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German Pages 314 Year 2023
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1497
Von der Treue der Bürger zur Verfassung Loyalitätsanforderungen an den Staatsbürger im freiheitlichen Verfassungsstaat unter besonderer Berücksichtigung des Treuebekenntnisses im Einbürgerungsrecht
Von
Pascal Langer
Duncker & Humblot · Berlin
PASCAL LANGER
Von der Treue der Bürger zur Verfassung
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1497
Von der Treue der Bürger zur Verfassung Loyalitätsanforderungen an den Staatsbürger im freiheitlichen Verfassungsstaat unter besonderer Berücksichtigung des Treuebekenntnisses im Einbürgerungsrecht
Von Pascal Langer
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Für Sophie und Susann
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Die Arbeit an dieser Dissertation wurde in meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Uwe Volkmann am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz begonnen und schließlich an der Goethe-Universität in Frankfurt fertiggestellt. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Uwe Volkmann gebührt mein ausdrücklicher Dank bereits dafür, dass er mein Interesse an dem schließlich gewählten Thema geweckt und durch kontroverse Diskurse gefördert hat. Seine Bereitschaft, sich auf die von mir aufgestellten Thesen und Argumente – die nicht selten von seiner eigenen wissenschaftlichen Haltung abzuweichen geneigt waren – mit Interesse und Offenheit einzulassen, habe ich stets zu schätzen gewusst. Zugleich hat er mir dadurch den Mut gegeben, eigene Wege zu gehen und mich wissenschaftlich zu entfalten. Dabei hat mir auch die nicht nur lehrreiche, sondern auch menschlich stets herzliche Zeit am Lehrstuhl geholfen. Mein Dank gilt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Stefan Kadelbach für die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Prof. Dr. Günter Frankenberg für die kontroverse und zugleich fruchtbare Diskussion in der Disputation unter seinem Vorsitz. Meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Öffentliches Recht möchte ich für die schöne Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter danken, wobei ich namentlich Herrn Dr. Christian Lutsch hervorheben möchte, der mich auf meinem Wege sowohl in Mainz als auch in Frankfurt und damit insgesamt am längsten begleitet hat. Der größte Dank gebührt aber von Herzen meiner lieben Ehefrau, Frau Richterin Susann Langer, die mich in den anstrengenden Phasen dieses langjährigen Projekts stets motiviert und unterstützt hat. Auch hat sie schließlich – trotz eigener beruflicher Verpflichtungen – durch kritischen Gedankenaustausch sowie Lektüre der Arbeit zu deren Gelingen beigetragen. Ginsheim-Gustavsburg, im Februar 2023
Pascal Langer
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . II. Methodik und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identifikation und Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitlichkeit als Vorbedingung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 16 20 20 21 22 22 23 28 30
B. Die Idee der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Staatsangehörigkeit: Begriff – Funktion – Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktion der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsnatur der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Völkerrecht und Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Staatsbürgerschaft – ein Bündel von Rechten und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . 1. Die staatsbürgerliche Loyalitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatsbürgerschaft im demokratischen Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . 3. Wahlrecht als Indikator für die Konzeption von Staatsbürgerschaft . . . . . IV. Staat und Nation – Konzeptionen von Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unterscheidung von Kultur- und Staatsnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Integration als materielle Dimension der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . V. Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationalstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Vorgabe? . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz der Staatsangehörigkeit nach Art. 16 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Treue und Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wert und Wertordnung – Versuch einer terminologischen Eingrenzung . . . II. Wertgeltung in einer freiheitlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen individueller und kollektiver Wertbildung . . . . . . . . . . . . . . . a) Individuelle Wertbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kollektive Wertbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wertepluralismus in einer freiheitlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Minimalkonsens als Bestandsgarantie einer freiheitlichen Gesellschaft . .
61 61 65 66 66 70 71 73
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Inhaltsverzeichnis a) Wertobjektivität als Konsenskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prozedurale Komponenten des Minimalkonsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Materielle Komponenten des Minimalkonsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Hoher Abstraktionsgrad und Äußerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundlagen des freiheitlichen Zusammenlebens als materielles Minimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Homogenität als Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kontroverse über den Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Das Problem der „Tyrannei der Werte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bestandssicherung durch Treue zum Minimalkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wertordnung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertordnung als normative Verstärkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . 2. Drittwirkung der Grundrechte als positive Treue? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit durch inhaltlichen Minimalgehalt der Wertordnung . . . . . . . . . . .
80 83 85 86 87 91 91 93 95
D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz – staatsphilosophische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Paradoxon der Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der freiheitliche Staat als äußere Rahmenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit als inneres Substrat des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sakralität der freiheitlichen Wertordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die freiheitliche Wertordnung als Weltanschauung? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kulturelle Identität der Freiheit und das Recht ihrer Ablehnung . . . . . . . . 4. Konfrontation statt Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungstreue und Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungstreue Staatsbürger als effektivster Schutz der Verfassung . . . a) Verfassungspatriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Emotionale Verfassungsstabilisierung als Prä-Prävention . . . . . . . . . . . 2. Staatliche Werterziehung als prä-präventiver Verfassungsschutz . . . . . . . a) Zweck staatlicher Werterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot der Indoktrination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Beutelsbacher Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erziehung zur Wertordnung als konfrontativer Akt der Außenwelt . . e) Grenzen der Moralerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Verantwortung des Bürgers für die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Böckenförde-Diktum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Treue als Gewissensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 98 98 103 104 108 111 114 117 117 118 121 124 124 125 127 128 129 131 131 134
74 77 79 79
E. Verfassungstreue im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 I. Verfassungstreue und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Demokratie als Maßgabe für die Staatsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Inhaltsverzeichnis a) Recht des Volkes zur Entscheidung über die Aufnahme von Mitgliedern in den Staatsverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mindestmaß an demokratischer Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Wehrhafte Demokratie“ als Garant und Grenze der Freiheit . . . . . . . . . . a) Freiheitliche demokratische Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Parteiverbot: scharfe Waffe ohne Gesinnungszugriff . . . . . . . . . . . . . . c) Widerstandspflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungstreue in der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeiner Vorbehalt der Verfassungstreue? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Staat als Verpflichteter der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtsverwirkung für Verfassungsfeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundpflichten im Grundgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schutz der verfassungsfeindlichen Meinung durch die Demokratiegrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit zur Ablehnung der Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Wunsiedel-Entscheidung und das Verbot der Standpunktdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Problem der hetzerischen Kampfrede („hate speech“) . . . . . . . . . d) Vertrauen auf die Bewährung demokratischer Gesinnung . . . . . . . . . . e) Ausnahme für Ausländer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schutz des verfassungsfeindlichen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfassungstreue und Schulpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sonstige Anhaltspunkte für Verfassungstreue im Grundgesetz . . . . . . . . . . . 1. Würde des Menschen und Bekenntnis zu den Menschenrechten in Artikel 1 Absatz 1 und Absatz 2 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Treue zur Verfassung in Artikel 5 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz . . . . . . . 3. Wehrpflicht in Artikel 12 a Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfassungsschutz in Artikel 87 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz . . . . . . . . . 5. Verfassungsablösung in Artikel 146 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Synthese der Erkenntnisse zu einer Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gefordertes Maß an Treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Modalitäten der Treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stufen der Verfassungs(un)treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktive Betätigung gegen die freiheitliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . b) Bekenntnis gegen die freiheitliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei . . . . . . . . . . . . . d) Neutrale Grundhaltung (Indifferenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Positives Bekenntnis zur freiheitlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Äußere Übereinstimmung mit der freiheitlichen Ordnung . . . . . . . . . g) Aktives Eintreten für die freiheitliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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139 144 146 147 149 152 154 154 158 160 164 167 168 169 172 175 176 180 183 186 186 186 188 190 191 193 193 193 195 196 197 199 199 200 201 201
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Inhaltsverzeichnis 3. Anforderungen an Neumitglieder im Staatsverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Normative Qualität der Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anforderungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungstreue als Zumutung und Erwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Terminologische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Treue als Zumutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Treue als Erwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungstreue als Staatsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gegenstand der geforderten Treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202 202 203 205 206 208 209 210 212 213
G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers . . . . . 1. Normierung im Staatsangehörigkeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Staatsangehörigkeitsgesetz . . . . . . . . aa) Bekenntnis und Loyalitätserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bekenntnis als materielle Einbürgerungsvoraussetzung . . . . . . . . cc) Begrenzung der Treue auf die freiheitliche demokratische Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 11 Staatsangehörigkeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) § 16 Satz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) § 8 Staatsangehörigkeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) § 37 Absatz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenschau der Verfassungstreueklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mehrfache Absicherung gegen Verfassungsfeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Integration und Sicherheit als übergreifende Kriterien der einbürgerungsrechtlichen Verfassungstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beweislastverteilung zwischen Bewerber und Behörde . . . . . . . . . . . . II. Einordnung der geforderten Verfassungstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Negative Verfassungstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positive (äußere) Verfassungstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Innere Verfassungstreue durch Treuebekenntnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bewertung der einbürgerungsrechtlichen Verfassungstreueanforderungen . . 1. Zumutungen im Einbürgerungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem der überschießenden Treueanforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bewertungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Positive Treue aus verfassungsrechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . aa) Grundrechtliche Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unzumutbarkeit durch den Normbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unzumutbarkeit durch die Feststellungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . c) Positive Treue aus freiheitlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215 215 216 216 216 217 225 227 232 235 239 239 239 242 244 247 247 249 251 252 252 256 256 259 259 261 264 274
Inhaltsverzeichnis d) Erhöhte Anforderungen an die negative Treue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsfeindliche Meinungskundgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungsfeindliche Betätigung durch aktives Tun . . . . . . . . . . 3. Freiheitsschonende Ausgestaltung der Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Integration im Einbürgerungsrecht – rechtspolitische Bemerkungen . . . . . .
13 276 276 278 279 281
H. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
A. Einleitung Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt von der Treue seiner Bürger. In einem ersten Reflex wird jeder zunächst einmal dieser These zustimmen. Weniger Einmütigkeit dürfte hingegen eine daraus abgeleitete allgemeine Pflicht zur Verfassungstreue als normative Anforderung an die Staatsbürger hervorrufen. Während der Philosoph unwillkürlich vor einem unzulässigen Schluss von einer Existenzbedingung des Staates auf eine Anforderung an dessen Bürger warnt, verweist der Staatsrechtler ebenso reflexhaft auf das viel beachtete Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“1 Die vorliegende Abhandlung geht gleich mehrere Wagnisse ein. Eines davon besteht in dem Versuch, für einige Dilemmata des freiheitlichen Verfassungsstaates handhabbare Lösungen aufzuzeigen. Ein solches Vorhaben wird Widerstand gegen so manche These oder Erkenntnis hervorrufen. Das ist unvermeidbar. Es gehört zur Eigenart normativer Wissenschaften, dass ein bestimmtes Problem mit ehrgeizigem Begründungsaufwand bei konträrer Werthaltung ebenso gut auch ganz anders gelöst werden könnte. Ein weiteres Wagnis besteht in dem Versuch, eine Gesamtkonzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue im freiheitlichen Verfassungsstaat vorzuschlagen. Diese wird aus der Analyse unterschiedlicher normativer Quellen abgeleitet. Die Konzeption erhebt den Anspruch, die Verwirklichung von Freiheit im Fokus zu haben. Das kann angesichts so mancher Zumutungen der Freiheit – und das gehört dann eben auch zu dem Wagnis – die umfassende Anerkennung der Konzeption erschweren. Die persönliche Wertüberzeugung kann den Leser dazu verleiten, die unterbreiteten Vorschläge an der ein oder anderen Stelle modifizieren oder gänzlich ablehnen zu wollen. Das Einbürgerungsrecht ist mit seinem Treuebekenntnis sowohl Anlass für die Frage nach den Anforderungen an den Staatsbürger überhaupt als auch migrationsrechtlicher Bezugsrahmen der Arbeit. Insoweit wird die einbürgerungsrechtliche Regelungskonzeption zur allgemeinen Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue in Beziehung gesetzt. Das ermöglicht eine migrationsrechtliche Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes.
1 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60; ders., Der Staat als sittlicher Staat, S. 37; ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 112.
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A. Einleitung
I. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht als Ausgangspunkt Ein Ausländer, der einen Anspruch auf Aufnahme in den deutschen Staatsverband im Wege der Einbürgerung erwerben will, muss nach § 10 StAG eine Reihe an Voraussetzungen erfüllen. An erster und damit prominenter Stelle fordert die Norm von einem Bewerber die Abgabe eines so genannten Treuebekenntnisses. So muss sich der Einbürgerungswillige insbesondere „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bekenn[en]“ (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Hs. 1 StAG). Im Zusammenhang damit muss er ferner „erklär[en], dass er keine Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die [. . .] gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder [. . .] [zumindest] glaubhaft mach[en], dass er sich von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat“ (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Hs. 2 StAG) – so genannte Loyalitätserklärung. Eine Einbürgerung ist zudem nach § 11 S. 1 Nr. 1 StAG unter anderem dann ausgeschlossen, „wenn [. . .] tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind“. Zusätzlich ist vor der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde das folgende „feierliche [. . .] Bekenntnis“ abzugeben: „Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte“ (§ 16 S. 2 StAG). Die Zusammenschau dieser Bestimmungen lässt erkennen, dass das Einbürgerungsrecht in besonderem Maße Anforderungen an die Verfassungstreue jener Menschen stellt, die den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit anstreben. Gemeinsamer Zweck dieser Bestimmungen ist es vor allem, die Einbürgerung von Verfassungsfeinden und die daraus entstehenden Gefahren für die staatliche Ordnung zu verhindern.2 Ob diese mehrfache Absicherung gegen die Aufnahme von Verfassungsfeinden lediglich eine Art „symbolische[r] Terrorismusabwehr“3 darstellt oder auch materielle Konsequenzen hat, bleibt im Rahmen der staatsangehörigkeitsrechtlichen Dogmatik zu diskutieren. Auf einer ganz grundsätzlichen Ebene bietet das Zusammenspiel so unterschiedlicher Voraussetzungen, die vom Unterlassen verfassungsfeindlicher Be2 Zum Anlass der dem heutigen § 11 StAG entsprechenden Vorschrift vgl. BT-Drs. 14/533, S. 18 f. [„Dadurch soll die Einbürgerung etwa von PKK-Aktivisten oder radikalen Islamisten auch dann verhindert werden, wenn entsprechende Bestrebungen nicht sicher nachgewiesen werden können.“]; vgl. insbesondere zum Zweck des Treuebekenntnisses Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 15a. 3 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 14.
I. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht als Ausgangspunkt
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strebungen (§ 11 StAG) bis hin zur Abgabe von positiven Bekenntnissen und Erklärungen (§§ 10 und 16 StAG) reichen, Anlass, danach zu fragen, welche Anforderungen an die Verfassungstreue eines Einbürgerungsbewerbers überhaupt gestellt werden dürfen. Der triviale Hinweis, dass der Bewerber nach der Einbürgerung zu einem „ganz normalen“ Staatsbürger wird – er also ein potenzieller zukünftiger Staatsbürger ist –, führt ohne große gedankliche Umwege schließlich zur Frage nach den Anforderungen an die Verfassungstreue des Staatsbürgers im Allgemeinen. Denn die Aufstellung eines Kanons an Voraussetzungen für den Erwerb des Staatsbürgerstatus legt die Vermutung nahe, dass damit ein gesetzgeberisches „Ideal“-Bild des deutschen Staatsbürgers gezeichnet wird. Erst wer die Bedingungen erfüllt, kann den Bürgerstatus erwerben. Dies provoziert zu der Frage, wie dies mit den Anforderungen an diejenigen Bürger vereinbar ist, die bereits kraft Geburt – ohne weiteres – Deutsche werden. Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Entweder es gibt zwei unterschiedliche Staatsbürgerschaften – derivativ und originär – mit dauerhaft abweichenden Anforderungsmaximen. Oder es besteht hinsichtlich der Anforderungen lediglich eine Diskrepanz zwischen den Bewerbern für die Einbürgerung und den Inhabern der Staatsbürgerschaft. In beiden Fällen müssen die Anforderungen an die Staatsbürger zunächst bestimmt werden, um sie sodann mit den Anforderungen an die Einbürgerungsbewerber zu vergleichen. Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht in diesem Zusammenhang im besonderen Fokus. Indem der Staat von einem einbürgerungswilligen Ausländer nämlich ein solches Treuebekenntnis verlangt, zeigt er, dass er die Zugehörigkeit zum deutschen Staatsverband von der Identifikation mit seiner Verfassungsordnung abhängig machen will. Es ist zwar umstritten, ob das abgegebene Bekenntnis überhaupt materiell wahr sein muss oder ob die bloß formelle Abgabe eines gar nicht ernst gemeinten Bekenntnisses ausreicht.4 Das Ergebnis dieses Streits ist dogmatisch und rechtspraktisch durchaus von Relevanz. Es ändert jedoch nichts daran, dass durch die Bekenntnisanforderung eine Identifikation in tatsächlicher Hinsicht gesetzgeberisch zumindest intendiert wird. Die Anforderungen an die Verfassungstreue sind dadurch prima facie nicht mehr allein dadurch gekennzeichnet, dass ein bestimmtes äußeres Verhalten normiert wird. Es bedarf vielmehr einer Haltung innerer Zustimmung im Sinne einer Identifikation mit der Verfassungsordnung. Diese innere Haltung soll zudem durch das Bekenntnis nach außen kundgetan werden. Zwar muss ein solches Bekenntnis de lege lata von Inhabern einer originär – durch Geburt – erworbenen Staatsangehörigkeit jedenfalls nicht positiv abgegeben werden. Dennoch wirft vor allem das einbürgerungsrechtliche Treuebekenntnis besondere Fragen auf. Etwa die, ob der Staat von seinen Bürgern Verfassungstreue im Sinne einer Identifikation mit der verfassungsmäßig konstituierten Ordnung überhaupt fordern 4
Vgl. dazu G. I. 1. a) bb).
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A. Einleitung
darf. Die Frage betrifft die Regulierungs- und Einflussmöglichkeiten des Staates bezüglich der inneren Gesinnung seiner Bürger, die im Gegensatz zur Normierung bloß äußeren Verhaltens steht. Vor dem Hintergrund der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts werden die meisten den Zugriff des Staates auf die Gesinnung vermutlich zunächst reflexhaft ablehnen. Macht man sich hingegen bewusst, dass es zur Konservierung der historisch erkämpften und ständig bedrohten freiheitlichen Wertordnung eines Mindestmaßes an Zustimmung der Bürger zum Inhalt dieser Ordnung bedarf, wird man ein Interesse des Staates an einer freiheitlichen Gesinnung seiner Bürger bereitwilliger anerkennen. Eine entsprechende Einflussnahme des Staates darauf ist dann nicht mehr von vornherein gänzlich von der Hand zu weisen – wie auch immer diese erfolgen mag. Die nachfolgende Untersuchung steht somit im Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des Individuums, zu der auch die freie Gesinnungs- und Wertbildung gehört, und dem Schutz der freiheitlichen Ordnung durch den Staat. Dieser Schutz kann selbstredend nur mit seinerseits freiheitlichen Mitteln erfolgen. Inwieweit ein Gesinnungszugriff diesem Erfordernis noch gerecht wird, steht im Zentrum der Fragestellung. Bestrebungen zur Einführung von „Demokratie-Erklärungen“ in anderen politischen Bereichen sind bis heute nicht geltendes Recht geworden5, sodass das Einbürgerungsrecht nunmehr den einzigen Anwendungsfall eines Treuebekenntnisses außerhalb des Öffentlichen Dienstes enthält.6 Die Einbürgerung wird damit zum „Sonderfall“ der allgemeinen Staat-Bürger-Beziehung.7 Vermutlich wird deshalb den Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue – insbesondere im Hinblick auf die Einbürgerung – in der wissenschaftlichen Literatur im Vergleich zur Treuepflicht des Beamten oder sonstiger Angehöriger des Öffentlichen Dienstes8 vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit zuteil.9 Die vorlie5 Vgl. zur Diskussion über eine „Demokratie-Erklärung“ als Bedingung für öffentliche Subventionierung etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15.12.2010. 6 Vgl. für Beamte §§ 60 Abs. 1 Satz 2 BBG, 33 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG („zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung [. . .] bekennen und für deren Erhaltung eintreten“) sowie für sonstige Beschäftigte im Staatsdienst §§ 3 Abs. 1 Satz 2 TV-L, 3 Abs. 1.1. Satz 2 TVöD-V („zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung [. . .] bekennen“) – Hervorhebung jeweils durch den Verfasser. Beamte müssen zudem einen Diensteid auf das Grundgesetz leisten, vgl. §§ 64 BBG, 38 BeamtStG. 7 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (27). 8 Vgl. etwa zur Verfassungstreue im Öffentlichen Dienst schon früh Reinhard Böttcher, Die politische Treuepflicht der Beamten und Soldaten und die Grundrechte der Kommunikation; Klaus Stern, Zur Verfassungstreue der Beamten; Armin Steinkamm, Nichtübernahme von Verfassungsgegnern in den öffentlichen Dienst, in: Der freiheitliche Rechtsstaat und seine Gegner, Mittel und Grenzen der Abwehr, S. 77 ff.; Hagen Weiler, Verfassungstreue im öffentlichen Dienst – Dokumentation und Kritik politischer Justiz und Rechtslehre zur politischen Meinungsfreiheit der Beamten; für den Bereich außerhalb des Beamtentums aus neuerer Zeit Winfried Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums.
I. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht als Ausgangspunkt
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gende Untersuchung widmet sich aber gerade dieser allgemeinen staatsbürgerlichen Verfassungstreue. Dabei interessiert weniger in empirischer Hinsicht die tatsächliche psychologische Identifikation der Staatsbürger mit ihrer Verfassung. Vielmehr wird eine normative Perspektive eingenommen. Richtet man den Fokus vor allem auf das Treuebekenntnis, geht es also um die Frage, ob die Staatsbürger sich zur Verfassungsordnung bekennen sollen. Ganz allgemein ist zu klären, welches Maß an Verfassungstreue der „einfache“ Staatsbürger – also nicht ein Staatsdiener – aufbringen soll. Dieses Sollen als normative Kategorie kann aus unterschiedlichen Quellen gespeist sein. Als solche werden im Wesentlichen die Idee der Staatsangehörigkeit, die Idee einer Wertordnung und die Verfassung selbst herangezogen. Aus diesen normativen Quellen werden bestimmte Anhaltspunkte für Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue abgeleitet, die in eine übergreifende Konzeption zusammengeführt werden. Diese Konzeption dient schließlich als Maßstab für die Bewertung der einbürgerungsrechtlichen Treueanforderungen. Wie für wissenschaftliche Abhandlungen über normative Fragen typisch, beeinflusst auch hier ein bestimmtes Vorverständnis die Argumentations- und Darstellungsweise. Insoweit sei im Kern auf die Standortbestimmung zum Abschluss dieser Einleitung verwiesen. Vorab sei diesbezüglich Folgendes hervorgehoben: Vorbedingung der gesamten Untersuchung ist das freiheitliche Selbstverständnis des Verfassungsstaates – nur so können sämtliche Weichenstellungen im Rahmen der Darstellung verstanden werden. Denn erst aus dem freiheitlichen Anspruch des Staates entsteht das Dilemma überhaupt: Die Freiheitlichkeit muss vom Staat durch bestimmte Schutzmechanismen gewährleistet werden. Bei maximaler Freiheitsgewährleistung darf man doch aber grundsätzlich annehmen, dass auch die Freiheit zur Ablehnung jener Ordnung besteht, die gerade diese Freiheitlichkeit gewährleistet. Ist dies der Fall, stellt sich aber die Frage nach der Rechtfertigung eines Treuebekenntnisses zwecks Einbürgerung in den deutschen Staatsverband in besonderer Weise. Unsere vorphilosophische Intuition zu dieser Frage ist nicht eindeutig. Das Problem führt zu einer Aporie. Der Anspruch einer Untersuchung staatsbürgerlicher Verfassungstreue in einem freiheitlichen Verfassungsstaat kann es demnach nicht sein, eine eindeutige und unverrückbare Antwort auf die Fragestellung zu geben. Die Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue versteht sich mithin als Vorschlag für die Bewältigung des dargestellten Dilemmas.
9 Vgl. aber Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 55 [„Konsequent zu Ende gedacht [. . .] müsste [bei Ablehnung jeglicher Identifikationszumutung] zuletzt jeder eingebürgert werden können, der die Verfassung als normative Basis des Zusammenlebens im Staat ablehnt“] sowie Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (24 ff.).
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A. Einleitung
II. Methodik und Gang der Untersuchung 1. Methodik Methodischer Knotenpunkt der Untersuchung ist der Begriff der Anforderung. Dieser wird hier als die Beschaffenheit einer Relation zwischen Staat und Bürger definiert, kraft derer beide voneinander etwas verlangen können. Etwas können ein äußeres Verhalten, aber auch innere kognitive Vorgänge wie Vorstellungen oder Einstellungen sein. Eine Anforderung kann daher etwa auch darin bestehen, von einem anderen eine bestimmte Gesinnung zu verlangen. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand beschränkt sich die Darstellung in erster Linie auf die Anforderungen an den Staatsbürger. Die Beschaffenheit der Staat-Bürger-Beziehung wird demnach vor allem insoweit in den Blick genommen, als der Staat von seinen Bürgern kraft dieser etwas verlangen kann. Die Anforderung an den Staatsbürger erstreckt sich also – umgekehrt formuliert – auf jenes Verhalten oder jene innere Haltung10, die dieser seinem Staat gegenüber erbringen soll. Das Sollen bildet den Gegensatz zum Sein, welches die tatsächliche Treuebeziehung zur staatlichen Ordnung empirisch-soziologisch ausdrückt. Es kann seinen normativen Ursprung in verschiedenen Normsystemen haben – etwa im Recht, in der Ethik, letztlich sogar in der Moraltheologie. Etwas kann also – je nach normativer Quelle – rechtlich, moralisch oder auch sittlich „gesollt“ sein. Danach kann schließlich auch die normative Intensität des Sollens divergieren. Es kann etwa zwangsweise durchsetzbare Rechtspflicht („Du musst“) oder nur ethisch geforderte Verhaltensmaxime („Du solltest“) sein. In der vorliegenden Arbeit werden in erster Linie die Verfassung und staatsphilosophische Ideen als Quellen solcher Normen zu Grunde gelegt. Eingangs wird aber auch das Institut der Staatsangehörigkeit selbst, gleichsam dessen „Idee“, als Normquelle begriffen, aus der Anforderungen an das Verhalten der Staatsbürger abgeleitet werden. Schließlich werden die Erkenntnisse zueinander in Beziehung gesetzt. Dies erfolgt durch den Versuch, eine Gesamtkonzeption – also eine Sammlung von Leitgedanken – vorzulegen, die eine begriffliche Erfassung und Zusammenstellung der aus den unterschiedlichen normativen Quellen hergeleiteten Anforderungen an die Verfassungstreue ermöglicht. Abschließend wird das Einbürgerungsrecht als Normsystem analysiert und auf die Anforderungen an die (zukünftigen) Staatsbürger untersucht. Durch eine vergleichsorientierte Bewertung werden die Ergebnisse zur allgemeinen Konzeption der staatsbürgerlichen Verfassungstreue in Beziehung gesetzt.
10 Vgl. für einen weiten – auch innere Vorgänge erfassenden – Verhaltensbegriff etwa Hagen Hof, Rechtsethologie, Recht im Kontext von Verhalten und außerrechtlicher Verhaltensregelung, S. 3 f.
II. Methodik und Gang der Untersuchung
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2. Gang der Untersuchung Erste Anhaltspunkte für die Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue kann die Idee der Staatsangehörigkeit liefern (B.). Denn an die Inhaberschaft der Staatsangehörigkeit wird eine entsprechende Anforderung meist anzuknüpfen haben. Demnach soll einführend die Idee hinter diesem Rechtsinstitut dargestellt werden, um zu ermitteln, welche Folgen die Inhaberschaft der Staatsangehörigkeit für die Anforderungen an das Verhalten der Staatsbürger hat. Denn „[d]as Ausmaß der [. . .] geforderten Loyalität hängt von den Erwartungen ab, die für die jeweilige Beziehung konstitutiv sind“.11 Es gilt demnach herauszuarbeiten, was für die Beziehung, die durch die Staatsangehörigkeit begründet wird, konstitutiv ist und was daraus für das Forschungsziel abgeleitet werden kann. Anschließend wird der Begriff des Wertes und der Wertordnung in den Blick genommen (C.). Insbesondere soll danach gefragt werden, ob aus dem Postulat einer Wertgebundenheit staatlicher Ordnung konkrete Anforderungen für die Bürger abgeleitet werden können. Denn Bezugspunkt von Identifikation sind regelmäßig bestimmte Werte. Es wird versucht, vor dem Hintergrund der Kritik am Wertbegriff aufzuzeigen, ob ein Wertordnungsdenken mit einem freiheitlichen Verständnis von Gesellschaft vereinbar sein kann. Vorgelagert ist eine Analyse der Wertgeltung in einer freiheitlichen Gesellschaft. Dort wird dargelegt, inwieweit die Wertgebundenheit der freiheitlichen Ordnung Auswirkungen auf die Bestimmung von Treueanforderungen haben muss. Die Überlegungen münden in Folgerungen für die grundgesetzliche Wertordnung, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Auslegung des Grundgesetzes maßgeblich verändert hat. Daran anknüpfend wird der Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem freiheitlichen Postulat einer Wertneutralität des Staates und seinem Auftrag zur Bestandserhaltung der werthaften Freiheitsordnung gerichtet (D.). Dabei wird von einer „philosophischen Grundierung elementarer rechtsstaatlicher, freiheitsrechtlicher und demokratischer Verfassungsprinzipien“ 12 ausgegangen. Das Kapitel soll dem Umstand Rechnung tragen, dass Verfassungsinterpretation in einem Spannungsverhältnis zwischen methodischer Bindung und einem Rückgriff auf „metakonstitutionelle Interpretationsreserven“ erfolgt.13 Zu diesen gehört die Betrachtung verfassungsrechtlicher Rechtsinstitute im Lichte ihrer ideengeschichtlichen Genese14 sowie diesen zu Grunde liegender (staats-)philosophi11 Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 1, S. 731 [Stichwort: „Loyalität“]. 12 Horst Dreier, Kants Republik, JZ 2004, 745 (755). 13 Matthias Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (873). 14 Vgl. schon Richard Thoma, Gegenstand – Methode – Literatur, in: Anschütz/ Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 1, S. 1 (5).
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scher Ideen (z. B. Wertehierarchien15, ein bestimmtes Menschenbild16 oder Staatsverständnis). Damit erfolgt eine philosophische Grundlegung zur nachfolgenden verfassungsrechtlichen Analyse. Schließlich wird das Grundgesetz auf Hinweise zu Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue untersucht (E.). Im Vordergrund steht dabei die Verfassungsdogmatik. Schwerpunkt bildet zum einen das Demokratieprinzip – insbesondere das Prinzip „wehrhafter Demokratie“ – und zum anderen die Neutralitätspflicht des Staates. Anschließend erfolgt eine Zusammenstellung der Erkenntnisse in einem Gesamtkonzept zu den Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue (F.). Dadurch werden einerseits die vorherigen Erkenntnisse zusammengefasst. Andererseits wird eine Konzeption vorgeschlagen, wie vor dem Hintergrund der vorangegangenen Gedanken in einem freiheitlichen Verfassungsstaat die Anforderungen an die Verfassungstreue der Bürger aussehen könnten. Dabei stehen insbesondere drei Fragen im Fokus: Welches Verhalten wird von dem Bürger gefordert? Welche (normative) Qualität haben die Anforderungen? Was ist der Gegenstand der geforderten Treue? In diesem Kapitel erfolgt dann auch bereits eine kurze Darstellung des Forschungsergebnisses. Abschließend wird das Konzept von Verfassungstreue – insbesondere das Treuebekenntnis – im geltenden Einbürgerungsrecht dargestellt und im Hinblick auf das Ergebnis der Untersuchung bewertet und eingeordnet (G.).
III. Standortbestimmung Jeder Forschende hat schon bei der Formulierung seiner Fragen bestimmte Prämissen und Vorverständnisse, ohne die sein weiteres Fragen in einen infiniten Regress hineinführte. Daher dient die Standortbestimmung zunächst der Definition wichtiger Begriffe. Darüber hinaus wird die Perspektive der Freiheitlichkeit dargelegt, durch die die Weichenstellungen der Arbeit nachvollziehbar gemacht werden sollen. Sämtliche Gedanken sind nur vom hier bezeichneten Standort aus, also nur unter Zugrundelegung der definierten Begriffe und nur aus einer freiheitlichen Perspektive heraus, überhaupt zu verstehen. 1. Begriffsbestimmung Um der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass Definitionen keine Sacherklärungen, sondern Vereinbarungen – oft auch einseitige Festlegungen – über zu ver15 Matthias Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (877). 16 Matthias Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (873).
III. Standortbestimmung
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wendende Zeichen sind17, sollen nun der zentrale Begriff der Verfassungstreue auf der einen und die Begriffe der Identifikation und des Bekenntnisses auf der anderen Seite näher bestimmt werden. a) Verfassungstreue Der Begriff der Verfassungstreue wird meist im Zusammenhang mit dem Öffentlichen Dienst erörtert. Diesbezüglich hat sich sowohl die juristische Literatur als auch die verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung schon früh immer wieder mit seiner Auslegung befasst.18 Jedoch wird Verfassungstreue hier meist vom Ergebnis her bestimmt. Darunter wurde begrifflich all das gefasst, was etwa von einem Beamten nach der jeweiligen Auffassung schlussendlich verlangt wird. Wird also etwa ein Gewährbieten für jederzeitiges Eintreten für die Verfassungsordnung (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG) gefordert, so wird Verfassungstreue eben im Sinne eines solchen jederzeitigen Eintretens für die Verfassung definiert. Mit der inhaltlichen Bestimmung der Anforderungen an den Beamten geht dann gleichermaßen die Definition von Verfassungstreue einher.19 Der Begriff stammt nun einmal aus dem Kontext des Beamtentums und wird in erster Linie mit diesem in Verbindung gebracht. Mit dem einfachen Staatsbürger sollte er gerade nicht assoziiert werden, weil dieser nach verbreiteter Auffassung eine Verfassungstreue in diesem Sinne nicht schulde.20 Versteht man Treue allgemein als „Umschreibung für eine bestimmte Bindung“ 21, ist der Begriff ohne weiteres auch auf die allgemeine Staat-Bürger-Beziehung anwendbar, in der sich gleichermaßen mehr oder weniger starke Bindungen begründen lassen. Es kommt dann eben nur noch darauf an, wie diese Bindung beschaffen sein muss, um als Treue bezeichnet zu werden. Das Recht kennt Treue in unterschiedlichen Zusammenhängen: Im Zivilrecht wird „Vertragstreue“ und Einhaltung der Grundsätze von „Treu und Glaube“ (§ 242 BGB) erwartet, während das Strafrecht „Untreue“ (§ 266 StGB) oder „Veruntreuung“ (§ 266 a 17
Fritjof Haft, Juristische Rhetorik, S. 65. Im Angesicht des Linksterrorismus der so genannten „Roten Armee Fraktion“ befassten sich die deutschen Staatsrechtslehrer schon 1978 mit dem damals – wie heute – brisanten Thema, vgl. Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7–51 sowie Hans Hugo Klein, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 53–113. 19 Vgl. etwa Christian-Friedrich Menger, Parteienprivileg und Zugang Radikaler zum öffentlichen Dienst, VerwArch 67, S. 105 (107) [Beamte müssen insbesondere „die Werte der Verfassung beachten und schützen“]. 20 Formulierungen wie bei Walter Leisner, Beamtentum, S. 308, wonach der Staatsbürger lediglich „Gehorsam gegenüber der Verfassung und den Gesetzen [schulde], nicht aber eine spezielle Verfassungstreue, welche ihn etwa zu einem Einsatz für die verfassungsmäßige Ordnung zwingen würde“, durchziehen so oder ähnlich laufend die Literatur. 21 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 19. 18
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StGB) mit Sanktionen belegt. Das Verfassungsrecht verpflichtet Bund und Länder zur „Bundestreue“ und Staatsorgane zur so genannten „Interorgantreue“. Schon etymologisch steht Treue in enger Verknüpfung mit dem Begriff des „Vertrauens“.22 Die durch Treue hervorgebrachten Bindungen sind demnach spezifisch durch ein bestimmtes Maß an Vertrauen gekennzeichnet, das dem Erbringer der Treue zuteilwird. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagt eine bekannte Redewendung. Das klingt wiederum so, als würde das eine das andere ausschließen. Vertrauen impliziert einen bestimmten Verzicht auf Kontrolle und gebietet eine gewisse Zurückhaltung in der Normierung von Verhaltensanforderungen. Hier lässt sich eine Besonderheit der Treuebindung erkennen. Im Unterschied zum Gehorsam bedeutet Treue begrifflich, „da[ss] nicht Anordnungen ohne eigenes Ermessen befolgt werden müssen, sondern da[ss] die jeweiligen Interessen nach bestem Wissen und Können gewahrt werden“.23 Um treu zu sein, muss man demnach „alles [. . .] unterlassen, was schädlich sein könnte, und alles [. . .] tun, was förderlich sein kann“.24 Dabei gibt es aber keine strikten Vorgaben für das jeweils notwendige Verhalten. Ein solcher Spielraum erfordert in der Tat ein gewisses Vertrauen. Treue umfasst dabei jenes Verhalten oder jene innere Haltung, welche auf die Aufrechterhaltung oder Pflege einer bestimmten Bindung gerichtet sowie für das jeweilige Objekt der Treue insgesamt förderlich ist. Hier lässt sich nach der Art des Verhaltens zwischen innerer und äußerer Treue sowie nach dem Ausmaß der Förderlichkeit zwischen negativer und positiver Treue differenzieren. Negative Treue ist schon durch das bloße Unterlassen von gegen die Bindung gerichtetem Verhalten gegeben, während positive Treue eine aktive Förderung erfordert. Innere Treue umfasst eine gesinnungsmäßige Einstellung zu Gunsten des Objekts der Treue, wohingegen sich äußere Treue durch Handlungen in der Außenwelt manifestiert. Dies soll nun für den Begriff der Verfassungstreue konkretisiert werden. Bezugnehmend auf die bisherige Terminologie bezeichnet die Verfassungstreue demnach eine bestimmte Bindung des Staatsbürgers – oder sonstiger Personen – an die Verfassung, die damit ihrerseits Bezugspunkt der Treue wird. Treue muss sich nämlich nicht zwingend auf eine Person (wie etwa früher den Monarchen) beziehen, sondern kann auch eine Idee oder eine Wertordnung zum Gegenstand haben.25 Daher verfängt der Einwand, dass man einer Verfassung als einem un22 Vgl. Elmar Seebold, Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 926 [Stichwort „trauen“], S. 928 f. [Stichwort „treu“]. 23 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 19. 24 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 19. 25 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 21.
III. Standortbestimmung
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persönlichen Gesetz keine Treue schulden könne, gerade nicht.26 Vielmehr ist dieser Bezugspunkt der Treue der einzige, der einem freiheitlichen und demokratischen Staat gerecht wird, da sich die Treue auf die vom Volk selbst festgelegten Grundlagen der Verfassung bezieht.27 Der Begriff der Verfassungstreue beschreibt – so verstanden – das Maß einer Bindung gegenüber „der Verfassung“. Damit ist nicht die Verfassung als Rechtsdokument gemeint, sondern vielmehr die sie tragende Ordnung, wie sie im Falle des Grundgesetzes meist unter dem Schlagwort der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ 28 zusammengefasst wird. In Anlehnung an die beamtenrechtliche Terminologie ist der Anknüpfungspunkt der Treue dabei gar eine Wertordnung, soweit eine solche durch die Verfassung konstituiert wird. Treue beschreibt daher keine Beziehung zu der Staatspolitik, der aktuellen Regierung oder eine allgemeine Loyalität29 gegenüber der Verwaltung oder „dem Staat als solchem“.30 Regierungstreue wird auch von Beamten nicht mehr verlangt.31 Es geht nur um die schon von ihrem Gegenstand her engere Verfassungstreue, also die Treue gegenüber dem als unantastbar verstandenen Verfassungskern, nicht gegenüber sämtlichen jederzeit veränderbaren Verfassungsbestimmungen.32
26 So aber Carl Hermann Ule, Gerichtlicher Rechtsschutz im Beamtenrecht, S. 44, vgl. dagegen Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 21. 27 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 21. 28 Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Begriff schon früh in den beiden Parteiverbotsentscheidungen aus den Jahren 1952 und 1956 verwendet und näher bestimmt, vgl. nur BVerfGE 2, 1 (13); in der jüngsten Entscheidung zum NPD-Verbotsverfahren hat es ihn grundlegend neu gefasst, vgl. BVerfGE 144, 20. 29 Der Begriff der Loyalität wird hier synonym zu „Treue“ verwendet, vgl. auch Axel Azzola/Gerd Lautner, Loyalitätspflicht und politische Kommunikationsrechte der Beamten, ZBR 1973, 125 (125 ff.); ebenso wohl BVerfGE 28, 191 (204) [„Treue- und Loyalitätsverhältnis“]; anders BVerwGE 47, 330 (336), wo mit dem Hinweis darauf, dass Beamte keine Treue, sondern nur Loyalität schulden, wohl impliziert wird, dass Loyalität gegenüber Treue ein minus darstellt. 30 Vgl. Hans-Peter Schneider/Heinz Uthmann, Meinungsfreiheit im Beamtenverhältnis. Zur politischen Betätigung von Beamten außerhalb des Dienstes, S. 27 f. 31 Vgl. Hans-Peter Schneider/Heinz Uthmann, Meinungsfreiheit im Beamtenverhältnis. Zur politischen Betätigung von Beamten außerhalb des Dienstes, S. 28, die darauf hinweisen, dass die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Treue „gegenüber dem Staat“ (BVerfGE 39, 334 (334)) als „Loyalität [. . .] gegenüber der normativen Verfasstheit eines konkreten politischen Gemeinwesens“ zu verstehen ist, also die Verfassung der Bezugspunkt der Treuepflicht des Beamten ist. 32 Früher sprach man bei Beamten von einer „politischen Treuepflicht“, deren Bezugspunkt wohl viel weiter ging als bei der Verfassungstreue; vgl. zur Mehrdeutigkeit des Begriffs der „politischen Treue“ und zu dessen Abgrenzung von der „Verfassungstreue“ sowie von der vom Bundesverfassungsgericht oftmals so bezeichneten „Treue zum Staat und seiner Verfassung“ im Beamtenrecht Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 24 ff.
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A. Einleitung
Dennoch veranlasst die Wendung des Bundesverfassungsgerichts von der „Staats- und Verfassungstreue“ 33 dazu, den Begriff der „Staatstreue“ noch einmal gesondert aufzugreifen. Hierbei ist der Staat selbst das Objekt der Treue und nicht etwa bestimmte verfassungsmäßige Werte. Staatstreue umfasst jenes Verhalten, welches auf die Bestandserhaltung des Staates gerichtet ist. Betrachtet man die Wertordnung als in diesem Sinne zum „Bestand des Staates“ gehörend, müsste man die Verfassungstreue als Unterfall der Staatstreue ansehen.34 Dafür spricht, dass die Verfassung die „Konstituante“ des Staates bildet, da sie ihn in seiner Gestalt vollkommen konstituiert und seine Identität als Verfassungsstaat erst formt. Das ohne die verfasste Wertordnung verbleibenden Gebilde würde der „eigentliche[n] Staatlichkeit“ entbehren35, sodass in diesem Sinne die Bestandserhaltung des Staates gescheitert wäre.36 Verfassungstreue wäre dann notwendig, aber nicht hinreichend, um staatstreu zu sein. Man könnte verfassungstreu sein, aber im Übrigen den Bestand des Staates bekämpfen, sofern die Wertordnung erhalten bleibt. Andererseits muss man auch die Staatstreue als integrales Element der Verfassungstreue ansehen37, da nur ein funktionsfähiger Staat die verfasste Wertordnung zu erhalten imstande ist.38 Insoweit ist nur verfassungstreu, wer auch insgesamt staatstreu ist. Im Grunde zeigt aber diese Argumentation, dass auch die Staatstreue auf die Erhaltung der identitätsstiftenden Wertordnung des Staates gerichtet ist, deren Bestand gesichert werden soll. Insoweit erfasst Verfassungstreue empirisch notwendig zugleich auch Staatstreue, wenngleich beide Begriffe keine Synonyme sind.39
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Etwa BVerfGE 39, 334 (348). Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 33; vgl. BVerfGE 20, 162 (178), wonach die freiheitliche demokratische Grundordnung zum Bestand der Bundesrepublik gehört. 35 Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (46). 36 Vgl. dagegen Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 21 Rn. 69, wonach die Verfassung den Staat nicht erst hervorbringt, sondern einen Staat vielmehr legitimiert, in dem schon ein „Mindestmaß an Konstitutionsfähigkeit“ vorhanden ist. 37 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 34. 38 Hans Hugo Klein, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 53 (62) [„ohne eine funktionierende Staatlichkeit bleibt die freiheitliche demokratische Grundordnung ein leerer Wahn“]. 39 Vgl. Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (47), der mit ähnlicher Argumentation Staatsschutz zugleich als Verfassungsschutz begreifen will (und umgekehrt); vgl. auch Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (14), der eine scharfe Unterscheidung von Staats- und Verfassungstreue ablehnt. 34
III. Standortbestimmung
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Analog zur schon eingeführten terminologischen Differenzierung müssen positive und negative Verfassungstreue unterschieden werden. Die positive Verfassungstreue umfasst alles, was auf die positive Hinwendung zur Verfassung durch äußeres Verhalten oder innere Einstellung gerichtet ist. Sie ist Verfassungstreue im engeren Sinne, weil sie einen engeren Anwendungsbereich hat. Zugleich bezeichnet sie die „klassische“ Verfassungstreue, wie sie im Beamtenrecht zu Grunde gelegt wird. Dabei muss unter „äußerer Verfassungstreue“ jedes in der Außenwelt wirksame Verhalten angesehen werden, das auf die Erhaltung oder Pflege der verfassungsmäßigen Wertordnung gerichtet ist. Exemplarisch ist etwa das vom Beamten geforderte „Eintreten“ für die Verfassung als äußerlich überprüfbares Kriterium.40 Positive äußere Verfassungstreue kann aber auch schon darin bestehen, eine bestimmte Freiheit in bestimmter – nicht konkret vorgegebener, aber nach eigenem Ermessen auf ein bestimmtes Ziel hingeordneter – Weise auszuüben. Die Teilnehmer an einer Demonstration können ihre Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) etwa dafür nutzen, sich für Demokratie und Freiheit aktiv auszusprechen und einzusetzen. Innere Verfassungstreue bestünde demgegenüber in der gesinnungsmäßigen Einstellung zu Gunsten der verfassungsmäßigen Wertordnung. Die zentrale Grenzziehung zwischen innerer und äußerer Verfassungstreue verläuft also im Übergang „vom Denken zum Handeln, von der Reflexion zur Aktion“.41 Dagegen kann negative Verfassungstreue schon im bloßen Unterlassen von gegen die Verfassung gerichteten Bestrebungen bestehen. Man kann auch von Verfassungstreue im weiteren Sinne sprechen, weil ein großes Spektrum an Verhaltensweisen darunter subsumiert werden kann. Denn nach diesem Verständnis ist auch eine der Wertordnung entgegengebrachte Gleichgültigkeit sowie vollkommene Teilnahmslosigkeit als Verfassungstreue zu bezeichnen. Diese rein negative Verfassungstreue kann auch bei bloßer Verfassungsindifferenz erfüllt sein. Diese vermag zwar die Wertordnung nicht positiv zu fördern, jedoch dient das Bestehenlassen und „Nicht-Zerbrechen“ einer schon bestehenden Bindung zum Objekt der Treue einer Erhaltung des status quo. Der Indifferente trägt damit ohne weitere Einflüsse von außen durchaus – wenn auch nicht aktiv – zur Bestandserhaltung im Wortsinn bei. Er schöpft nämlich nicht das ihm grundsätzlich innewohnende Potenzial aus, durch Wort und Tat die verfassungsmäßige Ordnung zu bekämpfen. Ein derart weites Verständnis wird dieser Arbeit deshalb zu Grunde zu legen sein, um die Funktionalität von Verfassungstreue als Arbeitsbegriff sicherzustellen. Denn so kann die staatsbürgerliche Verfassungstreue auch in ihrer Dimension als negative Verhaltens- oder Einstellungsmodalität erfasst werden.
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Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 138. Walter Leisner, Beamtentum, S. 308.
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A. Einleitung
Die praktische Anwendung des Begriffs der Verfassungstreue wird insbesondere durch den Gegenbegriff der Verfassungsfeindlichkeit erleichtert. So kann man vereinfacht festhalten, dass „nicht (mehr) verfassungstreu ist, wer sich verfassungsfeindlich verhält“.42 Nach einer gangbaren Grenzziehung ist „Verfassungstreue als positive [. . .] Einstellung zur Grundordnung und [. . .] Verfassungsfeindlichkeit als negative [. . .] Einstellung“ 43 zusammenzufassen, wobei vor allem für die Einordnung im Einzelfall eine strikte Alternativität wohl nicht möglich sein dürfte.44 Mit der Bestimmung verfassungsfeindlichen Verhaltens wird zugleich festgelegt, wodurch jemand nicht mehr verfassungstreu – auch nicht im weiteren Sinne – ist. Der Indifferente verhält sich nicht verfassungsfeindlich, sodass Verfassungsfeindlichkeit nur in positiver Ausprägung denkbar ist. Verfassungsfeindlich ist nach einer im Parteienrecht entstandenen Definition ein Verhalten, das auf die „Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder eines ihrer Merkmale abzielt“.45 Jedes positiv gegen die verfassungsmäßige Wertordnung gerichtete Verhalten ist also begrifflich schon als „verfassungsfeindlich“ zu bezeichnen. Ebenso wie bei der Verfassungstreue kann auch zwischen innerer und äußerer Verfassungsfeindlichkeit differenziert werden. Insoweit sind phänomenologisch sowohl reine Gesinnungsverfassungsfeinde, die äußerlich zumindest negative Treue aufbringen, als auch nach außen erkennbare Verfassungsfeinde denkbar.46 Damit fallen darunter nicht nur Personen, die bereit und entschlossen sind, die Wertordnung zu bekämpfen und zu beseitigen. Das äußerlich verfassungsfeindliche Verhalten kann sich in aktivem Tun (z. B. Gewaltanwendung) oder in rein verbalen Äußerungen manifestieren, wobei bei letzteren nach der Intensität des Einwirkens auf die Außenwelt zwischen einfachen Meinungsäußerungen und hetzerischen Kampfreden (sog. hate speech47) unterschieden werden kann. b) Identifikation und Bekenntnis Die stärkste Ausprägung von Verfassungstreue ist die Identifikation mit der verfassungsmäßigen Ordnung. Sie ist eine Ausprägung positiver innerer Treue. „Identifikation“ kommt von den lateinischen Wörtern „idem“ (dasselbe) und 42 Zur Begriffsabgrenzung Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 51. 43 Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 51. 44 Werner Jung, Der Zugang zum öffentlichen Dienst nach Art. 33 Abs. 2 GG, S. 65. 45 BVerfGE 5, 85 (85 ff.) bezüglich der Verfassungsfeindlichkeit einer Partei. 46 Nach BVerwG NJW 1981, 1392 (1392 f.) genügt begrifflich für eine Verfassungsfeindlichkeit bereits, dass mit der Grundordnung unvereinbare Ziele verfolgt werden, indem tragende Prinzipien der Verfassungsordnung beeinträchtigt oder beseitigt werden sollen. 47 Vgl. Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (333).
III. Standortbestimmung
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„facere“ (machen) und bedeutet „Gleichsetzung“ oder gar „Verschmelzung“.48 Damit ist ursprünglich ein psychologischer Vorgang gemeint, bei dem sich ein Mensch die Gefühlswelt anderer Menschen zu eigen macht, indem er sich in die anderen hineinversetzt.49 Das kann bedeuten, die Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen anderer Bezugsgruppen zu übernehmen.50 Dieser Vorgang ist vor allem auch in Bezug auf die Werthaltung anderer Menschen oder eben des Staates denkbar. Identifikation kann sich auf jeden Wert beziehen. Der Wert wird dabei von einem Individuum so angenommen, dass er zum Teil der eigenen Identität wird. Freilich ist Identität hier zunächst einmal nur in einem personalen Sinne51 zu verstehen. Gemeint sind damit sämtliche Bewusstseinsinhalte, die notwendig für ein „Sich-Selbst-Gleich-Bleiben eines vernünftigen Wesens“ 52 sind. Zur identitätsprägenden Eigenschaft eines Individuums gehört schließlich seine Werthaltung. Identifikation ist demnach gewissermaßen der Prozess des „Hineinnehmens“ von Eigenschaften einer fremden in die eigene Identität. Ist dieser Vorgang abgeschlossen, spricht man von Internalisierung. Der in Bezug genommene Wert ist dann derart in das identitätsbildende Wertsystem integriert worden, dass er das Handeln ohne äußere Veranlassung zu leiten imstande ist.53 Bezogen auf Verfassungstreue meint Identifikation, dass die verfassungsmäßige Wertordnung – oder ein Teil von ihr – derart innerlich angenommen wird, dass ihr Inhalt schließlich vollends internalisiert ist. Identifikation beschreibt damit die stärkste Form der inneren Hinwendung und somit die Überwindung jeglicher Distanz54 zur Wertordnung des Staates. Sie wird psychologisch in einem emotionalen Moment des Erlebens und in einem rationalen Moment des Erkennens der Übereinstimmung einer bestimmten individuellen Werthaltung mit der verfassungsmäßigen Wertordnung wirksam. Die Identifika-
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Häcker/Stapf (Hrsg.), Dorsch Psychologisches Wörterbuch, S. 454. Werner D. Fröhlich, Wörterbuch Psychologie, S. 252 [Stichwort: „Identifikation“]. 50 Edward E. Smith/Susan Nolen-Hoeksema/Barbara L. Frederickson/Geoffrey R. Loftus, in: Grabowski (Hrsg.), Atkinsons und Hildegards Einführung in die Psychologie, S. 835. 51 Vgl. zum Terminus der Identität Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 7 ff. 52 Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 1, S. 527 [Stichwort: „Identität“]. 53 Edward E. Smith/Susan Nolen-Hoeksema/Barbara L. Frederickson/Geoffrey R. Loftus, in: Grabowski (Hrsg.), Atkinsons und Hildegards Einführung in die Psychologie, S. 835 mit näheren Ausführungen zum Übergang von der Identifikation zur Internalisierung; vgl. Gisela Trommsdorff, Sozialisation und Werte, in: Berger (Hrsg.), Soziologie in konstruktiver Absicht. Festschrift für Günter Endruweit, S. 167 (169). 54 Zur Gegenüberstellung von Distanz und Identifikation vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1. Aufl. 1977, S. 418 f. [„Im Verhältnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung darf es keine Distanz, sondern nur Identifikation geben“ (S. 419)] – Hervorhebung im Original. 49
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A. Einleitung
tion mit der Wertordnung bleibt als rein psychologischer Prozess innere Verfassungstreue, solange sie nicht nach außen erkennbar manifestiert wird. Der Vorgang der Manifestation dieser inneren Hinwendung nach außen erfolgt durch ein entsprechendes Bekenntnis. Insoweit wird durch das Bekenntnis die Identifikation erst in der Außenwelt erkennbar und damit in den Kategorien des Rechts auch erst greifbar. Bekenntnisse kennt das Recht in unterschiedlichen Zusammenhängen. Nach Art. 4 Abs. 1 GG etwa ist die „Freiheit [. . .] des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses [. . .] unverletzlich“. Die Dogmatik der Religionsfreiheit unterscheidet dabei bekanntermaßen im Schutzbereich zwischen dem forum internum und dem forum externum. Insoweit wird das „Haben“ eines Glaubens als innerer Vorgang ebenso geschützt wie das entsprechende „Bekennen“ desselben.55 Durch das Bekenntnis erfolgt also auch hier eine Verknüpfung zwischen Innen- und Außenwelt, gleichsam der Übergang vom reinen forum internum zum forum externum. In einem weiteren Sinne kann in jeder nach außen erkennbaren Manifestation der inneren Hinwendung zu einem bestimmten Identifikationsobjekt ein Bekenntnis gesehen werden. Einer ausdrücklichen verbalen Äußerung bedarf es bei dieser Betrachtungsweise nicht zwingend. So dürfte etwa § 6 Abs. 1 BVFG zu verstehen sein, der ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum verlangt, das durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung oder Kultur bestätigt wird. Auch der Regelung des § 60 Abs. 1 BBG scheint ein solches Verständnis zu Grunde zu liegen, wenn er anordnet, dass Beamte sich „durch ihr gesamtes Verhalten“ zum Grundgesetz „bekennen“ müssen. Bei einer engeren Betrachtungsweise hingegen kann ein Bekenntnis nur durch eine ausdrückliche verbale Äußerung erfolgen. Ein Bekenntnis in diesem Sinne fordert etwa § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Hs. 1 StAG, da dieser wohl eine „verbal glaubhaft gemachte [. . .] innerliche Hinwendung“ 56 verlangt. Schließlich kann noch zwischen echtem und unechtem Bekenntnis unterschieden werden. Während beim unechten Bekenntnis die tatsächliche Identifikation bezüglich des in Bezug genommenen Identifikationsobjekts nicht mit dem nach außen abgegebenen Bekenntnis übereinstimmt („Lippenbekenntnis“), wird beim echten Bekenntnis das nach außen kundgetan, was der tatsächlichen Identifikation entspricht. Nur das echte Bekenntnis entspricht demnach der materiellen – wenn auch nur psychisch-realen – Wahrheit. 2. Freiheitlichkeit als Vorbedingung der Untersuchung Die aus der Menschenwürde abgeleitete Freiheit der Staatsbürger ist der höchste Wert eines freiheitlichen Verfassungsstaates. Schon das Grundgesetz 55
Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 4 Rn. 11, 34 ff. Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (218) – Hervorhebung durch den Verfasser. 56
III. Standortbestimmung
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selbst stellt an seinen Anfang die Menschenwürde, die das Individuum in seiner Selbstbestimmung zum Ausgangspunkt der staatlichen Ordnung erhebt. Diese Selbstbestimmung ist damit Legitimationsquelle des Staatshandelns und zugleich Zentrum des staatlichen Schutzauftrags. Wo Freiheit zum notwendigen und moralisch höchsten Prinzip des Gemeinwesens erhoben wird, wo also dem staatlichen Handeln Grenzen gesetzt werden, wo kurzum „[d]er Staat [. . .] um des Menschen willen [. . .], nicht [aber] der Mensch um des Staates willen“ 57 da ist, da wird der Schutz der staatlichen Ordnung zu einer großen Herausforderung. Die Frage nach den Treueanforderungen an die Staatsbürger erfolgt also aus dem Blickwinkel eines freiheitlichen Staates, wie ihn etwa das Grundgesetz konstituiert. Damit sind gewisse Determinanten verbunden. Das „Verfassungsprinzip der Freiheit“ 58 soll dem Bürger „Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug“ 59 ermöglichen. Der Verfassungsstaat ist dabei „die erfolgreichste Institutionalisierung politischer Freiheit in der Geschichte der Menschheit [. . .], die wir kennen“.60 Der zentrale Zweck dieser Institutionalisierung besteht in der Sicherung dieser Freiheit durch den Staat. Da dies aber notwendig nur die „gleiche Freiheit aller“ 61 meinen kann, muss die Freiheit des Einzelnen in bestimmten Punkten beschränkt werden.62 Insoweit soll für die Überlegungen zur staatsbürgerlichen Verfassungstreue stets das Ziel des freiheitlichen Verfassungsstaates im Auge behalten werden, die größtmögliche Freiheit aller zu gewährleisten. Kurzum: So viel Freiheit wie möglich, aber doch so viel Beschränkung der Freiheit wie nötig. Um dieses Ziel umzusetzen, gehört die Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum wesentlichen Kennzeichen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Dadurch wird der freiheitseinschränkende Gesetzgeber seinerseits in die Schranken gewiesen. Die für die Freiheitssicherungsfunktion des Staates notwendige Einschränkung von Freiheiten des Einzelnen – insbesondere des potenziellen Freiheitsgefährders, der eben zugleich auch freier Bürger ist – ist demnach „möglichst freiheitsschonend auszugestalten“.63 Das gilt auch für die Formulierung von Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue. Denn Treue
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Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs eines Grundgesetzes durch den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. 58 Hasso Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41, S. 42 (54). 59 BVerfGE 63, 343 (357). 60 Peter Graf Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit, S. 39. 61 Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 14 – Hervorhebung durch den Verfasser; vgl. auch zur Notwendigkeit gleicher Freiheit Walter Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 51. 62 Kurt Sontheimer, Die verunsicherte Republik, S. 125. 63 Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 36 – Hervorhebung durch den Verfasser.
