität in der Argumentationstheorie der antiken Rhetorik

Dass der attentionale Ansatz dabei hilft, den Skopus konkreter Argumentatio­ nen zu erfassen, konnte in den exemplarischen Studien zum hellenistischen Ju­ dentum nachgewiesen werden: Die Autoren aller untersuchten Texte bemühen sich darum, die Aufmerksamkeit ihrer Leser auf bestimmte Passagen der Argu­ mentation zu lenken. Der Kontrast von explikativer bzw. reflektierender und applikativer bzw. adressatenorientierter Sprache ist also auch für schriftliche Ar­ gumentationen konstitutiv.

2. Die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als Skopustheorie

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2.6. Zwischenbilanz: Die Argumentationstheorie als multiperspektivische Skopustheorie Im Anschluss an die Studien zur Theorie und Praxis des Argumentierens in der griechisch-römischen Rhetorik und im hellenistischen Judentum lässt sich der Argumentationsbegriff differenzierter definieren: Argumentation ist ein ziel­ orientiertes, logisch begründendes, sequenziertes Sprachsystem im Kontext ei­ ner konkreten Adressatenenzyklopädie. Die Argumentation ist (1.) das Ergebnis eines inventorischen Prozesses, in dem der Argumentierende konventionalisierte Begründungsmuster hinsichtlich des Ziels seiner Argumentation sondiert und strategisch einsetzt. In der Argumentation werden (2.) verschiedene Erkennt­ nisbereiche miteinander in ein rationales Verhältnis gesetzt, um etwas Unsicheres als sicher zu erweisen. Die Argumentation ist (3.) eine sequenzierte Begrün­ dungsstruktur, die zu einer Schlussfolgerung führt. Argumentation ist (4.) eine an der Aufmerksamkeit der Adressaten orientierte Oszillation zwischen Explika­ tion bzw. Erklärung und Applikation bzw. Zuspitzung. Das Verständnis der Rhetorik als exegetische Methode zur Identifizierung des Skopus eines Textes findet also durchaus Bestätigung in der antiken Rheto­ rik selber, insofern die Rede, aber auch die Argumentation als ihr wesentliches Teilsegment strikt auf ein Ziel, eine Zusammenfassung und eine Verdichtung hin orientiert ist. Eine Argumentationsanalyse, die auf dieser Theorie beruht, wird aus verschiedenen Richtungen nach dem Skopus einer Argumentation fragen: Worauf der Argumentierende die Aufmerksamkeit seiner Adressaten lenkt (attentionaler Aspekt), wird sich auch in struktureller Hinsicht als Ziel der Argumentation erweisen (struktureller Aspekt), d. h. die Argumentation sollte Schritt für Schritt dorthin führen. Eine Argumentation wird aber ebenfalls ei­ nen Erkenntnisfortschritt abbilden und eine vernünftige Schlussfolgerung kon­ struieren (rationaler Aspekt) und vor allem das kommunikative Problem lösen, angesichts dessen der Redner die Argumentation entwickelt hat (inventorischer Aspekt). Die antike Argumentationstheorie ist also auf allen Ebenen darauf ­fokussiert, ein kommunikatives Ziel zu erreichen und Zustimmung bei den Adressaten zu erwirken. Wie die Theorie als Methode an den Römerbrief herangetragen werden kann, wird in Kapitel III erläutert. Nun bedarf es allerdings noch einer Erklärung, warum die Paulusbriefe, die keine Reden darstellen, grundsätzlich offen für eine argumentationskritische Untersuchung sind.

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I. Macht der Argumentation

3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung Gegen den Versuch, rhetorische Theorien heranzuziehen, um den Skopus paulinischer Texte zu erfassen, könnten zwei Einwände erhoben werden: Paulus verfügte erstens nicht über die entsprechende rhetorische Ausbildung und er wählte zweitens als Kommunikationsmedium den Brief, der nicht ohne weite­ res anhand rhetorischer Modelle analysiert werden kann.325 In der Tat befassen sich schon die antiken Rhetoriktheoretiker mit der Frage, ob rhetorisch ungebildete Personen Rhetorik sachgemäß anwenden können. So wird die ‚vulgäre Rhetorik‘ zur Zielscheibe des beißenden Spotts Quintilians. Deutlich möchte er den schulischen Rhetorikbegriff von einer „autodidak­ tisch“ erworbenen Rhetorik abgrenzen, auch wenn die ungeschulte Rhetorik vermeintlich beeindruckende Erfolge erzielen könne: Die „indocti“ redeten nur deswegen kraftvoller, ungenierter und hemmungsloser als die geübten Redner, weil es ihnen an Kunstfertigkeit fehle.326 Quintilian vergleicht den ungebildeten Redner mit einem blindwütigen Gladiator, der sich wild auf den Gegner werfe. Ein ungeübter Hörer könne die Amateurhaftigkeit einer solchen Rhetorik nicht erkennen – in seinen Ohren würde eine (professionelle) Ord­ nung die Kraft der Rede (diviso) wahrscheinlich sogar schmälern, während ihm das Rüde („rudia“) größer als das Verfeinerte und das Verstreute stärker als das Geordnete vorkomme („nam et diviso, cum plurimum valeat in causis, speciem virium minuit, et rudia politis maiora et sparsa compositis numeriosa credun­ tur“327). Sei das Publikum jedoch hochkarätiger besetzt, liege die wahre Kraft der Rede gerade in ihrer ausgefeilten Struktur und besonnenen Darbietung. Quintilians Kritik dürfte das Segment der argumentatio im Besonderen treffen: Seine Anspielungen auf die Ordnung der Rede, die Beachtung der Hörerge­ wohnheiten und -kenntnisse, die Zügelung der Kraft der Rede durch eine klu­ ge Disposition führen allesamt direkt in die inventio der argumentatio.328 Nun zeigen die vorigen exemplarischen Studien zur Argumentation im hel­ lenistischen Judentum, dass die Technik des Argumentierens, wie sie die griechisch-­ 325  Vgl. zur Forschungsdiskussion und Problemgeschichte des Verhältnisses von Epistolo­ graphie und Rhetorik nach wie vor Klauck, Briefliteratur, 165–180; Lampe, Analyse, 178– 186; Hoegen-Rohls, Augenblickskorrespondenz, 44–48; Hoegen-Rohls, Rhetorical ­Criticism, 95–99. Vgl. auch Martin, Pauline Rhetorical Studies, insb. 51–62. Classen, Theorie, 153–156 hinterfragt zu Recht die Ziele der rhetorischen Analyse paulinischer Brie­ fe: Will man sie mit Hilfe einer rhetorischen Analyse besser verstehen? Will man etwas über den Bildungshintergrund des Paulus erfahren? Vgl. zur epistolographischen Ausbildung des Paulus Bauer, Epistolographie, 406–408. Vgl. zur Bildung des Apostels Hengel, Paulus, 180–193, zu seinem Gesetzesstudium aaO. 239–251, vgl. zur möglichen schulrhetorischen Bildung des Paulus Vegge, Schulwesen, 352–365. 326  Vgl. Quint. inst. II,12,1 (Rahn 216f ). 327  Quint. inst. II,12,3 (Rahn 218f ). 328  Vgl. II.2.2.

3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung

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römische Rhetorik auf einem hohen theoretischen Niveau formalisiert, in kei­ nem Fall hermetisch auf Redesituationen in juristischen oder politischen Kon­ texten eingeengt werden kann. Die untersuchten theologischen Texte weisen Charakteristika auf, die die griechisch-römische Rhetorik für das Sprachsystem der Argumentation beschreibt: Aufmerksamkeitslenkung, argumentativer Pro­ gress, rationale Struktur und eine inventorische Abwägung von Begründungs­ konventionen, die angesichts des Argumentationsziels funktional abgerufen werden. Auch wenn historische Konvergenzpunkte mit der griechisch-römi­ schen Rhetorik fehlen – die Argumentation tritt offenbar dort als natürliches Sprachsystem in Erscheinung, wo eine politische, ethische, juristische oder theologische Dissenssituation entsteht. Paulus partizipiert also ganz offensicht­ lich an einer blühenden Argumentationskultur, die sich mit Hilfe der antiken Rhetorik zumindest adäquat beschreiben lässt.329 In der Konsequenz bedeutet das: Die Rhetorik und das Argumentieren spie­ len für das öffentliche und kulturelle Leben auch jenseits des professionellen Kontextes eine herausragende Rolle, ob Quintilian das gut heißt oder nicht. Seine Unterscheidung zwischen gelehrter und ungelehrter Rhetorik muss aber zumindest als methodische Problemanzeige beachtet werden: Aus dem Um­ stand, dass sich rhetorische Strukturen in nicht-professionellen und literarischen Zusammenhängen finden lassen, können nur sehr vage Rückschlüsse auf den rhetorischen Bildungsgrad eines Autoren gezogen werden.330 Der zweite Einwand erweist sich ebenfalls als unbegründet. Die Gattung des Briefes – darauf ist in der Forschung oft hingewiesen worden – ist für rhetori­ sche im Allgemeinen und argumentationstheoretische Analysen im Besonderen grundsätzlich offen. Man müsse – so Peter Lampe – der „Freiheit des Briefe­ schreibers“331 Rechnung tragen, dessen Arbeit nicht so streng reglementiert ge­ wesen sei wie die des Rhetors. Er dürfe Anleihen an nicht brieflichen Formen machen. Außerdem gebe es auch in paganer Briefliteratur Hinweise auf Rede­ elemente, z. B. im Pliniusbrief oder bei Seneca.332 Die ab dem späten ersten und frühen zweiten Jahrhundert zu beobachtenden Bemühungen, auch theoretisch Brief und Rede zu verbinden,333 dürften bereits auf eine vorlaufende Praxis rekurrieren. Und schon Quintilian berücksichtigt – trotz der strikten Unter­ scheidung von Brief und Rede – Ausnahmen gerade für solche Briefe, die phi­ losophische oder politische Themen traktieren und deswegen rhetorisch dispo­ niert sein müssen, selbst wenn dies über ihr eigentliches Wesen hinausgehe.334 329 Vgl.

Lampe, Argumentation, 156–158. Vgl. auch Classen, Rhetorical Criticism, 28 und Classen, Rhetorik, 2–4. 331  Lampe, Argumentation, 152. 332  Vgl. ebd. 333  Z. B. in den Progymnasmata von Theon von Alexandrien unter dem Stichwort „Pro­ positio“ – was die Ausgestaltung von „Personenrollen“ und das „Sich-Hineinfühlen“ in sol­ che umfasst (vgl. aaO. 153). 334  Vgl. Quint. inst. IX,4,19 (Rahn 372f ). 330 

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I. Macht der Argumentation

Dass Paulus zu den „indocti“ gezählt haben könnte und dass er den Brief als Kommunikationsmedium favorisiert, ist also kein hinreichender Grund dafür, die Argumentationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik als heuristisches Modell für die Analyse paulinischer Briefe auszuschließen. Im Gegenteil: Zwi­ schen der Kommunikationssituation des Briefschreibers Paulus und der Gestal­ tungssituation des Redners, wie ihn die antike Rhetorik ideell beschreibt, be­ stehen einige bemerkenswerte Parallelen. So stehen die inventorische Situation, wie sie die griechisch-römische Rhetorik ins Auge fasst, und der rationale Anspruch, den sie an die Gestaltung des Logos der Rede erhebt, dem Selbstbild und der Selbstverpflichtung des Apostels Paulus sehr nahe. Beide, Rhetor und Apostel, sind der Wahrheit eines Gegenstandes und deren „Plausibilisierung“ gegenüber ihren Adressaten verpflichtet.335 Die antike Rhetorik reflektiert für die inventio ein dreidimensionales Span­ nungsverhältnis von Rhetor, Zuhörer und Gegenstand. In diesem Spannungs­ verhältnis gestaltet die Rhetorik Wirklichkeit. Aristoteles bestimmt Rhetorik als „das Vermögen […], bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen. Denn dies ist die Funktion keiner anderen Theorie. Jede andere nämlich will über den ihr zukommenden Gegenstand belehren und überzeugen […]. Die Theorie der Beredsamkeit dagegen scheint sozusagen in der Lage zu sein, das Glaubenerweckende an jedem vorgegebenen Gegenstand zu untersuchen. Darum behaupten wir auch von ihr, daß sie kein ihr eigenes, auf eine bestimmte Gattung von Gegenständen beschränk­ tes Gebiet theoretischer Anweisung besitzt.“336

Die Rhetorik setzt sich notwendigerweise mit dem Wahrscheinlichen ausein­ ander, da sie als Theorie des Glaubwürdigen auf einen Rezipienten bezogen ist: Sie wägt die Enzyklopädie der Adressaten ab. Dennoch ist der Zuhörer nicht ihr einziger Richtpunkt. Der Gegenstand der Rede – also der logos, wie er durch die argumentatio zur Darstellung gelangt – müsse vielmehr durch die Logik überprüf bar sein, denn das Wahre lasse sich mit weniger Aufwand beweisen als das Unwahre.337 Aristoteles geht von einer natürlichen Überlegenheit und 335 

Vgl. prägnant Klauck, Briefliteratur, 180. Aristot. rhet. I,2,1 (Sieveke 12). Andersen, Garten der Rhetorik, 141 macht zu Recht auf den Umstand aufmerksam, dass der Gegenstand im Mittelpunkt des Interesses der aristo­ telischen Rhetorik steht. 337  Vgl. Aristot. rhet. I,1,12 (Sieveke 16): „[…] das Wahre und das der Natur nach Bessere sind immer das besser zu Beweisende und – um es kurz zu sagen – das Glaubhaftere.“ Die Einschätzung Strohs, Macht der Rede, 170 ist also schlüssig: Aristoteles kritisiert eine entfesselte Rhetorik. Die Rhetoriker „behandeln, wie er [Aristoteles] feststellt, vor allem die Eigenschaften der einzelnen Redeteile (weil es auch dabei um eine unsachgemäße Beeinflus­ sung des Richters geht), und sie bevorzugen die Theorie der Gerichtsrede vor der (meist sachlicheren) politischen Rede. Wenn er, Aristoteles, dagegen vor allem die Kunst des Enthymems als der ‚Krönung der pisteis‘ lehre, mache er damit den philosophischen Wahr­ heitsfreund zum besten Redner. Denn es sei dieselbe Fähigkeit, das Wahre und das dem Wahren Ähnliche zu erkennen“ (aaO. 170). 336 

3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung

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Durchsetzung des Wahren aus.338 Der Redner erscheint in der Folge als Relais der Plausibilisierung der Wahrheit unter Zuhilfenahme des Wahrscheinlichen, das angesichts der Adressaten bzw. präziser: ihrer Enzyklopädie definiert und so­ weit in die Argumentation eingebunden werden muss, dass es zur Durch­setzung des Wahren beiträgt. Die Wahrheit ist – zumindest im antisophistischen Ideal der Rhetorik – nicht variabel, sondern der Redner weiß sich der Wahrheit ver­ pflichtet. In einem besonderen Spannungsfeld von Selbstverpflichtung und Plausibilisie­ rungsszwang steht auch der Apostel Paulus, wenn er mit den christlichen Ge­ meinden in brieflichen Kontakt tritt. Ausgehend von der Verwendung der Wortgruppe κῆρυξ, κηρύσσειν, κήρυγμα in Profangräzität, Septuaginta und im Corpus Paulinum 339 schlägt Christina Hoegen-Rohls für die paulinischen Briefe die Gattung des „kerygmatischen Briefs“ vor. Diese mache zwar gewisse Anleihen bei anderen Briefgattungen, stelle jedoch hinsichtlich ihrer Funktion und Struktur ein Spezifikum der paulinischen Kommunikation dar.340 Das ent­ scheidende theologische Merkmal der Gattung des kerygmatischen Briefs sei ihre transzendierte Dreidimensionalität:341 „Im performativen Sprechakt des kerygmatischen Briefs wird vielmehr Gott selbst epiphan. […] Die grundlegende kommunikative Trias von Sender, Empfänger und Mit­ teilung wird dabei aufgesprengt und transzendiert, die kommunikativen Rollen werden polyfunktional besetzt: Gott und Christus fungieren in der dreidimensionalen Ge­ sprächsbegegnung, die der Paulusbrief inszeniert, jeweils als Subjekt und Objekt der Heilsbotschaft.“342

Aus dieser polyfunktionalen Besetzung der Kommunikationsteilnehmer resul­ tiert eine spezifisch theologische Situation der inventio: Das von Paulus voraus­ gesetzte Kerygma repräsentiert eine Wahrheit, der sich Paulus gegenüber ver­ pflichtet fühlt. Das Evangelium kann nicht beliebig ausgelegt werden (vgl. z. B. Gal 1), es hat für Paulus Offenbarungscharakter und zwingt Paulus theologische und interpretatorische Grenzen auf, an der sich konkrete argumentative Plausi­ bilisierungen messen lassen müssen. Der kerygmatische Brief ist also durchaus auch im antiken Sinne argumentativ prädisponiert, insofern er zwischen dem Wahrheitsanspruch des Evangeliums und der Hörerenzyklopädie vermittelt bzw. diesen Wahrheitsanspruch versucht zu plausibilisieren.343 338 Vgl. Coenen, Rhetorisches Argumentieren, 74: „In der größeren rhetorischen Ergie­ bigkeit des Guten und Wahren liegt der mittelbare Wahrheitsbezug der Rhetorik.“ 339 Vgl. Hoegen-Rohls, Augenblickskorrespondenz, 93–99. Dabei ist zu beachten, dass auch andere – synonyme – Begriffe vorkommen (vgl. aaO. 98). 340  Bosenius, Apostelbrief, 236–243 grenzt den Gattungsbegriff, wie Hoegen-Rohls ihn bestimmt, darüber hinaus gegen den unspezifischeren Begriff „Apostelbrief “ ab, der einen Autoritätsanspruch des Paulus impliziert, der den Briefen nicht angemessen sei. 341  Hoegen-Rohls, Augenblickskorrespondenz, 114. 342 Ebd. 343 Vgl. zum Verhältnis von apostolischem Selbstverständnis und dem kerygmatischen

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I. Macht der Argumentation

Mit dieser Plausibilisierung ist auch ein rationaler Anspruch der Argumentati­ on des Apostels verbunden. Im Akt der brieflichen Kommunikation und in Verantwortung gegenüber Evangelium und Adressaten zeige der Apostel – so Michael Theobald –, dass „ihm eine vernünftige, an konsensfähigen Instanzen, Kriterien, Erfahrungen und Deutungen orientierte Bewahrheitung des Evan­ geliums, die über den Aufweis seiner innerkerygmatischen Stimmigkeit hinaus­ reicht, sehr am Herzen liegt.“344 „Stimmigkeit“ bezeichnet dabei eine rhetori­ sche und logische Kategorie gleichermaßen. Wenn nach der Rationalität der theologischen Argumentation des Apostels Paulus gefragt wird, steht die Angemessenheit der Verknüpfung verschiedener Erkenntnisbereiche im Fokus des Inte­ resses. Die jüdischen Autoren der oben behandelten theologischen Texte kons­ truieren Argumente, Erzählungen und (intertextuelle) Beweise in einer für den Erstrezipienten angemessenen Form und im Wettbewerb mit anderen Konzepten und Weltbildern. Auch Paulus entwickelt keine abstrakte Theologie, sondern konfrontiert seine Leser mit der Wirklichkeit Gottes und verwickelt sie in einen theologischen Diskurs. Sie erhalten Einblick in diese Wirklichkeit nur durch das, was er ihnen zeigt – und durch das, was sie daraus schließen. Die paulini­ sche Schriftauslegung charakterisiert Christof Landmesser deswegen als „dra­ matisch konstruktiv“345. Paulus operiere mit kontextuell abhängigen Argumen­ tationsformen und Motiven, die für „andere Kommunikationsgemeinschaften [als die angesprochenen] letztlich bedeutungslos“ seien.346 Natürlich: Die Beru­ fung auf Autoritäten (heilige Schriften oder Augenzeugen) hält einer formal-­ logischen Deduktion von Prämissen etc. nicht stand, ist jedoch in ihrem jewei­ ligen Kontext legitim, angemessen und hinreichend. Wo Argumente sich als stimmig erweisen, erschließt sich eine neue Wirklichkeit und diese „verändert den Blick auf die Welt und formiert so das je eigene Handeln.“347 Ob eine sol­ che Wirklichkeit trage und für den Glaubenden den Status von „Objektivität“ Anspruch des Paulus in seinen Briefen Schröter, Versöhner, insb. 298–300. Die Konstruk­ tion von Wirklichkeit ist im Übrigen Charakteristikum jeder Theologie. Nach Großhans kann der Mensch „die Wirklichkeit nicht nur rekonstruieren, wir müssen die Wirklichkeit vielmehr im Erkenntnis- und Sprachwerdungsvorgang konstruieren“ (Grosshans, Wirk­ lichkeit, 80). Gerade dieses „indirekte[] Erkennen[] Gottes“ (aaO. 87) durch das Sprechen eines Menschen für einen anderen zeichne sich als „lebensdienlich[]“ aus, „weil es die Frei­ heit des Menschen Gott gegenüber voraussetzt. Eine direkte Präsenz Gottes, der Wirklich­ keit, die alles bestimmt, hebt die Eigenverantwortlichkeit von Menschen und also ihre Frei­ heit auf – und raubt zugleich Gott die Freiheit“ (ebd.). 344  Theobald, Vernunft, 429 f. 345  Landmesser, Geschichte, 159. 346  AaO. 160. Landmesser nennt „autoritative Institutionen […], die zur Klärung des Ge­ schehens entscheidend und erforderlich, aber – zumindest für manche Menschen, nämlich für die Glaubenden – auch zugänglich sind“ (aaO. 150). Die „Regeln ihrer [d. h. der Kom­ munikationsgemeinschaft, PB] sozialen, religiösen und sonstigen Kontexte“ (aaO. 162) und die „Logik der Kohärenz und Konsistenz“ (aaO. 163) sind Voraussetzungen für die Erschlie­ ßungsprozesse der Hörer. 347  AaO. 161.

3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung

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einnehmen könne, „entscheidet sich letztlich an der Stimmigkeit der Interpre­ tation und an der pragmatischen Relevanz der verhandelten Themen für die christlichen Gemeinden“348. Die „Stimmigkeit“ und „pragmatische Relevanz“ religiöser Argumentationen wird von der hier vorgeschlagenen Analyse, die sich am adressatenorientierten Argumentationsmodell der griechisch-römi­ schen Rhetorik orientiert, in den Blick genommen, indem sie die Texte mit Hilfe der milde(re)n rhetorischen Logik untersucht, die zwischen Wahrheit und Adressaten vermitteln möchte. Die Wahl des Briefes als Kommunikationsform hat auch Auswirkungen auf die Strukturierung der Gedankengänge und macht eine besondere Aufmerksamkeitslenkung erforderlich. Selbst wenn es philosophische Strömungen in der An­ tike gibt, die die Schriftlichkeit im Vergleich zur Mündlichkeit als defizitär bewerten – für Paulus stellt der äußere Zwang zur Schriftlichkeit kein notwen­ diges Übel, sondern eine günstige Alternative zur Rede dar, denn Paulus deutet gelegentlich an, dass seine rhetorischen Talente, d. h. wohl seine elocutio, man­ gelhaft seien.349 Wie beeinflusst der Prozess der Verschriftlichung die Gestal­ tung von Argumentationen? In Anschluss an die Überlegungen von Eve-Marie Becker, die sich wiederum auf Peter Koch und Wulf Oesterreicher stützt, könn­ te die Verschriftlichung von Argumentationen folgende gestalterische Möglich­ keiten und kommunikative Gefahren bereithalten:350 1.  Die zeitlich und örtlich unterschiedene Kommunikationssituation macht es nötig, Annahmen über die gemeinsame Enzyklopädie und die impliziten Prämissen anzustel­ len bzw. manche enzyklopädischen Bezüge offen zu lassen, wenn keine verlässlichen Annahmen getroffen werden können, da eine nachträgliche Revision der Argumentati­ on i. d. R. nicht möglich ist. 2.  Die Monologizität schriftlicher Argumentation „mit definierten Rollenzuweisun­ gen und -erwartungen“ macht es nötig, Einwände und Anfragen abzuwägen und ggf. vorwegzunehmen, um sie argumentativ zu bewältigen. 3.  Die Notwendigkeit der Versprachlichung kontextueller Faktoren, die bei der münd­ lichen Argumentation stillschweigend vorausgesetzt werden, zieht es nach sich, den Anlass der Argumentation zu explizieren bzw. darauf anzuspielen. Dies kann z. B. in Anwendungsbeispielen geschehen. 4.  Der Verlust von „personalisierter ‚Emotionalität‘“ macht es nötig, die Argumentation ansprechend zu gestalten, vielleicht sogar übertrieben ansprechend. Hier wären narrative Elemente zu nennen oder solche, die die gewünschte Zustimmung des Lesers vorweg­ nehmen. 5.  Die Argumentation wird planbarer. Für die dispositio gibt es größere Spielräume und die Argumentation wird in gewisser Weise artifizieller. Problematische Bausteine der Argumentation können durch die Gesamtanlage abgeschwächt oder verstärkt werden, denn was niedergeschrieben ist, hat Verbindlichkeit. Es kann schwerer revidiert werden als in einer unmittelbaren, mündlichen Kommunikation. 348 

AaO. 163. 1Kor 2,1–10. 350  Die folgenden Ausführungen lehnen sich an Becker, Verstehen, 106f an. 349  Vgl.

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I. Macht der Argumentation

6.  Die Erfordernis bestimmter „Formprinzipien“ macht es nötig, die Argumentation in ihr literarisches Umfeld (den Brief ) zu integrieren und mit der übergeordneten, primä­ ren Aussageabsicht zu verknüpfen. 7.  Der Aspekt der „Lokomobilität“ ist nicht zu vernachlässigen. Die Argumentation hat über ihren Publikationsort hinaus Bedeutung. Sie kann zirkulieren und über ihre Erst­ rezeption hinaus wirken – vielleicht sogar gegen den Willen des Autors oder aber auch mit dessen voller Absicht. Dies macht es nötig, die Argumentation entweder so stark zu kontextualisieren, dass ihre Einmaligkeit erkennbar bleibt, oder aber sie auf eine so ab­ strakte Ebene zu transponieren, dass ihre Allgemeingültigkeit anerkannt werden kann.

Wenn rhetorisches Argumentieren actio ist, ist schriftliches Argumentieren ‚über-­­actio‘. Paulus könnte u. U. versuchen, den linearen Progress seiner Argu­ mentation (die Segmentierung wie auch die Interdependenzen zwischen den einzelnen Abschnitten) transparent werden zu lassen oder ihn bewusst zu ka­ schieren, er könnte durch rhetorische oder andere aufmerksamtkeitslenkende Mittel bestimmte Passagen seiner Argumentation als besonders wichtig und – in der Terminologie der antiken Argumentationstheorie – als conplexiones aus­ weisen, da er nicht in den Leseprozess involviert ist und die Rezeption seines Schreibens steuern kann.351 Das gilt insbesondere unter der Voraussetzung, dass der Paulusbrief in die mündliche actio rückübersetzt wird: Akio Ito macht auf den schon lange be­ kannten, aber methodologisch nur in Ansätzen nachvollzogenen Umstand auf­ merksam, dass die Paulusbriefe in den Adressatengemeinden vorgelesen wurden, also zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit oszillieren.352 Ito mahnt an, diese „original situation“353 bei der Analyse unbedingt zu bedenken: „His epistles were intended to make sense when read from the beginning to the end without going back and forth. […] In short the Pauline epistles have some elements of orality although they were written down and could be read over and over again. This original situation justifies the casual and simple reading that follows Paul’s argumentati­ ve force, without dealing with his in-depth and broad theological thinking.“354

Der von Ito aufgeworfene Problemhorizont ist unter argumentationstheoreti­ schen Gesichtspunkten höchst relevant, nur wird die Möglichkeit der Antizipa­ tion der sekundären Oralität in der antiken Rhetorik nicht explizit thematisiert. Diese setzt ganz auf actio und memoria – der Redner prägt sich die Rede ein und hält sie.355 Aus dem Auftreten sequenzieller Strukturen oder attentionaler 351  Was z. B. auch Schmeller mit seinem „Relationsprinzip“ zum Ausdruck bringt (vgl. I.1.4). 352  Ito unterscheidet dezidiert zwischen „argumentative force“ und „Paul’s theology“, die sich zwar nicht kontradiktorisch zueinander verhalten, aber doch unterschieden werden müssen (vgl. Ito, Rhetoric, 240). 353 Ebd. 354 Ebd. 355  Vgl. als einleitende Darstellung der Publikationstätigkeit römischer Rhetoren (insbe­ sondere Ciceros) Pina Polo, Contra arma verbis, 26–33. Im Zuge seiner Studie zur Publika­

3. Der ideelle Redner und Paulus als Briefschreiber in argumentativer Verantwortung

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„Spots“, durch die Paulus die Aufmerksamkeit der Adressaten lenken und kon­ zentrieren möchte, kann aber geschlossen werden, dass der Apostel den Vor­ gang des Vorlesens bei der Gestaltung seiner Argumentation mitreflektiert. Die rhetorischen Kategorien der Aufmerksamkeitslenkung und Strukturierung auf den paulinischen Brief anzuwenden, ist also sehr naheliegend. Was richten diese prinzipiellen Überlegungen für die Frage nach der Legi­ timität einer argumentationskritischen Untersuchung der Paulusbriefe aus? Im Vorfeld der Analyse des zweiten Teils der Untersuchung kann diese Frage nicht befriedigend beantwortet werden: Grundsätzlich ist aber methodische Offenheit geboten. Die griechisch-römische Argumentationstheorie bietet ein Paradigma und eine Terminologie, anhand derer der Skopus antiker Argumen­ tationen und mutmaßlich auch der Argumentation des Paulus, die in einem ­eigentümlichen Spannungsfeld von apostolischer Selbstverpflichtung und Ad­ ressatenbezogenheit steht, bestimmt werden kann, selbst wenn kein schul­ rhetorischer Hintergrund evident ist. Es muss aber sehr genau zwischen der Rhetorik als exegetischem Hilfsmittel i. S. einer Skopustheorie und der Rheto­ rik als antikem Gestaltungsmodell unterschieden werden. Aus der Tatsache, dass in einem Text mit Hilfe rhetorischer Theorien bestimmte Zusammenhän­ ge entdeckt werden, kann nicht unmittelbar geschlossen werden, dass der Autor des Textes eine umfassende rhetorische Bildung genossen hat und im Bewusst­ sein der theoretischen Möglichkeiten der Rhetorik die entsprechenden Techni­ ken anwendet. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Untersuchung besteht nun dezidiert nicht darin, den Paulusbrief auf der Grenze von Epistolographie und antiker Rhetorik zu verorten oder den Bildungshintergrund des Paulus zu erkunden. Der Rekurs auf den argumentationstheoretischen Ansatz soll viel­ mehr dabei helfen, ein textimmanentes Problem des Römerbriefes zu lösen: Wo liegen die Spitzen, die Skopen, die herausragenden Passagen der Argumenta­ tion, von denen alle anderen ihre Richtung und ihre Funktion und die verwen­ deten Begriffe ihre Bedeutung erhalten?

tion der zweiten Philippica Ciceros untersucht Ott, Philippica, 8–65, auch die Gattung der Flugschrift als Kommunikationsmedium in der späten römischen Republik.

II. Macht des Begriffs: Die Funktion des Begriffs hinsichtlich des Argumentationsziels Mit welchem Ziel spricht Paulus im Römerbrief von der Sünde? Im ersten Ka­ pitel ist gezeigt worden, dass die Argumentationstheorie der antiken Rhetorik mit Gewinn auf theologische Texte angewendet werden kann, um deren Sko­ pus zu bestimmen. In diesem Kapitel wird die „semantische Dimension“ des Argumentierens beleuchtet: Wie hängen das Ziel einer Argumentation und die verwendeten Begriffe zusammen? Zunächst werden in diesem Kapitel die knap­ pen Überlegungen Quintilians zum Verhältnis von Redeziel und Wortwahl skizziert (1.). Die darauf folgende exemplarische Untersuchung (2.) geht jedoch nicht den deduktiven Weg einer theoretischen, sprachwissenschaftlichen Be­ trachtung des antiken Sprachphänomens der Argumentation, sondern wird ih­ ren Ausgangspunkt wiederum am antiken Sprachsystem der Argumentation selber nehmen und zwei Argumentationsparadigmen Ciceros einer detaillierten semantischen Analyse unterziehen. Ein Fazit wird die Arbeitsergebnisse bün­ deln (3.).

1. Theoretische Überlegungen bei Quintilian: Das Ziel der argumentatio als Richtpunkt ihres semantischen Inventars Die antike griechisch-römische Rhetorik operiert bei der Findung und Kon­ struktion von Argumentationen in erster Linie auf Satzebene. Im Grundsatz antizipiert Quintilian allerdings den semiotischen Ansatz und unterscheidet zwischen „verba“ und „res“, wobei die „verba“ die „res“ bezeichnen („signifi­ cant“) und die „res“ innerhalb der Rede nur durch die „verba“ repräsentiert („significantur“) werden können.1 Am Rande der Behandlung der elocutio kommt er schließlich auf die argumentative Funktion einzelner Worte und ih­ 1  Vgl.

Quint. inst. III,5,1 (Rahn 300): „Omnis autem oratio constat aut ex iis quae sig­ nificantur, aut ex iis quae significant, id est rebus et verbis.“ Vgl. auch III,3,1 (Rahn 290): „omnis vero sermo, quo quidem voluntas aliqua enuntiatur, habeat necesse est rem et verba“ (Hv. i. O.). Augustin führt diese Unterscheidung in einer umfassenderen Zeichentheorie weiter, vgl. Doctr. II,1,1 (Green 33): „Signum est enim res, praeter speciem quam ingerit sensibus, aliud aliquid ex se faciens in cogitationem venire […]“. Hier stellen Worte nur eine Möglichkeit unter vielen dar, um auf eine Sache zu verweisen.

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II. Macht des Begriffs

rer Bedeutungsfülle zu sprechen. So empfiehlt er dem Redner die Aneignung eines möglichst breiten Repertoires von Synonymen: Er müsse sich bei den Dichtern und Historiographen „Schätze“ beschaffen.2 Wann welches Wort ge­ setzt werde, müsse wohl überlegt sein,3 denn Worte haben unterschiedliche Konnotationen, bezeichnen mitunter sehr spezifische Aspekte einer Sache und wecken verschiedene Stimmungen und Assoziationen bei den Hörern.4 Doch woran soll sich der Redner bei der Wahl seiner Worte orientieren? Es geht Quintilian ausdrücklich nicht um blinde „circulatoria volubilitas“, also Wort­ klauberei oder Begriffsakrobatik, sondern die Wortwahl steht ganz im Zeichen der „vis orandi“5 – sie muss dem Ziel der Rede zuträglich sein und sich am in­ neren und äußeren aptum orientieren, d. h. an der innertextuellen Stimmigkeit und dem konkreten Redeanlass. Auch die syntaktische Ebene reißt Quintilian an. Die compositio (verborum)6 stellt einen neuralgischen Punkt bei der Erarbeitung der Rede dar, denn die Anordnung der Worte garantiere die geschmeidige Abfolge der Rede wie ein Fluss7 oder ein fliegender Speer.8 Die Worte, insbesondere die Verben, bil­ den die „Riemen und Sehnen“ („velut ammentis quibusdam nervisve“), durch die die Gedanken gespannt werden und in Schwung kommen.9 Quintilian polemisiert gegen die ängstliche Pedanterie einiger Rhetoren, die vorgetrage­ nen Ereignisse in einem Satz unbedingt einem chronologischen ordo folgen zu lassen,10 wo es doch viel besser wäre, das Wichtigste am Schluss zu nennen. Das Verb bilde im Optimalfall den Abschluss eines Sinnabschnitts („sensus“), denn: „In den Verben ist die Macht der Sprache.“11 Wenn im Verb ein zentraler Ge­ danke artikuliert werden solle, komme dieser nur dann zur Geltung, wenn das Verb an einer exponierten Stelle im Satz zu stehen komme.12 2 

Vgl. Quint. inst. X,1,5 (Rahn 432f ). Quint. inst. X,1,6 (Rahn 432f ): „quae si [in] rebus singulis essent singula, mino­ rem curam postularent: nam cuncta sese cum ipsis protinus rebus offerrent.“ 4  Vgl. ebd.: „Sed cum sint aliis alia aut magis propria aut magis ornata aut plus efficientia aut melius sonantia, debent esse non solum nota omnia sed in promptu atque [id] ut ita dicam in conspectu, ut, cum se iudicio dicentis ostenderint, facilis ex his optimorum sit electio.“ 5  Vgl. Quint. inst. X,1,8 (Rahn 434f ). 6  Vgl. Quint. inst. IX,4,1f (Rahn 364f ). 7  Vgl. Quint. inst. IX,4,7 (Rahn 368f ). 8  Vgl. Quint. inst. IX,4,8 (Rahn 368f ). 9  Vgl. Quint. inst. IX,4,9 (Rahn 368f ). 10  Vgl. Quint. inst. IX,4,25 (Rahn 374f ). 11  Quint. inst. IX,4,26 (Rahn 374f ): „Verbo sensum cludere multo, si compositio patia­ tur, optimum est: in verbis enim sermonis vis est.“ 12 Quintilians Beispiel (er rekurriert auf Cicero) fällt in diesem Zusammenhang nicht sehr ästhetisch aus (Quint. inst. IX,4,29 [Rahn 376]): Im Teilsatz „ut tibi necesse esset in conspectu populi Romani vomere postridie“ erweist sich „vomere“ („erbrechen“) am Ende des Satzes als „mucro“ (Spitze) des Gedankengangs. Nur aufgrund seiner Position im Satz werde das Verb vom Rezipienten besonders stark wahrgenommen (vgl. Quint. inst. IX 4,30 [Rahn 376–379]). 3  Vgl.

1. Theoretische Überlegungen bei Quintilian

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Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen Quintilians und dem antiken Argumentationsparadigma, wie es in Kapitel 1 dargestellt worden ist, soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen dem Ziel der Argumentation und ihrem semantischen Inventar genauer untersucht werden. Wenn in den beiden folgenden Studien semantische Theorien an konkrete Argumentationen Ciceros herangetragen werden, muss immer beachtet werden, dass das antike Argumentationsparadigma auch auf semantischer Ebene strikt zielorientiert ist, wie Quintilian annimmt: Das Ziel der Rede determiniert die Wortwahl – die gewählten Worte dürfen die vis orandi nicht schwächen oder sie unterlaufen. Eine Abwägung der Etymologie und Funktion einzelner Begriffe in Ciceros argumen­ tativen Texten wurde zwar schon früher unternommen, nicht jedoch unter argumenta­ tionskritischer Perspektive. So untersucht Vera Sauer in ihrer Studie „Religiöses in der politischen Argumentation der späten römischen Republik“ Derivate des Religionsbe­ griffs13 in Ciceros erster Catilinarischen Rede. Dazu geht sie von der Etymologie eines Begriffs wie „furor“ aus und untersucht die semantischen Neukonnotationen und Kom­ binationen mit anderen Begriffen.14 Das Ergebnis der Untersuchung ist für die folgen­ den Untersuchungen insofern aufschlussreich, als Sauer zwischen solchen Begriffen, in denen die religiöse Konnotation eines Begriffes von sich aus zum Tragen kommt, und solchen unterscheiden kann, bei denen die religiöse Konnotation durch einen anderen oder den weiteren Kontext hervorgerufen wird.15 Sauers Studie verschränkt also histo­ rische und sprachwissenschaftliche Methodik und unterscheidet Verwendungskonventi­ on und Verwendungsfunktion von Begriffen (vgl. auch Kapitel 3). Für Paulus und vor dem Hintergrund des problematischen Verhältnisses von synchro­ ner und diachroner Exegese unternimmt Michael Bachmann eine Argumentationsana­ lyse von Galater 3,10–12. Es sei – angesichts der Vielfalt der argumentationskritischen Zugänge in der Paulusforschung – nötig, „dass – im Blick auf eine möglichst adäquate Erfassung der paulinischen Argumentation – eben formalen Beobachtungen ein erheb­ licher Stellenwert zukommen sollte.“16 Bachmanns methodischer Ansatz lässt sich fol­ gendermaßen skizzieren: Zunächst untersucht er die von Paulus in dem kurzen Ab­ schnitt verwendeten Partikel und Konjunktionen unter argumentationsstrategischen Gesichtspunkten, d. h. er analysiert, wie Prämissen und Konklusionen der Beweisfüh­ rungen aufeinander bezogen sind.17 Dann zeigt er, wie Gal 3,10–12 mit den größeren Argumentationslinien und anderen Teilabschnitten des Galaterbriefs in Zusammen­ hang steht,18 und beschreibt, wie die Bedeutung von Gal 3,10–12 durch die vorange­ gangenen Abschnitte determiniert ist, d. h. welche Assoziationen sich aus dem Vorheri­ gen ergeben und wie diese das Verständnis des Abschnitts beeinflussen.19 Weiterhin beschreibt er, wie sich diese sehr subtile Beeinflussung auch auf semantischer Ebene niederschlägt:20 Bestimmte Wortfelder sind mit ihrem argumentativen Kontext ver­ 13 Vgl.

Sauer, Religiöses, 31. Vgl. paradigmatisch aaO. 96–102. 15  Vgl. aaO. 230–232. 16  Bachmann, Argumentation, 526. 17  Vgl. aaO. 529 f. 18  Vgl. aaO. 530 f. 19  Vgl. aaO. 530 f. 20  Vgl. aaO. 531 f. 14 

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II. Macht des Begriffs

wachsen 21 und der argumentative Fortschritt eines Textes hat auch Relevanz für das Verstehen eines einzelnen Wortes, sei es auch nur ein einzelnes Personalpronomen.22 Als Horizont kommt dann auch die historische Perspektive zum Tragen, d. h. die Um­ welt des Neuen Testaments – wie z. B. Handschriften aus Qumran bei der Erklärung einer kontroversen Wortverbindung wie „Werke des Gesetzes“.23 Schließlich beurteilt Bachmann die Einbettung des Abschnitts in die Argumentation des Gal 24 und bestimmt die Funktion der Argumente25 hinsichtlich des Problemkontextes, d. h. der Abfassungs­ situation des Briefes.26 Bachmanns Analyse setzt einen konzentrischen Kontextbegriff voraus: Ein Argument hat eine Bedeutung in seinem engeren Kontext, d. h. im jeweili­ gen Gliederungsabschnitt, hinsichtlich der vorherigen und nachkommenden Abschnit­ te und hinsichtlich der historischen Situation, in der der Brief entstanden ist.

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros Der Begriff „Begriff“ ist umstritten und wird unterschiedlich gebraucht. Infor­ mell und in der Alltagssprache wird er synonym zu „sprachlichem Ausdruck“ bzw. „Wort“ verwendet.27 In der Semiotik stellt der „Begriff“ hingegen eine übersprachliche, geistige Größe dar, auf die sich der konkrete lautliche Aus­ druck bezieht. Trotz einer großen terminologischen Bandbreite lässt sich zu­ mindest im Rahmen des klassischen semiotischen Dreiecks festhalten: Ein Be­ griff vermittelt zwischen der Welt und dem sprachlichen Ausdruck. Sieht der Sprachbenutzer einen Baum, so kann er ihn nur deswegen sachgemäß als „Baum“ bezeichnen, weil er eine Vorstellung, einen Begriff BAUM hat.28 Die Relation von sprachlichem Ausdruck und Begriff wird nun von de Saussure problematisiert: Für ihn besteht das eigentliche Zeichen aus Vorstellung und Lautbild.29 Beides – „Baum“ und BAUM – sei im Geist des Sprachbenutzers vorhanden, evoziert einander und das eine könne nicht ohne das andere existie­ ren: Was der BAUM sei, liege als sprachlicher Ausdruck „Baum“ bereits im Geiste des Sprachbenutzers vor, d. h. auch der sprachliche Ausdruck stelle eine geistige Größe dar und gleichzeitig komme dem Begriff keine naturgegebene, übergeistige Existenz zu, sondern: „Das sprachliche Zeichen ist also etwas im 21 

Vgl. aaO. 532 f. Vgl. aaO. 534 f. 23  Vgl. aaO. 533. 24  Vgl. aaO. 536. 25  Vgl. aaO. 537. 26  Vgl. aaO. 541. 27  Vgl. zur Bedeutung des Begriffs in der Rhetorik im Allgemeinen: Schneider, Be­ griff, 1399–1402, im Spezielleren zu den Überlegungen Ciceros aaO. 1406 f. 28  Das Beispiel vom Baum ist Saussure, Grundfragen, 76 entnommen. Saussure schlägt vor, den Begriff eindeutig vom sprachlichen Ausdruck abzuheben, indem für den Begriff das lateinische Wort in Großbuchstaben verwendet wird (ARBOR). 29  AaO. 77. 22 

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros

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Geist tatsächlich Vorhandenes, das zwei Seiten hat [nämlich: Vorstellung und Lautbild, PB]. Diese beiden Bestandteile sind eng miteinander verbunden und entsprechen einander.“30 Die rhetorische inventio kann vor diesem theoretischen Hintergrund als se­ mantischer Prozess verstanden werden: Ein Argumentierender greift bei der Fin­dung seiner Argumente auf Begriffe – mentale Gefüge bzw. Vorstellungen – zurück, von denen er annimmt, dass sie Teil der Enzyklopädie seiner Adressaten sind, d. h. von ihnen verstanden werden können. Die Begriffe werden funktio­ nal in eine Argumentation eingebunden, indem sie zur Sprache gebracht, d. h. in Worten bzw. Lautbildern ausgedrückt werden. Eine wissenschaftliche bzw. dialektische Argumentation würde nun darauf achten, einzelne Begriffe definitorisch fest­ zulegen, um ihr semantisches Potential von pragmatischen Momenten, Infe­ renzprozessen und Fehlinterpretationen freizuhalten und Zweideutigkeiten möglichst auszuschließen. Die rhetorische Argumentation stellt hingegen ein performatives Sprachsystem dar – nach John L. Austin eine „Sprechhandlung“ bzw. einen „kaschierten“ Sprechakt, der zu einer Handlung bzw. zu einer Ent­ scheidungsfindung motivieren möchte. Austin behandelt in „How to Do Things with Words“ neben der Performanz expliziter Sprechakte auch einen impliziten Performanzbegriff. Das „Geschäft von ‚Feststellungen‘ oder ‚Aussagen‘ […] [sei] einzig und allein, einen Sachverhalt zu ‚beschreiben‘ oder ‚eine Tatsache zu behaupten‘ und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend“31. Dabei werde jedoch nicht dem Umstand Rechnung getragen, dass Aussagen „ganz oder we­ nigstens teilweise statt dessen Gefühle hervorrufen oder ein Verhalten vorschreiben oder das Verhalten auf andere Weise beeinflussen [sollen]“32 . Aussagen – wohlgemerkt, keine explizit performativen Aussagen – können performative Funktionen überneh­ men. Austin beschreibt hier in nuce eine implizite Begriffsperformanz: „Man hat be­ merkt, daß viele besonders haarige Wörter in anscheinend deskriptiven Feststellungen nicht der Erwähnung eines besonders seltsamen Elementes im berichteten Sachverhalt dienen, sondern daß sie Umstände anzeigen (nicht berichten), unter denen eine Aussage gemacht wird, Einschränkungen, denen man sie unterwirft, daß sie anzeigen, wie sie zu nehmen ist, und dergleichen mehr.“33 Bestimmte Begriffe (welche, lässt er offen) die­ nen Austin zufolge als Indikatoren für die Äußerungsintention eines Adressanten. Wenn Austin vom „deskriptiven Fehlschluß“34 spricht, benennt er einen Kardinalfeh­ ler der Performanztheorie, nämlich die Dimension des Deskriptiven (und auch des Ar­ gumentativen!) völlig zu ignorieren. Austin spricht stattdessen vom „Kostümierten“35: Performative Äußerungen können sich verkleiden als „deskriptive oder konstative Tat­ sachenfeststellungen“36. Diese deskriptive und konstative Sprache und ihre Performanz stehen den explizit performativen Äußerungen gegenüber. Der indirekte Sprechakt ist 30  AaO.

78. Austin, Sprechakte, 25. 32  AaO. 26. 33 Ebd. 34  AaO. 27. 35 Ebd. 36 Ebd. 31 

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II. Macht des Begriffs

schon bei Austin ein gewichtiger Einwand gegen die methodologische oder analytische Einengung des Performanzbegriffs. Austins Definition von Performanz lautet: „Den Ausdruck ‚performativ‘ werden wir in einer Reihe verwandter Arten und verwandter Konstruktionen benutzen, ganz ähnlich wie es mit dem Ausdruck ‚Imperativ‘ ist. […] Er soll andeuten, daß jemand, der eine solche Äußerung tut, damit eine Handlung voll­ zieht – man faßt die Äußerung gewöhnlich nicht einfach als bloßes Sagen auf.“37 Austin behandelt in seinen Vorlesungen ausführlich die „implizit performativen Äußerun­ gen“38 , geht aber vor allem von Prozessen der Simplifikation aus: Performative Äuße­ rungen verkürzen sich tendenziell und gleichen sich konstativen Äußerungen an. So könne z. B. „,Auf dem Feld steht ein Stier‘“ als implizite Warnung oder „,Ich werde da sein‘“39 als implizites Versprechen aufgefasst werden. Ohne kontextuelles Wissen kön­ nen diese implizit performativen Äußerungen jedoch nicht von konstativen abgegrenzt werden. Ihre Performanz ergibt sich erst aus dem Kontext: „In einer bestimmten Situa­ tion kann es mir freistehen, sie als performativ aufzufassen oder nicht.“40 Austin disku­ tiert zudem das Problem, welche Kriterien heranzuziehen sind, um performative und konstative Äußerungen voneinander abzugrenzen.41 Ihm zufolge ist der Aspekt des „Klarmachens“ wesentliches Charakteristikum einer performativen Äußerung: „‚Klar­ machen‘, was ich tue, ist nicht dasselbe wie Beschreiben oder Feststellen, was ich tue ( jedenfalls nicht im üblichen philosophischen Sinne dieser Wörter). […] Wir können durchaus sagen, daß eine performative Wendung wie ‚Ich verspreche, daß‘ klarmacht, wie die Äußerung zu verstehen ist, ja sogar daß die Wendung ‚sagt‘, daß ein Versprechen gegeben worden ist“42 . Für das Argumentieren ist vor allem die Kombination von performativen und konstativen Sätzen, die Austin auch „expositiv“43 nennt, relevant, z. B. „‚Ich behaupte (betone), daß der Mond keine Rückseite hat.‘“44. Für Austin hat ein derartiger Satz nicht rein deskriptiven, sondern auch performativen Charakter. Er ist deskriptiv, um etwas anderes zu erreichen, nämlich das Gegenüber zu überzeugen. Die­ ser „Mehrwert“ deskriptiver bzw. expositiver Sätze verbindet die Sprechakttheorie mit der antiken Argumentationstheorie. Argumentieren erscheint wie eine komplexe Form des Sprechakts. Beim Argumentieren wird zwar nicht simplifiziert, sondern abstrahiert. Ziel des Argumentierens ist jedoch, das Gegenüber zu einer bestimmten Handlung oder einer mentalen bzw. weltanschaulichen Veränderung zu motivieren. Man könnte auch sagen: Erst wenn Argumentieren performativ ist, ist es wirklich erfolgreich.45

In den folgenden beiden Beispielen wird deutlich werden, dass das Ziel der Ar­ gumentation den Vermittlungsprozess zwischen sprachlichem Ausdruck und Begriff maßgeblich steuert: Ein Argumentierender ruft über den sprachlichen Ausdruck nur die Aspekte bzw. semantischen Potentiale eines Begriffes ab, die für seine Argumentation zuträglich sind. 37 

AaO. 29 f. 52. 39  AaO. 52 f. 40  AaO. 53. 41  AaO. 76–87. 42  AaO. 90 f. 43  AaO. 104. 44 Ebd. 45 Vgl. zur Weiterentwicklung des Ansatzes von Austin und zur Analyse indirekter Sprechakte insbesondere Kosta, Prüfstand, 56–61 und Liedtke, Anreicherung, 131–136. 38  AaO.

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros

113

2.1. Beispiel 1: „iudices“ in Cic. inv. I,70 Als erstes Beispiel soll eine Argumentation aus Cic. inv. I,70 betrachtet werden, anhand derer Cicero seine theoretischen Überlegungen über Inversionen und Auslassungen in der ratiocinatio konkretisiert. Ihr paradigmatischer Charakter macht eine eingehende Argumentationsanalyse obsolet. Die Darstellung kon­ zentriert sich im Folgenden auf die argumentative Funktion eines einzelnen Wortes, in diesem Fall iudices. 1) propositio

Iudices, qui ex lege iurati iudicatis, legibus optemperare debetis.

2) propositionis approbatio fehlt in diesem Fall 3) assumptio Optemperare autem legibus non potestis, nisi id, quod scriptum est in lege, sequimini. 4) assumptionis Quod enim certius legis approbatio scriptor testimonium voluntatis suae relinquere potuit, quam quod ipse magna cum cura atque diligentia scripsit? Quodsi litterae non exstarent, magnopere eas requirere­ mus, ut ex iis scriptoris voluntas cognosceretur; nec tamen Epaminondae permitteremus, ne si extra iudicium quidem esset, ut is nobis sententiam legis interpretaretur, nedum nunc istum patiamur, cum praesto lex sit, non ex eo, quod apertissime scriptum est, sed ex eo, quod suae causae convenit, scriptoris voluntatem interpretari.

Ihr Herren Richter, die ihr nach dem Gesetz vereidigt Recht sprecht, müßt den Gesetzen gehorchen. Ihr könnt aber den Gesetzen nicht gehorchen, wenn ihr nicht das, was im Gesetz niedergeschrieben ist, befolgt. Denn welches zuverlässigere Zeugnis seines Willens konnte der Gesetzgeber hinterlassen als das, was er selbst mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit niederge­ schrieben hat? Wenn die schriftli­ chen Aufzeichnungen nicht vorhanden wären, würden wir mit großer Mühe nach ihnen forschen, damit aus ihnen der Wille des Gesetzgebers erkannt würde, und dennoch würden wir dem Epaminondas nicht erlauben – nicht einmal wenn es außerhalb eines Gerichtsverfahrens wäre –, daß er uns die Absicht des Gesetzes auslegt, geschweige denn daß wir zulassen, daß dieser jetzt, wo ein Gesetz vorhanden ist, den Willen des Gesetzgebers nicht nach dem, was ganz offenkundig niederge­ schrieben ist, sondern nach dem, was seiner Sache dienlich ist, auslegt.

114 5) complexio

II. Macht des Begriffs

Quodsi vos, iudices, legibus optemperare debetis et id facere non potestis, nisi id, quod scriptum est in lege, sequamini, quin istum contra legem fecisse iudicatis?

Wenn ihr, meine Herren Richter, verpflichtet seid, den Gesetzen zu gehorchen, und wenn ihr das nur könnt, wenn ihr befolgt, was im Gesetz niedergeschrieben ist, warum fällt ihr nicht das Urteil, dieser habe gegen das Gesetz gehandelt?

Tabelle 15: Textpräsentation von Cic. inv. I,70 in der Übersetzung von Nüßlein, Th. (Hg.): Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern (lateinisch-deutsch), Düsseldorf/ Zürich 1998, gegliedert nach dem Strukturmodell der ratiocinatio

Mit der Anrede „iudices“ bezeichnet der Redner ein vorfindliches Segment der Welt, nämlich das Kollegium der Richter, das über den Fall Epaminondas zu Gericht sitzt. Der Begriff IUDEX umfasst also eine semantische Konfiguration, die es zulässt, ihn adäquat auf die Richter anzuwenden, während z. B. die An­ rede „senatores“ nicht sachgemäß wäre. Der sprachliche Ausdruck „iudices“ verweist jedoch in einer spezifischen Weise auf den Begriff IUDEX, so dass er dem Ziel der Argumentation im höchsten Maße zuträglich ist. Drei Beobachtungen fallen ins Auge: 1.  In der Argumentation werden nicht alle möglichen semantischen Potentiale des IUDEX-­ Begriffs abgerufen. Gene L. Green postuliert drei Informationstypen, die zu einem Begriff gespei­ chert werden: „the logical entry, the encyclopedic entry, and the lexical entry“.46 Der logische Eintrag sei relativ schmal und bestehe aus den basalen Definitionen eines Begriffs, die eine gewisse anthropologische Konstanz aufzeigen, z. B. „MOTHER“ als „female parent“47. Der enzyklopädische Eintrag beinhalte die Dinge, die mit dem Begriff in Zusammenhang stehen und ihn „realisieren“, d. h. ihn inhaltlich füllen.48 Dieser Eintrag variiere sehr stark und wachse mit der Zeit und Erfahrung des Sprachbenutzers.49 Der dritte Informationstyp sei der lexikalische Eintrag, der die Information darüber bereithält, wie der Begriff sprachlich ausgedrückt werden kann.50 Green macht vor allem auf die Diskre­ panz zwischen lexikalischem und enzyklopädischem Eintrag aufmerksam. Der Ausdruck einer Äußerung bilde den lexikalischen Eintrag nicht voll ab. Viel­ 46 

Green, Lexical, 801. Vgl. ebd. 48  „instantiate“ (ebd.). 49  Vgl. ebd. In diesem Zusammenhang betont Green, dass der enzyklopädische Eintrag auch die Information über den „Kontext, in dem eine Äußerung interpretiert wird“ („cont­ ext in which an utterance is interpreted“) enthalte. Das bedeutet, dass die Äußerung indivi­ duell vom Hörer interpretiert und dass nicht jede Äußerung eines Autors vom Hörer zwin­ gend korrekt interpretiert werde (vgl. aaO. 802). 50  Vgl. aaO. 803. 47 

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros

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mehr sei der Ausdruck des Begriffs kontextuell abhängig und nicht durch den enzyklopädischen Eintrag festgelegt.51 Es komme auf die Äußerungsabsicht des Autors an: „The code is strong but itself incapable of fully containing the meaning which a person wishes to communicate. A gap exists between sentence meaning and utterance meaning which must be filled by a constrained inferential process if communication is to be suc­ cessful.“52

Dieser „begrenzte inferentielle Prozess“ wird von beiden – Autor und Adressat – geleistet. Der Autor macht die Auswahl der enzyklopädischen Einträge, die für die Zwecke seiner Kommunikationsabsicht relevant sind, transparent und 51  Vgl. aaO. 804. Der Kontextbegriff ist auch in der Sprachwissenschaft und Diskursana­ lyse umstritten. Vgl. exemplarisch die Studie von Angermüller, Diskurs. Angermüller plä­ diert für eine Enthierarchisierung von Text und Kontext und definiert den Kontext struktu­ ralistisch: „So umfasst der Kontext einer Äußerung alle die Aspekte des sprachlichen Äuße­ rungsprozesses (‚Enunziation‘), die sich deiktisch (‚zeigend,‘ ‚verweisend‘) indizieren lassen. Darunter fällt zum einen die Äußerungssituation und die zeitlich-räumlich-personale Kon­ figuration, die durch den Gebrauch eines Textes angezeigt wird, […] und zum anderen der ‚Mehr‘- bzw. ‚Ko-Text‘, d. h. die textuale Umgebung, in der die Äußerung vollzogen wird“ (aaO. 63). Der Kontext dürfe streng genommen nur dort in den Blick geraten, wo der Text auf ihn verweise. Angermüller beleuchtet das Problem von Text und Kontext vor dem Hin­ tergrund von Bourdieus Feldtheorie. „Das Feld bezeichnet einen autonomen Regeln folgen­ den Produktionskontext, in dem die Produzenten um die feldspezifischen Güter und Res­ sourcen konkurrieren“ (aaO. 64). Der Wert eines Textes bemesse sich „auf dem Markt sym­ bolischer Güter“ (ebd.) dabei „ausschließlich an der durch das Feld definierten Position“ (ebd.). Angermüller geht über Bourdieu hinaus, indem er die pragmatische Linguistik mit­ einbezieht. Er konstatiert als einziges Defizit in Bourdieurs Theorie, dass sie den Text als „Produkt eines Codes, einer Grammatik bzw. eines geschlossenen Regelwerks darstellt“ (aaO. 66) und dass sie „die Erklärungslogik des klassischen Strukturalismus, die die autono­ me Eigengesetzlichkeit eines Sprachsystems nicht hinterfragt“, übernehme (ebd.). Dies tue hingegen die „pragmatische Linguistik“ (ebd.). Gerade sie habe im Blick, „dass die Produk­ te des Codes nicht zeitlose Sätze sind, sondern in einem bestimmten Kontext gebraucht, geäußert und realisiert (,enunziert‘) werden“ (ebd.), und unterstreiche die Variabilität des Produkts in ihrem jeweiligen „Enunziationskontext“ (ebd.). Der Autor weist mit der Ver­ wendung eines Begriffs also nicht auf dessen volles Bedeutungsspektrum hin, sondern engt dieses hinsichtlich des Diskurses ein. Auch Levinson fragt nach Implikationen einzelner Sätze eines Gesprächsausschnitts, die sich aus dem Kontext nahelegen (Levinson, Pragmatik, 48), und kommt zu dem Ergebnis, dass viele Fakten, die zum Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks nötig sind, lediglich „inferiert“ werden (ebd.), d. h. „nicht Teil des semantischen Inhaltes“ (aaO. 49) seien. Nach Levinson erfordert eine pragmatische Analyse von Texten die „Fähigkeit, aus aufeinanderfolgenden Äußerungen die implizierten Kontextannahmen zu berechnen, nämlich die Tatsachen über die räumlichen, zeitlichen und sozialen Beziehungen zwischen Gesprächspartner und das, was sie erwartungsgemäß glauben und intendieren, wenn sie sich auf gewisse verbale Interaktionen einlassen“ (ebd.). Dabei räumt er durchaus auch die Möglichkeit der „Assoziationen“ ein (er nennt das Beispiel, dass das Wort „Diagno­ se“ an „Krankenhäuser“ denken lässt, vgl. ebd.), hebt die Assoziation aber von der Inferenz ab, da letztere „systematisch“ sei, also „von verschiedenen Interpreten gleich dekodiert wer­ den“ könne (aaO. 49f ). Auf die Möglichkeit, diese Inferenzen und Assoziationen in histori­ schen Texten aufzuspüren, geht Levinson nicht ein. 52  Green, Lexical, 803 f.

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II. Macht des Begriffs

schränkt die Inferenzen, die ein Begriff weckt, eigenständig und hinsichtlich seiner Äußerungsabsicht ein. Green nennt dies die „ad hoc concept formation“.53 So werden Green zufolge Begriffsbedeutungen verengt oder geweitet („narro­ wing“ oder „broadening“) und mitunter auch kategorial erweitert („extension“ z. B. in der metaphorischen Erweiterung eines Begriffs wie „BOILING“ in ei­ ner konkreten Situation: „Mary was boiling“).54 Man müsse mit einer Lücke („gap“) zwischen „enkodierter Bedeutung einer lexikalischen Einheit und der Bedeutung, die jemand in einer Äußerung kommunizieren möchte“55, rech­ nen, die „überbrückt wird durch einen inferentiellen Prozess“56. Die linguisti­ sche Unterdeterminiertheit („linguistic underdeterminancy“) führe aber kei­ neswegs zu einer interpretatorischen Beliebigkeit, sondern vielmehr müsse sich die Analyse der enkodierten, kontextuellen Äußerungsbedeutung an dem Prin­ zip der Relevanz57 orientieren, das zwischen „sentence meaning and utterance meaning“ unterscheide.58 Green kritisiert, dass Interpreten insbesondere neu­ testamentlicher Texte gewöhnlich nur auf ein „semantic range“ abheben, als hätte den Autoren oder Adressaten der neutestamentlichen Texte ein theologi­ sches Wörterbuch zur Verfügung gestanden,59 und plädiert für eine Analytik der ostensiven Kommunikation60 auf Sprecher/Schreiber-Seite bzw. der infe­ rentiellen Kommunikation auf der Hörer/Adressaten-Seite.61 Der Prozess der strategischen Abrufung des semantischen Potentials eines Begriffs entspricht in der Argumentationstheorie der inventio. Die antike Argu­ mentationstheorie beschreibt den Prozess der Findung von Argumenten als Ausschöpfung von Begründungspotentialen, die von den loci vorgegeben wer­ den. Auf semantischer Ebene wird die Verwendungskonvention, d. h. das in der Enzyklopädie von Argumentierendem und Adressaten festgelegte semantische Potential eines Begriffs, so in die Argumentation integriert und mitunter wei­ terentwickelt, dass es dem Ziel der Argumentation nützt. Argumentieren ist also eine zielorientierte Abrufung, Festlegung, Verengung und ggf. Weiterent­ wicklung des enzyklopädischen Eintrags eines Begriffs. Im obigen Beispiel ver­ weist der sprachliche Ausdruck „iudex“ nur auf bestimmte Aspekte des Begriffs IUDEX. So ist z. B. die Verknüpfung von „iudex“ und „lex“, die der Argumen­ tierende in der propositio voraussetzt, ganz offensichtlich in der Enzyklopädie der Adressaten verankert, denn Cicero verzichtet auf eine Stützung der propositio. Er muss die enzyklopädische Verbindung der Begriffe IUDEX und LEX nicht 53 

AaO. 804. Vgl. aaO. 805. 55  AaO. 806 (Übersetzung PB). 56  Ebd. (Übersetzung PB). 57  „principle of relevance“ (aaO. 807). 58 Ebd. 59  AaO. 809. 60  „ostensive communication“ (aaO. 812). 61  „inferential communication“ (ebd.). 54 

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros

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explizit machen oder weitschweifig erklären – im Gegensatz z. B. zur behaupte­ ten Kongruenz von Gesetz und „niedergeschriebenem Gesetz“, die in der assumptio eine ausführliche Begründung erfährt. Die inventorische Leistung des Argumentierenden besteht darin, den IUDEX-Begriff auf das besondere Ge­ horsamsverhältnis gegenüber dem Gesetz einzuengen bzw. nutzbringend und zielorientiert auf ihn zu referieren. Andere Aspekte des Richteramts – wie z. B. seine soziale oder gesellschaftliche Stellung, seine Amtswürde innerhalb des römischen Rechtssystems, seine Rechte und Pflichten im Strafprozess u. a. – spielen für die Argumentation keine Rolle. 2.  Die Abrufung der semantischen Potentiale eines Begriffs orientiert sich an der zentralen Aussage der Argumentation, mithin der conplexio. Die conplexio, d. h. die herausragende Zielpassage, auf die der Argumentierende die Aufmerksamkeit seiner Hörer lenkt, scheint die Zielvorgabe für die Anord­ nung des semantischen Inventars der Argumentation darzustellen. Um sie zu erreichen, werden Zeichen miteinander kombiniert und bestimmte semantische Potentiale des IUDEX-Begriffs fokussiert. Die Funktion eines Begriffs für das übergeordnete Sprachsystem und – im Gegenzug – die Bedeutung des Diskurses für das Verständnis eines Begriffs werden in der Diskursanalyse theoretisch ins Auge gefasst. Nach Jeffrey Reed postuliert die Diskursanalyse, dass „what is said is not always what is meant, and what is meant is not always what is understood.“62 Die Bedeutung einer Äuße­ rung sei nicht nur durch den historischen, sondern auch durch den literarischen Kontext determiniert, so dass die Diskursanalyse zwischen mikro- und makro­ skopischer Textbetrachtung oszilliere. Sie untersucht Abfolge, Anordnung und Dynamik eines Diskurses und die Integration der einzelnen Zeichen in ihrem literarischen Kontext. Dabei beginne sie „at the bottom with the analysis of morphology, moving up through words, phrases, clauses, sentences and para­ graphs […] until reaching the top, the discourse.“63 Die für die Kohäsion bzw. Kohärenz eines Diskurses bedeutsamste Struktur ist Reed zufolge die semanti­ sche Kette64, in der verschiedene Zeichen einander zugeordnet werden. Die Ketten seien wiederum miteinander verbunden, wobei die Interaktion der Ket­ ten untereinander eigene Kohärenzmerkmale ausbilde. Durch ihre planvolle Anordnung errichten diese Zeichen und Ketten ein „topic“: „He [der Autor, PB] is establishing a thread in the discourse, and using language in an organi­ zing manner.“65 Die einen Zeichen stehen dem „topic“ näher, die anderen fer­ ner.66 Die Diskursanalyse konzentriert sich nun auf die Beschreibung der Funk­ 62 

Reed, Discourse, 189. AaO. 191 f. 64  „semantic chains“ (aaO. 211). 65  AaO. 212. 66  Die Zeichen können nun verschiedenen Kategorien zugeordnet werden, um ihre Re­ levanz für die Kohärenz und Kohäsion des Diskurses zu bewerten. Reed unterscheidet zwi­ 63 

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II. Macht des Begriffs

tion einzelner Begriffe für die Realisierung des Diskurses: Manche Zeichen stehen dem „topic“ näher, manche stehen am Rande des Diskurses. Das diskursanalytische Modell korreliert mit dem antiken argumentations­ theoretischen Ansatz zum einen darin, dass Argumentation als Mittel sozialer Interaktion verstanden und dahingehend technisiert wird – der Text wird als pragmatisches, zielorientiertes Gebilde verstanden. Zum anderen bietet die Dis­ kursanalyse ein Kriterium, anhand derer das semantische Inventar einer Argu­ mentation gewichtet werden kann: In der conplexio demonstriert der Argumen­ tierende, welche Begriffe seiner Argumentation für die Adressaten relevant sind. Er hierarchisiert sein Begriffsinventar. Die Zeichen, die in der conplexio verwendet und auf die Adressaten angewendet werden, haben eine Leit- und Orientierungsfunktion für die anderen, d. h. eine argumentationstheoretisch disponierte Analyse von Begriffen muss davon ausgehen, dass die Verwendung der Begriffe zielorientiert geschieht und dass sich dieses Ziel letztgültig in der conplexio artikuliert. Umgekehrt könnte man auch von einer „Fernwirkung“ der conplexio sprechen: Sie limitiert, lange bevor sie explizit geäußert wird, die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks. In obigem Beispiel dient der IUDEX-Begriff der Durchsetzung der conplexio insofern, als durch ihn die wörtliche Befolgung des kodifizierten Gesetzes an das Berufsethos der Richter gebunden wird. Der sprachliche Ausdruck „iudex“, wie er in obigem Sinne in die Argumentation eingebunden ist, selektiert einen enzyklopädischen Eintrag des IUDEX-Begriffs, der der conplexio zuträglich ist: der Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Also ist der „iudex“ – anders der IU­ DEX, der noch weitere semantische Potentiale umfassen würde – in der obigen Argumentation durch die conplexio gewissermaßen festgelegt: „iudex“ ist derje­ nige, der dem Wortsinne des Gesetzes gehorcht.67

schen „peripheren Zeichen“, „peripheral tokens“ (aaO. 211), die zwar an einer Kette partizi­ pieren, dann aber nicht weiterverfolgt werden, „dropped from the discussion“ (ebd.). Ein solches Zeichen bleibt „isolated“ (ebd.), weil es „peripheral to the author‘s larger argument“ ist. „Relevante Zeichen“, „relevant tokens“ (ebd.), seien alle Zeichen, die Teil einer oder mehrerer Ketten sind, die also am Diskurs partizipieren. Die wichtigsten Zeichen aber, die den größten Beitrag zur Kohäsion eines Textes leisten, sind die „zentralen Zeichen“, „central tokens“ (aaO. 212). Diese interagieren mit „linguistic items“ in anderen Ketten und bilden Schlüsselstellen des Diskurses. 67  In diskursanalytischer Terminologie wäre der Begriff iudices wohl sicherlich kein peri­ pheres Zeichen, da er Anfang- und Schlusspunkt der Argumentation markiert und die ratiocinatio in Gang setzt. Er ist aber auch nicht zentral, denn die eigentliche argumentative Leis­ tung Ciceros besteht in den Erwägungen der approbatio assumptionis, in der hinsichtlich des Rechts eine Unterscheidung von Intention und Kodifizierung zurückgewiesen wird, so dass das Richteramt auf das geschriebene Recht verpflichtet werden kann. Unter diskursanalyti­ schen Gesichtspunkten handelt es sich um einen relevanten Begriff, da er dazu beiträgt, einen anderen Begriff (LEX) argumentativ zu erschließen.

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros

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3. Die Abrufung des semantischen Potentials eines Begriffs erfolgt durch die Kombination mit anderen Begriffen. Bedeutungspotentiale von Begriffen werden dadurch erschlossen und festge­ legt, dass sie mit anderen Begriffen kombiniert werden. In der Sprachwissen­ schaft werden – wie bereits gezeigt wurde – diese Prozesse als „Inferenzprozes­ se“ bezeichnet. Johannes Dölling untersucht Sätze wie „Maria hat die Schule verlassen“68. Hier ist nicht klar, ob es sich um eine „Ortsveränderung“ oder eine „soziale[] Veränderung“ handele, ob also mit Schule ein „Gebäude“ oder eine „Institution“69 gemeint ist. Nötig für das rechte Verständnis des Verbs ist neben dem „generelle[n] Weltwissen“70 auch „Wissen vom jeweils speziellen Äuße­ rungskontext“71, da dieser Kontext die Bedeutung des Verbs bestimme.72 Diese Bestimmung zeichnet sich nach Dölling jedoch durch eine „radikale Unterspe­ zifikation“73 aus. Sie muss „über verschiedenartige Inferenzverfahren schritt­ weise angereichert werden.“74 Bedeutungen fasst Dölling daher als „konzeptu­ elle Strukturen“75 auf, die von ihrem Inhalt zu unterscheiden sind, bei dem es sich um „mentale Konfigurationen“76 handelt und dessen „Format […] das einer Logiksprache“77 ist. Leitend ist dabei der Gedanke, dass sich „semantische For­ men im Verstehensprozess erst dadurch in konzeptuelle Strukturen überführen [lassen], dass sie unter Hinzuziehung von Kontextwissen interpretiert wer­ den.“78 Die Semantik hat in Döllings Konzept die Funktion, „die kontext-in­ variante, nur formale Bedeutung von Äußerungen zu berechnen“79, während die „Pragmatik kontext-bezogene, speziellere Bedeutungsstrukturen über die inferenzielle Zusammenführung von Informationen aus verschiedenen kogniti­ ven Quellen erstellt.“80 Dölling berücksichtigt also die semantische Potentialität eines Begriffs wie auch die Prozesse der pragmatischen Anreicherungen, die von Adressanten und Adressaten vollzogen werden, wenn der sprachliche Aus­ druck auf den Begriff verweist. 68 

Dölling, Anreicherung, 161. Vgl. aaO. 161 f. 70  AaO. 161. 71 Ebd. 72  Dölling setzt bei seiner Untersuchung voraus, „dass beim Verstehen einer Äußerung mehrere Ebenen der Bedeutung durchlaufen werden. Direkt an die lautliche (oder graphi­ sche) Form der jeweiligen Äußerung ist ihre grammatisch determinierte Bedeutung, d. h. jene abstrakte Struktur gebunden, wie sie über die strikte semantische Komposition durch die vorkommenden Lexeme und deren syntaktische Verknüpfung bestimmt wird“ (aaO. 163). 73 Ebd. 74 Ebd. 75  AaO. 164. 76 Ebd. 77 Ebd. 78  AaO. 165. 79  AaO. 219. 80 Ebd. 69 

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II. Macht des Begriffs

Der Ansatz korreliert mit der antiken Argumentationstheorie insofern, als diese einen Prozess der „Klärung“ beschreibt, d. h. eine argumentative Struk­ tur, durch die ihre Prämissen plausibel gemacht und soweit erschlossen werden, dass sie zustimmungspflichtig werden. Dies entspricht auf semantischer Ebene einer Steuerung des Inferenzprozesses: Durch die Kombination von Zeichen miteinander fokussiert der Argumentierende das semantische Potential eines Begriffs so, dass dieser innerhalb der Argumentation die Funktion einnehmen kann, die hinsichtlich des Ziels gefordert und angemessen ist. Konkret auf obi­ ges Beispiel angewendet: Dass das Gehorsamsverhältnis zwischen IUDEX und LEX zentraler Gegenstand der Argumentation ist, wird bereits an der Stellung der Begriffskonnotation in der propositio der ratiocinatio erkennbar („Iudices, […] legibus optemperare debetis“). Im Untersatz wird der Gesetzesbegriff auf seine kodifizierte Form eingeengt, er dient also als Verbindungs- oder Mittelbegriff, durch den die Richter auf den Gehorsam gegen das kodifizierte Recht verpflich­ tet werden („quod scriptum est in lege“). Über die Verknüpfung der Begriffe IUDEX, LEX und SCRIBERE gelingt es Cicero also, den Schuldspruch über Epaminondas nicht aus dem Casus oder den argumenta a re herzuleiten, sondern aus dem semantischen Spektrum des IUDEX-Begriffes selber. Die angespro­ chenen Richter sollen den Angeklagten nicht in erster Linie aufgrund seiner Schuld – die fraglos besteht, aber in moralischer Hinsicht ambivalent beurteilt werden kann –, sondern aufgrund ihrer Selbstverpflichtung verurteilen. Die inventorische Leistung des Anklägers besteht darin, den Gehorsam („optempe­ rare“) gegen das kodifizierte („scriptum“) Recht im Berufsethos der Adressaten zu verankern und so eine Verurteilung zu erwirken. Schritt für Schritt, Be­ gründungssegment für Begründungssegment wird der IUDEX-Begriff in sei­ ner Bedeutung eingeengt und festgelegt, bis er dem Argumentationsziel zuträg­ lich ist. Argumentieren ist auf semantischer Ebene offenbar nichts anderes als das Steuern von Inferenzprozessen.

2.2. Beispiel 2: „lex“ in Cic. inv. I,68f Es lohnt sich, ein weiteres, komplexeres Beispiel nachzuvollziehen. In Cic. inv. I,68f bietet Cicero eine Gegenrede zum letzten Beispiel – eine Rede für Epa­ minondas.81 Nun wird die Argumentation nicht am Amtsverständnis der Rich­ ter, sondern am Gesetz selber festgemacht. Der Prozess der allmählichen Anrei­ cherung, Weiterentwicklung und Festlegung des Begriffs LEX hinsichtlich der gewünschten Argumentation soll für dieses Beispiel Begründungsabschnitt für Begründungsabschnitt nachvollzogen werden, begonnen bei der propositio. 81  Der Text folgt Nüsslein, Th. (Hg.): Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern (latei­ nisch-deutsch), Düsseldorf/Zürich 1998.

2. Beobachtungen zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros

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„Omnes leges, iudices, ad commodum rei publicae referre oportet et eas ex utilitate communi, non ex scriptione, quae in litteris est, interpretari.“ „Alle Gesetze, ihr Herren Richter, sollen zum Vorteil des Staates beitragen, und man soll sie nach dem allgemeinen Nutzen, nicht nach dem Wortlaut des geschriebenen Textes auslegen.“

Mit der propositio werden die Begriffe eingeführt, die sich für die Argumenta­ tion als tragend erweisen werden. Der Begriff LEX wird vor allem in zwei Zusammenhängen entfaltet: Im Zusammenhang mit dem Wohl des Staates („commodum rei publicae“/„utilitate communi“) und im Zusammenhang mit der kodifizierten Form des Gesetzes („in litteris“). Zusätzlich dazu wird den Ge­ setzen das Potential zugesprochen, überhaupt interpretiert werden zu können („interpretari“). Außerdem ist der Begriff mit dem Pronominaladjektiv „om­ nes“ und dem unpersönlichen Ausdruck „oportet“ (als implizite Aufforderung) konnotiert: Alle Gesetze können Gegenstand einer rechtshermeneutischen Be­ trachtung werden. Ein vierter Aspekt muss aus dem Kontext – dem Fall des Epaminondas – erschlossen werden: Das Gesetz stellt diejenige Instanz dar, durch die Epaminondas verurteilt werden kann. Andere Aspekte des Gesetzes­ begriffs sind für Ciceros Argumentation nicht relevant, d. h. der Begriff LEX ist nicht in seiner ganzen semantischen Fülle präsent, sondern Cicero verweist le­ diglich auf bestimmte Bedeutungsaspekte. Mit der propositio impliziert Cicero, dass das Gesetz nach seinem Buchstaben ausgelegt werden könne. Dies entspre­ che jedoch nicht der Intention, mit der es erlassen worden sei. Eine buchstäb­ liche Auslegung des Gesetzes stelle vielmehr eine inadäquate Exegese dar. Im folgenden Abschnitt, der approbatio, wird der Gesetzesbegriff mit einem neuen Begriff verknüpft: den MAIORES. „Ea enim virtute et sapientia maiores nostri fuerunt, ut in legibus scribendis nihil sibi aliud nisi salutem atque utilitatem rei publicae proponerent. Neque enim ipsi, quod obesset, scribere volebant, et, si scripsissent, cum esset intellectum, repudiatum iri legem intellegebant.“ „Von solcher Tüchtigkeit und Weisheit waren nämlich unsere Vorfahren, daß sie sich beim Abfassen von Gesetzen nichts anderes als das Wohl und den Nutzen des Staates vor Augen stellten. Sie wollten nämlich nichts niederschreiben, was schädlich war, und wenn sie es niedergeschrieben hätten, dann würde, wie sie erkannten, das Gesetz abge­ lehnt werden, sobald man dies erkannt hätte.“

Cicero bekräftigt mit der approbatio, dass das Wohl des Staates die Interpreta­ tionsmaxime des Gesetzes darstellen müsse und dass die Gesetzesintention die Gesetzeskodifizierung überbiete („oportet“), indem er darauf hinweist, dass dieses Staatswohl auch für das Gesetzesverständnis der Vorfahren leitend gewe­ sen sei. Die „maiores“ stehen nicht in unmittelbarer Wechselbeziehung zur „lex“, sondern erscheinen lediglich durch das Motiv des Staatswohls für die Erschließung des Gesetzesbegriffes relevant. In der folgenden assumptio, dem Untersatz, tritt – ganz im Sinne der ratiocinatio – die eigentliche These (d. h. der

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II. Macht des Begriffs

Fall) hinzu, auf die die Argumentation hin konstruiert ist: Dem Staat zu dienen, erfüllt die Intention des Gesetzes und stellt die Maxime dar, anhand derer das Gesetz ausgelegt werden muss. „Nemo enim leges legum causa salvas esse vult, sed rei publicae, quod ex legibus omnes rem publicam optime putant administrari. Quam ob rem igitur leges servari oportet, ad eam causam scripta omnia interpretari convenit: hoc est, quoniam rei publicae servimus, ex rei publicae commodo atque utilitate interpretemur.“ „Niemand nämlich will, daß die Gesetze nur um der Gesetze willen erhalten bleiben, sondern um des Staates willen, weil alle meinen, nach Gesetzen werde der Staat am besten verwaltet. Weswegen man also die Gesetze bewahren soll, auf dieses Ziel hin legt man nach allgemeinem Übereinkommen alles Geschriebene aus; d. h., da wir ja dem Staate dienen, wollen wir sie nach dem Vorteil und dem Nutzen für den Staat auslegen.“

Der Untersatz bezieht sich nicht unmittelbar auf den Gesetzesbegriff, sondern vertieft die Frage nach dessen Interpretationspotential und der Interpretations­ maxime. In der approbatio des Untersatzes – die zu umfangreich ausfällt, um sie hier als Textausschnitt zu bieten – bekräftigt Cicero anhand eines Beispiels aus der Medizin, dass die geschriebenen Gesetze eine Dienstfunktion hinsichtlich des Staatswohls einnehmen und dass der Staatsbürger in einer analogen Dienst­ funktion dem Staat zugeordnet ist. In der complexio werden nun die entscheidenden Begriffskonnotationen über­ nommen und in einen Handlungsimpuls überführt. „Ergo in hoc quoque iudicio desinite litteras legis perscrutari et legem, ut aequum est, ex utilitate rei publicae considerate. Quid magis utile fuit Thebanis quam Lacedaemonios opprimi? Cui magis Epaminondam, Thebanorum imperatorem? Quam victoriae The­ banorum consulere decuit? Quid hunc tanta Thebanorum gloria, tam claro atque exor­ nato tropaeo carius aut antiquius habere convenit? Scripto videlicet legis omisso scripto­ ris sententiam considerare debebat. At hoc quidem satis consideratum est, nullam esse legem nisi rei publicae causa scriptam. Summam igitur amentiam esse existimabat, quod scriptum esset rei publicae salutis causa, id non ex rei publicae salute interpretari. Quod­ si leges omnes ad utilitatem rei publicae referri convenit, hic autem saluti rei publicae profuit, profecto non potest eodem facto et communibus fortunis consuluisse et legibus non optemperasse.“ „Also hört auch in diesem Gerichtsverfahren auf, die Buchstaben des Gesetzes zu durch­ forschen, und betrachtet das Gesetz, wie es billig ist, nach seinem Nutzen für den Staat. Was war für die Thebaner von größerem Nutzen, als daß die Lakedämonier überwältigt wurden? Worum mußte sich Epaminondas, der Feldherr der Thebaner, mehr kümmern als um den Sieg der Thebaner? Was durfte dieser für teurer oder für wichtiger halten als den großen Ruhm der Thebaner, als ein so berühmtes und schmuckvolles Siegeszeichen? Selbstverständlich mußte er den geschriebenen Wortlaut unbeachtet lassen und sich nach der Meinung des Gesetzgebers richten. Aber freilich ist dies genügend gewürdigt worden, daß jedes Gesetz nur um des Staates willen verfaßt ist. Für den ärgsten Wahnsinn hielt er es also, das, was zum Wohle des Staates geschrieben wurde, nicht nach dem Wohle des Staates auszulegen. Wenn alle Gesetze zum Nutzen des Staates beitragen sollen, dieser aber dem Wohle des Staates nützte, so kann er fürwahr nicht durch eine und dieselbe Tat für das allgemeine Glück gesorgt und den Gesetzen nicht gehorcht haben.“

3. Die Frage nach dem Ziel der Verwendung eines Begriffs als Frage nach seiner Funktion 123

Auffällig ist, dass alle wesentlichen Begriffe aus Ober- oder Untersatz noch einmal genannt werden, jedoch nicht die „maiores“ oder die „medicina“. Sie stehen lediglich in einem assoziativen Verhältnis zum Begriff LEX und der Fra­ ge nach der Interpretierbarkeit des Gesetzes. Indem er aus der vorigen Argu­ mentation das zentrale Begriffsfeld selektiert, resümiert Cicero, dass sich Dienst gegenüber dem Wohl des Staates und Ungehorsam gegen die geschriebenen Gesetze ausschließen. Es sei nicht möglich, dem Staat zu dienen und gleichzei­ tig die Gesetze zu missachten – der Angeklagte sei freizusprechen. Das historisch-kritische Moment der semantischen Analyse dieser Argumen­ tation liegt vor allem in der Frage nach der Akzeptanz der geschaffenen Be­ griffsverknüpfungen: Gemessen am Argumentationsaufwand erscheint vor al­ lem die Verknüpfung von „lex“ und „oportet interpretari ex utilitate commu­ ni“, d. h. die Verknüpfung des Gesetzesbegriffs mit den Vorfahren bzw. des Staatsdienstes mit der Rechtshermeneutik, heikel. Andere Aspekte wie Präze­ denzfälle oder die Legitimität der Kodifizierung von Gesetzen stehen nicht im Fokus der Argumentation. Alles dreht sich um die Frage nach der Interpretati­ onsmaxime des Gesetzes. Das Gesetz wird vor allem hinsichtlich der salus publica und als rechtsethischer Fundamentalbegriff verwendet, um einen perver­ tierten, weil vom Staatswohl unabhängigen und erstarrten LEX-Begriff zu be­ kämpfen. Auf diese Weise dient der Begriff dem Plädoyer für den Angeklagten.

3. Die Frage nach dem Ziel der Verwendung eines Begriffs als Frage nach seiner Funktion hinsichtlich des Argumentationsziels Anhand der Beispiele aus Ciceros De Inventione konnte gezeigt werden, dass der antike Redner, der strategisch argumentiert, bewusst oder unbewusst die Mög­ lichkeiten pragmatischer Prozesse und Inferenzen reflektiert. Die Argumentati­ on hat, auch wenn dies in der antiken Rhetorik nur ansatzweise theoretisch erfasst wird, eine semantische Dimension. Als Extrempositionen stehen sich in der Sprachwissenschaft Bedeutungs­ maximalismus und Bedeutungsminimalismus gegenüber. Bedeutungsmaxima­ listen vertreten die Auffassung, dass beim Zustandekommen von Bedeutungen die semantische Grundkonfiguration eines Begriffs maßgeblich ist, die Bedeu­ tungsminimalisten meinen, dass vor allem der literarische, historische und sozi­ ale Kontext die Bedeutung eines Begriffs oder sprachlichen Ausdrucks bestim­ men.82 Ausgehend von der antiken Argumentationstheorie kommt nur eine Mittelposition in Frage. Dass überhaupt ein bestimmter Begriff für eine Argu­ 82 Vgl. Meibauer, Pragmatik, 34: „Bedeutungsmaximalisten versuchen, soviel wie mög­ lich auf die wörtliche Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke zurückzuführen und neigen zu der Annahme reichhaltiger Wortbedeutungen und vieldeutiger Wörter. Bedeutungsmini­ malisten dagegen räumen den pragmatischen Regeln zur Uminterpretation gegebener wört­

124

II. Macht des Begriffs

mentation herangezogen werden kann, hat etwas mit seiner semantischen Grunddisposition zu tun, die seine Verwendungsmöglichkeiten festlegt. Wenn ein Sprecher eine Äußerung mit einer bestimmten Absicht tätigt und diese ­Äußerung für den Hörer sinnvoll sein soll, ist der Sprecher nicht völlig frei in der Wahl der Zeichen, sondern muss auf semantische Grundkonfigurationen eines Begriffs Bezug nehmen, die den Adressaten zugänglich sind, unabhängig davon, ob der Sprecher beabsichtigt, dieses Bezugssystem im Verlauf seiner ­Äußerung weiterzuentwickeln.83 Begriffe können nicht sinnlos miteinander verknüpft werden. Die Verwendungskonvention eines Begriffs bietet Bedeu­ tungspotentiale, die in pragmatischer Absicht ausgeschöpft oder neu erschlossen werden können bzw. angesichts einer bestimmten Aufgabe ausgeschöpft wer­ den müssen. Auf der anderen Seite ist die antike Argumentationstheorie strikt zielorientiert: Ein Begriff scheint nicht immer und überall in seiner vollen lexi­ kalischen Bedeutung präsent zu sein (wie ein Lemma in einem Wörterbuch), sondern zeigt verschiedene Bedeutungsvalenzen und nimmt unterschiedliche Funktionen ein, um das Ziel der Argumentation zu realisieren. Die Aufgabe einer Analyse dieser semantischen Dimension des Argumentierens besteht nun zuvorderst darin, die Funktion des einzelnen Begriffs in der Argumentation zu beschreiben bzw. noch präziser: danach zu fragen, welches abgerufene Bedeutungs­ potential eines Begriffs dazu beiträgt, dass das Ziel der Argumentation, mithin die conplexio, realisiert wird.

licher Bedeutungen einen größeren Spielraum ein und neigen zur Annahme minimaler Wortbedeutungen und eindeutiger Wörter.“ 83  Vgl. ebd.: „Wir können davon ausgehen, daß Sprecher und Hörer über ein entspre­ chendes semantisches Wissen verfügen: Irgendwo in ihrem mentalen Wortschatzspeicher muß sich eine Bedeutungsangabe für hier und jetzt befinden […]. Diese Bedeutungsangabe ist notwendig, um den Unterschied zwischen den einzelnen Deiktika zu erfassen, aber auch um eine Startposition für die Erfassung des Bezugs im Kontext zu haben.“

III. Die Untersuchungsmethode Wer danach fragt, mit welchem Ziel Paulus den Sündenbegriff verwendet, muss danach fragen, mit welchem Ziel der Apostel argumentiert. Im Konnex von Argumentationsforschung und Paulus-Exegese haben sich mittlerweile ver­ schiedene Forschungsfelder etabliert (Kapitel I.1.), angesichts derer die Frage danach, wie sich das Ziel paulinischer Texte bestimmen lässt, differenzierter betrachtet werden muss, denn je nach Zugang divergiert die Bedeutung des Argumentationsziels. In dieser Untersuchung soll die Argumentationstheorie der antiken Rhetorik auf paulinische Texte angewendet werden, um deren Skopus zu ermitteln, denn sie fasst die Gestaltung argumentativer Sequenzen (argumentationes) theoretisch ins Auge und ist dabei stets auf die Realisierung des primären, kommunikativen Ziels der Rede fokussiert: Ausgehend von der Ent­ scheidungssituation, die die Suche der Argumente initiiert; über die rationale Kinetik und die Strukturierung der Argumentation bis hin zur Lenkung der Aufmerksamkeit der Adressaten (Kapitel I.2.). Dabei konnte gezeigt werden, dass sich die rhetorische Argumentationstheorie deswegen als Rahmenmodell für die Analyse paulinischer Texte eignet, weil sich Paulus als Briefeschreiber in einer Kommunikationssituation befindet, die der des Rhetors in vielerlei Hin­ sicht ähnelt (Kapitel I.3.). Die Analyse der Funktion einzelner Begriffe in einer Argumentation (Kapitel II) geht nun über die antike Argumentationstheorie hinaus (Kapitel II.1.), muss aber unbedingt auf sie bezogen bleiben: Anhand exemplarischer Studien zur semantischen Dimension zweier Argumentationen Ciceros (Kapitel II.2.) konn­ te gezeigt werden, dass in einem argumentativen Text das semantische Poten­t ial von Begriffen so abgerufen wird, dass es dazu beiträgt, das Argumentationsziel zu erreichen (Kapitel II.3.). Die Forschungsfrage ist demnach zu präzisieren: Wer nach dem Ziel der Verwendung eines Begriffes wie des Sündenbegriffs fragt, muss danach fragen, welche Funktion der Begriff hinsichtlich des Argu­ mentationsziels einnimmt. In Anbetracht dieser Überlegungen wird die Untersuchung der argumentati­ ven Funktion des Sündenbegriffs im zweiten Teil (II.) jeweils in zwei Schritten vorgehen: Auf eine Argumentationsanalyse, in der der Skopus des Textes be­ stimmt wird, folgt eine Analyse der Funktion des Sündenbegriffs hinsichtlich dieses Skopus.

126

III. Die Untersuchungsmethode

1. Argumentationsanalyse Die Untersuchung verwendet den Skopus-Begriff fortan im Sinne Melancht­ hons (vgl. Kapitel I.2.1.): Der Skopus erweist sich als das, was die argumentati­ onskritische Analyse untersucht – in bewusster terminologischer Abgrenzung zur propositio, die eine produktionsästhetische Größe darstellt und dem Rezi­ pienten nicht unmittelbar zugänglich ist. Der Skopus eines Argumentations­ gangs kann im Rahmen der antiken Argumentationstheorie aus unterschiedli­ chen Perspektiven bestimmt werden: Es können Überlegungen zur Aufmerksamkeitslenkung angestellt werden, denn Argumentieren erscheint als ein Oszillieren zwischen Abstraktion und Konkre­ tion, zwischen Zerstreuung und Konzentration, zwischen Explikation und Ap­ plikation. Entscheidend für ihren Erfolg sind diejenigen Bereiche einer Argu­ mentation, auf die ein Argumentierender die Aufmerksamkeit seiner Adressaten lenkt. In der römischen Rhetorik stellt die conplexio den Höhepunkt der Argu­ mentation dar – hier laufen die Fäden zusammen und der Argumentierende verdichtet in persuasiver Absicht, was die vorige Argumentation erschlossen hat.1 Die Argumentationsanalyse wird versuchen, die conplexiones zu identifi­ zieren und abzugrenzen. Aus struktureller Perspektive kann nach dem Gefälle der Argumentation ge­ fragt werden. Generell zeigen die Rhetorikhandbücher, dass erfolgversprechendes Argumentieren auf festen Strukturen beruht. Die Rhetorica ad Herennium ver­ steht Argumentation als lineare Entfaltung einer Ausgangsthese und folgt einem stark adressatenbezogenen Schema, das verschiedene, aufeinander bezogene Be­ gründungssegmente kennt: 1.  propositio/expositio: Es handelt sich um die strittige „These“, das thetische Zentrum bzw. das „Zu Begründende“. 2.  ratio: Es handelt sich um die unmittelbare Begründung des „Zu Begründenden“. 3.  confirmatio (rationis): Sie bekräftigt den Zusammenhang zwischen These und Begrün­ dung. 4.  exornatio: Sie ist Exemplifizierung, Simplifizierung oder Abstraktion des Begrün­ dungszusammenhangs und führt weitere Gedanken in die Argumentation ein, die nicht unmittelbar mit den vorigen in Verbindung stehen müssen, diese aber verstärken. Dar­ über hinaus dient die exornatio der Überleitung zur conplexio. 5.  conplexio: Sie ist Ziel, Höhepunkt und „wertende Zusammenfassung“ aller Bestand­ teile der Argumentation (Stützungen, Beispiele und Verallgemeinerungen) und über­ führt diese in die Entscheidungssituation des Rezipienten (Applikation) bzw. gibt einen Handlungsimpuls.

Dieser Katalog bietet eine terminologische Basis, um die Funktion einzelner Begründungsabschnitte zu benennen. Es wäre jedoch in keinem Fall zielfüh­ rend, dieses Idealschema zu streng an konkrete Reden oder Texte anzulegen, 1 

Durchaus im Sinne von Schmellers „Relationsprinzip“ (vgl. Kapitel I.1.4.).

1. Argumentationsanalyse

127

denn in den Argumentationstheorien selbst wird die Möglichkeit der Ausspa­ rung oder Inversion einzelner Teilsegmente erwogen. Die Textbeispiele aus dem hellenistischen Judentum haben zudem gezeigt, dass Argumentationen (vor allem in literarischen Zusammenhängen) mitunter komplexere Strukturen ausbilden und sich in Subsystemen verzweigen. Die Argumentationsanalyse un­ tersucht, wie eine Argumentation sequenziert ist, welche Interdependenzen zwischen den einzelnen Begründungssegmenten bestehen, d. h. welche Funkti­ on sie füreinander einnehmen, und vor allem: wie die Sequenzen zur conplexio hinführen. Aus rationaler Perspektive wird nach dem Skopus als Schlussfolgerung der grundlegenden Gedankenbewegung gefragt. Die Untersuchung des rationalen Aspekts einer Argumentation stellt jedoch ein nicht unerhebliches methodi­ sches Problem dar. Bei den Textbeispielen aus dem hellenistischen Judentum wurde versucht, die Argumentation in eine epicheiremische Form nach dem Vorbild Ciceros zu überführen. Dabei hat sich aber gezeigt, dass mit der Rekon­ struktion eines Epicheirems ein Informationsverlust einhergeht: Kausalketten werden mitunter auseinandergerissen und verschiedenen erkenntnistheoreti­ schen Bereichen zugeordnet – das rekonstruierte Epicheirem bildet also nur begrenzt die rhetorische Dynamik einer Argumentation ab. Der heuristische Gewinn einer rationalen Analyse – insbesondere der Versuch, ein Epicheirem oder andere Formen der rationalen Bewegung zu rekonstruieren – besteht je­ doch in der kontrastiven Darstellung von Prämissen und Konklusionen, auf denen die konkrete Gestalt der Argumentation beruht. Eine Analyse des ratio­ nalen Erkenntnisprozesses bietet also Einblick in die Genese der Argumentati­ on, indem zwischen Bekanntem bzw. Anerkanntem, Wahrscheinlichem und Neuem unterschieden wird. In der folgenden Argumentationsanalyse des Rö­ merbriefs soll der rationale Aspekt vor allem wegen der dargelegten methodi­ schen Unwegsamkeiten nur exkursartig untersucht werden. Aus inventorischer Perspektive wäre zu fragen, welche konventionellen Be­ gründungszusammenhänge Paulus hinsichtlich seines Argumentationsziels ab­ ruft und wie er sie in seine Argumentation einbettet, doch eine Auffächerung aller von Paulus frequentierten loci und Begriffe würde den Rahmen der Unter­ suchung sprengen. Stattdessen wird die Frage nach der inventorischen Leistung des Paulus gewissermaßen semantisch auf die Frage nach der Funktion des Sün­ denbegriffs zugespitzt (s. u.). Im Zentrum der Argumentationsanalyse, wie sie im Folgenden durchgeführt werden soll, werden also vor allem Aufmerksamkeitslenkung, Struktur und ra­ tionale Bewegung der Argumentation stehen. Mit Hilfe dieser argumentations­ theoretischen Perspektiven soll der Skopus der Argumentation ermittelt wer­ den.

128

III. Die Untersuchungsmethode

2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Die Einbindung von Begriffen in die Argumentation unterliegt ähnlichen in­ ventorischen Prozessen wie die Abrufung der loci. Je nach Argumentationsziel wird – durch den konkreten sprachlichen Ausdruck – eine bestimmte Facette des Bedeutungsspektrums bzw. semantischen Potentials eines Begriffs abgeru­ fen, eingeschränkt oder weiterentwickelt. Die Bedeutung eines Begriffs steht im Verlauf der Argumentation also nicht unveränderlich fest, sondern wird da­ durch, dass er Teil eines argumentativen Gefüges und mit anderen Begriffen verknüpft wird, angereichert, eingeengt, geweitet, neu angeordnet, verworfen etc., je nachdem, welche Funktion der Begriff im jeweiligen Abschnitt hin­ sichtlich des Ziels der Argumentation einnimmt. Die Analyse wird – ähnlich wie in der Studie zu Cic. inv. 68f – Begründungssegment für Begründungsseg­ ment ermitteln, welche Aspekte des Sündenbegriffs Paulus abruft und wie der Sündenbegriff dazu beiträgt, dass die conplexio der jeweiligen Beweisführung gelingt. Wie die hier vorgeschlagene Argumentationsanalyse ein diachrones Moment in sich trägt, insofern sie die antike Argumentationstheorie zum Ausgangspunkt nimmt, so hat auch die semantische Analyse, die auf diesem argumentations­ theoretischen Ansatz auf baut, eine historisch-kritische Dimension: Wie ihre Prämissen muss auch das semantische Inventar einer Argumentation dem je­ weiligen historischen Kontext angemessen sein, da es sonst das aptum (die Stim­ migkeit und kontextuelle Angemessenheit) der Rede verletzt.2 Das Bedeu­ tungspotential eines Begriffes wie auch die möglichen semantischen Verbin­ dungen zu anderen Begriffen beruhen zu allererst auf historischen, sozialen und sprachlichen Konventionen, auch wenn dem Redner die Möglichkeit unbe­ nommen bleibt, mit diesen Konventionen zu brechen. Die Analyse der Begriffs­ funktion in neutestamentlichen Argumentationen erfordert historisch-kritische Sensibilität also immer dort, wo es um die Angemessenheit der autoreninten­ dierten Begründungszusammenhänge geht. Beide Perspektiven – synchrone und diachrone – können folglich nicht gegeneinander ausgespielt, sondern müs­ sen aufeinander bezogen werden, die Relevanz der diachronen und v. a. traditi­ onsgeschichtlichen Perspektive auf den Text wird allerdings durch die synchro­ ne, argumentationskritische Perspektive gewissermaßen fokussiert. Die vorlie­ gende Untersuchung greift damit Impulse früherer Ansätze wie z. B. Stefan Alkiers Vorschlag einer „Semiotik des Frühchristentums“3 auf, die diachrone und synchrone Methodik konstruktiv aufeinander beziehen.

2 Vgl. 3 

Eemeren, Argumentation, 15. Alkier, Befreiungen, 131.

2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs

129

Das Problem des Verhältnisses von synchroner und diachroner Methode wird in der neutestamentlichen Methodenlehre kontrovers diskutiert.4 Alkier schlägt vor, das Problem des Verhältnisses von Synchronie und Diachronie über das Konzept der Enzyklopädie zu lösen. Der Begriff Enzyklopädie umfasse nicht nur die semantischen Poten­ tiale eines Begriffs, sondern erschließe gleichermaßen den Bereich der Pragmatik: „Eine Enzyklopädie besteht nicht nur aus einem Wörterbuch, vielmehr enthält sie ‚Konfe­ 4  Fenske schlägt vor, die syntaktische Untersuchung in die Literarkritik, die semantische in die Traditionsgeschichte und die pragmatische in die Redaktionskritik zu überführen (vgl. Fenske, Arbeitsbuch, 32), befürwortet also die Auflösung der synchronen in die diach­ rone Perspektive. Einen ähnlichen Weg geht Schnelle, der die Pragmatik unter dem Arbeits­ schritt der „Textanalyse“ behandelt. Dabei erfüllen syntaktische, semantische und pragmati­ sche Analyse den Zweck, die Kohärenz des zu analysierenden Textes festzustellen. Die syn­ chronen Analyseschritte dienen also der Vorbereitung der Literarkritik. Schnelle urteilt über den Zusammenhang von synchronen und diachronen Arbeitsschritten: „Die Interpretation auf synchroner Ebene und die diachrone Analyse der Vorgeschichte des Textes müssen sich ergänzen, um Werden und Sosein des Textes gleichermaßen zu erfassen. Es gibt keine Auto­ nomie der Texte gegenüber ihrer eigenen Geschichte, sondern Synchronie und Diachronie sollten in ihrer Interdependenz begriffen werden“ (Schnelle, Exegese, 53f ). Schnelle erklärt jedoch weiter: „Diesem mehrschichtigen Textmodell entspricht eine Methodenabfolge, die nach der Textfeststellung in der Textkritik auf synchroner Ebene einsetzt (Textanalyse) und wieder dort hinführt (Redaktionsgeschichte), nachdem sie die möglichen Phasen der Vor­ geschichte eines Textes analysiert hat (Literar-/Quellenkritik, Formgeschichte, Traditions­ geschichte, Begriffs- und Motivgeschichte, religionsgeschichtlicher Vergleich)“ (aaO. 54). Andere Exegeten melden Vorbehalte gegenüber der synchronen Perspektive an: „Heute hin­ gegen sieht man eher einen Primat der Synchronie […]. Manchmal führt heute die Betonung der Synchronie oder der ‚kanonischen Exegese‘ zu einer Vernachlässigung der historisch-ge­ netischen Fragen. Die Diachronie muss und wird aber ihr Recht in der Exegese behalten, die sich auch mit der Entstehungsgeschichte der Bibel befasst. […] Synchronie und Diachronie sind in diesem Methodenbuch prinzipiell gleichberechtigt. Es […] zielt auf eine intensive Kooperation“ (Söding/Münch, Methodenlehre, 28f ). In diesem Zusammenhang zeigt sich auch eine gewisse Ratlosigkeit, wie denn nun eigentlich die linguistischen Methoden in den Methodenkanon der neutestamentlichen Exegese integriert werden können. Bei Söding/ Münch kommt es zu einer Auflösung des inneren Zusammenhangs von Syntaktik, Semantik und Pragmatik zugunsten der Strukturebenen des Textes: „Die Systematik der Analyse wird sich allerdings nicht nach diesen drei Kategorien ausrichten, sondern den am Text unmittel­ bar erkennbaren Strukturen Laut, Wort, Satz und (Gesamt-)Text folgen“ (aaO. 60). Vorbe­ halte hinsichtlich des Nutzens und der Darstellbarkeit synchroner Methoden macht auch Mayordomo, Pragmatik, 448f geltend. „Narratologische und rezeptionsästhetische Modelle erlauben eine sequentielle Lektüre von Erzähltexten, bei der die dynamische Interaktion zwischen Text- und Lesepol bzw. zwischen implizitem Autor und implizitem Leser ins Zen­ trum rückt“ (aaO. 448), als offene Frage ergebe sich aber, „[i]nwiefern textpragmatische Aspekte ausschließlich in der Intention des historischen Autors verankert werden sollen“ (aaO. 449). Das Ringen um die Zuordnung von synchroner und diachroner Methodik in der neutestamentlichen Methodologie hat ein Pendant in der „historischen Pragmatik“, einem re­ lativ jungen Forschungsfeld der Sprachwissenschaft, das – leider – die methodologischen Dis­kussionen und Impulse der alt- und neutestamentlichen Exegese kaum wahrnimmt. Dass Habermann/Ziegler die historische Pragmatik – nicht ohne dies zu problematisieren – als „interdisziplinäre[n] Kristallisationspunkt“ (Habermann/Ziegler, Pragmatik, 2) bezeich­ nen und die Theologie in der Aufzählung der relevanten Nachbarwissenschaften keine Er­ wähnung findet, obwohl Exegeten wie Kliesch (vgl. insbesondere Zimmermann, Methoden­ lehre, 271–285) schon in den 70er Jahren auf diesem Feld Pionierarbeit geleistet haben, ist bezeichnend.

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III. Die Untersuchungsmethode

renzregeln‘, ‚kontextuelle und situationelle Selektionen‘, ,rhetorische und stilistische Übercodierung‘, ‚ideologische Übercodierung‘ und allgemeine und intertextuelle ‚Szenographien‘ (das sind typische Situationen, die in der Lebenswelt und in geläufigen Texten immer wieder vorkommen).“5 Damit steckt Alkier die wesentlichen Refe­ renzpunkte einer historischen Pragmatik ab und bestimmt Kontext als die Lebenswelt oder das Weltbild und die Gesamtheit der Referenztexte, die diese Lebenswelt doku­ mentieren. Wo diese universelle Bedeutung der Enzyklopädie mitbedacht wird, werden historisch-kritische Exegese und Semiotik deckungsgleich: „Indem sie die kulturellen und historischen Bedingungen von Zeichenprozessen mit Hilfe der regulativen Hypo­ these virtueller Enzyklopädien ausdrücklich und methodisch fruchtbar macht, ist solche semiotische Exegese immer [!] historisch-kritische, d. h. enzyklopädisch unterscheiden­ de Exegese.“6 Konsequenterweise bestimmt Alkier „Neutestamentliche Wissenschaft als Semiotik des Frühchristentums“7 und formuliert programmatisch: „Semiotische Exegese setzt nicht bei der Rekonstruktion von Entwicklungslinien an, die ,hinter‘ den Texten liegen, um sie dann mit Hilfe von solchen entwicklungsgeschichtlichen Konst­ rukten zu erklären, sie setzt vielmehr bei den Texten selbst an.“8 Aufgabe einer semio­ tischen Exegese ist also vielmehr aufzuzeigen, „wie sich frühchristliche Zeichenproduk­ tion darstellt, was sie motiviert, worauf sie zielt und wie wir sie rezipieren bzw. rezipie­ ren sollten“9.

In diesem Zusammenhang ist auf eine wichtige philologische Vorentscheidung hinzuweisen: Die Paulusforschung hat oft postuliert,10 dass mit den unterschied­ lichen Wortarten, die auf den Sündenbegriff verweisen, – das Verb ἁμαρτάνειν, das Substantiv ἁμαρτία und das Adjektiv ἁμαρτωλός – spezifische theologische Bedeutungen verknüpft sind: Das Substantiv – vor allem im Singular – verwei­ se in erster Linie auf den Macht-, das Verb und das Substantiv im Plural eher auf den Tatcharakter der Sünde. In dieser Arbeit werden demgegenüber alle Vertre­ ter der Wortfamilie vom Stamm ἁμαρτ- gleichermaßen und in ihrem jeweiligen argumentativen Kontext berücksichtigt. Dies hängt zum einen damit zusam­ men, dass Paulus selber die Unterscheidung von Macht und Tat nirgendwo als heuristisch relevante Leitdifferenz einführt, sondern mit dem Sündenbegriff völlig frei umgeht und ihn – sieht man von Röm  14,23 ab – nirgends in defini­ torischer Absicht nutzt. Zum anderen hängt diese Vorgehensweise mit einer Beobachtung zusammen, die auf das Ergebnis der Untersuchung bereits vor­ greift: Macht- und Tatcharakter der Sünde gehen ineinander über. Die Sünde des Menschen ist Manifestation der Sündenmacht, beide – Macht und Tat – wer­ den gleichermaßen sanktioniert, beide haben Verhängnischarakter.

5 

Alkier, Befreiungen, 119. 121. 7  AaO. 131. 8 Ebd. 9  AaO. 132. 10 Vgl. exemplarisch Bultmann, Theologie, 244f; Schnelle, Theologie, 261f; Hahn, Theologie, 226. 6  AaO.

Teil II: Macht der Argumentation – Macht der Sünde. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs im Römerbrief vor dem Hintergrund antiker Argumentationstheorie In diesem Teil wird im Horizont der antiken Argumentationstheorie unter­ sucht, mit welchem Ziel Paulus den Sündenbegriff verwendet. In Kapitel IV soll der Briefeingang darauf hin beleuchtet werden, wie er in die Argumentation von Röm  1–8 einleitet und sie determiniert. In Kapitel V wird die eigentliche Untersuchung anhand der in Kapitel III vorgestellten Methode durchgeführt.

IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17 für die Argumentation von Röm  1,18–8,4 Röm  1,1–17, d. h. Präskript (Röm  1,1–7), Proömium (Röm  1,8–15) und die – von der Forschung sehr unterschiedlich charakterisierten –1 Verse Röm  1,16f sind für die Argumentation von Röm  1,18–8,4 in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Erstens werden in Röm  1,1–15 die Rollen von Adressat und Adressant definiert: Paulus stellt sich als Heidenapostel vor, der sich dezidiert an die römischen Hei­ denchristen wendet, so dass die Argumentation des Römerbriefes an dieser „so­ teriologischen Statusgruppe“ orientiert ist (IV.1.). Zweitens visiert Paulus in Röm  1,16f ein theologisches Problem an, von dem er vermutet, dass es für die römischen Heidenchristen relevant ist: Das Verhältnis zu Israel. Diese Frage bestimmt die Argumentation des Römerbriefes maßgeblich (IV.2.). Drittens entwirft Paulus in Röm  1,1–17 eine attentional relevante Ausgangssituation, von der er sich im Verlauf von Röm  1,18–8,4 immer wieder entfernt und in die er immer wieder zurückfindet. Die Anrede der heidenchristlichen Adressaten in Röm  1,1–17 kann als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung verstanden wer­ den, die ja im ersten Teil (I.2.5.) als ein charakteristisches Merkmal der antiken Argumentation bestimmt worden ist. Die These lautet: Überall da, wo Paulus 1  Moo, Romans, 64 nennt Röm   1,16f „Theme“: Die Verse dienen ihm zufolge der „transition into the body by stating Paul’s theme“. Stuhlmacher, Römer, 27 nennt Röm  1,16f „Themenangabe“. Schreiner, Romans, 58f überlegt, wie sich das „theme“ (aaO. 58) in den Briefeingang einfügt: „Thus even though verses 16–17 are subordinate to verse 15, the thematic centrality of verses 16–17 cannot be denied since the desire to preach is closely tied with what is preached.“ Wilckens, Römer I, 77 bezeichnet die Verse als „grundsätzliche Charakterisierung des Evangeliums […], die zugleich das Thema der gesamten folgenden Erörterung des Brief korpus (1,18–11,36) darstellt.“ Ähnlich bezeichnet Dunn, Romans, 37 Röm  1,16f als „the thematic statement for the entire letter“ und „the climax of the introduc­ tion“. Wolter, Römer, 101 ordnet 1,16f dem „Proömium“ (zur Problematik des Begriffs vgl. ebd.) zu und bezeichnet die Verse als „sachbezogene Charakterisierung des Evangeli­ ums.“ Longenecker, Romans, 155 bezeichnet Röm  1,16f ausgehend von der antiken Rhe­ torik als „opening thesis statement“ bzw. „anaphora, which is the repetition of a word or expression at the beginning of a series of successive statements – or, as in an extended ana­ phora, the repetition of a word or expression at the resumption of a discussion that has been interrupted by another section of material.“ Vorsichtiger bestimmt Wuellner, Rhetoric, 345f die Verse als „transitus“ zwischen Exordium und Confirmatio. Haacker, Römer, 40 stellt den Begriff „Thema“ bzw. „Themenangabe“ generell in Frage, weil er impliziert, dass es sich beim Römerbrief um einen Traktat oder eine Abhandlung handle: „[…] nur eine Abhandlung hat ein ‚Thema‘!“ (ebd., Hv. i. O.).

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IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17

im Römerbrief zur unmittelbaren Ansprache der Adressaten zurückkehrt, ver­ dichtet sich seine Argumentation – hier treten mutmaßlich die conplexiones i. S. der antiken Argumentationstheorie bzw. die Skopen der Argumentation zu Tage (IV.3.).2

1. Der Heidenapostel und seine heidenchristlichen Adressaten als Argumentationspartner3 Präskript und Proömium des Römerbriefes fallen sehr umfangreich aus, was schon oft als Spezifikum des Römerbriefes erkannt und zumeist damit erklärt worden ist, dass Paulus sich den ihm unbekannten römischen Adressaten vor­ stellt (auch wenn diese ihm – wie die Grußlisten am Briefende zeigen – nicht gänzlich unbekannt gewesen sein dürften).4 Röm  1,1–15 geht nun aber über eine bloße Selbstvorstellung hinaus, insofern Paulus auch eine primäre Zielgruppe sei­ nes Schreibens festlegt. So rücken in Röm  1,6 die Adressaten erstmals explizit ins Blickfeld des Apostels (ἐν οἷς ἐστε καὶ ὑμεῖς κλητοὶ Ἰησοῦ Χριστοῦ), was sich bis in die Gnadenwünsche fortsetzt (πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν Ῥώμῃ ἀγαπητοῖς θεοῦ,

κλητοῖς ἁγίοις, χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ), und auch in Röm  1,8–15 bleiben die römischen Adressaten Ziel und

Richtpunkt des Textes – Paulus bemüht sich um die Stiftung einer Beziehung, die auf der Gleichförmigkeit ihres und seines eigenen Glaubens beruht und so weist er in Röm  1,12 die gegenseitige Ermutigung und Erbauung als das eigent­ liche Ziel seines geplanten Besuchs aus.5 Dass sich Paulus an die römischen Christen wendet, entspricht also seinem ökodomischen Anliegen und seiner apostolischen Beauftragung (die „Ernte der Frucht“, Röm  1,13).6 2 Die Verssegmentierung der neutestamentlichen Texte folgt den folgenden Regeln: Die Versbezeichnung a, b, c wird bei vollständigen Hauptsätzen verwendet, die durch Inter­ punktion voneinander abgegrenzt sind. Sie wird auch bei vollständigen Hauptsätzen ver­ wendet, die parataktisch miteinander verbunden sind. Zudem findet sie Anwendung bei Parenthesen. Die Bezeichnung a1, a2, etc. wird verwendet, wenn Nebensätze, Appositionen, Parenthesen u. a. von Hauptsätzen abgegrenzt werden können. Aufzählungen, die keinen eigenen Hauptsatz bilden, werden ohne weitere Versbezeichnung segmentiert. Unterbroche­ ne Satzgefüge werden durch a1/a1‘ etc. markiert. 3  Die Überschrift lehnt sich an die prägnante Überschrift von Reichert, Gratwande­ rung, 101 an. 4  Vgl. die Grußliste in Röm  16,1–16 und dazu richtungsweisend Lampe, Christen, 127: „‚Gemeinsame Bekannte‘ machen aus Fremden leichter Vertraute. Sie spannen sich wie eine erste Vertrauensbrücke zwischen zwei fremden Ufern. Die Brücke trägt um so leichter, je zahlreicher (Länge der Liste) und je lobenswerter die ‚gemeinsamen Bekannten‘ sind.“ Dabei liegt Lampe viel an dem Umstand, dass Paulus die Personen grüßen „lässt“: Die Gemeinde solle die gemeinsamen Bekannten von Paulus grüßen. 5 Vgl. Haacker, Römer, 36 f. 6 Vgl. Reichert, Gratwanderung, 115: „Aus der umfassenden Bestimmung des auftrags­ gemäßen Verkündigungsbereichs (ἐν πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν) und aus der Einordnung der Adres­

1. Der Heidenapostel und seine heidenchristlichen Adressaten als Argumentationspartner 135

Welche Adressaten hat Paulus im Blick? Dass Paulus im Römerbrief „bald den Juden, bald den Heiden, ganz entsprechend bald den Judenchristen, bald den Heidenchristen als dialogischen Gesprächspartner“ anspreche,7 ist angesichts von Röm  1,1–15 eher abschlägig zu beurteilen. Mit Röm  1,1–15 richtet Paulus sich vielmehr dezidiert an eine heidenchristliche Adressatenschaft. So werden die Adressaten zweimal zu den Völkern (ἔθνεσιν) und einmal – wenn auch im­ plizit – zu den Griechen ( Ἕλλησίν) gezählt (Röm  1,6; 1,13; 1,14). Auch in Röm  1,16 spricht Paulus von dem „Griechen“ und dürfte damit immer noch die Adressaten im Blick haben, denn der semantische Wechsel von Völkern zu Griechen ist theologisch qualifiziert und antizipiert die Unterscheidung von Beschnittenen und Unbeschnittenen, die ab Röm  2 relevant wird. Im späteren Verlauf des Briefes scheinen die Bezeichnungen „Griechen“ und „Völker“ dann nahezu austauschbar zu sein, vor allem, wenn sie als Antonyme zu Israel oder „den Juden“ genutzt werden (vgl. Röm  3,29). In der Forschungsgeschichte ist immer wieder die Frage diskutiert worden, ob Paulus sich an römische Judenchristen,8 die römische Synagoge,9 oder vielleicht sogar die judenchristliche Urgemeinde als – „geheime Adresse des Römerbriefes“10 – gewendet habe. Die Anrede der Adressaten als ἔθνη spricht gegen Judenchristen oder die römische Synagoge als primäre Adressaten. Gegen Jerusalem als implizite Adresse spricht der Umstand, dass der Brief explizit an die römischen Christen gerichtet ist und deren spe­ zifische Situation in den Blick nimmt. Paulus wird dennoch mit einer Fernwirkung durch die Adressaten auf judenchristliche Kreise, die Synagoge und die Jerusalemer Ge­ meinde gerechnet haben, da die angeschriebenen Hausgemeinden den römischen Juden­christen und der Synagoge nahe gestanden haben dürften11 und Rom und Jerusa­ lem über das kosmopolitische Netzwerk des frühen Christentums miteinander ver­ bunden sind.12 Zudem muss bedacht werden, dass die römischen Adressaten in den räumlich voneinander getrennten Hausgemeinden theologische Fragen unterschiedlich diskutiert und bewertet haben dürften.13 Mit einer monolithischen Gemeinde wird Paulus bei der Abfassung seines Briefes also nicht gerechnet haben.