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A. Einleitung
bedeutet Bindung. Bindung aber ist eine Beschränkung von Freiheit. Die Vorbedingung der Freiheitlichkeit macht es mithin notwendig, Treueanforderungen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Ist es verhältnismäßig, von den Bürgern eine Identifikation zu einer Wertordnung zu verlangen? Gibt es nicht auch mildere Mittel? Genügt ein Zugriff auf die Gesinnung überhaupt dem Anspruch freiheitsschonender Rechtsgestaltung? Andererseits: Kann die freiheitliche Ordnung in ihrem Bestand überhaupt erhalten werden, wenn nicht auch die Bürger zur Treue verpflichtet werden? Sind nicht alle für die Freiheit verantwortlich und kann dies nicht gerade deshalb auch von jedem gefordert werden? Die Auflösung dieser Spannungen muss sich am viel zitierten „Prinzip praktischer Konkordanz“ 64 orientieren. Die konkrete Abwägungsentscheidung wird vom Staat selbst – insbesondere durch den Akt der Gesetzgebung – vorgenommen. Die grundrechtliche Freiheit ist demnach durch die Bindung an die für alle geltenden Gesetze begrenzt. Eine Konzeption der Verfassungstreue im freiheitlichen Verfassungsstaat muss hier ansetzen und in diesem Sinne eine möglichst freiheitsschonende Ausgestaltung anstreben. Da die Identität des Staates aber nur bei Bewahrung seiner Freiheitlichkeit bestehen bleibt, ist Freiheitsschutz zugleich Staatsschutz. Die Abschaffung der freiheitlichen Ordnung kommt der Abschaffung dieses Staates gleich. Letztlich dient der Staat mit dem Schutz seines Bestandes und seiner freiheitlichen Wertordnung dabei auch dem Schutz der Freiheit des Einzelnen. Es versteht sich von selbst, dass dies – vor dem Hintergrund der Bedrohungen durch terroristische und extremistische Bestrebungen – zu den größten Herausforderungen des modernen Staates überhaupt zählt.
64 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 2 Rn. 72.
B. Die Idee der Staatsangehörigkeit Staatsangehörigkeit ist eine Konstruktion. Durch diese Konstruktion ist ein Rechtsinstitut geschaffen worden, das – wie alle Rechtsinstitute – bestimmte Normen mit dem Ziel der „Bewältigung eines Sachproblems“ 1 zusammenfasst. Dieser Zusammenfassung liegt ein ordnendes Prinzip zu Grunde, das im Hinblick auf den normierten Lebensbereich zu bestimmen ist. Das ist die Idee eines Rechtsinstituts, die auch als dessen Wesen oder Grundgedanke bezeichnet werden kann. Aus dieser Idee lassen sich normative Anforderungen ableiten. Insoweit wird die Idee der Staatsangehörigkeit selbst zur normativen Quelle. Wer mit der Idee oder dem Wesen eines Rechtsinstituts argumentiert, leitet Bedingungen daraus ab, bei deren Nicht-Erfüllung die Identität dieses Instituts aufgehoben wäre und es nicht mehr „dasselbe“ wäre. Dies kann für die Frage fruchtbar gemacht werden, ob an die Inhaber der Staatsangehörigkeit bestimmte Anforderungen zu stellen sind, ohne deren Erfüllung eben begriffslogisch bzw. typologisch2 nicht mehr von „Staatsangehörigkeit“ gesprochen werden könnte. Es geht in diesem Kapitel also um die notwendigen Voraussetzungen, die Staatsangehörigkeit als Rechtsinstitut kennzeichnen und konstituieren. Denn die geforderte Treue hängt von den Erwartungen ab, die für eine bestimmte Beziehung konstitutiv sind.3 Welche Erwartungen sind für die Beziehung, die durch die Staatsangehörigkeit begründet wird, konstitutiv? Was folgt aus der Inhaberschaft der Staatsangehörigkeit als Idee und Rechtsprinzip für die Treueanforderungen an deren Inhaber?
I. Staatsangehörigkeit: Begriff – Funktion – Rechtsnatur 1. Begriff der Staatsangehörigkeit Der Begriff der Staatsangehörigkeit wird rein formal als „[r]echtliche Mitgliedschaft einer Person in einem Staat“ 4 umschrieben. Genauer gesagt bildet die Gesamtheit der Staatsangehörigen das Staatsvolk, das neben Staatsgebiet und 1 Horst Tilch/Frank Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechtslexikon, Band 2, S. 2334 [Stichwort: „Institut“]. 2 Vgl. insoweit zur Denkform des „Typus“ als Ergänzung zu reinen Begriffen Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 461 ff. 3 Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 1, S. 731 [Stichwort: „Loyalität“]. 4 Klaus Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, S. 1223 [Stichwort: „Staatsangehörigkeit“].
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
Staatsgewalt eines der drei Elemente des Staates darstellt.5 In einem demokratischen Staat wird damit durch die Staatsangehörigkeit die Zusammensetzung des Souveräns festgelegt.6 Die damit einhergehende Zugehörigkeit zum Staatsvolk wird schließlich zur Mitgliedschaft im Staat in seiner Gesamtheit. Damit ist das Institut aber noch nicht hinreichend definiert. Vielmehr bezeichnet die Staatsangehörigkeit das „rechtliche Band zwischen Individuum und Staat, das den Einzelnen der Personalhoheit des Staates unterstellt“.7 Die Personalhoheit ist neben der Gebietshoheit eine Ausprägung der Staatsgewalt, durch die der Staat auch außerhalb seines Territoriums Zugriffsmöglichkeiten auf die mit ihm durch das personale Band der Staatsangehörigkeit verbundenen Individuen hat.8 Trotz dieser offenbar erheblichen Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Zusammensetzung des Staatsvolkes und für die Ausübung von Staatsgewalt enthalten weder das Grundgesetz noch die Verfassungen anderer Staaten genauere Regelungen zum Inhalt oder zu den Erwerbsvoraussetzungen.9 Vielmehr ist die konkrete Ausgestaltung und Inhaltsbestimmung dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber überlassen worden. Dieser ist dabei jedoch sowohl an die völkerrechtlichen als auch an die verfassungsrechtlichen – vor allem grundrechtlichen – Grenzen gebunden. Ferner müssen die „typischen Eigenarten der Staatsangehörigkeit, ohne die [sie] aufhören würde, eine solche zu sein“ 10, beibehalten bleiben.11 Soweit also das Wesen der Staatsangehörigkeit angetastet wird, stehen der Begriff und sein Inhalt nicht zur Disposition des ausgestaltenden Gesetzgebers. So kann die Staatsangehörigkeit etwa nur an natürliche Personen – also weder an Sachen noch an Personengesamtheiten – verliehen werden; auch ist sie zwingend durch eine auf Dauer angelegte Beziehung gekennzeichnet, sodass eine bedingte oder befristete Verleihung ausscheidet.12 2. Funktion der Staatsangehörigkeit Insbesondere die Funktion der Staatsangehörigkeit muss dabei stets beachtet werden, da diese zur Idee dieses Rechtsinstituts so elementar dazu gehört, dass ihre Erfüllung durch die Ausgestaltung gewährleistet bleiben muss. 5
Vgl. zur Drei-Elemente-Lehre Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff. Hans-Georg Maaßen, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GGKommentar, Art. 16 Rn. 4. 7 Arndt Uhle, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 73 Rn. 54. 8 Vgl. Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 30 f. 9 Hans-Georg Maaßen, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GGKommentar, Art. 16 Rn. 4. 10 Hans-Georg Maaßen, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GGKommentar, Art. 16 Rn. 9. 11 Vgl. BVerfGE 1, 322. 12 Hans-Georg Maaßen, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GGKommentar, Art. 16 Rn. 13. 6
I. Staatsangehörigkeit: Begriff – Funktion – Rechtsnatur
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Hier könnte im Ausgangspunkt die Abgrenzungs- und Zuordnungsfunktion der Staatsangehörigkeit eine wichtige Rolle spielen.13 Im Vordergrund steht dabei die tradierte Funktion der Konstituierung des Staatsvolkes14, durch die die Grundlage für die Herleitung von Rechten und Pflichten für das zugeordnete Individuum erst geschaffen wird.15 Vereinzelt wird mit diesem Argument die verstärkte Hinnahme von Mehrstaatigkeit abgelehnt, da dadurch die Abgrenzbarkeit der Staatsvölker und die Zuordnung von Rechten und Pflichten gegenüber den Heimatstaaten erschwert würden.16 Wenn im Rahmen dieser Diskussionen rund um das Problem der Mehrstaatigkeit immer wieder von der Angst vor Loyalitätskonflikten17 gesprochen wird, die bei Unterordnung eines Staatsbürgers unter die Personalhoheit mehrerer Staaten auftreten sollen, so wird damit offenbar eine gewisse Treue des Staatsbürgers gegenüber „seinem“ Staat gleichsam als (innere) Tatsache bereits vorausgesetzt. Normativ lässt sie sich hingegen aus der Idee der Staatsangehörigkeit überhaupt nur dann ableiten, wenn die Individuen ohne ein bestimmtes Maß an Treue die Zugehörigkeit zum Staatsvolk gar nicht erst effektiv begründen könnten. Für die Identifizierung der Individuen, die der Personalhoheit eines Staates unterworfen sind, ist ein auf die Erhaltung dieses Bandes gerichtetes Verhalten der Gewaltunterworfenen – im Sinne einer Treue – allerdings nicht zwingend erforderlich, solange die Staatsgewalt effektiv ausgeübt werden kann. Das Staatsvolk muss allerdings eindeutig identifizierbar sein, da andernfalls die Personalhoheit nicht mehr effektiv ausgeübt und die demokratischen Teilhaberechte nicht mehr eindeutig zugeordnet werden könnten. Die Staatsangehörigkeit dient dazu, diese formale Zuordnung zu ermöglichen. Die Abgrenzung gelingt aber nur, wenn die Mitglieder des Staatsvolkes ein gewisses Bewusstsein von der Zugehörigkeit zu ihrem Staat besitzen. Ohne Zugehörigkeitsbewusstsein zumindest eines Großteils der Mitglieder wäre das Staatsvolk eine völlig inhomogene, nicht identifizierbare und damit belanglose Masse. Meist wird sogar die Bildung einer „Lebens- und Schicksalsgemeinschaft“ 18 verlangt, um das Staatsvolk als kollektive Einheit von bloßen Zweckzusammenschlüssen abzugrenzen.19 Die Erfüllung dieser Funktion verbietet etwa die heim-
13 Vgl. zu dieser Funktion Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 33. 14 Kay Hailbronner, Die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, NVwZ 1999, 1273 (1275). 15 Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 33. 16 Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 39. 17 Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 39; näher dazu Burkhardt Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, S. 132, 304. 18 Andreas von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 86. 19 Andreas von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 86.
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
liche – also insbesondere ihren Inhabern nicht bekannte – Verleihung von Staatsangehörigkeit. Eine Treueanforderung schon allein aus dieser Abgrenzungs- und Zuordnungsfunktion abzuleiten, ist allerdings nicht möglich. Denn es gehört nicht zu dieser Funktion der Staatsangehörigkeit, über die Identifizierung hinaus den Bestand des Staatsvolkes oder des Staates als Ganzem in irgendeiner Weise zu erhalten. Der Staat soll zunächst seine Personalhoheit effektiv ausüben können, ohne dass der Gewaltunterworfene als Individuum selbst an der Erhaltung dieses personalen Bandes oder des Staates selbst in irgendeiner Weise mitwirken müsste. Der Staatsangehörigkeit können – je nach konzeptioneller Ausgestaltung – noch weitere Funktionen zukommen. Dazu gehört insbesondere die Integrationsfunktion, welche aber im Zusammenhang mit den Konzeptionen von Staatsbürgerschaft zu erörtern ist.20 An dieser Stelle wäre es auch verfehlt, bereits die notwendige demokratische Einstellung der Mitglieder des Souveräns in einem demokratischen Staat ins Feld zu führen, da Staatsangehörigkeit zunächst weder funktional noch begrifflich Demokratie impliziert. Bisher wurde ausschließlich auf die Perspektive des Staates als Träger von Hoheitsgewalt abgestellt. Die individual-rechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit darf aber nicht außer Betracht bleiben. In einer mehr auf das Individuum ausgerichteten Entscheidung wurde in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Funktion der Staatsangehörigkeit als „verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit“ 21 herausgearbeitet. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass die Staatsangehörigkeit mit ihrem formalen Zuordnungscharakter tatsächliche Zugehörigkeiten abbilden soll.22 Insoweit sei an die Wendung der „Loyalitätskonflikte“ erinnert, bei der Treue lediglich als Gegebenheit vorausgesetzt wird. Das vorhandene Treueband, welches ein Individuum mit einem bestimmten Staat verbindet, soll aus diesem Blickwinkel durch die Staatsangehörigkeit formal bestätigt – gleichsam besiegelt – werden. Dies macht aber Treue noch nicht zu einer normativen Anforderung an Staatsangehörige, da die tatsächliche Zugehörigkeit, die durch die Staatsangehörigkeit bestätigt werden soll, auch anders als durch Treue (z. B. durch äußere Gesichtspunkt wie längeren Aufenthalt im Inland, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe innerhalb des Staates usw.) begründet werden kann. Vielmehr wird durch das Kriterium der Verlässlichkeit ausgedrückt, dass der Verlust der einmal erworbenen Staatsange-
20
Vgl. unter IV. 2. BVerfGE 116, 24 (61) – Hervorhebung durch den Verfasser; vgl. umfassend dazu Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1–34. 22 Vgl. Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (1) [„tatsächliche Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit deckungsgleich sind“]. 21
I. Staatsangehörigkeit: Begriff – Funktion – Rechtsnatur
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hörigkeit nicht der unbegrenzten Willkür des Staates überlassen sein darf.23 Die im Dritten Reich übliche Praxis der politisch motivierten oder auch zu Strafzwecken eingesetzten Ausbürgerung stellt danach einen Missbrauch dieses Rechtsinstituts dar.24 Eine derartige Praxis sollte die Schutzvorschrift des Art. 16 GG verhindern, die damit die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit verfassungsrechtlich absichert. Dadurch wird schon die subjektiv-rechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit angedeutet, auf die noch einzugehen sein wird. Für die funktionale Beurteilung der Staatsangehörigkeit genügt die Erkenntnis, dass Zugehörigkeit neben der rein formalen Zuordnung zum Staatsvolk eben auch eine subjektiv-rechtliche Dimension enthält. Wenn diese Zugehörigkeit durch die Verleihung von Staatsangehörigkeit begründet wird, dann wird durch diese Dimension ersichtlich, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit nicht mehr zur freien Disposition des verleihenden Staates stehen kann. Für den Erwerb folgt daraus aber zumindest das Erfordernis eines Zugehörigkeitsbewusstseins der (einsichtsfähigen) Staatsangehörigen. Denn das Verlässlichkeitskriterium soll dem Bürger dienen, der ein Vertrauen auf den Bestand der staatsangehörigkeitsrechtlichen Beziehung gebildet hat.25 Ohne ein Zugehörigkeitsbewusstsein aber kann ein solches Vertrauen gar nicht erst gebildet werden. Umgekehrt folgt daraus aber keine korrespondierende Anforderung an den Staatsangehörigen, dem Staat eine verlässliche Grundlage von Zugehörigkeit zu verschaffen. Auch das Kriterium der Gleichberechtigung vermittelt nicht etwa dem Staat einen Anspruch, vom Bürger gleichermaßen einen Einsatz für die Bestandserhaltung zu verlangen. Sie postuliert nämlich gerade keine Gleichberechtigung zwischen Staat und Bürger, sondern ordnet vielmehr eine Gleichberechtigung im Status der Staatsangehörigkeit an. Die Pflicht zur Treue, die die Zugehörigkeit zum Staat bewahrt, kann also nicht abgeleitet werden. Vielmehr wird durch die Formel von der Funktion als „verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit“ darauf hingewiesen, dass Staatsangehörigkeit nicht ein reines Instrument des Staates ist, sondern schon von seiner Funktion her auch auf die Interessen der Staatsangehörigen selbst Rücksicht zu nehmen ist. Staatsangehörigkeit ist also durch wechselseitige Anforderungen sowohl an den Inhaber als auch an den Staat gekennzeichnet.
23 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (9). 24 Vgl. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 376 zur Ausbürgerung als Strafinstrument; umfassend dazu Gertrude Lübbe-Wolff, Entziehung und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit – Art. 16 I GG, JURA 1996, 57–64. 25 Vgl. Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (15 f.) mit Hinweis auf einen abgestuften Vertrauensschutz bei Kindern, die angesichts ihres Alters mangels entsprechender Einsichtsfähigkeit ein gefordertes Bewusstsein noch gar nicht bilden konnten.
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
3. Rechtsnatur der Staatsangehörigkeit Dies führt zur Frage nach ihrer Rechtsnatur. Hier besteht Streit darüber, ob die Staatsangehörigkeit als Rechtsverhältnis oder vielmehr als Status zu qualifizieren ist.26 Nach der Theorie vom Rechtsverhältnis ist die rechtliche Zugehörigkeit zum Staat nicht nur eine rechtliche Eigenschaft (Status), sondern durch eine wechselseitige und nicht nur einseitige Beziehung gekennzeichnet.27 Danach können die gegenseitigen Rechte und Pflichten unmittelbar aus diesem Rechtsverhältnis abgeleitet werden.28 Die Statustheorie vermittelt nämlich entgegen dem bisher herausgearbeiteten Prinzip der Wechselseitigkeit den Eindruck, als sei Staatsangehörigkeit mit einer eher einseitigen „Statusgewährung“ 29 verbunden.30 Insbesondere die „mit der Zugehörigkeit zu einem Staatswesen verbundenen Verantwortlichkeiten und Pflichten“ 31 des Staatsangehörigen selbst werden durch das Bild eines Rechtsverhältnisses besonders deutlich. Jedoch verliert der Streit erheblich an Virulenz, wenn man die Aussage der Statustheorie genauer betrachtet. Danach ist die Staatsangehörigkeit ein „Bereitschaftsstatus“ 32, der durch den Staat derart ausgestaltet werden muss, dass dieser bestimmte Rechtsverhältnisse zwischen Staat und seinen Mitgliedern erst vermittelt.33 Durch diese materielle Deutung des Statusbegriffs kann man von einer Annäherung an die Theorie vom Rechtsverhältnis sprechen.34 Freilich folgt daraus für den Inhalt der in diesem Rechtsverhältnis begründeten Rechte und Pflichten noch nichts Konkretes, da dieser nach beiden Theorien noch genauer bestimmt
26 Vgl. etwa Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 13 ff. 27 BVerfGE 37, 217 (239), wobei darauf hingewiesen sei, dass das Bundesverfassungsgericht sowohl den Begriff „Rechtsverhältnis“ als auch „Status“ verwendet. 28 Peter M. Huber/Kirsten Butzke, Das neue Staatsangehörigkeitsrecht und sein verfassungsrechtliches Fundament, NJW 1999, 2769 (2774). 29 Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, Grundlagen, B. Rn. 4. 30 Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, Grundlagen, B. Rn. 4. 31 Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, Grundlagen, B. Rn. 4. 32 Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 54. 33 Rolf Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 16 Rn. 56; vgl. zum regelungstechnischen Vorteil der Annahme eines Status Christian Walter, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72, S. 7 (13). 34 Vgl. Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 54 [„praktische Bedeutung der Kontroverse [. . .] begrenzt“].
I. Staatsangehörigkeit: Begriff – Funktion – Rechtsnatur
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werden muss.35 Andere Ansätze, nach denen die Staatsangehörigkeit als konkretes Rechtsverhältnis zu begreifen ist, aus dem gegenseitige Loyalitäts- und Treuebeziehungen bereits konkret und unmittelbar folgen36, leiten dies bei genauer Betrachtung nicht aus deren Rechtsnatur ab. Vielmehr wird dies mit völkerrechtlichen Einflüssen auf die Staatsangehörigkeit begründet37, sodass eine Treueanforderung schließlich doch erst aus einem materiellen Gehalt – mag er auch seine Quelle im Völkerrecht haben – abgeleitet wird. Allein aus der Rechtsnatur kann nicht auf bestimmte Rechte und Pflichten geschlossen werden.38 Denn sonst ist nicht erklärbar, warum denn ausgerechnet eine Treuepflicht, nicht aber eine allgemeine Gehorsamspflicht oder noch ganz andere Pflichten, schon unmittelbar aus dem Rechtsverhältnis folgen sollen. Dennoch ist es eine wichtige Erkenntnis, dass die aus der Staatsangehörigkeit erwachsende Beziehung überhaupt durch wechselseitige Rechte und Pflichten gekennzeichnet ist. Vergleicht man insoweit diese Beziehung mit einem Vertrag zwischen Bürger und Staat, so wird man – ähnlich der aus dem Schuldrecht bekannten Formel von „Treu und Glaube“ – durchaus schon inhaltlich in gewissem Umfang bestimmte Erwartungen und Forderungen feststellen können39, die nicht ohne Einfluss auf die typischen Rechte und Pflichten sein dürften. Daher ist die Charakterisierung der Staatsangehörigkeit als „Band“ besonders eingängig. Dies erinnert zumindest bereits insoweit an die Treue, als auch mit dieser eine bestimmte – auf eine gewisse Dauer und Intensität angelegte – Bindung einhergeht. Jedoch bedarf es weiterer – vor allem auf den materiellen Gehalt fokussierter – Argumente, um das Band der Staatsangehörigkeit als „TreueBand“ einordnen zu können.
35 Vgl. Thorsten Ingo Schmidt, Grundpflichten, S. 73 [Es gibt keinen für das abstrakte Rechtsverhältnis „begriffsnotwendigen Bestand“ von Rechten und Pflichten]; Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, Einführung Rn. 249 [„Bereitschaftsstatus [. . .], aus dem bestimmte Rechte und Pflichten gewöhnlich, jedoch nicht zwingend folgen“ – Hervorhebung im Original]. 36 So etwa Juliane Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 10 [„unmittelbar bestimmte Rechte und Pflichten“ – Hervorhebung durch den Verfasser]. 37 Juliane Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 13 [„Jedenfalls völkerrechtlich [. . .]“]. 38 Ebenso Thorsten Ingo Schmidt, Grundpflichten, S. 74 [„[. . .] ist eine Frage des Rechtsinhalts“ – Hervorhebung im Original]; Friedrich E. Schnapp, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 16 Rn. 5 [„Aus dem Begriff der Staatsangehörigkeit als solchem können grundsätzlich [. . .] keine über den ausdrücklichen Regelungsgehalt des Art. 16 I [. . .] hinausgehenden Rechtsfolgen abgeleitet werden.“ – Hervorhebung durch den Verfasser]. 39 Zum Vertragscharakter der Staatsangehörigkeit vgl. Jürgen Mackert/Hans-Peter Müller, Die Staatsbürgerschaft vor postnationalen Herausforderungen, in: dies. (Hrsg.), Moderne (Staats)Bürgerschaft. Nationale Staatsbürgerschaft und die Debatten der Citizenship Studies, S. 11, die den Begriff der „Staatsbürgerschaft“ im Sinne der Mitgliedschaft im Staat – also synonym zu „Staatsangehörigkeit“ – verwenden.
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
II. Völkerrecht und Staatsangehörigkeit Seinen Ursprung hat das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit im Völkerrecht. Hier ist seit jeher das originäre Recht eines Staates anerkannt, selbst zu bestimmen, wem er die Staatsangehörigkeit verleiht.40 Dieses Recht wird als Ausprägung seiner Souveränität verstanden. Diese souveräne Entscheidung muss von den anderen Staaten aber nur anerkannt werden – etwa durch die Duldung der Ausübung diplomatischen Schutzes –, wenn bestimmte Vorgaben des Völkerrechts eingehalten wurden.41 Hierbei ist für die Anerkennung einer fremden (souverän verliehenen) Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit der Ausübung diplomatischen Schutzes das vom IGH im Fall „Nottebohm“ 42 aufgestellte Erfordernis einer genuine connection zu beachten. Danach muss eine fremde Staatsangehörigkeit nicht anerkannt und die darauf gestützte Ausübung diplomatischen Schutzes nicht geduldet werden, wenn keinerlei Verbindung („genuine connection of existence, interests and sentiments“ 43) zwischen Individuum und Staat besteht. Für den Erwerb durch Geburt wird als solche „echte Verbindung“ die Abstammung von einem Staatsangehörigen (Abstammungsprinzip; sog. „ius sanguinis“) sowie die Geburt auf dem Gebiet des verleihenden Staates (Territorialprinzip; sog. „ius soli“) anerkannt.44 Die Entscheidung für ein bestimmtes Prinzip oder für eine – auch zulässige – Kombination beider Prinzipien dürfte von dem grundlegenden Verständnis der Staatsangehörigkeit und der damit jeweils verbundenen Konzeption von Staatsbürgerschaft zusammenhängen. Insbesondere für den Erwerb durch Einbürgerung spielt das genuine-connection-Erfordernis eine Rolle, da es einer willkürlichen Verleihung der eigenen Staatsangehörigkeit – völkerrechtlich – Grenzen setzt. Denn das Völkerrecht gibt als untere Grenze lediglich vor, dass es eine solche Verbindung überhaupt geben muss. Den Staaten steht es völkerrechtlich frei, weitaus höhere Anforderungen an diese genuine connection zu stellen. Auf die innerstaatliche Wirksamkeit des Verleihungsaktes haben die völkerrechtlichen Vorgaben ohnehin keinen Einfluss. Jedoch liegt der Nottebohm-Entscheidung des IGH eine bestimmte Idee von Staatsangehörigkeit zu Grunde, die im völkerrechtlichen Kontext durchaus gewichtige Gründe hat. Ihr liegt das Prinzip der effektiven Staatsangehörigkeit zu Grunde, wonach völkerrechtlich nur die Staatsangehörigkeit zu einem solchen Staat anerkannt ist, zu dem der Betroffene eine tatsächliche enge Verbindung 40 Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Haager Konvention über gewisse Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen vom 12.4.1930 [„Dem einzelnen Staate steht es zu, durch seine Gesetzgebung zu bestimmen, wer seine Staatsangehörigkeit besitzt.“]. Vgl. Thomas Giegerich, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 46. 41 Marcel Kau, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Abschnitt, Rn. 117, 119. 42 Vgl. IGH, Entsch. v. 6.5.1955, ICJ-Report 1955, 4. 43 IGH, Entsch. v. 6.5.1955, ICJ-Report 1955, 4 (23). 44 Andreas von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 83.
II. Völkerrecht und Staatsangehörigkeit
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aufweist.45 Der Gedanke findet sich schon in Art. 5 der Haager Konvention vom 12.4.1930, welcher das Zusammentreffen mehrerer Staatsangehörigkeiten betrifft. Danach ist in einem solchen Kollisionsfall nur die Staatsangehörigkeit zu dem Staat beachtlich, mit dem der Betroffene tatsächlich am engsten verbunden ist („in fact most closely connected“) – sog. „Prinzip der aktiven Staatsangehörigkeit“.46 Diese Überlegungen veranlassen dazu, die geforderte Qualität dieser „echten Verbindung“ genauer zu betrachten. Insbesondere die Formulierung von einer Verbindung in „Existenz, Interesse u[nd] Empfindungen“ 47 lässt eine subjektive Komponente hervortreten, die durchaus an eine „subjektive Verbundenheit“ – wie sie bei der inneren Treue beschrieben wurde – erinnert. Aber schon der Umstand, dass allein die Geburt auf dem Staatsgebiet („ius soli“-Prinzip) etwa genügen kann, zeigt, dass eine solche subjektive Komponente nicht zwingend gefordert wird. Auch bei der Einbürgerung dürfte – nach völkerrechtlichen Maßstäben – den Vorgaben entsprochen sein, wenn sich der Erwerber eine lange Zeit im Staatsgebiet aufgehalten hat. Eine innere Komponente wird demnach von Seiten des Völkerrechts – trotz der Formulierung von den sentiments – nicht gefordert sein. Denn der Zweck des genuine-connection-Erfordernisses soll weniger dem verleihenden Staat selbst dienen. Vielmehr soll die Völkerrechtsgemeinschaft vor willkürlicher Ausübung personalhoheitlicher Staatsgewalt geschützt werden. Eine Treue des einzelnen Staatsangehörigen gegenüber seinem eigenen Staat würde aber allein dem verleihenden Staat dienen; für die Völkerrechtsgemeinschaft spielt diese hingegen keine Rolle. Allerdings kann eine positive äußere Treue gegenüber einem bestimmten Staat – wie auch immer sich diese konkret zeigt – genügen, um eine genuine connection zu einem Staat zu begründen. Wird die Verleihung der Staatsangehörigkeit nämlich mit einer solchen äußeren Treue eines bestimmten Individuums gegenüber dem verleihenden Staat begründet, so stellt sie keine willkürliche Entscheidung und damit auch keine anhaltlose Begründung von Personalhoheit dar, gegen die die Völkerrechtsgemeinschaft geschützt werden müsste. Wer nämlich durch sein Verhalten auf die Erhaltung oder Pflege der Ordnung eines bestimm45 Vgl. Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, in: Georg Dahm (Begr.), Völkerrecht, Band I/2, S. 18 ff. zur Staatsangehörigkeit und ihrer Bedeutung auch für das Individuum. 46 Zur Unterscheidung von „aktiver“ und „effektiver“ Staatsangehörigkeit vgl. Jörn Axel Kämmerer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 39, wonach die aktive Staatsangehörigkeit nach Art. 5 der Haager Konvention eine Kollisionsregel und die effektive Staatsangehörigkeit nach der Nottebohm-Entscheidung eine Gültigkeitsregel darstellt. Trotz dieser Differenzierung liegt den beiden – wie dem Haupttext zu entnehmen ist – eine ähnliche Idee zu Grunde. 47 Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, Grundlagen, D. Rn. 22 als Übersetzung der Formulierung des IGH – Hervorhebung durch den Verfasser.
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
ten Staates hinwirkt, ist in besonderer Weise – erkennbar – mit diesem verbunden, auch wenn er etwa keinen dauerhaften Aufenthalt vorzuweisen hat. Damit kann man sagen, dass nach völkerrechtlichen Vorgaben die Treue zwar nicht notwendige, aber äußere Treue hinreichende Bedingung ist, um einem Individuum die Staatsangehörigkeit zu verleihen. Abschließend lässt sich sagen, dass dem Völkerrecht keine besonderen Anhaltspunkte für eine Treue zum Staat – schon gar nicht zu einer bestimmten Verfassung – entnommen werden können. Andererseits steht das Völkerrecht einer solchen Anforderung für die Verleihung von Staatsangehörigkeit auch nicht entgegen, da es die Regelungen dafür maßgeblich den Nationalstaaten kraft ihrer Souveränität überlässt.
III. Staatsbürgerschaft – ein Bündel von Rechten und Pflichten Die Staatsbürgerschaft wird meist als ein Bündel von Rechten und Pflichten48 umschrieben, welches aber – regelmäßig – eng mit der Staatsangehörigkeit verknüpft ist.49 Insoweit geht mit der Inhaberschaft der Staatsangehörigkeit die Trägerschaft bestimmter – typischer – staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten einher. Für bestimmte – insbesondere auf politische Teilhabe gerichtete – Rechte oder Pflichten wird dabei regelmäßig ein Gleichlauf zwischen der formalen Zugehörigkeit (Staatsangehörigkeit) und der materiellen Rechtsstellung (Staatsbürgerschaft) bestehen, auch wenn dieser vereinzelt durchbrochen wird, etwa durch Altersgrenzen, Grundrechtsverwirkung oder den hoheitlichen Entzug staatsbürgerlicher Rechte.50 1. Die staatsbürgerliche Loyalitätspflicht Ob zu diesem Bündel auch eine staatsbürgerliche Pflicht zur Loyalität gehören soll, wird unterschiedlich gesehen. Man könnte zumindest angesichts der Rede von „Loyalitätskonflikten“ im Zusammenhang mit dem Problem der Mehrstaatigkeit vermuten, dass eine gewisse Treue des Staatsbürgers gegenüber seinem Heimatstaat als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Jedoch ist damit meist eher eine Pflichtenkollision gemeint, die nicht Ausdruck echter Treue ist. Vielmehr ist 48 Christoph Conrad/Jürgen Kocka, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 9 (11 f.). 49 Vgl. John Breuilly, Über das Schreiben einer vergleichenden Geschichte der Staatsbürgerschaft im modernen Europa, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 29 (32); vgl. auch Hans-Georg Maaßen, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 16 Rn. 15, wonach die politischen Mitwirkungsrechte sogar verfassungsrechtlich notwendig an die Inhaberschaft der Staatsangehörigkeit geknüpft werden müssen. 50 Christian Walter, Der Bürgerstatus im Lichte von Migration und europäischer Integration, VVDStRL 72, S. 7 (16).
III. Staatsbürgerschaft – ein Bündel von Rechten und Pflichten
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sie Folge des allgemeinen Rechtsgehorsams einer Person, die der Personalhoheit mehrerer Staaten unterworfen ist. Konflikte entstehen dann eben bei miteinander unvereinbaren Normbefehlen, etwa wenn der Bürger von mehreren Staaten zur Wehrpflicht herangezogen werden soll.51 Insoweit wäre es wohl zutreffender, von Gehorsamskonflikten zu sprechen. Wenn aber von Staatsangehörigen eine echte Loyalität gar nicht zwingend gefordert wird, so kann durch Mehrstaatigkeit ein (echter) Loyalitätskonflikt im Grunde gar nicht entstehen.52 Vielmehr können (loyale) Verbundenheiten zu mehreren Staaten – falls solche faktisch bestehen (können)53 – erst durch mehrfache Staatsangehörigkeit überhaupt abgebildet werden. Mehrstaatigkeit lässt Loyalitäten also nicht etwa konfligieren, sondern festigt sie. Wo hingegen tatsächliche Bindungen durch die doppelte Staatsangehörigkeit nicht wiedergespiegelt werden, können „Fehlzuschreibungen [. . .] später korrigiert werden“ 54, etwa durch freiwillige Abgabe einer Staatsangehörigkeit. 2. Staatsbürgerschaft im demokratischen Verfassungsstaat Auch wenn in der Literatur meist von einem Treueverhältnis gesprochen wird55, liefert das Institut der Staatsangehörigkeit als solches keine normativen Anhaltspunkte dafür, dass allein ihre Inhaberschaft automatisch eine Treueverpflichtung nach sich zieht. Vielmehr müsste eine solche Verpflichtung erst durch Rechtsnormen konkretisiert werden. Loyalität kann danach zwar eine tatsächliche Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit sein, ist aber nicht deren unmittelbare normative Folge. Verfassungstreue kann vielmehr durch Gesetz zu einer Pflicht gemacht werden, welche an die Stellung als Staatsbürger tatbestandlich anknüpft. Insoweit entsteht diese Pflicht erst mittelbar im Wege der Auferlegung durch den Heimatstaat mittels bestimmter Rechtsnormen – ein Weg, durch den bekanntermaßen ebenso Rechte gewährt werden. Demnach hängt die Frage, ob eine Treuepflicht auferlegt 51 Vgl. Winfried Kluth, Variable Staatsbürgerschaftsrechte – eine Alternative zum Optionsmodell?, ZAR 2009, 134 (136) [„Loyalitätspflicht und der damit zusammenhängenden Rechtspflichten“]; ferner Julia Niesten-Dietrich, Integration und Staatsangehörigkeit, ZAR 2012, 85 (91), die das Bild des loyalen Untertans als veraltet bezeichnet; von „Treuepflicht“ spricht in diesem Zusammenhang BVerfGE 37, 217 (255) [„Konflikte mit einer fremden Staaten geschuldeten Loyalität“]. 52 Die genannten Pflichtenkollisionen müssen in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit dann völkerrechtlich durch bestimmte Kollisionsregeln (z. B. das Prinzip der aktiven Staatsangehörigkeit) aufgelöst werden. 53 Bejahend Egil Levits, Nationale Minderheiten als Herausforderung für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 293 (307 f.). 54 Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (87). 55 Vgl. statt vieler Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, Grundlagen, E. Rn. 5 [„Pflichten- u[nd] Treueverhältnis“].
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
werden kann, im Wesentlichen von den Verfassungsbestimmungen des jeweiligen Staates ab. Denn erst diese setzen der Ausübung von Hoheitsgewalt Grenzen – also insbesondere auch der Auferlegung bestimmter Pflichten. Damit wird die Frage, ob den Staatsbürgern Treue abverlangt werden darf, auf die Ebene der Verfassung verlagert. Diese kann Treue von ihren Bürgern einerseits ausdrücklich fordern. Art. 5 der Französischen Verfassung von 1791 ist ein Beispiel dafür. Danach hat der Bürger zu schwören, „der Nation, dem Gesetz und dem Könige treu zu sein und mit allen [seinen] Kräften die Verfassung des Königreiches [. . .] aufrechtzuerhalten.“ Dort wird positive Treue von den Bürgern eingefordert. Eine entsprechende Bestimmung fehlt im deutschen Grundgesetz. Hier ist es eine Frage der Verfassungsauslegung, welche Anforderungen abgeleitet werden können. Einfachgesetzliche Normbefehle müssen sich jedenfalls am Maßstab der verfassungsrechtlichen Freiheitsordnung (Grundrechte) messen lassen. Verfassungstreue ist in beiden Fällen eine Frage des Verfassungsrechts. Die Staatsbürgerschaft ist dabei allenfalls „Austragungsort“ jener Streitigkeiten um Rechte und Pflichten, ohne aber schon für sich allein eine normative Quelle konkreter Anforderungen zu sein. Insoweit ist das Bild des Staatsbürgers in den Augen des freiheitlichen Verfassungsstaates zu zeichnen. In diesem spielt etwa Gleichheit im staatsbürgerlichen Status eine herausgehobene Rolle, da es ohne sie keine Freiheit geben würde.56 Von besonderer Bedeutung für den demokratischen Staat ist das Recht zur politischen Teilhabe durch Wahlen. Dadurch üben die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit als Souverän – mittelbar oder unmittelbar – Staatsgewalt aus. Die Entscheidung über die Inhaberschaft der staatsbürgerlichen Rechte wird damit zur grundlegenden Frage über die – durch das Wahlrecht wirksame – Zugehörigkeit zum Souverän „Staatsvolk“. Die Brisanz dieses Umstandes wird deutlich, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: Das demokratisch legitimierte Parlament entscheidet in Gestalt der Gesetze, die die Verleihung der Staatsangehörigkeit regeln, über die Zusammensetzung des Staatsvolkes, von dem es selbst gewählt wurde und wird.57 Um eine damit verbundene „Selbstlegitimation des Gesetzgebers“ 58 zumindest einzugrenzen, darf die Verleihung des Wahlrechts und demnach auch des Staatsbürgerstatus nicht zur vollkommen freien Disposition des Gesetzgebers stehen. Das Demokratieprinzip selbst bildet insoweit eine Schranke, da aus diesem die Notwendigkeit einer Legitimationskette „von unten nach oben“ und eben
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Ulrike Ackermann, Freiheit und Gleichheit, in: APuZ 34–36, S. 24 (25). Vgl. Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 175 ff. [„Legitimationskette [. . .] gleichsam auf den Kopf gestellt“]. 58 Norbert Bernsdorff, Probleme der Ausländerintegration in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 279 ff., 367 ff.; vgl. Brun-Otto Bryde, in: Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 238 (261 ff.); zusammenfassend Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 176 ff. 57
III. Staatsbürgerschaft – ein Bündel von Rechten und Pflichten
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nicht umgekehrt folgt.59 Insbesondere für das Wahlrecht wird so also deutlich, dass auch die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte – nicht nur die Auferlegung von Pflichten – bestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben einzuhalten hat. 3. Wahlrecht als Indikator für die Konzeption von Staatsbürgerschaft Die im jeweiligen Staat historisch gewachsene und vorherrschende Konzeption von Staatsbürgerschaft hat Einfluss darauf, welche Voraussetzungen der Staat an den Erwerb des Staatsbürgerstatus stellt und welche Bedeutung er diesem für den Erwerb bestimmter Rechte überhaupt noch beimisst. Welche Anforderungen ein Staat an den Staatsbürger als solchen – im Gegensatz zu sonstigen Gewaltunterworfenen – stellt, lässt sich nicht zuletzt daraus ableiten, welche Bedingungen er an die Inhaberschaft des Rechts zur politischen Teilhabe durch Wahlen stellt. Denn dieses Recht weist den Staatsbürger als solchen erst aus. Die konkrete Ausgestaltung des nationalen Wahlrechts liefert daher wertvolle Anhaltspunkte für die vorausgesetzten Mindestanforderungen an die Inhaberschaft dieses privilegierten Status. Der Bürger muss etwa ein bestimmtes Mündigkeitsalter erreicht haben60, um die Einsichtsfähigkeit in das politische System und die Bedeutung des mit der Wahl verbundenen Legitimationsaktes zu gewährleisten.61 Mit dem Wahlrecht geht also grundsätzlich eine bestimmte Reifeanforderung einher. Ferner wird oft ein bestimmter territorialer Bezug durch eine Aufenthaltsanforderung (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG) verlangt. Interessant sind dahingehend die Vorschriften des deutschen Wahlrechts über die Wahlberechtigung so genannter „Auslandsdeutscher“ gemäß § 12 Abs. 2 BWahlG. Hier wird neben der Staatsangehörigkeit entweder ein territorialer Bezug zum Staat (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) oder ein anderer Beleg für eine „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland“ (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG) gefordert. Der Gesetzgeber will durch diese Aufenthaltsanforderungen ein Mindestmaß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten des Staates sowie eine gewisse Bindung zu diesem sicherstellen.62 Die Erwägung, das Wahlrecht an die Sesshaftigkeit zu knüpfen, entspricht auch den Vorgaben des Grundgesetzes.63 Dass der Gesetzgeber eine Ausnahme davon bei anderweitig begründeter Verbundenheit vorsieht – etwa für Beamte, die auf Anordnung ihres Dienstherrn dauerhaften Aufenthalt 59 Die Überlegung, ob aus dem Demokratieprinzip selbst auch die Notwendigkeit einer demokratischen Gesinnung der Mehrheit der Mitglieder des Souveräns folgen soll, wird an anderer Stelle entfaltet; vgl. dazu unter E. I. 1. b). 60 Vgl. etwa § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG [„das achtzehnte Lebensjahr vollendet“]. 61 Wolfgang Schreiber (Hrsg.), BWahlG-Kommentar, § 12 Rn. 9. 62 Wolfgang Schreiber (Hrsg.), BWahlG-Kommentar, § 12 Rn. 13. 63 BVerfGE, 36, 139 (142); vgl. schon früh BVerfGE 5, 2.
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
im Ausland genommen haben –, bestätigt die gesetzgeberische Erwägung. Denn in solchen Fällen wird die Abwesenheit durch eine enge Verbundenheit von Berufs wegen kompensiert.64 Im deutschen Wahlrecht indiziert also ein territorialer Bezug zu Deutschland eine Möglichkeit zur Identifikation mit der Wertordnung weit mehr als die formale Staatsangehörigkeit. Diese Ausgestaltung kann vorgreifend bereits als Konfrontationszumutung interpretiert werden.65 Wer durch Entfernung vom Staatsgebiet dauerhaft die Konfrontation mit der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung vermeidet, soll die Geschicke des verlassenen Staates eben nicht mehr mitbestimmen. Die stärkste Form der Bindung zu einem Staat ist die innere Treue durch Identifikation. Diese ist zwar als solche nicht tatbestandliche Voraussetzung für das Wahlrecht, aber sie soll wohl – nach der gesetzgeberischen Intention – ermöglicht werden. Zwei zentrale Annahmen scheinen dem zu Grunde zu liegen. Erstens: Die Inhaberschaft des Wahlrechts setzt zumindest eine bestimmte Möglichkeit der Identifikation zum Staat voraus, die bei territorialem Bezug nach Erreichen eines bestimmten Alters (vgl. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) angenommen wird. Durch den Aufenthalt besteht die Möglichkeit, den Staat und seine Wertordnung kennen zu lernen und sich mit ihr zu identifizieren. Zweitens: Diese Identifikationsmöglichkeit wird nicht allein durch die Staatsangehörigkeit indiziert. Wenn die formale Zugehörigkeit der Staatsangehörigkeit nicht durch andere Bezugspunkte zu dem Staat ergänzt wird, so ist eher das Gegenteil von Identifikation indiziert. Die Staatsangehörigkeit ist zwar notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung für die Wahlberechtigung. Sie muss vielmehr erst mit „Leben gefüllt“ werden. Wenn also das personale Band der Staatsangehörigkeit für sich allein eine Identifikationsvermutung noch nicht begründet, so kann man aus der vorliegenden exemplarischen Ausgestaltung des Wahlrechts ableiten, dass der deutsche Gesetzgeber etwa neben einem personalen zumindest auch von einem territorialen Element der Identifikationsvermutung ausgeht. Ohne jeglichen territorialen Bezug ist eine Identifikation schließlich schwerlich möglich. Man könnte einem langjährigen Aufenthalt in einem Staat sogar eine viel weitreichendere Bedeutung für die Identifikation beimessen als der bloß formalen Staatsangehörigkeit. Wie soll auch allein der deutsche Pass in der Tasche dem schon vor 30 Jahren nach Indien ausgewanderten Staatsbürger die Verfassungsordnung erlebbar machen und so Identifikation ermöglichen? Hingegen dürfte dies dem Bürger ohne Staatsangehörigkeit, der sich aber schon viele Jahre im Inland aufhält, viel eher möglich sein. Hier kann die Verleihung bestimmter mit der Staatsangehörigkeit verbundener Rechte die Identifikation mit dem Staat vielmehr noch weiter för64 65
BVerfGE, 36, 139 (142). Vgl. näher dazu C. II. 4. und D. I. 4.
IV. Staat und Nation – Konzeptionen von Staatsbürgerschaft
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dern. In diesem Spannungsfeld wird auch die rechtspolitische Debatte um die Funktion der Einbürgerung ausgetragen: Während sie von manchen als Ziel gelungener Integration verstanden wird, ist sie für die anderen ein Mittel zu deren Förderung. Beide Lager gehen aber von der Notwendigkeit eines langjährigen Aufenthalts im Inland aus. Dies zeigt, dass dieser eher geeignet ist, eine Identifikation zu vermitteln als allein die Staatsangehörigkeit. Staatsangehörigkeit schließt nach diesem Verständnis des Wahlgesetzgebers Identifikation noch nicht notwendig mit ein. Aber letztlich dürfte auch der territoriale Bezug nicht mehr sein als ein Wegbereiter für Identifikation und nicht schon ein Garant für diese.
IV. Staat und Nation – Konzeptionen von Staatsbürgerschaft Staatsbürgerschaft verkörpert Inklusion und Exklusion. Durch die Festlegung von Auswahlkriterien für den Zugang zum Staatsverband werden bestimmte Menschen ein- und andere ausgeschlossen.66 Dabei haben sich historisch typische Auswahlkriterien herausgebildet. Eine soziologische und historische Analyse dieser Kriterien soll an dieser Stelle nicht erfolgen.67 Vielmehr werden die Auswirkungen tradierter Konzeptionen von Staatsbürgerschaft auf die Anforderungen an den Staatsbürger dargelegt. Dabei wird herausgearbeitet, welches Maß an Treue konzeptionell gefordert wird. Das jeweilige Nationenverständnis wird berücksichtigt. 1. Die Unterscheidung von Kultur- und Staatsnation Mit der Verleihung der Staatsangehörigkeit wird über die „persönliche ,Würdigkeit‘ zur Aufnahme in die Staatsbürgerschaft“ 68 entschieden. Da die Entwicklung moderner Staatsbürgerschaft vornehmlich in den Nationalstaaten stattgefunden hat, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Nation, genauer danach, ob die Zugehörigkeit zur Nation eine Voraussetzung für Staatsbürgerschaft darstellt oder aber deren Folge ist.69 Insoweit haben sich historisch im We66 Vgl. Yasemin Nuhoglu Soysal, Staatsbürgerschaft und Identität. Zur Fragwürdigkeit des Konzepts der Diaspora im modernen Europa, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 144 (150), wonach infolge der Entkoppelung von Rechten und Identität die Bedeutung der inkludierenden Wirkung der Staatsbürgerschaft zunehmend verloren geht. Insoweit kommt es eben – wie bereits im vorherigen Abschnitt dargelegt – mehr auf die Rechtsstellung als auf den Status selbst an. 67 Vgl. dazu ausführlich Patrick Weil, Zugang zur Staatsbürgerschaft – ein Vergleich von 25 Staatsangehörigkeitsgesetzen, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 92 ff. 68 Dieter Gosewinkel, Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 48 (48). 69 John Breuilly, Über das Schreiben einer vergleichenden Geschichte der Staatsbürgerschaft im modernen Europa, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 29 (44).
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
sentlichen zwei entgegengesetzte Konzeptionen von Staatsbürgerschaft herausgebildet, von denen Deutschland diejenige der Kulturnation und Frankreich diejenige der Staatsnation repräsentiert.70 In beiden Konzeptionen kommt das in dem jeweiligen Staat vorherrschende und historisch tradierte Verständnis der Nation zum Ausdruck.71 Der Begriff der „Nation“ bezeichnet zunächst als Kategorie der politischen Wirklichkeit – weniger als Rechtsbegriff – den „freiwillige[n] Zusammenhalt einer Gruppe, geleitet von dem Willen, in staatlicher Form füreinander einzustehen“.72 Sie ist damit eine „politisch orientierte Bewußtseinsgesamtheit“ 73, die als solche im Gegensatz zum reinen „Volk“ 74 auf Grund ihres Bewusstseins um die eigene Identität (politisch) handlungsfähig und handlungswillig ist.75 Insoweit basiert die Einheitsstiftung in einer Nation auf dem subjektiven Element des Willens der beteiligten Menschen.76 Dieser kann aber als historisch gewachsene Wirklichkeit durch den Staat nur begrenzt reguliert und schon gar nicht erzwungen werden.77 Vielmehr entsteht ein solcher einheitsstiftender Wille aus unterschiedlichen Gemeinsamkeiten ethnisch-kultureller, religiöser, sprachlicher Art oder aus geteilten historischen Erfahrungen oder politischen Hoffnungen.78 Zwar kann der Staat bestimmte objektive Gemeinsamkeiten durch das Institut der Staatsangehörigkeit konstruieren. Solche „objektiven Momente der [. . .] Gemeinsamkeit sind [jedoch] nur bedeutsam, soweit sie im allgemeinen Bewußtsein politisch wirksam und anerkannt werden“.79
70 Vgl. insbesondere die Studie von Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich. 71 Dieter Gosewinkel, Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 48 (48). 72 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 122. 73 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, S. 38. 74 Auch dieser Begriff kann als vorstaatliche Größe begrifflich noch ausdifferenziert werden. Hier soll es jedoch nur um die Nation gehen. Wenn nachfolgend von „Volk“ die Rede ist, so ist damit lediglich das Staatsvolk als die Summe der Staatsangehörigen gemeint. Die Einführung eines zusätzlichen soziologischen Terminus des „Volkes“ ist für die vorliegende Untersuchung nicht notwendig. 75 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, S. 38; vgl. auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 79 [„Willen zur politischen Existenz“]. 76 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 123 [„Nation ist Willenseinheit“]. 77 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, S. 43; vgl. auch Josef Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in: Schwab/Giesen/Listl/Strätz (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, S. 705 (709): [„Die Summe der Staatsangehörigen ergibt noch keine Nation.“]. 78 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 123. 79 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 123.
IV. Staat und Nation – Konzeptionen von Staatsbürgerschaft
49
Nach der Idee der Kulturnation geht die Nation als ethnisch-kulturelle Zuordnungseinheit dem Staat als politische Institution voraus. Eine gefühlte Einheit wird in der Organisationsstruktur des Staates verfestigt.80 Dieses Junktim zwischen Kulturnation und Staatsvolk wird bisweilen unspezifisch als Nationalstaatsprinzip bezeichnet.81 Jedoch erheben die meisten modernen Staaten den Anspruch, ihre Souveränität von einer Nation abzuleiten. So gesehen ist nahezu jeder Staat ein Nationalstaat. Das beruht vor allem auf einer minimalistischen Definition, nach der ein Nationalstaat sich dadurch auszeichnet, dass er der Staat „einer bestimmten, klar unterschiedenen, begrenzten Nation“ zu sein beansprucht.82 Allein die Kriterien für die Zugehörigkeit zu dieser Nation können ethnisch-kulturell oder rein rechtlich-politisch bestimmt werden. Daher empfiehlt sich eine terminologische Differenzierung, wonach die ethnisch-kulturelle Ausgestaltung als kulturnationale Variante des Nationalstaatsprinzips bezeichnet wird.83 Nach der Idee der Staatsnation wird die Nation dagegen als subjektiv-politische Zuordnungseinheit erst durch den Staat konstituiert.84 Hier ist der Staat darauf angewiesen, dass eine entsprechende Willens- und Bewusstseinsbildung dieser Konstituierung nachfolgt. Besonders eine Staatsnation wird daher durch spezielle Integrationsmaßnahmen auf solch eine subjektive Basis hinzuwirken haben. In beiden Konzeptionen ist der Vorgang der Nationsbildung auch ein solcher der Abgrenzung, der das Gemeinsame gerade durch den Gegensatz zu anderen herausbildet.85 Diese Abgrenzung kann historisch vorstaatlich gewachsen sein oder durch den Staat im Wege des Staatsangehörigkeitsrechts vorgenommen werden. In beiden Fällen wird eine exklusive Wirkung erzeugt. In Deutschland galt lange die Konzeption einer Kulturnation als vorherrschend. Es wurde vielfach gefordert, dass die (deutsche) Staatsangehörigkeit nur an diejenigen Personen verliehen wird, die der (deutschen) Kulturnation angehören oder hinreichend in sie integriert sind.86 Das danach notwendige „geistig80
Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 120. Etwa bei Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, 437–444. 82 Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (82). 83 Vgl. zu dieser Terminologie Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 156. 84 Vgl. zur Differenzierung Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 9 ff. 85 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, S. 42. 86 Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, 437 (441); Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (151 ff.); ablehnend Kay Hailbronner, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, Grundlagen, A. Rn. 26. 81
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
seelische [. . .] Beziehungsgeflecht“ 87 des Bürgers zum Staat soll eine bestimmte „materielle Substanz der Staatsangehörigkeit“ 88 sicherstellen.89 Die Staatsangehörigkeit ist nach einer solchen Konzeption gerade keine „nach Belieben ausfüllbare juristische Zuordnungshülse“.90 Traditionell werden danach zwischen der Nation und ihren Angehörigen gegenseitige Treuepflichten begründet.91 Freilich ist damit über deren Rechtsnatur oder darüber, ob sie überhaupt eine rechtliche Dimension haben, noch nichts gesagt. Auch insoweit kann der Staat entweder an eine vorgefundene Nation bestimmte rechtliche Folgen knüpfen oder aber eine Nation erst schaffen. Die Verknüpfung zwischen der Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation und der deutschen Staatsangehörigkeit kann in der staatsangehörigkeitsrechtlichen Ausgestaltung durch eine überwiegende Anwendung des ius-sanguinis-Erwerbs sichergestellt werden. Danach wird die Staatsangehörigkeit mit der Geburt durch Abstammung von einem Inhaber dieser Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes erworben. Als Gegenmodell wurde der ius-soli-Erwerb geläufig, wonach die Staatsangehörigkeit mit der Geburt auf dem Territorium des verleihenden Staates kraft Gesetzes erworben wird. In beiden Fällen wird aber die Staatsangehörigkeit mit der Geburt und damit ohne persönlichen Mitwirkungsakt des Erwerbers zugeschrieben.92 Im Gegensatz zum Erwerb durch Einbürgerung mit ihren unklaren Integrationserfordernissen ermöglicht der Erwerb kraft Geburt als „unzweideutiges Ereignis“ 93 eine eindeutige Zuordnungsentscheidung.94 Damit bleibt die Entscheidung über die Kriterien für die Zugehörigkeiten dem Gesetzgeber und nicht der Verwaltung überlassen. Warum aber ist unter den originären Erwerbstatbeständen gerade das ius sanguinis in solchen Staaten vorherrschend, die eine besondere Verknüpfung von Staat und Kulturnation sicherstellen wollen? Dies beruht auf der Annahme einer
87 Otto Uhlitz, Deutsches Volk oder „Multikulturelle Gesellschaft“? RuP 22, S. 143 (147). 88 Otto Uhlitz, Deutsches Volk oder „Multikulturelle Gesellschaft“? RuP 22, S. 143 (147). 89 Vgl. auch Albert Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397 (1399); Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (153). 90 Otto Uhlitz, Deutsches Volk oder „Multikulturelle Gesellschaft“? RuP 22, S. 143 (147). 91 Albert Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397 (1399). 92 Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (87). 93 Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (87). 94 Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (87).
IV. Staat und Nation – Konzeptionen von Staatsbürgerschaft
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familiär vermittelten Integration – etwa in die deutsche Kulturnation – bei Abstammung von einem Deutschen.95 Es wird eine entsprechende Bindung zum Staat und der ihm zu Grunde liegenden Kulturnation allein wegen der familiären Gemeinschaft mit einem bereits integrierten Elternteil angenommen.96 Diese familiäre Gemeinschaft mit Deutschen erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine enge Bindung – bestenfalls sogar Treue – zur deutschen Gesellschaft und zum deutschen Staat mit der Zeit entwickelt.97 In einer Staatsnation hingegen wird dieses Prinzip noch um den ius-soli-Erwerb ergänzt. So erhalten etwa in Frankreich geborene Kinder die französische Staatsangehörigkeit, wenn mindestens ein Elternteil ebenfalls in Frankreich geboren ist.98 Die Integration wird durch den territorialen Bezug ermöglicht – aber nicht bereits vermutet. Die Identität einer solchen Nation wird eben nicht nach ethnischen, sondern vielmehr nach „politisch-willentliche[n]“ Kriterien bestimmt.99 Die Zugehörigkeit manifestiert sich in einem freien Bekenntnis zum Staat, das durch politische Teilhabe und eine damit verbundene – zumindest minimale – „Assimilationsbereitschaft“ 100 aktualisiert wird. Insoweit erklärt sich, warum die Hürden für den Zugang zum deutschen Staatsverband traditionell höher waren als jene zum französischen Staatsverband. Letzterer war historisch stärker auf Zuwanderung und auf eine Vergrößerung seines Staatsvolkes angewiesen.101 Dies zeigte sich auch in der entsprechenden Einbürgerungspraxis. Die 95 Rolf Grawert, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, Der Staat 23, S. 179 (192). 96 Vgl. BVerfGE 37, 217 (246), wonach die – inzwischen nicht mehr für in Deutschland aufgewachsene Doppelstaater geltende (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 StAG n. F.) – Optionsobliegenheit gemäß § 29 StAG a. F. mit Art. 3 GG vereinbar war, weil ein Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ein Kind ausländischer Eltern nach dem ius-soliPrinzip nicht in gleichem Maße wie die familiäre Verbundenheit eine Nähe zum deutschen Staatsvolk impliziere. Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (88) spricht von „Präsumtion der Zugehörigkeit“. 97 Rogers Brubaker, Staatsbürgerschaft als soziale Schließung, in: Holz (Hrsg.), Staatsbürgerschaft. Soziale Differenzierung und politische Inklusion, S. 75 (88). 98 Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich, S. 116 f. Zwar kann seit dem 01.01.2000 die deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich nach dem ius soli-Prinzip erworben werden. Dazu muss jedoch gemäß § 4 Abs. 3 StAG ein verfestigter Aufenthaltsstatus eines Elternteils bestehen. Von einem automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit ab der zweiten Zuwanderergeneration wie in Frankreich unterscheidet sich diese Regelung demnach noch erheblich. Mit dieser Reform öffnet sich das deutsche Recht demnach nicht vollständig hin zu einer echten Staatsnation. Dennoch ist damit eine gewisse Tendenz der Abwendung von einer reinen Kulturnation sicherlich nicht von der Hand zu weisen. 99 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, S. 45. 100 Dieter Gosewinkel, Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 48 (52). 101 Dieter Gosewinkel, Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 48 (54).
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
Bereitschaft zur Integration – oder gar Assimilation – spielt in einer Kulturnation im Vorfeld der Einbürgerung eine weitaus größere Rolle als in einer Staatsnation. Damit dürfte jedoch gerade letztere auf weitere Garantien für erfolgreiche Integration nach der Einbürgerung angewiesen sein, da allein der territoriale Bezug eine solche eben nur ermöglicht, aber nicht schon – wie beim Abstammungsprinzip – eine Vermutung für eine solche besteht.102 2. Integration als materielle Dimension der Staatsangehörigkeit Der Akt der Einbürgerung ist auch Ausdruck eines bestimmten verfassungsrechtlichen Selbstverständnisses eines Staates. Er erfolgt auch nicht ohne bestimmte politische Zielsetzungen.103 Insoweit kommt der Staatsangehörigkeit in ihrer materiellen Dimension zusätzlich eine bestimmte Integrationsfunktion zu.104 Die materielle Dimension der Staatsangehörigkeit wird aber erst durch den jeweiligen Gesetzgeber näher ausgestaltet, sodass diese nur innerhalb eines bestimmten Staates zum eigentlichen Wesen der Staatsangehörigkeit gehört.105 Nach dem traditionell ethnisch-nationalen Staatsbürgerschaftsverständnis Deutschlands106 wird von einem Staatsbürger etwa eine hinreichende Integration in die deutsche Kulturnation erwartet, bevor er eingebürgert wird. Insoweit genügt allein ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht einmal. Es wird weit mehr verlangt, nämlich auch „hinreichende Kenntnis der deutschen Sprache, Kultur und Institution [sowie] der Wille zur Zugehörigkeit zur deutschen Nation und ein gewisses Gefühl der gegenseitigen Solidarität“.107 Eine traditionelle Staatsnation könnte sich regelmäßig mit einem Bekenntnis zur politischen Ordnung begnügen, die den Staat konstituiert.108 Seine Identität 102 Vgl. Albert Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397 (1399). 103 Otto Uhlitz, Deutsches Volk oder „Multikulturelle Gesellschaft“? RuP 22, S. 143 (147). 104 Vgl. Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (152 f.). [„Die Erlangung deutscher Staatsangehörigkeit soll vielmehr den Integrationsprozess selbst erleichtern“]. 105 Vgl. Rolf Grawert, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, Der Staat 23, S. 179 (195), wonach der materiale Gehalt der Staatsangehörigkeit der „spezifischen Lage des Staates und dessen Verfassung“ entspreche. 106 Vgl. Claudia Diehl/Michael Blohm, Die Entscheidung zur Einbürgerung. Optionen, Anreize und identifikative Aspekte, in: Kalter (Hrsg.), Migration und Integration, S. 437 (439 ff.). 107 Albert Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397 (1399); vgl. auch Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (153) zur Unterscheidung von objektiven und subjektiven Kriterien der Nation. 108 Das geltende französische Recht fordert allerdings ebenfalls Sprachkenntnisse und Kenntnisse der französischen Geschichte, Kultur und Gesellschaft. Dies ist aber wohl weniger als Anhaltspunkt für eine ethnisch-kulturelle Tradition zu verstehen als
IV. Staat und Nation – Konzeptionen von Staatsbürgerschaft
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ergibt sich aus dem gemeinsamen Willen zu ebendieser politischen Ordnung.109 Dies muss jedoch nicht zwingend durch eine verbale Bekenntnisanforderung erfolgen. Vielmehr kann sich ein solches auch durch Teilhabe am Verfassungsleben aktualisieren. Nation ist dann – wie es Ernest Renan beschrieb – ein sich täglich wiederholendes Plebiszit (franz. „plebiscite de tous les jours“).110 Insoweit kann als Ausdruck der Integrationsfunktion der Staatsangehörigkeit diese auch mit dem Ziel der Erzeugung von Treue zur politischen Ordnung verliehen werden. Die Staatsbürger erhalten nämlich erst durch ihren Status die Berechtigung, an ebendiesem Plebiszit mitzuwirken. Das Band der Treue ist dann eben nicht Bedingung für die Teilhabe, sondern das Ergebnis politischer Aktualisierung des Willens zur Zugehörigkeit. Treue wird damit nur mittelbar durch Staatsangehörigkeit „erzeugt“. Die Einbürgerung dient so als Instrument der staatlichen Integrationssteuerung. Gelegentlich wird bisweilen schon ein heterogener Nationalstaat als Vorstufe eines liberalen Weltstaates beschworen.111 In einem solchen erfolgt die Verleihung gleicher Rechte an Personen mit unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Wurzeln, sodass der Staat eben nicht mehr auf der traditionellen Nation aufbaut.112 Die für das Zusammengehörigkeitsgefühl notwendige „einigende Idee“ eines solchen Staates wird als „Verfassungspatriotismus“113 bezeichnet. Dahinter steht die Vorstellung davon, dass die freiheitlichen demokratischen Verfassungsprinzipien ausreichen, um eine gemeinsame Identität auszubilden.114 Diese Identität wird dann eben nicht in vorgegebenen ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten, sondern in der Ausübung demokratischer Teilhabe- und Kommunikationsgrundrechte aktualisiert.115 Staatsbürger wird man dann durch die Teilhabe an diesem politischen Diskurs in Verbindung mit einem Bekenntnis zu seinen frei-
vielmehr ein Hinweis auf ein bestimmtes politisches Integrationsinteresse. Die administrative Umsetzung dieser Anforderungen dürfte entsprechend liberaler erfolgen als in Deutschland. 109 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, S. 45. 110 Ernest Renan, Was ist eine Nation? – Vortrag in der Sorbonne am 11. März, in: Jeismann, Michael (Hrsg.), Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, S. 290 (309). 111 Lothar Rilinger, Die Europäisierung des Einbürgerungsrechts, ZRP 1995, 372 (372). 112 Lothar Rilinger, Die Europäisierung des Einbürgerungsrechts, ZRP 1995, 372 (372). 113 Der Begriff stammt in seinem Ursprung wohl von Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus. 114 Vgl. etwa Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 125, der eine solche einheitsstiftende Kraft der Verfassung ablehnt [„kein Ersatz für die Nation“]. 115 Lothar Rilinger, Die Europäisierung des Einbürgerungsrechts, ZRP 1995, 372 (373).
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
heitlichen demokratischen Grundregeln.116 Aber auch der heterogene Nationalstaat erfordert – wie alle Konzeptionen von Staatsbürgerschaft – ein gewisses Maß an Homogenität.117 Während in einer Kulturnation die ethnisch-kulturelle Homogenität bereits dem staatsbürgerlichen Status vorausgehen soll, wird selbst in einem heterogenen Nationalstaat eine bestimmte Homogenität durch die Staatsbürgerschaft und die mit ihr verbundene politische Einigung geschaffen. Allein das Ausmaß und der Bezugspunkt der Homogenität unterscheiden sich. Ohne eine bestimmte Homogenität – und sei sie auch auf ein Mindestmaß reduziert – werden nämlich ein Staat und eine Gesellschaft nicht bestehe können. Insoweit wird die Staatsbürgerschaft auch zum Indikator für das historisch gewachsene und politisch gewollte Maß an Homogenität eines Staatsvolkes sowie zum rechtlichen Instrument für ihre Erhaltung. Im Ergebnis kommt es also stets auf das Selbstverständnis eines Staates an, welches – meist in der Verfassung manifestiert – zur normativen Grundlage seines Staatsangehörigkeitsrechts wird. Demnach prägt das Selbstverständnis eines Staates seine Idee der Staatsangehörigkeit und damit ihren materiellen Gehalt.
V. Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz Dem Grundgesetz eine Idee der Staatsangehörigkeit zu entnehmen, ist gar nicht leicht. Auf einen materiellen Gehalt von Staatsangehörigkeit legt es sich nicht ausdrücklich fest. Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland und damit Inhaber voller staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten ist regelmäßig derjenige, der auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. So drückt es das Grundgesetz in Art. 116 Abs. 1 GG aus. Damit erschöpft sich sein Regelungsumfang zur Staatsangehörigkeit dann aber auch. Das Grundgesetz schweigt über nähere Vorgaben zu den Erwerbsvoraussetzungen. Es normiert keine Anforderungen, die Bewerber zu erfüllen hätten, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Daher soll nachfolgend noch einmal speziell darauf eingegangen werden, inwieweit dem Grundgesetz Anhaltspunkte für materielle Vorgaben an den Erwerb der Staatsangehörigkeit und damit die Erlangung des staatsbürgerlichen Status zu entnehmen sind, die über dieses prima facie erkennbare Schweigen hinausgehen. 1. Nationalstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Vorgabe? Im Mittelpunkt der Analyse verfassungsrechtlicher Vorgaben für die deutsche Staatsangehörigkeit steht die Frage, ob das Grundgesetz eine kulturnationale Variante des Nationalstaatsprinzips implementiert hat. Dann nämlich würden mit 116
Lothar Rilinger, Die Europäisierung des Einbürgerungsrechts, ZRP 1995, 372
(372). 117 Vgl. nur Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, 121–128.
V. Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz
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dem Erwerb der Staatsangehörigkeit in materieller Hinsicht die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation und eine Integration in den deutschen Nationalverband einhergehen.118 In diesem Fall würde vom Staatsbürger – und demnach auch vom Einbürgerungsbewerber – eine hinreichende Integration in ebendiese deutsche Kulturnation verlangt werden, die möglicherweise weit über ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinausgeht. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt dem Grundgesetz zunächst einmal ein Junktim zwischen der Eigenschaft als Deutscher nach Art. 116 GG und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk und damit zum Kreis der Wahlberechtigten.119 Damit soll die demokratische Legitimation sichergestellt werden, welche eben nur – außer bei den Statusdeutschen (vgl. Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 GG) – durch das formale Band der Staatsangehörigkeit vermittelt werden könne. Besteht aber auch ein Junktim zwischen der Zugehörigkeit zum Staatsvolk und der Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation? Gibt es im Grundgesetz Anhaltspunkte für materielle Vorgaben, die eine Person zu erfüllen hat, bevor sie den formalen Status des Staatsangehörigen und damit die Zugehörigkeit zum Staatsvolk erwerben kann? Im Ausgangspunkt geht Art. 116 Abs. 1 GG davon ausgeht, dass allein der Parlamentsgesetzgeber über das Staatsangehörigkeitsrecht den Kreis der Staatsangehörigen und damit der „Deutschen im Sinne des Grundgesetzes“ festlegen kann. Vereinzelt werden dagegen verfassungsrechtliche Vorgaben in das Grundgesetz hineingelesen, welche der gesetzgeberischen Freiheit Grenzen setzen sollen. So solle etwa das Erfordernis „deutscher Volkszugehörigkeit“ bei den Statusdeutschen, was als Einbettung in die deutsche Kulturnation zu verstehen sei, auf eine generelle grundgesetzliche Verankerung eines Rückgriffs auf die Kulturnation hinweisen.120 Nach der einfachgesetzlichen Definition in § 6 Abs. 1 BVFG ist deutscher Volkszugehöriger, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ Somit sei neben der Erfüllung objektiver Merkmale auch ein subjektives Element – namentlich ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum – erforderlich, um – vermittelt durch das Merkmal der deutschen Volkszugehörigkeit – zum Deutschen im Sinne des Grundgesetzes zu werden. Durch diese Norm ist der Terminus der deutschen Volkszugehörigkeit
118 So Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (153); ebenso Albert Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397 (1399). 119 BVerfGE 83, 37 (51 f.); vgl. dazu im Zusammenhang mit dem Kommunalwahlrecht für Ausländer Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, 437 (437). 120 Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, 437 (441).
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
nicht mehr nur eine ethnische, sondern eine rechtliche Kategorie geworden.121 Geht man einmal davon aus, dass die Verfassung diesen – einfachgesetzlich konkretisierten – Begriff der Volkszugehörigkeit tatsächlich zu Grunde legt122, so darf man für die Statusdeutschen von einer solchen Bekenntnisanforderung durch die Verfassung mit gutem Grund ausgehen. Begreift man zudem die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes als historisch gewachsenen politisch-kulturellen Bestandteil dieses „Volkstums“, so lässt sich möglicherweise sogar die verfassungsrechtliche Forderung nach einem Treuebekenntnis für die Statusdeutschen rechtfertigen. Jedoch handelt es sich bei Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 GG gerade um eine Ausnahmevorschrift, welche nur für die besondere Situation in der Nachkriegszeit überhaupt geschaffen wurde.123 Die Übertragung der Notwendigkeit „deutscher Volkszugehörigkeit“ auf Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 116 Abs. 1 Alt. 1 GG ist dem Grundgesetz dagegen nicht zu entnehmen. Eine Analogie bezüglich dieser Anforderung ist angesichts des Ausnahme- und Übergangscharakters der Statusdeutschen-Regelung nicht möglich.124 Vielmehr liegt es näher, im Wege eines Umkehrschlusses davon auszugehen, dass das spezifische Erfordernis deutscher Volkszugehörigkeit in einem ethnisch interpretierten Sinne für die Inhaber der formalen Staatsangehörigkeit – also die Deutschen nach Art. 116 Abs. 1 Alt. 1 GG – gerade nicht besteht. Man könnte zwar auch annehmen, dass die Zugehörigkeit zur Kulturnation bei den Staatsangehörigen stillschweigend vorausgesetzt wurde.125 Diese Sichtweise beruht auf der durchaus richtigen Annahme, dass die Staatsangehörigkeit Vorbild für die Statusdeutschen-Eigenschaft war. Jedoch überzeugt der Schluss auf die stillschweigende Annahme des Erfordernisses deutscher Volkszugehörigkeit nicht, da der Verfassungsgeber wissen musste, dass der Rückgriff auf die Volkszugehörigkeit nur vorübergehend gewesen sein kann. Dieser lag doch gerade in einer historisch begründeten Verantwortungsübernahme gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen Übersteigerung der Volkszugehörigkeit mit ihrem rassistischen und diskriminierenden Charakter.126 Richtig ist auch, dass das traditionelle Bild des Grundgesetzes eher von einem ethnisch-kulturellen Bild von Zuge121
Alexander N. Makarov, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, S. 248. Alexander N. Makarov, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, S. 248. 123 Nina Isabel Goes, Mehrstaatigkeit in Deutschland, S. 63 f.; Hans Alexy, Rechtsfragen des Aussiedlerzuzugs, NJW 1989, 2850 (2850); vgl. BVerfGE 83, 37 (51) [„im Blick auf Besonderheiten der Nachkriegszeit“]. 124 Christiane Geisler, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit, NJW 1990, 3059 (3060); Ralph Göbel-Zimmermann/Thorsten Masuch, Die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts – zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Reform, DÖV 2000, 95 (100). 125 So Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 182. 126 Johannes Masing, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 116 Rn. 91. 122
V. Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz
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hörigkeit geprägt war und sich dadurch historisch – vor allem in der Nachkriegszeit – ein „deutsches Selbstverständnis als Nation“ herausgebildet hat.127 Jedoch hat der Verfassungsgeber – wohl auch in dem Bewusstsein der Möglichkeit eines Verfassungswandels – davon abgesehen, die deutsche Staatsangehörigkeit auf das traditionelle Bild festzulegen. Daher ist der Verzicht einer ausdrücklichen Anforderung an die deutsche Volkszugehörigkeit vielmehr als Ausdruck der Offenheit des Grundgesetzes für einen Wandel tradierter staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorstellungen zu verstehen. So kann auch der in Art. 116 Abs. 1 GG ausdrücklich normierte Vorbehalt „anderweitiger gesetzlicher Regelung“ verstanden werden. Dieser Gesetzesvorbehalt gilt nämlich für beide Arten von Deutschen128, was eher gegen eine umfassende Bindung des Gesetzgebers an die Volkszugehörigkeit spricht. Art. 116 Abs. 1 GG steht damit zur Disposition des einfachen Gesetzgebers.129 Damit könnte von der Vorgabe deutscher Volkszugehörigkeit ohnehin abgesehen werden. Unterstützt wird diese Sichtweise auch von dem Umstand, dass Art. 116 Abs. 1 GG selbst für Abkömmlinge und Ehegatten deutscher Volkszugehörigkeit die Deutscheneigenschaft auch dann normiert, wenn diese selbst nicht Volkszugehörige sind.130 Damit zeigt das Grundgesetz selbst, dass es die Volkszugehörigkeit nicht für eine unabdingbare Voraussetzung für die Deutscheneigenschaft hält.131 Auch der Hinweis auf die ursprüngliche Fassung der Präambel wird herangezogen, um die grundgesetzliche Verankerung des kulturnationalen Nationalstaatsprinzips – mit seinen staatsangehörigkeitsrechtlichen Konsequenzen – zu begründen. Danach hat sich das „Deutsche Volk“ das Grundgesetz gegeben „von dem Willen beseelt, die nationale Einheit zu wahren“ (Präambel in der Fassung vor dem 3. Oktober 1990). Der Verweis auf die nationale Einheit sollte das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in seiner Gesamtheit sichern, nachdem
127
Johannes Masing, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 116 Rn. 92. Günter Renner/Hans-Georg Maaßen, in: Hailbronner/Renner/Maaßen (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, GG-Kommentar, 5. Aufl. 2010, Art. 116 Rn. 10; a. A. Hans Alexy, Rechtsfragen des Aussiedlerzuzugs, NJW 1989, 2850 (2850 f.). 129 Fabian Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band III, Art. 116 Rn. 45, der die Norm damit als „Unikat innerhalb des Grundgesetzes“ einordnet. 130 Günter Renner, Deutsche Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit, ZAR 2004, 130 (134). 131 Ralph Göbel-Zimmermann/Thorsten Masuch, Die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts – zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Reform, DÖV 2000, 95 (100); a. A. Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 182, der mit den Grundgedanken des ius-sanguinis-Prinzips argumentiert, welche erwarten lassen, dass sich die Kinder deutscher Volkszugehöriger in die nationale Gemeinschaft einreihen. Dies überzeugt jedoch nicht mehr für die Ehegatten, da diesen gegenüber eine klassische Kultur- und Werterziehung nicht stattfinden dürfte, die die Annahme einer kulturellen Eingliederung rechtfertigt. Es ist vielmehr genauso gut auch eine umgekehrte Tendenz denkbar, nach der deutsche Volkszugehörige sich von der Kultur des Ehegatten „beeinflussen“ lassen. 128
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
durch die deutsche Teilung die staatliche Einheit – zumindest vorübergehend – verloren war.132 Jedoch wurde der Passus von der „nationalen Einheit“ mit Art. 4 des Vertrages über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 herausgenommen. Spätestens mit der Wiedervereinigung dürfte sich demnach auch dieser Argumentationsansatz erledigt haben.133 Der gesamtdeutsche Gesetzgeber muss daher nicht mehr auf den Erhalt der deutschen Kulturnation verpflichtet werden134, da schlichtweg das Bedürfnis dafür weggefallen ist. Das Selbstbestimmungsrecht kann auch hinreichend durch andere Homogenitätsmaßstäbe sichergestellt werden, welche sich gerade durch die verfassungsmäßige Wertordnung auszeichnen (Verfassungspatriotismus). Daher sind die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre Bestandssicherung von so herausragender Bedeutung für das demokratische Selbstverständnis des deutschen Staates. Dies bedeutet nicht, dass allein daraus auf die Notwendigkeit von Verfassungstreue als Erwerbsvoraussetzung für die deutsche Staatsangehörigkeit geschlossen werden könnte. Das Grundgesetz enthält sich – es bleibt dabei – bestimmter Vorgaben an den Gesetzgeber. Dieser ist im Rahmen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Grenzen bei der Gestaltung der Staatsangehörigkeit frei. In diesem Zusammenhang sei schon einmal auf die herausragende Bedeutung des grundgesetzlichen Pluralismus hingewiesen. Dieser dürfte durch einen übersteigerten Kollektivismus, wie er durch das Nationalstaatsprinzip – insbesondere in seiner ethnisch-kulturellen Ausprägung – verkörpert wird, eher noch gefährdet werden.135 Der aus der Menschenwürde abgeleitete Individualismus richtet die gesamte Verfassung auf das Individuum aus, sodass auch die Demokratie vom Einzelnen her zu verstehen ist.136 Diesem Verständnis widerspricht es, den Zugang zu demokratischen Teilhaberechten – vermittelt durch die Zugehörigkeit zum Volk – von vornherein auf einen bestimmten Personenkreis zu begrenzen.137 Vielmehr folgt aus diesem Gedanken der Selbstbestimmung angesichts des Junk132
Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, 437
(441). 133 Ute Sacksofsky, Mehrfache Staatsangehörigkeit – ein Irregulare?, in: Rolf Grawert/Bernhard Schlink/Rainer Wahl/Joachim Wieland (Hrsg.), Offene Staatlichkeit. Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, S. 317 (335). 134 Ralph Göbel-Zimmermann/Thorsten Masuch, Die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts – zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Reform, DÖV 2000, 95 (100). 135 Dieser Einwand wurde selbst von Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, 437 (441) vorgebracht und anschließend nicht überzeugend entkräftet. 136 Brun-Otto Bryde, in: Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 238 (256); Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 159 ff. 137 Brun-Otto Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, JZ 1989, 257 (257).
V. Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz
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tims zwischen Staatsvolk und Staatsangehörigkeit der Auftrag an den Gesetzgeber, Ausländern den Erwerb der Staatsangehörigkeit und damit den Zugang zum Staatsvolk zu erleichtern.138 Ferner wird durch das klare Bekenntnis des Grundgesetzes zur europäischen Integration in Art. 23 GG die Idee strenger Nationalstaatlichkeit zumindest stark abgeschwächt.139 Daher kann dieser Idee auch keine Ausstrahlungswirkung mehr auf das Staatsangehörigkeitsrecht zukommen. 2. Schutz der Staatsangehörigkeit nach Art. 16 GG Art. 16 GG setzt die Staatsangehörigkeit bereits voraus. Danach sind deutsche Staatsbürger vor dem Entzug und in gewissen Grenzen auch vor dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit geschützt. Die Norm „konserviert den Kern der Institution in seiner Wesenshaftigkeit“.140 Dies bedeutet, dass mit dem (wirksamen) Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ein gefestigter Status entsteht, den der deutsche Staat nicht mehr unbegrenzt aufheben kann. Nach dem Bundesverfassungsgericht gilt dieses Verbot auch für einen zwangsweise eingebürgerten Ausländer.141 Das zeigt deutlich, dass die Einbürgerung eben „kein rein formaler Akt ist, sondern materielle Konsequenzen nach sich zieht“.142 Wegen der engen Bindung, die ein Staat damit durch die Verleihung der Staatsangehörigkeit eingeht, dürfte das Grundgesetz selbst davon ausgegangen sein, dass die Voraussetzungen für den Einbürgerungsakt wohl erwogen sein müssen.143 Die Folgen des Art. 16 GG streiten nämlich auf Seiten des Staates für ein Interesse daran, Staatsfeinde nicht einzubürgern, wenn sie gleich nach dem Erwerb der Staatsangehörigkeit die besondere Verantwortung des Staates ihnen gegenüber ausnutzen, um diesen zu unterwandern. Schlussendlich kann man dem Art. 16 GG zwar eine „besondere Verantwortung des Gesetzgebers bei der Gestaltung der Erwerbstatbestände“ 144 entnehmen. Jedoch wird dadurch seine Handlungsmacht nicht verbindlich eingeschränkt, da die Norm keine inhaltlichen Vorgaben für den Erwerb macht. Insbesondere enthält sie keine Anforderungen an die Verfassungstreue von Einbürgerungsbewerbern.
138
Vgl. BT-Drs. 14/533, S. 11. Manfred Zuleeg, Der unvollkommene Nationalstaat als Einwanderungsland – Anmerkungen zum Aufsatz von Uhlitz, Deutsches Volk oder „multikulturelle Gesellschaft?“, ZRP 1987, 188 (188 f.). 140 Rupert Scholz/Arnd Uhle, Staatsangehörigkeit und Grundgesetz, NJW 1999, 1510 (1511). 141 BVerfGE 1, 322 (326 ff.). 142 Ehmann/Heinz (Hrsg.), Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht – Vorschriftensammlung mit Überblick zum Staatsangehörigkeitsrecht, S. 15. 143 Ehmann/Heinz (Hrsg.), Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht – Vorschriftensammlung mit Überblick zum Staatsangehörigkeitsrecht, S. 15. 144 Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 170 f. 139
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B. Die Idee der Staatsangehörigkeit
Art. 16 GG ist vielmehr Ausdruck des Verständnisses der Staatsangehörigkeit als „verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit“.145 Das Grundgesetz kennt nur einen einheitlichen Staatsangehörigkeitsbegriff, sodass es keinen Unterschied machen kann, ob jemand eingebürgert wurde oder kraft Geburt Staatsangehöriger ist. Daraus kann man die Gleichheit aller Erwerbsgründe ableiten, welche es etwa verbieten würde, Verlustgründe einzuführen, die nur für Eingebürgerte gelten (z. B. Islamisten).146 Für eine Treueanforderung könnte man daraus schließen, dass (spätestens) nach der Einbürgerung die Anforderungen an die Treue dieselben sein müssen, die für alle Staatsbürger gelten. Die Hürde für den Erwerb durch spezifische Treueanforderungen höher zu machen, ist demnach Ausdruck der Souveränität und vor dem Hintergrund der besonderen Verantwortung durch Art. 16 GG zu verstehen.147 Denn die Gleichheit aller Erwerbsgründe verbietet nicht die Differenzierung zwischen einem „Noch-nicht-Staatsangehörigen“ und einem Staatsangehörigen. Das Verbot der Differenzierung wirkt nicht nach außen, sondern nur nach innen.148 Das bedeutet, dass Art. 16 GG zwar nichts darüber sagt, welche Anforderungen an den Erwerb gestellt werden dürfen. Umgekehrt verbietet er aber auch nicht, von einem Bewerber mehr zu verlangen als vom Inhaber der Staatsangehörigkeit.
145 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1–34. 146 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (23). 147 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (23). 148 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (23).
C. Treue und Wertordnung I. Wert und Wertordnung – Versuch einer terminologischen Eingrenzung Schon im Jahre 1969 zählte der Jurist und Soziologe Rüdiger Lautmann 178 verschiedene Wert-Definitionen.1 Der Versuch einer einheitlichen und allumfassenden Definition soll daher gar nicht erst gewagt werden. Für den Zweck der Untersuchung genügt es im Grunde auch, den Kern des Begriffs so darzulegen, dass seine Handhabung möglich wird. Schon dieser Begriffskern war es nämlich, der das Wertdenken als staatstheoretische Grundlage unter Rechtfertigungsdruck geraten ließ. Eine erste Annäherung an das Verständnis können sprachgebräuchliche Synonyme ermöglichen. So können Begriffe wie „Bedürfnisse“, „Motive“, „Interessen“, „Leitbilder“, „Meinungen“, „Vorurteile“, „Stereotypen“, „Ideale“ und „Ideologien“ synonym verwendet werden.2 Als gemeinsamer Kern kann die „kulturübergreifende Handlungsrelevanz“ 3 herausgebildet werden, die einem Wert zukommt. Werte bilden Orientierung für das eigene Verhalten und treiben es an. Nach einer psychologisch ausgerichteten Sichtweise können Werte demnach verstanden werden als „in Individuen verankerte soziale Regeln und Einstellungen gefühlsmäßiger und/oder rationaler Art, auf denen das Handeln von Einzelnen bzw. Gruppen beruht“.4 Sie sind kurzum „Zielvorstellungen, die unser praktisches Handeln beeinflussen“.5 Für eine juristische Betrachtung kann ein solches auf das Innenleben eines Individuums beschränktes Verständnis jedoch nicht ausreichen. Hier ist eine aus der Soziologie stammende Beschreibung hilfreich. Danach sind Werte „normative Vorgaben im Rahmen des ,institutionellen Überbaus‘ einer Gesellschaft, die zwar von den Individuen über Bewertungs- und Wahlakte in ihr Handlungsrepertoire integriert werden können, die ihren angestammten Platz jedoch im kulturellen System der Gesellschaft und nicht im individuellen Personensystem haben“.6 Dies muss umso mehr für die Staatsphilosophie und 1
Rüdiger Lautmann, Wert und Norm. Begriffsanalysen für die Soziologie, S. 98. Aufzählung bei Erich H. Witte (Hrsg.), Sozialpsychologie und Werte, S. 25. 3 Hartmut Salzwedel, Werte, in: Siggelkow (Hrsg.), Werte und Weltbilder, S. 145 (147). 4 Hartmut Salzwedel, Werte, in: Siggelkow (Hrsg.), Werte und Weltbilder, S. 145 (145). 5 Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (15). 6 Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, S. 245. 2
62
C. Treue und Wertordnung
das (Staats-)recht gelten, da es gerade dort um die Verankerung normativer Vorgaben für das Handeln nicht nur von Individuen, sondern auch des Staates als Kollektiv geht. Betrachtet man Werte als „Produkte der allgemeinen Meinung“ 7 und sieht so letztlich den „Ursprung der Moral im Kollektiven“ 8, wird die Wechselwirkung zwischen der individuellen (Bürger) und kollektiven (Staat) Ebene deutlich. Für den Staat als Handlungssubjekt wird der „fordernde [. . .], antreibende [. . .] Charakter der Werte“ 9 durch deren Festschreibung in einer Verfassung wirksam. Werte „drängen automatisch auf Verwirklichung dessen, was in ihnen als sachlicher Kern enthalten ist“.10 Das staatliche Handeln ist also auf die Verwirklichung der ihm verfassungsmäßig zugeschriebenen Werte hingeordnet. Werte implizieren Finalität im Sinne von Zielgerichtetheit. Damit wird die besondere Beziehung von Werten zu Handlungssubjekten deutlich. Wird etwas als Wert angesehen, so wird es „motivational wirksam“ 11, sodass eine Haltung der Indifferenz nicht vorstellbar ist. Natürlich kann Subjekt A einem spezifischen Wert des von ihm verschiedenen Subjekts B gegenüber indifferent eingestellt sein. Jedoch hat das Bezugsobjekt durch diese Indifferenz für Subjekt A selbst dann im Grunde gar nicht den Charakter eines Wertes, da es für dieses gerade keine finale Handlungsrelevanz besitzt. Werte existieren demnach erst mit ihrem Anerkanntsein durch mindestens ein Subjekt.12 Dieser Gedanke führt zu einer notwendigen Differenzierung innerhalb des Wertbegriffs. Insoweit muss je nach wissenschaftlicher Perspektive ein deskriptiver von einem normativen Wertbegriff unterschieden werden. Der deskriptive Wertbegriff erfasst die Beschreibung individualpsychologischer und soziologischer Sachverhalte im Sinne einer „Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit [. . .] für ein Individuum oder für eine Gruppe kennzeichnend ist und welche die Auswahl der zugänglichen Weisen, Mittel und Ziele des Handelns beeinflusst“.13 Dies ermöglicht es im Grunde erst, eine Aussage darüber zu treffen, ob ein fremdes Subjekt etwas als Wert betrachtet, ohne es selbst als wün7
Émile Durkheim, Soziologie und Philosophie, S. 111. Hartmut Salzwedel, Werte, in: Siggelkow (Hrsg.), Werte und Weltbilder, S. 145 (146). 9 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 76. 10 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 25; vgl. zu diesem Grundzug des Wertdenkens auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 76 [„fordernden, antreibenden, ja aggressiven Charakter der Werte“]; vgl. auch Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Werteordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (547) [„Werte wollen permanent behauptet, durchgesetzt, anerkannt und dadurch ,realisiert‘ werden.“], der die Wertejudikatur jedoch kritisch betrachtet. 11 Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 2, S. 1470 [Stichwort: „Wert/Tatsache“]. 12 Vgl. Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Werteordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (547). 13 Übersetzung bei Peter Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 148; Original-Definition bei Clyde Kluckhohn, Values and value 8
I. Wert und Wertordnung
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schenswert und damit als „Wert“ anerkennen zu müssen. Insoweit kann über Werte sehr wohl auch in deskriptiver Weise gesprochen werden. Der normative Wertbegriff hingegen umfasst das Wünschenswerte selbst ganz unabhängig davon, ob sich ein Individuum oder Kollektiv daran faktisch orientiert.14 Es geht dabei um die Ermittlung des Guten und Richtigen innerhalb eines moralphilosophischen Diskurses. Die deskriptiv ermittelte faktische Wertbindung eines Subjekts kann in diesem Zusammenhang dann auch normativ beurteilt werden, sodass gute und schlechte Werte extrahiert und benannt werden können.15 Aus einer staatsphilosophischen Perspektive kann schließlich der Staat als Handlungssubjekt mit seiner politischen Ordnung selbst als Träger von Werten verstanden werden. Zu den Werten der Bürger können diese „staatlichen Werte“ jedenfalls dann in ein Spannungsverhältnis geraten, wenn Hoheitsgewalt eingesetzt wird, um ihnen – ihrem antreibenden Charakter entsprechend – zur Verwirklichung zu verhelfen. Das in der staatlichen (Wert-)ordnung manifestierte „Wünschenswerte“ muss also zur jeweiligen Werthaltung der einzelnen Bürger in Beziehung gesetzt werden, ohne dabei das eine oder das andere selbst einer umfassenden normativen Bewertung zu unterziehen. Unter der Prämisse der Freiheitlichkeit der staatlichen Wertordnung wird der Konflikt deutlich, den der Wertbegriff – auf den Staat bezogen – hervorruft. Die Identifikation der Bürger mit der staatlichen Wertordnung scheint das natürliche Ziel eines werthaften Staates zu sein. Der kommunistische Staat drängt auf ein Bekenntnis zum Klassenkampf, der theokratische Staat auf ein Gottesbekenntnis. Die Wertordnung drängt allumfassend und unbedingt. Ein solches Wertverständnis ruft im freiheitlichen Staat reflexartig Unbehagen hervor. Ist aber nicht auch der freiheitliche Staat notwendig auf die Identifikation mit der Freiheit ausgerichtet, sobald man ihn als Träger einer Wertordnung begreift? Die Frage lädt dazu ein, sich zunächst mit dem Begriff der Wertordnung auseinanderzusetzen. Er ist mit der durch das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil hervorgebrachten Idee vom Grundgesetz als „objektive Wertordnung“ in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt.16 Bevor an späterer Stelle zur besonderen Bedeutung aus verfassungsrechtlicher Sicht noch Stellung bezogen wird, insbesondere darauf, worin gerade das „Objektive“ bestehen soll17, wird orientations in the theory of action, in: Parsons/Shils (Hrsg.), Toward a general theory of action, S. 388 (395). 14 Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 2, S. 1473 [Stichwort: „Wert/Werte“]. 15 Vgl. Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 2, S. 1473 [Stichwort: „Wert/Werte“]. Vgl. zu einer Gleichsetzung der Begriffe „gut“ und „Wert“ wohl die Wertphilosophie bei George Edward Moore, Principia Ethica, S. 43–53. 16 BVerfGE 7, 198 (205 ff.). 17 Vgl. unter III. 1.
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C. Treue und Wertordnung
hier nur der Begriff der „Wertordnung“ erörtert. Im vorliegenden Zusammenhang ist er der Sache nach gleichbedeutend mit „Wertsystem“ zu gebrauchen.18 Sowohl „Ordnung“ als auch „System“ bezeichnen nämlich ein Gefüge bestimmter aufeinander abgestimmter Elemente, die auf eine Einheit abzielen.19 Genauer kann man unter einer Ordnung die „Existenz von Beziehungen zwischen Elementen, die eine Abstimmung der Elemente aufeinander in räumlicher, zeitlicher oder funktionaler Hinsicht erkennen lassen“ 20 verstehen. Die Elemente einer Wertordnung sind danach die Werte, die insbesondere funktional aufeinander abgestimmt sind. Wertordnung bezeichnet mithin die Gesamtheit der Werte eines Individuums oder Kollektivs, welche in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen. Trotz seiner überwiegend auf den Staat bezogenen terminologischen Verwendung, kann nach dieser allgemeinen Definition auch der einzelne Bürger Träger einer persönlichen Wertordnung sein. Diese bezeichnet dann alle von diesem internalisierten Werte in ihrer Gesamtheit und die Beziehung dieser zueinander. Die Wertordnung des Staates wird mangels psychologischer Identifikation erst durch die verfassungsmäßige Festschreibung gebildet. Die jeweilige Wertordnung gehört damit zur persönlichen Identität des Bürgers als Individuum bzw. zur verfassungsmäßig konstituierten Identität des Staates. Die Beziehung der einzelnen Werte innerhalb der Ordnung kann gekennzeichnet sein durch gegenseitige Ergänzung oder ein Hierarchieverhältnis. Nicht alle Werte sind im Konfliktfall gleichermaßen erstrebenswert, sodass eine Vorrangentscheidung im Allgemeinen oder im Konkreten getroffen werden muss. Manche Werte sind etwa aus sich heraus erstrebenswert (finale Werte), während andere nur dazu dienen, diese zu erreichen (instrumentelle Werte).21 Vor allem die Wertehierarchie spielt eine bedeutende Rolle, da sie dem Charakter von Werten Rechnung trägt, unterschiedlich starke Handlungsmotivation zu bewirken und damit eine Prioritätensetzung notwendig zu machen. So ist etwa der Begriff Grundwert erklärbar, womit nur der besonders hohe Rang innerhalb des Gesamtgefüges verschiedener – konfligierender oder sich ergänzender – Werte zum Ausdruck 18 So auch Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, S. 15 f.; die Rechtsprechung verwendet beide Begriffe ebenfalls in austauschbarer Weise, vgl. nur BVerfGE 7, 198 (205); anders wohl Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde – Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus GG Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 19 Abs. 2, AöR 81, S. 117 (117 ff.), der dem Begriff „Wertsystem“ zwar den Vorrang einräumt, dies aber auch ohne sachlichen Unterschied, sodass auch bei ihm die Begriffe im Grunde synonym verwendet werden können. 19 Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, S. 15 [„ein auf Einheit abzielendes Norm- und Steuerungsgefüge“]. 20 Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 2, S. 938 [Stichwort: „Ordnung“]. 21 Vgl. zu diesem Begriffspaar Matthias Iser, in: Gosepath (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 2, S. 1475 f. [Stichwort: „Wert/ Werte“].
II. Wertgeltung in einer freiheitlichen Gesellschaft
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gebracht werden soll. Grundwerten kommt für die Identitätsbildung des Trägers der entsprechenden Wertordnung eine besondere Maßgeblichkeit zu. Aus den Grundwerten können weitere Werte durch normative Methoden abgeleitet werden. Ebenso können durch sie wertordnungsfremde Werte abgegrenzt und ausgesondert werden. Sie verschaffen demnach der ganzen Wertordnung eine gewisse Stabilität, auch wenn sie nicht generell unabänderlich sind.
II. Wertgeltung in einer freiheitlichen Gesellschaft Die meisten Menschen verfügen über ein komplexes System persönlicher Wertüberzeugungen, die im Laufe ihres Lebens gefestigt, gewandelt oder wieder aufgegeben werden können. Das Fundament dieser Wertüberzeugungen kennzeichnet den Charakter eines Menschen und sein individuelles Wesen. Ebenso existiert in jeder Gesellschaft ein nicht minder komplexes System von Werten, die auf Verwirklichung drängen. Denn die Gesellschaft bezeichnet nur eine räumliche „Vereinigung [von Menschen] zur Befriedigung und Sicherstellung gemeinsamer Bedürfnisse“.22 In einer Gesellschaft von Individuen, die sich jeweils bestimmten Werten verpflichtet fühlen, zeichnen sich zwangsläufig Probleme ab, sobald die unterschiedlichen Wertsysteme oder Einzelwerte zueinander in Konflikt geraten. Dies gilt insbesondere, wenn denklogisch der eine Wert nur auf Kosten eines anderen Wertes verwirklicht werden kann. Daher ist jede Gesellschaft gehalten, diese Konflikte durch bestimmte Mechanismen zu lösen. Nachfolgend soll gezeigt werden, wie dies durch eine Gesellschaft geschehen kann, die sich als „freiheitlich“ bezeichnet. Ihr Ziel besteht in der Verwirklichung größtmöglicher Freiheit aller in ihr zusammengeschlossenen Individuen. Die Überlegungen zur Gesellschaft sollen sodann auf den Staat als ihrer Organisationseinheit übertragen werden.23 Die Gedanken laufen nämlich auf eine denktheoretische Zusammenführung beider Sphären hinaus. Denn die Erkenntnis, dass aus einer „unfreiheitlichen Gesellschaft [. . .] kein freiheitlicher Staat hervorgehen“ kann24, ist inzwischen fast zu einem Gemeinplatz geworden. Wird aber Freiheit im Staat und in der Gesellschaft zum obersten Wert erklärt, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Legitimität von Treueanforderungen an das Individuum in der Gesellschaft bzw. den Bürger im Staat. Die im Treuebegriff 22 Bernhard Schäfers, Gesellschaft, in: Kopp/Steinbach (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, S. 104 (104). Vgl. Theodor Geiger, Gesellschaft, in: Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, 1931, S. 201 (202) [„Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einem Raum vereinter Personen“]. 23 Vgl. Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Werteordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (545) [„Gesellschaft selbst partiell als Staat konstituiert“]. 24 Konrad Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, 437 (442) [„Freiheit lässt sich wirksam nur als einheitliche gewährleisten“].
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C. Treue und Wertordnung
implizierte Bindung scheint nämlich in einem offenen Spannungsverhältnis zur „Bindungslosigkeit“ zu stehen, die mit Freiheit assoziiert wird. Es soll nachfolgend gezeigt werden, wie der gesellschaftliche Wertekonsens der Freiheit in legitimer Weise mit Treueanforderungen in Einklang gebracht werden kann. Dazu müssen einige Leitfragen beantwortet werden: Braucht eine freiheitliche Gesellschaft „Leitwerte“, um nicht zu zerbrechen? Darf bzw. kann Freiheit als Wert überhaupt verbindlich vorgeschrieben werden? Wie sonst kann die Freiheit gegen unfreiheitliche Bestrebungen verteidigt werden? 1. Grundlagen individueller und kollektiver Wertbildung Im Ausgangspunkt soll der Prozess der Wertbildung als psychologischer Vorgang dargelegt werden. Als individuelle Wertbildung wird dabei der „im Inneren der Person stattfindende Prozess zum Aufbau und zur Konsolidierung von das Handeln relativ stabil steuernden Wertorientierungen“ 25 verstanden. Der Vollzug der Internalisierung eines Wertes in das eigene persönliche Wertsystem mit der Folge, dass das Individuum diesen Wert als unmittelbar handlungsantreibend erlebt, erfolgt durch verschiedene psychologische Mechanismen. Auf der Ebene der Gesellschaft gibt es solche Internalisierungsvorgänge ebenso, allerdings unterliegen diese notwendigerweise anderen Mechanismen. Kollektive Wertbildung vollzieht sich nämlich als Herausbildung von Mehrheitswerten in Gestalt immer wiederkehrender Werte bei den Mitgliedern dieser Gesellschaft. Die Mechanismen individueller und kollektiver Wertbildung müssen verstanden werden, um diejenigen Determinanten zu kennen, die bei der Aufstellung von Anforderungen an die Werthaltung eines Individuums – also insbesondere bei Treueanforderungen – Berücksichtigung finden müssen. a) Individuelle Wertbildung Immanuel Kant bezeichnete es als Heteronomie in der Moralphilosophie, wenn man geltende Moralvorstellungen – selbst, wenn sie zustimmungsfähig sein sollten – unreflektiert zum eigenen Verhaltensmaßstab macht.26 Einer heteronomen Handlungsmotivation liegt gerade keine Internalisierung von Werten zu Grunde, sodass entsprechende Handlungen nicht Ausdruck der individuellen Selbstbestimmung sind. Damit ist die tatsächliche – und nicht nur vorgegebene – Identifikation mit bestimmten Werten der Ausgangspunkt selbstbestimmten Handelns in der freiheitlichen Gesellschaft überhaupt.
25 Hermann Giesecke, Wie lernt man Werte? – Grundlagen der Sozialerziehung, S. 13. 26 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 75 f.; vgl. auch Aydyn Süer, Menschenbilder der Moderne, in: APuZ 34–36, S. 10 (12).
II. Wertgeltung in einer freiheitlichen Gesellschaft
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Diese Identifikation unterliegt jedoch nur begrenzt der Einflussnahme durch das Individuum selbst oder gar der es umgebenden Gesellschaft. Zwar obliegt es der freien Entscheidung des Einzelnen, ob er sich mit bestimmten Werten und Wertsystemen – etwa dem Liberalismus als politischer Ideologie – beschäftigen möchte. Diese Beschäftigung geht aber zunächst nicht über das intellektuelle Erfassen der Werte des Liberalismus hinaus. Auf die persönliche Zustimmung zu diesen Werten kann in einem nächsten Schritt über eine Auseinandersetzung mit den Argumenten für ihre Richtigkeit und den Versuch ihres Nachvollzugs hingewirkt werden. Aber auch dieser Vorgang erschöpft sich in einem bloßen – rationalen – Verstehen. Um einem Wert subjektiv zuzustimmen, bedarf es aber eines emotionalen Moments des „Ergriffenseins“.27 An diesem entscheidenden Punkt hat das Individuum keine freie Wahl.28 Denn Gefühle unterliegen nicht der vollen Kontrolle, sondern sind mehr die Folge neuronaler Prozesse. Sie sind zwar durch kognitive Umstrukturierungsmaßnahmen, wie sie etwa aus der Verhaltenstherapie bekannt sind, beeinflussbar. Dies geschieht aber stets über den „Umweg“ der Verhaltens- und Gedankensteuerung, deren Erfolg alles andere als gewiss ist. Begegnet man etwa einem überzeugend vorgetragenen Argument für die „Richtigkeit“ der Gleichbehandlung von homosexuellen Paaren im Steuer- und Adoptionsrecht29, so kann es zwar intellektuell einleuchten, dass dies ein Gebot der Gleichheit ist. Dennoch wird es Menschen geben, die die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften innerlich ablehnen, selbst wenn sie Gleichheit als Wert subjektiv anerkennen. Denn es kann da noch das diffuse „Unwohlsein“ verbleiben, welches einen konservativ denkenden (und fühlenden) Menschen ereilt, wenn er eine solche Gleichstellung realisiert sieht. Dieses „Unwohlsein“ ist kein rationales Argument, sondern ein emotionales Ereignis, auf das der Einzelne in letzter Konsequenz keinen Einfluss hat. Woher es im Detail kommt, wird man im Zweifel nicht einmal genau nachverfolgen können. Dennoch ist es einer Person mit diesem Gefühl subjektiv unmöglich, sich mit der vollen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften zu identifizieren. Es fehlt ihr das Gefühl des Ergriffenseins, das in letzter Konsequenz ihrer persönlichen Kontrolle entzogen ist. Ein ähnliches Gefühl des „Unwohlseins“ auf Grund innerer Ablehnung begegnet so manchem in Deutschland etwa dann, wenn er einer Frau in einer Burka begegnet. 27 Hans Joas, Wertepluralität und moralischer Universalismus, in: Kolloquien des Max-Weber-Kollegs XV–XXIII, S. 29 (34). 28 Hans Joas, Wertepluralität und moralischer Universalismus, in: Kolloquien des Max-Weber-Kollegs XV–XXIII, S. 29 (34). 29 Diese Ungleichbehandlung wurde in Deutschland erst jüngst durch die Einführung der so genannten „Ehe für alle“ durch das „Gesetz zur Einführung des Rechtes auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ (BGBl. I, Nr. 52, S. 2787) beseitigt. Dass eine entsprechende Gleichbehandlung vorher nicht möglich war, ist offenbar auf fehlendes „Ergriffensein“ einer Mehrheit von Abgeordneten der vergangenen Parlamente vom Wert der Gleichberechtigung homosexueller Partnerschaften zurückzuführen.
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C. Treue und Wertordnung
Ursprung dieser Ablehnung könnte neben den rational vorgebrachten Argumenten über die Burka als Symbol der Unfreiheit und Unterdrückung aber auch das bloße Gefühl sein, dass man „bei uns“ ein solches Symbol nicht zu sehen wünscht.30 Wenn sich auch der letzte Schritt im Prozess der Internalisierung von Werten der persönlichen Kontrolle entzieht, ist es jedoch durchaus möglich, die Bedingungen für die Entstehung dieses „Ergriffenseins“ besonders günstig zu gestalten. Hier kommt der Prozess der Sozialisation ins Spiel. Als Sozialisation bezeichnet man einen „lebenslange[n] Prozess, in dem Verhaltensmuster, Werte, Standards, Fertigkeiten, Einstellungen und Motive einer Person so geformt werden, dass sie mit denen übereinstimmen, die in einer bestimmten Gesellschaft als wünschenswert erachtet werden“.31 Insoweit nimmt die Gesellschaft Einfluss auf die Werthaltung des Individuums. Sofern dieser Einfluss durch organisierte Institutionen mit dem Ziel der Übernahme bestimmter Werthaltungen ausgeübt wird, spricht man von Werterziehung.32 Für diese ist zum einen der Staat durch die Schulen und sonstige Bildungseinrichtungen zuständig, wobei er über die Entstehung der Grundwerte nicht hoheitlich entscheiden kann. Vielmehr müssen bestimmte Grundwerte – auch die für den Bestand der Gesellschaft notwendigen – durch eben diese Gesellschaft selbst erst geschaffen und in der Folge auch gesichert werden. Insoweit ist das Ziel erfolgreicher Sozialisation in der Vermittlung von Werten zu sehen, welche zu einer „optimalen Passung von Individuum und Gesellschaft“ 33 führen. Zu den Akteuren gesellschaftlicher Sozialisation gehören die Familien im Rahmen des elterlichen Erziehungsrechts sowie die Kirchen, Vereine, Medien oder auch politische Parteien.34 Wertbildung erfolgt in diesem Sinne tendenziell dezentral.35 Im Grunde ist das Individuum auf die Gesellschaft sogar angewiesen, um die eigene Identität und das damit verbundene persönliche Wertsystem überhaupt erst 30 Vgl. Uwe Volkmann, Die Burka als Freiheitssymbol? Nein, danke, Verfassungsblog, Eintrag vom 1. August 2014, online unter: http://verfassungsblog.de/die-burkaals-freiheitssymbol-nein-danke/ (Abrufdatum: 13.02.2022) [„Ohne dass ich recht sagen kann warum, gehört für mich auch die Burka in [die] Kategorie: Ich möchte mich an den Anblick nicht gewöhnen müssen“]. 31 Richard J. Gerrig, Psychologie, S. 397. 32 Vgl. zum Begriff auch im Hinblick auf die Einwirkung auf das Innere der Person Hermann Giesecke, Wie lernt man Werte? – Grundlagen der Sozialerziehung, S. 9 ff. [„[. . .] tut die Pädagogik gut daran, sehr zurückhaltend mit dem Begriff der Werte und überhaupt mit allem umzugehen, was sich im Inneren von Personen ereignen mag“ (S. 10)]. 33 Gisela Trommsdorff, Sozialisation und Werte, in: Berger (Hrsg.), Soziologie in konstruktiver Absicht. Festschrift für Günter Endruweit, S. 167 (169). 34 Aufzählung – mit Ausnahme der Parteien – bei Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (17). 35 Vgl. Jasper von Altenbockum, Zwergschulen und Energiebürger, in: APuZ 34–36, S. 27 (29 f.).
II. Wertgeltung in einer freiheitlichen Gesellschaft
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herauszubilden. Dabei spielen sowohl die Zeit, der Ort, die Herkunft, die Geschichte, die Kultur und eben auch in besonderer Weise die in der umgebenden Gesellschaft schon bestehenden Wertvorstellungen eine entscheidende Rolle für die subjektive Wertbildung.36 Da aber die Sozialisation kein berechenbarer Prozess ist, kann die Internalisierung bestimmter von „der Gesellschaft“ für erstrebenswert gehaltener Werte keinesfalls als gesichert gelten. Wenn sich aber das Ziel gesteuerter Sozialisationsprozesse nicht allein mit dem erstrebten Verhalten begnügt, sondern auch die Freiwilligkeit des entsprechenden Verhaltens intendiert wird, so entsteht das „Paradox der Sozialisation“.37 Kurzum: Man soll das, was man soll, auch tatsächlich wollen. Da schon Arthur Schopenhauer in einer prägnanten Formel festhielt, dass man „nicht wollen [könne], was [man] will“ 38, ist die Paradoxie ersichtlich. Der Zugriff auf die Gesinnung bleibt mithin nicht nur der Gesellschaft aus tatsächlichen Gründen verschlossen, sondern auch dem betroffenen Individuum selbst. Damit bleibt auch Werterziehung zunächst einmal nur gelenkte Konfrontation einhergehend mit der erstrebten Möglichkeit zur Identifikation und eben nicht das tatsächliche Bewirken einer Identifikation. Dies bedeutet, dass die Erziehungstätigkeit nach „Aussenden“ des Erziehungsinhalts abgeschlossen ist und der Erfolg zwar intendiert ist, nicht aber mehr zur Maßnahme dazu gehört. Bewirken einer Identifikation hingegen würde bedeuten, dass der Erfolg dermaßen zur Erziehungsmaßnahme dazu gehört, dass die Maßnahme erst dann abgeschlossen ist, wenn eine tatsächliche – zumindest in irgendeiner Weise messbare oder überprüfbare – Identifikation auch eingetreten ist. Die tatsächliche Identifikation ist dem Zugriff der Erziehung aber entzogen.39 Auf diese Determinanten der menschlichen Psyche nimmt eine freiheitliche Gesellschaft Rücksicht. Anforderungen an Individuen im Hinblick auf ihre subjektive Werthaltung können nur gestellt werden, wenn sie auch erfüllbar sind.
36 Vgl. Gisela Trommsdorff, Sozialisation und Werte, in: Berger (Hrsg.), Soziologie in konstruktiver Absicht. Festschrift für Günter Endruweit, S. 167 (171) [„Werthaltungen als individuelle generalisierte Handlungsorientierungen werden in der Sozialisation erworben und stehen gleichzeitig in engem Zusammenhang mit den Werten der Kultur, in der man aufwächst.“]. 37 Gerhard Portele, „Du sollst das wollen“ – Zum Paradox der Sozialisation, in: ders. (Hrsg.), Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung und Erziehung, S. 147 (147 ff.). 38 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, S. 58 f., wonach der hier zitierte Satz nur die Kurzformel des folgenden Originalzitats ist: „Du kannst thun was du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur Ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts Anderes, als dieses Eine.“ – Hervorhebungen im Original. 39 Vgl. zu diesem engen, aber pragmatischen Erziehungsbegriff – ausdrücklich auch im Hinblick auf die Werterziehung – Hermann Giesecke, Wie lernt man Werte? – Grundlagen der Sozialerziehung, S. 13. [„Es geht um Verhalten, nicht um Gesinnung“].
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C. Treue und Wertordnung
Insoweit sei auf den moralphilosophischen Schluss „Sollen impliziert Können“ 40 hingewiesen, wonach Folgendes gilt: „Wer Z nicht herbeiführen kann, für den ist es nicht geboten, Z herbeizuführen.“ 41 In concreto: Wer sich nicht mit einem bestimmten Wert identifizieren kann, für den ist es auch nicht geboten, sich mit diesem Wert zu identifizieren. Ähnlich galt schon im römischen Leistungsstörungsrecht der Grundsatz impossibilium nulla obligatio est42, wonach Unmögliches nicht Gegenstand einer Pflicht sein kann. Die Anforderungen können sich also lediglich an die äußeren Handlungen richten, da nur diese kontrollierbar und damit regulierbar sind.43 b) Kollektive Wertbildung Der Prozess der Sozialisation beschreibt den Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum. Da die Gesellschaft aus einer Vielzahl von Menschen besteht, entsteht das Wertsystem einer Gesellschaft im Ursprung bei den Individuen. Es entsteht eine Interdependenzbeziehung. So unterschiedlich wie die Menschen sind demnach auch deren persönliche Wertsysteme, sodass denknotwendig in einer Gesellschaft – bestehend aus einer Vielzahl von Individuen – eine unüberschaubar große Zahl an Wertsystemen existiert. Wie soll sich da das Wertsystem oder die eine Wertordnung der Gesellschaft überhaupt ermitteln lassen? Zentral für die kollektive Wertbildung ist die Erkenntnis, dass es in einer Gesellschaft eine Vielzahl von Einzelwerten gibt, von denen sich durch Mehrheitsbildung rein faktisch „Mehrheitswerte“ herausbilden. Das bedeutet indes nicht, dass die übrigen – nicht der Mehrheit zuzuordnenden Werte – aufhören würden, als Werte zu existieren. Der Erziehung und Sozialisation der Individuen bedarf es als Instrumente der kollektiven Wertbildung. Denn durch diese Prozesse soll die Kontinuität eines bestimmten Wertbestandes bewahrt werden. Im Wege von Sozialisationsprozessen werden die Individuen mit den „Mehrheitswerten“ ihres gesellschaftlichen Umfeldes konfrontiert, was die Möglichkeit zur Identifikation schafft. Diesbezüglich sei an die „Schweigespirale“ von Noelle-Neumann erinnert, als deren Folge eine Mehrheitsmeinung höhere Chancen hat, auch eine solche zu bleiben, da die Vertreter der „Minderheitsmeinung“ auf Grund des erwarteten Meinungsklimas eine geringere Bereitschaft zeigen, ihre Meinung öffentlich zu 40 Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, S. 146; vgl. insoweit die Originalformulierung dieses Grundsatzes bei Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 6 Aufgabe II, S. 140 [„Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“]. 41 Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, S. 146. 42 Digesten 50.17.185. 43 Hierbei sei vom epistemologischen Problem des Determinismus im Hinblick auf die Handlungsfreiheit einmal abgesehen.