Den heidenchristlichen Adressaten entsprechend gibt sich Paulus als der Apostel zu erkennen, der den Heidenchristen bzw. den Völkern das Evangelium predigt (Röm  1,5; 1,14f ), und gibt an, wie er „bei der Rezeption seines Schreibens wahrgenommen werden will.“14 So hat Angelika Reichert vier verschiedene saten unter die ἔθνη (ἐν οἷς ἐστε καὶ ὑμεῖς ) folgt das Recht des Verfassers, sich mit seinem Schreiben an die römischen Adressaten zu wenden.“ 7  Michel, Römer, 36. 8  Vgl. exemplarisch Mason, Gospel, 269 f. 9 Vgl. Holtz, Bedingungen, 251 f. 10  Vgl. exemplarisch Jervell, Brief, 73. 11  Wischmeyer, Römerbrief, 296 oder Lampe, Christen, 54 vermuten diese in den „Sebo­menoi-Kreisen“. 12 Vgl. Wilckens, Römer I, 46. 13 Vgl. Becker, Paulus, 353 f. 14  Reichert, Gratwanderung, 109. Vgl. auch Lohse, Präskript, 75.

136

IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17

„Zuordnungen des innertextuellen Adressanten und der innertextuellen Adres­ saten zueinander“15 dargestellt: 1. Die Adressaten stehen in Röm  1,13–15 und 15,15f an der Seite der Völker, die Paulus missionieren will. 2. Sie sind Paulus als „Verkündigungsträger und Partner“ zugeordnet (Röm  1,11f; 15,23 f.28 f.30. 32).16 3. Ihre Rolle changiert zwischen „Auftragsbereich“ des und „Berufene“ wie Paulus. 4. Sie sind „kritisch und repräsentativ (für die Heidenchristen als Nutznießer aus Israels Geschick) angeredete Gesprächspartner“17. Als primäre Adressaten der Argumentation legt Paulus also schon im Brie­ feingang römische Heidenchristen fest. Er, der Heidenapostel, argumentiert für sie und ausgehend von ihrem heilsgeschichtlichen Status.18

2. Röm  1,16f als These hinsichtlich des „römischen Problems“ und Hinweis auf die argumentative Strategie des Römerbriefes Die „Rollenfestlegungen“ von Röm  1,1–15 entwickeln sich im Zuge eines auf­ fälligen Korrespondenzverhältnisses: Paulus spricht ab Röm  1,8 wechselseitig von sich und den römischen Heidenchristen, legt seine eigene und ihre Rolle durch das jeweilige Gegenüber fest.19 Im folgenden Schema wird dieser Wech­ sel von Selbst-Bezeichnung und Adressatenanrede deutlich: Paulus (ἐγώ) […] εὐχαριστῶ […] […] μάρτυς γάρ μού […] […] προσευχῶν […] εὐοδωθήσομαι […] ἐπιποθῶ […] […] μεταδῶ χάρισμα

Römische Adressaten (ὑμεῖς ) […] περὶ πάντων ὑμῶν […] […] μνείαν ὑμῶν […] […] ἐλθεῖν πρὸς ὑμᾶς.

Röm  1,12

τοῦτο δέ ἐστιν συμπαρακληθῆναι τε καὶ ἐμοῦ […]

ἐν ὑμῖν διὰ τῆς ἐν ἀλλήλοις πίστεως ὑμῶν

Röm  1,13

οὐ θέλω δὲ

ὑμᾶς ἀγνοεῖν, ἀδελφοί,

[…] προεθέμην ἐλθεῖν

πρὸς ὑμᾶς,

Röm  1,8 Röm  1,9 Röm  1,10 Röm  1,11

15 

[…] ἰδεῖν ὑμᾶς. ὑμῖν πνευματικὸν […] εἰς τὸ στηριχθῆναι ὑμᾶς.

Reichert, Gratwanderung, 145 f. 145. 17 Ebd. 18  Vgl. zum programmatischen Charakter des Präskripts des Röm   i nsbesondere Lohse, Präskript, 75–78. 19  So auch Michel, Römer, 82: „Der Apostel stellt sich jetzt als Geistträger vor, der die Begegnung mit Geistträgern sucht. Er selbst bietet ihnen ‚geistliche Gnadengabe‘ ( χάρισμα πνευματικόν) an, ist aber bereit, auch selbst Zuspruch von seiten der Gemeinde anzuneh­ men.“ Vgl. auch Reichert, Gratwanderung, 125. 16  AaO.

2. Röm  1,16f als These hinsichtlich des „römischen Problems“

[…] ἐκωλύθην […] […] τινὰ καρπὸν σχῶ

137

καὶ ἐν ὑμῖν […]

Tabelle 16: Korrespondenzstruktur von Präskript und Proömium des Römerbriefs (Röm  1,1–13)

Das Korrespondenzverhältnis von ἐγώ - und ὑμεῖς-Aussagen ist auch für den markanten Übergang von Röm  1,14f zu Röm  1,16f zu beachten.20 Paulus (ἐγώ)

Römische Adressaten (ὑμεῖς ) Ἕλλησίν τε καὶ βαρβάροις, σοφοῖς τε καὶ ἀνοήτοις

Röm  1,14 ὀφειλέτης εἰμί,

Röm  1,15 Röm  1,16a Röm  1,16b

οὕτως τὸ κατ’ ἐμὲ πρόθυμον

καὶ ὑμῖν τοῖς ἐν Ῥώμῃ εὐαγγελίσασθαι

Οὐ γὰρ ἐπαισχύνομαι τὸ εὐαγγέλιον, δύναμις γὰρ θεοῦ ἐστιν εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι, Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι. δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν, καθὼς γέγραπται […]

Tabelle 17: Korrespondenzstruktur von Präskript, Proömium und „These“ des Römerbriefs (Fortsetzung)

Röm  1,16a schließt noch eng an die Korrespondenzstruktur der vorigen Verse an: Paulus schwenkt erneut auf die Ich-Perspektive (ἐπαισχύνομαι).21 Dass er den Römern das Evangelium zu verkündigen beabsichtige (Röm  1,15),22 be­ gründet er damit, dass er sich ihnen gegenüber verpflichtet fühle, dazu berufen sei und sich „nicht für das Evangelium schämt“ (Röm  1,16a).23 Indem Paulus 20 Vgl.

Michel, Römer, 82 f. prägnant Theobald, Punkt, 282: „V.16a bildet das Gelenk zwischen der ‚briefli­ chen Selbstempfehlung‘ und der Grundsatzerklärung von V.16b.17.“ 22  Das Verb εὐαγγελίζω und das Fehlen der Anrede der römischen Adressaten als ἐκκλησία im Briefeingang haben für Diskussionen über den Abfassungszweck des Römerbriefes ge­ sorgt. Tatsächlich lässt Paulus keinen theologischen „Mangel“ (Schnelle, Paulus, 337) an den römischen Gemeinden erkennen, der ihn dazu veranlasst haben könnte, auf die ἐκκλησία -­A nrede zu verzichten, aber derlei Äußerungen wären wohl auch nicht zu erwar­ ten, da Paulus die Gemeinden nicht persönlich kannte und bei seinem Besuch Unterstützung von ihnen erwartete (vgl. Theobald, Warum, 12–14). Diese „taktische“ Vorsicht ist i.Ü. auch in der sogenannten Nicht-Einmischungs-Erklärung von Röm  15,20 erkennbar: Paulus geht es nicht um eine offene Intervention oder Konfrontation in Rom; er wird jedoch damit gerechnet haben, dass sein Schreiben eine konkrete Wirkung in den Gemeinden erzielt. 23  Der Begriff ἐπαισχύνομαι bezeichnet in Röm   6,21 einen „psychologischen“ Zustand bzw. eine Gemütsverfassung – die Scham, das Gottesverhältnis vor der Bekehrung verfehlt und gesündigt zu haben. Haacker, Römer, 41 versteht den Hinweis auf die Scham von Röm  1,16 im Kontext intellektueller Schwierigkeiten, die das Evangelium in Rom bereitet haben 21  Vgl.

138

IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17

nun aber in Röm  1,16b das Evangelium inhaltlich näher bestimmt, eine theolo­ gische Reflexion beginnt und zum ersten Mal im Römerbrief Auskunft über etwas gibt statt von sich oder den Adressaten zu reden, geht er über die Korre­ spondenzstruktur von Röm  1,1–16a hinaus. Röm  1,16b.17 darf jedoch nicht vom Korrespondenzverhältnis in Röm  1,1– 16a in der Weise getrennt werden, als würde Paulus hier eine völlig abstrakte, von den heidenchristlichen Adressaten abständige Behauptung formulieren, denn die Adressaten, die in Röm  1,1–16a als Heidenchristen bestimmt wurden, werden nun als Zielgruppe in die These von Röm  1,16b eingetragen:24 Es geht immer noch um den „Griechen“ ( Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι). Doch nun schlägt Paulus recht unvermittelt eine Brücke zu den Juden:25 Dass Gottes Ge­ rechtigkeit zuerst bzw. – präziser – besonders (Röm  1,16a: τε πρῶτον)26 ihnen und den Griechen gelte, gibt den heidenchristlichen Adressaten zu verstehen, dass eine heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen ihnen und Israel besteht, die durch das Evangelium und den Glauben gewährleistet wird. Paulus richtet sich also nicht an das römische Judenchristentum, sondern an ein Heidenchristen­ könnte. Käsemann, Römer, 19 bestimmt ἐπαισχύνομαι als „geprägte Formel der Bekennt­ nissprache“. Michel, Römer, 86 geht einen Mittelweg: „‚Sich nicht schämen‘ ist eine negative Formulierung für das positive Ereignis des ‚Bekennen‘ in einer bestimmten geschichtlichen Situation der Anfechtung (ὁμολογεῖν).“ Er bezieht (vgl. ebd.) Röm  1,16a auf die römische Ge­ meindesituation: „Offenbar hat sich Paulus gegen Mißtrauen und Verdächtigungen zu wehren, die in der Gemeinde selbst entstanden sind oder von außen in sie hineingetragen wurden.“ 24 Zudem wird mit dem Pronominaladjektiv πᾶς (Röm  1,16b: εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι) ein zentrales Stichwort der Adressatenanrede des Präskripts wiederaufgenom­ men, denn Paulus wendet sich – trotz der ihm (von Gott) angeordneten Mission der Griechen – an „alle in Rom“, die er als Geliebte und Auserwählte Jesu Christi anspricht (πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν Ῥώμῃ ἀγαπητοῖς θεοῦ, κλητοῖς ἁγίοις , Röm  1,7), so dass παντὶ τῷ πιστεύοντι mit ἐν πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν (Röm  1,5) und πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν Ῥώμῃ korrespondiert. 25  Dieser bemerkenswerten Erweiterung der Perspektive des Präskripts, die in den meis­ ten Kommentaren keine eingehende Untersuchung erfährt, widmet sich sehr ausführlich Michael Theobald. Er kommt zu dem Schluss (Theobald, Punkt, 293): „Die Einbettung jener Kommunikation zweiten Grades in jene ersten Grades mit den Adressaten Roms er­ sieht man bereits am Übergang von 1,13–15 mit den dortigen Beschreibungen der Mensch­ heit aus griechisch-hellenistischer Sicht (‚Griechen und Barbaren‘, ‚Weise und Unverständige‘) hin zu 1,16 mit der entsprechenden aus jüdischer Sicht (‚dem Juden zuerst und auch dem Griechen‘).“ 26  Die Übersetzung von τε πρῶτον ist umstritten. Schon Michel, Römer, 79 überlegt, τε πρῶτον als „vor allem“ zu übersetzen, da ein korrespondierendes δεύτερον fehlt. Auch ­R eichert, Gratwanderung, 153–156 schlägt die Übersetzung „besonders“ vor, denn τε πρῶτον füge sich nur schwerlich in die „Gleichordnung zwischen dem Juden und dem Hei­ den ein“ (Reichert, Gratwanderung, 153), wie sie sich von Röm  1,16b her nahelegt. Die Bedeutung von τε πρῶτον antizipiert unter diesen Voraussetzungen die gesamte Tendenz des Römerbriefes: Paulus behauptet die universale Bedeutung des Glaubens (als Beziehung zwi­ schen Gott und den Heiden bzw. Juden) bei gleichzeitiger Betonung einer Erwählungskon­ tinuität zwischen Israel und den Völkern. Dabei soll τε πρῶτον nicht zuerst eine historische Kontinuität anzeigen (vgl. Michel, Römer, 88: „Sachlich bedeutet dieser Vorsprung, daß das Evangelium dem Heidentum immer über das Judentum zugängig gemacht wird.“), son­ dern darauf hinweisen, dass die Heiden an der Erwählung Israels partizipieren.

2. Röm  1,16f als These hinsichtlich des „römischen Problems“

139

tum, das in einer Beziehung zum Judenchristentum steht und für das die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität hinsichtlich Israels eine erhebliche Rolle gespielt haben muss, wobei sich die historischen Verhältnisse des römischen Stadtchristentums und insbesondere die Auswirkungen des Claudius-Edikts auf dessen Zusam­ mensetzung und soziale Struktur nicht mit Sicherheit rekonstruieren lassen. Welche Funktion kommt der markanten Formulierung in Röm  1,16f zu? Die Einbettung von Röm  1,16a in das Korrespondenzverhältnis von Präskript und Proömium und der fließende Übergang von adressatenorientierter Anrede zu sachbezogener, reflexiver Sprache in Röm  1,16b.17 deuten darauf hin, dass es sich bei Röm  1,16f durchaus um eine These i. S. der antiken propositio handelt,27 denn sie hat unmittelbar Anhalt an einem konkreten theologischen Problem, wie Paulus es unter seinen Adressaten vermutet. Der Wechsel von direkter Ansprache der Adressaten zu einer Sprache über das Evangelium in Röm  1,16f an­ tizipiert die argumentative Strategie des Römerbriefes insgesamt: Statt der Po­ lemik – wie im Gal – wählt Paulus das Mittel der Argumentation, um das Konfliktpotential hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Israel und Heiden­ christen auf eine sachliche Ebene zu dislozieren und strittige Fragen nicht im unmittelbaren Dialog mit den Adressaten, sondern auf einer theologisch-re­ flexiven Sachebene zu klären. Zu Recht stellt Michael Theobald fest: „So gese­ hen enthält zwar 1,16f bereits den ‚strittigen Punkt‘, doch in einer unpolemischen Form, die vorerst ganz auf die Affirmation der eigenen Überzeugung setzt.“28 Woher rührt dieser „unpolemische“ Ton? Das explizite Ziel des Römerbriefes ist in der Tat die Vorbereitung eines Besuchs in Rom und die Offenlegung des Vorhabens der Spanienmission: Paulus benötigt verlässliche Partner, einen Stützpunkt, Ausrüstung, vor allem aber lateinische Dolmetscher für seine Mis­ sion im Westen des Reiches.29 Darüber hinaus muss der Brief aber auch im Kontext einer theologischen Konfliktsituation gelesen werden, die sich litera­ risch vor allem im Galaterbrief niedergeschlagen hat und die Klaus Haacker drastisch schildert: „Die fünf bis sechs Jahre vor der Abfassung des Römerbriefes, in denen die meisten anderen anerkannten Paulusbriefe entstanden, sind nicht Jahre der missionarischen Ex­ pansion, sondern der Konsolidierung in ständigem Kampf mit Krisenerscheinungen in der einen oder anderen Gemeinde.“30

Die strukturellen und theologischen Parallelen zwischen den beiden Briefen legen nahe, dass Paulus in Rom mit ähnlichen Problemen gerechnet hat wie in Galatien.31 Anders als im Galaterbrief schlägt sich im Römerbrief, vor allem 27 Vgl.

Theobald, Punkt, 298–300. AaO. 292. 29 Vgl. Wischmeyer, Römerbrief, 297. 30  Haacker, Römer, 8. 31  Vgl. hierzu die Einschätzung von Murariu, Characters, 742: „The letter to the Rom­ ans is part of Paul’s efforts to establish a new relationship between Gentile and Jewish belie­ 28 

140

IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17

aber in Textpassagen wie Röm  1,1–17, Röm  11,25–36 und Röm  15,7–13, die innerhalb des Gesamtauf baus an markanten Übergängen zu stehen kommen und als Programmtexte bezeichnet werden können, ein „irenischer“ Grundzug nieder: Paulus betont immer wieder die Heilskontinuität zwischen Israel und Heidenchristen. So kommt Theobald in der Zusammenschau der „propositio“ von Röm  1,16f und des Programmtextes von Röm  11,25–36 zu folgendem prägnantem Ergebnis, das sich leicht auch auf Röm  15,7–13 beziehen ließe: „Die von Paulus mit Gewißheit erwartete Errettung ganz Israels bei der Parusie des Herrn ist für ihn Theodizee, Gottes Selbst-Erweis, daß er mit seinem Evange­ lium als seinem machtvollen Heilswort am Ende Recht behält.“32 Der Römer­ brief laufe auf die Ermahnung der heidenchristlichen Adressaten zu, „sich nicht in heidenchristlichen Dünkel über Israel zu erheben“33. Diese im Gegensatz zum Gal ausgleichende Tendenz leuchtet von mehreren Seiten her ein: Paulus kennt die Situation in Rom nicht genau, rechnet aber u. U. mit Agitationen gegen ihn und mit Verzerrungen seiner Theologie (vgl. v. a. Röm  3,1–8).34 Die­ se Schwierigkeiten möchte er im Vorfeld seines Besuchs ausräumen.35 Er erwar­ tet offenbar den Vorwurf, er streite die Erwählung Israels grundsätzlich ab und wolle Beschneidung und Gesetz nivellieren (ein Vorwurf, der sich angesichts des Gal ja auch durchaus nahelegt). Demgegenüber vertritt Paulus die Position, dass die Heidenchristen durch ihren Glauben an der Erwählung Israels partizi­ pieren und sich unbedingt von diesem Partizipationsverhältnis aus verstehen sollen. Dies schließt jedoch keinen Kompromiss in Fragen der Gesetzes- oder der Beschneidungsobservanz ein. Zwischen Kontiuitätsbekundung und Ab­ grenzung die Waage zu halten erfordert, wie noch zu zeigen sein wird, einen enormen Argumentationsaufwand und eine spezifische Verwendungsweise des Sündenbegriffs. Die Vielschichtigkeit der Argumentation könnte darüber hinaus auch mit der besonde­ ren Kommunikationssituation zusammenhängen, wie sie Angelika Reichert beschreibt: Paulus rechne bei einem Scheitern der bevorstehenden Kollektenübergabe in Jerusalem mit seinem Tod,36 sodass die „Erstkommunikation“, die er mit den römischen Ge­ meinden herstellt, potentiell die „Letztkommunikation“ sein könnte: „Die Entschei­ dung für die persönliche Kollektenübergabe, deren Risiko Paulus bewußt war, zwang ihn, sein Schreiben an die Römer so anzulegen, daß der Beginn der Kommunikation vers from the perspective of salvation.“ Nagelprobe für dieses neue Verhältnis war der Kon­ flikt in Galatien, der auch noch den Röm  beeinflusst, wie der Vergleich der Briefstruktur bei Wilckens, Römer I, 48 zeigt. Schnelle, Aporien, 6 spricht sogar von einer „militante[n] Gegenmission […], die vor allem die offene Israelfrage mit der Integration der Glaubenden aus den Völkern in das erwählte Volk qua Beschneidung lösen wollte.“ 32  Theobald, Punkt, 321. 33  Theobald, Römerbrief, 220. Vgl. auch Frey, Nomos, 74 f. 34  So auch Michel, Römer, 37–39. 35 Vgl. Haacker, Römer, 14. Haacker beurteilt die Frage nach judenchristlichen Agita­ toren in Rom mit großer Zurückhaltung. 36 Vgl. Reichert, Gratwanderung, 78 f.

3. Röm  1,1–17 als attentionales Zentrum von Röm  1–8

141

zugleich als deren Abschluß fungieren konnte.“37 Das Schreiben verfolge daher eine Doppelstrategie: Bezogen auf die Gemeinden und für den Fall eines Besuchs des Paulus hat es konsolidierende, bezogen auf Spanien und für den Fall des Scheiterns des Paulus in Jerusalem gewissermaßen katechetische bzw. instruierende Funktion: Die römischen Adressaten selber könnten unter der Maßgabe des Römerbriefes die Spanienmission initiieren.38 Dass die Argumentation umfangreicher ausfällt als in den anderen Paulus­ briefen und das Problem des Verhältnisses von Gnade, Gesetz und Sünde in mehreren Anläufen und aus mehreren Perspektiven erörtert wird, könnte mit diesem Problem vielleicht in Zusammenhang stehen.

3. Röm  1,1–17 als attentionales Zentrum von Röm  1–8 und die argumentative Architektur von Röm  1–8 Paulus wird sich im Verlauf der Argumentation von Röm  1–8 immer wieder von der engen Adressatenbindung, wie er sie in Röm  1,1–17 herstellt, entfernen und wieder zu ihr zurückkehren, wie er auch mal die Kontinuität, mal die Ab­ grenzung gegenüber Israel ins Zentrum seiner Argumentation rücken wird. Das Oszillieren zwischen Annäherung an und Entfernung von den Adressaten, zwi­ schen Fokussierung und Abstraktion eines konkreten Problems hat sich als cha­ rakteristisch für die antike argumentatio erwiesen: Der Argumentierende entfal­ tet seine These (hinsichtlich einer konkreten juristischen, politischen oder theo­ logischen Entscheidungssituation) in einem weitreichenden Reflexionshorizont und appliziert seine Argumentation schließlich pointiert auf die Adressaten zurück. Schon Thomas Schmeller hat in seiner Untersuchung zu Elementen der Diatribe in paulinischen Texten zwischen „grundsätzlich theologische[r] Argu­ mentation“ und dem „persönlichen Appell“39 unterschieden, wobei letzterer mit den diatribenhaften Passagen in eins fällt. Schmeller postulierte das „Rela­ tionsprinzip“: Die diatribenhaften, direkt an die Adressaten gerichteten Passa­ gen verdichten die grundsätzlicheren, theologischen Passagen und spitzen diese zu.40 Auch wenn die Nähe des Römerbriefs zur Diatribe von ihm selber und von Teilen der Forschung problematisiert wird,41 beschreibt Schmeller mit dem „Relationsprinzip“ ein Phänomen, das sich mit der attentionalen Dimension antiker Argumentation berührt: Der Argumentierende lenkt die Aufmerksam­ keit seiner Adressaten durch die Argumentation zur conplexio. Hier verdichtet er seine Beweisführung so, dass die Adressaten eine Entscheidung im Sinne des Argumentierenden treffen.

37 

AaO. 82. Vgl. auch Koch, Spanien, 712. 39  Schmeller, Diatribe, 418. 40  Vgl. auch Kapitel I.1.4. 41  Dies wird sich in den Einzelanalysen zeigen. 38 

142

IV. Die Relevanz von Röm  1,1–17

Zieht man die an der Aufmerksamkeit der Adressaten orientierte Argumen­ tationstheorie der griechisch-römischen Rhetorik heran, wird in Röm  1–8 eine „attentionale Oberflächenstruktur“ erkennbar: Der Text changiert zwischen theologisch-explikativer Sprache und unmittelbarer, d. h. applikativer, affirmativer Sprache. Als formales Kriterium der Abgrenzung von explikativen und applika­ tiven Passagen in Röm  1–8 kann die Verwendung von Personalpronomina und Personalmorphemen fungieren: Verwendet Paulus die 2. Person Plural, kehrt er zur unmittelbaren Ansprache des Präskripts und Proömiums zurück und wen­ det seine Argumentation auf die römischen Heidenchristen an. Verwendet Pau­ lus die 3. Person Singular oder Plural, reflektiert er theologische Sachverhalte, bewegt sich also in einem explikativen Sprachmodus. In einigen Passagen in Röm  1–8 verwendet Paulus die 1. Person Singular bzw. Plural oder spricht eine 2. Person Singular an. Diese Passagen spielen eine besondere Rolle im argu­ mentativen Gefüge von Röm  1–8 und müssen eigens analysiert werden. Von einer gleichmäßigen Verteilung der Anredeform in Röm  1–8 kann aber in kei­ nem Fall die Rede sein, vielmehr können je nach verwendeten Personalprono­ mina und Verbformen verschiedene Aussageformen voneinander unterschieden und größere Blöcke voneinander abgegrenzt werden: – Explikative Sprache, d. h. das Reden über abstrakte theologische Sachverhalte in der 3. Person Singular oder Plural, findet sich vor allem in Röm  1,18–32; 2,7–16; 3,10–30; 4,2–23; 5,12–21; 7,2f; 8,1–8; 8,19–23a. – Die Adressaten, wie sie in Röm  1,1–15 angesprochen werden, geraten explizit erst wieder in Röm  6,3a.11–7,1.4–6 und in 8,9–15 in den Blick. – In Röm  3,5–8; 3,31–4,1; 4,24–5,11; 6,1–10; 8,15b–17 und 8,22–37 liegen zu­ sammenhängende ἡμεῖς-Passagen vor, deren Adressatenorientierung zu prü­ fen ist. – In Röm  2,1–6; 2,17–27; 9,19–21 und 11,17–24 wird eine 2. Person Singular (σύ) angesprochen. Auch hier muss geprüft werden, ob es sich um eine Ap­ plikation handelt. – Außerdem gibt es zusammenhängende ἐγώ -Passagen in Röm  7,7d–25b und 8,38–9,5.42 Neben der spezifischen Verwendung von Personalpronomina und -morphemen gibt es noch andere Merkmale, die das Sprechen über theologische Sachverhalte von der Kommunikation mit den Adressaten unterscheiden: So steht die Ver­ wendung der Tempora in besonderer Korrelation zur Verwendung der Personal­ pronomina – in den explikativen Texten herrschen Vergangenheitstempora und eine besondere Semantik vor, die als ‚anthropologisch-pauschalisierend‘ be­ zeichnet werden kann. Beispiele für diese besondere Semantik sind der ἄνθρωπος-­ 42  Diese

407.

Übersicht deckt sich teilweise mit den Arbeitsergebnissen Schmellers, Diatribe,

3. Röm  1,1–17 als attentionales Zentrum von Röm  1–8

143

Begriff oder Indefinitpronomina wie πᾶς oder τις. Zudem verwendet Paulus in Röm  4,23; 6,11 oder 7,4 prägnante Applikationsformeln und grenzt seine Ge­ dankengänge durch Einleitungsfragen und Übergangsformulierungen wie in Röm  3,1.8; 5,1; 6,1; 6,15; 7,7 ab. Berücksichtigt man diese Einleitungs- und Ab­ grenzungsformeln und legt das Relationsprinzip nach Schmeller hypothetisch zugrunde, wird folgende „argumentative Architektur“ von Röm  1–8 erkennbar: – Röm  1,18–32 korrespondiert mit einer attentional hervorstechenden Passage in der 2. Person Singular, die von Röm  2,1 bis in jedem Fall Röm  2,5 reicht. Röm  2,6–11 lässt sich unter attentionalen Gesichtspunkten nicht eindeutig zuordnen. – Röm  2,(6)12–2,16 korrespondiert mit einer ebenfalls in der 2. Singular gehal­ tenen Passage Röm  2,17–29. – Röm  3,1–26 weist eine schwache attentionale Korrespondenz in Röm  3,27– 31 (1. Person Plural) auf. – Röm  4,1–22 korrespondiert mit Röm  4,23–5,11 (1. Person Plural). – Röm  5,12–21 fehlt eine echte Applikation auf die Adressaten, in Röm  6,1 setzt jedoch eine dreifache „Fragerunde“ mit charakteristischen Einleitungs­ fragen in Röm  6,1; 6,15 und 7,7 ein, die von Röm  5,12–21 abzuhängen scheint. In dieser Fragerunde kehrt Paulus immer wieder zur unmittelbaren Anrede der Adressaten zurück: – Röm  6,1–10 korrespondiert mit Röm  6,11–14 (2. Person Plural). – Der Status von Röm  6,15–23 ist zu hinterfragen – Paulus richtet sich weiter­ hin an eine 2. Person Plural, und trotzdem ist der Abschnitt vom vorigen durch eine Einleitungsformel abgegrenzt. In Röm  7,4–6 hebt sich nach einer kurzen Unterbrechung in Röm  7,1–3 eine deutliche Applikation ab. – Röm  7,7–25 korrespondiert mit Röm  8,1–4, wobei Röm  8,1–4 nicht aufgrund syntaktischer Merkmale hervorsticht, sondern sachlich deutlich auf Röm  7 bezogen ist. Die Abgrenzung nach Röm  8,5 ist schwierig, weil Röm  8,5–39 mit Passagen durchsetzt ist, die in der 1. Person Plural gehalten sind. Handelt es sich bei den hervorstechenden Passagen, in denen Paulus ein Gegen­ über (ein „Du“ oder eine zweite Person Plural) anredet, um conplexiones im Sinne der antiken Argumentationstheorie? Wenn dem so ist, muss jede explika­ tiv-theologische Passage des Römerbriefes auf eine applikative bezogen sein, bzw. zugespitzt: Zusammen ergäben die einander zugeordneten explikativen und applikativen Passagen kohärente argumentationes, die jeweils einen eigenen Skopus verfolgen. Die verschiedenen Aspekte des antiken Argumentierens, wie sie in Kapitel I.2. dargestellt worden sind, werden nun an den Römerbrief herangetragen, um den Skopus der jeweiligen Argumentationsgänge näher zu bestimmen und die Kohä­ renz der einzelnen Argumentationen zu beurteilen. Die obige Gliederung dient der folgenden Analyse als Orientierung, ihre Plausibilität ist nunmehr zu prüfen.

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung Mit Röm  1,18 tritt Paulus in die eigentliche Argumentation ein. In der folgen­ den Analyse wird die Funktion des Sündenbegriffs in den einzelnen Argumen­ tationsgängen anhand der in Kapitel III entwickelten Analysemethode unter­ sucht. Zunächst erfolgt jeweils eine Argumentationsanalyse im Rahmen der antiken Argumentationstheorie, deren Ziel es ist, den Skopus des abgegrenzten Textabschnitts zu bestimmen. Sodann soll die argumentative Funktion des Sündenbegriffs im jeweiligen Argumentationsabschnitt untersucht werden.

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8 als Ausdruck einer argumentativen Programmatik Dass Röm  1,18–32 bzw. 1,18–2,8 im Rahmen dieser Untersuchung analysiert wird, obwohl Paulus den Sündenbegriff in dieser Textpassage nicht nutzt, ist drei Beobachtungen geschuldet: 1.  Im weiteren Verlauf des Römerbriefes greift Paulus implizit und explizit auf das se­ mantische Inventar und den theologischen Ertrag der Argumentation von Röm  1,18– 2,8 zurück (vgl. hierzu ausführlich V.1.2.). 2.  Röm  1,18–2,8 bildet paradigmatisch die Argumentationsweise des Apostels ab. 3.  Die Forschung liest den Sündenbegriff häufig in die Argumentation von Röm  1,18– 2,8 hinein.1

Inwiefern lässt sich die These aufrechterhalten, dass „Paulus […] 1,18–32 die Sünde der Menschen (1,18) beschrieben [hat], wie sie der Jude gewohnt ist, dem Heiden anzulasten, während er sich selbst aufgrund des heilsgeschichtlichen Privilegs Israels als vor Gottes Zorngericht gesichert glaubt“2 , wenn der Apostel auf den Sündenbegriff gänzlich verzichtet? In einem ersten Schritt soll eine Argumentationsanalyse nach Maßgabe der antiken Rhetorik durchgeführt 1 Vgl. exemplarisch Wilckens, Römer I, 95.102–104.121, Haacker, Römer, 51.63, Theissen/Gemünden, Römerbrief, 230: „Sünde ist an erster Stelle Zerstörung der Bezie­ hung zu Gott. Paulus ‚entmythologisiert‘ in 1,18–31 den Sündenfallmythos, so dass auch Nicht-Juden seine Aussage verstehen können.“ 2  Wilckens, Römer I, 121.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

werden, um den Skopus der Argumentation zu bestimmen. In einem zweiten Schritt soll die Funktion der mit dem Sündenbegriff korrelierenden Begriffe in Röm  1,18–2,8 analysiert werden.

1.1. Argumentationsanalyse: Röm  2,1–8 als Skopus der in Röm  1,18 beginnenden Argumentation Während noch die These vom Evangelium als Kraft Gottes (Röm  1,16f ) inner­ halb des Korrespondenzschemas des Präskripts und Proömiums aufgeht (vgl. Kapitel IV.1.), zeichnet sich in Röm  1,18 eine syntaktische, semantische und theologische Zäsur ab. Paulus nimmt von der unmittelbaren Adressatenanrede Abstand und lenkt den Blick auf einen theologisch näherhin zu bestimmenden Gegenstand: den Zorn Gottes (Röm  1,18). Aus den argumentationstheoreti­ schen Perspektiven, wie sie in Kapitel III erschlossen wurden, soll der Skopus der in Röm  1,18 beginnenden Argumentation bestimmt werden. Röm  2,1–8 kommt hier in Frage, denn Paulus lenkt die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf diese Sequenz und führt mit Röm  1,18–32 schrittweise zu ihr hin. Dies ist nun im Einzelnen zu untersuchen. Auf der Ebene der Aufmerksamkeitslenkung erscheint Röm  2,1–8 als adressaten­ bezogene Zuspitzung und Zusammenfassung von Röm  1,18–32. In Röm  1,18– 32 nimmt Paulus von der unmittelbaren Anrede der Adressaten zunächst Ab­ stand, indem er anthropologisch-verallgemeinernd argumentiert: Die ἄνθρωποι stehen im Zentrum des Textes, tauchen explizit in Röm  1,18, dann noch ein­ mal, dort aber nicht als Handlungsträger, sondern in der Genitiv-Verbindung εἰκόνος φθαρτοῦ ἀνθρώπου in Röm  1,23 auf, und werden im weiteren Verlauf des Textes durch die Personalpronomina αὐτός und οἵτινες vertreten. Dieser pauschalisierenden Tendenz entspricht auch die Verwendung des Pronomi­ naladjektivs πᾶς in Röm  1,18 (ὀργὴ θεοῦ ἀπ’ οὐρανοῦ ἐπὶ πᾶσαν ἀσέβειαν καὶ ἀδικίαν ἀνθρώπων): Der Zorn Gottes offenbart sich über „alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“. Auffällig ist auch die Wahl der Tempora: Während Paulus in Röm  1,18 mit einem Präsens einsetzt (ἀποκαλύπτεται), wechselt er in Röm  1,19b in den Aorist (ἐφανέρωσεν), um in Röm  1,20 wiede­ rum ins Präsens zu wechseln (καθορᾶται), bevor er mit Röm  1,21 wiederum in den Aorist wechselt (ἐδόξασαν, ηὐχαρίστησαν, ἐματαιώθησαν, ἐσκοτίσθη). Die für den folgenden Abschnitt charakteristischen Partizipien sind allesamt von παρέδωκεν in Röm  1,24.26.28 abhängig, sind also in der Vergangenheit lokali­ siert.3 3 Erst Röm   1,32 zeigt, dass die Verfehlungen der Menschen bis in die Gegenwart an­ dauern (οὐ μόνον αὐτὰ ποιοῦσιν ἀλλὰ καὶ συνευδοκοῦσιν τοῖς πράσσουσιν). Zu Recht hält Michel fest, dass „Paulus in seiner Darstellung nicht einen historisch abgeschlossenen Pro­ zeß“ darstellen möchte (Michel, Römer, 108).

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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Die Verwendung des ἄνθρωπος-Begriffs und der Einsatz pauschalisierender Pronomina und Vergangenheitsformen deuten darauf hin, dass Paulus sich in Röm  1,18–32 bewusst von den römischen Adressaten distanziert. Die Darstel­ lung hat auf sprachlicher Ebene keinen unmittelbaren Bezug zu ihnen und steht in einem auffälligen Kontrast zu dem ausführlichen und adressatenorientierten Briefeingang. Michael Wolter stellt daher zu Recht fest: „Paulus legt Christen die Situation der nichtchristlichen Menschheit dar. Dementspre­ chend verlangt er nicht, dass die Leser, für die er den Brief geschrieben hat, sich in seiner Darstellung wiedererkennen und sie auf sich zu beziehen.“4

Von der deutlich von den Adressaten abgerückten Darstellung des Zorns Gottes in Röm  1,18–32 hebt sich in Röm  2,1–8 der erste attentional relevante Höhe­ punkt der Argumentation ab: Paulus lenkt die Aufmerksamkeit seiner Adressa­ ten auf die Anklage eines „Du“ (Röm  2,1), das stellvertretend für den richten­ den Menschen steht (Röm  2,1). Der stilistische Wechsel ist zwar markant, Röm  2,1 führt aber unverkennbar die anthropologische Linie von Röm  1,18–32 weiter: Ὦ ἄνθρωπε πᾶς ὁ κρίνων weist – über den Menschenbegriff und das In­ definitpronomen – in den vorigen Abschnitt zurück.5 Paulus wählt für die Pas­ sage von Röm  2,1–8 das Präsens: Er spricht also den richtenden Menschen im Hier und Jetzt als Teil der in Röm  1,18–32 verurteilten Menschheit an. Der Zusammenhang von Röm  1,18–32 und 2,1ff wird in der Forschung ebenso diskutiert wie die Identität des angesprochenen „Du“ in Röm  2 ,1. Sind die beiden Passagen aufei­ nander bezogen oder setzt Paulus in Röm  2,1 neu ein und wendet sich – Röm  2,17 vorwegnehmend – an ein jüdisches „Du“?6 Porter analysiert den scharfen Kontrast zwi­ schen dem wiederholten Gebrauch von Verben in der dritten Person in Röm  1,18–32 und der Verwendung der zweiten Person in Röm  2 ,1 im Kontext der epideiktischen Redeform.7 Paulus unterscheide zwischen „those who listen to the speech from those who are outside the community in which the speech is given“8. Diese Beobachtung veranlasst Porter dazu, die Adressaten des Diskurses von Röm  1,18–32 doppelt zu be­ stimmen: „The discourse is addressed to an audience about another group. It is about τὸν ἕτερον (2.1).“9 Dieser „Andere“ werde durch die Rede von Röm  1,18–32 überführt bzw. verurteilt.10 Röm  1,18–32 müsse nun aber (wie die Parallele in SapSal, vgl. Kapitel V.1.2.) als Rede gelesen werden, in der scharf zwischen Juden und Griechen unterschieden werde. In Röm  1,18ff beginne Paulus mit einem „statement which stands in opposition to his Gentile mission and which impedes that mission.“11 Diese Rede müsse Paulus in 4 

Wolter, Römer, 161. Haacker, Römer, 67. 6 Vgl. Spitaler, Sünde, 115–128, der sich ausführlich der Anrede des „Du“ in Röm   2 widmet. Seine Untersuchung zielt in erster Linie darauf ab, zwischen dem Du von Röm  2 ,1 und 2,17 zu unterscheiden (vgl. aaO. 127f ). 7 Vgl. Porter, Argument, 219. 8 Ebd. 9 Ebd. 10  Vgl. ebd. 11 Ebd. 5 Vgl.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  2,1ff einholen, da sie ein „boundary surrounding the Jewish community“ be­ kräftige.12 In Röm  2,1–16 sieht Porter die eigentliche „refutation“ der Position von Röm  1,18–32.13 Röm  2 ,1–5 sei an eben eine solche Person adressiert „who makes such a speech or adheres to the convictions, beliefs and judgements it expresses“14. Zugespitzt ausgedrückt: In Röm  1,18–32 formuliere Paulus eine Rede, die ein Jude oder Judenchrist halten könnte, der über einen anderen – einen Heiden oder Heidenchristen – richtet. Diese Rede konterkariere Paulus in Röm  2 ,1. Porters Überlegungen zum rhetorischen Wechsel in Röm  2 ,1 müssten an anderen vergleichbaren Stellen im Röm  oder Corpus Paulinum verifiziert werden. Tatsächlich spielt die Etablierung eines ὁ ἕτερος im Gegen­ über der Gemeinde im Römerbrief, aber auch in anderen Briefen, v. a. den Korinther­ briefen, eine Rolle (vgl. den Exkurs weiter unten). Der „Umschwung“ in Röm  2 ,1 ist jedoch als Auftakt zu einer Zuspitzung der Argumentation von Röm  1,18–32 zu verste­ hen, denn nirgendwo deutet Paulus an, dass er in Röm  1,18–32 aus der Perspektive des judenchristlichen Gesetzeslehrers o. ä. argumentiert. Paulus differenziert noch nicht zwi­ schen Juden und Heiden und bindet die Warnung vor dem Richten in Röm  2 ,1–8 nicht an eine ausführliche Paränese.15 Die Gesetzesthematik behandelt er erst im folgenden Abschnitt, in dem er die Geltung des Gesetzes für Juden und Heiden angesichts der Sünde bestreitet. Röm  1,18–2,8 gehört zusammen, insofern hier grundsätzlich die Mög­ lichkeit des Menschen, auf eine Richtschnur zurückgreifen zu können, ausgeschlossen wird, sofern er Teil des verfallenen Menschheitskollektivs ist.16

Die Abgrenzung der in Röm  2,1 einsetzenden Anklage des „Du“ nach hinten ist schwierig. Insbesondere die Zugehörigkeit von Röm  2,9–11 wird in der For­ schung kontrovers diskutiert. So macht Thomas R. Schreiner auf die chiastische Struktur von Röm  2,6–11 aufmerksam,17 betont aber gleichwohl die argumen­ tative Funktion von Röm  2,11 für die Passage von Röm  2,12ff: „In verse 11 Paul introduces the reason why (γάρ, gar, for) all people will be judged according to their works: the impartiality of God.“18 Schreiner überlegt, ob γάρ in Röm  2,12 verstanden werden könne als „an inference drawn from God’s impartiality (i.e., God is impartial, therefore sinners will be judged by the standard they possess) rather than a ground for it“19, gibt aber zu bedenken, dass ein inferentieller Ge­ 12  AaO.

221. Vgl. aaO. 222. 14 Ebd. 15 Vgl. Haacker, Römer, 68. 16  Vgl. auch Starnitzke, Struktur, 88, der den Perspektivenwechsels in Röm  2 ,1 sogar als einen Grundzug des paulinischen Denkens bestimmen möchte: In Röm  2 ,1 werde „eine eigentümliche Verbindung von Gottesgericht und Selbstgericht (σεαυτὸν κατακρίνεις ) herge­ stellt, die für die folgenden Passagen leitend sein wird“ (aaO. 88). Die enge Verbindung zwischen Röm  1,32 und 2,1 erkennt auch Schreiner, Romans, 106, betont aber, dass der logische Zusammenhang von Röm  1,18–32 und 2,1 nur dann evident sei, wenn Röm  2 ,1 im Zusammenhang mit Röm  2 ,1–5 gewürdigt werde: Die Unentschuldbarkeit des angeredeten „Du“ ergebe sich erst daraus, dass es die gleichen Dinge tue, die es verurteile – also das, was Paulus in Röm  1,18–32 darstellt. Auch Spitaler, Sünde, 129–135 spricht sich schließlich gegen eine Identifizierung des „Du“ mit dem Juden von Röm  2 ,17 aus. 17 Vgl. Schreiner, Romans, 111. 18  AaO. 116. 19 Ebd. 13 

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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brauch von γάρ selten sei. Stattdessen schlägt er vor, Röm  2,12 „as an illustration or further explanation of God’s impartiality“ zu verstehen, sodass sich für γάρ in Röm  2,12 die Übersetzung „[i]n other words“20 nahelegen würde. Dann ist allerdings zu fragen, warum Schreiner den Einschnitt nicht – wie hier vorge­ schlagen – vor Röm  2,9 setzt, um die Funktion von Röm  2,11 für die folgende Passage deutlicher anzuzeigen, denn Röm   2,11 bildet eine unentbehrliche Prämisse zu Röm  2,12 f. Gewiss stellt Röm  2,9–11 ein Scharnier zwischen ­ Röm  2,1–8 und Röm  2,12ff dar und die chiastische Struktur von Röm  2,6–11 ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch sind die Verse Röm  2,9–11 eher Röm  2,12 zuzurechnen, da sie den Antagonismus von Juden und Griechen aus Röm  1,16f wieder aufgreifen und auf πᾶσαν ψυχὴν ἀνθρώπου anwenden. Sie gehen über die anthropologisch-pauschal gefärbte Anredeform in der 2. Person Singular (Röm  2,1–8) hinaus.21 Röm  2,1–8 kommt damit aus attentionaler Perspektive als erste conplexio der Argumentation des Römerbriefes in Frage: Paulus lenkt die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf die Anklage eines richtenden „Du“. Exkurs zur argumentationsstrategischen Tendenz der „Du“-Passagen Die Anrede eines σύ in Röm  2 ,1–8 ist Ausdruck der Argumentationsstrategie des Pau­ lus, Konfliktpotential auf eine von der Gemeinde abgehobene Abstraktionsebene zu dislozieren, um die Adressaten nicht direkt mit Konfliktfragen zu konfrontieren. Oft wird die Anrede des σύ im Kontext der Diatribe verortet.22 Unbenommen ist die Tat­ sache, dass die Passage rhetorisch stilisiert ist und keinen konkreten Gegner benennt (was für alle σύ -Passagen des Röm  der Fall ist), doch der Wechsel in die zweite Person Singular ist als übergreifendes Stilmerkmal auch in anderen Passagen des Römerbriefs und im ganzen Corpus Paulinum anzutreffen und es fällt auf, dass Paulus fast immer, wenn er ein nicht näher bestimmtes σύ anspricht, Meinungen taxiert, die im Gegensatz zu seiner Argumentation stehen. In Röm  2 ,1–8 redet Paulus ein „Du“ an, das den überheblichen Menschen repräsentiert (Röm  2 ,1a: ὦ ἄνθρωπε), der sich über den Anderen erhebt und ihn richtet (πᾶς ὁ κρίνων). Beide Näherbestimmungen, die Anrede als ἄνθρωπος und die Verallgemeinerung durch das Pronominaladjektiv πᾶς, sind charakteristisch für die Passagen des Römerbriefes, in denen Paulus nicht direkt mit seinen Adressaten kommuniziert, sondern theologisch re­ flektiert oder – wie in diesem Fall – eine Meinung anvisiert, die sich vom Gemeinde­ kollektiv abhebt. Mit dem σύ wird in Röm  2 ,1–8 nicht eine jüdische bzw. observante Haltung angegriffen, sondern die Menschheit im Allgemeinen in den Blick genommen. Spezifischer als in Röm  2 ,1–8 erscheint die Anrede der 2. Person in Röm  2 ,17–27 (vgl. Kapitel V.2.1.). Ziel dieser Passage ist die Identifizierung und Widerlegung einer 20 Ebd. 21 Vgl.

Hahn, Gesetzesverständnis, 31: „Das bedeutet, daß Paulus ganz bewußt in 1,18– 2,8 vom Menschen schlechthin spricht, ohne zunächst auf die in dem Ἰουδαίῳ πρῶτον (l,16c) zum Ausdruck kommende Sonderstellung des Juden einzugehen.“ 22  Haacker, Römer, 67 erklärt den „dialogische[n] Stil“ der Passage Röm  2 ,1ff vor dem Hintergrund des diatribischen Stils der paulinischen Briefe. Auch Michel, Römer, 112 er­ klärt den Wechsel der Anrede vor dem Hintergrund des paulinischen Diatribenstils und das διό in Röm  2 ,1 zur „Übergangs-Partikel“. Vgl. auch Spitaler, Sünde, 115–128.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

dem paulinischen Gemeindeideal und Evangelium widersprechenden Stimme, die meint, sich als jüdischer Gesetzeslehrer über die Heiden erheben zu können. Auch innerhalb der „Israel“-Kapitel Röm  9 –11 taxiert Paulus solche Einzelmeinun­ gen. In Röm  9,19–21 argumentiert er gegen ein σύ, das sich in eine Art Ataxie flüchtet, weil es glaubt, der Ratschluss Gottes stehe unabwendbar fest. In Röm  11,17–24 wendet Paulus sich an ein Du, das sich über die Erwählung Israels erheben möchte und – in der Bildersprache der Passage – „die Verbindung zur Wurzel kappt“. Auch innerhalb der paränetischen Passagen von Röm  14 taucht die Anrede eines σύ auf. Hier fokussiert Paulus konkrete Missstände, die sich aus der Gemeindewirklichkeit ergeben. Er fragt: Σὺ δὲ τί κρίνεις τὸν ἀδελφόν σου; ἢ καὶ σὺ τί ἐξουθενεῖς τὸν ἀδελφόν σου; (Röm  14,10a–b), überführt die Frage in eine allgemeine Reflexion und schließt mit einer erneuten Anrede an das σύ: εἰ γὰρ διὰ βρῶμα ὁ ἀδελφός σου λυπεῖται, οὐκέτι κατὰ ἀγάπην περιπατεῖς. μὴ τῷ βρώματί σου ἐκεῖνον ἀπόλλυε ὑπὲρ οὗ Χριστὸς ἀπέθανεν (Röm  14,15). Auch hier fällt die Tendenz der Du-Anrede negativ aus – Paulus versucht, eine fehlgeleitete Ethik zu korrigieren. Ein Blick in die anderen Paulusbriefe bestätigt den Befund. Zeitlich und thematisch nahe erscheint die Parallele in Gal 2,14, wo sich in der An­ rede eines „Du“ die Abwehr einer konkreten Opposition in der galatischen Gemeinde widerspiegelt.23 Paulus redet im Kontext seines autobiographischen Berichts Kephas mit ähnlichen Worten wie in Röm   2,17 an: εἰ σὺ Ἰουδαῖος ὑπάρχων ἐθνικῶς καὶ οὐχὶ Ἰουδαϊκῶς ζῇς, πῶς τὰ ἔθνη ἀναγκάζεις ἰουδαΐζειν; (Gal 2,14). Diese Anrede stellt einen Kulminationspunkt der Argumentation des Gal dar: Der Zwang zur Einhaltung der Speisegebote steht im diametralen Gegensatz zum Leben als Christ. Die gegnerische Position hat mit Petrus hier zum einzigen Mal im Corpus Paulinum einen greif baren, historischen Bezugspunkt. Auch im ersten Korintherbrief bedient sich Paulus der 2. Person Singular, um Einzel­ personen bzw. Einzelmeinungen in der Gemeinde zu benennen und zurückzuweisen. In seinen Überlegungen zur Ehe taxiert Paulus hin und wieder eine 2. Person Singular. Er kommt hier zu dem Schluss: τί γὰρ οἶδας, γύναι, εἰ τὸν ἄνδρα σώσεις; ἢ τί οἶδας, ἄνερ, εἰ τὴν γυναῖκα σώσεις; (1Kor 7,16) Damit tritt Paulus einer unüberlegten, voreiligen Scheidung entgegen. Und angesichts der drängenden Zeit rät er im Einzelfall: δέδεσαι γυναικί, μὴ ζήτει λύσιν· λέλυσαι ἀπὸ γυναικός, μὴ ζήτει γυναῖκα (1Kor 7,27). Noch auf­ schlussreicher für die Tendenz der σύ -Passagen im Römerbrief sind die Aussagen zur Teilnahme an heidnischen Gastmählern in 1Kor 8,9–13. Der allgemeinen Ermahnung an die ganze Gemeinde folgt die konkrete Schilderung des Falls, dass der schwächere Bruder ein σύ bei der Teilnahme an einem Tempelmahl beobachten könnte: ἐὰν γάρ τις ἴδῃ σὲ τὸν ἔχοντα γνῶσιν ἐν εἰδωλείῳ κατακείμενον, οὐχὶ ἡ συνείδησις αὐτοῦ ἀσθενοῦς ὄντος οἰκοδομηθήσεται εἰς τὸ τὰ εἰδωλόθυτα ἐσθίειν; (1Kor 8,10). Eine ähnliche paräne­ tische Funktion hat die plötzliche σύ -Anrede in 1Kor 14,17: σὺ μὲν γὰρ καλῶς εὐχαριστεῖς ἀλλ’ ὁ ἕτερος οὐκ οἰκοδομεῖται. Auch hier wird das Verhältnis zum Anderen in der Ge­ meinde beleuchtet – das σύ wird angesprochen, weil es um ein destruktives Fehlverhal­ ten gegenüber der übrigen Gemeinde geht, wodurch der Glaube und die gegenseitige Erbauung gemindert werden. Dass dieses Fehlverhalten nicht nur auf ethischer, sondern auch auf theologischer Ebene liegen kann, demonstriert eindrücklich die Passage von 1Kor 15,35–38. Hier wird deutlich, dass σύ und τις gelegentlich austauschbar sind, wenn sie Einzelmeinung repräsentieren: 23 

Auf die Parallelität von Gal 2,14 und Röm  2 ,17 wird in der Forschungsliteratur auffäl­ ligerweise nicht Bezug genommen.

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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(35) Ἀλλ’ ἐρεῖ τις. πῶς ἐγείρονται οἱ νεκροί; ποίῳ δὲ σώματι ἔρχονται; (36) ἄφρων, σὺ ὃ σπείρεις, οὐ ζῳοποιεῖται ἐὰν μὴ ἀποθάνῃ. (37) καὶ ὃ σπείρεις, οὐ τὸ σῶμα τὸ γενησόμενον σπείρεις ἀλλὰ γυμνὸν κόκκον εἰ τύχοι σίτου ἤ τινος τῶν λοιπῶν. (38) ὁ δὲ θεὸς δίδωσιν αὐτῷ σῶμα καθὼς ἠθέλησεν, καὶ ἑκάστῳ τῶν σπερμάτων ἴδιον σῶμα. Paulus greift in diesem Beispiel die Frage eines τις auf und wendet sie in eine konfron­ tative σύ -Anrede, mit der die Irrlehre bzw. unsinnige Anfrage des Du zurückgewiesen

werden soll.24 Das theologische bzw. ökodomische Programm, das der Bekämpfung von Einzelmeinungen zugrunde liegt, versinnbildlicht sich im Ideal einer organischen Gemeinde, wie es z. B. in der Leibmetapher von 1Kor 12 beschrieben wird: Die sich vom Leib abwendenden Körperteile sprechen in ebenso fragmentarischer Art und Wei­ se voneinander, wie Paulus seine theologischen Kontrahenten im Römerbrief anspricht – in der zweiten Person: οὐ δύναται δὲ ὁ ὀφθαλμὸς εἰπεῖν τῇ χειρί. χρείαν σου οὐκ ἔχω, ἢ πάλιν ἡ κεφαλὴ τοῖς ποσίν. χρείαν ὑμῶν οὐκ ἔχω (1Kor 12,21). Wägt man die Tendenzen der σύ -Passagen in Röm.  Gal und 1Kor ab, so zeichnet sich eine Systematik in der Verwendung der 2. Person Singular ab: Dass es sich bei den Du-Passagen von Röm  2 ,1–8 und Röm  2 ,17–29 um stilisierte, diatribenhafte Argumen­ tationen handele, die sich an fiktive Gesprächspartner wenden, erweist sich als unbefrie­ digende Erklärung für die Verwendung des σύ. Die 2. Person Singular stellt vielmehr einen attentionalen Marker dar, mit dem Paulus stereotyp bestimmte Einzelmeinungen und Extrempositionen kennzeichnet, die seiner Auffassung nach der οἰκοδομή scha­ den.25 Den Adressaten will er auf diese Weise ermöglichen, die gegnerische Meinung zu identifizieren und argumentativ zu bewältigen.

Wenn sich Röm  2,1–8 aus attentionaler Perspektive als conplexio abzeichnet, muss nun aus struktureller Perspektive gefragt werden, inwiefern Röm  1,18–32 als Argumentationsstruktur zur conplexio von 2,1–8 hinführt. Argumentations­ strukturen im rhetorischen Sinne beruhen auf Segmentierung, kausaler Inter­ dependenz und einer konzeptionellen Kohärenz. Röm  1,18–2,8 weist diese Merkmale auf. 24  Repräsentiert auch das Pronomen τις eine Einzelstimme im Gegenüber zur Gemeinde, kommen weitere markante Stellen aus 1Kor hinzu. So separiert Paulus in 1Kor 3,18 ein τις, das meint, weise zu sein, von der restlichen Gemeinde und widerlegt es: Μηδεὶς ἑαυτὸν ἐξαπατάτω. εἴ τις δοκεῖ σοφὸς εἶναι ἐν ὑμῖν ἐν τῷ αἰῶνι τούτῳ, μωρὸς γενέσθω, ἵνα γένηται σοφός. In 1Kor 6,1 ist mit τις jemand angesprochen, der Rechtsstreitigkeiten vor heidnischen Gerichten klärt: Τολμᾷ τις ὑμῶν πρᾶγμα ἔχων πρὸς τὸν ἕτερον κρίνεσθαι ἐπὶ τῶν ἀδίκων καὶ οὐχὶ ἐπὶ τῶν ἁγίων; In 1Kor 4,6–8 ist es dann das Pronominaladjektiv εἷς , das sich im Kontext der korinthischen Spannungen von der Gemeinde separiert und ihr damit schadet: (6) Ταῦτα δέ, ἀδελφοί, μετεσχημάτισα εἰς ἐμαυτὸν καὶ Ἀπολλῶν δι’ ὑμᾶς, ἵνα ἐν ἡμῖν μάθητε τὸ μὴ ὑπὲρ ἃ γέγραπται, ἵνα μὴ εἷς ὑπὲρ τοῦ ἑνὸς φυσιοῦσθε κατὰ τοῦ ἑτέρου. Dieses εἷς wird dann wiede­ rum als σύ angesprochen: (7) τίς γάρ σε διακρίνει; τί δὲ ἔχεις ὃ οὐκ ἔλαβες; εἰ δὲ καὶ ἔλαβες, τί καυχᾶσαι ὡς μὴ λαβών; 25 Diese „indirekte Interaktionsform“ mit Gegnern bzw. opponierenden Meinungen kann auch im Rahmen der Performanztheorie erörtert werden, wie sie Oestreich, Perfor­ manzkritik hinsichtlich der „Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe“ unter­ sucht (vgl. aaO. 87–136). Die Anrede des „Du“ in Röm  2 ,1–8 und 2,17–29 (die Oestreich selber nicht untersucht) könnte dem Typus der „Ermahnung einzelner Personen“ zugeordnet werden, insofern Paulus eine Einzelstimme fingiert, die der Gemeinde gegenübersteht (vgl. insbesondere das Diagramm zur Steuerung der Interaktion zwischen den römischen Chris­ ten und Phoebe bei Oestreich, Performanzkritik, 103).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Zur Segmentierung. Der Text beansprucht schon aufgrund seiner apokalypti­ schen (Röm  1,18) Emphase und bildlichen Dichte Evidenz, verfügt jedoch auch über eine argumentative force, die über die bloße Assoziation oder „Erzählung“ hinausgeht.26 Das zeigt sich an der Verwendung von markanten Kausalparti­ keln, die den Text gliedern: In Röm  1,18 gibt Paulus das Thema des Abschnitts an. In Röm  1,19 und Röm  1,21 bietet er mit der Kausalpartikel διότι zwei signi­ fikante Einschnitte. In Röm  1,24 und Röm  1,26 sind die Kausalpartikel διό und διά mit den charakteristischen παρέδωκεν-Wendungen verbunden. Zur Interdependenz der Segmente 27 Mit Röm  1,18 wird das Leitmotiv der Passa­ ge von Röm  1,18–32 angegeben:28 Paulus stellt die These von der Offenbarung 26  Freilich ist die Gliederung von Röm  1,18–32 höchst umstritten. Eckstein kommt im Zuge seiner Überlegungen zum Verhältnis der Offenbarung des Evangeliums und des Zorns Gottes in Röm  1,16f und 1,18 auch auf die „Argumentationsstruktur“ (Eckstein, Erwägun­ gen, 88) von Röm  1,18–32 und 2,1ff zu sprechen. Röm  1,18 bestimmt er als „Grundthese“ (aaO. 88), die Argumentation von Röm  1,19–2,16 als eine Art Explikation der „einzelnen Elemente der Grundthese“ (aaO. 88). Röm  1,19f überschreibt Eckstein mit „Die erschlossene ἀλήθεια“, Röm  1,21–32 mit „Die ἀσέβεια und ἀδικία der Menschen“. Diese gliedere sich noch einmal in „These: ἐν ἀδικίᾳ κατεχόντων“ (Röm  1,21), „Entfaltung (in drei Schritten)“ (Röm  1,22–24.25–27.28–31) und „Abschluß (s. Korrespondenz mit v. 21)“ (Röm  1,32). So­ dann leite Röm  2 ,1ff unter der Überschrift „Die Universalität der ἀσέβεια und ἀδικία“ zu Röm  2 ,5ff über: „Die Offenbarung des Zorngerichts vom Himmel“ (aaO. 88). Bei Eckstein stellt der futurische Aspekt des Zorns Gottes eine zentrale Prämisse der Strukturanalyse dar. Diese lässt sich jedoch nur schwerlich mit der geschichtlichen Preisgabe der Menschen (παρέδωκεν) in Korrelation bringen, so dass Eckstein, während er den futurischen Aspekt des Zorns Gottes akzentuiert, die παρέδωκεν-Passage theologisch marginalisiert. Ist es bei Paulus ja gerade Gott, der die Menschen preisgibt, scheint es bei Eckstein so, als ginge die Preisgabe in der „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ auf und beweise lediglich, dass „ausnahmslos alle ἄξιοι θανάτου sind“ (aaO. 87f ). Das ist auch der Grund dafür, dass Eckstein in Röm  1,21 mit einer „These“ neu einsetzen muss, um Röm  1,24.26.28 in die Argumenta­ tion integrieren zu können. So beschreibt Eckstein letztlich nur einzelne Motive oder „Ele­ mente“ (aaO. 88), ohne sie konstruktiv auf die Ausgangsthese (Röm  1,18f ) beziehen zu kön­ nen. Porter, Argument, 215 bestimmt Röm  1,18–32 als „a self-contained discourse similar to that used in Hellenistic Judaism in order to establish, maintain and strengthen a well-­ defined boundary and distance between the Jewish community and the Gentiles“, der in Röm  2 ,1–16 „as well as through Romans as a whole“ konterkariert werde (vgl. ebd). Ausge­ hend von den aristotelischen Redegattungen bestimmt Porter Röm  1,18–32 als epideiktische Redeform (vgl. aaO. 216), greift auf Strukturelemente der Rhetorica ad Herennium zurück und gliedert Röm  1,18–32 folgendermaßen: Bei Röm  1,18 handele es sich um die „Introduction“, bei Röm  1,19–21 um ein „Statement of the Facts or Narratio“, bei Röm  1,22–31 um die „Divisio“, bei Röm  1,32 um „Conclusions“ (aaO. 217–219, Hv. i. O.). Dabei geht Porter vor allem von stilistischen, d. h. i. e. S. rhetorischen Merkmalen aus, z. B. eine prägnante Darstellung des Themas in der Introduction oder Wiederholungen von Wortverbindungen und Motiven in der Divisio (vgl. aaO. 217). Vor dem Hintergrund der rhetorischen Argumentationstheorie, wie sie hier erschlossen worden ist, erscheint es jedoch problematisch, dass in Porters Gliede­ rung keine conplexio i. S. einer konkreten Interaktion mit den Kommunikationspartnern in Sicht ist. Röm  2 ,1–8 klammert Porter aus seiner Analyse aus. 27  Vgl. hierzu Porter, Argument, 217–220 und Popkes, Auf bau, 492–496. 28  Michel, Römer, 96 bestimmt Röm   1,18 als „programmatische[n] Lehrsatz“ einer „Missionspredigt“ des Paulus. Popkes geht von einer „Eröffnungsthese“ in Röm  1,18 und einer „Art Schlußbemerkung“ in Röm  1,32 aus (vgl. Popkes, Auf bau, 492).

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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des Zorns Gottes auf und fällt gleichzeitig ein Urteil über die Ungerechtigkeit und Lüge der Menschen.29 Diese These korrespondiert mit der conplexio von Röm  2,1–8: Der dort angesprochene Mensch (Röm  2,1) ist Teil des in Röm  1,18 verurteilten Menschheitskollektivs. In Röm  1,19f scheint Paulus eine erste Begründung (Röm  1,19a: διότι; 1,19b: γάρ; 1,20a: γάρ) zu Röm  1,18 zu formulieren, arbeitet jedoch nicht die Offenba­ rung des Zorns an sich auf, sondern macht vielmehr deren Anlass plausibel und stellt fest, dass die ὀργὴ θεοῦ angemessen sei, da der Mensch die Gotteserkennt­ nis zurückweise:30 Obwohl ihm die Werke Gottes31 seit Anbeginn der Schöp­ fung vor Augen stehen, wende er sich von Gott ab.32 Auch wenn im Hinter­ grund die alttestamentliche Dynamik von Abkehr (Israels) und Zorn ( Jahwes) steht,33 geht es um den Erweis der Unentschuldbarkeit aller Menschen (Röm  1,20: εἰς τὸ εἶναι αὐτοὺς ἀναπολογήτους), was die Passage mit der conplexio von Röm  2,1–8 verbindet: Mit der Argumentation von Röm  1,18–32 soll ausge­ schlossen werden, dass es eine Außenperspektive auf die Verfehlungen des Menschen gibt. Alle sind Teil des verfallenen Menschheitskollektivs. Von Röm  1,19f aus nimmt Paulus drei Ebenen in den Blick, die jeweils durch παρέδωκεν voneinander abgegrenzt werden. Während in Röm  1,18–20 vor al­ lem theologische Begriffe eingeführt und miteinander in Beziehung gesetzt wurden (Röm  1,18: ὀργὴ θεοῦ, 1,19: τὸ γνωστὸν τοῦ θεοῦ, 1,20: τὰ γὰρ ἀόρατα αὐτοῦ), setzt Paulus nun die Menschen und Gott als Akteure der Verfallsge­ schichte in Szene (Röm  1,21: γνόντες τὸν θεὸν […] ἐδόξασαν ἢ ηὐχαρίστησαν).34 Dabei wird nicht einfach nur die menschliche, „immanente Sicht der Wirklich­ keit“35 in den Blick genommen, sondern vielmehr wird das kausale Gefüge von 1,21–32 „erzählt“ bzw. Röm   1,18–20 weitergehend interpretiert.36 In Röm   29 Vgl. Haacker, Römer, 53: „Der Gegensatz von Wahrheit und Ungerechtigkeit […] setzt das biblische Verständnis von Wahrheit voraus, das kognitive und soziale Bezüge in sich vereint.“ 30  Schreiner liest Röm  1,18b als Begründung für Röm  1,18a: Die Offenbarung des Zorns Gottes werde durch die Unterdrückung der Wahrheit (Röm  1,18b) bewiesen („because“, vgl. Schreiner, Romans, 83). Schreiner muss dazu eine implizite Begründung einschalten: „(And we know that they really do suppress the truth), because they know God (19a)“ (ebd.). Röm  1,19b.20a stelle wiederum eine Begründung für Röm  1,19a dar: Die Werke Gottes seien Grund für seine Erkenntnis (vgl. ebd.). Röm  1,20b sei ein „result“: Den Menschen fehle jede Entschuldigung für die Unterdrückung der Wahrheit (vgl. ebd). Zum traditions­ geschichtlichen Umfeld dieser „natürlichen Theologie“ vgl. den Exkurs bei Haacker, Rö­ mer, 54 f. 31  Mit den Werken sind offenbar die Geschichtstaten Gottes gemeint (vgl. Michel, Rö­ mer, 100). 32 Vgl. Popkes, Auf bau, 495: Es gehe um die „Überführung des Verurteilten“. 33 Vgl. Haacker, Römer, 52 f. 34 Vgl. zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Motivs der Herrlichkeit Gottes und der Undankbarkeit der Menschen Haacker, Römer, 56 f. 35  Starnitzke, Struktur, 77. 36 Vgl. Michel, Römer, 103: „[…] drei verschiedene Beschreibungen des gleichen Tat­

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

„berichtet“ Paulus, wie es zum Fall der Menschen und zum Zorn Gottes ge­ kommen ist: Die παρέδωκεν-Passagen sind als Entfaltung und Paradigmen des Gerichtsgedankens zu verstehen, wobei im Zentrum die „Vertauschung“ von Ver­ gänglichkeit und Unvergänglichkeit steht.37 Im ersten Abschnitt Röm  1,22–24 wird die ὀργὴ θεοῦ als Gottes unmittelbare Gegenreaktion auf die Zurückwei­ sung der Erkenntnis Gottes beschrieben. Die Behauptung des Menschen, weise zu sein, und die Tatsache, dass er die Herrlichkeit Gottes mit den Abbildern vertauscht habe, stellen Beispiele für seine Verblendung dar. Gottes Zorn zeigt sich in der Preisgabe der Menschen an die ἀκαθαρσία. Im zweiten Abschnitt Röm  1,25–27 wird der Zorn Gottes anhand der Preisgabe an die „unwürdigen Leidenschaften“ beschrieben – dies stellt eine Reaktion auf die Vertauschung der Wahrheit Gottes mit der Lüge dar. Röm  1,26b.27 dienen dabei der Veran­ schaulichung dieser „unwürdigen Leidenschaften“: Die homosexuellen Prakti­ ken sind Ausdruck des Zorns Gottes über die Ungerechtigkeit des Menschen.38 In einer letzten Veranschaulichung in Röm  1,28–31 gibt Gott die Menschen dem ἀδόκιμος νοῦς preis, so dass sie ihre Taten nicht mehr abwägen können und sich gar nicht anders verhalten können als sich im ethisch-sozialen Bereich zu verfehlen.39 In Röm  1,32 spitzt Paulus die narrative Entfaltung des Zorns Gottes dahingehend zu, dass der Mensch eigentlich zur Gotteserkenntnis fähig wäre, weil er die Rechtsordnung Gottes kennt und um den Tun-Ergehen-Zusam­ menhang von τὰ τοιαῦτα und θάνατος weiß,40 sich aber dennoch nicht zur Um­ kehr, sondern zur konsequenten Opposition zu Gott entschließt. Die narrativen und emphatischen Elemente machen es schwierig, die argu­ mentative Funktion der Passage Röm  1,21–32 mit den Mitteln der antiken Ar­ gumentationstheorie zu erfassen. Wiard Popkes meint, Paulus hätte sich mit der Argumentation bis einschließlich Röm  1,24 begnügen können, denn Röm  1,24 bilde die Abschlussüberlegung zur „Ver­ antwortlichkeit“ des Menschen.41 Mit Röm  1,25–32 verfolge Paulus ein zweifaches Ziel: Er könne die „Sündenkatastrophe“ rhetorisch noch eindringlicher beschreiben und er könne den jüdischen Gesprächspartner subtil in die Nähe der heidnischen Laster bestandes“. Schreiner, Romans, 83 nimmt keine explizite Zuordnung von Röm  1,21–23 vor, meint aber, dass Röm  1,21–23 von Röm  1,20b abhängig ist. Röm  1,24–32 geht bei Schreiner in zwei Argumentationsgängen auf. In Röm  1,24–27 sei das zentrale Argument, dass Gott die Menschen der „sexual sin“ übergeben habe (Röm  1,24), weil sie sich von Gott abgekehrt und den Götzen zugewandt haben (Röm  1,25). Röm  1,26f wird als Folge der Ab­ kehr (Röm  1,25) bestimmt. Röm  1,25 diene als „middle term of the argument between ver­ ses 24 and 26–27“ (Schreiner, Romans, 91). Die Abkehr von Gott sei Prämisse für beide Zusammenhänge. Röm  1,28–32 werde vom gleichen Thema bestimmt. Hier ist die Preisga­ be (Röm  1,29–32) ebenfalls „rooted in a rejection of God“ (aaO. 91) in Röm  1,28. 37 Vgl. Starnitzke, Struktur, 78–83. 38 Vgl. Haacker, Römer, 60. 39  Zum Begriff τὰ μὴ καθήκοντα vgl. aaO. 61. 40 Auch Haacker, Römer, 52 betont die „inclusio“ zwischen Röm  1,18 und 1,32. 41 Vgl. Popkes, Auf bau, 496.

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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rücken, um ihn in Röm  2 ,1ff dieser zu überführen.42 Popkes bestimmt Röm  1,18–32 als „juridische Rede im Rahmen eines taktisch-psychologischen Vorhabens prophetischer Art“, die auf „konventionelles jüdisches Material“ zurückgreife, um den jüdischen Di­ alogpartner zunächst im Unklaren über das Ziel der Ausführungen zu belassen, dann aber „den Torafrommen der Heillosigkeit zu überführen“.43 Auch wenn Popkes’ Ausle­ gung damit stark von Röm  2 ,17 beeinflusst ist und einen jüdischen Gesprächspartner voraussetzt (was angesichts der universalgeschichtlichen Perspektive von Röm  1,18–32 und der Anrede in Röm  2 ,1 unwahrscheinlich ist), trägt seine Analyse dazu bei, den argumentativen Status von Röm  1,21–32 genauer zu bestimmen. Laut Popkes bestechen die Ausführungen von Röm  1,25–32 – vor allem aber Röm  1,32, wenn gezeigt werde, dass der Täter und dessen „Sympathisant“ von der „Todesstrafe“ und „Satzung“ Gottes betroffen seien – durch ihre „Zielgerichtetheit“44 hinsichtlich der Argumentation von Röm  2 ,1 ff. „Zentrales Stichwort“ der Argumentation sei „unentschuldbar“, die Ziel­ marke von Röm  1,18–32 sei unbedingt in Röm  2 ,1 zu sehen.45

Es handelt sich bei Röm  1,21–32 definitiv nicht um bloßen Redeschmuck, son­ dern um eine persuasive Aneignung und Fortführung des Begründungsgefüges von Röm  1,18–20 und eine Vorbereitung der conplexio von Röm  2,1. Der Rück­ bezug auf die vorfindliche Verirrung des Menschen veranschaulicht die fakti­ sche Schlechtigkeit und Verlorenheit des Menschen, wie sie in Röm  1,18–20 behauptet wurde.46 Die Verfehlung des Menschen an sich wird dabei nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Inhalt des Zorngeschehens verstanden. Die ὀργὴ θεοῦ wird durch die Abkehr des Menschen von seinem Schöpfer, seine fehlge­ leitete Erkenntnis und – noch stärker – die Verweigerung der Gott gebühren­ den Ehre, die sich aus der rechten Erkenntnis ergeben müsste, provoziert. Dass der Zorn Gottes sich über den Menschen entlädt, ist an den faktischen Verfeh­ lungen, wie sie in Röm  1,21–32 dargestellt werden, erkennbar. Die argumenta­ tive Funktion der παρέδωκεν-Passagen changiert also zwischen confirmatio – in­ sofern sie zeigen, dass Gottes Zorn sich tatsächlich in der Welt manifestiert und eine Reaktion auf die Abkehr des Menschen von Gott darstellt – und exornatio – insofern sie eine gewisse Redundanz aufweisen, auf loci communes rekurrieren und zur conplexio überleiten. Röm  2,1–8 spitzt den universalen ethischen Verfall der Menschen als conplexio auf ein Gegenüber zu. Paulus hebt hervor, dass die Verurteilung des anderen (τὸν ἕτερον) unmöglich sei, da sie mit der eigenen Verurteilung in eins fiele (σεαυτὸν κατακρίνεις). 42 

Vgl. aaO. 497. 499. 44  Vgl. aaO. 498. 45  Vgl. aaO. 500. 46  Vgl. auch Michel, Römer, 96: „Er [Gott] schickt nicht wunderbare Plagen und apo­ kalyptische Zeichen, sondern läßt die Schuld und die Verfehlung der Heiden an ihnen selbst zur Auswirkung kommen. In ihrer eigenen Existenz liegt das an ihnen vollzogene Gericht“ (Hv. i. O.). Vgl. auch aaO. 104: „Der Zorn Gottes ist zwar ein unanschauliches Ereignis, kann aber an seinen Wirkungen aufgewiesen werden.“ 43  AaO.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Damit spricht Paulus in Röm  2 ,1 sehr grundsätzlich einen Missstand an, der eigentlich in paränetischen Kontexten zu erwarten wäre: das Richten. So taucht κρίνειν innerhalb des Römerbriefes noch einmal in Röm  14,10 (σὺ δὲ τί κρίνεις τὸν ἀδελφόν σου;) oder Röm  14,13 ( μηκέτι οὖν ἀλλήλους κρίνωμεν· ἀλλὰ τοῦτο κρίνατε μᾶλλον, τὸ μὴ τιθέναι πρόσκομμα τῷ ἀδελφῷ ἢ σκάνδαλον) auf, wo es um die vermeintliche Überlegenheit der Starken gegenüber den Schwachen geht – beide Male ist das Verb eingebunden in eine Weisung an die Gemeinde: in Röm  14,10 (wie in Röm  2 ,1–8) in der Verbindung mit σύ, in Röm  14,13 als Selbstaufforderung. Dies – wie auch die generelle Tendenz der σύ -­ Passagen im Corpus Paulinum – legt für Röm  2 ,1–8 nahe, dass es sich um ein konkretes Problem handelt, das Paulus unter den römischen Adressaten vermutet.47

Die conplexio beruht in erster Linie auf dem Beweis der Unentschuldbarkeit des Menschen (Röm  1,20.32): Der Mensch von Röm  2,1 gehört zwangsläufig zum Menschheitskollektiv, über das sich der Zorn Gottes entladen hat und entlädt. Röm  2,3–5 nimmt nun aber auch die μετάνοια in den Blick, die durch das χρηστὸν τοῦ θεοῦ ermöglicht wird, was sich dem, der sich anmaßt, zu richten, aber nicht erschließt. Röm  2,6–8 schließt die conplexio ab und nimmt noch ein­ mal explizit Bezug auf die Unterdrückung der Wahrheit und die Ungerechtig­ keit der Menschen, die in Röm  1,18 behauptet wurde: τοῖς δὲ ἐξ ἐριθείας καὶ ἀπειθοῦσιν τῇ ἀληθείᾳ πειθομένοις δὲ τῇ ἀδικίᾳ ὀργὴ καὶ θυμός (Röm  2 ,8). Damit wird die Möglichkeit des Richtens ebenso zurückgewiesen wie eine libertinis­ tische oder fatalistische Haltung, als ob aus dem dreifachen παρέδωκεν geschlos­ sen werden könnte, dass der Mensch der ὀργὴ θεοῦ schutzlos ausgesetzt sei und sich so für seine Verirrung entschuldigen könne. Vielmehr wird auch die μετάνοια dem Menschen durchaus von Gott her ermöglicht (Röm  2 ,4a), jener müsste sich aber zumindest für sie empfänglich zeigen. Dabei stellen sich Ver­ härtung (σκληρότης) und Widerständigkeit des Herzens (ἀμετανόητος καρδία) (Röm  2,5) Gottes Führung entgegen, womit auf Röm  1,19f angespielt wird: Die Erkenntnis Gottes ist möglich, der Mensch wendet sich jedoch ab. Die Möglichkeit zur Umkehr bleibt daher im hiesigen Argumentationskontext nur eine theoretische: Der Text ist darauf hin zugespitzt, die in Röm  2,1 angespro­ chene, richtende Einzelstimme im Menschheitskollektiv von Röm  1,18–32 zu verorten und dadurch zum Schweigen zu bringen. Zur Kohärenz der Argumentation. Während Röm  1,18–20 ein argumentatives, kausales Grundgerüst darstellt, in dem die Angemessenheit des Zorns Gottes begründet wird, hat es sich als schwierig erwiesen, die argumentative Funktion von Röm  1,21–32 genau zu bestimmen, da die Passage zwischen confirmatio und exornatio changiert. Für Röm  1,18–2,8 kann trotz dieser Unschärfe festgestellt werden, dass es sich um eine lineare Argumentationssequenz handelt, die Schritt für Schritt zur conplexio von Röm  2,1–8 hinführt. In Anlehnung an das Schema der Rhetorica ad Herennium ließe sich die Argumentation folgendermaßen dar­ stellen: 47 

Vgl. auch Spitaler, Sünde, 129 f.

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

Röm  1,18

expositio

Röm  1,19f

ratio

Röm  1,21–32

confirmatio/ exornatio?

Röm  1,21–24 Röm  1,25–27 Röm  1,28–31 Röm  1,32

Röm  2 ,1–8

confirmatio/ exornatio1 confirmatio/ exornatio 2 confirmatio/ exornatio3 confirmatio/ exornatio4 conplexio

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Gottes Zorn offenbart sich über Ungerechtig­ keit und Unwahrheit aller Menschen. Angemessenheitsargument: [Das ist angemes­ sen, weil] Gott den Menschen das, was von ihm erkannt werden kann, offenbart hat. Die Verfehlung des Menschen ist Ausdruck für den Zorn Gottes und schließt jede Außen­ perspektive aus. Gottes Zorn offenbart sich in der Preisgabe. (παρέδωκεν Röm  1,24) Gottes Zorn offenbart sich in der Preisgabe. (παρέδωκεν Röm  1,26) Gottes Zorn offenbart sich in der Preisgabe. (παρέδωκεν Röm  1,28) Die Menschen sympathisieren mit ihrer Verfehlung trotz der Kenntnis der Rechts­ ordnung Gottes, die diese mit dem Tod sanktioniert. Das Du kann nicht über den anderen richten, denn es ist (als Mensch) in das Gefälle von Zorn und Verfehlung involviert.

Als Skopus der in Röm  1,18 beginnenden Passagen erweist sich aus argumenta­ tionstheoretischer Perspektive Röm  2,1–8.

1.2. Das programmatische Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8 Obwohl Paulus den Verfall der Menschheit in Röm  1,18–2,8 nirgendwo expli­ zit mit der Wortfamilie vom Stamm ἁμαρτ- in Verbindung bringt, führt er ei­ nen „Pool“ von Begriffen ein, die im weiteren Verlauf der Argumentation des Römerbriefes mit der Sünde in Verbindung gebracht werden. 1. Röm  1,18: ἀσέβειαν καὶ ἀδικίαν ἀνθρώπων τῶν τὴν ἀλήθειαν ἐν ἀδικίᾳ […] Die ἀσέβεια taucht in einem zentralen Abschnitt der Abraham-Auslegung auf: In der Zusammenstellung von Röm  4,4f und 4,6–8 wird die Gottlosigkeit mit der Sünde und den Gesetzesübertretungen parallelisiert. 2. Röm  1,21: οὐχ ὡς θεὸν ἐδόξασαν ἢ ηὐχαρίστησαν […] Dass der Mensch Gott nicht die Ehre erweise, ist Gegenstand der christologischen Argumentation von Röm  3,21ff: Hier wird die „Ermangelung der Ehre Gottes“ di­ rekt mit der Sünde assoziiert (Röm  3,23: πάντες γὰρ ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ). 3. Röm  1,24: Διὸ παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεὸς ἐν ταῖς ἐπιθυμίαις τῶν καρδιῶν αὐτῶν εἰς ἀκαθαρσίαν τοῦ ἀτιμάζεσθαι […] Der Begriff ἐπιθυμία ist zentral für die Argumentation von Röm  7,7–25a: Die Sünde instrumentalisiert das Gesetz und weckt durch es die ἐπιθυμία (Röm  7,7f ).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

4. Röm  1,25a: οἵτινες μετήλλαξαν τὴν ἀλήθειαν τοῦ θεοῦ ἐν τῷ ψεύδει […] Dadurch, dass der Mensch als Lügner überführt wird, erweist sich Gott in Röm  3,7 als wahrhaftig. 5. Röm  1,28: οὐκ ἐδοκίμασαν τὸν θεὸν ἔχειν ἐν ἐπιγνώσει […] Unter dem Begriff ἐπίγνωσις ordnet Paulus in Röm  3,20 die Begriffe νόμος und ἁμαρτία einander zu: Durch das Gesetz werde die Sünde erkennbar. 6. Röm  1,29: πεπληρωμένους πάσῃ ἀδικίᾳ πονηρίᾳ πλεονεξίᾳ κακίᾳ, μεστοὺς φθόνου φόνου ἔριδος δόλου κακοηθείας, ψιθυριστὰς […] Das Stichwort ἀδικία wird in Röm  3,9 und 6,13 mit dem Sündenbegriff in Verbin­ dung gebracht.

Diese begrifflichen Parallelen stehen in einer auffälligen Spannung zu dem Be­ fund, dass Paulus den Sündenbegriff in Röm  1,18–32 nicht explizit verwendet. Handelt es sich um einen Zufall oder hat dieses Schweigen programmatischen Charakter? Es gibt Hinweise darauf, dass die Vermeidung des Sündenbegriffs in Röm  1,18–­2,8 mit dem besonderen Verhältnis von Sünde und Gesetz zusam­ menhängt, wie Paulus es ab Röm  2,12 in den Blick nimmt. In Röm  1,18–2,8 argumentiert Paulus explizit auf einer anthropologischen Ebene (Röm  1,18), auf der er noch nicht zwischen Juden und Heiden unterscheidet, sondern bewusst Abstand von der in Röm  1,16f getroffenen Unterscheidung nimmt. Diese uni­ versale Ausrichtung der Argumentation hat eine Parallele in SapSal 13–15.48 Tatsächlich überschneiden sich einzelne Begriffe und Motive, aber auch die argumentative Strategie von SapSal 13–15 ähnelt der von Röm  1,18–32. SapSal 13–1549 ist folgendermaßen aufgebaut: Es liegt ein argumentatives Grundgerüst (SapSal 13,1–10) vor, in dem den Heiden vorgeworfen wird, dass sie die Gotteserkennt­ nis, obwohl sie ihnen grundsätzlich offen steht, nicht ergreifen. SapSal 13,1f stellt die zentrale These dar: Alle Menschen (πάντες ἄνθρωποι), die statt Gott die Elemente als Götter verehren, sind töricht ( μάταιοι). Es folgt eine mehrstufige Argumentation, um die Angemessenheit dieses Urteils zu beweisen. Unmittelbar an SapSal 13,1f sind zwei Konditionalgefüge angeschlossen, die die verkannte Gotteserkenntnis aufgreifen und die jeweils theologisch bzw. anthropologisch weitergeführt und begründet werden. Verkannte Gotteserkenntnis: SapSal 13,3a: εἰ μὲν τῇ καλλονῇ […] γνώτωσαν πόσῳ τούτων […] Anthropologische Begründung: SapSal 13,3b: ὁ γὰρ τοῦ κάλλους […] Verkannte Gotteserkenntnis: SapSal 13,4: εἰ δὲ δύναμιν καὶ ἐνέργειαν […] νοησάτωσαν ἀπ᾽ αὐτῶν πόσῳ […] Anthropologische Begründung: SapSal 13,5: ἐκ γὰρ μεγέθους καὶ καλλονῆς […] SapSal 13,3a und 13,4 fungieren als direkte Begründungen (i. S. von rationes) für die Verurteilung der Menschen in SapSal 13,1 und werden ihrerseits durch weitere Begrün­ dungen in SapSal 13,3b und 13,5 bestätigt (als confirmationes rationis). Mit SapSal 13,6 48 Vgl. Linebaugh, Relationship, insbesondere 214–217, vgl. zum Rezeptionspotential der Schrift Bliscke, Sapientia, 273–275. 49  Vgl. zum Auf bau von SapSal und zur Stellung des Abschnitts im Gesamtauf bau der Schrift Niebuhr, Einführung, 19–21.

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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wird ein Einwand geltend gemacht: Die Menschen könnten vielleicht (ὅμως ) irren und würden Gott gerne finden, können es aber nicht, so dass sie die Gotteserkenntnis unver­ schuldet verfehlen. Selbst für diese Behauptung wird eine ratio vorgebracht (SapSal 13,7): Die Menschen lassen sich vielleicht nur von der Schönheit der Schöpfung über­ wältigen, was impliziert, dass Gott selbst für die Verirrung verantwortlich sein könn­ te.50 Dieser Einwand wird schroff zurückgewiesen (SapSal 13,8f ): Die Menschen könn­ ten schon längst (τὸν τούτων δεσπότην πῶς τάχιον οὐχ εὗρον;) zu Gott vorgedrungen sein, wenn sie nur gewollt hätten. Ihre fehlende Gotteserkenntnis beruht eindeutig auf eigenem Verschulden, die Anbetung der „toten Dinge“ etc. resultiert aus einer Ver­ tauschung von Schöpfer und Geschöpf (vgl. SapSal 13,10: ἔργα χειρῶν ἀνθρώπων statt SapSal 13,7: τοῖς ἔργοις αὐτοῦ). Zwei „Beispielerzählungen“ schließen direkt an dieses argumentative Grundgerüst an und führen eindrücklich vor Augen, dass der Mensch für die Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf selber verantwortlich ist, weil er es eigentlich besser weiß. Bei dem ersten – für alttestamentliche Götzenpolemiken typischen 51 – Bild vom Handwerker bzw. Schnitzkünstler (SapSal 13,11–19) gehen Narration und Kommentar fließend inei­ nander über (vgl. SapSal 13,13 f.16.18). Das zweite Beispiel vom Schiffsreisenden, der ein Stück Holz anbetet, statt auf die Weisheit Gottes zu vertrauen, die aus dem ungestalte­ ten Holz immerhin das Boot erfunden hat, auf dem er sich befindet, wird nur kurz an­ gerissen und in SapSal 14,2–8 unter Rückgriff auf die Sintflutgeschichte (SapSal 14,6) dahingehend kommentiert, dass Gottes Vorsehung den Menschen bewahrt und er allein auf sie hoffen soll. Die beiden Beispiele werden anschließend polemisch kommentiert (SapSal 14,9–14), wobei die Erfindung von Götzenbildern als Ursache der Unzucht und des Verfalls der Heiden dargestellt wird. In SapSal 14,15–31 folgt eine Art historischer Abriss, ausgehend von einer pervertierten Totenverehrung (SapSal 14,15–16a) über den Zwang zur Göt­ zenverehrung durch die Tyrannen (SapSal 14,16b–22) und die Diastase von ethischem Verhalten und Götzenverehrung (SapSal 14,23–29), bis hin zur Feststellung, dass diese Verfehlungen von Gott geahndet werden (SapSal 14,30f ). Schließlich folgen eine Doxo­ logie und eine Abgrenzung Israels gegenüber den Heiden, in der die Gottesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk – im Gegensatz zu den anderen Menschen – als Garan­ tin für die Sündenfreiheit bestimmt wird (SapSal 15,1–5). Abschließend wendet sich die Argumentation noch einmal gegen diejenigen, die Götzen anfertigen (SapSal 15,6–13) und sie anbeten (SapSal 15,14–19). Vergleicht man Struktur und Ziel der Argumentation von SapSal 13–15 mit Röm  1,18–2,8, ergeben sich auffällige Parallelen: 1) Wie SapSal 13–15 beruht Röm  1,18– 2,8 auf einer Ausgangsargumentation, die im weiteren Verlauf durch narrative und ex­ ornative Elemente weiterentwickelt wird (vgl. die παρέδωκεν-Passagen von Röm  1,21– 31 mit den Beispielerzählungen in SapSal 13,11–14,6). 2) SapSal 13–15 formuliert wie Röm  ein Angemessenheitsargument, mit dem bewiesen werden soll, dass das Urteil über die Menschen theologisch gerechtfertigt ist. 3) Der Lasterkatalog von Röm  1,29–31 fin­ det ein Gegenstück in SapSal 14,23–26, dort wie hier ist er eingebunden in eine „exor­ native“ Passage. 4) In Röm  1,32 wird der Verfall der Menschheit dahingehend zusam­ mengefasst, dass der Mensch es eigentlich besser wissen müsste, sich aber bewusst von 50 Im Gegensatz zu Röm   1,19f: Paulus klagt die Menschen gerade deswegen an, weil ihnen die Taten Gottes vor Augen stehen und sie sich dennoch abwenden. SapSal redet von der grundsätzlichen Möglichkeit, Gott zu erkennen (vgl. Gräbe, Power of God, 186–188). 51  Vgl. etwa Jes 40,19; 41,6f; 46,6.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Gott abkehrt und sich an seiner Verfehlung erfreut. Auch dieser Gedanke findet sich in SapSal. 5) Die conplexio in SapSal 15 zieht eine Grenze zwischen dem ἡμεῖς und den Heiden. Auch in Röm  2 ,1 wird ein „Du“ angesprochen, das der Gemeinde gegenüber­ steht. Trotz dieser Parallelen ist das Ziel von SapSal 13–15 ein gänzlich anderes als in Röm  1,18–2,8: In SapSal soll bewiesen werden, dass sich Israel von den Heiden unterscheidet. Die conplexio in SapSal 15 ist dreigeteilt: Sie zieht eine deutliche Grenze zwischen den ἄνθρωποι und den ἡμεῖς, d. h. dem Volk Israel (vgl. insbesondere SapSal 15,4), und richtet dann erst den Blick auf Hersteller und Verehrer der Götzen (οἱ ποθοῦντες καὶ οἱ σεβόμενοι, SapSal 15,6). Die Argumentation und die Bildworte von SapSal 13f werden den Adressaten (den ἡμεῖς ) explizit gegenübergestellt. In Röm  2 ,1–8 hingegen wird die Argumentation auf ein „Du“ appliziert, das sich dazu versteigt, über den anderen zu richten. Diese Möglichkeit wird mit dem Argument zurückgewiesen, dass das „Du“ nicht neben dem Menschheitskollektiv steht, sondern Teil der von Gott abgefallenen Menschheit ist.52 Der Sündenbegriff taucht in der Argumentation von SapSal 13–15 lediglich an der Schwelle zur conplexio und in der conplexio selber auf: In SapSal 14,31 (οὐ γὰρ ἡ τῶν ὀμνυμένων δύναμις, ἀλλ᾽ ἡ τῶν ἁμαρτανόντων δίκη ἐπεξέρχεται ἀεὶ τὴν τῶν ἀδίκων παράβασιν) ist ἁμαρτάνειν als substantiviertes Partizip in die Genitivverbindung ἡ τῶν ἁμαρτανόντων δίκη eingebunden. Dieser Ausdruck ist ἡ τῶν ὀμνυμένων δύναμις entgegengesetzt. Beide Partizipien spezifizieren das Genitivat­ tribut τῶν ἀδίκων: „Denn nicht die Macht derer, bei denen sie schwören, sondern das Urteil/die Strafe für die (bzw. derer), die sündigen, kommt immer über die Übertre­ tung derer, die Unrecht tun.“ Die Ausdrücke τῶν ἀδίκων, παράβασιν und das durch die vorige Argumentation negativ konnotierte τῶν ὀμνυμένων werden als ἁμαρτάνειν iden­ tifiziert, indem sie mit δίκη in Zusammenhang gebracht werden. In SapSal 15,1f wird der Begriff ἁμαρτάνειν im Zuge der Selbstaussagen der ἡμεῖς verwendet. In SapSal 15,2 ist ἁμαρτάνειν Gegenstand eines Zirkelschlusses: καὶ γὰρ ἐὰν ἁμάρτωμεν, σοί ἐσμεν, εἰδότες σου τὸ κράτος· οὐχ ἁμαρτησόμεθα δέ, εἰδότες ὅτι σοὶ λελογίσμεθα. „Sündigen“ erscheint also als Begriff, mit dem das Fehlverhalten Israels erfasst wird, obwohl das wahre Israel eigentlich nicht sündigen kann. In diesem Zusam­ menhang spielt SapSal nicht explizit auf das Gesetz an. Vielmehr hält SapSal 15,3 fest: τὸ γὰρ ἐπίστασθαί σε ὁλόκληρος δικαιοσύνη, καὶ εἰδέναι σου τὸ κράτος ῥίζα ἀθανασίας. In dem parallelismus membrorum sind das (Er)kennen Gottes und das Wissen um seine Macht Basis für Gerechtigkeit und Unsterblichkeit. Die Unfähigkeit zu sündigen wird also nicht im νόμος verankert. 52 Vgl.

Linebaugh, Relationship, 239. Es besteht dabei durchaus eine Spannung zwi­ schen der universalen Unterscheidung von Gerechten und Frevlern in SapSal 1–8 (wie sie Folker Blischke herausarbeitet, vgl. Blischke, Sapientia, 278–281) und der Unterscheidung von Juden und Heiden in SapSal 13–15, wie u. a. Mareike Blischke bemerkt: „Vielmehr wird hier in der Götterpolemik in Sap 13,1–15,19, aber auch in der gesamten Art der Darstellung eine deutliche Grenze zwischen dem Volk Israel und seiner heidnischen und als gottlos be­ zeichneten Umwelt gezogen. Man kann darin eine besondere Form der Argumentation se­ hen; wobei die Vorgehensweise dennoch merkwürdig bliebe, dass zunächst für den eigenen Glauben in universaler Weise – mit Adresse an die Herrschenden der Erde – geworben wird, um diesen Glauben einige Kapitel später dann zu einer höchst exklusiven Angelegenheit zu machen.“ (Blischke, Theologie, 157) Blischke geht aufgrund dieser Spannung davon aus, dass SapSal sukzessive entstanden ist (vgl. aaO. 156–158).

1. Röm  1,18–2,8: Das Schweigen von der Sünde in Röm  1,18–2,8

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Zur Bezeichnung des ethischen Fehlverhaltens der Völker bzw. des Abfalls der Menschheit wird der Sündenbegriff nicht herangezogen. Lediglich in SapSal 15,13 er­ scheint im Kontext der Applikation auf die heidnischen Hersteller der Götzen der Sün­ denbegriff (ebenfalls in verbaler Form): οὗτος γὰρ παρὰ πάντας οἶδεν ὅτι ἁμαρτάνει ὕλης γεώδους εὔθραυστα σκεύη καὶ γλυπτὰ δημιουργῶν. Hier wird mit Sündigen das Wissen bzw. – noch präziser und eingedenk der Basisargumentation von SapSal 13,1–10 – das „Besser-Wissen“ der Heiden bezeichnet, die die Gotteserkenntnis in voller Eigenver­ antwortlichkeit verfehlen. Das Sündigen umfasst dabei nur mittelbar die konkrete Tat (das Herstellen der Gefäße und Bilder), denn im Fokus steht der Täter. Der „Inhalt“ des Sündigens wird im Partizip angegeben: ὕλης γεώδους εὔθραυστα σκεύη καὶ γλυπτὰ δημιουργῶν ist auf οὗτος bezogen.

Die Anordnung der Argumentation und die semantischen Parallelen sprechen dafür, SapSal 13–15 tatsächlich als traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Röm  1,18–32 anzunehmen. Dabei ist jedoch beachtlich, dass Paulus die hamar­ tiologische Deutungsperspektive von SapSal 13–15 nur teilweise übernimmt. In SapSal 13–15 scheint ἁμαρτάνειν vor allem auf das Gottesverhältnis Israels bezo­ gen zu sein, obwohl SapSal 15,2 feststellt, dass das Sündigen dem Volk Gottes eigentlich nicht möglich ist. Die Verfehlungen der Heidenwelt werden nicht explizit als Sünde charakterisiert. Ein Echo dieser besonderen Konnotation des Sündenbegriffs – seine Bezogenheit auf das Gottesverhältnis Israels – findet sich in Röm  2,12. Hier hält Paulus fest, dass sich die Wahrnehmung und Sanktionie­ rung der Sünde im Bereich des Gesetzes von der außerhalb des Gesetzes unter­ scheiden: Ὅσοι γὰρ ἀνόμως ἥμαρτον, ἀνόμως καὶ ἀπολοῦνται. καὶ ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον διὰ νόμου κριθήσονται. Paulus’ Sündenargumentation wendet sich da­ mit aber gerade gegen die Pointe von SapSal 15,1–5: Israel kann sich von der Sünde nicht distanzieren, sondern ihrer im besonderen Maße gewahr und bezich­ tigt werden. Die πάντες ἄνθρωποι von Röm  1,18 sind nicht deckungsgleich mit den πάντες ἄνθρωποι von SapSal 13,1. Bei Paulus umfassen sie das Menschheits­ kollektiv inklusive Israels, bei SapSal die Heidenwelt, die Israel gegenüber­ steht.53 In Form von Paradigmen der Preisgabe des Menschen beschreibt Paulus in Röm  1,18–2,8 also durchaus Manifestationen der Sünde. Dass er jedoch auf den Sündenbegriff verzichtet, liegt daran, dass die Sünde als Sünde erst durch das Gesetz benennbar und erkennbar wird. Mit Röm  1,18–2,8 nimmt Paulus aber Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit des ganzen Menschheitskollektivs in den Blick, ohne zwischen denen, die ἀνόμως, und denen, die ἐν νόμῳ sündigen, 53 Vgl. Linebaugh, Relationship, 223. Vgl. auch Wolter, Römer, 141. Dass Herzens­ verhärtung und Verstockung „jüdische“ loci sind, die im AT fast stereotyp auf Israel gedeutet werden, kann nicht als zwingendes Argument dafür geltend gemacht werden, dass Paulus in Röm  2 ,1ff den jüdischen Gelehrten oder Judenchristen anrede. Herkunft und Verwendungs­ ziel der Anklage müssen voneinander unterschieden werden, wie v. a. Wolter, Römer, 160 betont: Es sei bemerkenswert, dass „Paulus einerseits das religiöse und ethische Versagen der gesamten Menschheit beschreibt, dafür aber andererseits auf Stereotypen zurückgreift, die aus der jüdischen Polemik gegen die Heiden stammen.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

unterscheiden zu müssen. Erst im folgenden Argumentationsgang wird er sich dieses besonderen Problems annehmen. Folglich hat das Schweigen zur Sünde in Röm  1,18–2,8 programmatischen Charakter.

1.3. Zwischenbilanz Dass Paulus den Sündenbegriff in Röm  1,18–2,8 nicht verwendet, überrascht und wird in der Forschung für gewöhnlich übergangen. Welche Schlüsse lassen sich aus dem Schweigen zur Sünde in Röm  1,18–32 ziehen? Ein Urteil ex negativo kann nur im Vorgriff auf die kommende Argumentationsanalyse gelingen. Im Verlauf des Römerbriefes wird Paulus Gesetz und Sünde immer wieder in ein spannungsreiches Verhältnis zueinander setzen, um einerseits die Funktion des Gesetzes als Heilsmittel in Frage zu stellen, andererseits das Gesetz zu ent­ lasten: Die Sünde existiert schon vor dem Gesetz (nach Röm  5,13), ist aber ohne Gesetz nicht erkennbar, so dass Paulus sogar behaupten kann, dass sie ohne Gesetz tot sei (Röm  7,8). Sie instrumentalisiert das Gesetz, um den Menschen durch seine Lebensverheißung zu täuschen und zu töten (Röm  7,7–13). Der Sündenbegriff ist also gewissermaßen für die Argumentation bzgl. der Legitimi­ tät und Relevanz des Gesetzes als Heilsinstanz „reserviert“. Gleichwohl zeigen sich in Röm  1,18–32 die diffusen Auswirkungen ihrer Herrschaft, ihre Todes­ mächtigkeit und ihre Präexistenz. Das Fehlen des Sündenbegriffs in Röm  1,18– 2,8 ist einer der aussagekräftigsten Hinweise darauf, dass es sich bei ihm um einen strategisch auf ein bestimmtes Ziel hin verwendeten Begriff innerhalb einer subtil gestalteten Argumentation handelt. Er wird in Röm  1,18–32 deswe­ gen ausgespart, weil Paulus das ganze Menschheitskollektiv in den Blick nimmt. Hier wirkt die Sünde (und wirkt sich im Tode aus), ohne als solche erkennbar zu sein (ganz analog zur Adam-Argumentation in Röm  5,12–14). Das Schwei­ gen zur Sünde ist folglich keine semantische Lässlichkeit, sondern entspricht einer theologischen Programmatik, die für die folgenden Argumentationsgänge richtungsweisend ist.

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde als Argument gegen die Parteilichkeit (προσωπολημψία) Gottes Auf die Anklage des richtenden „Du“ in Röm  2,1–8 lässt Paulus eine weitere konfrontative Passage folgen, in der er die soteriologische Bedeutung von Ge­ setz und Beschneidung in Frage stellt. Dazu greift er erstmals auf den Sünden­ begriff zurück (Röm  2,12). Wie schon zuvor soll der Argumentationsanalyse, die aus verschiedenen Perspektiven den Skopus der Argumentation ermittelt, eine semantische Analyse folgen, die die Funktion des Sündenbegriffs in Röm  2,12 hinsichtlich des Argumentationsziels in den Blick nehmen wird.

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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2.1. Argumentationsanalyse: Röm  2,25–29 als Skopus der in Röm  2,9 beginnenden Argumentation Hier ist wiederum unter Zuhilfenahme der antiken Argumentationstheorie nach dem Ziel der Argumentation zu fragen: Worauf lenkt Paulus die Aufmerk­ samkeit seiner Zuhörer? Welche Passage sticht aus dem Text hervor? Unter attentionalen Gesichtspunkten führt Röm  2,9–16 wieder von der kon­ kreten Anrede des „Du“ in Röm  2,1–8 fort. Die mit Röm  2,9 eingeführte Un­ terscheidung von Jude und Grieche findet auf der gleichen, distanzierten, anth­ ropologischen Ebene statt wie Röm  1,18–32, was an den pauschalisierenden, unpersönlichen Ausdrücken und Personalpronomen wie ὅσοι (Röm  2,12), οἱ ἀκροαταὶ νόμου und οἱ ποιηταί (Röm  2 ,13), οἵτινες (Röm  2,15) erkennbar ist. Um die Adressaten scheint es also weiterhin nur indirekt zu gehen, sofern sie nun als „soteriologische Statusgruppe“ den Juden gegenübergestellt, aber nicht unmittelbar in die Argumentation involviert werden. In Röm  2,17 liegt ein weiterer signifikanter Einschnitt vor: Wieder richtet sich Paulus an ein σύ, dieses Mal an eines, das sich Jude nennt (Röm  2,17a: Εἰ δὲ σὺ Ἰουδαῖος ἐπονομάζῃ, καὶ ἐπαναπαύῃ νόμῳ […]). Diese Anrede scheint deutli­ cher als Röm  2,1–8 an die grundsätzliche Disposition des Briefes, wie sie in Röm  1,16b formuliert worden ist (δύναμις γὰρ θεοῦ ἐστιν εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι, Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι), anzuschließen und im Vergleich zu Röm  2,1–8 ein spezielleres Problem in den Blick zu nehmen. Doch handelt es sich bei Röm  2,17–24 um eine conplexio? Röm  2,17–24 erhebt umfassend Ankla­ ge, neigt jedoch nicht dazu, die bisherige Argumentation zusammenzufassen: „In unserem Abschnitt [Röm  2,17–24] führt Paulus diese These [der Verurtei­ lung der Sünden aller Menschen, ob Juden oder Griechen] jedoch ad personam durch. Er zeiht den angeredeten Juden direkt der faktischen Übertretung zent­ raler Dekaloggebote.“54 Erst in Röm  2,25–29 deutet sich ein theologisches Fazit an, wenn Paulus mit περιτομή ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Heiden benennt und theologisch neu besetzt: Wo der Heide das Ge­ setz erfüllt, wird er zum wahren Juden (Röm  2,27). Mit Röm  2,25–29 spitzt Paulus also die bisherige Argumentation zu und wendet sie direkt auf das „Du“ von Röm  2,17 und indirekt auf die Adressaten an – die Heiden sind dem „Du“ soteriologisch gleichgestellt, weil Gesetz und Beschneidung keine Heilsrelevanz haben. In Röm  2,25–29 zeichnet sich also unter attentionalen Gesichtspunkten eine conplexio ab, die nach hinten durch die Rückfrage in Röm  3,1 begrenzt ist. Nähert man sich Röm  2,9–29 nun aus struktureller Perspektive, tritt zu Tage, dass Röm  2,9–24 schrittweise zur conplexio von Röm  2,25–29 hinführt. Zusam­ men bilden die Abschnitte eine kohärente argumentatio. Die Merkmale der Seg­ mentierung, Interdependenz und Kohärenz sind jedoch unterschiedlich stark ausgesprägt. 54 

Wilckens, Römer I, 151. Vgl. auch Fitzmyer, Romans, 315.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Zur Segmentierung. Der Befund hinsichtlich der Segmentierung des Abschnitts ist – abgesehen von der deutlich abgehobenen Du-Passage in Röm  2,17–24 und der sich anschließenden Zuspitzung auf die Beschneidung – inkonklusiv und in der Forschung umstritten.55 Paulus nutzt keine metakommunikativen Gliede­ rungsmerkmale. Nach den als Wehruf gestalteten Versen Röm  2,9f bietet ­Paulus in Röm  2,11–14 eine zusammenhängende Begründungskette (γάρ in Röm  2,11; 2,12; 2,13; 2,14), die allenfalls in Röm  2,14 noch einmal binnendifferenziert ist: Mit ὅταν leitet Paulus zu einer weitergehenden Reflexion über. Gleichwohl ist die Passage thematisch deutlich gegliedert: Formuliert Paulus in Röm  2,9–11 eine Annahme bzgl. des Standes des Menschen vor Gott, leitet er in Röm  2,12f 55 Bei Michel, Römer, 127 erscheint der Abschnitt zur Beschneidung in Röm  2 ,25–29 als Appendix zu einer grundsätzlicheren Fragestellung: „Der an 2,1–16 sich eng anschließen­ de Abschnitt 2,17–29 nimmt jüdische Anschauungen auf und überwindet sie durch die Radi­ kalisierung des Gerichtsurteils, das Paulus als Verkündiger des Evangeliums über das Juden­ tum ausspricht.“ Haacker, Römer, 67 misst Röm  2 ,25–29 hingegen den Charakter einer pointierten Zusammenfassung bei: „Zur Gliederung des Kapitels empfiehlt es sich, die grundsätzlich gehaltene Lehre von Gottes Gericht in 2,1–13 zu unterscheiden von der Bespre­ chung zweier entgegengesetzter kritischer Grenzfälle in 2,14–16 (unbewußte Gesetzeserfül­ lung bei Nichtjuden) und 2,17–24 (mutwillige Gesetzesübertretung bei einem jüdischen Toragelehrten). In 2,25–29 wird dieser Argumentationsgang zugespitzt auf die These von der Wertlosigkeit der Beschneidung für einen Juden, der nicht als Jude nach dem Gesetz lebt (was die erste der für den Römerbrief charakteristischen Gegenfragen in 3,1 auslöst).“ Schrei­ ner unterscheidet Röm  2 ,6–11; 2,12–16 und 2,17–29 deutlich voneinander: Röm  2 ,6–11 lau­ fe auf die Darstellung des Gesetzes nach Werken hinaus „to remind Jews that merely being a Jew does not spare one from God’s wrath“ (Schreiner, Romans, 111). Mit Röm  2 ,12–16 stelle Paulus die These auf, dass die Hörer des Gesetzes nicht gerechtfertigt seien und dass „the mere possession of the law and occasional obedience to its commands does not spare from judgement […]“ (aaO. 118). Die Ausführungen zu Gesetz und Beschneidung werden von Schreiner (zu Recht) stärker auf ihre persuasive Absicht hin untersucht. Sie sollen sicher­ stellen „that the Jews cannot evade the implications of his previous argument. The covenan­ tal advantages they have in terms of the law (vv. 17–24) and circumcision (vv. 25–29) will avail only if they keep the law“ (aaO. 127). Lamp, Reading, 39 zufolge geht es in Röm  2 ,1–11 um „Jewish Moral Superiority“, d. h. er fasst den gesamten Abschnitt Röm  2 ,1–11 als eine zusammenhängende Passage auf: Ausgehend von den „individual works (vv. 6–11)“ (ebd.) werde Gott Juden und Griechen richten, wobei Lamp dem individuellen Charakter des Ge­ richts einen großen Stellenwert einräumt: „Paul draws from Jewish tradition by quoting Ps 62:12 (v. 6; cf. Amos 3:2; Prov 24:12) to demonstrate that it is on the basis of individual rather than covenantal status that one will be judged in the eschatological judgement (v. 5)“ (aaO. 39). In Röm  2 ,12–16 behandle Paulus das Thema „Possession of the Law“. Dieser Abschnitt verhalte sich gegenüber dem letzten Abschnitt wie eine Spezifizierung der „general moral superiority“ (aaO. 39). Lamp hebt in diesem Zusammenhang die Naturrechtsgedanken (Röm  2 ,14–16) und das Evangelium als „norm for eschatological judgement“ (aaO. 39) her­ vor (Röm  2 ,16). Röm  2 ,17–24 wird von Lamp unter der Überschrift „Jewish National Privi­ lege“ besprochen: Das Hauptaugenmerk dieses Textes liege darin zu zeigen „that such beha­ vior dishonors the God whom Jews claim to serve“ (aaO. 40). Röm  2 ,25–29 wird von Lamp im Kontext einer i. e. S. theologischen Unterscheidung von Gesetz und Beschneidung ausge­ legt: „[…] Paul considers circumcision as a category separate from, but related to, the Law“ (aaO. 40). Dabei liege der Skopus der Argumentation vor allem darin „to distinguish bet­ ween a literal and a non-literal understanding of circumcision. True circumcision is identi­ fied by obedience to the Law, not by the physical mark itself “ (aaO. 40).