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äußern.44 In der Folge ist natürlich die öffentliche Konfrontation mit der Mehrheitsmeinung noch stärker, sodass die übrigen Meinungen in der öffentlichen Diskussion immer weiter „verschwinden“ und deren Chance zur Durchsetzung immer weiter sinkt. Ähnliches dürfte bei der kollektiven Wertbildung gelten, allerdings auch hier nur, soweit eine tatsächliche Identifikation durch verstärkte Konfrontation wahrscheinlicher wird. Dass man diese nicht sicher herbeizuführen imstande ist, wurde im Zusammenhang mit der subjektiven Wertbildung bereits erläutert. Allerdings kann man durch gezielte Sozialisation unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Erziehungswissenschaften und der Psychologie Bedingungen schaffen, die für die Identifikation mit bestimmten Werten günstig sind. Insoweit bleibt festzuhalten, dass es psychologische, pädagogische und soziologische Mechanismen gibt, die zwar beeinflusst werden können, deren Erfolg aber nicht sicher ist. Insbesondere die subjektive Werthaltung und in der Folge die Herausbildung von Mehrheitswerten sind nicht kontrollierbar. 2. Wertepluralismus in einer freiheitlichen Gesellschaft Die Erkenntnisse über die kollektive Wertbildung führen unmittelbar zum Wertepluralismus in einer freiheitlichen Gesellschaft. Die Existenz von Mehrheitswerten und die Erkenntnisse über die begrenzte Beeinflussbarkeit der individuellen Wertüberzeugungen zwingen zu der Einsicht, dass es rein tatsächlich keine vollkommen homogene und einstimmige Gesellschaft geben kann. Wo eine solche behauptet oder vorgespiegelt wird, liegt eine totalitäre Gesellschaft vor45, deren Bürger zu großen Teilen fremdbestimmt handeln. Das Ziel der freiheitlichen Gesellschaft ist im Gegensatz dazu die größtmögliche Selbstbestimmung ihrer Mitglieder. Daher akzeptiert diese die notwendige Vielfalt von Werten.46 Schon der politische Liberalismus geht vom „Faktum eines Pluralismus“ 47 aus. Danach ist es unmöglich, eine für alle Menschen akzeptierte Beantwortung der 44 Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, S. 18; aus der neueren Forschung dazu Thomas Roessing, Öffentliche Meinung – Die Erforschung der Schweigespirale; vgl. auch Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 274 ff. zur Neigung und Notwendigkeit von Menschen, sich an den Meinungen anderer zu orientieren; in ähnliche Richtung bereits Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil, S. 453 [„Da die Ungläubigen ihren Unglauben verbergen und die Gläubigen ihren Glauben bekennen, bildet sich eine öffentliche Meinung zugunsten der Religion.“]. 45 Egil Levits, Nationale Minderheiten als Herausforderung für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 293 (293). 46 Vgl. Egil Levits, Nationale Minderheiten als Herausforderung für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 293 (294). 47 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 36; vgl. zu den anthropologischen und epistemischen Erklärungen dieses „deskriptiv-ethischen Pluralismus“ ausführlich Dieter
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Frage nach einem guten Leben zu finden.48 Angesichts des Ziels größtmöglicher Selbstbestimmung des Einzelnen folgt dem Befund des Pluralismus als Faktum in einem weiteren Schritt aber auch die Anerkennung eines Rechts, die individuell gewählte Lebenskonzeption zu verfolgen. Aus dem normativen Wert der Selbstbestimmung kann damit im Hinblick auf das Faktum des Pluralismus schließlich der normative Wert des Pluralismus abgeleitet werden. Dies ist nicht etwa ein Schluss von einem Sein auf ein Sollen, wie es auf den ersten Blick scheint.49 Denn der Schluss auf den Pluralismus als Wert folgt aus dem Wert der Selbstbestimmung. Dieser Schluss macht allerdings nur deshalb Sinn, weil der Wertepluralismus ein Faktum ist. Denn größtmögliche Selbstbestimmung ist nur möglich, wenn auf das Faktum als unbestreitbare Tatsache Rücksicht genommen wird. Würden nämlich stattdessen bestimmte Einzelwerte unterdrückt, würde das Faktum des Pluralismus ignoriert. Die Träger unterdrückter Werte wären nicht mehr selbstbestimmt. Daher erhebt die freiheitliche Gesellschaft den Pluralismus zu einem Wert an sich. Dies bedeutet eine grundlegende Anerkennung sämtlicher hervorgebrachter Werthaltungen und ihrer prinzipiellen Gleichwertigkeit. John Rawls unterscheidet insoweit zwischen dem Faktum des Pluralismus und dem Faktum des vernünftigen Pluralismus.50 Die unterschiedlichen Werthaltungen werden als Ergebnis persönlicher Vernunftaktivität begriffen.51 Der Pluralismus ist vernünftig, weil vernünftige Bürger ihn als unausweichliches Faktum anerkennen werden.52 Hans Joas fasst dies so zusammen: „Die Tatsache einer Pluralität konkurrierender Werte [wird] unter der Hand selbst zum Wert erklärt; so wird aus der Ein-
Witschen, Ethischer Pluralismus – Grundarten, Differenzierungen, Umgangsweisen, S. 20. 48 Felix Ekardt/Monique Radtke, Einbürgerungstests in der rechtspolitischen Debatte, ZRP 2007, 28 (29); vgl. Ulrike Ackermann, Freiheit und Gleichheit, in: APuZ 34–36, S. 24 (25) [„Pluralität der Lebensstile“]. 49 Insoweit anders Dieter Witschen, Ethischer Pluralismus – Grundarten, Differenzierungen, Umgangsweisen, S. 22, der aus dem Faktum noch nicht auf den Wert zu schließen bereit ist. Dies ist zwar als solches unter Hinweis auf den naturalistischen Fehlschluss berechtigt, jedoch unter Zugrundelegung der Selbstbestimmung als Ausgangspunkt des Wertableitungszusammenhangs ohne Fehlschluss lösbar. 50 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 106 ff.; vgl. auch Dieter Witschen, Ethischer Pluralismus – Grundarten, Differenzierungen, Umgangsweisen, S. 23, der dagegen terminologisch zwischen der Pluralität als empirischem Faktum und dem Pluralismus als (normative) Einstellung zu diesem Faktum differenziert. In der Sache dürfte dasselbe gemeint sein. 51 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 107 [„sind [. . .] das Ergebnis des freien praktischen Vernunftgebrauchs innerhalb eines Systems freier Institutionen“]. 52 Alessandro Pinzani/Denilson L. Werle, Das Vermögen der Bürger und ihre Darstellung (Vorlesung II), in: Höffe (Hrsg.), John Rawls: Politischer Liberalismus, S. 63, S. 70 mit Kritik am Begriff.
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sicht in die Existenz eines Pluralismus der Werte ein Plädoyer für den Wert der Pluralität.“ 53 Insoweit kommt bei Rawls der Gebrauch der Vernunft als Zugang zu Werten ins Spiel. Die Vernunft erscheint dabei als konstante Größe, die von vornherein gewisse – eben „unvernünftige“ – Werte ausschließt. Die Vernunft zur Konstante zu erheben, ist keinesfalls etwas Neues. Dennoch befreit sie den Menschen nicht aus den Fängen seines epistemischen Perspektivismus54, da auch die Vernunft nur im irrtumsanfälligen Inneren des Menschen ermittelt werden kann. Es wird demnach unvermeidbar sein, gewisse Konstanten – mag man sie auch mit der Vernunft begründen – als (wert-)axiomatisch zu setzen, also Werte vorzugeben, die nicht weiter hinterfragt werden dürfen, will man nicht in einen infiniten Regress des Relativismus oder schiere Beliebigkeit verfallen. Das Axiom kann etwa die Freiheitlichkeit sein. Dadurch nimmt der freiheitliche Pluralismus als Wert sich selbst aus dem Pluralismus heraus. Jedoch unterliegt auch dann der Pluralismus selbst sehr wohl dem Faktum des Pluralismus. Im Einzelnen bedeutet das Folgendes: Es kann Werthaltungen geben, die Freiheit, Selbstbestimmung und Pluralismus als Werte gerade ablehnen. Die freiheitliche Gesellschaft kann darauf authentisch ohne Verrat an den eigenen Werten antworten, indem sie diese Werthaltungen subjektiv zugesteht. Dies folgt dann letztlich aus dem freiheitlichen Anspruch der Gesellschaft selbst. Jedoch wird sie es ablehnen – und ggf. zu verhindern suchen –, diese Werthaltungen selbst zum mehrheitlichen Konsens werden zu lassen, da sie sonst ihre Freiheitlichkeit einbüßen müsste. Daraus abgeleitet bedarf es eines Wertepluralismus auf der Basis eines unerlässlichen Minimalkonsenses, ohne den die Gesellschaft als freiheitliche zu existieren aufhören würde. 3. Minimalkonsens als Bestandsgarantie einer freiheitlichen Gesellschaft Pluralismus allein hält eine Gesellschaft – auch eine freiheitliche – nicht am Leben. Die durch ihn hervorgebrachten Werte sind seinem Wesen nach wandelbar und unbeständig. Eine Gesellschaft kann allein in einem solchen Pluralismus demnach keinen Garanten für ihren Zusammenhalt finden, schon gar nicht von diesem ihre Identität ableiten. Die grundlegende Frage der freiheitlichen Gesellschaft, die Generationen von Staatsphilosophen immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln stellten55, bleibt: Worin besteht das Verbindende dieser Ge53 Hans Joas, Wertepluralität und moralischer Universalismus, in: Kolloquien des Max-Weber-Kollegs XV–XXIII, S. 29 (33). 54 Vgl. Dieter Witschen, Ethischer Pluralismus – Grundarten, Differenzierungen, Umgangsweisen, S. 20. 55 Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (321).
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sellschaft, das ihr die Identität verleiht und sie als solche zusammenhält?56 In jeder Gesellschaft, in der Menschen räumlich eng beisammen leben und damit notwendig eine Neigung zum Konflikt entsteht, muss diese Frage gestellt und bestenfalls auch beantwortet werden. Es braucht Mechanismen zur Beseitigung dieser Konflikte zwecks Friedenstiftung. Dazu bedient sich die moderne Gesellschaft des Staates als einer administrativen – mit Hoheitsgewalt ausgestatteten – Institution. Der so verstandene Staat tritt dabei als Hüter eines Bestandes an Werten auf, der aus einem Konsens der Gesellschaft hervorgeht. Er entscheidet demnach nicht selbst über den Inhalt des Wertekonsenses, sondern ist vielmehr an diesen gebunden. Ein solcher Konsens, der als das Verbindende einer Gesellschaft erscheint, muss jedoch mit dem Wert des Pluralismus und der ihm vorausliegenden Selbstbestimmung des Einzelnen in Einklang gebracht werden. Was bleibt, ist daher die Frage nach einer freiheitsgemäßen Ausgestaltung eines solchen Konsenses im Pluralismus. Dazu gehören insbesondere auch die Mechanismen der Durchsetzung und Sicherung dieses Konsenses zum Zwecke der Bestandserhaltung der freiheitlichen Gesellschaft in ihrer Identität. a) Wertobjektivität als Konsenskriterium Wie praktisch wäre doch eine Computersoftware, die so punktgenau die Geltung von Werten bestimmen könnte wie ein Thermometer die Temperatur oder eine Uhr die verstrichene Zeit beim Lesen dieses Satzes. Der Minimalkonsens oder gar komplexe Wertsysteme müssten nur präzise berechnet, die Daten ausgewertet und das Ergebnis in der Gesellschaft umgesetzt werden. Eine solche Idee ist nicht nur surreal, sondern wird dem Charakter von Werten schlichtweg nicht gerecht. Wie aber lassen sich sonst diejenigen Werte ermitteln, die von vornherein aus dem Pluralismus herausgenommen sind, ohne dass dabei der Anspruch der Freiheitlichkeit aufgegeben werden müsste. Der Versuch, „objektive“ Werte zu bestimmen, ist so alt wie die Moralphilosophie selbst. Ebenso alt sind die Einwände gegen solche Versuche. Eine endgültige Lösung der Frage nach der Möglichkeit, solche Werte zu ermitteln, kann hier nicht gegeben werden. Für die Ermittlung eines freiheitlichen Wertkonsenses kommt es aber ohnehin nicht auf eine Objektivität im naturwissenschaftlichen Sinne an. Die materiale Wertethik geht zwar von einem „an sich bestehende[n] Reich der Werte“ 57 aus, sodass die Werte nicht erst durch – oder „im“ – Menschen geschaffen werden, sondern vielmehr nur durch „Wert-Erkenntnis“ 58 entdeckt werden müssen. Aber auch diese 56 Grundlegend Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil, S. 444 [„Wie könnte die Gesellschaft dem Untergang entrinnen, wenn sich das sittliche Band nicht festigt, derweil das politische sich lockert?“]; näher dazu Günter Frankenberg, Autorität und Integration. Zur Grammatik von Recht und Verfassung, S. 136 ff. 57 Nicolai Hartmann, Ethik, S. 156. 58 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 87 – Hervorhebung im Original.
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Annahme muss mit dem Zugeständnis einhergehen, dass die einzelnen Individuen und Kulturen in unterschiedlicher Weise Zugang zu diesen Werten erhalten.59 Überzeugender ist es daher, Wertgeltung von vornherein konstruktivistisch60 zu betrachten, da Werte erst durch ihre gesellschaftlich-psychologische Existenz überhaupt zur Entstehung gelangen. In einem metaphysischen Bereich sind Werte – im Gegensatz zu Tatsachen – gar nicht vorhanden.61 Der subjektiven Erfahrung des Menschen dürfte es entsprechen, dass ein Wert zumindest in einem Gefühl psychisch-real empfunden werden muss, um überhaupt zu existieren. Eine andere Existenzweise des Wünschenswerten ist kaum vorstellbar, da selbst die Einsicht als Ergebnis eines rationalen ethischen Diskurses eine Art innerer Empfindung ist.62 Aus freiheitlicher Perspektive ist daher die innere Zustimmung das Kriterium für die Existenz eines Wertes. Denn auch die verbindliche Anordnung zur „Befolgung“ eines a priori existenten Wertes63 wird die subjektive Erfahrung einer Freiheitsbeeinträchtigung in Gestalt eines inneren Konflikts hervorrufen, wenn dieser Wert nicht tatsächlich psychisch internalisiert wurde. Daher kann nicht Wertobjektivität im Sinne einer naturwissenschaftlichen Nachweisbarkeit, sondern allenfalls eine allgemeine Zustimmung als geeignetes Kriterium für die Bestimmung eines Konsenses herangezogen werden. Lassen sich solche Werte finden, die bei ausnahmslos jedem Menschen existieren, so könnte man diesen Wert allenfalls als „objektiv“ im Sinne einer axiologischen Kategorie bezeichnen. Ein theoretisches Gedankenexperiment kann das illustrieren: Was wäre, wenn es einen Wert geben würde, dem ausnahmslos jeder (sic!) Mensch zustimmt? Wenn diesem Wert jeder tatsächlich zustimmt, wäre dann nicht die Aufforderung zur Zustimmung zu diesem Wert vergleichbar mit der Aufforderung, logische Denkgesetze oder naturwissenschaftliche Tatsachen anzuerkennen? Hier würde nämlich nicht die Zustimmung zu einem Wert verlangt, der innerlich nicht geteilt wird – das wäre in der Tat ein Freiheitseingriff. Vielmehr soll der Einzelne nur 59
Nicolai Hartmann, Ethik, S. 155 [„nicht jeder hat den Blick“]. Vgl. allgemein zum erkenntnistheoretischen Konzept des Konstruktivismus Ernst von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Gumin/Meier (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, S. 9 (9 ff.). 61 Vgl. Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, S. 22 ff., 335 ff.; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 85, der Werterkenntnis daher als irrationalen Prozess erfasst und damit darauf hinweist, dass Werte letztlich nur durch Setzung entstehen können. 62 Insoweit kommt es auch auf den Streit zwischen Rationalismus und Sensualismus gar nicht an, vgl. dazu Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ehtik, S. 78 ff. Die Positionen streiten maßgeblich über den Wertfindungsprozess. Bei beiden Perspektiven dürfte aber das Ergebnis dieses Prozesses eine innere Einsichtsempfindung auslösen. 63 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 87. 60
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solchen Werten zustimmen, die er ohnehin psychisch-real internalisiert hat. In diesem Gedankenexperiment wäre die Anforderung zur Identifikation mit solchen „objektiven“ Werten kein Freiheitseingriff, da nur verlangt wird, was ohnehin schon erfüllt ist. Es entsteht kein innerer Konflikt durch eine Diskrepanz zwischen Empfindung und Normbefehl. Daher wären solche Werte – würden sie existieren – die ideale Grundlage, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Sie wären Garant für eine Übereinstimmung, ohne dass es eine normative Anordnung geben müsste, deren Einhaltung man noch kontrollieren oder absichern müsste. Auf Grund des menschlichen Perspektivismus wird es jedoch – daher waren die Gedanken rein theoretischer Natur – ohnehin nicht gelingen, solche Werte zu finden, denen eine psychisch-reale Zustimmung aller Menschen zuteil wird, geschweige denn, dass es praktisch möglich wäre, eine solche Zustimmung überhaupt einzuholen. Selbst wenn sich praktisch ein Wert finden ließe, dem terminologisch alle Menschen zustimmen können, so entsteht meist bei der Interpretation solcher Werte ein Folgeproblem. Als Beispiel kann der Wert der Gerechtigkeit dienen. Gerechtigkeit könnte als „ein allgemein menschlicher, nicht weiter ableitbarer, handlungsanleitender Wert“ 64 und gewissermaßen als „universale anthropologische Konstante“ 65 begriffen werden. Die meisten Menschen dürften von sich behaupten, Gerechtigkeit anzustreben. Dies lässt vermuten, dass es doch Werte gibt, die jeder Mensch verfolgt. Auf Grund des hohen Abstraktionsgrads des Wertes „Gerechtigkeit“ ist damit jedoch über ihren konkreten Ausgestaltungsinhalt noch nichts gesagt. Denn die Vorstellung, was genau gerecht ist, ist unter den Menschen so unterschiedlich, dass die Konzeptionen des „Gerechten“ ihrerseits pluralistisch sind. Gerechtigkeit als universaler Wert kann alles oder nichts bedeuten. Sie ist damit für sich allein ungeeignet, als Konstante innerhalb des Pluralismus der Werte zu dienen. Daher ist die Heranziehung objektiver Werte für die Bestimmung des Minimalkonsenses nur als Gedankenexperiment geeignet. Dieses konnte aber für die Bedeutung der inneren Zustimmung für das Maß der Freiheitsbeeinträchtigung durch Anforderungen innerer Treue sensibilisieren. Je mehr allgemeine Zustimmung einem Wert entgegengebracht wird, desto eher ist dieser geeignet, zum Gegenstand des Minimalkonsenses zu werden. Aus der Sicht des Individuums kann man sagen: Je leichter diesem die Zustimmung zu einem Wert fällt, desto geringer ist die Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung, wenn dieser Wert dem Individuum gegenüber verbindlich eingefordert oder ihm zumindest mit Auswirkungen auf das Individuum Geltung verschafft wird.
64 Robin Celikates/Stefan Gosepath, Grundkurs Philosophie, Band 6, Politische Philosophie, S. 149 f. 65 Robin Celikates/Stefan Gosepath, Grundkurs Philosophie, Band 6, Politische Philosophie, S. 149.
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b) Prozedurale Komponenten des Minimalkonsenses Zunächst einmal kann dem Minimalkonsens ein prozedurales Element zugeschrieben werden.66 Es soll insoweit garantieren, dass die individuelle Wertbildung sowie die kollektive Konsensbildung ungehindert möglich sind. Daher gehört zum Minimalkonsens in prozeduraler Hinsicht die Gewährleistung freier Wertbildung.67 Dazu zählt vor allem die individuelle Möglichkeit, die Vernunft ungehindert zum Zwecke des kognitiven Zugangs zu Werten einzusetzen. Weiterhin gehört dazu das Recht, diese Werte frei bilden, haben, aber auch äußern zu können, um sie in einen Diskurs einzubringen und in diesem argumentativ zu verteidigen. Denn nur dadurch werden die Menschen in ihrer Identität respektiert und können sich als freie Individuen mit ihrer Werthaltung ohne vorherige autoritative Aussonderung an dem demokratischen Prozess mit gleichen Chancen beteiligen.68 Dadurch ist dem Minimalkonsens zwangsläufig die Veränderlichkeit des hervorgebrachten Wertsystems immanent. Deshalb können lediglich die Verfahrensregeln zur Ermittlung eines disponiblen Konsenses als solche zum – grundsätzlich indisponiblen – Minimalkonsens gezählt werden. Diese werden nämlich jedenfalls insoweit als unveränderlich vorausgesetzt, als sie den Prozess freier Wertbildung überhaupt sicherstellen. Diese Verfahrensregeln müssen von allen Gesellschaftsmitgliedern anerkannt werden, wenn nicht die Freiheitlichkeit der Gesellschaft selbst zerbrechen soll. Das Konzept der deliberativen Demokratie69 etwa ist die praktische Anwendung einer diskurstheoretischen Konzeption auf den Bereich von Politik und Recht, auf die es für die konkrete Organisation staatlicher Wertbegründung letztlich ankommt.70 Der Fokus liegt dabei auf der Begründung dieser Wertentscheidungen in einem diskursähnlichen Verfahren.71 Die Grundlage ist „das Modell einer Rechtsgemeinschaft, die sich über die gemein66 Vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 264 [„prozedurale[r] Konsens“ – Hervorhebung im Original]. 67 Vgl. zur Bedeutung der prozeduralen Gewährleistung freier Meinungsbildung Michael Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massenmedien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 42 Rn. 12. 68 Vgl. insoweit noch einmal mit verfassungsrechtlichem Bezug BVerfGE 44, 125 (139), wonach ein freier und offener Prozess der Meinungs- und Willensbildung gesichert werden soll. 69 Ursprünglich wohl bei Jospeh M. Bessette, Deliberative Democracy. The Majority Principle in Republican Government, in: Goldwin/Schambra (Hrsg.), How democratic is the constitution?, S. 102–116; im deutschen Sprachraum wurde die deliberative Politik aber vor allem geprägt von Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 277–292. 70 Tim König, In guter Gesellschaft? Einführung in die politische Soziologie von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, S. 5; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 316. 71 Vgl. als Gegenmodell mit einem Fokus auf der – willkürlichen und damit wohl autoritativen – Entscheidung das Konzept des „Dezisionismus“ bei Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 24 ff.
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same Praxis der Staatsbürger selbst bestimmt“.72 Die Regeln der freien Deliberation sind dabei wiederum ein „prozeduralistische[s] Minimum“.73 Das Diskursprinzip wird dabei nicht dezisionistisch-autoritär vorgegeben, sondern muss praktisch gelebt werden. Ein normatives Postulat für den Einzelnen folgt daraus aber nicht. Das Prinzip zwingt nur zu der Einsicht, dass es einen Bestand von Regeln gibt, deren Einhaltung die Existenz der freiheitlichen Gesellschaft bedingt. Die (freie) Vernunftbetätigung wird damit zum zentralen Faktor für die Bestimmung von Werten. Insoweit gehört auch das Mehrheitsprinzip zu diesem Bestand an Regeln, wonach sich die Minderheit der Entscheidung der Mehrheit zu unterwerfen hat.74 Die mehrheitliche Entscheidung als solche ist wandelbar, aber gilt so lange als „vernünftige Grundlage einer gemeinsamen Praxis“ 75, bis die ehemalige Minderheit durch argumentatives Überzeugen zur (neuen) Mehrheit geworden ist. Das Mehrheitsprinzip ist freilich gegenüber dem tatsächlichen Konsens nur die zweitbeste Lösung, da für die jeweilige Minderheit die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung mitunter auch eine Zumutung sein kann.76 Angesichts der Schwierigkeiten der pluralistischen Gesellschaft, Einstimmigkeit zu erzeugen, erweist sie sich aber als einzige Alternative.77 Andernfalls lähmt sich die Gesellschaft entweder durch Untätigkeit mangels Konsenses oder sie entfernt sich noch weiter von der Zustimmung aller durch oligarchische Entscheidungsmechanismen. Das Mehrheitsprinzip ist damit unmittelbarer Ausfluss der Selbstbestimmung und der Gleichheit.78 Flankiert werden die Verfahrensregeln dabei von der Gewährleistung der Kommunikationsgrundrechte sowie dem Schutz der Privatsphäre, was den ungehinderten Meinungsaustausch ermöglichen soll.79 Das Prinzip praktischer Deliberation ist damit eine Möglichkeit, zu einer begründeten Annahme von Werten zu gelangen, auf deren Seite auf Grund der Einhaltung der oben genannten Verfahrensregeln die „Vermutung der Vernünftigkeit“ 80 streitet.
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Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 105. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 368. 74 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 333 [„loyale [. . .] Hinnahme der Mehrheitsentscheidungen“]; Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 207 [„Verpflichtung zur Respektierung der Mehrheitsentscheidung“]. 75 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 371. 76 Werner Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 68. 77 Vgl. zur Idee des gezähmten Machtkampfes als Begründung für die Akzeptanz der Mehrheitsregel bei Werner Becker, Die Freiheit, die wir meinen, S. 77 [„Drohung der Mehrheit, das Abkommen über den Gewaltverzicht aufzukündigen, wenn es nicht nach ihrem Willen [. . .] geht.“]. 78 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 337 f. 79 Vgl. dazu Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 368. 80 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 368. 73
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c) Materielle Komponenten des Minimalkonsenses Der Minimalkonsens kann sich allerdings nicht ausschließlich in prozeduralen Gewährleistungen erschöpfen, da sonst auch unter Einhaltung seiner Regeln in materieller Hinsicht jeder Wert begründbar wäre.81 Die Freiheitlichkeit selbst könnte mit ihren eigenen Mitteln abgeschafft werden. Prozedurale Komponenten allein sind für eine Bestandssicherung der freiheitlichen Gesellschaft daher nicht hinreichend. Es bleibt daher die Frage nach dem materiellen Gehalt. aa) Hoher Abstraktionsgrad und Äußerlichkeit Die Konsensfähigkeit eines verbalisierten Wertes dürfte mit zunehmendem Abstraktionsgrad steigen. Je allgemeiner ein Wert formuliert ist, desto mehr individuelle Werthaltungen lassen sich nämlich darunter vereinigen. Jürgen Habermas spricht hingegen von „Abstraktionszumutungen“ 82, weil er davon ausgeht, dass der Wechsel auf eine höhere Abstraktionsebene zugleich zu einer Begünstigung liberalerer Anschauungen führt, was wiederum mehr Toleranz erfordert.83 Das Ziel des Minimalkonsenses, möglichst viele Werthaltungen innerhalb des Pluralismus zu vereinigen, ist allerdings wohl nur zu dem Preis hoher Abstraktion zu erreichen, da jede Konkretisierung auf der Ebene des Minimalkonsenses eine autoritative Setzung wäre, die zu einem Weniger an Freiheit führte. Für die materiellen Werte des Minimalkonsenses muss aber gelten: Je höher der Abstraktionsgrad eines Wertes ist, desto eher ist dieser geeignet, Teil des Minimalkonsenses zu sein.84 Jede Ableitung und Auslegung von Werten ist eine eigene Wertentscheidung, die zur Disposition der freien Gesellschaftsmitglieder gestellt sein muss. Materiell ist der Minimalkonsens noch unter einem weiteren Gesichtspunkt begrenzt. Er ist durch seine reine Äußerlichkeit 85 gekennzeichnet. Soweit aus dem Minimalkonsens normative Postulate abgeleitet werden, können diese nicht das Innere des Menschen adressieren. Zweck des Minimalkonsenses ist nämlich die Bestandserhaltung der freiheitlichen Gesellschaft. Die Gesellschaft ist jedoch ihrem Wesen nach etwas Äußerliches, das durch das nach außen tretende Verhal81 Vgl. Simone Chambers, Zur Politik des Diskurses: Riskieren wir unsere Rechte?, in: Apel/Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, S. 168 (168) [„radikal demokratische[s] Element der Diskursethik“]. 82 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 319 – Hervorhebung im Original. 83 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 322. 84 Vgl. Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 53 [„Verfassungskonsens [. . .] notwendig abstrakter und inhaltlich offener“]; Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, S. 42. 85 Vgl. zum Moment der Äußerlichkeit in Bezug auf den liberalen Staat Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 24 f.
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ten der sie bildenden Individuen und nicht etwa durch deren Innenwelt konstituiert wird. Denn es ist eine Errungenschaft der freiheitlichen Gesellschaft, dass „sie Bürger zunächst nach ihrem Handeln beurteil[t], und nicht danach, wie dieses Handeln motiviert ist“.86 Fragen des persönlichen Gewissens und des Glaubens sind dem Minimalkonsens damit von vornherein entzogen. Er verhält sich auch nicht zu ethischen Vorstellungen der privaten Lebensführung, sofern dadurch nicht die Basis des freiheitlichen Systems tangiert wird.87 bb) Grundlagen des freiheitlichen Zusammenlebens als materielles Minimum Es reicht aber nicht, die Werte nur ihrem Wesen nach zu beschreiben. Welche Werte sind es denn nun, deren Verwirklichung als elementare und unverhandelbare Grundlage ein freiheitliches Zusammenleben gewährleistet? Welche minimalen Konstanten können nicht zur Disposition gestellt werden, ohne die Freiheit selbst als oberstes Prinzip preiszugeben? Da es in der Natur einer Wertordnung liegt, dass innerhalb dieser die unterschiedlichen Werte verschiedenen Rang innehaben, können zum Minimalkonsens seinem Wesen nach nur jene Werte mit höchstem Rang zählen. Dieser Rang ergibt sich dabei aus der Priorität für den Bestand eines freiheitlichen Gemeinwesens. Neben der Rangordnung innerhalb der Gesellschaft gibt es auch eine individuelle Wertehierarchie, die ausdrückt, welche Werte für den Einzelnen wichtiger sind als andere. Die Erhaltung der basalen persönlichen Bedürfnisse des Menschen dürfte dabei an oberster Stelle stehen. Diese individuelle Priorität kann als Anhaltspunkt für die gesellschaftliche Wertehierarchie verstanden werden. Denn die höchste Priorität in der Gesellschaft haben wohl diejenigen Werte, die für die Mehrheit der Individuen höchste Priorität haben. Voraussetzung für diese Annahme ist allerdings die Anerkennung der gleichen Berücksichtigung aller, also die Einsicht, dass allen Mitgliedern der Gesellschaft die basalen Werte gleichermaßen zugestanden werden. Daher muss das Prinzip der Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder hinsichtlich der Möglichkeit persönlicher Wertbildung sowie der Beteiligung am Diskurs gelten. Insoweit sei an die Feststellung erinnert, dass Freiheit nur die gleiche Freiheit aller bedeuten kann.88 Die Geltung dieses Prinzips gehört damit zum Minimalkonsens. Es ist schon Ausfluss der prozeduralen Gewährleistungen, die eine gleiche Beteiligung aller 86 Bert van den Brink, Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, in: Babke (Hrsg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, S. 13 (28) – Hervorhebungen im Original. 87 Stefan Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 117 (134). 88 Walter Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 51.
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betroffenen Individuen sicherstellen sollen. Darüber hinaus ist es aber auch in materieller Hinsicht ein unverzichtbares Prinzip, das auch unter Einhaltung der prozeduralen Regeln nicht abgeschafft werden kann. Auch im Wege einer Abstimmung unter gleichberechtigter Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder ist es daher nicht möglich, die Gleichheit Einzelner im Ergebnis abzuschaffen – auch dann nicht, wenn diejenigen, deren Recht auf Gleichheit beschnitten werden soll, an dieser Abstimmung unbeeinflusst teilgenommen haben oder gar für die entsprechende Gleichheitsbeschränkung gestimmt haben. Weitere Werte müssen entweder aus der Freiheitlichkeit notwendig abgeleitet werden oder selbst nach bestimmten vernünftigen Kriterien als mit höchster Priorität ausgestattet ermittelt werden. Volkmann zählt zu diesen Werten die „allgemeine Orientierung auf die menschliche Würde als regulative Idee des Zusammenlebens, ein Grundverständnis für die Notwendigkeit und die Bedingungen demokratischer Meinungs- und Willensbildung, die Forderung nach Gleichheit der Lebens- und Entwicklungschancen aller Bürger“ 89 sowie den Respekt der anderen Menschen in deren Autonomie und prinzipieller Gleichheit.90 Die Antwort auf die (rhetorische) Frage „Warum sollte eine solche Ordnung nicht gegenüber einer anderen Ordnung wie einer autoritären oder gar totalitären vorzugswürdig sein?“ 91 scheint eindeutig zu sein und keiner weiteren Erörterung zu bedürfen. Jedoch ist die dort dargelegte Ordnung keinesfalls zwingend die einzig wahre und ewig beständige, mag sie auch die von der Mehrheit als einzig vernünftige angesehen werden. Denn jede Ordnung sollte auf ihre eigene Ablösung gefasst sein92, jeder Wert auf Veränderung. Auch das gehört zum Wesen des Minimalkonsenses der freiheitlichen Gesellschaft. Die Freiheitlichkeit wird zwar nicht zur Disposition gestellt, aber dennoch werden auch die basalen Grundwerte der freiheitlichen Gesellschaft nicht als „absolute Wahrheit“ behandelt. Der Minimalkonsens erhebt also gerade nicht den Anspruch einer alles durchdringenden Weltanschauung. Damit einher geht die Rawls’sche Konzeption vom Vorrang des Gerechten vor dem Guten.93 Die individuellen Lebenskonzeptionen (das Gute) bewegen sich innerhalb des allgemein verbindlichen Rahmens (das Gerechte), der durch den Minimalkonsens vorgegeben wird. Innerhalb dieses Rahmens ist die Ausrichtung der persönlichen Lebensführung an philosophischen, religiösen oder ethischen Konzeptionen möglich. Der Minimalkonsens zeichnet sich zwar durch seine Vor89
Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 38. Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 38 f. 91 Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 98 f. – Hervorhebung durch den Verfasser. 92 Schon Gerd Roellecke, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, DÖV 1978, 457 (457) hält es für unwahrscheinlich, dass unserer Verfassung das Schicksal des Zusammenbrechens der Ordnung erspart bleibt. 93 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 266 ff. 90
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rangstellung aus, muss daher aber möglichst viele Weltanschauungen und Lebenskonzeptionen zulassen, um sein freiheitliches Versprechen einzulösen, nur das unverzichtbare Minimum festzulegen.94 Demnach muss die freie Bildung und Betätigung sämtlicher Lebenskonzeptionen für alle Gesellschaftsmitglieder garantiert werden. Für den Minimalkonsens bedeutet dies, dass eine Neutralitätspflicht der machthabenden Instanz gegenüber dem „Guten“ elementar ist, da nur so der Vorrang des Gerechten vor dem Guten gewährleistet werden kann.95 Denn sonst können die einzelnen Lebenskonzeptionen sich nicht unbeeinflusst entfalten. Dadurch wird eine grundlegende Gleichrangigkeit und Gleichbehandlung sämtlicher Konzeptionen des guten Lebens sichergestellt.96 Zum materiell höchsten Wert gehört damit die Autonomie der persönlichen Lebensführung.97 Dieser Wert geht über die prozedurale Gewährleistung der Wertbildung insoweit hinaus, als damit auch die Anerkennung des grundsätzlichen Vorrangs autonomer Individualentscheidungen und letztlich insgesamt die in der Menschenwürde mündende Vorrangstellung des Individuums vor der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt.98 Damit ist in materieller Hinsicht in der Tat der Respekt vor dem Individuum in seiner Würde, Autonomie und Gleichheit der mit höchster Priorität ausgestattete Wert der freiheitlichen Gesellschaft.99 94 Vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 223 [„Nur eine politische Gerechtigkeitskonzeption, von der wir vernünftigerweise erwarten können, daß alle Bürger ihr zustimmen, kann als Basis der öffentlichen Vernunft und Rechtfertigung dienen“]; vgl. zu einem Grund- und Rahmenkonsens Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 300 ff., insb. S. 302. 95 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 375 [„Neutralität bedeutet zunächst den argumentationslogisch begründeten Vorrang des Gerechten vor dem Guten, also das Zurücktreten von Fragen des guten Lebens hinter Fragen der Gerechtigkeit“ – Hervorhebung im Original]; vgl. kritisch Charles Larmore, Politischer Liberalismus, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, S. 131 (133) mit Blick auf die Gefahr, Neutralität als Hinweis auf eine gänzlich fehlende Moralität des Liberalismus zu begreifen. Allerdings handelt der Liberalismus vielmehr auf der Grundlage einer Moralität, auf die man sich leichter zu einigen vermag. Dies weist erneut auf die inhaltliche Offenheit für verschiedene Auffassungen von einem guten Leben und auf die dem liberalen Denken wesensfremde Totalität moralischer Konzeptionen hin. 96 Vgl. zum Problem der strukturellen Parteilichkeit der freiheitlichen Ordnung Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 120 ff. 97 Vgl. Bert van den Brink, Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, in: Babke (Hrsg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, S. 13 (21) [„Wert der Autonomie über jeden Wahrheitsanspruch bestimmter Religionen und Weltanschauungen gestellt“]. 98 Vgl. Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (16) zur Erkenntnis, dass bestimmte fundamentale Grundwerte stets in der Menschenwürde ihren Ursprung haben. 99 Vgl. Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 299 [„Recht auf gleiche Rücksicht und Achtung“]; vgl. auch Charles Larmore, Politischer Liberalismus, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, S. 131 (145 ff.) zur Vorrangigkeit der Norm des gegenseitigen Respekts im Konfliktfall.
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Der daraus notwendig folgende Pluralismus ist in der freiheitlichen Gesellschaft gewollt – mithin seinerseits ein Wert an sich. Jedoch ist dieser normative Pluralismus stets von dem Bewusstsein seiner immanenten Konfliktneigung getragen. Daher ist es eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft, diese Konfliktneigung durch Mechanismen vernunftgemäßer Befriedung zu reduzieren oder zumindest zu kontrollieren. Andernfalls wird die Selbstbestimmung Einzelner durch die Willkür der Starken zurückgedrängt. Damit gehört zu einem zentralen Wert, der in einem notwendigen Ableitungszusammenhang mit der Autonomie steht, der Friede, der durch die machthabende Instanz gesichert werden muss, sowie die Toleranz, die als eine angemessene Reaktion auf diese Differenzen durch die Gesellschaftsmitglieder geübt werden soll.100 Dabei kommt es nicht etwa auf die Anerkennung der Wahrheit einer Lebenskonzeption oder Weltanschauung an, sondern vielmehr auf die Fähigkeit, die persönlich erfahrene Wahrheit als autonome Individualentscheidung zu begreifen und „anderen eine ähnliche Freiheit zu lassen“.101 Freilich muss auch Toleranz ihre Grenzen haben, etwa dort, wo die Freiheit des Einzelnen sowie die Toleranz als Wert selbst angegriffen werden.102 cc) Homogenität als Wert Auch die freiheitliche Gesellschaft bedarf im Hinblick auf ihre basalen Grundwerte eines gewissen Maßes an Homogenität, die die Gesellschaft vor dem Zusammenbrechen bewahrt.103 Es ist insgesamt für die Funktionsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar, dass „die Grundwerte von den allermeisten, möglichst von allen Mitgliedern der Gesellschaft internalisiert und in ihrer täglichen Wahrnehmung wie auch in ihren Handlungen beachtet werden“.104 Zwar verfügt der Mensch über ein erhebliches Potenzial zur Vernunft, jedoch muss dieses immer wieder gestützt werden, um nicht abzuirren.105 100 Vgl. Michael Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, S. 8. [„Toleranz macht Differenz möglich, Differenz macht Toleranz notwendig“]; kritisch gegenüber dem Frieden als Rechtswert zur Legitimierung einer Toleranzgrenze Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 212 [„Warum soll eigentlich Friede sein?“ – Hervorhebung im Original]. 101 Bert van den Brink, Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, in: Babke (Hrsg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, S. 13 (21). 102 Vgl. Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 196 ff. (insb. S. 207 ff.). 103 Hermann Heller, Gesammelte Schriften, Band II, S. 427 f.; vgl. Bernhard Sutor, Grundwerte im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 85. 104 Egil Levits, Nationale Minderheiten als Herausforderung für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 293 (297); vgl. auch Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (15). 105 Helga Grebing/Richard Saage, Sozialdemokratie und Menschenbild, in: APuZ 34–36, S. 7 (9) im Hinblick auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus [Sonst „könne er unter das Niveau von Tieren fallen“].
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Diese Homogenität besteht in dem Konsens über die minimalen Grundwerte der Freiheitlichkeit, der durch eine geeignete Instanz gesichert werden muss, um die „Unantastbarkeit der Individualität des Einzelnen“ 106 zu schützen. Die politische Macht, die dabei ausgeübt wird, ist die „kollektive Zwangsmacht freier und gleicher Bürger“ 107, die nur diejenigen Werte schützen, „die vernünftigerweise erwarten lassen, da[ss] alle Bürger sie im Lichte ihrer gemeinsamen menschlichen Vernunft anerkennen können“.108 In dieser grundlegenden Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller Bürger besteht dann eben das verbindend Gemeinsame.109 Das für den Zusammenhalt der Gesellschaftsmitglieder notwendige „Wir-Gefühl“ sowie ein „sich aktualisierender Gemeinschaftswille“ 110 wird gerade durch die Bereitschaft zur Bewältigung von Spannungen gekennzeichnet, die aus den ethischen, religiösen oder politischen Differenzen hervorgehen, wie sie der Pluralismus mit sich bringt.111 Diese Spannungen sind aber von ihrer Intensität her nicht geeignet, die Gesellschaft in ihrer konkreten Erscheinungsform zu sprengen und damit letztlich „als solche“ untergehen zu lassen. Vielmehr sind sie Kennzeichen ihrer freiheitlichen Identität.112 Meist kann der Konflikt sogar integrationsfördernde Kraft haben.113 Dem kann man zwar entgegenhalten, dass gerade identitätsbezogene Konflikte meist im Sinne eines „Entweder-oder“ zu entscheiden sind und daher in der Sache kaum Kompromisse zulassen.114 Insoweit wird möglicherweise ein Appell an
106 Egil Levits, Nationale Minderheiten als Herausforderung für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 293 (297). 107 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 226. 108 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 226. 109 Uwe Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, S. 353 [„wechselseitige Anerkennung als Freie und Gleiche“] mit Verweis auf BVerfGE 2, 1; Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Werteordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (545 ff.). 110 Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (321). 111 Damit setzt sich die vorliegende Konzeption wohl in einen Gegensatz zur Integrationslehre Rudolf Smends (vgl. ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 136 ff.), dem zu Recht vorgeworfen wird, Homogenität gänzlich auf Kosten des Pluralismus erzeugt wissen zu wollen. Vgl. zur antipluralistischen Einordnung Smends bereits Robert Chr. Van Ooyen, Integration. Die antidemokratische Staatstheorie von Rudolf Smend im politischen System der Bundesrepublik, S. 34. 112 Vgl. etwa Horst Dreier, Religionen und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 11 (28) [„im Dissens der divergenten [. . .] Positionen nicht seinen feindlichen Widerpart, sondern seine Grundlage hat.“]. 113 Albert Hirschmann, Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?, Leviathan 22, S. 293 (297 ff.) [„Konflikt als Klebstoff und Lösemittel“ (S. 297)]; vgl. Günter Frankenberg, Autorität und Integration. Zur Grammatik von Recht und Verfassung, S. 154 ff. 114 Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (322).
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den Gemeinsinn kaum ausreichen.115 Allerdings ist die Annahme durchaus berechtigt, dass diejenigen Bürger, „die unter gerechten Institutionen aufwachsen, einen für deren Stabilität hinreichenden Gerechtigkeitssinn und ein begründetes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln“.116 Das heißt für die Mitglieder der freiheitlichen Gesellschaft letztlich, dass sie in dem Bewusstsein, ihre persönliche Lebenskonzeption selbstbestimmt verwirklichen zu können, auch die gemeinsame Bereitschaft entwickeln, die Gesellschaft, die dies möglich macht, zu erhalten. Insoweit wird – so die Hoffnung – eine Gesellschaft, die den Konflikt zulässt und nicht unterdrückt und damit eine grundsätzliche Offenheit für eine Vielzahl an Lebenskonzeptionen zeigt, letztlich mehrheitlich als vorzugswürdig empfunden werden. Denn es dürfte wohl kaum einen Menschen geben, der den Willen hat, etwas zu tun, aber zugleich nicht will, dass er dies auch tun darf. Eine Gesellschaft, die ihm die Verwirklichung seines Willens in größtmöglicher Weise zugesteht, kann daher mit gutem Grund das Attribut allgemeiner Zustimmungsfähigkeit für sich beanspruchen. Die integrationsfördernde Kraft des Konfliktes ergibt sich dann aus einer Art Geschäftsgrundlage der gegenseitigen Anerkennung und Achtung im Sinne eines Nehmens und Gebens („do ut des“) oder besser eines „In-Frieden-Lassens“, was durch die vernunftgemäße Annahme getragen wird, dass die Bewahrung dieser im Interesse aller liegt. dd) Kontroverse über den Konsens Das zentrale Charakteristikum der freiheitlichen Gesellschaft ist, dass sie die Kontroverse im Konsens zulässt und sogar fördert. Innerhalb der konsensualen Spielregeln wird die Kontroverse zu ihrem Markenzeichen. Der Konsens auf hoher Abstraktionsebene zerfällt rasch in Kontroversen über die Lösung bestimmter Probleme. So zeigt insbesondere die Menschenwürdegarantie, dass deren grundsätzliche Geltung von einem Konsens getragen sein mag, jedoch die Beantwortung konkreter Fragestellungen unter Berufung auf die Würde gravierende Divergenzen hervorbringt.117 Selbst die dem Grunde nach aus dem Pluralismus herausgenommenen Werte des Minimalkonsenses werden so zum Gegenstand eines „Konkretisierungspluralismus“.118 Damit eröffnet selbst der Minimalkonsens der Freiheitlichkeit neben der Kontroverse im Konsens auch die Triebfeder für eine Kontroverse über den Konsens.119 Diese ist aber zugleich eine ständige Aktuali115
Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (322). John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 230. 117 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 100 nennt hier als Beispiel die Bioethik. 118 Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, S. 43 f. – Hervorhebung im Original. 119 Vgl. auch Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation, JZ 1975, 116
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sierung seines Bestands und eine Selbstvergewisserung über seinen hochrangigen Geltungsanspruch. Selbst das grundlegende Infragestellen des Konsenses dient so schlussendlich seiner Bestandssicherung, da es zu seinem freiheitlichen Charakter gehört, auf seine Selbstbewährung im Diskurs auch gegen jene zu vertrauen, die ihn im Kern ablehnen. Daher darf der Minimalkonsens selbst grundsätzlich zum Gegenstand einer Kontroverse gemacht werden. Sie kann entweder seiner Bestandssicherung durch Selbstbewährung oder seiner Inhaltsbestimmung durch Konkretisierung dienen. So sind etwa die meist emotional geführten Debatten über Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch unter Berufung auf die Menschenwürde nicht nur von dem Ziel getragen, den Würdebegriff zu konkretisieren und auf bestimmte Fälle anzuwenden. Sie dienen zugleich der Bestätigung der grundlegenden Vorrangigkeit der Menschenwürde an sich, die von allen Diskussionsteilnehmern anerkannt wird, auch wenn die konkrete Ausgestaltung Differenzen hervorruft. So wird die Kontroverse zum integrationsfördernden Element der freiheitlichen Gesellschaft schlechthin. Die Annahme einer Kontroverse über den Konsens provoziert den Einwand, dass dessen materieller Kern in der Sache ausgehöhlt zu werden droht, da von ihm kaum gesicherte Elemente übrigbleiben, sondern letztlich doch wieder alles zur Disposition gestellt wird. Diese Sichtweise verkennt aber, dass der Konsens eine gewisse Basis kommunikativer Art liefert, auf dessen Grundlage der freiheitliche Diskurs zwecks freiheitlicher Wertbildung stattfindet. Die Anerkennung des Menschen in seiner Würde, Autonomie und Gleichheit ist eben nicht bis zur Aushöhlung interpretierbar. Hinzu kommt das Vertrauen auf die Vernünftigkeit der Ergebnisse bei Beachtung der prozeduralen Gewährleistung freier Wertbildung. Es kommt vielmehr zu einer für den demokratischen Prozess typischen gegenseitigen Kontrolle, die eine totalitäre Interpretation bis hin zur materiellen Entwertung verhindern soll. In der Praxis ist die Verteidigung gegen eine solche Aushöhlung kraft ihrer organisierten Herrschaftsstruktur die Aufgabe der machthabenden Instanz, aber nicht zuletzt auch eine Verantwortung aller Individuen, denen die Erhaltung der Freiheit am Herzen liegt.120 ee) Das Problem der „Tyrannei der Werte“ Erklärt man die Freiheit zum höchsten Wert, wird vereinzelt eine Gefahr gesehen, die unter dem Stichwort der „Tyrannei der Werte“ 121 diskutiert wird. Damit 297 (302) [„Kontroversen über die Alternativen, [. . .] auch das wissenschaftliche ,Konzert‘ über Verfassungsfragen, in dem es kaum ,Pausen‘ und ,Fermaten‘ und keinen Dirigenten gibt und geben darf.“]. 120 Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation, JZ 1975, 297 (302) [Der „freie Prozeß [ist] realiter auch von innen her immer wieder bedroht“]. 121 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 35 ff.
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ist eine dem Wert innewohnende Aggressivität gemeint, die unter dem „Deckmantel“ der Freiheitsverteidigung in Wahrheit selbst unfreiheitliche Elemente aufweise.122 Im Unterschied zur totalitären Homogenität bezieht sich der demokratische Wertekonsens jedoch maßgeblich auf „prozessuale Spielregeln, deren Aufgabe es ist, die Individualität des Einzelnen in der Gesellschaft zu stärken und die daraus resultierende Vielfalt der Gesellschaft zum Vorteil eines jeden Einzelnen zu nutzen“.123 Daher erfolgt die Freiheitssicherung vorrangig in prozeduraler Hinsicht.124 Die totalitäre Gesellschaftsordnung hingegen erstrebt eine materielle Homogenität, die in einer „Liquidierung der Individualität des Einzelnen“ 125 besteht. Die demokratische Homogenität ist daher normativ überlegen126, da sie sich auf ein Minimum beschränkt und umfassenden Raum für die auf freie Entfaltung hingeordneten Bedürfnisse der einzelnen Bürger lässt. Selbst das in materieller Hinsicht aus der Freiheit abgeleitete Recht auf gleiche Beachtung und Respekt aller Menschen sowie die Anerkennung ihrer Autonomie zur privaten Lebensgestaltung ist wohl das genaue Gegenteil dessen, was man als Tyrannei bezeichnen würde.127 Insoweit liegt die Besonderheit beim Wert der Freiheit in seiner eigenen – prozeduralen, aber auch materiellen – Zurückhaltung sowie der Einsicht, dass er nur dort zur vollen Entfaltung gelangen kann, wo er nicht den Anspruch erhebt, von jedem internalisiert zu werden. Dem Wert der Freiheit wohnt damit gerade keine Aggressivität, sondern vielmehr ein defensives Moment inne, gleichsam eine immanente Neigung, verteidigt zu werden, ohne alles zu durchdringen. 4. Bestandssicherung durch Treue zum Minimalkonsens Die Freiheit bedarf zu ihrem Bestand stets auch der Sicherheit128, die für die Gewährleistung des freien Wertbildungsprozesses unerlässlich ist. Denn was wäre das für eine Freiheit, wenn sie stets von der Angst davor begleitet wäre, von ihr Gebrauch zu machen? Die Freiheit muss daher durch geeignete und angemessene Mechanismen verteidigt werden. Keiner Ordnung wohnt die Garantie ewiger Gel122
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 29 (dort Fn. 39). Egil Levits, Nationale Minderheiten als Herausforderung für die Demokratiefestigkeit einer Gesellschaft, in: Conrad/Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, S. 293 (298). 124 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 20 (dort Fn. 39). 125 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 20 (dort Fn. 39). 126 Vgl. zur normativen Überlegenheit der demokratischen „Ur-Idee“ Ulrich K. Preuß, Die Bedeutung kognitiver und moralischer Lernfähigkeit für die Demokratie, in: Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, S. 259 (259). 127 Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 100. 128 Bernhard Frevel, Sichere Gesellschaft – Ein unerfüllbares Versprechen?, in: APuZ 34–36, S. 53 (54). 123
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tung inne. Das bedeutet zugleich, dass selbst der Minimalkonsens der Freiheitlichkeit dem allgegenwärtigen Risiko ausgesetzt ist, zu „zerbrechen“. Denn der Minimalkonsens ist natürlich kein echter Konsens im Sinne einer tatsächlichen Willensübereinstimmung aller. Sein Konsenscharakter ist vielmehr eine Fiktion, die aus der Notwendigkeit eines Bestandes verbindender Elemente in einer Gesellschaft hervorgeht. Deswegen wird es regelmäßig auch eine Minderheit geben, die den Konsens nicht teilt. Es stellt sich die Frage, welches Verhalten die Mehrheit von dieser Minderheit verlangen kann, um ihren Konsens durchzusetzen und in seinem Bestand zu sichern. Der „Selbstbehauptungswille“ 129 ist der freiheitlichen Gesellschaft immanent. Angesichts der Verfolgung so zahlreicher – vereinzelt auch gegenläufiger – Interessen wird die Sicherung des Gemeinsamen umso wichtiger. Das Dilemma der freiheitlichen Gesellschaft, die Freiheit gewähren, aber auch verteidigen will, kann nur durch eine freiheitsschonende Ausgestaltung der Verteidigungsmechanismen gebändigt werden. Diese Erkenntnis bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Anforderungen an die Treue der Gesellschaftsmitglieder. Die Anforderungen an die Treue gegenüber dem Konsens muss nämlich der Freiheit ihrer Adressaten Rechnung tragen. Die oben postulierte Bereitschaft zur Anerkennung der Mitmenschen als freie und gleiche Bürger ist zwar unerlässlich, aber nicht erzwingbar. Bereitschaft ist eine innere Haltung, die – wie gezeigt – dem steuernden Zugriff von außen entzogen ist. Damit kann selbst der freiheitliche Minimalkonsens nur in begrenztem Maße gegen Veränderungen – seien sie sukzessive oder schlagartig-revolutionär – verteidigt werden. Das Individuum als Mitglied der Gesellschaft ist in erster Linie Träger der Freiheit. Umgekehrt ist es nicht originär auf den Schutz der Freiheit anderer verpflichtet. Diese Verpflichtung kommt einer eigens zum Zweck des Freiheitsschutzes eingerichteten Institution zu – dem Staat. Insoweit bedient sich die Gesellschaft einer hoheitlichen Instanz zur Sicherung ihres Wertekanons.130 Der so verstandene Staat dient der institutionellen Absicherung der gleichen Freiheit aller. Dennoch ist auch der Staat darauf angewiesen, dass es eine grundlegende Bereitschaft innerhalb der gesamten Gesellschaft gibt, die Freiheiten, die man für sich in Anspruch nimmt, auch den anderen zuzugestehen.131 Diese grundlegende Haltung der gleichen Freiheit aller impliziert aber konkret nur eine sozialethische Pflicht zur Duldung der Freiheitsausübung Dritter. Die Anforderung an die Mitglieder einer freiheitlichen Gesellschaft besteht also darin, eigene Lebenskonzeptionen als Wahrheit zu erfahren und gegenläufige Konzeptionen trotzdem nicht 129
Otto Depenheuer, Die Selbstbehauptung des Rechtsstaates, S. 30. Vgl. Uwe Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, S. 349 zur Funktion des Rechts, „dem Konsens die erforderliche Folgebereitschaft zu sichern“. 131 Bert van den Brink, Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, in: Babke (Hrsg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, S. 13 (20). 130
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zu unterdrücken. Es ist ein Gebot der Vernunft, dass man für sich nicht etwas beanspruchen kann, was man anderen nicht zugestehen will. Die Duldung der Freiheitsausübung Dritter muss notfalls durch den Staat mit Zwang durchgesetzt werden.132 In diesem Zwangsmoment liegt die Schnittstelle zwischen den abgegrenzten Sphären zwischen Staat und Bürger. Die Zuständigkeiten sind verteilt: Der Staat zwingt, der Bürger duldet. Die Zwangsgewalt des Staates ist aber der Freiheit verpflichtet und damit begrenzt. Die Anforderungen an den Bürger erschöpfen sich damit in einem Unterlassen, weil ein aktives Handeln nicht gefordert werden kann, ohne die Freiheit des Einzelnen zu beschneiden. Das Unterlassungselement einer Duldung ist negative Treue. Aus dieser Komponente der negativen Treue folgt insbesondere das Verbot, die eigenen Lebenskonzeptionen als absolute Wahrheiten mit Gewalt durchzusetzen.133 Damit einher geht das grundsätzliche Verbot der Schädigung anderer Menschen (sog. neminem laedere). Denn die Anerkennung der Mitmenschen als freie und gleiche Bürger gehört zum materiellen Bestand des Minimalkonsenses. Dieser würde aber angegriffen, wenn man sich zur Durchsetzung seiner Werte mit Gewalt gegen Mitbürger richtet oder diesen bewusst einen Schaden zufügt. Daraus folgt logisch zwingend auch die – zumindest äußere – Unterwerfung unter die Mehrheitsentscheidungen. Jedoch steht es jedem Bürger frei, die Entscheidung innerlich abzulehnen sowie Bestrebungen dahingehend zu unternehmen, die Mehrheiten zu ändern. Diese Bestrebungen können sich allerdings nicht auf die Abschaffung des Minimalkonsenses selbst beziehen, da insoweit zusätzlich eine Pflicht mit dem Inhalt besteht, die aktive Beseitigung des freiheitlichen Minimalkonsenses zu unterlassen. Das ist die zweite Komponente der negativen Treue gegenüber dem Minimalkonsens. Über den Minimalkonsens hinausgehende Werte dürfen dagegen aktiv beseitigt werden, selbst wenn diese bisher als zentrale Wertvorstellungen der Gesellschaft gegolten haben. Dabei sind jedoch auch die prozeduralen Regeln des Minimalkonsenses einzuhalten, was eine Durchsetzung mit Gewalt ausschließt. Eine grundlegende Komponente der negativen Treue des Individuums ist also im Ergebnis die Zumutung, sich mit dem Minimalkonsens konfrontieren zu lassen. Diese Konfrontationszumutung bezieht sich auf die Grundwerte der freiheitlichen Gesellschaft.134 Das bedeutet insbesondere, dass die Freiheitsausübung an132 Vgl. Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 254 [„Hüter der Toleranz“]. 133 John Rawls, Politischer Liberalismus, S. 225. 134 Vgl. Uwe Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 245 (262) [„Zumutung der Konfrontation“] unter Hinweis auf eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur allgemeinen Schulpflicht, durch die ebenfalls eine Konfrontation mit dem grundgesetzlichen Wertepluralismus erfolgt, vgl. BVerfG, FamRZ 2006, 1094 ff.
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derer Menschen ausgehalten werden muss, auch wenn diese in der konkreten Situation Unbehagen oder innere Ablehnung auslöst. Das bedeutet aber auch, dass man die Freiheit an sich und das verteidigende Eingreifen der machthabenden Instanz gegen Angriffe auf diese zu dulden hat. Dulden bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem das Unterlassen aktiver Verhinderungsmaßnahmen gegen das freiheitliche Handeln der Mitbürger sowie gegen das freiheitsschützende Verhalten der machthabenden Instanz, also des Staates. Konkret läuft es darauf hinaus, vom Bürger bloßen äußeren Rechtsgehorsam zu verlangen. Denn der Staat wird seinen Schutzauftrag durch den Erlass von Verhaltensanforderungen in Gestalt von Rechtsnormen erfüllen. Das können etwa in Strafgesetze gegossene Verbote sein, die dazu dienen, die Freiheitssphäre der Bürger zu schützen. Über diese Konfrontationszumutung hinaus besteht allerdings keine positive Pflicht, den Konsens innerlich zu teilen oder gar aktiv zu fördern. Dies folgt aus der freiheitsschonenden Ausgestaltung der Treue, deren Zweck allein in der Bestandssicherung der freiheitlichen Gesellschaft besteht. Der Bestand ist aber erst bei aktiven Bestrebungen zu seiner Beseitigung gefährdet und nicht bereits dann, wenn eine bestimmte Zahl an Mitgliedern die Idee von Freiheit und Pluralismus innerlich ablehnt. Wenn die machthabende Instanz nicht aktiv an der Durchsetzung des Minimalkonsenses gehindert wird, kommt dieser auch ohne das aktive Eintreten jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds zur Geltung. Daher kann das Ablehnungsrecht dem Einzelnen in seiner persönlichen Wertbildungsfreiheit zugestanden werden, ohne dass dadurch der freiheitliche Bestand konkret gefährdet wäre. Deshalb sehen sich die Gesellschaftsmitglieder gerade keiner Identifikationszumutung des freiheitlichen Konsenses ausgesetzt. Der Einzelne kann vielmehr als Träger des Rechts zur freien Wertbildung auch zu dem Ergebnis kommen, dass er dieses Recht nicht allen gleichermaßen zugestehen will. Diese innere Wertbildung kann und will auch der Minimalkonsens nicht verhindern. Sie wird jedem zugestanden. Insoweit gilt die Erkenntnis, dass die individuelle Wertbildung nicht beeinflussbar ist und daher an die innere Werthaltung keine Anforderung gestellt werden kann. Was hingegen beeinflusst werden kann, sind die äußeren Handlungen. Demnach bezieht sich die sozialethische Pflicht des Bürgers zur Treue gegenüber dem Minimalkonsens auch nur darauf, diesen äußerlich unangetastet zu lassen. Das hindert ihn nicht daran, die Werte des Konsenses innerlich abzulehnen und diese Ablehnung im Rahmen der kommunikativen Freiheit auch zu äußern. Jedoch hat er in diesem kommunikativen Diskurs trotzdem die – von ihm möglicherweise selbst abgelehnten – Regeln des freiheitlichen Konsenses einzuhalten. Sonst kann die Gesellschaft berechtigterweise gegen ihn vorgehen, da er seine Pflichten gegenüber dem Konsens verletzt und die Grenzen seines Rechts zur Ablehnung dieses Konsenses überschreitet. Entwickelt sich die Ablehnung des Pluralismus zu einer Mehrheitsmeinung und geht die Bestrebung dahin, die Freiheitlichkeit selbst abzuschaffen, so ist dies in letzter Konsequenz ohnehin nicht vermeidbar, da selbst mit Gewalt gegen eine überwältigende Mehrheit eine
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Ordnung – egal welcher Art – nicht durchgesetzt oder erhalten werden kann. Angesichts dieser Feststellung besteht keine Notwendigkeit, von der Freiheit abzurücken und sich zu ihrer Verteidigung totalitärer Instrumentarien zu bedienen.
III. Die Wertordnung des Grundgesetzes Das Bundesverfassungsgericht leitet im Lüth-Urteil aus den Grundrechten eine objektive Wertordnung her.135 Diese Rechtsprechung hat sich inzwischen verfestigt und fortentwickelt, ist aber in der Wissenschaft nicht ohne Kritik geblieben.136 Diese Kritik setzt maßgeblich am Begriff des Wertes an. Werte drohten auf Grund ihres unbedingten Geltungsanspruchs die Gefahr einer Freiheitsvernichtung mit sich zu bringen.137 Wo Werte postuliert werden, so glaubte man, sei kein Raum mehr für die Entfaltung individueller Freiheiten. Denn dieser Raum würde von der auf unbedingte Verwirklichung drängenden Aggressivität von Werten – gleich welchen Inhalts – aufgezehrt. Wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, kann eine Wertordnung mit minimalem Gehalt durchaus vereinbar sein mit der Idee individueller Freiheitsverbürgung. Die weiteren Gedanken sollen diesen Befund in die Interpretation einer grundgesetzlichen Wertordnung einfügen. Es soll gezeigt werden, dass das Postulat einer Wertordnung nicht dazu zwingt, dem Bürger eine Identifikation mit deren Inhalt aufzubürden. Wertordnung ist keine Verkürzung von Freiheit durch Gesinnungszwang. 1. Wertordnung als normative Verstärkung der Grundrechte Ziel der Wertordnung ist es nämlich vielmehr, die Geltung der Grundrechte als Freiheitsverbürgungen auszuweiten und damit umfassender zu gestalten138 – ohne dabei totalitär zu wirken. Eine solche „normative Verstärkung der Bedeutung der Grundrechte“ 139 ist nicht lediglich eine rechtspolitisch motivierte oder verfas135
Vgl. dazu BVerfGE 7, 198 (198) [„Lüth“]. Vgl. etwa Shu-Perng Hwang, Materialisierung durch Entmaterialisierung. Zur Kritik der Schmitt-Schule am wertorientierten Grundverständnis unter dem GG, Der Staat 52, S. 219 (219 ff.) mit einer ausführlichen Darstellung der Kritik der SchmittSchule an der Werterechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; umfassend Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts. 137 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 51 ff. [„Wieviel harmloser und ungefährlicher kann es heute erscheinen, die Veröffentlichung veröffentlichungsunwerter Schriften und die Äußerung äußerungsunwerter Meinungen zu unterdrücken [. . .] Das könnte doch alles unter der Parole der Freigabe der Vernichtung von Unwerten gefordert werden.“ (S. 53)]. 138 Vgl. BVerfGE 7, 198 (204) [„hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt“]. 139 Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 193; vgl. Konrad Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265 (266); kritisch dazu Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 221 f. 136
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C. Treue und Wertordnung
sungstheoretisch ausgefüllte Interpretation. Sie ist vielmehr dem Grundgesetz selbst zu entnehmen.140 Die Deutung der Verfassung als Wertordnung141 sollte vor allem den Charakter des Grundgesetzes als Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung betonen.142 Gerade die Wertneutralität war die zentrale Schwäche der Vorgänger-Verfassung. Denn die bloße Vorgabe formaler Organisationsregeln genügt nicht, um die Errichtung einer Ordnung zu verhindern, die der Idee einer freiheitlichen Staatsordnung entgegensteht. Es fehlte eine übergreifende geistige Substanz, die einer Verfassungsinterpretation entgegensteht, die allein am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks verfassungsrechtlicher Normen haftet.143 Insoweit kann das Zusammenspiel der Verfassungsnormen nicht ohne Berücksichtigung der Erfahrungen des Totalitarismus gesehen werden.144 Die Verfassungsväter und -mütter haben sich deswegen bewusst für eine wertorientierte Grundordnung entschieden.145 Nach diesem Verständnis hat das Grundgesetz bestimmte absolute Werte zum Schutz der freiheitlichen Ordnung aus dem „Pluralismus von Zielen und Wertungen“ herausgenommen.146 Es versteht sich als „streitbare Demokratie“.147 Das bedeutet, dass diese Grundwerte als unantastbar und unverhandelbar angesehen werden. Ihr Inhalt zielt auf unbedingte Verwirklichung ab. Sie sind nach dieser Idee gegen jeglichen feindlichen Angriff, der diese Werte in Frage stellt, zu verteidigen. Aber wem kommt diese Aufgabe
140 Vgl. Hasso Hofmann, Grundrechte 1789 – 1949 – 1989, NJW 1989, 3177 (3183 ff.); Konrad Hesse, Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Aufgabe und Funktion der Verfassung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, 1. Aufl. 1984, S. 3 (9) [„Verstärkung der bindenden Kraft des Verfassungsrechts“]; Walter Schmidt, Grundrechtstheorie im Wandel der Verfassungsgeschichte, in: JURA 1983, 169 (175) [„textimmanent, nicht länger texttranszendierend“]. 141 Vgl. schon im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“ in den beiden Parteiverbotsverfahren BVerfGE 2, 1 (12 f.) [„SRP-Verbot] und noch deutlicher BVerfGE 5, 85 (138 f.) [„KPD-Verbot“]. 142 Vgl. allgemein zur Diskrepanz zwischen Weimarer Reichsverfassung und Bonner Grundgesetz Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 108 ff.; ebenso Willi Geiger, Grundwertentscheidungen des Grundgesetzes, in: BayVBl. 1974, 297 (297 ff.), der in der Wertordnungsrechtsprechung einen bewusst gesetzten Kontrapunkt zum Weimarer Werterelativismus sieht. 143 Günter Dürig/Hans H. Klein, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 18 Rn. 7 [„Die entscheidende Schwäche der Weimarer Demokratie war ihre Wertneutralität.“]; vgl. auch BVerfGE 5, 85 (138) [„Die Weimarer Verfassung hat auf eine Lösung verzichtet, ihre politische Indifferenz beibehalten und ist deshalb der aggressivsten dieser ,totalitären‘ Parteien erlegen.“]. 144 BVerfGE 5, 85 (138). 145 Ulrich Preuß, Legalität und Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 23 ff. 146 BVerfGE 5, 85 (139). 147 BVerfGE 5, 85 (139).
III. Die Wertordnung des Grundgesetzes
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zu, die Wertordnung zu verteidigen? Sind die Bürger von dem antreibenden Charakter der Werte persönlich betroffen? 2. Drittwirkung der Grundrechte als positive Treue? Die objektive Wertordnung soll nach dem verfassungsgerichtlichen Verständnis für alle Bereiche des Rechts gelten. Aus der Objektivität dieser Wertordnung könnte man nun ableiten, es gebe eine Ordnung von objektiv gültigen Werten148, denen sich jeder unterzuordnen hätte, weil diese Ordnung keinen Spielraum für „Subjektivität“ lasse. Die dahinterstehende Konzeption meint aber etwas anderes. Vielmehr soll darunter nicht eine objektiv geltende und für jedermann unmittelbar verbindliche Wertordnung verstanden werden, sondern mehr eine solche Ordnung, die Wertungen enthält, welche über die Gewährung subjektiver Einzelrechte hinausgeht. Sie soll damit auch das objektive (einfache Gesetzes-)Recht betreffen und durch die Bindung des Gesetzgebers beeinflussen.149 Daraus wurde weiter eine „Ausstrahlungswirkung“ 150 der in den Grundrechten verkörperten Wertentscheidungen auf das Privatrecht abgeleitet. Die Wertordnung war demnach nicht mehr allein gegen feindliche Angriffe und ihre Negation zu schützen, sondern sollte positiv verwirklicht werden. Die damit einhergehende so genannte „mittelbare Drittwirkung“ 151 der Grundrechte nahm zunehmend auch den Bürger in Anspruch und band ihn im Privatrechtsverkehr gleichsam selbst – wenn auch nur mittelbar – an die Grundrechte.152 Der (Zivil-)Richter ist als Repräsentant der Staatsgewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG bei seinem Urteilsspruch – insbesondere bei der Auslegung von Generalklauseln – umfassend an die Grundrechte gebunden. Da der Bürger ohne zivilrichterliche 148 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 85, der eine solche Objektivität von Werten generell für eine bloße „Behauptung“ hält, die nicht mit der Allgemeingültigkeit von Sätzen der Logik und Mathematik vergleichbar sei. 149 Vgl. auch Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 199, der in der Rede von der „objektiven Wertordnung“ gerade keine Anerkennung einer bestimmten philosophischen Rechtsschule – etwa der materialen Wertethik Max Schelers, die eben eine solche „objektive“ Richtigkeit bestimmter Werte postulierte – sieht. 150 BVerfGE 34, 269 (280). 151 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 11 Rn. 351 ff., 356; vgl. Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 149 ff. 152 Uwe Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, S. 258 spricht sogar von einer nur „vorgeschobenen Mittelbarkeit“ und weist darauf hin, dass sich die Grundrechte im Privatrechtsverkehr im Grunde kaum von anderen Rechtsnormen unterscheiden, die auf ihre zwangsweise Durchsetzbarkeit angewiesen sind. Hier deutet sich erneut an, dass auf dem „Umweg“ über die Pflicht zum Rechtsgehorsam auch Grundrechte durch den Bürger Beachtung finden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass er diese nicht aktiv zu schützen hat und auch – formaljuristisch – nicht ihr Adressat ist.
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C. Treue und Wertordnung
Entscheidung im Konfliktfall nicht zu seinem privatautonom begründeten Recht kam, war er faktisch selbst schon zum Zeitpunkt der Ausübung der Privatautonomie – etwa beim Abschluss eines Vertrages – gehalten, grundrechtliche Wertungen zu berücksichtigen. Der Bürger muss – will er einen durchsetzbaren Anspruch begründen – also Grundrechte beachten. Aus den als Abwehrrechte gegen den Staat konzipierten Grundrechten153 werden somit in gewisser Weise Einschränkungen der Freiheit. Auch dies dürften die Schmitt-Schüler gemeint haben, wenn sie vor einer Freiheitsvernichtung warnten. Jedoch bedeutet diese Bindung des Bürgers keineswegs eine umfassende Verpflichtung auf die Grundrechte im Sinne einer positiven Treue gegenüber diesen Wertentscheidungen. Denn bei genauer Betrachtung ist diese Rechtsfigur nur der Ausdruck der notwendigen Begrenzung der Freiheit des Einzelnen durch die Freiheit anderer, wie sie schon in Art. 2 Abs. 1 GG formuliert ist. Insoweit ist der Bürger nicht zur positiven Förderung der verfassungsrechtlichen Grundwerte angehalten, sondern muss im Rahmen seiner Grundrechtsausübung nur die Rechte der anderen als notwendige Beschränkung hinnehmen. Zur positiven Förderung der Grundrechte hingegen ist allein der Staat verpflichtet.154 Diese Verpflichtung reicht bekanntlich bis zum Maß aktiver „Schutzpflichten“ im Sinne einer positiven Pflicht des Staates, sich allgemein „schützend und fördernd“ vor die Grundrechte und die durch sie verkörperten Wertentscheidungen zu stellen.155 Der Staat hat also kraft der Deutung des Grundgesetzes als Wertordnung die Pflicht zum Schutz dieser Ordnung, ist aber zu diesem Zwecke auch zur Beschränkung der Freiheit ermächtigt. Aus der Sicht des Bürgers stellt sich dies mehr als Duldungsanforderung dar, kann also allenfalls im Sinne einer negativen Treue interpretiert werden. Aktualisiert wird diese Duldung aber erst im einfachen Gesetzesrecht, dessen Normen der Bürger unterworfen ist. Der Staat muss zuvörderst im Rahmen der Gesetzgebung diese grundrechtlichen Wertgehalte konkretisieren und so die Grundrechte seiner Bürger abstrakt-generell gegeneinander abwägen. In letzter Konsequenz schuldet der Bürger also wiederum nur äußeren Gehorsam gegenüber denjenigen Normen, denen bestimmte Wertentscheidungen zu Grunde liegen. Die Gesinnung selbst kann aber von diesen Normen gar nicht erreicht werden. Dadurch entsteht durch den antreibenden Charakter der Werte innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung auch keine Gefahr für die Freiheit des Denkens, da das Denken gar nicht adressiert wird. Für die Freiheit des Handelns bestehen nur die allgemeinen Grenzen, die die Duldung der Freiheitsentfaltung anderer und die staatliche Schutztätigkeit mit sich bringen. Die 153
BVerfGE 7, 198 (204 f.). Vgl. Hans Heinrich Rupp, Die „öffentlichen“ Funktionen der Verbände und die demokratisch-repräsentative Verfassungsordnung, in: Schneider/Watrin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz, Halbband 2, S. 1251 (1266), der den Staat als „Schuldner fremder Freiheit“ bezeichnet. 155 BVerfGE 39, 1 (1). 154
III. Die Wertordnung des Grundgesetzes
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unmittelbare Bindung des Staates an die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 GG hat der Bürger hinzunehmen, ohne selbst im Sinne einer positiven Förderungs- oder Schutzpflicht gebunden zu sein. 3. Freiheit durch inhaltlichen Minimalgehalt der Wertordnung Gegenstand der Wertordnung des Grundgesetzes sind lediglich die aus den Grundrechten folgenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen.156 Es handelt sich also nicht um eine umfassende Vorgabe für die Gestaltung des Privatlebens der Bürger, auf die der Staat hinzuwirken hätte. Vor allem kann nicht von einer „Leitkultur“ 157 gesprochen werden. Das Grundgesetz weist eine grundsätzliche Kulturoffenheit auf und schreibt durch die besagte Wertordnung nicht eine bestimmte – „die deutsche“ – Kultur vor.158 Jedoch ändert dies nichts daran, dass auch das Grundgesetz selbst in einen kulturellen Kontext eingebunden ist, aus dem gewisse Werte historisch gewachsen sind. Mit diesen Werten mag es auch in der Sache unvereinbare Kulturen geben.159 Jedoch wird nicht die Kultur selbst zum verbindlich vorgegebenen Leitbild des Grundgesetzes, sondern die aus ihr resultierenden freiheitlichen Werte als (normativer) Teilausschnitt davon. Allenfalls die Wendung „Kultur der Freiheit“ 160 beschreibt in zutreffender Weise das, was mit der grundgesetzlichen Wertordnung gemeint ist. Es geht weder um eine umfassende Konzeption des guten Lebens161, noch um eine Konservierung bestimmter „typisch deutscher“ Lebensweisen, Traditionen oder Gewohnheiten. Für den Einzelnen hält das Grundgesetz vielmehr umfassende Freiheitsverbürgungen bereit. Diese Freiheiten sind lediglich durch die Freiheit der Gemeinschaft, also der Gesamtheit der ebenfalls freiheitsberechtigten Mitmenschen, begrenzt. Dem Grundgesetz liegt damit nicht das Menschenbild „des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit“ 162 zu Grunde. Der Einzelne muss sich 156
BVerfGE 7, 198 (198) [„Lüth“]. Vgl. dazu etwa Helga Grebing/Richard Saage, Sozialdemokratie und Menschenbild, in: APuZ 34–36, S. 7 (9) mit Hinweis auf die ausgrenzende Funktion dieses Terminus; ausführlich zur Terminologie Tine Stein, Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus?, in: Leviathan 36, S. 33 (40). 158 Vgl. dazu statt vieler Joachim Detjen, Die Wertordnung des Grundgesetzes, S. 63. 159 Joachim Detjen, Die Wertordnung des Grundgesetzes, S. 52 f. 160 Vgl. zu diesem Terminus Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit. 161 Vgl. Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 98 f. zum Verbot, staatliche Maßnahmen mit einer bestimmten Konzeption des guten Lebens zu begründen. 162 BVerfGE 12, 6 (51) im Zusammenhang mit der Wehrpflicht, die als Ausdruck einer solchen Gemeinschaftsbindung des Bürgers interpretiert wird; vgl. auch BVerfGE 5, 85 (204) [„abgefordert, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen“]. 157
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C. Treue und Wertordnung
diejenigen „Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die [. . .] zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des [. . .] allgemein Zumutbaren [gezogen werden], vorausgesetzt, da[ss] dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt“.163 Die Verpflichtung auf die Grundrechte erschöpft sich aber eben in der Zumutung, die Einschränkbarkeit der eigenen Freiheit zu dulden. Ein darüber hinausgehender aktiver Einsatz für das Gemeinwohl, die Freiheit oder gar die ganze Verfassungsordnung ist daraus nicht abzuleiten.164 Diese Interpretation der Grundrechte zeigt, dass das Grundgesetz eine auf Pluralismus abzielende Wertordnung konstituiert, die lediglich den Wert der Freiheit aller selbst aus diesem Pluralismus herausnimmt. Es verschafft ebendieser Freiheit eine verstärkte Geltung in allen Bereichen des Rechts und erhebt sie damit zu einem umfassenden und mit besonderem Vorrang ausgestatteten Grundwert. Von wenigen Vorrangentscheidungen wie diesen abgesehen, legt das Grundgesetz keine explizite „Wertrangordnung“ 165 fest, um Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers zu sichern.166 Diese Offenheit ohne Beliebigkeit macht das Grundgesetz zu einem „Prototyp[en] einer modernen, freiheitlichen Verfassung im Sinne westlicher Demokratien“.167
163 BVerfGE 4, 7 (16); vgl. auch BVerfGE 33, 303 (334) [„Gemeinschaftsgebundenheit der Person“]. 164 Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (301). 165 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Werteordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (548) – Hervorhebungen im Original. 166 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Werteordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (548). 167 Horst Dreier, Kants Republik, JZ 2004, 745 (753) mit näheren Ausführungen zu den Parallelen des Grundgesetzes zum Kant’schen Staatsentwurf mit gleichzeitiger Warnung davor, Kant bei der Interpretation der Verfassung unbedacht in Anspruch zu nehmen.
D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz – staatsphilosophische Grundlegung Die Neutralität des Staates ist eine wesentliche Säule, die zum Inhalt der freiheitlichen Ordnung gehört.1 Dadurch soll die selbstbestimmte Lebensführung sichergestellt werden, indem sie von hoheitlich verordneten Wertvorstellungen verschont bleibt. Aber wie passt das zu der Erkenntnis, dass Grundlage staatlichen Handelns eine wertgebundene Ordnung ist? Der freiheitliche Staat bewegt sich hier auf einem schmalen Grat. Einerseits ist der Staat nicht wertneutral, da er kraft seiner Verfassung Träger einer bestimmten Wertordnung ist. Andererseits ist er aber zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Aber wie neutral kann ein Staat mit einem festen Wertefundament eigentlich sein? Kann ein neutraler Staat überhaupt Werte „haben“ oder gar verteidigen? Eingangs soll versucht werden, die Paradoxie der Neutralität zu verstehen. Um Neutralität auf der einen und Wertbindung auf der anderen Seite miteinander zu vereinen, muss der zentrale Unterschied der freiheitlichen Wertordnung zu religiösen und weltanschaulichen Wertsystemen beleuchtet werden. Die Charakterisierung der freiheitlichen Wertordnung bestimmt so auch das Maß der ihr gegenüber geschuldeten Treue. Kann die so charakterisierte Wertordnung vom Staat „vertreten“ werden, ohne auf die Gesinnung der Bürger Zugriff zu nehmen? Muss nicht die Verteidigung von Werten notwendig darauf ausgerichtet sein, dass die Bürger die Werte in ihr persönliches Wertsystem internalisieren? Wie stark darf der Staat den Bürger für den Verfassungsschutz in Anspruch nehmen? Wie viel Treue schuldet der Bürger seinem Staat? Zur Beantwortung dieser Fragen wird die Rolle der Staatsbürger im System des Verfassungsschutzes analysiert. Verfassungsschutz meint dabei den Schutz der Wertordnung, die der Verfassung eines freiheitlichen Staates als Minimalkonsens zu Grunde liegt. Insbesondere die Verantwortung des Staatsbürgers für den Schutz dieser Wertordnung wird nachfolgend in den Blick genommen.
1 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland § 12 Rn. 382, der die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates schlechthin als „Voraussetzung eines freien politischen Prozesses und als Grundlage heutiger Rechtsstaatlichkeit“ bezeichnet; vgl. auch Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 236 ff. zur Bedeutung des Neutralitätsprinzips für das moderne Staatsverständnis.
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
I. Das Paradoxon der Neutralität Der Staat – fingiert man ihn einmal als Person – orientiert sein Handeln an einer Wertordnung so wie der einzelne Bürger seine Lebensführung nach einem persönlichen Wertsystem ausrichtet. Das bedeutet zugleich – dem Geltungsanspruch von Werten entsprechend –, dass es dem Staat nicht gleichgültig sein kann, welche Werte schließlich zur Verwirklichung kommen und in seinem Einflussbereich (Territorium) „gelebt“ werden. Er hat vielmehr ein signifikantes Interesse daran, dass eine Vielzahl an Bürgern die staatlichen Werte für sich annimmt und ihre persönliche Lebensführung nach Möglichkeit an diesen ausrichtet. Wenn sich der Staat gerade nicht durch Indifferenz in Wertfragen auszeichnet, muss ihn auch die Betätigung von Verfassungsfeinden auf dem Staatsgebiet interessieren, die die freiheitliche Wertordnung öffentlich ablehnen oder gar aktiv bekämpfen. Die Betonung des Vorrangs individueller Freiheit und der Autonomie der persönlichen Lebensführung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat – als funktional von der Gesellschaft getrennte „Person“ – einen eigenen Bezug zu „seiner“ Wertordnung hat, deren Verteidigung zu seiner vornehmsten Aufgabe gehört und geradezu seinen Existenzzweck darstellt. Die Wahl der Mittel zur Verteidigung dieser Ordnung wird aber durch seine eigenen Werte determiniert. Somit ist er in der Auswahl seines Instrumentariums begrenzt. Daher betrachtet er individuelle Werthaltungen, die der Freiheitlichkeit signifikant widersprechen, auch nicht mit indifferenter Untätigkeit oder Machtlosigkeit, sondern mit besorgter, aber bewusster und gezielter Zurückhaltung. Denn zum materiellen Inhalt seiner freiheitlichen Wertordnung gehört auch die ethische Neutralität, die eine hoheitliche – gar rechtsförmige – Einflussnahme auf Fragen des guten Lebens verbietet.2 Daher soll es in den folgenden Überlegungen um die Charakterisierung der Wertbindung des Staates und ihr Verhältnis zu den persönlichen Wertsystemen der Bürger gehen. Vorangestellt ist die Darlegung eines liberalen Verständnisses, wonach der Staat trotz seiner Wertbindung nur eine äußere Rahmenordnung vorgibt. 1. Der freiheitliche Staat als äußere Rahmenordnung Im freiheitlichen Staat ist der Gedanke der Selbstbestimmung des Individuums Ursprung der Staatslegitimation schlechthin.3 Nach einem Postulat von Immanuel Kant gehört zur „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“, dass es „keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“.4 Damit wird die Bedeutung der Autonomie des Individuums in Gestalt ihres Anspruchs auf Selbstge2 3 4
Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 12 ff., 34 ff. Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, S. 135 ff. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67.
I. Das Paradoxon der Neutralität
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setzgebung, also des Rechts, die Regeln der persönlichen Lebensführung selbstbestimmt zu setzen, hervorgehoben. Zugleich provoziert das Postulat die Frage nach dem Verständnis des Staates und seiner Stellung gegenüber dem Individuum in besonderer Weise. Wenn die Freiheit des Individuums als „Grundtatsache der menschlichen Existenz“ 5 dem Staat vorausgeht und Ursprung seiner Legitimation ist, kann der Staat dann überhaupt von seinen Bürgern so etwas wie Treue verlangen? Hat nicht vielmehr der Staat dem Bürger „treu zu dienen“? Wird der Staat unter den Bedingungen der Freiheit zur reinen „Funktionsgemeinschaft“ 6 degradiert? Ist die Gesellschaft mit ihren Mitgliedern der Zweck, in deren alleinigem Dienst der Staat steht? Einerseits kann man die Hauptaufgabe des Staates in der Gewährleistung von Sicherheit sehen, wodurch ihm eine rein funktionale Rolle im Sinne eines bloßen „Not- und Verstandesstaat[es]“ 7 zugewiesen würde. Andererseits soll ihm aber auch eine innere Substanz zukommen, was ihn als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ 8 ausweist. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft wirkt sich in diesem Sinne unmittelbar auf das konzipierte Bild von Staatlichkeit aus. Eine strikte Trennung von Staat und Gesellschaft dürfte zwar „demokratisch illegitim“ 9 sein. Da nämlich die Mitglieder der Gesellschaft selbst Inhaber der Staatsgewalt sind, besteht jedenfalls eine enge Verflechtung. Dennoch darf der Dualismus nicht gänzlich aufgehoben werden. Denn ein Staat, der das Leben in der Gesellschaft vollkommen durchdringt, ist totalitär, eine Gesellschaft, die ohne den Staat als Ordnungsgaranten auskommen soll, wird anarchisch.10 Beide Extreme bedrohen die Freiheit und sind daher abzulehnen. Die moderne Verfassungsstaatlichkeit kennt daher die „modellhafte Trennung der Funktionssphären von Staat einerseits [und] frei wirtschaftender Gesellschaft andererseits“.11 Dabei sind Staat und Gesellschaft in einer Art „Schicksalsge5 Uwe Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 245 (252). 6 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 10. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 183, S. 339. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257, S. 398. 9 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 185 (185) mit Verweis auf Otto Heinrich von der Gablentz, Staat und Gesellschaft, PVS 2, S. 2 (2 ff.). 10 Bernhard Sutor, Grundwerte im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 84; ebenso Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, Der Staat 20, S. 161 (166). 11 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (545); vgl. Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, Der Staat 20, S. 161 (167), der die Unterscheidung als „Kontinuum liberaler Staatstheorie“ bezeichnet.
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
meinschaft“ 12 aufeinander bezogen und ergänzen sich in einem „wechselseitigen Zuordnungsverhältnis“.13 Beide wirken also ineinander und sind nicht etwa im Sinne eines vordemokratischen Dualismus-Verständnisses strikt voneinander getrennt. Man kann den Staat als „organisierte [. . .] Wirkungseinheit“ 14 der Gesellschaft begreifen, in dem die „Gesellschaft selbst partiell als Staat konstituiert“ 15 ist, um das Paradoxon von Freiheit und Herrschaft durch aktive Bürgerteilhabe praktisch aufzulösen.16 Dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlich funktionalen Trennung beider Sphären, die dem Staat die Rolle einer „Einrichtung für Zwecke, die im Rahmen des Mittel- und Zweckhaften verbleibt“ 17, zuweist. Diese – funktionale – Trennung macht die Legitimation staatlicher Herrschaft erst möglich, da die Legitimation einer Verfassung nicht allein aus ebendieser selbst erklärt werden kann.18 Vielmehr kann aus einer individualistischen Perspektive allein aus der Gesellschaft heraus die Legitimation von Herrschaft ihren Ursprung finden. Die Trennung garantiert individuelle Freiheit erst, indem dem Individuum als Träger dieser Freiheit der an diese Freiheit gebundene Staat gegenübergestellt wird.19 Allerdings besteht auch eine Reziprozität beider Sphären. Die Mitglieder der Gesellschaft legitimieren einerseits den Staat, aber andererseits wirkt der Staat durch seine hoheitlichen Maßnahmen in die Gesellschaft hinein. Das macht den Einzelnen „aus staatstheoretischer Sicht [zum] Bürger zweier Reiche“.20 Er ist als Staatsbürger unmittelbares Legitimationssubjekt staatlicher Herrschaft, aber als Grundrechtsträger in seinen unterschiedlichen sozialen Rollen zugleich Angehöriger der Gesellschaft.21 Die Identität von Staat und Gesellschaft würde zu einer freiheitsvernichtenden Nivellierung führen. Durch die funktionale Unterscheidung der Sphären kann auch das Einfordern individueller Treue gegenüber einer staatlichen – und damit
12
Walter Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 168. Walter Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 168; vgl. auch Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 55 f. 14 Hermann Heller, Staatslehre, S. 259. 15 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (545). 16 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtenordnung, JZ 1975, 545 (545). 17 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 10; vgl. auch Uwe Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 245 (252) [„Errichtung als Menschenwerk, von Menschen in ihrer Freiheit gemacht und nur um der Bewahrung und Ordnung ihrer Freiheit willen da“]. 18 Gerd Roellecke, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, DÖV 1978, 457 (459). 19 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 185 (193, 198). 20 Bernhard Sutor, Grundwerte im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 84. 21 Bernhard Sutor, Grundwerte im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 84. 13
I. Das Paradoxon der Neutralität
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funktional fremden – Wertordnung als diejenige Freiheitsverkürzung eingeordnet werden, die sie für den Einzelnen letztlich bedeutet, wenn er sich mit den eingeforderten Werten nach seiner persönlichen Überzeugung nicht identifizieren kann. Eine Anforderung an den Einzelnen zur Verteidigung der Mehrheitswerte lässt sich damit als Befehl begreifen, sich eine fremde Wertordnung zu eigenen zu machen. Funktional muss daher die freiheitliche Wertordnung dem Staat als Träger zugeordnet werden. Die Entscheidung, sich diese zu eigen zu machen, ist dann ein selbstbestimmter Internalisierungsakt, der nicht verordnet werden kann. Positive Treue zur staatlichen Wertordnung muss freiwillig sein. Vom Bürger die Identifikation mit den Mehrheitswerten mit dem Argument einzufordern, dass sie sich diese doch selbst gegeben haben, verkennt den Schutz von Minderheiten. Diese Minderheiten tragen die Wertordnung des Staates nicht. Diese Minderheiten treten dem Staat als Teil der Gesellschaft entgegen, der eine andere Wertordnung trägt. Ein freiheitlicher Umgang mit dieser Spannung ist nur durch Anerkennung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft möglich. Der Bürger muss stets das Subjekt staatlicher Handlungslegitimation bleiben, so wie es der „Selbstzwecklichkeitsformel“ des kategorischen Imperativs entspricht: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 22 Daher darf der Staatsbürger als Mensch in einer moralischen Kategorie nicht zum bloßen Mittel staatlichen Handelns gemacht werden – auch nicht im Dienste der Freiheit. Daraus folgt die Unzulässigkeit des hoheitlichen Zugriffs auf dessen Gesinnung etwa zur Erfüllung eigener Sicherheits- oder Integrationsaufgaben. Der Bürger darf nicht instrumentalisiert werden. Er wird sonst nicht mehr als selbst denkendes Subjekt begriffen, dem es freisteht, seine eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen zu bilden, sondern zum Objekt degradiert, indem der Staat bestimmte Wertvorstellungen auf ihn projiziert. Der Bürger wird damit zur „leblosen“ Projektionsfläche staatlicher Wertvorstellungen, der sich der Staat bedient, um letztere zu verbreiten und durchzusetzen. Der Staat kann die Bürger auf der äußeren Handlungsebene nicht zur aktiven Verteidigung „rekrutieren“, da sie sonst zum Instrument staatlicher Freiheitssicherung würden. Da der Staat selbst allerdings weder handeln noch denken kann, benötigt er Menschen als eine solche Projektionsfläche. Seine originären Instrumente dafür sind aber seine Staatsdiener, die sich in einem Akt freier Selbstbestimmung in seinen Dienst gestellt haben und durch ihr hoheitliches Handeln selbst „Staat“ werden. Der einfache Staatsbürger hingegen muss – in betonter Abgrenzung zum Staatsbediensteten – von solchen Projektionen verschont bleiben. Damit hat die Beantwortung der Frage nach der Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft unmittelbare Auswirkungen auf die Rolle des Individuums innerhalb des Kollektivs mit Folgen für seine persönliche Freiheit. Zweck des libe22
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61.
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
ralen Staates ist schließlich vorrangig der Schutz der individuellen Freiheit. Andernfalls droht der Staat zur „Lebenstotalität“ 23 zu werden, die die Individualität des Einzelnen verschlingt. Die Begrenzung auf das Funktionale wird daher teilweise für zwingend notwendig gehalten, um die Freiheitssicherung überhaupt zu erreichen.24 Volkmann besorgt bei dieser Reduzierung auf einen bloßen Zweckverband, der nur einen äußeren Rahmen vorgibt, das Fehlen einer „geistig-kulturelle[n] Signatur“.25 Dies führt unmittelbar zum Problem der Zuständigkeit des Staates für Fragen der „Sittlichkeit“. Die Begrenzung auf eine reine Funktionsgemeinschaft könnte nämlich in der Tat den Eindruck vermitteln, der Staat sei „sittlich“, „geistig-kulturell“ und damit insgesamt „wertmäßig“ vollkommen ungebunden. Dies entspricht aber nicht den bisherigen Erkenntnissen, wonach der freiheitliche Verfassungsstaat eine Wertordnung zu verteidigen hat. Das Paradoxon vom Staat als äußerer Rahmenordnung mit innerem Substrat ist so zu verstehen, dass die Wertordnung des freiheitlichen Verfassungsstaates selbst materiell zwar determiniert, aber gerade durch ihre Offenheit für die freie Lebensgestaltung des Einzelnen gekennzeichnet ist. Der Gedanke des Freiheitsschutzes als Hauptaufgabe des Staates ist damit durchaus vereinbar. Denn der Staat wurde zu dem Zwecke geschaffen, gemeinsame Wertüberzeugungen zu gewährleisten, die dem Freiheitsschutz dienen. Wertordnungsschutz ist demnach Freiheitsschutz. Die wertmäßige Bindung des Staates ist demnach gerade notwendig für eine effektive Erfüllung seines Schutzauftrages. Denn nur eine Wertordnung durchdringt das gesamte staatliche Handeln im Sinne einer obersten Richtschnur und gewährleistet damit eine umfassende Bewahrung der individuellen Freiheit vor der Übermacht des Staates. Sie verpflichtet zugleich den Staat zur umfassenden Ausgestaltung der Rechtsordnung am Maßstab dieses freiheitlichen Wertefundaments. Der Staat erhält damit in gewisser Weise eine Doppelrolle. Er ist rein funktional für die Bewahrung der Freiheit seiner Bürger zuständig und als solcher nicht zur eigenständigen Hervorbringung von Werten befugt. Als institutionalisierte Gesellschaft ist er hingegen wertmäßig geprägt und sogar für die Verteidigung einer Wertordnung zuständig, die Freiheit materiell zum Gegenstand hat. Die zweite Rolle des Staates darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Gesellschaft mit ihren Mitgliedern ist, die die Werte hervorbringt und deren Mehrheit den Staat damit beauftragt, diesen Werten auch Geltung zu verschaffen. Der liberale Staat ist damit „ein freiheitsfunktionales Instrument im Dienst des Individuums“.26 Das Mittel des Staates ist dabei das Recht, soweit es sich am Verhal23
Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 189. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 10. 25 Uwe Volkmann, Der Preis der Freiheit. Über die geistig-kulturellen Grundlagen des liberalen Staates, in: Langenfeld/Schneider (Hrsg.), Recht und Religion in Europa, S. 87 (93). 26 Christoph Horn, Einführung in die politische Philosophie, S. 20. 24
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ten des Einzelnen orientiert und nicht auf seine Gesinnung zugreift.27 Denn es sind gerade totalitäre Regime, die die politische Gesinnung durch Erziehung indoktrinieren und sie auch zur Rechtspflicht und Bedingung des politischen Bürgerstatus erheben.28 Kollektive Unterordnung unter eine gemeinsame Doktrin ist dem Totalitarismus eigen. Da der freiheitliche Staat selbstredend den Anspruch hat, sich von jeglichem Vorwurf totalitären Agierens freizusprechen, kann es eine solche kollektive Unterordnung nicht geben. Die Gesinnung der Bürger darf auch nicht im Dienst der Freiheit hoheitlich in Anspruch genommen werden. Der Schutz der Freiheit bleibt Aufgabe des Staates, ohne dass er dazu seine Bürger instrumentalisieren darf. 2. Freiheit als inneres Substrat des Staates Die Beständigkeit der freiheitlichen Wertordnung erscheint als notwendige Konsequenz ihres Geltungsanspruchs und als Garant für die Erfüllung des staatlichen Verteidigungsauftrags. Aus ihr folgt, dass es weder dem Staat selbst noch seinen Bürgern zusteht, die freiheitliche Wertordnung objektiv zu ändern oder ihre Geltung zu beeinträchtigen. Man könnte gar überspitzt von einer „innerweltliche[n] Unverfügbarkeit“ 29 sprechen. Dies erinnert stark an das Merkmal der Transzendenz, das den Begriff der Religion kennzeichnet. Der Gedanke eines sakralen Charakters der Wertordnung liegt damit offen auf dem Tisch. Schließlich wird auch die freiheitliche Wertordnung nicht selten als „naturrechtlich“ oder „vorstaatlich vorgefunden“ beschrieben (vgl. etwa auch die Formulierung in Art. 1 Abs. 2 GG30). Helmut Schelsky hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass ein gemeinsamer Glaube der Bürger als verbindendes Fundament der politischen Ordnung notwendig sei.31 Dieser Versuch der Etablierung eines Glaubens an die freiheitliche Wertordnung erinnert jedoch allzu sehr an Rousseaus „religion civile“.32 Dadurch wird der Wertordnung ein quasi-religiöser Charakter zugewiesen. Einen solchen „Glauben“ zum Fundament staatlichen Handelns zu machen, birgt die Gefahr, eine staatlich verordnete Ideologie hervorzubringen, „durch die die Politik [eben doch] auf die Gesinnung der einzelnen zugreift“.33 Eine solche 27
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 25. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 25 f. 29 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 8. 30 Dort wird von „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ gesprochen. 31 Helmut Schelsky, Ein Staat, an den niemand glaubt, Deutsche Zeitschrift Christ und Welt 53, S. 3; mit Nachdruck abgelehnt bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 24 ff. 32 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 144 ff.; vgl. näher dazu unter 2. a). 33 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 25. 28
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Einordnung als Religion (oder Weltanschauung) dürfte zudem angesichts der herausgehobenen Priorität der Wertordnung für das staatliche Handeln schwerlich mit dem Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität vereinbar sein. Als Folge eines Prozesses der Säkularisierung und Individualisierung wird der Staat vielmehr zur Zurückhaltung in seinem Einfluss auf die Religion angehalten. Religion dient gerade nicht mehr als Instrument für die Schaffung von Homogenität und verliert daher für die Gemeinschaftsbildung zunehmend an Bedeutung.34 Dennoch erhebt die Freiheitsordnung den Anspruch, eine Wertordnung zu sein, deren äußerer Bestand von der Internalisierung ihres Gehalts durch möglichst viele Bürger abhängt.35 Wird die Freiheit aber dadurch selbst zum Glauben? Dem Charakter der Wertordnung und seinem Verhältnis zu „Religion“ und „Weltanschauung“ werden die folgenden Überlegungen gewidmet. Diesbezüglich soll zunächst auf die Möglichkeit einer sakralen Herleitung der freiheitlichen Wertordnung eingegangen werden. Anschließend wird die Wertordnung selbst im Hinblick auf die Frage eingeordnet, ob diese nicht selbst so etwas wie eine bestimmte Weltanschauung ist. a) Sakralität der freiheitlichen Wertordnung? Der Umstand, dass die freiheitliche Wertordnung historisch in einer christlichen Kultur entstanden ist, könnte zu dem Schluss verleiten, das Christentum sei selbst Urheber dieser Wertordnung. Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf die Interpretation einzelner Prinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates. Carl Schmitt geht in seiner „Politischen Theologie“ sogar so weit, „[a]lle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre [als] säkularisierte theologische Begriffe“ 36 zu bezeichnen. Der unbestreitbare christliche Kontext der Entstehung des freiheitlichen Verfassungsstaates muss jedoch mit dem Neutralitätsgebot in Einklang gebracht werden, welches die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse – also auch des Christentums – gerade untersagt.37 Allgemein sichert Neutralität den „Vorrang des Gerechten vor dem Guten, also das Zurücktreten von Fragen des guten Lebens hinter Fragen der Gerechtigkeit“.38 Die freiheitliche demokratische Grundord34 Uwe Volkmann, Der Preis der Freiheit. Über die geistig-kulturellen Grundlagen des liberalen Staates, in: Langenfeld/Schneider (Hrsg.), Recht und Religion in Europa, S. 87 (96) [„Religion nicht mehr homogenitätsverbürgend, sondern weit stärker dissoziativ“]; vgl. auch Ute Mager, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 1 [„Verzicht auf einen gemeinschaftsbildenden Faktor ersten Ranges“]. 35 Grundlegend Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil, S. 444 [„Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht“]. 36 Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 43. 37 Vgl. schon BVerfGE 19, 206 (216); aus der neueren Zeit BVerfGE 93, 1 (16). 38 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 375 – Hervorhebung im Original.
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nung unter Berufung auf Rousseau39 als Zivilreligion einzuordnen40, ist damit nur schwerlich vereinbar. Selbst das Zugeständnis, dass ein Glaube nicht erzwingbar ist, ändert nichts an dem normativen „Glaubensgebot“, wenn die NichtGlaubenden sanktionshalber des Staates verwiesen werden. Die freiheitliche Wertordnung unter Berufung auf ihre christlichen Wurzeln – gleichsam im Wege eines genetischen Auslegungskanons – in einem zivilreligiösen Sinne zu verstehen, leuchtet allenfalls ein, wenn man die These vertritt, das Gebot der Neutralität gelte im freiheitlichen Staate gar nicht. Dann zählt man es insgesamt nicht mehr zu den integralen Bestandteilen einer liberalen Wertordnung.41 Dann aber müsste man erklären, welchen Stellenwert Religionsfreiheit dann überhaupt noch haben kann. Angesichts der Funktion des Neutralitätsgebots für die Sicherung der autonomen Lebensführung dürfte es jedoch überzeugender sein, die Übernahme bestimmter Rechtsinstitute und Wertentscheidungen aus dem Christentum als Folge der „prinzipielle[n] Funktionalität und Adaptionsfähigkeit für den modernen Verfassungsstaat“ 42 zu begreifen. Denn die Werte und Normen des freiheitlichen Verfassungsstaates haben trotz ihrer ursprünglich christlichen Prägung schlicht einen „Statuswechsel“ durchgemacht.43 Als Folge der Souveränität wurde die staatliche Wertordnung – gleichsam selbstermächtigend – festgelegt, also staatstheoretisch „aus dem Nichts erschaffen“. Die christliche wird also nicht zur staatlich-weltlichen Ordnung transformiert, sondern diese Ordnung wird im Wege eines souveränen Entscheidungsaktes substituiert und damit neu konstituiert.44
39 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 155 [„jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt“]; Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 94 [„Abweichungen von diesem zivilreligiösen Bekenntnis sind [. . .] nicht vorgesehen.“]. 40 Detlef Merten, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 7 (39), Heinz Laufer, Die freiheitliche demokratische Ordnung und ihre Grenzen, in: Verfassung und Verfassungsrechtsprechung. Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, S. 73 (77 ff.); ablehnend Ernst Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 2, § 17, S. 719 (765); kritisch Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts, S. 85 ff. 41 So etwa Christian Hillgruber, Staat und Religion. Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates, S. 49 ff., der die Neutralitätsthese anhand der Präambel des Grundgesetzes zu widerlegen versucht. 42 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 49. 43 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 48; dagegen eher für eine Fortwirkung der religiösen Gehalte Christoph Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: VVDStRL 68, S. 47 (59) [„christlich inspirierte [. . .] kulturelle [. . .] Identität“]. 44 Zur Substitution statt Transformation ausführlich Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 73 f.; vgl. auch Klaus Ferdinand Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 5 Rn. 28 [„ursprünglich religiöse (bzw. weltanschauliche) Geltungsgrund durch einen rechtsnormativen ersetzt“].
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Damit lässt sich eine rein säkular-rationale Grundlegung politischer Ordnung in Abgrenzung zu Carl Schmitt begründen.45 Denn nur ohne eine Verbindung von Herrschaft und Transzendenz – wie sie einer Religion zu Grunde liegt – dürfte ein stabiler pluraler Verfassungsstaat überhaupt möglich sein46, in dem durch den Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität die individuelle Glaubensfreiheit und damit auch die Autonomie der persönlichen Lebensführung erst zur vollen Entfaltung gelangt. Die Privilegierung auch nur einer einzigen Religion – etwa des Christentums – stellt den gesamten Grundsatz in Frage und lässt die Ausnahme – vor allem in Staaten mit christlicher Mehrheitsbevölkerung – zur Regel werden. An dieser Stelle kommt aber die Wertbindung des freiheitlichen Verfassungsstaates wieder ins Spiel, die eine gänzliche Neutralität des Staates gerade nicht gebietet. Dem Staat kann es gerade nicht egal sein, wie sich einzelne Weltanschauungen und Religionen etwa zur Menschenwürde als unabdingbarem Element seiner freiheitlichen Wertordnung verhalten, sofern das Bekenntnis aus dem reinen „forum internum“ heraustritt.47 Dieser Hinweis ist allerdings nur dann überhaupt verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt und anerkennt, dass die Glaubensfreiheit auch die Freiheit erfasst, nach außen gemäß seinem Glauben zu handeln und sein Leben danach auszurichten.48 Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit hat also sowohl eine innere als auch eine äußere Komponente, wobei vor allem letztere in einen konkreten Konflikt mit der Wertordnung geraten kann. Damit wird erneut auf ein zentrales Merkmal der freiheitlichen Wertordnung hingewiesen, nämlich ihre Äußerlichkeit. Dieses Merkmal unterscheidet sie damit auch selbst von einer Religion und Weltanschauung. Das nach außen tretende Handeln wird vom Staat daher auch dann nicht „wertneutral“ beurteilt, wenn es durch eine persönliche Glaubensüberzeugung motiviert war. Damit stellt die freiheitliche Wertordnung im „forum externum“ doch so etwas wie einen Maßstab, in jedem Fall aber eine Grenze der individuellen und kollektiven Glaubensfreiheit dar. Bedeutet das aber gleich, dass es einen „religiöse[n] Kern, eine sakrale Substanz“ 49 im modernen säkularen Verfassungsstaat gibt? Die Menschenwürde – unbestreitbares Fundament der freiheitlichen Ordnung – wird schließlich vereinzelt
45 Vgl. Volker Pesch, Jenseits politischer Wirklichkeiten. Zur Kritik von Carl Schmitts politischer Theologie, ZfP 46, S. 335 (349 ff.). 46 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 78. 47 So der berechtigte Hinweis von Christian Hillgruber, Staat und Religion. Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates, S. 49 f., der daraus jedoch die gänzliche Ablehnung des Neutralitätsgebots ableitet. 48 Vgl. BVerfGE 32, 98 (106). 49 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 11.
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als göttliches Derivat gesehen50, deren Unantastbarkeit sie in eine „Sphäre des Heiligen, des Sakrosankten“ 51 hebt. Ähnlich könnte die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG als Versuch der „Heiligung einer politischen Grundordnung?“ 52 und damit als etwas „Sakrales“ interpretiert werden. Aufschluss gibt auch hier das Merkmal der Äußerlichkeit. Die freiheitliche Ordnung verzichtet darauf, die Bürger dazu anzuhalten, ihre innere Glaubensüberzeugung der Menschenwürde gemäß auszurichten, solange sie nicht entsprechend handeln. Das macht die Wertbindung des Staates erst mit dem Neutralitätsgebot vereinbar.53 Es gibt daher auch kein staatsethisches Verbot, dass der Staat überhaupt eine Wertordnung vertreten darf. Zur Herleitung von einzelnen Werten muss der Verfassungsstaat eben nur auf die weltliche Verfassungsordnung zurückgreifen und nicht auf ein transzendentes Wertsystem. Im Gegensatz dazu muss das Mitglied einer Religionsgemeinschaft sich auch identifizieren, was durch eine Gesinnungserklärung gefordert werden kann, die bei Religionen oftmals in Gestalt eines Glaubensbekenntnisses („credo“) abverlangt wird. Die transzendente Wertbegründung ist daher eine Angelegenheit von Religionen und nicht des religiös neutralen Staates. Für Rousseau hingegen ist eine Zivilreligion mit minimalem Gehalt im Sinne einer „Gesinnung des Miteinander“ 54 anstatt Dogmen einer echten Religion erst Garant für die Funktionsfähigkeit einer staatlichen Ordnung. Das Problem liegt bekanntlich in der Fokussierung des Inneren durch die Implikation eines Bekenntnisses zu einem konkreten Staat.55 Mit einem solchen „voraufklärerischen“ Verständnis verträgt sich die Freiheit individueller Religionsausübung nun einmal nicht.56 Wo nämlich ein positives Bekenntnis mangels innerer Gesinnung nicht abgegeben werden kann, wird die betreffende Person als „gemeinschaftsunfähig“
50 Vgl. Walter Leisner, Das Ebenbild Gottes im Menschen – Würde und Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Staatsethik, Köln 1977, S. 81 (83). 51 Christian Hillgruber, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 119 (130). 52 Christian Hillgruber, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 119 (128). 53 A.A. Christian Hillgruber, Staat und Religion. Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates, S. 49 ff., der die Neutralitätspflicht des Staates negiert, weil er sie mit der staatlichen Wertbindung für unvereinbar hält. Eine Differenzierung zwischen dem Inneren und dem Äußeren – wie sie hier vorgenommen wird – klingt zwar an, wird aber nicht bis zur Konsequenz einer Wertbindung trotz Neutralitätspflicht zu Ende gedacht, letztlich auch deshalb, weil die staatliche Wertordnung – insbesondere die Menschenwürde und das aus ihr entspringende Menschenbild – selbst als Weltanschauung aufgefasst wird. 54 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 155. 55 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 144 ff., insb. S. 155; vgl. auch Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 3, S. 298 f. 56 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 94.
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abgelehnt.57 Auf Grund ihres fehlenden Raums für individuelle Religionsfreiheit ist dieses Konzept daher mit dem freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unvereinbar.58 Dagegen dürfte das Konzept der Zivilreligion von Robert N. Bellah59, das allgemeine Religionsfreiheit voraussetzt, mit dem freiheitlichen Verfassungsstaat eher kompatibel sein. Dieses erfasst jene religiösen Gehalte, die in das politische System integriert sind und bei denen ein allgemeiner Konsens unterstellt werden kann.60 Dazu sollen dann die „Verquickung von Verfassungspatriotismus, Nationalstolz und Gottesglaube“ 61 zählen. Bellah meint aber letztlich nur das, was hier mit dem Minimalkonsens zusammengefasst wurde und überhöht dieses nur begrifflich etwas durch den Terminus der „Zivilreligion“. Darunter fallen dann im Grunde die „substantielle[n] Werthaltungen und Einstellungen, die in einer Bevölkerung vorhanden sind und zur Stabilität einer freiheitlichen Verfassungsordnung beitragen“.62 Etwas Sakrales wird daraus dadurch nicht. Schon gar nicht hat dies Auswirkungen auf die Anforderungen an die Gesinnung des Einzelnen. b) Die freiheitliche Wertordnung als Weltanschauung? Nachdem eine sakrale Begründung der staatlichen Wertordnung sowie eine entsprechende religiöse Identifikation des Staates mangels „Transzendenzzuständigkeit“ ausscheiden, bleibt die Frage, ob die freiheitliche Wertordnung zumindest den Charakter einer Weltanschauung aufweist.63 Wer das bejaht, müsste es unter Verweis auf die weltanschauliche Neutralität ablehnen, Treue in jeder Form – auch als bloße Konfrontation – von den Bürgern einzufordern. Der Staat müsste dann auch in Bezug auf den Wert der Freiheit selbst insgesamt neutral sein. Selbst die Neutralität als Teil der freiheitlichen Wertordnung wäre dann „Weltanschauung“. Ein solcher „Neutralismus als Staatsideologie“ 64 ist aber nicht gemeint. Neutralität ist kein Synonym für die Freiheit von jeglichen Wertüberzeugungen. 57 Mattias Iser, Glauben als Pflicht? Zivilreligion bei Jean-Jacques Rousseau, in: Buchstein/Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. Festschrift für Gerhard Göhler zum 65. Geburtstag, S. 303 (315 ff.). 58 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 96. 59 Robert N. Bellah, Zivilreligion in Amerika, in: Kleger/Müller (Hrsg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, S. 19–41. 60 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 3, S. 293. 61 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 97. 62 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 98. 63 Vgl. Christian Hillgruber, Staat und Religion. Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates, S. 52 f. mit der gewagten These, dass „Menschenbild des Grundgesetzes“ sei eine Weltanschauung; a. A. Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 29 ff. 64 Martin Heckel, Religionsfreiheit. Eine säkulare Verfassungsgarantie, in: Gesammelte Schriften, Band IV, S. 647 (779).
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Allerdings erhebt der freiheitliche Staat im Unterschied zu einer Weltanschauung gerade keinen absoluten Wahrheitsanspruch65, sondern lediglich einen Geltungs- und Befolgungsanspruch.66 Der Wahrheitsanspruch ist somit der Anknüpfungspunkt für die Unterscheidung der freiheitlichen Wertordnung von einer Weltanschauung. Denn der Staat ist „nicht als Wahrheits- oder Tugendstaat, sondern als Freiheits- und Friedensordnung“ 67 konzipiert. Er kann als solcher selbst keinen eigenen Glauben oder eine sonstige ethische Lebenskonzeption „haben“. Vielmehr gehört der „Zweifel an sich selbst“ 68 und eine damit verbundene „Kontinuität des Selbstzweifels“ 69 zum Wesen des freiheitlichen Staates, der selbst die Freiheitlichkeit nicht zur ewigen Wahrheit erhebt.70 Der Verzicht auf den Wahrheitsanspruch ermöglicht es schließlich erst, die Glaubensfreiheit des Einzelnen umfassend zu schützen. Denn die in der Menschenwürde verankerte Achtung vor der Person erfordert es, negative Konsequenzen für den Einzelnen im Hinblick auf seine persönlichen und intimsten (Glaubens-)Überzeugungen zu unterlassen.71 Dazu gehört auch die hoheitliche Verkündigung einer unverrückbaren und alles umfassenden Wahrheit, die abweichende Anschauungen abwertet und für verfehlt erklärt. Deswegen gebietet der freiheitliche Staat auch keine Identifikation. Ihm ist „Gesinnungszwang zutiefst fremd“.72 Allein Legalität, aber nicht Moralität wird gefordert.73 Die „unbedingte Loyalität seiner Bürger mit den ihm zugrundeliegenden materiellen Prinzipien [soll] gerade nicht rechtlich [erzwungen werden], also auch nicht [eine Pflicht], diese [. . .] persönlich zu teilen“.74 Zusammengefasst kann man sagen: „Im freiheitlichen Verfassungsstaat ist Wahrheit privatisiert.“ 75 65 Klaus Ferdinand Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 5 Rn. 17; vgl. Franziska Kelle, Der Verfassungsfeind als Häretiker – Eine Untersuchung über den Wahrheitsgehalt des Grundgesetzes, S. 48. 66 Klaus Ferdinand Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 5 Rn. 17. 67 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 35. 68 Peter Graf Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit, S. 8. 69 Peter Graf Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit, S. 8. 70 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit, S. 11 ff. 71 Vgl. zu anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten Bert van den Brink, Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, in: Babke (Hrsg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, S. 13 (20). 72 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 34. 73 Vgl. dazu Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 34; vgl. auch Horst Dreier, Kants Republik, JZ 2004, 745 (746 ff.); grundlegend zur Unterscheidung von Legalität und Moralität Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung, S. 318, 323 ff. 74 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 31; vgl. auch ders., Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (21, 28). 75 Klaus Ferdinand Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 5 Rn. 18.