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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zu einer Überlegung bzgl. des Handelns des Menschen – mit und ohne Gesetz – über. In Röm  2,14–16 argumentiert er, dass die Heiden dazu befähigt sind, das Gesetz zu halten. In Röm  2,17–29 redet er ein jüdisches Du an. Die conplexio in Röm  2,25–29 ist thematisch von dieser Anrede noch einmal abzuheben, da sie ein neues Problem – die Beschneidung – anvisiert. Zur Interdependenz der Segmente. Die These der Argumentation besteht zum einen aus einem Wehruf bzw. Lobpreis (Röm  2,9–11) über die, die das Schlech­ te bzw. Gute tun. Hier unterscheidet Paulus vor dem Hintergrund des Leitthe­ mas des Briefes (Röm  1,16f ) das Menschheitskollektiv, das in Röm  1,18–2,8 noch indifferent erschien, wieder nach Juden und Griechen.56 Diesen Wehund Lobruf spitzt Paulus in Röm  2,11 auf eine abstraktere theologische These zu57 und legt dar, dass Gott Juden und Griechen Gutes und Böses vergilt (Röm  2,11) und es bei Gott keine Parteilichkeit (προσωπολημψία) gebe, die auf der Unterscheidung von Heiden und Juden beruhe: „In other words, God will not favor the Jew simply because he is a member of the chosen people or becau­ se he has the advantage of a superior moral system based on God’s own law.“58 Der universale Vergeltungsgedanke von Röm  2,9–11 bildet den Rahmen für Röm  2,12 f. Vor allem der Fall der Nichteinhaltung des Gesetzes wird hier in den Blick genommen: Ob die Menschen im Bereich der Tora oder außerhalb ihrer sündigen, ist Paulus zufolge irrelevant – ihr Untergang ist sicher.59 Das Argu­ ment, dass nur der Täter, nicht der Hörer des Gesetzes gerecht vor Gott sei, dient der These von Röm  2,9–11 folglich als unmittelbare Begründung, als ratio. In der Forschung wird diskutiert, ob es sich bei dem Gericht nach Werken, mit dem Paulus hier argumentiert, um eine überspitzte Polemik oder eine fundamentale theolo­ gische Aussage handelt, die in einer Spannung zur dezidierten Ablehnung der Werke (des Gesetzes) in Röm  4 oder Röm  7 steht.60 Oda Wischmeyer versteht Röm  2 als „epis­ tolographische Argumentation“ zwischen Rede und Kommentierung ganz im Diatri­ 56  Damit führt er, was in Röm  2 ,1–8 zum richtenden Du gesagt worden ist, weiter. Vgl. Fitzmyer, Romans, 302 f. Fitzmyer geht davon aus, dass Röm  2 ,9–11 dem vorigen Abschnitt zuzuschlagen ist, macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass in Röm  2,9–11 etwas ­spezifiziert wird, was in Röm  2 ,6–8 zu einem vorläufigen Abschluss gekommen ist (ebd.): „Verses 9–10 repeat the same idea as in vv7–8, but in inverse order […] This verse reformu­ lates v 8 in order to introduce the specification that follows.“ 57 Der ἄνθρωπος-Begriff ist dabei (wie auch in Röm  1,18ff ) deutlich negativ konnotiert, sein Gegenüber wird gerade nicht mit dem Menschenbegriff beschrieben, sondern mit dem Ausdruck „Täter des Guten“. Beide, Täter des Schlechten oder Guten, werden wiederum mit der Unterscheidung zwischen Jude und Grieche in Zusammenhang gebracht, womit die Applikation an das jüdische Du ab Röm  2 ,17 bereits angedeutet wird. 58  Fitzmyer, Romans, 303. 59 Vgl. Barretts, Romans, 47 Einschätzung bzgl. Röm  2 ,13: „The law is not a talisman calculated to preserve those who possess it. It is an instrument of judgement, and sin is not less sin, but more, when it is wrought within the sphere of the law (cf. vii. 13).“ 60  Vgl. sehr markant Wright, Rechtfertigung, 164–168, der das Gericht nach Werken keinesfalls rhetorisch marginalisiert sehen möchte und erklärt (aaO. 165): „Röm  2 ,1–16 muss seinen Platz einnehmen, nicht als seltsame Nebenbemerkung, die nicht mit den übrigen

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

benstil. Röm  2 müsse als diatribische Überzeichnung des „pretentiösen und arroganten Philosophen“ verstanden werden61 und vertiefe die „universale Anthropologie von Ka­ pitel 1“62 . Vor dem Hintergrund dieser argumentationsstrategischen Bewertung des Textes stellt Wischmeyer die These auf, dass Paulus in 2,13ff nicht wirklich das „Gericht nach Werken“ kolportiere 63, sondern vielmehr Polemik (im Diatriben-Stil) betreibe, und zwar gegen den Typus „eines ‚eitlen jüdischen Gesetzeslehrers, der gravierend gegen das Gesetz verstößt‘“64. Paulus führe „nicht das Gericht nach Werken neu ein, sondern beschreibt den Ist-Zustand des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen in der adamitischen Welt, dies aber im Horizont der neuen Existenz in Christus, dem Inhalt seines Evangeliums“65. Handelt es sich beim Gericht nach Werken also lediglich um eine Polemik? Im hiesigen Kontext ist das Gericht nach Werken tatsächlich eindeutig negativ zugespitzt, wie die obige Argumentationsanalyse zeigen konnte und wie Otfried Hofius prägnant festhält: „Nun läßt Paulus nicht den geringsten Zweifel daran, daß es einen solchen ποιητὴς νόμου in der von Adam herkommenden Menschheit überhaupt nicht gibt und geben kann. Denn jeder Mensch steht immer schon im Schatten Adams, und niemand kann vor Adam anfangen. Das bedeutet aber: Im Lichte der Tora erweisen sich alle Menschen ohne Ausnahme als παραβάται νόμου und damit als solche, die vor Gott als schuldig und zu Recht verurteilt dastehen (3,19f ).“66 Das Argumentationssegment ist ganz auf Röm  2 ,12 bezogen, soll die Unmöglichkeit einer Gerechtigkeit aus dem Gesetz beweisen und wendet sich, wie Röm  2 ,17ff zeigt, an ein observantes Du, das die Be­ schneidung einfordert.67 Gleichwohl wird im Lichte von Röm  3,27–31 auch eine „posi­ tive“ Pointe dieser Polemik erkennbar, wenn Paulus argumentiert, dass nur die Gläubi­ gen dazu imstande seien, das Gesetz zu erfüllen, also nicht dem Gericht verfallen.68

In Röm  2,14–16 begründet Paulus die Möglichkeit der Heiden, das Gesetz ein­ zuhalten, insofern sie auf ihre συνείδησις zurückgeworfen sind.69 Damit scheint Äußerungen des Paulus zusammenpasst, sondern als eine zentrale Aussage über etwas, das er üblicherweise als gegeben voraussetzt.“ 61  Wischmeyer, Gerichtsrede, 372. 62  AaO. 375. 63  AaO. 360. 64  AaO. 373. 65  AaO. 376. 66  Hofius, Adam-Christus-Antithese, 89. 67 Vgl. Fitzmyer, Romans, 307: „Paul may seem to introduce the motif of judgment according to deeds not to warn the Christian reader as such, but because he wants to under­ mine the smugness of the Jewish interlocutor.“ Vgl. auch Wischmeyer, Gerichtsrede, 360 f. 68 Vgl. Frey, Nomos, 87 f. Vgl. auch Schreiner, Romans, 117: „[…] Paul argues back­ wards from the occasional doing of the law by the Gentiles to the premise that they must know the law’s moral requirements.“ Dabei bemerkt Barrett, Romans, 55, dass das „Tun des Gesetzes“ von Paulus gerade nicht gleichgesetzt wird mit „carrying out the detailed precepts written in the Pentateuch, but fulfilling that relation with God to which the law points […].“ Fraglich ist, ob in die Wendung von Röm  2 ,25 (ἐὰν νόμον πράσσῃς ) so viel hin­ eingelesen darf, als würde sie die Pointe von Röm  3,31 bereits antizipieren. Das Ziel der Argumentation von Röm  2 ,9–29 besteht in der Relativierung von Tora und Beschneidung, nicht in der positiven Bestimmung des Heiden bzw. Heidenchristen. Wenn es Paulus darum geht, zu zeigen, dass der Heidenchrist das Gesetz (auf was für eine Weise auch immer) tut, dann ist gerade die Offenheit des Ausdrucks ἐὰν νόμον πράσσῃς strategischer Natur und soll­ te in seiner provokanten Zuspitzung nicht relativiert oder eingeschränkt werden. 69  Dass der Maßstab des Richtens über die Taten der Heiden christologisch qualifiziert ist

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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es grundsätzlich möglich, dass es Gerechtigkeit auch außerhalb der Kenntnis des νόμος gibt, womit die These von der προσωπολημψία παρὰ τῷ θεῷ (Röm  2 ,11) bewiesen wäre. Röm  2,14–16 stützt also den Zusammenhang von Röm  2,9–11 und 2,12f, insofern Paulus belegt, dass das Tun des Gesetzes nicht nur den Ju­ den, sondern auch der Heidenwelt möglich ist.70 Das Begründungssegment er­ füllt damit die Funktion einer confirmatio. Mit Röm  2,17–29 kehrt Paulus zur Anrede der 2. Person Singular zurück und führt einen dem vorigen Abschnitt entgegengesetzten Fall an, nämlich dass der (κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ), ist bemerkenswert und antizipiert gewisserma­ ßen die conplexio von der verborgenen Beschneidung und Zugehörigkeit zum Volk Gottes (vgl. auch Fitzmyer, Romans, 323). Der Gedanke einer natürlichen Gotteserkenntnis ist hier ganz auf die Polemik gegen die Gesetzesobservanz zugespitzt und reicht an die philoso­ phische Idee eines „ungeschriebenen Gesetzes“ nicht heran, wie u. a. Theissen/Gemünden, Römerbrief, 237f meinen – Paulus wolle zeigen, dass der Mensch das Gute und Schlechte hervorbringen könnte, unabhängig vom Gesetz. Pointe der Argumentation sei jedoch, dass er es nicht tun kann, weil er unter der Sünde steht. 70  Schreiner, Romans, 120–124 erörtert ausführlich die Frage, ob in Röm  2 ,14f Heiden oder Heidenchristen angesprochen sind: Nach Schreiner werden in der Forschung vier Argu­ mente diskutiert, die dafür sprechen, dass in Röm  2 ,14f Heidenchristen gemeint sind: 1. Das γάρ von Röm  2 ,14 verweise auf Röm  2 ,13b, wo von der Rechtfertigung durch die Einhaltung des Gesetzes gesprochen wird. 2. Mit der Einschreibung des Gesetzes in die Herzen werde deutlich auf Jer 31,33 angespielt, so dass Paulus „believers who have been transformed by an internal work of God himself “ (aaO. 120) im Blick habe. 3. Der Naturgesetz-Gedanke müsse eher als Resultat der Rechtfertigung verstanden werden: „In response, some have observed that φύσει need not to be linked with the ποιῶσιν (cf. Rom. 1:26–27; 2,27; Gal 2:15), and instead should be read with ἔχοντα (echonta, having) […].“ (ebd.). 4. Die gegenseitige Verklagung der Gedan­ ken sei nicht ein Zeichen für eine angeborene „Fähigkeit“ der Heiden, sondern vielmehr „beneficiaries of the Holy Spirit’s work“ (aaO. 121). Demgegenüber argumentiert Schreiner von Röm  2 ,12ff aus: 1. γάρ in Röm  2 ,14 verweise eher auf Röm  2 ,13a als auf Röm  2 ,13b: Es gehe Paulus ja gerade darum, zu zeigen, dass die Heiden das „Mosaic Law“ (aaO. 121) nicht besitzen und es dennoch realisieren können, womit deutlich sei, dass die Argumentation auf die Rela­ tivierung des Gesetzes abziele und nicht auf eine positive Beschreibung der Möglichkeiten der Heidenchristen. 2. Der Verweis auf Jer 31,33 sei nicht gesichert, „the text does not specifically quote or necessarily allude to Jer. 31:33 (38:33 LXX). In fact, the law is not inscribed on the heart but ‚the work of the law is written in their hearts‘ […].“ Es gehe dann aber nicht um ein eschatologisches Geschehen, das von Gott her ermöglicht werde, wie Jer 31 im Sinn hat, son­ dern um „the popular Greek conception of a natural law written on the heart“ (aaO. 122, vgl. auch Wilckens, Römer, 134). 3. Die Wendung, dass die Heiden sich selber Gesetz seien, und der Hinweis auf die συνείδησις zeigen, dass die Ermöglichung der Gesetzeseinhaltung nicht „supplied by the Holy Spirit“ sei. Zu Schreiners Vorschlag ist zu sagen, dass es Paulus im Zuge der Argumentation von Röm  2 ,9–29 um keine präzisen Verhältnisbestimmungen von Juden und Heiden geht, sondern vor allem um die Klärung der Frage nach der Relevanz der Be­ schneidung. Insofern lässt sich die Grenze zwischen Heiden und Heidenchristen gerade an dieser Stelle nicht so klar ziehen, wie Schreiner vorschlägt. Mit der Gegenüberstellung von Jude und Heide in Röm  2 ,9–11 aktualisiert Paulus das in der römischen Gemeindewirklich­ keit verankerte Thema von Röm  1,16 f. Anders ausgedrückt: Der Abschnitt Röm  2 ,9–29 geht die heidenchristlichen Adressaten zwar an, trifft sie aber gerade in ihrem Selbstverständnis als Glaubende nicht, vgl. auch Wilckens, Römer I, 160 zu Röm  2 ,25–27: „Das Gegenbeispiel des Heiden in VV 25–27 wird nur zur Profilierung der Anklage benutzt, dient aber nicht zum positiven Erweis beispielhaft realisierter menschlicher Möglichkeiten.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Hörer des Gesetzes, der sich Jude (Röm  2,17) nennt, das Gesetz nicht tut. Paulus visiert hier in polemischer Absicht verschiedene Aspekte der Selbstüberschät­ zung des Juden an: Die Einhaltung des Gesetzes (Röm  2,17b), das Rühmen vor Gott (Röm  2,17c), das Kennen seines Willens (Röm  2,18a) und schließlich auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem anderen (Röm  2,21a: ἕτερον). Das Unterlassen des Gesetzes wird dabei so ausführlich geschildert, dass in jedem Fall sichergestellt ist, dass sich Hören und Tun des Gesetzes voneinander unter­ scheiden. Röm  2,17–24 erfüllt damit die Funktion einer investigativen und auf loci communes beruhenden exornatio, in die die gesamte bisherige Argumentation einfließt: Weil der Fall des gesetzesuntreuen Juden Realität ist, kann es bei Gott keine προσωπολημψία geben, die auf der Unterscheidung von Juden und Grie­ chen beruht!71 Von diesem Fall lässt sich auf das Gesetz (und die Beschneidung) schließen:72 Die soteriologische Bedeutung des νόμος kann sich ganz offenkun­ dig nicht aus seinem bloßen Besitz ergeben. Die conplexio in Röm  2,25–29 ist darauf hin angelegt, die Heilsrelevanz der Beschneidung zu relativieren: Der Heidenchrist erweist sich als verborgener Jude, indem er das Gesetz erfüllt. Ihm wird eine περιτομὴ καρδίας ἐν πνεύματι zuteil, während der gesetzesuntreue Jude seiner Beschneidung verlustig geht. Die physische Beschneidung als Bundeszeichen Israels – wie auch das Gesetz – wird dabei zwar nicht explizit außer Kraft gesetzt, die Deckungsgleichheit von ὁ ἐν τῷ φανερῷ Ἰουδαῖος und ὁ ἐν τῷ κρυπτῷ Ἰουδαῖος bleibt aber nur eine the­ oretische Möglichkeit: Paulus geht nirgendwo in dieser Passage darauf ein, dass der Jude das Gesetz tun oder der Heide es unterlassen könnte.73 Die als „Du“-­ Anrede gestaltete exornatio dient ausschließlich als Abgrenzungsargumentation, 71  Thiessen vertritt die These, dass Paulus sich mit Röm  2 ,17–29 nicht an eine jüdische oder judenchristliche Adresse wende, sondern an einen „so-called Jew. He thinks of himself as a Jew, but Paul disagrees“ (Thiessen, Argument, 390). Paulus visiere mit Röm  2 ,17–29 und insbesondere mit der Aussage, ein Verstoß gegen das Gesetz hebe die Beschneidung auf, „a gentile interlocutor“ (aaO. 386) an, der von sich behauptet, beschnitten zu sein und deswe­ gen Gesetzesobservanz einfordert. Röm  2 ,25–29 sei so zu verstehen, dass der Akt der Be­ schneidung eines Heiden angesichts der strengen Gesetzesauslegung grundsätzlich nicht legi­ tim sei (dies betrifft vor allem die Acht-Tage-Frist): „A gentile undergoing circumcision in order to become a Jew fails to keep the law of circumcision in the very act of being circum­ cised. He is circumcised and yet becomes a transgressor of the law of circumcision through the γράμμα (best translated as the ‚detail‘ or ‚prescription‘ of the law) and through the rite of circumcision“ (aaO. 388). Richtig erkannt ist damit, dass die Frage nach der Beschneidung die Zielmarke der Argumentation darstellt, die Aussagen zum Gesetz deren argumentative Voraussetzung. Dass Paulus eine spezifische, strenge Auslegung des Beschneidungsgebots im Blick habe, gibt der Text jedoch nicht her. Vor allem in Röm  4,1–5,11 wird die Heilsrelevanz der Beschneidung zusammen mit allen Werken des Menschen relativiert. 72  Vgl. auch Michel, Römer, 135: „Paulus schließt auch keineswegs von dem Ungehor­ sam eines Einzelnen auf den Ungehorsam aller. Wohl aber kommt im Ungehorsam des Ein­ zelnen die Unmöglichkeit der ganzen Haltung und Lehre zum Vorschein.“ 73 Vgl. zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Beschneidung des Herzens und der Verborgenheit des wahren Juden Haacker, Römer, 82 f.

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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die von einem Heidenchristen vorgebracht werden könnte, der sich Observanz­ forderungen ausgesetzt sieht. Der Zusammenhang zwischen Röm  1,18–32, Röm  2 ,1–8 und Röm  2 ,9–29 ist noch ein­ mal en détail zu hinterfragen. Steht die Argumentation von Röm  1,18–2,8 für sich oder stellt sie die Voraussetzung für die zweite Argumentation in Röm  2 ,9–29 dar? Haacker ist der Auffassung, dass Paulus mit dem Lasterkatalog Röm  1,18–32, der „keinesweges nur typisch heidnische Lebensgewohnheiten [benennt]“, zu der „jüdischen Adresse der Ar­ gumentation“ überleite, die im Verlauf von Röm  2 voll zur Geltung komme, und meint: „Das Ziel der Argumentation [von 1,18–32] – die Gleichstellung von Juden und Nicht­ juden unter der Übermacht der Sünde (vgl. 3,9) – ist für den Apostel offenbar so ver­ ständlich, daß sich bereits innerhalb des Gedankengangs die Grenze zwischen Heiden und Juden verwischen kann“74. Für die Selbständigkeit von Röm  1,18–2,8 spricht dem­ gegenüber, dass die Argumentation von Röm  2 ,9–29 in sich geschlossen ist und dass die Frage nach dem Tun und Verfehlen des Gesetzes in Röm  2 ,9–29 nicht zwangsläufig von Röm  1,18–2,8 aus geklärt werden müsste.75 Es wäre durchaus vorstellbar, dass Röm  2 ,9 direkt an Röm  1,16f anschlösse (man vgl. die stereotype Aufnahme von Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι). Auf der anderen Seite bietet Röm  1,18–2,8 einen größeren Rahmen für die anthropologischen Erwägungen in Röm  2 ,9–16, ist über Röm  2 ,9f mit vorigem verbunden und rückt die Abwehr des jüdischen Du, das die Beschneidung einfordert, in den Kontext des verfallenen Menschheitskollektivs und marginalisiert somit von einem grundsätzlichen Standpunkt aus die Bedeutung von Gesetz und Beschneidung. Röm  1,18– 2,8 scheint eine doppelte Funktion zuzukommen: Für sich verurteilt die Passage das Du, das einen Standpunkt außerhalb des Gefälles von Verderben und Preisgabe einnehmen möchte, um über den anderen zu richten, für Röm  2,9–29 gibt Röm  1,18–2,8 einen uni­ versalen Rahmen vor, der der Abwehr der Beschneidungsforderungen jedenfalls nicht abträglich ist. In der Komposition der universalen Argumentation von Röm  1,18–2,8 und der spezifischeren Argumentation von Röm  2 ,9–29 schlägt sich die ganze Program­ matik des Römerbriefes nieder: Der Fall Israels wird nicht statisch, sondern im Zusam­ menhang mit dem Fall der gesamten Menschheit verstanden: Israel hat qua lege keinen Anspruch auf eine Rettung aus dem Zornesgeschehen (Röm  1,18), nur der Glaube er­ öffnet einen Raum außerhalb des verworfenen Menschheitskollektivs.

Zur Kohärenz der Argumentation. Die Argumentationsstruktur von Röm  2,9–29 lässt sich folgendermaßen schematisieren: Röm  2 ,9–11

expositio

Röm  2,12–13 Röm  2 ,14–16

ratio rationis confirmatio

Röm  2 ,17–24

exornatio

74 

Es gibt keinen besonderen Status des Juden vor Gott. Nur wer das Gesetz tut, ist gerecht vor Gott. Der Heide ist dazu in der Lage, das Gesetz zu tun. Der Jude ist dazu in der Lage, das Gesetz zu verfehlen.

AaO. 63. Vgl. auch Fitzmyer, Romans, 315, der Röm  2 ,17ff enger mit Röm  2 ,12 als mit Röm  2 ,3 verknüpft sieht, auch wenn er einräumt: „These verse could be a throwback to 2:3, showing that the Jews do the ‚same things‘ that the Gentiles did.“ 75 

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  2 ,25–29 conplexio

Der Jude verfehlt die Gerechtigkeit, der Heide erlangt sie, die Beschneidung des Juden ist wirkungslos.

Tabelle 19: Argumentationsstruktur von Röm  2 ,9–29

Paulus geht in Röm  2,9–29 zielorientiert und schrittweise vor, um die conplexio zu erreichen: Die These, es gebe bei Gott keine προσωπολημψία, findet in der conplexio von Röm  2,25–29 ihre polemische Zuspitzung, nämlich dass die Be­ schneidung Israels keinerlei heilsgeschichtlichen Vorteil mit sich bringt. Als Skopus der in Röm  2,9 beginnenenden Argumentation hat sich also Röm  2,25– 29 bewährt. Exkurs zum rationalen Aspekt der Argumentation: Die Gerechtigkeit der Heiden als logische Schluss­ folgerung Auch aus rationaler Perspektive erweist sich Röm  2 ,25–29 als Skopus der Argumenta­ tion, kommt hier doch die wesentliche Schlussfolgerung zu stehen. Aus dem kurzen Abschnitt Röm  2 ,14–16 lassen sich syllogistische Strukturen entwickeln, anhand derer deutlich wird, dass Paulus an einer rationalen Begründung seiner Überlegungen gelegen ist. Paulus setzt verschiedene Erkenntnisbereiche – Sicheres, Wahrscheinliches und Un­ sicheres – in ein logisches Verhältnis zueinander. Die Übertragung von Röm  2 ,12–16 in ein Epicheirem ist relativ unproblematisch und stützt sich auf die Ausgangsthese von Röm  2 ,9–11: Obersatz (das Wahrscheinliche)

Die Täter des Gesetzes sind gerecht vor Gott (aus Röm  2 ,13). Stützung (das Sichere) Es gibt einen Tun-Ergehen-Zusammenhang: Gott vergilt Guten und Schlechten ihre Taten (aus Röm  2 ,9f ). Untersatz (das Wahrscheinliche) Die Heiden sind im Stande, das Gesetz zu tun (aus Röm  2 ,14a). Stützung (das Sichere) Ihnen ist das Gesetz ins Herz geschrieben (aus Röm  2 ,14b–16). Schlussfolgerung (das Unsiche­ Die Heiden sind im Stande dazu, vor Gott gerecht re, das als sicher erwiesen wird) zu sein (implizit). Tabelle 20: Rekonstruierte ratiocinatio der Argumentation von Röm  2 ,9–29 Die Schlussfolgerung des Epicheirems wird in der Argumentation von Röm  2,9–29 nicht explizit gezogen, sondern im Kontext der Beschneidungsfrage formuliert. In Röm  2 ,17–24 formuliert Paulus eine Abgrenzungsargumentation in Richtung ei­ nes „Du“, das sich „Jude nennt“, die – freilich polemisch – schon auf den verborgenen, wahren Juden in Röm  2 ,29 vorverweist.76 Dieser Erkenntnisprozess lässt sich ebenfalls als Epicheirem darstellen,77 das von den gleichen Prämissen wie das vorige abhängt: 76 Vgl.

Barrett, Romans, 52. Haacker, Römer, 76 bestimmt den Abschnitt als „das negative Gegenbeispiel“. Vgl. auch Fitzmyer, Romans, 320. 77 

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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Obersatz (das Wahrscheinliche)

Die Täter des Gesetzes sind gerecht vor Gott (Röm  2 ,13). Stützung (das Sichere) Der Tun-Ergehen-Zusammenhang (Röm  2 ,9f ) Untersatz (das Wahrscheinliche) Das jüdische Du tut trotz seiner Beteuerung das Gesetz nicht (Röm  2 ,23). Stützung (das Sichere) Die faktischen Verfehlungen des Juden (Röm  2 ,19–22). Schlussfolgerung (das Unsiche­ Das jüdische Du ist trotz seiner Beteuerung nicht re, das als sicher erwiesen wird) gerecht vor Gott (implizit). Tabelle 21: Rekonstruierte ratiocinatio der Argumentation von Röm  2,9–29 (Fortsetzung) Auch hier wird die Schlussfolgerung nicht explizit, sondern erst im Kontext der Frage nach der Beschneidung gezogen: ἀλλ’ ὁ ἐν τῷ κρυπτῷ Ἰουδαῖος, καὶ περιτομὴ καρδίας ἐν πνεύματι οὐ γράμματι. Die Plötzlichkeit des Auftauchens der Beschneidungsthematik in Röm  2 ,25 legt – wie bereits gezeigt werden konnte – nahe, dass sich Röm  2 ,9–29 im Kern um die Heilsrelevanz der Beschneidung dreht.78 Der Sinn der Argumentation von Röm  2,9–24 zeigt sich also erst im Spiegel der Frage nach der Beschneidung von Röm  2 ,25 und der Schlussfolgerung, dass wahre Beschneidung eine „Beschneidung im Verborgenen“ sei und sich deswegen der „wahre Jude“ nur im Verborgenen zeige (ein Rückbezug auf τὰ κρυπτὰ τῶν ἀνθρώπων (Röm  2 ,16)).79 Die spiegelbildlich aufgebauten Epicheireme, angelehnt an Röm  2,9–16 und Röm  2,17–24, fallen in einem einzigen zusammen, das die Frage nach der Beschneidung thematisiert: Obersatz (das Wahrscheinliche)

Am Nutzen der Beschneidung partizipiert nur der, der das Gesetz tut (Röm  2 ,25). Stützung (das Sichere) - keine Untersatz (das Wahrscheinliche) Der Jude tut das Gesetz nicht. Der Heide tut es. Stützung (das Sichere) Die obigen Epicheireme Schlussfolgerung (das Unsichere, Am Nutzen der Beschneidung partizipiert der Jude das als sicher erwiesen wird) nicht, der Heide schon (Röm  2 ,26–29). Tabelle 22: Rekonstruierte ratiocinatio der Argumentation von Röm  2,9–29 ­(Fortsetzung) 78  Auch hier ist auffällig, dass Paulus die Adressaten nicht involviert, wie er es z. B. im Galaterbrief tut. Vgl. auch Schreiner, 138, der auf eine bemerkenswerte Parallele in Gal 5,2 ( Ἴδε ἐγὼ Παῦλος λέγω ὑμῖν ὅτι ἐὰν περιτέμνησθε, Χριστὸς ὑμᾶς οὐδὲν ὠφελήσει) hinweist: Das ὠφελεῖ wird in Röm  2 ,25 nicht in einem polemischen, sondern argumentativen und sachli­ chen Zusammenhang wiederaufgenommen. Die dort polemisch vertretene Ablehnung der Beschneidung wird im Römerbrief argumentativ entfaltet und abgesichert. 79  Auf die Verbindung zu Röm  2 ,16 weist auch Fitzmyer, Romans, 323 hin. Er unterstreicht die christologische Dimension, die jedoch gerade hier nicht explizit gemacht wird, was an der negativen Tendenz der Argumentation liegt: „This the OT idea of circumcision of the heart takes on a new nuance; it is not just a spiritual circumcision of the human heart, but one that springs from the Spirit of Christ himself.“ Im weiteren Verlauf des Römerbriefs wird deutlich werden, dass die Verborgenheit des Juden und die Beschneidung des Herzens konzeptionell auf der gleichen Stufe wie das „Leben für Gott“, der „vernünftige Gottesdienst“ und das „geistliche Gesetz“ stehen. Sie sind die von Gott her ermöglichte neue Existenz, in der erst die Intention des Gesetzes verwirklicht wird (vgl. Theissen/gemünden, Römerbrief, 239).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Paulus baut in Röm  2,9–29 eine Argumentation auf, die in Röm  2,25–29 da­ hingehend zugespitzt wird, dass „[…] the mere possession of the ‚sign of the covenant‘ does not guarantee the Jew salvation or spare him from the out­ pouring of God’s wrath.“80 Diese Argumentation ist weniger dazu geeignet, beschnittene Christen ihres Bundeszeichens für verlustig zu erklären, sondern vielmehr in einer Situation valide, in der sich Judenchristen anmaßen, ὁδηγὸς τυφλῶν (Röm  2 ,19) zu sein und von den Heidenchristen die Beschneidung einzufordern.81 Die Frage nach dem Nutzen der Beschneidung ist damit Ziel- und Richtpunkt von Röm  2,9–2982 und erklärt das große Interesse an der breiten argumentativen Absicherung der These, dass es bei Gott keine προσωπολημψία gebe, die auf der Unterscheidung von Juden und Griechen beruht. Freilich ist die Argumentation zu keiner Zeit objektiv, sondern von vornherein darauf hin ausgelegt, zu beweisen, dass die Beschneidung Merkmal der ἀκροαταὶ νόμου ist, die den ποιηταὶ νόμου gegenüberstehen und von Gott bestraft werden. Paulus behandelt ja nirgendwo explizit den Fall, dass die Heiden das Gute unterlassen und der Jude das Gute tut, was in der Eingangsthese – dem Wehruf und Lob­ preis – noch vorgesehen gewesen wäre: „Paul’s primary purpose in the para­ graph is to indict Jews for transgressing the law and to strip away any salvific value in the mere possession of the law.“83 Die „Biegung“ der Argumentation in die Richtung, dass die Heiden mit den οἱ ποιηταὶ νόμου gleichgesetzt werden, so dass der νόμος grundsätzlich in Frage gestellt wird, zeigt, dass die gesamte Argumentation auf die Durchsetzung der conplexio abzielt: Der jüdische Geset­ zesbesitz büßt seine Heilsfunktion ein, weil das Tun des Gesetzes auch außer­ halb seines Geltungsbereichs möglich ist, die Beschneidung, weil sie Versinn­ bildlichung des bloßen Hörens des Gesetzes ist. Von daher ergibt sich auch eine enge Verbindung zu Röm  1,16f, wie auch Reichert treffend herausstellt: „In beiden Fällen bezieht sich die eigentliche These auf einen soteriologischen bzw. eschatologischen Sachverhalt: auf das Evangelium, das exklusiv dem Glaubenden die 80  AaO.

320. Horn, Beschneidung, 502f, der sich vor allem dem Zusammenhang von Röm  2,25– 29 und Röm  4 widmet: In der Abraham-Auslegung komme der Beschneidung immerhin die Würde eines „Siegels“ zu, während in Röm  2,25–29 die Beschneidung als ein Werk des Geistes ins Auge gefasst werde. Eine wirkliche Spannung entstehe dadurch jedoch nicht. Horn hält zu Recht fest: „Da die Glaubensgerechtigkeit aber Abraham als Unbeschnittenem zugesprochen wurde, damit von der Beschneidung gelöst worden ist, kommt der Beschneidung in der Zeit nach der universalen Offenbarung der Glaubensgerechtigkeit keine entsprechende Funktion als Zeichen oder Siegel mehr zu. Die Beziehung zu Abraham ist jetzt ausschließlich über die πίστις gegeben. Von einem eigentlichen Umdenken kann also keine Rede sein, wenn auch die Be­ schneidung jetzt, wie bereits in Phil 3.3, nicht mehr der σάρξ zugeordnet wird“ (aaO. 503). 82  Der Stil der Anrede bleibt jedoch gleich. Der Abschnitt Röm  2 ,17–29 gehört stilistisch, grammatisch und argumentativ zusammen. 83  Schreiner, Romans, 117. 81 Vgl.

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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Gottesgerechtigkeit und damit Rettung zuteil werden läßt, bzw. auf den wahren, für Menschen nicht identifizierbaren Juden, der seine Bestätigung von Gott her erhält.“84

Erstmals werden in Röm  2,12 die Begriffe ἁμαρτάνειν und νόμος in die Argu­ mentation eingebracht und zueinander ins Verhältnis gesetzt.85 Der Vers wurde in der argumentationskritischen Untersuchung als Teil der ratio bestimmt, die die These begründen sollte, dass es keine προσωπολημψία Gottes gegenüber Juden oder Griechen geben kann. Auf semantischer Ebene bildet Röm  2,9–12 ein Scharnier zwischen Röm  1,18– 2,8 und 2,13–2,29 und die Parallelität der Teilsätze in Röm  2,12f ist durch den vorigen Kontext bedingt. So findet sich ein analoger Auf bau in der conplexio der vorigen Argumentation (Röm  2,7f ), in der expositio (Röm  2,9–11) und der confirmatio (Röm  2,14f ). In Röm  2,7f wurden unter dem Gesichtspunkt Lohn/Stra­ fe (ζωὴν αἰώνιον/ὀργὴ καὶ θυμός) τοῖς […] ζητοῦσιν mit τοῖς δὲ ἐξ ἐριθείας καὶ ἀπειθοῦσι […] parallelisiert, in Röm  2,9f unter einem ähnlichen, wenn auch nicht eindeutig eschatologischem Gesichtspunkt (θλῖψις, στενοχωρία/δόξα, τιμή) ἐπὶ πᾶσαν ψυχὴν mit παντὶ τῷ ἐργαζομένῳ. Beide Male wird ein Ἰουδαίου/ῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνος/ι angehängt, das (wie schon in Röm  1,16f ) πᾶς näher be­ stimmt. Röm  2,11 bildet die These des Abschnitts von Röm  2,9–29 und stellt fest: „Bei Gott gibt es keine προσωπολημψία.“ Der Parallelismus von Röm  2,12 überträgt die Gegenüberstellung von Ἰουδαῖοϛ und Ἕλλην auf ὅσοι γὰρ ἀνόμως ἥμαρτον und ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον. Dabei ist entscheidend, dass Ἰουδαῖοϛ und Ἕλλην grammatisch nicht auf ἀνόμως und ἐν νόμῳ, sondern auf ὅσοι ἥμαρτον bezogen werden müssen.86 Bei ἀνόμως und ἐν νόμῳ handelt es sich um adver­ biale Bestimmungen. In Röm  2,13 schließt Paulus sodann an das Stichwort νόμος die Gegenüberstellung von οἱ ἀκροαταὶ νόμου und οἱ ποιηταὶ νόμου an87 und führt in Röm  2,14–16 den Beweis, dass die Juden den Heiden nichts voraus haben, da erst die Gesetzeserfüllung den Juden zu einem Juden mache.88 Röm  2,12 bildet demnach einen unerlässlichen Schritt in der Argumentation, da Paulus erst hier den begrifflichen Gegensatz von ἀνόμως und ἐν νόμῳ einführt, mit 84 

Reichert, Gratwanderung, 159. Ob an dieser Stelle νόμος die Tora meint, wird in der Forschung diskutiert. Der Satzzu­ sammenhang (vgl. Wengst, Römerbrief, 164), namentlich die Verbindung mit κριθήσονται, wie auch die angeschlossene Erörterung eines Problems genuin jüdischer Theologie (vgl. ebd.) legen dies jedoch nahe. 86 Anders Schmithals, Römerbrief, 91: „V.12 spricht von Heiden (ohne Gesetz) und Juden (mit Gesetz) in strenger Parallelität.“ Trotzdem ziele der Abschnitt darauf, „Juden und Heiden trotz der Partikularität der jüdischen Tora gleichzustellen“ (aaO. 90). 87  Käsemann, Römer, 57: „13 zeigt begründend, dass der Nachdruck auf der zweiten Sentenz liegt.“ 88  Was schließlich auf die Gegenüberstellung der Beschneidung aus Geist und nach dem Buchstaben in Röm  2,29 hinausläuft. Vgl. Schmithals, Römerbrief, 91 und Käsemann, ­Römer, 48. Carras, Dialogue, 198 stellt in Bezug auf das Gesetz fest: „What the Gentile possesses is an analogue to the Law of Moses. […] What matters is obedience, and the Gen­ tile has a law corresponding to the Thora which he can obey.“ 85 

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Hilfe dessen er die Argumentation von Röm  2,9–29 weiter konstruieren kann. Schematisch lässt sich dieser „semantische Übergang“ folgendermaßen verdeut­ lichen: [7f 9f

τοῖς […] ζητοῦσιν τοῖς […] ἀπειθοῦσι […] πειθομένοις] [conplexio von 2,1–8] ἐπὶ πᾶσαν ψυχὴν ἀνθρώπου τοῦ κατεργαζομένου Ἰουδαίου τε πρῶτον καὶ Ἕλληνος παντὶ τῷ ἐργαζομένῳ τὸ ἀγαθόν Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι [These der Explikation von 2,9–29]

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ὅσοι γὰρ ἀνόμως ἥμαρτον ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον [Begründung der These]

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οἱ ἀκροαταὶ νόμου       οἱ ποιηταὶ νόμου

Tabelle 23: Semantische Übergänge zwischen den Argumentationen von Röm  1,18–2,8 und 2,9–29

Ohne die Einführung des νόμος-Begriffs kann die Argumentation also nicht ge­ lingen.89 Dabei weist die Umstellung der bisherigen Abfolge Ἰουδαῖοϛ – Ἕλλην zu ἀνόμως – ἐν νόμῳ in Röm  2,12 auf die tragende Funktion des Begriffspaars hin, so dass νόμος am Ende von Röm  2,12 für die folgende Diskus­sion als we­ sentlicher Problembegriff exponiert wird. Ἁμαρτάνειν als Gegenbegriff zu νόμος ist durch γάρ mit der expositio in Röm  2,9–11 in kausaler Logik verbunden.90 Es stellt sich jedoch die Frage nach dem logischen Zusammenhang zwischen ἁμαρτάνειν und den vorherigen Aus­ führungen: Führt Paulus den Begriff ἁμαρτάνειν lediglich als antithetischen Gegenbegriff zu νόμος ein, vollzieht er also einen qualitativen Sprung in der Argumentation, oder fasst er den Begriff ἁμαρτάνειν als Oberbegriff für den in Röm  1,18–32 geschilderten Verfall des Menschheitskollektivs auf und appliziert diesen Zusammenhang auf den νόμος? Wie bereits gezeigt werden konnte, wird das Begriffsinventar von Röm  1,18–32 im weiteren Verlauf des Römerbriefes im Kontext der Gesetzes- und Sündenthematik verwendet. Den letzten kon­ kreten Anhalt für die Bedeutung von ἁμαρτάνειν bilden im näheren Umfeld die Parallelismen von Röm   2,8 (τοῖς δὲ ἐξ ἐριθείας καὶ ἀπειθοῦσι τῇ ἀληθείᾳ πειθομένοις δὲ τῇ ἀδικίᾳ) und Röm  2 ,9 (ἀνθρώπου τοῦ κατεργαζομένου τὸ κακόν). Auch diese Parallelismen greifen sprachlich und sachlich auf die Hauptanklage­ punkte aus Röm  1,18 (Gottes Zorn ἐπὶ πᾶσαν ἀσέβειαν καὶ ἀδικίαν ἀνθρώπων 89 

Barrett, Romans, 47 macht deutlich: „[Law] is an instrument of judgement“, geht allerdings zu weit, wenn er bereits hier erklärt: „sin is not less sin, but more, when it is wrought within the sphere of the law“. Haacker, Römer, 72 unterlässt in diesem Kontext jede quantifizierende Bestimmung der Sünde in Bezug auf das Gesetz: „[gegenüber der Ei­ gendynamik der Sünde bei den Heiden, PB] tragen Glieder des Gottesvolkes eine besondere Verantwortung, die Gott einklagen wird“. 90 Vgl. Käsemann, Römer, 57.

2. Röm  2,9–29: Die uneingeschränkte Sanktionierung der Sünde

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τῶν τὴν ἀλήθειαν ἐν ἀδικίᾳ κατεχόντων) zurück, was zumindest nahelegt, dass Paulus die Anklagen von Röm  1,18–32 mit ἁμαρτάνειν in Verbindung bringen möchte. Ferner ist ἁμαρτάνειν mit κατεργαζομένου τὸ κακόν und ἀπειθοῦσι τῇ ἀληθείᾳ πειθομένοις δὲ τῇ ἀδικίᾳ assoziiert, kann also nicht nur als Gegenbegriff zu νόμος verstanden werden (i. S. einer „Übertretung“ des Gesetzes), sondern

repräsentiert die „Verfehlung“ der Menschen, wie sie im Lichte des Gesetzes offenkundig wird.91 Folglich zielt Paulus mit dem Begriff ἁμαρτάνειν innerhalb der ratio von Röm  2,12f auf zweierlei: Zum einen möchte er hervorheben, dass Juden wie Griechen verloren sind, da sie sündigen.92 Der Akzent in Röm  2,12 liegt auf dem Prädikat ἥμαρτον, das durch die adverbialen Bestimmungen ἀνόμως und ἐν νόμῳ lediglich näher bestimmt wird. Es gibt demnach zwei „Möglichkeiten“ des Sündigens – es kann ohne Gesetz und in ihm gesündigt werden –, aber auch zwei Folgen des Sündigens – Untergang oder Verurteilung. Was Sündigen in­ haltlich bzw. theologisch bedeutet, definiert Paulus nicht eindeutig. Naheliegend sind – wie gezeigt werden konnte – seine Ausführungen in Röm  2,7f, 2,9f und Röm  1,18ff, wobei den Ausführungen in 2,7f und 2,9f Priorität zukommt, da sie sinngemäß den in Röm  1,18–32 geschilderten Verfall zusammenfassen. Damit ereignet sich das Sündigen auch außerhalb des Gesetzes – es ist ein universales Geschehen. Dass nicht wenige Übersetzungen und Kommentare93 ὅσοι mit „alle“ übersetzen, trifft die egalisierende Funktion des ἥμαρτον an dieser Stelle: Die Konsequenz des ἁμαρτάνειν ist für Juden und Heiden – wenn nicht die gleiche94 –, so doch die erwartete und definitive: ἀπολοῦνται bzw. κριθήσονται. Die zweite Funktion von ἁμαρτάνειν besteht darin, dass zusammen mit ihm der Begriff νόμος eingeführt und die Diskussion in eine andere Richtung gelenkt werden kann, nämlich hin zu der Frage nach dem heilsgeschichtlichen Status des Juden und der Beschneidung. Die Relativierung des νόμος und der Beschneidung wird aus der Unterscheidung von ὅσοι γὰρ ἀνόμως ἥμαρτον und ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον und der unbedingten Strafverfolgung des ἁμαρτάνειν ἀνόμως und ἐν νόμῳ in Röm  2,12 entwickelt. Die Verwendung von ἁμαρτάνειν ist also unmit­ telbar auf die Auf hebung einer auf Ἰουδαῖοϛ – Ἕλλην festgelegten προσωπολημψία 91  Wie

er auch in der griechisch-römischen Welt verstanden werden kann, was Jewett z. B. für den Zusammenhang von ἁμαρτάνειν und ἀπόλλυμι nachweist (vgl. Jewett, Romans, 210). 92  Wobei Paulus deswegen auf die Aoristform ἥμαρτον zurückgreift, weil er dezidiert die Sanktionierung der Sünde in den Blick nimmt, vgl. Dunn, Romans, 96: „Here the aorist […] is used, since at the final judgement the whole of life can be summed up as a single past event […].“ 93 Vgl. Haacker, Römer, 58; Wilckens, Römer I, 131; Wengst, Römerbrief, 164. 94  Das behauptet Käsemann, Römer, 57: „Sünde zieht, wo immer sie geschieht, Gericht nach sich.“ Differenzierter sieht dies Stowers, Four Discourses, 118: „The sinfulness of the Jews and the other peoples have different histories that have led to the crisis of the present moment.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

παρὰ τῷ θεῷ (Röm  2,11) bezogen.95 Durch ἁμαρτάνειν wird προσωπολημψία aber

auch auf eine negative Perspektive eingeengt: Die Unparteilichkeit Gottes wird auf die Sanktionierung der Sünde zugespitzt. Gott wird der Sünden gewahr – und bestraft sie. Das Fehlen des Sündenbegriffs in Röm  1,18–2,8 und die bewuss­ te Konnotation von ἁμαρτάνειν und νόμος in Röm  2,12 hat also vorrangig zum Ziel, die Bestrafung der Sünder ἐν νόμῳ als Verurteilung (κριθήσονται) auszuwei­ sen, was auch traditionellen Vorstellungen des Judentums entspräche,96 um die folgende Argumentation zu initiieren und abzusichern. Der Begriff ἁμαρτάνειν, der im weiteren Verlauf der Argumenta­t ion von Röm  2,9–29 nicht noch einmal auftaucht, wird strategisch eingesetzt, um einen anderen Begriff, νόμος, argu­ mentativ zu hinterfragen. Zugespitzt könnte man sagen: Das implizite Verständnis der Sünde als eine die ganze Menschheit durchdringende Macht (Röm  1,18–32) wird erst jetzt hinsichtlich der Frage nach dem Status des Gesetzes (Röm  2,12ff ) explizit gemacht und argumentativ verwertet.97 Welches Potential hat diese Argumentation bei den römischen Adressaten? Das Thema des Römerbriefes ist die Bekräftigung der soteriologischen Gleichstellung von Juden und Heiden unter der Voraussetzung des Glaubens an Christus. Den heidenchristlichen Adressaten ist der Gedanke der Heilskontinuität zu Israel in Röm  1,16f deutlich vor Augen geführt worden, in Röm  1,18–2,29 zeigt sich jedoch, dass diese Kontinuität un­ ter gewissen Einschränkungen steht, denn Paulus grenzt sich gleichzeitig von Gesetz und Beschneidung ab, indem er deren Nutzen mit großem argumentativem Aufwand hin­ terfragt.98 Es ergibt sich lediglich eine Leerstelle in der Argumentation: Der Zusam­ menhang von Gesetz und Beschneidung wird nur äußerst knapp behandelt (Röm  2 ,25: sie nütze nur, wenn das Gesetz getan werde). Warum wird diese Prämisse nicht eigens 95 Vgl. Wengst, Römerbrief, 164; Wilckens, Römer I, 132, der diesen Zusammenhang deutlich hervorhebt und vor allem auf Röm  2 ,8f verweist. Haacker, Römer, 97: „Die Wirk­ lichkeit der Sünde im Menschenleben überbrückt die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden […].“ Jewett, Romans, 211 versucht eine Einschätzung der Wirkung von Röm  2 ,12 auf die Gemeinden: „While each of the groups in Rome thought of itself as excep­ tional and superior, they are in fact equally accountable.“ 96  Z. B. in 2Bar 48,46f; vgl. Jewett, Romans, 211. 97  Insofern gegen Hahn, Gesetzesverständnis, 59: „Im Römerbrief wird dagegen schon von 1,18 an alles Gewicht darauf gelegt, da nicht nur Sünde und Tod, sondern auch Gesetz und Gesetzeswerke alle Menschen betreffen […], ganz gleich, ob sie Heiden oder Juden sind.“ Das Gesetz wird durch die universale Herrschaft der Sünde relativiert, Israel und sein Gesetz werden wie der Rest der Menschheit durch die Sünde unterdrückt. 98  Diese Tendenz wird sich im Römerbrief fortsetzen. In Barretts Frage, Romans, 57: „What was God’s intention in giving the law?“ zeichnet sich eine wesentliche Aporie der Argumentation des Römerbriefs ab und trotz Barretts vorsichtiger Prognose (ebd.): „The Epistle to the Romans does not work out a systematic answer to these questions, but the material necessary if an answer is to be given may be collected from point to point.“ – Paulus bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, wozu Gott Israel das Gesetz gegeben hat. Man könnte aus Röm  9 –11 ableiten, dass die Gabe des Gesetzes letztlich zur Erwählung der Hei­ den geführt hat, denn Israel hat das Gesetz instrumentalisiert, um seine eigene Gerechtigkeit zu errichten, wodurch es zu seinem Fall gekommen ist, so dass Gott die Heiden berufen hat, um sein Volk wiederum eifersüchtig zu machen. Im Grunde ist aber die Geschichte des Ge­ setzes eine Geschichte des Misserfolgs und steht unter dem Fanal des ἀδύνατον (Röm  8,3).

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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begründet? Wenn die Argumentation tatsächlich als Musterargumentation gilt, mit der sich die römischen Heidenchristen gegen judenchristliche Beschneidungsforderungen abgrenzen können, so ist die Argumentation durchaus hinreichend, denn Paulus kann den Zusammenhang von Beschneidung und Gesetz sowohl für das judenchristliche Ge­ genüber – insbesondere, wenn man annimmt, dass Jer 9,22–25 im Hintergrund steht – 99 als auch für den Heidenchristen, der das Argument im konkreten Konfliktfall gegen eine observante Stimme vorbringt, als bekannt voraussetzen.100

2.3. Zwischenbilanz Dass Paulus in Röm  2,9–29 vor allem die Sanktionierung der Sünde in den Blick nimmt, ohne sie näher zu „definieren“, hängt mit seinem vorrangigen Argumentationsziel zusammen: Die Relativierung der Beschneidung auf dem Höhepunkt der conplexio in Röm  2,25–29. Die Zugehörigkeit zu Israel ergibt sich demnach nicht aus dem Besitz der Tora oder der physischen Beschneidung, sondern aus der Befolgung des Gesetzes, der Israel aber nicht nachkommt. Pau­ lus zeigt, dass sich die universale Macht der Sünde sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sphäre des Gesetzes realisiert, und wehrt damit judenchristliche Observanzforderungen ab, denen sich die heidenchristlichen Adressaten u. U. ausgesetzt sehen. So kann es bei Gott keine Parteilichkeit (προσωπολημψία) ge­ ben, die auf der Unterscheidung von Heiden und Juden beruht – Gott straft das Schlechte und belohnt das Gute unabhängig davon, wer es verrichtet. Der Sün­ denbegriff dient im Kontext von Röm  2,12 also ganz der Argumentation gegen eine nomologische Vereinnahmung oder Einschränkung des Evangeliums.

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29 Im Anschluss an die konfrontative conplexio von Röm  2,25–29 geht Paulus in Röm  3 in zwei Durchgängen (Röm  3,1–8 und 3,9–31) auf mögliche Verzerrun­ gen seiner Argumentation ein.101 In Röm  3,1–8 wird – zumindest noch zu Be­ ginn – die Beschneidung thematisiert, in Röm  3,9–31 steht die Funktion des Gesetzes im Fokus der Argumentation (vgl. Röm  3,19f; 3,21; 3,31). Röm  3 ist damit wie auch Röm  2,9–29 „zweistufig“ aufgebaut und behandelt Beschnei­ dung und Gesetz in einem Zusammenhang. Röm  2 ,17–24: Röm  2 ,25–29: Röm  3,1–8: Röm  3,9–31:

Gesetz Beschneidung Beschneidung Gesetz

99 Vgl. Fitzmyer, Romans, 320. In der späteren rabbinischen Literatur wird der Wert der Beschneidung ebenfalls von der Gesetzesobservanz abhängig gemacht (vgl. aaO. 321). 100  Vgl. dazu Haacker, Römer, 81: „Daß die Beschneidung nur als Zeichen und Beginn eines Lebens nach der Torah von Bedeutung ist, entspricht jüdischer Tradition […].“ 101  Vgl. aaO. 85.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

In Röm  3 schlägt sich die doppelte Tendenz des Römerbriefes – Abgrenzung gegen Observanzforderungen bei gleichzeitiger Bekundung der Kontinuität zwischen Israel und Heidenchristen – voll nieder: Würde Paulus sich im Rö­ merbrief lediglich gegen judenchristliche Observanzforderungen abgrenzen wollen, wäre Röm  2,9–29 völlig ausreichend, in sich geschlossen und gerade in der Zuspitzung von Röm  2,25–29 absolut überzeugend: Der römische Heiden­ christ erwiese sich als ὁ ἐν τῷ κρυπτῷ Ἰουδαῖος (Röm  2,29), der Judenchrist müsste sich eingestehen, dass er der Gesetzesübertretung überführt ist und dass von einer προσωπολημψία Gottes (Röm  2,12) hinsichtlich Israel keine Rede sein kann.102 In Röm  3 ist demgegenüber der Gedanke leitend, dass – obwohl Beschneidung und Gesetz ihre Heilsrelevanz verloren haben – die heidenchrist­ lichen Adressaten in einer heilsgeschichtlichen Kontinuität zu Israel stehen und dass Beschneidung und Gesetz als Bundeszeichen nicht aufgehoben sind. Impli­ zit verhandelt Paulus also bereits in Röm  3 das Problem der Erwählung Isra­ els.103 Insofern ist Paulus’ schwebende Antwort auf die Frage des „Wir“ in Röm  3,9b, ob die Heidenchristen einen Vorzug haben, bezeichnend für die Tendenz von Röm  3: „nicht gänzlich“ (οὐ πάντως). Wegen der markanten Abgrenzung in Röm  3,9 müssen die beiden Abschnit­ te Röm  3,1–8 und 3,9–31 getrennt voneinander besprochen werden, auch wenn sie beide auf Röm  2,9–29 hin konstruiert sind.

3.1. Röm  3,1–8 als polemischer Übergang: Der ἁμαρτωλός als Argument gegen eine libertinistische Fehldeutung der Treue Gottes 3.1.1. Argumentationsanalyse: Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Skopus Bei der Bestimmung des Skopus der Passage von Röm  3,1–8 ergeben sich aus argumentationstheoretischer Perspektive immense Schwierigkeiten. Unter dem Gesichtspunkt der Aufmerksamkeitslenkung bietet Röm  3,1–8 ein uneinheitliches Bild und die Suche nach einer conplexio gestaltet sich schwierig, denn die Personalpronomina und Morpheme fluktuieren stark und ein echter Wechsel zwischen Explikation und Applikation ist nicht erkennbar.104 Eine ein­ 102 Vgl.

Luz, Auf bau, 168: „Die Frage von Röm.  3, 1 […] legt sich offensichtlich durch die vorangehenden Ausführungen, vor allem durch Röm.  2 , 28 f. nahe, wo angesichts der Ge­ rechtigkeit Gottes jeder Vorzug des Juden kategorisch negiert zu sein scheint: Derjenige, der ἐν τῷ φανερῷ Jude ist, ist dem Heiden gleichzustellen und wird nach seinen Werken gerich­ tet.“ 103  Vgl. aaO. 169, wo Röm  3,1–8 bzw. 3,1–9 im Kontext der Israel-Frage 9–11 verortet werden. 104  Hall, Reconsidered, 182f setzt sich kritisch mit der Forschungsmeinung auseinander, der Text sei durch diatribische Elemente geprägt. Er gelangt zu folgender Einschätzung: Es mangele dem Text an charakteristischen Einleitungsformeln, die sich in anderen Paulus­ texten durchaus finden ließen (vgl. aaO. 183), schwerer wiege jedoch: „[…] if Paul is really using the diatribe style in this passage, he is using it in a very strange way. Normally, in the

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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deutige Abgrenzung ergibt sich letztlich nur von Röm  3,9 her, wo definitiv eine neue Passage beginnt. Der Abschnitt wird mit einer Frage bzw. These eingeleitet, die in explikativer Form vorgebracht wird (Röm  3,1). Auch in Röm  3,1–4a herrscht die 3. Person vor (Röm  3,2: ἐπιστεύθησαν; 3,3: ἠπίστησάν τινες […] καταργήσει; 3,4a: γένοιτο […] γινέσθω […]), dann wechselt Paulus – bedingt durch das Zitat (Röm  3,4b) – in die 2. Person Singular (ὅπως ἂν δικαιωθῇς ἐν τοῖς λόγοις σου καὶ νικήσεις ἐν τῷ κρίνεσθαί σε), sodann kennzeich­ net er in Röm  3,5 die ἀδικία als ἡ ἀδικία ἡμῶν, schließlich wechselt er in die 1. Person Singular: κατὰ ἄνθρωπον λέγω (Röm  3,5), unterbricht sich wiederum (Röm  3,6) und setzt erneut selbstreferenziell ein: ἐν τῷ ἐμῷ ψεύσματι (Röm  3,7) und τί ἔτι κἀγὼ ὡς ἁμαρτωλὸς κρίνομαι (Röm  3,7). Er wechselt wiederum in die 1. Person Plural, wenn er auf Verleumdungen seiner Theologie zu sprechen kommt: καὶ μὴ καθὼς βλασφημούμεθα καὶ καθώς φασίν τινες ἡμᾶς λέγειν ὅτι ποιήσωμεν τὰ κακά, ἵνα ἔλθῃ τὰ ἀγαθά; (Röm  3,8). Schließlich bricht die Struktur mit Röm  3,8 ab.

Die Strukturanalyse muss nun genauer zeigen, ob Röm  3,1–7 in 3,8 gipfelt und inwiefern bei der Passage von Röm  3,1–7 überhaupt von einer Argumentation die Rede sein kann. Der für den Römerbrief ungewöhnlich sprunghafte Dia­ logstil der Passage macht es nicht nur schwer, zu erfassen, worauf Paulus die Aufmerksamkeit seiner Adressaten lenkt, sondern auch die argumentativen Strukturen zu analysieren, wie sie von der antiken Argumentationstheorie be­ schrieben werden: Segmentierung, Interdependenz und Kohärenz sind nur schwach ausgeprägt. Zur Segmentierung. Es sind nur wenige metakommunikative Gliederungs­ signale vorhanden: Paulus eröffnet die Passage mit τί οὖν, unterbricht sich in Röm  3,3 mit τί γάρ. In Röm  3,5 stellt er eine weitere Frage (τί ἐροῦμεν), kom­ biniert mit einem εἰ-Satz. Auch Röm  3,7 weist eine Kombination von Kondi­ tionalsatz und Frageform auf. In Röm  3,8 gipfelt der Abschnitt in einer letzten Frage, die Paulus brüsk zurückweist. diatribe, the objector’s point is stated briefly, and replied to in detail. But in Romans 3. 1–8, as commonly interpreted, the objections are stated in detail, and Paul’s replies are brief and inadequate“ (aaO. 183). Die Undurchsichtigkeit von Röm  3,1–8 rühre vor allem daher, dass Paulus Gottes Unparteilichkeit gegenüber Juden und Griechen mit dem Bundesversprechen an Israel zusammendenken wolle (vgl. ebd). Dieses Problem habe aber konkreten Anhalt an den römischen Adressaten und sei nicht als fiktionale Gesprächssituation zu verstehen: Das Pronomen τινες in Röm  3,8 weise auf konkrete Gegner hin (aaO. 184). Hall fasst den Gedan­ kengang von Röm  3,1–8 folgendermaßen zusammen: „(1) The Jew has the advantage of possessing the covenant and its promises (vv. 1, 2); (2) God’s judgement of the Jews, described in chapter 2, does not contradict the covenant because (a) the OT itself recognizes that God’s judgement is consistent with his saving righteousness (vv. 3, 4), (b) if God were not free to exercise his wrath, this would produce intolerable moral consequences (vv. 5–8)“ (aaO. 185). Hall geht davon aus, dass Paulus in 3,1–8 gerade nicht auf Diatribenstil zurückgreife, sonst müsste er eine erschöpfende Antwort auf die Anfragen geben, die er in Röm  3,1–7 selber fingiere. Hall meint vielmehr, dass Paulus mit eigener Stimme und ausgehend von Ps 51,4 die Fragen in Röm  3,1–8 stelle, um das zentrale Problem von Röm  2 einzuholen und sicherzu­ stellen, dass Gott sein Bundesversprechen nicht breche (vgl. aaO. 195).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Zur Interdependenz der Segmente. Röm  3,1.2a bildet den thetischen Auftakt der Passage: Dass die Juden über eine besondere Auszeichnung – etwas Außeror­ dentliches – verfügen und es einen Nutzen der Beschneidung gebe, wird in Röm  3,2a bekräftigt (πολὺ κατὰ πάντα τρόπον). Mit ὠφέλεια τῆς περιτομῆς stellt Paulus einen unmittelbaren Bezug zu Röm  2,25 (ὠφελεῖ ) her: Dort war der Nutzen der Beschneidung an das Tun des Gesetzes geknüpft und konnte deswe­ gen relativiert werden. Nun wird ihr Nutzen erneut hinterfragt und, wenn auch wenig konkret, bejaht. Röm  3,2b soll den Vorzug der Juden offenbar begründen: Paulus führt die λόγια τοῦ θεοῦ ins Feld. Dabei ergibt sich das kausale Verhältnis von Röm  3,2b zu Röm  3,2a nicht nur durch das (textkritisch unsichere) γάρ, sondern auch durch den mit ὅτι eingeleiteten Kausalsatz. Bei πρῶτον ist zu überlegen, ob nicht – wie auch in Röm  1,16f – mit „besonders“ übersetzt werden sollte, denn Paulus engt ja hier die Frage nach περισσόν und ὠφέλεια auf die λόγια τοῦ θεοῦ ein, die vermutlich als Verheißungsworte bzw. Offenbarungen Gottes, in jedem Fall aber als ein besonderes Alleinstellungsmerkmal und Aufweis der πίστις τοῦ θεοῦ verstanden werden (Röm  3,3b2) können.105 Die Juden verfügen – dies ist der Nutzen bzw. „saving advantage“106 der Beschneidung – über einen beson­ deren Treueerweis Gottes.107 Die Beziehung zwischen Gott und Juden drückt sich also sehr prägnant im Prädikat ἐπιστεύθησαν aus. Der Abschnitt dient dem vorigen demnach offenbar als Begründung bzw. ratio: Paulus erklärt, dass die Beschneidung den Juden nutzt, weil Israel die λόγια τοῦ θεοῦ anvertraut sind. 105  Die Bedeutung von τὰ λόγια τοῦ θεοῦ ist umstritten. Schreiner, Romans, 149 versteht sie als Verheißungsworte Gottes, was sich vor dem Hintergrund des Gefälles von Treue und Untreue in Röm  3,3 und den Kapiteln 9–11 durchaus nahelegen würde. Der Verweis auf die Worte Gottes ermögliche es Paulus jedenfalls zu behaupten, dass die Treue Gottes und die Untreue des Menschen in einem elenktischen Verhältnis zueinander stehen – d. h. die Lüge des Menschen macht die Wahrheit Gottes offenbar (vgl. auch Haacker, Römer, 87: „Diese ‚Zuverlässigkeit‘ Gottes […] erweist sich gegenüber der enttäuschenden menschlichen Exis­ tenz als ein Rechtbehalten Gottes in einem Rechtsstreit, wofür sich Paulus auf Ps. 51,6 (LXX: 50,6) beruft.“). Schreiner geht jedoch etwas zu schnell zur Gegenüberstellung von jüdischer Untreue und der Treue Gottes über, denn Paulus bezieht sich in Röm  3,3 dezidiert auf den Menschen als Lügner, womit die Perspektive von Röm  1,18ff wieder eingeholt werden würde. Damit zeigt er, dass Israel Teil der gefallenen Menschheit ist und kein Jude eine be­ sondere Relation zu Gott behaupten könnte, die neben der πίστις steht (vgl. Schreiner, Romans, 151: „The presence of πᾶς confirms the thesis of chapter 2 that no Jew would be saved by keeping the law.“). Paulus hebt mit Röm  3,3f hervor, dass sich die Treue Gottes durch die Untreue des Menschheitskollektivs nicht auf heben ließe. Dieser Grundsatz deter­ miniert die gesamte Argumentation von Röm  3. 106  Schreiner, Romans, 148 vor dem Hintergrund von Röm  2 ,25. 107 Vgl. Haacker, Römer, 86: „Die Sonderstellung der Juden vor Gott kann nur narrativ ausgesagt werden; Israels Proprium ist seine Geschichte mit Gott.“ Im Zusammenhang mit den den Juden anvertrauten Worten Gottes (Röm  3,2) erklärt Reichert, Gratwanderung, 161: „Das Besondere des Juden ist kein von jedem einzelnen Juden zu beanspruchendes Merkmal, sondern die von Gott in der Vergangenheit gesetzte Beziehung seiner selbst zum jüdischen Volk.“

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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Der Abschnitt von Röm  3,3–8 weist eine auffällige Struktur auf. Mit τί γάρ; (Röm  3,3a) leitet Paulus eine Absicherung der zuvor vorgebrachten ratio ein, indem er drei parallele Konditionalgefüge konstruiert: 1. Konditionalgefüge 3b1 εἰ ἠπίστησάν τινες, 3b2 μὴ ἡ ἀπιστία αὐτῶν τὴν πίστιν τοῦ θεοῦ καταργήσει;

2. Konditionalgefüge 5a1 εἰ δὲ ἡ ἀδικία ἡμῶν θεοῦ δικαιοσύνην ­σ υνίστησιν, 5a2 τί ἐροῦμεν; 5b μὴ ἄδικος ὁ θεὸς ὁ ἐπιφέρων τὴν ὀργήν; 5c κατὰ ἄνθρωπον λέγω.

1. Verwerfungsformel 4a μὴ γένοιτο. 1. Richtigstellung 4b1 γινέσθω δὲ ὁ θεὸς ἀληθής, 4b2 πᾶς δὲ ἄνθρωπος ψεύστης, 4b3 καθὼς γέγραπται. 4c ὅπως ἂν δικαιωθῇς ἐν τοῖς λόγοις σου καὶ νικήσεις ἐν τῷ κρίνεσθαί σε.

2. Verwerfungsformel 6a μὴ γένοιτο. 2. Richtigstellung 6b ἐπεὶ πῶς κρινεῖ ὁ θεὸς τὸν κόσμον;

3. Konditionalgefüge 7a εἰ δὲ ἡ ἀλήθεια τοῦ θεοῦ ἐν τῷ ἐμῷ ψεύσματι ἐπερίσσευσεν εἰς τὴν δόξαν αὐτοῦ, 7b τί ἔτι κἀγὼ ὡς ἁμαρτωλὸς κρίνομαι; 8a1 καὶ μὴ καθὼς βλασφημούμεθα καὶ καθώς φασίν τινες ἡμᾶς λέγειν 8a2 ὅτι ποιήσωμεν τὰ κακά, 8a3 ἵνα ἔλθῃ τὰ ἀγαθά; 3. Verwerfungsformel 8b ὧν τὸ κρίμα ἔνδικόν ἐστιν. [3. Richtigstellung]

Tabelle 24: Die Konditionalgefüge von Röm  3,3–8 in synoptischer Darstellung

In Röm  3,3b ist der Konditionalsatz regulär aufgebaut (Protasis/Apodosis), in Röm  3,5 mündet die Protasis in eine Frage (Röm  3,5a2), die zu einer weiteren Frage (Röm  3,5b) und einer Reflexion (Röm  3,5c) weiterentwickelt wird. In Röm  3,7 dient – ähnlich wie in Röm  3,5 – eine Frage als Apodosis, hier wird sie jedoch noch einmal in einer Entscheidungsfrage fortgesetzt (Röm  3,8). Auf die Konditionalgefüge folgen jeweils Verwerfungsformeln: in Röm  3,4a und Röm  3,6a das charakteristische μὴ γένοιτο, in Röm  3,8b eine erweiterte Form, mit der Paulus vor allem die Verdrehung des Guten und Bösen (Röm  3,7) anvi­ siert, die man ihm (und den heidenchristlichen Adressaten, wenn man sie in die 1. Person Plural miteingeschlossen wissen möchte) anscheinend vorwirft. Auf die Verwerfungsformeln folgen in Röm  3,4bc und 3,6b positive Richtigstellun­ gen. Die erste (Röm  3,4bc) fällt umfangreich aus und nimmt einen Schriftbe­ weis hinzu, die zweite (Röm  3,6b) besteht lediglich aus einer rhetorischen Frage zur Abwehr des Fehlschlusses. Im dritten Gefüge fehlt die Richtigstellung völ­ lig, stattdessen bringt die Verwerfungsformel von Röm  3,8 den Gedankengang

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

zu einem Abschluss. An der synoptischen Darstellung der Konditionalgefüge lässt sich zeigen, dass Paulus von Gefüge zu Gefüge die abzuwehrende Position immer umfangreicher abbildet, während die positive Weiterentwicklung nach der Verwerfungsformel immer kürzer ausfällt und schließlich ganz fehlt – am Ende der Passage greift Paulus auf eine schroffe, apodiktische Abwehr der geg­ nerischen Unterstellungen zurück. Röm  3,3–8 kann – unter Einschränkung – als eine confirmatio der ratio von Röm  3,2 verstanden werden, insofern Röm  3,3b.4 das Kernargument darstellt, das in Röm  3,5f und 3,7f ausgebaut wird. Mit Röm  3,3b führt Paulus das Ar­ gument der besonderen Gottesbeziehung Israels, das er in Röm  3,2b2 mit ἐπιστεύθησαν τὰ λόγια τοῦ θεοῦ eingebracht hat, semantisch mit ἠπίστησάν τινες, ἡ ἀπιστία αὐτῶν und τὴν πίστιν τοῦ θεοῦ weiter. Diesen Zusammenhang sichert er in Röm  3,4 auf zweifache Weise ab: Er behauptet zunächst, dass die menschliche Untreue Gott als wahrhaftig, den Menschen als Lügner ausweise. Damit ordnet Paulus die Treulosigkeit Israels in einen universalen anthropologi­ schen Kontext ein – eine Tendenz, die sich im Folgenden fortsetzen wird: Isra­ els Untreue stellt nur eine Manifestation der allgemeinen menschlichen Sünd­ haftigkeit dar. Paulus stellt dieser Überlegung einen Schriftbeweis (Röm  3,4c) zur Seite, wobei die Wendungen δικαιωθῇς und νικήσεις ἐν τῷ κρίνεσθαί σε im Mittelpunkt stehen. In Röm  3,5f wird der Schriftbeweis, in Röm  3,7f der von Paulus eingebrach­ te Zusammenhang von lügendem Menschen und wahrhaftem Gott näher erläu­ tert. In Röm  3,5f greift Paulus das Moment der Rechtfertigung und des „Sieges im Richten“ von Röm  3,4c vollumfänglich auf, indem er im zweiten Konditi­ onalgefüge die Frage nach der Gerechtigkeit des Zorns Gottes stellt. Dabei in­ terpretiert der Vers den Schriftbeweis von Röm  3,4c im Spiegel von Paulus’ ei­ gener Überlegung in Röm  3,4b und fragt nach dem elenktischen Zusammenhang zwischen der Ungerechtigkeit des Menschen und der Gerechtigkeit Gottes, d. h. er fragt danach, wie das eine durch das andere überführt wird und ans Licht gebracht wird. Dann führt Röm  3,5 das Motiv der Gerechtigkeit und den elenktischen Zusammenhang von Lüge und Wahrheit, wie er sich im Verb γινέσθω verdichtet, produktiv zusammen und deutet γινέσθω im Sinne von συνίστησιν. So verteidigt Paulus vor allem den Schriftbeweis und weist etwaige Widersprüche mit dem Hinweis auf Gottes Gericht zurück. Dabei muss auch hier beachtet werden, dass Paulus in Röm  3,5f durch die Verwendung der 1. Person Plural die heidenchristlichen Adressaten mit in seine Überlegungen einbezieht (ἡμῶν). Dass das Treueverhältnis zwischen Gott und Israel durch die „Treulosigkeit einiger“ nicht aufgehoben werden kann, wird im Spiegel der Ungerechtigkeit aller Menschen – die Heidenchristen eingeschlossen – erörtert. Röm  3,7f greift auf das Begriffspaar ἀλήθεια τοῦ θεοῦ und ἐν τῷ ἐμῷ ψεύσματι zurück und Paulus formuliert in Röm  3,7a einen Zusammenhang, der – wie Röm   3,5f – Röm   3,4b sachlich sehr nahesteht: Das Prädikat ἐπερίσσευσεν

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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drückt offenbar dasselbe elenktische Moment wie γινέσθω oder συνίστησιν aus. Paulus stellt das elenktische Verhältnis von Wahrheit und Lüge in den Vorder­ grund, nicht jedoch ohne im Hauptsatz den ἁμαρτωλός-Begriff einzubringen: Der Sünder scheint vor allem der „Lügner“ zu sein, also derjenige, der sich von der Wahrheit Gottes entfernt. Dass die Lüge des Menschen die Verkehrung des Guten nach sich zieht, wird in Röm  3,8a deutlich: Hier wird der elenktische Zusammenhang von Wahrheit und Lüge auf den Antagonismus von Schlech­ tem und Gutem übertragen und bewusst libertinistisch fehlinterpretiert. Auch in diesem Abschnitt schlägt sich die Tendenz nieder, den Fall der Treulosigkeit Israels auf universale Prämissen zurückzuführen: Paulus wechselt in Röm  3,7 in die 1. Person Singular – die Verwendung der 1. Person bleibt hier zunächst noch unspezifisch. Wird jedoch Röm  3,8 hinzugenommen und als Präzisierung von Röm  3,7 aufgefasst, scheint Röm  3,7 wie schon Röm  3,4 und 3,5 von der Frage nach der Untreue Israels zu abstrahieren. Paulus hält fest, dass ihm, der hinsicht­ lich Israel ein elenktisches Verhältnis von menschlicher Untreue und göttlicher Treue postuliert, keine moralische Beliebigkeit, kein Libertinismus, vorgewor­ fen werden könne – in diesem Sinne dürfe die Dynamik in Röm  3,4 nicht in­ terpretiert werden. Zur Kohärenz der Argumentation. Die Konditionalgefüge von Röm  3,5f und 3,7 beziehen sich auf eine Kernargumentation, nämlich die Zusammenstellung der theologischen Prämisse von Röm  3,4b und des Schriftzitates von Röm  3,4c. Daher lässt sich innerhalb von Röm  3,5–8 eine gewisse argumentative Hierar­ chie ausmachen:108 3,1.2a These 3,2b ratio 3,3a.4: rationis confirmatio Einordnung des folgenden Schrift­ beweises 4b1 γινέσθω δὲ ὁ θεὸς ἀληθής, 4b2 πᾶς δὲ ἄνθρωπος ψεύστης,

Schriftbeweis 4b3 καθὼς γέγραπται. 4c ὅπως ἂν δικαιωθῇς ἐν τοῖς λόγοις σου καὶ νικήσεις ἐν τῷ κρίνεσθαί σε. Darlegung des Schriftbeweises 5a1 εἰ δὲ ἡ ἀδικία ἡμῶν θεοῦ δικαιοσύνην συνίστησιν, 5a2 τί ἐροῦμεν; 5b μὴ ἄδικος ὁ θεὸς ὁ ἐπιφέρων τὴν ὀργήν; 5c κατὰ ἄνθρωπον λέγω. 6a μὴ γένοιτο. 6b ἐπεὶ πῶς κρινεῖ ὁ θεὸς τὸν κόσμον;

108  Die semantischen Entsprechungen, die mit dem Schriftbeweis und dessen Einordnung zusammenhängen, sind fett gedruckt, das elenktische Moment, das sich in Röm  3,4 im Verb γινέσθω ausdrückt, ist unterstrichen.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Darlegung der Einordnung des Schrift­ beweises 7a εἰ δὲ ἡ ἀλήθεια τοῦ θεοῦ ἐν τῷ ἐμῷ ψεύσματι ἐπερίσσευσεν εἰς τὴν δόξαν αὐτοῦ, 7b τί ἔτι κἀγὼ ὡς ἁμαρτωλὸς κρίνομαι; 8a1 καὶ μὴ καθὼς βλασφημούμεθα καὶ καθώς φασίν τινες ἡμᾶς λέγειν 8a2 ὅτι ποιήσωμεν τὰ κακά, 8a3 ἵνα ἔλθῃ τὰ ἀγαθά; 8b ὧν τὸ κρίμα ἔνδικόν ἐστιν. Tabelle 25: Argumentative Bezüge zwischen Röm  3,1–4 und 3,5–8

Röm   3,1–8 beruht demnach auf einem argumentativen Kern von These (Röm  3,1.2a) und Begründung (Röm  3,2b). Die These, Gott kündige seine Treue nicht auf, wird dadurch bekräftigt, dass ein elenktisches Verhältnis zwi­ schen menschlicher Untreue und Gottes Treue behauptet wird. Dieses Verhält­ nis wird anhand von zwei unterstützenden bzw. flankierenden Begründungs­ momenten abgesichert: Es kann zum einen nicht so verstanden werden, dass der Mensch für seine Ungerechtigkeit nicht verantwortlich und Gott ungerecht in seinem Zorn wäre. Es handelt sich zum anderen aber auch nicht um ein Kalkül, als ob der Mensch durch das Tun des Schlechten das Gute provozieren könnte. Die Besonderheiten der Argumentation von Röm  3,1–8 dürfen nicht über­ gangen werden.109 Das rhetorische Argumentationsmodell kann nur ansatzwei­ se dabei helfen, das Ziel der Argumentation zu bestimmen. Der responsorische Auf bau der Passage gipfelt in einer schroffen Zurückweisung der gegnerischen Position und ist nur noch lose mit der Frage nach der Beschneidung verbunden. Paulus lenkt die Aufmerksamkeit durch seine Einwürfe auf die Frage nach einer fehlgeleiteten Ethik und bekämpft die Gegner von Röm  3,8 nicht eigentlich argumentativ, sondern durch eine Art reductio ad absurdum. Röm  3,1–8 fällt also schon aufgrund dieser stilistischen Besonderheit aus der Struktur von Röm  1–3 heraus. Der Bruch ist vielleicht auf die Zuspitzung der Erörterung bzgl. der Beschneidung in Röm  2,25–29 zurückzuführen, die Paulus zu einer kurzen Unterbrechung „in eigener Sache“ nötigt.110 Der Tendenz nach gehört Röm  3,1–8 aber unbedingt zu Röm  3,9–31, da die Frage nach der Beschneidung ebenso apologetisch beantwortet wird wie die nach dem Gesetz: Der physischen Beschneidung wird grundsätzlich eine Berechtigung zuerkannt. Röm  3,9–31 109  Die Einbettung in den argumentativen Kontext gelingt auch bei Hellholm, Gesamt­ struktur, 42 nicht überzeugend. Röm  3,1–8 sei ein „Diatribischer Dialog mit einem jüdi­ schen Interlokutor bezüglich Gottes Bundestreue vis à vis der Untreue der Juden“. Der Zu­ sammenhang zur argumentativen Makrostruktur bleibt dabei jedoch unklar. Luz, Auf bau, 169 bestimmt Röm  3,1–8 zusammen mit Röm  3,9 als „Exkurs“. 110  Das deutet zumindest Luz, Auf bau, 168 an.

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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setzt darüber hinaus auch die enge Verbindung von Gesetz und Beschneidung voraus, wie auch Röm  2,25 sie annimmt.111 3.1.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Der Sündenbegriff taucht als Adjektiv in Röm  3,7 auf. Mit dem Begriff wird hier eine Fehldeutung der paulinischen Gesetzestheologie zurückgewiesen. Die Verwendung von ἁμαρτωλός wird durch Röm  3,3–7 gewissermaßen vorbereitet. Röm  3,3f ist als ein zusammenhängender Abschnitt zu verstehen: Die Frage nach dem Verhältnis von Treue und Untreue wird erst in Röm  3,4c zu einem vorläufigen Ende gebracht. Röm  3,3a („Was denn?“) weist auf die konfutatorische und konfirmative Tendenz des Abschnitts hin: Paulus setzt zu einer Bekräftigung der Aussage von Röm  3,2b an. Die Frage von Röm  3,3b be­ zieht sich semantisch auf ἐπιστεύθησαν (Röm  3,2a2), indem Paulus die Untreue Einiger (εἰ ἠπίστησάν τινες) konditional in den Blick nimmt und fragt, ob durch deren Treuebruch die Treue Gottes aufgehoben werde. Damit kommt Paulus einer Fehlinterpretation seiner Ausführungen aus Röm   2 zuvor, denn in Röm  2,17ff hat Paulus den Fall des Juden geschildert, der vom Gesetz abfällt und dadurch nicht mehr am Nutzen der Beschneidung partizipiert. Die „Ein­ 111 Im Zuge seiner Untersuchung der Bedeutung der „Gerechtigkeit Gottes“ vor dem Hintergrund von Ps 143, mit der er zeigen möchte, dass die δικαιοσύνη θεοῦ als „God’s own salvation-creating power“ auch ohne Bezug zu Qumranmaterial oder apokalyptischen Tra­ ditionen verständlich sei (vgl. Hays, Logic, 108), kommt Hays auch auf den Auf bau von Röm  3 zu sprechen: Röm  3,1–8 müsse vor dem „problem of the allegedly special status of the Jew before God“ (aaO. 109) verstanden werden. Während Röm  2 gezeigt habe, dass die „specifity of Jewishness“ irrelevant sei (aaO. 109), versuche Röm  3 die „Integrität“ Gottes zu beweisen, dessen Versprechen an Israel ja nicht hinfällig geworden seien (vgl. aaO. 109). Dies gelinge Paulus durch eine Gegenüberstellung von Mensch und Gott, mit der die Untreue des Menschen und die Treue Gottes auf verschiedenen Ebenen erwiesen werden sollen. Die Gerechtigkeit Gottes müsse vor dem Hintergrund dieser Gegenüberstellung als „manifested in his saving activity, not as a property of God in se“ verstanden werden (aaO. 111). Röm  3,9– 20 sei auf die Frage von Röm  3,1 bezogen: „Paul digresses briefly into a complaint about some adversaries who misrepresent his gospel as a license for libertinism (3:8), but then he suddenly recalls the discussion ( Τί οὖν, 3,9) to the question with which he began the chapter, to which he now, surprisingly, gives the diametrically opposite answer: Jews are not better off because everybody, Jew and Greek alike, is ὑφ’ ἁμαρτίαν“ (aaO. 112). Hays bestimmt Paulus’ Aussage zur Sündhaftigkeit aller (Röm  3,9) und zur Schuld der ganzen Welt (Röm  3,19) als „framework“ (ebd.) für die Ausführungen von Röm  3,8–18. Sünde (Röm  3,9), Ungerechtig­ keit (Röm  3,10) und Schuldigkeit (Röm  3,19) müssten dann als Kadenz verstanden werden, die auf Röm  3,1–8 bezogen sei: „[…] 3:9–20 forms an extended rebuttal to the rhetorical suggestion in vv 5–7 that God might be considered unfair (ἄδικος )“ (ebd.). Röm  3,21–26 ziele auf den gleichen Skopus: „God has not abandoned his people. He has now revealed his justice/righteousness in a new way, overcoming human unfaithfulness by his own power and proving himself faithful/just“ (aaO. 113). Zentrales Anliegen von Röm  3,21–26 sei es also, die Integrität Gottes in der Israelfrage sicherzustellen. Der Übergang von Röm  3,20 zu 3,21 – die Feststellung der Ungerechtigkeit und Schuldigkeit der Welt und die darauf unmittelbar folgende Feststellung der Gerechtigkeit Gottes – sei vor dem Hintergrund von Ps 143 zu verstehen, der diesen Übergang ebenfalls vollziehe (vgl. aaO. 113–115).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

zelfallanalyse“ von Röm  2,17–24 wird in diesem Zusammenhang generalisiert und dient Paulus als Anlass, die Frage nach der πίστις τοῦ θεοῦ zu stellen, eine Frage, die in Röm  2,17–24 überhaupt nicht behandelt wurde.112 Paulus weist die Möglichkeit einer Auf hebung oder Rücknahme dieser Treue (Röm  3,4a: μὴ γένοιτο) schroff zurück. Er argumentiert, dass sich durch die Untreue des Men­ schen Gott als ἀληθής, jeder Mensch aber als ψεύστης erweise. Damit konterka­ riert Paulus unterschwellig und in auffälliger, chiastischer Umstellung die Frage von Röm  3,3b2. Satzteil 3b2

a ἡ ἀπιστία αὐτῶν (τινες )

b

c

τὴν πίστιν τοῦ θεοῦ

καταργήσει

4a μὴ γένοιτο 4b1+2 Satzteil

πᾶς δὲ ἄνθρωπος ψεύστης c

δὲ ὁ θεὸς ἀληθής

γινέσθω

b

a

Tabelle 26: Darstellung der chiastischen Anordnung der Satzteile in Röm  3,3b2 und 3,4b1+2

Während in Röm  3,3 der Fall der τινες bedacht wurde, gerät mit Röm  3,4 „je­ der Mensch“ in den Blick. Die „Untreue Einiger“ erscheint in Röm  3,4b nicht mehr als das zentrale Problem. Die Entscheidungsfrage, ob (Röm  3,3b2: μή) die Untreue der τινες die Treue Gottes auf heben könne, wird mit dem Hinweis auf ein besonderes Verhältnis von ψεύστης und ἀληθής zurückgewiesen: Beide ste­ hen zueinander in einem elenktischen Verhältnis, insofern die Lüge des Men­ schen die Wahrheit Gottes aufdeckt. Das alttestamentliche Zitat (Röm  3,4c) si­ chert diesen Zusammenhang ab und bringt über δικαιωθῇς den δικα -Stamm ein, der für Röm  3,5b das entscheidende Stichwort abgeben wird, mit ἐν τοῖς λόγοις σου zumindest auf die τὰ λόγια τοῦ θεοῦ aus Röm  3,2a2 anspielt und mit ἐν τῷ κρίνεσθαί σε Röm  3,7f begrifflich vorbereitet. Das Zitat aus Röm  3,4c führt an, dass durch den Prozess des κρίνεσθαι beides erwiesen werden könne – menschliche Lüge und Gottes Wahrheit –, wodurch Gott sich als gerecht zei­ ge. So kann Paulus seine These – das περισσὸν τοῦ Ἰουδαίου trotz der Argumen­ tation von Röm  2,17–29 – gegen den Vorwurf behaupten, er stelle die Treue Gottes in Frage. Paulus verwendet also das Adjektiv ἁμαρτωλός in diesem Zusammenhang, um ein falsch verstandenes Treuverhältnis zwischen Gott und Israel zu widerle­ gen: Wenn der Nachweis der Sündhaftigkeit dem Nachweis der Wahrhaftigkeit Gottes dient, wäre die Bezeichnung (und Sanktionierung) des Sünders nicht legitim – das weist Paulus zurück und spielt mit der elenktischen Funktion des Sündenbegriffs. Der sündhafte Mensch ist im Kontext von Röm  3,5–8 derjeni­ ge, der die Wahrheit Gottes verkennt, ungerecht ist und das Schlechte tut, selbst 112 

Vgl. auch Hall, Reconsidered, 186.

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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wenn Gott sich in der Überführung des Sünders als wahrhaftig erweist. Mit dieser Vorstellung des Sünders perhorresziert Paulus eine ethische Fehlinterpre­ tation der dynamischen Heilsgeschichte Israels, die sich zwischen menschlicher Untreue und Treue abspielt: Der Mensch steht nach wie vor in ethischer Ver­ antwortung, das von Gott ermöglichte Treueverhältnis schließt die Treue des Menschen unbedingt ein.

3.2. Röm  3,9–31: Die universale Macht der Sünde als Argument gegen die Gerechtigkeit aus dem Gesetz 3.2.1. Argumentationsanalyse: Röm  3,27–31 als Skopus der in Röm  3,9 beginnenden Argumentation Wiederum soll die Argumentation mithilfe der antiken Argumentationstheorie auf ihren Fluchtpunkt hin untersucht werden. Aus attentionaler, struktureller und auch rationaler Perspektive bietet sich Röm  3,27–31 als Skopus der in Röm  3,9 beginnenden Argumentation an. In Röm  3,9 setzt Paulus – anders als in Röm  3,1 – mit der 1. Person Plural ein und bezieht damit seine heidenchristlichen Adressaten mit in die Argumenta­ tion ein. Es deutet sich hier keine „judenchristliche Perspektive“ an, als wäre Röm  3,9 als Wiederauflage der Frage nach dem „Vorteil des Juden“ in Röm  3,1 zu verstehen. Röm  3,9 kann nicht als Wiederauflage von Röm  3,1 verstanden werden, denn: 1. Ange­ sichts der attentionalen Erwägungen zur Verwendungsweise der 1. Person Plural im Römerbrief ist es wahrscheinlich, dass über προεχόμεθα ein indirekter Adressatenbezug hergestellt werden soll: Paulus bezieht die heidenchristliche Gemeinde mit in die Argu­ mentation ein. Zudem bringt er in Röm  3,19f ein Wissen ein, das die judenchrist­ lich-partikularistische Sicht übersteigt: „Wir wissen aber, dass…“ Und in Röm  3,31 weist Paulus in der 1. Person Plural den Vorwurf von sich, das Gesetzes aufzuheben, und behauptet demgegenüber seine Realisierung – pars pro toto für die durch Glauben ge­ recht gewordene heidenchristliche Gemeinde. Aus judenchristlicher Perspektive wäre Röm  3,31 sinnlos. 2. Paulus würde sich widersprechen: In Röm  3,1 forciert er einen Vorteil, in Röm  3,9 stellt er ihn in Frage. 3. Angesichts der Tendenz von Röm  3 als Kontinuitätsbekundung und „theologische Deckelung“ von Röm  2 ,9–29 legt sich nahe, προεχόμεθα so zu verstehen, dass hier die heidenchristliche Adressatenschaft ermahnt werden soll.

Mit der Anrede einer 1. Person Plural in Röm  3,9abc hebt Paulus auf die apo­ stolische Partnerschaft ab, an der die Heidenchristen partizipieren: Paulus möch­ te angesichts der Argumentation von Röm  2,9–29 klären, ob die Heidenchristen einen Vorteil haben. Diese Frage wird eingeschränkt negativ beantwortet (οὐ πάντως) und die Antwort ist im Folgenden Gegenstand der Erörterung. Dazu verweist Paulus zunächst – immer noch in der 1. Person Plural – auf die univer­ sale Herrschaft der Sünde (Röm  3,9), führt sodann in explikativer Sprache einen

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

ausführlichen Schriftbeweis (Röm  3,10–18), kommentiert diesen Schrift­beweis mit einer charakteristischen οἴδαμεν-Formel in der 1. Person Plural (Röm  3,19) und argumentiert wiederum in Distanz zu den Adressaten (Röm  3,20–26). Auch noch in Röm  3,27 spricht Paulus kein Gegenüber an, stellt aber eine ein­ schneidende Frage (nach der καύχησις), die in Röm  3,28–30 aus der Perspektive der 1. Person Plural beantwortet wird. Röm  3,28–30 gibt sich durch λογιζόμεθα als adressatenorientierte Zusammenfassung von Röm  3,9–26 zu verstehen: Die Gerechtigkeit aus Glauben wird unter dem für die heidenchristlichen Adressaten entscheidenden Aspekt der Unterscheidung von Juden und Heiden bzw. Be­ schnittenen und Unbeschnittenen verhandelt. Röm  3,31 besticht durch ein kon­ sekutives οὖν und die Stilisierung als Frage in der 1. Person Plural, durch die ähnlich wie in Röm  3,8 ein mögliches Missverständnis der paulinischen Argu­ mentation revidiert werden soll. Paulus spitzt seine Argumen­t ation dahingehend zu, dass „wir“ das Gesetz nicht auf heben, sondern es realisieren.113 Er lenkt die Aufmerksamkeit seiner Adressaten offenbar auf Röm  3,27–31. Auffällig ist für Röm  3,9–31, dass die römischen Adressaten weder im Schrift­ beweis noch in dessen Kommentierung explizit zu „den Griechen“ dazugezählt und als solche angesprochen (i. S. von „weil ihr alle unter der Sünde seid“ bzw. „weil wir unter der Sünde sind“) werden. Paulus greift zu den für die reflexiven Abschnitte charakteristischen Pronominaladjektiven: πάντας ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι (Röm  3,9), οὐδὲ εἷς (Röm  3,10), οὐκ ἔστιν… οὐκ ἔστιν (Röm  3,11), πάντες (Röm  3,12), οὐκ ἔστιν […] [οὐκ ἔστιν] (Röm  3,12). Er wählt als Tempus das Prä­ sens, beschreibt also gegenwärtige Zustände (vgl. auch Röm  3,19f ). Dass auch die christologischen Reflexionen von Röm  3,21–26 in einer distanzierenden, reflexiven Sprache formuliert und nicht unmittelbar auf die Adressaten appliziert werden, steht ganz im Dienste der Tendenz von Röm  3. Wenn der Wechsel von explikativer und applikativer Sprache Ausdruck einer argumentativen Program­ matik ist, durch die Paulus positive Identitätsmerkmale zu stiften und gleichzei­ tig opponierende Stimmen, die Gesetzesobservanzen einfordern, abzuwehren versucht, muss die Betonung der Relevanz des Sühnegeschehens theoretisch, abstrakt und regelrecht forensisch bleiben, denn sie schließt an die Darstellung der negativen Kondition der Menschen an („alle“ in Röm  3,23). Der Passus stellt damit trotz der in ihm enthaltenen christologischen Kernaussagen keineswegs den Höhepunkt der Argumentation dar, sondern ist ganz auf das Problem der Geltung und Überwindung des Gesetzes in Röm  3,27–31 bezogen.114 113  In diesem Zusammenhang diskutiert Haacker auch die Übersetzung von ἱστάνομεν in Röm  3,31. Er kommt zu dem Schluss, dass ἱστάνομεν mit „wir verwirklichen“ zu übersetzen und die Übersetzung mit „aufrichten“ abzulehnen sei. Haackers Vorschlag ist zuzustimmen, insofern durch den Begriff „Verwirklichung“ die Bedingung der Möglichkeit der Realisierung des Ge­ setzes – der Glaube – prägnanter zum Ausdruck kommt (vgl. Haacker, Römer, 114). 114 Vgl. auch Haacker, Römer, 102: „Es geht dem Apostel aber hier nicht darum, die Recht­fertigungsbotschaft als solche einzuführen, sondern er will ihren unverdienten, gnaden­ haften Charakter unterstreichen, der sich aus den vorangegangenen Negativaussagen ergibt.“

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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Auch aus struktureller Perspektive bewährt sich Röm  3,27–31 als conplexio. Die Argumentation von 3,9–26 führt schrittweise dorthin. Segmentierung, In­ terdependenz und Kohärenz sind deutlich ausgeprägt. Zur Segmentierung. In Röm  3,9 eröffnet Paulus die Argumentation mit einem charakteristischen τί οὖν. In Röm  3,9c richtet er mit einem metakommuni­ kativen Hinweis das Augenmerk auf die kommende Argumentation (προῃτιασάμεθα).115 In Röm  3,19 bezieht sich Paulus auf ein Wissen, das er und die Adressaten offenbar teilen: οἴδαμεν. In Röm  3,21 setzt Paulus eine signifi­ kante Zäsur, wobei die Bedeutung von νυνί umstritten ist: Es kann als theolo­ gisch relevant erachtet werden, als zeige es einen heilsgeschichtlichen Epochen­ bruch an, aber durchaus auch als ein ‚rhetorisches Ausrufezeichen‘.116 In 115 Vgl. zur Bedeutung von προαιτιάομαι (Röm   3,9) die ausführliche Besprechung bei Spitaler, Sünde, 166–176. Das Verb sei nicht sehr geläufig und offenbar auch für die Adres­ saten unverständlich gewesen. Es könne nicht ohne weiteres als Rückverweis auf die ersten Kapitel des Römerbriefes verstanden werden (i. S. von „vorher haben wir die Anklage erho­ ben“), sondern verweise eher auf die folgenden Schriftzitate (vgl. aaO. 176). Es hat in jedem Fall aber segmentierende Funktion: „Als Wortschöpfung, die den Adressaten nicht geläufig ist, ist προαιτιάομαι in der Tat dazu geeignet, die Aufnahmebereitschaft für sein unmittelbar folgendes Argument zu erhöhen“ (ebd.). 116 Woyke geht der Bedeutung der Partikel νυνί nach: Die Römerbriefforschung habe Röm  1,18–3,20 oftmals als negative Vorepoche vor der Erscheinung Christi klassifiziert (vgl. den Überblick bei Woyke, Einst und Jetzt, 185–188) und (mit unterschiedlichen Akzenten) im νυνί den semantischen Kulminationspunkt dieser heilsgeschichtlichen Wende gesehen. Woyke untersucht die Verwendungskonvention von νυνί bei Philo, Josephus, in der LXX und im Corpus Paulinum und weist verschiedene Bedeutungsnuancen der Partikel nach: νυνί könne eine Überbietung des Vorigen oder einen temporalen Bruch anzeigen, aber auch als rhetorisches „Ausrufungszeichen“ fungieren (vgl. aaO. 195). Woyke macht nun die Prag­ matik von Röm  3,21 gerade an χωρὶς νόμου fest, das „sich pointiert gegenüber ἐξ ἔργων νόμου bzw. διὰ νόμου (3,20) abhebt“ (aaO. 197). Um das Verhältnis von Röm  3,20 und 3,21 näher zu bestimmen, müsse aber auch „auf die argumentative Makrostruktur, nämlich die Inclusio von Röm  1,17 und 3,21, eingegangen werden“ (aaO. 199). Woyke geht davon aus, dass mit Röm  3,21 eine „neue Argumentationsebene“ eingeführt werde – die „soteriologische ‚Sack­ gasse‘ von Röm  1,18–3,20“ werde „durchbrochen“ (aaO. 199). Dass Röm  3,21 als „affirmative Präzisierung der Hauptthese von 1,17“ und als „progressive Einführung eines gegenüber Röm  (1,18–)3,20 neuen Aspekts“ fungiere, „legt für die primäre Bedeutungsebene von νυνὶ δέ eine rhetorische Funktion nahe“ (aaO. 199). Eine heilsgeschichtliche Lesart von νυνί i. d. S., dass Paulus zwischen zwei heilsgeschichtlichen Epochen bzw. Äonen unterscheide, weist Woyke zurück: Paulus beschreibe mit Röm  1,18–3,20 nicht „den Zustand der Menschheit oder gar einen Geschichtsabschnitt unter der Macht des Gesetzes (ὑπὸ νόμον) […], welchem durch das Kommen Christi ein Ende gesetzt wurde […]“ (aaO. 201). Der engere Kontext müsse stärker beachtet werden, nämlich der Zustand, der mit Röm  3,9 angesprochen und in Röm  3,23f aufgegriffen werde: „den Zustand von Juden und Heiden ὑφ’ ἁμαρτίαν […], auf welchen das rechtfertigende Handeln Gottes trifft“ (aaO. 201). Von hier aus stellt Woyke auch das durch Bultmann geprägte Bild von der stilistischen und gattungsspezifischen Ein­ heitlichkeit von Röm  1–3 in Frage: Diatribenstil und Missionsverkündigung seien nur sehr unzureichende Gattungsbegriffe für die pluriforme Passage von Röm  1–3 (vgl. aaO. 204f ). Während mit Röm  3,21 vor allem gezeigt werde, dass „in einem neuen, angesichts des eschatologischen Zorngerichts entscheidenden, Heilsgeschehen Gottes rechtfertigende Ge­ rechtigkeit geschichtlich in Erscheinung getreten ist“ (aaO. 205), legt es sich von Woyke her

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  3,27 stellt Paulus eine rhetorische Frage (ποῦ οὖν ἡ καύχησις) und leitet, indem er wiederum die 1. Person Plural verwendet (Röm  3,28: λογιζόμεθα), zur conplexio über. Zur Interdependenz der Segmente. Wenn das „Wir“ in Röm  3,9a die heiden­ christlichen Adressaten einschließt, wie hier erwogen worden ist, und die War­ nung vor Libertinismus in Röm  3,1–8 beachtet wird, ergibt sich für οὐ πάντως am ehesten die Übersetzung: „nicht gänzlich“ oder „nicht insgesamt“, denn dann deutet Paulus mit seiner Antwort an, dass die Heidenchristen keinen Heil­ sanspruch forcieren könnten, der Gottes Treueverhältnis zu Israel unterläuft. Eine Abgrenzung gegenüber judenchristlichen Observanzforderungen ist also nicht gleichbedeutend mit der Infragestellung des Treueverhältnisses Gottes zu Israel. Vielmehr betont Paulus eine Erwählungskontinuität. Röm  3,9abc sollte daher folgendermaßen übersetzt werden: „Haben wir [die nach Röm  2,25–29 verborgenen Juden und im Herzen Beschnittenen, also die Heidenchristen] nun etwas voraus? Nicht insgesamt!“ Es folgt in Röm  3,9d–18 ein längerer Passus, in dem Paulus die Allmacht der Sünde anhand einer Zitatcollage darstellt: Wird Röm  3,9d–18 nun direkt auf Röm  3,9abc bezogen, dann begründet die Anklage Ἰουδαίους τε καὶ Ἕλληνας πάντας ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι, dass die Heidenchristen deswegen keinen Vorzug haben, weil sie die anthropologischen „Ausgangsbedingungen“ der Judenchris­ ten teilen. Die Zusammenstellung der Zitate setzt diese universale Perspektive von Röm  3,9d fort. Dabei ist der pleonastische Charakter der Zusammenstel­ lung auffällig, bewegt er sich doch in den Bahnen einer exornatio und Letzt­ begründung und erinnert an Röm  2,17–24, wo durch eine ähnliche Kette die Schuld desjenigen festgestellt wurde, der die Einhaltung des Gesetzes einfor­ dert. Für sich genommen, macht jedoch die Zusammenstellung von Röm  3,9abc und 3,9d–18 als expositio und ratio zunächst einmal Sinn: Der Heide hat deswe­ gen keinen Vorteil, weil er wie der Jude unter der Sünde steht. Jetzt wird aber mit Röm  3,19f die Argumentation in eine andere Richtung gelenkt: Die für Paulus zentrale und in Rom virulente Frage nach dem Gesetz tritt wieder in den Vordergrund. Röm  3,19 und 3,20 bilden einen Abschnitt, denn Röm  3,20 stellt hinsichtlich Röm  3,19 keine weiterführende Begründung dar, die Konjunktion διότι lenkt vielmehr die Aufmerksamkeit auf den konsti­ tutiven Zusammenhang von Sünde und Gesetz: Die „elenktische Funktion“ des Gesetzes in Röm  3,20 (ἐπίγνωσις ἁμαρτίας) korreliert mit der „Überführung der Welt“ in Röm  3,19.117 Röm  3,19 und 3,20 gehören auch deswegen sachlich zu­ sammen, weil Paulus mit Röm  3,19f dem vorigen Textabschnitt Röm  3,9d–18 nahe, die Argumentationsstruktur von Röm  1–3 umsichtiger zu analysieren und die Zäsur von Röm  3,21 zu hinterfragen. 117 Vgl. Dunson, Individual, 122: „Essentially the whole narrative of human sin and hy­ pocrisy (encompassing Jews and Gentiles) that Paul began in 1:18 is summarized in 3:19: the law, even though given as the covenant charter of Israel, speaks its word of command and

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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eine andere Funktion zuweist, als der Zusammenhang von Röm  3,9abc und 3,9d es erahnen ließ: Die Feststellung, dass alle unter der Sünde sind, begründet die faktische Wirkungslosigkeit des Gesetzes. Dabei unterstellt Paulus den Adressaten durch die οἴδαμεν-Formel, dass nur sie die Wirkungslosigkeit des Gesetzes durchschauen: Denjenigen, die „im Gesetz“ sind (die Formulierung ἐν τῷ νόμῳ dürfte nicht zufällig an ἐν νόμῳ in Röm  2,12 erinnern) – d. h. Israel –, teilt es mit, dass die ganze Welt dem Gericht verfällt und sich als schuldig erweisen muss (πᾶν στόμα φραγῇ καὶ ὑπόδικος γένηται πᾶς ὁ κόσμος τῷ θεῷ). Wägt man nun die argumentative Funktion der Abschnitte Röm  3,9–18 und 3,19f gegeneinander ab, so liegt es nahe, dass Röm  3,9d–18 auch hinsichtlich Röm  3,19f eine begrün­ dende Funktion einnimmt: Dass sich das Gesetz nicht durchsetzt, wird an­hand der in Röm  3,9–18 aufgezeigten Universalität der Sünde demonstriert.118 Darüber hinaus sprechen folgende Beobachtungen dafür, dass Paulus in Röm  3,19f eine positive Qualität des Gesetzes andeutet, die durch die Sünde aber nicht zur Geltung kommen kann: 1. Zwischen „Gesetz“ und „Werken des Gesetzes“ wird sachlich unterschieden: Röm  3,20b wird als Begründung für Röm  3,20a ausgewiesen (γάρ). Paulus entzieht den Werken des Gesetzes, nicht dem Gesetz selber, die Rechtfertigungskompetenz und gibt als Grund dafür an, dass durch das Gesetz lediglich die Sünde erkannt werde.119 2.  Röm  3,20b ist im Kontext von Röm  3,19 zu lesen: Das Wissen, dass das Gesetz ledig­ lich die Schuldigkeit der Welt aufweist, ist ein Partikularwissen der heidenchristlichen Adressaten (οἴδαμεν), das die Judenchristen nicht teilen. Für die Judenchristen bilden die Werke des Gesetzes eine menschliche Handlungsoption, die das Gesetz offeriert, um die Gerechtigkeit zu erlangen. Diese Handlungsoption entfällt für die Heidenchristen fak­ tisch, weil sie um die Herrschaft der Sünde und die Bedeutungslosigkeit des Gesetzes wissen (Röm  3,9–18). 3.  Dass das Gesetz in Röm  3,19f die Gerechtigkeit des Menschen im Blick hat, jedoch verfehlt, liegt auch wegen der Verbindung von ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι mit dem Zitat ὅτι οὐκ ἔστιν δίκαιος οὐδὲ εἷς in Röm  3,10b nahe. Mit dem Adjektiv δίκαιος weist Paulus seman­ tisch in das zentrale Problem des Abschnitts: Die Werke des Gesetzes machen nicht gerecht (Röm  3,20: ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σὰρξ ), die Gerechtigkeit Gottes schon (Röm  3,24: δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ). Damit ist „unter der Sünde sein“ vor allem als „ungerecht“ und „nicht gerechtfertigt sein“ zu verstehen. rebuke to everyone who is under the law, which, as the second half of 3:19 makes clear, in­ cludes ‚every mouth‘ (πᾶν στόμα) and ‚the whole world‘ (πᾶς ὁ κόσμος ).“ 118 Vgl. Bell, No one, 271. 119  Vgl. zu den Werken des Gesetzes die pointierten Forschungsüberblicke bei Schnelle, Paulus, 304–307 und Bachmann, Werke, 80–92. Was mit den „Werken des Gesetzes“ ge­ meint ist, soll hier nicht entschieden werden, doch gilt es zu bedenken, dass Paulus in Röm  2 ,9f das Verb ἐργάζομαι und in Röm  7,15.17.18.20 das Verb κατεργάζομαι verwendet, um damit das Tun des Menschen im Allgemeinen – auch unabhängig vom „Tun des Geset­ zes“ – zu bezeichnen. In Röm  4,4.6 verwendet Paulus ebenfalls das Verb ἐργάζομαι und das Substantiv ἔργα (ohne Genitivattribut), was nahelegt, dass es sich bei den Werken tatsächlich um konkrete Taten des Menschen handelt.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Dass das Gesetz die Gerechtigkeit hervorbringt, wird also als judenchristliche bzw. jüdische Perspektive gekennzeichnet, die durch das im Röm  bisher er­ schlossene Wissen um die allgemeine Sündenverfallenheit des Menschheitskol­ lektivs konterkariert wird. Bereits in Röm  3,19f deutet Paulus also eine gute, angesichts der Sünde jedoch keinesfalls realisierbare Intention des Gesetzes an.120 Dass diese gute Intention des Gesetzes in Röm  3 allenfalls angedeutet wird, könnte daran liegen, dass Röm  3 eine Präzisierung von Röm  2 darstellt, mit der die Zurückweisung der Observanzforderungen nicht aufgeweicht werden soll. Sollte auch nur theoretisch eine Gerechtigkeit ins Auge gefasst werden, die sich aus dem Gesetz ableiten ließe, liefe Paulus Gefahr, hinter die Aussagen von Röm  2 zurückzufallen. Erst im Spannungsfeld des Gegensatzes von „Fleisch“ und „Geist“ wird die positive Gesetzesintention, die nicht zur Geltung kommen kann, evident. Oder zugespitzt ausgedrückt: Eine Aussage wie ὥστε ὁ μὲν νόμος ἅγιος καὶ ἡ ἐντολὴ ἁγία καὶ δικαία καὶ ἀγαθή (Röm  7,12) wäre in Röm  3 deplatziert – sie käme zu früh. Im Fokus der Argumentation steht keine theologische Grundsatzbestimmung des Gesetzesbegriffs, sondern die Feststellung, dass der Glaube, der die Grenzen von Juden und Heiden überschreitet, die Gerechtigkeit ergreift und auf diese Weise das Gesetz zum Ziel führt.

Der Unterschied zwischen dem Wissensstand der heidenchristlichen Adressaten (οἴδαμεν) und denen, die ἐν τῷ νόμῳ leben, muss auch für die Tendenz von Röm  3,21–26 beachtet werden. Mit Röm  3,21 zeichnet sich zwar eine Zäsur in der Argumentation ab, doch Röm  3,21 schließt an das Gesetzesverständnis von 3,19f an. Dort wurde ein Unvermögen des Gesetzes festgestellt: Es kann die Gerechtigkeit nicht herstellen, sondern ist lediglich bezogen auf die ἐπίγνωσις ἁμαρτίας und den Ausdruck ὑπόδικος γένηται. Die Stoßrichtung der Argumen­ tation in Röm  3,21.22a wird von Röm  3,19f her klarer: Das Gesetz zeigt die Ungerechtigkeit des Menschen lediglich auf – deswegen erscheint die Gerechtig­ keit Gottes ohne Gesetz.121 Gott (in Röm  3,25f ist er handelndes Subjekt) verlangt also nicht den Nachweis der Schuldigkeit der Welt durch die Partikularinstanz des Gesetzes, sondern will durch das von ihm gewählte Sühnemittel Christus die Sünde beseitigen.122 Röm  3,22b–26 spezifiziert diese Überlegung, indem Paulus die Sündhaftigkeit der Menschen im Lichte des Heilsgeschehens aktua­ 120 Gegen Grässer, Abraham, 21, der die noetische Funktion des Gesetzes konsequent von Röm   7 her interpretiert: „Die ἐπίγνωσις ἁμαρτίας, die durch das Gesetz kommt (Röm  3,20), besteht darin, daß der Mensch durch das Gesetz in die konkrete Sünde geführt wird; daran erweist sich, daß der Mensch sündigt, weil er ein Sünder ist.“ 121  Vgl. in diesem Zusammenhang Röm  8 ,1–4. 122  Für die heidenchristlichen Adressaten verliert das Gesetz angesichts der Gerechtigkeit Gottes jede Funktion, selbst seinen „usus elenchticus“. Die ἐπίγνωσις ἁμαρτίας ist nicht Vorbedingung der Rechtfertigung, sondern ein Spezifikum der Geltungssphäre des Gesetzes, die durch Röm  3,21 völlig relativiert wird: Ohne das Gesetz ist die Gerechtigkeit Gottes erschienen. Angesichts von Röm  2 ,12 ist aber auch die Unterscheidung einer Sphäre des Gesetzes und einer Sphäre ohne Gesetz hinfällig: Ob innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes, ob wissentlich oder unwissentlich – der Untergang des Menschen ist sicher. Paulus vertritt also offenbar kein dialektisches Verhältnis von Gesetz und Evangelium, sondern stellt beide radikal gegenüber.

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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lisiert und zeigt, warum Christus schafft, was das Gesetz nicht schafft: Er schafft durch Sühne Vergebung der Sünden, sein Handeln ist unmittelbar bezogen auf die Fortschaffung der Sünde und überbietet damit das Gesetz, wie es in Röm  3,19f charakterisiert worden ist.123 Mit dem Hinweis χωρὶς νόμου in Röm  3,21 desavouiert Paulus das Gesetz also nicht grundsätzlich, hebt aber hervor, dass die Gerechtig­ keit Gottes bei der Menge der πάντες γὰρ ἥμαρτον ansetzt (Röm  3,23) und er­ reicht, was das Gesetz nicht vermag. Die argumentative Funktion des letzten Abschnitts hinsichtlich Röm  3,21–26 wird nun klarer: Röm  3,19f begründet die Notwendigkeit einer Intervention durch Gottes Gerechtigkeit. In Röm  3,27–31 – dies hat sich unter attentionalen Gesichtspunkten bereits abgezeichnet – läuft die Argumentation zusammen. Paulus spitzt in Richtung der heidenchristlichen Adressaten zwei zentrale Gedanken zu: Zum einen ist die καύχησις – mit diesem Begriff weist Paulus in die Argumentation gegen das jüdische Du, das das Gesetz einfordert, zurück (Röm  2,17!) – tatsächlich nicht möglich.124 Was mit der sündenvergebenden Macht Gottes in Röm  3,25f ange­ klungen ist, wird hier noch einmal in Richtung der judenchristlichen Observa­ nzforderungen gebündelt und auf die römische Situation angewendet: Gott ist Subjekt der Sündenvergebung, nicht das Gesetz. Die Sünde kennzeichnet aber die gesamte Menschheit, Juden und Griechen, so dass gelten muss: ὃς δικαιώσει περιτομὴν ἐκ πίστεως καὶ ἀκροβυστίαν διὰ τῆς πίστεως. Zum anderen hält Paulus in Röm  3,31 fest, dass die heidenchristlichen Adressaten das Gesetz realisieren und nicht auf heben.125 Ist diese Argumentation schlüssig? Für den Übergang von Röm  3,30 zu Röm  3,31 muss zweierlei beachtet werden: 1.  Die Tendenz der Argumentation: Paulus hatte die These aufgestellt, dass die Heidenchristen gegenüber den Judenchristen „nicht gänzlich“ etwas voraushaben. Vgl. zum Begriff ἱλαστήριον V.3.2.2. Davies, Faith, 138. Ito geht der Bedeutung von νόμος πίστεως und νόμος τῶν ἔργων nach. Er analysiert vor dem Hintergrund eines „simple reading“, das ihm zufolge der Oralität der Paulusbriefe gerecht wird, die Genitivverbindungen, die νόμος bis Röm  3 ein­ gegangen ist, und kommt zu dem Ergebnis, dass der Erstleser νόμος in Röm  3,27 als Hinweis auf die Tora verstehen müsse und es sich nicht um ein Wortspiel handeln könne (vgl. Ito, Rhetoric, 256). Die Gesetze von Röm  3,27 seien durch den Kontext theologisch aufgeladen bzw. „angereichert“: „The νόμος τῶν ἔργων seems to refer to the part of the Torah which reveals the Jewish failure to live up to the standard demanded of them in the Torah. In other words they are in the state of the ‚exile‘, i.e. under the curse of the Torah. The νόμος πίστεως , on the other, seems to refer to the part of the Torah that presents Abraham’s faith“ (aaO. 256). Auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass es sich um ein Wortspiel handelt (auch ein Wortspiel kann theologisch motiviert sein), ist Itos Beobachtung und Einschätzung zuzustimmen, in­ sofern Paulus die Tora nicht generell in Frage stellt: „Simply because no one is justified by works of the Torah, it does not follow that Paul has discarded the Torah. Paul has not found anything wrong with the Torah as such, but it is the human, esp. Israel’s inability to live up to the standard demanded of them in the Torah“ (aaO. 258). 125  In der Forschung wird diskutiert, ob Röm  3,31 nicht zu Röm  4,1 zu ziehen ist (vgl. vor allem Davies, Faith, 139–141). Röm  3,21 und 3,31 bilden allerdings einen Ringschluss und Röm  4 führt Röm  3,31 nicht explizit weiter (vgl. Schreiner, Romans, 207). 123 

124 Vgl.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

2. Die Folgerungspartikel οὖν (Röm   3,31a): Sie deutet eine konsekutive Sinnrichtung von Röm  3,31 an. In Röm  3,30 wird aber behauptet, dass Gott beide – Beschnittene und Unbeschnittene – gerecht macht, sofern sie glauben. Von Röm  3,31 muss noch einmal auf Röm  3,19f zurückgeblickt werden: Hier wurde das Gesetz als Instanz bewertet (Röm  3,19), die lediglich zur Erkenntnis der Sünde führt, und es wurde ausgeschlossen, dass durch die Werke des Geset­ zes der Mensch gerecht werden könnte.126 Eine positive Bestimmung des Ge­ setzes klang allenfalls an. Wird der Zusammenhang von Röm  3,30 und 3,31 konsekutiv aufgefasst, wird diese frühere Andeutung nun explizit: Die Intenti­ on des Gesetzes, den Menschen gerecht zu machen, realisiert sich nicht durch die Werke des Gesetzes, sondern nur durch die Intervention Gottes und den Glauben. Damit erweist sich Röm  3,31 als ambivalent. Einerseits klingt eine positive Bestimmung des Gesetzes (auf der Linie von Röm  7) an: Das Gesetz ist es wert, realisiert zu werden. Andererseits hält Paulus mit Röm  3,31 fest, dass das Gesetz nur dadurch realisiert werden kann, dass Gott selber interveniert: Das Gesetz verfehlt seine Bestimmung, die Sünde zu beseitigen, Christus erfüllt diese. Der Glaube, der sich auf das Erscheinen der Gerechtigkeit Gottes bezieht, schließt deswegen jede Gesetzesobservanz aus, weil er als Überwindung der Sünde die Intention des Gesetzes realisiert. Zur Kohärenz der Argumentation. Die einzelnen Segmente sind funktional auf­ einander bezogen: Mit Röm  3,9abc formuliert Paulus eine These. Röm  3,9d–18 scheint stärker auf Röm  3,19f als auf Röm  3,9abc bezogen zu sein, weil die Pas­ sage eher begründet, warum das Gesetz nicht zur Geltung kommt, d. h. den Menschen nicht gerecht machen kann. Röm  3,21–26 erweist sich wiederum von Röm  3,19f her als plausibel: Dass es eine Initiative Gottes braucht, um den Menschen gerecht zu machen, ergibt sich notwendigerweise erst vor dem Hin­ tergrund der Funktionslosigkeit des Gesetzes. Röm  3,21–26 ermöglicht wiede­ rum die Zusammenfassung von Röm  3,27–31: Hier wird gezeigt, dass durch die Rechtfertigung aus Glauben die Intention des Gesetzes erfüllt wird und dass die Heidenchristen das Gesetz verwirklichen. Die Argumentation scheint gewis­ sermaßen vom Allgemeineren ins Spezielle zu tendieren, eine Technik, die z. B. für die Argumentation des Eleazar charakteristisch gewesen ist:127 Röm  3,9abc expositio Röm  3,9d–18 exornatio

Wir haben nicht gänzlich einen Vorteil! Alle haben gesündigt – die Juden (denen das Gesetz anvertraut ist) und auch die Griechen.

126  Vgl. zum Zusammenhang von Röm  3,20 und 3,27 Bell, No one, 271. Erst in Röm  3,27 werde explizit gemacht, was in Röm  3,20 anklingt: Dass der Mensch durch Werke des Ge­ setzes nicht gerecht werde, liege daran, dass die Menschheit das Gesetz nicht halten könne. 127  Vgl. Kapitel I.2.4.

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

Röm  3,19f

rationis confirmatio

Röm  3,21–26 ratio

Röm  3,27–31 conplexio

195

Das Gesetz will gerecht machen, zeigt aber nur, dass die ganze Welt vor Gott dem Gericht verfällt (Röm  3,19) – es macht die Sünde nur kenntlich (kann sie aber nicht auf heben!). Die Gerechtigkeit erscheint durch den Glauben ohne das Gesetz (Röm  3,21–22a), indem Gott die Sünde durch Christus vergibt (Röm  3,22b–26). Wir (Heidenchristen) verwirklichen das Gesetz (Röm  3,31), weil wir durch den Glauben das errei­ chen, was das Gesetz nicht schafft: Wir erlangen Gerechtigkeit (Röm  3,28–30).