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Noch ein weiteres Merkmal unterscheidet die freiheitliche Wertordnung von einer Weltanschauung, nämlich ihr Minimalismus. Sie enthält im Gegensatz zur Weltanschauung keine „Totalbestimmung des Menschen“ 76 und damit auch keine Vorgaben für das „gute Leben“ des Bürgers. Während Weltanschauungen „Gedankensysteme [sind], die sich mit einer Gesamtsicht der Welt oder doch mit einer Gesamthaltung zur Welt [. . .] befassen“ 77, liefert die freiheitliche Wertordnung keine „Letzterklärung“.78 Die Weltanschauung mit ihrem umfassenden Wahrheitsanspruch hat prinzipiell unbegrenzte Maxima zum Gegenstand, wohingegen die freiheitliche Wertordnung sich durch ihren Minimalgehalt auszeichnet. Sie beschränkt sich auf eine Regulierung äußeren Verhaltens und verzichtet auf jeglichen Gesinnungszwang. Damit befreit sie sich auch gewissermaßen von der „Gefahr totalitärer Intoleranz“ 79, die aus dem religiös-weltanschaulichen Wahrheitsanspruch notwendig hervorzugehen droht. Das staatliche Handeln ist daher jederzeit darauf angewiesen, sich auf Erwägungen zu berufen, die „allgemein akzeptiert werden können, ohne die weltanschaulichen und religiösen Prämissen einer insofern notwendig partikularen Gruppenüberzeugung teilen zu müssen“.80 Die ethische Integration einzelner Selbstverständnisse erfolgt daher auch grundsätzlich losgelöst von der allgemeinen politischen Integration.81 Trotz der strengen Unterscheidung zwischen „dem Gerechten“ und „dem Guten“ kann man nicht leugnen, dass auch die freiheitliche Ordnung mit ihrer Bestrebung nach Vereinigung möglichst vieler Selbstverständnisse eine Art guter Ordnung sein will82 und damit einen ethischen Gehalt aufweist.83 Dieser kann auf die Vorstellung reduziert werden, dass das gute Leben in der friedlichen Koexistenz möglichst vieler unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen und Lebenskonzeptionen zu sehen ist84 – eine Idee, die aus der geschichtlichen Erfahrung der 76
Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 32. BVerwG 89, 368 (370). 78 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 31. 79 Horst Dreier, Religionen und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: Dreier/ Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 11 (12 f.). 80 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 21. 81 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 262. 82 Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 54; Erhard Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, S. 10; Konrad Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265 (266). 83 Vgl. zur Abgrenzung von „Moral“ und „Ethik“ im Kontext der Unterscheidung von „dem Gerechten“ und „dem Guten“ etwa Ernst Tugendhat, Probleme der Ethik, S. 94 f., wonach die Moral das für alle Gerechte und die Ethik das für ein bestimmtes Selbstverständnis Gute betrifft; Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 25 f. 84 Vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 321, der die „Garantie gleichberechtigter Koexistenz“ als „gleichermaßen gut [. . .] für alle“ bezeichnet und daher gemäß der Unterscheidung von Ethik und Moral als moralischen Gesichtspunkt ausweist. 77
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Bürger eines freiheitlichen Staates erwachsen konnte. Daher müssen ethische und politische Integration doch gewissermaßen miteinander verschränkt sein85, wenn der freiheitlichen Wertordnung Geltung verschafft werden soll. Insoweit ist die „politische Kultur, in der sich die Staatsbürger als Mitglieder ihres Gemeinwesens wiedererkennen, ethisch imprägniert“.86 Der Staat betreibt eine schmale Gratwanderung zwischen dem Neutralitätsgebot und der Verteidigung eines ethischen Minimalgehalts seiner eigenen Wertordnung. Konkret heißt das, dass man nicht einmal an die Menschenwürde, die die Basis des freiheitlichen Minimalkonsenses bildet, „glauben“ muss, sondern sie ebenso für ein „Hirngespinst“ halten darf.87 Dies ändert aber nichts daran, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde nach der geltenden Wertordnung zum obersten Maßstab staatlichen Handelns gehört. Die Menschenwürde, die staatliche Neutralität und überhaupt die freiheitliche Wertordnung sind selbst keine Weltanschauung und verzichten daher neben dem Zugriff auf die Gesinnung des Einzelnen auf einen umfassenden Wahrheitsanspruch. Kurzum: „Der säkularisierte Staat in diesem Sinne ist der weltanschaulich neutrale Staat mit umfassender Verbürgung der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit für seine Bürger.“ 88 Glaube als Vorgang, der originär im Innersten des Menschen seinen Ursprung hat, ist also nicht etwas, auf das sich ein freiheitlicher Staat stützen könnte. Eine „Einheit der politischen Gesinnung“ 89 kann nicht das Verbindende sein, das den Staat als solchen zusammenhält. Das Verbindende ist also vielmehr etwas „Äußerliches“, das zwar verinnerlicht werden kann, aber nicht muss. Der Staat hat also ein „Moment der Äußerlichkeit“ an sich, weil er Zwecke des Gemeinlebens, nicht aber des individuellen Lebens verfolgt.90 Die Wertordnung liefert die dazu notwendige inhaltliche Offenheit für die individuelle Lebensführung. 3. Kulturelle Identität der Freiheit und das Recht ihrer Ablehnung Dieser Gedanke führt zum Problem des wertordnungsimmanenten Ablehnungsrechts. Zum wesensbestimmenden Inhalt der kulturellen Identität des Verfassungsstaates muss nämlich auch das Recht des Bürgers gehören, diese und die aus ihr hervorgegangene Freiheitsordnung abzulehnen. Dagegen könnte man nun einwenden, dass „eine Ordnung, die jedem das Recht einräumt, für ihre Abschaf85
Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (334). Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 263 – Hervorhebung durch den Verfasser. 87 Christian Hillgruber, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 119 (124). 88 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 15. 89 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 25. 90 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 25. 86
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fung zu sein, [. . .] im Grunde überhaupt keinen positiven Inhalt [mehr hat]“, sondern „der einzige Inhalt [. . .] der [ist], dass sie auch ganz anders sein könnte“.91 Aber könnte eine Ordnung wirklich eine ganz andere sein, deren Freiheit so weit geht, dass sie sogar die Freiheit zu ihrer eigenen Ablehnung vorsieht und sogar schützt? Könnte sie etwa eine totalitäre Ordnung sein? Wäre eine totalitäre Ordnung je imstande, dem Einzelnen ein solches Recht zuzugestehen? Wäre eine Ordnung, die nur alles erlaubt, solange man diese Ordnung auch gut findet, wirklich noch eine Ordnung größtmöglicher Freiheit? Eine mögliche Antwort kann man in der Abgrenzung der Sphären der subjektiven Haltung und der objektiven Geltung finden. Denn schon die Gewährleistung eines Rechts zur Ablehnung der Ordnung gehört zum objektiven positiven Inhalt der Wertordnung. Diesem Inhalt muss nicht jeder zustimmen und dies tut bekanntermaßen auch nicht jeder. Die Verfechter des islamischen Gottesstaates etwa würden einer solchen freiheitlichen Ordnung nicht zustimmen können, auch wenn sie ihnen das Recht einräumt, für einen islamischen Gottesstaat zu sein. Denn das subjektive Ablehnungsrecht ändert nichts am objektiven Bestand der freiheitlichen Ordnung, die eben einen islamischen Gottesstaat nicht zulässt. Sie stellt es dennoch jedem frei, für eine solche Ordnung zu sein, solange er einen solchen nicht tatsächlich errichtet. Insofern kann der Inhalt einer solchen Ordnung auch nicht ein ganz anderer sein. Ein anderer Inhalt der Wertordnung würde den durch sie konstituierten Staat seiner freiheitlichen Identität berauben. Die prinzipielle inhaltliche Offenheit einer freiheitlichen Ordnung und das ihr immanente Recht zur Ablehnung dieser Ordnung sind nicht gleichzusetzen mit einer inhaltlichen Beliebigkeit. Denn das bestehende subjektive Ablehnungsrecht ändert nichts am objektiven positiven Gehalt dieser Ordnung. Selbst die Kühnheit des strengen Skeptikers, physikalische Gesetzmäßigkeiten – wie die Schwerkraft – zu bestreiten, ändert schließlich auch nichts daran, dass er sein Verhalten schließlich doch auf deren Geltung einzustellen hat.92 Zudem entspricht die Annahme eines Ablehnungsrechts dem Postulat größtmöglicher Freiheit aller. Da das Ablehnungsrecht eine Ausprägung der Freiheit zur selbstbestimmten Wertbildung ist, muss es grundsätzlich auch durch den freiheitlichen Verfassungsstaat gewährleistet werden. Das Ablehnungsrecht als solches gefährdet die Freiheitlichkeit im Übrigen noch nicht. Daher ist es auch unter dem Gesichtspunkt der Bestandserhaltung möglich und angemessen, dieses
91 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (151) [„Zu einer solchen Ordnung kann sich in der Tat jeder bekennen“]. 92 Vgl. Paul Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung. Kontinuität und Erneuerung des deutschen Verfassungsstaates in Freiheitlichkeit, Weltoffenheit und demokratischer Solidarität, DVBl. 1999, 637 (642).
I. Das Paradoxon der Neutralität
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Recht zu schützen. Eine solche Ordnung könnte demnach keine ganz andere sein, da maximale Freiheit zwar abgelehnt, aber nicht abgeschafft werden darf. Zentrale Ausprägung des freiheitlichen Gehalts des modernen Staates ist der Verzicht darauf, eine einheitliche politische Gesinnung verbindlich zu machen. Daher gehört es zu einer wesentlichen Vorgabe der freiheitlichen Wertordnung, dass der Staat sich des Einforderns einer politischen Gesinnung und damit auch eines Bekenntnisses zu diesem enthält. Ihr ist also wesensimmanent, dass man sich zu ihr nicht bekennen muss. Die Bindung an diese Ordnung trifft allein den Staat, der von der Mehrheit mit deren Verteidigung beauftragt ist. Zu ihrer vollen Verteidigung gehört dann in Ansehung des ihr immanenten Ablehnungsrechts auch, dass der Staat den Bürger davor schützt, ein Bekenntnis entgegen seiner persönlichen Werthaltung abgeben zu müssen. Dieser Gesinnungsschutz sowie das daraus abgeleitete Ablehnungsrecht streiten zusätzlich dafür, positive Treue vom Bürger nicht zu verlangen. Denn diese würde für denjenigen, der die Ordnung innerlich ablehnt, ein aktives Handeln gegen seine eigene Werthaltung oder sein Gewissen bedeuten. Vom individualistischen Standpunkt aus ist der Einsatz für die Freiheit anderer ohnehin eine freiwillige Betätigung. Nun könnte man für die negative Treue in einem ersten Reflex ähnlich argumentieren. Denn warum sollte jemand nicht das natürliche Recht haben, seiner Überzeugung gemäß auch aktiv gegen die Freiheit (anderer) zu kämpfen? Dieses Argument muss allerdings zurückgewiesen werden, wenn man bedenkt, dass der Inhalt der abgelehnten Ordnung die Freiheit aller ist. Es gibt nämlich kein natürliches Recht, andere ihrer Freiheit zu berauben und für deren Abschaffung aktiv zu kämpfen. Erinnert sei an die frühe Erkenntnis von Diderot, wonach niemandem das natürliche Recht zukommt, andere zu beherrschen.93 Aus dem Individualismus folgt schließlich nur das Recht zur Bestimmung über sich selbst, nicht über andere. Einer negativen Treueanforderung steht der Gesinnungsschutz daher nicht entgegen. Im Gegenzug kann es aber eben auch keine positive Pflicht geben, gegen die eigene Wertvorstellung für die Freiheit anderer aktiv einzutreten. Weiter gedacht schützt das Ablehnungsrecht die einzelnen kulturellen Selbstverständnisse auch davor, durch den Staat am Maßstab der freiheitlichen Ord-
93 Denis Diderot, wiederabgedruckt in: Naumann (Hrsg.), Artikel aus der von Diderot und D’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, S. 116 [„Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen zu gebieten.“]; vgl. auch John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II. § 135, S. 284 [„niemand hat eine absolute, willkürliche Gewalt über sich selbst oder irgendeinen anderen Menschen“]; anders noch Thomas Hobbes, Leviathan, S. 99 [„jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen“]; vgl. dazu Gerd Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, S. 45 ff.
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
nung überprüft zu werden.94 Denn die Verantwortung des Staates für die Wertordnung beschränkt sich darauf, diese zu bewahren und ihr Geltung zu verschaffen. Sie kann hingegen nicht so weit gehen, bestimmte kulturelle Selbstverständnisse auf ihre Übereinstimmung mit der freiheitlichen Wertordnung hin zu überprüfen und als solche zu bekämpfen, sofern ihre Vertreter nicht durch äußeres Verhalten eine konkrete Gefahr für den Bestand der Wertordnung darstellen. Daher darf auch zwischen den einzelnen kulturellen Selbstverständnissen inhaltlich gar nicht unterschieden werden. Eine Christin kann bei aktiver Bekämpfung der Grundordnung gleichermaßen ins Visier des Staatschutzes geraten wie ein Moslem, ein Sozialdemokrat ebenso wie ein Nationaldemokrat, eine Zeugin Jehovas genau so wie eine Anhängerin von Scientology. Entscheidend ist allein das Verhalten und seine Auswirkungen für den Bestand der freiheitlichen Wertordnung. Dabei hat der Staat zuvörderst das Handeln zu bewerten, nicht aber das Selbstverständnis an sich. Erst mit dem Eintreten in die äußere Sphäre kann der Staat also überhaupt erst in Richtung auf den Bürger aktiv werden. Die Abkehr von einer Gesinnungseinheit gehört insoweit zur wesentlichen Errungenschaft des neuzeitlichen Staates.95 4. Konfrontation statt Identifikation Im Gegensatz zu einer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft verzichtet der Staat also darauf, seine Identität durch Identifikationszumutungen zu erzeugen.96 Die religions- und weltanschauungsspezifische Innerlichkeit ist dem freiheitlichen Staat fremd. Aber auch der freiheitliche Staat braucht einen Grundoder Minimalkonsens, ohne den er auf Dauer keinen Bestand hat.97 Er sieht sich also der Schwierigkeit ausgesetzt, einheitsstiftende Elemente gegen den eher dissoziativen Charakter von „Pluralisierung und Fragmentierung“ zu schaffen und durchzusetzen.98 Es mag verlockend erscheinen, dem Staat deshalb auch das Recht zuzusprechen, „seinen Bürgern [. . .] wenigstens die Anerkennung dieser Prinzipien, auf denen er selbst beruht, die seine Identität bestimmen und ohne
94 Vgl. Uwe Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 245 (260 f.), der aus dem Vorrang der Verfassungsprinzipien ableitet, dass der Staat einzelne kulturelle Selbstverständnisse zu bewerten und bei einem Gegensatz zu den Grundprinzipien als falsch zurückzuweisen hat. 95 Vgl. genauer Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 42–64 (insb. S. 57 ff.). 96 Vgl. Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 156 (174 ff.) [„Identitätszumutungen“]. 97 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (141). 98 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (141).
I. Das Paradoxon der Neutralität
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die es ihn gar nicht gäbe, auch abverlangen“ 99 zu dürfen und dies am besten „im Sinne einer auch inneren Zustimmung und Folgebereitschaft“.100 Dies wäre dann doch eine „Zumutung der Identifikation“.101 Die innere Treue des Staatsbürgers zur freiheitlichen Verfassung, also die Verfassungstreue, ist das höchste Gut des freiheitlichen Verfassungsstaates schlechthin. Er kann sie jedoch nicht einfordern und daher auch nur begrenzt sicherstellen. Die Frage bleibt, wie der Staat eine solche Verfassungstreue erreichen kann, „ohne dass es zu einer staatlich verordneten Sittlichkeit und Ideologie, zu einem letztlich totalitären Zugriff auf den einzelnen kommt“.102 Die Antwort kann darin liegen, die Möglichkeiten zur Identifikation mit der Verfassung so weit wie möglich zu verbessern.103 Der letzte – entscheidende – Schritt der Internalisierung ist jedoch jeglichem Zugriff von außen entzogen und fällt allein in die Zuständigkeit des Individuums. Die Zumutungen des freiheitlichen Staates haben daher den Charakter von Konfrontationen, die aus der Wertbindung des freiheitlichen Verfassungsstaates resultieren. Zunächst einmal gibt es in einem pluralen Staat einen grundsätzlichen „Schutz der geistigen Provokation“.104 Das bedeutet umgekehrt, dass kein „grundrechtliche[r] Konfrontationsschutz“ 105 gegenüber nicht geteilten Religionen und Weltanschauungen existieren kann. Es gibt keinen Anspruch darauf, „bestimmte [. . .] lästige oder widerwärtige Dinge nicht zu sehen oder zur Kenntnis nehmen zu müssen.“ 106 Das „Dissenspotential“ 107 der pluralen Gesellschaft
99 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (143). 100 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (143). 101 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (143). 102 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 32, wonach es die Kompetenz des Staates überschreitet, geistig-kulturelle Grundauffassungen und Standards kraft eigener Entscheidung festzusetzen und „in der Form des Rechtsgebots verbindlich zu machen.“ Im Rahmen seiner Schutzfunktion gehe das sogar so weit, dass der Staat nur zu solchem Verhalten verpflichten kann, das die freie Gesinnungsentfaltung des Einzelnen nicht beeinträchtigt. 103 Vgl. ausführlich zur Integration durch die Verfassung Stefan Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 117 (117 ff.). 104 Christoph Enders, Toleranz als Rechtsprinzip? Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen, in: Enders/Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe, S. 243 (252). 105 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 110. 106 Horst Dreier, Religionen und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 11 (25); vgl. auch Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz der Heiligen, in: Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz der Heiligen, S. 31 (47 f.) [„Jemand kann unmöglich allein deshalb zur Unterlassung einer bestimmten Äußerung
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
führt damit notwendigerweise zu „wechselseitigen Zumutungen von erheblichem Ausmaß“.108 Da die grundsätzliche Gewährleistung gleicher Freiheit aller der Disposition des Einzelnen entzogen ist, ist der Bürger notwendigerweise der Zumutung ausgesetzt, die Freiheitsausübung der anderen zu dulden. Weiter gedacht bedeutet dies auch, dass es generell keinen Konfrontationsschutz gegen die staatliche Wertordnung an sich gibt. Denn als Ausfluss seiner Wertbindung ist der Staat zur Freiheitsverteidigung befugt und sogar verpflichtet. Als Korrelation dieser Pflicht kann es auf Seiten des Staatsbürgers allenfalls eine Pflicht zur Duldung dieser Staatstätigkeit geben, nicht aber zu einer aktiven Mitwirkung im Sinne einer positiven Treue. Denn andernfalls würde der Bürger gleichsam selbst aus diesem Schutzauftrag verpflichtet. Konfrontation hat aber noch eine weitere Komponente. Sie kann sich auch auf die Duldung der Wertvermittlung beziehen. Sie impliziert hier die Zumutung, sich dieser Konfrontation aktiv auszusetzen. Den meisten Konfrontationen kann man zwar durch Rückzug oder einfaches „Wegschauen“ entgehen. Im Einzelfall ist es aber auch gerechtfertigt, sich bestimmen Wertäußerungen nicht entziehen zu dürfen, wie dies bei der Schulpflicht praktisch der Fall ist. Konfrontation bekommt so ein aktives Moment und geht dann über das rein passive Dulden hinaus. Die Konfrontationszumutung ist eine Antwort auf das „Paradoxon der Toleranz“.109 Die umfassende staatliche Bindung an den Wert der Freiheit kann nämlich nur mit einer Duldung ihrer Geltung erhalten werden. Toleranz gegenüber den Intoleranten erstreckt sich daher allenfalls noch auf deren Gesinnung, nicht aber auf eine Abschaffung des Prinzips der Toleranz an sich.110 Das freiheitliche Selbstverständnis hat dadurch einen Charakter „sui generis“. Es begründet mangels „Gesinnungszuständigkeit“ keine Weltanschauung oder Religion, sondern beansprucht unbedingte Geltung, ohne zugleich einen absoluten Wahrheitsanspruch zu erheben. Die freiheitliche Wertordnung konfrontiert äußerlich allenfalls in der Hoffnung auf Identifikation111, ohne selbst Identifikation zu verlangen. Sie postuliert Toleranz bis zum Äußersten, nicht aber bis zum Uferlosen.
verpflichtet sein, weil irgendein anderer sie als eine Verletzung seines religiösen Gefühls empfinden könnte“]. 107 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 109. 108 Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 109. 109 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1, S. 333. 110 Grundlegend Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, S. 333. 111 Vgl. Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 156 (160), der dem Staat „nur distanzwahrende Identitätsangebote“ zugesteht.
II. Verfassungstreue und Verfassungsschutz
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II. Verfassungstreue und Verfassungsschutz Die so verstandene Neutralität belässt dem Staat ein Wertfundament, dessen Verteidigung ihm aufgetragen ist. Aber wie kann er diesem Auftrag überhaupt gerecht werden, wenn er sich in der Wahl der Mittel zur Verteidigung seiner Ordnung selbst limitiert. Die Ordnung der Freiheit muss sich schließlich auch „durch die Methoden ihrer Verteidigung von der der Unfreiheit unterscheiden“.112 Verfassungsschutz ist nach einer Definition von Gerd Roellecke diejenige Tätigkeit, die darauf gerichtet ist „die Legitimationsprinzipien einer Staatsgewalt zu sichern“.113 Nach der bisherigen Erkenntnis gehört zu diesen Legitimationsprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates die Geltung einer Wertordnung, welche materiale Freiheit und demokratische Entscheidungsfindungsmechanismen gewährleistet. Geht man mit Helmut Steinberger davon aus, dass sich freiheitliche Demokratien nur als „werthafte Ordnung“ sichern lassen114, ist klar, dass es um den Schutz dieser werthaften Ordnung gegen potenzielle oder konkrete Feinde durch die Mechanismen des freiheitlichen Verfassungsstaates geht. 1. Verfassungstreue Staatsbürger als effektivster Schutz der Verfassung „Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten.“ 115 Diese gewichtige Erkenntnis verleitet leicht zu der Bestrebung, die Zahl der Demokraten möglichst hoch zu halten. Verfassungstreue Staatsbürger sind nun einmal der effektivste Schutz der Verfassung.116 Wären alle sich bei der Verteidigung der Freiheit einig117, könnte sich der freiheitliche Verfassungsstaat aus diesem „Wille[n] zur Verfassung“ 118 seiner Grundlage sicher sein. Insoweit sind Ausgangspunkt des staatlichen Verfassungsschutzes jene legitimen Maßnahmen, welche in den Bürgern eine solche Treue zur Verfassung begünstigen, fördern oder gar erzeugen können. Wenn die Mehrheit der Staatsbürger es als „patriotische Pflicht“ 119 anerkennt, die Verfassung gegen ihre Feinde zu verteidigen, dann gelingt genau dadurch die nachhaltige Sicherung des „Verbindend-Gemeinsamen“, welches eine politische Gemeinschaft zusammen und den Staat mit seiner Wertordnung am Leben hält. 112 113
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 30. Gerd Roellecke, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, DÖV 1978, 457
(457). 114
Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 243 ff. Bernhard Sutor, Grundwerte im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 89. 116 Vgl. Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (51) – Leitsatz 22. 117 So etwa Walter Leisner, Beamtentum, S. 314. 118 Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (20). 119 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 15 f. 115
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
a) Verfassungspatriotismus In diesem Bezugsrahmen führte Dolf Sternberger den Terminus des Verfassungspatriotismus ein.120 Das Besondere an diesem Konzept war die Verknüpfung von Patriotismus mit der Verfassung121, womit weniger das Dokument an sich als vielmehr die dahinterstehende Wertordnung – für Deutschland die so genannte „freiheitliche demokratische Grundordnung“ – gemeint war.122 Ursprünglich war Patriotismus im Sinne einer „vaterländischen Gesinnung“ 123 eher mit der Nation verbunden. Diese war mit ihren kulturell gewachsenen – überwiegend ethnischen – Kriterien wie gemeinsame Sprache oder Geschichte besonders geeignet, bei den Bürgern ein Gefühl der Verbundenheit zu erzeugen, welches für den Zusammenhalt der Gemeinschaft und den Bestand des Staates eine wesentliche Voraussetzung war. Nach der Teilung Deutschlands und der damit einhergehenden Spaltung der einen Nation wurde es hingegen notwendig, das Zusammengehörigkeitsgefühl auf etwas Neues zu stützen. Dafür wurde dann eben die Verfassung vorgeschlagen. Während nämlich das Nationalgefühl angesichts der Teilung gelitten hatte, lebte man immerhin noch „in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat“, was auch eine Art von Vaterland sein solle.124 Jedoch muss dem Konzept des Verfassungspatriotismus auch nach der Wiedervereinigung weiterhin Bedeutung beigemessen werden, leben wir doch in einer Zeit von Terror und Extremismus, die mit ihrer Pervertierung der Freiheit den modernen Verfassungsstaat vor inkomparable Herausforderungen stellt. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die Grundlagen der Freiheit zu verteidigen und sie als Wert auch in den Herzen der Bürger zu verankern. Ein Problem des Verfassungspatriotismus macht ihn jedoch seit jeher zum Gegenstand einer Kontroverse. Umstritten war insbesondere, ob die Freiheit als grundlegende Idee des Verfassungsstaates allein überhaupt geeignet ist, bei den Bürgern ein solches Gefühl wie Patriotismus auszulösen.125 Wie kann also der freiheitliche Staat den „Elan und [. . .] Ethos seiner Bürger“ erzeugen, von denen er lebt und auf die er daher so sehr angewiesen ist?126 Ver120
Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, insb. S. 26–30. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus S. 17; vgl. Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (11 ff.). 122 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 24. 123 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 17. 124 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 13. 125 Manfred Hättich, Kann Verfassungspatriotismus Gemeinschaft stiften?, in: Behrmann/Schiele (Hrsg.), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, S. 25 (25). kritisch Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, S. 11 (23 ff.); vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 167 f. 126 Vgl. Bernhard Sutor, Grundwerte im freiheitlichen Verfassungsstaat, S. 89 [„Gerade der freiheitliche Staat lebt aus dem Elan und dem Ethos seiner Bürger.“]. 121
II. Verfassungstreue und Verfassungsschutz
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fassungspatriotismus kann als Gefühl oder innere Haltung letztlich synonym zu innerer Verfassungstreue gebraucht werden, insbesondere im Kontext des Verfassungsschutzes. Denn eine soziologisch-empirische Fundierung des Verfassungspatriotismus ist hier nicht beabsichtigt, sondern vielmehr seine normative Einbettung in die Mechanismen verfassungsschützender Staatstätigkeit. Wie also kann der Staat einen solchen Verfassungspatriotismus „erzeugen“? Stellt man die Frage so, ist die Antwort eindeutig: Aktiv „erzeugen“ kann der Staat diesen nicht. Er kann ihn allenfalls fördern, unterstützen oder begünstigen. Aber darf er ihn auch fordern? Der Umstand, dass ein Gefühl der Verbundenheit mit Staat und Verfassung – nennt man es nun Patriotismus oder Treue – eine faktische Verfassungsvoraussetzung ist, kann für sich betrachtet noch keine Rechtfertigung für eine normative Anforderung an die Staatsbürger sein.127 Ein solcher Schluss von einer Notwendigkeit oder faktischen Existenzbedingung auf ein Sollen läuft auf einen Paralogismus, vielleicht sogar auf eine Art naturalistischen Fehlschluss hinaus, wenn man diese Existenzbedingung als natürliche Gegebenheit der historischen Entstehung moderner Verfassungsstaatlichkeit betrachtet. Auch Jürgen Habermas hat den Verfassungspatriotismus aufgegriffen und weiterentwickelt.128 Bei Habermas spielen Gefühle eine eher untergeordnete Rolle. Im Fokus steht vielmehr die Vernunft, welche den politischen Prozess dominiert.129 Wenn Sternberger etwa von einer „Liebe zur Pflicht“ 130 spricht, die im Gefühl der Vaterlandsliebe oder des Vertrauens in das Konzept des Staates gründet131, so würde Habermas eher an die Vernunft appellieren und rationale Identifikation mit der Verfassung intendieren, die sich etwa in aktiver politischer Teilhabe und bürgerschaftlichem Engagement ausdrücken kann. Sternberger macht die politische Teilhabe dabei nicht zum zentralen Gegenstand seiner Konzeption, sondern würdigt schon geringfügiges demokratisches Engagement.132 Soweit die 127 Vgl. den Hinweis bei Rebekka Fleiner, Die drei Dimensionen des Verfassungspatriotismus – Sternberger Revisited, ÖZP 42, S. 407 (417), wonach Verfassungspatriotismus sehr wohl als normatives Konzept zu verstehen sei. Daraus folgt aber nicht, dass konkrete Handlungsanforderungen an den einzelnen Bürger gerichtet waren. Vielmehr ging es immer nur um Handlungsmotivation aus „Liebe zur Demokratie“ und damit weniger um die Befolgung echter (Rechts-)Normen. 128 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 142 ff.; ders., Faktizität und Geltung, S. 632 ff. 129 Rebekka Fleiner, Die drei Dimensionen des Verfassungspatriotismus – Sternberger Revisited, ÖZP 42, S. 407 (409), die ausführlich die zentralen Unterschiede der Konzeptionen von Habermas und Sternberger herausarbeitet. 130 Dolf Sternberger, Ich wünschte ein Bürger zu sein. Neun Versuche über den Staat, S. 47. 131 Rebekka Fleiner, Die drei Dimensionen des Verfassungspatriotismus – Sternberger Revisited, ÖZP 42, S. 407 (409). 132 Rebekka Fleiner, Die drei Dimensionen des Verfassungspatriotismus – Sternberger Revisited, ÖZP 42, S. 407 (410), die „Vereinsengagement zur Verteidigung von Pressefreiheit und gegen Zensur“ als Beispiel dafür nennt.
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
emotionale Bindung zur Verfassung und ein entsprechend motiviertes Engagement gemeint sind, so hat der Staat zum Zwecke des Verfassungsschutzes die Möglichkeit, diese positiven Gefühle zum Staat zu begünstigen. Der Status von Verfassungspatriotismus bei Habermas hingegen ist insoweit weniger leicht einzuordnen, als die Vernunft weitaus schwieriger zu adressieren ist. Denn ein „moralischer Appell“ an diese dürfte – ohne emotionale Fundierung – „unwirksam“ sein. Eine Rechtspflicht wiederum widerspricht der Freiheitsidee des Staates.133 In letzter Konsequenz muss es daher darum gehen, die Bürger zu einer lebendigen politischen Praxis durch Ausübung ihrer demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsgrundrechte zu bewegen, die dann das freiheitliche Gemeinwesen zusammenhält.134 Da man die Bürger dazu natur- und systemgemäß135 nicht zwingen kann, muss diese politische Praxis aus der mehrheitlichen Überzeugung des Volkes heraus entstehen. Nur eine übereinstimmende Haltung schafft die Einheit, die nicht nur aus rationalen, sondern vor allem auch aus emotionalen Beweggründen entsteht.136 Dies ermöglicht schließlich eine Identifikation mit derjenigen „Essenz einer konkreten Verfassung“ 137, die diese politische Teilhabe bedingt. Die Identifikation wird so zum Garanten der Verfassung. Daraus folgt aber normativ noch nichts. Verfassungspatriotismus ist kein verbindliches ethisches Konzept. Eine Verpflichtung der Bürger auf das Gemeinwohl durch die Ausübung von Teilhaberechten kann daher daraus ebenso wenig abgeleitet werden wie ein Bekenntnis zur verfassungsmäßigen Ordnung. Die Gemeinwohlbelange können nur durch alle Mitglieder des demokratischen Kommunikationsprozesses erstritten und immer wieder neu verteidigt werden. Die einigende „Idee fairen Zusammenlebens“ 138, an der die Verfassungspatrioten gemeinsam festzuhalten haben, bleibt grundsätzlich unangefochtene Basis dieses Kommunikationsprozesses, die gegen Verfassungsfeinde verteidigt und durch eine gelebte demokratische Praxis behauptet werden muss.
133 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (34, Fn. 104). 134 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 636. 135 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 641 [„Eine Rechtspflicht etwa zur aktiven Wahrnehmung demokratischer Rechte hat etwas Totalitäres“]. 136 Vgl. zur Bedeutung des emotionalen Elementes bei der Einheitsbildung Otto Depenheuer, Integration durch Verfassung? – zum Identitätskonzept des Verfassungspatriotismus, DÖV 1995, 854 (859) [„Dieses emotionale Moment ist nicht rechtfertigungsbedürftig; es ist schon deswegen legitim, weil es ist“]. 137 Otto Depenheuer, Integration durch Verfassung? – zum Identitätskonzept des Verfassungspatriotismus, DÖV 1995, 854 (855). 138 Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus – eine systematische Verteidigung, Vorgänge 191, S. 111 (112).
II. Verfassungstreue und Verfassungsschutz
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b) Emotionale Verfassungsstabilisierung als Prä-Prävention Die emotionale Identifikation mit der freiheitlichen Wertordnung muss vorrangiges Ziel staatlicher Verfassungsschutztätigkeit sein. Diese Art von Verfassungsschutz kann man der „Prä-Prävention“ zuordnen, da die Tätigkeit sich noch weit im Vorfeld einer konkreten oder auch nur abstrakten Gefahr bewegt. Vielmehr zielt diese darauf ab, die generelle Identifikation der Bürger mit ihrem Staat und seiner Verfassung zu fördern oder zu bewahren, um Gefährdungspotenziale gar nicht erst aufkommen zu lassen. Diese Tätigkeit ist daher prima facie gar nicht als Verfassungsschutz erkennbar und auch nur in einem ganz entfernten Sinne überhaupt als Verfassungsschutz einzuordnen. Der klassische Verfassungsschutz hingegen – wie er institutionell in Erscheinung tritt – wird zwar in Abgrenzung zur polizeilichen Gefahrenabwehr nicht erst bei konkreten Gefahren tätig, sondern spürt bereits im Vorfeld das Potenzial verfassungsfeindlicher Gefährdungen auf. Dieses Gefährdungspotenzial ist aber im Gegensatz zum prä-präventiven Verfassungsschutz schon einigermaßen konkret, da es an bestimmte Bestrebungen – etwa verfassungsfeindliche Organisationen – oder individualisierbare Betätigungen – etwa Äußerungen oder Versammlungen mit verfassungsfeindlichen Inhalten – anknüpft. Hier liegt zumindest bereits eine verfassungsfeindliche Gesinnung vor, die sich durch bestimmte Bestrebungen als solche nach außen manifestiert hat. Werterziehung – auf die im nachfolgenden Abschnitt eingegangen wird139 – erfolgt ebenfalls „prä-präventiv“, da sie darauf abzielt, verfassungsfeindliche Gesinnungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Dies geschieht sogar offen im Hinblick auf die verfassungsmäßigen Werte, indem deren Vorteile ausdrücklich aufgezeigt werden. Dort tritt der verfassungsschützende Charakter der Tätigkeit also zu Tage. Prä-Prävention erfolgt aber eben oftmals nicht unter Offenlegung des Verfassungsschutzziels, weil dieses meist auch nur mittelbar intendiert ist. Vielmehr ist die Effektivität eines verfassungsmäßig handelnden Staates insgesamt Nährboden verfassungstreuer Staatsbürger. Der Staat ist notwendigerweise eine „Machteinheit“ 140, die den getroffenen Entscheidungen und den daraus hervorgehenden Normen wirksam Geltung zu verschaffen hat.141 Solange dieser Mechanismus funktioniert, wird der Frieden als höchster Wert gesichert.142 Als Machteinheit muss der Staat dabei imstande sein, „gegenüber Widerstrebenden den Geltungs139
Vgl. unter 2. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 14, der daneben den Staat auch als Friedens- und Entscheidungseinheit beschreibt; vgl. auch Hermann Heller, Staatslehre, S. 269 ff. 141 Vgl. schon Blaise Pascal, Gedanken, Aphorismus 257 (S. 112) [„Die Gerechtigkeit ist ohnmächtig ohne die Macht; die Macht ist tyrannisch ohne die Gerechtigkeit“]. 142 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 15. 140
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
anspruch rechtlicher Normen und getroffener Entscheidungen auch durchzusetzen [und] ihnen durch Einsatz von Macht tatsächliche Wirksamkeit zu verschaffen“.143 Erst dadurch kann auch die Treue der Bürger – in unterschiedlicher Ausprägung – überhaupt erst entstehen, da sich andernfalls das Gefühl der Privilegierung von Rechts- und Verfassungsbrechern breitmacht.144 Ein Staat, der selbst die unbedingte Bindung an die Verfassung und ihre Ordnung verkörpert, darf viel eher auf die Treue seiner Bürger vertrauen. Damit hängen die Eigenschaft des Staates als Inhaber einer Herrschaftsordnung und seine Rolle als Bewahrer einer Friedens- und Freiheitsordnung eng miteinander zusammen.145 Der Staat „entsteht und lebt [nämlich] nicht aus dem herrschaftsfreien Diskurs, sondern schafft erst die Voraussetzungen, damit herrschaftsfreier Diskurs möglich ist“.146 Die Herrschaftsordnung des Staates ist damit „Postulat der Sicherheit [sowie] ein Postulat der Freiheit“.147 Daher müssen sich die Anforderungen an die Verfassungstreue von Staatsdieners von den allgemeinen Anforderungen unterscheiden.148 Bürger sind Träger von Freiheit, Beamte hingegen deren Gewährleister. Die Freiheit aller ist nämlich dort besonders angreifbar, wo Menschen Teil des Staatsapparats sind, da sie dann das Gewaltmonopol missbrauchen können, um ihre Haltung umzusetzen, etwa auch mit rechtlich erlaubten Mitteln als rechtstreue Verfassungsfeinde. Der Staat als Machteinheit zum Schutz der freiheitlichen Wertordnung darf daher in seinen Reihen keine Verfassungsfeinde dulden, die diese Staatsmacht entgegen dem staatlichen Schutzauftrag missbrauchen. Darüber hinaus ist emotionale Verfassungsstabilisierung in jedem Politikbereich mitgedacht, der auf soziale Befriedung abzielt oder sie sonst zu beeinflussen geeignet ist. Sozial- und Wirtschaftspolitik fallen etwa in diese Kategorie. Denn die Identifikation mit dem Staat wird durch kaum etwas so stark begünstigt wie durch das Gefühl der Bürger, von ihrem Staat Schutz, Wohlstand oder Gerechtigkeit zu erhalten. Insoweit kann auf Dauer nur eine Gesellschaft mit der inneren Treue ihrer Bürger rechnen, die insgesamt das Versprechen einlöst, dass es in ihr sozial gerecht zugeht.149 Demnach ist eine Befriedung der Bürger notwendig, um die innere Sicherheit langfristig zu gewährleisten. Politische Unru143
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 15. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 15. 145 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 16. 146 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 16; vgl. zur Unhaltbarkeit der These vom herrschaftsfreien Diskurs als Grundlage legitimer politischer Ordnung Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, S. 104 ff., 117 ff. 147 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 16. 148 Vgl. zur gesteigerten Verfassungstreue von Beamten Martin Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 184 ff. 149 Peter Imbusch, Sozialpolitik und Friedenspolitik. Befunde, Herausforderungen, Perspektiven, in: Carigiet/Mäder/Opielka/Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit. Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich, S. 382 (396). 144
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hen werden aller Erfahrung nach schließlich erst dann entfacht, wenn sich die Bürger selbst ungerecht behandelt fühlen. Zahlreiche Staaten können dafür als Beispiel dienen, etwa Griechenland, dessen Verfassungsordnung zwar als gesichert gelten konnte, aber durch drohende wirtschaftliche Not der Bürger als Folge einer im Jahre 2010 bekannt gewordenen Staatsschuldenkrise dennoch in Gefahr geriet. Meist zählt für die einzelnen Bürger zuvörderst das persönliche Betroffensein von staatlicher Tätigkeit. Der Glaube an den stets gemeinwohlorientierten Bürger dürfte wohl in den Bereich der Utopie fallen150 und allenfalls von wenigen überhaupt für praktikabel gehalten werden.151 Allerdings ist es auch keine gesicherte Konsequenz, dass allein aus persönlicher Betroffenheit eine echte Identifikation folgt. Jedoch wird die Möglichkeit zur Identifikation gerade durch eine grundlegende soziale Befriedung und das Gefühl von Gerechtigkeit erst geschaffen. Der Nährboden für die Bereitschaft, um der Gerechtigkeit willen auf die Barrikaden zu gehen, entsteht nämlich nicht immer nur deshalb, weil sich alle Bürger ganz selbstlos mit diesem Wert identifiziert hätten, sondern meist vor allem angesichts des Gefühls der persönlichen Benachteiligung oder Bedrohung. Ob Freiheit und Demokratie als solche mit ebensolchem Einsatz verteidigt werden, hängt demnach entscheidend davon ab, wie überzeugend der Staat die Vorteile für den Einzelnen repräsentiert.152 Selbst zu positiver Treue werden sich die Bürger eher bewegen lassen, wenn sie zu verlieren fürchten, was sie als existenziell begreifen. Die Bereitschaft zur Demonstration etwa steigt wohl vor allem dann, wenn persönliche Missstände besorgt oder festgestellt werden. Somit greift ein alter Gedanke, den man so ähnlich schon bei Sokrates finden kann: Die Treue zum Staat wird stärker, je mehr man sich durch ihn geschützt fühlt.153 Der Staat kann die Loyalität durch die Schaffung eines sozialen Ausgleichs fördern, indem er den Bürgern dieses Gefühl des Schutzes vermittelt. Ein effektiver und glücklich machender Staat findet die Anerkennung seiner Bürger, ganz im Sinne des Ausspruchs von Cicero „ubi bene, 150 Otto Depenheuer, Integration durch Verfassung? – zum Identitätskonzept des Verfassungspatriotismus, DÖV 1995, 854 (858) [„empirisch unhaltbar“]. 151 Realistischer wohl die Formulierung von Stefan Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 117 (140), der von „rationale[m] Interessenkalkül ursprünglich isolierter Menschen“ spricht. 152 Vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 143 [„Die Bürger müssen den Gebrauchswert ihrer Rechte auch in der Form sozialer Sicherheit [. . .] erfahren können“ – Hervorhebung im Original]. 153 Vgl. Platon, Kriton, 50 c–51 c (S. 21 f.), wonach es ein Recht des Vaterlandes zum Gehorsam geben solle, mit dem auf Seiten des Bürgers eine moralische Pflicht korreliert. Entscheidend ist dabei aber der zu Grunde liegende Gedanke, dass dies aus der grundlegenden moralischen Anerkennung eines Existenzgrundes des Staates folgt, der darauf beruht, dass dieser für die Einzelnen Vorteile bringt. Der Gehorsam ist dann eine selbstverständliche Schuld des Bürgers, ohne dass damit schon die moderne Vertragstheorie vorweggenommen wäre. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 69.
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
ibi patria“.154 Die innere Einsicht, dass es dort gut ist, wo die Freiheit herrscht – ubi libertas, ibi bene –, ebnet den Weg für die Manifestation innerer Verfassungstreue. Erst dann entsteht bestenfalls auch die Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit, die als schützenswertes Gut anerkannt wird, wie es in dem Zitat des US-amerikanischen Politikers Carl Schurz: „ubi libertas, ibi patria“ 155 ausgedrückt ist. Ein zusätzliches Problem ist dabei, dass dieses Empfinden mit jeder Generation sukzessive zu schwinden droht, da Freiheit immer mehr für eine Selbstverständlichkeit gehalten wird und ihr daher keine besondere Anerkennung mehr zukommt. Hier muss die offene Prä-Prävention ansetzen, die durch Aufklärung – in diesem Fall historischer Art – und Werterziehung das Bewusstsein schaffen und bewahren kann, dass die Freiheit, in der wir leben, das Ergebnis eines beschwerlichen Kampfes war und nur durch die Bereitschaft zu ihrer ständigen Verteidigung auch in Zukunft aufrechterhalten werden kann. 2. Staatliche Werterziehung als prä-präventiver Verfassungsschutz a) Zweck staatlicher Werterziehung Das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Freiheit eine triumphale Eroberung ist, ist Aufgabe der staatlichen Werterziehung, die damit auch als positiver Verfassungsschutz156, pädagogischer Verfassungsschutz157, antizipierter Verfassungsschutz oder eben auch prä-präventiver Verfassungsschutz bezeichnet werden kann. Angesichts des beschränkten Zugriffs des freiheitlichen Staates auf das Innere seiner Bürger ist dies die einzig legitime Chance, verfassungsfeindliche Gesinnungen bei den Staatsbürgern schon in ihrer Entstehung zu hindern. Der Politikunterricht in der Schule hat bereits in Ansehung des Verfassungspatriotismus das Ziel, „die Schülerinnen und Schüler als zukünftige Bürgerinnen und Bürger zum selbstständigen politischen Denken und Handeln zu befähigen und ihnen eine demokratische Wertorientierung zu vermitteln, in deren Mittelpunkt die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der davon abgeleiteten Menschen- und Grundrechte stehen“.158 Zentral ist dabei die „Anerkennung 154 Verkürzte Wiedergabe nach Georg Büchmann, Geflügelte Worte, S. 260 [Übersetzung: „Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland.“]; Original-Wortlaut bei Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes, Buch V, XXXVII, S. 153 [„Patria est, ubicumque est bene.“]. 155 Carl Schurz, Lebenserinnerungen, S. 410. 156 Hans Peter Bull, Redebeitrag, in: VVDStRL 37, S. 152. 157 Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (36); vgl. zur Staatspflege Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 214 ff., 229. 158 Gotthard Breit, Verfassungspatriotismus – eine ausreichende Zielsetzung des Politikunterrichts?, in: Behrmann/Schiele (Hrsg.), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, S. 181 (185) – Hervorhebung im Original.
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der Subjektstellung der Person“.159 Nur so kann der Einzelne in einem freien Akt die Stellung als Bürger eines freiheitlichen Staates erwerben. Der Staat kann sich dabei jedoch nicht beliebiger Erziehungsmethoden bedienen, um den eigenen freiheitlichen Anspruch nicht zu verletzen. Erziehung darf nicht missbraucht werden, um sich gegen eine Revolution zu versichern.160 Dies führt unweigerlich zur Frage an den freiheitlichen Erziehungsstaat, welche Grenzen er bei seiner Wertvermittlung einzuhalten hat. b) Das Verbot der Indoktrination Der Umstand etwa, dass eine Identifikationszumutung ausgeschlossen ist, könnte berechtigten Zweifel daran begründen, ob die Gesinnung den Staat überhaupt etwas angeht und daher jede Art von Einflussnahme durch Erziehung oder politische Wertvermittlung von vornherein untersagt sein müsse.161 Eine freiheitsschonende Ausgestaltung von Wertvermittlung ist allerdings durchaus möglich. Ein vollkommenes Erziehungsverbot ist nicht erforderlich. Vielmehr kommt es auf die Wahl der Mittel und die Intensität der Einflussnahme an, die keinen freiheitsverletzenden Charakter haben darf. Insoweit gilt ebenfalls das Erfordernis, dass Erziehung in ihren legitimen Grenzen als bloße Konfrontation und nicht als Identifikation auszugestalten ist. Es ist dem freiheitlichen Verfassungsstaat keineswegs verboten, die eigenen Grundwerte seinen Bürgern „in einer Balance aus Toleranz und Rigidität“ 162 nahezulegen, solange die Grenze zum Zwang und auch schon zur dem Zwang vergleichbaren Indoktrination nicht erreicht wird.163 Der Bürger muss dabei die Möglichkeit haben, im Wege kritischer Hinterfragung gegebenenfalls auch eine ablehnende Haltung einzunehmen. Er soll schließlich – insbesondere schon in der Schule – zur freien Wertbildung als innerem Prozess des kritischen und selbstbestimmten Denkens und Entscheidens befähigt werden. Zwar bleibt dabei die Hoffnung begründet, dass der Bürger die selbst genossenen Vorteile freier Wertbildung auch als generellen Wert anerkennt und damit für diese einzustehen bereit ist. Eine Garantie gibt es jedoch nicht, da jeder Bürger im Wege des selbstbestimmten Denkens auch zu einer freiheitsfeindlichen Haltung gelangen kann. So sehr der Staat auch für seine freiheitlichen Werte werben darf, so muss er sich dabei doch zugleich in 159
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 34. Robert Spaemann, Ein Lump ist, wer mehr gibt als er hat. Was heißt „Mut zur Erziehung?“, in: FAZ v. 14.04.1978, S. 9–10. 161 Kritisch im Hinblick auf die Identifikationszumutung Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (149); umfassend ders., Darf der Staat seine Bürger erziehen?. 162 Detlef Merten, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 7 (40). 163 Vgl. zum strikten Indoktrinationsverbot Christoph Goos, Innere Freiheit. Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs, S. 176 ff. 160
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
besonnener Zurückhaltung üben, um einen Ausgleich zwischen Verfassungsschutz und Gesinnungsfreiheit zu finden. So bleibt als einziger Auftrag des freiheitlichen Erziehungsstaates, freie Wertbildung zu fördern und dadurch die Vorteile des freiheitlichen Verfassungsstaates aufzuzeigen. Es geht dabei darum, zu überzeugen, ohne zu zwingen. Nun könnte man den Einwand erheben, dass auch schon von einer Konfrontation – erfolgt sie nur mit hinreichender Beharrlichkeit – eine gewisse Zwangswirkung ausgeht, die die Schwelle zur Identifikation insofern zumindest tangiert – wenn auch nicht formal überschreitet –, als sie intentional darauf angelegt ist, dieselbe zu bewirken. Insoweit bewegt sich der freiheitliche Staat bei der Werterziehung in der Tat an einer diffizilen Schwelle, an der eine angemessene Differenzierung angezeigt ist. Gerade deshalb muss er Indoktrination vermeiden, welche den Inbegriff einer Überschreitung der Schwelle von bloßer Konfrontation zur Zumutung der Identifikation verkörpert. Darunter fallen in jedem Fall auch Methoden suggestiver Beeinflussung, die dem Bürger keinen eigenen Reflexionsund Entscheidungsspielraum mehr belassen.164 Wo die Konfrontation also den Charakter einer Indoktrination annimmt, kommt sie einer unzulässigen Identifikationszumutung gleich. Bei der Konfrontation muss die freiheitliche Wertordnung in letzter Konsequenz also als – vorzugswürdige, aber nicht einzige – Option erscheinen, die zugleich die Möglichkeit einräumt, sie abzulehnen. Aber ist nicht im Grunde jeder Erziehung – vor allem von Minderjährigen – ein gewisser Zwang immanent, da eine persönliche Ablehnung gar nicht wirklich frei gewählt werden kann? Wenn etwa der Schüler in seinem Umfeld ausschließlich demokratische Entscheidungsverfahren erlebt, ist er dann überhaupt in der Lage, sich „frei“ gegen eine demokratische Gesinnung zu entscheiden? Genau darin besteht aber der Charakter von Erziehung. Sie ist durch eine legitime Einflussnahme auf den menschlichen Willen gekennzeichnet, weil sie unterhalb der Zwangsschwelle stattfindet. Denn es herrscht kein intentionaler Zwang, sondern nur ein reales Umfeld, dessen Existenz prägend wirkt.165 Dies beruht auf der Vernetzung von Emotionalität und Rationalität.166 Werthaltungen bilden sich nämlich in vielfältigen Prozessen der Reflexion nur dann, wenn sie sich im real erfahrbaren Verhalten widerspiegeln und nicht bloß theoretisch vermittelt werden.167 Die Identifikation findet durch das erlebte Umfeld und als Folge der ein164
Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 281. Vgl. zur Schulkultur eines erlebten demokratischen Umfelds Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (17). Hingewiesen sei an dieser Stelle noch einmal auf das Prinzip einer „positiven oder übergreifenden Neutralität“, das Pluralität zulässt, aber jede Form der Indoktrination vermeidet, vgl. näher zu diesem schmalen Grat Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Krautscheidt/ Marré (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 11, S. 92 (109 ff.). 166 Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (18 f.). 167 Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (17 f.). 165
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flussnehmenden Wertvermittlung dann aber tatsächlich statt. Durch solche Maßnahmen wird gerade kein Zwang ausgeübt. Zwang liegt erst dort vor, wo gegen den psychisch-realen und aktualisierten Willen einer Person etwas abverlangt wird. Hier wird dieser Wille jedoch grade erst „geformt“ und entsprechend positiv beeinflusst. Das Bekenntnis zu Werten, die nicht wirklich internalisiert wurden, ist eine weitaus größere Einflussnahme, da sich dieses auf solche Werte bezieht, die nicht psychisch-real empfunden werden. So wird mitunter ein „allgemeiner Zwang, sich mit den Werten identifizieren zu müssen“ 168 in Anlehnung an Carl Schmitts „Tyrannei der Werte“ 169 als problematisch empfunden, da besorgt wird, dass Werte infolge ihres unbedingten Verwirklichungsanspruchs stets ein indoktrinatives Moment haben. Bei der Werterziehung wird hingegen darauf hingewirkt, dass die vermittelten Werte auch wirklich psychisch-real empfunden werden und damit kein konfligierender (innerer) Zwang durch die Diskrepanz von Bekenntnis und tatsächlicher Identifikation entsteht. Es wird überzeugt, ohne zu zwingen, und konfrontiert, ohne zu indoktrinieren. c) Der Beutelsbacher Konsens Insoweit hat der „Beutelsbacher Konsens“ aus dem Jahre 1976 mit dem Indoktrinationsverbot und dem Kontroversitätsgebot zwei konkrete Leitlinien herausgearbeitet, wie die Grenzen politischer Bildung in einem freiheitlichen Staat praktisch ausgestaltet werden können.170 Nach dem Indoktrinationsverbot (auch Überwältigungsverbot genannt) dürfen Schüler nicht an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ durch Überrumpelung im Sinne einer bestimmten Meinung gehindert werden.171 Dieses Verbot hat einen direkten Bezug zum Persönlichkeitsrecht und damit zur Menschenwürde.172 Das Kontroversitätsgebot ergänzt diese Anforderung um die Verpflichtung des Staates – konkret also der Lehrer –, sämtliche in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers diskutierten Aspekte auch im Unterricht als kontrovers darzustellen. Andernfalls sei auch hier die Grenze zur Indoktrination überschritten.173
168 Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 100. 169 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 35 ff. 170 Vgl. bilanzierend zum Beutelsbacher Konsens Siegfried Frech/Dagmar Richter (Hrsg.), Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen. 171 Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Schiele/Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, S. 173 (179), woher auch das wörtliche Zitat stammt. 172 Stefan Huster, die ethische Neutralität des Staates, S. 281. 173 Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Schiele/Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, S. 173 (179).
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
Im Wege eines Umkehrschlusses könnte man daraus ableiten, dass die nicht kontroversen Aspekte demnach auch als nicht kontrovers eingebracht werden müssen. Zu solchen nicht kontroversen Aspekten könnte dann eben auch die Freiheitlichkeit gehören, die den autonomen Wertbildungsprozess erst ermöglichen soll. Die Grundwerte von Demokratie und Freiheitlichkeit werden nämlich nicht grundlegend gesellschaftlich oder politisch infrage gestellt, sondern bei jeder Wertdebatte als unverrückbar vorausgesetzt. In der Schule muss eine entsprechende Hinterfragung der Demokratie selbst demnach nicht stattfinden, insbesondere wird dies auch nicht durch das Kontroversitätsgebot intendiert, ist doch gerade dessen Anliegen, Respekt und Toleranz gegenüber anderen Meinungen zu schaffen und damit die Erziehung zu demokratischem Denken schlechthin zu bewirken. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Freiheitlichkeit generell aus dem Indoktrinationsverbot herausgenommen ist. Auch an einem freiheitsfeindlichen Werturteil kann der Schüler demnach nicht durch indoktrinative Erziehungsmethoden gehindert werden. Vielmehr kann er durch ein selbstständig gewonnenes Werturteil zur Ablehnung von Demokratie und Freiheit gelangen, auch wenn er erst durch ihre Vorzüge zu diesem Ergebnis hat kommen können. Lediglich am Kontroversitätsgebot muss der Staat die Freiheitlichkeit nicht teilhaben lassen, da sie zum Minimalkonsens der Gesellschaft gehört. Zwar kann auch über diesen kontrovers gestritten werden, allerdings herrscht über diesen gerade keine allgemeine Kontroverse, die auch im Unterricht abgebildet werden müsste, um keine Indoktrination zu betreiben. Der Umstand, dass auch der Minimalkonsens der Freiheitlichkeit Gegenstand einer Kontroverse sein kann, ist noch kein hinreichendes Argument dafür, auch diesen generell als kontrovers darstellen zu müssen. Denn kontrovers kann nahezu alles sein. Selbst Tatsachen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse müssten sonst als kontrovers behandelt werden, bleiben doch auch diese – sei es methodisch oder gar epistemologisch – selten lange Zeit gänzlich unbestritten. Der Zweck des Gebots liefe so aber ins Leere. Insbesondere die staatliche Pflicht zur Wertvermittlung und zur Verteidigung der freiheitlichen Ordnung verlangen vom Staat einen vollen Einsatz für den Minimalbestand an Werten, der die existentielle Grundlage der Gesellschaft darstellt. Es steht dem Staat selbst gar nicht zu, diese basalen Werte überhaupt infrage zu stellen. Daher kann der Minimalkonsens der Freiheitlichkeit selbst als hinreichend „unkontrovers“ aufgefasst werden, um ihn im Unterricht auch nicht als kontrovers behandeln zu müssen. d) Erziehung zur Wertordnung als konfrontativer Akt der Außenwelt Erziehung durch den Staat soll daher keine Vorgaben für die persönliche Lebensführung machen, sondern dazu befähigen, diese zu ermöglichen. Daher darf
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der Staat für die Wertordnung eben auch nachdrücklich werben.174 Die freiheitliche Wertordnung ist daher zentraler Erziehungsinhalt175, mit dem konfrontiert wird, ohne Identifikation erzwingen zu können. Denn die Wertordnung der Freiheit dient nicht nur dem vermeintlichen Wohl des Erziehungsadressaten, sondern garantiert das friedliche Zusammenleben aller Menschen einer politischen Gemeinschaft. Der Verfassungsschutz durch Werterziehung besteht also darin, zu solchem Verhalten zu „erziehen“, welches dem Minimalkonsens der Freiheitlichkeit dient. Demnach könnte auch ein Treuebekenntnis – wie es im Einbürgerungsrecht abverlangt wird – als reine Erziehungsmaßnahme interpretiert werden, die allein den Zweck hat, die Verinnerlichung der Wertordnung zu fördern. In diesem Sinne wäre ein rein formal verstandenes Treuebekenntnis im Rahmen einer feierlichen Zeremonie ein symbolischer Akt, der lediglich den Anspruch des Staates betont, mit eben diesen Werten auch konfrontieren zu dürfen. Der Staat ist dann im Gegenzug aber daran gehindert, weiter nachzuhaken, falls der Bürger sich durch dieses affirmative Bekenntnis nicht dazu bewegen lässt, die Werte auch tatsächlich zu teilen. Da das Recht nur äußere Handlungen, nicht aber Gedanken lenken kann, dient diese Art der Handlungslenkung dem Ziel, zu bekräftigen, dass das gezeigte Verhalten und die ihm zugrunde liegenden Gedanken vom Staat für „richtig“ oder „gut“ gehalten werden. Eine solche Interpretation erinnert an die Aufgabe des Schülers, mehrere Seiten seines Schulheftes wiederholt mit ein und demselben Satz zu beschreiben („Ich darf nicht bei meinem Mitschüler abschreiben“ o. ä.), in der Hoffnung, dass er seinen Inhalt und die damit verbundene Handlungsaufforderung verinnerlichen möge. Solche Affirmationen bleiben aber – wie die Erziehungstätigkeit ganz allgemein – letztlich Akte der Außenwelt. e) Grenzen der Moralerziehung Das Postulat einer Tyrannei, in der die Stärkeren das Recht haben, sich auf Kosten der Schwächeren ihre eigenen Freiheiten herauszunehmen, ist dem freiheitlichen Verfassungsstaat fremd. Es gilt vielmehr die gleiche Freiheit aller. Diese muss dann aber auch tatsächlich verwirklicht werden, was nur durch das äußere Funktionieren des freiheitlichen Verfassungsstaates gelingen kann.176 174 Josef Isensee, Ethische Grundwerte im freiheitlichen Staat, in: Paus (Hrsg.), Werte – Rechte – Normen, S. 131 (162). 175 Vgl. ausführlich zu Erziehungszielen im pluralistischen Staat Michael Bothe, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 54, S. 7 (29 ff.); zu den Maßstäben des Grundgesetzes Armin Dittmann, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 54, S. 47 (55 ff.). 176 Vgl. schon Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, S. 145 [„Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, son-
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
Sonstige Zuständigkeiten für Tugend und Moral, die über die Erhaltung dieser realen Funktionsfähigkeit hinausgehen, sind dem Staat hingegen entzogen.177 Insoweit müssen mit Kant die Sphären von Recht und Moral unterschieden und schließlich auch strikt voneinander getrennt werden.178 Daraus folgt, dass den Staat die Moral im Grunde nichts anzugehen hat.179 Dies muss zumindest für die so genannte Tugendmoral gelten, also jenen Teil der Moral, der über die Pflichtenmoral hinausgeht.180 Zur Pflichtenmoral zählen solche Gebote, „die universell zustimmungsfähig sind, weil sie in jedermanns vernünftigem Eigeninteresse liegen“.181 Soweit darunter also gewissermaßen ein moralisches Verhaltensminimum verstanden wird, das jedem Menschen zugemutet werden muss182, ist diese Pflichtenmoral bezogen auf den Verfassungsstaat weitgehend deckungsgleich mit dem oben dargelegten Minimalkonsens. Wenn den Staat die Moral aber über den Minimalkonsens hinaus nichts angeht, darf er folgerichtig zu dieser auch nicht erziehen. Je mehr es demnach um Tugendmoral geht, desto weniger ist es legitim, auf die innere Einstellung der Bürger einzuwirken.183 Der Staat muss sich auf eine „bloße äußere, rahmenhafte Ordnung [beschränken], die das Innerste des Menschen, seine Einstellungen und Gesinnungen, nicht mehr erfasst und darauf eben nicht mehr zugreifen darf“.184 Das Recht zur konfrontativen Erziehung mit dem Ziel der Verinnerlichung der freiheitlichen Wertordnung muss sich auf eine Minimalmoral185 beschränken, die nicht beliebig weit aufgebläht werden darf. Denn die Einordnung als Tugendmoral ist eine autoritative Festlegung, der schon eine Wertentscheidung zu Grunde liegt. Hier besteht die Gefahr, dass der Staat umfassender Einfluss auf die Moral dern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, [. . .] nicht Abbruch tut.“]. 177 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 31; vgl. zur Tugendlehre schon Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Vorrede, S. 503 ff. 178 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung, S. 318, 323 ff., 336 ff. 179 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 519 [„Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen, sondern für die Maximen der Handlungen“]; S. 538 [„Einteilung der Pflichten der äußeren und inneren Freiheit [. . .], von denen die letztern allein ethisch sind“]. 180 Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S. 217 ff. [„there are acts of high and noble virtue which we commonly regard as going beyond the strict duty of the agent“ (S. 219)]. 181 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 37; umfassend dazu auch Norbert Hoerster, Ethik und Interesse, S. 162 ff. 182 Peter Koller, Theorie des Rechts. Eine Einführung, S. 264. 183 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 40. 184 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 32 mit Verweis auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, S. 24 f. 185 Vgl. Hasso Hofmann, Recht, Politik und Religion, JZ 2003, 377 (379).
III. Die Verantwortung des Bürgers für die Freiheit
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nimmt als zugegeben. Es ist nämlich alles nur eine Frage davon, wie man einen Wert argumentativ am geschicktesten zu einem Teil der unbedingten Pflichtenmoral erhebt. Diesen schmalen Grat zu bewältigen, gehört zur schwierigsten Herausforderung des freiheitlichen Erziehungsstaates.
III. Die Verantwortung des Bürgers für die Freiheit 1. Das Böckenförde-Diktum Verfassungsfeindlichkeit wird also am besten dadurch bekämpft, dass man sie gar nicht erst aufkommen lässt. Denn der freiheitliche Staat ist selbst im Kampf gegen seine aktiven Feinde an bestimmte limitierende Prinzipien gebunden. Die Sicherung der Existenzbedingungen des freiheitlichen Verfassungsstaates sollte also schon in den Schulen und nicht erst in den Gefängnissen erfolgen. Die Begrenztheit seiner Verteidigungsfähigkeit kommt aber auch bei jener Staatstätigkeit zum Tragen, die allein auf die präventive Sicherung derjenigen Bedingungen abzielt, auf die der Staat existentiell angewiesen ist: die freiheitliche Gesinnung seiner Bürger, die ihm und seiner Wertordnung gegenüber treu sind. Das Böckenförde-Diktum ist also nicht etwa Gegenstand einer kritischen Analyse im Rahmen dieser Arbeit. Vielmehr ist seine Bestätigung in einer bestimmten Lesart186 das Ergebnis der bisherigen Überlegungen. Denn der verfassungsschützende Staat muss sich der Erkenntnis ergeben, dass er auf die Treue seiner Bürger angewiesen ist, aber nur begrenzt auf sie Einfluss nehmen kann und darf. Insoweit lebt „[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat [. . .] von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.187 Er existiert vielmehr nur dann, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“.188 Der Staat kann auf diese innere Substanz aber nicht zugreifen, zumindest nicht „mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots“ 189, sodass er sie eben nicht „garantieren [kann], ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben“.190 186 Man gewinnt bei der Analyse der Kritik am Böckenförde-Diktum den Eindruck, als werde weniger an der grundsätzlichen Zustimmungsfähigkeit seines Befundes gezweifelt. Vielmehr wird meist darüber gestritten, wie dieses denn überhaupt zu verstehen ist und was daraus eigentlich genau folgt. So gelangt man zu verschiedenen Lesarten des Diktums, welche sich wohl überwiegend in unterschiedlichen Fokussierungen der einzelnen Teilaussagen unterscheiden. Vgl. zur Aufdeckung verschiedener Missverständnisse in diesem Zusammenhang Martin Ingenfeld, Das Wagnis der Freiheit: Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie. 187 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60. 188 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60. 189 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60. 190 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60; vgl. auch Otto Depenheuer, Die Selbstbehauptung des Rechtsstaates, S. 38 [„Keine Ordnung kann sich selbst garantieren.“].
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
Der Fokus der hier in den Blick genommenen Lesart liegt dabei auf der fehlenden Garantie seiner Existenzbedingungen mangels Möglichkeit des Rechtszwangs. Keinesfalls kann das Diktum zur Folge haben, gänzliche Wertneutralität des Staates zu postulieren, sodass Wertfragen ganz generell in die Zuständigkeit der Bürger fallen. Die Wertordnung kann durch den Staat nur nicht autoritativ festgelegt oder verändert werden, sondern sie ist im Kern durch die Freiheitlichkeit gekennzeichnet, aus der der Staat selbst überhaupt erst hervorgegangen ist. Allerdings ist der Staat durch diesen begrenzten Einfluss auf seine Existenzbedingungen nicht etwa gänzlich wehrlos, sodass der Vorwurf einer „Ideologie der zur Wehrlosigkeit verdammten Demokratie“ 191 gegenüber Böckenförde unbegründet ist. Der Staat braucht nämlich nicht bei seiner Zerstörung tatenlos zuzuschauen, sondern kann sich gegen einzelne aktive Verfassungsfeinde mit den Mitteln des Rechtszwangs kraft seines Gewaltmonopols zur Wehr setzen. Der Staat darf und muss sogar alles ihm Zustehende (sic!) tun, um seinen Bestand zu sichern. Er kann eben nur nicht garantieren, dass er damit Erfolg haben wird.192 Vor allem darf der Staat auch gesellschaftliche Kräfte unterstützen, die die freiheitliche Wertordnung schützen wollen.193 Diesbezüglich wird Böckenförde bisweilen der Vorwurf gemacht, vor allem (die christliche) Religion gefördert sehen zu wollen, weil nur diese die moralische Homogenität begründen könne.194 Jedoch geht es ihm wohl eher um sämtliche gesellschaftliche Gruppierungen, welche in der Lage sind, durch ihr Selbstverständnis die moralische Substanz der Gesellschaft zu stützen.195 Der freiheitliche Staat kann auch die innere Haltung mit freiheitlichen Mitteln beeinflussen und damit die Bereitschaft zur demokratischen Teilhabe und zu einer Kultur der Freiheit fördern. Dabei kann er die Bürger allerdings nicht durch
191 Werner Becker, Das Verfassungsdilemma des Liberalismus. Zur Kritik des Böckenförde-Paradoxons der Demokratie, in: Kodalle (Hrsg.), Grundprobleme bürgerlicher Freiheit heute, S. 47 (52). 192 Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (219). 193 Martin Ingenfeld, Das Wagnis der Freiheit: Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie, S. 20. 194 Hartmut Kreß, Religion, Staat und Toleranz angesichts des heutigen Pluralismus. Kritische Anmerkungen zum Böckenförde-Diktum, Ethica 16, S. 291 (294) [„moderne[r] säkulare[r] Staat [. . .] nach wie vor von christlichen katholischen Voraussetzungen abhängig“]; von einer zumindest religionsfreundlichen Lesart geht wohl auch Ute Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: VVDStRL 68, S. 7 (8) aus, wenn sie das Diktum sogar als „exemplarisch für [das] positive Bild von Religion“ zitiert. 195 Gerhard Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, § 5 Rn. 71; Martin Ingenfeld, Das Wagnis der Freiheit: Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie, S. 18.
III. Die Verantwortung des Bürgers für die Freiheit
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Gewalt zur Partizipation oder Konformität zwingen.196 Eine verfassungsfeindliche Gesinnung kann durch ungehinderte Verbreitung zu verfassungsgefährdenden Handlungen führen. Die Bekämpfung von Verfassungsfeinden unter den Bedingungen der Freiheit kann aber erst bei den Handlungen, nicht schon bei der Gesinnung ansetzten, da die freiheitsbegrenzende Verteidigung des Verfassungsstaates erst bei seiner konkreten und nicht schon bei einer bloß abstrakten Gefährdung gerechtfertigt ist. Damit ist der freiheitliche Staat durch die nachfolgende Zusammenfassung von Gerhard Eiselt treffend charakterisiert: „Der freiheitlich verfaßte Staat lässt seinen Bürgern die Freiheit der Bildung einer staatsfeindlichen Überzeugung, die Freiheit der Äußerung einer staatsfeindlichen Meinung, die Freiheit des Werbens für eine staatsfeindliche Meinung und [. . .] die Freiheit zum friedlichen organisierten Zusammenschluß von Staatsfeinden. Umgekehrt: Totalitäre Systeme gehen davon aus, daß die Staatsfeinde tot oder im Konzentrationslager, im Straflager, im Gefängnis oder in der Irrenanstalt sind und nur noch eine verschwindende Minderheit gut getarnter Staatsfeinde frei herumläuft, die aber auch bald ,entlarvt‘ und ,unschädlich‘ gemacht werden soll. Die Staatsbürger ,bekennen sich gemeinsam‘ in Aufmärschen, Betriebsresolutionen usw. zum Staat und folgen aktiv dem prinzipiell unbegrenzten Einsatz aller Staatsbürger für dessen Ziele und Aufgaben. Demgegenüber wird der freiheitlich verfaßte Staat in seinem Verhältnis zum Staatsbürger auch dadurch charakterisiert, daß man in ihm als politisch uninteressiert abseits stehen darf, daß man ihn sogar ablehnen darf und dennoch frei von Furcht in ihm leben kann, sofern man nicht genau normierte Strafbestimmungen verletzt, die aber erst bei exakt bestimmten und zielgerichteten Handlungen mit Sanktionen drohen. Diesen Staat charakterisiert die freie Existenz von Verfassungsfeinden. Darum ist dieser Staat auch nur unter zwei Voraussetzungen lebensfähig: Die große Mehrheit der Staatsbürger muß den Staat bejahen und der öffentliche Dienst muß in seiner Gesamtheit staatsbejahend und staatstreu sein.“ 197 Die freiheitliche Wertbasis muss also aus dem Kreis der Bürger kommen, die den Staat tragen. Deswegen ist der Staat auch nicht gänzlich wertneutral, sondern lediglich ethisch – also auch religiös und weltanschaulich – zur Neutralität verpflichtet. Allerdings bleibt der Befund: „Was an Kräften, die eine freiheitliche Ordnung tragen – ethisch-sittliche Grundhaltungen, ethosgeprägte Lebensformen, kulturellen Traditionen [sic!] –, verkümmert oder wegbricht, vermag der freiheitliche Staat nicht aufs neue zu erschaffen.“ 198 Die Quelle jeder Wertbasis 196 Martin Ingenfeld, Das Wagnis der Freiheit: Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie, S. 20. 197 Gerhard Eiselt, Vermutung der Verfassungstreue des Staatsbürgers, DÖV 1979, 162 (163). 198 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Der freiheitliche säkularisierte Staat . . .“, in: Schmidt/Wedell (Hrsg.), „Um der Freiheit willen . . .!“. Kirche und Staat im 21. Jahrhundert. Festschrift für Burkhard Reichert, S. 19 (21).
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
eines Staates kann angesichts des vorstaatlichen Individualismus allein bei dem einzelnen Bürger liegen. Die Bürger allein sind also nach dem Scheitern des Staates das rettende Netz, wenn es darum geht, einen harten Aufprall auf dem Boden der „Unfreiheitlichkeit“ abzumildern. Sie müssen sich besinnen und für ihre eigene Freiheit und – wenn sie vernünftig sind – auch die Freiheit der anderen eintreten. Der Wille und die Initiative dazu müssen aber von ihnen selbst kommen. 2. Treue als Gewissensentscheidung Mit dem Bild vom auffangenden Netz wird auch die Verantwortung des Bürgers für seine eigene Freiheit beschrieben.199 Verantwortung kann als „GrundKategorie der Ethik“ 200 mit der Pflicht zur Rechenschaft für das eigene Handeln gegenüber einer bestimmten Instanz definiert werden. Sie umfasst das „Einstehenmüssen für ein normgemäßes Verhalten oder einen normkongruenten Zustand“.201 Hier geht es also um die Rechenschaft des Staatsbürgers für die Aufrechterhaltung des normkongruenten Zustands der freiheitlichen Wertordnung. Die dabei aufgeworfene Frage, inwieweit die freiheitliche Wertordnung eine solche Rechenschaft für ihre eigene Bestandserhaltung abverlangen kann, repetiert im Grunde den Untersuchungsgegenstand der Arbeit nur im neuen Gewand der Bürgerverantwortung. Im Kontext von Verantwortung ist stets „[j]emand [. . .] für etwas gegenüber einem Adressaten (oder vor jemandem) verantwortlich in Bezug auf ein normatives Kriterium im Rahmen eines bestimmten Handlungs- und Verantwortungsbereichs“.202 In Bezug auf die freiheitliche Wertordnung als normatives Kriterium und den Staat als Adressat für die Verantwortung der Staatsbürger im Verantwortungsbereich der Verfassungstreue wurde dahingehend festgestellt: Es gehört zum Inbegriff der freiheitlichen Wertordnung, dass sie die Bürger selbst in erster Linie mit Freiheiten ausstattet und gerade nicht für diese in Anspruch nimmt. Der freiheitliche Staat kann sich seiner Bürger auch nicht in totalitärer Manier zur eigenen Zielerreichung bedienen.203 Nur ein totalitärer Staat hat Mittel, um die positive Verfassungstreue der Bürger sicherzustellen, der freiheitliche Staat muss auf entsprechende Maßnahmen verzichten. Nach diesem Befund sind die Bürger für ihre Wertordnung dem Grunde nach erst einmal nicht verantwortlich. Allenfalls
199 Vgl. Walter Berka, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 48 (49), der von einer „Ausfallhaftung für den [. . .] an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angelangten Staat“ spricht. 200 Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 19. 201 Detlef Merten, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 7 (13). 202 Matthias Lutz-Bachmann, Grundkurs Philosophie, Band 7, Ethik, S. 173. 203 Vgl. Gerhard Eiselt, Vermutung der Verfassungstreue des Staatsbürgers, DÖV 1979, 162 (163).
III. Die Verantwortung des Bürgers für die Freiheit
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für das eigene Verhalten, das durch die Bekämpfung der freiheitlichen Ordnung die Grenze zur negativen Verfassungstreue überschreitet, kann der Bürger „verantwortlich“ gemacht werden. Dies ist aber keine originäre Verantwortung für die Wertordnung, da nicht generell über ihre Bestandserhaltung Rechenschaft abgelegt werden muss. Vielmehr handelt es sich nur um die Verantwortlichkeit für eigenes – in diesem Fall treuwidriges – Verhalten. Diese Verantwortlichkeit ist aber nur das Korrelat der Freiheit anderer sowie des staatlichen Freiheitssicherungsauftrags.204 Diese beschränkte Verantwortung des Bürgers gilt allerdings nur dann, wenn man die freiheitliche Wertordnung als normatives Kriterium in den Blick nimmt und damit den Staat als ihren Träger zur Instanz erklärt, der gegenüber der Bürger Rechenschaft abzulegen hat. Eine derartige Verantwortung ist der Wertordnung des freiheitlichen Staates in der Tat fremd. Jedoch gibt es noch ein anderes normatives Kriterium, anhand dessen sich Bürgerverantwortung begründen lässt, auch wenn es staatsphilosophisch schwer fassbar und staatsrechtlich nicht regulierbar ist. Das Kriterium, von dem hier die Rede ist, ist das persönliche Gewissen. Die Mitverantwortung des Bürgers für seinen Staat als frei zu wählende Gewissensentscheidung ist ihrerseits notwendiger Ausdruck seiner Subjekt-Rolle.205 Sie hat dabei die Aufgabe des Schutzes der Würde, denn sie ist letztlich dazu da, das Gefüge, in dem der „Mensch stets zugleich als Mensch für sich“ da ist, zu ermöglichen.206 Das bedeutet, dass zwar die freiheitliche Wertordnung als externes Wertsystem dem Bürger keine verbindliche Verantwortung für ihren eigenen Bestand zuschreibt. Im Gegenzug verbleibt aber als letzte Instanz individueller Verantwortung das persönliche Gewissen.207 Dieses kann transzendent oder immanent, religiös oder atheistisch gespeist sein, in letzter Konsequenz muss sich jeder nur seinem eigenen Gewissen gegenüber verantworten. Im Sinne der obigen Definition ist dann der Adressat der Verantwortung der Verantwortungsträger selbst, der in Gestalt seines Gewis204 Vgl. Detlef Merten, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 7 (19), der unter dem Gesichtspunkt der „Verantwortung als Freiheitskorrelat“ wohl auch angesichts der negativen Treue – insbesondere also der Duldung von Freiheitsbeschränkungen und der Missbrauchsschranke des Art. 18 GG – eine Komponente von Bürgerverantwortung ableitet. 205 Adolf Arndt, Der Rechtsstaat und sein polizeilicher Verfassungsschutz, NJW 1961, 897 (901). 206 Adolf Arndt, Der Rechtsstaat und sein polizeilicher Verfassungsschutz, NJW 1961, 897 (902); vgl. auch Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 82 [„Sie sind beide [Freiheit und Verantwortung] konstitutive Elemente des Person-Seins, sie sind notwendige, wenngleich nicht ausreichende Bedingungen menschlicher Würde“ – Hervorhebung im Original]. 207 Vgl. zu „ethischen Grundpflichten“ Josef Isensee, Die verdrängten Grundpflichten des Bürgers – ein grundgesetzliches Interpretationsvakuum, DÖV 1982, 609 (615 ff.), wonach diese „Pflichten“ in den „Bereich der Moralität, nicht der Legalität“ gehören (S. 615).
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D. Der freiheitliche Staat zwischen Neutralität und Verfassungsschutz
sens zugleich Urheber des normativen Kriteriums der Verantwortung ist.208 Dies ist auch die Konsequenz aus dem Böckenförde-Diktum, das sich auf den säkularen Staat bezieht, in dem Gott und eine ewige transzendente Wahrheit als letzte Instanz persönlicher Verantwortung nicht (hoheitlich) vorgegeben sind, sondern nur für den Einzelnen in Gestalt seines persönlichen Gewissens existieren kann. Als letztes Netz der Freiheit bleibt demnach dem Staat die Hoffnung, dass das persönliche Gewissen die Bürger zu einem Einsatz für die Freiheit bewegt, wenn es „hart auf hart kommt“. Es bedarf also des Vertrauens in das Verantwortungsgefühl der Bürger eines freiheitlichen Verfassungsstaates. Eine externe – moralische oder gar rechtliche – Pflicht für die Freiheit kann es aber nicht geben, da Freiheit ihrer Natur nach niemanden auf sich selbst verpflichtet. Mit diesem Befund wird die bekannte Aussage, dass aus Freiheit auch Verantwortung folgt,209 jedoch nicht etwa hinfällig. Die Korrelation wird lediglich einem anderen normativen Kriterium zugeordnet. Die aus persönlichen Wert- und Gewissensentscheidungen der Gesamtheit der Staatsbürger hervorgehende ethische Kultur hält also den freiheitlichen Staat am Leben. Daraus erwächst für den Einzelnen die persönliche Verantwortung für den Bestand dieser ethischen Kultur, wenn er die Freiheit – institutionell abgesichert – weiterhin selbst genießen möchte. Diese „[e]thische Selbstdisziplinierung“ 210 ist zwar existentielle Lebensbedingung des Staates, aber als Kategorie des persönlichen Gewissens hoheitlicher Einflussnahme entzogen. Die Herausbildung und Förderung innerer Überzeugungen zur Erhaltung der Freiheit ist damit im Wesentlichen ein freiwilliger Beitrag der Bürger.211 Insoweit besteht eine „Abhängigkeit der freiheitlichen Institutionen von der ethischen Kultur“ 212, womit eine „wesenhafte Labilität des Systems“ 213 entsteht. Hier scheint wieder das Wagnis durch, von dem Böckenförde sprach. Diese Erkenntnisse machen die Herausarbeitung „guter Gründe“ für Verfassungstreue unabhängig von rechtsförmigem Zwang notwendig. Diese darf der Staat im Kontext seiner Wertvermittlung an den Bürger herantragen, um ihn von 208 In dieser Lesart kann auch die Formel von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ in der Präambel des Grundgesetzes verstanden werden. 209 Vgl. näher zum Verhältnis von Freiheit und Verantwortung etwa Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 82 ff. 210 Josef Isensee, Ethische Grundwerte im freiheitlichen Staat, in: Paus (Hrsg.), Werte – Rechte – Normen, S. 131 (159). 211 Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 101, der diese „Pflege der kulturellen Identität“ als eine „selbstverantwortliche [. . .] Entscheidung der Staatsbürger“ bezeichnet. 212 Josef Isensee, Ethische Grundwerte im freiheitlichen Staat, in: Paus (Hrsg.), Werte – Rechte – Normen, S. 131 (169). 213 Josef Isensee, Ethische Grundwerte im freiheitlichen Staat, in: Paus (Hrsg.), Werte – Rechte – Normen, S. 131 (169).
III. Die Verantwortung des Bürgers für die Freiheit
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der persönlichen Verantwortungsübernahme zu überzeugen. Die damit verbundene Erwartung kann der Bürger zwar in der Sache enttäuschen. Er kann sich aber nicht der Konfrontation mit diesen Erwartungen und der verantwortungsbegründenden Argumentation entziehen. Insoweit ist es zentrales Ziel politischer Bildung, die individuelle Verantwortung zu betonen, indem die Demokratie als Ordnung nahegelegt wird, die auf Partizipation angelegt ist. Dabei kann der Staat das Bewusstsein der Bürger dafür schärfen, dass die „Freiheit kein Geschenk, sondern eine große Aufgabe darstellt und ohne die Kategorie Verantwortung nicht vorstellbar ist“.214 Die Darlegung von Argumenten ist in den Grenzen der Neutralitätspflicht und des Indoktrinationsverbots das einzige Mittel des Staates zur Förderung der Bürgerverantwortung. Ein zentrales Argument ist etwa auch der Hinweis, dass der Bürger als selbstbestimmtes Wesen mit seinen Freiheitsrechten nicht nur ein Individual-, sondern eben auch ein Sozialwesen ist.215 Es ist daher durchaus überzeugend, zu fordern, dass zum Menschen als „Wesen der Freiheit [gehört], dass er sich auch für sein politisches Handeln in Gemeinschaft mit anderen nicht von seiner individuellen Verantwortung suspendier[en] [kann]“.216 Daher gehört es zur verantwortungsvollen Ausfüllung des Bürgerstatus’, „jene Spannung zu erkennen und auszuhalten, die zwischen individuellen und gesellschaftlichen Zwecken besteht“.217 All diese Argumente können aber nicht mehr sein als verschiedene Topoi, die in die persönliche Gewissensentscheidung einfließen, ohne dass sie verbindliche Vorgaben enthalten könnten. Es besteht allerdings die begründete Hoffnung, dass daraus die überwiegende Bereitschaft hervorgeht „im Rahmen der verfassungsrechtlichen Wirkungsmöglichkeiten an der politischen Selbstbestimmung der staatlichen Gemeinschaft mitzuwirken“.218 Insoweit liegt in dieser aufklärenden und freiheitsintendierten Einflussnahme durch den Staat der eigentliche Kompromiss zwischen Verantwortung und Freiheit. Die Verantwortung besteht eben nur als Kriterium des persönlichen Gewissens, welches – mit moralischen Argumenten konfrontiert – die Chance hat, die Verantwortung zu aktualisieren und schließlich auch in Wort und Tat zu übernehmen.
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Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (16). Vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer, Schwierigkeiten heute mit der Rede vom Menschenbild, in: APuZ 34–36, S. 3 (6). 216 Ursula Nothelle-Wildfeuer, Schwierigkeiten heute mit der Rede vom Menschenbild, in: APuZ 34–36, S. 3 (6). 217 Walter Berka, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 48 (66). 218 Walter Berka, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 55, S. 48 (66). 215
E. Verfassungstreue im Grundgesetz Einen Verfassungsrechtssatz, der die staatsbürgerliche Verfassungstreue betrifft oder gar ausführlich regelt, sucht man im Grundgesetz vergeblich. Gerade für die Verfassung als Gegenstand rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses ist die Ermittlung übergeordneter Prinzipien oder Rechtsinstitute, mit deren Hilfe konkrete verfassungsrechtliche Fragen gelöst werden sollen, keine Seltenheit. Die Lösung konkreter Fragestellungen mit Hilfe bestimmter – womöglich noch expliziter – Rechtssätze dürfte im Verfassungsrecht sogar eher die Ausnahme sein. Die Verfassung ist die „Rahmenordnung für die verfasste Gemeinschaft“ 1 und damit auch die „rechtliche Grundordnung eines Staates“ 2, innerhalb derer sich ihre programmatische und integrative Funktion entfaltet.3 Sie erfordert Offenheit für den politisch-gesellschaftlichen Wandel im Sinne einer „living constitution“.4 Die insoweit maßgeblichen Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft, die einer Verfassung zu entnehmen sind, sind aber stets auch im Zusammenspiel aus Normtext und ideengeschichtlicher Kontextualisierung zu ermitteln. Welches Maß an Verfassungstreue dem Staatsbürger in diesen Vorstellungen abverlangt werden soll und wie sich die Antwort auf diese Frage dogmatisch innerhalb des Verfassungsrechts einordnen lässt, ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels.
I. Verfassungstreue und Demokratie Eingangs soll das Demokratieprinzip als zentrale Legitimationsbasis des freiheitlichen Staates5 in den Fokus der Betrachtung rücken. Nach diesem in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG kodifizierten fundamentalen Strukturprinzip staatlicher Ordnung muss „alle Staatsgewalt [. . .] vom Volke“ ausgehen. Die damit verbundene „Selbstregierung des Volkes“ 6 ist der Ausgangspunkt des Verständnisses dieses 1 Matthias Herdegen, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873 (873). 2 Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 9 [„normative rechtliche Grundordnung des Staates“]. 3 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbstständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401 (402); grundlegend zur integrativen Funktion der Verfassung Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 136 ff. 4 William H. Rehnquist, The Notion of a Living Constitution, Texas Law Review 54, S. 693 (693). 5 Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, Der Staat 20, S. 161 (162). 6 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 5 Rn. 131.
I. Verfassungstreue und Demokratie
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Prinzips. Die ideengeschichtliche Einbettung des Demokratieprinzips hat sicherlich nachhaltigen Einfluss auf sein heutiges Verständnis.7 Nähere Ausführungen zu seiner generellen Deutung füllen bereits zahlreiche Monographien mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Für die hiesige verfassungsrechtliche Betrachtung genügt das Verständnis der Demokratie als zentrales Legitimationsprinzip staatlicher Herrschaft, das durch einen Prozess der Volkswillensbildung8 gekennzeichnet ist. In diesem Kontext spielen der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes sowie die Anforderungen an die Zugehörigkeit zu diesem als Träger der Souveränität eine zentrale Rolle. Insbesondere ist mit dieser Zugehörigkeit die Inhaberschaft demokratischer Teilhaberechte verbunden, die durch die Staatsangehörigkeit vermittelt wird. Daher stellt sich zunächst die Frage nach den Vorgaben des Demokratieprinzips für den Erwerb und die Inhaberschaft der deutschen Staatsangehörigkeit. Zu untersuchen ist, ob aus dem Demokratieprinzip konkrete Anforderungen an die demokratische Gesinnung der Staatsangehörigen unmittelbar folgen. Im Anschluss wird die für das Grundgesetz typische „Wehrhaftigkeit“ der Demokratie als Mittel des Staats- und Verfassungsschutzes in den Blick genommen. In diesem Zusammenhang steht dann die Selbstbehauptung dieses zentralen Legitimationsprinzips gegenüber Angreifern auf seine Basis im Mittelpunkt, die eben auch aus dem Kreis der Legitimationsträger selbst – nämlich dem Staatsvolk – kommen können. 1. Demokratie als Maßgabe für die Staatsbürger a) Recht des Volkes zur Entscheidung über die Aufnahme von Mitgliedern in den Staatsverband Träger von Herrschaft in einem demokratischen Staat muss stets das Volk sein. Dass dies ipso facto vor allem im System der repräsentativen Demokratie eine Fiktion ist, ändert nichts am normativen Anspruch dieses Legitimationsprinzips. Dadurch fällt dem Parlament als unmittelbar vom Volk gewähltem Staatsorgan vorrangig die Kompetenz zu, über wesentliche Angelegenheiten im Staat zu entscheiden. Insoweit müssen die Entscheidungen durch „effektive demokratische Legitimation“ 9 auf das Volk zurückführbar sein.10 Da die Mitglieder des Parla7 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 5 Rn. 127. 8 Walter Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 158. 9 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 24 Rn. 11. 10 Vgl. schon BVerfGE 47, 253 (275), wo von einer „ununterbrochene[n] Legitimationskette“ die Rede war. So auch noch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 1995, § 22 Rn. 11).
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E. Verfassungstreue im Grundgesetz
ments durch den Wahlakt unmittelbar personell legitimiert sind, können die von diesen getroffenen Entscheidungen als „vom Volk ausgehend“ angesehen werden. So ist es auch erklärbar, warum es ein zentrales verfassungsrechtliches Gebot der repräsentativen Demokratie ist, dass alle wesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden müssen (Wesentlichkeitstheorie).11 Insbesondere verfügt der Gesetzgeber über einen erheblichen Entscheidungsspielraum, der es sogar dem Verfassungsgericht verbietet, dessen Sacheinschätzungen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit, zu dem eben auch deren sachliche Eignung für ein bestimmtes Ziel gehört, über Gebühr zu kontrollieren.12 Einen solchen Spielraum gibt es auch und vor allem im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit ist eine Entscheidung des Staates selbst13 und fällt – als für die Demokratie wesentliche Entscheidung – in die originäre Zuständigkeit des durch das Parlament „handelnden“ Volkes. Das mit der Demokratie einhergehende Prinzip der Volkssouveränität gewährt dem – aktuell bestehenden – Volk das Recht, selbst über die Aufnahme neuer Mitglieder in den Staatsverband zu entscheiden und die Bedingungen dafür festzulegen. Schließlich ist mit der Staatsangehörigkeit vor allem das Wahlrecht verbunden. Deren Inhaber haben also weitreichenden Einfluss auf die „Geschicke des Staates“. Daher kann man dem aktuellen Volk ein erhebliches Interesse daran zusprechen, das Wahlrecht nur solchen Personen zu verleihen, die den Staat und seine demokratische Verfassungsordnung auch mittragen. Da nämlich der freiheitliche Staat auf die Herstellung von Homogenität innerhalb des Volkes durch totalitäre Zwangsmittel verzichtet, ist die grundsätzlich „offene [. . .] Demokratie“ 14 zur Sicherung des inneren Friedens geradezu auf eine „Ergebnissteuerung“ 15 im Hinblick auf die Zusammensetzung des Volkes als Quelle staatlicher Entscheidungen angewiesen.16 11
Statt vieler etwa BVerfGE 121, 135 (144). Vgl. zum Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundestag Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, S. 161 (203 ff.), der das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Einfallstor für die gerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Sachangemessenheit behandelt. 13 Rolf Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 16 Rn. 50 [„Angelegenheit staatlicher Souveränität“]; Markus Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, § 50 Rn. 64; Andreas von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 83; vgl. BVerfGE 1, 322 (328 f.); 37, 217 (218). 14 Roman Herzog/Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 20 GG Rn. 41 f. [Stand Oktober 2010 (60. Ergänzungslieferung)]. 15 Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 173. 16 So der berechtigte Hinweis von Karsten Mertens, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 173, der daraus die Notwendigkeit eines Grundkonsenses innerhalb eines Volkes ableitet. 12
I. Verfassungstreue und Demokratie
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Die souveräne Festlegung von Kriterien betrifft allerdings nur die Aufnahme in den Staatsverband. Diese sind nicht gleichzusetzen mit den Anforderungen, die nach der Einbürgerung ganz generell an den Staatsbürger zu stellen sind. Es ist also ausdrücklich zwischen dem Status vor der Einbürgerung und dem Status nach der Einbürgerung zu unterscheiden. Denn mit der wirksamen Aufnahme erwirbt der ehemalige Ausländer den vollen staatsbürgerlichen Status. Ab diesem Zeitpunkt können die Anforderungen an ihn nur diejenigen sein, die in den Grenzen der Verfassung an alle Staatsbürger gleichermaßen gestellt werden. Insoweit ist das Volk kraft seiner Souveränität allenfalls an der Schwelle zum Übergang in den Staatsbürgerstatus dazu berechtigt, besondere „Treueanforderungen“ zur Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Staatsverband zu machen. Nach der Überschreitung dieser Schwelle durch die Erfüllung der Kriterien kann an diesen Anforderungen nicht dauerhaft festgehalten werden, da sonst eine Staatsangehörigkeit zweiter Klasse entstehen würde.17 Aufnahmekriterien sind daher nicht mit den allgemeinen Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue gleichzusetzen. Das Interesse des aktuellen Volkes an der Festlegung von Aufnahmekriterien zwecks Erhaltung der eigenen – vor allem demokratischen – Identität steht in einem Spannungsverhältnis zum Legitimationsbedürfnis staatlicher Herrschaft gegenüber dem Großteil der dauerhaft Gewaltunterworfenen, welches ebenfalls Ausfluss des Demokratieprinzips sowie der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG ist.18 Die mit der Menschenwürde verbundene Autonomie kommt nur dann zur vollen Entfaltung, wenn kein dauerhafter Ausschluss von der Teilhabe an der kollektiven Selbstbestimmung erfolgt, da sonst das Individuum der ewigen Fremdbestimmung unterworfen bleibt. Aus diesem Gedanken wird daher zu Recht abgeleitet, dass es grundsätzlich einer Identität von Herrschenden und Beherrschten bedarf.19 Zumindest muss aber derjenige, der „Beherrschter ist, ohne Herrscher zu sein, [. . .] eine realistische Chance erhalten, an der Herrschaft teilzuhaben“.20 Diese Vorgabe muss Einfluss auf die Kriterien für die Verleihung der Staatsangehörigkeit haben. 17 Vgl. Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungsund Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (27). 18 Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 85 [„Damit staatliche Gewalt legitimiert ist, muß sie die Menschenwürde achten und schützen und die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zur Grundlage allen staatlichen Handelns machen“]. 19 BVerfGE 83, 37 (52) [„Kongruenz zwischen Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten Herrschaft Unterworfenen herzustellen“]; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 5 Rn. 131. 20 Falk Lämmermann, „Einbürgerungspolitik“ – Spielräume auf Landesebene, ZAR 2013, 52 (53); vgl. auch Stephan Hobe, Das Staatsvolk nach dem Grundgesetz, JZ 1994, 191 (194); Stefan Oster, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluß von der Wahlbe-
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E. Verfassungstreue im Grundgesetz
So darf etwa die Einbürgerung weder rechtlich noch faktisch gänzlich abgeschafft werden, da sonst Ausländern mit langjährigem Aufenthalt im Inland jegliche Möglichkeit der Mitgliedschaft im Staatsvolk auf Dauer verwehrt bliebe.21 In diesem Fall würden die kraft der Territorialhoheit Beherrschten keinerlei Möglichkeiten haben, je zu Herrschenden zu werden, was mit Legitimationsproblemen für die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber diesen Ausländern verbunden sein dürfte.22 Dies wirkt sich auch schon auf das – in seinem Anwendungsbereich zeitlich vorgelagerte – Aufenthaltsrecht aus, da schon durch die Gewährung oder Aufrechterhaltung von Aufenthalt antizipiert die Möglichkeit geschaffen wird, dass eingewanderte Ausländer irgendwann Staatsbürger werden. Dies bedeutet nicht, dass ein Anspruch auf Einbürgerung allein infolge eines langjährigen Aufenthalts entsteht. Das Ausweisungsrisiko bleibt vielmehr bis zur Wirksamkeit der Einbürgerung bestehen, auch wenn sich der Aufenthaltsstatus noch so sehr verfestigt haben mag.23 Allerdings erhöht sich angesichts des dargelegten Legitimationserfordernisses der Rechtfertigungsdruck auf den Gesetzgeber mit jeder weiteren Verfestigung des Aufenthaltsstatus. Daraus ist eine prozedurale Besserstellung von Ausländern in Abhängigkeit vom Aufenthaltsstatus abzuleiten. Diese drückt sich schließlich in einer Verfestigung des Grundrechtsstatus von Ausländern mit fortschreitender Aufenthaltsdauer aus.24 Da der Schutzbereich der einzelnen Grundrechte – sofern sie überhaupt für Ausländer gelten – nicht nach der Aufenthaltsdauer unterscheidet, ist eine solche prozedurale Privilegierung im Rahmen der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen zu berücksichtigen. Hier spielt es insbesondere bei aufenthaltsbeendenden – aber auch bei anderen ausländerrechtlichen – Maßnahmen eine gewichtige Rolle, inwieweit der Ausländer sich schon durch langjährigen Aufenthalt an die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung gewöhnt oder darüber hinausgehend in diese integriert hat. Denn davon dürfte die subjektive Interessenlage des Ausländers erheblich abhänrechtigung: Welche Vorgaben enthält das Grundgesetz, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, S. 30 (50 ff.). 21 Vgl. Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, S. 25 [„Eine demokratische Ordnung, die sich mit Fremden auf Dauer einrichtet [. . .], ohne sie an politischen Entscheidungen zu beteiligen, hört allmählich damit auf, dem eigenen demokratischen Anspruch zu genügen.“]. 22 Vgl. ausführlich zu diesem Legitimationsproblem bei fehlender Kongruenz zwischen territorialer und personaler Ausübung von Hoheitsgewalt mit Herleitung aus der Menschenwürdegarantie Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 51 ff. 23 Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 49 (72) spricht von einer „Entscheidungsfreiheit des Staates, die Aufenthaltserlaubnis zeitlich zu begrenzen oder aufzukündigen“. Diese wird dem Staat angesichts Art. 16 GG erst mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft genommen. 24 Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 81; Markus Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, § 50 Rn. 54.
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gen. Die Ablehnung einer Gebietszulassung selbst wird hingegen regelmäßig – von Fällen der Familienzusammenführung abgesehen – keinen Eingriff in die Grundrechte eines Ausländers darstellen.25 Daher kann sich der Staat vor dem Prozess der zunehmenden Schutzwürdigkeit der Interessen des Ausländers bereits bei der Zulassung zum Staatsgebiet vor dem Zuzug von Verfassungsfeinden umfassend schützen. Erst durch die Gebietszulassung und den zunehmenden Aufenthalt schafft er nämlich diejenige Nähebeziehung zu dem Ausländer, die schließlich sein Interesse an einer „Statusverfestigung“ begründet. Das Recht des bestehenden Volkes zur selbstbestimmten Entscheidung über die Kriterien zur Aufnahme in den Staatsverband auf der einen Seite und der Legitimationsanspruch der Ausländer mit dauerhaftem legalen Aufenthalt in der Bundesrepublik auf der anderen Seite können folgendermaßen in Ausgleich gebracht werden: Die Anforderungen an die Einbürgerung dürfen zwar grundsätzlich frei festgelegt werden, sollen aber kein so unerträgliches Maß annehmen, dass die Teilhabe an der Herrschaftsausübung, die de lege lata für einen Ausländer nur durch Einbürgerung erworben werden kann26, faktisch unmöglich oder unzumutbar wird. Die Kriterien müssen also in zumutbarer Weise erfüllbar sein. Bei der Bewertung dürften verfassungsrechtliche Wertentscheidungen eine Ausstrahlungswirkung haben. Neben den generellen Legitimationsanforderungen müssen auch die Individualinteressen des Einbürgerungsbewerbers in seiner Stellung als Grundrechtsträger berücksichtigt werden.27 Durch die Anforderungen darf etwa kein unverhältnismäßiger Zwang auf den Bewerber entstehen, der sich als ungerechtfertigte Beeinträchtigung seiner Grundrechte darstellt. Das folgt schon aus der Grundrechtsbindung des parlamentarischen Gesetzgebers (Art. 1 Abs. 3 GG). Diese gilt grundsätzlich auch für den Bereich gewährender Staatstätigkeit, auch wenn dort der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum größer ist.28 Die Hürde für eine Grundrechtsverletzung dürfte insgesamt hoch anzusetzen sein, da die Versagung des Staatsbürgerstatus keine Verkürzung des Bestands bestehender Rechte darstellt. Es macht einen Unterschied, ob Treue hoheitlich vorgeschrieben wird oder ob lediglich der Zugang zur Entscheidungsmacht – in diesem Fall durch Wahlen – solchen Personen vorbehalten bleibt, denen eine Treue 25 Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 69; vgl. auch Markus Heintzen, Ausländer als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, § 50 Rn. 34, 53. 26 Die Alternative des Ausländerwahlrechts – also die Herrschaftsbeteiligung ohne vorherigen Erwerb der Staatsangehörigkeit – ist nach der bundesverfassungsgerichtlichen Auslegung des Demokratieprinzips (BVerfGE 83, 37) nicht möglich; vgl. dazu ausführlich die Erörterung alternativer Auslegungen von Demokratie bei Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 140 ff. 27 BVerfGE 37, 217 (239) [„Grundentscheidungen der Verfassung, wie sie vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, beachten und ihrerseits zu deren Verwirklichung beitragen“]. 28 Wolfgang Rüfner, Grundrechtadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 197 Rn. 66.
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bescheinigt wird. Die Vorenthaltung des staatsbürgerlichen Status als solche stellt insbesondere deshalb keinen Grundrechtseingriff dar, weil darauf kein (verfassungsrechtlicher) Anspruch besteht.29 Es fehlt bereits an einer Anspruchsgrundlage. Aus Art. 2 Abs. 1 GG kann ein solcher Anspruch schon allein deshalb nicht hergeleitet werden, da sein Schutzgehalt staatliche Gewährung nicht erfasst.30 Einem solchen subjektiven Erwerbsrecht steht aber insbesondere auch die Personalhoheit des Staates entgegen.31 Vor allem ein Rechtsanspruch von Verfassung wegen würde das souveräne Recht des Volkes zur grundsätzlich freien Festlegung von Aufnahmekriterien konterkarieren. Allein die Aufstellung bestimmter Treueanforderungen dürfte die Schwelle der Unzumutbarkeit noch nicht überschreiten, sofern der Bezugspunkt der Treue und das geforderte Verhalten sich auf ein angemessenes und für den durchschnittlichen Bewerber erreichbares Maß beschränken.32 b) Mindestmaß an demokratischer Homogenität Aber welches Maß an Treue ist für den durchschnittlichen Bewerber in zumutbarer Weise erreichbar? Es wurde festgestellt, dass der Staat Treue von seinen Neumitgliedern in den besagten Grenzen fordern darf. Aus dem Demokratieprinzip könnten aber auch unmittelbare Anforderungen an die demokratische Grundhaltung der Staatsbürger folgen. Leitet man das Erfordernis einer demokratischen Gesinnung der Staatsbürger aus dem Demokratieprinzip ab, wäre der Gesetzgeber gehalten, diese Anforderungen schon durch die Aufnahmekriterien sicherzustellen. Die Zumutbarkeit derartiger verfassungsimmanenter Kriterien würde dann indiziert. Wenn Isensee das demokratische System „aus der selbstzweckhaften, ursprunghaften Souveränität des Volkes, das als Einheit vorausgesetzt wird“ 33, rechtfertigt, so stellt sich die Einheit des Souveräns als vordemokratische Bedingung des ganzen Systems dar. Worin diese Einheit schließlich bestehen mag, ist damit noch nicht gesagt. Eine notwendige Einheit der (demokratischen) Gesin29 Hans von Mangoldt, Die deutsche Staatsangehörigkeit als Voraussetzung und Gegenstand der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2000, § 119 Rn. 119. Ein solches Recht auf Einbürgerung fordert – wohl de lege ferenda – Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 87 mit dem beachtlichen Argument, dass nur durch Einbürgerung die Menschenrechtsverpflichtung zur Legitimation der Staatsgewalt erreicht werden kann. Denn nur die Staatsangehörigkeit vermittelt infolge von Art. 16 Abs. 2 GG auch eine Bleibegarantie und die damit verbundene Statussicherheit. 30 BVerwGE, DVBl. 1986, 110 (111). 31 Rolf Grawert, Deutsche und Ausländer: Das Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Asylrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 319 (338). 32 Nähere Ausführungen zum geltenden Staatsangehörigkeitsrecht unter G. III. 33 Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 49 (92).
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nung folgt daraus jedenfalls nicht. Bei der Bestimmung der Kriterien für diese Einheit rückt die Forderung nach Homogenität des Staatsvolkes immer wieder in den Fokus. Über das Ausmaß der geforderten Homogenität herrscht dagegen eine beachtliche Inhomogenität der Auffassungen. Homogenität soll dabei verstanden werden als ein Zustand der Einheitlichkeit einer Gesamtheit von Menschen bezogen auf bestimmte gemeinsame Kriterien. Die Forderung nach Homogenität als Voraussetzung für die Vermittlung demokratischer Legitimation steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur Offenheit des Grundgesetzes für kulturelle, religiöse und politische Vielfalt. Vorgaben mit dem Ziel, umfassende Homogenität der Staatsbürger zu erzeugen, sind dem Grundgesetz fremd. Es hat mehr eine friedliche Bewältigung des Interessenpluralismus im Sinn, der seinerseits „Ausdruck und Erscheinungsform größtenteils irreversibler Inhomogenität“ ist.34 Wenn der staatsangehörigkeitsrechtliche Gesetzgeber bestimmte Aufnahmekriterien formuliert, so basiert dies auf einer rechtspolitischen Entscheidung, die verfassungsrechtlich nicht zwingend ist.35 Ziel des Demokratieprinzips ist es nämlich, die freie Volkswillensbildung zu garantieren.36 Dies erfordert eine Rückbindung der „Herrschaftsausübung an den ,Willen des Volkes‘, d.h. an Werthaltungen und Meinungen eines größtmöglichen Teils der Gesellschaft“.37 Diese Werthaltungen sind aber angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus notwendig inhomogen. Daher sind staatsangehörigkeitsrechtliche Aufnahmekriterien auch Ausdruck dieser gesellschaftlichen Werthaltungen, für die das Grundgesetz gerade keine Vorgaben macht. Es geht vielmehr von kultureller Inhomogenität aus. Ist also der demokratische Staat offen für Werthaltungen jeden Inhalts, solange diese in einem demokratischen Willensbildungsprozess in die staatliche Sphäre eingebracht wurden? Im Grunde kann man das so sagen, allerdings nicht ohne Einschränkungen. Der materielle Gehalt des Demokratieprinzips erschöpft sich nämlich zunächst einmal im äußeren Funktionieren demokratischer Entscheidungsfindungsmechanismen. Vorgaben dahingehend, wie die Funktionsfähigkeit auch in Zukunft erhalten bleiben kann, enthält es gerade nicht. Dies zeigt sich vor allem durch die Implementierung von Maßnahmen der „wehrhaften Demokratie“. Damit trifft das Grundgesetz selbst Vorkehrungen zum Schutz gegen die eigene Unterwanderung. Wehrhaftigkeit ist auf die zukünftige Erhaltung der Demokratie gerichtet. Diese Wehrhaftigkeit hätte aber keine eigenständige Bedeutung, wenn schon aus dem Demokratieprinzip selbst folgen würde, dass die 34 Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, 121 (127). 35 Vgl. zum Spielraum des Gesetzgebers im Staatsangehörigkeitsrecht BVerfGE 37, 217 (218). 36 Walter Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, S. 159. 37 René A. Rhinow, Grundprobleme der schweizerischen Demokratie, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 103 (1984), Band II, S. 111 (157).
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Bürger an der Existenzsicherung des Staates zu beteiligen sind. Anforderungen an die Bürger, insbesondere an ihre Gesinnung, folgen aus dem Demokratieprinzip selbst daher nicht. Das Mindestmaß an materieller Homogenität, das notwendig ist, um die Einheit des Volkes als Souverän zu gewährleisten38, kann daher nur in der äußeren „Verpflichtung auf gemeinsame Spielregeln trotz Verschiedenheit“ 39 bestehen. Zu diesen Spielregeln gehört vor allem, dass die Werthaltungen der Bürger in einem demokratischen Willensbildungsprozess in die staatliche Sphäre eingebracht werden können. Materielle Vorgaben für diese Werthaltungen aus der gesellschaftlichen Sphäre existieren nicht. Einzig solche Handlungen, die auf die Abschaffung der Demokratie in dem so beschriebenen Minimalgehalt gerichtet sind, stehen in offenem Widerspruch zu diesem Prinzip. Daher genügt es dem Demokratieprinzip, dass demokratische Regeln tatsächlich eingehalten werden. Einer positiven demokratischen Gesinnung aller Bürger bedarf es dazu nicht. Dass die Demokratie ohne eine solche demokratische Grundhaltung der Mehrheit auf Dauer nicht erhalten bleiben kann, ändert am Gehalt des Demokratiebegriffs nichts. Das Prinzip der Wehrhaftigkeit ergänzt das Demokratieprinzip und sichert es ab, geht aber nicht schon notwendig begrifflich in ihm auf. Wenn also davon gesprochen wird, dass der Einzubürgernde nach demokratischem Verständnis den Staat „mitbilden und mittragen“ muss40, so kann dieses „Müssen“ nur vor dem Hintergrund der demokratischen Homogenität in ihrem materiellen Mindestmaß gesehen werden. Darüberhinausgehende Anforderungen kann der Gesetzgeber zwar zur Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit machen. Sie sind aber keine aus dem Demokratieprinzip folgenden normativen Vorgaben des Grundgesetzes. 2. „Wehrhafte Demokratie“ als Garant und Grenze der Freiheit In der Konzeption des Grundgesetzes ist die Bestandssicherung der Demokratie schon mitgedacht. Verfassungstreue wird im wissenschaftlichen Diskurs durchgängig in einem Atemzug mit Verfassungsschutz genannt. Wo ist aber der Zusammenhang? Ist der Schutz der Verfassung den Bürgern anvertraut? Zielt also die wehrhafte Demokratie nur darauf, die Verfassungstreue der Bürger zu sichern und so die freiheitliche Ordnung zu bewahren? Betrachtet man die Idee 38 Vgl. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 122 [„Innere Konsistenz des Demos“]. 39 Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 5, S. 305 (310). 40 Norbert Bernsdorff, Probleme der Ausländerintegration in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 288; BVerfGE 37, 217 (246); vgl. Rolf Grawert, Deutsche und Ausländer: Das Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Asylrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 319 (340 f.).
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des Grundgesetzes, so zeigt sich im Gegenteil mehr ein Bild, nach dem der Staat die Freiheit der Bürger zu schützen hat. Positive Verfassungstreue der Bürger ist dem Schutz der Verfassung zwar zuträglich, wird vom Grundgesetz aber nicht gefordert. Vielmehr erstreckt es seinen Schutz bisweilen sogar auf seine eigenen Feinde. Die Idee der wehrhaften Demokratie hat verschiedene Schutzmechanismen hervorgebracht, die dem Staat die „Sicherung der Legitimationsprinzipien [der] Verfassung“ 41 ermöglichen soll. Auch hier liegt aber das Dilemma des freiheitlichen Staates darin, dass er effektiven Verfassungsschutz nicht garantieren kann. Er ist in der Wahl seiner Mittel selbst limitiert. So verwundert es nicht, wenn Dreier konstatiert, dass „[e]ine freiheitliche Verfassung [. . .] nicht ewig [währt], weil sie revolutionär überwunden oder evolutionär fortentwickelt werden kann“.42 Das Konzept der wehrhaften Demokratie bedeutet eben nicht, dass es eine „Pflicht des einzelnen zur [positiven] Verfassungstreue“ 43 gibt. Vielmehr ist der „Zwang zu positiver Konformität“ 44 ein typisches Merkmal totalitärer Systeme. Die freiheitliche Demokratie beschränkt sich vielmehr darauf, den „Ausschlu[ss] dissentierender Elemente aus dem politischen System – und nur aus diesem! [also nicht etwa aus dem Staatsvolk] – zu erreichen“.45 Ihr Mittel ist vor dem Zwang zuvörderst der Appell.46 Das Grundgesetz kennt allerdings stärkere Maßnahmen. Wird vor allem durch Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 die Freiheit der Bürger zur verfassungsfeindlichen Betätigung in bestimmtem Ausmaß beschränkt, so wird damit zugleich nicht weniger als die freiheitliche Ordnung gegen den Missbrauch von Freiheitsrechten, der ihren Bestand gefährdet, geschützt.47 Die Verfassungstreue des Bürgers wird damit aber darauf reduziert, verfassungsfeindliche Aktivitäten bestimmter Intensität zu unterlassen. Das Grundgesetz verordnet dem Bürger in der bisherigen Diktion allein negative Treue. a) Freiheitliche demokratische Grundordnung Eingangs stellt sich die Frage nach dem Gegenstand einer postulierten Verfassungstreue. Soll Verfassungstreue dem Schutz der Verfassung dienen, liegt es nahe, den Gegenstand nach dem Schutzgut der wehrhaften Demokratie zu be41 Gerd Roellecke, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, DÖV 1978, 457 (458). 42 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (17). 43 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (522). 44 Ulrich Matz, Extremisten im öffentlichen Dienst, DÖV 1978, 464 (466) – Hervorhebung im Original. 45 Ulrich Matz, Extremisten im öffentlichen Dienst, DÖV 1978, 464 (466) – Hervorhebung im Original. 46 Ulrich Matz, Extremisten im öffentlichen Dienst, DÖV 1978, 464 (466). 47 Vgl. BVerfGE 5, 85 (139).
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stimmen. Das höchste Schutzgut der wehrhaften Demokratie wird unter der Formel von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zusammengefasst (Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 und 3 GG). Auch darin zeigt sich noch einmal, dass das Grundgesetz wertmäßig nicht beliebig ist.48 Die Verzahnung von Freiheit und Demokratie, die sprachlich in der Formulierung zum Ausdruck kommt, beruht auf dem Gedanken, dass Demokratie am besten dazu geeignet ist, die Selbstbestimmung aller zur vollen Entfaltung zu bringen. Der Schutz der Grundordnung ist damit zugleich der Schutz der Selbstbestimmung aller. Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Parteiverbot hat die inhaltliche Bestimmung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in diesem Sinne grundlegend neu gefasst. Sie umfasst danach jene „zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich“ 49 sind. Dazu zählt das Verfassungsgericht im Gegensatz zum früheren enumerativen Katalog spezieller Merkmale50 gar nicht mehr allzu viel. Kurz gesagt sind dies Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat. Diese Grundprinzipien werden aber stark miteinander verzahnt, stehen also nicht unabhängig nebeneinander. Die in der Menschenwürde enthaltene Wahrung der personalen Individualität, Identität, Integrität sowie elementarer Rechtsgleichheit mündet schließlich in das Recht zur gleichberechtigten Teilnahme aller Bürger am Prozess der politischen Willensbildung, welche durch das Demokratieprinzip gewährleistet wird.51 Das Rechtsstaatsprinzip bezweckt schließlich auch den Schutz der individuellen Freiheit. Dies wird zum einen durch das Gewaltmonopol des Staates garantiert, der für den Freiheitsschutz zuständig ist. Zugleich wird aber die Bindung der öffentlichen Gewalt an das Recht und die gerichtliche Kontrolle hoheitlichen Handelns gewährleistet.52 So wird der Einzelne in seiner Individualität vor der Übermacht des Staates geschützt. Demokratie ist nach diesem Verständnis nicht weniger als die Verkörperung der „Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger“.53 Damit steht das Individuum im Mittelpunkt und nicht die Gemeinschaft. Jeder unbedingte Vorrang eines Kollektivs gegenüber dem einzelnen Menschen ist mit dieser Grundidee 48 Hans H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 79; vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1. Aufl. 1977, S. 418 [„normative Entscheidung, nicht bloß politisches Programm“]. 49 BVerfGE 144, 20 (205). 50 BVerfGE 2, 1 (13): „Dazu gehörten vor allem die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten [. . .], die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“ 51 BVerfGE 144, 20 (207 f.). 52 Vgl. BVerfGE 144, 20 (210). 53 BVerfGE 44, 125 (142).