Tabelle 27: Argumentationsstruktur von Röm  3,9–31

Die Argumentation von Röm  3,9–31 ist trotz dieser invertierten Struktur äu­ ßerst stringent: Sie lenkt von der universalen Darstellung der Sündenherrschaft auf die Partikularinstanz des Gesetzes, entkräftet diese Instanz und setzt statt­ dessen die Gerechtigkeit Gottes als sündenüberwindende Kraft, an der Judenwie Heidenchristen durch den Glauben partizipieren. Dadurch gelingt die Kor­ relation von Gerechtmachung und Gesetzeserfüllung, die den Skopus der Ar­ gumentation bildet (Röm  3,27–31). Die heidenchristlichen Adressaten werden in das Treueverhältnis zwischen Israel und Gott vollumfänglich integriert, in­ dem sie durch ihren Glauben das Gesetz realisieren.128 Exkurs zum rationalen Aspekt: Die doppelte Inanspruchnahme des Schriftbeweises von 3,9d–18 Als Schlussfolgerung eines der Argumentation zugrunde liegenden (hypothetisch zu erschließenden) Epicheirems muss aufgrund der attentionalen und strukturellen Analy­ se 3,27–31 ins Auge gefasst werden. Dabei erschließt sich der Bedeutungsinhalt von Röm  3,27–31 vor allem von Röm  3,31 her. Hier fließt, wie in der Strukturanalyse ge­ zeigt werden konnte, die Argumentation sachgemäß zusammen (οὖν καταργοῦμεν). Röm  3,31 wird dabei durch Röm  3,28–30 eingeleitet. Die Aufrichtung des Gesetzes hängt mit der Gerecht-Werdung des Menschen aus Glauben zusammen, die die Unter­ scheidung von Heiden und Juden bzw. Beschneidung und Unbeschnittenheit über­ 128  Byrne, Problem, 307 meint, eine bleibende Bedeutung des Gesetzes für die Christen im „Gesetz des Glaubens“ von Röm  3,27 erkennen zu können: Das Gesetz stehe den Christen als „instrument of condemnation“ und „scriptural witness“ weiterhin vor Augen – und werde insofern von ihnen „aufgerichtet“, während es als „Gesetz der Werke“ abgelöst sei. Ähnlich wollen Theissen/Gemünden, Römerbrief, 246 in Röm  3,27–31 zwischen einem Gesetz „im normativen Sinne als Forderung“ (Röm  3,31a) und einem Gesetz „im Sinne der Schrift“ (Röm  3,31b) unterscheiden, was an Röm  3,21 anschließe, wo Paulus ebenfalls von beidem reden könne: Die Gerechtigkeit sei „ohne Gesetz“ erschienen, aber bezeugt „durch Gesetz und Propheten“. Der Vorschlag von Byrne verfehlt den Skopus der Passage, denn Paulus rät den Heidenchristen nicht dazu, das Gesetz elenktisch zu gebrauchen, sondern weist dessen Funktionslosigkeit nach: Das Gesetz will die Gerechtigkeit Gottes hervorbringen, scheitert aber an der Sünde. Der Vorschlag von Theißen/Gemünden kann ebenfalls nicht überzeugen, da Paulus in Röm  3,21 die doppelte Bedeutungsebene des Gesetzes als normative Größe und Schriftcorpus deutlich anzeigt (er spricht vom Zeugnis der Gerechtigkeit in Gesetz und Prophe­ ten: μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν). Darauf verzichtet er allerdings in Röm  3,31.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

schreitet. Die Schlussfolgerung ist angesichts der heidenchristlichen Adressaten von Röm  3 zu spezifizieren: Dass das „Wir“ das Gesetz aufrichtet, ist so zu verstehen, dass die römischen Heidenchristen die Intention des Gesetzes durch den Glauben zur Gel­ tung bringen. Die Schlussfolgerung lautet demnach: Schlussfolgerung (das Unsichere, das als sicher erwiesen werden soll): Die Heidenchristen bringen durch den Glauben die Intention des Gesetzes zur Geltung (aus Röm  3,27–31). Auf welche Prämissen kann Paulus bei der Konstruktion dieser Schlussfolgerung zu­ rückgreifen? In Röm  3,19f erscheint das Gesetz als ambivalente Größe: Dass das Gesetz die Schuldigkeit der Welt aufdeckt und die Erkenntnis der Sünde ermöglicht, wird als eine soteriologische Dysfunktion dargestellt, wie die Parallelisierung mit den „Werken des Gesetzes“ – ein terminus technicus für den Versuch des Menschen, das Gesetz zu er­ füllen, um gerecht zu werden – in Röm  3,20 zeigt. Die Negativanzeige von Röm  3,19f ergibt sich also vor allem aus der kontrafaktischen Feststellung, dass sich ὑφ’ ἁμαρτίαν die Gerechtigkeit nicht realisieren kann, wie vor allem Röm  3,10b festhält. Aus der Zusammenstellung von Röm  3,9d–18/3,19f und dem Übergang von Röm  3,30/3,31 deutet sich jedenfalls ex negativo an, dass es die Intention des Gesetzes ist, den Menschen gerecht zu machen, diese Intention jedoch nicht verwirklicht werden kann. Die Prämis­ se ist also unbedingt auf eine Stützung angewiesen. Obersatz (das Wahrscheinliche): Die Intention des Gesetzes, den Menschen gerecht zu machen, kommt wegen der Sünde nicht zur Geltung (Röm  3,19f ). Stützung (das Sichere): Die Sünde übt eine universale Herrschaft aus – Schriftbeweis (Röm  3,9d–18). Die zweite Prämisse bezieht sich auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch den Glauben. Die Heidenchristen partizipieren deswegen am Heilsgeschehen, weil es eine Überwindung der Sünde durch Sühne darstellt. Untersatz (das Wahrscheinliche): Alle (auch die Heidenchristen) werden durch den Glauben gerecht gemacht (Röm  3,21–22a). Stützung (das Sichere): Das Heilsgeschehen ist ein Sühnegeschehen, das ohne Beteili­ gung des Gesetzes für alle gilt (Röm  3,22b–26). Die Stützung der zweiten Prämisse könnte nun um eine Stützung erweitert werden, die in Röm  3,22b.23 anklingt: Die Behauptung, dass es keinen Unterschied gebe, weil alle gesündigt haben, stützt sich im näheren Kontext ebenfalls auf Röm  3,9d–18. Damit deutet sich aber eine doppelte Funktion von Röm  3,9d–18 an: Der Abschnitt dient dazu, die Funktionslosigkeit des Gesetzes aufzuweisen und alle unter der Sünde einzuschließen, um das Sühnegeschehen zu universalisieren. Es ergibt sich ein schlüssiges Epicheirem: Obersatz (das Wahrscheinliche)

Stützung (das Sichere) Untersatz (das Wahrscheinliche)

Die Intention des Gesetzes, den Menschen gerecht zu machen, kommt wegen der Sünde nicht zur Geltung (Röm  3,19f ). Die Sünde übt eine universale Herrschaft aus – Schriftbeweis (Röm  3,9d–18). Die Heidenchristen werden durch den Glauben gerecht gemacht (Röm  3,21–22a).

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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Stützung (das Sichere)

Das Heilsgeschehen ist ein Sühnegeschehen, das ohne Beteiligung des Gesetzes für alle gilt (Röm  3,22b–26). „Stützung der Stützung“ Die Sünde übt eine universale Herrschaft aus – Schriftbeweis (Röm  3,9d–18). Schlussfolgerung (das Unsichere, Die Heidenchristen bringen durch den Glauben das als sicher erwiesen wird) die Intention des Gesetzes zur Geltung (Röm  3,27–31). Tabelle 28: Rekonstruierte ratiocinatio der Argumentation von Röm  3,9–31 Der zentrale rationale Übergang, der die Schlussfolgerung von Röm  3,31 ermöglicht, beruht darauf, dass Paulus dem Gesetz die Kompetenz der Gerechtmachung als Sündenvergebung abspricht – weil die Sünde trotz des Gesetzes faktisch in der Welt ist – und der Gerechtigkeit aus Glauben die Gerechtmachung als Sündenvergebung zuweist. Auf diese Weise gelingt eine bemerkenswert logische Schlussfolgerung: Der Glaube ermöglicht die Gerechtigkeit, die das Gesetz im Blick hat. Welche Schlüsse müssen die Adressaten mittragen, damit diese Konklusion gelingt? Sie müssen die Funktionslosigkeit des Ge­ setzes bei der Rechtfertigung des Menschen akzeptieren und gegen anderslautende Ar­ gumente verteidigen können. Diesem Erfordernis entspricht Paulus, wenn er ähnlich wie in Röm  2 ,17–24 einen umfassenden Katalog von Schriftzitaten zusammenstellt, um die aktuelle Sündenverfallenheit des Menschheitskollektivs zu belegen. Zum anderen muss die Gerechtigkeit Gottes als Gerechtmachung des Menschen und Vergebung der Sünden nachvollzogen werden können. Indem Paulus die Sünde als egalisierendes Ele­ ment in die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes implementiert und (wahrscheinlich) ein Traditionsstück hinzuzieht (s. u.), durch das der Glaube als Partizipation an einem Sühnegeschehen (ἱλαστήριον) charakterisiert wird, kann er die Gerechtigkeit Gottes als Juden und Heiden inkludierende Macht schlüssig darlegen.

3.2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Wie bereits in Röm  3,1–8 betont Paulus auch in Röm  3,9–31 eine heilsge­ schichtliche Kontinuität zwischen den heidenchristlichen Adressaten und Israel, indem er den Glauben pointiert als Erfüllung des Gesetzes deutet (Röm  3,27– 31). Gleichzeitig bekräftigt Paulus aber auch die Zurückweisung der Obser­ vanzforderungen auf der Linie von Röm  2,9–29. In diesem Spannungsfeld von Kontinuitätsbekundung und Observanzablehnung erweist sich Paulus’ Rück­ griff auf den Sündenbegriff als seine wichtigste inventorische Leistung. An der faktischen Sündenverfallenheit der Menschheit weist Paulus die Funktions­ losigkeit des Gesetzes nach (exklusiver Anspruch), zeigt aber auch, dass sich die Gerechtigkeit Gottes als sündenvergebende Macht auf Juden und Heiden erstreckt, sofern sie glauben (inklusiver Anspruch). Der Sündenbegriff taucht als Substan­ tiv in Röm  3,9 und 3,20, als Verb in Röm  3,23a auf. In Röm  3,25 begegnet der verwandte Begriff ἁμάρτημα („Verfehlung“). Paulus ruft an den Fundstellen unterschiedliche semantische Potentiale des Sündenbegriffs ab, die dem Argu­ mentationsziel von Röm  3,27–31 zuträglich sind.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Die Funktion des Sündenbegriffs in der exornatio (Röm  3,9–18). Dem Abschnitt Röm  3,9b–3,18 wurde in der Argumentationsanalyse eine doppelte Funktion zugewiesen: Einerseits soll er hinsichtlich Röm  3,19f begründen, dass das Ge­ setz die Sünde lediglich aufdecken, sie aber nicht beseitigen kann (Röm  3,19f ). Andererseits stellt Paulus in diesem Abschnitt sicher, dass Juden und Griechen als Sünder am Heilsgeschehen partizipieren, weil es die Rechtfertigung des Menschen und die Vergebung der Sünden bewirkt (Röm  3,23). Der Sündenbe­ griff taucht explizit im theologischen Deutungsrahmen (Röm  3,9d) der Schrift­ zitate auf. Dass „alle unter der Sünde sind“, stellt hinsichtlich der letzten Fund­ stelle in Röm  2,12 freilich einen argumentativen Fortschritt dar,129 denn dort war lediglich der Ausgang des Gerichts thematisiert worden (ἀπολοῦνται und κριθήσονται). Obwohl das für Paulus charakteristische, absolute Reden von der Sünde als ἡ ἁμαρτία in Röm  3,9 zum ersten Mal begegnet, wird im Schriftbe­ weis von Röm  3,10ff nicht die ἁμαρτία selbst beschrieben, sondern diejenigen, die ὑφ᾽ ἁμαρτίαν stehen, was grammatisch schon an den Pronominaladjektiven und substantivierten Partizipien deutlich wird,130 die innerhalb des Schriftbe­ weises das πάντες von Röm  3,9 vertreten und die Missetaten des Menschheits­ kollektivs „individualisieren“.131 Paulus will zeigen, wie der Mensch ὑφ᾽ ἁμαρτίαν ist, d. h. die Sünde wird mit der Gottlosigkeit und Schlechtigkeit des Menschen in Verbindung gebracht, ohne dass Paulus das Phänomen „Sünde“ ontologisch definieren muss. Die Sünde herrscht unter den Menschen in „Wort“ und „Tat“. Dass Juden und Nichtjuden unter der ἁμαρτία stehen, ist lebensweltlich und – man beachte, dass es sich um eine biblische Zitatreihe handelt – exegetisch zu­ gänglich und stellt keine „erfahrungsunabhängige Leerformel“132 dar. Die Sün­ de ist ein ethnisch übergreifender, allgemein menschlicher identity-marker.133 Die Zusammenstellung der Schriftzitate erfüllt jedoch nicht nur die Funk­ tion, die Sünde als anthropologisches Phänomen zu beschreiben, von dem aus­ nahmslos jeder Mensch betroffen ist. Anhand der Schriftzitate wird die Sünden­ 129 Vgl.

Jewett, Romans, 258: „It is a rhetorical tour de force, but not a logically compel­ ling argument.“ 130  Oὐδὲ εἷς (Röm  3,10), οὐκ ἔστιν ὁ συνίων (Röm  3,11), ὁ ἐκζητῶν (Röm  3,11), πάντες (Röm  3,12), ὁ ποιῶν (Röm  3,12). 131  Im Schriftbeweis schildert Paulus eine Bewegung der Sünde vom Inneren des Men­ schen nach Außen, wie auch Theobald, Römer, 90f prägnant festhält: Die erste Strophe des Schriftbeweises (Röm   3,10–12) betone „die Verderbtheit aller Menschen“, die zweite (Röm  3,13–18) stellt dar, „wie das Böse sich durch den Menschen Bahn bricht: in seinem Wort kommt es aus ihm hervor […] und wird dann zur Tat […]“. Vgl. auch Starnitzke, Struktur, 130: Paulus bemühe sich „um eine angemessene Selbsterkenntnis des Einzelnen, […] der von sich und deshalb von einem jeden einzelnen Menschen sagen muss, dass er ‚unter der Sünde‘ ist“ (aaO. 130). 132  Haacker, Römer, 91. 133 Vgl. Esler, Conflict, 144: „The difference between Paul’s approach and that suggested by the model is that whereas the latter looks to an equivalence on different dimensions in respect of some positive attribute, Paul is equating them in respect of a negative condition – domination by sin.“

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

199

verfallenheit der Menschen auch auf das Rechtfertigungsgeschehen hin konst­ ruiert, wie Paulus es in Röm  3,21–26 darstellen wird, denn mit Röm  3,10 gibt Paulus die zentrale Konnotation des Sündenbegriffs vor, die sich für die Recht­ fertigung durch den Glauben als tragend erweisen wird: Das Moment der Un­ gerechtigkeit. Alle Menschen, Juden wie Griechen, stehen unter der Sünde und können deswegen nicht δίκαιος sein (vgl. auch Röm  3,1!).134 Derivate der Wort­ familie vom Stamm δίκα - und vom Stamm ἁμαρτ- werden in der Argumenta­ tion von Röm  3,9–31 dann auch immer wieder aufeinander bezogen: Röm  3,9f: Ἰουδαίους τε καὶ Ἕλληνας πάντας ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι […] οὐκ ἔστιν δίκαιος οὐδὲ εἷς. Röm  3,20: διότι ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σὰρξ […] νόμου ἐπίγνωσις ἁμαρτίας. Röm  3,22b.23: οὐ γάρ ἐστιν διαστολή, πάντες γὰρ ἥμαρτον […] δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. Röm  3,25: εἰς ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων.

Dadurch, dass Paulus in Röm  3,9 die Sünde mit der Ungerechtigkeit assoziiert, kann das Rechtfertigungsmotiv später schlüssig auf die Sündhaftigkeit der Menschen angewendet werden. Die Funktion des Sündenbegriffs in der rationis confirmatio (Röm  3,19f). Nach dem Schriftbeweis greift Paulus die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Sün­ de in Röm  3,20b auf: „Durch das Gesetz [ist] Erkenntnis der Sünde.“ Wie ge­ zeigt werden konnte, dient dieser Abschnitt vornehmlich als Begründung von Röm  3,21–26, nämlich dass sich das Christusgeschehen unabhängig vom Gesetz offenbart und die Sünde überwindet. Paulus möchte in Röm  3,19f darauf hin­ weisen, dass die Sünde zwar durch die Tora135 identifizierbar ist, ihre Identifizie­ rung jedoch keineswegs ihre Überwindung nach sich zieht. Um die ἁμαρτία zu überwinden, bedarf es des Herrschaftswechsels, nicht des Ethos’. Nicht Röm  3,9, sondern Röm  3,20 bildet den eigentlichen Gipfel der Anklage, wenn Paulus angesichts der δικαιοσύνη θεοῦ nur feststellen kann: Die ἐπίγνωσις ἁμαρτίας ist das Äußerste, wozu der Mensch außerhalb der Gerechtigkeit Gottes hinsichtlich der Sünde in der Lage ist, und es ist die ἐπίγνωσις ἁμαρτίας, die der νόμοϛ, d. h. die Tora ermöglicht, – nicht das Faktum der ἁμαρτία an sich – die die noetische Scheidemarke zwischen Juden und Heiden darstellt. Dann können νόμοϛ und ἔργα νόμου (Röm  3,20a) aber keine Rolle als „Heilsfaktor[en]“136 spielen, sie kla­ 134 Vgl.

Heliso, Pistis, 157. Röm  3,10 schließt damit auch an die These des Römerbriefes von Röm  1,17 an (vgl. aaO. 163f ). 135 Wenngleich bisweilen behauptet wird, νόμοϛ sei hier in einem „philosophischen“, griechisch-­­römischen Kontext zu verstehen (vgl. Haacker, Römer, 93), legen der Zusammen­ hang mit Röm  2 ,12, die ἔργα νόμου in Röm  3,20a und die Wendung ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν in Röm  3,21 nahe, dass es sich um die Tora handelt (vgl. Wengst, Römerbrief, 184). 136  Theobald, Römer, 94 (Hv. i. O.).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

gen vielmehr an137 und zwar den Menschen als σάρξ (Röm  3,20a), also in seiner ganzen Anfälligkeit für die Sünde.138 Damit formuliert Paulus einerseits die entscheidende argumentative Voraussetzung für Röm  3,21–26139: Die Erschei­ nung der Gerechtigkeit Gottes in Christus bekommt die Wurzel der Sünde zu greifen. Andererseits bekräftigt Paulus in Röm  3,20 auch, dass die Sünde einen „missing link“140 darstellt, der Juden und Heiden, wenn auch im negativen Sinne, miteinander verbindet.141 Die Funktion des Sündenbegriffs in der ratio (Röm  3,21–26). Innerhalb der ratio von Röm  3,21–26 ruft Paulus mit dem Sündenbegriff die bisherige Sündenar­ gumentation von Röm  1,18–3,20 ab und kombiniert sie mit den „soteriologi­ schen Aussagen“ über die Erscheinung der δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ. Wie in der Argumentationsanalyse dargelegt wurde, zeigt Röm  3,21 eine argumentative Zäsur an.142 Πίστις- und δικαιοσύνη-Derivate dominieren den Abschnitt, erstmals wird nun auch das Christusgeschehen thematisiert und Gott greift in die Unheilsgeschichte der Menschen ein, wobei sich das Christusge­ schehen ohne Gesetz ereignet und im Gegensatz zu ihm das Heil bewirkt. Was das Begriffsinventar angeht, ist Röm  3,21–26 dreigeteilt: 1. In Röm  3,21.22a ist δικαιοσύνη θεοῦ Subjekt und wird in Röm  3,22a auf εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας bezogen. Mit πάντας wird ein Signalwort der An­ klage von Röm  1,18–3,20 wieder aufgegriffen, nun aber ins Positive gewen­ det: „alle, die glauben“. 2. Das Pronominaladjektiv verknüpft den ersten Abschnitt mit dem zweiten, der in Röm  3,22b (οὐ γάρ ἐστιν διαστολή) beginnt und πάντες als handelndes Subjekt übernimmt: „(Röm  3,23) Alle haben gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit Gottes, (Röm  3,24) wobei sie gerecht gemacht werden 137 Vgl. Elliot, Rhetoric, 145f: „[…] the Law instead voices God’s claim against humani­ ty […]“. 138 Vgl. prägnant Haacker, Römer, 95: „Die paulinische Abwertung der ‚Werke des Gesetzes‘ zielt nicht auf eine allgemeine Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Han­ deln, sondern ist ein Votum für die Gleichstellung von Juden und Nichtjuden vor dem An­ gesicht Gottes […]“. 139  Vgl. aaO. 94: Röm  3,20 leite nicht wie „im philosophischen Kontext“ zur „‚Heilung‘“ oder „moralische[n] Selbstbesserung“ über, sondern zur „Botschaft von der Erlösung in Christus“. 140  Die historische, soziologische und theologische Entwicklung der römischen Gemein­ den führte offenbar zu sehr disparaten Gruppenidentitäten (vgl. Esler, Conflict, 144), die Paulus durch einen argumentativ nachvollziehbaren, theologischen „missing link“ überwin­ den möchte. Der hier gewählte Begriff „missing link“ stammt aus der Evolutionsbiologie und bezeichnet dort eine noch nicht entdeckte Übergangsform zwischen Vor- und Nachfah­ ren in einem evolutionsgeschichtlichen Stammbaum. 141 Vgl. Jewett, Romans, 266: „ Σάρξ […] includes the entirety of the human race.“ 142  Vgl. noch einmal Woyke, Einst und Jetzt, 185–188. Starnitzke, Struktur, 137f ord­ net Röm  3,19–31 einer thematischen Einheit zu, obwohl er gleichzeitig den argumentativen Zusammenhang zwischen Röm  3,21 und 3,20 betont.

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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(δικαιούμενοι als Partizip im Medium/Passiv, das dem Subjekt prädikativ untergeordnet ist) […].“ 3. Ab Röm  3,25 ist ὁ θεός handelndes Subjekt und bleibt es bis zum Ende des Abschnitts in Röm  3,26. Dieser letzte Abschnitt ist als Relativsatz bzw. rela­ tivischer Satzanschluss mit Χριστῷ Ἰησοῦ in Röm  3,24 verbunden und leitet wahrscheinlich ein vorpaulinisches Traditionsstück ein.143 Für die Frage nach der argumentativen Funktion des Sündenbegriffs ist Röm  3,22f von zentraler Bedeutung. Der grammatikalische und theologische Zusammen­ hang zwischen δικαιούμενοι und πάντες γὰρ ἥμαρτον in Röm  3,22f ist jedoch umstritten. Röm  3,22a: Röm  3,22b: Röm  3,23a: Röm  3,23b: Röm  3,24:

δικαιοσύνη δὲ θεοῦ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας. οὐ γάρ ἐστιν διαστολή, πάντες γὰρ ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ.

Röm  3,24 würde konzeptionell besser an Röm  3,22a anschließen: εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας […] δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ […]. Dann wäre δικαιούμενοι zwar nicht grammatisches, wohl aber logisches Attribut zu πάντας in Röm  3,22a, und zwar im konsekutiven Sinne: „so dass sie [also: die, die glauben] gerecht gemacht werden“. Paulus hingegen schaltet Röm  3,22b.23 ein, was auf den ers­ ten Blick logische Probleme bereitet: Die Partikel γάρ in Röm  3,22b hängt als Begründungs- oder Affirmationspartikel in der Luft und der Bezug zwischen δικαιούμενοι und πάντες γὰρ ἥμαρτον scheint angesichts des Ausdrucks εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας zunächst unlogisch.144 Wozu braucht es den Hinweis auf die Sünde in Röm  3,22b.23? In Hinblick auf die Verwendung des Sündenbegriffs in Röm  3,21f fragt J. William Johnston: „Which ‚All‘ Sinned?“ und untersucht Bedeutung, kon­ textuelle Verflechtung und grammatikalischen Bezug des Ausdrucks πάντες γὰρ

143 Seit Bultmann, Theologie, 47f und Käsemann, Verständnis, 99f ist Röm  3,24f häufig als traditionelle Formel verstanden worden, die Paulus in den hiesigen Kontext integriert. Howard bietet einen prägnanten Forschungsüberblick zur Frage nach Abgrenzung und Iden­ tifizierung möglicher Traditionsformeln in Röm  3,21–31 (Howard, Inclusion, 223f ), prob­ lematisiert aber gleichzeitig die bisherigen Abgrenzungen als A-Priori-Exegesen (aaO. 225), die vor allem die Frage nach den Adressaten ausblende: Man könne zwar davon ausgehen, dass Paulus in dem Abschnitt Traditionsstücke rezipiere, da er mit seinen Adressaten vertraut sei und antizipieren könne, wie diese von ihnen aufgefasst werden. Wo diese Stücke begin­ nen oder enden, sei jedoch nicht eindeutig auszumachen (ebd.). 144  Literarkritische Ansätze, die auch Röm  3,24 zum Traditionsstück Röm  3,25 ziehen, können nicht überzeugen, wie Wilckens, Römer I, 183 betont: Das δωρεάν entspricht pau­ linischer Sprachkonvention. Ein partizipialer Beginn des Traditionsstücks sei außerdem un­ gewöhnlich – die Aussagen über die πάντες sind von Paulus selbst formuliert.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

ἥμαρτον. Zudem beleuchtet er die exegetischen Vorurteile, die mit dessen Aus­

legung verknüpft sind. Johnston meint: „[…] the scope of all in ‚all have sinned‘ is without distinction rather than without exception. There is value in recognizing an emphasis on Jew-Gentile equality in the scope of Rom 3:21–26 because the particularly besetting syntactical difficulty of δικαιούμενοι (‚justified‘) in v. 24 still needs a satisfactory answer.“145

Johnston setzt sich mit dem Problem auseinander, dass durch die grammatikali­ sche Abhängigkeit des Partizips δικαιούμενοι (Röm  3,24) von πάντες ἥμαρτον (Röm  3,23) ein Allversöhnungsgedanke impliziert werde.146 Dieser Lesart ver­ weigere sich die Mehrzahl der Ausleger, indem sie zwar die universale Verdam­ mung angesichts von πάντες ἥμαρτον voraussetze – auch weil sie sich von den ersten drei Kapiteln des Römerbriefes nahelegt –, die Rettung bzw. Rechtfer­ tigung jedoch partikular (d. h. nur für die Glaubenden) verstehe.147 Johnston hinterfragt nun zunächst die Stichhaltigkeit von Forschungshypothesen, die in Röm  3,24–26 vorpaulinische Formeln annehmen, um die Spannung zwischen πάντες und δικαιούμενοι aufzulösen.148 Das grundsätzliche Problem bleibe je­ doch auch bestehen, wenn man annimmt, Paulus zitiere hier eine geprägte For­ mel, denn der Übergang von Zitat und Kommentar sei fließend, so dass eine literarkritische Binnendifferenzierung zum theologischen Problem der Unterord­ nung von δικαιούμενοι unter πάντες ἥμαρτον kaum etwas beitragen könne.149 Auch eine konzessive Auflösung des Partizips wäre unlogisch – „obwohl sie gerechtfertigt werden“ –, weil es nachgestellt sei.150 Die Forschung behelfe sich bei dem Problem mit der Erklärung, Röm  3,22b–23 als Parenthese aufzufassen, so dass Röm  3,24 an 3,22a anschließe und δικαιούμενοι den πιστεύοντας zuge­ ordnet wäre, obwohl δικαιούμενοι grammatisch nicht auf den Akkusativ bezo­ gen werden könne.151 Johnston schlägt dagegen vor, die Parenthese mit Röm  3,22b (οὐ γάρ ἐστιν διαστολή) beginnen und mit Röm  3,24a (δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι) enden zu lassen, weil διά in Röm  3,22a (nach Johnstons revidierter Verssegmentierung 3,22b), 3,24b und 3,25b ein Strukturmerkmal darstelle.152 Wie die Parenthese zu verstehen sei, werde aber erst verständlich, wenn die Bedeutung des Pronominaladjektivs πᾶς mitbedacht werde. Ausge­ hend von Beobachtungen zur Verwendungsweise von πᾶς in den Evangelien und in 1Kor 10,1–4 stellt Johnston die These auf: „It is evident that πάντες does

145 

Johnston, Sinned, 153 f. Vgl. aaO. 154. 147  Vgl. aaO. 154 f. 148  Vgl. aaO. 156 f. 149  Vgl. ebd. 150  Vgl. aaO. 157. 151  Vgl. aaO. 158. 152  Vgl. aaO. 158 f. 146 

3. Röm  3,1–31: Zwei Präzisierungen zu Röm  2,25–29

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not mean everyone everywhere, but all of the people previously established as forebears.“153 Daraus schließt Johnston für Röm  3,23: „So then πάντες seen as a pronoun in Rom 3:23 helps resolve the difficulty posed by δικαιούμενοι in v. 24 without needlessly complicating the explanation. The ‚all‘ who sinned and fall short of God’s glory are the same ones who in v. 24a are ‚justified.‘“154

Die Parenthese mache dann aber deutlich, „what is meant by ‚all who believe‘ – there is no distinction between Jews and Gentiles who believe; they are wi­ thout distinction all justified by faith.“155 Mit dem Sündenbegriff ist in diesem Kontext also eine bestimmte Argumen­ tationsabsicht verknüpft, die sich aus dem weiteren Kontext und insbesondere von der conplexio in Röm  3,27–31 her ergibt: Der Sündenbegriff dient dazu, einen bereits hergestellten Zusammenhang im hiesigen Kontext zu aktualisie­ ren. In Anschluss an die Untersuchung von Johnston scheint es naheliegend, dass mit der sperrigen Einfügung des Sündenbegriffs in Röm  3,22 der „missing link“ zwischen Juden und Heiden deutlich aufgezeigt werden soll, wie Paulus ihn in Röm  3,9–18 dargestellt hat. Universale Sündhaftigkeit und das sünden­ bezogene Heilsgeschehen entlasten die Adressaten von der Gesetzesobservanz, ohne dass Paulus Herkunft und Intention des Gesetzes an sich in Frage stellen müsste. Weil der Hinweis auf die Sünde in Röm  3,21–26 in jeder Hinsicht ein störendes Element darstellt und δικαιούμενοι grammatikalisch eindeutig nicht auf πιστεύοντας, sondern auf πάντες γὰρ ἥμαρτον zu beziehen ist, kann ge­ schlussfolgert werden: Paulus liegt entschieden daran, den Hinweis auf die Sün­ de in den Kontext einzufügen, um das mutmaßliche Traditionsstück in Röm  3,24f besonders zu akzentuieren. Die „negative Diagnose“, die in πάντες γὰρ ἥμαρτον anklingt, ist hier jedoch „keineswegs das Argumentationsziel“156: Der argumentative Wert von Röm  3,22b.23 besteht vielmehr im Aufweis der Ausweglosigkeit der Menschen und ihrer Bedürftigkeit einer Initiative Got­ tes,157 der die Sünder aus Gnade gerecht macht, so dass die Intention des Geset­ zes erfüllt wäre – was in der conplexio dann ja auch als explizite Schlussfolgerung gezogen wird. Aus der zwangsläufigen „Schicksalsgemeinschaft“ derer, die unter der Sünde sind und sündigen, konstituiert sich auf diese Weise eine neue positive, auf den Glauben an Jesus Christus bezogene Gemeinschaft. In dieser Gemeinschaft wer­ den, was die vorpaulinische Formel deutlich macht, die Verfehlungen als früher geschehene (Röm  3,25: προγεγονότων ἁμαρτημάτων) und nunmehr vergebene 153 

AaO. 162

154 Ebd. 155 Ebd. 156 

Haacker, Römer, 87. Vgl. aaO. 89: Paulus wolle den „unverdienten, gnadenhaften Charakter [der Rechtfer­ tigungsbotschaft, PB] unterstreichen“. Es gehe ihm nicht darum, sie „als solche einzuführen“ (ebd.). 157 

204

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

(διὰ τὴν πάρεσιν) apostrophiert.158 Die πίστις definiert also die πάντες jenseits der ἁμαρτία neu. Der Sündenbegriff in Röm  3,23a zusammen mit dem ἁμαρτ-­ Derivat in Röm  3,25 aktualisiert also den universalen Machtanspruch der Sün­ de (Röm  3,9) und ist wesentliche argumentative Voraussetzung für das vermut­ lich vorpaulinische Traditionsstück in Röm  3,25f, dessen Funktion darin be­ steht, eine Sühnevorstellung zu implementieren, in der Gott „ohne Gesetz“ die Verfehlungen vergibt und die Ungerechtigkeit des Menschen überwindet.159 Der Sündenbegriff wird vor allem durch die δίκαιος-Konnotation und die wei­ teren Schriftzitate von Röm  3,9–18 semantisch erschlossen und ermöglicht zu­ nächst in Röm  3,19–26 die definitive Festlegung des Kreuzesgeschehens als aus­ schließlichen Bezugspunkt des Glaubens und schließlich in der conplexio (Röm  3,27–31) die Zurückweisung der Toraobservanz mit dem Hinweis darauf, dass der Glaube die Intention der Tora realisiert.

158 Vgl.

Käsemann, Römer, 85f. Vgl. Kraus, Tod, 104–108, insb. seine Einschätzung zu

ἁμάρτημα: „ἁμάρτημα stellt eine Bezeichnung für konkrete Sünden dar, eine Störung des

Gottesverhältnisses auch unabhängig vom Gesetz [...]“ (aaO. 111). 159  Die Bedeutung von ἱλαστήριον in Röm 3,25 wird kontrovers diskutiert, vgl. Roloff, ἱλαστήριον, 455f; Jewett, Romans, 284–290; Kraus, Gerechtigkeit, insb. 209–215; Eberhart, Kultmetaphorik, 160–169; Breytenbach, Versöhnung, 166–169. Der Begriff verweist bekanntermaßen auf das alttestamentliche Sühneritual und die Deckplatte der Bundeslade (vgl. Ex 25,17–22; 31,7; 35,12; 38,5–8; Lev 16,2.13–15). Möchte man diesen alttestamentli­ chen Hintergrund annehmen, tritt Christus in Röm 3,25 an die Stelle des Sühnerituals Isra­ els (vgl. Roloff, ἱλαστήριον, 456) bzw. lässt Gott in einer Form präsent werden, wie es nur der alttestamentliche Sühnekult vermag (vgl. Kraus, Gerechtigkeit, 214f ). Den traditions­ geschichtlichen Hintergründen soll hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden, doch angesichts der heidenchristlichen Adressatenschaft, wie sie hier angenommen worden ist, und aufgrund des engeren argumentativen Kontextes scheint es mit Stefan Schreiber durch­ aus angebracht zu sein, über die „Rezeptionsmöglichkeit[en]“ (Schreiber, Weitergedacht, 211) dieser Motivik nachzudenken: Wenn die Gerechtigkeit aus Gnade geschenkt (Röm 3,24), das ἱλαστήριον von Gott „hingestellt“ und auf diese Weise von Gott aus die Beziehung zum Menschen neu definiert werde (nämlich in der unmittelbare Glaubensrelation) (vgl. aaO. 211–215), kann Schreiber zufolge das ἱλαστήριον von den Adressaten durchaus auch als „Weihegeschenk Gottes“ verstanden werden, ohne den Septuagintabezug herstellen zu müs­ sen. Der Fokus liegt dann nicht so sehr auf dem abgerufenen Traditionspotential und der typologischen Ablösung des Jom-Kippur-Ritus durch den Tod Jesu, sondern vor allem auf der Darstellung der Unmittelbarkeit der von Gott eröffneten Beziehung: „Dann bedeutet die Aussage keine Anwendung des Jom Kippur-Rituals auf den Tod Jesu und schon gar keine Ablösung dieser kultischen Praxis durch Jesu Tod. Das steht nicht im Fokus des Textes, der an Gemeinden gerichtet ist, die fern vom Jerusalemer Tempel leben. Für sie ist entscheidend, dass Gott ihnen in Christus von sich aus und unwiderruflich seine heilvolle Gegenwart zu­ gewandt und die rettende, befreiende Beziehung zu sich eröffnet hat“ (aaO. 214). Freilich wären gegen Schreibers innovativen Ansatz noch weitere Passagen des Römerbriefs zu ge­ wichten, in denen eine kultische Sühne mit anderen Motiven ausgedrückt wird, z.B. in Röm 5,8–10, wo vom Blut Christi die Rede ist, das die Rettung vor dem Zorn Gottes bewirkt (vgl. auch Theissen/Gemünden, Römerbrief, 251f ).

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

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3.3. Zwischenbilanz In Röm  3 bekräftigt Paulus die Heilskontinuität zwischen den heidenchristli­ chen Adressaten und Israel: Was Israel in seiner jetzigen Situation nicht gelingt, gelingt den Gläubigen – sie werden von der Sünde befreit und erfüllen damit die Intention des Gesetzes (Röm  3,31). Der Sündenbegriff ist für diese Argu­ mentation konstitutiv. In Röm  3,7 weist Paulus anhand einer rhetorischen Frage im Munde des „überführten Sünders“ eine Fehlinterpretation des Treueverhältnisses zwischen Israel und Gott zurück: Der Sünder bleibt auch dann noch Sünder, wenn seine Sünde die Gerechtigkeit Gottes ans Licht bringt. Dabei ist die Sündhaftigkeit des Ich von Röm  3,7 durchaus im Sinne der Gesetzesübertretung zu verstehen, wie Paulus sie in Röm  2,17ff erörtert und auch in Röm  2,12 zur Sprache ge­ bracht hat: Die, die mit dem Gesetz leben, werden durch es verurteilt. In Röm  3,9–31 stellt Paulus die Sünde als eine überindividuelle Macht dar, der alle Menschen unterstehen (Röm  3,9). Auch das Gesetz kann – entgegen seiner ursprünglichen Intention – nichts an diesem Zustand ändern, sondern ermöglicht lediglich die Erkenntnis der Sünde. Das Heilsgeschehen hingegen be­ zieht Paulus unmittelbar auf die Beseitigung der Sünde, indem er die All­ machtsvorstellung von Röm  3,9 in die christologischen Begründungszusam­ menhänge von Röm  3,21–26 einträgt und auf diese Weise mit einer Sühnevor­ stellung verknüpft. So gelingt Paulus beides: das Gesetz (und – nimmt man 3,1–8 hinzu – auch die Beschneidung) als Heilsweg zu relativieren und zu be­ haupten, dass sich seine Intention unter den heidenchristlichen Adressaten rea­ lisiert, insofern sie der Sünde – durch den Glauben – entzogen sind.

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade jenseits des Gesetzes Nachdem Paulus in Röm  3,27–31 festgestellt hat, dass die Adressaten durch ihre Partizipation am Christusereignis die Intention des Gesetzes, die Sünde abzu­ wenden, realisieren, argumentiert er in Röm  4,1–5,11, dass ihr Glaube – ohne Werke, d. h. aber auch: ohne Gesetzesobservanz oder Beschneidung – als Ge­ rechtigkeit angerechnet wird. Dazu legt Paulus die Abraham-Erzählung von Gen 15 im Kontext von Ps 32 (Ps 31LXX) aus.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

4.1. Argumentationsanalyse: Röm  4,23–5,11 als Skopus der in Röm  4,1 beginnenden Argumentation Unter argumentationskritischen Gesichtspunkten bietet sich 4,23–5,11 als Sko­ pus des Abraham-Schriftbeweises an. Hier spitzt Paulus die Abraham-Beweis­ führung auf seine heidenchristlichen Adressaten zu. Grenzt man die Abraham-Perikope bis Röm  4,25 ab, wie es häufig in der Forschung erwogen wird,160 ergibt sich unter dem Aspekt der Aufmerksam­ keitslenkung ein deutlicher Höhepunkt: In Röm  4,1–22 bewegt sich Paulus im explikativen Modus, d. h. er argumentiert in Distanz zu den Adressaten, wenn man von der Bezeichnung Abrahams als „unserem Vorvater“ bzw. „Vater“ in Röm  4,1; 4,12 und 4,16 absieht. In Röm  4,23 bezieht Paulus die Adressaten schließlich explizit in seine Überlegungen ein und wendet den Abrahambeweis auf sie an: Nicht nur um Abrahams willen, ἀλλὰ καὶ δι’ ἡμᾶς rede die Schrift von der „Anrechnung des Glaubens als Gerechtigkeit“ (Röm  4,23). Während also der argumentative Zusammenhang von Röm   4,1–22 und 4,23–25 offensichtlich ist, muss die Zugehörigkeit von Röm  5,1–11 zu 4,23–25 eingehend geprüft werden. Mehrere Beobachtungen sprechen dafür, 5,1–11 als Fortsetzung der prägnanten Applikation von 4,23–25 zu verstehen. 1.  Der Abschnitt richtet sich wie 4,23–25 durchweg an eine 1. Person Plural: εἰρήνην ἔχομεν (Röm  5,1), τὴν προσαγωγὴν ἐσχήκαμεν (Röm  5,2), καυχώμεθα ἐν ταῖς θλίψεσιν (Röm  5,3), ἀγάπη τοῦ θεοῦ ἐκκέχυται ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν (Röm  5,5), ὄντων ἡμῶν 160  Die Funktion und Zuordnung von Röm 5,1–11 ist in der Forschung umstritten. Wol­ ter versteht den Abraham-Schriftbeweis als einen Exkurs und geht davon aus, dass Paulus in Röm 5,1 fortsetze, was er in Röm 3,21–26 begonnen habe (Wolter, Römer, 338): „Röm 3,21–26 ist das Scharnier, das 1,18–3,20 und 5,1–11 zu Gegenstücken macht, die aufeinander bezogen sind. Auf diesen Abschnitt, genauer auf V. 24–25, nimmt Paulus in 5,1–11 überall dort Bezug, wo er vom Tod Jesu spricht, d.h. in V. 6b.8b.9a.10a.“ Nach Theissen/Gemünden, Römerbrief, 241–243 bilden „Abraham- und Adambeispiel“ (aaO. 242) Komplemente hinsichtlich Röm 5,1–11, wo „die Beziehung der Christen zu Gott“ (ebd.) neu definiert werde. Anders und im obigen Sinne argumentiert McDonald. Sie bestimmt Röm 5,1–11 als „rhetorical Bridge“ zwischen Röm 1,18–4,25 und 5,12–8,39. In Röm 4,23–25 erkennt sie eine Anwendung der vorigen Abraham-Exegese, in Röm 5,1–11 sieht sie zu Recht deren Fortsetzung: „In this pericope, then, the Roman Christians are viewed no longer as typical of groups ( Jews and Gentiles), as was the case in 1.18–4.22. Nor are they being considered as components of an all-inclusive but still impersonal pantes, as they were in 3.21–26. Instead, in 5.1–11 Paul speaks for the first time in Romans of the life that he and the Roman believers share as Christians“ (McDonald, Bridge, 86). McDonalds Bestimmung von Röm 5,1–11 als Brücke in den Abschnitt 5,12–8,39 mag jedoch nicht recht überzeugen, denn schon für die Adam-Christus-Gegenüberstellung muss McDonald einräumen: „Thus there is an immedi­ ate contrast between 5.1–11 (with its concentration on ‚us‘) and 5.12–21“ (aaO. 87). Auch Wengst, Römerbrief, 221 betont den engen Zusammenhang von Röm 4,25 und Röm 5,1: „An die zuletzt in 4,25 gemachte Aussage von der Rechtfertigung knüpft er [Paulus, PB] in 5,1 unmittelbar an […]. Wie schon in 4,24f. gebraucht Paulus in diesem Abschnitt durchgän­ gig die erste Person Plural. Dabei ist deutlich, dass es sich hier nicht um einen schriftstelleri­ schen Plural handelt, sondern dass Paulus sich mit seiner römischen Adressatenschaft zusam­ menfasst. Damit hat er also vorwiegend Menschen aus den Völkern im Blick.“

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

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ἀσθενῶν (Röm  5,6), ἔτι ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν (Röm  5,8), σωθησόμεθα δι’ αὐτοῦ ἀπὸ τῆς ὀργῆς (Röm  5,9), σωθησόμεθα ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ (Röm  5,10), νῦν τὴν καταλλαγὴν ἐλάβομεν (Röm  5,11). Aus syntaktischer Sicht ist ein Schnitt zwischen Röm  4,25 und 5,1

also nicht angezeigt. 2. Zwischen Röm  4,23–5,11 und 4,1–22 bestehen auffällige semantische Parallelen: Zentrale Begriffe der Abraham-Perikope werden in der Applikation von Röm  5,1–11 wieder aufgegriffen, affirmativ weiterentwickelt und auf die 1. Person Plural – d. h. die römischen Adressaten – appliziert bzw. im Lichte des Christusglaubens neu interpretiert (vgl. dazu weiter unten). 3.  So aussagekräftig die semantischen Parallelen für die Zusammengehörigkeit der Ab­ schnitte Röm  4,1–22 und 4,23–5,11 sind, so aussagekräftig ist auch die Vermeidung von Problembegriffen der theologischen Explikation: περιτομή, ἀκροβυστία, νόμος und ἐπαγγελία tauchen in Röm  4,23–5,11 nicht auf. Paulus rückt von diesen konfliktbelade­ nen Begriffen im applikativen Teil ab.

Als conplexio der in Röm  4,1 angestoßenen Argumentation hebt sich also der ganze Abschnitt Röm  4,23–5,11 ab. Hier wird das Abraham-Beispiel unter dem Gesichtspunkt der „Anrechnung des Glaubens als Gerechtigkeit“ (Röm  4,24: οἷς μέλλει λογίζεσθαι) auf die heidenchristlichen Adressaten angewendet: Wie Abraham sein Glaube an Gottes Verheißung angerechnet wird, so auch den Heidenchristen ihr Glaube an Christus – ohne Werke. Auch aus struktureller Perspektive bietet sich Röm  4,23–5,11 als Skopus der Argumentation an, da der Abraham-Beweis schrittweise zu dieser Passage hin­ führt. Zur Segmentierung. Im Gegensatz zur vorherigen Argumentation (Röm  3,9– 31) ist der Befund für Röm  4,1–5,11 auf den ersten Blick nicht eindeutig. Paulus nutzt nur wenige metakommunikative Ausdrücke, um die Argumentation zu gliedern. In Röm  4,1 leitet er zwar mit τί οὖν ἐροῦμεν ein. Es gibt auch einige rhetorische Fragen (Röm  4,3.9.10), doch darüber hinaus gibt Paulus keinerlei formale Hinweise auf die Gliederung des Abschnitts. Gleichwohl heben sich verschiedene thematische Blöcke ab: In Röm  4,1–8 komponiert Paulus zwei Schriftstellen miteinander, um die Gerechtigkeit aus Glauben angemessen dar­ zustellen. In Röm  4,9 wird die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen die Seligpreisung Davids in Röm  4,6–8 gilt. Ab Röm  4,13 steht das Gesetz, ab Röm  4,18 das Hoffnungsmotiv im Zentrum.161 In Röm  4,23–5,11 erfolgt die conplexio und Anwendung der Abraham-Exegese auf die Adressaten. Zur Interdependenz der Segmente. In Röm  4,1–8 entfaltet Paulus drei Gedan­ ken, die sich thematisch nahe stehen und auf den ersten Blick Ähnliches auf unterschiedlichen Ebenen ausdrücken162: 161 Vgl. Schreiner, Romans, 209, der die Zäsur zwischen Röm  4,16 und 4,17 erkennen möchte. Vgl. in obigem Sinne die Gliederung von Wolter, Römer, 278. 162 Vgl. Cranford, Abraham, 79–82. Röm   4,1–3 „explains not how an individual finds righteousness, but rather the basis by which righteousness is associated with Abraham, and the­ refore with his descendants as well.“ Das Bild vom Handwerker „expresses the idea of a wage“ (aaO. 79). Röm  4,6–8 müsse also als Illustration insbesondere von Röm  4,5 verstanden werden.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

1 Τί οὖν ἐροῦμεν εὑρηκέναι Ἀβραὰμ τὸν προπάτορα ἡμῶν κατὰ σάρκα; 2a εἰ γὰρ Ἀβραὰμ ἐξ ἔργων ἐδικαιώθη, 2b ἔχει καύχημα, 2c ἀλλ’ οὐ πρὸς θεόν. 3a τί γὰρ ἡ γραφὴ λέγει; 3b ἐπίστευσεν δὲ Ἀβραὰμ τῷ θεῷ 3c καὶ ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην.

4 τῷ δὲ ἐργαζομένῳ ὁ μισθὸς οὐ λογίζεται κατὰ χάριν ἀλλὰ κατὰ ὀφείλημα, 5 τῷ δὲ μὴ ἐργαζομένῳ πιστεύοντι δὲ ἐπὶ τὸν δικαιοῦντα τὸν ἀσεβῆ λογίζεται ἡ πίστις αὐτοῦ εἰς δικαιοσύνην.

6a καθάπερ καὶ Δαυὶδ λέγει τὸν μακαρισμὸν τοῦ ­ἀ νθρώπου 6b ᾧ ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων. 7a μακάριοι ὧν ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι 7b καὶ ὧν ἐπεκαλύφθησαν αἱ ἁμαρτίαι. 8a μακάριος ἀνὴρ 8b οὗ οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν.

Tabelle 29: Röm  4,1–3; 4f und 6–8 in synoptischer Darstellung

In Röm  4,1–3 stellt Paulus Abraham als Vorvater dar, der etwas „entdeckt“ oder „gefunden“ hat, dem also etwas zuteil geworden ist163 (Röm  4,1: εὑρηκέναι): Sein Glaube ist ihm als Gerechtigkeit angerechnet worden (Röm  4,3c: ἐλογίσθη), nicht seine Werke. Gen 15,3 stellt die wesentliche Belegstelle für die Glaubens­ gerechtigkeit dar.164 Paulus weist explizit darauf hin, dass der Ruhm der Recht­ fertigung aus Werken vor Gott nicht möglich ist (Röm  4,2), womit er sehr deut­ lich an den negativen Bescheid von Röm  3,27 anknüpft. In Röm  4,4f entfaltet Paulus den Gedanken von Röm  4,1–3 anhand eines Tat-Lohn-Schemas, indem er zwei substantivierte Partizipien gegenüberge­ stellt: τῷ δὲ ἐργαζομένῳ (Röm   4,4) und τῷ δὲ μὴ ἐργαζομένῳ πιστεύοντι (Röm  4,5). Dabei erweist sich die Unterscheidung von κατὰ χάριν und κατὰ ὀφείλημα als zentral: Die Anrechnung des Glaubens geschehe κατὰ χάριν, wäh­ rend der Lohn für denjenigen, der etwas hervorbringe (ἐργαζομένῳ), einem ἔργα-μισθός-Zusammenhang unterliege. Röm  4,4f stellt also einen nachträgli­ chen Kommentar165 zur Glaubensgerechtigkeit Abrahams dar, insofern die An­ rechnung (Röm  4,4: λογίζεται κατὰ χάριν) spezifiziert wird: Bei der Anrech­ nung handelt sich um einen Gnadenakt außerhalb des Kalküls von Tat und Lohn.166 Zudem leitet Röm  4,4f zu 4,6–8 über, denn mit Röm  4,6–8 sichert Paulus die Anrechnung der Glaubensgerechtigkeit aus Gnade durch einen Rekurs auf Ps 32 ab.167 Auch dieses Mal ist explizit die Anrechnung Gegenstand der Darstellung 163 Vgl.

Wolter, Römer, 279. Vielleicht geschieht dies in Auseinandersetzung mit der jüdischen Auslegung von Gen 15, vgl. Haacker, Römer, 115–118. 165 Vgl. Wolter, Römer, 283. 166 Vgl. Haacker, Römer, 119: „Also muß λογίζομα [sic!] in Gen. 15,6 eine von der All­ tagssprache abweichende Bedeutung haben, weil es in diesem Vers nicht um eine Arbeitsleis­ tung, sondern um die dem Glaubenden zugerechnete ‚Gerechtigkeit‘ geht.“ 167 Vgl. sehr prägnant Berger, Abraham, 66: „Auf Grund von Stichwortanknüpfung ( λογίζεται) wird Ps. 32, 1–2 zitiert, welche Stelle aber gar nicht mit der historischen Gestalt 164 

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

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(Röm  4,6b: ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων), wobei λογίζεται jedoch nicht auf den Psalmentext, sondern auf die Kommentierung des Paulus zurück­ geht und angesichts der Konjunktion καθάπερ καί (Röm  4,6a) fast additiv er­ scheint, als würde Röm  4,6–8 den Zusammenhang von Röm  4,4f nur noch ein­ mal veranschaulichen sollen.168 Mit Ps 32 wird die Anrechnung der Gerechtig­ keit ohne Ansehung der Werke als Absehen Gottes von den Taten des Menschen (Röm  4,6b: δικαιοσύνη χωρὶς ἔργων) charakterisiert, wobei das Tun des Men­ schen im Davidzitat subtil als ἁμαρτίαι konnotiert und damit in einen Zusam­ menhang mit τὸν ἀσεβῆ (Röm  4,5) gebracht wird. Was lässt sich nun als „thetisches Zentrum“ von Röm  4,1–8 bestimmen? Das Motiv der Anrechnung verbindet die drei Argumentationsebenen in Röm  4,1–8 miteinander. Die zentrale theologische These, die Paulus aus Gen 15 gewinnt, verdichtet sich in Röm  4,5: Dem, der kein Werk hervorbringt und an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. Die Selig­ preisung Davids in Röm  4,6–8 bietet noch einmal eine komprimierte Form von Röm  4,4f (4,6: ᾧ ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων) und profiliert die Anrechnung der Gerechtigkeit ohne Werke als ein Absehen von der Sünde. Die These von Röm  4,5 ist demnach zu erweitern: Dem, der kein Werk hervorbringt und an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet – von seiner Sünde sieht Gott ab. In Röm  4,9–12 fragt Paulus nach der Geltung der Seligpreisung Davids für Beschnittene und Unbeschnittene, d. h. er hinterfragt die Geltung seiner These ähnlich wie in Röm  3 hinsichtlich der Unterscheidung von Juden- und Heiden­ christen. Der Abschnitt bildet eine geschlossene Sinneinheit: Röm  4,10 spezifi­ ziert Röm  4,9, die Ausführungen zum nachträglichen Empfang der Beschnei­ dung in Röm  4,11f sind mit καί auf Röm  4,10 bezogen. Die Frage nach dem Geltungsbereich der Seligpreisung leitet offenbar eine ratio ein: Paulus greift explizit auf Röm  4,1–3 zurück (Röm  4,9b: λέγομεν γάρ)169 und weist darauf hin, Abrahams in Zusammenhang steht oder stehen soll, vielmehr nur über das Abrahambeispiel hinaus den Satz rechtfertigen soll, daß bei dem Anrechnen Gottes auf Grund von Glauben dann auch die Sünde nicht angerechnet wird, nicht nur das Werk nicht. Der Hinweis darauf war notwendig, weil die Gemeinsamkeit zwischen Juden und Heiden ja zunächst einmal auf der Gemeinsamkeit des Sünderseins beruhte.“ 168  Bei der Zusammenstellung von Gen 15 und Ps 31 wird gelegentlich auf die Ausle­ gungsregel gezera schawa verwiesen. Wolter, Römer, 286 kritisiert diese Auslegung des­ wegen, weil die „technische Interpretationssprache“ hier fehle und die Vergleichsstelle nicht wie üblich aus der Tora stamme. Seine Erklärung des Zusammenhangs zwischen Gen 15 und Ps 31 ist viel plausibeler – es bestehe zwischen beiden Schriftstellen eine theologische Paralle­ lität: „Wenn Gott den Menschen ihre Sünden vergibt, sieht er von ihren Werken ab und rechnet ihnen Gerechtigkeit ‚ohne Werke‘ zu. Paulus will den Lesern deutlich machen, dass seine Interpretation von Gen 15,6 in Übereinstimmung mit dem Gottesbild steht, das in Ps 31,1–2LXX erkennbar wird“ (ebd.). 169  Die Konjunktion γάρ muss hier bekräftigend im Sinne eines „ja“ gelesen werden, denn Röm  4,9b kann nur schwerlich als Begründung für Röm  4,9a verstanden werden, vgl. auch Wengst, Römerbrief, 210: „Die Beschneidung als das wesentliche Element religiöser Praxis

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

dass Abraham nicht beschnitten war, als ihm die Gerechtigkeit angerechnet wurde, die Beschneidung also bei der Anrechnung des Glaubens keine Rolle gespielt haben kann.170 Mit Röm  4,9–12 begründet Paulus also einen Teilaspekt des thetischen Zentrums von Röm  4,1–8: Das Absehen von den Werken und Sünden des Menschen, wie es im Psalm Davids gepriesen wird, gilt auch den Heidenchristen. Röm  4,13–17 bezieht sich auf das Gesetz und rekurriert damit stärker auf Röm  4,4f, was auch daran erkennbar ist, dass Paulus das Gnadenmotiv wieder aufgreift (Röm  4,16: ἵνα κατὰ χάριν). Es geht um die Verheißung, der Abraham Glauben geschenkt hat und die nicht als Resultat des Gesetzes verstanden werden kann. Der Bezugspunkt des Glaubens ist die Gnade, die die Verheißung erst möglich gemacht hat. Paulus nimmt hier noch keine chronologische Nachord­ nung des Gesetzes vor, sondern begnügt sich mit einem Hinweis, der an Röm  3,19f erinnert: Das Gesetz bringt Zorn – hier ist der Zorn Gottes gemeint – und ohne das Gesetz gäbe es keine Übertretung (Röm  4,15).171 Hinsichtlich des Glaubens ist damit gesagt: Das Gesetz kann den Glauben nicht hervorbrin­ gen oder den Menschen aus dem verhängnisvollen Zusammenhang von Sünde und Tod retten. Es gibt zwei Möglichkeiten, den argumentativen Zusammenhang von Röm  4,9–12 und 4,13–17 zu verstehen: Entweder könnte Röm  4,13–17 eine eigenständige Begründung darstellen, die auf Röm  4,1–8 zu beziehen ist – dann würde es sich um eine zweite ratio handeln, die die Unabhängigkeit der Gerech­ tigkeit von den Werken begründen soll –, oder aber Röm  4,13–17 sichert den Zusammenhang zwischen Röm  4,1–8 und 4,9–12 ab – dann würde es sich um eine rationis confirmatio handeln. Dass Röm  4,13 mit 4,12 über γάρ verknüpft ist, beweist an sich noch keinen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen den beiden Segmenten, im Gegenteil: Setzt man für γάρ eine streng kausale Lesart an, müsste geklärt werden, inwiefern Röm  4,13 Teilaspekte von Röm  4,12 Israels und alles, was an weiterer religiöser Praxis Israels dazugehört, ist nicht ursächlich mit dem auf Treue und Vertrauen gründenden und durch sie vermittelten Rechtsein bei Gott verbunden. Damit ist unter diesem Gesichtspunkt die sich an der Beschneidung festmachen­ de Besonderheit Israels relativiert.“ 170  Wobei auch hier die Bundeszeichen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, son­ dern vielmehr die Partizipation an der Erwählung Israels thematisiert wird, vgl. Cranford, Abraham, 85: „Paul doesn’t deny the sociological distinction implicit in the ritual of circum­ cision, however; Abraham does not cease to be the father of those Jews who have faith (v. 12). The distinction between Jews and Gentiles is not sociologically irrelevant, in Paul’s view. It simply is not significant with regard to membership in the covenant.“ 171  Schreiner, Romans, 230 liest die Stelle dezidiert im Spiegel der bisherigen Sünden­ argumentation des Römerbriefes und kommt auf der Grundlage von Röm  2 ,12 und 5,12–14 zu dem überzeugenden Ergebnis: „We should not conclude from 4:15 that wrath is experien­ ced only when a written commandment is violated. Nevertheless, transgression of the law involves greater responsibility since the infraction is conscious and therefore involves rebel­ lion against a known standard […].“

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

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begründet. Eine direkte Begründung für Röm  4,11f liegt in Röm  4,13 nicht vor, vielmehr entfaltet Röm  4,13 das Problem von Beschneidung und Unbe­ schnittenheit und die Bedeutung der Vaterfigur Abraham in einem größeren theologischen Kontext. Auch in Röm  2,17–29 und Röm  3,1–31 wurde die Be­ schneidungsfrage unmittelbar mit der Frage nach dem Gesetz verknüpft.172 Nun wird die Verheißung als wesentliche Bezugsgröße des Glaubens hervorge­ hoben, während das Gesetz die Glaubensbeziehung überflüssig machen würde (Röm  4,14b: κεκένωται ἡ πίστις καὶ κατήργηται ἡ ἐπαγγελία).173 Die Gesetzes­ frage bildet also den größeren theologischen Rahmen für die Frage nach der Legitimität der Beschneidung. Dessen eingedenk erfüllt Röm  4,13–17 eher die Funktion einer confirmatio: Der Blick auf das Verhältnis von Gesetz und Verhei­ ßung bekräftigt das Grundanliegen des Abraham-Paradigmas.174 Ratio und confirmatio in Röm  4,9–12.13–17 sichern damit die These von Röm  4,1–8 ab: Be­ schneidung und Gesetzesobservanz als ἔργα stellen keine Bedingungen für die Anrechnung des Glaubens dar, weil Abraham die Beschneidung nachträglich aufgetragen worden und damit die Verheißung dem Gesetz vorgeordnet ist. 172 

Schreiner, Romans, 229 überlegt, ob Gesetz oder Beschneidung im Fokus des Inte­ resses der Argumentation stehen: „It is possible that the reference to the law should be inter­ preted in light of the word ‚circumcision‘, yielding a nationalistic emphasis. But it is also possible, and I think likely, that the shift to the word νόμος indicates that the reference to circumcision should be interpreted in light of the word ‚law‘, so that the whole discussion of circumcision needs to be conducted against a wider background.“ 173  Unter dem Gesetz lässt sich nichts anderes als die Tora verstehen, doch Paulus zeigt hier ein besonderes Interesse an deren Funktion als Strafwerkzeug. Die „positiven Gehalte des hebräischen Begriffs Torah“ (Haacker, Römer, 127) übergeht er: „Es geht ihm [Paulus] ja vor allem darum, die Heidenchristen davon abzuhalten, dem mosaischen Gesetz eine Heilsbedeutung zuzuschreiben, von daher wird sein Argumentieren mit dem heidnischen Gesetzesbegriff rhetorisch verständlich“ (ebd.). 174  Welche Verheißung ist in Röm  4,13 gemeint? Ob der Hinweis τὸ κληρονόμον αὐτὸν εἶναι κόσμου auf die Adressaten zu beziehen ist – ob also sie als Erben der Welt eingesetzt werden – oder ob die Erfüllung der Verheißung an Abraham lediglich paradigmatischen Charakter und ihren Sitz in der alttestamentlichen Erzählwelt hat, ist näherhin zu klären. Lediglich in Röm  8,17 bietet Paulus erneut den Begriff τὸ κληρονόμον, dort in einer Klimax (κληρονόμοι, κληρονόμοι μὲν θεοῦ, συγκληρονόμοι δὲ Χριστοῦ). In Röm  4 scheint mit τὸ κληρονόμον jedoch eher auf die historische Abrahamerzählung Bezug genommen zu werden, denn Paulus bezieht sich explizit auf Ἀβραάμ und τὸ σπέρμα αὐτοῦ (Röm  4,13a) und spricht vom κληρονόμον κόσμου, wobei Gen 12 oder Gen 22,17f im Hintergrund stehen dürften. Der Rekurs auf ἐπαγγελία im Kontext von Röm  4,13–17 dürfte also eher paradigmatischen Cha­ rakter haben. Das Gesetz wird als eine der ἐπαγγελία nachrangige Größe herausgestellt, so dass gelten muss: Διὰ τοῦτο ἐκ πίστεως, ἵνα κατὰ χάριν (Röm  4,16). Abraham dient als πατὴρ πάντων ἡμῶν, insofern er der Verheißung Gottes geglaubt hat. Auf Adressatenebene rückt stattdessen die Partizipation am μακαρισμός Davids in den Fokus: Die Einbettung von Ps 32 in den Abraham­ schriftbeweis soll vor allem eine Synchronisierung der biblischen Erzählwelt mit der Adressa­ tenschaft ermöglichen, wie Haacker pointiert zusammenfasst (Haacker, Römer, 126f ): „Es geht dem Apostel hier nicht um Inhalt und Ziel der Verheißung, sondern um die ‚Glaubens­ gerechtigkeit‘ als Basis der Verheißung (vgl. V. 22–25). Im Kontext seiner Argumentation dürfte die Ausweitung des ‚Landes‘ zur ‚Welt‘ darin begründet sein, daß er auch die Nach­ kommenschaft Abrahams universalistisch ausweitet auf Glaubende aus allen Völkern.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Mit Röm  4,18–22 rückt Paulus von den negativen Bescheiden bzgl. Gesetz und Beschneidung in Röm  4,9–17 ab und lenkt die Argumentation auf die In­ tegrationskraft der Abraham-Figur zurück: Die Hoffnung Abrahams steht im Zentrum des Abschnitts. Paulus greift auf positive, fast panegyrische Elemente zurück, während der theologische Konfliktfall in den Hintergrund tritt.175 Röm  4,18–22 fungiert als exornatio, insofern die Hochschätzung Abrahams un­ ter dem Aspekt der Hoffnung reformuliert und überschwänglich gewürdigt wird, indem Paulus festhält: διὸ [καὶ] ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην (Röm  4,22). Abrahams Festhalten an der Verheißung ist der Grund für die Anrechnung sei­ nes Glaubens als Gerechtigkeit.176 In der conplexio (Röm  4,23–5,11) werden nun zentrale Aspekte der bisherigen Argumentation auf die Adressaten angewendet – und zwar unter christologischen Vorzeichen (Röm  4,24: ἐπὶ τὸν ἐγείραντα Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν ἐκ νεκρῶν):177 a) Glaube Explikation (Röm  4,1–4,22) ἐπίστευσεν δὲ Ἀβραὰμ τῷ θεῷ (4,3) ἐπίστευσεν εἰς τὸ γενέσθαι αὐτὸν πατέρα πολλῶν ἐθνῶν κατὰ τὸ εἰρημένον (4,19)

Applikation (Röm  4,23–5,11) πιστεύουσιν ἐπὶ τὸν ἐγείραντα Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν ἐκ νεκρῶν (4,24) Δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως (5,1) δι’ οὗ καὶ τὴν προσαγωγὴν ἐσχήκαμεν [τῇ πίστει] (5,2)

Tabelle 30a: Die semantischen Zusammenhänge zwischen Röm  4,1–4,22 und 4,23–5,11

Mit πιστεύειν beschrieb Paulus in der bisherigen Argumentation die Relation zwischen Abraham und Gott (Röm  4,3). Dass Gott ein lebendig- und gerecht­ machender Gott (Röm  4,19) sei, konkretisierte sich vor allem in der Belebung 175  Wengst, Römerbrief, 217 bestimmt die Funktion von Röm  4,18–22 als eine geraffte Nacherzählung der Abraham-Geschichte, die vor allem die Radikalität des Vertrauens auf die Zusage in den Blick nehme. Haacker, Römer, 129 spricht davon, dass das Vertrauen auf Gott „an der Spannung zwischen der Verheißung zahlreicher Nachkommen (Gen 15,5) und der scheinbar endgültigen Kinderlosigkeit von Sarah und Abraham konkretisiert [wird].“ 176  Schliesser, Doubt, 518 meint, dass Paulus mit dem Hinweis auf den nicht zweifeln­ den und hoffenden Abraham auf konkrete Probleme in der Gemeinde anspielt. Auch für Lowe, Romans, 153 steht in der Passage die Kontrafaktizität des Glaubens im Mittelpunkt: „At quite another level, though, Rom. 4:17–22 is at pains to show that righteousness produ­ cing faith also requires a contradictory present reality. In v. 17 it is implied that Abraham was both dead and called out of turn. Both his body and that of his wife were ‚as good as dead‘ (v. 19), and it was ‚in hope he believed against hope‘ (v. 18). While there may be the tempta­ tion to think that promise is the only provision required for faith, vv. 17–22 suggest so­ mething more. Faith that results in righteousness comes out of a situation strongly contradic­ tory to what has been promised.“ 177 Haacker bestimmt den Abschnitt als „Zusammenfassung des Evangeliums“ (Haacker, Römer, 133), die durchaus auf die vorige „bibeltheologische[] Untermauerung seiner Rechtfertigungsthesen von Kap.  3,27–30“ (ebd.) bezogen sei.

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

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der νέκρωσις τῆς μήτρας Σάρρας. In der conplexio wird das Ziel des Glaubens ebenfalls in Gott verortet und auch das Motiv der Lebendigmachung wird wie­ der aufgegriffen, nun aber als Auferweckung Christi (Röm  4,24). b) Rechtfertigung Explikation (Röm  4,1–4,22) ἐπὶ τὸν δικαιοῦντα τὸν ἀσεβῆ (4,5) ᾧ ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων (4,6) ἐλογίσθη τῷ Ἀβραὰμ ἡ πίστις εἰς δικαιοσύνην (4,9)

Applikation (Röm  4,23–5,11) οἷς μέλλει λογίζεσθαι (4,24) Δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν […] (5,1)

Tabelle 30b: Die semantischen Zusammenhänge zwischen Röm  4,1–4,22 und 4,23–5,11 (Fortsetzung)

Das Rechtfertigungsmotiv, wie es in der conplexio zur Sprache kommt (δικαιω­ θέντες οὖν ἐκ πίστεως), hat auch in der Abrahamauslegung eine zentrale Rolle gespielt – dort ist der Bezugspunkt des Glaubens der Gott, der den Gottlosen gerecht macht. Die heidenchristlichen Adressaten werden als solche angespro­ chen, denen eine ähnliche Anrechnung widerfährt. Der Begriff λογίζεσθαι (Röm  4,24) gewährleistet den Übergang zur conplexio (Röm  4,24a ἀλλὰ καὶ δι’ ἡμᾶς), wird jedoch nicht näher erklärt. Vielmehr werden die Heidenchristen als „gerecht gemachte“ angesprochen und stehen damit bereits in einer heilsge­ schichtlichen Kontinuität zu Abraham. Als Gerechtfertigte steht ihnen die Er­ fahrung der Versöhnung und Rettung offen, καταλλαγέντες und σωθησόμεθα erweisen sich als die zentralen Begriffe der conplexio. c) Gnade Explikation (Röm  4,1–4,22) τῷ δὲ ἐργαζομένῳ ὁ μισθὸς οὐ λογίζεται κατὰ χάριν ἀλλὰ κατὰ ὀφείλημα (4,4) Διὰ τοῦτο ἐκ πίστεως, ἵνα κατὰ χάριν, (4,16)

Applikation (Röm  4,23–5,11) δι’ οὗ καὶ τὴν προσαγωγὴν ἐσχήκαμεν [τῇ πίστει] εἰς τὴν χάριν ταύτην ἐν ᾗ ἑστήκαμεν (5,2)

Tabelle 30c: Die semantischen Zusammenhänge zwischen Röm  4,1–4,22 und 4,23–5,11 (Fortsetzung)

Auch der Gnadenbegriff wird wieder aufgegriffen. Während χάρις in der bis­ herigen Argumentation benutzt wurde, um die Überlegenheit der Glaubens­ gerechtigkeit über die Gerechtigkeit der Werke zu betonen (als Problematisie­ rung von μισθός), wird der Begriff in der conplexio gegenständlich und spatial als Sphäre aufgefasst, in der die Gläubigen bereits stehen bzw. zu der sie Zugang haben.

214

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

d) Hoffnung Explikation (Röm  4,1–4,22) Ὃς παρ’ ἐλπίδα ἐπ’ ἐλπίδι ἐπίστευσεν εἰς τὸ γενέσθαι αὐτὸν πατέρα πολλῶν ἐθνῶν κατὰ τὸ εἰρημένον (4,18)

Applikation (Röm  4,23–5,11) καὶ καυχώμεθα ἐπ’ ἐλπίδι τῆς δόξης τοῦ θεοῦ (5,2) ἡ δὲ δοκιμὴ ἐλπίδα (5,4) ἡ δὲ ἐλπὶς οὐ καταισχύνει (5,5)

Tabelle 30d: Die semantischen Zusammenhänge zwischen Röm  4,1–4,22 und 4,23–5,11 (Fortsetzung)

Auch das ἐλπίς-Motiv verbindet die bisherige Argumentation mit ihrer conplexio, wobei die Abraham-Narration auf die Gläubigen vollumfänglich übertra­ gen wird. Insbesondere in Röm  5,1–5 steht das Hoffnungsmotiv im Zentrum: Wie Abraham auf Hoffnung hin gehofft hat, so stehen auch die Adressaten unter Anfechtung und werden zur Hoffnung geleitet. Die Hoffnung der Christen hat ihren Haftpunkt in der Gnade, die durch Christus erlangt werden konnte (Röm  5,2: δι’ οὗ). Damit verweist Paulus auf die exornatio der Argumentation (Röm  4,18–22). Die Hoffnung Abrahams auf die Erfüllung der Verheißung Gottes entspricht der Hoffnung der Christen in der Bedrängnis. Das Festhalten am Glauben garantiert dessen Anrechnung als Gerechtigkeit. e) Gottlosigkeit Explikation (Röm  4,1–4,22) ἐπὶ τὸν δικαιοῦντα τὸν ἀσεβῆ (4,5)

Applikation (Röm  4,23–5,11) Ἔτι γὰρ Χριστὸς ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν ἔτι κατὰ καιρὸν ὑπὲρ ἀσεβῶν ἀπέθανεν (5,6)

Tabelle 30e: Die semantischen Zusammenhänge zwischen Röm  4,1–4,22 und 4,23–5,11 (Fortsetzung)

Auch das Stichwort „Gottlosigkeit“ wird in der conplexio wieder aufgegriffen. Bisher wurde der Begriff benutzt, um den Menschen vor Gott und das Rechtfertigungs­ geschehen näherzubestimmen: „Der den Gottlosen gerecht macht“ (Röm  4,19). In der conplexio wird „der Gottlose“ eingebunden in ein christologisches Narrativ: Christus ist für die Gottlosen und Schwachen, d. h. die Adressaten, gestorben. f ) Sünde Explikation (Röm  4,1–4,22) Applikation (Röm  4,23–5,11) μακάριοι ὧν ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι καὶ ὧν ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν (5,8b) ἐπεκαλύφθησαν αἱ ἁμαρτίαι. μακάριος ἀνὴρ οὗ οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν (4,7f ) Tabelle 30f: Die semantischen Zusammenhänge zwischen Röm  4,1–4,22 und 4,23–5,11 (Fortsetzung)

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

215

Auch der Rückgriff auf ἁμαρτία trägt dazu bei, dass der Makarismus Davids und die Glaubensgerechtigkeit Abrahams auf die Adressaten übertragen werden kann. Dabei wird der Sünder-Begriff, wie er in Röm  5,8b auf die Adressaten angewendet wird, in der conplexio mit anderen Begriffen, nicht aber mit dem Gesetzes- oder Werkbegriff verbunden. Vielmehr wird die ehemalige Existenz der heidenchristlichen Adressaten als Sünder mit den Übertretungen, der Feindschaft zu Gott, Schwäche und Gottlosigkeit assoziiert (vgl. dazu im Detail die semantische Analyse unter V.4.2.). In der conplexio geht es Paulus in erster Linie darum, den Aspekt der Anrechnung (λογίζεσθαι) auf die Adressaten zu übertragen, selbst wenn sich die Orientie­ rungspunkte ihres und Abrahams Glaubens unterscheiden: Bei Abraham ist es Gottes Verheißung eines Nachkommen – wobei Paulus auf die Wiederher­ stellung der „gestorbenen“ Zeugungsfähigkeit Abrahams und Saras anspielt (Röm  4,19) –, bei den Heidenchristen ist es Gott selbst, der „Jesus von den Toten auferweckt hat.“ Im thetischen Zentrum wurde die Anrechnung des Glaubens Abrahams zuerst mit der Nicht-Anrechnung der Werke, dann mit der Nicht-An­ rechnung der Sünden des Menschen in Verbindung gebracht. Auch in der chris­ tologisch orientierten conplexio des Schriftbeweises in Röm  4,23–25 spiegelt sich dieser Zusammenhang wider, denn in Röm  4,24 spezifiziert Paulus die Aufer­ weckung Jesu dahingehend, dass sie διὰ τὴν δικαίωσιν ἡμῶν und seine Hingabe διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν geschehen sei.178 Es ergeben sich folgende Parallelen zwischen dem Glauben der römischen Heidenchristen und Abrahams:

Gegenstand der Anrechnung Inhalt des Glaubens Nicht-Anrechnung

Abraham/Argumentation Röm  4,1–22 Der Glaube

Römische Heidenchristen/ conplexio Röm  4,23–5,11 Der Glaube

Die Verheißung (Wiederher­ Gott, der Jesus auferweckt stellung der Zeugungsfähigkeit) hat Werke / Sünde(n) Verfehlungen

Tabelle 31: Parallelen zwischen dem Glauben Abrahams und dem Glauben der Heidenchristen

Die conplexio und die argumentatio, die zu ihr hinführt, korrelieren also in der Auf hebung eines Wirkzusammenhangs von Werk und Lohn. Dieser Zusam­ menhang wird in der conplexio dann auch ins Zentrum gerückt (Röm  5,6–11), wie bereits gezeigt wurde: In der Rückschau auf das Kreuzesgeschehen, das sich 178  Dabei erscheinen die διά -Formeln in Röm  4,25 und 5,1f christologisch unterspezifi­ ziert, worauf Berger, Abraham, 74 völlig zu Recht hinweist: „Das genauere Verhältnis der Rechtfertigung aus Glauben an Gott zu diesem διὰ τοῦ κυρίου bleibt freilich noch völlig im Dunkeln. Die Adam-Christus-Typologie wird erst die Notwendigkeit erhellen, warum der rechtfertigende Glaube so eng an Jesus Christus geknüpft ist und daß er nur durch ihn zur Verwirklichung kommt.“

216

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

in einer Zeit ereignete, als die heidenchristlichen Adressaten noch Sünder wa­ ren, spiegelt sich Röm  4,4f wider: Nicht die Taten des Menschen, sondern sein Glaube wird als Gerechtigkeit angerechnet. In ratio und confirmatio (Röm  4,9– 17) wird diese Nicht-Anrechnung mit Beschneidung und Gesetz in Verbindung gebracht: Dass Gott von den Taten des Menschen absieht und den Glauben anrechnet, schließt auch ein, dass Gott Beschneidung und Gesetz nicht anrech­ net, was die Chronologie der Abraham-Erzählung verbürgt. Der „Freispruch“ der Heidenchristen in der conplexio scheint der Nicht-Anrechnung der Werke in der Explikation zu entsprechen, insofern diese als Manifestationen der Sünde verstanden werden. Zur Kohärenz der Argumentation. In der Gesamtschau ergibt sich folgendes, argumentatives Gefälle: Röm  4,1–8

expositio

Röm  4,9–12

ratio

Röm  4,13–17

rationis confirmatio

Röm  4,18–22

exornatio

Röm  4,23–5,11 conplexio

Die Gerechtigkeit Gottes wird dem Menschen ( Juden- und Heidenchrist) ohne Werke (Röm  4,1–3) und aus Gnade (Röm  4,4f ) als Absehen von der Sünde/ von den Sünden (Röm  4,6–8) angerechnet. Abraham wurde die Gerechtigkeit angerechnet, bevor er beschnitten war. Der Glaube kann sich nicht auf das Gesetz beziehen, sondern nur auf die Gnade, weil das Gesetz Zorn schafft. Abraham glaubte an die Erfüllung der Verheißung Gottes – das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Das Christusgeschehen ermöglicht den Heidenchristen die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit unter Absehung der Sünden und ohne das Gesetz.

Tabelle 32: Argumentationsstruktur von Röm  4,1–5,11

Die begrifflichen und konzeptionellen Parallelen zwischen Röm  4,1–22 und 4,23–5,11 sprechen dafür, Röm  4,23–5,11 als eine zusammenhängende conplexio zu verstehen: Die Übertragung der Abraham-Beweisführung auf die Adressa­ ten endet nicht bereits in Röm  4,25, sondern die entscheidende Übertragungs­ leistung geschieht erst in Röm  5,1–11. Versteht man Röm  4,23–5,11 als zusam­ menhängende conplexio und damit als Ziel der in Röm  4,1 beginnenden Argu­ mentation, erklärt sich auch die Disposition der Abraham-Beweisführung und die multiperspektivische Exegese von Gen 15 in Röm  4,1–8: Dadurch, dass Paulus die Anrechnung des Glaubens als Absehen von den Sünden interpretiert, wird die adressatenorientierte conplexio vorbereitet, während ratio und rationis confirmatio die Gültigkeit dieser Anrechnung für die heidenchristlichen Adres­ saten gewährleisten. Wenn die Analyse des Übergangs in Röm  4,23–25 korrekt ist, liegt es nahe, dass die Eintragung der Sündenthematik in den Kontext – d. h. die Zusammenstellung von Abraham-Erzählung und Psalmenwort in

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

217

Röm  4,1–8 – vor allem dem Zweck dient, eine Parallele zwischen Abraham und den Heidenchristen zu konstruieren, die es Paulus ermöglicht, Beschneidung und Gesetz zu relativieren. Wenn durch Christus tatsächlich Sündenvergebung ermöglicht wird, folgt daraus, dass die Anrechnung des Glaubens ohne Werke erfolgt. Dann aber wird die Gerechtigkeit ohne Gesetz und Beschneidung, die Abra­ ham möglich war, auch den heidenchristlichen Adressaten zuteil.

4.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Ziel der Abraham-Argumentation ist es, den Christusglauben als Absehen von den Sünden und damit als Absehen von den Werken des Menschen zu deuten, so dass Beschneidungs- und Observanzforderungen der Boden entzogen ist. Der Sündenbegriff taucht im thetischen Zentrum von Röm  4,1–8 und in der conplexio von Röm  4,23–5,11 auf. Die Funktion des Sündenbegriffs im thetischen Zentrum (Röm  4,1–8). Indem Pau­ lus das Psalmenwort (Röm  4,6–8) als Seligpreisung (Röm  4,6: μακαρισμός) ei­ nes Menschen bezeichnet, dem Gott die Gerechtigkeit χωρὶς ἔργων anrechnet, kann er die Anrechnung der Gerechtigkeit ohne Werke (Röm  4,6b: δικαιοσύνη χωρὶς ἔργων), wie er sie bei Abraham beobachtet hat, weitergehend begründen und in Beziehung zur Sünde setzen.179 Dabei verbindet er über λογίζεται Röm  4,6 mit 4,5.180 Indem Paulus αἱ ἀνομίαι, αἱ ἁμαρτίαι und ἁμαρτίαν an das Satzende stellt, rückt er die ἔργα in die Nähe zur Sünde: λογίζεται […] χωρίς ἔργων τοῦ ἀνθρώπου 6 μακαρισμόν ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι 7 μακάριοι ἐπεκαλύφθησαν αἱ ἁμαρτίαι [ μακάριοι] μὴ λογίσηται ἁμαρτίαν 8 μακάριος ἀνήρ 9 ὁ μακαρισμὸς οὖν οὗτος ἐπὶ τὴν περιτομὴν ἢ καὶ ἐπὶ τὴν ἀκροβυστίαν;

Tabelle 33: Semantische Assoziationen in Röm  4,6–9

Um die Strategie dieser Assoziation von Sünde, Sünden und Werken zu verste­ hen, ist zu klären, was im Kontext der Argumentation von Röm  4 unter ἔργα zu verstehen ist. Wenn Paulus sie in Röm  4,6 nicht wie noch in Röm  3,28 ἔργα νόμου nennt, könnte es sich um eine unbewusste Auslassung oder aber um an­ dere ἔργα als die von Röm  3,28 handeln, so dass ἔργα in Röm  4,6 umfassender als in Röm  3,28, d. h. nicht nur als Praktizierung des Gesetzes i. S. von jüdischen 179  Natürlich spielt Paulus damit Glauben und Werke gegeneinander aus, die im Juden­ tum seiner Zeit eng aufeinander bezogen und als „interdependent“ verstanden worden sind (Dunn, Romans, 206). Paulus möchte und kann an dieser Stelle aber kein neutrales Bild der jüdischen Gesetzestheologie zeichnen, da er die Gesetzesobservanz, die von den Heiden­ christen verlangt wird, argumentativ aufs Schärfste bekämpft. 180 Vgl. Wengst, Römerbrief, 209 f.

218

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

identitiy oder boundary markers o. ä. zu verstehen wäre, sondern i. S. aller Taten des Menschen.181 Eine solche „universale“ Lesart liegt zumindest von Röm  4,4 her nahe, wo Paulus ἐργάζομαι verwendet, ohne ein transitives Objekt zu nennen. Auch in Röm  2,7 sprach Paulus vom ἔργον ἀγαθόν, in Röm  2,9f bot er die Wort­ verbindung ἐργάζομαι τὸ ἀγαθόν bzw. κατἐργάζομαι τὸ κακόν. Das Verb ἐργάζομαι kann also offenbar nicht nur das Tun des Gesetzes, sondern auch das Handeln des Menschen insgesamt bezeichnen. Mit ἔργα in Röm  4,6 könnten daher grundsätzlich das Wirken bzw. die Werke des Menschen gemeint sein,182 so dass sich die Abraham-Beweisführung der grundsätzlichen Frage widmet, wie sich die Gottesbeziehung realisiert und wie nicht: Abraham erscheint ja schon allein deswegen als Paradigma eines Gottesverhältnisses ohne Gesetz, weil er in der Heilschronologie vor der Zeit des Gesetzes zu verorten ist, d. h. er käme als Tä­ ter von ἔργα νόμου gar nicht in Frage. Dadurch, dass Paulus in Röm  4,4f die grundsätzliche Frage der ἔργα in den Blick zu nehmen scheint und diese mit dem Sündenbegriff assoziiert, behandelt er das νόμος-Problem auf einer grundsätz­ licheren Ebene, denn die Anrechnung der Werke – ob sie später als Gesetzes­ werke oder ganz allgemein als das, was der Mensch hervorbringt, verstanden werden – unterscheidet sich von der in der πίστις Abrahams zu Tage tretenden Glaubensrelation. Die πίστις kann also heilsgeschichtliche Priorität für sich be­ anspruchen, während die Werke des Menschen diese Relation nicht unterlaufen oder überbieten können.183 Das Psalmenzitat Röm  4,6–8 ist also nicht durch den Abraham-Kontext „erzwungen“, sondern wird durch die conplexio von Röm  4,23–5,11 nahegelegt: Die Seligpreisung desjenigen Menschen, dessen Sünde/n Gott nicht anrechnet,184 gilt für Beschnittene und Unbeschnittene, 181 Vgl. Dunn, Romans, 204. Dunn sieht in Paulus’ Kritik am Tat-Lohn-Schema in die­ sem Zusammenhang keine unmittelbare Kritik am Gesetzesverständnis des Judentum im Speziellen, sondern vielmehr die Antwort auf einen Auslegungskonflikt (ebd.): „His point is simply that in the case of Gen 15:6 the whole language of ‚payment due‘ is inappropriate.“ 182 Vgl. insbesondere Schreiner, Romans, 219: „Scholars who detect a reference to boundary markers separating Jews from Gentiles in the term ἔργα have not appreciated the testimony of David sufficiently […]. Whatever critical scholars make of Ps. 32, Paul would have understood David to be speaking of his own life in this psalm. […] The sins of David obviously had nothing to do with boundary markers or the excluding of Gentiles from the promise. Paul is doubtless thinking of his moral failures, particulary his transgression relating to Bathseba and Uriah […].“ 183  Vgl. den Forschungsüberblick zur Interpretation der ἔργα in Röm  4 bei Das, Works, 804–811. Vgl. auch Cranford, Abraham, 82 f. Auch Grässer, Abraham, 18f, schlägt eine universale Lesart der „Werke“ vor: „ Mὴ ἐργαζóμενος ist […] Prädikat eines jeden, der nicht aufgrund eigener Werke Rechtfertigung beansprucht, sondern sich dieselbe im Gehorsam des Glaubens zuteilen läßt.“ Ähnlich wird Paulus im Übrigen auch in Röm  7,14–25 argumentie­ ren, wenn er den νόμος zu verteidigen versucht, indem er das Problem der Transferstörung zwischen guter Absicht und schlechten Werken auf die Sünde zurückführt und damit de­ monstriert, dass der Mensch zum Hervorbringen des Guten, auf das auch das Gesetz hin­ weist, nicht in der Lage ist. 184 Vgl. Jewett, Romans, 316.

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

219

womit Paulus die πάντες von Röm  2,12 und 3,23 erneut mit der negativ-integ­ rativen Bedeutung des Sündenbegriffs in Verbindung bringt. Die Funktion des Sündenbegriffs in der Abraham-Beweisführung besteht also vor allem darin, eine subtile Assoziation von Werken und Sünden zu wecken: Die ἔργα erschei­ nen durch das David-Zitat als Sünden, Gesetzesübertretzungen bzw. Sünde selbst. Dass im Psalmwort Ps 31 die Sünden mit αἱ ἀνομίαι verbunden werden und dass Paulus in Röm  7,14–25 κατεργάζομαι heranzieht, um die Diastase von Absicht und Hervorbringen zu beschreiben, unterstreicht den Befund: Gesetze­ sübertretungen sind durch das Gesetz als solche kenntlich gemachte Manifesta­ tionen des immer sündhaften, menschlichen Wirkens außerhalb des Glaubens. In Paulus’ Überlegungen bzgl. der ἔργα in Röm  4,1–8 spiegeln sich also ne­ ben den Vorbehalten gegenüber den Observanzforderungen auch grundsätzli­ che Vorbehalte gegen die Möglichkeiten des Menschen hinsichtlich der Gnade wider: Der Mensch – Jude wie Heide – kann die Gnade nicht durch seine Wer­ ke erlangen. Paulus liegt in Röm  4,1–8 entschieden daran, die Werke des Men­ schen mit dem Sündenbegriff zu konnotieren und dadurch anzudeuten, dass jedes Werk, das die gnadenhafte Anrechnung des Glaubens unterlaufen bzw. die Gnade als Lohn beanspruchen möchte, eine Manifestation der Sünde dar­ stellt.185 Die Forderung nach Observanz gegenüber Beschneidung und Gesetz stellt eine prägnante Form dieses Versuchs dar. Ihre Illegitimität lässt sich nun besonders deutlich an der Person Abrahams demonstrieren, dem ohne Gesetz und Beschneidung sein Glaube angerechnet wurde. Die Funktion des Sündenbegriffs in der conplexio (Röm  4,23–5,11). In der conplexio werden die Heidenchristen auf ihre frühere Existenz als Sünder angesprochen (Röm  5,8: ὅτι ἔτι ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν). Konstitutiv für die conplexio von Röm  5,6–11 ist eine Dynamik von menschlicher Unwürdigkeit und Gottes un­ verdienter Gerechtigkeit. Zu unterscheiden sind für Röm  5,6–11 drei zeitliche Ebenen: Die Zeit vor der Anrechnung der Gerechtigkeit (Partizipialkonstruk­ tion, in zwei Fällen mit ἔτι), das Ereignis der Intervention Gottes durch das Kreuzesgeschehen (Vergangenheitstempus) und der jetzige Status der Adressa­ ten bzw. dessen eschatologische Erfüllung (Gegenwart bzw. Zukunft): Vor der Intervention Gottes 5,6 Ἔτι […] ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν

Intervention Gottes im Gegenwart bzw. Zukunft Kreuzesgeschehen der Adressaten 5,6 Χριστὸς […] ἔτι κατὰ καιρὸν ὑπὲρ ἀσεβῶν ἀπέθανεν 5,7 unterbricht das Gefüge, zur Tendenz des Verses vgl. unten.

185  Schreiner, Romans, 215 macht auf die fundamentale Unterscheidung von Glauben und Tun aufmerksam: „Working involves doing, while the genius of belief is receiving. […] God’s righteousness is not native to human beings; it is an alien righteousness granted to us by God’s grace.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

5,8a συνίστησιν δὲ τὴν ἑαυτοῦ ἀγάπην εἰς ἡμᾶς ὁ θεός 5,8b ἔτι ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν

5,10a ἐχθροὶ ὄντες

5,8b Χριστὸς ὑπὲρ ἡμῶν ἀπέθανεν

5,9 πολλῷ οὖν μᾶλλον δικαιωθέντες νῦν ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ σωθησόμεθα δι’ αὐτοῦ ἀπὸ τῆς ὀργῆς. 5,10a κατηλλάγημεν τῷ θεῷ 5,10b πολλῷ μᾶλλον διὰ τοῦ θανάτου τοῦ υἱοῦ καταλλαγέντες σωθησόμεθα αὐτοῦ ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ. 5,11a οὐ μόνον δέ, 5,11b1 ἀλλὰ καὶ καυχώμενοι ἐν τῷ θεῷ διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ 5,11b2 δι’ οὗ νῦν τὴν καταλλαγὴν ἐλάβομεν

Tabelle 34: Darstellung der zeitlichen Ebenen in Röm  5,6–11

Mit ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν, ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν und ἐχθροὶ ὄντες erinnert Paulus die heidenchristlichen Adressaten an die Existenz vor dem Kreuzestod Jesu. Auch ὑπὲρ ἀσεβῶν (Röm  5,6) steht im Zusammenhang mit dieser früheren Existenz, wenngleich Paulus hier nicht partizipial konstruiert. Die frühere „Schwäche“ und „Feindschaft“ der Adressaten ergeben sich nicht unmittelbar aus der Abraham-Argumentation – das Adjektiv ἀσθενής kommt in Röm sonst nicht mehr vor, das entsprechende Substantiv ἀσθένεια verweist auf das Problem des Fleisches,186 während das Feindschaftsmotiv in Röm  5,10 vor allem als ­Gegenbegriff zu εἰρήνη (Röm  5,1) zu fungieren scheint und im Kontext des Zornesgeschehens, wie es Paulus in Röm  1,18–32 beschrieben hat, verstanden werden könnte.187 Mit ὑπὲρ ἀσεβῶν und ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν weist Paulus jedoch in die Argumentation von Röm  4,1–22 zurück, denn er wendet in Röm  5,6–11 den theologischen Grundsatz von Röm  4,4f – nämlich dass die Gerechtigkeit Gottes nicht als Lohn, sondern aus Gnade angerechnet wird – auf die Adressaten an, indem er den Kreuzestod Jesu deutlich von ihren Werken, d. h. ihren Untaten, unterscheidet und feststellt: Das Kreuzesgeschehen ereigne­ te sich, als die Adressaten noch Sünder waren, und bewirkt für die gläubig Gewordenen im Hier und Jetzt, dass sie vom Zorn Gottes ausgenommen sind.188 186 

Vgl. Röm  6,19 und 8,26. Wengst, Römerbrief, 221. Wengst versteht die Aussage von Röm  5,1, „wir haben Frieden mit Gott“ als „Gegenaussage zu 1,18“ und als „Merkmal der kommenden Weltzeit“. 188 Vgl. die prägnante Forschungsgeschichte zu den ὑπέρ -Formeln bei Breytenbach, Christus, 449–454. Breytenbach kann zeigen, dass Paulus die frühchristlichen ὑπέρ -Formeln darin originell weiterentwickelt, dass er sie universalisiert. So diene die ὑπέρ -Formel in Röm  5,6–8 (wie auch das Versöhnungsbild in 2 Kor 5.14–18) dazu, „[…] den Tod Christi als Ermöglichungsgrund der Rechtfertigung der Gottlosen anzuführen“ (aaO. 473). 187 Vgl.

4. Röm  4,1–5,11: Gottes Absehen von der Sünde als Argument für Gottes Gnade

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Die Anrechnung der Gerechtigkeit (Röm  4,23–25) für die Heidenchristen kor­ reliert also mit Gottes Absehen bzw. Nicht-Anrechnung der Sünde, Gottlosig­ keit und Feindseligkeit des Menschen (Röm  5,6.8.9) – der Glaube nimmt die Heidenchristen aus dem Zornesgeschehen heraus. Auch wenn die conplexio damit vornehmlich eine positive Bestimmung der Adressaten verfolgt und das Kontinuitätsmoment stark zu machen scheint – Ab­ raham ist Vater der Unbeschnittenen und Beschnittenen! –, deutet Paulus auch in diesem Zusammenhang eine Desavouierung von Gesetz und Beschneidung an, wie sie für ratio und rationis confirmatio (Röm  4,9–17) zentral gewesen ist: Das Heilsgeschehen ereignete sich, ohne dass die Sünder das Gesetz befolgten – Ver­ söhnung mit Gott ist also nicht von der Gesetzesobservanz abhängig. Dies kommt subtil in Röm  5,7 zur Geltung: In diesem Vers, der nicht ohne weiteres in der dreistufig angelegten Chronologie des Heilsgeschehens aufgehen will (s. o.), formuliert Paulus zwei eigentlich sperrige Gedanken, mit denen er an­ zeigt, dass das „Sterben für das Gerechte oder Gute“ eine Ausnahmeerschei­ nung darstellt. Dabei sind ἀγαθός und δίκαιος zentrale Begriffe des Gesetzesdis­ kurses: ἀγαθός und δίκαιος erscheinen beide als erwünschte, aber nicht realisier­ bare Ziele des Gesetzes bzw. des Menschen, der sich dem Gesetz unterstellt,189 und als „theologische Qualität“ des Gesetzes, was sich vor allem in Röm  7,12 artikulieren wird: καὶ ἡ ἐντολὴ ἁγία καὶ δικαία καὶ ἀγαθή. Das Gute und Gerech­ te, das das Gesetz im Blick hat, kommt durch Christi Tod zur Geltung.190 Hier muss offen bleiben, ob es sich bei Röm  4,25 um eine urchristliche Tradition han­ delt, die Paulus vorgefunden und in den hiesigen Kontext integriert hat, oder um eine selbständige Formulierung in Anlehnung an Jes 53.191 Jedenfalls bringt Paulus hier zum Ausdruck, dass Kreuzestod und Auferweckung Jesu eine Erlösung von den früheren Verfehlungen bewirkt haben. In Röm  3,21–26 hat Paulus die sühnende Wirkung des Todes Jesu ebenfalls in den Blick genommen, dort explizit im Kontext jüdischer Sühne­ theologie (ἱλαστήριον).192 Auffällig ist – unabhängig von der traditionsgeschichtlichen Frage –, dass Paulus beide Gedanken nicht argumentativ absichert, sondern lediglich präsupponiert. Vorausgesetzt, Röm  4,25 stellt eine Art Kernformel dar, könnte sie als 189 

Vgl. Röm  2 ,10; 2,13; 3,8; 3,10; 7,18 f. hat das Gute und Gerechte im Blick – das ist eine Pointe der Gesetzesargumen­ tation des Römerbriefes. Gesetz und Gebot sind nur deswegen gerecht und gut zu nennen, weil sie von Gott stammen und an seinem Wesen partizipieren. Deswegen sind die hiesigen Hinweise auf das Sterben um des Guten und Gerechten willen als Hinweise darauf zu ver­ stehen, dass sich Gottes Wille im Kreuzestod Jesu artikuliert. Vgl. Martin, Good, 68–70. 191 Vgl. Bultmann, Theologie, 49; Wengst, Formeln, 101–104; Lyu, Sünde, 108–110. Skeptisch zeigen sich u. a. Wolter, Römer, 311 und Wilckens, Römer I, 279 f. Sie heben hervor, dass Paulus den Satz selber, aber in Anlehnung an Jes 53,12cLXX konstruiert haben könnte. 192 Vgl. Kümmel, Rechtfertigungslehre, 166: „Während der Begriff der Sühne an den beiden anderen Stellen [gemeint sind Röm  5,8ff und Kol 1,19ff, PB] fehlt, setzen sie diesen Tatbestand aber deutlich voraus und beschreiben das erlösende Handeln Gottes als Sühne­ handeln, das der Liebe Gottes und seinem freien Rettungswillen Ausdruck gibt. Darin aber treffen beide Texte mit Rm 3,24–26 völlig zusammen.“ 190  Gott

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Ausgangspunkt eines inventorischen Prozesses verstanden werden, der zum Ziel hat zu beweisen, dass den heidenchristlichen Adressaten ihr Glauben ebenso wie Abraham ohne Werke angerechnet wird: – Paulus könnte von einer Kernformel in Röm  4,25 ausgehen, die Jes 53,12cLXX nahe­ steht: Christus wurde um der Verfehlungen der Christen willen hingegeben und zu ihrem Freispruch auferweckt. – Paulus identifiziert die Heidenchristen als frühere Sünder, deren Sündenexistenz von Christus überwunden wurde (Röm  4,25). – In Psalm 32 wird der Mensch glücklich gepriesen, dessen Sünde Gott nicht ansieht. Ein solcher Mensch ist selig. – Paulus interpretiert dieses Psalmwort als gnadenhaften Zuspruch der Gerechtigkeit ohne Werke. – Aus Gen 15 leitet er die Idee ab, dass Abrahams Glaube ohne Werke, d. h. aber ohne Beschneidung und Gesetz, als Gerechtigkeit angerechnet wurde.

4.3. Zwischenbilanz In der Abraham-Argumentation gelingt es Paulus, durch die kommentierende Zusammenstellung von Ps 32 und Gen 15, die sündenvergebende Macht des Kreuzes so zu interpretieren, dass die heidenchristlichen Adressaten von den Ansprüchen des Gesetzes und der Beschneidung befreit sind. Indem Paulus über das Zitat von Ps 32 die Glaubensgerechtigkeit Abrahams als Absehen Gottes von der Sünde charakterisiert und schließlich in der conplexio von Röm  4,23–5,11 auf die Überwindung von Sündhaftigkeit, Feindschaft und Gottlosigkeit der heidenchristlichen Adressaten zurückblickt und ihre Versöhnung bzw. ihren Zugang zur Gnade in der Vergangenheit lokalisiert, begründet er den theologi­ schen Zusammenhang zwischen der Anrechnung des Glaubens Abrahams und der des Glaubens der Adressaten, so dass das, was von Abraham ausgesagt wor­ den ist, auch für sie gilt: Die Anrechnung des Glaubens erfolgt ohne Gesetz und Beschneidung, weil sie ohne Werke geschieht.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“? – ein Argumentationskomplex zur Klärung der Bedeutung des Gesetzes für die heidenchristlichen Adressaten Röm  5,12–21 knüpft an die vorige conplexio an: Durch die Kombination des Abrahamschriftbeweises mit Ps 32 hat Paulus das Absehen Gottes von der Sün­ de des Menschen als Absehen von den Taten des Gesetzes interpretieren und so die Anrechnung der Gerechtigkeit exklusiv an das Kreuzesgeschehen (und die Auferweckung, vgl. Röm  4,25) binden können. Röm  5,12–21 lenkt die Frage nach der Exklusivität der Sündenvergebung durch den Tod Christi auf eine Gegenüberstellung von Adam und Christus. Konzeptionell ist diese Gegen­

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

223

überstellung mit dem vorigen Abschnitt über den θάνατος-Begriff (Röm  5,10; 5,12) und die christologische Zuspitzung in Röm  5,11 verbunden: Durch Chris­ ti Tod ist Versöhnung möglich geworden, so dass die Gläubigen von Gottes Zorn ausgenommen sind. Röm  5,12–21 stellt jedoch keinen Appendix des Abraham-Schriftbeweises dar, sondern bildet die argumentative Grundlage eines neuen, zusammengehö­ rigen Abschnitts, der bis einschließlich Röm  8,4, vielleicht sogar noch weiter reicht.193 Dies legt sich aus mehreren Beobachtungen nahe: –  Die Frage nach der Geltung des Gesetzes dominiert den Abschnitt von Röm  5,12–8,4. – Die Argumentation von Röm  6,1–8,4 nimmt immer wieder auf die wegwei­ sende heilschronologische Anordnung von Sünde, Tod, Gnade und Gesetz aus Röm  5,12–21 Bezug. – Paulus schaut in Röm  8,1–4 auf die Argumentation von Röm  5,12–7,25 zu­ rück, wenn er feststellt, dass es keine Verurteilung für diejenigen gebe, die in Christus Jesus seien, und dass das Gesetz durch Sünde und Fleisch geschwächt gewesen sei. Mit Röm  8,4 scheint der Gesetzes- und Sündendiskurs des Rö­ merbriefes weitestgehend abgeschlossen zu sein – selbst in den „Israel-Kapi­ teln“ taucht der Gesetzesbegriff nur noch spärlich auf.194 Darüber hinaus spricht für eine Zusammengehörigkeit von Röm  5,12–8,4, dass Paulus Röm  6,1–8,4 durch charakteristische Einleitungselemente strukturiert: – Röm  6,1–14 steht unter der Leitfrage: Τί οὖν ἐροῦμεν; ἐπιμένωμεν τῇ ἁμαρτίᾳ, ἵνα ἡ χάρις πλεονάσῃ; (Röm  6,1) – Röm  6,15–7,6 steht unter der Leitfrage Τί οὖν; ἁμαρτήσωμεν, ὅτι οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον ἀλλ’ ὑπὸ χάριν; (Röm  6,15) – Röm  7,7–25a steht unter der polemisch zugespitzten Frage: Τί οὖν ἐροῦμεν; ὁ νόμος ἁμαρτία; (Röm  7,7) Die drei Rückfragen sind zwar aufeinander bezogen und greifen Elemente der jeweils letzten Argumentation auf. Röm  5,12–21 liegt jedoch den drei weiter­ führenden Argumentationen zugrunde und könnte als „primäre Explikation“ bestimmt werden, in der der Zusammenhang von Sünde, Tod und Gnade heils­ geschichtlich in den Personen Adams und Christi und damit außerhalb des Gel­ tungsbereichs des Gesetzes noch vor der ‚Binnendifferenzierung‘ des Mensch­ heitskollektivs in Juden und Heiden verankert wird, bevor präzisierende Aus­ 193 Vgl. zur konzeptionellen Geschlossenheit der Adam-Christus-Gegenüberstellung Schnelle, Paulus, 360, Anm.   90. Im Gegensatz dazu meint Wolter, Römer, 362: „Röm  5,12–21 war ursprünglich nur als eine kurze Ergänzung zu 5,1–11 geplant. Sie ist Paulus dann jedoch aus dem Ruder gelaufen und zu einer ausführlichen und theologisch gewichtigen Abhandlung über das Verhältnis von Sünde und Gnade angewachsen.“ 194  Röm  9,31 und 10,4 f.

224

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

sagen getroffen, Missverständnisse aus dem Weg geräumt und wesentliche Aspekte dieser Überlegung auf die Adressaten übertragen werden. Auf der textimmanenten Gliederung durch die drei Eingangsfragen baut die folgende Argumentationsanalyse auf.195

5.1. Röm  5,12–21: Erstes Argument gegen das Gesetz – die Vorzeitigkeit von Sünde und Gnade In Röm  5,12–21 koordiniert Paulus die zentralen heilsgeschichtlichen Begriffe Sünde, Tod, Gesetz und Gnade miteinander. Diese Zuordnung ist für die fol­ genden Argumentationen richtungsweisend. 5.1.1. Argumentationsanalyse: Röm  5,18–21 als Skopus der in Röm  5,12 beginnenden Argumentation? Aus argumentationskritischer Perspektive bereitet es gewisse Schwierigkeiten, den Skopus von Röm  5,12–21 zu bestimmen. Sowohl Merkmale der Aufmerk­ samkeitslenkung als auch die strukturelle Kohärenz der Passage sind nicht sehr deutlich ausgeprägt. Dass Röm  5,18–21 den Skopus der Argumentation dar­ stellt, legt sich nur aus der Beobachtung nahe, dass hier die beiden recht unver­ bundenen Teile Röm  5,12–14 und 5,15–17 in eine thetische Form überführt werden. Eine kohärente Argumentation im Sinne der antiken Argumentations­ theorie stellt der Text allerdings nicht dar.196

195 

Vgl. sehr prägnant Umbach, Christus, 207: „5,20f drückt das [den Einbruch der Sün­ de und deren Überwindung durch die Gnade] mit zeitlichen, aus der Typologie gewonnenen Kategorien aus. Kap.  6 mit dem Denkschema Taufe und Ethik, Kap.  7 in Hinsicht auf νόμος und σάρξ , Kap.  8 mit dem Begriff πνεῦμα, so daß ‚Freiheit von der Sünde‘ bei Paulus nicht mehr primär ‚Abwesenheit von Fehlverhalten‘ meint (auch das gehört für ihn als Folge der neuen Existenz freilch dazu), sondern viel grundsätzlicher und tiefer einen Machtbereich bezeichnet, dem der Christ grundsätzlich nicht mehr angehört.“ Freilich wird zu zeigen sein, dass es die Heilsrelevanz des Gesetzes ist, die durch die Gegenüberstellung von Sünde und Gnade in Frage gestellt wird. 196  Theobald, Gnade, 71–73 nennt Röm   5,12–21 dezidiert einen „argumentative[n] Text“ und bietet eine detaillierte argumentationskritische Studie. Er gliedert den Text wie hier vorgeschlagen in die „Segmente“ Röm  5,12–14; 15–17; 18–21, legt bei der Analyse der Argumentation aber einen Schwerpunkt auf die Qal-Wachomer-Schlüsse und die Korrela­ tivsätze im Mittelsegment. In Anschluss an Berger, Exegese, 54 stellen sie die „Integration mehrerer untergeordneter Formen“ zur „Absicherung des Grundgedankens“ dar, den Theobald völlig zu Recht in Röm  5,21 bestimmt (vgl. Theobald, Gnade, 73). Hofius, Adam-Christus-Antithese, 63–68 gliedert folgendermaßen: Röm  5,12 als „Einsatz“ der Gegen­überstellung (aaO. 65), Röm  5,13.14a als „erläuternde Anmerkung zu der Aussage von V. 12b“ (ebd.), Röm  5,14b als „beherrschenden Grundsatz […], von dem her die in 5,12–21 vorgetragene Gegenüberstellung überhaupt nur möglich ist: ὅς ἐστιν τύπος τοῦ μέλλοντος“, Röm  5,15–17 als Betonung der „Unvergleichbarkeit zwischen Adam und Christus“ (ebd.), Röm  5,18f als „antithetische Entsprechung“ (aaO. 66) und Röm  5,20f als „Abschluß“ (ebd.).

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

225

Unter dem Gesichtspunkt der Aufmerksamkeitslenkung präsentiert sich Röm  5,12–21 als ein Text, der auffällig wenig adressatenorientiert ist. Noch in Röm  4,23–5,11 lag eine deutlich adressatenbezogene conplexio vor: Paulus appli­ zierte die Abraham-Exegese auf die römischen Heidenchristen. Von dieser conplexio ist Röm  5,12–21 markant abgegrenzt:197 Paulus unterscheidet – auch sprachlich – zwischen dem Jetzt der Adressaten und der Vergangenheit der πάντες ἄνθρωποι.198 Für die Adam-Christus-Gegenüberstellung 199 ist die hohe Dichte von Indefinitpronomina und die Verwendung des Menschen-Begriffs charakte­ ristisch: δι’ ἑνὸς ἀνθρώπου […] εἰς πάντας ἀνθρώπους […] ἐφ’ ᾧ πάντες ἥμαρτον (Röm  5,12), οἱ πολλοὶ ἀπέθανον […] εἰς τοὺς πολλοὺς (Röm  5,15), ἐκ πολλῶν παραπτωμάτων (Röm  5,16), εἰς πάντας ἀνθρώπους […] εἰς πάντας ἀνθρώπους (Röm  5,18), τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου (Röm  5,19), ἁμαρτωλοί (Röm  5,19). Auch tem­ poral ist die Adam-Christus-Gegenüberstellung von der vorigen conplexio abge­ grenzt und vorwiegend in der Vergangenheit gehalten: εἰσῆλθεν (Röm  5,12), ἥμαρτον (Röm  5,12), ἐλλογεῖται (Röm  5,13), ἐβασίλευσεν (Röm  5,14), ἀπέθανον (Röm  5,15), ἐπερίσσευσεν (Röm  5,15), ἐβασίλευσεν (Röm  5,17), κατεστάθησαν (Röm  5,19), παρεισῆλθεν (Röm  5,20), πλεονάσῃ (Röm  5,20), ἐπλεόνασεν (Röm  5,20), ὑπερεπερίσσευσεν (Röm  5,20), ἐβασίλευσεν (Röm  5,21), βασιλεύσῃ (Röm  5,21). Lediglich Kommentierungen bzw. heilsgeschichtliche Ausblicke stehen im Präsens bzw. Futur: ἐστιν (Röm  5,14), βασιλεύσουσιν (Röm  5,17). Die Argumentation wird also nirgendwo explizit auf die Adressaten ange­ wendet. Allenfalls Röm  5,18–21 hebt sich vom übrigen Text als conplexio im weiteren Sinne ab, da Paulus Röm  5,18 mit ἄρα οὖν einleitet, den Antagonismus des Einen und Anderen (Röm  5,12–17) noch einmal zuspitzt und die Gegen­ überstellung um eine soteriologische Dimension erweitert, indem er die Rele­ vanz des Geschehens für die Menschheit festhält (Röm   5,18: εἰς πάντας ἀνθρώπους). Dass Paulus in Röm  5,18f seine Argumentation zu Sünde, Tod und Gnade verdichtet, zeigt sich auch daran, dass er sie nunmehr in einen Zusam­ Verbindung zwischen Röm  5,1–11 und 5,12–21 über διὰ τοῦτο wird kontrovers diskutiert (vgl. Luz, Auf bau, 179; Hofius, Adam-Christus-Antithese, 73f; Brandenburger, Adam, 257–259). Es handelt sich wohl um eine Wendung, die zum folgenden überleiten möchte (vgl. Wolter, Römer, 341 und Käsemann, Römer, 137). 198 Vgl. zur Abgrenzung zwischen Röm   5,11 und 5,12 schon Michel, Römer, 46: Röm  5,1–11 bilde einen Übergang zwischen den beiden Hauptteilen Röm  1–4 und Röm  5 –8. Auch hinsichtlich des Begriffsinventars erkennt Michel, Römer, 93 in Röm  5,12 eine deut­ liche Zäsur: „Ein eigenartiges Problem liegt darin, daß die Wortgruppe πίστις-πιστεύειν in Röm  5 –8 zurücktritt. Die Adam-Christusparallele, die Tauflehre und die Entgegensetzung Fleisch-Geist arbeiten zunächst mit anderem Begriffsmaterial und anderen Denkformen als die Rechtfertigung und das ihr zugeordnete Glaubensverständnis.“ 199  Zur Problematik des Begriffs „Typologie“ vgl. insgesamt Haacker, Römer, 145. Ge­ gen den Begriff Adam-Christus-„Typologie“ spricht, dass Röm  5,14 die folgende Argumen­ tation kaum als Überschrift einleitet; dass eine tatsächliche Gegenüberstellung von Adam und Christus erst ab Röm  5,18 einsetzt und dass in Röm  5,15–17 eher die Gegenüberstellung von einzelnen Attributen der heilsgeschichtlichen Antagonisten im Mittelpunkt steht. Hier soll im Folgenden von „Adam-Christus-Gegenüberstellung“ die Rede sein. 197  Die

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

menhang mit dem Gesetz bringt (Röm  5,20: νόμος δὲ παρεισῆλθεν): Die Not­ wendigkeit, Adam und Christus gegenüberzustellen, scheint sich für Paulus vor allem vor dem Hintergrund der Gesetzesproblematik nahezulegen (Röm  5,13a: ἄχρι γὰρ νόμου ἁμαρτία ἦν ἐν κόσμῳ). Eine echte Applikation der Argumentation auf die Adressaten fehlt aber in der Tat. Wie die Aufmerksamkeitslenkung ist auch die Argumentationsstruktur von Röm  5,12–21 undurchsichtig. Die Merkmale der Segmentierung, kausalen In­ terdependenz und Kohärenz sind nur schwach ausgeprägt. Zur Segmentierung. Aus attentionaler Perspektive wurde Röm  5,18–21 als Zu­ sammenfassung bestimmt, doch innerhalb der Passage von Röm  5,12–17 scheint keine wirkliche These oder ein Progress von Begründungen greif bar zu sein, die auf diese Zusammenfassung hin konstruiert wären. Gewiss gliedert sich Röm  5,12–21 thematisch in drei Teile, diese sind aber argumentativ nur locker aufeinander bezogen und stehen gewissermaßen nebeneinander: Paulus erzählt erstens von der Vorordnung der Sünde vor dem Gesetz (Röm  5,12–14), zweitens konstruiert er über ἀλλ’ οὐχ […] οὕτως καί die Überwindung der Sünde durch die Gnade (Röm  5,15–17). Daraus scheint er drittens die Konsequenz zu ziehen (Röm  5,18: ἄρα οὖν),200 dass die Überwindung der Sünde durch die Gnade ohne das Gesetz geschieht und dass das Gesetz „hinzugekommen“ sei, den Fall vergrößere, so dass die Gnade noch reicher fließe. Der argumentative Zusam­ menhang zwischen den ersten beiden Teilen der Passage ergibt sich also erst vor dem Hintergrund von Röm  5,18–21, wie auch Walter Schmithals pointiert zu­ sammenfasst: „Nachdem Paulus dies klargestellt hat [die Universalität von Sün­ de und Gnade in der Gegenüberstellung von Röm  5,15–17, PB], kann er endlich in V.18–19 sein Thema durchführen.“201 Zur Interdependenz der Segmente. Röm  5,12–14 bildet einen „narrativen“ Aus­ gangspunkt. Paulus erzählt von der Herkunft der Sünde und des Todes, kom­ mentiert diese Erzählung aber auch gleichzeitig hinsichtlich der Bedeutung des Gesetzes: „(Röm  5,12) Deswegen: Wie durch einen Menschen die Sünde und durch die Sünde der Tod in die Welt kam,202 so kam der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.203 (13) Denn vor dem Gesetz gab es Sünde in der Welt, aber diese wurde ohne Gesetz nicht 200 Vgl. Schreiner, Romans, 286: „The words ἄρα οὖν (ara oun, therefore then) signal as well that a conclusion is being drawn from verses 15–17 […].“ 201  Schmithals, Römerbrief, 178. 202  Haacker, Römer, 119 übersetzt den oft anakoluthisch verstandenen Vers 5,12 als ge­ schlossenen Satz, indem er das erste καί im Sinne von οὕτως καί übersetzt. Das οὕτως sei entbehrlich. Dass es sich um einen bewusst abgebrochenen Satz handele, weil ein „Sachpro­ blem“ vorliege, wie u. a. Wengst, Römerbrief, 227 vorschlägt, lässt sich nicht belegen. Dass mit Röm  5,13 ein hektischer Neuanfang einsetze, ist nicht erkennbar, denn Röm  5,13 und 5,12 sind klar aufeinander bezogen. 203  Auch wenn es zur Übersetzung des ἐφ᾽ ᾧ verschiedene Vorschläge gibt (vgl. besonders Fitzmyer, Meaning, 322–332, der 15 verschiedene Möglichkeiten aufzählt und selber kon­

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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angerechnet, (14) aber der Tod herrschte von Adam bis Mose auch über diejenigen, die nicht gesündigt hatten, in Entsprechung (ἐπὶ τῷ ὁμοιώματι) zur Übertretung Adams204, der ein Vorbild für die Folgezeit war (τύπος τοῦ μέλλοντος )205.“

Im Zentrum dieses Abschnitts steht der Gedanke, dass sich der Zusammenhang von Sünde und Tod schon vor dem Gesetz ausgewirkt habe (Röm  5,13): Wäh­ rend Röm  5,14 direkt auf Röm  5,13b bezogen ist (ἀλλ’), verweist Röm  5,12 in­ direkt auf die Gesetzesthematik, indem Paulus in Röm  5,13a den Tod Adams und der Menschen damit begründet,206 dass die Sünde schon vor dem Gesetz in der Welt gewesen, in dieser Zeit jedoch nicht als solche angerechnet worden sei. Paulus erzählt vom Fall Adams also explizit aus der Retrospektive des bereits erlassenen Gesetzes und schaut auf eine Epoche zurück (ἀπὸ Ἀδὰμ μέχρι Μωϋσέως), in der sich der eigenartige Mechanismus beobachten lässt, dass – ob­ wohl erst das Gesetz die Sünde erkennbar werden lässt (Röm  5,13b) – der Tod als Folge der Sünde (Röm  5,12) für diejenigen eintritt, die – im Sinne einer Übertretung des Gesetzes und im Sinne einer Anrechnung 207 der Sünde durch das Gesetz – ei­gent­l ich gar nicht gesündigt haben können (Röm  5,14a: ἐπὶ τοὺς μὴ ἁμαρτήσα­ ντας).208 Paulus stellt also ausgehend vom Tod der Generationen zwischen Adam sekutiv auflöst), ist auch weiterhin die kausale die wahrscheinlichste (vgl. auch Müller, Qal-Wachomer, 85 und Brandenburger, Adam, 169–180). 204  Der Zusammenhang von ἐπὶ τῷ ὁμοιώματι τῆς παραβάσεως Ἀδὰμ und καὶ ἐπὶ τοὺς μὴ ἁμαρτήσαντας ist problematisch: Dass der Tod über die herrscht, die nicht gesündigt haben, ist nur so zu verstehen, dass ihre Sünde nicht als angerechnete Sünde (ἁμαρτία δὲ οὐκ ἐλλογεῖται μὴ ὄντος νόμου) in Erscheinung tritt, wohl aber ἐπὶ τῷ ὁμοιώματι τῆς παραβάσεως Ἀδάμ sanktioniert wird. 205  Die Übersetzung von τύπος τοῦ μέλλοντος ist umstritten und hängt vor allem davon ab, ob man mit ihr eher Röm  5,12–14 oder Röm  5,18f abbilden möchte. Soll die heilsge­ schichtliche Gegenüberstellung von Röm  5,18f in der Übersetzung von τοῦ μέλλοντος an­ klingen, erscheint Adam tatsächlich als das Gegenbeispiel zu Christus: Der eine bewirkt den Fall, der andere hebt ihn auf. Obige Übersetzung berücksichtigt jedoch stärker den engeren Kontext (von Röm  5,12–14), in dem Paulus Adam als den ersten, der gesündigt und den Tod auf sich gezogen hat, exponiert, vgl. Haacker, Römer, 120 und auch schon Müller, Qal-Wachomer, 85: „Adam ist gleichsam das erste Beispiel für diese Situation, er ist sozusa­ gen Vorbild, Typos für die ganze Menschheit.“ 206 Vgl. Theobald, Römer, 163. Der Zusammenhang zwischen der Sünde Adams und der Sünde aller ist auch in 4Esr 7, ApkMos 32, 2Bar 54,15, aber auch in der alttestamentlichen Weisheit, Weish 1,16 (vgl. aaO. 164–166) belegt. Weder, Sprung, 360–363 untersucht vor allem die Nähe zu 4Esr. Die Universalität der Sünde muss ihm zufolge als ein „Sprung“ im Nachdenken des Paulus über den Zusammenhang von Gesetz und Sünde verstanden werden: „Der hier festzustellende qualitative Sprung im Denken des Paulus besteht also darin, dass er die quantitative Aussage des Sünderseins einiger (vielleicht vieler) übersteigt durch die qua­ litative Aussage, dass schlechthin alle Menschen Sünder sind. Daraus ergibt sich die These, dass Paulus die Sünde gar nicht mehr durch das Gesetz definiert sein lässt. Daraus folgt wie­ derum, dass Sünde nicht mehr ausschliesslich ein Tatphänomen ist, auch wenn Paulus den Tataspekt ganz und gar nicht ausschliesst“ (aaO. 362). 207  Vgl. zum Motivfeld der Anrechnung Brandenburger, Adam, 197–202. 208 Vgl. Schreiner, Romans, 279, Wolter, Römer, 345, Dunn, Romans, 275: „[…] it must be tied up with Paul’s evident concern here to emphasize the role and power of sin and death as ultimately independent of the law […].“ Brandenburger, Adam, 181 spricht davon,

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

und Mose fest, dass die Sünde gewirkt haben muss, unabhängig davon, ob sie erkennbar gewesen ist. Die primäre Aussageabsicht des Abschnitts Röm  5,12–14 lautet demnach: Die Sünde hat den Tod schon vor der Gabe des Gesetzes bewirkt.209 Mit Röm  5,15f bricht Paulus die historisierende Darstellung von Röm  5,12– 14 auf und leitet eine Gegenüberstellung von παράπτωμα und χάρισμα ein. Der Abschnitt reicht bis Röm  5,17, denn Röm  5,18f hält bereits Rückschau auf das in Röm  5,15f Gesagte. Die Konjunktion ἀλλ’ (Röm  5,15) ist nicht zu Röm  5,14 zu ziehen, sondern durch οὐχ ὡς und οὕτως καί bedingt, eröffnet also die Gegen­ überstellung: Röm  5,15 […] τὸ παράπτωμα […] […] τὸ παράπτωμα […] […] τοῦ ἑνὸς […]

[…] χάρισμα […] […] χάρις […] […] τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου Ἰησοῦ Χριστοῦ […]

Röm  5,16 […] δι’ ἑνὸς ἁμαρτήσαντος […] […] κρίμα ἐξ ἑνὸς εἰς κατάκριμα […] […] ὁ θάνατος ἐβασίλευσεν […]

[…] τὸ δώρημα […] […] χάρισμα ἐκ πολλῶν παραπτωμάτων εἰς δικαίωμα […] […] οἱ τὴν περισσείαν τῆς χάριτος καὶ τῆς δωρεᾶς τῆς δικαιοσύνης λαμβάνοντες ἐν ζωῇ βασιλεύσουσιν […]

Tabelle 35: Die Gegenüberstellung heilsgeschichtlich relevanter Begriffe und Aus­ drücke in Röm  5,15f

Indem er das Christusgeschehen dem Fall Adams gegenüberstellt, nimmt Paulus eine Perspektive ein, die die Heidenchristen bzw. die Völkerwelt teilen: Sie sündigen ja ohne Kenntnis des Gesetzes und werden dennoch mit dem Tod bestraft (vgl. Röm  2,12; 5,12–14). Das Christusgeschehen setzt nun aber bei der Sünde des einen an, die die aller anderen vorwegnimmt. Es handelt sich dem­ nach um ein universales Geschehen, was in Röm  5,12–14 schon angedeutet worden ist, wenn Paulus davon erzählt hat, dass das Gesetz auf einen bereits etablierten Wirkzusammenhang von Sünde und Tod getroffen ist. Die Gegen­ überstellung von Ungehorsam und Gehorsam verfolgt damit die primäre Aus­ sageabsicht, das Heilsgeschehen direkt auf den Zusammenhang von Sünde und Tod zu beziehen. Nicht das Gesetz, sondern Christus ermöglicht – unmittelbar – den Freispruch von der Sünde.

dass der „Faktor Gesetz […] neu in den Zusammenhang eingeführt wird und darin eine beherrschende Rolle spielt.“ 209  Vgl. aaO. 193 f.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

229

In Röm  5,18–21 werden beide Abschnitte – Röm  5,12–14 und Röm  5,15–17 – miteinander verknüpft und gewinnen erst an argumentativer Schärfe.210 In Röm  5,18 bedenkt Paulus die existentiellen Konsequenzen der Gegenüberstel­ lung εἰς πάντας ἀνθρώπους: Er beschreibt das Wie der Verurteilung und des Freispruchs und konstruiert die eigentliche Gegenüberstellung instrumental über διά (διὰ τῆς παρακοῆς und διὰ τῆς ὑπακοῆς). Damit fasst Paulus die Gegen­ überstellung von Röm  5,15–17 adäquat zusammen (ἄρα οὖν): Die Gnade – wie auch der Tod – gehe von einem Menschen aus und habe ihren historischen Haftpunkt in der ὑπακοή Christi. Das Ziel der Adam-Christus-Gegenüberstel­ lung besteht jedoch keineswegs nur darin, zu zeigen, dass der Gehorsam den Ungehorsam auf hebt. Die eigentliche These und Stoßrichtung der Adam-Chris­ tus-Gegenüberstellung wird vielmehr erst in Röm  5,20f greif bar und knüpft an eben jene gesetzeskritische Tendenz an, die sich in Röm  5,12–14 angedeutet hat.211 Nachdem er aus der heidenchristlich-universalistischen Perspektive her­ aus die Auf hebung der Sünde durch die Gnade festgestellt hat, nimmt er in Röm  5,20f die Perspektive der Menschen ein, für die das Kommen des Gesetzes Realität geworden ist. In der Logik der Chronologie von Röm  5,12–14 muss παρεισῆλθεν als Hinweis auf die mosaische Gesetzesgabe verstanden werden: Das Gesetz macht die Sünde anrechenbar und berührt den in Röm  5,18f aufge­ stellten Zusammenhang von Sünde und Gnade nur insofern, als die Maximie­ rung der Sünde eine Maximierung der Gnade nach sich zieht, da das Leben unter dem Gesetz die Bedürftigkeit für die gnadenhafte Zuwendung Gottes noch intensiviert.212 Das Gesetz übernimmt also keine positive Funktion im Heilsgeschehen, da es auf den Zusammenhang von Sünde und Tod bezogen bleibt und das κατάκριμα (Röm  5,18) nicht abwendet. Der νόμος erscheint als desavouierte Größe, seine Legitimität wird zwar nicht wie im Gal grundsätzlich in Frage gestellt,213 seine soteriologische Funktion wird aber de facto in Zweifel gezogen. Röm  5,20f bildet also für Röm  5,12–21 den eigentlichen Skopus: Die Gegenüberstellung von Christus und Adam dient der Lösung des Gesetzes­ 210 Vgl. Käsemann, Römer, 147: „18 zieht […] die Summe.“ Noch präziser erklärt J­ ewett, Romans, 385: „This inferential opening [ἄρα οὖν, PB] does not have the function of summarizing the material from vv. 12d–17 but rather in that light draws the consequences in the following comparison between the ‚one‘ Adam and the ‚one‘ Christ.“ 211 Die gesetzeskritische Tendenz ist also keineswegs nachgeschoben, wie Wengst, Römer­brief, 232 oder Schreiner, Romans, 294 andeuten: „By characterizing all of history in terms of Adam and Christ, Paul has omitted the law.“ Die Frage nach dem Gesetz steckt von Anfang an den Rahmen der Gegenüberstellung von Adam und Christus ab: Die ganze Heilsgeschichte wird aus der Perspektive des Gesetzes aus betrachtet (Röm  5,12–14), vgl. dazu auch Schmithals, Römerbrief, 178. 212  Das Prädikat παρεισῆλθεν ist an εισῆλθεν angelehnt und meint, wie Theobald, Gna­ de, 115 zu Recht feststellt, kein „Dazwischendrängen“, sondern: Das Gesetz „gesellte sich zu den Unheilsmächten Sünde und Tod, die schon vor seinem Kommen auf der Bühne der Welt agierten.“ 213  Vgl. Gal 3,17–22.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

problems. Das Gesetz stellt ein superadditum zum Zusammenhang von Sünde und Tod dar – über den Sinn seiner Gabe und seine Herkunft trifft Paulus keine Aussagen – und spielt der Sünde in die Hand, indem es den Fehltritt „voll macht“ bzw. „erfüllt“ (πλεονάσῃ τὸ παράπτωμα). Damit wird die Klammer ge­ schlossen, die mit Röm  5,13 eröffnet wurde: Das Gesetz ist eine Instanz, die nicht nur nichts am Zusammenhang von Sünde und Tod ändern kann und die Sünde erfassbar (ἐλλογεῖται in Röm  5,13) und damit sanktionierbar macht (in Röm  4,3 sieht Gott von der Anrechnung der Sünden ab!), sondern hinsichtlich der Sünde einen verstärkenden Effekt hat.214 Auf diesem Stand bleibt die Expli­ kation von Röm  5,12–21 stehen – eine Antwort darauf, was unter der „Vertie­ fung“ des Falls genau zu verstehen ist, gibt erst Röm  7,7–25a. Zur Kohärenz der Argumentation. Wie gezeigt werden konnte, zerfällt die Adam-Christus-Gegenüberstellung in drei Teile: Einen narrativen Teil (Röm  5,12–14), einen kontrastiven Teil (Röm  5,12–17) und einen thetischen Teil (Röm  5,18–21), wobei Röm  5,18–21 die Aussageabsicht von Röm  5,12–17 profiliert und argumentativ zuspitzt. Die Adam-Christus-Gegenüberstellung stellt jedoch keine lineare Argumentation dar, als ergäbe sich zwischen der Re­ trospektive auf den Fall Adams (Röm  5,12–14) und der Darstellung des Zusam­ menhangs von Ungehorsam und Gehorsam (Röm  5,15f ) eine strenge kausale Interdependenz i. S. einer Abfolge von expositio und ratio. Vielmehr stehen bis Röm  5,18 beide Aspekte unverbunden nebeneinander: die Wirksamkeit des Zusammenhangs von Sünde und Tod schon vor dem Gesetz und die Revision des Urteils über die Sünder. Mit der Adam-Christus-Gegenüberstellung gibt Paulus sich selber die Aufgabe zur argumentativen Vertiefung. Wie ist dieser Befund zu erklären? Die Konsequenzen der Adam-Christus-­ Gegenüberstellung für die heidenchristlichen Adressaten werden erst in den folgenden Abschnitten gezogen. Die drei Rückfragen (Röm  6,1; 6,15; 7,7) sind zwar auch miteinander verbunden, müssen aber vor allem als Rückfragen an die Adam-Christus-Gegenüberstellung verstanden werden:215 Röm  6,1–14 dreht sich um die Frage danach, wie die Christen Anteil an der in Röm  5,15–19 dar­ gestellten Gnade bekommen und warum sie der Sünde entzogen sind. Röm  6,15–7,6 fragt nach dem Status des Gesetzes vor dem Hintergrund des Mitsterbens mit Christus durch die Taufe, d. h. es geht um die Unmittelbarkeit der Gnade, die auf das Gesetz nicht mehr angewiesen ist – auch dies bringt die Adam-Christus-Gegenüberstellung bereits zum Ausdruck (Röm  5,12–14). In 214 Vgl.

Wolter, Römer, 362 f. Haacker, Römer, 135, der Röm  5,12–7,25 als einen Argumentationskomplex versteht, während Röm  8 wiederum an Röm  5,1–11 anschließe. Für die „Erörterungen“ von Röm  6f liefere Röm  5,12–21 die „Stichworte“. Vgl. auch Schnelle, Paulus, 362: „Die uni­ versal-mythische Darstellung bedarf der individuellen Konkretion. Für das Verhältnis von Röm  5,12–21 und Röm  6 heißt dies: Röm  5,12–21 ist die sachliche und argumentative Vor­ aussetzung für Röm  6; Röm  6 wiederum die notwendige Explikation von Röm  5,12–21.“ 215 Vgl.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Röm  7,7–8,4 nimmt Paulus die Perspektive von Röm  5,20f ein und erklärt be­ friedigend, inwiefern das Gesetz die Sünde mitverursacht.216 Philip F. Esler liegt also mit seiner Bestimmung der Adam-Christus-Gegenüberstellung als „overture“217 zu Röm  6,1–8,4 durchaus richtig, unter argumentationstheoreti­ schen Gesichtspunkten würde sich auch die Bezeichnung „primäre Explika­ tion“ anbieten, da sie den folgenden argumentationes als Ausgangspunkt und theologische Grundkonstellation dient. Die adressatenorientierte conplexio, d. h. die Applikation der Adam-Christus-Gegenüberstellung wird in den folgenden argumentationes gewissermaßen nachgeholt. 5.1.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Ziel der Adam-Christus-Gegenüberstellung ist die Depotenzierung des Geset­ zes als Heilsweg: Da Christus unmittelbar auf den Fall Adams bezogen ist, kommt dem Gesetz eine heilsgeschichtliche Nachrangigkeit zu, so dass es keine soteriologische Funktion für sich beanspruchen kann.218 Vertreter der Wort­ familie vom Stamm ἁμαρτ- verteilen sich über den gesamten Abschnitt, kon­ zentrieren sich aber in Röm  5,12–14 und 5,18–21. In Röm  5,15–17 findet sich lediglich einmal der Begriff ἁμαρτία. Die Funktion des Sündenbegriffs in Röm  5,12–14.219 In der Darstellung von Röm  5,12–14 zeigt Paulus, dass nicht die Sünde allein, sondern der Zusammen­ hang von Sünde und Tod zeitliche Priorität vor dem Gesetz hat.220 Der νόμος identifiziert die Sünde lediglich als solche (Röm  5,13b) und macht den Sün­ de-Tod-Zusammenhang daher nur transparent,221 ohne ihn jedoch auflösen zu können: Der Mensch weiß durch das Gesetz um seine Verfehlung und seinen durch die ἁμαρτία verschuldeten Gerichtstod.222 Dass die Sünde auch außerhalb 216 Vgl.

Lübking, Israel, 42 f. Esler, Conflict, 202. 218  Der Skopus der Passage liegt also nicht, wie Brandenburger, Adam, 260 annimmt, darin, dass „in 5,12–21 die Verlorenheit des Menschen als unentrinnbares Versklavtsein un­ ter verderbenbringende Mächte – Sünde, Gesetz und Tod insgesamt – erfaßt ist; daß analog die Wirkung der Christustat als Herrschaftsergreifung der Macht der Gnade, und das bedeu­ tet: als Entmächtigung dieser Verderbensmächte, verstanden ist.“ 219  Auf die üblichen argumentationskritischen Funktionsbegriffe wie expositio, ratio etc. muss hier verzichtet werden, denn die Argumentationsanalyse hat gezeigt, dass die Struktur der Adam-Christus-Gegenüberstellung nicht mithilfe des rhetorischen Strukturschemas zu erfassen ist. 220 Vgl. Wilckens, Römer I, 319: „Dabei kommt es Paulus allerdings auf die zeitliche Priorität von Sünde und Tod vor dem Gesetz an.“ 221 Vgl. Haacker, Römer, 119. Anders Wilckens, Römer I, 329: „Das ‚Mehr‘ besteht darin, daß erst so die Sünde ihre volle, nämlich endzeitliche Vernichtungskraft erhält.“ Das steht in diesem Kontext jedoch nicht im Mittelpunkt. Im Gegenteil: Röm  2 ,12 hat den Aus­ gang der ὀργὴ θεοῦ auch für die Heiden eindeutig definiert: als Untergang. 222  Vgl. sehr prägnant Hofius, Adam-Christus-Antithese, 79, der den Tod als „Verdam­ mungsurteil“ bestimmt. Dieser Zusammenhang wird bereits durch Röm  1,32 nahegelegt. 217 

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

der Geltung des Gesetzes mit dem Tod bestraft wird, hat Paulus schon in Röm  2,12 festgestellt.223 Dort wurde dieser Sachverhalt jedoch auf der Folie eines im weiteren Sinne „ethnischen“ Gegensatzes erläutert: Die, die ἀνόμως sündigten, und die, die ἐν νόμῳ sündigten, ereilt dasselbe Schicksal in unter­ schiedlicher Form – sie werden untergehen (ἀπολοῦνται) oder verurteilt werden (κριθήσονται). Eine Erkenntnisfunktion kommt dem Gesetz auch in Röm  3,20 zu: Der νόμος ermöglicht hier die ἐπίγνωσις ἁμαρτίας, hat jedoch keine soterio­ logische Bedeutung, was an der ungebrochenen Herrschaft der Sünde (Röm  3,9– 18) erkennbar ist. In Röm  5,12–14 wird die Erkenntnisfunktion des Gesetzes hinsichtlich der Sünde nunmehr auf einem „heilsgeschichtlichen Zeitstrahl“ angeordnet – im Zentrum des Abschnitts steht ganz das Argument der chronologischen Vorordnung der Sünde vor dem Gesetz.224 Dazu führt Paulus in Röm  5,12–14 den θάνατος als einen heilsgeschichtlich relevanten Begriff ein. Richtungsweisend dafür ist der Abschnitt Röm  5,1–11, der unter dem Proprium der durch Jesus Christus eröffneten Liebe Gottes stand. Die Versöhnung der Menschen mit Gott wird auf den Tod Jesu Christi zurück­ geführt: Dreimal nennt Paulus ἀποθνήσκειν in Röm   5,6; 5,7 und 5,8, in Röm  5,10 spricht er dann explizit vom θανάτος τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ. In Abschnitt Röm  5,12–21 erscheint der Begriff θάνατος nunmehr in personifizierter, abso­ luter Form, also als explizites „Realsymbol des Unheils“225 neben den anderen Zentralbegriffen ἡ χάρις, ἡ ἁμαρτία und ὁ νόμος. Der Begriff θάνατος spielt wie­ derum eine wichtige Rolle in Röm  6,1–14, wo es um die Applikation des Heils­ werkes Christi auf die Glaubenden durch die Taufe geht. Die Adam-Christus-­ Gegenüberstellung verbindet also semantisch die Abschnitte Röm  5,1–11 und 6,1–11 miteinander, insofern Paulus in Röm  5,1–11 festhält, dass der Tod Jesu Christi den Zusammenhang von Sünde und Tod auf hebt, und die Partizipation der Gläubigen am Heilsgeschehen in Röm  6,1–14 auf die Taufe auf diesen Tod zurückführt. Charakteristisch für den Abschnitt Röm  5,12–14 ist die historisierende Zu­ spitzung des Phänomens Sünde auf den einen Menschen (Adam), durch den Sünde und Tod in die Welt kamen und der den verheerenden Zusammenhang von Sünde und Tod für alle Menschen inauguriert hat. Dass Paulus an dieser Vgl. Theobald, Römer, 161: „Ein solches biologistisches Verständnis des Todes, das den Menschen als Teil der Natur im versöhnten Einverständnis mit ihr sieht, liegt Paulus fern.“ 223  So auch Wengst, Römerbrief, 230. 224  Umbach, Christus, 205 sieht zwar die Verbindungen zwischen der Adam-Chris­ tus-Gegenüberstellung und der früheren Argumentationen, neigt aber dazu, die vorigen Aussagen zur Sünde angesichts von Röm  5,12–21 zu marginalisieren. Dass in Röm  5,12 der „eigentliche Sündenbegriff des Paulus erst wirklich eingeführt“ (ebd.) werde, erweist sich vor allem angesichts von Röm  2 ,12, wo die egalisierende Tendenz des Sündenbegriffs regel­ recht axiomatisch zugrunde gelegt wird, und von Röm  3,9–18, wo diese Tendenz aufgegrif­ fen und (exegetisch) zugespitzt wird, als unbegründet. 225  Theobald, Römer, 162.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Stelle den Ursprung von Sünde und Tod an einem Menschen festmacht und dass er den Tod als personifizierte (un)heilsgeschichtliche Macht in die Argumenta­ tion einführt, ist ganz durch die Zielpassage von Röm  5,18–21 veranlasst: Die Überbietung der Macht von Sünde und Tod durch das Heilswerk des einen Menschen Jesus Christus dient der Relativierung des Gesetzes. Die Funktion des Sündenbegriffs in Röm  5,15–17. Nicht die Destruktion der ἁμαρτία, sondern die Überbietung des (Gerichts-)Todes durch die gnadenhafte Zuwendung Gottes in dem einen Menschen Christus steht im Zentrum des kontrastiven Mittelteils Röm  5,15–17.226 Die Auflösung des Zusammenhangs von Gerichtstod und Sünde durch die Gnade setzt somit nicht bei der Sünde, sondern beim Gerichtstod an: Die Begriffe in Röm  5,15–17 sind auf dessen De­ potenzierung bezogen. 5,15:  οἱ πολλοὶ ἀπέθανον – ἡ χάρις καὶ ἡ δωρεὰ 5,16:  κατάκριμα – δικαίωμα 5,17:  ὁ θάνατος ἐβασίλευσεν – οἱ […] λαμβάνοντες βασιλεύσουσιν

Die Funktion des Sündenbegriffs in Röm  5,18–21. In der „eigentlichen“227 Gegen­ überstellung in Röm  5,18f verschiebt sich die Perspektive dann noch einmal. Röm  5,18 schließt zwar noch an die Gerichtsperspektive von Röm  5,15–17 an: εἰς κατάκριμα – εἰς δικαίωσιν ζωῆς

In Röm  5,19 jedoch verwandelt die ὑπακοή des Einen die Vielen aus ἁμαρτωλοί in Gerechte. Es handelt sich also bei dem hier beschriebenen Vorgang nicht um eine Schwächung der Sünde, sondern um die Gerechtmachung (δίκαιοι) der Sünder, so dass es in Röm  5,19 nicht in erster Linie um eine existentielle Ver­ wandlung des Menschen, sondern um eine Neubewertung der Menschen im Gericht geht. Deswegen hat die Gegenüberstellung von Röm  5,18f einen paral­ lelen Auf bau. Es korrespondieren: 5,18:  εἰς κατάκριμα – εἰς δικαίωσιν 5,19:  ἁμαρτωλοὶ – δίκαιοι

Paulus geht es in der Adam-Christus-Gegenüberstellung also nicht um eine mythologische Bestimmung des Zusammenhangs von Sünde und Tod in der Vorzeit oder um die Entfaltung einer Erbsündendogmatik,228 sondern um Auswirkung der Taten des Einen (Adams) und des Anderen (Christus) im Gericht. Anders ausgedrückt: Das „Setting“ von Röm  5,18–21 ist die ὀργὴ θεοῦ.229

226  Vgl. aaO. 161: „Von der ‚Sünde‘ spricht Paulus hier nur, um angemessen vom ‚Tod‘ sprechen zu können. Er ist der Fluchtpunkt der Rede.“ 227 Vgl. Wilckens, Römer I, 326. 228  So auch aaO. 321: „So erweist sich die Interpretation von VV 12–14 im hermeneuti­ schen Horizont der Erbsündenlehre insgesamt als Verfehlung des Textes“. 229  Vgl. aaO. 329.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

In diesem Zusammenhang sei auf ein besonderes stilistisches Phänomen in Röm  5,12– 21 hingewiesen, das auch in der Folgeargumentation eine gewisse Rolle spielen wird, in der Forschung jedoch kaum beachtet wird: Das „Fehlen Gottes“ in der Argumentation der Adam-Christus-Gegenüberstellung. Gott erscheint im ganzen Abschnitt nicht ein einziges Mal als handelndes Subjekt. Der Akzent liegt ganz auf der Darstellung personi­ fizierter Mächte: θάνατος, ἁμαρτία (zu deren Personifikation s. u.), δικαιοσύνη, χάρις. Die ganze Argumentation wirkt fast wie eine kalkulatorische Darstellung des Heilsge­ schehens230: Die verschiedenen „Akteure“ sind formelhaft und regulativ aufeinander bezogen, die ὥσπερ -Korrelativ-Sätze ergeben soteriologische „Schaltkreise“, die Über­ bietung von Tod und Sünde durch Gnade und Gerechtigkeit wirkt fast wie ein naturge­ setzlicher Vorgang.231 Gottes Einfluss und Rolle in diesem „Machtspiel“ werden in Röm  5,12–21 völlig ausgeblendet. Gericht und Gnade, Verurteilung und Freispruch wirken in der Adam-Christus-Gegenüberstellung eigenständig.232 Das letzte textim­ manente „Eingreifen“ Gottes liegt in Röm  5,8 vor: Gott zeigt seine Liebe darin, dass Christus gestorben ist, „als wir noch Sünder waren“.233

Es gibt zwei Präzedenzfälle, die den Ausgang des Gerichts (vgl. ὀργή in Röm  5,9), determinieren: Der Präzedenzfall Adams in Röm  5,12, durch den die Sünde mit dem Tod geahndet wird, und der Präzedenzfall Christi in Röm  5,18, der die Gnade erwirkt. Durch den ersten Präzedenzfall wird der vom Gesetz unabhän­ gige Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen Sünde und Tod in Kraft ge­ setzt.234 Durch den zweiten Präzedenzfall, den Paulus noch in Röm  5,8 als Got­ tes „intervenierendes Handeln“235 bestimmt, wird derselbe Tun-Ergehen-Zu­ sammenhang 236 unterbrochen. Durch die Erfüllung der Rechtsordnung und durch den Gehorsam Jesu Christi wird das „adamitische Urteil“ über die πολλοί237 in einen Freispruch umgewandelt.238 Der Rückbezug auf die Präzedenzfälle Adam und Christus ist für das Gelin­ gen der Argumentation entscheidend: In Röm  5,20f hält Paulus fest, dass der νόμος „hinzugetreten“ sei und eine Vertiefung des Falls zur Folge habe. Paulus erklärt, dass das Gesetz den Zusammenhang von Sünde und Tod zementiert 230 

AaO. 331 überschreibt Wilckens seine Auslegung von Röm  5 treffend mit „Die Logik der Gnade“, vgl. auch aaO. 333. 231  Theobald, Römer, 169 macht auf diesen Umstand zumindest insofern aufmerksam, als er hier von einer „strengen Logik des Gerichts“ spricht, die durch die „unerhörte Freiheit der Gnade“ überboten wird. 232 Vgl. Haacker, Römer, 121: „Es fällt auf, daß vom Glauben als der konkreten Ver­ mittlung der Rechtfertigung hier nicht gesprochen wird.“ 233  Vgl. aaO. 327. 234  Vgl. auch Theobald, Römer, 162: „Nach paulinischem Verständnis fallen also Tod und Verdammnis […], Sterben und definitives Verderben für den Menschen (als Sünder) in eins.“ 235  Reinmuth, Das Böse, 84. 236 Vgl. Wilckens, Römer I, 332. 237 Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass zwischen den πάντες und den πολλοί nicht zu unterscheiden ist. Vgl. exemplarisch Haacker, Römer, 117. 238  Vgl. auch Wilckens, Römer I, 323: „So hat die Gnade Gottes die Todes-Wirkung der Sünde aufgehoben […]“.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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bzw. alles „nur noch schlimmer macht“239. Für diejenigen, für die gilt: νόμος δὲ παρεισῆλθεν – also die Juden oder Judenchristen, jedenfalls die, die nach Röm  2,12 mit dem Gesetz leben und den Heidenchristen gegenüberstehen –, muss sich das Gesetz negativ auf den Zusammenhang von Sünde und Tod aus­ wirken: Es vertieft den Fall.240 Völlig zu Recht kann daher Hans Weder davon sprechen, dass die „Vermehrung der Verfehlung“ auf die durch das Gesetz er­ möglichte Erkenntnis der Sünde innerhalb seines Geltungsbereichs abhebt: „Wenn Paulus dagegen von der Vermehrung der Verfehlung anlasslich des Kommens des Gesetzes spricht, so kann er damit nur eine Verfehlung meinen, die innerhalb des Gesetzesraums angesiedelt ist. Offensichtlich wurde Paulus an einen Ort versetzt, von wo aus eine bisher ungesehene Dimension sichtbar wurde und also sichtbar wurde, dass es auch im Innenraum des Gesetzes Verfehlung gibt. Diese Verfehlung im Innenraum des Gesetzes kann – weil sie nicht Uebertretung des Gesetzes ist – nur die Gestalt des Tuns des Gesetzes haben.“241

Es wäre nun – hätte Paulus an dieser Stelle lediglich das Gesetz disqualifizieren wollen – völlig ausreichend gewesen, diese Verschlimmerung mit den παθήματα, die durch das Gesetz geweckt werden (wie Paulus z. B. in Röm  7,6 argumentie­ ren wird), oder einem Verweis auf die ἰδία δικαιοσύνη (wie in Röm  10,4) zu begründen. Doch für diejenigen ἐν νόμῳ (Röm  2,12) stellt Paulus über die Ver­ tiefung des Falls hinaus auch eine Potenzierung der Gnade fest:242 Röm  5,21 ist syntaktisch auf die quantifizierenden Aussagen von Röm  5,20 bezogen, gilt also für die, für die das Gesetz hinzugekommen ist: 20a1: νόμος δὲ παρεισῆλθεν, 20a2: ἵνα πλεονάσῃ τὸ παράπτωμα. 20b1: οὗ δὲ ἐπλεόνασεν ἡ ἁμαρτία, 20b2: ὑπερεπερίσσευσεν ἡ χάρις, 21a: ἵνα ὥσπερ ἐβασίλευσεν ἡ ἁμαρτία ἐν τῷ θανάτῳ, οὕτως καὶ ἡ χάρις βασιλεύσῃ διὰ δικαιοσύνης εἰς ζωὴν αἰώνιον διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ 21b:  τοῦ κυρίου ἡμῶν. 239 

Wolter, Römer, 363. Begriff παράπτωμα (Röm  5,20a) kann nicht ohne weiteres nur als Übertretung der Tora verstanden werden (vgl. Jewett, Romans, 388): Er bezeichnet immer noch die Übertretung der Menschheit im Ganzen, die in Adam präfiguriert wird (vgl. παράπτωμα in Röm  5,15–17), wohl aber fallen nun diejenigen tiefer, die mit dem Gesetz leben – es geht um eine „Vermehrung der Sünde im qualitativen Sinn“ (Theissen/Gemünden, Römerbrief, 249). Vgl. auch Kraus, Tod, 111: „παράπτωμα steht Röm  5,15ff für ἁμάρτημα und ist diesem hier gleichbedeutend, es ist nicht wie παράβασις am Vorhandensein des Gesetzes orientiert.“ 241  Weder, Sprung, 369. Vgl. auch Umbach, Christus, 207 in Hinblick auf Röm  5,12: „Ἡ ἁμαρτία ist der übergeordnete Begriff, παράπτωμα (und παράβασις ) bildet davon einen Tei­ laspekt (Tatcharakter), der dem übergeordneten Machtcharakter der Sünde einverleibt wird (5,21).“ 242  Theobald, Römer, 172 erinnert daran, dass in frühjüdischen Traditionen ein Ein­ greifen Gottes erst am Tiefpunkt menschlicher Verlorenheit erwartet wird (äthHen 91,7 und MidrPss zu Ps 45,3). 240  Der

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Paulus hält für den Fall, dass das Gesetz hinzugekommen ist, auch fest, dass die Gnade übermäßig ströme (ὑπερεπερίσσευσεν) und eine Herrscherfunktion ausübe, die ursprünglich der Sünde zukam.243 Bασιλεύειν verdeutlicht in die­ sem Kontext den heilsgeschichtlichen Charakter des Gerichtsausgangs für Isra­ el: Die ‚Kritarchie‘ von Sünde und Gesetz ist durch das Heilswerk Jesu Christi (Röm  5,21) überwunden, d. h. durch die Erscheinung der „Gottesgerechtigkeit als χάρις“244, die ins „ewige Leben“ führt.245 Paulus zieht in Röm  5,20f also nicht nur die Schlussfolgerung, dass das Gesetz als Heilsweg neben Christus ausgeschlossen ist, weil das Heil in Christus unmittelbar auf den Fall Adams bezogen ist, sondern es geht Paulus in Röm  5,20f offensichtlich auch um die Rettung Israels, das durch das Hinzukommen des Gesetzes tiefer gefallen ist als es diejenigen könnten, die ohne Gesetz leben. In diesem Zusammenhang ist auf die Personifikation der Sünde in Röm  5,12– 21 und deren Intention einzugehen.246 Der absolute Gebrauch von ἡ ἁμαρτία kommt zwar vor, jedoch neben und zusammen mit dem Adjektiv ἁμαρτωλόϛ und dem Verb ἁμαρτάνειν. Auch in Röm  5,12 – „Sünde kam in die Welt und durch die Sünde der Tod“ – ist dieser absolute Gebrauch nicht in dem Sinne akzentuiert, dass die ἁμαρτία eigenständig agiert, also den Menschen als Macht beeinflusst und unterwirft. Er ist viel stärker in Röm  3,9 (das ὑφ᾽ ἁμαρτίαν εἶναι 243 Gegen Lübking, Israel, 42, der Röm  5,21 nicht auf Röm  5,20 ziehen möchte: „Unbe­ streitbar wird das Gesetz in V. 20 jedoch der adamitischen Welt zugeordnet und damit auf die Seite der Sünde und des Todes gebracht.“ Auch Weder, Sprung, 369f und Brandenburger, Adam, 252f verstehen Röm  5,21 nicht als Hinweis auf eine ‚partikulare Gnadentat‘ für Israel. 244  Wilckens, Römer I, 323. 245  Das hat freilich Konsequenzen für die Bedeutung des „physischen“ Tods, wie Haacker, Römer, 118 betont: „[…] der unausweichlich physische Tod [wird] in einen Durch­ gang zum ewigen Leben verwandelt (5,21).“ 246 Vgl. Dodson, Powers, 127 und ausführlich auch Southall, Rediscovering, 96–105. Southall unterscheidet drei Forschungsansätze zur Personifikation der Sünde, insb. im Kon­ text von Röm  6,15–23: Die „Consensus Position“ versteht die Sünde als „personified power“ (aaO. 97), die die „world stage“ (aaO. 99) betrete, um die Menschheit zu versklaven. Diesem Forschungskonsens setzt Southall zwei „views“ entgegen: Die „demonic entity view“, die vor allem in Röm  7 erkennbar sei (aaO. 99–102), und die „concrete action view“ (102–105), die vor allem dann zum Tragen komme, wenn es Paulus darum gehe, dass die Sünde ange­ rechnet werde (Röm  5,12 oder 5,21). Southall versteht die personifizierte Sünde entgegen diesen drei Positionen als „Character Invention“ (aaO. 105–112): In Anschluss an Röhser vertritt er die Auffassung, dass „it is necessary to integrate the Apostle’s metaphoric and nar­ rative-dramatic and personificatory utterances into a whole; or to put it more precisely, one must allow for the functioning of personification within both the slavery metaphor and Paul’s narrative dramatic mode, namely, the story of Jesus which he is drawing on in Rom 6:15–23“ (aaO. 110f ). Southall kritisiert, dass die Interpretation der personifizierten Sünde als kosmi­ sche Macht oder dämonische Entität nicht im „metaphoric and narratorial context“ verstan­ den werde, den Paulus selber vorgibt. Lyu, Sünde, 300 möchte Paulus’ Personifikation der Sünde als Korrektur zweier Missverständnisse und Verdrehungen seiner Sühnungstheologie verstehen: Zum einen das fortdauernde Sündigen (Röm  6,1ff ), zum anderen die Abschaffung des Gesetzes (Röm  7,7ff ).

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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der Menschen) ausgeprägt. In Röm  5,12 und 5,16 ist es hingegen die Sünde δι᾽ ἑνὸς ἀνθρώπου, die eindeutig als die Sünde Adams, also als die Sünde, die den Fall nach sich zieht, identifiziert werden kann. Der Gebrauch von ἁμαρτία in Röm  5,13 ist streng bezogen auf das Gesetz: Die Sünde ist hier nicht Agens, sondern wird vom νόμος überführt. Die ἁμαρτία in Röm  5,20 korreliert wiede­ rum mit der Gnade und wird als wachstumsfähig beschrieben, womit eher ihr Tatcharakter im Vordergrund steht. Der einzig „echte“ absolute Gebrauch von ἡ ἁμαρτία als personifizierte Macht in diesem Text liegt in Röm  5,21 vor, wo vom Herrschen der Sünde als „Königin“ die Rede ist. Die Intention dieser Per­ sonifikation liegt darin, zu verdeutlichen, dass der Mensch der Sünde unterge­ ben ist und deswegen zwangsläufig im Gericht als schuldig befunden wird, womit durchaus eine „Relativierung der Verantwortung des Einzelnen für ein­ zelne Tatsünden gegeben ist“247. Durch die Personifikation kann Paulus also kosmologische und „effektive“ Macht der Sünde synthetisieren, was seinem Ar­ gumentationsziel besonders zuträglich ist.248 Worauf zielt Paulus mit dem Sündenbegriff in Röm  5,12–21? Die Eintragung des Gegensatzes von ἐν νόμῳ ἥμαρτον und ἀνόμως ἥμαρτον aus Röm  2,12 auf einen ‚heilsgeschichtlichen Zeitstrahl‘ ermöglicht eine neue Erklärung der menschlichen Affinität zur Sünde und deren Strafverfolgung durch die ὀργὴ θεοῦ. Sie wird auf eine Person projiziert: Adam.249 Der Ursprung der Sünde wird in der adamitischen Menschheit verortet, die noch nicht durch die Gabe des Gesetzes ausdifferenziert ist, worauf auch die bereits in den vorherigen Kon­ texten vorgekommenen πάντες bzw. πολλοί hinweisen. Paulus zeigt, dass die Gnade in dem Einen Jesus Christus den Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sün­ de und Tod, der durch den Einen Adam Realität geworden ist, überwinden kann. Eine soteriologische Funktion kann dem νόμος also schon wegen seiner heilsgeschichtlichen Nachrangigkeit nicht zukommen. Das rhetorische wie ar­ gumentative Ziel des Abschnitts verdichtet sich damit in der Schlussakklamati­ on von Röm  5,21: διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν.250 Mit der ganzen Argu­ 247  Haacker, Römer, 122 f. Er weist vor allem auf die Spirale der Sünde in Röm  1,18ff und die dortigen παρέδωκεν-Aussagen hin. 248  Röhser, Herrschaft, 96 macht zu Recht darauf aufmerksam, dass der Personifikations­ begriff nicht i. S. eines Tropus rhetorisch marginalisiert werden darf. In der Personifikation der Sünde schlage sich vielmehr eine konkrete Unheilserfahrung nieder, die kaum anders ausgedrückt werden könnte: „Vor diesem Hintergrund erscheint dann die Personifikation der Sünde bei Paulus als eine Redeweise, welche die Wirklichkeit nach bestimmten, wenngleich nicht dämonologischen Erfahrungen interpretiert und strukturiert: Es geht darum, eine Un­ heilserfahrung zu artikulieren und zu kommunizieren, wonach die bösen Taten des Menschen sich ihm gegenüber verselbständigen und mit vernichtender Gewalt auf ihn zurückschlagen.“ 249  Wilckens, Römer I, 321 bestimmt Adam als „personale[s] Symbol“ der Sünde. 250 Vgl. Haacker, Römer, 123. Interessanterweise taucht diese Schlussakklamation auch wieder in Röm  7,25a auf – auch dies ist ein Hinweis darauf, dass Röm  7,7–25a an Röm  5,20f anknüpft und demonstriert, dass der durch das Gesetz vertiefte Fall nur durch Christus auf­ gehalten werden kann.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

mentation zielt Paulus darauf, die soteriologische Exklusivität der Heilstat Jesu 251 darzustellen und das Gesetz als Heilsweg neben Christus auszuschließen.252 An­ hand von Adam wird „die Relevanz des Evangeliums für die ganze Menschheit (aus Juden und Nichtjuden)“253 angesichts der ὀργή evident.254 Gleichwohl weist Paulus auch auf das Schicksal Israels hin: Israel bedarf der Erlösung im besonde­ ren Maße,255 während die Heiden an der von Gott verheißenen Erwählung Is­ raels durch Christus bereits partizipieren. Was Israel im Weg steht, ist das Gesetz bzw. seine eigene Gerechtigkeit (Röm  10,4). 5.1.3. Zwischenbilanz Die Adam-Christus-Gegenüberstellung – die nur eingeschränkt als argumentatio bezeichnet werden kann – bietet eine grundsätzliche Zuordnung der heilsge­ schichtlichen Begriffe Sünde, Tod, Gnade und Gesetz, die sich für die kom­ menden argumentationes als tragend erweisen wird. Ziel des Abschnitts ist es zu zeigen, dass die Geschichte der Sünde weiter reicht als die des Gesetzes und dass das Heilsgeschehen unmittelbar auf die Sünde bezogen ist. Diese Denkfigur dient Paulus als wichtigstes Argument gegen die Gesetzesobservanz und wird in den folgenden argumentationes immer wieder aufgegriffen und in Richtung der heidenchristlichen Adressaten zugespitzt. Ein anderes Ziel klingt bloß an: Wäh­ rend der Apostel für die heidenchristlichen Adressaten festhalten kann, dass die Gnade unmittelbar auf den verheerenden Folgezusammenhang von Sünde und Tod bezogen ist und ihn für sie auf hebt, muss er für diejenigen, für die das Ge­ setz hinzugekommen ist, feststellen, dass sich die Erlangung des Heils „verkom­ pliziert“, insofern das Gesetz den Fall noch vertieft hat. Bei dieser Negativan­ zeige bleibt Paulus freilich nicht stehen: Ihm liegt in Röm  5,20f entschieden daran, Israel in das durch Christus eröffnete Heilsgeschehen miteinzubeziehen, geht er doch davon aus, dass die Gnade auch die durch das Gesetz übermäßig gewordene Sünde überwinden kann. Beide Perspektiven – die universale auf das Heilsgeschehen, das den Heidenchristen zuteil wird, und die partikulare auf 251 

Wilckens, Römer I, 330: „Christus und die Gnade sind nun als identisch begriffen.“ Günter Klein redet vom „Vorsprung der Sünde“: „So muß denn der unheilvolle Vor­ sprung der Sünde vor dem von Gott gestifteten Gesetz hinsichtlich seiner Folgen dahinge­ hend resümiert werden, daß das Gesetz sich als ohnmächtig erwies infolge des Fleisches, d. h. der Sündenmacht (Röm  8,3)“ (Klein, Gesetz, 67). Beachtet werden muss aber auch – hierin liegt die eigentliche Pointe der Adam-Christus-Gegenüberstellung – ein „Vorsprung der Gnade“, wie Paulus ihn in Röm  5,15–19 darstellt. Dadurch dass die Sünde dem Gesetz vor­ geordnet wird, wirkt auch die Gnade an der Gabe des Gesetzes vorbei – unmittelbar auf den Zusammenhang von Sünde und Tod. Vgl. Hofius, Adam-Christus-Antithese, 102 f. 253  Haacker, Römer, 117. 254 Vgl. Theobald, Römer, 176: „Paulus spricht von ‚Sünde‘ und ‚Tod‘ nur um zu erhel­ len, woraus der an Christus Glaubende durch Gottes überschwängliche Gnade errettet wur­ de“. 255  Vgl. auch das τε πρῶτον in Röm 1,16 i. S. von „besonders“. 252 

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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das Gesetz, durch das sich Israel besonders tief in der Sünde verstrickt hat und deswegen der Erlösung in besonderer Weise bedarf – werden die Argumentati­ onen von Röm  6,1–8,4 maßgeblich bestimmen.256

5.2. Röm  6,1–14: Zweites Argument gegen das Gesetz – die unmittelbare Partizipation der Gläubigen an der Heilszuwendung durch die Taufe Röm  6,1–14 stellt die erste Fortsetzung der Adam-Christus-Gegenüberstellung dar. Paulus wendet den heilsgeschichtlichen Epochenwechsel von Unheil und Heil auf die heidenchristlichen Adressaten an, indem er darlegt, wie die Adams­ sünde durch die Taufe überwunden wird und sich das Heilsereignis in der Exis­ tenz der Adressaten realisiert. Dazu nähert sich Paulus dem Phänomen der Sün­ de in seiner individuellen, subjektiv-anthropologischen Dimension an. 5.2.1. Argumentationsanalyse: Röm  6,11–14 als Skopus der in Röm  6,1 beginnenden Argumentation Wiederum soll die antike Argumentationstheorie dabei helfen, den Skopus der in Röm  6,1 beginnenden Argumentation zu bestimmen. Aus attentionaler und struktureller Perspektive lässt sich Röm  6,11–14 als Skopus der Passage bestim­ men. Mit Röm  6,1 beginnt, eingeleitet durch die Eingangsfrage, ein neuer Abschnitt. In Röm  6,1–10 ist die 1. Person Plural (Röm  6,1 f.3–6.8f ) dominant. Vor­herr­ schen­des Tempus in Röm  6,1–10 ist der Aorist: Die Adressaten werden als bereits Getaufte und damit „Gestorbene“ angesprochen: ἀπεθάνομεν (Röm  6,2), ἐβαπτίσθημεν (Röm  6,3), συνετάφημεν (Röm  6,4), συνεσταυρώθη (Röm  6,6), ἀποθανὼν (Röm  6,8), ἀπέθανεν (Röm  6,10). Die anthropologische Schlüsselter­ minologie der Adam-Christus-Gegenüberstellung wird in Röm  6,1–10 über­ nommen und kulminiert im Begriff des ὁ παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος, dem aller­ dings kein positives Gegenstück i. S. eines ὁ καινός ἡμῶν ἄνθρωπος entspricht.257 Der Abschnitt Röm  6,1–10 ist also trotz des ausgeprägten Adressatenbezugs an­ thropologisch-retrospektiv gehalten. Der attentional relevante Höhepunkt der Passage befindet sich in Röm  6,11– 14. Zum ersten Mal seit Präskript und Proömium redet Paulus die Adressaten in der 2. Person Plural an:258 Mit οὕτως καὶ ὑμεῖς λογίζεσθε ἑαυτούς leitet er in 256 Vgl. Theobald, Gnade, 124: In Röm  6,1–8,4 führe Paulus eine Auseinandersetzung mit derjenigen antipaulinischen Front, die er auch schon in Röm  3,7f „kurz zu Wort hat kommen lassen“. 257  „Mensch“ scheint kein adäquater Begriff für den aktuellen soteriologischen Status der angesprochenen Gemeinden in Rom zu sein, sondern hat eine negative Tendenz und be­ zeichnet die Vergangenheit der Adressaten vor ihrer Taufe. 258  Wenn man von Röm  6,3 (ἢ ἀγνοεῖτε) absieht, mit dem Paulus aber auf einen gemein­ samen Wissensstand rekurriert.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  6,11 eine Applikation der vorherigen Argumentation ein und fordert die Adressaten auf, sich als „tot für die Sünde“ und „lebendig für Gott“ zu be­ greifen. Unverzüglich schließt Paulus an diese erste Applikation (οὖν) eine Ket­ te von Imperativen an: βασιλευέτω (Röm  6,12), παριστάνετε (Röm  6,13a), παραστήσατε (Röm  6,13b). Zuletzt (Röm  6,14b) erinnert Paulus an die Prämis­ se seiner Argumentation (in Anlehnung an Röm  5,20f ): Sie gilt für die heiden­ christlichen Adressaten unter der Bedingung, dass sie nicht unter dem Gesetz ­stehen.259 Röm  6,11–14 bietet sich also hinsichtlich der Aufmerksamkeitslenkung als conplexio der in 6,1 beginnenden Argumentation an. Die strukturelle Analyse bestätigt diesen Befund: Röm   6,1–10 führt schrittweise zur conplexio von Röm  6,11–14 hin, will also den Beweis erbringen, dass die heidenchristlichen Adressaten für die Sünde tot sind und für Gott leben (Röm  6,11). Der Text ist segmentiert, die einzelnen Abschnitte bilden untereinander argumentative In­ terdependenzen aus und es liegt eine kohärente Gedankenbewegung vor. Zur Segmentierung. Folgende metakommunikative Ausdrücke gliedern den Text: In Röm  6,1 eröffnet Paulus die Argumentation mit der für ihn typischen rhetorischen Frage τί οὖν ἐροῦμεν. Röm  6,3 hebt sich durch den Hinweis auf das Adressatenwissen ab: ἢ ἀγνοεῖτε. Röm  6,6 forciert eine Spezifizierung des vori­ gen Wissens: τοῦτο γινώσκοντες. In Röm  6,8 fehlt ein eindeutiges Gliederungs­ merkmal, doch der εἰ-Satz in Verbindung mit dem folgenden Hauptsatzprädikat πιστεύομεν greift voriges auf und führt es unter einem neuen Gesichtspunkt weiter. Mit Röm  6,11 eröffnet Paulus durch die Übertragungsformel οὕτως καὶ ὑμεῖς λογίζεσθε unzweideutig die conplexio. Zur Interdependenz der Segmente. Röm  6,1f bildet den thetischen Ausgangs­ punkt der Argumentation, der sich aus einem Fehlschluss hinsichtlich des vori­ gen Abschnitts und insbesondere hinsichtlich Röm  5,20f ergibt: Das Kalkül, durch ein „Bleiben in der Sünde“ könne die Gnade vergrößert werden, sei nicht möglich (μὴ γένοιτο). Paulus formuliert jedoch keinen dieser Zurückweisung entsprechenden thetischen Aussagesatz,260 sondern eine weitere Frage, die die 259  Ganz anders Wolter, Römer, 367, der Röm  6,12–14 zum nächsten Abschnitt zählt. Er ist der Meinung, die rhetorische Frage von Röm  6,15 sei über Röm  6,14 hervorgerufen: „Während Paulus bis V.11 die Identität der Getauften zum Thema macht, wechselt er mit V. 12 zur Form der paränetischen Weisung und nimmt das Verhalten seiner Adressaten in den Blick.“ Diese Abgrenzung kann jedoch nicht überzeugen. Mit Röm  6,15 ist eine deutliche Zäsur angezeigt und ein Problem wird benannt, das erst in Röm  7,4–6 vollumfänglich gelöst wird. Die Imperative in Röm  6,12–14 hängen hingegen thematisch und motivisch mit der Taufpassage von Röm  6,1–10 zusammen. Es gibt keine textimmanenten Gliederungsmerk­ male, anhand derer ersichtlich wäre, warum in Röm  6,12 ein neuer Abschnitt beginnt. Später erklärt Wolter, Römer, 386 dann auch selbst: „In V. 12–14 fordert Paulus seine Leser auf, ihre neugewonnene Identität auch in einer ihr entsprechenden Lebensführung darzustellen.“ 260  Hinsichtlich Röm  5,20f findet in Röm  6,1 eine nicht unerhebliche thematische Ver­ schiebung statt: Paulus behandelt in Röm  6,1f ein Kalkül, das sich nach Röm  5,20f nur im Lichte des Gesetzes ergeben kann, und wehrt dieses Kalkül mit dem Hinweis darauf ab, dass

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

241

folgende Argumentation in Gang setzt: οἵτινες ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ, πῶς ἔτι ζήσομεν ἐν αὐτῇ; Diese Rückfrage greift auf beide zentralen Aspekte der conplexio voraus (Röm  6,11: νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ): die negative (ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ) wie auch die positive Bestimmung der Adressaten (ζήσομεν) im Lichte des Heilsgeschehens. Mit der Futurform ζήσομεν klingt jedoch kein eschatologischer Horizont an, als wäre das Leben au­ ßerhalb der Sünde erst im Eschaton möglich: Die conplexio wird die Argumen­ tation dahingehend zuspitzen, dass es sich bei dem Leben für Gott um eine Existenz handelt, die den Adressaten bereits jetzt eröffnet worden ist. Das Leben für Gott meint das Leben im Hier und Jetzt. In Röm  6,3–5 greift Paulus das θάνατος-Motiv von Röm  6,1f auf und bringt es in einen Zusammenhang mit der unter den römischen Christen als bekannt vorausgesetzten Taufe.261 Paulus begründet, warum das Leben in der Sünde nicht mehr möglich sein kann, indem er zeigt, dass die Adressaten in der Taufe mit Christus gestorben sind und an der Neuheit des Lebens und an der Aufer­ stehung partizipieren. Die hier verwendeten Futurformen können jedoch nicht restriktiv i. d. S. verstanden werden, dass sich Paulus bewusst gegen eine präsen­ tische Vereinnahmung des eschatologischen Geschehens sperren würde. Es geht ihm schon hier um ein partizipatives Verhältnis zwischen Adressaten und Auf­ erstandenem, denn er zeigt einen existentiellen Bruch an, der im Taufgeschehen zu Tage tritt: „Die Taufe ist hier nicht der Interpretationsgegenstand, sondern das Interpretationsmittel.“262 Der Abschnitt kann unter dieser Voraussetzung als ratio bezeichnet werden. Dient der Abschnitt Röm  6,3–5 als Begründung für die These, insofern er zeigt, dass die Adressaten durch die Taufe tatsächlich gestorben sind und an der Neuheit des Lebens partizipieren, erklärt Paulus in Röm  6,6f, welche Folgen diese Partizi­ pation für die Sünde hat. Die Taufe bewirke einen Herrschaftswechsel und führe das Ende des Dienstes für die Sünde herbei. Röm  6,6f erläutert damit den Zusammenhang zwischen These und Begründung: Als Kreuzigung des παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος (Röm  6,6f) bewirkt die Taufe (Röm  6,3–5) das Ende der Sünde (Röm  6,1f). Es liegt damit eine confirmatio vor – der Abschnitt bekräftigt den kausalen Zusammenhang von thetischem Zentrum und ratio.263

die Adressaten nicht mehr in der Sünde leben können. Dann würde Paulus aber in Röm  6,1– 14 auch einen impliziten Dialog mit observanten Stimmen führen, insofern er für die heidenchristlichen Adressaten verbindlich macht, dass der Zusammenhang von Sünde, Tod und Gnade ohne die Hinzunahme des Gesetzes aufgelöst ist. Dass Paulus in Röm  6,1 von der judenchrist­ lich-partikularen Perspektive von Röm  5,20f abrückt, ist auch an Röm  6,14b erkennbar: Die Adressaten stehen als Heidenchristen dezidiert nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. 261 Vgl. Schreiner, Romans, 306. 262  Wolter, Römer, 370. 263 Vgl. Schreiner, Romans, 310f: „The central thrust of this section [6,3–5] will beco­

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Mit Röm  6,8–10 tritt nunmehr der Gedanke in den Vordergrund, dass das Sterben mit Christus das Leben mit Christus, das Sterben für die Sünde das Leben für Gott einschließt. Wie die Adressaten in der Taufe mit Christus ge­ storben sind, so werden sie auch „mit ihm leben“ (Röm  6,8: συζήσομεν).264 Paulus formuliert in diesem Abschnitt drei Aussagen über Christus (abhängig von εἰδότες), die die neue (Tauf-)Existenz der Adressaten christologisch unter­ mauern: 1. Über ihn kann der Tod nicht mehr herrschen. 2. Er ist der Sünde ἐφάπαξ gestorben. 3. Er lebt τῷ θεῷ. Die Adressaten partizipieren in jedem Fall an den ersten beiden Aspekten: Sie sind Sünde und Tod entzogen, wie Paulus bereits in Röm  6,3–5 und 6,6f festgestellt hat. Der Abschnitt reformuliert also bereits bekanntes unter christologischen Vorzeichen und spitzt es zu. Seine „christologisch motivierte“ Additivität und Überleitungsfunktion entsprechen dem Charakter einer exornatio. Die Auferstehungsexistenz Christi, wie sie Paulus in der exornatio von Röm  6,8–10 beschrieben hat, wird in Röm  6,11 auf die Adressaten übertragen bzw. ausgeweitet. Paulus nimmt auf alle Glieder der Argumentationskette Be­ zug: das Tot-Sein für die Sünde (νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ), das Leben für Gott (ζῶντας δὲ τῷ θεῷ) und den christologischen Horizont dieses Lebens, verdichtet in der für Paulus charakteristischen Wendung ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, die hier offen­ bar vor allem das Moment des Nachvollzugs des Sterbens zum Ausdruck brin­ gen soll. In Röm  6,11 scheint die eschatologische Perspektive, die sich durch die Futurformen von συζήσομεν (Röm  6,8) und ἐσόμεθα (Röm  6,5) angedeutet hat, durchbrochen zu werden, denn ζῶντας wird hier als Gegensatz zu νεκρούς ver­ standen, d. h. mit dem Leben Röm  6,11 muss das Leben von Röm  6,2 gemeint sein – die Existenz der Christen im Hier und Jetzt. Sie partizipieren an der Auferstehungsexistenz Christi, d. h. eine definitive Trennung von zukünftigem und gegenwärtigem Leben scheint im Kontext von Röm  6,11–14 nicht sachge­ mäß zu sein. Wenn es überhaupt einen Hinderungsgrund für diese Existenz gibt, dann ist es der sterbliche Leib (Röm  6,12). An ihn richten sich gewisser­ maßen die Imperative von Röm  6,12–14a, wobei es sich nicht um paränetische Imperative im strengen Sinne handelt, denn Paulus gibt keine expliziten ethi­ schen Ratschläge: Zwar sind mit dem Tod für die Sünde Ungerechtigkeit und Gehorsam gegenüber den Leidenschaften überwunden, wie der Dienst für die Gerechtigkeit jedoch genau aussieht, lässt Paulus offen. In den Imperativen von Röm  6,11–14 wird vielmehr der von Gott ermöglichte Herrschaftswechsel als Absage an die Sünde internalisiert.265 Ein besonderes Problem stellt der Schluss der conplexio in Röm  6,14b dar: οὐ γάρ ἐστε ὑπὸ νόμον ἀλλ’ ὑπὸ χάριν. Wie ist der Hinweis darauf zu verstehen, dass me even clearer in verses 6–10, for Paul restates and expands verses 3–5, clarifying what the main point of verses 3–5 is.“ 264  Zu den Futurformen in Röm  6,1–14 s. u. 265  Vgl. dazu ausführlich V.5.2.2.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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die Adressaten nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? In Röm  6,11–14 begründet Paulus die Machtlosigkeit der Sünde mit dem Mitster­ ben der Adressaten mit Christus. Gegenübergestellt werden in Röm  6,14b nun aber plötzlich nicht Sünde und Gnade, wie es sich von Röm  5,12–19 und 6,1–13 her nahelegen würde, sondern Gesetz und Gnade. Handelt es sich um eine un­ terschwellige Begriffsverschiebung, mit der Paulus bereits auf Röm  7,1–6 an­ spielt? Oder zugespitzt: Behauptet Paulus in Röm  6,14b, dass die Befreiung von der Sünde eine Befreiung vom Gesetz darstellt und ruft die heidenchristlichen Adressaten nun dazu auf, sich vom Gesetz zu emanzipieren?266 In der Logik der Adam-Christus-Gegenüberstellung und der Zuordnung von Röm  2,12 wendet sich Paulus in Röm  6,11–14 dezidiert an diejenigen, für die das Gesetz nicht gilt bzw. nicht hinzugekommen ist, d. h. an die Heidenchristen. Dann würde es sich bei Röm  6,14b um keine starke Prämisse oder Schlussfolgerung handeln, son­ dern um eine schlichte Feststellung 267: „Ihr steht ja nicht unter dem Gesetz!“ Paulus verarbeitet hier die (wahrscheinlich judenchristliche) Anfrage, wie Christus und Gesetz einander zugeordnet werden müssen. Paulus’ Antwort lau­ tet: Nur die, die nicht unter dem Gesetz stehen, partizipieren an der Gnade. Diejenigen, die unter dem Gesetz leben, partizipieren nach wie vor am Zusam­ menhang von Sünde und Tod, was vor allem in Röm  5,18–21 zum Ausdruck gekommen ist.268 Das heißt aber auch: Das Gestorben-Sein für die Sünde ist nur denen möglich, die nicht unter dem Gesetz stehen, d. h. den römischen, heiden­ christlichen Adressaten. Für diejenigen, für die das Gesetz hinzugekommen ist, muss die Anklage nach wie vor bestehen bleiben.269 Zur Kohärenz der Argumentation. Es konnte gezeigt werden, dass Röm  6,1–10 schrittweise zur conplexio Röm  6,11–14 hinführt. Es handelt sich also um eine zusammenhängende, zielorientierte Argumentation. Mithilfe des Modells der Rhetorica ad Herennium konnten die Funktionen der einzelnen Argumentations­ segmente benannt werden, so dass sich folgender Ablauf ergibt: 266  Dunn, Romans, 341f muss zur Erklärung von Röm  6,14b das „unter dem Gesetz ste­ hen“ als „a general characterization of the old epoch of Adam […]“ verstehen. 267 Vgl. Wengst, Römerbrief, 241: „Als Menschen aus der Völkerwelt sind die Ange­ schriebenen selbstverständlich nicht unter der Tora. Sie haben sich, soweit sie Männer sind, nicht beschneiden lassen und leben also nicht im Geltungsbereich der Tora. Aber das ist für sie kein Mangel, will Paulus betonen, da sie sehr wohl ‚unter der Gnade‘ sind.“ 268 Vgl. Wolter, Römer, 393: „Das ‚Nicht-unter-dem-Gesetz-Sein‘ der Adressaten kann Paulus an dieser Stelle als Argument verwenden, weil er das in 5,20a–b Gesagte voraussetzt: dass gerade die Tora die Menschen immer noch tiefer in den Unheilszusammenhang von Sünde und Tod verstrickt hatte […]. Hierbei handelt es sich um eine Situation, in der sich die hier angeredeten Ihr nicht befinden, denn deren Heils- und Existenzorientierung basiert nicht auf der Tora, sondern auf der ‚Gnade‘.“ 269  Schreiner, Romans, 330 geht daher vielleicht zu weit, wenn er in Röm  6,14 die fol­ gende Argumentation hineinliest: „Asserting that believers are not under law does not mean that they are free from the moral commands contained in the Thora. It means that they are free from the power of sin, which was indissolubly connected with the Mosaic covenant.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  6,1–2 Röm  6,3–5 Röm  6,6f

Röm  6,8–10

Röm  6,11–14

expositio

Die Adressaten sind der Sünde gestorben und können ihr nicht mehr dienen. ratio Die Taufe ermöglicht ein Mitsterben und eine Partizipation an der Auferstehung. rationis confirmatio Kommentar des Taufgeschehens: Der alte Mensch ist (in der Taufe) gekreuzigt und von allen Ansprüchen der Sünde frei. exornatio Wenn wir mit Christus gestorben sind, dann leben wir auch mit Christus. Er ist der Sünde ein für alle Mal gestorben und lebt für Gott. conplexio Ihr seid für die Sünde tot und lebendig für Gott!

Tabelle 36: Argumentationsstruktur von Röm  6,1–14

Durch den Rückbezug auf das Taufgeschehen und dessen anthropologische (Röm  6,6f ) und christologische (Röm  6,8–10) Interpretation gelingt es Paulus, den Tod für die Sünde und das Leben für Gott zu begründen und zu internali­ sieren: Weil die heidenchristlichen Adressaten an der Auferstehungsexistenz Christi partizipieren, sind sie der Herrschaft der Sünde entzogen. Abschließend muss noch einmal die Bedeutung der Futurformen in Röm  6,1–10 im Detail geklärt werden, denn viele Kommentatoren erklären das Spannungsverhältnis zwischen präsentischen und futurischen Aussagen mit einer „Schon-Jetzt-NochNicht“-Struktur.270 Diese trete insbesondere in Röm  6,4f und 6,8 zu Tage. Das Taufge­ schehen und seine christologischen Prämissen werden eindeutig in der Vergangenheit verortet: ἐβαπτίσθημεν (Röm  6,3), συνετάφημεν (Röm  6,4), σύμφυτοι γεγόναμεν τῷ ὁμοιώματι τοῦ θανάτου αὐτοῦ (Röm  6,5), ἀπεθάνομεν (Röm  6,8). Dem stehen futurische Formen gegenüber: ζήσομεν (Röm  6,2), ἐσόμεθα (Röm  6,5), συζήσομεν (Röm  6,8). Von zwei Seiten kann diese „Schon-Jetzt-Noch-Nicht“-Struktur problematisiert werden: Zum einen müssen die Futurformen nicht zwangsläufig auf die Beschreibung einer eschatischen Existenz abzielen, sondern können auch die Existenz bezeichnen, die den heidenchristlichen Adressaten „ab jetzt“, d. h. ab dem Zeitpunkt der brieflichen Kom­ munikation möglich ist. So wird in Röm  6,4 die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Futur lediglich angedeutet: Paulus erklärt, dass die – in der Vergangenheit vollzogene – Taufe auf einen neuen „Wandel“ ziele ( ἵνα […] οὕτως καὶ ἡμεῖς ἐν καινότητι ζωῆς περιπατήσωμεν). Bei περιπατήσωμεν handelt es sich um eine Aoristform, die durch den Finalsatz bedingt und über καινότητι ζωῆς auf Röm  6,2 bezogen ist: Dort hat Paulus mit ζήσομεν zum Aus­ druck gebracht, dass das Leben in der Sünde nicht mehr möglich sei. Wenn περιπατεῖν einen im weiteren Sinne „ethischen“ Begriff darstellt, zielt Paulus hier nicht auf die zukünftige Auferstehung, sondern ein Leben, das dem Leben in der Sünde entgegenge­ setzt ist und nunmehr anbricht. In Röm  6,5 liegt ein temporaler Kontrast von Vergan­ genheit (resultatives Perfekt: σύμφυτοι γεγόναμεν) und Zukunft (ἐσόμεθα) vor. Versteht man ἐσόμεθα futurisch-eschatologisch, so steht die Auferstehung noch aus. Versteht man den Hinweis allerdings stärker im Kontext von Röm  6,2 und 6,4 – dass also die 270 

Vgl. zur Forschungsgeschichte Schreiner, Romans, 317f.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Adressaten der Sünde gestorben sind –, müsste auch das Futur ἐσόμεθα so verstanden werden, dass Paulus den nun beginnenden Lebenswandel der Adressaten in den Blick nimmt. Röm  6,5 fasst dann die vorigen Verse Röm  6,3f als ein affirmatives Konditional­ gefüge zusammen, wobei der Akzent deutlich auf dem neuen Leben 271 als einem sol­ chen Leben liegt, in dem der Christ der Sünde gestorben ist: Es korrespondieren ὥσπερ mit οὕτως (Röm  6,4b) und εἰ mit ἀλλὰ καί (Röm  6,5ab).272 Gleiches gilt auch für das Futur von συζήσομεν (Röm  6,8). Zum Zweiten hat die Argumentationsanalyse gezeigt, dass die futurischen Formen in der conplexio von Röm  6,11–14 präsentisch aufgefasst und auf die Gegenwart der Adres­ saten angewendet werden. Nach und nach wird die futurische Perspektive durchbro­ chen: Röm  6,5: τῆς ἀναστάσεως ἐσόμεθα Röm  6,8: συζήσομεν Röm  6,10: ὃ δὲ ζῇ, ζῇ τῷ θεῷ Röm  6,11: νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ Die Konsequenzen des „Gestorben-Seins mit Christus“ und die Partizipation an der zukünftigen Auferstehung realisieren sich im Moment der Korrespondenz mit den rö­ mischen Adressaten. Oder anders ausgedrückt: Das Ziel der Passage besteht nicht darin, einen eschatologischen Vorbehalt geltend zu machen, sondern zu zeigen, dass die Ad­ ressaten der Sünde gestorben sind.273 Den Futurformen sollte daher nicht zu viel aufge­ laden werden. Zwar sind die römischen Heidenchristen noch nicht auferstanden, die Auferstehungsexistenz Christi erschließt sich den Adressaten jedoch im Hier und Jetzt als sündenfreie Existenz.

5.2.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Paulus überträgt in Röm  6,1–14 die heilsgeschichtliche Zuordnung von Sünde, Tod und Gnade aus der Adam-Christus-Gegenüberstellung von Röm  5,12–21 auf die Adressaten: Sie partizipieren unmittelbar am Freispruch und dem Ge­ horsam Christi. Insbesondere an der Verwendung des Sündenbegriffs wird die­ se „Übertragungsleistung“ sichtbar. 271  Vgl. zum Begriff der „Neuheit des Lebens“ Wolter, Römer, 374: „Mit καινότης ζωῆς bezeichnet Paulus nicht ein durch Bekehrung und Taufe erneuertes Leben im Gegenüber zum vorherigen Leben. Der Ausdruck ist vielmehr genauso zu verstehen wie καινότης πνεύματος in Röm  7,4: Er ist das ‚Leben‘ selbst, das die Getauften vorher nicht hatten und das sie jetzt neu gewonnen haben.“ 272  Vgl. zur Verwendung von ὁμοίωμα Schreiner, Romans, 314: „The word ὁμοίωμα signifies that the believer’s death with Christ is a reality. We truly died with him. But the word also denotes that our death with him is ‚like‘ his, not identical in every respect. We participated in his death, but our death is not analogous to his in every respect.“ 273  Vgl. in diesem Zusammenhang Schreiner, Romans, 312, der ausführlich die Über­ setzungsmöglichkeiten des Futurs diskutiert: Handelt es sich um ein „logical future“ („we are united with him in the likeness of his resurrection?“) oder ein „genuine future“ („we shall be united with him in the likeness of his resurrection?“)? Schreiner favorisiert letztere Möglich­ keit und macht auf die paulinische Eschatologie aufmerksam: „The best solution to this dif­ ficulty is to realize that the death and resurrection of Christ as eschatological events transcend time“ (ebd.).

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Die Funktion des Sündenbegriffs in der expositio und ratio (Röm  6,1–5). Paulus fin­ giert in Röm  6,1 eine absichtlich missverständliche und „blasphemische“274 Schlussfolgerung aus Röm  5,12–21 und insbesondere aus Röm  5,20b: ‚Mehr Sünde bringt mehr Gnade‘. Diese Schlussfolgerung weist Paulus in Röm  6,2 durch eine rhetorische Frage energisch zurück: Diejenigen, die der Sünde ge­ storben sind, können nicht mehr in ihr leben. Damit geht er nun deutlich über die Argumentation von Röm  5,12–21 hinaus, denn dort wurde lediglich von der Überbietung der Sünde durch die Gnade gesprochen, jedoch nicht von ei­ nem Tod der Gläubigen. Der erklärungsbedürftige Einwand von Röm  6,2275 bil­ det also die Ausgangsthese, die Paulus durch die ratio von Röm  6,3–5 „empi­ risch“ unter Rückgriff auf die Taufe belegen wird. So nebensächlich die Ein­ gangsbehauptung, dass die Adressaten der Sünde gestorben sind (Röm  6,2 οἵτινες ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ), in diesem Zusammenhang auch erscheint, Pau­ lus setzt stillschweigend voraus, dass das „Gestorben-Sein für die Sünde“ eine Basisüberzeugung des christlichen Glaubens darstellt, die es in der folgenden Argumentation zu erörtern gilt, während die Frage von Röm  6,2 (πῶς ἔτι ζήσομεν ἐν αὐτῇ;) in den Hintergrund rückt und erst wieder in der conplexio aufgenommen wird, wo es Paulus darum geht, dass die Adressaten ihrer Be­ stimmung – „tot für die Sünde“ – entsprechen sollen. Die Funktion des Sündenbegriffs in der rationis confirmatio (Röm  6,6f). In der ratio kommt der Sündenbegriff nicht vor – Paulus stellt die Taufe als Nachvollzug des Sterbens mit Christus ins Zentrum seiner Überlegungen. In der rationis confirmatio konstruiert Paulus jedoch einen regelrechten „Aussagencluster“ zur Sünde: Röm  6,6b1: Röm  6,6b2: Röm  6,6b3: Röm  6,7:

ὅτι ὁ παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος συνεσταυρώθη, ἵνα καταργηθῇ τὸ σῶμα τῆς ἁμαρτίας, τοῦ μηκέτι δουλεύειν ἡμᾶς τῇ ἁμαρτίᾳ. ὁ γὰρ ἀποθανὼν δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας.

Thomas Schreiners Beobachtung, dass im Ausdruck παλαιὸς ἄνθρωπος Heilsund Individualgeschichte, d. h. Adam-Christus-Gegenüberstellung und die Biografie der Adressaten korrelieren,276 bestätigt sich für die ganze confirmatio: Die drei Äußerungen zur Sünde individualisieren und aktualisieren die heils­ geschichtliche Argumentation von Röm  5,12–21 auf mehreren Ebenen: 274 

Wilckens, Römer II, 8. Vgl. auch Theobald, Gnade, 124. Haacker, Römer, 127: „Wo war denn vorher davon die Rede, daß wir als Chris­ ten ‚der Sünde gegenüber starben‘?“ 276 Vgl. Schreiner, Romans, 315: „The ‚old person‘ is a redemptive-historical reality, but redemptive history should not be seperated from who we are as human beings. What we are in Adam is a corporate and salvation-historical reality but impinges on the whole of our existence.“ Vgl. wiederum Schnelle, Paulus, 362: „Die universal-mythische Darstellung bedarf der individuellen Konkretion. Für das Verhältnis von Röm  5,12–21 und Röm  6 heißt dies: Röm  5,12–21 ist die sachliche und argumentative Voraussetzung für Röm  6; Röm  6 wiederum die notwendige Explikation von Röm  5,12–21.“ 275 Vgl.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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1. Die ‚anthropologische‘ Ebene: Mit dem Ausdruck παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος (Röm  6,6a) knüpft Paulus an die Adam-Christus-Gegenüberstellung an und richtet sich an die Adressaten, ungeachtet ihres spezifischen Verständnisses von „Bekehrung, Taufe und dem neuen Leben in Christus“277. Der alte Mensch (Röm  6,6) ist mit dem σῶμα τῆς ἁμαρτίας (Röm  6,6) identisch, in­ sofern der Mensch in das Verhängnis der Adam-Christus-Gegenüberstellung eingebunden ist, weil er σῶμα ist.278 Die Feststellung, dass alle gesündigt ha­ ben (Röm  5,14: ἐφ’ ᾧ πάντες ἥμαρτον), hängt also mit der individuellen Exis­ tenz des Menschen als σῶμα zusammen. 2. Die ‚ethische‘ Ebene: Paulus beschreibt ein Dienstverhältnis des Menschen gegenüber der Sünde (Röm  6,6). Er dient ihr, sie beherrscht ihn. Damit knüpft Paulus an die Beschreibung der Sünde als Herrscherin über die Men­ schen in Röm  5,18–21 an. Als ‚ethisch‘ kann diese Ebene deswegen bezeich­ net werden, da mit dem Dienst für die Sünde eine Lebenshaltung bzw. eine Außenwirkung einhergeht. In Spiegel von Röm  6,11–14 stellt sich diese Le­ benshaltung konkret im Nachgeben gegenüber den Leidenschaften und in der Ungerechtigkeit dar (dazu mehr unten). 3. Die ‚rechtfertigungstheologische‘ Ebene: Paulus nimmt den juristischen Akt der Sanktionierung der Sünde in den Blick und erklärt: „Wer gestorben ist, ist gerechtfertigt (δεδικαίωται) von der Sünde“279, was einerseits eine geläufige Vorstellung aufgreift,280 andererseits aber ganz auf der Linie von Röm  5,21 liegt: Der Gerichtstod ist das Urteil über die Sünde – „die einzige Möglich­ keit, aus ihrem Herrschaftsbereich herauszukommen, ist offenbar der Tod“281. Für Paulus bildet dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang das Funda­ ment der Macht der Sünde über den Sünder. Koppelt man die Macht der Sünde von ihrer Folge ab, läge, wie Ulrich Wilckens zu Recht betont, die „Gefahr mythologischer Fehldeutung nahe“282 . Der Mit-Tod mit Christus 277 

Jewett, Romans, 401. Schreiner, Romans, 316: „Rather, the body is the emblem of sin that has domi­ nated those who are in Adam (8:10). Believers died with Christ so that the sinful body would no longer exercise mastery.“ Vgl. auch Wolter, Römer, 378: „Mit dem Ausdruck ‚Leib der Sünde‘ bezeichnet Paulus darum erneut in metonymischer Weise die gesamte vorbaptismale Existenz der Getauften. Der Begriff bezeichnet eine bestimmte Existenzweise und ist darum semantisch isotop mit ‚unser früherer Mensch‘.“ 279  Paulus verwendet den Ausdruck δεδικαίωται : Es geht hier um den Rechtsanspruch der Sünde im Gericht und um den Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen Sünde und Tod. Wilckens, Römer II, 7 bringt diesen Aspekt zur Geltung: Der, der gestorben ist, „ist von der Sünde rechtens los und ledig“. Der individuelle Charakter dieser Rechtfertigung wird von Schreiner, Romans, 319 pointiert festgehalten: „The use of the verb in this context, how­ ever, suggests that righteousness is more than forensic in Paul. Those who are in a right rela­ tion to God have also been dramatically changed; they have also been made righteous.“ 280 Vgl. Wilckens, Römer II, 17. Der von Wilckens stark gemachte Stellvertretungsgedan­ ke, der im jüdischen Sühneritual eine wichtige Rolle spielt, taucht jedoch hier nicht explizit auf. 281  Starnitzke, Struktur, 214. 282  Wilckens, Römer II, 18. 278 Vgl.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

begründet den Glauben an ein zukünftiges Mit-Leben mit ihm. Dabei ist συζήσομεν aber nicht in erster Linie als Hinweis auf eine Auferstehungsexis­ tenz mit Christus zu verstehen, sondern vor allem als Nachvollzug der Auf­ erweckung als „Begnadigung“ zum ewigen Leben. Dass Paulus die noch in Röm  5,12–21 heilsgeschichtlich dargestellte Sünden­ macht hier individualgeschichtlich deutet, hängt mit dem Hinweis auf die Tau­ fe in Röm  6,3–5 zusammen. Paulus setzt sie als Basisritual und Identitätsmerk­ mal der römischen Christen voraus, legt jedoch keine geschlossene „Tauftheo­ logie“ vor.283 Er will vielmehr an einen Erfahrungshorizont appellieren, den die römischen Christen teilen, was auch an der direkten Ansprache der Adressaten (Röm  6,3: ἢ ἀγνοεῖτε […]) erkennbar wird.284 Als Taufe εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ285 (Röm  6,3) bildet sie den Ausgangspunkt für die folgenden Argumentationszu­ sammenhänge, während die Sünde im eigentlichen Tauf-Abschnitt Röm  6,3–5 keine explizite Rolle spielt. Die „streng christologisch[e]“286 Interpretation der Taufe bildet also die Voraussetzung für Röm  6,6–8: Der Zusammenhang von θάνατος und ἁμαρτία ist überwunden, denn (Röm  6,7–10) die „Mitkreuzigung“ (συνεσταυρώθη) des alten Menschen bewirkt ( ἵνα) die Vernichtung des σῶμα τῆς ἁμαρτίας und die Beendigung des Dienstes für die Sünde (substantivierter AcI in Röm  6,6). Der Individualisierung der Sünde entspricht also eine Indivi­ dualisierung ihrer Überwindung im christologisch interpretierten Taufakt. 283 Vgl. Schreiner, Romans, 310: „Paul’s main concern in this text is not baptism; it is never mentioned again after verse 4. […] The emphasis is not on baptism as the means of God’s activity, although this is not excluded, but on the occasion of his work. Paul probably refers to baptism because it symbolizes dying and rising with Christ.“ 284 Vgl. Osten-Sacken, Perspektiven, 69. Vgl. Fenske, Argumentation, 204: Paulus spreche etwas an, „das die Gemeinde kennt (Taufe), aber ihr Wissen wird auch hier in seine Argumentationsrichtung umgeprägt.“ 285  Dabei weist – wie Haacker, Römer, 128 betont – εἰς τὸν θάνατον weder auf einen „Raum“ noch auf eine liturgische Tradition hin: „Was Paulus in der Fortsetzung über die christliche Existenz sagt, ist also nicht als Wirkung der Taufe (durch ihren Vollzug als Ritus) zu verstehen, sondern als Wirkung des Christusgeschehens, nämlich seines Todes und seiner Auferwekkung [sic!].“ Auf dieser Linie argumentiert auch schon Käsemann, Römer, 154f, der außerdem die These zurückweist, dass es sich bei βαπτίζειν um einen „allgemeinen Be­ griff“ handelt, der nur das „Untertauchen“ mithört, was nur „fromme Phantasie“ (aaO. 155) auf das Begrabenwerden beziehen könne. Für Käsemann steht das „[k]ognitive“ (ebd.) Ele­ ment im Mittelpunkt. 286  Vgl. ausführlich Boers, Structure, 677, der die Verzahnung von christologischen Prä­ missen und Aussagen über die Taufe untersucht und prägnant zusammenfasst: „Paul’s purpo­ se with the statement about baptism in vv. 3–4b is not to provide his readers with informati­ on about baptism as such, but, drawing on baptism as an accepted practise, to bring out those features that are relevant for what he is driving at in the first Christological statement, ‚Christ was raised from the dead by the glory of the Father‘ (v. 4cd), which he connects to those features by means of ἵνα ὥσπερ, and that clarifies what the christological statement means for his readers, ‚so also (οὕτως καί ) we might walk in newness of life‘ (v. 4e) – the ‚newess of the life‘ in Christ to which they are called.“

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

249

Die Funktion des Sündenbegriffs in der exornatio (Röm  6,8–10). Hier wird der Zusammenhang zwischen Taufe und Sündenvergebung noch einmal zuge­ spitzt. In Röm  6,8 erklärt Paulus, dass Christus der Sünde ein für alle Mal ge­ storben sei (τῇ ἁμαρτίᾳ ἀπέθανεν ἐφάπαξ), in Röm  6,9f behauptet er, dass der von den Toten erweckte Christus „nicht mehr stirbt“ (οὐκέτι ἀποθνῄσκει) und dass „der Tod ihn nicht mehr beherrscht“ (αὐτοῦ οὐκέτι κυριεύει): Die Auferwe­ ckung immunisiert Christus also gegen den Tod, so dass durch die Auferweckung als Depotenzierung des Gerichtstodes der Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sün­ de und Tod aufgelöst worden ist.287 Nur vor diesem Hintergrund lässt sich Röm  6,10 verstehen: Das Urteil über die Sünde ist ἐφάπαξ gesprochen, „übrig“ bleibt Christi auferwecktes Leben als Leben für Gott (ζῇ τῷ θεῷ). Diesem Leben entspricht das Leben der Gläubigen. Die Funktion des Sündenbegriffs in der conplexio (Röm  6,11–14). Hier wird die in Röm  6,6–10 individualisierte Adam-Christus-Gegenüberstellung auf die Ad­ ressaten angewendet. Die Applikation auf die Gläubigen (λογίζεσθε) – sie erin­ nert an das Erlassen der Sünde in Röm  4 – ist richtungsweisend: Die Gläubigen sollen sich selbst (ἑαυτούς) als diejenigen begreifen, die – wie Christus – der Sünde gestorben und für Gott lebendig sind. Für die Sünde tot zu sein, bedeutet hier offenbar, wie Christus dem Rechtsanspruch (δεδικαίωται) der Sünde ge­ nügt zu haben, also gerechtfertigt zu sein. Für Gott lebendig zu sein bedeutet „erneute Ausrichtung des Lebens auf Gott“288 , was „unter der Sünde“ unmög­ lich gewesen ist, sich nun aber in Christus verwirklichen kann.289 Dass Paulus mit ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ abschließt, ist daher einerseits analog zu Röm  5,21 als Hinweis auf die exklusive Bedeutung der Auferweckung Jesu für diesen „Wirk­ mechanismus“, andererseits als Verweis auf den neuen Lebensraum der Christen zu verstehen.290 Angesichts dieser ‚Leitapplikation‘ (Röm  6,11) muss die Frage diskutiert wer­ den, ob es den Christen möglich ist, in die Sünde zurückzufallen, so dass die Imperative in Röm  6,11–14 – die an die Sünde gerichtete Aufforderung (im Imperativ der 3. Person), nicht mehr im sterblichen Leib zu herrschen, und die an die Adressaten gerichtete Aufforderung, ihre Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit bereitzustellen – dazu dienen, dies zu verhindern. Die These von der Gemeinde als „sündenfreiem Raum“ wird vor allem vor dem Hin­ tergrund der Passage von Röm  6,1–14 und dem Verhältnis von Indikativ und Imperativ diskutiert. Ernst Käsemann versteht Röm  6,11 als Summe des Gedankengangs von 6,1– Haacker, Römer, 130 geht der ἀπολυτρώσις-Vorstellung in Röm  3,24 nach. Er be­ stimmt den Tod Jesu wohl zu Recht als „Tribut an die Sünde“ (ebd.). 288 Ebd. 289  Vgl. ebd. Jewett, Romans, 408 macht deutlich, dass die Distanz zu Gott, wie sie in Röm  1,18–3,20 aufgebaut worden ist, nunmehr umgekehrt wird, als „directionality ‚to God‘ that replaces their former orientation ‚to sin‘“. 290 Vgl. Wilckens, Römer II, 19. 287 

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

10 „mit feierlicher Wendung“291, in Röm  6,11–14 und Röm  6,15–23 stehe ganz die „mit der Äonenwende und der Taufe als deren Projektion im Einzelleben geschenkte Freiheit von der Sündenmacht“292 im Fokus. In der von Imperativen gekennzeichneten Passage 6,15–23 gehe es nun um „die Konsequenz solcher Botschaft in ihrer praktischen Be­ währung“293. Grundlegend für das Verständnis dieser Passage sei, dass die Gottesge­ rechtigkeit, die sich in der Taufe aktualisiere, als Gabe verstanden werde: „Dabei tritt aufs deutlichste zutage, daß die in den vorigen Kapiteln vorwiegend als Gabe beschrie­ bene Gottesgerechtigkeit die eschatologische Manifestation ihres Gebers ist und deshalb ebenfalls wie die Sünde den Charakter einer Existenz bestimmenden Macht hat.“294 Hinsichtlich der Imperative grenzt sich Käsemann daher dreifach ab: Es gehe Paulus erstens nicht „um Sündlosigkeit als Freiheit von Verschuldung, sondern um die von der Sündenmacht“, zweitens nicht „um eine Entwicklung zur Vollkommenheit, sondern um das ständig neue Ergreifen der einmaligen eschatologischen Heilstat der Rechtferti­ gung, weil der Mensch immer wieder und gänzlich auf Gnade angewiesen ist“, drittens konstatiert Käsemann: „Der Imperativ der sittlichen Forderung setzt […] nicht bloß den von Gottes Gabe sprechenden Indikativ voraus, sondern fällt paradoxerweise mit die­ sem letzten zusammen, sofern er zum Gehorsam als Bewährung der Gabe ruft, der sei­ nerseits ebenfalls nur geschenkt werden kann. Die Forderung ist zugleich Verheißung, weil sie letztlich nichts als Annahme der Gabe und Bekundung verlangt.“295 Umbach schließt sich Käsemann an, indem er erklärt, dass der Christ durch die Taufe in den „Heilsbereich Christi“296 gelange, „der Rest der Indikativaussagen von 6,1–11 [dient] hauptsächlich dazu, zu betonen, daß der Getaufte wirklich tot für die Herrschafts­ ansprüche der Hamartia ist, um dann, besonders mit der Metaphorik von ‚herrschen‘ und ‚dienen‘ im imperativisch geprägten Teil 6,12–23, das neue Sein ‚in Christus‘ zu beschreiben.“297 Bei der Interpretation der Imperative konzentriert sich Umbach jedoch vor allem auf die Bedeutung der Gerechtigkeit als Gegenbegriff zur Sünde und stellt in Anschluss an Käsemann pointiert fest, dass Gerechtigkeit und Gott „als Bezeichnung der Macht, die ins ‚Leben‘ führt, sozusagen Synonyma sind“298 , so dass die Sünde als „Gegenspielerin Gottes“ angesichts des in Röm  6,1–11 angezeigten Herrschaftswechsels „endgültig ihre Macht verloren hat“.299 Die Interpretation der Imperative müsse strikt von Röm  6,12 aus erfolgen. Nach Umbach ziehe der Satz μὴ οὖν βασιλευέτω ἡ ἁμαρτία ἐν τῷ θνητῷ ὑμῶν σώματι „die ethische Konsequenz aus der ontologischen Feststellung 6,1–11: νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ“.300 Umbach schließt sich daher der Einschätzung Käsemanns an: „Das bedeutet aber, daß der Imperativ in den Indikativ integriert ist und keineswegs ‚paradox‘ neben ihm steht.“301 Michael Wol­ ter meint hingegen: „Die Freiheit von der Herrschaft der Sünde ist ein eschatischer status quo (sein Zustandekommen hat Paulus in V. 1–11 erklärt), der nicht erst noch erreicht 291 

Käsemann, Römer, 153. AaO. 154. 293 Ebd. 294 Ebd. 295  Alles aaO. 164 f. 296  Umbach, Christus, 249. 297  AaO. 249 f. 298  AaO. 257. 299 Ebd. 300  AaO. 253. 301 Ebd. 292 

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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werden muss, sondern den es zu bewahren und nicht zu verlieren gilt. Hierauf, die Frei­ heit von der Herrschaft der Sünde nicht wieder aufzugeben, richtet sich die paränetische Weisung.“302 Thomas Schreiner versucht, die Frage mit dem Hinweis auf die paulini­ sche Eschatologie, d. h. auf den „already-but-not-yet character of Paul’s thought“303 zu klären, und meint, dass, solange die Auferstehung noch nicht vollzogen sei, die Gläubi­ gen „are not liberated in every respect from the present evil age“304. Er erklärt weiter, dass nicht die Gegenwart der Sünde, wohl aber ihre Herrschaft über die Gläubigen ge­ brochen ist,305 wobei er sich aber gerade in diesem Punkt nicht auf Röm  6,11–14 be­ zieht, sondern auf 1Kor 15,20–28 rekurrieren muss.

Zunächst ist festzuhalten, dass Paulus den Herrschaftswechsel von Sünde zu Gott, wie er ihn in Röm  6,11 auf die Adressaten zuspitzt, radikal auffasst und keine „Spielräume“ offenlässt: Die heidenchristlichen Adressaten sind für die Sünde tot und für Gott lebendig. Nirgendwo im Römerbrief wird diese Aussa­ ge revidiert oder relativiert. Ganz im Gegenteil: In der folgenden Argumenta­ tion von Röm  6,15–7,6 wird ein Ausschließlichkeitsprinzip formuliert, das die Aussage von Röm  6,11 regelrecht zementiert: Im Zusammenhang mit der Frage von Röm  6,15, ob ein „Sündigen unter der Gnade“ möglich ist, behauptet Pau­ lus, dass der Mensch nicht gleichzeitig der Sünde und der Gerechtigkeit dienen kann (Röm  6,15–23). In Röm  7,7–8,4 korreliert der Herrschaftswechsel mit ei­ nem Wechsel des Willenssubjekts: Die Sünde besetzt das „Personenzentrum“ des Menschen (vgl. Röm  7,7–8,4). Diese „Besessenheit“ wird durch die Gabe des πνεῦμα aufgehoben – der Geist qualifiziert die heidenchristlichen Adressa­ ten als Kinder Gottes, deren Leib „wegen der Sünde“ tot ist (Röm  8,10). Die von Gott Berufenen, d. h. diejenigen, die unter der Gnade stehen, können also nicht unter der Sünde stehen, wie auch Udo Schnelle pointiert bemerkt: „Die Gemeinde ist ein sündenfreier Raum, weil die Glaubenden und Getauften zu Gott und seiner Gerechtigkeit gehören und dem Kyrios Jesus Christus unterste­ hen.“306 Dass die Getauften der Sünde gestorben und lebendig für Gott sind, erweist sich folglich als eine i. e. S. dogmatische Aussage, deren Gültigkeit durch die Argumentation von Röm  6,1–10 garantiert wird. Damit setzt sich in der Argumentation von Röm  6,1–14 fort, was sich in Röm  5,12–21 bereits ange­ bahnt hat: Die Sünde stellt einen formal-theologischen Begriff dar, insofern mit ihr ein Herrschaftsbereich gekennzeichnet wird, dem die Adressaten keinesfalls zugerechnet werden können.307 302 

Wolter, Römer, 392. Schreiner, Romans, 317. 304 Ebd. 305  Vgl. ebd. 306  Schnelle, Transformation, 66f und Röhser, Herrschaft, 107. 307  Vgl. in diesem Sinne Wolter, Römer, 380 in Bezug auf Röm  6,7: „Es geht ihm [Pau­ lus] nicht um die Lossprechung von den Sünden, sondern um die Befreiung von der Herr­ schaft der Sünde.“ Noch prägnanter Schnelle, Transformation, 66: „Freiheit von der Sünde bedeutet bei Paulus nicht Abwesenheit von Fehlverhalten, sondern weitaus grundsätzlicher, daß Christen dem Bereich der Sünde nicht mehr angehören.“ 303 

252

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Wenn also in Röm  6,11 alles hinsichtlich der Zuordnung der Adressaten zu Sünde oder Gott entschieden ist, welche Funktion haben die imperativischen Formen in Röm  6,11–14a? Röm  6,12f fordert dazu auf, sich Gott zur Verfügung zu stellen – die Sünde solle nicht im „sterblichen“ Leib herrschen, da sonst die Gefahr bestehe, den ἐπιθυμίαι zu folgen.308 Zudem sollen (Röm  6,13) die Glie­ der nicht der ἁμαρτία, sondern τῷ θεῷ zur Verfügung gestellt werden, nicht als ὅπλα ἀδικίας, sondern als ὅπλα δικαιοσύνης. Ἐπιθυμίαι und ἀδικία weisen beide in die frühere Argumentation zurück: Ἐπιθυμίαι begegnete bereits in Röm  1,24 (ἐπιθυμίαι τῶν καρδιῶν). Hier waren die Leidenschaften Kennzeichen der gefal­ lenen Menschheit. Und auch die ἀδικία ist nach Röm  1,18 charakteristisch für denjenigen Menschen, der sich von Gott abwendet. Paulus lässt also durchaus die ethischen Konkretionen (ἀδικία und ἐπιθυμίαι) der Sünde anklingen.309 Die δικαιοσύνη bildet nun den Gegenbegriff zu ἀδικία und ἐπιθυμία,310 wie vor allem Röm  6,13 zeigt, wo der existentielle Statuswechsel der Gläubigen von den Toten zu den Lebenden (ἐκ νεκρῶν ζῶντας) für Gott (τῷ θεῷ) die entschei­ dende Vorbedingung für eine Überwindung der Sünde311 darstellt. τὰ μέλη

ὅπλα ἀδικίας

τῇ ἁμαρτίᾳ

ἑαυτοὺς

ἐκ νεκρῶν ζῶντας

τῷ θεῷ

τὰ μέλη

ὅπλα δικαιοσύνης

τῷ θεῷ

Tabelle 37: Semantische Oppositionen in Röm  6,13

Auch die Überwindung der Macht der Sünde ist also aufs Engste verbunden mit der Darstellung in Röm  1,18–3,20, da Paulus in Röm  6 als Gegenbegriff zur Sünde die δικαιοσύνη (ὅπλα δικαιοσύνης) wählt, die in Röm  1,16 als Leitthema des Briefes bestimmt worden war. Deutlich wird also in Röm  6,11–14: Mit dem Tod für die Sünde enden Ungerechtigkeit und der Gehorsam gegenüber den Begierden. Damit ist aber noch immer nicht klar, welche Funktion die Imperative hin­ sichtlich der Feststellung von Röm  6,11 haben – dass die Christen für die Sünde tot sind und für Gott leben – und ob es möglich ist, dass die Adressaten in die Sünde „zurückfallen“.312 Wenn Wolter konstatiert, dass es Paulus darum gehe, 308  Grammatisch-formal ist die Sünde in Röm  6,12 Subjekt des Imperativs/Jussivs in der 3. Person Singular: „Die Sünde möge nicht mehr in eurem sterblichen Leib herrschen.“ 309 Vgl. Osten-Sacken, Perspektiven, 71 f. Vgl. auch Wolter, Paulus, 370 f. 310 Vgl. Wolter, Römer, 391. 311 Vgl. Starnitzke, Struktur, 219 und Wilckens, Römer II, 20: „[...] in jedem Augen­ blick geht es darum, Gott in Taten der Gerechtigkeit zu dienen. Dem entspricht, daß in V13b zuerst von uns selbst (ἑαυτοὺς ) und danach von unseren Gliedern die Rede ist. Wir selbst gehören nach V11 Gott, nicht mehr der Sünde.“ Vgl. Hagenow, Heilige, 199: „Nachfolge meint hier: Die Sündlosigkeit Jesu und sein Auferstehungsleben, das nicht mehr durch die Macht der Sünde und des Todes beeinträchtigt ist, an sich selbst zu verifi-zieren.“ 312  Tsui, Juxtaposition, versteht das in Röm  6,11–14 zu Tage tretende „Indikativ-Impera­

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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dass die Adressaten „diese ‚Neuheit‘, die als solche ja prinzipiell unanschaulich ist (niemand kann einem Getauften ansehen, dass er getauft ist), ethisch zur Anschauung bringen [sollen]“313, muss kritisch zurückgefragt werden, inwie­ fern dies den Adressaten durch die Imperative von Röm  6,11–14 tatsächlich er­ möglicht wird. M.E. forciert Paulus in Röm  6,11–14 keine explizite Paränese oder Warnung vor dem Rückfall in die Sünde – die Verse bilden vielmehr einen Resonanzraum für Röm  6,11: Sie internalisieren die Feststellung, dass mit der Taufe tatsächlich der entscheidende Wechsel vollzogen ist,314 und dienen der Af­ firmationen der in Röm  6,11 begründeten Gottesbeziehung: Der Tod für die Sünde und das Leben für Gott stellen eine von Gott erschlossene Existenzmöglich­ keit dar.315 Im Bild von Gottes Inanspruchnahme der Glieder des Menschen als „Waffen“ artikuliert sich der gleiche Autonomieverlust, den Paulus für den Menschen unter der Sünde konstatiert (Röm  3,9; 5,12–21; 7,7–25): So wie die Sünde den Menschen in Anspruch nimmt und seinen Willen und Handeln steuert, so bemächtigt sich Gott des glaubenden Menschen, den er zuvor der Herrschaft der Sünde entrissen hat – der Mensch kann seine Glieder, d. h. die Interaktionsmedien zu seiner Außenwelt, Gott lediglich überlassen. Die „Parä­ nese“ ist also an dieser Stelle so inkonkret, weil die Unmittelbarkeit des Gottes­ tiv-Schema“ im Kontext der paulinischen Apokalyptik und von Röm  12,2: Die Verwendung des Begriffs λογίζομαι sei mit λογική, die Verwendung der Neuheit des Geistes in Röm  7,6 sei mit den Aussagen zur Einsicht in Gottes Willen verwandt und stoße eine Internalisierung der apokalyptischen Vision des Todes von der Sünde an (vgl. aaO. 304) – Tsui fasst zusam­ men: „[…] both 6:11 and 12:2 affirm that the new life operates in believers by way of the il­ lumination of the νοῦς through Christ“ (ebd.). Doch worauf der Imperativ konkret zielt, wird auch bei Tsui nicht deutlich (aaO. 311): „[…] his imperativ exhorts to concrete actions in accordance with the perceptual shift and thus strengthens the perceptual shift.“ 313  Wolter, Römer, 389. Er setzt außerdem hinzu (aaO. 389f ): „Sie sollen ab jetzt lassen, was ihr Leben vorher gekennzeichnet hat, und tun, was ihre neugewonnene Identität erkenn­ bar macht. […] Im Klartext: Wer getauft ist und kein Unrecht tut, macht auf diese Weise deutlich, dass er nicht mehr unter der Herrschaft der Sünde steht, und hält die Sünde von sich fern.“ Diese Interpretation lädt der conplexio von Röm  6,11–14 sehr viel auf – Paulus wird gerade in der Beschreibung des „Tuns der Gerechtigkeit“ nicht so konkret wie in der Be­ schreibung der Manifestationen der Sünde. 314  Dies hat auch eine gesetzeskritische Tendenz: Die Überwindung der Leidenschaften und Ungerechtigkeit erfolgt in Röm  6,11–14 dezidiert ohne Gesetz (Röm  6,14b) und nur über die Rückbindung an Christus. Gleichwohl ist das Gesetz auf diese Manifestationen „bezo­ gen“: Nach Röm  7,7 ist es das Gesetz, das die Leidenschaft, das Begehren, weckt, und nach Röm  7,20–25a ist der Konflikt des Ich ein Konflikt der Glieder gegen den inneren Men­ schen. In Röm  6,11–14 wird diesem Konflikt die Grundlage entzogen, weil die Adressaten unmittelbar ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ verortet werden (Röm  6,11). 315 Vgl. Schnelle, Transformation, 67: „Der Imperativ ist deshalb weitaus mehr als eine Forderung, er formuliert eine Wesensbestimmung: die Christen können als von der Sünde getrennte und vom Geist bestimmte Menschen den Willen Gottes erfüllen.“ Die pneumato­ logische Lesart von Röm  6,1–14 mag sich durchaus von Röm  8 her nahelegen, doch die anti­ nomistische Spitze darf dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Vor allem bei Lyu, Sünde, 320–322 gerät Röm  6,1–14 – weil er den Abschnitt konsequent durch die Brille von Römer 8 liest – zu Unrecht zum pneumatologischen Programmtext.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

verhältnisses so inkonkret ist.316 Mit Röm  6,11–14 fordert Paulus seine Adressa­ ten gewissermaßen zur Annahme seiner Argumentation auf, hält diese doch die entscheidende Lösung des eigentlichen, theologischen Problems bereit, das die Adam-Christus-Gegenüberstellung nötig gemacht hat und die folgenden Ab­ schnitte bestimmen wird: das Problem der Geltung des Gesetzes. 5.2.3. Zwischenbilanz In Röm  6,1–14 wendet Paulus mit Hilfe des Sündenbegriffs die Adam-Chris­ tus-Gegenüberstellung auf seine heidenchristlichen Adressaten an. Materialiter erscheint die Sünde in Röm  6,1–14 als Ungerechtigkeit und Herrschaft der Lei­ denschaften, doch ihre eigentliche Bedeutung für die Argumentation besteht darin, dass sie unmittelbar und bereits in der Vergangenheit durch die Taufe und durch den mit der Taufe verbundenen Herrschaftswechsel überwunden worden ist. Dieser Unmittelbarkeit entspricht eine hintergründige Gesetzeskritik, die vor dem Hintergrund von Röm  5,20f naheliegt: Das Gesetz hat keine Funktion hinsichtlich der Überwindung der Sünde und damit für die heidenchristlichen Adressaten jede Relevanz verloren. Gott übt seine Herrschaft unmittelbar über sie aus und bemächtigt sich ihrer Glieder, um sich Geltung zu verschaffen und seine Gerechtigkeit zu realisieren. In den folgenden argumentationes wird Paulus diese Gesetzeskritik forcieren.

5.3. Röm  6,15–7,6: Drittes Argument gegen das Gesetz – die Befreiung aus dem Herrschaftsbereich der Sünde als Eintritt in den Dienst für Gott Röm  6,15–7,6 profiliert die vorige Argumentation dahingehend, dass eine Par­ tizipation an der durch Christus erschlossenen Gnade und dem Tod für die Sünde den Tod für das Gesetz miteinschließt.

316 Nach Price, Romans, 69 schließe sich an Röm  6,11–14 eine „foolish question“ an: „If Christ died for us, and we with him, according to God’s decision and not our own, what is there left for one to do?“ Diese Frage taucht mittelbar als Anfrage aus der gesetzesobservan­ ten Richtung in Röm  6,15 auf, stellt sich aber auch als generelle hermeneutische Anfrage an Röm  6,11–14. Price macht zwei „safeguards against anyone drawing this false inference“ (ebd.) aus. Zum einen: „The new life in Christ must necessarily validate itself in the obedien­ ce of the believer: to live to God is to adopt a radically new ethical commitment ‚to walk in newness of life‘ (6:4).“ Zum anderen: „Paul’s use of the future tenses in reference to believers rising with Christ was doubtless deliberated (6:5,8,22 f.), a necessary inference from his eschatology.“ In Anschluss an Price könnte man die Unanschaulichkeit der in Röm  6,11–14 vorgebrachten Imperative im Kontext der Gesetzeskritik lesen – dem neuen Leben entspricht kein Gesetz, sondern ein Gehorsam. So wie der Übergang vom Sein unter der Sünde zum Sündigen fließend ist, so auch das Leben unter der Gnade zum Handeln unter der Gnade – wie sich das Leben unter der Sünde unmittelbar und, ohne dass der Mensch es beeinflussen könnte, realisiert, so auch das Leben für Gott.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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5.3.1. Argumentationsanalyse: Röm  7,4–6 als Skopus der in Röm  6,15 beginnenden Argumentation Mit der conplexio von Röm  6,11–14 ist die Argumentation von Röm  6,1–14 zu ihrem Ziel gekommen. Wenn mit Röm  6,15 eine neue argumentatio in Gang gesetzt wird, kommt aus attentionaler und struktureller Sicht Röm  7,4–6 als Zusammenfassung und Skopus dieser Argumentation in Frage. Zwar weist Röm  6,15–23 eine hohe Dichte von Verbformen und Pronomina in der zweiten Person Plural auf, scheint also den applikativen Passagen bzw. den conplexiones zuzurechnen zu sein: ὑμῶν (Röm  6,14), ἐστε (Röm  6,14), οἴδατε (Röm  6,16), παριστάνετε (Röm  6,16), ἐστε ᾧ ὑπακούετε (Röm  6,16) etc. Die Zwischenfrage von Röm  6,15 müsste dann als eine Art Weiterführung der Ap­ plikation von Röm  6,11–14 verstanden werden.317 Doch ist unter inhaltlichen Gesichtspunkten innerhalb des Abschnitts Röm  6,11–23 zu differenzieren. In Röm  6,11–14 konnte man insofern von einer echten Applikation sprechen, als Paulus unter Rückgriff auf die charakteristische Wendung οὕτως καὶ ὑμεῖς sowie Imperativ- und Jussivformen die Argumentationsergebnisse auf die Adressaten anwendete. Anders verhält es sich mit Röm  6,16–18: Paulus bezieht sich auf ein „Wissen“ (Röm  6,16: οὐκ οἴδατε) und die Vergangenheit der Adressaten (Röm  6,17b: ὅτι ἦτε δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας) vor der Taufe. Ähnlich verhält es sich mit Röm   6,19–23. Eingeleitet durch eine auffällige Wendung (Röm   6,19a: Ἀνθρώπινον λέγω διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς σαρκὸς ὑμῶν) nimmt Paulus auf die Ver­ gangenheit der heidenchristlichen Adressaten, ihren Dienst für die Sünde und Unreinheit, und ihre Bekehrung in Christus Bezug.318 317 So

Wolter, Römer, 405, der Röm  6,15–23 als Erweiterungsstück zu Röm  6,12–14a versteht, das Paulus angesichts des Nachsatzes von Röm  6,14b „aus dem Ruder läuft“ (ebd.): „Diese Begründung (‚denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade‘) führt dazu, dass ihm ein neues mögliches Missverständnis einfällt (V. 15a–c), für dessen Zurück­ weisung er dann bis V. 18 braucht. Weil dadurch aber sein ursprüngliches Darstellungsziel aus dem Blick geraten ist, wiederholt er zunächst noch einmal sprachlich nur notdürftig variiert die Aufforderung von V. 13 in V. 19b–c“ (aaO. 405f ). Käsemann, Römer, 180 hat wiederum Schwierigkeiten, Röm  7,1–6 sinnvoll in den Kontext zu integrieren und zeigt sich sichtlich irritiert über die Kürze und Unausgewogenheit der Passage: „Nach der Theologie des Apos­ tels müßte die Argumentation des Briefteils hier ihren Höhepunkt erreichen, also auch wie in Gal sich mit einer ausführlichen Darlegung verbinden. Die captatio benevolentiae am Anfang und der folgende Vergleich sind tatsächlich nur sinnvoll, wenn Pls sich der Wichtigkeit und Problematik des neuen Themas durchaus bewußt war. Um so überraschender wirkt schon die Kürze, mit der es abgehandelt wird, noch unbegreiflicher die scheinbare Lieblosigkeit der Sache gegenüber. Der Vergleich hinkt nicht bloß. Er führt über eine einfache Feststellung inhaltlich nicht hinaus.“ Luz, Auf bau 176 weist Röm  7,1–6 und 6,15–23 als zwei Argumenta­ tionen aus, meint jedoch: „7, 5 f. ist zugleich sinngemäßer Abschluss der beiden Abschnitte, die vorangehen, als auch Überschrift über die folgenden Darlegungen.“ Auch Umbach, Christus, 268 scheint unentschlossen: „Röm  7,1–6 ist nicht mehr zu Kap.  6 zu ziehen, obwohl hier eine in 6,15 gestellte rhetorische Frage mit der Alternative οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον ἀλλ’ ὑπὸ χάριν weiter verfolgt wird, die dort mit μὴ γένοιτο abgeschmettert war. Das Thema des Nomos beginnt hier.“ 318  Ein Wechsel der Adressaten bzw. Fragesteller ist jedoch nicht angezeigt. Wilckens,

256

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Dass Röm  6,15–23 nicht der Weiterführung der Applikation von Röm  6,11–14 dient, sondern eine eigenständige Beweisführung darstellt, ist auch daran erkenn­ bar, dass zwischen Röm  6,15–7,6 und 6,1–14 eine bemerkenswerte strukturelle Parallelität besteht: Auftakt, Verlauf und Ziel der Argumentationen ähneln sich. Röm  6,1ff 1a Τί οὖν ἐροῦμεν; 1b1 ἐπιμένωμεν τῇ ἁμαρτίᾳ, 1b2 ἵνα ἡ χάρις πλεονάσῃ;

Röm  6,15ff 15a Τί οὖν;

Argumentationssegment Einleitungsfrage zum Anzeigen des Neueinsatzes Zugespitzte Eingangsfrage 15b1 ἁμαρτήσωμεν, 15b2 ὅτι οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον bzw. zu widerlegende These ἀλλ’ ὑπὸ χάριν;

2a μὴ γένοιτο. 15c μὴ γένοιτο. 2b1 οἵτινες ἀπεθάνομεν - fehlt τῇ ἁμαρτίᾳ, 2b2 πῶς ἔτι ζήσομεν ἐν αὐτῇ; 3a ἢ ἀγνοεῖτε 3b1 ὅτι, 3b2 ὅσοι ἐβαπτίσθημεν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν, 3b1‘ εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ ἐβαπτίσθημεν; - fehlt -

6,11–14

16a οὐκ οἴδατε 16b ὅτι 16c ᾧ παριστάνετε ἑαυτοὺς δούλους εἰς ὑπακοήν, 16b‘ δοῦλοί ἐστε ᾧ ὑπακούετε, […] 17a χάρις δὲ τῷ θεῷ 17b1 ὅτι ἦτε δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας ὑπηκούσατε δὲ ἐκ καρδίας εἰς 17b2 ὃν παρεδόθητε τύπον διδαχῆς, 18 ἐλευθερωθέντες δὲ ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ.  7,4–6

Abwehrformel Spezifizierung der Abwehr­ formel in Form einer positiven Bestimmung der Adressaten (ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ) Rekurs auf die Enzyklopädie der Adressaten (Taufe bzw. Weltwissen).

Positive Bestimmung der Adressaten als Spezifizierung der Abwehrformel in 6,17ff, in 6,1ff s. o.

Abschluss mit οὕτως/ ὥστε-καὶ-ὑμεῖς-Formel

Tabelle 38: Die Argumentationsstrukturen von Röm  6,1–14 und 6,15–7,6 im Vergleich Römer II, 34 versteht die Frage als einen „Einwand des jüdischen Partners […], der dabei bleibt, daß aus der Antithese zwischen Tora und Gnade nur eine Aufforderung zu praktischer Gesetzlosigkeit folgen könne.“ Ähnlich meint auch Schreiner, Romans, 329, dass Röm  6,1 wie auch Röm  6,15 an „Jewish Christian opponents“ gerichtet sei. Wolter, Römer, 394 zu­ folge hat das „Wir“ von Röm  6,1 „die Gnade noch vor sich“, während das „Wir“ von Röm  6,15 bereits unter der Gnade stehe und frage, ob „seinem Sündigen nunmehr nichts entgegen­ steht“. Vgl. auch Esler, Conflict, 221: „The references to the law in vv. 14 and 15 do not mili­ tate against Paul focusing here on non-Judeans, since in these verses the law functions to specify an alternative to grace available in the present, not an aspect of their experience in the past.“

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

257

Die in der 2. Person Plural gehaltene Passage Röm  6,16–23 entspricht struktu­ rell der Taufpassage von Röm  6,1–10. Röm  6,15–7,6 stellt also offenbar eine ei­ genständige, abgeschlossene Argumentation dar. Unter der Voraussetzung, dass es sich bei Röm  6,15–23 um eine Explikation handelt, hebt sich Röm  7,4–6 als conplexio ab, denn Paulus greift auf die Formel ὥστε, ἀδελφοί μου, καὶ ὑμεῖς (Röm  7,4) zurück. Er stellt fest, dass die heiden­ christlichen Adressaten für das Gesetz zu Tode gebracht wurden und nun je­ mand anderem zugehörig sind (εἰς τὸ γενέσθαι ὑμᾶς ἑτέρῳ) – Gott oder Christus –, damit sie für Gott Früchte bringen ( ἵνα καρποφορήσωμεν τῷ θεῷ).319 Die Applikationsformel in Röm  7,4 leistet also in der Tat die Übertragung der Rechtssituation, wie sie in Röm  7,1 in den Blick genommen und in Röm  7,2f durch das Beispiel der Frau, die nach dem Tod ihres Ehemannes vom Gesetz befreit ist, belegt wurde. „So auch ihr“ heißt also in erster Linie „wie derjenige, der gestorben ist“.320 Getragen wird diese Applikation von semantischen Ent­ sprechungen: νόμος, ἀποθνῄσκω und καταργέω sind die zentralen Begriffe, die von der Rechtssituation, wie sie in Röm  7,1–3 geschildert wird, auf die Adres­ saten in Röm  7,4–6 übertragen werden. Insbesondere Röm  7,4 und 7,6 halten fest, dass der Tod der Adressaten eine Beseitigung des Gesetzes nach sich zieht. Röm  7,4–6 greift aber – über 7,1–3 hinaus – auf entscheidende Begriffe und Motive von Röm  6,15–23 zurück: Wahrscheinliche conplexio Die Argumentation, die zur conplexio hinführt (Röm  7,4–6) (Röm  6,15–23) 4a διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ 23b […] τὸ δὲ χάρισμα τοῦ θεοῦ ζωὴ αἰώνιος ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τῷ κυρίῳ ἡμῶν. 4b1 εἰς τὸ γενέσθαι ὑμᾶς ἑτέρῳ Parallele Dativkonstruktionen über παριστάνετε (16c), ὑπακούετε (16b), ἐδουλώθητε (18), vgl. auch eine ähnliche Formulierung in 6,11: ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ und – bezogen auf Christus in 6,10: ὃ δὲ ζῇ, ζῇ τῷ θεῷ. 4b3 ἵνα καρποφορήσωμεν τῷ 21a τίνα οὖν καρπὸν εἴχετε τότε; 22a ἔχετε τὸν καρπὸν ὑμῶν εἰς ἁγιασμόν θεῷ 5c εἰς τὸ καρποφορῆσαι τῷ θανάτῳ 319 Diese conplexio muss angesichts der Argumentation von Röm  6,1–14 als eine Bekräfti­ gung der Freiheit der Heidenchristen vom Gesetz gelesen werden: Das Gesetz hat für die heidenchristlichen Adressaten keine Relevanz mehr, denn sie unterstehen unmittelbar der Herrschaft Gottes. Die in der 1. Person Plural gehaltenen Verse Röm  7,5f präzisieren diesen Zusammenhang, wobei sich wiederum eine Gegenüberstellung von Einst und Jetzt ergibt (ὅτε und νυνί ). In der Vergangenheit (ὅτε) bilden Fleisch, Leidenschaften, Sünden, Gesetz und Früchte für den Tod eine wirksame Einheit: Das Sein im Fleisch ist der Grund für die Belebung der Leidenschaften der Sünden durch das Gesetz in den Gliedern des Menschen (vgl. Röm  6,11–14). 320  Vgl. zur Logik der Übertragung des Beispiels in Röm  7,4 den Exkurs weiter unten.

258

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

5a ὅτε γὰρ ἦμεν ἐν τῇ σαρκί 5b τὰ παθήματα τῶν ἁμαρτιῶν 5b ἐν τοῖς μέλεσιν ἡμῶν 6b δουλεύειν ἡμᾶς

19a διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς σαρκὸς ὑμῶν ἁμαρτία in 6,16d; 17b1; 18; 20a; 22a; 23a.

19b1 παρεστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ 16c ᾧ παριστάνετε ἑαυτοὺς δούλους εἰς ὑπακοήν, 16b‘ δοῦλοί ἐστε ᾧ ὑπακούετε, 19b1 παραστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ­δικαιοσύνῃ εἰς ἁγιασμόν

Tabelle 39: Semantische Entsprechungen zwischen Röm  6,15–23 und 7,4–6 Zur Tabelle: Das christologische Motiv (Röm  7,4a) schließt an Röm  6,23 an: Die Ermöglichung des Dienstes für die Gerechtigkeit liegt im Heilswerk Christi begründet. Die Konstruktion eines dativus possessivus in Röm  7,4b1 hat keine direkten Entsprechungen in Röm  6,15–23, doch „Dienen“ und „Leben für jemanden“ (Röm  6,11) erinnern an diese Wendung. Das „Erbringen von Frucht“ (Röm  6,4b3.5c) ist für die Gegenüberstel­ lung des Dienstes in Röm  6,15–23 konstitutiv gewesen. Der Ausdruck ἐν τῇ σαρκί (Röm  6,5a) in der Applikation hat zumindest eine begriffliche Entsprechung in Röm  6,19a, wenn Paulus erklärt, er rede menschlich „wegen der Schwäche eures Fleisches“. Kons­ titutiv für Röm  6,15–23 ist auch die Sündenthematik, die in Röm  6,5b nur gestreift wird, was allerdings nicht überrascht, wenn Röm  7,4–6 vor allem die gesetzeskritische Tendenz der Argumentation zuspitzen und die Prämissen der Sündenargumentation nicht noch einmal reaktivieren möchte – die Sünde ist Vergangenheit, sie gehört zum ὅτε γὰρ ἦμεν. Auch der Glieder-Begriff ist für die Passage von Röm  6,15–23 zentral gewesen.

Die Freiheit vom Gesetz, wie sie in Röm  7,4.6 forciert wird, wurzelt also seman­ tisch und thematisch in Röm  7,1–3, der Wechsel des Dienstes – von der Sünde zur Gerechtigkeit –, d. h. die „Neuheit des Geistes“ (Röm  7,6) wird aber in Röm  6,15–23 grundgelegt.321 Die attentional herausragende Passage Röm  7,4– 6 kommt also als conplexio der ganzen, in Röm  6,15 beginnenden Argumentati­ on in Frage. Ihr Ziel wäre dann der Beweis, dass die Adressaten sich von den Forderungen nach Gesetzesobservanz abgrenzen können, ohne der Sünde an­ heim zu fallen. Oder zugespitzt ausgedrückt: Das Gesetz hat keine Macht über die heidenchristlichen Adressaten und sie leben in der Neuheit des Geistes – was aber eben auch nicht bedeutet, dass sie sündigen könnten. Röm  6,15–7,3 führt als zusammenhängende Argumentation schrittweise zur conplexio Röm  7,4–6 hin. Es liegt eine deutlich segmentierte und kohärente Be­ weisführung vor. Dabei bildet auch Röm  6,19b, wo der νόμος-Begriff explizit auftaucht, keine Ausnah­ me: Die Bereitstellung der Glieder für die Unreinheit in Röm  6,19b wird mit dem perpetu­ ierenden Dienst für die Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit dargestellt, ist jedoch unzweideu­ tig in der Vergangenheit verortet, d. h. in Röm  6,15–23 wird das Problem des Gesetzes nicht gelöst, sondern lediglich festgestellt, dass der frühere Dienst für die Sünde gleichzeitig einen Gesetzesverstoß darstellt – das ist natürlich kein neuer Gedanke: Die Sünde der Heiden wird sanktioniert, auch wenn sie das Gesetz nicht kennen (vgl. vor allem Röm  2 ,12). 321 

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

259

Zur Segmentierung. Die Passage Röm  6,15–7,6 ist durch metakommunikative Ausdrücke gegliedert. In Röm  6,15 leitet Paulus mit der charakteristischen For­ mel τί οὖν; ein. Röm  6,16 hebt sich durch den Ausdruck οὐκ οἴδατε ab. In Röm  6,19 scheint Paulus neu einzusetzen, wenn er erklärt: Ἀνθρώπινον λέγω διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς σαρκὸς ὑμῶν. Zu Röm  7,1 leitet Paulus mit ἢ ἀγνοεῖτε („oder wisst ihr nicht“) über und zeigt damit an, dass er voriges mit anderen Worten fortsetzt.322 Die conplexio von Röm  7,4–6 hebt sich durch die Wendung ὥστε, ἀδελφοί μου, καὶ ὑμεῖς vom vorigen ab. Zur Interdependenz der Segmente. Der conplexio von Röm  7,4–6 entspricht ein thetisches Zentrum in Röm  6,15. Hier fragt Paulus nach dem Zusammenhang von Sünde und Gesetz: „Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?“ Paulus impliziert, dass das Sündigen ὑπὸ χάριν ausgeschlossen ist. Die Gnade unterbindet die Sünde, was zwar auch das Gesetz für sich beansprucht, aber nicht durchsetzen kann. Die in Röm  6,15 gestellte Frage wird erst mit dem Verweis auf die überwundene Herrschaft des Fleisches und das Wandeln in der Neuheit des Geistes in Röm  7,4–6 endgültig zurückge­ wiesen.323 Röm  6,15 stellt also das argumentative Pendant zu Röm  7,4–6 dar und fungiert als expositio. Der folgende Gedankengang reicht bis Röm  6,18. Eine Binnendifferenzie­ rung ist nicht angezeigt, denn es wäre nicht sachgemäß, zwischen den Erwä­ gungen zur Exklusivität eines Dienstverhältnisses (Röm  6,16) und der Übertra­ gung auf den Herrschaftswechsel hinsichtlich der Adressaten (Röm  6,17f ) zu unter­ scheiden. Das Argument ergibt sich vielmehr aus der Gegenüberstellung der Möglichkeit (Röm  6,16d: ἤτοι ἁμαρτίας εἰς θάνατον ἢ ὑπακοῆς εἰς δικαιοσύνην) und der Feststellung der Wirklichkeit (Röm  6,17b: ὅτι ἦτε δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας ὑπηκούσατε δὲ ἐκ καρδίας εἰς ὃν παρεδόθητε τύπον διδαχῆς). Der Dienst für die Sünde liegt für die heidenchristlichen Adressaten eindeutig in der Vergangen­ heit, Gehorsam gegenüber dem τύπος διδαχῆς und der Dienst für die Gerechtig­ keit sind Realität.324 Röm  6,16–18 begründet hinsichtlich Röm  6,15 in erster Linie die Unmöglichkeit des Sündigens unter der Gnade – die Gesetzesfrage wird vorerst nicht weiterverfolgt. Paulus impliziert aber, dass der Dienst der Gerechtigkeit, der sich aus dem Christusglauben ergibt, dem ὑπὸ νόμον insofern entsprechen muss, als das Leben ὑπὸ χάριν die Sünde genauso ausschließt wie das Leben ὑπὸ νόμον (was es faktisch natürlich nicht tut, wie Paulus in Röm  5,20f 322  Nirgendwo greift Paulus im Römerbrief auf ἤ zurück, um eine Argumentation einzuleiten (vgl. Röm  1,18; 2,9; 3,1; 4,1; 5,12; 6,1), im Gegenteil: Die einzelnen argumentationes sind sonst deutlich voneinander abgegrenzt. Auch in Röm  6,3 leitet Paulus über ἢ ἀγνοεῖτε ein Argumentationssegment ein, das eine These begründet, den früheren Gedankengang also fortsetzt. 323 Vgl. Reed, Indicative, 247: „The immediate context surrounding Rom 6,20–23 is clearly diatribal. […] In 7,1–6 Paul adds a lengthy second response, with its corresponding development, which further addresses the initial false conclusion of the interlocutor in 6,15.“ 324 Vgl. Wolter, Römer, 396.

260

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

und 7,7–8,4 gezeigt hat), denn sonst wäre seine These ja verfehlt. Es handelt sich also um eine ratio. Das nächste Segment umfasst Röm  6,19–23. Dass die Passage zusammengehört, legt sich aus mehreren Gründen nahe. 1. Sie erweist sich als zusammenhängende Retrospektive: In Röm  6,19b korrespondieren ὥσπερ γὰρ παρεστήσατε und οὕτως νῦν παραστήσατε. Dem entsprechen die Wendungen ὅτε γὰρ δοῦλοι ἦτε τῆς ἁμαρτίας in Röm  6,20a und νυνὶ δὲ ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας in Röm  6,22a. 2. Sie ist teleologisch auf den Dienst für die Unreinheit und Ungerechtigkeit ausgerichtet und unterscheidet durchweg Einst und Jetzt. Paulus bedenkt Ziel, Lohn und Strafe des Dienstes für die Gerechtigkeit. Mit Röm  6,19b stellt er den Dienst für die Unreinheit bzw. Gesetzeslosigkeit dem Dienst für die Gerechtigkeit gegenüber und bestimmt beide mit εἰς näher: Der eine führt zur Gesetzeslosigkeit, der andere zur Hei­ ligung. Diese Zielrichtung wird in Röm  6,20–22 retrospektiv weiterentwickelt: Paulus fragt nach der Frucht des Dienstes für die Sünde und weist auf die jetzige Scham hin (Röm  6,21), weil diese zum Tod geführt habe, während der Dienst für die Gerechtigkeit das ewige Leben als Frucht habe. Mit dieser Gegenüberstellung korrespondiert Röm  6,23, wo die Unterscheidung noch einmal auf den Christusnamen zurückgeführt wird: Es geht um den Lohn bzw. Sold der Sünde, dem eine Gnadengabe entspricht. Der Text wird also durch ein Geflecht von Metabegriffen zusammengehalten, die der Verfehlung des frü­ heren Lebens die Rechtschaffenheit des Jetzigen gegenüberstellen. Diese Metabegriffe sind: εἰς als Präposition der Zielrichtung (Röm  6,19b), καρπός (Röm  6,21a.22a), τέλος (Röm  6,21b2.22b), ὀψώνιον bzw. χάρισμα (Röm  6,23).

Der Abschnitt ist von der vorigen Passage durch die auffällige Wendung in Röm  6,19a abgegrenzt: Paulus’ Hinweis, er rede „menschlich“ διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς σαρκὸς ὑμῶν, muss als Einleitung für das Folgende verstanden werden:325 Paulus kündigt eine anthropologische Reflexion an, die dann auch unmittelbar in Röm  6,19b folgt, wenn er die μέλη als „Organe“ des Dienstes für Sünde oder Gerechtigkeit bestimmt.326 In Röm  6,19–23 entwickelt Paulus einen Kontrast von früher (ὅτε mit Vergangenheitstempus) und jetzt (νυνί ): Jewett, Romans, 419 meint, die Verwendung des Begriffs ἀνθρώπινον kündige die Brisanz des kommenden Abschnitts an: „To speak ‚in human terms‘ is to take frailty and suffering into account […].“ Das ist – angesichts des Schamgefühls, das Paulus in Röm  6,21 evozieren möchte – durchaus möglich. Der Begriff ἀνθρώπινον könnte aber auch in die ge­ nau entgegengesetzte Richtung weisen: Der Rekurs auf die früheren Verfehlungen ist „nach menschlicher Rede“ beschämend – diese Scham hervorzurufen soll aber keineswegs „Ziel des Glaubens“ sein. Die dezidierte Rückschau auf die sündhafte Vergangenheit der Adressa­ ten blendet eine anthropologische Perspektive ein, die sich im Lichte des Glaubens eigentlich als gegenstandslos erweisen müsste, wenn es keine Verurteilung mehr für die gibt, die in Christus sind (vgl. Röm  8,1 und Röm  6,11–14) und der ἄνθρωπος-Begriff bewusst von den Adressaten wegführt, wie in Röm  1,18–2,29 deutlich wurde. Vielleicht sollte man ἀνθρώπινον stärker im Zusammenhang mit διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς σαρκὸς ὑμῶν lesen: Paulus könnte mit der Wendung anzeigen, dass er die von ihm verfolgte Strategie der Dislozierung der Sünde in die Vergangenheit der gefallenen Menschheit an dieser Stelle nicht weiterführt und – zu­ mindest für einen Moment – etwas tut, was den Adressaten eigentlich nicht angemessen ist: „menschlich“ mit ihnen zu reden. 326  In Röm  7,7–25 stehen „Glieder“ und Fleisch sinnverwandt nebeneinander, so dass es 325 

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

261

Zeit Dienst

ὅτε

νυνί

δοῦλοι ἦτε τῆς ἁμαρτίας ἐλεύθεροι ἦτε τῇ δικαιοσύνῃ;

ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ

Frucht Ziel Form der Abgeltung

ἐφ’ οἷς νῦν ἐπαισχύνεσθε

εἰς ἁγιασμόν

τὸ γὰρ τέλος ἐκείνων θάνατος

τὸ δὲ τέλος ζωὴν αἰώνιον

τὰ γὰρ ὀψώνια τῆς ἁμαρτίας θάνατος

τὸ δὲ χάρισμα τοῦ θεοῦ ζωὴ αἰώνιος ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τῷ κυρίῳ ἡμῶν

Tabelle 40a: Die Gegenüberstellung von Einst und Jetzt in Röm  6,19–23 Zur Tabelle. „Ziel“ und „Abgeltungsform“ entsprechen sich sachlich: Auf Seiten der Sünde ist das Ziel bzw. der Sold der Tod, auf Seiten Gottes ist Ziel bzw. Gnadengabe das ewige Leben.327 Hiervon ist die „Frucht“ noch einmal abzuheben. Hinter dem Aus­ druck „Frucht bringen“ verbirgt sich die durch Gott angerechnete Konkretion des Dienstes, d. h. das von Gott bewertete Werk 328: Im Dienst der Sünde wird dieses Werk nicht näher charakterisiert, aber es sind diejenigen Taten, derer sich die Adressaten – so Paulus – nun schämen, d. h. die Taten, die Paulus in Röm  1,18–32 beschrieben hat.329 Im Dienst Gottes tragen die Taten hingegen zur Heiligung bei.

In der Gegenüberstellung bringt Paulus zum Ausdruck, dass der Dienst für Gott den früheren Dienst ablöst und einen aussichtsreichen Lohn bereithält. Die Ad­ ressaten selber sind aber unabhängig von dieser Unterscheidung eindeutig im „Jetzt“ verortet und in den Dienst Gottes gestellt.330 Wenn nun die gesetzeskritische Tendenz der expositio in Röm  6,15 und der conplexio in Röm  7,4–6 mitbedacht wird, stellt sich die Frage, welche Funktion sich nahelegen würde, den Hinweis auf die Schwäche des Fleisches als Einleitung zu den Reflexionen über die μέλη zu lesen. Anders Wolter, Römer, 399, der den Hinweis auf die Schwäche des Fleisches als „Konzession an die eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit der Le­ ser“ versteht. 327  Wobei die semantische Unterscheidung von Gabe und Sold bzw. Lohn auf Röm  5,12– 21 zurückverweist. Der Lohn der Sünde entspricht einem Tun-Ergehen-Zusammenhang, die Gnadengabe entspricht der wirksamen Unterbrechung dieses Zusammenhangs. Vgl. auch Wolter, Römer, 404. 328  Vgl. aaO. 402. 329 Vgl. Reed, Indicative, 256 f. Ihm zufolge lässt sich gerade in Röm  6,21–22 nicht mehr von einem Indikativ-Imperativ-Schema sprechen, sondern vielmehr von „rhetorical pat­ tern“: „Verse 21 recounts the old life (using the indicative). Verse 22 promotes the new (using the imperative). […] Paul’s goal for his indicative-imperative formula is not solely that of theological understanding but, more importantly, righteous living. Perhaps Paul did not notice the contradiction of the indicative and imperative because none was intentionally communicated. Perhaps, the Roman audience did not fret over the seeming contradiction of the indicative and imperative. Perhaps, instead, they were persuaded to live by it.“ 330 Damit greift Paulus die in der Adam-Christus-Gegenüberstellung hervorgehobene Unmittelbarkeit des Heilsgeschehens wieder auf: Als Gabe ist das ewige Leben unmittelbar auf den Dienst für Gott bezogen. Vgl. zur Sklaven- und Militärmetaphorik Gerber, Waffen­ dienst, 138–141, insb. 141: „Als argumentum ex efficientibus fungiert die Metapher gerade, weil die Inferenzen des Herkunftsbereiches durchbrochen werden und so die Absurdität des Sündendienstes sichtbar wird.“

262

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

dem Gesetz hinsichtlich der sich gegenseitig ausschließenden Dienste zukommt. Die Gesetzesperspektive klingt in Röm  6,19 an – der frühere Dienst für die Unreinheit hatte Verhängnischarakter: Alles, was im Dienst für die Sünde ge­ schehen ist, führte zur Gesetzlosigkeit. Das ist durchaus verständlich, wenn Röm  5,12–14.20f mitbedacht wird: Die Sünde wird durch das Gesetz „ange­ rechnet“. In Röm  6,19 wird nun aber behauptet, dass der Dienst für Unreinheit und Gesetzlosigkeit durch den Dienst für Gott definitiv abgelöst wird. Die obi­ ge Tabelle muss dementsprechend erweitert werden: ὅτε Zeit Ziel der Widmung ὥσπερ γὰρ παρεστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ der Glieder τῇ ἀνομίᾳ εἰς τὴν ἀνομίαν

νυνὶ οὕτως νῦν παραστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ εἰς ἁγιασμόν

Tabelle 40b: Die Gegenüberstellung von Einst und Jetzt in Röm  6,19–23 (Fortsetzung)

Sachlich entsprechen sich der Dienst für Gott (Röm  6,22a) und der Dienst für die Gerechtigkeit (Röm  6,19c) bzw. der Dienst für Unreinheit und Gesetzlosig­ keit (Röm  6,19b) und der Dienst der Sünde (Röm  6,20a), denn beides ist über ein Einst-Jetzt-Schema konstruiert (παρεστήσατε–παραστήσατε). Das Ziel des Dienens für die Gerechtigkeit entspricht der „Frucht“ des Dienens für Gott, nämlich der „Heiligung“, d. h. ein der Gerechtigkeit entsprechendes Leben.331 Den Gesetzesbegriff bezieht Paulus jedoch lediglich auf den Wirkzusammen­ hang von Sünde und Tod, indem er behauptet, dass der Dienst für die Sünde Dienst für die Gesetzlosigkeit darstellt und zu Gesetzlosigkeit führt, während der Dienst für Gott und die Gerechtigkeit zur Heiligung und zum ewigen ­Leben führt. Das Gesetz hat also im neuen Dienst keine regulierende oder kon­ 6,19–23 bekräftigt die vorige Passage trollierende Funktion mehr.332 Röm   Röm  6,16–18 als confirmatio, indem die Folgen des Dienstes – Tod oder ewiges Leben – hinsichtlich der Eingangsfrage von Röm  6,15 näher erläutert werden. Es wird deutlich, dass der Dienst für Gott ausreicht, weil er den entscheidenden Lohn bereithält: ewiges Leben.333 331  Vgl.

in diesem Sinne Wolter, Römer, 400. Jewett, Romans, 421 bedenkt jedoch auch die ekklesiologische Dimension des Heiligungsbegriffs: „Although it is ordinarily in­ terpreted as an individual virtue, the second person plural imperatives throughout this peri­ cope point to a new form of social life as the primary embodiment of holiness. Paul views the church as the new, holy temple of God […], filled and directed by the Holy Spirit […], and called upon to exhibit holiness in its social relations […].“ 332 Es ist lediglich in das Verhängnis von Sünde und Tod eingebunden, nicht in den Wirkzusammenhang von Gerechtigkeit und ewigem Leben – in den Worten der Adam-Christus-Gegenüberstellung: „es kommt hinzu“. 333  Der Abschnitt ist insofern eine starke confirmatio, als Paulus nicht nur auf die ratio Bezug nimmt, sondern auch festhält, dass der Dienst für die Gerechtigkeit nicht mit der Gesetzes­ frage zusammenhängt und sich die Befreiung direkt auf den Freispruch durch Christus be­

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Paulus nimmt mit Röm  6,19–23 eine heidenchristliche Perspektive ein,334 was sich mit Röm  6,15 (οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον ἀλλ’ ὑπὸ χάριν) ja bereits angekündigt hat. Die heiden­ christliche Perspektive ist aber auch an einigen Rückverweisen erkennbar: Mit τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ τῇ ἀνομίᾳ εἰς τὴν ἀνομίαν weist Paulus einerseits auf den Makarismus von David in Röm  4,7 zurück, wo von der Nichtanrechnung der Sünden bzw. Gesetzes­ widrigkeiten durch Gott die Rede war ( μακάριοι ὧν ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι). Diese Nicht­ Anrechnung wird aber erst durch die πίστις von Gott her ermöglicht. Außerhalb des Glaubens werden die Sünden und Gesetzesverstöße des Menschen als solche registriert. Außerdem taucht ein verwandter Begriff in Röm  2 ,12 auf: ἀνόμως. Der Begriff ἀνομία hängt also mit der Tora zusammen und beschreibt das Verhalten, das von der Tora als Sünde identifiziert wird. Mit τῇ ἀκαθαρσίᾳ nimmt Paulus Bezug auf Röm  1,24, wo Gott selber die Menschen der Unreinheit preisgibt (Röm  1,24: Διὸ παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεὸς ἐν ταῖς ἐπιθυμίαις τῶν καρδιῶν αὐτῶν εἰς ἀκαθαρσίαν τοῦ ἀτιμάζεσθαι τὰ σώματα αὐτῶν ἐν αὐτοῖς ). Die Schmach des Rückblicks (Röm  6,21b) auf die begangenen Taten erinnert außerdem entfernt an die sich verklagenden Gedanken in Röm  2 . Ausgehend von diesen Querverbindungen wird deutlich, dass Paulus bewusst die Haltung der Völker ein­ nimmt und als wesentliche ethische Neuorientierung den Dienst für Gott vorschlägt, der zur Heiligung, d. h. zur Beseitigung der Unreinheit und Anrechnung der Sünden führt. Von Röm  2 her legt sich diese Überlegung durchaus nahe: Dort sind die Völker bereits ohne die Kenntnis des Gesetzes dazu befähigt, das Gesetz einzuhalten.

Die Kritik am Gesetz, die Paulus in der confirmatio von Röm  6,15–23 durch die Betonung der Ausschließlichkeit des Dienstes lediglich angedeutet hat, tritt in Röm  7,1 deutlich zu Tage, zumindest wenn die Einleitungsformel (ἢ ἀγνοεῖτε, ἀδελφοί ) i. S. von „oder wisst ihr nicht, Brüder“ ernst genommen wird – Paulus nimmt einen neuen Anlauf, um das Vorige mit anderen Worten darzustellen.335 Er lenkt in Röm  7,1–3 die bisherige Argumentation mit Hilfe einer durchaus gewagten und in der Forschung umstrittenen Analogie aus der jüdischen Ehe­ gesetzgebung in eine gesetzeskritische Bahn.336 Würde sich die Irrelevanz des zieht: Der frühere Sündendienst zog Tod und Gesetzlosigkeit nach sich, der jetzige Gottes­ dienst das ewige Leben. Der Ausschließlichkeit des Dienstes für Gott oder für die Sünde entspricht die Ausschaltung des Gesetzes als Heilsweg. Insofern ist Schreiner, Romans, 338 zuzustimmen: „The logic is as follows: Slavery to righteousness is much better than slavery to sin.“ 334  Vgl. dazu Esler, Conflict, 219–221. 335  Wobei kein Adressatenwechsel eingeleitet wird. Die, die das Gesetz kennen, sind die römischen Heidenchristen. Es ist nicht nötig, für Röm  7,1 neue Adressaten und andere theo­ logische Voraussetzungen anzunehmen, als wäre das Gesetz in Röm  7,1 ein anderes Gesetz als die Tora oder als handele es sich bei den Adressaten um Judenchristen. Der ganze Römer­ brief setzt voraus, dass die heidenchristlichen Adressaten mit der Tora konfrontiert sind. Deswegen kann Tomsons interessante Kompromisslösung, das Gesetz von Röm  7,1 als ein „apostolic marriage law that had its origins in the teachings of Jesus“ zu identifizieren (Tomson, Law, 580), nicht überzeugen. 336  Vgl. zum Beispiel der Witwe den Exkurs weiter unten. Freilich geht es in Röm  7,1–3 immer noch um die Tora, selbst wenn die Festellung in Röm  7,1, das Gesetz gelte nur für die Lebenden, auch auf andere Gesetze der Menschen übertragbar ist (gegen Wolter, Römer, 410 und auch Jewett, Romans, 439, der über die Identität des „obsolete code“ rätselt: „could be the OT, or the Pharisees’ oral law, or the mores of Roman Society“). Der Kontext – ins­

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Gesetzes schon von Röm  6,15–23 nahelegen, spitzt Paulus nun die Argumenta­ tion auf den Tod für das Gesetz zu: Das Gesetz hat nur Macht über die Leben­ den, nicht über die Toten, zu denen aber die heidenchristlichen Adressaten durch ihre Taufe zu rechnen sind. Der Übergang von Röm  6,23 zu 7,1 bestätigt die frühere Vermutung, dass es in Röm  6,15–23 nie um den Herrschaftswechsel an sich ging, sondern vielmehr darum, zu zeigen, dass bei diesem Herrschafts­ wechsel das Gesetz keine Rolle spielen kann. Da Paulus über den Rahmen der bisherigen Argumentation hinausgreift und ein weiterführendes, illustrierendes und vor allem zugespitztes Beispiel heranzieht, kann bei Röm  7,1–3 sachgemäß von einer exornatio die Rede sein.337 In Röm  7,4–6 wird die Argumentation von Röm  6,15–7,3 pointiert zusam­ mengefasst. Paulus arbeitet wiederum mit der Applikationsformel ὥστε καὶ ὑμεῖς (ὥστε, ἀδελφοί μου, καὶ ὑμεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόμῳ διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ, εἰς τὸ γενέσθαι ὑμᾶς ἑτέρῳ, τῷ ἐκ νεκρῶν ἐγερθέντι, ἵνα καρποφορήσωμεν τῷ θεῷ): Das Sterben mit Christus für die Sünde ermöglicht den neuen Dienst für

Gott, muss aber gleichzeitig als Sterben für das Gesetz verstanden werden, das nur Geltung für die Lebenden beanspruchen kann. Die angeschlossenen Verse in der 1. Person Plural greifen καρποφορήσωμεν auf, sind aber inklusiv zu ver­ stehen, d. h. auf die Adressaten bezogen. Paulus fingiert hier die Situation, in der die Adressaten mit der Forderung des Gesetzes konfrontiert sind (und die er ja durchaus für die römischen Heidenchristen annehmen muss), macht aber deutlich, dass das Gesetz durch die Neuheit des Geistes überwunden ist. Damit holt Röm  7,1–6 die Frage von Röm  6,15–23 wieder ein. Dort wurden die Ad­ ressaten bereits als solche angesprochen, die nicht unter dem νόμος, sondern unter der Gnade stehen.338 Zur Kohärenz der Argumentation. Es konnte gezeigt werden, dass die Argu­ mentation von Röm  6,15–7,3 auf Röm  7,4–6 hin konstruiert ist. Die argumen­ besondere der Rekurs auf das Eherecht der Tora und der Hinweis auf die alte Wirklichkeit des Buchstabens in Röm  7,6 – ist ganz auf die Toraobservanz zugespitzt. Vgl. hierzu Schreiner, Romans, 349: „The dominion of the law has been severed and now believers are mar­ ried to Christ. The promises given to Israel were not realized during the era of the Mosaic law. Instead, these promises have become a reality in the new era in which the Holy Spirit is dispensed to all.“ 337 Die „nachgeschobene“ Gesetzesthematik imitiert hier gewissermaßen die AdamChristus-­Gegenüberstellung: In der Argumentation von Röm  5,12–21 wurde die Gesetzes­ problematik nur zu Beginn und am Ende in den Blick genommen, d. h. als Ausgangspunkt und Ziel der Argumentation, während im Mittelteil der Zusammenhang von Sünde und deren Überwindung unabhängig vom Gesetz geschildert wurde. Ebenso verhält es sich mit der Argumentation in Röm  6,15–7,6: Während zu Beginn die Gesetzesthematik aufgegriffen wird: οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον ἀλλ’ ὑπὸ χάριν (in Röm  5,13: ἄχρι γὰρ νόμου […] μὴ ὄντος νόμου), argumentiert Paulus in Röm  6,15–23 aus der Perspektive des Herrschaftswechsels von Sünde und Gnade, bevor er in Röm  7,1–3 wiederum auf das Gesetz zu sprechen kommt und es an­ thropologisch und christologisch depotenziert. 338 Vgl. Haacker, Römer, 168: „Es geht Paulus um die Freiheit gegenüber dem Gesetz als Kehrseite der Bindung an Christus.“

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tationstheoretische Terminologie kann sachgemäß auf die einzelnen Segmente angewendet werden, wie folgende Übersicht zeigt: Röm  6,15

expositio

Röm  6,16–18 ratio

Nur weil die Adressaten nicht unter dem Gesetz stehen, sondern unter der Gnade, heißt das nicht, dass sie weiter sündigen können. Die Adressaten sind vom Dienst der Sünde befreit und stehen im Dienst der Gerechtigkeit.

Röm  6,19–23 rationis Der Dienst für die Sünde zieht den Tod, der Dienst für confirmatio Gott zieht ewiges Leben nach sich – das Gesetz ist in das Verhängnis von Sünde und Tod eingebunden, nicht in den Zusammenhang von Gerechtigkeit und ewigem Leben. Röm  7,1–3 exornatio Das Beispiel von der Witwe zeigt: Der Tod mit Christus schließt den Tod für das Gesetz mit ein. Röm  7,4–6 conplexio Die Adressaten sind dem Gesetz gestorben und bringen Frucht für Gott bzw. dienen nicht mehr in Altheit des Buchstabens, sondern der Neuheit des Geistes. Tabelle 41: Argumentationsstruktur von Röm  6,15–7,6

In Röm  6,15 stellt Paulus die mit Röm  7,4–6 korrespondierende These auf, die die Argumentation in Gang bringt. In Röm  6,16–18 formuliert er ein Aus­ schließlichkeitsprinzip hinsichtlich des Dienstes für Gott oder die Sünde. In Röm  6,19–23 forciert er dieses Prinzip und deutet an, dass das Gesetz im Dienst für Gott keine Rolle spielt. In Röm  7,1–3 spitzt Paulus diesen Gedanken zu, indem er die Gültigkeit des Gesetzes auf die Lebenden einschränkt. In Röm  7,4– 6 fasst er die Argumentation zusammen und wendet sie auf die Adressaten an, indem er ihnen den Tod für das Gesetz proklamiert. Röm  6,15–7,6 stellt damit wie schon Röm  6,1–14 eine adressatenorientierte Interpretation der Adam-Christus-Gegenüberstellung dar.339 In Röm  6,15 wird ein Zusammenhang aufgegriffen, der für die Zusammenfassung der Adam-­ Christus-Gegenüberstellung konstitutiv war: Die heidenchristlichen Adressaten stehen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade – sie sind eben keine Judenchristen, sondern partizipieren unmittelbar am Heilsereignis. Der Herr­ schaftswechsel, der in Röm  6,15–23 forciert wird, ist eine Wiederauflage der Gegenüberstellung von Adam und Christus in Röm  5,15–19. Dem Hereinbre­ chen der Sünde durch den Ungehorsam des Einen und dem Hereinbrechen der Gnade durch den Anderen entsprechen der Dienst für die Sünde und der Dienst für die Gerechtigkeit und Gott. 339  Vgl. auch Wolter, Römer, 403: „Paulus überträgt damit das menschheitsgeschichtli­ che Gegenüber von Adam und Christus auf das Gegenüber von ‚einst‘ und ‚jetzt‘, das den individualgeschichtlichen Verlauf christlicher Bekehrungsbiographien kennzeichnet.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Adam-Christus-Gegenüberstellung Röm  5,12–21 5,19: ὥσπερ γὰρ διὰ τῆς παρακοῆς τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου ἁμαρτωλοὶ κατεστάθησαν οἱ πολλοί 5,19: οὕτως καὶ διὰ τῆς ὑπακοῆς τοῦ ἑνὸς δίκαιοι κατασταθήσονται οἱ πολλοί

5,20: νόμος δὲ παρεισῆλθεν ἵνα πλεονάσῃ τὸ παράπτωμα. οὗ δὲ ἐπλεόνασεν ἡ ἁμαρτία, ὑπερεπερίσσευσεν ἡ χάρις […]

Röm  6,15–7,6 6,16: δοῦλοί […] ἁμαρτίας εἰς θάνατον 6,18: ἐλευθερωθέντες δὲ ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ 6,16: δοῦλοί […] ὑπακοῆς εἰς δικαιοσύνην 6,22: νυνὶ δὲ ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ ἔχετε τὸν καρπὸν ὑμῶν εἰς ἁγιασμόν 7,4: ὥστε, ἀδελφοί μου, καὶ ὑμεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόμῳ διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ

Tabelle 42: Parallelen zwischen der Adam-Christus-Gegenüberstellung und der Argumentation von Röm  6,15–7,6

Dass die heidenchristlichen Adressaten aus dem Dienst für die Sünde befreit und nun in den Dienst für die Gerechtigkeit gestellt sind, wie Röm  6,15–23 festhält, scheint zunächst nur indirekt mit dem Gesetz zusammenzuhängen.340 Auch die Adam-Christus-Gegenüberstellung postulierte, dass der Gehorsam des Einen den Ungehorsam des Anderen überbiete, während das Gesetz lediglich „hinzu­ gekommen“ sei (Röm  5,20f ) und den Fall vertiefe. Paulus rückt das Gesetz erst mit Röm  7,1–3 endgültig vom Herrschaftswechsel ab, insofern er mit Hilfe des Beispiels von der Witwe behaupten kann, dass die Heidenchristen dem Gesetz gestorben sind, wie sie der Sünde gestorben sind. Das „Sterben für das Gesetz“ spitzt damit den Herrschaftswechsel, wie er in Röm  6,15–23 forciert wurde, zu: Der Übergang von Sünde zu Gnade (Röm  6,15–23) erfolgt ohne Einflussnahme des Gesetzes, mehr noch – das Gesetz kann keine Herrschaft über die Heiden­ christen ausüben, denn die Adressaten sind der Sünde bereits gestorben und die­ nen der Gerechtigkeit (Röm   7,1–3). Paulus orientiert sich am Itinerar der Adam-Christus-Gegenüberstellung von Röm  5,12–21 und verfolgt hier wie dort das Ziel, den Dienst für die Gerechtigkeit als Tod für das Gesetz zu deuten.341 340  Vgl. auch Spitaler, Reasoning, 737. Spitaler versteht Röm  7,4 als „target“ der „sour­ ce“ von Röm  7,1–3, doch bemerkt er auch, dass Röm  7,5f über diesen Horizont hinausgeht und auf die Frage von Röm  6,15 bezogen bleibt (aaO. 745): Es bestehe eine argumentative und lexikalische Kohärenz zwischen Röm  6,1 bis 7,6, ein noch stärkerer Bezug bestehe aber zur Frage von Röm  6,15 (aaO. 745 f ): „[…] Paul presents a thematically inverted discussion of his earlier argument regarding the Roman believers’ relation to the law; that is, believers are not ‚under the law‘ but ‚under grace‘ (6:14–15) […]. Finally, Rom 7:6 presents the synthesis of Paul’s analogical focus (i.e., through their partnership with the ‚one risen from the dead,‘ Christ believers are ‚discharged from the law‘) and the theological core of ch. 6 (i.e., through their death with Christ, believers die to the detaining forces of ‚sin‘ and ‚flesh‘ and are ‚dead to that which held us captive‘).“ Auf den Übergang von Röm  6,23 zu 7,1 geht Spitaler leider nicht ausführlich ein. 341  Schreiners Abgrenzung von Röm  6,15–23 und 7,1–6 ist bemerkenswert, denn er er­

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Exkurs zum rationalen Aspekt: Die Logik der Freiheit vom Gesetz – eine kritische Betrachtung der Witwenanalogie in 7,1–3 In der Forschung wird die Logik der Übertragung des Beispiels von der Witwe (Röm  7,1–3) auf die Adressaten eingehend diskutiert.342 Dabei wird erwogen, dass Pau­ lus in Röm  7,1–3 eine weitreichende Analogie konstruiert, in der sich die Adressaten wiederfinden sollen. So bezeichnet John D. Earnshaw Röm  7,4 als die „application“343 dieser Analogie (Röm  7,1–3) mit folgenden Entsprechungen: Die Tora entspreche dem Ehegesetz,344 die erste Ehe der Frau entspreche der „union between Christ and belie­ vers“345, der Tod des ersten Mannes dem Tod Christi,346 was im Akt der Befreiung kulminiere347, die Lösung vom Ehegesetz entspreche der Lösung der Gläubigen von der Tora,348 der zweite Mann entspreche dem „risen Christ“349. Earnshaw gewinnt diese Entsprechungsebene vor allem aus Röm  6,1–11: „The structure of thought is identical in Rom 7,1–6: believers have been transferred from being under the law to being in the service of God; the means by which this transfer has been effected is the death and re­ surrection of Christ.“350 Auch Jewett widmet sich dem „syllogism“ von Röm  7,1–6 und versteht die Übertragung in Röm  7,4 als Übertragung des Ehe-Beispiels auf die Adres­ saten.351 Er bestimmt eine „major premise“ in Röm  7,1, „that the law has jurisdiction only during a lifetime“352 , und schließlich drei „minor premises“. Die erste liege in Röm  7,2 vor: „provided by the Jewish legal tradition is that a wife is bound to her hus­ band only during his lifetime“353; die zweite in Röm  7,3ab: „[…] that adultery is defined only during the lifetime of a husband“354; die dritte in Röm  7,3cd: „that if her husband dies, her relations with another man do not constitute adultery“355. Paulus gewinne schließlich in Röm  7,4 zwei „inferences“356: „The premise of death freeing people from the law leads to the inference that was confirmed by the conversion experience of early believers: καὶ ὑμεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόμῳ (‚you were also put to death with respect to law‘).“357 Die andere Inferenz bestehe in der „new relationship created by the grace of

kennt eine enge, konzeptionelle Verbindung zwischen den Texten, ohne sie jedoch zusam­ menziehen zu wollen (vgl. Schreiner, Romans, 345): „Romans 7:1–6 is also specifically related to 6:15–23 and functions as a continuation of the argument started there [!]. In the latter paragraph Paul rejects the notion that believers are permitted to sin since they are no longer under the law. In 7:1–6 he carries the argument one step further, for he contends that sin rules over those who are under the law.“ 342  Vgl. den Forschungsüberblick bei Burchard, Kontext, 443–446. 343  Earnshaw, Marriage, 71. 344  Vgl. aaO. 73–80. 345  Vgl. aaO. 80. 346  Vgl. aaO. 82 f. 347  Vgl. aaO. 83 f. 348  Vgl. aaO. 85. 349  AaO. 86. 350  AaO. 84. 351 Vgl. Jewett, Romans, 428; vgl. zum Gesamtzusammenhang aaO. 430–439. 352  AaO. 430. 353  AaO. 431. 354  AaO. 432. 355 Ebd. 356  AaO. 433. 357 Ebd.

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Christ“: „described with the same marital language that appeared in the premises of the syllogism: ‚so you can have relations with another (εἰς τὸ γενέσθαι ὑμᾶς ἑτέρῳ).‘“358 Der Vorschlag, Röm  7,4 als Schlussfolgerung und Röm  7,1 als übergeordnete oder Leit-Prämisse zu verstehen, leuchtet durchaus ein, doch Earnshaws und Jewetts Analyse des Übergangs von Röm  7,1 und 7,2 muss kritisch gesehen werden. Will man Röm  7,2 als Untersatz zum Obersatz von Röm  7,1 verstehen, wie Jewett vorschlägt, stellt sich die Frage, ob der Obersatz ohne Untersatz verständlich wäre, d. h. als echte Prämisse gelten kann. Paulus scheint dadurch, dass er in Röm  7,2f auf die Ehegesetzgebung zurück­ greift, ein Beispiel für die Prämisse von Röm  7,1 geben zu wollen, das lediglich illustriert, dass das Gesetz seine Gültigkeit mit dem Tod des Menschen verliert. Insofern sollte die exemplarische Passage von Röm  7,2f nicht – als Analogie – auf die Adressaten (Röm  7,4) angewendet, sondern als Stützung bzw. Exemplifizierung der allgemeineren Aussage von Röm  7,1 verstanden werden – wie in folgendem Vorschlag deutlich wird: Obersatz (das Wahrscheinliche): Das Gesetz hat nur Macht über den Menschen, solange er lebt (Röm  7,1). Stützung (das Sichere): Die Witwe ist durch den Tod ihres Mannes von der Ehe­ gesetzgebung frei (Röm  7,2f ). Wenn nun die Konklusion (Röm  7,4) darin bestehen soll, dass die Adressaten vom Ge­ setz befreit, d. h. dem Gesetz gestorben sind, bräuchte es ein Element bzw. einen Mittel­ begriff, der eine Übertragung der Rechtssituation der Witwe auf die Adressaten ermög­ licht. Hierzu greift Paulus – ohne dies allerdings explizit zu machen – auf die Todesme­ taphorik von Röm  6,1–14 zurück: Die Adressaten sind tot, weil sie mit Christus in der Taufe gestorben sind. Es böte sich folgendes Epicheirem an: Obersatz (das Wahrscheinliche)

Das Gesetz hat nur Macht über den Menschen, solange er lebt (Röm  7,1). Stützung (das Sichere) Die Witwe ist durch den Tod ihres Mannes von der Ehegesetzgebung frei (Röm  7,2f ). Untersatz (das Wahrscheinliche) Nicht explizit, aber in Röm  6,1–11 dargestellt: Die Adressaten sind gestorben. Stützung (das Sichere) Nicht explizit, aber in Röm  6,1–11 dargelegt: Durch die Taufe partizipieren sie am Tod Christi. Schlussfolgerung (das Unsichere, Das Gesetz hat keine Macht über die heidenchrist­ das als sicher erwiesen wird) lichen Adressaten (Röm  7,4).

Tabelle 43: Rekonstruktion einer ratiocinatio aus Röm  7,1–6 Verliert man nun den Zusammenhang zwischen der Prämisse in Röm  7,1 und ihrer Exemplifizierung in Röm  7,2f aus den Augen oder versteht die Übertragung von Röm  7,4 als Übertragung des Beispiels von der Witwe (Röm  7,2f ), erscheint die Kon­ klusion von Röm  7,4 unsachgemäß, wie Wolter zu Recht konstatiert: „Rebus sic stanti­ bus wird man der Intention der paulinischen Argumentation darum nur gerecht, wenn man die logische Unschärfe akzeptiert und ganz streng nur das eine formale tertium comparationis als semantische Schnittmenge nimmt, die V. 1c und V. 2–3(4) miteinander 358 

AaO. 434.

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gemeinsam haben: dass ein Tod – welcher Tod das auch immer sei – Freiheit vom Gesetz herstellt. Argumentativ ist das natürlich suboptimal.“359 Wenn man nun aber das Beispiel von der Frau als Stützung der Prämisse von Röm  7,1 und die Übertragung auf die Adressaten in Röm  7,4 als Konklusion aus den obigen Prämissen versteht, ergeben sich die logischen Spannungen, die Wolter kritisiert, nicht, sondern Röm  7,1 rückt deutlicher in den Status einer Prämisse ein. So argumentiert schon Käsemann: „Anders als die geschilderte Frau bekommt der Christ keine Verfü­ gung über sich selbst, sondern einen neuen Herrn, der den alten ablöst. Der Mann im Vergleich ist also nicht die Tora. Das tertium comparationis liegt allein darin, daß Ster­ ben sonst lebenslang gültige Bindungen auf hebt.“360 Die Analyse zeigt, dass das Beispiel von der Witwe in Röm  7,2–3 in erster Linie die Prämisse stützen soll, dass das Gesetz seine Gültigkeit im Falle des Todes verliert.361 Nicht der Rechtsfall der Witwe, sondern die These, die Geltung des Gesetzes erlösche mit dem Tod des Menschen, wird auf die Adressaten appliziert.

5.3.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Ziel der Argumentation ist es, den Herrschaftswechsel von Sünde zu Gnade als Tod für das Gesetz zu deuten, um die Toraobservanz zu relativieren. Der Sünden­ begriff ist in allen Segmenten der Argumentation außer in der exornatio Röm  7,1– 3 vertreten. Wie hängen die verschiedenen Bedeutungsaspekte zusammen? Die Funktion des Sündenbegriffs in expositio, ratio und rationis confirmatio (Röm  6,15–­ 23). Die Argumentation wird dadurch in Gang gesetzt, dass Paulus die Frage, inwiefern die Adressaten unter der Macht der Sünde stehen, in einem Zusam­ menhang mit Gesetz und Gnade beantworten möchte. Dieser Zusammenhang ist ein Übertrag aus Röm  6,14: 6,14: ἁμαρτία γὰρ ὑμῶν οὐ κυριεύσει οὐ γάρ ἐστε ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν 6,15: ἁμαρτήσωμεν, ὅτι οὐκ ἐσμὲν ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν

Die Begriffe χάρις und νόμος bilden nun einen Gegensatz, nicht wie noch in der Adam-Christus-Gegenüberstellung (Röm  5,21) die Begriffe χάρις und ἁμαρτία. Diese semantische Verschiebung ist nur verständlich, wenn Röm  5,20 und 6,1 für den Kontext mitbedacht werden: In Röm  5,20 wird der Zusammenhang von νόμος, ἁμαρτία und χάρις als exponentieller Wirkmechanismus dargestellt: Der νόμος vergrößert die Sünde bzw. den Fall, die Sünde vergrößert die Gnade – dies wird bereits in Röm  6,1 problematisiert, ohne allerdings den νόμος explizit mit­ einzubeziehen. Röm  6,15 bildet wiederum einen fingierten Einwand gegen 359 

Wolter, Römer, 411. Käsemann, Römer, 177. 361  Burchard, Kontext, 453 akzentuiert den Abschnitt ganz anders, indem er vom un­ freiwilligen Tod der Witwe spricht. Durch den Tod des Ehemanns sei sie „zur Unperson reduziert“ (ebd.). Er erklärt, „[d]ie Christusgläubigen gleichen der Ehefrau, indem sie gegen ihren Willen getötet wurden, ohne physische ganz vernichtet zu sein […].“ 360 

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  6,14b, den Paulus erwarten muss, wenn er vermutet, dass die heidenchrist­ lichen Adressaten mit Forderungen nach Gesetzesobservanz konfrontiert sind.362 Indem Paulus hier das Prädikat ἁμαρτήσωμεν verwendet, zeigt er an, dass es in Röm  6,15ff um die Frage geht, was eigentlich der Maßstab ethischen Handelns sein kann, wenn der νόμος seine heilsgeschichtliche Funktion verloren hat und sich der Glaube der heidenchristlichen Adressaten direkt auf das Heilsereignis und die Überwindung der Sünde durch Christus bezieht (Röm  5,20; 6,8–10; 6,14).363 Paulus deutet die Antwort auf die Frage mit einem μὴ γένοιτο an: Das Sündigen unter der Gnade ist nicht möglich. Diese These wird von Paulus in der ratio von Röm  6,16–18 begründet. Dazu greift Paulus auf eine Sklaven- und Gehorsamsmetaphorik zurück, die sich – rhetorisch geschickt – an die soziale Wirklichkeit der römischen Gemeinde anlehnt.364 In dem Abschnitt werden zwei Dienste gegenübergestellt: 6,16 […] δοῦλοί ἐστε ᾧ ὑπακούετε, ἤτοι [δοῦλοί] ἁμαρτίας εἰς θάνατον [δοῦλοί] ὑπακοῆς εἰς δικαιοσύνην 6,17 […] ἦτε δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας ὑπηκούσατε τύπον διδαχῆς 6,18 ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ Tabelle 44: Semantische Entsprechungen in der Gegenüberstellung der Dienste in Röm  6,16–18 362 Vgl.

Jewett, Romans, 415. Aorist ἁμαρτήσωμεν ist zwar „constantive and refers to sinning in general“ (Schreiner, Romans, 329), aber es geht hier deutlicher als in der Adam-Christus-Gegen­ überstellung oder in Röm  6,1–14 um das Tun des Menschen, das seinem Sein unter der Sünde entspricht (vgl. Röm  3,9–18). Gerade im Spiegel von Röm  6,15–7,6 stellt sich daher die Fra­ ge, ob die klassisch gewordene Verteilung von Tat- und Machtsünde auf Verb und Substantiv aufrechterhalten werden kann. Dienst – sei es für die Sünde oder für Gott – umfasst bei Paulus immer eine Obödienz gegenüber einer Autorität und eine sich daraus ergebende Tä­ tigkeit. Unter diesen Voraussetzungen muss auch der Zusammenhang von metaphorischer und wörtlicher Sündenargumentation beleuchtet werden, wie ihn z. B. Gerber, Waffen­ dienst, 135 in Anschluss an Röhser dargestellt hat: „Von ἁμαρτία redet Paulus in Röm  5 –7 nur metaphorisch und mythisch. Den verschiedenen Metaphern gemeinsam ist, dass sie ‚die Sünde‘ im Verhältnis zum Menschen als Herrscherin darstellen, z. B. über Untertanen oder Sklaven oder Sklavinnen.“ Diese „metaphorische“ Rede wird von Paulus jedoch keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern im Laufe seiner Argumentation erschlossen und transparent gemacht, insbesondere in Röm  1,18–32; 2,12 oder Röm  3,9. Die besondere Leistung der Sklavenmetaphorik liegt darin, dass Paulus mit ihrer Hilfe ein Ausschließlich­ keitsprinzip behaupten kann, das ganz darauf abzielt, die heidenchristlichen Adressaten der Autorität des Gesetzes zu entziehen. 364 Vgl. Gerber, Waffendienst, 135. Vgl. Byron, Metaphors, 207–219. Byron betont in diesem Zusammenhang vor allem den alttestamentlichen Kontext der Sklavenmetaphorik (v. a. den Exodus). 363 Der

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Mit Röm  6,17 tritt also das „Sklavendasein“ der Menschen, d. h. ihr Dienstver­ hältnis gegenüber Sünde oder Gerechtigkeit, in den Vordergrund. Gehorsam gegenüber dem – in der Forschung umstrittenen 365 – τύπος διδαχῆς (Röm  6,17) und Sklavendienst für die Gerechtigkeit (Röm  6,18) sind Kennzeichen des christlichen Lebens, das auf die Überwindung des Sklavendienstes für die Sünde (Röm  6,17: δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας, Röm  6,18: ἐλευθερωθέντες δὲ ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας) bereits zurückschauen kann. Dabei weist die passive Form ἐλευθερωθέντες auf die Kontingenz dieser Befreiung hin: Ermöglicht wird sie durch Gott. Es ist auffällig, dass Paulus δικαιοσύνη hier sowohl auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch als auch auf die Beziehung zwischen Mensch und Mensch anwenden kann. Der Ausdruck ὑπακοή εἰς δικαιοσύνην weist zurück in die Adam-Christus-Gegenüberstellung, die ebenfalls über den Gegensatz ὑπακοή –­ παρακοή (Röm  5,19) konstruiert war, doch würde man in Röm  6,16 eigentlich χάρις statt ὑπακοή erwarten,366 denn in Röm  5,21 bildete χάρις den Gegenbegriff zu ἁμαρτία: „Sklaven der Gnade“ wäre – ausgehend von Röm  5,21 – ja der Ge­ genbegriff zu „Sklaven der Sünde“! In Röm  6,16–18 werden δικαιοσύνη und ὑπακοή nun aber subtil neukonnotiert. So ist ὑπακοή in Röm  6,16 „nicht mehr 365  Haacker, Römer, 133 versteht die „Gestalt der Lehre“ als negativ konnotierten Be­ griff und stützt diese Beobachtung auf die negative Bedeutung von παραδίδωμι. Für ihn ist der τύπος die „Prägung“, die „Sozialisation“, die „unguten Traditionen“. Dagegen wendet Starnitzke, Struktur, 226 ein, dass ὑπακούω in Röm  6,16d „eindeutig positiv qualifiziert“ ist. Der τύπος ist ihm zufolge deutliches „Äquivalent zu δικαιοσύνη und […] Gegenbegriff zu ἁμαρτία“ und meint die „Lehre, die sie übergeben bekommen haben“ (ebd.). Auch wenn die Klärung des Begriffs τύπος διδαχῆς als „Lehre“ oder „Taufsymbol“ (vgl. Wilckens, Römer II, 36) weiterhin Schwierigkeiten bereitet, so legt die antithetische Anordnung in Röm  6,17 sowie die positive Konnotation von ὑπακούω eine Interpretation i. S. Starnitzkes nahe. Wolter, Römer, 397 ordnet den Vers syntaktisch neu, um das Problem zu lösen. Er versteht παρεδόθητε passivisch und begreift τύπος διδαχῆς als Objekt zu ὑπακούω, so dass er übersetzt: „Ihr wart Sklaven der Sünde, doch seid ihr von Herzen gehorsam geworden dem Kern der Lehre, der euch übergeben wurde“ (aaO. 386). Er versteht den τύπος διδαχῆς als „eine Ver­ dichtung der Christus-Botschaft auf ihren wesentlichen Gehalt“ (aaO. 398). Eine antinomis­ tische Spitze bemerkt Schreiner, Romans, 336: „A contrast with the Mosaic law is possible […]. What the law could not produce (cf. ‚under law‘ in vv. 14–15) was obedience to the will of God. Both Jeremiah (31:31–34) and Ezekiel (11:19–20; 36:26–27) predicted a day when God would grant his people the ability to keep the law.“ 366 Die ὑπακοή in der Adam-Christus-Gegenüberstellung ist nicht genau definiert, der Kontext legt jedoch nahe, dass es sich um Christi Gehorsam zum Tode handelt. Vgl. dazu auch Starnitzke, Struktur, 223: „Ὑπακοή bzw. ὑπακούω sind damit in V. 16 doppelt quali­ fiziert: zum einen allgemein als Beschreibung beider Herrschaftsbereiche (V. 16a und b) und zum anderen speziell als Charakterisierung der zweiten, Christus gemäßen, Existenzweise (V. 16d).“ Vgl. auch Schreiner, Romans, 331, der ὑπακοή als „submission to the will of God“ bestimmt. Zur Verwendung des Begriffs ὑπακοή vgl. auch Wolter, Römer, 395: „[ Ὑ ]πακοή fungiert hier als metonymische Umschreibung für den Glauben, und ‚Sklaven des Gehorsams‘ würde Paulus all diejenigen nennen, die sich in ihrer Lebensführung konse­ quent und kompromisslos von ihrem Christus-Glauben bestimmen lassen, wie das bei Skla­ ven in Bezug auf die Weisungen ihrer Herren der Fall ist […].“ Jewett, Romans, 417 macht zudem auf die Verwendung von ὑπακοή im Präskript aufmerksam: „Yet it remains central for Paul’s apostolic mission to the Gentiles to teach the ‚obedience of faith‘ (1:5) […].“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Formalbegriff auf der Ebene der Metapher ‚Sklaverei‘, sondern ethischer [!] Ge­ genbegriff zu ‚Sünde‘“367. Ähnliches gilt auch für δικαιοσύνη: Während Paulus noch in Röm  6,16 unter δικαιοσύνη das Urteil Gottes und einen Gegenbegriff zum Gerichtstod versteht,368 bezieht er in Röm  6,18 die δικαιοσύνη auf das ethische Verhalten.369 Ulrich Wilckens beschreibt die Ambiguität des Begriffs δικαιοσύνη im hiesigen Argumentationskontext daher treffend: „Wie die Sünde ihre Wirklichkeit im konkreten Tun hat, so auch die Gerechtigkeit […]“370. Hier kann δικαιοσύνη nur noch im Kontext jüdischer Vorstellungen als „Gemein­ schaftstreue“371 verstanden werden, die sich – nach ihrer Realisierung im Ge­ richt als δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ – nun auch ethisch als zwischenmenschliche δικαιοσύνη realisieren will. Die auf Sünde und Gerechtigkeit angewendete Gehorsamsmetaphorik dient im Kontext der Argumentation von Röm  6,15–23 nun aber vor allem dazu, ein Ausschließlichkeitsprinzip festzuschreiben. Die Charakterisierung der Sünde als Herrin über den Menschen (als ihren Sklaven) ist in eine rigorose und apodik­ tische Gegenüberstellung eingebunden: Wer durch Gott von der Sünde befreit ist, kann nicht mehr unter der Sünde stehen, so dass die Möglichkeit zum Sün­ digen schlichtweg nicht gegeben ist. Damit behauptet Paulus in Röm  6,16–18 eine theologische Unmöglichkeit: Er entzieht dem Sündigen jede Grundlage, in­ dem er es kontradiktorisch dem Dienst für die Gerechtigkeit gegenüberstellt, den die Adressaten als getaufte Christen ja de facto leisten. Dann muss aber auch die Gesetzesobservanz hinfällig sein, denn nicht das Gesetz garantiert das Ende der Sünde, sondern die Gnade selbst. Röm  6,19–23 konkretisiert als confirmatio dieses Ausschließlichkeitsprinzip – auch hinsichtlich des νόμος. Die Glieder sollen nicht in den Dienst der Unrein­ heit und Ungesetzlichkeit gestellt werden, wobei der Ausdruck εἰς τὴν ἀνομίαν die Vertiefung des Falls durch das Hinzutreten des Gesetzes (Röm  5,20), seine Er­ kenntnisfunktion und soteriologische Insuffizienz (Röm  5,13) auf den Punkt bringt: 367 

Haacker, Römer, 132. Vgl. ebd. 369 Vgl. Theobald, Römer, 187: „‚Gerechtigkeit‘ [Hv. i. O.] als Grundzug eines geheilig­ ten, gottwohlgefälligen Lebens!“ 370  Wilckens, Römer II, 40. 371  Osten-Sacken, Perspektiven, 72: „Wie damit die dikaiosynē als dikaiosynē theou inhaltlich nichts anderes ist als Gottes Liebe zu den Verlorenen, Gottlosen, Schwachen, so kann Sklavendienst gegenüber der dikaiosynē (theou) nichts anderes sein als Handeln nach der Maßgabe dieser göttlichen Liebe.“ Vgl. auch Wolter, Römer, 406f, der sich kritisch mit dem Indikativ-Imperativ-Schema auseinandersetzt und zu dem Schluss kommt: „Wie die Tora Israel in die Lage versetzen soll, seine Identität als Gottesvolk zur Anschauung zu brin­ gen, fordert auch Paulus seine Leser auf, dass sie ihre Identität, die sie durch die Taufe gewon­ nen haben, in ihrer Lebensführung darstellen. […] Durch welche bestimmten Handlungen diese ethische Darstellung der neugewonnenen Identität erfolgen soll, sagt Paulus im Unter­ schied zur Tora freilich nicht.“ Vgl. auch Umbach, Christus, 255. 368 

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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6,19 τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ τῇ ἀνομίᾳ εἰς τὴν ἀνομίαν, δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ εἰς ἁγιασμόν […] 6,20 δοῦλοι ἦτε τῆς ἁμαρτίας ἐλεύθεροι ἦτε τῇ δικαιοσύνῃ Tabelle 45a: Befreiung von der Sünde zum Dienst für das Gesetz in Röm  6,19f

Die ἁμαρτία wird in Röm  6,19f mit ἀκαθαρσία und ἀνομία in Zusammenhang gebracht,372 alle drei werden aber in der Vergangenheit lokalisiert, sind also von den Christen bereits überwunden. Nun blendet Paulus in Röm  6,22f aber wie­ der die Gerichtsperspektive ein und knüpft damit an Röm  1–3, über das Lohn/ Sold-Motiv (ὀψώνια) aber auch an die Sklavenmetaphorik von Röm  6,16–18 an: 6,22 ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ 6,23 ὀψώνια τῆς ἁμαρτίας θάνατος τὸ δὲ χάρισμα τοῦ θεοῦ ζωὴ αἰώνιος Tabelle 45b: Das Lohn-Motiv in der Gegenüberstellung der Dienste (Fortsetzung)

Hier nun entwickelt Paulus den eigentlichen Gegenbegriff zum Leben ὑφ᾽ ἁμαρτίαν: Δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ. Der Dienst für Gott ist die einzig aussichts­ reiche, weil lohnende (Röm  6,23) Existenzweise. Er löst den Dienst für die Sünde ab, der sich als Ungerechtigkeit, Neigung zu den ἐπιθυμίαι und Missach­ tung des Gesetzes erwiesen hat, alle Menschen einschließt (vgl. Röm  3,9: ὑφ᾽ ἁμαρτίαν εἶναι) und zum verdienten (ὀψώνια) Gerichtstod führt. Damit lautet die Botschaft von Röm  6,23 zum einen: Der Sünde „zu dienen, lohnt sich nicht!“373. Zum anderen deutet Paulus auch hier eine Gesetzeskritik an, denn während dem Sklavendienst für die Sünde die Gesetzlosigkeit entspricht, ent­ spricht dem Gottesdienst nicht die Gesetzesobservanz. Der Herrschaftswechsel schließt keine Wiederentdeckung oder Reaktivierung des Gesetzes ein, son­ dern das Gesetz gehört in die Vergangenheit von Sünde und Tod. Die Funktion des Sündenbegriffs in der conplexio. In der conplexio taucht der Sün­ denbegriff lediglich in der Wortverbindung τὰ παθήματα τῶν ἁμαρτιῶν auf (Röm  7,5f ). Fast beiläufig streut Paulus den Gedanken ein, dass das Gesetz die Leidenschaften der Sünden wecke: Starnitzke, Struktur, 227; Räisänen, ΕΠΙΘΥΜΙΑ, 96; Wolter, Römer, 400: „[…] als Sammelbegriffe für alle möglichen Übertretungen von Gottes Weisung, die Heil­ losigkeit und Gottesferne“. 373  Haacker, Römer, 135. Starnitzke, Struktur, 228 macht außerdem auf den Unter­ schied zwischen ὀψώνια und χάρισμα aufmerksam: „Das ewige Leben ist keine ‚Bezahlung‘ (ὀψώνια) für den geleisteten Dienst (V. 23a), sondern ein Geschenk ( χάρισμα, V. 23b), das die zuvor verwendete Metaphorik von Dienst und Herrschaft letztlich sprengt.“ 372 Vgl.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

„(5) Als wir nämlich noch im Fleisch waren, waren die Leidenschaften der Sünden (τὰ παθήματα τῶν ἁμαρτιῶν), die durch das Gesetz geweckt worden waren, in unseren Glie­ dern, um Früchte zu tragen für den Tod. (6) Nun aber sind wir, weil wir gestorben sind, von dem Gesetz entbunden, in dem wir gefangen waren, sodass wir in der Neuheit des Geistes dienen und nicht in der Altheit des Buchstabens.“

Hinsichtlich der Verwendung des Sündenbegriffs in diesem Kontext lassen sich zwei Beobachtungen festhalten: 1.  Im Zentrum der conplexio steht die Entbindung der Adressaten vom Gesetz. Dass die Sündenthematik hier nur noch gestreift wird, hängt damit zusam­ men, dass sie lediglich der theologischen Problemlösung in Röm  6,15–23 ge­ dient hat und dass die ganze Argumentation von Röm  6,15–7,6 von vornherein auf die Befreiung vom Gesetz angelegt war. In der attentionalen Analyse wurde bereits darauf hingewiesen, dass vor al­ lem Röm  7,4 auf 7,1–3 bezogen ist, während Röm  7,5f semantisch in die Gegen­ überstellung von Röm   6,19–23 verweist (δουλεύειν, ἐν τοῖς μέλεσιν ἡμῶν, καρποφορῆσαι τῷ θανάτῳ). Auch die Gegenüberstellung von „früher“ und „jetzt“ ist an Röm  6,19–23 angelehnt. So lässt sich die Gegenüberstellung der Dienste von Röm  6,19–23 bis in die conplexio „verlängern“: Zeit Dienst

ὅτε

νυνί

δοῦλοι ἦτε τῆς ἁμαρτίας ἐλεύθεροι ἦτε τῇ δικαιοσύνῃ;

ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ

Frucht Ziel Form der Abgeltung

ἐφ’ οἷς νῦν ἐπαισχύνεσθε

εἰς ἁγιασμόν

τὸ γὰρ τέλος ἐκείνων θάνατος

τὸ δὲ τέλος ζωὴν αἰώνιον

τὰ γὰρ ὀψώνια τῆς ἁμαρτίας θάνατος

τὸ δὲ χάρισμα τοῦ θεοῦ ζωὴ αἰώνιος ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τῷ κυρίῳ ἡμῶν

Status des Gesetzes

ὥσπερ γὰρ παρεστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ τῇ ἀνομίᾳ εἰς τὴν ἀνομίαν

οὕτως νῦν παραστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ εἰς ἁγιασμόν

[…] ἦμεν ἐν τῇ σαρκί, τὰ Darstellung des Gegensatzes παθήματα τῶν ἁμαρτιῶν τὰ διὰ τοῦ νόμου ἐνηργεῖτο ἐν τοῖς in 7,5f μέλεσιν ἡμῶν… εἰς τὸ καρποφορῆσαι τῷ θανάτῳ

[…] κατηργήθημεν ἀπὸ τοῦ νόμου ἀποθανόντες ἐν ᾧ κατειχόμεθα ὥστε δουλεύειν ἡμᾶς ἐν καινότητι πνεύματος καὶ οὐ παλαιότητι γράμματος.

Tabelle 46: Die Gegenüberstellung von Einst und Jetzt (Röm  6,19–23) in Röm  7,5f

Bei der Gegenüberstellung der Dienste war hinsichtlich des Gesetzes eine „Leer­ stelle“ auf der νυνί-Seite zu verzeichnen (s. o.): Paulus hat in Röm  6,19 lediglich behauptet, dass der Dienst für Sünde und Gesetzlosigkeit zu (weiterer) Gesetz­ losigkeit geführt habe, eine positive Funktion des Gesetzes im Dienst für Gott fehlte jedoch. Diese „Leerstelle“ wird in Röm  7,5f nachträglich gefüllt: Im

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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„Jetzt“ hat das Gesetz seine Relevanz für die Adressaten definitiv verloren, weil sie „zu Tode gebracht wurden“ und in der „Neuheit des Geistes“ leben. Paulus überträgt das Ausschließlichkeitsprinzip, das er in Röm  6,16–23 begründet hat, in die anthropologische Gegenüberstellung von Fleisch und Geist und forciert in diesem Zusammenhang die Aussage von Röm  5,20f: dass das Gesetz nicht nur nichts zur Überwindung des Zusammenhangs von Sünde und Tod beiträgt, sondern den Fall vergrößert. Röm  7,5 stellt somit eine bewusste Überspitzung des Zusammenhangs von Röm  6,15–7,3 dar: Paulus hält fest, dass das Gesetz auf die Seite des Tun-Ergehen-Zusammenhangs von Sünde und Tod gehört. Erst damit kommt die in Röm  6,15 angestoßene Argumentation zu einem Ende und zu einer schlüssigen Auflösung: Die Adressaten dienen Gott und nicht der Sün­ de – in der Rede vom „Tod für das Gesetz“ (Röm  7,4.6) und vom Dienst in der Neuheit des Geistes (Röm  7,6) kommt pointiert zum Ausdruck, dass für die heidenchristlichen Adressaten das Gesetz seine normative Funktion verloren hat. 2.  Die Aussage, dass das Gesetz die παθήματα τῶν ἁμαρτιῶν wecke, sticht aus der conplexio heraus, denn sie ergibt sich nicht schlüssig aus der vorigen Argu­ mentation. Paulus leitet mit dem Gedanken vielmehr zur nächsten argumentatio über, eine Strategie, die er bereits in Röm  6,14b verfolgt hat. Auch dort diente der affirmative Zusatz „Ihr steht nämlich nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ der Bekräftigung der abgeschlossenen und der Vorbereitung der kommenden Argumentation, ließ sich aber nicht schlüssig aus dem Argumenta­ tionszusammenhang ableiten. Dass das Gesetz die „Leidenschaften der Sünden“ geweckt habe, stellt des­ wegen keine argumentationsimmanente Schlussfolgerung dar, weil der Begriff παθήμα und der Plural τῶν ἁμαρτιῶν in der Argumentation selber nicht vor­ kommen.374 Wozu dienen diese Hinweise also, wenn mit der Feststellung aus Röm  7,4 – man sei für das Gesetz zu Tode gekommen und gehöre zu Christus – alles Entscheidende gesagt ist? Der Gedanke, dass das Gesetz nicht nur nichts am Zusammenhang von Sünde und Tod ändern kann, sondern ihn auch initi­ iert, ist neu und fügt sich nicht in die Argumentation ein,375 denn Paulus beant­ wortet die Frage nach der Geltung des Gesetzes in Röm  6,15–7,6 ja nicht retro­ 374 Die Verbindung bereitet große Verstehensschwierigkeiten. Wolter, Römer, 419 überlegt, ob es sich um einen Hebraismus handeln könnte, den man als genitivus qualitatis auflösen muss: „die sündigen Leidenschaften“, was auch Schreiner, Romans, 350 erwägt. Wolter hält letztlich den genitivus objectivus wegen des Plurals für wahrscheinlicher, so dass die „äußerlich wahrnehmbare Geschehensfolge der Leidenschaften“ (Wolter, Römer, 419) zum Ausdruck käme. 375  Der Hinweis auf die durch das Gesetz geweckten Leidenschaften darf nicht so verstan­ den werden, als würde Paulus hier von den heidenchristlichen Adressaten Abstand nehmen, sondern er zeichnet vielmehr die Konfrontationssituation nach, in der sich die Heidenchris­ ten angesichts der Observanzforderung wiedergefunden haben. Vgl. Wolter, Römer, 422: „Auch ihr Heilsgeschick [das der Heidenchristen, PB] stellt er damit als Befreiung von der Tora dar (vgl. vor allem V. 4a). Paulus gibt dadurch zu erkennen, dass er nicht nur wie in Gal 3,23–24; 4,25 die nichtchristlichen Juden, sondern auch die nichtchristlichen Heiden unter

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

grad, so dass er schlussfolgern würde: „Weil die Adressaten mit Christus ver­ bunden sind, sind sie gestorben. Wenn sie gestorben sind, ist der Tun-­ Ergehen-­Zusammenhang von Sünde und Tod gebrochen. Deswegen ist die Sünde überwunden. Deswegen spielt das Gesetz, das durch die Sünde lediglich aufgedeckt wird, keine Rolle mehr.“ Paulus setzt vielmehr alles daran, den Un­ terschied von Gesetz und Sünde zu verwischen, wobei er in Kauf nehmen muss, dass der Hinweis auf die „Leidenschaften der Sünden“ für die heidenchristli­ chen Adressaten völlig sinnlos erscheint, weil sie seiner früheren Argumenta­ tion nach dem Gesetz ja schon gestorben sind. Mit der Rede von den „durch das Gesetz geweckten Leidenschaften der Sünden“ verfolgt Paulus also weniger ein theologisches als ein rhetorisches Ziel, bereitet er doch so seine Fundamental­ kritik am Gesetz als ‚supporting actor‘ im verhängnisvollen Folgezusammen­ hang von Sünde und Tod (Röm  7,7–8,4) vor.376 Es handelt sich aber nicht um eine rhetorische Entgleisung des Apostels, sondern um eine vorausschauende kalkulierte Provokation, die frühere subtile Parallelisierungen und Assoziatio­ nen von Sünde und Gesetz zuspitzt: So hält Paulus fest, dass das Gestorbensein mit Christus nicht nur ein Gestor­ bensein für die Sünde, sondern auch für das Gesetz ist:377 Röm  6,2b: οἵτινες ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ […] Röm  6,11: οὕτως καὶ ὑμεῖς λογίζεσθε ἑαυτοὺς [εἶναι] νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. Röm  7,4a: ὥστε, ἀδελφοί μου, καὶ ὑμεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόμῳ διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ […]

Er beschreibt außerdem das Freiwerden von der Sünde auf ähnliche Weise wie das Freiwerden vom Gesetz: Röm  6,18: ἐλευθερωθέντες δὲ ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ.  Röm  7,6b: νυνὶ δὲ κατηργήθημεν ἀπὸ τοῦ νόμου ἀποθανόντες ἐν ᾧ κατειχόμεθα.

Und er schreibt dem Gesetz eine ähnliche Herrscherfunktion zu wie der Sünde: Röm  6,14a: ἁμαρτία γὰρ ὑμῶν οὐ κυριεύσει. Röm  7,1: ὅτι ὁ νόμος κυριεύει τοῦ ἀνθρώπου ἐφ’ ὅσον χρόνον ζῇ; der Herrschaft der Tora stehen sieht, obwohl sie nach 2,11–14 keine ‚Hörer des Gesetzes‘ sind und ‚das Gesetz nicht haben‘.“ 376  Mit Nachdruck weist Hellholm, Funktion, 409 darauf hin, dass es nicht ausreichend ist, ein bloßes Beieinander der Freiheit von der Sünde und der Freiheit vom Gesetz zu konsta­ tieren: „Die positive Bindung hat in beiden Fällen den einen Christus zum Objekt; die negative Entbindung dagegen hat zwei Objekte, die aber zueinander in Beziehung stehen, näm­ lich Sünde und Gesetz.“ Vgl. in diesem Sinne auch (wenn auch nicht obiger Abgrenzung folgend) Wolter, Römer, 422: „Röm  7,1–6 verhält sich zu 6,1–23 nun aber nicht so, dass die Befreiung vom Gesetz neben den Bruch mit der Sünde tritt. Sie ist vielmehr ein Teil von ihm. […] Mit 7,1–6 liest Paulus also den Gesetzesdiskurs in den Sündendiskurs ein.“ 377  Dabei ist die Form ἐθανατώθητε bemerkenswert, denn sie weist auf die Passivität des Heilsgeschehens hin. Vgl. Schreiner, Romans, 334: „The liberation of the Roman Christi­ ans from the power of sin fullfills God’s promises of liberation made to Israel in the OT.“

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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In der kalkulierten Provokation, das Gesetz wecke die παθήματα τῶν ἁμαρτιῶν, kulminiert also eine argumentative Strategie: In Röm  7,4f spitzt Paulus die bis­ herige Argumentation auf den „Tod für das Gesetz“ zu, indem er das Aus­ schließlichkeitsprinzip mit dem Beispiel der Gültigkeit der Ehegesetzgebung kombiniert: Wer der Sünde gestorben ist und unter der Gnade steht, ist vom Gesetz befreit. Hier erhält die Adam-Christus-Gegenüberstellung eine beson­ dere Schärfe und den heidenchristlichen Adressaten ist ein gewichtiges Argu­ ment gegen die Gesetzesobservanz an die Hand gegeben.378 5.3.3. Zwischenbilanz Bei Röm  6,15–7,6 handelt es sich um eine zusammenhängende, schlüssige Ar­ gumentation, deren Ziel es ist, den Adressaten die Befreiung vom Gesetz zu verkünden. Das abgerufene semantische Potential des Sündenbegriffs trägt in zweifacher Hinsicht zu diesem Ziel bei: 1. Indem Paulus die Sünde als Herrscherin oder Sklavenhalterin darstellt, die Gott diametral gegenübersteht, begründet er ein Ausschließlichkeitsprinzip: Paulus stellt fest, dass die Dienste für Sünde oder Gott sich gegenseitig aus­ schließen – man kann also nicht zwei Herren dienen. Freilich ist hinsichtlich der Adressaten alles entschieden: Sie sind der Sünde entzogen und dienen Gott. Die Sünde fungiert also (auch in diesem Zusammenhang) als Unheil, das un­ mittelbar durch Christus überwunden ist. Mit der Ausschließlichkeit des Dienstverhältnisses geht auch eine Relativierung des Gesetzes als ethischer Norm einher. Diese Relativierung deutet Paulus in Röm  6,15 an, lässt sie in Röm  6,19 anklingen und forciert sie in Röm  7,1–3 unter Zuhilfenahme des Bei­ spiels aus der mosaischen Ehegesetzgebung. Indem Paulus den Adressaten die Perspektive eröffnet, dass die Befreiung vom Sünden- zum Gottesdienst in der Vergangenheit liegt, schneidet er der Gesetzesobservanz und nomologischen Vereinnahmung des Evangeliums den Weg ab: Die Gnade ist nicht auf das Ge­ setz angewiesen, um die Sünde zu überwinden – die Gnade ist ein Herrschafts­ 378  Insofern muss die Unterscheidung einer diachronen und synchronen Perspektive auf die Sündenargumentation des Römerbriefs, wie sie Hagenow, Heilige, 168.189f vorschlägt, kritisch geprüft werden. Hagenow macht erstere an Texten wie Röm  3,21; 5,12–21 oder Röm   7,7–25, letztere an Röm   6,1–7,6 fest. Hinsichtlich Röm   6,1–14 und Röm   6,15–7,6 konnte hier gezeigt werden, dass die Überwindung der Sünde ganz auf die Relativierung des Gesetzes als Heilsinstanz zugespitzt ist. Auch die Herrschafts- und Dienstmetaphorik, die bei Hagenow die synchrone Perspektive – d. h. die bleibende Macht der Sünde für die Gemein­ de – verbürgt (vgl. aaO. 186f ), ist ganz an diesem antinomistischen Skopus ausgerichtet und kann – unter der Voraussetzung, dass Röm  6,11–14 und Röm  7,4–6 die Zusammenfassungen der Argumentationsgänge darstellen, wie es hier vorgeschlagen wurde – nicht als eine Ge­ fahrenanzeige des Paulus verstanden werden, als wolle er feststellen: „Der Mensch bleibt al­ lerdings in der Sphäre der σάρξ und damit ein potentielles Opfer der ἁμαρτία.“ (ebd.) Würde Paulus Unsicherheit oder Zweifel über die Zugehörigkeit zum Herrschaftsbereich Gottes (vgl. Röm  6,11) auf kommen lassen, würde er seine eigene Argumentation gegen das Gesetz destruieren, bildet der Tod für die Sünde (6,11) doch deren wesentliche Prämisse.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

bereich, in dem Sünde schlichtweg nicht möglich ist.379 Der „Tod für das Ge­ setz“ drückt nichts anderes als die Irrelevanz des Gesetzes hinsichtlich dieses Übergangs von dem einen in den anderen Dienst aus. 2. Paulus verfolgt insbesondere in Röm  7,4–6 die Strategie einer luziden Identifizierung von Gesetz und Sünde. Mit subtilen Begriffsassoziationen und der lapidaren, fast nebensächlichen Behauptung, das Gesetz wecke die „Leiden­ schaften der Sünden“ (Röm  7,5), legt Paulus die Spuren zu der fundamentaleren Gesetzeskritik in Röm  7,7–8,4, nämlich dass das Gesetz nicht nur eine elenk­ tische Funktion hinsichtlich der Sünde einnimmt, sondern die Sünde auch (mit)bewirkt. Der Irrelevanz des Gesetzes, die sich aus dem exklusiven Dienst­ verhältnis Gott gegenüber ergibt, entspricht eine negative Funktion des Geset­ zes: Wenn es hinsichtlich des Wirkzusammenhangs von Sünde und Tod nichts ausrichten kann, muss es nach Paulus diesen Wirkzusammenhang befördern. Es lässt sich also auch für Röm  6,15–7,6 feststellen: Das abgerufene semanti­ sche Potential des Sündenbegriffs steht ganz im Dienste der Gesetzeskritik.380 Der Sündenbegriff wird in Röm  6,15–7,6 dazu verwendet, die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung zu begründen und das Gesetz zu relativieren. Wie brisant es in diesem Zusammenhang ist, Gesetz und Sünde bis zur Ununterscheidbar­ keit aneinanderzurücken, ist Paulus natürlich klar. Wenn er in der folgenden Argumentation die Frage stellt: τί οὖν ἐροῦμεν; ὁ νόμος ἁμαρτία; (Röm  7,7), wird er sich auf die vermeintliche Nebensächlichkeit von Röm  7,4f beziehen – und sie zumindest teilweise revidieren.

5.4. Röm  7,7–8,4: Viertes Argument gegen das Gesetz – die Überwindung des Gesetzes der Sünde durch die Überwindung der somatischen Existenz des Menschen Ein letztes Mal stellt Paulus in Röm  7,7 die Frage nach dem Zusammenhang von Gesetz und Sünde. Hatte er in Röm  7,4–6 beide so nahe aneinanderge­ rückt, dass er davon sprechen konnte, das Gesetz wecke die Leidenschaften der Sünden, bemüht er sich nun darum, diese Aussage teilweise zu revidieren und den Wirkzusammenhang zwischen Gesetz und Sünde zu problematisieren: In379 Vgl. Jewett, Romans, 396. Vgl. Schnelle, Transformation, 68: „An die im Wir­ kungsfeld des Geistes Lebenden tritt Gott nicht mehr von außen mit Forderungen heran, die ‚Neuheit des Lebens‘ (Röm  6,4) vollzieht sich in der ‚Neuheit des Geistes‘ (Röm  7,6).“ 380  Schnelle, Transformation, 72–74 trifft das Problem sehr präzise: „Innerhalb dieser Konzeption hat das Gesetz weder negativ noch positiv eine Funktion, es ist kein Bestandteil der Begründungsstruktur der inklusiven Rechtfertigungslehre. […] Paulus weitet in Gal, Röm  u nd Phil die Grundanschauungen der mit der Taufe verbundenen inklusiven Rechtfer­ tigungslehre zu einer durch Universalismus und faktischen Antinomismus gekennzeichneten exklusiven Rechtfertigungslehre aus. Auf soziologischer Ebene zielt sie auf die Gleichberech­ tigung der Heidenchristen; sie sichert ihnen als Glaubende und Getaufte angesichts der judais­ tischen Infragestellung die uneingeschränkte Zugehörigkeit zum auserwählten Gottesvolk.“

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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wiefern wird durch das Gesetz der Fall vergrößert (Röm  5,20)? Inwiefern werden durch das Gesetz die Leidenschaften der Sünden geweckt (Röm  7,4–6)? Wieder soll die Argumentationsanalyse der semantischen Analyse vorausge­ hen: Es ist zu klären, auf welches Ziel die Passage, die in Röm  7,7 beginnt, zu­ steuert und wie dieses Ziel die Verwendung des Sündenbegriffs in der Argu­ mentation bestimmt. 5.4.1. Argumentationsanalyse: Röm  8,1–4 als Skopus der in Röm  7,7 beginnenden Argumentation Nachdem die argumentatio von Röm  6,15–7,6 in Röm  7,4–6 abgeschlossen und vollumfänglich auf die Adressaten appliziert worden ist, wird in Röm  7,7 eine neue Argumentation in Gang gesetzt. Auf welches Ziel läuft sie hinaus? Wie sich mittlerweile herausgestellt hat, lenkt Paulus die Aufmerksamkeit seiner Ad­ ressaten, indem er zwischen direkter Anrede und explikativ-theologischer Sprache wechselt. Auch in Röm  7,7ff geht Paulus so vor. Folgende Argumente sprechen dafür, dass Paulus die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf die Pas­ sage von Röm  8,1–4 lenkt und dass hier der Skopus, die conplexio, der Argumen­ tation von Röm  7,7–25 zu finden ist. 1. Zwar fehlt in Röm  8,1 eine direkte Applikationsformel, die Verwendung des Personalpronomens der 1. Person Plural in der Schlussakklamation von Röm  7,25a (διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν) zusammen mit der Bezeich­ nung τοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ in Röm  8,1 weist jedoch indirekt auf den appli­ kativen Charakter von Röm  8,1–4 hin: Diejenigen ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ werden in Röm  8,1 nachträglich in die Argumentation von Röm  7,7–25a „eingetra­ gen“. Paulus hält fest: Für die heidenchristlichen Adressaten ist das unheil­ volle Gegeneinander des Gesetzes Gottes und des Gesetzes der Sünde aufge­ löst.381 Auch mit Röm  8,4 geht Paulus dezidiert über die Ich-Introspektive von Röm  7,7–25a hinaus und wendet die Argumentation von Röm  7,7–25a auf die heidenchristlichen Adressaten an: Der Rechtsanspruch des Gesetzes erfüllt sich „unter uns, die nicht im Fleisch, sondern im Geist wandeln“.382 2. Röm  8,2 ist durch die Anrede „Du“ responsorisch auf das „Ich“ bezogen (ἠλευθέρωσέν σε ἀπὸ τοῦ νόμου τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου).383 Mit dem Hil­ feschrei von Röm  7,25a korrespondiert die Befreiungsbotschaft von Röm  8,2. 381 Vgl. Lichtenberger, Ich, 188f: „8,1 zieht in thetischer Weise die Konsequenz aus 7,25a, die Aussage ist aber nur im Horizont des ganzen Kapitels zu verstehen: Für die, die in Christus Jesus sind, hat das Gesetz keine zum Tode verdammende Macht mehr.“ 382 Vgl. Schnelle, Paulus, 376: „Paulus entfaltet in Röm  7,7–8,4 umfassend die Grund­ strukturen menschlicher Existenz, die sich erst im Glauben und damit im Rückblick aufde­ cken. Jenseits des Glaubens findet sich der Mensch schon immer unter der Macht der Sünde vor.“ Vgl. auch Lyu, Sünde, 329, der Römer 8 als „Lösungshinweis zur Befreiung von der Sündenmacht“ ins Auge fasst. 383  Vgl. in diesem Sinne Haacker, Römer, 187.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

3. Das „Gesetz der Sünde und des Todes“ in Röm  8,2 setzt die Ausdifferenzie­ rung des Gesetzesbegriffs in Röm  7,21–25a voraus. 4. Röm  8,3 (τὸ γὰρ ἀδύνατον τοῦ νόμου ἐν ᾧ ἠσθένει διὰ τῆς σαρκός) bringt die Insuffizienz des Gesetzes, wie Paulus sie in Röm  7,7–25 begründet hat, auf den Punkt, aber erst jetzt fasst er die Überwindung dieser Insuffizienz in den Blick: Die Erfolglosigkeit des Gesetzes wird durch die Initiative Gottes – die Sendung seines Sohnes ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας – kompensiert.384 Die Beobachtungen sprechen also dafür, Röm  8,1–4 als conplexio von Röm  7,7– 25 zu bestimmen: Paulus redet in Röm  8,1–4 die heidenchristlichen Adressaten an, nachdem er in Röm  7,7–25 die Perspektive desjenigen eingenommen hat, für den „das Gesetz hinzugekommen ist“ (Röm  5,20f ).385 Er nimmt die Adres­ saten als οἱ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ in den Blick und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass für sie der verhängnisvolle Zusammenhang von Gesetz und Sünde seine Macht verloren hat, da sie sich als Geistträger erweisen (Röm  8,4).386 Auch Röm  7,25b oder Röm  7,21–25a könnten als conplexiones in Frage kommen. Zu Röm  7,25b. Röm  7,25b könnte conplexio sein, denn der Vers schließt unmittelbar an die Dankesformel von Röm  7,25a an und hat aufgrund der konsekutiven Partikel folgernden Charakter: Ἄρα οὖν αὐτὸς ἐγὼ τῷ μὲν νοῒ δουλεύω νόμῳ θεοῦ τῇ δὲ σαρκὶ νόμῳ ἁμαρτίας. Der Vers ist jedoch Gegenstand redaktions- und literarkritischer Dis­ kussionen und aus verschiedenen Gründen kann bezweifelt werden, dass er Teil der ursprünglichen Argumentation ist.387 1.  Röm  7,24.25a beschreibt ein Dilemma, das nur durch Christus aufgelöst werden kann. Röm  7,25b würde für dieses Dilemma einen anthropologischen Lösungsvor­ schlag bzw. „Mittelweg“ offerieren: Der Mensch würde dem Gesetz der Sünde und dem Gesetz Gottes dienen (δουλεύω). Das Motiv des „Dienstes“ spielt nun jedoch in Röm  7,7–25 keine Rolle und nirgendwo im Römerbrief wird δουλεύω mit νόμος ver­ bunden. Das Verb δουλεύω wird insbesondere in der Passage von Röm  6,15–23 unmit­ telbar auf Sünde oder Gerechtigkeit bzw. auf Gott bezogen. Bisher schien Paulus gera­ dewegs die Unmöglichkeit eines „Dienstes für das Gesetz“ aufzeigen zu wollen.388 Eine anthropologische Kompromisslösung legt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ar­ gumentation zum Gesetz also nicht nahe: Die Adressaten stehen nicht mehr unter dem Gesetz (Röm  6,14b), sondern sind ihm gestorben (Röm  7,4–6). 384 Deswegen kann nicht davon die Rede sein, dass die Gesetzesthematik nur „nach­ klingt“ (vgl. aaO. 185). 385 Vgl. Lichtenberger, Ich, 137, und auch Käsemann, Römer, 184, der von einer „Aus­ weitung der Perspektive“ in Röm  7,14 spricht. 386  Man beachte die Parallele zu Gal 3,1 ff. Auch dort ist die wesentliche Prämisse der Argumentation die Geisterfahrung der Adressaten, vgl. Betz, Galaterbrief, 79. Zur Abgren­ zung nach Röm  8,5 vgl. V.6.1. 387  Für die Glosse plädieren u. a. Käsemann, Römer, 203 und Lichtenberger, Ich, 159f; dagegen Scornaienchi, Sarx, 341, Michel, Römer, 238 u. a. 388  Wolter, Römerbrief, 464 lässt dieses Argument nicht gelten und verweist darauf, dass es bei Paulus auch andere, einzigartige Wortverbindungen gebe. Dagegen ist einzuwenden, dass nicht nur die Einzigartigkeit der Wortverbindung von δουλεύω mit νόμος gegen die Ursprünglichkeit von Röm  7,25b spricht, sondern auch die unsachgemäße Verwendung des Begriffes δουλεύω in diesem Kontext.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

281

2.  Es liegt eine eigentümliche semantische Verschiebung zwischen Röm  7,25b und Röm  7,23 vor: In Röm  7,23 spricht Paulus von τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου. In Röm  7,25b erscheint der νοῦς hingegen als „Sphäre“, die – wie später der Geist – dem Fleisch ge­ genübersteht. 3.  Die rasche Abfolge der ἄρα -Konstruktionen in Röm  7,25b und Röm  8,1 ist auffäl­ lig und einzigartig im Römerbrief. Gegen die Ursprünglichkeit der ἄρα -Konstruktion in Röm  7,25b und für die Ursprünglichkeit der ἄρα -Konstruktion in Röm  8,1 spricht der enge Bezug zwischen ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ und διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν in Röm  7,25a und Röm  8,1.389 Zusammenfassend überwiegen nach wie vor die Gründe dafür, Röm  7,25b als Glosse zu verstehen. Die anthropologischen Begriffe der Passage von Röm  7,21–23 werden hier in eine prägnante Form überführt, welche die semantischen Oppositionslinien von Röm  7,21–24 deutlicher zu Tage treten lässt:390 τῷ μὲν νοΐ

δουλεύω

νόμῳ θεοῦ

τῇ δὲ σαρκί

[δουλεύω]

νόμῳ ἁμαρτίας

Tabelle 47: Semantische Oppositionen in Röm  7,25b Käme Röm  7,25b vor dem Hilfeschrei von Röm  7,24 zu stehen, würde der Vers viel­ leicht helfen, die vorigen durchaus konfusen Zusammenhänge zu erhellen. In Röm  7,25b kommt diese Erklärung jedoch gewissermaßen zu spät.391 Zu Röm  7,21–25a. Paulus wendet in Röm  7,21–25a den anthropologischen Gegensatz von Fleisch und Geist (Röm  7,14–20) auf den Gesetzesbegriff an, um zu beweisen, dass das Gesetz Gottes die Sünde nicht hervorbringt, sondern durch sie instrumentalisiert wird. Röm  7,21–25a verdichtet also durchaus die Argumentation von Röm  7,7–20. Ge­ gen den „Fazit-Charakter“392 der Verse spricht jedoch, dass das Problem für die heiden­ christlichen Adressaten nicht gelöst wird – Paulus bleibt auf der Ebene des Wortspiels und Hilfeschreis stehen und argumentiert weiterhin aus der „Ich-Introspektive“.

Röm  8,1–4 trägt also den Charakter einer conplexio.393 Hier verdichtet Paulus seine theologischen Explikationen und wendet sie auf die Adressaten an. Die Strukturanalyse bestätigt diesen Befund: Röm  7,7–25a führt schrittweise zur conplexio von Röm  8,1–4 hin. Der Text ist markant segmentiert, die einzelnen 389  Lyu, Sünde, 304–306 kritisiert zu Recht diejenigen Ansätze, die in Röm  8 ,1 und v. a. in der Folgerungspartikel ἄρα einen „abrupte[n] Tonwechsel“ (aaO. 304) sehen. 390  Käsemann, Römer, 202f versteht die Glosse als „die erste interpretatio christiana von 7–24“ – Käsemann dürfte hier eine „Kompromiss“-Formel (i. S. eines simul iustus et peccator) vorschweben. Jewett, Romans, 458 überlegt, ob der Vers nicht im letzten Moment von Paulus’ eigener Hand hinzugefügt worden sein könnte. 391  Vgl. auch Reichert, Analyse, 298. Vgl. hingegen Lyu, Sünde, 304, der davon ausgeht, Röm  7,25b erschwere das Verständnis von Röm  7,25 und 8,1. Lyu selber bestimmt Röm  7,25b nicht als Glosse, sondern versteht im Übergang von Röm  7,25b und Röm  8,1 eine „rheto­ risch konzipierte Darstellung eines schwankenden Menschen“ (aaO. 305), der angesichts der Rechtfertigung keine Verdammnis mehr fürchten muss. 392  Wolter, Römerbrief, 456. 393  Vgl. auch Umbach, Christus, 297f, der die „Zusammenfassung […], die antithetisch zu 7,14–25 zu sehen ist“ (ebd.) bis Röm  8,11 reichen lässt.

282

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Begründungsabschnitte sind aufeinander bezogen und es liegt eine kohärente Gedankenbewegung vor, die in Röm  8,1–4 gipfelt. Zur Segmentierung. Röm  7,7–25a ist durch metakommunikative Ausdrücke gegliedert. Paulus stellt in Röm  7,7 und 7,13 zwei rhetorische Fragen mit Ab­ wehrformeln. Zwischen ihnen entfaltet sich eine Rückschau in der 1. Person Singular, in der das Ich von seiner Begegnung mit dem Gesetz erzählt.394 Röm  7,14–25a ist deutlich von diesem ersten Teil abgehoben.395 Obwohl Paulus auch in Röm  7,14–25a die 1. Person Singular nutzt, erzählt er nicht mehr, son­ dern analysiert und wertet vorheriges aus – wie an der hauptsächlichen Verwen­ dung des Präsens erkennbar ist: Aus dem sprechenden Ich von Röm  7,7–13 wird in Röm  7,14–25a ein selbstreflexives Ich, das hinsichtlich seines Handelns, Wol­ lens und Denkens Stellung bezieht. Röm  7,14–25a ist wiederum in sich durch weitere Signale segmentiert: Paulus reaktiviert in Röm  7,14 und 7,18 zweimal einen Wissensbestand (οἴδαμεν und οἴδα).396 Röm  7,21–25a wird durch die Wendung εὑρίσκω ἄρα τὸν νόμον eingeleitet, die anzeigt, dass Paulus einen „Er­ kenntnisgewinn“ formuliert. Es ergibt sich demnach folgende Segmentierung: Röm  7,7–13; 7,14–17; 7,18–20; 7,21–25a; 8,1–4. Zur Interdependenz der Segmente. Röm  7,7–13 kann als thetisches Zentrum des Abschnitts bestimmt werden.397 Zwar gehen erzählende und erklärende Passa­ gen ineinander über und eine exponierte, definitive These ist nicht auszuma­ chen, doch in Röm  7,7 und 7,13398 formuliert Paulus zwei rhetorische Fragen, in denen der Leitgedanke des Abschnitts bzw. das zu Begründende greif bar wird.399 394  Vgl. zu den markanten stilistischen und perspektivischen Unterschieden in Röm  7,7– 13 und 7,14–25a auch Spaeth, Ich, 164. 395  Vgl. in diesem Sinne Haacker, Römer, 178; Esler, Conflict, 240f und Käsemann, Römer, 182. Am pointiertesten hält aber Lichtenberger, Ich, 161 fest: „7–13 führt in ruhi­ gem Erzähl- und Argumentationston den Beweis der Güte des Gebotes und der radikalen Sündhaftigkeit der Sünde, 14–25 dagegen spitzt die Argumentation unerbittlich auf die Aus­ weglosigkeit des ‚Ich‘ in seiner Gefangenschaft in Sünde und Tod zu. 14–25 ist ungleich dramatischer und ‚betroffener‘ als 7–13.“ 396 Nach Lyu, Sünde, 328 schildere Röm  7,1–13 – völlig losgelöst von der Gesetzesfrage – das „Versagen eines Christen auf soteriologischer Ebene“, Röm  7,14–25 dessen „Ausweglosig­ keit eher auf anthropologischer Ebene“. 397  Eine definitive, d. h. scharf abgegrenzte propositio oder expositio ist nicht auszumachen, wohl aber Kommentierungen der Erzählungen, die thetischen Charakter haben. 398  Die Gliederung von Röm  7,7–25a wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Insbe­ sondere die Zuordnung von Röm  7,13 bereitet Probleme. Vgl. exemplarisch Wolter und Kä­ semann: Wolter, Römerbrief, 443f setzt den Einschnitt zwischen Röm  7,12 und 7,13 und fasst die die Aoristformen in den ἵνα -Sätzen von Röm  7,13 präsentisch auf. Käsemann, Rö­ mer, 182f zieht Röm  7,13 zu 7,7–12 und übersetzt die Verben als Vergangenheitsformen. Für Käsemann sprechen der Aorist in der Auftaktfrage von Röm  7,13, aber noch mehr, dass in Röm  7,14 ein markanter Bruch über die eingeschaltete 1. Person Plural angezeigt wird. An­ ders erklärt Umbach, Christus, 279: „Röm  7,15–20 sind Illustrationen von 7,14c: ἐγὼ δὲ σάρκινός εἰμι πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν.“ 399 Wobei sich an die zweite Frage eine weitere kurze Narration anschließt: ἀλλ’ ἡ

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

283

Röm  7,7b: ὁ νόμος ἁμαρτία; 7c μὴ γένοιτο. ἀλλὰ […] Röm  7,7c–11: Ich-Erzählung Röm  7,12: Feststellung der Qualität von Gesetz und Gebot Röm  7,13a: Τὸ οὖν ἀγαθὸν ἐμοὶ ἐγένετο θάνατος; 13b μὴ γένοιτο. ἀλλὰ […] Röm  7,13b–e: Ich-Erzählung

Die beiden Fragen rahmen die erzählenden Teile ein und kommentieren sie dahingehend, dass das Gesetz bzw. Gebot mit keiner Komponente des in der Adam-Christus-Gegenüberstellung vorausgesetzten Wirkzusammenhangs von Sünde (Röm   7,7) und Tod (Röm   7,13) identifiziert werden darf. Aber (Röm  7,7.13: ἀλλά): Die Sünde hat Gesetz und Gebot instrumentalisiert, um „über die Maßen sündhaft“ zu werden und den Tod zu bringen (Röm  7,13). Was in der Applikation von Röm  8,1–4 ἀδύνατον genannt wird, verdichtet sich im thetischen Zentrum als Korruption des Gesetzes durch Sünde und Tod. Röm  7,14–17 erklärt, wie es dazu kommen konnte. In Röm  7,14 bringt Pau­ lus ein Wissen ein, über das nur er und seine Adressaten verfügen, das aber of­ fenbar dem Ich von Röm  7,7–13 verschlossen ist: Das Gesetz und das Ich sind – in anthropologischer Hinsicht – grundverschieden.400 Das eine ist geistlich, das andere fleischlich401 und „verkauft“ unter die Sünde. Paulus beschreibt eine anthropologische Zwangslage: Das Ich wird gewahr, dass es nicht erkennt, was es hervorbringt, und nicht tut, was es will. Daraus schließt es auf die Schönheit des Gesetzes402 und darauf, dass es nicht Herr im eigenen Hause ist – die Sünde ἁμαρτία, ἵνα φανῇ ἁμαρτία, διὰ τοῦ ἀγαθοῦ μοι κατεργαζομένη θάνατον, ἵνα γένηται καθ’ ὑπερβολὴν ἁμαρτωλὸς ἡ ἁμαρτία διὰ τῆς ἐντολῆς (Röm  7,13).

400 Vgl. dagegen Wolter, Römerbrief, 447, der aufgrund seiner Gliederung (er hebt Röm  7,7–12 und 7,13–25a voneinander ab) zu einem anderen Ergebnis gelangt: „In V. 7–12 und in V. 13–25 spricht ein und dasselbe Ich.“ Vgl. im obigen Sinne Jervis, Sin’s Use, 201, der betont, dass die Unterscheidung von fleischlicher und geistlicher Sphäre nur denen offen­ steht, die bereits befreit sind. Freilich geht Jervis von dieser Beobachtung aus einen ganz ande­ ren Weg der Interpretation und legt das „Gebot zum Leben“ als Gebot Christi aus (vgl. aaO. 204–206), so dass ihm die gesamte Passage als innerchristliche Auseinandersetzung und da­ mit im Grunde als eine Darstellung des Menschen als simul iustus et peccator erscheint. 401 Die traditionsgeschichtlichen Hintergründe der Charakterisierung des Gesetzes als „geistliche“ Instanz liegen im Dunkeln. Wolter, Römerbrief, 444 schlägt vor, die geistliche Qualität des Gesetzes als „Herkunft von Gott“ und Repräsentanz Gottes „in der Welt“ zu definieren. Ein plausibler Hintergrund für die Diastase von Fleisch und Geist sei das Alte Testament, wie aaO. 445 z. B. hinsichtlich Jes 31,3 erläutert wird. Betz, Mensch, 195 will die Herkunft der Geistlichkeit des Gesetzes aus der paulinischen Gesetzeskonzeption selber ab­ leiten und weist darauf hin, dass mit der „Geistlichkeit“ der Tora auf ihre bleibende Geltung in der Kirche hingewiesen werde, d. h. dort, „wo sie in der Kraft des Geistes und als Liebes­ gebot erfüllt wird“ (aaO. 196), wobei „das spezifisch Jüdische, vor allem Beschneidung und die Reinheitsgebote“ (ebd.) als „Trennungswand“ (ebd.) durch Christus eingerissen sei. Wenn Paulus im hiesigen Kontext erklärt, dass das Gesetz „geistlich“ sei, weist er also vor allem darauf hin, dass es vom Menschen unter der Sünde nicht realisiert werden kann. 402  Wie gelangt Paulus zu dieser bemerkenswerten Erkenntnis? Die Konklusion gelingt nur unter Hinzunahme der Überlegung von Röm  7,14, d. h. der Kontrastierung von Ich und Gesetz bzw. Fleisch und Geist. Das Wollen ist dem Geist zugeordnet, das Hervorbringen/ Tun/Handeln (κατεργάζομαι/πράσσω/ποιῶ) dem Fleisch. Ähnliches ist in Ansätzen bereits in

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

wohnt in ihm (Röm  7,17), was dem „Verkauftsein“ an sie entspricht.403 Bei Röm  7,14–17 handelt es sich in der Terminologie der antiken Rhetorik um eine ratio, denn die Verse begründen Röm  7,7–13: Die Sünde ist dazu im Stande, das Gesetz zu missbrauchen und das Ich zu täuschen, weil das Gesetz geistlich und der Mensch fleischlich und unfähig dazu ist, sein Handeln zu steuern. Röm  7,18–20 stellt einen weiteren zusammenhängenden Begründungsab­ schnitt dar. Dabei fällt auf, dass Röm  7,14–17 und 7,18–20 nahezu parallel auf­ gebaut sind:404 Auch Röm  7,18–20 beginnt mit einer oἶδα-Form, leitet zu einer introspektiven Passage über, in der Paulus Beobachtungen zum Wollen und Tun des Menschen formuliert, und mündet in ein Konditionalgefüge, in dem der Apostel Schlüsse hinsichtlich der Zuordnung von Gesetz und Sünde kon­ struiert: 14a1 Οἴδαμεν γὰρ 14a2 ὅτι ὁ νόμος ­π νευματικός ἐστιν, 14b ἐγὼ δὲ σάρκινός εἰμι πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν. 15a1 ὃ γὰρ κατεργάζομαι 15a2 οὐ γινώσκω. 15b1 οὐ γὰρ ὃ θέλω 15b2 τοῦτο πράσσω, 15c1 ἀλλ’ ὃ μισῶ 15c2 τοῦτο ποιῶ.

18a1 Οἶδα γὰρ Einleitungsformel über 18a2 ὅτι οὐκ οἰκεῖ ἐν ἐμοί, oἶδα 18a3 τοῦτ’ ἔστιν ἐν τῇ σαρκί μου, 18a2‘ ἀγαθόν. 18b1 τὸ γὰρ θέλειν Introspektive zum παράκειταί μοι, Verhältnis von Wollen 18b2 τὸ δὲ κατεργάζεσθαι τὸ und Tun des Menschen καλὸν οὔ. 19a1 οὐ γὰρ 19a2 ὃ θέλω 19a1’ ποιῶ ἀγαθόν, 19b1 ἀλλ’ 19b2 ὃ οὐ θέλω 19b1‘ κακὸν τοῦτο πράσσω.

Röm  4,6 überlegt worden, wo subtil ἔργα mit ἁμαρτίαι gleichgesetzt werden. Die „Schön­ heit“ des Gesetzes muss vor allem als seine gute Potentialität bzw. seine Fähigkeit, zum Gu­ ten zu ermutigen, verstanden werden. Das Adjektiv καλός ist im Römerbrief nur schwach bezeugt, in substantivierter Form taucht es im Anschluss an diese Passage in Röm  7,18 auf, wo das Hervorbringen des Schönen durch den Menschen problematisiert wird, und in Röm  12,17, wo Paulus den römischen Adressaten καλά als Ziel ihres Wirkens zum Vorteil für die Menschen zutraut und vorschreibt. Die römischen Christen sind also zu „dem Schönen“ in der Lage, das Ich in Röm  7 erkennt hingegen, dass es das nicht ist. 403  Vgl. zur Schwierigkeit der Abgrenzung Wolter, Römerbrief, 446: „γάρ [in 15a] ist folgernd“ im Gegensatz zu Schreiner, Romans, 373: „Verse 15 grounds verse 14.“ 404  Vgl. insbesondere Esler, Conflict, 240 f. Schreiner, Romans, 374 bemerkt ebenfalls die Parallelisierung, zieht aber andere Schlüsse: „The γάρ commencing verse 18 is linked with verse 17, demonstrating that verse 18 grounds the conclusion of verse 17, which asserts that the power of indwelling sin accounts for bondage to sin.“ Dagegen spricht, dass Röm  7,18 mit ἐν τῇ σαρκί das Stichwort σάρκινός von Röm  7,14 wieder aufgreift. Wolter, Römerbrief, 452f grenzt völlig anders ab. Er fasst Röm  7,17–20 als einen Abschnitt zusammen. Bei ihm bilden die Aussagen zur „in mir wohnenden Sünde“ in Röm  7,17.20 eine Art Refrain.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

16a εἰ δὲ 16b ὃ οὐ θέλω 16a‘ τοῦτο ποιῶ, 16c1 σύμφημι τῷ νόμῳ 16c2 ὅτι καλός. 17a νυνὶ δὲ οὐκέτι ἐγὼ κατεργάζομαι αὐτὸ 17b ἀλλ’ ἡ οἰκοῦσα ἐν ἐμοὶ ἁμαρτία.

20a1 εἰ δὲ 20a2 ὃ οὐ θέλω [ἐγὼ] 20a1‘ τοῦτο ποιῶ,

285

εἰ-Gefüge mit Schluss­

folgerung

20b οὐκέτι ἐγὼ ­ ατεργάζομαι αὐτὸ ἀλλ’ ἡ κ οἰκοῦσα ἐν ἐμοὶ ἁμαρτία.

Tabelle 48: Synoptische Darstellung der Argumentationsstrukturen in Röm  7,14–17 und 7,18–20

In Röm  7,18–20 scheint es um etwas Ähnliches zu gehen wie in Röm  7,14–17. Paulus rückt nun aber den Begriff σαρκινός (aus Röm  7,14) ins Zentrum seiner Überlegungen. Das Ich stellt fest, dass in ihm nichts Gutes wohnt und setzt hinzu: „in mir, das ist: in meinem Fleisch“.405 Diese privatio boni erklärt Paulus weiterführend im introspektiven Teil von Röm  7,18f, der sich jedoch von sei­ nem Pendant in Röm  7,15 in einem wichtigen Punkt unterscheidet: War Paulus noch in der ratio (Röm  7,14–17) von einer grundsätzlichen Unterscheidung von Wollen und Tun ausgegangen, so wird diese Unterscheidung nun „moralisch“ qualifiziert, insofern Paulus mit dem Gegensatz von ἀγαθόν und κακόν arbeitet. Die einzelnen Satzteile entsprechen sich, werden aber um Näherbestimmungen erweitert: 15a1 ὃ γὰρ κατεργάζομαι 15a2 οὐ γινώσκω.

18b1 τὸ γὰρ θέλειν παράκειταί μοι, 18b2 τὸ δὲ κατεργάζεσθαι τὸ καλὸν οὔ.

15b1 οὐ γὰρ 15b2 ὃ θέλω 15b1‘ τοῦτο πράσσω, 15c1 ἀλλ’

19a1 οὐ γὰρ 19a2 ὃ θέλω 19a1’ ποιῶ ἀγαθόν, 19b1 ἀλλ’

15c2 ὃ μισῶ 15c1‘ τοῦτο ποιῶ.

19b2 ὃ οὐ θέλω 19b1‘ κακὸν τοῦτο πράσσω.

Tabelle 49: Synoptische Darstellung der Gegenüberstellung von „Tun“ und „Wollen“ in Röm  7,15 und 7,18f

Die Parallelstrukturen von Röm  7,14–17 und 7,18–20 stehen also nicht gleich­ berechtigt nebeneinander, sondern bauen aufeinander auf, da die erste (Röm  7,14–­17) die geistliche Qualität des Gesetzes im Gegensatz zum fleisch­ lichen Wesen des Menschen feststellt (ὁ νόμος πνευματικός – ἐγὼ δὲ σάρκινός), während in der zweiten die Sphäre des „Fleisches“ näher bestimmt wird (ὅτι 405 Das

bedeutet aber auch, dass man zwischen „Ich“, „in mir“ und „Fleisch“ keine grund­sätzliche Unterscheidung treffen sollte, wie auch Schreiner, Romans, 374 bemerkt.

286

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

οὐκ οἰκεῖ ἐν ἐμοί, τοῦτ’ ἔστιν ἐν τῇ σαρκί μου, ἀγαθόν). Dass das Ich am Gesetz

scheitert, hängt damit zusammen, dass das Ich aufgrund seiner fleischlichen Konstitution am Guten scheitert. Oder umgekehrt: Weil das Fleisch die Realisierung des Guten verhindert, verhindert das Fleisch auch die Realisierung des Ge­ setzes.406 Der Abschnitt erfüllt damit die Funktion einer confirmatio,407 insofern er den bereits etablierten Begründungszusammenhang von Röm  7,7–13 und Röm  7,14–17 unter Aktivierung weiterer Begründungszusammenhänge stützt. Röm  7,21–25a kommt die Funktion einer Überleitung und exornatio zu, insofern Paulus nun das anthropologische Dilemma von Röm  7,14–20 mit Hilfe des Geset­ zesbegriffs reformuliert.408 Paulus hält als „Gesetz“ fest: Nicht der ganze Mensch hindert das Gesetz an seiner Realisierung – er freut sich im Innern sogar an ihm (συνήδομαι) –, seine fleischliche Natur, seine Affizierung durch die Sünde stört jedoch den Transfer des Guten von innen nach außen. Die Gegenüberstellung von Wollen und Tun (Röm  7,14–20) wird in die Gesetzesterminologie „übersetzt“: Gegenüberstellung von Wollen und Tun 15a1 ὃ γὰρ κατεργάζομαι 15a2 οὐ γινώσκω. 15b1 οὐ γὰρ ὃ θέλω 15b2 τοῦτο πράσσω, 15c1 ἀλλ’ ὃ μισῶ 15c2 τοῦτο ποιῶ.

Gegenüberstellung von Wollen und Tun des Guten 18b1 τὸ γὰρ θέλειν παράκειταί μοι, 18b2 τὸ δὲ ­κατεργάζεσθαι τὸ καλὸν οὔ. 19a1 οὐ γὰρ 19a2 ὃ θέλω 19a1’ ποιῶ ἀγαθόν, 19b1 ἀλλ’ 19b2 ὃ οὐ θέλω 19b1‘ κακὸν τοῦτο πράσσω.

Gegenüberstellung von Wollen und Tun des Schönen 21a εὑρίσκω ἄρα τὸν νόμον, 21b τῷ θέλοντι ἐμοὶ ποιεῖν τὸ καλόν, 21c ὅτι ἐμοὶ τὸ κακὸν παράκειται.

Gegenüberstellung der Gesetze 22 συνήδομαι γὰρ τῷ νόμῳ τοῦ θεοῦ κατὰ τὸν ἔσω ἄνθρωπον, 23 βλέπω δὲ ἕτερον νόμον ἐν τοῖς μέλεσίν μου ἀντιστρατευόμενον τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου καὶ αἰχμαλωτίζοντά με ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου.

Tabelle 50: Die Gegenüberstellung von Wollen und Tun in Röm  7,15–23 406 Vgl. Käsemanns Urteil, Römer, 192: „Die Terminologie wechselt in unserem Text, nicht die Sache. Was dort als Konfrontation mit dem Gebot beschrieben wurde, ist hier als Ausrichtung auf das Gute bezeichnet, in welcher man dem göttlichen Willen entspricht und zustimmt. […] Der Wechsel der Terminologie und die darin sich bekundende Veränderung der Perspektive ergibt sich aus der Differenz unserer Situation gegenüber derjenigen Adams [wie sie Käsemann in Röm  7,7–13 geschildert sieht, PB]. Wir finden den Sündenfall immer schon als Verhängnis der Sündenmacht uns vorgegeben, bestätigen ihn jedoch mit unserm Verhalten, das uns als in der Illusion stehend erweist.“ 407 Vgl. Esler, Conflict, 241: „Since Paul re-presents the same lamentable picture and arrives at the same conclusion in vv. 18–20, but without reference to the law, the conclusion is inescapable that his interest lies in the gloomy condition of human existence under the thrall of sin (which the law is powerless to affect), not in offering a defense of the law.“ 408 Vgl. Wolter, Römerbrief, 455 und pointiert Umbach, Christus, 281: „In 7,21–25 wird dieses ἐγώ in letzter radikaler Steigerung als ohnmächtiger Zuschauer seiner selbst zum Zentrum der Aussage.“

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

287

Das „Gesetz Gottes“ wird dem inneren Menschen, der das Gute tun will, zuge­ ordnet, das „Gesetz der Sünde“ dem ‚hervorbringenden Menschen‘, d. h. seinen Exekutiv- und Interaktionspotentialen hinsichtlich seiner Außenwelt, also den „Gliedern“.409 Röm  7,21–23 bietet damit eine kontrastive, anthropologisch un­ termalte Darstellung der Gesetzesproblematik im Horizont der Argumentation von Röm  7,14–20. Paulus lanciert hier ein Wortspiel mit dem νόμος410, das nä­ her ausgelegt werden muss (vgl. V.5.4.2.). Seine Pointe besteht aber ganz offen­ sichtlich darin, dass Paulus mit dem Gesetzesbegriff ein Dilemma des Menschen auf den Punkt bringt, das nur durch Christus aufgelöst werden kann, wie Käse­ mann prägnant festhält: „Alles kommt darauf an, daß der Wille nicht zu seinem Ziel gelangt, sich also als Ohnmacht erweist.“411 Paulus spitzt in Röm  7,21–25a die bisherige Argumentation auf die Lösung des Problems in Röm  8,1–4 hin zu, wenn er zeigt, dass der Mensch gefangen ist und befreit werden muss. Die Ad­ dititvität und Kunstfertigkeit des Abschnitts, die durchaus auch polemisches Potential hat (vgl. V.5.4.2.), entspricht der Qualität einer exornatio. Paulus über­ führt die bisherige Argumentation in eine anthropologische Problemanzeige, auf die die conplexio von Röm  8,1–4 als Lösung unmittelbar reagiert: Das Gesetz ist unfähig, weil es durch das Fleisch und die Sünde geschwächt ist – der inkar­ nierte Christus hingegen verurteilt die Sünde im Fleisch. Zur Kohärenz der Argumentation. Röm  7,7–8,4 lässt sich im Horizont der anti­ ken Argumentationstheorie analysieren und den verschiedenen Begründungs­ segmenten können argumentative Funktionen zugewiesen werden. Schema­ tisch stellt sich die Argumentation von Röm  7,7–8,4 folgendermaßen dar: Röm  7,7–13

expositio

Röm  7,14–17 ratio

Röm  7,18–20 rationis confirmatio Röm  7,21– exornatio 25a

409 Vgl.

Die Sünde instrumentalisiert das Gesetz und verkehrt seine lebensfördernde in eine todesfördernde Funktion. Der Mensch ist als fleischliches Wesen unter die Sünde verkauft, während das Gesetz eine geistliche Instanz darstellt. Das Fleisch hindert den Menschen daran, das Gute, das er will, zu realisieren. Dem Gegensatz von fleischlichem Ich und geistlichem Gesetz entspricht der Gegensatz von Gesetz der Sünde und Gesetz Gottes. Dieser Gegensatz stellt ein anthro­ pologisches Dilemma dar, das ohne Christus nicht aufgelöst werden kann.

Wolter, Römerbrief, 460: „Die ‚Glieder‘ stehen hier also für das ποιεῖν und

πράσσειν des Ich, von dem in V.15b–16a19–20a die Rede war.“

410 Vgl. Käsemann, Römer, 195: „Die neue Terminologie in 22 und das Spiel mit dem Begriff des Gesetzes in 22 f. weisen darauf hin, daß das Ergebnis der bisherigen Argumenta­ tion mit einer letzten radikalen Steigerung erreicht wird.“ 411  AaO. 198.

288

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  8,1–4

conplexio

Das Gesetz unterliegt dem Gesetz der Sünde und des Todes, weil es durch Sünde und Fleisch geschwächt ist. Der inkarnierte Christus löst das Dilemma auf, weil er die Verurteilung der Sünde im Fleisch bewirkt.

Tabelle 51: Argumentationsstruktur von Röm  7,7–8,4

Die hauptsächliche inventorische Leistung des Apostels besteht darin, dass er den Sündenbegriff so in die Argumentation integriert, dass er gegenüber den heidenchristlichen Adressaten beides behaupten kann: Das Gesetz ist unschuldig daran, dass die Sünde Macht über den Menschen ausübt. Aber eben auch: Das Gesetz kann nicht zum Heil führen, weil es durch die Sünde korrumpiert ist. Die Argumentation führt damit Schritt für Schritt zur conplexio von Röm  8,1–4 hin, in der Paulus die Notwendigkeit einer Intervention Gottes durch die Sen­ dung seines Sohnes in den Blick nimmt. In Röm  7,7–25a generiert Paulus das anthropologische Dilemma, in Röm  8,1–4 dessen scheinbar unmögliche Lö­ sung.412 Der Skopus der Passage liegt folglich in der Feststellung, dass die Ad­ ressaten „in Christus“ und damit der Sünde entzogen sind. Aus diesem Um­ stand kann Paulus schließlich die faktische Bedeutungslosigkeit des Gesetzes für die Heidenchristen feststellen. Exkurs zum rationalen Aspekt: Der ἀγαθόν-Begriff als Mittelbegriff einer rationalen Gedankenbewegung Im Zentrum der Argumentation steht eine rationale Gedankenbewegung, die wesent­ lich dazu beiträgt, dass die conplexio von Röm  8,1–4 gelingt. Sie ergibt sich aus einer semantischen Auffälligkeit: Die Begriffe des Guten und Schönen (ἀγαθός und καλός ) sind für Röm  7,7–25a konstitutiv. Röm  7,12f: ὥστε ὁ μὲν νόμος ἅγιος καὶ ἡ ἐντολὴ ἁγία καὶ δικαία καὶ ἀγαθή. Τὸ οὖν ἀγαθὸν ἐμοὶ ἐγένετο θάνατος; μὴ γένοιτο. ἀλλ’ ἡ ἁμαρτία, ἵνα φανῇ ἁμαρτία, διὰ τοῦ ἀγαθοῦ μοι κατεργαζομένη θάνατον, ἵνα γένηται καθ’ ὑπερβολὴν ἁμαρτωλὸς ἡ ἁμαρτία διὰ τῆς ἐντολῆς. Röm  7,16: εἰ δὲ ὃ οὐ θέλω τοῦτο ποιῶ, σύμφημι τῷ νόμῳ ὅτι καλός. Röm  7,18f: Οἶδα γὰρ ὅτι οὐκ οἰκεῖ ἐν ἐμοί, τοῦτ’ ἔστιν ἐν τῇ σαρκί μου, ἀγαθόν. τὸ γὰρ θέλειν παράκειταί μοι, τὸ δὲ κατεργάζεσθαι τὸ καλὸν οὔ. οὐ γὰρ ὃ θέλω ποιῶ ἀγαθόν, ἀλλ’ ὃ οὐ θέλω κακὸν τοῦτο πράσσω. Röm  7,21: εὑρίσκω ἄρα τὸν νόμον, τῷ θέλοντι ἐμοὶ ποιεῖν τὸ καλόν, ὅτι ἐμοὶ τὸ κακὸν παράκειται. Von Röm  7,18f und 7,21 legt es sich nahe, dass Paulus das Schöne und Gute synonym und als Gegenbegriffe zum Schlechten (κακόν) verwenden kann. Die Begriffe bezeich­ nen jedoch zwei verschiedene Qualitäten: Zum einen stellen sie das Ziel dar, auf das sich der Wille des Menschen richtet (Röm  7,18 f.21). Zum anderen bezeichnen sie eine Qua­ lität des Gesetzes (Röm  7,12 f.16).413 Beide Verwendungsweisen können in einer ratio­ nalen Bewegung aufeinander bezogen werden: 412 Vgl. Weber, Geschichte, 154: „Skopos des Abschnitts ist jedenfalls die Herausarbei­ tung der ‚ontologischen Differenz‘ von Gesetz und Sünde und damit von eigentlicher Inten­ tion und faktischer Wirksamkeit des Gesetzes.“ 413 Vgl. Wolter, Römerbrief, 452.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

289

Obersatz (das Wahrscheinliche)

Im Fleisch des Menschen wohnt nichts Gutes, so dass er es nicht vermag, das Gute und Schöne, das er will, zu realisieren (aus Röm  7,18 f.21). Untersatz (das Wahrscheinliche) Das Gesetz ist heilig und schön. Das Gebot ist heilig, gerecht und gut (aus Röm  7,12 f.16). Schlussfolgerung (das Unsichere, Das Gesetz kommt nicht zur Geltung, weil es als das als sicher erwiesen wird) „gutes und schönes“ vom Fleisch an seiner Realisierung gehindert wird. Tabelle 52: Rekonstruierter Syllogismus aus Röm  7,7–8,4 Die Schlussfolgerung wird nirgendwo explizit gezogen, kommt jedoch in der Unter­ scheidung der verschiedenen Gesetze zum Ausdruck (das Gesetz Gottes und das Gesetz der Vernunft gegen das Gesetz der Sünde und das Gesetz in den Gliedern, vgl. Röm  7,22f ). Das Gesetz ist deswegen zum Scheitern verurteilt, weil es auf einen Menschen trifft, dessen fleischliche Existenz die Hervorbringung des Guten verhindert. Damit erklärt Paulus die Insuffizienz des Gesetzes gleichwohl in einem größeren, anthropologischen Zusammenhang. Insbesondere die zweite Prämisse erfährt dann auch eine weitreichen­ de Begründung durch den Rückgriff auf den Sündenbegriff: Die Sünde ist im Personen­ zentrum des Menschen für die Verkehrung des guten Willens verantwortlich. Man könnte es auch dahingehend zuspitzen: Fleischlichkeit ist mit dem Verkauftsein unter die Sünde und der Einwohnung der Sünde im Ich identisch. Das Gesetz stellt unter dieser Voraussetzung lediglich einen Spezialfall des Guten dar, das der Mensch aufgrund seiner fleischlichen Konstitution verfehlt.

5.4.2. Die argumentative Funktion des Sündenbegriffs Auftakt und Höhepunkt der Argumentation stehen hinsichtlich des Sündenbe­ griffs in einem auffälligen Spannungsverhältnis zueinander: Hatte Paulus im thetischen Zentrum der Argumentation (Röm  7,7–13) die Identifizierung von Gesetz und Sünde oder Tod noch rigoros zurückgewiesen, behauptet er in der conplexio (Röm  8,1–4), dass Christus das Ich von einem „Gesetz der Sünde und des Todes“ befreit, d. h. mit νόμος τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου stellt Paulus eine Genitivverbindung in den Raum, in der alle drei Begriffe miteinander ver­ schmolzen sind. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern der Sünden­ begriff zum Gelingen der Argumentation, d. h. insbesondere der entscheiden­ den conplexio von Röm  8,1–4, beiträgt. Schritt für Schritt soll die Argumentati­ on hinsichtlich der Verwendung des Sündenbegriffs rekapituliert werden. Die Funktion des Sündenbegriffs im thetischen Zentrum (Röm  7,7–13). In Röm  7,7– 13 behauptet Paulus, dass die Sünde das Gesetz instrumentalisiert und an seiner Realisierung im Menschen gehindert hat. Paulus stellt das Scheitern der Tora im Modus der Erzählung, d. h. im Vergangenheitstempus, dar. Dazu greift er auf Motive der Adam-Erzählung von Gen 2f zurück, ohne diese Anleihen je­ doch explizit zu machen.

290

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Die Identität des Ich von Röm  7 ist in der Forschung auch deswegen so umstritten, weil, wer das Ich von Röm  7 zu identifizieren versucht, nicht umhin kommt, die primäre Aussageabsicht und den Abfassungszweck des Römerbriefes, die Identität der Adressa­ ten und den paulinischen Gesetzesbegriffs zu bestimmen. Verschiedene Gründe könn­ ten dafür sprechen, das Ich von Röm  7 mit dem Ich Adams zu identifizieren.414 1. Es gibt semantische Anspielungen415 auf die Adamsgeschichte: Das Täuschungs­ motiv (Röm  7,11: ἐξηπάτησέν) spielt auf Gen 3,13 an (die Frau spricht: ῾Ο ὄφις ἠπάτησέν με, καὶ ἔφαγον).416 Außerdem erinnert die Verwendung des Begriffs ἐντολή an Gen 3,11.17, wo das entsprechende Verb verwendet wird.417 2. Das Agieren der personifizierten Sünde in Röm  7,7–13 hat eine Parallele im Auf­ treten der Schlange. So wie die Schlange den Menschen täuscht, als Gott ihm gebietet, nicht vom Baum zu essen, täuscht die Sünde das Ich, als das Gebot hinzukommt. 3. Beschrieben wird in Röm  7,9 eine Zeit „ohne Gesetz“ (ἐγὼ δὲ ἔζων χωρὶς νόμου ποτέ) – das „Gebot“ tritt hinzu, d. h. das Ich blickt auf eine Zeit zurück, in der es das Gesetz nicht gegeben hat. Dieses Zeitfenster wird einerseits in Röm  5,12–14 in den Blick gefasst (Röm  5,13: ἄχρι γὰρ νόμου ἁμαρτία ἦν ἐν κόσμῳ ἁμαρτία δὲ οὐκ ἐλλογεῖται μὴ ὄντος νόμου). Andererseits könnte der Hinweis auch auf die Zeit im Paradies anspie­ len, in der Adam noch nicht mit dem Gebot konfrontiert war, keinesfalls von den Früchten des Baumes zu essen. 4. Die Charakterisierung des Gesetzes als εἰς ζωήν könnte auf die Warnung Gottes im Garten anspielen: ἀπὸ δὲ τοῦ ξύλου τοῦ γινώσκειν καλὸν καὶ πονηρόν, οὐ φάγεσθε ἀπ᾽ αὐτοῦ· ᾗ δ᾽ ἂν ἡμέρᾳ φάγητε ἀπ᾽ αὐτοῦ, θανάτῳ ἀποθανεῖσθε (Gen 2,17). Wenn die Adam-Reminiszenz das „Muster“ darstellt, „vor dessen Hintergrund das in V. 7c–11 Erzählte gesehen und verstanden werden soll“418 , dann kann der νόμος-Begriff an dieser Stelle nicht auf die Sinai-Tora verweisen, sondern müsste allgemeiner als Got­ tes Wille aufgefasst werden.419 Die Perikope hätte durch die Adam-Allusion folglich universale Bedeutung, könnte nicht nur auf den Judenchristen bezogen werden, sondern müsste auch auf den Heidenchristen anwendbar sein, der mit Gottes (universalem) Ge­ setz in Kontakt kommt, also gewissermaßen mit der Forderung des Guten. Mit dieser Interpretation stehen Beobachtungen in einem Spannungsverhältnis,420 die darauf hin­ weisen, dass mit dem Gesetz von Röm  7,7–13 die mosaische Tora gemeint ist: 1. Wenn das Gesetz nicht die Sinai-Tora meint, sondern ein Gesetz, das sich an Adam und die gesamte adamitische Menschheit wendet – der Wille Gottes (vgl. Röm  12,1–3) oder ein in die Herzen geschriebenes Gesetz (vgl. Röm  2 ,9–29) – würden mit der Neu­ bewertung des kausalen Verhältnisses von ἁμαρτία, νόμος und θάνατος die Verhältnisbe­ stimmungen, die Paulus zuvor getroffen hat, verdreht werden. In der Adam-Christus-­ Gegenüberstellung besaß der Tun-Ergehen-Zusammenhang von ἁμαρτία und θάνατος 414 Vgl. zur Forschungsgeschichte zu Röm   7 umfassend Lichtenberger, Ich, 13–104; Krauter, Perspektiven, insb. 2–9; Spaeth, Ich, insb. 166–190; Neumann, Bultmann, insb. 144–151. Die konsequenteste Exegese von Röm  7,7–25 im Lichte des Galaterbriefs und Gen 2f führt Betz, Mensch, 134–169 durch. 415  Vgl. zu verschiedenen Dimensionen von Intertextualität und zur „Anspielung“ S ­ eiler, Intertextualität, 280 f. 416 Vgl. Wolter, Römerbrief, 438. 417  So u. a. Betz, Mensch, 137 f. 418  Reichert, Analyse, 306. 419  Vgl. aaO. 306 f. 420 Vgl. Käsemann, Römer, 185.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

291

eine zeitliche Priorität vor dem Gesetz. Das Gesetz kam später hinzu, um den Fall zu vergrößern (Röm  5,20). Röm  7,8c würde so die „Chronologie“ der Adam-Christus-­ Gegenüberstellung ἁμαρτία – θάνατος – νόμος umstellen: νόμος /ἐντολή – ἁμαρτία – θάνατος.421 2. Das Verbot, nicht zu begehren (Röm  7,7f ) kann auch an Ex 20,17 bzw. Dtn 5,21422 angelehnt sein und würde dann nicht das Verbot Gottes an den Menschen wiederholen, vom Baum zu essen. 423 3. Die Charakterisierung des Gesetzes als εἰς ζωήν erinnert an zentrale Lebensverhei­ ßungen der Tora wie Dtn 6,2 424, Dtn 8,1425 oder Dtn 30,15426: Die Tora ist die gute Weisung zum Leben. Zudem kann der Begriff ἐντολή die Einzelgesetze der Sinai-Tora bezeichnen.427 4. Paulus zeigt in Röm  6,1–7,6 die Tendenz, sich vom geschriebenen, mosaischen Gesetz zu distanzieren – zuletzt geschieht dies in Röm  7,6, wenn Paulus festhält, dass die heidenchristlichen Adressaten dem Gesetz gestorben sind, womit gleichzeitig erklärt wird, dass sie nicht der „Altheit des Buchstabens“, d. h. dem geschriebenen Gesetz die­ nen, was Röm  2,27.29 entspricht. In beiden Fällen kann nur die Tora genannt sein. Paulus scheint in Röm  7,7 keinen von Röm  7,6 abweichenden Gesetzesbegriff einführen zu wollen, sondern die Argumentation schließt an die Unterscheidung von Röm  7,6 an. 5. In Röm  5,20f wird eine „Eskalation“ des Tun-Ergehen-Zusammenhangs von Sün­ de und Tod beschrieben, die durch das Gesetz in Gang gebracht worden ist. Eine ähn­ liche Eskalation wird auch in Röm  7,13 ins Auge gefasst: καθ’ ὑπερβολήν. Wenn es sich bei dem Gesetz um die Sinai-Tora handelt, stellt sich die Frage nach der Identität des Ich erneut. Es scheint wenig plausibel, dass Paulus mit dem Ich in Röm  7,7 auf Adam verweisen möchte, denn warum sollte Paulus in Röm  7,7–13 auf Adam ledig­ lich anspielen, wenn er ihn in Röm  5,12–21 explizit als heilsgeschichtlich relevante Figur genannt hat? Es wäre unwahrscheinlich, dass die Adressaten die Deutung des Ich als 421  Vos, Argumentation, 82f erklärt unter der Voraussetzung, dass Paulus auf Adam an­ spielt, die Neuanordnung der Begriffe mit veränderten Argumentationszielen, nämlich, dass „Heil nur in Christus möglich ist“ (ebd.), wohingegen Esler, Conflict, 234 völlig zu Recht festhält, dass eine solche Verdrehung der Begriffsbeziehungen die frühere Argumentation regelrecht destruieren würde: „[…] destroy entirely Paul’s vision of the stages of human his­ tory under God.“ 422 Gleichlautend: οὐκ ἐπιθυμήσεις τὴν γυναῖκα τοῦ πλησίον σου. οὐκ ἐπιθυμήσεις τὴν οἰκίαν τοῦ πλησίον σου οὔτε τὸν ἀγρὸν αὐτοῦ οὔτε τὸν παῖδα αὐτοῦ οὔτε τὴν παιδίσκην αὐτοῦ οὔτε τοῦ βοὸς αὐτοῦ οὔτε τοῦ ὑποζυγίου αὐτοῦ οὔτε παντὸς κτήνους αὐτοῦ οὔτε ὅσα τῷ πλησίον σού ἐστιν. 423  Räisänen, ΕΠΙΘΥΜΙΑ , 99 betont völlig zu Recht, dass es sich in Röm  7 um ein „an­ tinomistisches Verständnis“ von ἐπιθυμία handelt – nicht um das von Bultmann, Römer 7, 208 unterstellte Verständnis von ἐπιθυμία als nomistisches Streben nach Eigentlichkeit. Die­ se Interpretation wurzele vielmehr „in lutherisch-existentialer Systematik“ (Räisänen, ΕΠΙΘΥΜΙΑ, 99). 424 […] ἵνα φοβῆσθε κύριον τὸν θεὸν ὑμῶν φυλάσσεσθαι πάντα τὰ δικαιώματα αὐτοῦ καὶ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ, ὅσας ἐγὼ ἐντέλλομαί σοι σήμερον, σὺ καὶ οἱ υἱοί σου καὶ οἱ υἱοὶ τῶν υἱῶν σου πάσας τὰς ἡμέρας τῆς ζωῆς σου, ἵνα μακροημερεύσητε. 425  Πάσας τὰς ἐντολάς, ἃς ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν σήμερον, φυλάξεσθε ποιεῖν, ἵνα ζῆτε καὶ πολυπλασιασθῆτε καὶ εἰσέλθητε καὶ κληρονομήσητε τὴν γῆν, ἣν κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν ὤμοσεν τοῖς πατράσιν ὑμῶν. 426  ᾿Ιδοὺ δέδωκα πρὸ προσώπου σου σήμερον τὴν ζωὴν καὶ τὸν θάνατον, τὸ ἀγαθὸν καὶ τὸ κακόν. 427  Vgl. auch hier Dtn 6,2.

292

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Adam nachvollziehen könnten, wenn ihnen Adam vorher als derjenige Mensch vor Augen geführt worden ist, für den das Gesetz nicht erlassen ist und der trotzdem stirbt. Näher liegt, dass sie das Ich so auffassen, wie es auf den ersten Blick erscheint und auch an anderen Stellen gemeint ist: Als eine Selbstreferenz auf die Vergangenheit des Pau­ lus.428 Damit ist nun aber kein rein „biographisches Ich“ gemeint, sondern das Ich er­ füllt eine Stellvertreterfunktion im Stil des „speech-in-character“ bzw. einer προσωποποιία429. Die Stimme des Apostels vertritt einen Menschen, der mit der Tora konfrontiert wird und dem der Exklusivismus des Christusgeschehens (noch) nicht ein­ leuchtet, wie ihn Röm  3,21–26; 4,23–5,11; 5,18–21 oder Röm  7,24f forcieren: Nur Christus überwindet das Verhängnis von Sünde und Tod. Am präzisesten wird das ἐγώ deswegen als derjenige Mensch bestimmt, der mit der Tora konfrontiert wird, egal ob Jude, Judenchrist oder „Gottesfürchtiger“.430

Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass das Täuschungsmotiv und die damit verbundene Personifikation der Sünde mit Gen 2f in Zusammenhang steht, während der Gesetzesbegriff hier wie schon früher auf die Sinai-Tora verweist und das Ich den mit der Tora konfrontierten Menschen vertritt. Beide Aspekte werden hinsichtlich des Argumentationsziels miteinander verbunden: Paulus will darlegen, dass das Gesetz nicht zur Geltung kommt (Röm  8,3: ἀδύνατον) bzw. in seiner Heilsfunktion εἰς ζωήν gestört ist und dass die Rettung „früher“, noch vor dem Gesetz und unmittelbar bei der Sünde ansetzt. Der Sünde-Tod-Zusammenhang ist bereits vor der Gabe des Gesetzes und außerhalb des Gesetzes aktiviert, wie Paulus schon früher betont hat (Röm  2,12; 5,12–14). Das Gesetz wird mit der Intention erlassen, den Sünde-Tod-Zusammenhang zu durchbrechen und den Menschen „zum Leben“ zu führen, was jedoch misslingt, weil die Sünde ihre Chance ergreift und durch die Sinai-Tora über die Maßen sündhaft wird, indem sie sichtbar wird bzw. sich konkretisiert (Röm  7,13). Die 428 

Vgl. Röm  9,1–5. Stowers, Speech-in-Character, 180. Die ἐγώ -Passage fügt sich in den Stil der προσωποποιία ein: „The text portrays emotion, moral-psychological disposition, ‚inner thoughts‘, and ‚complaint‘ […]“ (aaO. 192). Vgl. auch Spaeth, Ich, 174, der den Wechsel in die Ich-Perspektive auch in Plinius-Briefen beobachtet und betont, dass Paulus die Identität des Ich bewusst offen lassen könnte. 430  Wolter, Römerbrief, 431 engt das „Ich“ auf den Juden ein: „Die Frage, für wen das Ich in V. 7 steht, ist leicht zu beantworten. Jeder, der die paulinische Darstellung bis hierher gelesen hat, wird das Ich mit jedem Juden identifizieren, der den Rechtsforderungen der Tora begegnet. Das gilt für die am Sinai versammelten Israeliten genauso wie für alle Juden seitdem – den Juden Paulus natürlich eingeschlossen.“ Stowers, Speech-in-Character, 201f erweitert diesen Kreis und macht als Adressaten von Röm  7 die sog. Gottesfürchtigen aus, also „Gentiles who had associated themselves with Judaism before Coming to Christ“ (aaO. 202). Auch Stowers geht dabei von Röm  8 aus, vgl. Stowers, Speech-in-Character, 202: „Thus after the speaker in chapter 7 depicts the dilemma of Gentiles who know the law, Paul in chapter 8 describes how the Gentile can be free from the mind of the flesh and be given a new mind through the Spirit of Jesus Christ.“ Was Stowers hingegen übersieht, ist, dass Paulus mit der universalen Ausrichtung von Röm  7 und der Verlagerung des Problems der Sünde auf eine anthropologische Ebene ebenso die Juden im Blick hat, worauf Murariu, Characters, 739 hinweist: „[…] Stowers ignores the universality […] of the tragic division within the human being that follows the fall […].“ 429 Vgl.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Personifikation der Sünde in diesem Zusammenhang dient also vor allem der Auflösung eines argumentativen Dilemmas: Warum kann sich die Tora, die dem Leben dient, nicht realisieren und den Tod nicht abwenden? Die Sinai-Tora erleidet das gleiche Schicksal wie das Gebot Gottes im Paradies.431 Paulus trans­ loziert die Gabe der Tora in die Adam-Situation und greift auf das Täuschungs­ motiv von Gen 3 zurück:432 Wie die Schlange sich erst zur Wort meldet, als Gott das Verbot zum Genuss der Früchte erlassen hat, so ergreift auch die Sünde ihre Chance, als die Sinai-Tora auf Israel trifft. Freilich macht Paulus diese Deixis nicht explizit – es bleibt bei der Allusion, denn Paulus möchte die Rezeption von Röm  7,7–25a durch die Adressaten nicht „mythologisch“ verengen. Das Täuschungsmotiv steht im Vordergrund, nicht Adam. Kurzum: Paulus macht die Adam-Reminiszenz deswegen nicht explizit, weil er auf Motive der Erzäh­ lung zurückgreift, ohne dass er die Adam-Geschichte als Deutungshorizont voraussetzen möchte. Gen 2f steht im Hintergrund der Erzählung von Röm  7,7– 13, dient aber ganz der Argumentation gegen die Toraobservanz.433 Die von Gen 2f inspirierte Personifikation der Sünde stellt dabei offenbar eine eigenständige inventorische Leistung des Paulus dar.434 Vor diesem Hintergrund muss nun Röm  7,7–13 analysiert werden. Dem nar­ rativen Charakter der Passage soll im folgenden Durchgang ein close reading ent­ sprechen: Das „Handeln der Sünde“ soll schrittweise nachvollzogen und hin­ sichtlich des Argumentationsziels in Röm  8,1–4 gewichtet werden. Paulus eröffnet die Passage – wie in Röm  6,1 und 6,15 – mit einer rhetori­ schen Frage (Röm  7,7: τί οὖν ἐροῦμεν; ὁ νόμος ἁμαρτία;), die er emphatisch zu­ rückweist: Μὴ γένοιτο. Damit verwickelt Paulus die Adressaten (ἐροῦμεν)435 erneut in eine falsch verstandene Assoziation von Sünde und Gesetz. Mit Röm  7,7d wechselt Paulus in die 1. Person Singular, nicht jedoch, um die Ver­ werfungsformel μὴ γένοιτο, sondern – im Modus der Introspektive – deren Ein­ schränkung zu begründen (ἀλλά): Zwar seien Sünde und Gesetz nicht mitein­ 431 Vgl.

Dunson, Individual, 162–165. Wolter, Römerbrief, 439 und Spaeth, Ich, 198 f. 433  Vgl. in diesem Sinne Wolter, Römerbrief, 467: „Mit dieser Einspielung der Sünden­ fallgeschichte will Paulus zum Ausdruck bringen, dass auch der jüdische Umgang mit der Tora durch dieselbe condicio humana bestimmt ist, die Juden und Nichtjuden miteinander verbindet.“ Vgl. auch Käsemann, Römer, 185, der die Spannungen des Textes folgenderma­ ßen festhält: „Der Blick auf Adam erklärt das zeitliche Moment, scheint aber die Realität des Gesetzesfrommen nicht zu treffen, während umgekehrt diese Realität nicht die Datierung auf einen konkreten Vorgang erlaubt.“ 434 Nach Röhser, Metaphorik, 125f geht das Verständnis der Sünde als personale Macht, die nach einer Wohnstätte sucht, auf Paulus selbst zurück. Er entwickelt diese Theologie auf der Basis von Reflexionen über ein „Konkurrenzverhältnis von göttlichen ‚Hypostasen‘ und Sünde“. Es handele sich um eine originär paulinische Rhetorik, die „neuartig“ geklungen haben dürfte (aaO. 128). 435 Worauf Reichert, Analyse, 299 hinweist. Wilckens, Römer II, 85 kann ἐροῦμεν als Strukturmerkmal nicht in seine Gliederung integrieren und löst das textkritisch valide oἴδαμεν als oἴδα μεν auf. 432 Vgl.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

ander zu identifizieren, doch das Ich habe durch das Gesetz die Sünde erkannt – eine Feststellung, die sich durchaus aus der bisherigen Argumentation des Römerbriefes nahelegt.436 In Röm  7,7f zeigt Paulus, dass die Sünde das Gebot nutzt, um zum Schlechten zu reizen.437 Das Verbot des Begehrens kann diesen Gedanken besonders an­ schaulich ausdrücken, weil es faktisch nicht eingehalten werden kann.438 Paulus kommentiert diesen Zusammenhang nun mit dem Zusatz χωρὶς γὰρ νόμου ἁμαρτία νεκρά (Röm  7,8b). Dieser Nominalsatz bereitet insofern Schwierigkei­ ten, als aufgrund der ausgelassenen Kopula nicht eindeutig ist, ob es sich um einen ‚theologischen Kommentar‘ handelt („denn ohne Gesetz ist die Sünde tot“) oder eine Weiterführung der Erzählung („denn ohne Gesetz war die Sün­ de tot“). Röm  7,8b kommt in einem narrativen Kontext zu stehen, in Röm  7,8a steht das regierende Verb im Aorist (κατειργάσατο), in Röm  7,9a im Imperfekt (ἔζων) – beides spricht dafür, Röm  7,8b in die Erzählung einzubetten und zu übersetzen: „[…] denn ohne Gesetz war die Sünde tot.“ Wie ist jedoch das „Tot-Sein“ der Sünde gemeint? 1. Es kann nicht in der Weise verstanden werden, dass die Sünde inaktiv gewesen ist, so dass sie sich nicht tödlich ausgewirkt hätte, denn in Röm  5,12–14 hat Paulus festgehal­ ten, dass Sünde und Tod schon vor dem Gesetz geherrscht haben. Das Problem kann auch nicht dadurch beseitigt werden, dass die Herrschaft des Todes zwischen Adam und Mose als Herrschaft des physischen Todes verstanden wird, während durch die Gabe des Gesetzes der Gerichtstod installiert wird.439 Der Tod wird in Röm  5,13f ja gerade als 436 Röm   3,20 bedient sogar den gleichen Wortstamm (γνω -): διὰ γὰρ νόμου ἐπίγνωσις ἁμαρτίας. Auch Röm  5,13 weist in diese Richtung – ausgehend von der Anrechenbarkeit der Sünde und der Wirkung des Gesetzes: ἁμαρτία δὲ οὐκ ἐλλογεῖται μὴ ὄντος νόμου […]. Beide

Reminiszenzen müssen beachtet werden, denn in Röm  3,20; 5,13 und 7,7d legt Paulus über­ einstimmend dar, dass durch das Gesetz die Sünde erkennbar bzw. anrechenbar wird. 437  Wolter, Römerbrief, 433 führt andere antike Texte an, in denen die „elementare menschliche Erfahrung“ beschrieben wird, dass das Verbotene besonders attraktiv erscheint, macht aber zugleich auf deren Abstand zu Röm  7 aufmerksam (aaO. 434): „In ihnen geht es durchweg um die sehr eingeschränkte Frage, ob man das, was keiner tut, durch ein Gesetz unter Strafe stellen soll, weil dadurch möglicherweise das Gegenteil erreicht wird. Dieser Diskurszusammenhang darf jedoch nicht verallgemeinert und zur Erklärung des in Röm  7,7d–8b erzählten Vorgangs herangezogen werden.“ 438 Vgl. Käsemann, Römer, 184: „Sie [die Begierde] ist vielmehr die Grundsünde schlechthin […].“ Auch Schreiner, Romans, 368 meint, dass Paulus mit Verwendung des Begehrverbotes auf die Tiefe des Sündenursprungs hinweist – die Sünde determiniere den Menschen bereits in der Entstehung seines Willens: „The warning against coveting addresses the desire of the heart, showing that transgression does not occure only when an external action is carried out contrary to the law.“ Ziesler, Commandment, 49 präzisiert: „It makes it worse, it may be suggested, because it condemns something to which we customarily give more respectable names, like ‚an insistence on fairness‘, or ‚justifiable resentment‘. However, after giving it a bad name, the Law does nothing more about it, and we continue to covet, but now in full awareness that we sin in doing so. Our position is by that much the worse.“ 439 Auch Schreiner, Romans, 367 misst die Aussagen zum Verhältnis von Sünde, Gesetz und Tod in Röm  7,7–25 an Röm  2 ,12; 3,30 und 5,12–14. Er kommt zu folgendem Ergebnis: „Sin ‚sprang to life‘ (ἀνέζησεν, anezesan, v. 9) with the onset of the commandment. The

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

295

Wirkung der Sünde ausgezeichnet – nicht erst durch das Gesetz ist der Tod zur Folge der Sünde geworden. Dies bestätigt auch Röm  2 ,12: Der Wirkzusammenhang von Sün­ de und Tod wird durch das Gesetz erkennbar – außerhalb des Gesetzes wirkt sich die Sünde aber trotzdem als Untergang bzw. Verderben aus. Die Gabe des Gesetzes wiede­ rum wirkt sich nur insofern auf die Wirksamkeit der Sünde aus, als das Gesetz die Sün­ de identifizierbar und anrechenbar macht. 2. Das Tot-Sein der Sünde kann auch nicht in dem Sinne verstanden werden, dass sie in der Welt ist, ohne zu agieren, sonst könnte sie – in der Logik der Erzählung – nicht Gelegenheit zu etwas ergreifen (ἀφορμὴν δὲ λαβοῦσα). Sie ist vor dem Gesetz da, ergreift ihre Chance und betrügt den Menschen. Dies hatte auch die Adam-Christus-Gegen­ überstellung für die Zeit vor Mose festgehalten: Die Sünde wirkt sich unter den Men­ schen aus: Alle haben gesündigt, weil Adam gesündigt hat (Röm  5,12–14).440 3. Das Tot-Sein der Sünde drückt offenbar metaphorisch aus, dass die Sünde ohne Ge­ setz nicht angerechnet wird, d. h. keine durch das Gesetz identifizierbare, anrechenbare Verfehlung darstellt. Dafür spricht, dass sich in der Erzählung durch die Gabe des Ge­ setzes folgende Dinge ereignen: Das Ich lernt die Sünde kennen (Röm  7,7), die Sünde wird erkennbar und sie wird „über die Maßen sündhaft“ (Röm  7,13).

Dass die Sünde ohne Gesetz tot sei, muss als metaphorische Zuspitzung der elenktischen Funktion des Gesetzes hinsichtlich der Sünde verstanden werden. Paulus möchte zum Ausdruck bringen, dass eine wesentliche Wirkung der Sün­ de von ihrer Erkenntnis abhängig ist, während ihre Vergebung – man denke an die Abraham-Perikope – durchaus mit ihrem Vergessen und ihrer Nicht-An­ rechnung assoziiert werden kann: Die Sünde ergreift die Chance, manifest und sichtbar zu werden, auch wenn sie schon vorher aktiv und wirkungsvoll gewe­ sen ist.441 Um dies zu verstehen, muss die Bedeutung der Ich-Perspektive in Röm  7,7–13 beachtet werden: Für das Ich ist die Sünde solange tot, nicht vor­ handen und irrelevant, bis das Gesetz sie als Sünde identifiziert. Um Paulus’ Personifikation produktiv weiterzuentwickeln: Die Sünde ist eitel: Sie will in Erscheinung treten, weil sie sich von ihrer Erkennbarkeit einen Gewinn ver­ spricht, womit sie ja auch völlig richtig liegt. Hinsichtlich des Gesetzes lässt sich dann aber nur noch mit John Ziesler feststellen:

image suggests that sin is like a beast of prey poised to leap upon its victim, but the actual jump occurs only when the commandment is enunciated. Again in verse 11 sin is said to use the commandment as its base of operations, and human beings are put to death by means of the commandment […].“ 440 Gegen Wolter, Römerbrief, 429. Er geht auf die intertextuellen Bezüge zur Adam-­ Christus-Gegenüberstellung kaum ein: „Durch das Gesetz wird die Sünde vielmehr in die Lage versetzt, das Ich sündigen zu lassen. Das Gesetz ist also weder Ursache der Sünde, noch bewirkt es die Sünde, sondern es wird von der Sünde instrumentalisiert. […] Paulus stellt sich die Sache offensichtlich so vor, dass die Sünde zwar irgendwie ‚da‘ war (über ihr ‚Wo?‘ und ‚Wie?‘ sagt er hier nichts), jedoch so lange wirkungslos geblieben war, bevor nicht das Gesetz hinzukam.“ Dem widerspricht die Vorordnung von Sünde und Tod vor das Gesetz nach Röm  5,12–14. 441  Vgl. in diesem Sinne auch Käsemann, Römer, 184.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

„It is not that the command invents desires that I otherwise would not have, but rather that having named and condemned the desires I already have, the Law makes my posi­ tion worse and not better.“442

In Röm  7,9–11 berichtet Paulus, welche Rückschlüsse das Ich nun hinsichtlich des Gesetzes zieht, wenn es stirbt. In Röm  7,11 nutzt Paulus die gleiche Formulie­ rung wie in Röm  7,8 (ἀφορμὴν λαβοῦσα): Die Sünde nutzt durch das Gebot nicht nur die Chance,443 das Begehren zu wecken, sondern kommt durch es voll zur Geltung (ganz im Sinne der Adam-Christus-Gegenüberstellung): Die Sün­ de tötet. Hier ist nicht gesagt, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sün­ de und Tod erst durch Gesetz und Gebot in Kraft gesetzt wird. Das Ich stellt nicht fest (Röm  7,10a), dass der Tod Ergebnis des Zusammenhangs von Gesetz und Sünde ist, sondern vielmehr, dass das Gesetz den Tod nicht abgewendet hat, obwohl es doch εἰς ζωήν gegeben ist.444 Erst mit Röm  7,7–13 wird die bis hier­ hin unerklärliche Spitze der Adam-Christus-Gegenüberstellung in Röm  5,20f verständlich: Das Gesetz ist ein heilsgeschichtlicher Faktor, durch den der oh­ nehin bestehende Zusammenhang von Sünde und Tod für diejenigen vertieft wird, für die das Gesetz dazugekommen ist, insofern das Gesetz nicht nur nichts an diesem Zusammenhang ändern kann, sondern vielmehr der Sünde eine Konkretisierungsmöglichkeit bietet.445 Nun schaltet Paulus einen weiteren Nominalsatz ein: ὥστε ὁ μὲν νόμος ἅγιος καὶ ἡ ἐντολὴ ἁγία καὶ δικαία καὶ ἀγαθή (Röm  7,12). Für Röm  7,12 ergibt sich das gleiche Problem wie für den Nominalsatz von Röm  7,8b. Er kann als Bestandteil der Erzählung gelesen werden („So war aber das Gesetz…“) oder aber als theo­ logische Kommentierung im Präsens („So ist aber das Gesetz…“). Zwar greift Paulus in der unmittelbar folgenden Frage (Röm  7,13) auf den Aorist zurück (ἐγένετο), doch geht es ihm um eine theologische Fehldeutung der Erzählung von Röm  7,7–11, die ja dann auch schroff zurückgewiesen wird (Röm  7,13: μὴ γένοιτο). Dies spricht dafür, Röm  7,12 im Gegensatz zu Röm  7,8b präsentisch aufzufassen und auf Röm  7,13 zu beziehen: Die Güte von Gesetz und Gebot wird im weiteren Verlauf der Passage Gegenstand eingehender Reflexionen – das 442 

Ziesler, Commandment, 49. Die Wendung kann auch passivisch verstanden werden i. S. von „die Sünde erhielt die Gelegenheit“ – angesichts der anderen Aktivitäten der Sünde in Röm  7,7–13 fügt sich eine aktivische Übersetzung aber besser in den Kontext ein. 444  Wolter, Römerbrief, 437 muss zwei Tode unterscheiden, um die Spannungen zwi­ schen diesem Abschnitt und der Adam-Christus-Gegenüberstellung auszugleichen: „Dem­ nach hat die Offenbarung der Tora zur Folge, dass die Menschen seitdem nicht mehr nur wie zwischen Adam und Mose physisch sterben, sondern dass ihre Sünde, weil sie Gesetzesüber­ tretung ist, ‚verbucht wird‘ […].“ Der Unterschied zwischen Israel und den Heiden ist nach Röm  5,12–14 aber nicht die Todesfolge der Sünde – denn sonst müsste man ja fragen, warum die Heiden den Tod erleiden, wo sie doch das Gesetz nicht kennen. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass das Gesetz die Sünde erkennbar macht. 445 Vgl. Wu, Romans 7, 352 f. 443 

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

297

Gesetz war gut und ist gut.446 Röm  7,12 fasst damit die Erzählung von Röm  7,7– 11 pointiert zusammen und überführt die ursprüngliche Frage nach der Identi­ fizierung von Gesetz und Sünde in die Frage nach dem Gesetz angesichts der Todesfolge der Sünde. Wie auch in Röm  7,7 setzt Paulus mit ἀλλά fort.447 Die Sünde ergreift in Röm  7,13 die Initiative, das Gesetz zu nutzen, um als Sünde in Erscheinung zu treten, „maßlos zu wirken“ und den Tod zu bringen. Bedeutsam sind das Prädikat φανῇ, das an Röm  5,13 (dort: ἁμαρτία δὲ οὐκ ἐλλογεῖται μὴ ὄντος νόμου), und die Wortverbindung καθ’ ὑπερβολήν, die an Röm  5,20 erinnert (οὗ δὲ ἐπλεόνασεν ἡ ἁμαρτία), wo das Übermaß der Sünde durch die Gabe des Ge­ setzes beschrieben wird. Röm  7,7–13 kann daher als narrative Interpretation der Adam-Christus-Gegenüberstellung verstanden werden: Chronologie nach Röm  5,12–21 Erzählung von Röm  7,7–13

Sünde und Tod durch Adam Der Zusammenhang von Sünde und Tod ist verborgen (die Sünde ist „tot“).

„Hinzukommen“ des Gesetzes durch Mose Das Ich lernt die Sünde durch das zum Leben gegebene Gebot kennen.

Vertiefung der Sünde Die Sünde ergreift die Chance, durch das gute Gesetz zu töten, und „maßlos sündhaft“ zu werden.

Tabelle 53: Der Zusammenhang von Röm  5,12–21 und 7,7–13

Röm  7,12f hält damit die Pointe der Narration von Röm  7,7–11 fest: Das Gesetz ist machtlos, und noch mehr: Es ist von der Sünde instrumentalisiert worden. Nach der Charakterisierung der Sünde als Herrscherin (vgl. βασιλεύειν in Röm  5,20f und die Sklavenmetaphorik in Röm  6,1–14; 6,15–7,6) stellen die Aussagen zur „Tätigkeit“ der Sünde in Röm  7,7–13 die zweite herausragende Personifikation innerhalb der Sündenargumentation im Römerbrief dar. Durch die Personifikation kann Paulus beides zugleich behaupten: Einen mittelbaren Wirkzusammenhang zwischen Gesetz und Sünde und die „Unschuld“ des Ge­ setzes. Durch die Personifikation der Sünde als opportunistische Betrügerin des Menschen nimmt Paulus das Gesetz aus dem „Schussfeld“ der Argumentation: Es kommt schlichtweg zu spät448 und trifft auf einen bereits etablierten Zusam­ menhang von Sünde und Tod. Die Sünde missbraucht das Gesetz, so dass das Ich überrascht feststellen muss, dass das Gebot, das zum Leben gegeben war, zum Tod geführt hat. Die Personifikation der Sünde in Röm  7,7–13 drückt also prägnant aus, was in der conplexio von 8,1–4 hinsichtlich des Gesetzes zugespitzt wird: Das Gesetz ist unfähig dazu, Sünde und Tod abzuwenden. 446  Paulus bringt die Qualitätsmerkmale des Gesetzes ins Spiel, die bisher keine Rolle gespielt haben: Die Diastase von Gutem und Tod entspricht der Diastase von εἰς ζωήν und εἰς θάνατον. 447  So auch Lambrecht, Grammar, 471. 448 Vgl. Dodson, Powers, 139.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Die Funktion des Sündenbegriffs in ratio und rationis confirmatio (Röm  7,14–20). Paulus erörtert nun mit Hilfe von anthropologischen Interpretamenten, die in der griechisch-römischen Welt durchaus bekannt und anerkannt sind,449 die Grün­ de dafür, wie die Sünde das Gesetz instrumentalisieren konnte und dass das Gesetz ihr gegenüber das Nachsehen hat.450 Paulus präsupponiert in Röm  7,14 wie in Röm  7,1 ein – vielleicht bekanntes, vielleicht „persuasiv“ fingiertes – Gesetzesverständnis (οἴδαμεν): Er ordnet den νόμος dem πνεῦμα (πνευματικός) zu, das ἐγώ der σάρξ (σάρκινός).451 Die Selbstprädikation des Ich als σάρκινός wird durch die Partizipialverbindung πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν („verkauft unter die Sünde“), mit der Paulus abermals auf ein Versklavungsmotiv an­ spielt,452 näher spezifiziert: Fleischlichkeit und Sünde hängen unmittelbar zu­ sammen – das Fleisch ist „Wirkraum der Sünde, der ganze Mensch in seiner 449 

Vor allem die Verwandtschaft zum Medea-Stoff ist immer wieder beobachtet worden (vgl. u. a. Theissen, Aspekte, 214–223; Scornaienchi, Sarx, 323–329). Bendemann, Dia­ stase, 59f fragt aber zu Recht danach, inwiefern dieser Traditionshintergrund für die Inter­ pretation von Röm  7 relevant ist und geht dezidiert von den Adressaten aus: „Paulus setzt in Röm  7 mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit solche Reformulierung des Problems [des Auseinanderklaffens von Wollen und Tun, PB] unter den Bedingungen der römischen Kaiserzeit voraus. Ob es sich dabei um einen Vorgang des bewußten Imports oder um in­ direkte Vermittlung handelt, ist nicht sicher zu entscheiden. Letzteres ist jedoch wahrschein­ licher. Daß Paulus das Medeia-Problem aus seiner Schulbildung, eigener Lektüre oder gar eigenem Theaterbesuch kannte, ist aus verschiedenen Gründen mit einiger Sicherheit aus­ zuschließen.“ Röm  7,7–25 sei aufgrund seiner Nähe zu diesen Stoffen „durchlässig und kom­ munikabel für griechisch-römische Vorstellungen“ (aaO. 60). Mit Hilfe der paganen Inter­ pretamente überführe Paulus alttestamentliche und jüdische Vorstellungen in ein allgemein zustimmungspflichtiges argumentatives System (vgl. aaO. 62). Der Versuch, den internen Konflikt, den Paulus in Röm  7,14–20 beschreibt, in platonische Diskurse zurückzuverfolgen, steht unter der gleichen Einschränkung, vgl. Wassermann, Death, 814: „Taking the whole monologue as a depiction of soul-death accounts for the totalizing domination of sin, the metaphorical death of the ἐγώ, and the self-contradiction that the speaker claims is normati­ ve (vv. 14–25).“ 450  Die Dichte des Vorkommens von νόμος und ἁμαρτία nimmt im Gegensatz zum ersten Teil der Argumentation ab, stattdessen spielen die Verben θέλειν und ποιεῖν/πράσσειν/ κατεργάζεσθαι eine herausragende Rolle. Vgl. Käsemann, Römer, 182, der aus dieser Beob­ achtung jedoch die Schlussfolgerung zieht, dass das „Thema“ von Röm  7 eher die Sünde als das Gesetz ist. 451  Die Diskussion darüber, ob es sich bei Röm  7,14–25a um eine prä- oder postkonver­ sionale Beobachtung handelt, wird bei Schreiner, Romans, 379–390 ausführlich darge­ stellt. Im Kern dreht sich die Frage darum, ob die Aussagen in Röm  7,14–25a von einem Ich vor oder nach seiner Bekehrung getroffen werden können. Schreiner bietet einen überzeugenden Lösungsvorschlag, indem er (aaO. 390f ) Röm  8,1–4 mit in seine Überlegungen einbezieht, obwohl er Röm  8,1–4 nicht explizit als die conplexio des Gedankengangs von Röm  7,7–25a bestimmt, wie hier erwogen worden ist: „Paul reflects on whether the law has the ability to transform human beings, concluding that it does not. […] It would be a mistake to read the whole of Christian experience from this account, for, as chapter 8 shows, believers by the power of the Spirit are enabled to keep God’s law. […] Rom. 8:1 says that there is now no condemnation for believers because of their future (drawing the inference from 7:24) deliver­ ance from death […].“ 452 Vgl. Jewett, Romans, 462; Scornaienchi, Sarx, 334 f.

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Weltverfallenheit und Gottabgewandtheit, insofern Existenz im Modus der Be­ sessenheit“453. Der Ausdruck σάρκινός εἰμι πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν profi­ liert die frühere Unterwerfungsformel ὑφ’ ἁμαρτίαν (Röm  3,9) anthropolo­ gisch. Das Ziel von Röm  7,14 entspricht aber Röm  3,9 und Röm  2,12: Derjeni­ ge, der mit dem Gesetz lebt, ist Mensch und steht damit genauso unter der Sünde wie derjenige, der ohne Gesetz lebt. Auffällig ist in diesem Zusammen­ hang, dass die Vertiefung oder Verschlimmerung des Zustandes des gefallenen Menschen, wie ihn Röm  7,13 oder Röm  5,20f in den Blick genommen haben, nicht mehr zur Sprache kommt. Ziel von Röm  7,14–20 ist die anthropologische Internalisierung der Vorordnung der Sünde vor dem Gesetz: Es geht Paulus dar­ um, zu zeigen, dass die Sünde dem Menschen nähersteht als das Gesetz. Auch der Ausdruck „in mir wohnende Sünde“ (ἡ οἰκοῦσα ἐν ἐμοὶ ἁμαρτία), in dem die ratio (Röm   7,14–17) und confirmatio (Röm   7,18–20) kulminieren (Röm  7,17 und 7,20), entspricht ganz diesem Zweck. Die „in mir wohnende Sünde“ ist Subjekt derjenigen Taten, die das Ich nicht beabsichtigt. Das Ich re­ flektiert sich in Röm  7,16f und 7,20 als eine Instanz, deren Willen sich nicht als Tat ausdrücken kann. 16a εἰ δὲ 16b ὃ οὐ θέλω 16a‘ τοῦτο ποιῶ, 16c1 σύμφημι τῷ νόμῳ 16c2 ὅτι καλός. 17a νυνὶ δὲ οὐκέτι ἐγὼ κατεργάζομαι αὐτὸ ἀλλ’ ἡ οἰκοῦσα ἐν ἐμοὶ ἁμαρτία.

20a1 εἰ δὲ 20a2 ὃ οὐ θέλω [ἐγὼ] 20a1‘ τοῦτο ποιῶ, 20b οὐκέτι ἐγὼ κατεργάζομαι αὐτὸ ἀλλ’ ἡ οἰκοῦσα ἐν ἐμοὶ ἁμαρτία.

Tabelle 54: Selbstreflexion des Ich in Röm  7,16f und 7,20

Die Personifikation der Sünde als „in mir wohnende Sünde“ betont den Sub­ jektverlust, der sich aus der Diastase von Fleisch und Geist, Hervorbringen und Wollen nahelegt.454 Die heilschronologische Vorordnung der Sünde vor dem 453  Käsemann, Römer, 195. Das Besessenheitsmotiv hat Parallelen in jüdischen Texten, insbesondere in ApkMos, wie Dochhorn, Gebot, 65–68 herausarbeitet. Dort wird die Kon­ frontation Adams mit dem Gesetz mit dem Auftreten des Teufels in Zusammenhang ge­ bracht. Freilich bleiben die genauen traditionsgeschichtlichen Verbindungslinien im Dunk­ len (vgl. aaO. 73–77) und auch Dochhorn kann die Spannungen zwischen der Adam-Inter­ pretation von Röm  7,7–13 und der „Spätdatierung“ des Gesetzes in Röm  5,12–14 (vgl. aaO. 73) nicht befriedigend erklären. 454  In Röm  7,15f argumentiert Paulus: Indem das ἐγώ nicht das tut, was es will, sondern was es hasst, wird der νόμος für das ἐγώ als καλός herausgestellt, was an Röm  3,4 erinnert, wo davon die Rede war, dass sich durch die Lüge des Menschen die Wahrhaftigkeit Gottes er­ weist. Durch diese Zustimmung des ἐγώ zum νόμος zeigt sich laut Paulus aber auch, dass nicht das ἐγώ selbst handelt, sondern die in ihm wohnende Sünde. Dies wird in Röm  7,18 anthropologisch interpretiert, indem Paulus eine Barriere zwischen dem Wollen und dem Tun des ἐγώ beobachtet, nämlich die σάρξ , in der nichts Gutes (οὐκ ἀγαθόν) wohnt, so dass das Gute, das das ἐγώ eigentlich will (7,18), nicht hervorgebracht werden kann. Diese Fremd­

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Gesetz, die in Röm  7,7–13 narrativ dargestellt worden ist, wird also noch ein­ mal zugespitzt: Das Gesetz liegt dem „fleischlichen Ich“ ferner als die Sünde, sodass es für Paulus evident ist, dass sie sein Personenzentrum völlig einnimmt. Der chronologischen Vorordnung der Sünde in der Adam-Christus-Gegen­ überstellung und der narrativen Darstellung in Röm  7,7–13 entspricht also die anthropologische Zentralstellung der Sünde: Die Sünde bewirkt, dass das Ich nicht weiß, was es hervorbringt (Röm  7,15) – sie stört die Umsetzung des Wil­ lens.455 Ebenen der Über- und Vorordnung der Sünde vor dem Gesetz Chronologie nach Sünde und Tod durch „Hinzukommen“ Röm  5,12–21 Adam des Gesetzes durch Mose Erzählung nach Der Zusammenhang Das Ich lernt die Röm  7,7–13 von Sünde und Tod ist Sünde durch das verborgen (die Sünde zum Leben ist „tot“) gegebene Gebot kennen. Anthropologische Introspektive nach 7,14 Anthropologische Introspektive nach 7,17.20

Das Ich als fleischlich und verkauft unter die Sünde Die „in mir woh­nende Sünde“, die das Tun des Guten verhindert

Vertiefung der Sünde

Das Gesetz als geistliche Instanz

Die Sünde ergreift die Chance, durch das gute Gesetz zu töten, und „maßlos sündhaft“ zu werden. Wird nicht mehr thematisiert

Wird nicht mehr thematisiert

Wird nicht mehr thematisiert

Tabelle 55: Der Zusammenhang von Röm  5,12–21; 7,7–13; 7,14 und 7,17.20

Paulus deutet mithilfe der anthropologischen Überlegungen in Röm  7,14–20 an, dass das Ich, das mit dem geschriebenen Gesetz Gottes konfrontiert wird, der gleichen Wirklichkeit der Sünde unterworfen ist wie alle anderen Men­ schen auch.456 Der Wille des Ich kann sich am konkreten νόμος wie auch am abstrakteren ἀγαθόν orientieren, womit Paulus letztlich auf Röm  2 rekurriert, wo er festgestellt hat: Heiden und Juden könnten sich am Willen Gottes ausrich­ bestimmtheit findet sich dann auch in Röm  8,10: Hier nimmt der Geist Gottes Wohnung im Menschen (beachte auch Röm  8,9: εἴπερ πνεῦμα θεοῦ οἰκεῖ ἐν ὑμῖν). Vgl. Schnelle, Paulus, 372: „Die Sünde und Christus treten damit deutlich in Konkurrenz zueinander, der Mensch fungiert lediglich passiv als Wohnstätte von Mächten, die in ihm den Tod oder das Leben bewirken.“ 455  Müller, Qal-Wachomer, 86–88 macht dieses Argument für die Adam-Christus-Ge­ genüberstellung und die Übersetzung des ἐφ᾽ ᾧ stark: Es ist eben nicht nur die Tat des Einen, sondern die Tat aller. Er kann sogar von einer paulinischen Entmythologisierung (vgl. aaO. 87) sprechen. 456  So auch Murariu, Characters, 749: „It is […] an exhaustive theological approach, in which we shall briefly present the universally anthropological aspects of the division within the human being brought about by sin.“

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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ten, sei es an einem expliziten νόμος oder an einem Gesetz, das ihnen ins Herz geschrieben ist. Macht im eigentlichen Sinne – das ist die Pointe von Röm  7,14– 20 – hat ohnehin nur die ἁμαρτία. Dass Paulus dem Menschen die Willensauto­ nomie also nicht abspricht, die Umsetzung dieses Willens aber soweit begrenzt, dass man regelrecht von einer Besessenheit des Menschen sprechen kann (Röm  7,17.20), bezweckt also vor allem eins: Dass der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird.457 Die ἁμαρτία gehört zu seiner Seinsstruktur und hat ihren Platz in der σάρξ, die das gute Wollen des Menschen von dessen Realisie­ rung abschneidet. Das Gesetz scheitert an der durch die Sünde korrumpierten Natur des Menschen. Die Funktion des Sündenbegriffs in der exornatio (Röm  7,21–25a). Im Abschnitt Röm  7,21–25a, der in der Argumentationsanalyse als exornative Passage be­ stimmt wurde, werden nun mehrere Gesetze einander gegenübergestellt: –  d as Gesetz als „Gesetzmäßigkeit“ mit ὅτι recitativum: ὅτι ἐμοὶ τὸ κακὸν παράκειται (Röm  7,21), – das Gesetz Gottes, an dem sich das Ich seinem inneren Menschen nach freut (Röm  7,22), – ein „anderes Gesetz“, das mit einem „Gesetz der Vernunft“ im Konflikt steht (Röm  7,23), – das „Gesetz der Sünde“, in dem das Ich gefangen ist (Röm  7,22). Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Wendung ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου (Röm  7,23). Der Vers stellt eine satzlogische und theologische Herausforderung dar: βλέπω δὲ ἕτερον νόμον ἐν τοῖς μέλεσίν μου ἀντιστρατευόμενον τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου καὶ αἰχμαλωτίζοντά με ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου.

Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das Krieg führt mit dem Gesetz meiner Vernunft und das mich gefangen nimmt in dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.

Die satzlogische Spannung ergibt sich daraus, dass das „andere Gesetz in meinen Gliedern“ das Ich „im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist“, gefangen nimmt. Das „andere Gesetz“ und das „Gesetz der Sünde“ beanspruchen das gleiche „Operationsgebiet“ – ἐν τοῖς μέλεσίν μου –, das „andere Gesetz“ ist aber Subjekt der Gefangennahme des Ich „im Gesetz der Sünde in den Gliedern“, so dass es problematisch erscheint, das „andere Gesetz“ mit dem „Gesetz der Sün­ de“ zu identifizieren.458 457 Vgl. Käsemann, Römer, 193: „Die von Pls anvisierte Erfahrung besteht darin, daß es dem hier allein in Betracht kommenden Frommen nicht gelingt, den göttlichen Willen als das wahrhaft Gute zu verwirklichen, solange ihm der Geist Christi nicht gegeben ist.“ 458  Vgl. zu dem Problem Wolter, Römerbrief, 460 f.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Die Schwierigkeiten lassen sich auch dann nicht ausräumen, wenn die Satzglieder anders geordnet werden, wenn z. B. ἐν τοῖς μέλεσίν μου auf das Partizip bezogen wird: βλέπω δὲ ἕτερον νόμον ἐν τοῖς μέλεσίν μου ἀντιστρατευόμενον τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου καὶ αἰχμαλωτίζοντά με ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου.

Ich sehe aber ein anderes Gesetz, das in meinen Gliedern Krieg führt mit dem Gesetz meiner Vernunft und das mich gefangen nimmt in dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.

Die Umstellung trägt wenig aus: Das andere Gesetz agiert in den Gliedern, nimmt aber trotzdem das Ich im Gesetz der Sünde gefangen. Die Spannung wird nicht aufgehoben. Auch die Überlegung, ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου substantivisch auf με zu beziehen, räumt das Problem nicht aus dem Weg. βλέπω δὲ ἕτερον νόμον ἐν τοῖς μέλεσίν μου ἀντιστρατευόμενον τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου καὶ αἰχμαλωτίζοντά με ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου.

Ich sehe aber ein anderes Gesetz, das in meinen Gliedern Krieg führt mit dem Gesetz meiner Vernunft und das mich gefangen nimmt, [mich, der ich im] Gesetz der Sünde [bin], das in meinen Gliedern ist.

In diesem Fall müsste der Hinweis ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου ganz allgemein auf das Ich bezogen werden, so dass „im Gesetz der Sünde sein“ erläu­ ternd hinzutritt. Das Problem, inwiefern sich „Gesetz der Sünde in meinen Gliedern“ mit dem „anderen Gesetz in den Gliedern“ überschneidet, bleibt davon unberührt. Auch der Versuch einer Kontrastierung der Gesetzesbegriffe will keine definitive Klarheit bringen: 21a εὑρίσκω ἄρα τὸν νόμον, 21b τῷ θέλοντι ἐμοὶ ποιεῖν τὸ καλόν,

21c ὅτι ἐμοὶ τὸ κακὸν παράκειται.

22 συνήδομαι γὰρ τῷ νόμῳ τοῦ θεοῦ κατὰ τὸν ἔσω ἄνθρωπον, 23 βλέπω δὲ ἕτερον νόμον ἐν τοῖς μέλεσίν μου ἀντιστρατευόμενον τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου καὶ αἰχμαλωτίζοντά με ἐν τῷ νόμῳ τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου. 24a Ταλαίπωρος ἐγὼ ἄνθρωπος.

24b τίς με ῥύσεται ἐκ τοῦ σώματος τοῦ θανάτου τούτου; 25a χάρις δὲ τῷ θεῷ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν.

Tabelle 56: Gegenüberstellung der verschiedenen Gesetze in Röm  7,21–25

5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

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Für eine Identifizierung des „anderen Gesetzes“ mit dem „Gesetz der Sünde“ spricht nur, dass beide „in meinen Gliedern“ lokalisiert werden und dass das Pronominaladjek­ tiv ἕτερον das Gesetz dem „Gesetz Gottes“ in Röm  7,22 gegenüberstellt: Der Mensch freue sich seinem inneren Menschen nach am Gesetz Gottes, das andere Gesetz in den Gliedern verhindere jedoch dessen Realisierung.459 Die Gegenüberstellung bleibt alles in allem unscharf.

Die Inkonsistenzen bei der Bestimmung des νόμος τῆς ἁμαρτίας τῷ ὄντι ἐν τοῖς μέλεσίν μου deuten darauf hin, dass Paulus in Röm  7,21–25a den Gesetzes­ begriff bewusst verwischt. Er konstruiert Gesetzesbegriffe, die nicht die Tora bezeichnen, indem er sie mit Genitivattributen oder Adverbialbestimmungen ausstattet.460 Der absolute Gebrauch von νόμος kommt in Röm  7,21–25a über­ haupt nicht mehr vor und auch in der conplexio von Röm  8,1–4 setzt sich diese Tendenz fort.461 Paulus lenkt in Röm  7,21–25a die Argumentation bewusst in die νόμος-Terminologie, um subtil anklingen zu lassen, was die ganze Argu­ mentation von Röm  7,7 geleitet hat: „Das Gesetz ist nicht Sünde, aber…“ Paulus wäre nach seinen bisherigen Ausführungen in Röm  7,14–20 nicht unbedingt darauf angewiesen, das Auseinanderklaffen von Wollen und Tun in einer Ge­ genüberstellung von Gesetzesbegriffen auszudrücken. Vielmehr schleicht sich über den untheologischen Gebrauch von νόμος in Röm  7,21 (i. S. von „Regel“ oder „Gesetzmäßigkeit“) die Gesetzesthematik in die Argumentation ein462 und Paulus geht dazu über, ein Gesetz der Sünde zu konstruieren, das dem Ge­ setz Gottes gegenübersteht.463 Dabei ist inhaltlich überhaupt nicht klar defi­ 459  Auch die Identifikation des „Gesetzes meiner Vernunft“ mit dem „Gesetz Gottes“ ist nicht konsistent, selbst dann nicht, wenn man annimmt, dass das Gesetz Gottes deswegen als Gesetz der Vernunft erscheint, weil das Ich um dessen Qualität und Legitimität weiß, d. h. weil sich die Orientierung des Willens am Guten im Gebot Gottes widerspiegelt, das heilig, gerecht und gut ist. 460  Auch in Röm  2 spricht Paulus davon, dass die Heiden sich selbst Gesetz seien – dies jedoch in einer deutlichen Abgrenzung zur mosaischen Tora. In Röm  3,27 kontrastierte er das Gesetz der Werke und das Gesetz des Glaubens. Hier nun liegt der Fall anders: Paulus kon­ struiert die Gesetzesbegriffe luzide und lässt deren Verhältnis zur Tora bewusst offen. 461  Hier tauchen plötzlich der νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς und der νόμος τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου auf. 462 Vgl. Wolter, Römerbrief, 456 f. 463 Vgl. Murariu, Characters, 750 und Schnackenburg, Römer 7, 294: „So entwickelt unser Abschnitt die Ansätze der Adam-Christus-Konzeption weiter; er sprengt damit auch den engen und ausschließlichen Bezug des Nomos auf das ‚Gesetz des Mose vom Sinai‘ und gibt ihm eine universal-menschliche Bedeutung.“ Für eine Identifizierung des νόμος τοῦ θεοῦ mit dem νόμος τοῦ νοός votiert hingegen Luck, Das Gute, 235. Die Analyse der logi­ schen Strukturen der Argumentation hat gezeigt, dass die Tora mit dem Streben des Men­ schen nach dem Guten in Verbindung gebracht werden kann. Röm  2 könnte im Hintergrund stehen, wo in polemischer Überspitzung von einem νόμος γραπτὸς ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν der Heiden die Rede war. Vgl. Wischmeyer, Gerichtsrede, 374 in Hinblick auf Röm  2: „In diesem Zusammenhang entwickelt Paulus einen neuen, gleichsam post- bzw. transjüdischen [!], allgemein-menschlichen Gesetzesbegriff (v. 14), der nicht mehr auf die Ganzheit der Tora Israels, sondern auf das Tun des ethisch verstandenen Guten bzw. des Sittengesetzes bezogen ist.“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

niert, worin die Gesetzlichkeit dieses „Gesetzes der Sünde“ besteht. Nur unter Rückgriff auf Röm  7,21 („ich entdecke nun folgende Gesetzmäßigkeit“) lässt sich vermuten, dass im „Gesetz der Sünde“ die Regelmäßigkeit der Verkehrung des guten Willens zum Bösen ausgedrückt wird, der gegenüber auch die Tora das Nachsehen hat. Paulus will den Ausdruck „Gesetz der Sünde“ in die Argu­ mentation einbringen, um die Brisanz der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Sünde subtil anklingen zu lassen, die die Logik der Argumentation von Röm  7,14–20 jedoch eigentlich nicht zulässt464: Sie stehen sich gegenüber – bedingen sich jedoch gegenseitig. Sie operieren auf unterschiedlichen Ebenen, im Geist und Fleisch – und doch kann das Gesetz sich nicht durchzusetzen. Sie haben unterschiedliche Intentionen, führen zum Leben oder zum Tod – und doch führt das Gesetz indirekt zum Tode, weil es an der Sünde im Menschen nichts ändern kann.465 In dem νόμος-Wortspiel forciert Paulus die Frage nach dem Status des Geset­ zes als anthropologisches Problem der Unfähigkeit des Menschen zum καλόν (Röm  7,21).466 Mit dem „Gesetz der Sünde“, das die Tora unterdrückt, bringt Paulus die völlige Inanspruchnahme der Tora durch die Sünde auf den Punkt. Diese anthropologische Gesetzmäßigkeit könne weder die Natur des Menschen noch das Gesetz unterlaufen, was sich im emphatischen Ruf des Ich von Röm  7,25a ausdrückt. Das Problem des Gesetzes ist ein Problem des σώμα τοῦ θανάτου467. Der Mensch ist Fleisch, verkauft unter die Sünde, hoffnungslos vor Gott verloren (Röm  7,24). Er muss auf denjenigen warten, der an Stelle der Tora das σώμα τοῦ θανάτου überwindet. Die Funktion des Sündenbegriffs in der conplexio (Röm  8,1–4). In der conplexio wird die Argumentation von Röm  7,7–25a einerseits in der Wortverbindung „Gesetz der Sünde und des Todes“ pointiert zusammengefasst. Andererseits ver­ kündet Paulus seinen heidenchristlichen Adressaten die „Verurteilung der Sün­ 464  Denn natürlich ist das Gesetz der Sünde klar von der guten, geistlichen Tora unter­ schieden (Röm  7,14!). 465 Auch Vos, Argumentation, 73 interpretiert das Wortspiel dahingehend, dass Paulus den Begriff des Gesetzes „so eng wie möglich mit dem der Sünde und des Todes assoziieren und andererseits die These aufrecht erhalten [möchte], daß das Gesetz nicht Sünde ist“. Wolter, Römerbrief, 461 diskutiert die Frage, von wie vielen Gesetzen Paulus hier eigentlich spricht. Er zieht zu Recht die Schlussfolgerung, dass es sich um zwei Gesetze handele – Tora und Gesetz der Sünde. Schreiner, Romans, 376 trifft die Ambiguität des Ausdrucks „Gesetz der Sünde“ sehr präzise: „The νόμος ἁμαρτίας , however, may still refer to the Mosaic law without calling into question the goodness of the law. What Paul has in mind is the link between the law and sin, in that the latter uses the former to prosecute its ends. In 7:5 the passions of sin are aroused through the law. Sin used the law as its bridge of operations to increase coveting (v. 8) and to deceive and kill human beings (v. 11). The phrase ‚law of sin,‘ then, is no criticism of the law per se; rather, sin is so powerful and wicked that it can use the good law of God for its malicious purposes.“ 466 Vgl. Hahn, Gesetzesverständnis, 45f und Luck, Das Gute, 224 f. 467  Dies betont auch Luck (aaO. 234): „Er, der Mensch, sein σώμα , ist von der Sünde be­ herrscht, er ist ein Leib des Todes, für ihn gibt es kein Rettendes mehr. Das, was retten könnte, was retten sollte, der Nomos, ist ἀσθενής, hat also die δύναμις (8,3) nicht.“

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5. Röm  5,12–8,4: „magnificare peccatum“?

de im Fleisch“ durch die Sendung Jesu (Röm  8,3: ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας

ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας). Wie schon in den früheren conplexiones

teilt Paulus den heidenchristlichen Adressaten mit, dass die Sünde über sie keine Macht ausüben kann. So hält Paulus in Röm  8,1 fest, dass es kein κατάκριμα für diejenigen gebe, die in Christus sind.468 Sie sind von Gottes Urteil über die Sünde ausgenommen – der Gerichtstod, die Folge der Sünde, tritt für sie nicht ein. In Röm  8,2 stehen sich zwei Gesetze kontradiktorisch gegenüber: νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς    νόμος τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου

Hatte Paulus mit dem „Gesetz der Sünde“ in Röm  7,23 noch eine Transferstö­ rung zwischen Wollen und Tun zum Ausdruck gebracht, blendet er mit der Wortverbindung „Gesetz der Sünde und des Todes“ nun noch stärker die Folge dieser ‚Transferstörung‘ ein: Mit νόμος drückt Paulus – stärker als in Röm  7,23 – den Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sünde und Tod (Röm  5,12–14) aus. Diese nicht unerhebliche semantische Verschiebung hängt mit der kontrastiven Darstellungsweise der conplexio zusammen, denn dem „Gesetz der Sünde und des Todes“ wird das „Gesetz des Geistes des Lebens“469 gegenübergestellt. Was ist mit diesem Gesetz konkret gemeint? Die einzelnen Glieder der Ge­ setze entsprechen sich als Ursache und Folge:

νόμος νόμος

τοῦ πνεύματος τῆς ἁμαρτίας καὶ

τῆς ζωῆς τοῦ θανάτου

Der Begriff νόμος greift hier das Wortspiel von Röm  7,21–25a auf und ist immer noch i. S. einer Regelhaftigkeit zu verstehen,470 wenngleich Paulus natürlich die Torakritik mitschwingen lässt: Wie die heidenchristlichen Adressaten als „Men­ schen“ früher am Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sünde und Tod partizi­ pierten, so nun als Gläubige an dem durch Christus in Kraft gesetzten Zusam­ menhang von Geist und Leben.471 Es geht – wie schon zuvor – um eine Affir­ mation der Unmittelbarkeit des Heilsgeschehens und eine Relativierung der Tora. Christus überwindet den Sünde-Tod-Zusammenhang, was Paulus in dem plerophoren, ganz auf den Sündenbegriff zugespitzten Vers Röm  8,3 zum Aus­ 468 Mit κατάκριμα bezeichnete Paulus in der Adam-Christus-Gegenüberstellung das Ver­ dikt über die adamitische Menschheit, d. h. die Folge der Sündhaftigkeit: den Tod. Mit κατακρίνειν wurde zudem in Röm  2 ,1 das richtende Du ermahnt, sich aufgrund der eigenen Verstrickung in der Verfallsgeschichte der Menschheit eines Urteils über den Nächsten zu enthalten. Vgl. auch Esler, Conflict, 243 und Jewett, Romans, 480. 469  Vgl. Röm  7,13. 470  Vgl. präzise Umbach, Christus, 282f: Der Begriff νόμος meine hier „Prinzip, Regel, Ordnung, Macht. Der spezifische Nomosbegriff im Sinn der Thora wird ausgelassen und klingt nur noch phonetisch von fern mit an! So wird V. 2 polemisch-ironisch, indem gerade νόμος im Sinn von Thora ausgelassen wird!“ 471 Vgl. Osten-Sacken, Soteriologie, 227 f.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

druck bringt: ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί. Die ὁμοιώμα σαρκὸς ἁμαρτίας (Röm  8,3) des Sohnes, der die ἁμαρτία ἐν τῇ σαρκί verurteilt, schafft, was der νόμος nicht geschafft hat – die Überwindung der sarkischen Existenz des Menschen (Röm  7,14).472 Die Pointe der Argumentation ist freilich, dass Christus das δικαίωμα τοῦ νόμου „unter uns“ (ἐν ἡμῖν) (Röm  8,4) erfüllt. Den heidenchristlichen Adressaten wird also mitgeteilt: Die Überwindung des Wirkzusammenhangs von Sünde und Tod, die das Gesetz beabsichtigte, aber nicht vollbringen konnte, ist durch Christus möglich – was das Gesetz inten­ diert hatte, ist unter den heidenchristlichen Adressaten realisiert worden.473 472 Vgl. Lichtenberger, Ich, 192. Diese christologische bzw. soteriologische Überlegung in Röm  8,1–4 ist höchst konzentriert und gleichzeitig unterspezifiziert – Paulus begründet nicht explizit, sondern präsupponiert, dass durch die Gleichgestalt des Fleisches eine stellver­ tretende Überwindung von Sünde und Tod ermöglicht werde. Paulus dürfte dabei auf die Stellvertreterfunktion, die in der Adam-Christus-Gegenüberstellung angedacht worden ist, und auf den stellvertretenden Tod Jesu im Kontext der Taufpassage (Röm  6,2ff ) rekurrieren, denn sachlich entsprechen sich diese Aussagen darin, dass das Heilsgeschehen unmittelbar beim anthropologischen Ausgangsproblem ansetzt (der Sünde), ohne den „Umweg“ über das Gesetz zu gehen bzw. gehen zu müssen. 473 Vgl. Umbach, Christus, 283; Osten-Sacken, Soteriologie, 233 f. Diese Pointe ist vor dem Hintergrund der „Aufrichtung des Gesetzes“ in Röm  3,31 nicht überraschend. Der Begriff δικαίωμα weist in die vorige Argumentation zurück. In Röm   1,32 bezeichnet δικαίωμα den möglichen Erkenntnishorizont der gefallenen Menschheit – es handelt sich um ein Rechtsbewusstsein für die notwendige Bestrafung durch Gott. In Röm  2 ,26 argumen­ tiert Paulus gegen Observanz- und Beschneidungsforderungen mit der Möglichkeit, dass der Unbeschnittene die δικαιώματα τοῦ νόμου einhält. Hier scheint es sich um Rechtssatzungen zu handeln, da sie in Opposition zum Ausdruck παραβάτης νόμου ᾖς (Röm  2 ,25) stehen. In der Adam-Christus-Gegenüberstellung meint δικαίωμα in Opposition zum κατάκριμα offen­ bar „Freispruch“ oder „Rechtfertigung“ (Röm  5,16). Wenn Röm  8,4 als Schlussfolgerung aus Röm  8,3 und als Begründung zu Röm  8,2 gelesen wird, legt sich für τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου „Rechtsordnung des Gesetzes“ nahe. Indem für die Christen der Zusammenhang von Sünde und Tod aufgelöst ist, weil sie κατὰ πνεῦμα leben und für das Fleisch gestorben sind (Röm  8,4), wird die Rechtsordnung Gottes und die Intention des Gesetzes realisiert. Vgl. in diesem Sinne auch Jervis, Sin’s Use, 201, der den Zusammenhang mit Röm  7,14 hervorhebt: „In fact, it foreshadows the thought of 8.4 that the just requirement of the Law is fulfilled by those who walk according to the Spirit.“ Schreiner dreht freilich Ergebnis und Vorausset­ zung der Argumentation um, wenn er behauptet (Schreiner, Romans, 398): „Those in Christ are no longer under the condemnation of sin (v. 1) because in Christ they have been freed from the power of sin, so that they are now able to fulfill the law. Thus those who limit Rom. 8:1–4 to forensic categories fail to perceive the connection drawn in the text between judicial and dynamic realities; those freed from the curse of the law are now liberated to keep the law’s commands […].“ Folglich bestimmt er die Unfähigkeit des Gesetzes darin, dass es die Gerechtigkeit nicht herstellt. Dieses Unvermögen sei jedoch von seinem Inhalt zu unter­ scheiden (aaO. 401): „The inadequacy of the law is not due to its content (cf. 7:12); the weak­ ness of the law is located in the flesh, the unregenerated nature of human beings.“ Auf eine solche Unterscheidung von „Inhalt“ und soteriologischer Funktion gibt es im hiesigen Kon­ text jedoch keinen Hinweis. Vielmehr zeigt Schreiners Interpretation, dass Röm  7,7–8,4 un­ bedingt als zielorientierter Erschließungsprozess gelesen werden muss. Es geht in Röm  8,1–4 nicht um eine Befreiung zum Gesetz, sondern um die Behauptung der Exklusivität des Heils­ geschehens durch Christus. Dabei ist unbenommen, dass sich durch das Leben κατὰ πνεῦμα

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

307

5.4.3. Zwischenbilanz In Röm  7,7–8,4 liegt eine kohärente Argumentation vor, in der Paulus die Auf­ merksamkeit seiner heidenchristlichen Adressaten schrittweise auf die Passage von Röm  8,1–4 lenkt, der die Funktion einer conplexio zugewiesen werden konn­ te. Die Argumentation von Röm  7,7–8,4 zielt darauf ab, einem exemplarischen Ich, das mit der Tora konfrontiert wird, ein anthropologisches Dilemma aufzuzeigen: Die somatische Existenz des Menschen verfehlt die Tora – das Gesetz ist ἀδύνατον in dem Sinne, dass der Mensch nicht für es geschaffen ist. Es bedarf einer anderen Institution, mithin eines anderen „Gesetzes“, das die Seinsstruktur des Men­ schen überwindet, die ganz von der Sünde beherrscht wird. Der Sündenbegriff gehört zum semantischen Basisinventar des Textes und trägt maßgeblich zum Gelingen der Argumentation bei: Paulus muss angesichts seines vorrangigen Argumentationsziels die Sünde als intrapersonale Macht und tätiges Subjekt im Menschen bestimmen, um dessen Handlungsspielräume und die Realisierungs­ möglichkeiten des Gesetzes grundsätzlich in Frage stellen zu können. Nur so kann Paulus in der conplexio (Röm  8,1–4) erklären, dass das anthropologische Dilemma des Menschen ausschließlich durch die Inkarnation des Sohnes Gottes überwunden worden ist. Erst das „Gesetz des Geistes des Lebens“ kann das Versagen der Tora wettmachen und ihre Intention realisieren, wobei die heiden­ christlichen Adressaten unmittelbar an diesem Heilsgeschehen partizipieren – für sie hat die Tora ihre soteriologische Funktion definitiv verloren.

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23 Außerhalb der Argumentation von Röm  1,18–8,4 verwendet Paulus den Sün­ denbegriff nur noch drei Mal in Röm  8,10; 11,27 und 14,23. Diesen spärlichen Referenzen ist gemeinsam, dass Paulus den Sündenbegriff nicht mehr weiterent­ das Gesetz realisiert, als ethisches Prinzip und Orientierungspunkt des Gläubigen fungiert das Gesetz aber nicht mehr, vgl. auch Wu, Romans 7, 353: „[…] the place of chapter 7 in the argument of chapters 5–8 reinforces the fact that the Christian life or sanctification is not achieved by obedience to the Mosaic code.“ Darauf macht auch Lichtenberger, Ich, 196f mit Nachdruck aufmerksam: „Beachtet man den passivischen Gebrauch des Verbums und die Bindung an Christus und den Geist zu wenig, gerät man in die Nähe eines tertius usus legis. […] Der Geist ist vorgeordnet: Der Wandel im Geist impliziert die Erfüllung des an Christus gebundenen Gesetzes, genauer, das durch den Geist geschenkte Erfülltwerden des Gesetzes in Christus.“ Vgl. auch pointiert Käsemann, Römer, 200: „Der Geist hat das Gesetz beim Christen abgelöst. Seine Freiheit steht der Knechtschaft unter dem Nomos entgegen.“ Frei­ lich erweist sich ausgehend von Röm  8,1–4 die sich anschließende Beurteilung Käsemanns als missverständlich: „Der Befreite blickt auf seine Vergangenheit zurück, die ihn aus der Welt heraus noch immer bedroht, weshalb er nur ‚im Geiste‘ ihr entkommen bleibt“ (aaO. 200f ). Diese Drohkulisse baut Röm  8,1–4 ja gerade nicht auf – das Thema der Applikation ist die definitive Überwindung des Gesetzes durch Christus, nicht die Möglichkeit des „Rückfalls“. Vgl. auch prägnant Frey, Nomos, 88.

308

V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

wickelt, sondern ihn in der Weise voraussetzt und anwendet, wie er ihn in Röm  1,18–8,4 erschlossen hat. Es handelt sich gewissermaßen um ein „Echo“ der Argumentation von Röm  1,18–8,4. Obwohl die drei Zusammenhänge, in denen der Sündenbegriff hier zu stehen kommt, nur ansatzweise als argumentationes im antiken Sinne bezeichnet werden können, sollen sie der Vollständigkeit halber und in folgendem Dreischritt analysiert werden: Erstens wird – in gebotener Kürze – der jeweilige Textzusammenhang dargestellt, wobei vor allem die Frage im Raum steht, inwiefern es sich um einen argumentativen Kontext mit einem definierten Skopus handelt. Zweitens wird untersucht, welche Aspekte der Sün­ denargumentation von Röm  1,18–8,4 abgerufen werden. Drittens wird analy­ siert, welche Funktion dem Sündenbegriff im jeweiligen Kontext zukommt.

6.1. Röm  8,10: Der Sündenbegriff an der Schnittstelle von Argumentation (Röm  1,18–8,4) und Affirmation (Röm  8,5–39) Paulus verwendet den Sündenbegriff in Röm  8,10, also in unmittelbarem An­ schluss an die Argumentation von Röm  7,7–8,4. Er stellt fest: εἰ δὲ Χριστὸς ἐν ὑμῖν, τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν τὸ δὲ πνεῦμα ζωὴ διὰ δικαιοσύνην. Zum Kontext der Referenz auf den Sündenbegriff. Röm  8,5–39 stellt keine Argu­ mentation im strengen Sinne dar, denn es zeichnet sich kein strukturbildendes Spannungsverhältnis von Explikation und Applikation oder ein segmentierter Begründungsprozess ab, der auf eine conplexio hinausläuft. Zwar wechselt Paulus nach der conplexio von Röm  8,1–4 noch einmal in die explikative Sprachform und unterscheidet zwischen denen, die nach dem Fleisch, und denen, die nach dem Geist leben (Röm  8,5–8).474 Diese Passage reflektiert jedoch die Ausrich­ tung der Adressaten im Hier und Jetzt und setzt keine zusammenhängende argumentatio in Gang. Im Anschluss an die explikative Passage findet Paulus dann auch sofort wieder in die applikative Sprache (Röm  8,9–11) zurück und nimmt eine Zuordnung vor, die angesichts von Röm  8,1–4 eigentlich schon feststeht: Die heidenchristlichen Adressaten zählen definitiv zu denen, in denen der Geist Gottes und der Geist Christi wohnt. In Röm  8,12–17 dominiert die 1. Person Plural – im Vordergrund steht die Bestimmung der Adressaten als Kinder Got­ tes. Und auch in Röm  8,18–39 schreibt Paulus fast durchweg in der 1. Person Plural, während die deskriptiven Aussagen durchweg auf die Affirmationen in der 1. Person Plural bezogen bleiben. Röm  8 stellt also weniger eine Argumen­ tation, sondern vielmehr eine Zustandsbeschreibung und eine Affirmation der unmittelbaren Gottesbeziehung der heidenchristlichen Adressaten dar: Sie le­ ben nach dem Geist (Röm  8,9), sind Kinder Gottes und Erben (Röm  8,16f ) und ungetrennt von seiner Liebe (Röm  8,31–39).475 474 Vgl. 475 

Osten-Sacken, Soteriologie, 254. Vgl. zur Gliederung Umbach, Christus, 293–310.

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

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Röm  8,1–4 fungiert, wie bereits dargestellt wurde, als conplexio der Argu­ mentation von Röm  7,7–25a, darüber hinaus verbindet der Abschnitt aber auch die ganze Argumentation von Röm  1,18–8,4 mit der Affirmation der pneumati­ schen Existenz in Röm  8. In Röm  8,4 wird die Erfüllung der Rechtsordnung auf diejenigen bezogen, die μὴ κατὰ σάρκα […] ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα wandeln. In Röm  8,5–8 setzt Paulus diese Unterscheidung fort und verwendet κατὰ σάρκα und κατὰ πνεῦμα als Gegenbegriffe. Röm  8,4b setzt Röm  8,5–8 voraus: Nur unter der Bedingung, dass die Adressaten κατὰ πνεῦμα und nicht κατὰ σάρκα sind, erfüllt sich die Rechtsordnung Gottes (Röm  8,4) unter ihnen. Die pneu­ matische Existenz der Adressaten entwickelt Paulus also ex negativo, denn der Fokus von Röm  8,5–8 liegt darin, zu zeigen, was diejenigen κατὰ σάρκα aus­ zeichnet und was dementsprechend die Adressaten nicht sind. Dadurch, dass Paulus in Röm  8,4 das Wandeln im Geist mit der Formulierung ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ in Röm  8,1 verbindet, synchronisiert er in Röm  8,1–4 die bisherige Argumentati­ on über Sünde, Tod, Gesetz und Gnade mit den Begriffen σάρξ und πνεῦμα. Im folgenden Schema lässt sich verfolgen, welche Begriffe κατὰ σάρκα und κατὰ πνεῦμα zugeordnet werden: 8,4

ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν

ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα

8,5

οἱ γὰρ κατὰ σάρκα τὰ τῆς σαρκὸς φρονοῦσιν

οἱ δὲ κατὰ πνεῦμα τὰ τοῦ πνεύματος

8,6

τὸ γὰρ φρόνημα τῆς σαρκὸς θάνατος

τὸ δὲ φρόνημα τοῦ πνεύματος ζωὴ καὶ εἰρήνη

8,7

διότι τὸ φρόνημα τῆς σαρκὸς ἔχθρα εἰς θεόν τῷ γὰρ νόμῳ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑποτάσσεται οὐδὲ γὰρ δύναται

8,8

οἱ δὲ ἐν σαρκὶ ὄντες θεῷ ἀρέσαι οὐ δύνανται

8,9 8,10

Ὑμεῖς δὲ οὐκ ἐστὲ ἐν σαρκὶ

ἀλλ’ ἐν πνεύματι

εἰ δὲ Χριστὸς ἐν ὑμῖν τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν

τὸ δὲ πνεῦμα ζωὴ διὰ δικαιοσύνην

8,13

[…] εἰ γὰρ κατὰ σάρκα ζῆτε, μέλλετε ἀποθνῄσκειν

εἰ δὲ πνεύματι τὰς πράξεις τοῦ σώματος θανατοῦτε, ζήσεσθε

Tabelle 57: Semantische Oppositionslinien in Röm  8,4–13, angeordnet nach der Gegenüberstellung von „Fleisch“ und „Geist“

Zu dem Schema: Paulus setzt in Röm  8,5 mit κατὰ σάρκα ein, stellt diesem κατὰ σάρκα zweimal κατὰ πνεῦμα hinsichtlich des Ziels, d. h. der Ausrichtung (φρόνημα), gegenüber, wobei auf der einen Seite τὰ τοῦ πνεύματος und ζωὴ καὶ εἰρήνη, auf der anderen Seite τὰ τῆς σαρκὸς und θάνατος, ἔχθρα εἰς θεόν und τῷ γὰρ νόμῳ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑποτάσσεται miteinander korrespondieren. Der Unge­

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

horsam gegenüber dem Gesetz und die Unfähigkeit zum Gehorsam auf Seiten des Fleisches haben keine positive Entsprechung auf der Seite des Geistes. Aus der Beobachtung, dass das Fleisch unfähig zum Gesetzesgehorsam ist, was Pau­ lus in Röm  8,3 bereits hat anklingen lassen (τὸ γὰρ ἀδύνατον τοῦ νόμου), zieht er die Schlussfolgerung, dass diejenigen ἐν σαρκὶ ὄντες Gott „nicht gefallen“. Die Kategorie des „Gefallens“ als Ausdruck für die Gott-Mensch-Beziehung ist im Rahmen des Römerbriefes völlig einzigartig, was dafür spricht, dass es sich hierbei um eine Letztbegründung handelt.476 Der Abschnitt Röm  8,5–8 zusam­ men mit Röm  8,9–13 bestätigt also die conplexio von Röm  8,1–4: Paulus hält fest, dass die Adressaten tatsächlich zur Sphäre κατὰ πνεῦμα gehören müssen, da sich der Mensch κατὰ σάρκα von Gott abwendet und sich ihm verschließt. Der Zusammenhang mit der Sündenargumentation von Röm  1–8. In Röm  8,6 wird φρόνημα τῆς σαρκός mit θάνατος, das φρόνημα τοῦ πνεύματος mit ζωὴ καὶ εἰρήνη identifiziert. Ζωή und εἰρήνη bezieht Paulus hier auf das Gottesverhältnis und Gottes Gerichtszorn, wie auch der Ausdruck εἰρήνην ἔχειν πρὸς τὸν θεόν in Röm  5,1 zeigt. In diesem Zusammenhang (Röm  8,10) verwendet er auch den Begriff ἁμαρτία in einer markanten Parallelstruktur:

Röm  8,10: εἰ δὲ Χριστὸς ἐν ὑμῖν τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν τὸ δὲ πνεῦμα ζωὴ

διὰ ἁμαρτίαν διὰ δικαιοσύνην

Paulus ruft in dieser Gegenüberstellung zentrale Konnotationen der Argumen­ tation von Röm  1,18–8,4 ab. Dadurch dass Christus „in den Adressaten“ ist, müsse das σῶμα tot sein – dies ist nur vor dem Hintergrund von Röm  7,24 (ἐκ τοῦ σώματος τοῦ θανάτου) verständlich: Durch Christus ist das Dilemma des Menschen, der in seiner somatischen, aus πνεῦμα und σάρξ zusammengesetzten Seinsstruktur gefangen ist und nur das Schlechte hervorbringen kann, aufgelöst. Unter der Voraussetzung, dass Christus ἐν ὑμῖν ist, erfährt das σῶμα den Tod – seine Affinität zur Sünde (διὰ ἁμαρτίαν) wird beseitigt und es bleibt die ζωή als ζωὴ διὰ δικαιοσύνην. Mit ζωὴ διὰ δικαιοσύνην greift Paulus ebenfalls auf ein zentrales Motiv der vorigen Argumentation zurück: Das πνεῦμα Χριστοῦ in Röm  8,9 (wie das πνεῦμα überhaupt) meint die Ausrichtung auf Gott, das τῷ θεῷ εἶναι, ganz wie Paulus es in Röm  6,6.10.18 hinsichtlich Christus beschrie­ ben hat. In Röm  8,5ff überführt Paulus die frühere Argumentation in den Ge­ gensatz von Geist und Fleisch und verlagert die ἁμαρτία eindeutig in die Sphäre des Fleisches – sie ist, wie Röm  7,7–8,4 festgehalten hat, streng auf die σάρξ bezogen und damit fest in der Existenz des Menschen verankert. Damit kann sie nur durch Christus beseitigt werden. Der „Tod des Leibes um der Sünde wil­ 476  Eine scharfe Unterscheidung von ἐν σαρκί und κατὰ σάρκα lässt sich angesichts des Gefälles der Argumentation von Röm  8,1–8 dann auch kaum aufrechterhalten. Beide Präpo­ sitionalverbindungen stehen sich nahe und können auch synonym verwendet werden. Jeden­ falls setzt Paulus in Röm  8,8 bei ἐν σαρκί an und geht später mit ὀφειλέται ἐσμὲν οὐ τῇ σαρκί (Röm  8,12) unvermittelt zu κατὰ σάρκα über (auch in Röm  8,13).

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len“ stellt also die wesentliche, radikale Konsequenz der pneumatischen Exis­ tenz in Christus dar, wie sie Gott den Gläubigen ermöglicht. Zur Funktion des Sündenbegriffs in diesem Zusammenhang. Das semantische In­ ventar, das Röm  1,18–8,4 bestimmt hat, tritt in Röm  8,5–39 in den Hinter­ grund: Gesetz, Sünde, Tod und Gnade spielen in den Ausführungen von Röm  8,5–39 keine herausragende Rolle mehr. Auf allen theologischen Ebenen bringt Paulus neue Sprachformen ein. So wird z. B. die Gottesbeziehung neu qualifiziert: Sie stellt sich als Liebe dar, die durch keine Instanz unterminiert werden kann (Röm  8,35–39; interessanterweise verzichtet Paulus in der Auf­ zählung von Röm  8,35f auf Gesetz und Sünde). Gott ergreift „für die Adressa­ ten“ Partei (Röm  8,31), er beruft und bestimmt sie im Voraus (Röm  8,30). Die Bezeichnung „Kinder Gottes“ drückt die Unmittelbarkeit dieser Berufung ­besonders deutlich aus, weil Paulus die Erkenntnis dieser Kindschaft auf eine Zeugenschaft des Geistes zurückführt. Auch die Christusbeziehung wird neu ausgedrückt: Es geht Paulus nunmehr um das Mitleiden und Mitverherrlicht­ werden (Röm  8,17: συμπάσχομεν und συνδοξασθῶμεν), er stellt Christus als intercessor dar, der für die Gläubigen bei Gott eintritt (Röm  8,34), sowie als Erst­ geborenen unter vielen Brüdern (Röm  8,29). Auch die Ethik ist pneumatolo­ gisch qualifiziert – sie entspricht der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung, stellt sich vor allem als Gottgefälligkeit dar (Röm  8,8) und wird nur insofern konkret, als Paulus die Abtötung der Werke des Fleisches aus der pneumatischen Existenz heraus begründet (Röm  8,13). Zusammen mit den Erwägungen zum Übergang in Röm  8,5 wäre es nun unsachgemäß, in Röm  8,5–39 den Abschluss oder die peroratio der Argumentation von Röm  1,18–8,4 zu sehen, in der ledig­ lich zusammengefasst, verdichtet und – mitunter sogar poetisch – auf die Adres­ saten appliziert wird, was als „Rechtfertigungslehre“ argumentativ erschlossen wurde. Dann würde die Argumentation von Röm  1,18–8,4 die Verstehensvor­ aussetzung für Röm  8 darstellen. Es verhält sich jedoch andersherum: Die Aus­ führungen von Röm  8,5–39 wären weitestgehend ohne Röm  1,18–8,4 ver­ ständlich. In den von Paulus eingebrachten Erfahrungen des Geistes und der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung liegt eine wesentliche Prämisse des Rö­ merbriefes, die selber nicht mehr argumentativ abgesichert wird – die Adressa­ ten werden nicht durch Argumentation in die Sphäre des Geistes miteinbezogen, sondern auf sie angesprochen und gewissermaßen auf sie verpflichtet. In den conplexiones der einzelnen Argumentationen von Röm  1,18–8,4 schlägt sich die­ se Unmittelbarkeit der Geistträgerschaft dann auch programmatisch nieder. Ihre Infragestellung macht das Argumentieren in Röm  1,18–8,4 erst nötig. Das Nicht-Argumentative von Röm  8,5–39 liegt dem Argumentativen zugrunde.477 477 Vgl. Lyu, Sünde, 311, der deswegen konsequent die Untersuchung von Röm  8 vor die Untersuchung der „Befreiungstheologie“ in Röm  5–7 (aaO. 311–332) stellt. Freilich er­ scheint es etwas übereilt, wenn Lyu davon spricht, dass Röm  5–7 die „Vorbereitung des Paulus“ gewesen sei, „um seiner Soteriologie in Röm  8 eine besondere Bedeutung zu verlei­

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Wenn Paulus in Röm  8,10 ein letztes Mal die anthropologischen Vorausset­ zungen der Sündenexistenz des Menschen aufruft – die Sünde wurzelt in seiner somatischen Existenz (nach Röm  7,7–8,4) – schlägt er eine Brücke zwischen der affirmativen Passage von Röm  8,5–39 und der vorigen Argumentation und be­ kräftigt so deren Gültigkeit für die Adressaten, insofern er eindeutig festhält, dass sie tatsächlich für die Sünde gestorben sind, da sie der Sphäre des Geistes zugehörig und der Sphäre des Fleisches entzogen sind. Die Eintragung des Sün­ denbegriffs in den Kontext von Röm  8,10 dient dazu, die Gültigkeit der Argu­ mentation von Röm  1,18–8,4 zu garantieren.

6.2. Röm  11,27: Israel als Teil der sündigen Menschheit In den „Israelkapiteln“ Röm  9 –11 ist der Sündenbegriff völlig unterrepräsen­ tiert, obwohl er in Röm  1–8 bei der Verhältnisbestimmung von Israel und Hei­ denchristen eine zentrale Rolle gespielt hat. Paulus verwendet ihn nur einmal in 11,26f, einer Stelle, die er explizit als Schriftzitat ausweist: (26) ἥξει ἐκ Σιὼν ὁ ῥυόμενος, ἀποστρέψει ἀσεβείας ἀπὸ Ἰακώβ. (27) καὶ αὕτη αὐτοῖς ἡ παρ’ ἐμοῦ διαθήκη, ὅταν ἀφέλωμαι τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν. Zum Kontext der Referenz auf den Sündenbegriff. Die große Passage zur Isra­ elthematik Röm  9 –11 kann nicht als Einschub, Exkurs oder Appendix478 ohne Adressatenbezug verstanden werden. Zwar werden die römischen Heidenchristen im Verlauf der Kapitel erst ganz am Schluss explizit angesprochen. Dennoch sind sie als implizite Adressaten der Argumentation durchweg präsent. Insbe­ sondere Röm  11 steht unter dem Leitinteresse, die heidenchristlichen Adressa­ ten über die Konsequenzen des besonderen Erwählungsverhältnisses zwischen ihnen und Israel aufzuklären. Es geht Paulus in Röm  11 entschieden nicht um eine Belehrung Israels oder einen Dialog mit der Synagoge, sondern vielmehr um eine Standortbestimmung der römischen Adressaten hinsichtlich des Volkes Gottes. So lässt sich Röm  11 in vier Abschnitte gliedern. In Röm  11,1–12 klärt Paulus – insbesondere durch den Rückgriff auf alttestamentliche Texte – darü­ ber auf, dass Israel nicht verstoßen sein kann. Der Abschnitt ist abgegrenzt durch zwei parallel eingeleitete (λέγω οὖν) Fragen (Röm  11,1f und 11,11f ), in denen sich das zentrale Argument verdichtet: Gott hat sein Volk nicht verstoßen (Röm  11,1f ), sein Fehltritt (παραπτώμα) – die χάρις ἐξ ἔργων (Röm  11,6) und die Zurückweisung der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes – leite jedoch den Völkern das Heil zu, was Israel wiederum eifersüchtig mache.479 In Röm  11,13– hen“ (aaO. 331). Röm  5 –7 thematisiert vielmehr zusammen mit Röm  1–4 die Befreiung von der Sünde als Befreiung vom Gesetz, während Röm  8 für diese Argumentation die grundlegen­ de Prämisse legt: Die Geistkindschaft. 478  Vgl. schon Baur, Zweck, 66–72. 479  Anders gliedert u. a. Haacker, Römer, 269: Bei ihm bilden Röm  11,1–10 und 11,11–16 eigene Einheiten, in Röm  11,11 behandle Paulus „noch einmal die Frage, ob es mit Israel nun aus sei […]“. Dann aber würde der Abschnitt Röm  11,1–10 mit dem David-Zitat aus Ps 69,23

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16 fasst Paulus diese Überlegungen in Richtung der – nunmehr eindeutig als heidenchristlich (ὑμῖν δὲ λέγω τοῖς ἔθνεσιν) gekennzeichneten – Adressaten zu­ sammen: Paulus’ Apostolat für die Völker stehe im Dienst dieser Eifersucht und ziele darauf ab, einige aus dem Volk Israel zu retten. Gottes erwählendes Han­ deln ist also als dynamisches Geschehen zu verstehen, das sich des Fehltritts der einen bedient, um die Rettung der anderen zu bewerkstelligen. Es geht Paulus um „die Tatsache und das Recht der souveränen Geschichtslenkung Gottes“480. An diese erste Zusamenfassung (Röm  11,13–16) schließen sich zwei applikati­ ve Passagen an (Röm  11,17–24 und Röm  11,25–36). Beide liegen theologisch auf der Linie von Röm  11,1–16 und rufen die Aussageabsicht des gesamten Isra­ el-Abschnitts (und des gesamten Römerbriefes) ins Gedächtnis: In der ersten, konfrontativen, mahnenden Du-Passage wird eine Position angegriffen, die sich von Israel distanzieren möchte, also gegen die Synagoge und die Judenchristen polemisiert und die Erwählung Israels in Frage stellt.481 Diese negative Konse­ quenz aus seiner Israel-Theologie perhorresziert Paulus sofort: Es bestehe – trotz der Verstockung und Untreue Israels – eine Heilskontinuität zwischen den Hei­ denchristen und Israel. Die „Zweige“ dürfen sich nicht von der „Wurzel“ losrei­ ßen. Die positive Konsequenz der Verhältnisbestimmung von Röm  11,1–16 for­ muliert Paulus schließlich explizit in Richtung der römischen Heidenchristen (Röm  11,25–36). Paulus will verhindern, dass die römischen Heidenchristen „für sich verständig“ sind (Röm  11,25b1 ἵνα μὴ ἦτε [παρ’] ἑαυτοῖς φρόνιμοι), und verkündet ihnen ein μυστήριον. Paulus erklärt, dass die römischen Heidenchris­ ten die Rettung Israels befördern und dazu beitragen, dass ganz Israel gerettet wird (Röm  11,26a καὶ οὕτως πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται). Dieses besondere Anliegen ergibt sich aus der Überzeugung, die den gesamten Römerbrief getragen hat: Die Treue Gottes ist nicht auf kündbar (Röm  11,29: ἀμεταμέλητα γὰρ τὰ χαρίσματα καὶ ἡ κλῆσις τοῦ θεοῦ). Der Gedanke hat sich zum einen in Texten zu Gesetz und Beschneidung niedergeschlagen (Röm  3,1–31 und 7,7–8,4). Zum anderen ent­ spricht das Gefälle von Ungehorsam und Barmherzigkeit, wie es in Röm  11,25– 36 thematisiert wird, früheren Gegenüberstellungen wie der von Preisgabe und Anleitung zur Umkehr (Röm  2,1–8), Sünde und Gnade (Röm  5,12–21) oder Erwählung und Verwerfung (Röm  10). gewissermaßen unvollendet schließen und Paulus würde mit 11,11 neu ansetzen. Wiederum anders gliedert Wilckens, Römer II, 241. Bei ihm bilden Röm  11,11–24 eine Einheit, die er mit „Warnung vor heidenchristlichem Heilshochmut“ überschreibt (aaO. 240). Auch in die­ sem Fall bleibt der Übergang von Röm  11,10 zu 11,11 in der Schwebe und es stellt sich die Frage, ob Röm  11,11f nicht deutlicher dem explikativen Teil von Röm  11,1–10 zuzuschlagen und mit Röm  11,13 eine sehr deutliche Zäsur in Form einer direkten Anrede angezeigt wäre. 480  Haacker, Römer, 268. 481 Vgl. Wilckens, Römer II, 247, der zu Recht Röm  11,11–24 als Pendant zur konfron­ tativen Passage von Röm  2 ,17–24 betrachtet. Er fasst zusammen: „Wehe einer antijudaisti­ schen Kirche, die sich selbst anstelle Israels und Israel gegenüber exklusiv als das neue Gottes­ volk verstünde und verhielte!“

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Paulus verfolgt insbesondere in Röm  11,17–32 das Ziel, die heidenchristli­ chen Adressaten als Repräsentanten einer differenzierten, irenischen Position zu prägen: Sie sollen die Erwählung Israels berücksichtigen, ohne sich jedoch ju­ denchristlichen Observanzforderungen zu beugen, die von Christus her defini­ tiv überwunden sind und deren erneute Befolgung eine Abkehr vom Evangeli­ um darstellen würde. Dass Gott den Heidenchristen seine Barmherzigkeit auch dazu erweist, um Israel in diese Barmherzigkeit einzuschließen, bedingt die besondere Standortbestimmung der römischen Heidenchristen gegenüber der Synagoge im Spannungsfeld von Feindschaft um des Evangeliums willen (hier wird die Absage an die Observanzforderungen greif bar) und Liebe im Sinne der Erwählung bzw. Erwählungskontinuität, die angesichts der Erzväter – ist hier konkret an Abraham (Röm  4) gedacht? – 482 anschaulich wird.483 Der Zusammenhang mit der Sündenargumentation von Röm  1–8. Der Sündenbe­ griff taucht in Röm  11,27 auf. Der Bundesschluss Gottes (die διαθήκη) mit Isra­ el wird mit der Fortnahme der Sünden assoziiert, wobei ὅταν als temporale Konjunktion anzeigt, dass der Bundesschluss mit der Fortnahme der Sünden einhergeht.484 Das Zitat dient in der jetzigen Zusammenstellung der Bekräftigung der Schlussfolgerung von Röm  11,25b26 (καὶ οὕτως πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται, καθὼς γέγραπται). Paulus leitet das Zitat über das Motiv der Rettung (σωθήσεται in Röm  11,26a) ein und greift dieses Motiv innerhalb des Zitats mit dem Verweis auf ὁ ῥυόμενος wieder auf. Der Retter – nirgendwo wird er explizit als Christus bezeichnet – hat dabei die Funktion, die ἀσέβεια abzuwenden, während Gott (im zweiten Teil des Zitats) die Fortnahme der Sünden bewerkstelligt. Es ist auffällig, wie Paulus die beiden mutmaßlichen Prätexte Jes 59,20f und Jes 27,9 in seinen Gedankengang integriert: Jes 59,20f: καὶ ἥξει ἕνεκεν Σιων ὁ ῥυόμενος καὶ ἀποστρέψει ἀσεβείας ἀπὸ Ιακωβ. καὶ αὕτη αὐτοῖς ἡ παρ᾽ ἐμοῦ διαθήκη, εἶπεν κύριος· Jes 27,9: διὰ τοῦτο ἀφαιρεθήσεται ἡ ἀνομία Ιακωβ, καὶ τοῦτό ἐστιν ἡ εὐλογία αὐτοῦ, ὅταν ἀφέλωμαι αὐτοῦ τὴν ἁμαρτίαν, ὅταν θῶσιν πάντας τοὺς λίθους τῶν βωμῶν κατακεκομμένους ὡς κονίαν λεπτήν· καὶ οὐ μὴ μείνῃ τὰ δένδρα αὐτῶν, καὶ τὰ εἴδωλα αὐτῶν ἐκκεκομμένα ὥσπερ δρυμὸς μακράν. 482  Vgl. zu dem Ausdruck διὰ τοὺς πατέρας Haacker, Römer, 290. Im Horizont des Römer­ briefes kommt natürlich vor allem Abraham als „unser Vorvater“ (Röm  4,1) in Frage, der die Erwählungsdynamik, die Paulus in Röm  11,25–32 in den Blick fasst, geschichtlich verkörpert. 483  Röm  9 –11 führt damit insgesamt die irenische Tendenz von Röm  1–8 fort, lässt aber wiederum keinen Zweifel daran offen, dass die Errichtung einer eigenen Gerechtigkeit mit Hilfe des Gesetzes und an der Gnade vorbei das Ziel der Gerechtigkeit Gottes verfehlt. Da­ mit wird auch deutlich, dass die observanten Stimmen von Röm  2 in die Unterscheidung von Röm   11,28 einbezogen sind, insofern die Gesetzesobservanz ein Phänomen der ἰδία δικαιοσύνη darstellt. κατὰ μὲν τὸ εὐαγγέλιον meint in diesem Fall ein klares Unterscheidungs­ kriterium: Das Evangelium umfasst in seinem Kern die Auf hebung von Sünde und Gesetz durch Christi Tod und Taufe und ist insofern eine Kritik an der Gesetzesobservanz. Der Aus­ druck κατὰ δὲ τὴν ἐκλογήν hingegen betont die bleibende Tradition der Treueerweise Gottes. 484 Vgl. Jewett, Romans, 706.

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Paulus zitiert folgendermaßen: Röm  11,26b: ἥξει ἐκ Σιὼν ὁ ῥυόμενος, ἀποστρέψει ἀσεβείας ἀπὸ Ἰακώβ. Röm  11,27: καὶ αὕτη αὐτοῖς ἡ παρ’ ἐμοῦ διαθήκη, ὅταν ἀφέλωμαι τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν.

Während Paulus Jes 59,20f bis auf die Veränderung von ἕνεκεν Σιων zu ἐκ Σιών unverändert lässt,485 gleicht er den ὅταν-Satz aus Jes 27,9 an, indem er statt der „Sünde Jakobs“ (αὐτοῦ τὴν ἁμαρτίαν) „ihre Sünden“ (τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν) schreibt. Paulus möchte damit offenbar an αὐτοῖς in Röm  11,27a anschließen, obwohl es ihm – sowohl konzeptionell als auch grammatikalisch – offen gestan­ den hätte, den Jakob-Kontext, den er in Röm  11,26b ja unverändert über­ nimmt, für Jes 27,9 beizubehalten. Vielleicht hat sogar die gemeinsame Refe­ renz auf Jakob Paulus zur Zusammenstellung der Zitate angeregt. Paulus setzt nun aber auf den Plural. Handelt es sich damit um eine pragmatische Entschei­ dung, als sollte der Plural aus dem prophetischen Kontext in die konkrete Ge­ meindewirklichkeit der Adressaten reichen und die Sünden als Sünden der ju­ denchristlichen Gegner konkretisieren? Die Parallelisierung von ἀσεβείας und τὰς ἁμαρτίας in der Zitatencollage ist bemerkenswert, denn mit ihr greift Paulus zwei Zentralbegriffe der Argumen­ tation von Röm  1–8 auf, die er schon früher zueinander ins Verhältnis gesetzt hat. In Röm  1,18 gehört die ἀσέβεια zur „Überschrift“ des Abrisses der Un­ heilsgeschichte: Der Zorn Gottes entbrennt dort über die „Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit der Menschen“. In Röm   4,5–8 wurde ἀσέβεια indirekt mit ἁμαρτία und ἁμαρτίαι konnotiert, insofern der Glaube Abrahams als Glaube an den Gott beschrieben wurde, der den Gottlosen (τὸν ἀσεβῆ) gerecht macht. In Röm  5,6–8 werden Gottlosigkeit und Sünde unter einer christologischen Per­ spektive miteinander verknüpft, wenn Paulus betont, dass Christus für die Ad­ ressaten gestorben ist, als sie noch Gottlose (Röm  5,6: Χριστὸς ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν ἔτι κατὰ καιρὸν ὑπὲρ ἀσεβῶν ἀπέθανεν) bzw. Sünder (Röm  5,8: ἔτι ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν) waren. In der Zusammenstellung der beiden Jesaja-Zi­ tate von Röm  11,26f kommen diese Perspektiven nun noch einmal zum Tragen, jetzt betont Paulus aber auch, dass Gott ganz Israel „rettet“ (Röm  11,26a). Das Verb σώζειν verwendete Paulus in Röm  5,9 und 8,24, beide Male ist es einge­ bunden in Passagen, in denen Paulus sich an die heidenchristlichen Adressaten wendet. Das Substantiv σωτηρία verwendete Paulus in Röm  10,1.10 und 11,11, um die Heilszuwendung Gottes für Israel und die Völker zu beschreiben. An besonders exponierter Stelle kommt das Substantiv aber in Röm  1,16f zu stehen, wo σωτηρία denen gewährt wird, die glauben – „dem Juden besonders und dem Griechen“. Die Vernetzung der Begriffe ἀσέβεια, ἁμαρτία und σώζειν im Kon­ text des Jes-Zitats weist offenbar auf die besondere Heilsdynamik zwischen Heidenchristen und Israel hin – die Rettung der Heidenchristen als Absehen Vgl. zu den Hintergründen der (u. U. schon vorpaulinischen) Lesart ἐκ Σιών Haacker, Römer, 286. 485 

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von Gottlosigkeit und Sünde wird durch die Jes-Stelle auch noch einmal an Is­ rael herangetragen. Angesichts der Tatsache, dass ἀσέβεια mit ἁμαρτία im Sin­ gular und Plural verbunden gewesen ist (insbesondere in der Zusammenstellung aus Röm  4,6–8), ist es unwahrscheinlich, dass – wie Robert Jewett überlegt – Paulus mit der Verwendung des Plurals an dieser Stelle die Assoziation mit der Sünde „in general“ bewusst vermeiden und stattdessen auf die „particular acts of violent opposition against the gospel and its messengers on the part of zealous Jews“486 hinweisen wolle, als wären nicht alle Juden im Blick, denn erstens wird das Zitat mit dem Hinweis auf die Rettung ganz Israels eingeleitet und zweitens ist eine wesentliche Pointe der Sündenargumentation von Röm  1–8, dass die Herrschaft der Sünde als überpersonale Macht die Sünden als Taten des Individuums freisetzt, die sich dann wiederum im Lichte des Gesetzes als Ge­ setzesübertretung erweisen. Zur Funktion des Sündenbegriffs in diesem Zusammenhang. Die Heilsdynamik von Sünde, Gottlosigkeit und Rettung wird in Röm  11,25–32 ein letztes Mal in neue semantische Bahnen gelenkt. In Röm  11,30–32 arbeitet Paulus – unver­ mittelt – mit den Verben ἀπειθεῖν und ἐλεεῖν, beides Begriffe, die er hauptsäch­ lich in Röm  9 –11 verwendet.487 Es stellt sich angesichts der zusammengestellten Jesaja-Zitate, in denen Paulus noch einmal dezidiert auf den Sündenbegriff hin­ weist, die Frage, warum Paulus gleich wieder von dem Begriff Abstand nimmt und die heilsgeschichtliche Dynamik zwischen Israel und den Heidenchristen im Spannungsfeld von ἀπειθεῖν und ἐλεεῖν beschreibt. Warum schreibt Paulus nicht, dass Gott alle unter der Sünde zusammengeschlossen hat, wie er es z. B. in Röm  3,9 angedacht hat? Mit dem Sündenbegriff war in der Argumentation von Röm  1–8 die spezifische Funktion verbunden gewesen, die Frage nach der Re­ levanz des Gesetzes für die Heidenchristen in der Weise zu klären, dass Obser­ vanzen abgewehrt und gleichzeitig die Würde des Gesetzes gewahrt werden konnte. In Röm  9 –11 und insbesondere in Röm  11,25–32 wird nun aber ein anderer Aspekt behandelt, der sich offenbar nur unzulänglich mit dem Sünden­ begriff darstellen lässt: die Dynamik der Erwählung, die an der Rettung Israels orientiert ist. Ulrich Wilckens’ Einschätzung hinsichtlich der besonderen Ten­ denz der Darstellung der Erwählung in Röm  9 –11 hat daher viel für sich: „Aber die Möglichkeit einer solchen Restitution Israels dem Hochmut der Heiden entge­ genzuhalten, ist etwas anderes, als die Frage nach dem Geschick des ungläubigen und faktisch verworfenen Israels selbst zu beantworten […].“488

Indem Paulus in Röm  11,26f den Sündenbegriff verwendet, lässt er eine schwa­ che Verbindung zu der Argumentation von Röm  1–8 aufleuchten, ohne sie al­ lerdings weiterzuverfolgen oder explizit zu machen: Paulus erinnert daran, dass 486 

Jewett, Romans, 706. Paulus verwendet ἀπειθεῖν nur noch einmal in Röm  2 ,8. 488  Wilckens, Römer II, 264 (Hv. i. O.). 487 

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Israel – wie die πάντες (Röm  11,32) – unter der Sünde steht und Sünden getan hat und des Retters bedarfs.489 Israel wird ein letztes Mal als Teil der gefallenen Menschheit (vgl. Röm  3,9: προῃτιασάμεθα γὰρ Ἰουδαίους τε καὶ Ἕλληνας πάντας ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι) angesprochen. Seine Sünde wie auch seine Sünden können nicht durch das Gesetz, sondern nur durch den Bund und den Retter aus der Welt geschafft werden.490

6.3. Röm  14,23: Die Sünde als Erkenntnismöglichkeit der gefallenen Welt Zum letzten Mal verwendet Paulus den Sündenbegriff in Röm  14,23b. Diese Referenz ist besonders bemerkenswert, da Paulus hier zum einzigen Mal im Römerbrief definiert, was Sünde ist: πᾶν δὲ ὃ οὐκ ἐκ πίστεως ἁμαρτία ἐστίν. Zum Kontext der Referenz auf den Sündenbegriff. In Röm  14 wendet sich Paulus dem Problem der Unterscheidung der Tage und bestimmten Mahl- und Rein­ heitsvorschriften zu. Wer sind die Schwachen in Rom? Handelt es sich um Judenchristen? Klaus Haacker geht von einem Konflikt bzgl. der Toraobservanz aus: „Als Streitpunkte zwischen beiden Gruppen kommen asketische Fragen (Verzicht auf Fleischgenuß und auf Wein) und Feiertagsfragen zur Sprache. Beide Probleme (und die Art, wie Paulus sie in Röm  14,14 kommentiert) erklären sich am besten aus der unterschiedlich engen Anlehnung an bestimmte Traditionen jüdischer Lebensgestaltung.“491 Auch Wilckens verortet den rö­ mischen wie auch den (ähnlich gelagerten) korinthischen Konflikt, der sich jedoch um den Genuss von Götzenopferfleisch und nicht um den generellen Verzicht auf Fleisch und Wein dreht, im Kontext einer „christlichen Tora-Observanz, die die ‚Schwachen‘ für notwendig, die ‚Starken‘ dagegen als für Christen anachronistisch halten“492 . Dass Paulus den Konflikt nicht erneut als Tora-Konflikt bzw. Konflikt zwischen Ju­ den und Heiden bzw. Judenchristen und Heidenchristen und im Horizont der Gesetzes­ thematik behandelt, liegt an der Tendenz des paränetischen Briefteils, die konkreten ethischen Weisungen im Horizont eines universalisierten Gesetzesverständnisses zu for­ mulieren. Paulus versteht die Motivation der Christen zum Guten aus ihrer unmittelba­ ren Bindung an den Willen Gottes (Röm  12,1–3), den einzusehen und zu prüfen ur­ sprünglich Israel für sich beanspruchen konnte, weil ihm das Gesetz anvertraut war. 489  Dies überlegt auch schon Haacker, Römer 287. Dass Israel wie auch der Rest der Menschheit Objekt der Gnade Gottes ist, hat – darauf macht Haacker mit Nachdruck auf­ merksam – Bedeutung für das Verständnis des Bekehrungsmotivs: „Wer im Zusammenhang mit der ‚Errettung‘ Israels nach Röm.  11 den Begriff der ‚Bekehrung‘ gebraucht, muß darum hinzufügen, daß entgegen dem landläufigen Sprachgebrauch hier nicht von einem Sich-Be­ kehren Israels die Rede ist, sondern von einer ‚Bekehrung‘ Israels durch Gott.“ 490  Vgl. das prägnante Urteil bei Wilckens, Römer II, 265: „Das Wesen der Gerechtig­ keit Gottes als Gnade nämlich ist Rechtfertigung der Sünder, Rettung der Verlorenen, Er­ barmen für die Feinde: Unter ihrem göttlichen Aspekt wäre es umgekehrt paradox, würde Gott sein gefallenes, rebellisches Volk nicht genauso erretten wie zuvor die in Sünde verlo­ renen Heiden.“ 491  Haacker, Römer, 19. 492  Wilckens, Römer III, 79.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

So ist insbesondere der Auftakt der paränetischen Kapitel (Röm  12,1–3) eng mit den Israel-Kapiteln und den israelkritischen Passagen des Römerbriefes vernetzt. Mit (λογικὴ ) λατρεία in Röm  12,1 greift Paulus auf einen Terminus zurück, mit dem er in Röm  9,4 ein für Israel als auserwähltes Gottesvolk wesentliches Charakteristikum be­ zeichnet hat: den Kult. Nun überträgt er den Kult Israels in auffälliger semantischer Neukonnotation (λογικός ist hapax legomenon bei Paulus) auf die Adressaten. Der Aus­ druck τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ (Röm  12,2) korrespondiert mit Röm  2 ,18: Hier hat Paulus das jüdische „Du“ angesprochen, das vorgibt, den Willen Gottes zu kennen, der hier – frei­ lich in polemischer Absicht – mit dem Gesetz gleichgesetzt wird: καὶ γινώσκεις τὸ θέλημα καὶ δοκιμάζεις τὰ διαφέροντα κατηχούμενος ἐκ τοῦ νόμου […] (Röm  2 ,18). Wäh­ rend εὐάρεστον und τέλειον außerhalb von Röm  12,1 im Römerbrief nicht mehr vor­ kommen, stellt das Gute (τὸ ἀγαθόν) einen Zentralbegriff in der Auseinandersetzung zwischen dem Ich und der Sünde in Röm  7,7ff dar. Schon hier wird es als Attribut des Gesetzes genannt: ὥστε ὁ μὲν νόμος ἅγιος καὶ ἡ ἐντολὴ ἁγία καὶ δικαία καὶ ἀγαθή (Röm  7,12). Und Paulus lässt das Ich fragen: Τὸ οὖν ἀγαθὸν ἐμοὶ ἐγένετο θάνατος; (Röm  7,13). Das Gute als Richtpunkt des menschlichen Willens, der sich unter der Sün­ de nicht verwirklichen kann, wird in diesem Zusammenhang auch thematisiert: Οἶδα γὰρ ὅτι οὐκ οἰκεῖ ἐν ἐμοί, τοῦτ’ ἔστιν ἐν τῇ σαρκί μου, ἀγαθόν· τὸ γὰρ θέλειν παράκειταί μοι, τὸ δὲ κατεργάζεσθαι τὸ καλὸν οὔ· οὐ γὰρ ὃ θέλω ποιῶ ἀγαθόν, ἀλλ’ ὃ οὐ θέλω κακὸν τοῦτο πράσσω (Röm  7,18f ). Das Gesetz wie auch der Wille des Menschen partizipieren offenbar an dem Guten und die Tora ist Ausdruck des Willens Gottes. Beide sind jedoch durch die Sünde korrumpiert. In Röm  12,1 lässt Paulus nun das Gesetz völlig außer Acht und die heidenchristlichen Adressaten sind dazu im Stande, sich unmittelbar am Willen Gottes zu orientieren und diesen Willen „zu prüfen“ (auch diese Fähigkeit hat Paulus in polemischer Absicht dem Juden zugesprochen). Was Röm  12,1–3 programmatisch ins Auge fasst – die Heidenchristen sind dazu im Stande, den Willen Gottes umzusetzen, ohne sich an der Tora orientieren zu müssen –, konkretisiert sich in Röm  13,8–10: Die Erfüllung des Liebesgebots erfüllt das Gesetz (Röm  13,8–10). Röm  13,8–10 fasst eine Universalisierung des jüdischen Gesetzes für die Völker, wie sie bereits in Röm  3,31 angelegt gewesen ist, in den Blick – durch den Glauben kommt das durch die Sünde kor­ rumpierte Gesetz als Ausdruck des Willens Gottes (Röm  7,7–8,4) wieder zur Geltung. Röm  12,1–15,6 wird zudem von affirmativen Passagen bzgl. des Verhältnisses von Juden und Völkern gerahmt (Röm  11,25–36; 15,7–13): Die Heidenchristen sollen sich der Ju­ denchristen annehmen, wie auch Christus sich der Beschnittenen angenommen hat, und sie sollen die Würde der an Israel ergangenen Verheißungen anerkennen, an denen sie als Heiden nun ebenfalls partizipieren. Im antagonistischen Spannungsfeld des Un­ gehorsams Israels und der Völker auf der einen und der Barmherzigkeit Gottes auf der anderen Seite ereignet sich die Erwählung der Glaubenden und damit eine Ausweitung der jüdischen λατρεία und des νόμος im Sinne einer unmittelbaren Erkenntnis des Wil­ lens Gottes. Dass Paulus den Konflikt von Röm  14 als Konflikt zwischen Starken und Schwachen und nicht als Konflikt zwischen Juden und Heiden oder als Konflikt um die Toraobser­ vanz kennzeichnet, erweist sich als Ausdruck der Strategie des Römerbriefes. Ist die generelle Unterscheidung von Juden und Heiden durch die umfangreiche Sündenargu­ mentation in Frage gestellt, bewährt sich der Glaube der Gemeinde nunmehr in der Rücksichtnahme der Starken auf die Schwachen. Dass Paulus dem Konflikt nicht die gleiche Grundsätzlichkeit wie dem Konflikt um die Bedeutung der Tora beimisst, ent­ spricht seiner Absicht, die Tora als Weisung an die heidenchristlichen Adressaten zu

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

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marginalisieren. Die heidenchristlichen Adressaten sind von der Toraobservanz befreit, was Paulus in Röm  1,18–8,4 sichergestellt hat – dennoch sind sie zur Rücksichtnahme auf die observanten Brüder verpflichtet.

Das Kapitel stellt keine Argumentation im eigentlichen Sinne dar und es berei­ tet große Schwierigkeiten, einen Skopus zu bestimmen, weil sich der ganze Text unmittelbar an die Adressaten zu wenden scheint. Die Personalmorpheme fluk­ tuieren stark: Neben explikativer Sprache in der 3. Person verwendet Paulus auch alle anderen Personalformen. Er strukturiert seinen Text auch nicht deutlich, sondern springt zwischen drei argumentativen Ebenen hin und her: der Darstel­ lung konkreter ethischer Konfliktfälle (Speisegebote und Festtage), einer allge­ mein-abstrakten, theologischen Reflexion dieser Fälle und dem Appell, diese Konflikte abzustellen. So ergeben sich gewissermaßen kleinräumige argumen­ tative Sequenzen, bestehend aus der Angabe des jeweiligen Konfliktfalls, einer Explikation und einer conplexio. Zusätzlich kann dann innerhalb der Appelle zwischen einer konfrontativ-prohibitiven Form der conplexio, gerichtet an ein Du (in der Tabelle unterstrichen), und einer affirmativ-adhortativen Form (in der Tabelle kursiv) der conplexio, gerichtet an ein Wir, unterschieden werden, wie schon die attentionale Gesamtgestaltung des Römerbriefes nahegelegt hat. Konfliktfall

Theologische Reflexion/ Explikation

Appell/conplexio 1a Τὸν δὲ ἀσθενοῦντα τῇ πίστει προσλαμβάνεσθε, 1b μὴ εἰς διακρίσεις διαλογισμῶν.

2a ὃς μὲν πιστεύει φαγεῖν πάντα, 2b ὁ δὲ ἀσθενῶν λάχανα ἐσθίει. 3a ὁ ἐσθίων τὸν μὴ ἐσθίοντα μὴ ἐξουθενείτω, 3b ὁ δὲ μὴ ἐσθίων τὸν ἐσθίοντα μὴ κρινέτω, 3c ὁ θεὸς γὰρ αὐτὸν ­προσελάβετο. 4a σὺ τίς εἶ ὁ κρίνων ἀλλότριον οἰκέτην; 4b τῷ ἰδίῳ κυρίῳ στήκει ἢ πίπτει. 4c1 σταθήσεται δέ, 4c2 δυνατεῖ γὰρ ὁ κύριος στῆσαι αὐτόν. 

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

5a Ὃς μὲν [γὰρ] κρίνει ἡμέραν παρ’ ἡμέραν, 5b ὃς δὲ κρίνει πᾶσαν ἡμέραν. 5c ἕκαστος ἐν τῷ ἰδίῳ νοῒ πληροφορείσθω. 6a ὁ φρονῶν τὴν ἡμέραν κυρίῳ φρονεῖ. 6b1 καὶ ὁ ἐσθίων κυρίῳ ἐσθίει, 6b2 εὐχαριστεῖ γὰρ τῷ θεῷ. 6c καὶ ὁ μὴ ἐσθίων κυρίῳ οὐκ ἐσθίει καὶ εὐχαριστεῖ τῷ θεῷ. 7 οὐδεὶς γὰρ ἡμῶν ἑαυτῷ ζῇ καὶ οὐδεὶς ἑαυτῷ ἀ ­ ποθνῄσκει. 8a1 ἐάν τε γὰρ ζῶμεν, 8a2 τῷ κυρίῳ ζῶμεν, 8b1 ἐάν τε ἀποθνῄσκωμεν, 8b2 τῷ κυρίῳ ἀποθνῄσκομεν. 8c1 ἐάν τε οὖν ζῶμεν ἐάν τε ἀποθνῄσκωμεν, 8c2 τοῦ κυρίου ἐσμέν. 9a εἰς τοῦτο γὰρ Χριστὸς ἀπέθανεν καὶ ἔζησεν, 9b ἵνα καὶ νεκρῶν καὶ ζώντων κυριεύσῃ.  10a Σὺ δὲ τί κρίνεις τὸν ἀδελφόν σου; 10b ἢ καὶ σὺ τί ἐξουθενεῖς τὸν ἀδελφόν σου; 10c πάντες γὰρ ­ αραστησόμεθα τῷ βήματι π τοῦ θεοῦ, 11a γέγραπται γάρ. 11b1 ζῶ ἐγώ, λέγει κύριος, 11b2 ὅτι ἐμοὶ κάμψει πᾶν γόνυ καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσεται τῷ θεῷ. 12 ἄρα [οὖν] ἕκαστος ἡμῶν περὶ ἑαυτοῦ λόγον δώσει [τῷ θεῷ]. 13a Μηκέτι οὖν ἀλλήλους κρίνωμεν. 13a1 ἀλλὰ τοῦτο κρίνατε μᾶλλον, 13a2 τὸ μὴ τιθέναι πρόσκομμα τῷ ἀδελφῷ ἢ σκάνδαλον.

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

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14a οἶδα καὶ πέπεισμαι ἐν κυρίῳ Ἰησοῦ 14b ὅτι οὐδὲν κοινὸν δι’ ἑαυτοῦ, 14c εἰ μὴ τῷ λογιζομένῳ τι κοινὸν εἶναι, 14b‘ ἐκείνῳ κοινόν. 15a1 εἰ γὰρ διὰ βρῶμα ὁ ἀδελφός σου λυπεῖται, 15a2 οὐκέτι κατὰ ἀγάπην περιπατεῖς. 15b μὴ τῷ βρώματί σου ἐκεῖνον ἀπόλλυε ὑπὲρ οὗ Χριστὸς ἀπέθανεν. 16 μὴ βλασφημείσθω οὖν ὑμῶν τὸ ἀγαθόν. 17 οὐ γάρ ἐστιν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ βρῶσις καὶ πόσις ἀλλὰ δικαιοσύνη καὶ εἰρήνη καὶ χαρὰ ἐν πνεύματι ἁγίῳ. 18 ὁ γὰρ ἐν τούτῳ δουλεύων τῷ Χριστῷ εὐάρεστος τῷ θεῷ καὶ δόκιμος τοῖς ἀνθρώποις.  19 Ἄρα οὖν τὰ τῆς εἰρήνης διώκωμεν καὶ τὰ τῆς οἰκοδομῆς τῆς εἰς ἀλλήλους. 20a μὴ ἕνεκεν βρώματος κατάλυε τὸ ἔργον τοῦ θεοῦ. 20b1 πάντα μὲν καθαρά, 20b2 ἀλλὰ κακὸν τῷ ἀνθρώπῳ τῷ διὰ ­προσκόμματος ἐσθίοντι. 21a καλὸν τὸ μὴ φαγεῖν κρέα μηδὲ πιεῖν οἶνον 21b μηδὲ ἐν ᾧ ὁ ἀδελφός σου προσκόπτει. 22a σὺ πίστιν [ἣν] ἔχεις κατὰ σεαυτὸν ἔχε ἐνώπιον τοῦ θεοῦ. 22b μακάριος ὁ μὴ κρίνων ἑαυτὸν ἐν ᾧ δοκιμάζει. 23a1 ὁ δὲ διακρινόμενος 23a2 ἐὰν φάγῃ κατακέκριται, 23a3 ὅτι οὐκ ἐκ πίστεως. 23b πᾶν δὲ ὃ οὐκ ἐκ πίστεως ἁμαρτία ἐστίν. Tabelle 58: Darstellung der Argumentationssequenzen in Röm  14,1–23

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Die Sequenzen gehen ineinander über und reichen ihre Schlussfolgerungen in die jeweils nächste Explikation weiter. Für die Frage nach der Funktion des Sündenbegriffs in Röm  14,23 ist vor allem die letzte, in der Tabelle abgegrenz­ te Sequenz (Röm  14,19–23) relevant. Paulus setzt wie in Röm  14,13 affirmativ mit einem Adhortativ der ersten Person Plural an. Eine Schlussfolgerung aus dem Vorherigen ist über ἄρα οὖν angezeigt, mit Röm  14,20 wird die Passage noch einmal hinsichtlich der Speisegebote konkretisiert und konfrontativ in Richtung einer zweiten Person Singular zugespitzt (Röm  14,20a), bevor eine kurze Explikation (Röm  14,20b) folgt. Sodann spitzt Paulus erneut seine Über­ legungen in Richtung einer zweiten Person Singular zu (Röm  14,21.22a), bevor er in Röm  14,22b.23 zu einer letzten kurzen Explikation schwenkt. Röm  14,21a scheint auf den ersten Blick explikativ zu sein, wird jedoch durch den Relativ­ satz als appellative und konfrontativ-prohibitve Passage ausgezeichnet. Folgen­ dermaßen lässt sich die Struktur der Sequenz schematisch darstellen: „Wir“ „Du“ „Explikation“ 19 Ἄρα οὖν τὰ τῆς εἰρήνης διώκωμεν καὶ τὰ τῆς οἰκοδομῆς τῆς εἰς ἀλλήλους. 20a μὴ ἕνεκεν βρώματος κατάλυε τὸ ἔργον τοῦ θεοῦ. 20b1 πάντα μὲν καθαρά,  20b2 ἀλλὰ κακὸν τῷ ἀνθρώπῳ τῷ διὰ προσκόμματος ἐσθίοντι. 21a καλὸν τὸ μὴ φαγεῖν κρέα μηδὲ πιεῖν οἶνον 21b μηδὲ ἐν ᾧ ὁ ἀδελφός σου προσκόπτει. 22a σὺ πίστιν [ἣν] ἔχεις κατὰ σεαυτὸν ἔχε ἐνώπιον τοῦ θεοῦ.  22b μακάριος ὁ μὴ κρίνων ἑαυτὸν ἐν ᾧ δοκιμάζει. 23a1 ὁ δὲ διακρινόμενος 23a2 ἐὰν φάγῃ 23a1‘ κατακέκριται, 23a3 ὅτι οὐκ ἐκ πίστεως.  23b πᾶν δὲ ὃ οὐκ ἐκ πίστεως ἁμαρτία ἐστίν. Tabelle 59: Darstellung der Argumentationssequenz in Röm  14,19–23

Der Zusammenhang mit der Sündenargumentation von Röm  1–8. Streng genommen handelt es sich bei Röm  14,23 um die einzige Definition der ἁμαρτία im Rö­ merbrief. Sie kommt ganz am Schluss der kurzen Argumentationssequenz zu stehen und stellt hinsichtlich der Frage nach der Einhaltung der Speisegebote eine Letzbegründung dar, die nicht weitergehend erschlossen, sondern lediglich vorausgesetzt wird. Oft wird der Nominalsatz von Röm  14,23 „Alles, was nicht aus Glauben [ist], [ist] Sünde“ in folgendem Sinne verstanden: „Alles, was nicht aus Glauben getan wird, ist Sünde“.493 Diese Übersetzung impliziert, dass ἐκ πίστεως eine Handlungsmotivation des Menschen und ἁμαρτία eine konkrete 493 

Vgl. z. B. Wilckens, Römer III, 90. Haacker, Römer, 330 übersetzt „denn alles, was nicht ‚in gutem Glauben‘ getan wird, ist eine sittliche Verfehlung“, weil er Röm  14,23

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

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Tat bezeichnet. Diese Übersetzung würde durchaus eine wesentliche Pointe der Argumentation von Röm  1,18–8,4 einfangen: Der Mensch lebt entweder unter der Herrschaft Gottes oder aber unter der Herrschaft der Sünde; er tut entweder das Gerechte oder er sündigt. Diese Interpretation lässt sich aus verschiedenen Gründen problematisieren. Die Begründungskette von Röm  14,22f soll hier probeweise umgekehrt werden: Röm  14,23b: πᾶν δὲ ὃ οὐκ ἐκ πίστεως ἁμαρτία ἐστίν.

Mit ἐκ πίστεως greift Paulus Röm  14,23a auf. Röm  14,23a: ὁ δὲ διακρινόμενος ἐὰν φάγῃ κατακέκριται, ὅτι οὐκ ἐκ πίστεως.

Mit διακρινόμενος und κατακέκριται wird Röm  14,22b aufgegriffen. Röm  14,22a: σὺ πίστιν [ἣν] ἔχεις κατὰ σεαυτὸν ἔχε ἐνώπιον τοῦ θεοῦ. Röm  14,22b: μακάριος ὁ μὴ κρίνων ἑαυτὸν ἐν ᾧ δοκιμάζει.

Es deutet sich eine syllogistische Grundbewegung an, in der Röm  14,23b als Regel bzw. Obersatz fungiert, während Röm  14,23a als Fall bzw. Untersatz verstanden werden kann. Nimmt man nun die wörtliche Übersetzung des No­ minalsatzes „Alles, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde“ an, ergibt sich folgen­ der Syllogismus: Obersatz: Alles, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde. Untersatz: Beim Essen Skrupel zu haben (διακρινόμενος ) ist nicht aus Glauben. Schlussfolgerung: Beim Essen Skrupel zu haben ist Sünde.

Nun wird diese Schlussfolgerung nirgendwo explizit gezogen und es steht tat­ sächlich die Frage im Raum, ob sie in dieser Form korrekt sein kann. Der kau­ sale Zusammenhang zwischen Ober- und Untersatz ist eindeutig – er wird über ὅτι (Röm  14,23a) und den Ausdruck ἐκ πίστεως hergestellt. Paulus erklärt aber nicht, dass es Sünde sei, beim Essen Skrupel zu haben, sondern dass derjenige, der Skrupel beim Essen hat, verurteilt wird (Röm  14,23: κατακέκριται). Diesem verurteilten und überführten Menschen steht derjenige gegenüber, den Paulus deswegen preist, weil er in dem, was er prüft, keine Veranlassung zu einer Selbstverurteilung sieht (Röm  14,22b). Mit „Sünde“ spielt Paulus nun also of­ fenbar auf das Ergebnis der Selbstprüfung des skrupulösen Menschen, mit ἐκ πίστεως auf das Bewusstsein der Nicht-Verurteilung an. Wer Bedenken beim Essen hat, identifiziert also etwas als Sünde, was ἐκ πίστεως offenbar keine ist. Zugespitzt: Sollte jemand beim Essen Bedenken haben, so überführt er sich der Sünde und wird durch sich selbst als eine Gesetzesinstanz verurteilt, die aus der Perspektive des Glaubens eigentlich keine Relevanz haben darf. Er fällt in die Gesetzlichkeit zurück. Unter dieser Voraussetzung könnte Röm  14,23b folgen­ sehr stark im Kontext römischer, philosophischer Traditionen liest, die das gute Gewissen beim Handeln als wesentliches Kennzeichen von Sittlichkeit verstehen.

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

dermaßen übersetzt werden: „Alles, was nicht aus Glauben heraus beurteilt wird, erweist sich als Sünde.“ Der Vers würde dann mit einem spöttischen Un­ terton die Bedenken des Essenden dahingehend konterkarieren, dass ihm alles zum Anlass für Skrupel und Selbstverurteilung gereichen würde, weil er nicht berücksichtigt, dass aus der Perspektive des Glaubens eine Selbstverurteilung nicht möglich ist, da Gott selber von der Anrechnung der Sünde absieht. Eine solche ‚sündenerkenntnisbezogene‘ Interpretation von Röm  14,23 lässt sich in die Argumentation des Römerbriefes zurückverfolgen. Zwei bedeutende Sinnlinien der Argumentation von Röm  1,18–8,4 kulminieren in dem Sün­ den-Aphorismus von Röm  14,23: Zum einen kennzeichnet die Präpositional­ verbindung ἐκ πίστεως nirgends im Römerbrief das Tun des Menschen, sondern spielt immer auf die Glaubensgerechtigkeit und den Freispruch von der Sünde an. Wo Paulus ἐκ πίστεως verwendet, geht es um die Rechtfertigung von der Sünde – im Gegensatz zur Rechtfertigung aus den Werken oder dem Gesetz: Röm  1,17: ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται. Röm  3,26: ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ, πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ ἐν τῷ νῦν καιρῷ, εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ. Röm  3,30: ὃς δικαιώσει περιτομὴν ἐκ πίστεως καὶ ἀκροβυστίαν διὰ τῆς πίστεως […] Röm  4,16: Διὰ τοῦτο ἐκ πίστεως, ἵνα κατὰ χάριν, εἰς τὸ εἶναι βεβαίαν τὴν ἐπαγγελίαν παντὶ τῷ σπέρματι, οὐ τῷ ἐκ τοῦ νόμου μόνον ἀλλὰ καὶ τῷ ἐκ πίστεως Ἀβραάμ, ὅς ἐστιν πατὴρ πάντων ἡμῶν […] Röm  5,1: Δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ […] Röm  9,30–33: ὅτι ἔθνη τὰ μὴ διώκοντα δικαιοσύνην κατέλαβεν δικαιοσύνην, δικαιοσύνην δὲ τὴν ἐκ πίστεως, Ἰσραὴλ δὲ διώκων νόμον δικαιοσύνης εἰς νόμον οὐκ ἔφθασεν. διὰ τί; ὅτι οὐκ ἐκ πίστεως ἀλλ’ ὡς ἐξ ἔργων. προσέκοψαν τῷ λίθῳ τοῦ προσκόμματος, καθὼς γέγραπται. ἰδοὺ τίθημι ἐν Σιὼν λίθον προσκόμματος καὶ πέτραν σκανδάλου, καὶ ὁ πιστεύων ἐπ’ αὐτῷ οὐ καταισχυνθήσεται. Röm  10,6: ἡ δὲ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη οὕτως λέγει. μὴ εἴπῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου.

Mit dem Ausdruck ἐκ πίστεως zieht Paulus also eine Grenze gegenüber anderen Versuchen der Rechtfertigung: Wo eine Instanz des Urteilens eingeführt und die Rechtfertigung aus Glauben in Frage gestellt wird, wird der Friede mit Gott (Röm  5,1) in Frage gestellt und die Sünde ergreift ihre Chance, durch das Ge­ setz manifest zu werden. Zum anderen weist auch die in Röm  14,22f abgerufene Wortfamilie vom Stamm κριν- in die Sündenargumentation von Röm  1,18–8,4 zurück. Schon in der argumentatio von Röm  1,18–2,8 deutet Paulus die Verfallsgeschichte der Menschheit als Geschichte der Preisgabe des Menschen an die Welt. Niemand ist von diesem Verfall ausgenommen – aus diesem Grund ist dem „Du“ das Richten verboten: Röm  2 ,1: Διὸ ἀναπολόγητος εἶ, ὦ ἄνθρωπε πᾶς ὁ κρίνων. ἐν ᾧ γὰρ κρίνεις τὸν ἕτερον, σεαυτὸν κατακρίνεις, τὰ γὰρ αὐτὰ πράσσεις ὁ κρίνων. 2 οἴδαμεν δὲ ὅτι τὸ κρίμα τοῦ θεοῦ ἐστιν κατὰ ἀλήθειαν ἐπὶ τοὺς τὰ τοιαῦτα πράσσοντας.

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

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Das Richten über den Anderen ist ein Phänomen der gefallenen Menschheit: Der Mensch versucht, zwischen den eigenen Taten und den Taten des ἕτερος zu unterscheiden und nimmt sie zum Anlass, über den Nächsten zu richten. Ein solches Urteil verkennt das Privileg Gottes, über den Menschen rechtzuspre­ chen (Röm  2,2). Diese Tendenz bei der Verwendung von Vertretern der Wort­ familie vom Stamm κριν- muss für die folgenden Fundstellen mitbedacht wer­ den: Gott trifft das Urteil über den Menschen. Die Verurteilung des Anderen stellt eine Signatur der gefallenen Menschheit dar. Nun wird in Röm  2,1 noch nicht von Sünde oder Sünden gesprochen. Die Analyse der argumentatio von Röm  1,18–2,8 hat zu Tage gefördert, warum das so ist: Paulus verwendet den Sündenbegriff immer im Zusammenhang mit der Gesetzesproblematik. Die Sünde durchwirkt zwar als universales Phänomen die ganze Menschheit, wird aber erst durch das Gesetz erkennbar, was wiederum dazu führt, dass sich ihre Macht potenziert. Der Aspekt der Verurteilung der Sünde, wie ihn Röm  14,22f in den Blick nimmt, spiegelt sich prägnant in Röm  2,11f wider. Während Gott die ganze Menschheit für ihre Sünde heim­ sucht, weil es bei ihm keine προσωπολημψία gibt, ist die explizite Verurteilung der Sünde als Sünde nur im Lichte des Gesetzes möglich. Röm  2 ,11: οὐ γάρ ἐστιν προσωπολημψία παρὰ τῷ θεῷ. 12 Ὅσοι γὰρ ἀνόμως ἥμαρτον, ἀνόμως καὶ ἀπολοῦνται, καὶ ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον, διὰ νόμου κριθήσονται.

Aus dem bloßen Gesetzesbesitz ergibt sich also nicht das Recht, über den Ande­ ren zu richten. Vielmehr zeigt sich, dass der Heide, der das Gesetz einhält, über denjenigen Juden, der das Gesetz lediglich besitzt, zu Gericht sitzt, wobei Pau­ lus natürlich immer impliziert, dass nur derjenige das Gesetz hält (und aufrich­ tet), der glaubt (Röm  3,31). Röm  2 ,27: καὶ κρινεῖ ἡ ἐκ φύσεως ἀκροβυστία τὸν νόμον τελοῦσα σὲ τὸν διὰ γράμματος καὶ περιτομῆς παραβάτην νόμου.

Paulus geht es also um das Urteil Gottes über die Sünde und den Versuch des Menschen, Gott das Privileg dieses Urteils in Rückgriff auf das Gesetz streitig zu machen. Im Lichte des Glaubens muss das Urteil Gottes über den Menschen natürlich anders ausfallen, weil die Sünde durch Christus beseitigt worden ist. Ähnlich wie in Röm  14,22 preist Paulus in der Abraham-Perikope denjenigen als μακάριος, bei dem Gott die Sünde nicht anrechnet und auf ein Urteil ver­ zichtet: Röm  4,8: μακάριος ἀνὴρ οὗ οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν.

Dass Gott auf eine Anrechnung der Sünde verzichtet, ist nur vor dem Hinter­ grund des Kreuzesgeschehens verständlich. So erweist sich die Wortverbindung von Sünde und Verurteilung bzw. Urteil als tragend für die Adam-Christus­Gegenüberstellung:

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V. Macht der Argumentation – Macht der Sünde: Exegetische Untersuchung

Röm  5,18: Ἄρα οὖν ὡς δι’ ἑνὸς παραπτώματος εἰς πάντας ἀνθρώπους εἰς κατάκριμα, οὕτως καὶ δι’ ἑνὸς δικαιώματος εἰς πάντας ἀνθρώπους εἰς δικαίωσιν ζωῆς. 19 ὥσπερ γὰρ διὰ τῆς παρακοῆς τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου ἁμαρτωλοὶ κατεστάθησαν οἱ πολλοί , οὕτως καὶ διὰ τῆς ὑπακοῆς τοῦ ἑνὸς δίκαιοι κατασταθήσονται οἱ πολλοί.

Paulus denkt hier, wie in der Argumentationsanalyse gezeigt wurde, im Hori­ zont von Präzedenzfällen, die das Urteil Gottes beeinflussen (εἰς κατάκριμα oder εἰς δικαίωσιν). Die πολλοί verurteilt Gott nicht – im Umkehrschluss: Dass der Mensch im Glauben sündigt, erscheint als unmögliche Möglichkeit, wie Paulus sehr pointiert in Röm  8,1–4 und 8,33f festhält. Es ist nicht der Mensch, sondern die Sünde, die im Fleisch verurteilt wird, und diejenigen, die von Gott berufen sind, kann niemand als Sünder bezeichnen. Sie sind dem Urteil der Menschen entzogen. Röm  8,1: Οὐδὲν ἄρα νῦν κατάκριμα τοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. 2 ὁ γὰρ νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ἠλευθέρωσέν σε ἀπὸ τοῦ νόμου τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου. 3 Τὸ γὰρ ἀδύνατον τοῦ νόμου ἐν ᾧ ἠσθένει διὰ τῆς σαρκός , ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί , 4 ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα. Röm  8,33: τίς ἐγκαλέσει κατὰ ἐκλεκτῶν θεοῦ; θεὸς ὁ δικαιῶν. 34 τίς ὁ κατακρινῶν; Χριστὸς [ Ἰησοῦς] ὁ ἀποθανών, μᾶλλον δὲ ἐγερθείς, ὃς καί ἐστιν ἐν δεξιᾷ τοῦ θεοῦ, ὃς καὶ ἐντυγχάνει ὑπὲρ ἡμῶν.

Es wäre nun ein Missverständnis, wenn der Zusammenhang zwischen dem Verbot des Richtens und der Sünde so verstanden werden würde, dass die Christen lediglich von der Sünde freigesprochen werden, obwohl sie faktisch Sünde tun. Paulus schärft ein, dass diejenigen, die zu den Auserwählten Gottes gehören, tatsächlich nicht mehr unter der Macht der Sünde stehen und deswe­ gen nicht dazu im Stande sind, zu sündigen (vgl. Röm  6,15–7,6). Was richten diese Überlegungen für das Verständnis von Röm  14,23 aus? Zur Funktion des Sündenbegriffs in diesem Zusammenhang. Mit ἁμαρτία und ἐκ πίστεως bezeichnet Paulus in Röm  14,23 keine „ethischen“ Begriffe – es geht ihm nicht darum, das, was der Mensch aus Glauben tut, dem, was er als Sünde hervorbringt, gegenüberzustellen. Paulus zeigt an dieser Stelle vielmehr, dass religiöse Skrupel beim Essen Ausdruck der Zugehörigkeit des Menschen zur Machtsphäre der Sünde sind.494 Wer sich selbst verurteilt und (bei sich oder dem Anderen) Sünde feststellt, trifft dieses Urteil nicht ἐκ πίστεως, sondern überführt sich als Teil der gefallenen Menschheit. In dem kurzen Reflex auf die Sünde wird also die konstitutive Sinnlinie der ganzen Argumentation von Röm  1–8 abgerufen. Die Sphäre der Sünde ist die Sphäre des Gesetzes, des Richtens und der Verurteilung durch Gott. Dieser Sphäre sind die Christen ein für alle Mal entzogen. Die Selbstverurteilung (aber auch die Verurteilung des Bruders), die in Röm  14,23 494 Vgl.

Wilckens, Römer III, 96.

6. Echo der Sündenargumentation in Röm  8,10; 11,27 und 14,23

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forciert wird, kann der Glaube nicht zulassen, weil der durch Christus ermög­ lichte Freispruch einen Rückfall in die Gesetzlichkeit nicht duldet.495 Der Glau­ be gewährt beides: dass die Gläubigen nicht unter der Macht der Sünde stehen und dass Gottes Freispruch über den Gerechtfertigten unangetastet bleibt. In Form des Aphorismus hält Paulus in Röm  14,23 also tatsächlich die wesentliche Pointe der Sündenargumentation des Römerbriefes fest: „Wer aber Bedenken hat, wenn er isst, wird verurteilt, weil sich seine Bedenken nicht mit dem Glau­ ben an den durch Christus ermöglichten Freispruch Gottes über den Menschen in Über­ einstimmung bringen lassen. Alles, was nicht aus diesem Glauben heraus beur­ teilt wird, erweist sich als Sünde – insofern derjenige, der den Freispruch Gottes nicht anerkennt, immer noch unter der Macht der Sünde steht und nicht glaubt.“

495 

Vgl. aaO. 97.

Bilanz: Ein Portrait der Sündenargumentation des Römerbriefs „Setzt doch das Wort vom Kreuz gerade den Menschen ins Recht, der im Unrecht ist, und zwar nicht (nur) vor der Welt, sondern vor Gott im Unrecht ist und deshalb angeklagt und verurteilt zu werden verdient. Inwiefern es dabei gleichwohl mit rechten Dingen zu­ geht, das verlangt nach Erklärung, dafür ist Argumentation erforderlich. Die Rechtfer­ tigungslehre ist der Versuch einer dem Wahrheitsanspruch des Evangeliums entspre­ chenden Argumentation.“1

Welches Ziel verfolgt Paulus, wenn er im Römerbrief von der Sünde spricht? Ein Blick in die Auslegungs- und Forschungsgeschichte konnte zeigen, dass sich die Frage nach dem Ziel der Verwendung des Sündenbegriffs als brisant erweist, denn abhängig davon, wie der Exeget das Ziel des Römerbriefes bestimmt, schwankt die Bestimmung der Funktion und Bedeutung des Sündenbegriffs: Ein elenktischer und ein retrospektiver Ansatz stehen sich gegenüber. Der elenkti­ sche Ansatz betont das lutherische „magnificare peccatum“: Der Römerbrief mache die Sünde groß, um dem Menschen seine Angewiesenheit auf Gottes Gnade vor Augen zu führen oder um zu erläutern, warum der Mensch nicht aus eigenen Kräften Gnade erlangen kann. Der retrospektive Ansatz, der in der New Perspective und ihr nahestehenden soziologischen Forschungsarbeiten zum Römer­brief greif bar wird, versteht den Sündenbegriff als einen integralen Be­ standteil der paulinischen Argumentation gegen die Gesetzesobservanz, die die judenchristlichen Gegner des Apostels von den Heidenchristen einfordern, wo­ bei auch Paulus’ semantische Flexibilität bei der Handhabung des Begriffs for­ ciert wird: Er gebrauche ihn eben so, dass er seiner Argumentation nützt. In der Debatte um die These von der Gemeinde als „sündenfreiem Raum“ spitzt sich die Kontroverse zu: Blickt Paulus im Römerbrief auf die überwundene Sünden­ macht zurück oder dient die Sündenargumentation als anthropologische Folie, vor deren Hintergrund die Soteriologie des Römerbriefs erst adäquat verstan­ den werden kann? In vorliegender Untersuchung wurde eine Methode gesucht, mit deren Hilfe der Skopus eines argumentativen Textes wie des Römerbriefes bestimmt wer­ den kann, um nachzuvollziehen, mit welcher Absicht Paulus den Sündenbegriff verwendet. 1 

Jüngel, Evangelium, 3.

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Die Argumentationstheorie der antiken Rhetorik als Skopustheorie und ihre semantische Dimension Mittlerweile konnten sich verschiedene Forschungsfelder etablieren, auf denen die Argumentationsweise des Apostels untersucht wird (Kapitel I.1.): Mal wer­ den ihre logischen Aspekte, mal ihre persuasive Strategie, mal ihre Axiomatik, d. h. die Herkunft und Anwendung der Argumentationsmuster, mal ihre Form untersucht. Der Einblick in die Forschungsgeschichte eröffnete damit auf der einen Seite eine Problemanzeige, insofern sich der Argumentationsbegriff als vielschichtig und vage erwies. Auf der anderen Seite konnte die ursprüngliche Forschungsfrage differenzierter betrachtet werden, denn das „Ziel“ der paulini­ schen Argumentation lässt sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Methoden ermitteln: Ein Ziel kann sich als kommunika­ tives Ziel oder aber als logische Schlussfolgerung präsentieren. Ein Ziel kann sich auch als Höhepunkt einer Argumentationsstruktur oder als Richtpunkt der Adressatenlenkung auszeichnen. Ausgehend von dieser induktiven, aber disparaten Forschungslage und dem Ansatz Melanchthons folgend wurde die antike Argumentationstheorie darauf hin untersucht (Kapitel I.2.), ob sie sich als kritische exegetische Methode zur Bestimmung des Skopus eines (auch paulinischen) Textes bewähren würde. Da­ bei war es in Anbetracht des derzeitigen Forschungsstandes – die paulinische Argumentationsweise darf nicht monokausal aus der römischen Rhetorik her­ geleitet werden – unerlässlich, die argumentationstheoretische Perspektive der griechisch-römischen Rhetorik in Form einer exemplarischen Studie zu theo­ logischen Argumentationen im antiken Judentum zu weiten und zu konkreti­ sieren. Die antike Argumentationstheorie als Segment der Rhetorik reflektiert auf verschiedenen Ebenen, wie ein Argumentierender sein Ziel erreichen kann. Die argumentatio stellt dabei den Kern der Rede (ihren Gegenstand, ihren Logos) dar – hier geschieht die eigentliche Überzeugungsarbeit. 1. Inventorische Ebene: Die argumentatio ist das Ergebnis eines Findungsprozesses, in dem der Redner konventionalisierte Begründungsmuster (loci) abruft und hinsichtlich seines Argumentationsziels nutzbar macht. 2. Rationale Ebene: In der argumentatio werden verschiedene Erkenntnisbereiche zueinander in ein Verhältnis gesetzt: Das Sichere (die Stützungen der Prä­ missen), das Wahrscheinliche (die Prämissen) und das Unsichere, das durch die Argumentation als sicher erwiesen werden soll (die Konklusion als we­ sentliches Ziel). Der rationale Anspruch der Argumentation ist jedoch inner­ halb der Rhetorik umstritten. 3. Strukturelle Ebene: Die argumentatio soll strukturiert und segmentiert zu einem Höhepunkt und einer Zusammenfassung führen. Die Rhetorica ad Herennium schlägt als Idealablauf ein lineares Modell vor: 1. These (expositio/propositio), 2. Begründung (ratio), 3. Bekräftigung des Zusammenhangs aus These und

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Begründung (rationis confirmatio), 4. weitergehende Begründungen (ggf. auch Polemik, Zuspitzung, Paradigma etc.) (exornatio), 5. Zusammenfassung und Zuspitzung auf die Adressaten (conplexio/complexio). 4. Attentionale Ebene: Argumentation ist (wie die Rhetorik insgesamt) Auf­ merksamkeitssteuerung in persuasiver Absicht. In der conplexio soll der Argu­ mentierende seine Argumentation zuspitzen und die Aufmerksamkeit der Adressaten auf die zentralen Aspekte bzw. Kerngedanken der Argumenta­ tion lenken. Die conplexio ist also die entscheidende Zielmarke der Argumen­ tation und hebt sich, vor allem wenn sie unmittelbar auf die Adressaten ap­ pliziert wird, von den abstrakte(re)n Argumentationsanteilen ab („attentio­ nales Relief “). Die Argumentationstheorie der antiken Rhetorik erweist sich damit als ausge­ sprochen skopusorientierte Theorie. Dass sie auch deskriptive Relevanz hat, d. h. als heuristisches Modell zur Analyse konkreter Argumentationen herange­ zogen werden kann, wurde anhand exemplarischer Studien zu Argumentatio­ nen im hellenistischen Judentum nachgewiesen. Die Kunst des rhetorischen Begründens konkretisiert sich nicht nur in juristischen oder politischen Reden und im rhetorischen Schulbetrieb, sondern auch in literarischen und theologi­ schen Zusammenhängen. Dass sich das rhetorische Argumentationsmodell dazu eignet, auch den Sko­ pus paulinischer Texte und insbesondere des Römerbriefes zu bestimmen, legt sich – wie gezeigt werden konnte – aus mehreren Gründen nahe (Kapitel I.3.). So setzt die antike Argumentationstheorie eine Kommunikationssituation vor­ aus, die der des Briefeschreibers Paulus ähnelt (das Spannungsverhältnis von Adressant, Adressat und dem „Glaubenerweckenden“ eines umstrittenen Ge­ genstands mit Wahrheitsanspruch). Zudem antizipiert Paulus u. U. die sekundä­ re Mündlichkeit seiner Briefe (sie werden in den Gemeinden vorgelesen), indem er seine Argumentation strukturiert und die Aufmerksamkeit seiner Adressaten lenkt. In diesem Zusammenhang hat sich der Hinweis darauf, dass die Rhetorik als ubiquitäre Bildungsmacht die ganze antike Welt durchdrungen hat, als am­ bivalentes Argument für eine rhetorische Lesart der Paulusbriefe erwiesen. Kri­ tische Bemerkungen Quintilians hinsichtlich der unprofessionellen Rhetorik deuten jedenfalls darauf hin, dass aus der Tatsache, dass ein Text argumentative oder rhetorische Muster aufweist, nicht vorschnell der Schluss gezogen werden kann, dass der Argumentierende umfassend rhetorisch gebildet gewesen ist. An die Darstellung der Argumentationstheorie als Skopustheorie schloss sich eine Überlegung zur semantischen Dimension des Argumentierens an (Kapitel II). Die antike Rhetorik hat kein ausgeprägtes Interesse an den semantischen Implikationen der Begründungskunst, Quintilian reflektiert aber im Zuge der elocutio ansatzweise das Verhältnis der Worte zur Sache, auf die sie verweisen (verba – res) (Kapitel II.1.). Unter Zuhilfenahme diskursanalytischer und lingu­

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istischer Forschungsansätze wurde anhand konkreter Textbeispiele aus Ciceros De Inventione nachgewiesen, dass Argumentation nicht nur auf Satz- oder Dis­ kursebene, sondern auch auf Begriffsebene organisiert wird: Ein Argumentie­ render ruft die semantischen Potentiale eines Begriffes ab, die für das Ziel seiner Argumentation relevant sind (Kapitel II.2.). Unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten stellt die argumentatio ein performatives Sprachsystem dar, in das die einzelnen Begriffe funktional eingebunden sind. Diese funktionale Ein­ bindung erweist sich als Ergebnis eines inventorischen Prozesses: Argumentie­ ren ist auf semantischer Ebene das Abrufen, Einschränken und Weiterentwi­ ckeln des semantischen Potentials bzw. Bedeutungsspektrums eines Begriffs hinsichtlich des Argumentationsziels. Wenn also nach der argumentativen Funktion eines einzelnen Begriffs gefragt ist, muss – im Rahmen der antiken Argumentationstheorie – danach gefragt werden, inwiefern er dazu beiträgt, dass die Schlussfolgerung der Argumentation, d. h. die conplexio gelingt. Daraus ergeben sich auch weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von synchro­ ner und diachroner Methodik, denn unter der Voraussetzung einer skopusori­ entierten Textinterpretation scheint es nicht gerechtfertigt zu sein, solche tradi­ tionsgeschichtlichen und intertextuellen Bezüge in die Analyse der Texte und Begriffsbedeutungen miteinzubeziehen, denen hinsichtlich des Skopus eines Textes keine tragende Funktion zukommt. Charakteristika der Argumentation des Römerbriefs vor dem Hintergrund der antiken Argumentationstheorie Im zweiten Teil der Arbeit wurde vor dem Hintergrund antiker Argumenta­ tionstheorie untersucht, mit welchem Ziel Paulus den Sündenbegriff im Römer­ brief verwendet. Dazu wurde zunächst überlegt, inwiefern Präskript, Pro­ömium und „These“ des Römerbriefes (Röm  1,1–17) die Argumentation von Röm  1–8 determinieren (Kapitel IV). Zum einen legt Paulus in Röm  1,1–17 den heiden­ christlichen Horizont der Argumentation fest – er argumentiert ausgehend von den römischen Heidenchristen und für sie. Zum zweiten forciert Paulus in Röm  1,16f ein konkretes theologisches Problem, das Anhalt an der römischen Gemeindesituation hat, wie Paulus sie vermutet: Im Römerbrief geht es um das Verhältnis der heidenchristlichen Adressaten zu Israel und insbesondere darum, inwiefern sie an der Erwählung Israels partizipieren. Zum dritten stiftet Paulus in Röm  1,1–17 eine attentional relevante Situation der unmittelbaren Ansprache der Adressaten, von der er sich im Laufe seiner Argumentation immer wieder ent­ fernt und zu der er immer wieder zurückkehrt. Ausgehend von Röm  1,1–17 lenkt Paulus die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf bestimmte Höhepunkte seiner Argumentation, die sich im Rahmen der Argumentationstheorie als conplexiones begreifen lassen und die Skopen der Argumentationen darstellen. In Kapitel V wurde die argumentative Funktion des Sündenbegriffs in Röm  1–8 analysiert. Dazu wurde die antike Argumentationstheorie als heuris­

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tisches Modell herangezogen, um die einzelnen Argumentationsgänge vonein­ ander abzugrenzen und ihren jeweiligen Skopus zu ermitteln. Hinsichtlich der Argumentationsweise des Apostels Paulus im Römerbrief kann nun im Allge­ meinen festgehalten werden: Wenn unter Argumentation ein strategisch ange­ legtes, zielorientiertes Sprachsystem verstanden wird, wie es die antike Rheto­ rik theoretisch reflektiert und wie es sich auch in den Texten des hellenistischen Judentums nachweisen lässt, erweist sich Paulus in der Tat als argumentierender Briefschreiber. Im Einzelnen lässt sich sein Argumentationstalent auf allen Ebenen der rhetorischen Argumentationstheorie nachvollziehen: Im Römerbrief lenkt Paulus die Aufmerksamkeit seiner Adressaten, was u. U. damit zusammenhängt, dass er den mündlichen Vortrag seines Briefes in den römischen Gemeinden – er wurde wahrscheinlich vorgelesen – antizipiert. Im Präskript und Proömium begründet Paulus durch die unmittelbare Ansprache der römischen Heidenchristen eine apostolische Partnerschaft und schafft eine attentionale Ausgangssituation, in der er face to face mit den Adressaten kommu­ niziert. Von dieser unmittelbaren Kommunikationsform entfernt sich Paulus im Verlauf von Röm  1–8 immer wieder, indem er über theologische Sachverhalte reflektiert (in der 3. Person). Er kehrt aber auch immer wieder zu ihr zurück, wenn er die Adressaten indirekt (1. Person Plural) oder direkt (2. Person Plural) anspricht. Die attentionale Dimension der antiken Argumentationstheorie tritt im Römerbrief also am profiliertesten als Wechsel zwischen reflektierender Rede über theologische Sachverhalte und Kommunikation mit den heidenchristlichen Adressaten zu Tage. Ausgehend von Schmellers Relationsprinzip wurde die Hypothese aufgestellt, dass es sich bei den Passagen, in denen Paulus seine Adressaten bzw. in Röm  2 ein opponierendes „Du“ anredet, um conplexiones im Sinne der anti­ ken Argumentationstheorie handelt: Die reflektierenden, explikativen Passagen münden in die applikativen und bilden zusammen eine kohärente Argumenta­ tion. Diese Hypothese konnte in der Untersuchung bestätigt werden, so dass in Röm  1–8 folgende argumentationes abgegrenzt werden konnten: – Röm  1,18–2,8 mit einer conplexio in Röm  2,1–8. – Röm  2,9–29 mit einer conplexio in Röm  2,25–29. – Röm  3,1–31 mit einer schwachen conplexio in Röm  3,8 und einer deutlichen conplexio in Röm  3,27–31. – Röm  4,1–5,11 mit einer conplexio in Röm  4,23–5,11. – Der Komplex von Röm  5,12–8,4 wurde als eine zusammenhängende argu­ mentative Passage behandelt, wobei Röm  5,12–21 als eine primäre argumentatio mit einer schwachen conplexio in Röm  5,18–21 bestimmt werden konnte, an die die argumentationes von Röm  6,1–14; 6,15–7,6 und 7,7–8,4 anknüpfen. In Röm  6,11–14; 7,4–6 und 8,1–4 werden Aspekte der Adam-Christus-Ge­ genüberstellung dezidiert auf die Adressaten angewendet.

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Der Römerbrief präsentiert sich also unter attentionalen Gesichtspunkten als Wechselspiel von explikativer und applikativer Sprache, Abstraktion und Fo­ kussierung der Adressatensituation. Die attentionale Spannung ist jedoch nicht in allen Bereichen gleich stark ausgeprägt. Während Paulus manche conplexiones explizit als solche ausweist (Röm  2,1; 2,17; 4,23; 6,11; 7,4; 8,1), wobei er gerne auf die Formel οὕτως καὶ ὑμεῖς o. ä. zurückgreift, ist z. B. die attentionale Aus­ zeichnung in Röm  3,27–31 weniger deutlich ausgeprägt. Die Adam-Christus-­ Gegenüberstellung von Röm  5,12–21 wird überhaupt nicht unmittelbar auf die Adressaten appliziert. In Röm  6,15ff bewegt sich hingegen der ganze Abschnitt im Modus einer Anrede der 2. Person Plural, ohne jedoch conplexio im engeren Sinne zu sein. In manchen Fällen war das grammatikalische Kriterium des Wechsels zwischen explikativer und applikativer Sprache also nicht hin­reichend, so dass inhaltliche Kriterien hinzugezogen werden mussten, um conplexiones zu identifizieren und die Skopen der Argumentation zu ermitteln. Damit hebt sich die unter argumentationskritischen Gesichtspunkten erschlossene Glie­ derung in einigen Punkten deutlich von früheren Gliederungsvorschlägen ab: So hat sich unter argumentationskritischen Gesichtspunkten die scharfe Zäsur zwischen Röm  3,20 und 3,21 als fraglich erwiesen. Die Abraham-Perikope ist über Röm  4,25 hinaus bis Röm  5,11 zu erweitern. Röm  6,15–23 findet eine echte Auflösung erst in Röm  7,1–6. Und Röm  7,7–25a wird erst in Röm  8,1–4 zu einem befriedigenden Ab­ schluss gebracht.

Die strukturelle Analyse konnte zeigen, dass die einzelnen argumentationes tat­ sächlich auf die attentional ausgezeichneten conplexiones hin konstruiert sind. Das Relationsprinzip Schmellers konnte insofern bestätigt werden: Explikation und Applikation stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern in den Pas­ sagen, in denen sich Paulus an seine Adressaten wendet, fasst er die vorige theo­ logische Erklärung zusammen und wendet sie auf sein Gegenüber an. Dabei weisen die einzelnen argumentationes in den meisten Fällen eine deutliche Seg­ mentierung auf. Paulus argumentiert kohärent und bringt Schritt für Schritt Argumente vor, um die conplexio zu ermöglichen. Er arbeitet selten assoziativ, sondern gestaltet seine Argumentationen stringent und linear, so dass in vielen Fällen die Terminologie der Rhetorica ad Herennium sachgemäß auf die Argu­ mentationen anwendbar ist, um einzelnen Begründungssegmenten argumenta­ tive Funktionen zuweisen zu können. Vor allem die hohe Kohärenz zwischen dem thetischen Zentrum und dessen Begründung sowie exornative Passagen, in denen Paulus mitunter polemisch, pauschalisierend, paradigmatisch oder re­ dundant argumentiert (Röm  1,20–32; 2,17–24; 3,9–20; 7,1–3; 7,20–25a), ließen sich adäquat mit dem Modell der griechisch-römischen Argumentationstheorie erfassen und benennen. Wie schon die Textbeispiele aus dem hellenistischen Judentum neigen Paulus’ Argumentationen jedoch auch zur Ausbildung von Subsystemen, Inversionen und Assoziationen. Dass die Analyse der Argumenta­ tionsstrukturen mitunter an ihre Grenzen stößt, war angesichts der Eindrücke

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aus den theologischen Argumentationen des Judentums also zu erwarten: In Röm  3,1–8 sind nur argumentative Rudimente vorhanden, die argumentative Funktion narrativer Texte wie Röm  5,12–14 oder 7,7–13 ergibt sich erst aus ihrer argumentativen Weiterentwicklung. Und in Röm  5,12–8,4 liegt ein bin­ nendifferenzierter Argumentationskomplex vor, in dem mehrere adressaten­ orientierte argumentationes auf eine primäre argumentatio bezogen sind. Die logische Dimension des Argumentierens im Römerbrief wurde wegen der methodischen Vorbehalte bzgl. ihrer Rekonstruktion im Zuge dieser Un­ tersuchung nur von Fall zu Fall betrachtet. Paulus konstruiert keine Epicheire­ me und die Struktur der ratiocinatio ist im Römerbrief nicht nachweisbar. Wenn jedoch das Kriterium der „Rationalität“ im Sinne Quintilians angewendet und eine Logik des korrekten Bezugs zwischen verschiedenen Erkenntnisbereichen vorausge­ setzt wird, erscheint die Argumentation des Römerbriefes durchaus als „ver­ nünftig“. Was für die Texte aus dem hellenistischen Judentum gilt, gilt auch für den Römerbrief: Paulus verknüpft die Erkenntnisbereiche des Sicheren (Stüt­ zung der Prämisse) und Wahrscheinlichen (Prämisse) miteinander, um das Un­ sichere (die Konklusion) zu bestätigen und als sicher auszuweisen. Die Logik der Verknüpfung muss dabei – vor allem in Abgrenzung gegenüber der Kritik neuerer Argumentationstheorien – strikt vom Gehalt der Prämissen unterschieden wer­ den. Die Verknüpfung der Erkenntnisbereiche lässt sich in vielen Fällen in syl­ logistischen Modellen erfassen, wie an einzelnen argumentationes wie Röm  2,9– 29 oder Röm  3,9–31 demonstriert werden konnte: Dort wurde eine rationale Gedankenbewegung nachvollzogen, die die Schlussfolgerung ermöglicht, dass das Gesetz durch den Glauben aufgerichtet bzw. durch die Heidenchristen er­ füllt wird, was das Gesetz von den Juden fordert. In Röm  7,7–25a konnte nach­ gewiesen werden, dass Paulus das Unvermögen des „guten“ Gebotes mit dem Unvermögen des Menschen zum Guten im Allgemeinen begründet. Paulus’ Argumentation ist also – gemessen an den Maßstäben der antiken rhetorischen Argumentationstheorie – vernünftig und durchaus logisch. Die inventorische Ebene wurde nicht eigens behandelt, sondern im Rahmen der semantischen Analyse ganz auf den Sündenbegriff zugespitzt. Ein Portrait der Sünde im Römerbrief In den meisten argumentationes ließ sich also sehr deutlich ein Skopus, eine Ziel­ richtung, ein argumentatives Gefälle nachweisen. Damit war der erste Schritt zu einer Analyse der Funktion des Sündenbegriffs getan. Der Sündenbegriff – Substantiv, Verb und Adjektiv sollten gleichermaßen berücksichtigt werden – erwies sich nun gewissermaßen als semantischer locus, den Paulus immer wieder abruft und in seine Argumentation integriert. Es galt nun im Rahmen des in­ ventorischen Spannungsfelds von Konvention und Funktion zu unterscheiden, „was Sünde ist“ und „wozu sie der Argumentation dient“. Dabei wurden die einzelnen argumentationes im Kontext der Haupt- oder Leitthese des Römerbrie­

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fes (Röm  1,16f ) ausgelegt, mit der Paulus eine doppelte Strategie verfolgt: Die Abgrenzung gegen die Tora- und Beschneidungsobservanz bei gleichzeitiger Betonung der Heilskontinuität. Die Heidenchristen partizipieren durch ihren Glauben an der Erwählung des Volkes Gottes und sollen sich von diesem Parti­ zipationsverhältnis aus verstehen – dieses Partizipationsverhältnis schließt je­ doch keinen Kompromiss hinsichtlich der Gesetzes- oder Beschneidungsobser­ vanz ein. Die Funktion des Sündenbegriffs hinsichtlich des Skopus der einzelnen argumentationes konnte sodann differenziert erarbeitet werden. Die Ergebnisse lassen sich in zehn Punkten zusammenfassen: 1. H insichtlich der Argumentation von Röm  1,18–2,8 war von einer Programmatik des Schweigens die Rede, weil – obwohl es naheliegen würde – Paulus den Sündenbegriff nicht verwendet. Zwar umschreibt er in Röm  1,18–32 Manifestationen der Sünde und deutet auch deren Todeswürdigkeit an, bringt dies jedoch nicht explizit mit dem Sündenbegriff in Verbindung. Dies wurde (auch im Kontext von SapSal 13–15) als Hinweis darauf verstanden, dass die Verwendung des Sündenbegriffs für die Gesetzesproblematik gewis­ sermaßen „reserviert“ ist: Ohne Gesetz wird die Sünde nicht als Sünde er­ kennbar und bleibt „Unzucht“, „Vertauschung der Herrlichkeit“, „Verfehlen des Schöpfers“, die gleichwohl von Gottes Zorn heimgesucht werden. Hier wird programmatisch umgesetzt, was Texte wie Röm  2,12; 3,21f oder 5,12– 14 voraussetzen: In der Sphäre außerhalb des Gesetzes (bzw. in der Perspek­ tive von Röm  5,12–14: in der Zeit vor der Gabe des Gesetzes) wirkt die Sünde und wird als solche sanktioniert, ohne als Sünde erkennbar oder be­ stimmbar zu sein. 2. In der Argumentation von Röm  2,9–29 stellt die Strafwürdigkeit der Sünde ein zentrales Axiom der ratio (Röm  2,12) dar. Paulus zeigt, dass Juden und Heiden sündigen (ἀνόμως oder ἐν νόμῳ) und dass die Konsequenzen des ἁμαρτάνειν für Juden und Heiden in jedem Fall negativ qualifiziert sind, wenngleich sie sich hinsichtlich der Sanktionierungsform unterscheiden (ἀπολοῦνται bzw. κριθήσονται). Paulus verwendet den Sündenbegriff, um den νόμος-Begriff kritisch zu hinterfragen. Die Macht der Sünde realisiert sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sphäre des Gesetzes – so ist den Observanzforderungen bzgl. Gesetz und Beschneidung, denen sich die hei­ denchristlichen Adressaten des Römerbriefes ausgesetzt sehen (Röm  2,17– 29), der Boden entzogen, was Paulus in der scharfen Anklage eines jüdischen Du (Röm  2,25–29) pointiert zusammenfasst. 3.  In dem argumentativen Rudiment von Röm   3,1–8 nutzt Paulus den ἁμαρτωλός-Begriff, um einer Fehlinterpretation der dynamischen Heilsge­ schichte Israels zuvorzukommen. Menschliche Untreue und Treue Gottes dürfen nicht so aufeinander bezogen werden, dass der Mensch für seine Ver­

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fehlungen nicht verantwortlich gemacht werden könnte: Auch wenn seine Lüge und Sünde die Wahrheit Gottes ans Licht bringen, die Treue Gottes also bestätigen, bleibt er ἁμαρτωλός und wird bestraft. 4. In der Argumentation von Röm  3,9–31 kommt dem Sündenbegriff eine doppelte Funktion zu: Einerseits weist Paulus anhand der Allwirksamkeit der Sünde (Röm  3,9–18) die Unfähigkeit des Gesetzes nach, die Sünde ab­ zuwenden, denn obwohl das Gesetz erlassen worden ist, ist die Sünde noch in der Welt (Röm  3,19f ). Andererseits dient das Argument von der universa­ len Macht der Sünde als Integral: Christus als Sühnemittel richtet sich χωρὶς νόμου (Röm  3,21) an diejenigen, die sündigen (Röm  3,23.25). Insofern kann Paulus auch behaupten, dass die Heidenchristen das Gesetz realisieren – sie entsprechen durch den Glauben der Intention des Gesetzes: Sie erlangen die Gerechtigkeit Gottes (Röm  3,21). Der Sündenbegriff trägt dazu bei, den Leit­ gedanken der Heilskontinuität zwischen Juden- und Heidenchristen trotz deutlicher Abgrenzungen in Fragen der Gesetzes- und Beschneidungs­ observanz durchzusetzen. 5. In der Abraham-Auslegung (Röm  4,1–5,11) gelingt es Paulus, durch die kommentierende Zusammenstellung von Ps 32 und Gen 15, die sündenver­ gebende Macht des Kreuzes so zu interpretieren, dass die heidenchristlichen Adressaten von den Ansprüchen des Gesetzes und der Beschneidung befreit sind. Ihr Glaube entspricht dem Glauben Abrahams, insofern Gott von der Anrechnung ihrer Werke absieht. Paulus blickt auf die Überwindung von Sündhaftigkeit, Feindschaft und Gottlosigkeit der heidenchristlichen Adres­ saten zurück und verortet die Versöhnung bzw. den Zugang zur Gnade in der Vergangenheit. So kann er pointiert feststellen, dass die Nicht-Anrech­ nung der Sünde mit der Anrechnung des Glaubens korrespondiert und von Beschneidung und Gesetz unabhängig ist. Die Integration des Sündenbe­ griffs in die Abraham-Exegese über das Zitat von Ps 32 ermöglicht es Paulus, eine Parallele zwischen der Anrechnung des Glaubens Abrahams ohne Wer­ ke und der Vergebung der Sünden durch den Glauben an Christus zu kons­ truieren. Das Heilsgeschehen macht Beschneidung und Gesetz für die hei­ denchristlichen Adressaten deswegen obsolet, weil es den Taten des Men­ schen zuvorkommt. 6. Röm  5,12–8,4 wurde wegen der sich wiederholenden Eingangsfragen als eine zusammenhängende Passage behandelt. Dabei wurde Röm  5,12–21 als primäre Argumentation bestimmt, in der Paulus eine weitreichende Zuord­ nung von Sünde, Tod, Gnade und Gesetz vornimmt. Paulus trägt den Ge­ gensatz von ἐν νόμῳ ἥμαρτον und ἀνόμως ἥμαρτον (Röm  2,12) auf einem „heilsgeschichtlichen Zeitstrahl“ ein und verortet den Ursprung des Zusam­ menhangs von Sünde und Tod in der adamitischen Menschheit, die das Ge­ setz noch nicht kennt. Es tritt erst im Nachhinein hinzu (Röm  5,20f ) und kann die Sünde lediglich identifizieren. Eine soteriologische Funktion

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    kommt dem νόμος wegen seiner heilsgeschichtlichen Nachrangigkeit also nicht zu – im Gegenteil: Paulus konstatiert eine Vertiefung des Falls (Röm  5,20f ). Mit der Argumentation zielt Paulus darauf, die Exklusivität der soteriologischen Funktion Jesu Christi festzuhalten. Christus ist unmit­ telbar auf Adam, sein Gehorsam auf dessen Ungehorsam, sein Freispruch auf dessen Fall bezogen, sodass das Gesetz heilsgeschichtlich marginalisiert wird.  7. Der erste von Röm  5,12–21 abhängige Argumentationsgang Röm  6,1–14 aktualisiert und individualisiert die Pointe der Adam-Christus-Gegenüber­ stellung: Die Adressaten haben durch ihre Taufe Zugang zu der Gnade, die Christus der gefallenen Menschheit erschlossen hat. Sie sind – im Gegensatz zu denen, die unter dem Gesetz stehen – dazu in der Lage, sich der Sünde zu entziehen und wie Christus für Gott zu leben. In der conplexio von Röm  6,11–14 wird die Unmittelbarkeit der Sündenvergebung ohne Gesetz, wie sie in der Adam-Christus-Gegenüberstellung forciert worden ist, auf die Adressaten angewendet.   8. Röm  6,15–7,6 geht darüber noch hinaus: Paulus hält fest, dass die Adressa­ ten nicht nur der Sünde, sondern auch dem Gesetz gestorben sind, was der Pointe der Adam-Christus-Gegenüberstellung entspricht – warum sollte das Gesetz noch für diejenigen gelten, die durch Christus von der Sünde befreit sind? Die Sünde fungiert auch in diesem Zusammenhang als das unmittelbar durch Christus überwundene Unheil. Die Parallelisierung des Todes für die Sünde mit dem Tod für das Gesetz beschreibt die wesentliche Konsequenz aus der Gegenüberstellung von Adam und Christus in Röm  5,15–17: Nicht Sünde oder Gesetz herrschen über die Gläubigen, son­ dern Gott.   9. Röm  7,7–25a ergibt zusammen mit Röm  8,1–4 als conplexio eine schlüssige, auf die heidenchristlichen Adressaten zugespitzte argumentatio: Paulus ent­ lastet das Gesetz auf der einen Seite, indem er eine Identifikation des Geset­ zes mit Sünde oder Tod zurückweist. Er drückt mit der heiklen Wortver­ bindung „Gesetz der Sünde und des Todes“ aber auch die anthropologische und heilsgeschichtliche Prävalenz der Sünde aus, die es ihr ermöglicht, das Gesetz zu instrumentalisieren. Damit erklärt Paulus den Wirkzusammen­ hang zwischen Gesetz und Sünde, den er in der Adam-Christus-Gegen­ überstellung angedacht, aber nicht weitergehend begründet hat. Auf der anderen Seite hält Paulus in der conplexio der Argumentation (Röm  8,1–4) fest, dass das „Gesetz der Sünde und des Todes“ durch Christus überwun­ den sei, so dass die – durch Fleisch und Sünde geschwächte – Tora zwar als Heilsmittel und ethischer Maßstab ausfällt, durch das Leben der Heiden­ christen nach dem Geist aber dennoch realisiert wird. 10. Röm  8,5–39 hat keine rhetorische Funktion i. S. einer peroratio oder Appli­ kation der Argumentation von Röm  1–7. Paulus überführt vielmehr die

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Argumentation von Röm  1,18–8,4 in den kontradiktorischen Gegensatz von Fleisch und Geist und verortet die Adressaten in der Sphäre von Geist, Gotteskindschaft und Erwählung. So hält Röm  8,5–39 die wesentliche Be­ dingung für die Geltung und das Gelingen der Argumentation von Röm  1,18–8,4 fest: Sie gelingt nur unter der Voraussetzung, dass sich die römischen Heidenchristen als Geistträger verstehen, deren Leib tot ist um der Sünde willen (Röm  8,10). In Röm  11,27 und Röm  14,23 ruft Paulus ein letztes Mal die Sündenargumentation von Röm  1–8 auf und integriert die­ se in die jeweiligen Kontexte, indem er darauf hinweist, dass auch Israel unter der Sünde steht und der Gnade oder des Retters bedarf (Röm  11,27) bzw. dass die Unterscheidung von Speisen und die Selbstverurteilung die Gerechtigkeit Gottes verkennt und nur im Machtbereich der Sünde mög­ lich ist (Röm  14,23). Der Sündenbegriff hat sich somit als funktionaler Teil eines organischen Argu­ mentationssystems erwiesen, das immer wieder zu der für die heidenchrist­ lichen Adressaten relevanten Ausgangsfrage zurückfindet. Lässt sich auf der Grundlage der verschiedenen Einzelbeobachtungen auch eine Programmatik der Sündenargumentation im Römerbrief bestimmen? Eine Programmatik der Sündenargumentation im Römerbrief? Um das Diktum Luthers in einem Punkt zu bestätigen: Paulus macht im Rö­ merbrief die Sünde tatsächlich groß. Das „magnificare peccatum“ besteht ange­ sichts des obigen Befundes vor allem in der Konstruktion einer weitreichenden, klar strukturierten und stringenten Argumentation. Paulus ergründet in den einzelnen argumentationes auf unterschiedliche Art und Weise die allumfassende Dominanz der Sünde und ihren Primat über dem Gesetz (anhand von Bibel­ zitaten in Röm  3,9–18, unter Rückgriff auf das Psalmwort in Röm  4,6–8, durch den Rückblick auf den Fall Adams in Röm  5,12–14, durch eine ausgefeilte an­ thropologische Argumentation in Röm  7,7–25a). Aber – das ist die Pointe der rhetorischen Argumentationskritik, die unter at­ tentionalen Gesichtspunkten zwischen explikativen und applikativen Textan­ teilen unterscheidet – Paulus macht die Sünde auch immer wieder klein. Insbesonde­ re in den adressatenorientierten conplexiones in Röm  3,27–31; 5,1–11; 6,11–14; 7,4–6 und 8,1–4 lenkt Paulus die Aufmerksamkeit seiner Adressaten auf die Feststellung, dass sie nicht (mehr) unter der Sünde stehen. Die Sünde ist durch Christus bereits überwunden, sie gehört zur „alten Menschheit“. Paulus forciert in Richtung der Adressaten keine μετάνοια oder Dialektik von Gesetz und Evan­ gelium zur Niederwerfung des Gewissens. Die Adressaten werden bedingungslos als solche angesprochen, die unter der Gnade stehen und der Sünde bereits ent­ zogen sind. Insofern bestätigt sich für den Römerbrief die These von der Ge­ meinde als „sündenfreiem Raum“ (Umbach) vollumfänglich. Sie muss aber

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argumentationstheoretisch kontextualisiert werden: Die ‚Hamartiologie im Rückblick‘, wie sie im Römerbrief zum Tragen kommt, dient ganz der Kritik des Gesetzes als Heilsmittel. In den explikativen Textanteilen der argumentationes wird die Überlegenheit der Sünde gegenüber dem Gesetz und dessen Insuf­ fizienz bei der Abwendung von Sünde und Tod festgestellt, um in den applika­ tiven Textanteilen der argumentationes, d. h. den conplexiones, auf die Überwin­ dung der Sünde zurückzublicken und so das Gesetz als Heilsmittel zu desavouieren, ohne seine Gültigkeit als Bundeszeichen Israels grundsätzlich in Frage stellen zu müssen. Die Analyse konnte also zeigen, dass Paulus im Römer­ brief die Gemeinde nur als „sündenfreien Raum“ bestimmt, um sie als „gesetzesfreien Raum“ auszuweisen. Mit dieser Argumentationsstrategie korreliert auch ein „didaktischer“ An­ spruch. Wenn es sich beim Römerbrief gleichzeitig um eine Erst- und potenti­ elle Letztkommunikation handelt, die konsolidierende und instruierende Funk­ tion hat (wie Reichert pointiert festgehalten hat), dann verfolgt Paulus auch das Ziel, dass die römischen Heidenchristen seine Argumentation internalisieren und im Konfliktfall reiterieren können. Paulus bündelt in den conplexiones die Erwägungen zur Zuordnung von Gesetz und Sünde, indem er die Unmittelbar­ keit der Vergebung und des Heils durch Christus in relationalen Begriffen ab­ bildet. Die Abgrenzung gegen Observanzforderungen verdichtet sich schlag­ wortartig in positiven Bestimmungen der Gemeinde wie ἐν Χριστῷ oder κατὰ πνεῦμα. Die Argumentation soll also nicht nur im Moment ihrer „Erstkommu­ nikation“ überzeugen, sondern auch zum Nachvollzug anregen. Diesem didak­ tischen Anspruch entspricht dann auch möglicherweise Paulus’ Interesse daran, das Problem der Zuordnung von Sünde und Gesetz auf mehreren argumentativen Ebenen zu entfalten, opponierende Meinungen zu benennen und mit Muster­ argumentationen zu bekämpfen (Röm  2,1–8 und 2,17–29) oder verschiedene Identitätsangebote zu stiften: den Abraham-Glauben (Röm  4,23–5,11), das Le­ ben für Gott (Röm  6,11–14), den Tod für das Gesetz (Röm  7,4–6), das Leben nach dem Geist (Röm  8,1–4). Inwiefern der Sündenbegriff nun einen Zentralbegriff der paulinischen An­ thropologie darstellt, ist im Rahmen dieser Untersuchung nur schwer zu ermit­ teln. Im Römerbrief wird der Begriff jedenfalls im Kontext einer spezifischen rhetorischen und theologischen Strategie und Programmatik verwendet, die mit der konkreten römischen Konstellation und der Gratwanderung zwischen Kontinuitätsbekundung und Observanzabwehr zusammenhängt. Es ist daher eine berechtigte Frage, ob Paulus das, was den Glauben an Christus im Kern ausmacht, nur in den Kategorien von Sünde und Rechtfertigung aussagen kann oder ob die komplexe Rechtfertigungsargumentation des Römerbriefes nicht viel mehr als umfassende Bewältigung des römischen (und galatischen) Kon­ flikts verstanden werden muss, die nur in diesem historischen Kontext valide ist. Immerhin zeigt sich vor allem im achten Kapitel des Römerbriefes, dass Paulus

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jenseits des Sündenbegriffs und jenseits des Konflikts um die heilsgeschichtliche Relevanz des Gesetzes auch andere Bilder und Interpretamente einbringen kann, um die Beziehung zwischen den Gläubigen und Gott anschaulich zu be­ schreiben. Gleichwohl drückt sich in der Sündenargumentation des Römerbriefes eine abstraktere, theologische Grundüberzeugung aus: Gnade, Rechtfertigung, Geistbegabung stellen Zuwendungen Gottes dar und können keineswegs vom Menschen selber erlangt werden. Paulus legt eine grundlegende Skepsis gegen­ über allen Versuchen des Menschen an den Tag, Gott gegenüber aktiv zu wer­ den, um die Gnade zu erlangen. Mehr noch: Der Versuch der Einflussnahme des Menschen auf seine Rechtfertigung ist im Grunde bereits ein Hinweis auf seine Existenz als Sünder. Der Leseeindruck Melanchthons – der Mensch könne deswegen seine Rechtfertigung nicht aus eigenen Kräften erlangen, weil er unter der Sünde steht – ist also durchaus berechtigt, denn Paulus denkt generell – nicht nur hinsichtlich des Gesetzes – über die Möglichkeiten des Menschen bei der Hervorbringung des Guten nach. Vor allem im Abraham-Kapitel Röm  4,1–5,11 und in Röm  7,7–25 wird deutlich, dass das, was Israel mit den Werken des Ge­ setzes nicht erreicht, die restliche Menschheit mit ihren Werken ebenfalls nicht erlangen kann, weil Rechtfertigung, Barmherzigkeit und auch die Hervorbrin­ gung des Guten von Gott ermöglicht werden. Diejenigen Interpretationsansätze, die davon ausgehen, dass Paulus auf den Sündenbegriff zurückgreife, um das Problem der Geltung des Gesetzes für die heidenchristlichen Adressaten zu lösen, finden durch die Untersuchung Bestäti­ gung (insbesondere die der New Perspective und der ihr nahestehenden soziolo­ gischen Forschungsbeiträge). Dass Paulus massiv mit Präsuppositionen und teils unlogischen Unterstellungen arbeite, erweist sich aber als Pauschalurteil: Paulus gewährleistet die Logik seiner Sündenargumentation durch empirische Beob­ achtungen (Röm  1,18–32), Schriftauslegung (Röm  3,9–18) oder eine – in der antiken Welt durchaus anerkannte – Introspektive bzgl. des Verhältnisses von Wollen und Tun des Menschen (Röm  7,7–25). Dass die Menschen unter der Sünde stehen, ist also durchaus auch Gegenstand der Argumentation – Paulus deduziert diese Prämisse nicht unvermittelt aus der Erkenntnis, dass Heil nur in Christus möglich ist, sondern leitet sie aus dem moralischen Verfall der Mensch­ heit ab. Diese moralische Dimension der Sünde steht jedoch in der Tat nicht im Mittelpunkt der Argumentation, sondern Paulus bringt das moralische Versagen des Menschen nur deswegen zur Darstellung, um es zu transzendieren und auf die Sünde als widergöttliche Macht zurückzuführen, die er dann wiederum als kritisches Argument gegen die Gesetzesobservanz verwendet. Paulus beschreibt den amoralischen Menschen, um die Universalität der Sünde zu beweisen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Paulus den Sündenbegriff im Römerbrief in der Tat sehr flexibel handhabt. Diese semantische Flexibilität ist allerdings keineswegs ausschließliches Markenzeichen sophistischer Argumentationsfor­

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men, sondern gehört zum Proprium jeder rhetorischen Argumentation, weil es sich bei der argumentatio um ein performatives Sprachsystem handelt, das zur Durchsetzung eines kommunikativen Ziels auf diejenigen Potentiale eines Be­ griffes zurückgreift, die erfolgsversprechend sind. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass es keine tiefgreifenden Spannungen oder gar Brüche in der Sündenargumentation gibt – jedenfalls unter der Voraussetzung, dass als deren Leitlinie der Angriff auf die Toraobservanz bei gleichzeitiger Betonung der Heilskontinuität zwischen Heidenchristen und Israel bestimmt wird. Es wäre nun ein Missverständnis, wollte man aus der Untersuchung den Schluss ziehen, die Sünde sei eine ‚rhetorische Worthülse‘, ein verzichtbarer Mittelbegriff oder ein rhetorisches Mittel zum Zweck, dem keinerlei Realität zukommt. Die Sünde ist nicht nichts – Paulus stellt ihre Herrschaft phänome­ nologisch dar (Röm  1,18–32), deduziert sie aus den Schriften (Röm  3,9–20), verortet sie mythologisch (Röm  5,12–14) oder anthropologisch (Röm  7,7–25a), er erschließt Erfahrungen der Sünde, derer sich der Mensch im Lichte des Glau­ bens schämt (Röm  6,15–23). Die Sünde erweist sich als unheimliche und be­ drohliche Macht, die Gott diametral gegenübersteht, durch keine Moral der Werke oder ein Gesetz überwunden werden kann und der alle Menschen un­ terworfen sind, sofern sie nicht von Gott gerettet werden. Ein systematisches Interesse an der Sünde zeigt Paulus jedoch nie. Nirgends beleuchtet er sie um ihrer selbst willen, stets bleibt sie auf das Problem des νόμος bezogen – die hei­ denchristlichen Adressaten des Apostels sind ihr ohnehin längst entronnen. Im Römerbrief ist die allgegenwärtige Macht der Sünde zum allgegenwärtigen Ar­ gument geworden.

Literaturverzeichnis Zeitschriften und Reihen werden abgekürzt nach Schwertner, S.: Internationales Ab­ kürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/ New York 32013 bzw. Redaktion der RGG4: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG, Tübingen 42007.

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Stellenregister 1. Altes Testament Gen 1 2f 2,17 3 3,13 3,17 12 15 15,3 15,5 15,6 15,12 22,17f 49

65f 289f, 292f 290 293 290 290 211 205, 209, 216, 222, 337 208 212 208f, 218 43 211 60

Ex 20,17 25,17–22 31,7 35,12 38,5–8

291 204 204 204 204

Lev 16,2.13–15

204

Dtn 5,21 6 6,2 8,1 21,19–21 30,15

291 79 291 291 82 291

Rut 4,1–11

82

2Makk 2,1f

62

4Makk 5,18

21

Hi 1–3 57f 4f 34, 44, 57f, 80 4,1–5,7 80 4,1–6 42, 80 4,7 42, 81f, 93 4,8f 81 4,10f 81 4,11 82 4,12 81f 4,13 43, 81 4,13–21 81 4,17–21 57 4,17 43 4,18 43, 81 5,1–7 81f 5,5–7 81f 5,2 81 5,3 82 5,8–27 44, 80, 82, 93f 5,12 42 5,27 44, 82, 94 13,16 42 41,3 42 Ps 32 32,1f 45,3 51,4 51,6 62,12

205, 208f, 211, 218f, 222, 337 208f 235 179 180 164

358

Stellenregister

69,23 143

312 185

10,5 94 29 62 31,33 67

Prov 22,22 24,12

82 164

Am 3,2

SapSal 1–8 13–15 13,1–10 13,1f 13,3a 13,3b 13,4 13,5 13,6 13,7 13,8f 13,10 13,11–14,6 13,11–19 14,2–8 14,6 14,9–14 14,15–31 14,23–26 14,31 15,1–5 15,1f 15,4 15,6 15,13

160 158–161 158, 161 158 158 158 158 158 158f 159 159 159 159 159 159 159 159 159 159 160 161 160 160 160 161

2. Neues Testament

Jes 27,9 31,3 40–48 40,19 41,6f 46,6 53 53,12 59,20f

314f 283 62 159 159 159 221 221f 314f

Jer 9,22–25 10

177 62

164

Röm 1,1–7 133 1,1–15 133–136, 142 1,1–17 133–143, 133, 140f, 332 1,5 135, 138 1,6 134f 1,7 138 1,8 136 1,8–15 133f 1,9 136 1,10 136 1,11 136 1,11f 136 1,12 134, 136 1,13 134, 136 1,13–15 136 1,14 137 1,14f 135, 137 1,15 10, 137 1,16 18, 135, 137f, 163, 238, 252 1,16f 133, 137–140, 146, 149, 152, 158, 165, 167, 169, 172f, 176, 180, 315, 332 1,17 199, 324 1,18 145f, 152–154, 156f, 161, 169, 174, 252, 259, 315 1,18f 152 1,18–20 153, 155f 1,18–32 8, 11, 3, 142f, 145–148, 151f, 155f, 158, 161–163, 169, 174–176, 220, 237, 261, 270, 336, 341f 1,18–2,8 5, 145–162, 165, 169, 173, 176, 180, 325, 333, 336 1,18–2,11 26 1,18–2,29 176, 260 1,18–3,20 6, 22, 189, 200, 249, 252

Stellenregister

1,18–4,25 206 1,19 146, 152f 1,19f 152f, 156f, 159 1,19–21 152 1,19–2,16 152 1,20 146, 153f, 156 1,20–32 334 1,21 146, 152f, 157 1,21–23 154 1,21–24 157 1,21–32 152–157, 159 1,22–24 152, 154 1,22–31 152 1,23 146 1,24 146, 152, 154, 157, 252, 263 1,24–27 154 1,25 154, 158 1,25–27 152, 154, 157 1,25–32 154f 1,26 146, 152, 154 1,26f 154, 167 1,27 154 1,28 146, 154, 158 1,28–31 152, 154, 157 1,28–32 154 1,29 158 1,29–31 159 1,29–32 154 1,32 146, 148, 152, 154–157, 159, 231, 306, 317 2,1 143, 147–149, 153, 155f, 160, 305, 324f, 334 2,1–5 33, 148 2,1–6 142 2,1–8 145–147, 149, 151–153, 155–157, 160, 162f, 165, 169, 313, 333, 340 2,1–11 164 2,1–16 148, 152, 165 2,2 325 2,3 169 2,3–5 156 2,4 156 2,5 143, 156 2,6–8 156, 165 2,6–11 143, 148f, 164 2,7 218

359

2,7f 173, 175 2,7–16 142 2,8 156, 174, 316 2,8f 176 2,9 149, 163, 168, 174, 259 2,9f 164, 169–171, 173, 191, 218 2,9–11 148f, 164f, 167, 169f, 173f 2,9–12 173 2,9–16 163, 171 2,9–24 163, 171 2,9–29 162–177, 178, 187, 290, 333, 335f 2,10 221 2,11 148f, 164f, 167, 173, 325 2,11f 325 2,11–14 164 2,12 148f, 158, 161–164, 166, 169, 173–178, 191f, 198f, 205, 210, 219, 228, 231f, 235, 237, 243, 258, 263, 270, 292, 294, 299, 336f 2,12f 149, 164f, 169, 173, 175 2,12–16 143, 148, 164, 170 2,13 163f, 165, 167, 170f, 173, 221 2,14 164, 167, 170 2,14f 167, 173 2,14–16 164–166, 167, 169f, 173 2,15 163 2,16 164, 171 2,17 147f, 150, 155, 163, 165, 168, 193, 334 2,17–24 26, 163f, 168f, 171, 177, 185f, 190, 197, 313, 334 2,17–27 142, 149 2,17–29 143, 151, 165, 167f, 172, 186, 205, 211, 336, 340 2,18 168, 318 2,19 172 2,19–22 171 2,21 168 2,23 171 2,25 166, 171, 176, 180, 306 2,25–27 167 2,25–29 163–165, 168, 170, 172, 177f, 184, 190, 333, 336 2,26 306

360

Stellenregister

2,26–29 171 2,27 163, 167, 291, 325 2,28f 178 2,29 170, 173, 178, 291 3,1 143, 163, 178f, 181, 183, 185, 187, 199, 259 3,1f 180, 184 3,1–4 179, 184 3,1–7 179 3,1–8 26, 140, 178–187, 190, 335–337 3,1–26 143 3,1–31 177–205, 211, 313, 333 3,2 179–181, 183–185 3,3 179–181, 183, 185f 3,3f 180, 182, 185 3,3–7 185 3,3–8 181f 3,4 179, 181–183, 185f, 299 3,5 179, 181–183, 186 3,5f 182f 3,5–7 179 3,5–8 142, 184, 186 3,6 179, 181, 183 3,7 179, 181–183, 185, 205 3,7f 182, 186, 239 3,8 143, 179, 181, 183f, 188, 221, 333 3,8–18 185 3,9 5, 26, 158, 178f, 184f, 187–191, 194, 197–199, 204f, 236, 253, 270, 273, 299, 316f 3,9f 199 3,9–18 190f, 194, 196, 198f, 203f, 232, 270, 337, 339, 341 3,9–20 1, 185, 334, 342 3,9–26 188 3,9–31 33, 184f, 187–205, 207, 335, 337 3,10 185, 188, 191, 196, 198f 3,10–30 142 3,10–12 198 3,11 188, 198 3,12 188, 198 3,13–18 198 3,19 185, 188–191, 194

3,19f

177, 187f, 190–196, 198f, 210, 337 3,19–26 204 3,19–31 200 3,20 158, 185, 189–192, 194, 196, 199f, 232, 294, 334 3,20–26 188 3,20–4,25 8 3,21 177, 189f, 192f, 195, 199f, 277, 334, 337 3,21f 196, 200f, 336 3,21–26 1, 33, 157, 185, 188, 192–195, 199f, 202f, 205f, 221, 292 3,21–31 201 3,22 192, 200–203 3,22f 196, 199, 201–203 3,22–26 192, 196f 3,23 157, 188, 193, 197f, 200–204, 219, 337 3,23f 189 3,24 191, 200–202, 249 3,24f 201, 203 3,24–26 202 3,25 197, 199, 201, 203f, 337 3,25f 192f, 204 3,26 201, 324 3,27 188, 193–195, 208, 303 3,27–31 8, 26, 143, 166, 187–189, 193–197, 203–205, 333f, 339 3,28 190, 217 3,28–30 188, 195 3,29 135 3,30 193f, 196, 324 3,31 166, 177, 187f, 193–197, 205, 306, 325 3,31–4,1 142 4,1 193, 206–208, 216, 259, 314 4,1f 26 4,1–3 207–209, 216 4,1–8 8, 207, 209–211, 216f, 219 4,1–20 33 4,1–22 143, 206f, 212–216, 220 4,1–25 2 4,1–5,11 168, 205–222, 337, 341 4,2 208

Stellenregister

4,2–23 142 4,3 207f, 212, 230 4,4 191, 208, 212, 218 4,4f 208–210, 216, 218, 220 4,5 207–209, 213f, 217 4,5–8 315 4,6 191, 207–209, 213, 217f, 284 4,6–8 207–209, 216–218, 316, 339 4,6–9 217 4,7 263 4,7f 214 4,8 325 4,9 207, 209, 213 4,9–12 209–211, 216 4,9–17 212, 216, 221 4,10 207, 209 4,11f 209, 211 4,12 206, 210 4,13 207, 210f 4,13–17 210f, 216 4,14 211 4,15 210 4,16 206f, 210–212, 324 4,17–22 212 4,18 207, 212, 214 4,18–22 212, 214, 216 4,19 212, 214f 4,22 212 4,23 206, 334 4,23–25 206, 215f, 221 4,23–5,11 143, 207, 212–219, 222, 225, 292, 340 4,24 207, 212, 215 4,24f 8 4,24–5,11 142 4,25 206f, 215f, 221f, 334 5,1 143, 206, 212, 215, 220, 310, 324 5,1–5 214 5,1–11 206f, 216, 225, 230, 232, 339 5,2 206, 212, 214 5,3 206 5,4 214 5,5 206, 214

5,6

361

207, 214, 219–221, 232, 315 5,6–8 220, 315 5,6–11 215, 219f 5,7 219, 221, 232 5,8 207, 214f, 219–221, 232, 234, 315 5,8–10 204 5,9 207, 220f, 234, 315 5,10 207, 220, 223, 232 5,11 207, 220, 223, 225, 334 5,12 5, 224–227, 232, 234–237, 259 5,12f 6 5,12–14 162, 224, 226–232, 262, 290, 292, 294–296, 299, 305, 335f, 339, 342 5,12–17 225f, 230 5,12–19 243 5,12–21 1,5, 11, 14, 142f, 224–239, 245f, 248, 251, 253, 261, 264, 266, 277, 291, 297, 300, 313, 333f, 337f 5,12–7,25 223, 230 5,12–8,4 222–307, 333, 335, 337f 5,12–8,39 206 5,13 162, 224, 226f, 230f, 237, 264, 272, 290, 294, 297 5,13f 294 5,14 224f, 227, 247 5,15 225, 228, 233 5,15f 228, 230 5,15–17 224–226, 229, 231, 233, 235 5,15–19 230, 238, 265 5,16 225, 228, 233, 237, 306 5,17 225, 228, 233 5,18 225f, 229f, 233f, 326 5,18f 224f, 227–229, 233 5,18–21 224–226, 229–231, 233, 243 247, 292, 333 5,19 225, 233, 266, 271 5,20 225f, 235, 237, 246, 266, 269f, 272, 279, 291, 297 5,20f 224, 229, 231, 234f, 237f, 240f, 254, 259, 262, 266, 275, 280, 291, 296f, 299, 337

362 5,21

Stellenregister

225, 235–237, 247, 249, 269, 271 6,1 143, 230, 239f, 246, 256, 259, 269, 293 6,1f 26, 239–241, 244 6,1–5 246 6,1–10 142f, 239f, 243f, 251, 257 6,1–11 250, 267f 6,1–13 243 6,1–14 1, 33, 223, 230, 232, 236, 239–254, 265, 268, 270, 277, 297, 333, 338 6,1–7,6 277, 291 6,1–8,4 223, 231, 239 6,2 242, 244, 246, 276 6,3 142, 239f, 244, 248, 259 6,3f 245 6,3–5 241f, 244, 246, 248 6,4 239, 244f, 258, 278 6,4f 244 6,5 242, 244f, 258 6,6 239f, 246–248, 310 6,6f 241, 244, 246 6,6–8 248 6,6–10 249 6,7 246, 251 6,7–10 248 6,8 239f, 242, 244f, 249 6,8–10 242, 244, 249 6,9f 249 6,10 239, 245, 249, 310 6,11 240–242, 245, 249, 251–253, 258, 276f, 334 6,11–7,1 142 6,11–14 143, 239f, 242–245, 247, 249–257, 260, 277, 333, 338f 6,11–23 255 6,12 240, 242, 250, 252 6,12f 252 6,12–14 240, 242, 255 6,13 158, 240, 252 6,14 240–243, 253, 255, 269f, 275f, 280 6,15 26, 143, 223, 230, 240, 251, 254–256, 258f, 261–263, 265f, 269f, 275, 277, 293

6,15–23

143, 236, 250f, 255–258, 263–266, 269, 272, 274f, 280, 334, 342 6,15–7,3 258, 264 6,15–7,6 223, 230, 254–278, 297, 326, 333f, 338 6,16 255, 259, 266, 270–272 6,16–18 255, 259, 262, 265, 270–273 6,16–23 257, 275 6,17 255, 259, 270f 6,17f 259 6,18 259, 266, 270–272, 276, 310 6,19 220, 255, 258–260, 262, 274, 277 6,19f 273 6,19–23 255, 260–263, 265, 272, 274 6,20 260, 262 6,20–22 260 6,20–23 259 6,21 137, 260f, 263 6,22 260, 262, 266 6,22f 273 6,23 258, 260, 264, 266, 273 7,1 257, 259, 263f, 266–269, 276, 298 7,1–3 143, 257f, 263–269, 274, 277, 334 7,1–6 1, 243, 255, 264, 266–269, 276, 334 7,2 267f 7,2f 142, 257, 268f 7,3 267 7,4 245, 257f, 266–269, 274–276, 334 7,4f 277f 7,4–6 142f, 240, 255, 257–259, 261, 264f, 277–280, 333, 339f 7,5 258, 275, 278 7,5f 257, 266, 273f 7,6 235, 253, 257f, 264, 266, 275f, 278, 291 7,7 143, 223, 230, 253, 278f, 282f, 291, 293–295, 297, 303

Stellenregister

7,7f 7,7–11 7,7–12 7,7–13

157, 291, 294f 11, 296f 6, 282f 80, 162, 282, 284, 286f, 289–291, 293, 295–297, 299f, 335 7,7–20 281 7,7–25 1f, 11, 26, 142f, 157, 223, 230, 237, 253, 260, 277, 279–282, 288, 290, 293f, 298, 304f, 318, 334f, 339, 341f 7,7–8,4 231, 236, 251, 276, 278–308, 310, 313, 318, 338 7,8 162, 291, 294, 296 7,9 290, 294 7,9–11 296 7,10 296 7,11 290, 296 7,12 192, 221, 282f, 296f, 318 7,12f 288f, 297 7,13 282f, 291f, 295–297, 299, 305, 318 7,14 280, 282f, 285, 298–300, 304, 306 7,14–17 282–287 7,14–20 281, 286f, 298–301, 303f 7,14–25 13, 280–282, 298 7,15 191, 285, 300 7,15f 299 7,15–20 282 7,15–23 286 7,16 288f 7,16f 299 7,17 191, 284, 299–301 7,17–20 284 7,18 191, 282, 284, 299 7,18f 221, 285, 288f, 318 7,18–20 282, 284–287, 299 7,20 191, 284, 299–301 7,20–25 253, 334 7,21 288f, 301, 303f 7,21–23 281, 287 7,21–24 281 7,21–25 280–282, 286f, 301–303, 305 7,22 301, 303

363

7,22f 289 7,23 281, 301, 305 7,24 281, 304, 310 7,24f 292 7,25 237, 279–281, 304 8,1 260, 279, 281, 298, 305, 309, 334 8,1–4 1, 143, 192, 223, 279–282, 287–289, 293, 298, 303–308, 309f, 326, 333f, 338–340 8,1–8 142, 310 8,2 279f, 305f 8,3 176, 238, 280, 292, 305f, 310 8,4 223, 279f, 306, 309 8,4–13 309 8,5 143, 280, 309, 311 8,5–8 308–310 8,5–39 143, 308, 311, 338f 8,6 310 8,8 310f 8,9 300, 308, 310 8,9–11 308 8,9–13 310 8,9–15 142 8,10 251, 300, 308–312, 339 8,11 281 8,12 310 8,12–17 308 8,13 310f 8,14 7 8,15–17 142 8,16f 308 8,17 211, 311 8,18–39 308 8,19–23 142 8,22–37 142 8,24 315 8,26 220 8,29 311 8,30 311 8,31 311 8,31–39 26, 308 8,33 326 8,34 311 8,35f 311 8,38–9,5 142

364

Stellenregister

9–11 20, 23, 150, 176, 314, 316 9,1–5 23, 292 9,4 318 9,6 23 9,6–26 23 9,7–9 23 9,10–13 23 9,14 26 9,18 23 9,19–21 26, 142, 150 9,27–10,21 23 9,30–33 23, 324 9,31 223 10,1 315 10,4 235, 238 10,4f 223 10,6 324 10,10 315 10,18f 26 11,1f 312 11,1–10 312f 11,1–12 312 11,1–16 313 11,1–24 26 11,1–32 23 11,6 312 11,10 313 11,11 312, 315 11,11f 312f 11,11–16 312 11,11–24 313 11,13 313 11,13–16 312f 11,17–24 142, 150, 313 11,17–32 314 11,25 313 11,25f 314 11,25–32 316 11,25–36 140, 313, 318 11,26 313–315 11,26f 312, 316 11,27 312–317, 339 11,28 314 11,29 313 11,30–32 316 11,35 42 12,1 318 12,1–3 290, 317f

12,2 253, 318 12,3–8 26 12,17 284 13,3f 26 13,8–10 318 13,11–14 26 14,1–23 319–321 14,4 26 14,10 150, 156 14,10–12 26 14,13 156, 322 14,14 317 14,15 150 14,19–23 322 14,20 322 14,21 322 14,22 322f 14,22f 323f 14,23 130, 317–327, 339 15,7–13 140, 318 15,20 137 15,23f 136 15,24 10 15,28f 136 15,30 136 16,1–16 134 1Kor 1,18 2,1–10 3,18 3,19 4,6–8 5 6,1 6,8 7,16 7,27 8,9–13 8,10 10 10,1–4 11 12 12,21 14,17 15,12–20 15,20–28

18 103 151 42 151 14 151 14 150 150 150 150 14 202 14 151 151 150 22 251

365

Stellenregister

15,35–38

150

2Kor 5,14–18 220 5,21 12 Gal 1 2,14 2,15 3,1–5 3,6–14 3,10–12 3,15–18 3,17–22 3,19–4,11 3,23f 4,12–20 4,21–31 4,25 5,2 6,1

101 150 14, 167 24, 280 22 109 24 229 24 275 24 24 275 171 14

Phil 1,19 3,3

42 172

1Thess 5,14

14

3. Pseudepigraphen des Alten Testaments und zwischentestamentliche Literatur Philo Agr. 18

46

Phil. Opif. mund. 13–25 46–48, 66 13a 84f 13b 85 13c 85 14 85 15a 86 15b–17a 86 17b–18 86

19f 20–23 24f 25

86 87 87 66–68

Arist. 128f 92 129 76f 130–149 76, 79 130–143a 80 130–133 76–78 130 76f 131–133 77 131f 39 134–137a 77 134–138 77 134–139 7f 135 77 136 77 137a–138 77 139–142 39f 139 40, 77 140–143a 77f 140 40, 77 141 77 142 40, 77f 143–146 93 143b–149 77f, 93 143b–144 92f 146 93 149 93 150–160 78–80 150–169 80 150a 78, 80 150b–152 78, 80 153f 78–80 155–160 79f 159 79 161–169 79f, 93 161 79, 93 162 79 168 79 168b–169 79, 93 169 93 170 93 TDan 3,1–5,3

61

366

Stellenregister

TJud 14,1–16,4 14,1 14,2 14,4 14,7 15,1 16,1–4 16,2 15,2–6 16,1 16,2 16,3

60f 94 61, 94 61, 94 94 61 94 61 61 94 94 61, 94

TNaph 5,8

33

EpJer 1 94 1-6 94 4–6 94 7–14 63 14 94 15–22 63f 22 95 23–28 64f 28 95 43f 62

4. Übrige antike Literatur Cic. inv. I,50 69 I,51 69 I,53 69 I,54 69 I,57–59 69 I,58 53 I,59 53 I,60 70 I,62 70 I,63 70 I,64 70 I,65 70 I,66 70 I,67 90f I,68f 59, 120–123, 128

I,70 I,76 I,77 II,12 II,16 II,48 II,49

90f, 113–120 76 70 34 35 35 35

Rhet. Her. I,7 II,28f II,30 II,32–34 II,33 II,35 II,36 II,37f II,39 II,41 II,43 II,46 III,18

90 71f, 84, 92 71 75 75 75 75 75 75 75 75 75 75

Aristot. rhet. I,1,11 I,1,12 I,1,14 I,2,1 I,2,3 I,2,8 I,2,13 II,23,30

52 100 52 100 52 52 52f 53

Quint. inst. II,12,1 II,12,3 II,15,37 III,5,1 IV,5,1 V,9,1–16 V,10,9 V,10,10 V,10,11 V,10,16 V,11,4 V,12,3 V,14,14 IX,4,1f

98 98 54 107 69 35 54 54 54 55 36 89 55 108

367

Stellenregister

IX,4,7 IX,4,8 IX,4,9 IX,4,25 IX,4,26 IX,4,29 IX,4,30 IX,4,19 X,1,5 X,1,6 X,1,8

108 108 108 108 108 108 108 99 108 108 108

Aug. doctr. II,1 II,52 IV,5–7 IV,28 IV,56

107 57 28 89 89

Aug. conf. 11,3 11,34 11,15f 11,37 11,38

88 88 88 88 88

Begriffe, Personen, Orte 1. Thessalonicherbrief  24 Abbild (Gottes)  47f, 65–68 Abduktion 32 Abraham  43, 81, 157, 172, 192f, 205–223, 225, 295, 314f, 325, 334, 337, 340f Abstraktion  18, 20, 25, 36, 39, 74, 80, 84, 88f, 96, 102, 104, 112, 126, 138, 141f, 149, 165, 183, 188, 300, 319, 331, 334, 341 Adam  5f, 166, 206, 286, 289–295, 297, 299f Adam-Christus-Gegenüberstellung 162, 206, 215, 222–239, 243, 245–247, 249, 254, 261f, 264–266, 269–271, 277, 283, 296, 300, 303, 305f, 325, 333f, 337–339 Adressaten des Römerbriefs, Identität der  33, 134–136, 156, 177, 201, 292, 332, 336 Adressatenlenkung  25–29, 34, 45, 51, 59, 75, 88–96, 103–105, 116–118, 126, 136–139, 141–143, 146f, 149, 163, 167, 171, 176, 179–182, 187f, 206f, 212, 216f, 221, 225f, 231, 238, 245, 248f, 251, 264–266, 277f, 279–281, 293, 306–308, 330f, 333–335, 339 Affekte 52 Alexander der Große  49 Alexandrinisches Judentum  37–39, 45f, 49 Allegorie  24, 33, 45f, 49–51, 66, 78f, 83–87 Analogie  122, 267–269 Anthropologie  3–5, 10, 12f, 24, 30, 74, 76, 79, 88, 114, 142, 146f, 149, 158, 163, 166, 169, 182, 190, 198, 239, 244, 247, 260, 264, 275, 280–283, 286–289, 292, 298–300, 304, 306f, 312

Apokalyptik  33, 152, 155, 185, 253 Argumentationsstrategie  6f, 9, 12, 25–27, 34, 80, 136–141, 149, 158, 217, 260, 275, 278, 318f, 330, 333, 336, 340 Argumentationsstruktur  23–25, 69–88, 152–157, 165–170, 180–185, 189–195, 207–217, 226–231, 240–244, 259–265, 282–288 Assoziation  26, 59, 108f, 115, 123, 152, 157, 175, 199, 215, 217–219, 276–278, 293, 295, 304, 314–316, 334 Attentionalität  88–96, 104f, 141–143, 146–151, 163, 178f, 187–189, 206f, 225f, 239f, 255–257, 279–281 Auferstehung  241–245, 248, 251f Beispiel (exemplum)  35f, 52f, 61, 66, 70, 74f, 77f, 81, 83f, 86f, 93, 103, 122, 126, 154, 159, 167, 170, 207, 209, 227, 257, 263, 267–269 Beschneidung (περιτομή )  4, 135, 140, 162–178, 180, 184f, 188, 190, 194f, 205, 209–212, 216–222, 243, 283, 306, 313, 318, 336f Bibelkommentare, Philos  33, 42–46, 83f Brief und Argumentation  37f, 98–105, 133–143 Bund  7f, 13, 168, 172, 178f, 184, 210, 314, 317, 340 conditio humana  40, 51, 74 confirmatio (rationis)  71, 74f, 79–85, 87, 96, 126, 155–159, 167, 169, 173, 182f, 195, 199, 210f, 216, 221, 241, 244, 246, 262f, 265, 269, 272, 286f, 298f, 331 conplexio/complexio  71, 74f, 79f, 82, 84, 87, 90–96, 104, 117f, 124, 126–128, 134, 141, 143, 149, 151–157, 160, 163, 165, 167f, 170, 172–174, 177f, 189f,

370

Begriffe, Personen, Orte

195, 203f, 207, 212–219, 221f, 225, 231, 240–246, 249, 253, 255, 257–259, 261, 265, 273–275, 279–281, 287–289, 297f, 303–311, 319, 331–334, 338–340 Diairese  45, 50 Diatribe  26f, 31, 83f, 141f, 149, 151, 166, 178f, 189 Dienst (δουλεία)  241f, 247f, 255, 258–266, 270–275, 277f, 280f „Du“-Passage(n)  149–151, 160, 162–166, 169–171, 193, 279, 305, 313, 318f, 322, 324, 333, 336 Ehe  69, 150, 257, 263f, 267–269, 277 Ehre (Gottes)  155, 157 Eleazar (Hohepriester)  37–41, 76–80, 92f, 194 Eliphas  34, 41–44, 51, 57–59, 80–83, 93f Enthymem  22f, 26, 52f, 55, 62–65, 69f, 100 Enzyklopädie  22, 36, 44–46, 49–51, 56f, 97, 100f, 103, 111, 114–116, 118, 129f, 256 Epicheirem (s. auch ratiocinatio) 53–71, 127, 170f, 195f, 268, 335 Erbsünde  2, 233 Erkenntnisbereiche  36, 53, 55, 57–59, 61, 63–65, 68, 81, 89, 93f, 97, 102, 127, 170, 330, 335 Erzählung  80, 93, 102, 129, 152f, 159, 226–228, 282f, 289f, 293f, 296f, 300 Ethik  10, 24, 33, 37f, 40, 51, 61, 78, 92, 94, 99, 123, 150, 154f, 159, 161, 184, 187, 224, 242, 244, 247, 250, 252f, 263, 270, 272, 277, 303, 304, 311, 317, 319, 326, 338 Ethos  51f, 90, 118, 120 exornatio  71, 73–75, 79–81, 84, 87, 96, 126, 155–157, 168f, 190, 194, 198, 212, 214, 216, 242, 244, 249, 264f, 269, 286f, 301, 331 expositio  33, 72, 74f, 80, 82–87, 92, 96, 126, 157, 169, 173f, 190, 194, 216, 230f, 244, 246, 259, 261, 265, 269, 282, 287, 330

Fleisch (σάρξ )  1, 43, 60, 192, 220, 223, 225, 238, 257–261, 274f, 279, 281, 283–289, 298–300, 304–306, 308–312, 317, 326, 338f Formgeschichte  19, 129 Galaterbrief  12f, 19, 24, 109, 139f, 171, 290 Gehorsam (ὑπακοή )  228–230, 234, 245, 250, 252, 254, 259, 265f, 270–272, 310, 338 Geist (πνεῦμα)  7, 10, 22, 24, 26, 38, 40, 43, 46f, 60f, 64–66, 86, 88, 110f, 136, 171–173, 192, 225, 251, 253, 258f, 264f, 274f, 275, 278–281, 283–285, 287, 299–301, 304f, 307–312, 338–341 Gerechtigkeit (des Menschen)  7, 39, 77–79, 160 Gerechtigkeit aus dem Gesetz / eigene Gerechtigkeit  166, 176, 238, 314 Gerechtigkeit Gottes (δικαιοσύνη [τοῦ] θεοῦ)  1–3, 5, 7f, 12, 18, 138, 165, 169–173, 178, 185–189, 191–197, 200, 205–222, 234, 236, 250f, 258–260, 262, 265f, 271f, 312, 314, 317, 324, 337, 339 Gericht (Gottes)  8, 34, 100, 151, 154f, 164–166, 175, 182, 191, 195, 198, 231, 233f, 236f, 247, 249, 272f, 294, 305, 310, 325 Gesetz (lex)  113–123 Gesetz (νόμος )  1, 37–39, 76–78, 80, 136–141, 162–307, 309–318, 322–327, 329–342 Gewissen  323, 339 Glaube (πίστις )  1, 12, 134, 138, 140, 150, 160, 167, 169, 172, 176, 187f, 192, 194–222, 225, 232, 238, 246, 248, 253, 259, 263, 270f, 278, 303, 315, 318, 322, 324–327, 331, 335–337, 340, 342 Gleichnis  75, 86 Gnade ( χάρις )  1, 2, 10f, 47f, 141, 188, 203f, 208, 210, 213f, 216, 219f, 222–226, 229–231, 233–241, 243, 245f, 250f, 254–256, 259–261, 264–266, 269–272, 275, 277, 309, 311, 313f, 317, 329, 337–339, 341

Begriffe, Personen, Orte

Gotteserkenntnis  81f, 93, 153–156, 158f, 161, 167 Götzen  7, 14, 33, 40, 62–65, 77, 94f, 154, 159–161 Heidenchristen  4–6, 8, 13, 133–142, 148, 166–169, 172, 176–182, 187f, 190–197, 204–207, 209–222, 225, 228–230, 235, 238–245, 251, 254–259, 263–270, 275–281, 288–291, 304–308, 312–319, 329, 332f, 335–342 Hermeneutik  12, 22, 25, 30, 45f, 51, 121, 123, 233, 254 Hiob  41–44, 51, 57–59, 80–83, 93f „Ich“-Passage(n)  137, 204, 253, 278–307, 318 „Ihr“-Passage(n)  141–143, 254–269 Indikativ und Imperativ  7, 9, 249–254, 261, 272 Indizien 34–36 Induktion (inductio)  5, 35f, 52, 69, 78, 80, 90 inventio  18–20, 22, 32, 34–51, 65, 90, 97–101, 111, 116f, 120, 123, 127f, 197, 222, 288, 293, 330, 335 Israel  12f, 39, 77–80, 133–141, 150, 153, 159–161, 168–170, 176–189, 190, 191, 193, 195, 197, 205, 236–238, 292f, 296, 303, 312–317, 318f, 332, 336, 339–342 Jeremia 62–65 Juda (Stammvater)  60f, 94 Judenchristen  12, 18, 134–141, 148, 161, 168, 172, 177f, 187–193, 235, 241, 243, 263, 265, 290–292, 313–318, 329 Katzen, fliegende  64 Kohärenz, argumentative  56, 74f, 83, 102, 117f, 129, 143, 157, 169, 183, 194, 216, 230, 243, 264, 287, 333f Konfliktsituation  19, 20, 28, 32, 34f, 39–41, 51, 69, 94, 139, 149, 177, 207, 212, 218, 317–319, 340f Leben (ζωή )  2, 4, 171, 241–255, 258–279, 290–306, 338, 340

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Leidenschaft(en) (ἐπιθυμία)  60, 154, 242, 247, 252–257, 273–279 Leser  20, 24, 29f, 37f, 50, 92–96, 102f, 129, 147, 193, 209, 240, 261, 272 loci  34–36, 41, 48, 50, 57, 90, 116, 127f, 155, 161, 168, 330 Logik  21–23, 51–68, 89, 100–103, 119, 127, 170f, 174, 195–197, 267–269, 335 Midrasch 45 Mittelplatonismus 49 Mose  6, 39f, 45, 47f, 66f, 77, 84f, 227f, 294–303 Pathos  51f, 90 Personifikation  6, 232–234, 236f, 290–299 persuasio  6, 25–27, 54, 89, 126, 155, 164, 298, 333f Philipperbrief 24 Polemik  21, 48, 62, 65, 77, 108, 139, 165–171, 178–187, 223, 287, 303, 305, 313f, 331, 334 Prämisse  22, 24, 41, 43f, 50–68, 70, 80, 83, 102f, 109, 122, 127f, 149, 152, 154, 170, 176, 183, 196, 240, 243, 248, 258, 267–269, 277, 280, 289, 311f, 330, 335, 341 Prophetie  22, 33, 43, 56, 62, 81, 155, 195, 315 propositio (vgl. auch expositio)  29, 54, 65, 71, 74f, 94, 96, 99, 126, 139f, 282, 330 Pythagoreismus  48, 85 Rabbinen  32, 45, 177 ratio  71, 74f, 78, 80, 82–87, 96, 126, 157, 159, 165, 169, 173, 175, 180–183, 190, 195, 200, 209–211, 216, 221, 230f, 241, 244, 246, 260, 262, 265, 269f, 284f, 287, 298f, 330f, 336 ratiocinatio  53–71, 75, 82f, 113f, 118, 170f, 196f, 268, 335 Rechtfertigung  3, 7f, 13, 164, 167, 182, 188–224, 234, 247, 250, 278, 301, 306, 311, 317, 324, 329, 340f Redegattungen 29f Reinheit  9, 39, 40, 43, 50, 60, 77–79, 283, 317

372

Begriffe, Personen, Orte

Relationsprinzip  26f, 104, 126, 141, 143, 333f Rhtetorical Criticism  24 Scham  60, 64, 137f, 260f, 342 Schon jetzt – noch nicht  244f Schöpfung  5, 39, 44, 46–48, 49f, 65–68, 76f, 82, 84–87, 93, 95, 153, 155, 159 Segmentierung  23–25, 69–88, 104, 120, 126f, 152–156, 164–170, 179–183, 189–194, 207–216, 226–230, 240–243, 259–264, 282–287, 330 Septuaginta  20f, 30–32, 42, 101, 204 Sexualität  38f, 78f Skopus  28–30, 97, 123–130, 157, 170, 184f, 195, 216f, 243–245, 265, 288 Sophistik  6, 25, 45, 89, 341f Speisegebote  37–41, 51, 76–80, 92f, 150, 319, 322 Stadt(metaphorik)  47–50, 60, 65–68, 86 Stoa  22, 45, 48 Sündenerkenntnis  194, 196, 198f, 205, 227f, 232, 235, 294–296, 324, 336 Sündenfreier Raum, Gemeinde als  1, 3, 4, 7, 9, 249–252, 329, 339f Syllogismus  21–23, 26, 52–57, 62, 67, 70f, 170, 267f, 289, 323, 335 Synagogengottesdienst  30–32, 45f Tamar 60f Taufe  4, 9, 224, 230, 232, 239, 241–256, 264, 268, 272, 278, 314, 338

Tod (θάνατος )  2, 6, 157, 162, 176, 210, 223–307, 309–311, 314, 336, 339f Treue (Gottes)  7f, 178–187, 190, 195, 205, 210, 313f, 336f Tun-Ergehen-Zusammenhang  39, 42, 44, 51, 57, 77, 80, 82f, 154, 170f, 234, 237, 247, 249, 261, 275, 290f, 296, 305 Typologie 225 Ungerechtigkeit  77, 146, 152–154, 156f, 161, 182, 184, 186, 192, 199, 204, 242, 247, 252–254, 260, 273, 315 Universalität (von Sünde und Gna­ de)  152, 155, 158, 165–169, 175–177, 182, 187, 190f, 195–197, 202–204, 220, 226–231, 238, 278, 292, 303, 325, 337, 341 Unreinheit  9, 39, 60, 64, 76–78, 255, 258, 260, 262f, 272 Wein 60f Weisheit und weisheitliche Literatur  41f, 51, 62, 80–82, 94, 227 Werke (des Gesetzes)  8, 110, 164–166, 176, 191, 194–196, 200, 205–222, 303, 324, 337, 341f „Wir“-Passage(n)  142f, 178, 187f, 190, 195f, 256, 322f Zahlensymbolik 48f Zorn (Gottes)  7, 146, 153–156, 174, 184, 204, 210, 216, 220, 223, 315, 336

Autorenregister Adams, S.  62f Albright, W. F.  59 Alkier, S.  128–130 Amir, Y.  45 Andersen, O.  53f, 100 Angermüller, J.  115 Austin, J. L.  111f Bachmann, M.  109f, 191 Barrett, C. K.  165f, 170, 174, 176 Bauer, T. J.  98 Baur, F. Ch.  18f, 312 Bayer, K.  56 Becker, E.-M.  103 Becker, J.  33, 135 Bell, R. H.  191, 194 Bendemann, R.  von  3, 298 Berger, K.  19, 208f, 215, 224 Betz, H. D.  24, 280, 283, 290 Blischke, F.  160 Blischke, M.  160 Boers, H.  248 Böhm, M.  33, 45f, 48 Bosenius, B.  101 Brandenburger, E.  225, 227f, 231, 236 Bräumer, H.  44 Breytenbach, C.  204, 220 Bultmann, R.  3, 10, 26, 130, 189, 201, 221, 291 Burchard, J. Chr.  267, 269 Byrne, B.  195 Byron, J.  270 Carras, G. P.  173 Carter, T. L.  5f Christiansen, I.  45 Classen, C. J.  29, 98f Coenen, H. G.  36, 52f, 71, 101 Cranford, M.  207f, 210, 218

Creese, D.  48–50, 85 Crenshaw, J. L.  41, 43, 81f Das, A.  218 Davies, G. N.  193 Dobschütz, B.  24 Dochhorn, J.  299 Dodson, J. R.  236, 297 Doering, L.  38, 62, 93 Dölling, J.  119 Dunn, J. D. G.  133, 175, 217f, 227, 243 Dunson, B. C.  190f Earnshaw, J. D.  267f Ebach, J.  43f, 81 Eberhart, C. A.  204 Eco, U.  29f Eemeren, F. H. van  128 Eisenhut, W.  36 Elliot, N.  200 Esler, P. F.  5f, 198, 200, 231, 256, 263, 282, 284, 286, 291, 305 Feldmeier, R.  38, 40 Fenske, W.  26, 129, 248 Fitzmyer, J. A.  163, 165–167, 169–171, 177, 226 Frey, J.  140, 166, 307 Gathercole, S.  8 Gaventa, B. R.  14 Gemünden, P. v.  10f, 145, 167, 171, 195, 204, 206, 235 Gerber, C.  261, 270 Gordis, R.  59 Gräbe, P. J.  159 Grässer, E.  192, 218 Green, G. L.  114–116 Großhans, H.-P.  102

374

Autorenregister

Haacker, K.  133f, 137, 139f, 145, 147–149, 153f, 164, 168–170, 174–177, 180, 188, 198–200, 203, 208, 211f, 225–227, 230f, 234, 236–238, 246, 248f, 264, 271–273, 279, 282, 312–315, 317, 322 Habel, N. C.  41, 43f, 57, 81f Habermann, M.  129 Hadas-Lebel, M.  46, 84f Hagenow, S.  9, 252, 277 Hahn, F.  3, 130, 149, 176, 304 Hall, D. R.  178f, 186 Hays, R. B.  185 Heliso, D.  199 Hellholm, D.  184, 276 Hengel, M.  98 Himbaza, I.  62 Hoegen-Rohls, C.  98, 101 Hofius, O.  166, 224f, 231, 238 Holtz, T.  135 Horn, F. W.  172 Howard, G.  201 Howard, G. E.  37f, Hurowitz, V. A.  64 Ito, A.  104, 193 Jervell, J.  135 Jervis, L. A.  283, 306 Jewett, R.  175f, 198, 200, 204, 218, 229, 235, 247, 249, 260, 262f, 267f, 270f, 278, 281, 298, 305, 314, 316 Johnston, J. W.  201–203 Jüngel, E.  329 Junghans, H.  2 Käsemann, E.  138, 173–175, 201, 204, 225, 229, 248–250, 255, 269, 280– 282, 286f, 290, 293–295, 298f, 301, 307 Kepper, M.  42f, 81 Klauck, H.-J.  98, 100 Klein, G.  238 Koch, S.  141 Kolmer, L.  71 Kosta, P.  112 Kratz, R. G.  62–65 Kraus, W.  204, 235

Krauter, S.  290 Kümmel, W. G.  221 Lambrecht, J.  297 Lamp, J. S.  164 Lampe, P.  98f, 134f Landmesser, C.  102 Levinson, S. C.  115 Lichtenberger, H.  279f, 282, 290, 306f Liedtke, F.  112 Lieu, J. M.  38f, 78 Linebaugh, J. A.  158, 160f Lohse, E.  135f Longenecker, R. N.  133 Longman III, T.  41–44, 81f Lowe, B. A.  212 Lübking, H.-M.  231, 236 Luck, U.  303f Luz, U.  178, 184, 225, 255 Lyu, E.-G.  3, 9f, 13, 221, 236, 253, 279, 281f, 311 Martin, T.  98 Martin, T. W.  221 Mason, S.  135 Mayordomo, M.  21–23, 129 McDonald, P.  206 Meibauer, J.  123f Merklein, H.  11f Meyer, M.  62 Michel, O.  135–138, 140, 146, 149, 152f, 155, 164, 168, 225, 280, 307 Möller, M.  89f Moo, D. J.  133 Müller, H.  227, 300 Münch, C.  129 Murariu, C.  139, 292, 300, 303 Neumann, N.  290 Nickelsburg, G. W. E.  95 Niebuhr, K.-W.  158 Niehoff, M.  33 O’Donnell, M. B. O.  14 Oestreich, B.  151 Olbrechts-Tyteca, L.  20f Osten-Sacken, P. von der  248, 252, 272, 305f, 308

Autorenregister

Ott, F.-T.  105 Otte, K.  45 Ottmers, C.  70 Perelman, C.  20f Pina Polo, F.  104f Popkes, W.  152–155 Porter, C. L.  14 Porter, S. E.  147f, 152 Price, J. L.  254 Räisänen, H.  273, 291 Reed, J. T.  117f, 259, 261 Reichert, A.  134–136, 138, 140, 172f, 180, 281, 290, 293, 340 Reichmann, R.  32 Reinmuth, E.  234 Robertson, D. G.  49 Rob-Santer, C.  71 Röhser, G.  7, 236f, 251, 270, 293 Roloff, J.  204 Runia, D. T.  49f, 83–87 Sanders, E. P.  5, 11f Sauer, V.  109 Schäfer, R.  2 Schliesser, B.  212 Schmeller, T.  26f, 104, 126, 141–143, 333f Schmithals, W.  173, 226, 229 Schnackenburg, R.  303 Schneider, J. H. J.  110 Schnelle, U.  3f, 12f, 129f, 137, 140, 191, 223, 230, 246, 251, 253, 278f, 300 Schreiner, T.  133, 148f, 153f, 164, 166f, 171f, 180, 193, 207, 210f, 218f, 226f, 229, 241, 243–248, 251f, 263f, 266f, 271f, 275f, 284f, 294f, 298, 304, 306f Schröter, J.  101f Scornaienchi, L.  280, 298 Seiler, S.  290 Siegert, F.  20–24, 31, 45f, 54 Söding T.  129 Southall, D. J.  236 Spaeth, J.  282, 290, 292f Spitaler, P.  147–149, 156, 189, 266 Starnitzke, D.  148, 153f, 198, 200, 247, 252, 271, 273

375

Steinbrink, B.  34, 36, 52 Stemberger, G.  32 Stoellger, Ph.  29 Stowers, S. K.  175, 292 Stroh, W.  30, 53, 70, 100 Tcherikover, V.  37f Theißen, G.  10f, 145, 167, 171, 195, 204, 206, 235 Theobald, M.  102, 137–140, 198f, 224, 227, 229, 232, 234f, 238f, 246, 272 Thiessen, M.  168 Thurén, L.  56 Tiwald, M.  31 Tomson, P. J.  263 Toulmin, S.  20, 71 Tsui, T. K.  252f Ueding, G.  34, 36, 52 Umbach  3f, 9, 14, 224, 232, 235, 250, 255, 272, 281f, 286, 305–308, 339 Vegge, T.  98 Vos, J. S.  6f, 25f, 291, 304 Wassermann, E.  298 Weber, R.  288 Weder, H.  227, 235f Wengst, K.  229, 232, 243 Wernle, P.  3, 9 Wilckens, U.  133, 135, 140, 145, 163, 167, 175f, 201, 221, 231, 233f, 236–238, 246f, 249, 252, 255, 271f, 293, 313, 316f, 322, 326 Winden, J. C. van  66–68 Windisch, H.  3, 9 Winkel, J.  23 Wischmeyer, O.  135, 139, 165f, 303 Witte, M.  42f, 81 Wolter, M.  13, 133, 147, 161, 206–209, 221, 223, 225, 227, 230, 235, 240f, 243, 245, 247, 250–253, 255f, 259, 261–263, 265, 268f, 271–273, 275f, 280–284, 286–288, 290, 292–296, 301, 303f Woyke, J.  189f, 200 Wright III, B. G. Aristeas  37, 40f, 76, 79, 92f, 165f

376 Wright, N. T.  165f Wu, D.  296, 307 Wuellner, W.  133

Autorenregister

Ziegler, A.  129 Ziesler, J. A.  294–296 Zimmermann, H.  129