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schlechthin unvereinbar.54 Das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Neufassung des Begriffs von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine klare Priorisierung der Menschenwürde als Kernprinzip der Verfassung vorgenommen, der Demokratie und Rechtsstaat als weitere Grundprinzipien zu dienen haben. Diese Rückanbindung an das Individuum lässt den Schluss zu, dass auch die wehrhafte Demokratie nur so weit reichen kann, wie sie der Selbstbestimmung dient. Demokratie ist in diesem Sinne also kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Gewährleistung der Selbstbestimmung des Individuums. Schon das Grundgesetz selbst stellt an seinen Anfang nicht die Volkssouveränität, sondern die Menschenwürde.55 Verteidigung der Demokratie auf der einen Seite ist demnach nicht unter Verletzung der Selbstbestimmung auf der anderen Seite zulässig. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist damit der Minimalkonsens des Grundgesetzes, der unverhandelbar ist. Ihr Gehalt ist inhaltlich auf das unabdingbare Minimum beschränkt. Insoweit geht die Verfassungsidentität, die ausweislich des Art. 79 Abs. 3 GG der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen ist, noch über diesen Minimalkonsens hinaus.56 Der Regelungsgehalt der Identitätsklausel umfasst auch das Republik- und das Bundesstaatsprinzip, die nicht zum Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören.57 Mit dieser inhaltlichen Priorisierung und Minimalisierung wird auch der Gegenstand von Verfassungstreue nach dem Verständnis des deutschen Grundgesetzes bestimmt. Wer darauf hinwirkt, in Deutschland eine konstitutionelle Monarchie zu errichten oder darauf, die Bundesländer abzuschaffen, wird nach geltendem Verfassungsrecht vor dem Hintergrund des Art. 79 Abs. 3 GG damit zwar keinen Erfolg haben können. Ein Verfassungsfeind ist er deswegen aber nicht. Anders als etwa derjenige, der das Konzept einer Volksgemeinschaft anstrebt, nach dem bestimmte Personengruppen von der Grundrechtsberechtigung ausgeschlossen werden. Wer darauf hinwirkt, betätigt sich nach dieser Definition verfassungsfeindlich. b) Parteiverbot: scharfe Waffe ohne Gesinnungszugriff Wie reagiert das Grundgesetz nun aber auf die fundamentale Ablehnung von menschenwürdiger Freiheit und Gleichheit? Am Beispiel des Parteiverbots kann 54
BVerfGE 144, 20 (208). Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 5, S. 305 (322); vgl. zum Verhältnis von Menschenwürde und Volkssouveränität Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 22 Rn. 61. 56 Vgl. BVerfGE 144, 20 (206). 57 BVerfGE 144, 20 (206). 55
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gezeigt werden, dass nicht jede Ausprägung von Verfassungsfeindlichkeit dazu führt, dass der Schutz der Verfassung verloren geht. Vielmehr stützt das Bundesverfassungsgericht in der jüngsten Parteiverbots-Entscheidung die These, dass auch das Grundgesetz die Anforderungen an die Verfassungstreue seiner Bürger zum einen ausschließlich negativ formuliert und zum anderen allein an das äußere Handeln richtet. Das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG ist eine der schärfsten Waffen der wehrhaften Demokratie gegen ihre organisierten Feinde.58 Danach können Parteien, die „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, [. . .]“ vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden. Insbesondere die Auslegung des Merkmals „darauf ausgehen“ brachte gegenüber den früheren Parteiverbots-Urteilen eine gewichtige Neuerung mit sich. Zwar genügte auch nach bisheriger Rechtsprechung dafür noch nicht die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen. Vielmehr bedurfte es einer „aktiv kämpferische[n], aggressive[n] Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung“, die zudem „planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen“ soll.59 Die Schwelle für ein Verbot hat das Gericht aber nunmehr noch um das weitere Merkmal der Potentialität angereichert. Danach erfordert das Tatbestandsmerkmal „darauf ausgehen“, dass konkrete Anhaltspunkte von Gewicht dafür vorliegen, dass die Partei das Potenzial hat, ihre verfassungsfeindliche Absicht zu realisieren. Schon dem Wortlaut nach fordere ein „Ausgehen“ ein aktives Handeln. Hierbei stellte das Gericht ausdrücklich klar, dass das Parteiverbot kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot ist.60 Es sei notwendig, dass die Schwelle zur Bekämpfung der Grundordnung überschritten werde. Hier liegt eine entscheidende Aussage des Urteils: Die wehrhafte Demokratie knüpft an äußeres Handeln, nicht an innere Einstellungen an. Die Gesinnung ist dem verfassungsschützenden Zugriff des Staates von vornherein verschlossen. Innere Verfassungstreue ist keine Angelegenheit der Wehrhaftigkeit des Staates, Gesinnungen werden nicht bekämpft. Aber nicht einmal jedes aktive Handeln genügt nach der neuen Judikatur, um als verfassungswidrig eingestuft zu werden. Vielmehr muss der Erfolg eines gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten
58 BVerfGE 144, 20 (159); vgl. Christian-Friedrich Menger, Parteienprivileg und Zugang Radikaler zum öffentlichen Dienst, VerwArch 67, S. 105 (105 ff.); vgl. zur organisierten Verfassungsfeindschaft Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 206. 59 BVerfGE 5, 85 (141). 60 BVerfGE 144, 20 (219).
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Handelns unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auch möglich erscheinen. Diese potenzielle Wirkmacht fehlte der NPD im konkreten Fall, sodass der Verbotsantrag schließlich abgelehnt wurde. Das Gericht stellte aber ausdrücklich fest, dass die NPD verfassungsfeindliche Ziele verfolge.61 Aber was heißt das für die Verfassungstreue? Es heißt, dass es einen weiten Bereich von (organisierter) Verfassungsfeindlichkeit geben kann, der nicht das Maß der Verfassungswidrigkeit erreicht. Was aber nicht verfassungswidrig ist, ist verfassungsgemäß. Verfassungsfeindlichkeit ist also in diesen Grenzen verfassungsgemäß. Verfassungstreue wird zum Zweck des Verfassungsschutzes nur soweit verlangt, wie sie erforderlich ist. Dies ist aber nicht der Fall, wo eine reale Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu besorgen ist. Bis zum Äußersten soll die Demokratie organisierte Verfassungsfeindlichkeit aushalten. Solange dürfen verfassungsfeindliche Parteien am politischen Willensbildungsprozess mitwirken. Erst bei einer realen Gefährdungsschwelle soll diese äußerste „Schmerzgrenze“ erreicht sein. Aber ist es dann nicht schon zu spät? Man stelle sich einmal eine solche Lage vor, in der eine Partei die politische Wirkmacht erreicht hat, die Demokratie abzuschaffen. Kann ein Parteiverbot die Grundordnung dann überhaupt noch vor einer Revolution schützen? Das ist der Zustand, dessen Eintreten nur durch demokratische Kräfte aus der Sphäre der Bürger verhindert werden kann. Das Gericht lässt Verfassungsfeinde also bis zum Äußersten wirken. Das ist aber nicht etwa als wagemutige Entscheidung zu verstehen. Vielmehr kommt gerade darin das Vertrauen des Grundgesetzes in die Selbsterhaltungskraft von Demokratie und Freiheitlichkeit zum Ausdruck. Das neu „geschaffene“ Merkmal der Potentialität wird damit zugleich zum Beleg für ein grundlegendes Vertrauen in die Treue der Mehrheit seiner Bürger. Für den Bürger folgt aus Art. 21 Abs. 2 GG, dass die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei für sich genommen ihm vom Staat nicht negativ als verfassungsfeindliche Betätigung angerechnet werden darf.62 Andernfalls könnte das Parteienprivileg durch Ausschalten sämtlicher Mitglieder der Partei im Wege der Strafverfolgung wegen ihrer politischen Betätigung umgangen werden.63 Da sich in der Mitgliedschaft die Identifizierung mit den Zielen einer entsprechenden Partei ausdrückt64, kann man auch für den Einzelnen sagen, dass die Identifizierung mit den Zielen einer nicht verbotenen Partei auch dann den Schutz der Verfassung genießt, wenn diese Ziele verfassungsfeindlich sind. Die Verfassung schützt auch für den einzelnen Bürger insoweit verfassungsfeindliches Verhalten
61
BVerfGE 144, 20 (246). Vgl. BVerwGE 47, 330 (346 f.); BVerfGE 12, 296 (306). 63 BVerfGE 12, 296 (305). 64 So überzeugend Reiner Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (527). 62
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und die zu Grunde liegenden Gesinnungen.65 Selbst ein Verbot betrifft zunächst einmal nur die Organisation selbst und nicht die Gesinnungen ihrer Mitglieder.66 Für Beamte werden im Gegensatz dazu im Rahmen des Art. 33 GG höhere Anforderungen gestellt, indem die reine Parteimitgliedschaft schon dann als Ausdruck fehlender Treue des Bewerbers angesehen wird, wenn sich die Partei „weit von den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entfernt hat“.67 Hier wird die Ausstrahlungswirkung des Parteienprivilegs verdrängt, was den Besonderheiten des Öffentlichen Dienstes geschuldet ist, die hier nicht Thema sind.68 Diese Ausnahme bestätigt allerdings die Regel des grundsätzlichen Anteils des (einfachen) Staatsbürgers am Parteienprivileg. c) Widerstandspflicht? Art. 20 Abs. 4 GG regelt positive Verfassungstreue in Gestalt aktiven Widerstands. Er ermächtigt die deutschen Bürger dazu, Widerstand zu leisten „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“. Das bedeutet im äußersten Fall vor allem, die Befolgung solcher Normen zu verweigern, welche in verfassungswidriger Ausübung von Staatsgewalt eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellen.69 Im Grunde wird sie damit zu einer Ausnahme von der Pflicht zum Rechtsgehorsam, die demnach das Widerstandsrecht mehr zu einem überpositiven oder symbolischen Recht werden lässt.70 Wenn Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin nur die Ausnahmelage regelt, so ist zwar die Notwendigkeit ihrer Kodifizierung fraglich. Dennoch drückt die Verfassung damit zumindest symbolisch-appellativ die Vorrangigkeit ihrer Wertordnung vor der Pflicht zum Rechtsgehorsam aus, obgleich letztere im Grunde für das Funktionieren von Staatsgewalt schlechthin unabdingbar ist. Der Bürger wird im Grunde subsidiär – also sofern die Staatsgewalt den Verfassungsschutz nicht mehr gewährleisten kann oder gar selbst gefährdet – in die Verantwortung genommen.71 Er ist schon nach dem Wortlaut der Norm nur dann überhaupt zum Widerstand berechtigt, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. 65
Dies hat das NPD-Urteil besonders deutlich gemacht, da das Bundesverfassungsgericht die Partei ausdrücklich als aktiv verfassungsfeindlich eingestuft hat, ohne sie allerdings durch ein Verbot des Parteienprivilegs zu berauben, vgl. BVerfGE, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13. 66 Vgl. Uwe Volkmann, Feind und Freund, in: FAZ v. 01.12.2011, S. 7. 67 BVerfGE 39, 334 (358). 68 Vgl. BVerfGE 39, 334 (358). 69 David Johst, Begrenzung des Rechtsgehorsams, S. 217. 70 David Johst, Begrenzung des Rechtsgehorsams, S. 216. 71 Vgl. zur Subsidiarität als immanentes Merkmal des Art. 20 Abs. 4 GG Heinrich Ganseforth, Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz im System des Verfassungsschutzes, S. 136 ff.
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Andere Abhilfe dürfte aber im Normalfall durch das Rechtsschutzsystem einer funktionsfähigen Staatsgewalt möglich sein.72 Bleibt man bei der Unterscheidung zwischen Normal- und Ausnahmezustand, so kann man für den von Art. 20 Abs. 4 GG nicht geregelten Normalzustand bereits aus der Existenz dieser Norm schlussfolgern, dass für den Verfassungsschutz grundsätzlich der Staat und eben nur höchst ausnahmsweise der Bürger „zuständig“ ist. Und selbst für diesen Ausnahmefall kann sich diese „Zuständigkeit“ notwendigerweise nur als überpositive „Pflicht“ darstellen, die mehr ein Appell zur Verantwortungsübernahme im eigenen Interesse ist. Positivrechtlich ist die Norm dagegen nur als Recht und nicht etwa als Pflicht zum Widerstand ausgestaltet.73 Nennt das Grundgesetz an anderer Stelle Rechte und Pflichten auch einmal in einem Atemzug (z. B. Art. 6 Abs. 2 GG: „Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht [. . .] und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ oder Art. 33 Abs. 1 GG: „staatsbürgerliche [. . .] Rechte und Pflichten“), so verzichtet es hier wohl ganz bewusst darauf, eine Widerstandspflicht zu normieren. Es dürfte dem Bürger auch kaum zumutbar sein74, Gehorsam gegen Normen der Staatsgewalt zu verweigern, auch wenn diese ihre Legitimität verloren hat. Er geht immerhin ein großes Risiko ein75, würde er seine Rechtsgehorsamspflicht missachten, um gegen die Autorität „Staat“ vorzugehen, von deren Legitimität er doch grundsätzlich bisher ausgehen durfte. Immerhin obliegt ihm selbst die Beurteilung der tatbestandlichen Voraussetzungen seines Widerstandsrechts und damit der Legitimität seiner Ausübung.76 Liegen sie nicht vor, so handelt der Bürger rechtswidrig und kann demnach vom Staat in legitimer Weise sanktioniert werden. Wenn Widerstand geleistet wird, so kann dies nur auf eigenes Risiko und nicht auf Anordnung geschehen. Politische Courage kann eben nicht verbindlich festgeschrieben werden.
72 Christoph Enders, Normalitätserwartung der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 276 Rn. 16. 73 Im Ergebnis ebenso Rolf Stober, Grundpflichten und Grundgesetz, S. 51 f. 74 Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 470, wonach „sittliche Anforderungen an den (Durchschnitts-)Bürger [gestellt würden], die dieser regelmäßig nicht erfüllen könnte“]; ebenso Themistokles Tsatsos, Zur Begründung des Widerstandsrechts, Der Staat 1 (1962), S. 157 (173 f.). 75 Vgl. Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, S. 33 [„Das Urteil über die Widerstandsvoraussetzungen wird, obzwar auf eigenes Risiko, mangels autoritativer Instanz in die Zuständigkeit des Einzelnen gestellt.“]. 76 Vgl. Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht. Eine staatsrechtliche Analyse des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz, S. 78 f., wonach durch ebendiese Entscheidungskompetenz des Einzelnen kein Schutz gegen „chaotische Widersprüchlichkeit“ bestehe, da naturgemäß keine staatliche Instanz verbindlich über Konfliktfälle entscheiden könne. Das im Haupttext angesprochene Risiko für den Einzelnen kann daher nicht durch den Rechtsstaat gebannt werden, sondern ist allein vom Bürger nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen.
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II. Verfassungstreue in der Grundrechtsdogmatik Die Grundrechte stellen ein wesentliches Fundament des freiheitlichen Verfassungsstaates dar. Eingangs wird nachfolgend daher diskutiert, ob die Grundrechte angesichts des Freiheitssicherungszwecks insgesamt unter einem allgemeinen Verfassungstreuevorbehalt stehen. Da die gesamte Staatsgewalt durch Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist, werden die Auswirkungen dieser staatlichen Grundrechtsbindung auf die Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue untersucht. Es folgt sodann eine Betrachtung der Dogmatik von Art. 18 GG. Es geht dabei vor allem um die Bedeutung der Norm als Beschränkung von Grundrechtsbetätigung zum Zwecke des Verfassungsschutzes. Schließlich wird kurz auf das Rechtsinstitut der Grundpflichten eingegangen. Abschließend wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG herausgegriffen, um darzulegen, inwieweit auch die verfassungsfeindliche Meinung vom grundgesetzlichen Schutz erfasst ist. 1. Allgemeiner Vorbehalt der Verfassungstreue? Eine Pflicht des Grundrechtsträgers zur Verfassungstreue wurde vereinzelt unter der Annahme begründet, jede Grundrechtsbetätigung stehe generell unter einem Vorbehalt der Verfassungstreue.77 Danach sei der Grundrechtsausübung von vornherein die Beschränkung durch den Freiheitssicherungszweck immanent.78 Hierbei wird aus dem Hauptzweck der Grundrechte, nämlich der „Bewahrung [. . .] des individuellen Freiheitsraums“ 79, ein den Grundrechten teleologisch immanenter Verfassungstreuvorbehalt abgeleitet. Werden die Grundrechte nämlich gegen die freiheitliche Ordnung als solche in Anspruch genommen, so drohe das Gleichgewicht zwischen Individuum und Staat zusammenzubrechen, sodass der Zweck der Grundrechte gar nicht mehr erreicht werde.80 Die Vertreter dieser These machen also geltend, dass die Grundrechte den Bestand der staatlichen Gemeinschaft, durch die sie erst gewährleistet werden, gerade voraussetzen.81 Die Grundrechte dürfen danach nicht dazu gebraucht werden, um die Grundlage ihrer eigenen Geltung abzuschaffen. Dogmatisch reichen die Einordnungen eines 77 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (520 ff.); Hans H. Klein, Zur Berufung von Mitgliedern der Verfassungsfeindlichkeit verdächtiger Parteien und Vereinigungen in das Beamtenverhältnis, in: Forsthoff/Weber/Wieacker (Hrsg.), Festschrift für Ernst Rudolf Huber, S. 75 (81 ff.); ähnlich wohl Armin Steinkamm, Nichtübernahme von Verfassungsgegnern in den öffentlichen Dienst, in: Der freiheitliche Rechtsstaat und seine Gegner, Mittel und Grenzen der Abwehr, S. 77 (90). 78 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § § 22 Rn. 709, wonach „Grundrechte [. . .] nur ihrem Geist gemäß, nicht ihrem Geiste zuwider gebraucht werden“ dürfen. 79 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (522). 80 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (522). 81 BVerwGE 2, 85 (87), BVerwGE 4, 167 (171).
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solchen Vorbehalts von einer „grundrechtsimmanenten Schranke“ 82 über eine „verfassungsunmittelbare Schranke“ 83 bis hin zu Formulierungen, die schon eine Schutzbereichsverkürzung nahelegen.84 Entscheidend dürfte allerdings sein, dass die Verfassungstreueprüfung der allgemeinen Rechtfertigungsprüfung vorgelagert ist und damit zu den sonstigen allgemeinen Grundrechtsschranken hinzutritt. Denn der Vorbehalt soll nach den Vertretern dieser Auffassung der grundrechtlichen Freiheit vorgehen.85 Im Ergebnis stellt diese Auffassung eine zusätzliche Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit dar. Überzeugender ist daher die Auslegung, wonach der Grundrechtsträger „sein [grundrechtliches] Handeln nicht an den Interessen des Staates orientieren“ 86 muss. Der Bürger darf die Grundrechtsausübung an seinen individuellen Zwecken ausrichten und muss die kollektiven Interessen der staatlichen Gemeinschaft nicht zur Legitimation eigener Grundrechtsausübung machen. Insbesondere ist er nicht gezwungen, „sich mit dem dahinter liegenden Freiheitskonzept zu identifizieren, also das System des freiheitlichen Verfassungsstaates insgesamt gutzuheißen und innerlich zu bejahen – und es damit reziprok auch immer als Freiheit der Andersdenkenden und Andershandelnden zu akzeptieren“.87 Nicht zuletzt ist er eben nicht einmal gezwungen, überhaupt politisch zu partizipieren oder sich zu interessieren, auch wenn eine solche teilnahmslose Indifferenz – sollte sie Schule machen – dem demokratischen Gemeinwohl durchaus abträglich sein dürfte. Wenn das Recht zur Gleichgültigkeit beim Wählen besteht, welches durch die Freiheit des Nicht-Wählens manifestiert wird, so besteht doch gerade auch das Recht, dem Staat insgesamt – auch innerlich – gleichgültig gegenüber zu stehen. Im Gegensatz dazu ordnet Art. 17 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein entsprechendes Missbrauchsverbot für die Rechte aus der Konvention an. Dort heißt es: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben 82 Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 473. 83 Hans H. Klein, Zur Berufung von Mitgliedern der Verfassungsfeindlichkeit verdächtiger Parteien und Vereinigungen in das Beamtenverhältnis, in: Forsthoff/Weber/ Wieacker (Hrsg.), Festschrift für Ernst Rudolf Huber, S. 75 (81). 84 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (520 ff.) [„den Grundrechtsschutz im konkreten Einzelfall zu versagen“ (S. 522); „eine Berufung auf dieses Grundrecht dann ausscheidet, wenn [es] sich gegen die freiheitliche-demokratische Grundordnung richtet“ (S. 523)]. Im Ergebnis spricht Arnold an anderer Stelle dann aber doch wieder von einer „immanente[n] Schranke“ (S. 524). 85 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (524). 86 BVerfGE 102, 370 (395); vgl. auch BVerfGE 28, 243 (260 f.); 30, 173 (193) als endgültiges Ende der Lehre vom generellen Gemeinschaftsvorbehalt der Grundrechte. 87 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (26).
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oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.“ Diese Norm ist Ausdruck der grundlegenden Vorstellung, dass es „auch in liberalen Ordnungen eine Art Geschäftsgrundlage des Zusammenlebens gibt, die zumindest der Idee nach von allen zu unterschreiben ist“.88 Eine inhaltsgleiche oder auch nur entsprechende Regelung fehlt im Grundgesetz hingegen. Vielmehr spricht Art. 18 GG sogar gegen einen Treuevorbehalt. Denn das Erfordernis einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung über die Grundrechtsverwirkung würde bei Annahme eines allgemeinen Treuevorbehalts umgangen. Zudem ist noch freiheitsschonender als die Versagung im Einzelfall der grundsätzliche Schutz sämtlicher Verhaltensweisen mit der Möglichkeit verhältnismäßiger Einschränkbarkeit nach allgemeinen Regeln. Ein Verfassungstreuevorbehalt ipso iure liegt den Grundrechten also gerade nicht zu Grunde. Andernfalls entsteht die Gefahr einer Aushöhlung der grundrechtlichen Freiheit. Die Vorverlagerung von Verfassungstreue auf eine immanente Schranke verhindert nämlich eine Güterabwägung im Einzelfall.89 Ohne Abwägung können die widerstreitenden Interessen zwischen Individuum und Staat nicht in einen freiheitsschonenden Ausgleich gebracht werden.90 Innerhalb dieses Prozesses müssen die Kriterien für die Einordnung als verfassungsfeindliches Verhalten offengelegt und eine konkrete Gefährdung eines Verfassungsguts dargelegt werden. Ein allgemeiner Verfassungstreuevorbehalt stellt dagegen eine Generalermächtigung für den Staat dar, den Begriff der Verfassungsfeindlichkeit beliebig auszuweiten und damit sämtliche Verhaltensweisen ohne Abwägung aus dem Grundrechtsschutz herauszunehmen. Daher kann eine „positive Intention“ der Grundrechte nicht angenommen werden, da sonst der Staat deren Inhalt definieren könnte. Dies widerspricht aber dem Prinzip der „Staatsfreiheit“ der Grundrechtsausübung.91 Danach bestimmt der Grundrechtsträger im Grundsatz selbst, ob, wie und mit welcher Zielsetzung er von seinen Grundrechten Gebrauch macht. Wie schwierig es ist, ein konkretes Verhalten als verfassungsfeindlich einzustufen, soll anhand des Burka-Verbots illustriert werden. Ist schon die Ganzkörperverschleierung als solche ein Angriff auf die Wertordnung an sich, dem nur mit einem Verbot begegnet werden kann? Ist das Burka-Verbot damit im Grunde ein Schutz der Freiheitlichkeit als solcher, also gleichsam Verfassungsschutz? An 88 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (144). 89 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (524), der dies mit einer „a priori fixierten Güterhierarchie“ rechtfertigt. 90 Kritisch dazu Karl-Heinz Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik. 91 Jost Pietzcker, Artikel 12 Grundgesetz – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NVwZ 1984, 550 (551).
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dieser Stelle eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Rechtfertigung des Burka-Tragens und seines Verbotes vorzunehmen, würde vom eigentlichen Gedankengang wegführen.92 Das Beispiel kann aber dafür sensibilisieren, dass schon die Einordnung eines Verhaltens als freiheitsfeindlich nicht immer eindeutig ist. Dies liegt nicht zuletzt auch in dem unterschiedlichen Verständnis des Inhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes überhaupt. Gerade die Vollverschleierung durch eine Burka wird von vielen Menschen als so krasser Widerspruch zur freiheitlichen Gesellschaft angesehen, dass ein Verbot für den Schutz grundlegender Werte unerlässlich sein soll.93 Andere hingegen verweisen auf das Grundrecht der Religionsfreiheit, das muslimische Frauen zum Tragen einer Burka berechtigen soll.94 Ein allgemeiner Vorbehalt der Verfassungstreue würde bei der Entscheidung solcher Fragen eine sachgerechte und nachvollziehbare Lösung erschweren. Es wäre eine Ermächtigung zu einem Verbot ohne Abwägung mit den berechtigten Interessen der Grundrechtsträgerin, sofern der Staat die Burka als Angriff auf die freiheitliche Wertordnung der Verfassung an sich begreift. Dann nämlich würde die Religionsfreiheit von vornherein gar nicht mehr auf Seiten ihrer Trägerinnen zum Tragen kommen. Richtigerweise darf ein Verbot aber nur dann angeordnet werden, wenn die Religionsfreiheit aus legitimen Gründen – etwas solchen des Verfassungsschutzes – in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden kann. Es muss durch den Staat begründet werden, inwieweit ein Grundrechtseingriff – in diesem Beispiel etwa in die nach herrschender Meinung vorbehaltlos gewährleistete Religionsfreiheit95 – dadurch gerechtfertigt ist, dass tatsächlich ein Verfassungsgut verteidigt wird. Erst bei einem konkreten Angriff auf die grundgesetzliche Wertordnung oder auf die Grundrechte Dritter kann ein solches Verbot demnach überhaupt verfassungskonform sein. Wie man sich im Ergebnis auch entscheiden mag, so haben in eine umfassende Abwägung jedenfalls alle Belange einzufließen, ohne bestimmte Interessen von vornherein unter dem Stigma der Verfassungsfeindlichkeit außer Acht zu lassen. Ein allgemeiner Vorbehalt der Verfassungstreue ist also der Freiheit nicht etwa dienlich, sondern muss gerade aus Freiheitsschutzgründen abgelehnt werden. 92 Vgl. dazu Tristan Barczak, Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist, DÖV 2011, 54–61; Guy Beaucamp/Jakob Beaucamp, In dubio pro libertate, DÖV 2015, 174–183; Lothar Michael/Daniel Dunz, Burka im Gericht, DÖV 2017, 125–133. 93 Vgl. etwa Friedhelm Hufen, Staatsrecht II, § 10 Rn. 71; Gunther Britz, Verschleierte Menschenwürde?, ZRP 2011, 26–27. 94 Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, Art. 4 Rn. 78; Ingo von Münch, Burka-Verbot: ja oder nein?, in: Utz Schliesky (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa. Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig, S. 47–62. 95 Vgl. statt vieler BVerfGE 93, 1; 108, 282.
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2. Der Staat als Verpflichteter der Grundrechte Der Grundrechtskatalog der Verfassung ist das Instrument des freiheitlichen Staates zur Sicherung der „Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug“.96 Durch die dort niedergeschriebenen Grundrechte wird zuvörderst der Staat als Inhaber hoheitlicher Macht in die Pflicht genommen. Er ist einerseits für die Sicherheit und – genauer – Sicherung der Freiheit seiner Bürger verantwortlich, erscheint aber andererseits zugleich selbst durch sein Gewaltmonopol als potenzieller „Gefährder“ der Freiheit des Einzelnen.97 Der staatlichen Machtausübung müssen also ihrerseits gegenüber dem Bürger Grenzen gesetzt werden. Zu diesem Zweck kommt den Grundrechten eben in erster Linie eine Abwehrfunktion zu.98 Die Grenze staatlichen Handelns besteht – auf einen Begriff gebracht – gerade in der Freiheit der Bürger selbst, die in den Grundrechten konkretisiert wird. Dass diese Dimension im Laufe der Zeit um objektiv-rechtliche Komponenten (objektive Wertordnung, positive Schutzpflichten, mittelbare Drittwirkung) erweitert wurde99, ändert nichts an dieser primären Funktion. Ganz unabhängig von der Dimension gilt jedoch, dass die Grundrechte im Grundsatz den Bürger berechtigen und den Staat verpflichten. In ihnen verkörpert sich daher die allgemeine Staat-Bürger-Beziehung, aus der sich etwaige Anforderungen normativ ableiten ließen, in besonderer Weise. Andererseits werden durch die Grundrechte keine absoluten Freiheitsräume gewährt.100 Vielmehr werden auch der Ausübung grundrechtlicher Freiheiten selbst wiederum Grenzen gesetzt. Solche Grenzen können vor allem in den Grundrechten anderer oder in sonstigen Gütern von Verfassungsrang gesehen werden. Hier ist zu fragen, inwieweit Anforderungen an die Verfassungstreue solche verfassungsimmanente Grenzen der Freiheit darstellen können. Dabei geht es um die Reichweite der grundrechtlichen Freiheit auf der einen Seite und ihre mögliche Begrenzung durch Anforderungen der Verfassungstreue auf der anderen Seite. Die Grundrechtsdogmatik bildet das Freiheitsverständnis des Grundgesetzes ab: Ein weiter Schutzbereich, in den unter besonderem Rechtfertigungszwang grundsätzlich eingegriffen werden darf, spiegelt das „Verteilungsprinzip“ des freiheitlichen Staates wider. Danach ist die Freiheit des Individuums „prinzipiell unbegrenzt“, während die Eingriffsmöglichkeiten des Staates „prinzipiell be-
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BVerfGE 63, 343 (357). Vgl. schon Thomas Hobbes, Vom Bürger, VI. 13 (Anmerkung), S. 139 [„Denn der, welcher Macht genug hat, alle zu beschützen, hat auch Macht, alle zu unterdrücken“]. 98 Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Band II, § 48 Rn. 7. 99 Vgl. umfassend Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 206 ff. 100 Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 216. 97
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grenzt“ sind.101 Damit bedürfen staatliche Freiheitsbeschränkungen stets einer Rechtfertigung. Freiheit ist die Regel, ihre Begrenzung die Ausnahme. Der Bürger kann selbst dann von seiner Freiheit intensiv Gebrauch machen, wenn er die freiheitliche Ordnung selbst ablehnt. Lediglich auf der einfachgesetzlichen Ebene ist er an die Rechtsordnung unmittelbar gebunden. Dort ist aber der Gesetzgeber bei der Normschöpfung einem stetigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Die Grenze des Staatshandelns wird also in einem Verfassungsstaat typischerweise durch die Verfassung und dort speziell durch die Grundrechte gesetzt, die die Freiheiten der Bürger ausdifferenzieren. Aber auch die Freiheit selbst wird wiederum durch die Verfassung begrenzt, indem der Staat zu (rechtfertigungsbedürftigen) Eingriffen ermächtigt wird. Insoweit ist durchaus sowohl der Staat als auch der Bürger an die Verfassung „gebunden“, aber diese „Treue“ zur Verfassung hat eine unterschiedliche Intensität und Dimension. Beim Bürger aktualisiert sich diese allenfalls in der „Nicht-Ausübung“ von Freiheiten und Grundrechten, also in der Duldung bestimmter Grundrechtseingriffe durch den Staat, ist also eine negative Anforderung. Soweit das Einfordern von Treue in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit erlaubt ist, hat der Bürger staatliches Handeln zu dulden und rechtsförmige Verhaltensbefehle zu befolgen. Gesetzlich angeordnete Verfassungstreue – etwa durch ein verbindliches Bekenntnis oder eine Eidespflicht – kann in den Schutzbereich unterschiedlicher Grundrechte eingreifen. Wenn Art. 2 Abs. 1 GG im Grunde jedes menschliche Verhalten schützt102, so ist im Ausgangspunkt auch verfassungsfeindliches Verhalten jeder Art erst einmal vom Schutzbereich erfasst. Da ein allgemeiner Vorbehalt der Verfassungstreue abzulehnen ist, gehört zum Schutzbereich dieses Auffanggrundrechts auch ein grundsätzliches Recht des Bürgers zur verfassungsfeindlichen Betätigung. Sofern die geforderte Treue auch die persönliche Werthaltung des Bürgers adressiert und den Anspruch innerer Ernsthaftigkeit erhebt, tangiert sie durch ihren Zugriff auf die Identität der Person auch den inneren Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Die Forderung, ein bestimmtes Bekenntnis abzugeben, kann zum einen die negative Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) betreffen. Denn dadurch wird dem Grundrechtsträger autoritativ vorgegeben, eine bestimmte – eben verfassungstreue – Meinung zu haben und zu äußern. Zum anderen ist es denkbar, dass der Normadressat einen bestimmten Treueinhalt aus Glaubens- oder Gewissensgründen nicht innerlich teilen und sich zu ihm daher auch nicht bekennen kann. Damit kommt auch der Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) in Betracht. Der Eingriff in ein Grundrecht zum Zwecke der Herbeiführung von Verfassungstreue kann gerechtfertigt sein, wenn er in verfassungskonformer Weise – 101 102
Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 126. Michael Kloepfer, Verfassungsrecht, Band II, § 56 Rn. 13.
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insbesondere verhältnismäßig – erfolgt.103 Die gesetzgeberisch intendierte Verfassungstreue des Staatsbürgers dient in praxi oft dem übergeordneten Zweck des Verfassungsschutzes. Der Staat selbst hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, die Verfassung zu schützen.104 Der Verfassungsschutz selbst ist auch ein Gut von Verfassungsrang.105 Dies wird insbesondere durch die ausdrückliche Erwähnung in Art. 10 Abs. 2 GG und Art. 11 Abs. 2 GG bestätigt, wo der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Grundrechtsschranke sogar ausdrücklich vorausgesetzt wird. Es bleibt allein die Frage, inwieweit der Bürger zum Zwecke des Verfassungsschutzes verpflichtet werden darf. Spricht man der Verfassungstreue des Bürgers selbst Verfassungsrang zu, streitet auf Seiten des Staates ein hochrangiges Gut, das dann schon für sich Zweck des Grundrechtseingriffs ist. Ist sie hingegen nur ein Mittel – von vielen –, um den Verfassungsschutz zu erreichen, muss sie sich im Rahmen der üblichen Rechtfertigungsprüfung unter mehreren gleich geeigneten Mitteln als das mildeste darstellen. Im Rahmen der dort vorzunehmenden Interessenabwägung streitet das Recht des Bürgers zur Verfassungsfeindlichkeit gegen das Recht des Staates zum Verfassungsschutz. Die Verfassung ermächtigt also den Staat – genauer den Gesetzgeber – zum Grundrechtseingriff und macht den Schutz der Verfassungsordnung selbst zum schützenswerten Rechtsgut, zu deren Zwecken eben ein solcher Eingriff gerechtfertigt sein kann. Aus der grundrechtlichen Schrankendogmatik folgt nicht, dass der Bürger verfassungsrechtlich unmittelbar zur Treue verpflichtet ist. Einfachgesetzlich führt dies zur allgemeinen Pflicht des Bürgers, verfassungskonforme und damit wirksame Rechtsnormen zu befolgen. 3. Grundrechtsverwirkung für Verfassungsfeinde Nach Art. 18 GG werden bestimmte Grundrechte bei einem Missbrauch zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verwirkt. Der Begriff des „Missbrauchs“ ist dabei im Sinne eines Gebrauchs der Grundrechte zum Kampf gegen die Grundordnung zu verstehen, da ein derartiger Gebrauch der Grundrechte nicht ihrer allgemeinen Funktion entspricht.106 Jedoch muss auch
103 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (15). 104 Vgl. Bernhard Frevel, Sichere Gesellschaft – Ein unerfüllbares Versprechen?, in: APuZ 34–36, S. 53 (56). 105 Christoph Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105, S. 279 (279) [„verfassungsrechtlich garantiertes Schutzgut“]; vgl. BVerfGE 47, 327 (382), wonach unter Verweis auf Art. 26 GG schon ein „friedliches Zusammenleben“ als Gut von Verfassungsrang eingeordnet wurde.
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hier auf Grund der drastischen Rechtsfolge der Verwirkung die tatbestandliche Schwelle besonders hoch angesetzt werden. Zu einer Verwirkung kann es im Lichte der Funktion von Art. 18 GG überhaupt nur bei einer aktiv-kämpferischen Verhaltensweise – mit Gefährdungspotenzial für die Grundordnung – kommen.107 Der Wortlaut weist darauf durch den Begriff des „Kampfes“ hin. Dieser impliziert ein weit intensiveres Verhalten als bloße „Ablehnung“, „Abschaffung“ oder „feindliche Haltung“. Schon gar nicht genügen bloße Gesinnungen oder innere Einstellungen des Grundrechtsträgers. Insoweit dürfte entsprechend den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Parteiverbot gelten, dass auch die Grundrechtsverwirkung keine Sanktion von Gesinnungen darstellt. Erst der Kampf stellt einen Missbrauch dar, nicht aber jeglicher feindliche Gebrauch schlechthin. Ferner bedarf es einer gewissen Tauglichkeit der entsprechenden Grundrechtsausübung zur Gefährdung der Grundordnung.108 Das Erfordernis einer gewissen Potentialität der Betätigung des Grundrechtsträgers wird durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum NPD-Parteiverbot bestätigt.109 Ein Gleichlauf der Verfassungstreueanforderungen innerhalb des Art. 18 GG und des Art. 21 GG ist insoweit geboten. Sonst ergäbe sich die widersprüchliche Situation, dass die Mitglieder einer verfassungsfeindlichen Partei, die mangels Potentialität nicht verfassungswidrig ist, ihre Grundrechte bei weiterer Betätigung für diese Partei verwirken könnten. Wenn aber schon eine Partei nur bei hinreichender Wirkkraft verboten werden kann, muss dies für den einzelnen Grundrechtsträger erst recht gelten. Einerseits ist nämlich die freiheitliche Ordnung erst recht in der Lage, das feindliche Wirken von Einzelnen auszuhalten, wenn sie sogar das feindliche Wirken von organisierten Kollektiven unter ihren Schutz stellt. Andererseits dürfte die Verteidigung der Verfassung gleichermaßen geboten sein, wenn eine potenzielle Gefährdungslage für die freiheitliche demokratische Grundordnung durch aktive Angriffsbestrebungen eines Einzelnen tatsächlich vorliegt.110 106 Walter Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 135, der hier auch eine spezifische Funktionswidrigkeit des Grundrechtsgebrauchs als engere Voraussetzung diskutiert, da nur so der scharfe Begriff des „Missbrauchs“ gegenüber dem einfachen Begriff des „Gebrauchs“ einen eigenständigen Bedeutungsgehalt erhält; vgl. auch BVerfGE 107, 339 (386) – Sondervotum der Richter Sommer, Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, wonach der Freiheitsgebrauch „innerhalb der für die dauerhafte Erhaltung der Freiheit notwendigen Grenzen der Grundordnung“ bleiben soll. 107 Vgl. eingehend Eva Marie Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung. Versuch einer Neubestimmung von Artikel 18 GG, S. 66, die das Erfordernis „aggressiven Verhaltens“ durch das Ziel des Verhaltens sowie eine echte Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung bestimmen will. 108 Eva Marie Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung. Versuch einer Neubestimmung von Artikel 18 GG, S. 67. 109 BVerfGE 144, 20 (224 f.). 110 Vgl. insbesondere zum Verhältnis von Art. 21 Abs. 2 GG und Art. 18 GG BVerfGE 25, 44 (60), wonach sogar „durchaus Fälle denkbar [sind], in denen auch der
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Wird Art. 18 GG jedoch als bloße ultima ratio zur Ahndung von Grundrechtsmissbrauch verstanden, so müssen unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten auch andere, mildere Mittel als die generelle Verwirkung möglich sein.111 Man kann Art. 18 GG nämlich nicht etwa in Entsprechung zum Parteienprivileg ein „Individualprivileg“ 112 entnehmen, das sämtliche staatliche Maßnahmen bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verbieten würde.113 Allerdings dürfen diese Maßnahmen keine Verwirkung darstellen oder ihr gleichkommen, da ansonsten das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts umgangen würde.114 Insoweit kommt Art. 18 GG eine Sperrwirkung gegenüber einfachgesetzlichen Normen zu.115 Der einfache Gesetzgeber kann sich also nur anderer Instrumentarien als der Verwirkung bedienen.116 Vor allem durch den strafrechtlichen Staatsschutz hat der Gesetzgeber von dieser Möglichkeit umfassend Gebrauch gemacht.117 Auch schon außerhalb des Tatbestands von Art. 18 GG – also auch unterhalb der Schwelle des aktiv-kämpferischen Grundrechtsgebrauchs – darf der Staat grundsätzlich tätig werden. Insoweit kann er Grundrechte nach den allgemeinen Regeln einschränken, sofern er dies verfassungsrechtlich rechtfertigen kann. Die Einschränkbarkeit von Grundrechten außerhalb des Verwirkungstatbestandes muss vor allem auch für die nicht in Art. 18 GG genannten Grundrechte – etwa die Religionsfreiheit – gelten, da diese andernfalls unbegrenzt zur Abschaffung der Grundordnung gebraucht werden könnten. In Art. 10 Abs. 2 GG und Art. 11 Abs. 2 GG wird eine Einschränkbarkeit zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sogar ausdrücklich vorausgesetzt. Die Formulierung in Art. 11 Abs. 2 GG, wonach die Beschränkung „zur Abwehr einer drohenden Ge-
Einzelne kraft seiner Fähigkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel eine aus Gründen der Selbsterhaltung der Verfassung zu bekämpfende Gefahr schafft“. 111 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (526). 112 Rainer Arnold, Verfassungstreue und Grundgesetz, BayVBl 1978, 520 (526). 113 Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 473. 114 BVerfGE 10, 118 (122 f.). 115 Walter Krebs, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 18 Rn. 25. 116 Vgl. im Hinblick auf den strafrechtlichen Staatsschutz Michael Brenner, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 18 Rn. 86. Da strafrechtliche Mittel mitunter weiteraus leichter zu ergreifen sind, hat Art. 18 GG in der Praxis bisher keine Bedeutung erlangt, vgl. Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (27). 117 Vgl. Michael Brenner, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 18 Rn. 85, wonach „Art. 18 keine Einschränkung, sondern eine Ergänzung und Erweiterung des rechtlichen Instrumentariums zum Schutz gegen Angriffe auf die freiheitliche demokratische Grundordnung bezwecken will.“ Vgl. dazu BVerfGE 25, 44 und 25, 88, wonach Art. 18 GG einer Strafnorm, die den Verstoß eines Einzelnen gegen ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG sanktioniert, nicht entgegensteht.
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fahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes [. . .] erforderlich“ 118 sein muss, deutet allerdings darauf hin, dass auch bei diesem Schutzzweck das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werden muss. Nicht jede Grundrechtsbetätigung gegen die Grundordnung ist daher von vornherein zu verbieten. In den Grenzen des Art. 18 GG können die Grundrechte also frei gebraucht werden. Der Norm ist damit gerade nicht zu entnehmen, dass die Grundrechte dem Geist der Verfassung entsprechend gebraucht werden müssen.119 Vielmehr folgt aus der hohen tatbestandlichen Hürde im Umkehrschluss, dass unterhalb der Verwirkungsschwelle der Schutzbereich der Grundrechte sich auch auf einen verfassungsfeindlichen Gebrauch erstreckt. Art. 18 GG bestätigt damit nicht einen Verfassungstreuevorbehalt der Grundrechte, sondern widerlegt ihn. Das Grundgesetz hat schließlich darauf verzichtet, eine allgemeine Schranke der Verfassungstreue ausdrücklich zu normieren, obwohl dies systematisch in diesem Kontext nahegelegen hätte. Insoweit steht in Art. 18 GG dem Verfassungsschutz eben auch der „Schutz der Freiheit [des Einzelnen] vor dem Verfassungsschutz“ 120 gegenüber.121 Dem Bürger wird daher grundsätzlich die Freiheit gewährt, die Wertordnung des Grundgesetzes auch abzulehnen, sofern er dies mit allgemein erlaubten Mitteln – insoweit bleibt es bei seiner Gehorsamspflicht – oder innerhalb einer nicht verbotenen Partei tut.122 Daher sind hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit eines solchen Eingriffs zu stellen.123 Die bloße Berufung auf einen „Angriff auf das Grundgesetz“ oder eine „feindliche Betätigung gegen die Grundordnung“ kann also für sich genommen nicht ausreichen, sondern muss etwa mit einer konkreten Bedrohungslage untermauert werden. In erster Linie ist der Bürger daher zur negativen Verfassungstreue angehalten, welche darin besteht, die aktiv-kämpferische Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu unterlassen.124
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Hervorhebung durch den Verfasser. So aber Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § § 22 Rn. 709. 120 Christoph Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105, S. 279 (281) – Hervorhebung durch den Verfasser. 121 Vgl. zum Ausgleich dieser beiden Komponenten Peter Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1970, JZ 1971, 145 (147). 122 BVerfGE 39, 359. 123 Vgl. Walter Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 284 ff. 124 Im Ergebnis ebenso Hasso Hofmann, Grundpflichten und Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 195 Rn. 13 [„schrumpft die Treueforderung auf [. . .] Unterlassungspflichten“]. 119
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4. Grundpflichten im Grundgesetz? Im Grundgesetz selbst wird man einen den Grundrechten im Stellenwert entsprechenden Gegenpart im Sinne ausdrücklich normierter „Grundpflichten“ nicht finden.125 Dahingehend unterscheidet es sich bewusst von der Weimarer Reichsverfassung, die unter der Überschrift „Grundrechte und Grundpflichten“ etwa die Pflicht der Staatsbürger festlegte, „nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten“ (Art. 133 Abs. 1 WRV), oder die „die sittliche Pflicht [jedes Deutschen normierte], seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“ (Art. 163 Abs. 1 WRV). Die Erfahrung aus Weimar hat gezeigt, dass die so formulierten Grundpflichten zu bloßen Programmsätzen verkommen sind. Eine unbegrenzte Anzahl unmittelbar vollziehbarer Grundpflichten würde dem freiheitlichen Charakter der Grundrechte auch eher widersprechen.126 Dem Grundgesetz ist vielmehr das Prinzip der Asymmetrie von Grundrechten und Grundpflichten immanent.127 Die Grundrechte legitimieren vorrangig das freiheitliche Gemeinwesen128, sodass diesen keine gleichrangigen Grundpflichten entgegengesetzt werden können. Die Grundrechte selbst dürfen daher auch nicht in eine Pflicht umgedeutet werden. Es besteht insbesondere keine Pflicht, überhaupt von einem Grundrecht positiv Gebrauch zu machen (z. B. eine Meinung zu äußern oder einer Religion anzugehören) – im Sinne einer „Grundrechtspflicht“.129 Vielmehr gehört zum Schutzbereich der Grundrechte auch die negative Dimension, sodass auch die „Grundrechtsabstinenz“ 130 eine Form geschützter Freiheitsausübung darstellt, gleichsam das Recht auf Passivität. Darunter fällt dann im Bereich politischer Meinungsbildung insbesondere auch die Freiheit zur Indifferenz, also die Freiheit, dem politischen Geschehen fern zu bleiben. Daraus ergibt sich dann insgesamt ein Recht, dem ganzen politischen System gleichgültig gegenüber zu stehen. Diese negative Grundrechtsdimension ist allgemein anerkannt131 und verbietet die Herleitung einer Pflicht zur Inanspruchnahme eines speziellen Grund125 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (23). 126 Hans H. Klein, Über Grundpflichten, Der Staat 14, S. 153 (157 f.); vgl. auch schon Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 174. 127 Josef Isensee, Die verdrängten Grundpflichten des Bürgers – ein grundgesetzliches Interpretationsvakuum, DÖV 1982, 609 (614). 128 Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, Der Staat 20, S. 161 (162). 129 Herbert Bethge, Die verfassungsrechtliche Problematik der Grundpflichten, JA 1985, 249 (253). 130 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (23). 131 Vgl. statt vieler ausführlich Detlef Merten, Negative Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, § 42.
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rechts. Es besteht demnach keine Pflicht, eine Ehe einzugehen (Art. 6 Abs. 1 GG), an einer Demonstration teilzunehmen (Art. 8 GG), Eigentum zu erwerben (Art. 14 GG) oder einen Beruf auszuüben (Art. 12 GG). Freiheit kann mithin sowohl im Tun als auch im Unterlassen bestehen.132 Die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) als „unbenanntes Freiheitsrecht“ 133 schützt infolgedessen in ihrer negativen Dimension das „NichtsTun“ schlechthin, sodass jegliche Pflichtenbegründung – jedenfalls zu einem äußeren Verhalten – in ihren Schutzbereich eingreift. Dogmatisch betrachtet liegt damit in jeder Pflichtbegründung eine schon in Art. 2 Abs. 1 GG selbst angelegte Konkretisierung seiner Schranken im Rahmen der „verfassungsmäßigen Ordnung“. Eine korrespondierende unbenannte Grundpflichtenposition würde schon diesem in Art. 2 Abs. 1 GG normierten Rechtsgedanken widersprechen, wonach grundsätzlich jeder tun und lassen kann, was er möchte, sofern eben kein verfassungsgemäßes Schrankengesetz entgegensteht. Aus der Einschränkbarkeit der allgemeinen Handlungsfreiheit durch die „verfassungsmäßige Ordnung“, worunter jedes verfassungskonforme Gesetz zu verstehen ist134, wird die allgemeine Rechtsgehorsamspflicht – also die Pflicht, ebendiese (Schranken-)Gesetze zu befolgen – abgeleitet.135 In Korrelation zur Befugnis des Staates, dem Bürger Rechtsbefehle zu erteilen, muss es nämlich eine Pflicht des Bürgers geben, solche Normen zu befolgen, die unter Beachtung der verfassungsmäßigen Grenzen seine grundrechtlichen Freiheiten beschränken. Die Rechtsgehorsamspflicht ist damit das „notwendige Korrelat der Gewährleistung der Grundrechte durch den Verfassungsstaat“.136 Anders wären die im Grundgesetz selbst angelegten Schrankenvorbehalte völlig wirkungslos. Die Gehorsamspflicht ist „apriorische Bedingung“ 137 der Wirksamkeit von Normbefehlen schlechthin, sodass sie sich als Kehrseite der Staatsgewalt darstellt.138 Ohne Gehorsam gegenüber den staatlich gesetzten Normbefehlen wäre eine funktionsfähige Staatsgewalt nämlich gar nicht denkbar, sie wäre de facto gar keine Ge132 Herbert Bethge, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, NJW 1982, 2145 (2147). 133 Herbert Bethge, Die verfassungsrechtliche Problematik der Grundpflichten, JA 1985, 249 (254). 134 BVerfGE 6, 32. 135 Vgl. Otto Depenheuer, Solidarität und Freiheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 194 Rn. 44. 136 Herbert Bethge, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, NJW 1982, 2145 (2150). 137 Hasso Hofmann, Grundpflichten und Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2000, § 114 Rn. 20 [„apriorische Bedingung der Verfassungsstaatlichkeit“]. 138 Vgl. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 89, der aber die „freie Gehorsamsbereitschaft“ zu einer wesentlichen Bedingung für die Funktionsfähigkeit der Staatsgewalt erklärt, sodass Zwang nur im Einzelfall eingesetzt werden muss.
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walt. Sofern also eine Norm wirksam ist – was nach der grundgesetzlichen Ordnung von ihrer Verfassungskonformität abhängt – besteht demnach auch die Pflicht zu ihrer Befolgung. Auf der Ebene des Rechtsgehorsams kommt die Unterscheidung zwischen Handeln und Denken wieder zum Tragen. Die Pflicht zum Rechtsgehorsam erschöpft sich nämlich in der reinen Normbefolgung und muss nicht von einem entsprechenden Rechtsbewusstsein getragen sein. Zwar darf die Schaffung von Rechtsbewusstsein durchaus intendiertes Ziel einer staatlichen Normsetzung sein, jedoch kann dieses weder kontrolliert noch zwangsweise durchgesetzt werden. Allein das rechtsförmig verlangte Verhalten selbst kann erzwungen werden. Allerdings darf der Staat mit dem Erlass eines Gesetzes die Hoffnung verbinden, dass es auch aus einer Haltung der inneren Zustimmung heraus und nicht bloß auf Grund von Sanktionsandrohungen befolgt wird. Schließlich funktioniert der Rechtsstaat maßgeblich durch die überwiegend freiwillige Befolgung von Gesetzen, will man nicht – wie es plakativ heißt – hinter jeden Bürger einen Polizisten stellen.139 Dennoch kommt es in letzter Konsequenz nicht entscheidend darauf an, ob der Bürger die Norm auf Grund innerer Zustimmung zu ihrem Inhalt, wegen allgemeiner Bereitschaft zum bedingungslosen Rechtsgehorsam oder aber aus bloßer Angst vor Sanktionen befolgt. Zudem kann ein einfaches Gesetz in einer Demokratie gar nicht den Anspruch erheben, immerwährende Akzeptanz in der Bevölkerung zu genießen, da es der jederzeitigen Aufhebbarkeit im Wege eines demokratischen Verfahrens unterliegt. Das Demokratieprinzip erfordert denknotwendig, dass es bereits unter Geltung des alten Konzepts gegenläufige Meinungen gab, die auf seine Abschaffung gerichtet sind. Der Staat kann daher nicht etwa auf die innere Zustimmung zum gesetzgeberischen Konzept bestehen. Damit bleibt jedem Bürger die demokratisch notwendige und verfassungsrechtlich verankerte Möglichkeit, auf die Abschaffung dieser (noch) geltenden Rechtsnormen hinzuwirken. Solange sie aber formale Geltung haben, müssen sie befolgt werden. Durch einfaches Gesetz darf der Staat daher zwar Einfluss auf die Gesinnung nehmen, aber allenfalls als Rechtsreflex, sodass die Zustimmung zu bestimmten Wertentscheidungen nicht der einzige intendierte Zweck der Regelung sein darf. Im Grundgesetz finden sich allerdings dem Wortlaut nach eine Reihe von „Pflichten“, namentlich die Erziehungspflicht (Art. 6 Abs. 2 GG), die Wehrpflicht (Art. 12 a GG) sowie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 GG). Auch die allgemeine Schulpflicht ist im Zusammenhang mit Art. 7 GG anerkannt.140 Allerdings bedürfen diese Pflichten der gesetzlichen Konkretisierung141, 139
Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 34. Vgl. etwa BVerfG, NJW 1987, 180. 141 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (23). 140
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da sie anders als durch Rechtsnormen nicht wirksam werden können. Bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer solchen Rechtsnorm, die eine solche Pflicht konkretisiert, streitet die verfassungsrechtliche Wertentscheidung für eine Pflicht mit Verfassungsrang, die mit Grundrechten in Ausgleich gebracht werden muss. Damit kann man diese „Grundpflichten“ als einfache Grundrechtsschranken einordnen142, die entweder verfassungsimmanent oder – wie bei der Schulpflicht – mit verfassungsrechtlicher Ermächtigung einfachgesetzlich konkretisiert wurden. Letztlich läuft dies auf eine grundsätzliche Rechtfertigungsbedürftigkeit am Maßstab der Grundrechte hinaus. Allerdings streitet auf der Seite der Grundpflichten ebenso ein Gut von Verfassungsrang, sodass praktische Konkordanz herzustellen ist. Die gesetzliche Begründung von Treuepflichten kann also nur innerhalb verfassungsmäßiger Grenzen erfolgen. Da eine allgemeine Verfassungstreuepflicht dem Grundgesetz gerade nicht zu entnehmen ist, besteht ein erhöhter Rechtfertigungsdruck für den Gesetzgeber. Erschöpft sich eine entsprechende Handlungsanforderung im bloßen Dulden verfassungsschützender Gesetze des Staates, so wäre eine entsprechende Pflicht zur Verfassungstreue nicht mehr als eine konkretisierte Grundrechtsschranke zum Zweck des Verfassungsschutzes. Sollen dem Bürger hingegen darüberhinausgehende positive Treuepflichten – im Sinne einer (echten) Leistungspflicht – auferlegt werden, so müssten sich Anhaltspunkte für einen entsprechenden Verfassungswillen im Grundgesetz nachweisen lassen. Ausdrückliche Vorschriften dazu finden sich nicht, sondern vielmehr einige gegenläufige Hinweise.143 Denn gegen eine positive Verfassungstreue streitet das verfassungsmäßige Recht des Bürgers zur Indifferenz und zur politischen Gleichgültigkeit, die dem freiheitlichen Staat immanent ist. Dieses muss ihn dann gerade auch vor übermäßiger Inanspruchnahme für den Schutz der politischen Ordnung schützen. 5. Schutz der verfassungsfeindlichen Meinung durch die Demokratiegrundrechte Mit der Einordnung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 GG als für die freiheitliche demokratische Grundordnung „schlechthin konstituierend“ 144 werden diese in einen besonderen Rang für die 142 Vgl. Friedhelm Hufen, Staatsrecht II, § 6 Rn. 25, wonach die Erziehungspflicht das Erziehungsrecht oder die Sozialpflicht des Eigentums die Eigentumsfreiheit beschränkt; a. A. Herbert Bethge, Die verfassungsrechtliche Problematik der Grundpflichten, JA 1985, 249 (251 f.). 143 Im Ergebnis ebenso Hasso Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: VVDStRL 41, S. 42 (54 f., insb. 64); vgl. auch Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (26 ff.). 144 Für die Meinungsfreiheit BVerfGE 7, 198 (208); für die Versammlungsfreiheit BVerfGE 69, 315 (344).
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Demokratie erhoben. Festgestellt wurde bereits, dass verfassungsfeindliche Parteien verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Die folgenden Überlegungen knüpfen daran an. Es wird nun gezeigt, dass nicht nur kollektive Verfassungsfeindlichkeit durch das Grundgesetz geschützt wird. Vom Schutzbereich der Art. 5 und 8 GG sind nämlich auch die verfassungsfeindliche Meinung und Versammlung erfasst. Die nachfolgenden Überlegungen legen dar, was die Verfassung mit diesem umfassenden Schutzniveau zum Ausdruck bringt: Es ist für eine Demokratie wesensnotwendig, dass sie ihren Feinden auf der Kommunikationsebene umfänglichen Schutz gewährt. a) Freiheit zur Ablehnung der Wertordnung Das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Bürger eine weitgehende Freiheit zur Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu, indem es konstatiert: „Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Die Bürger sind grundsätzlich auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen oder die Änderung tragender Prinzipien zu fordern.“ 145 Die Freiheit der Ablehnung geht also über die „Erwartung“ der Verfassung146 hinaus und gesteht dem Einzelnen damit mehr zu, als die Verfassungsordnung insgesamt zu ertragen imstande wäre. Die Existenz einer solchen Freiheitsordnung basiert also konkret auf dem Vertrauen in die Berechtigung der „Erwartung, da[ss] der Einzelne seine demokratische Freiheit im Dienst des Gemeinschaftswesens ausüben werde, von dessen Zukunft sein eigenes Los abhängt“.147 Insoweit vertraut die Demokratie in ihre Selbsterhaltungskraft. Das Recht zur Ablehnung wird hier in Beziehung zum Demokratieprinzip gesetzt, wenn das Gericht feststellt: „Die plurale Demokratie des Grundgesetzes vertraut auf die Fähigkeit der Gesamtheit der Bürger, sich mit Kritik an der Ver-
145 BVerfG, NJW 2009, 908 (909) – Hervorhebung durch den Verfasser; vgl. auch BVerfG, NJW 2001, 2069 (2070). Insoweit wurde die Rechtsprechung aus BVerfGE 28, 36 (48) revidiert oder zumindest richtiggestellt. Dort heißt es noch: „Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Demokratie, die von ihren Bürgern eine Verteidigung der freiheitlichen Ordnung erwartet und einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen diese Ordnung nicht hinnimmt.“ Zu einer Auflösung dieses Spannungsverhältnisses mit Blick auf den Begriff der „Erwartung“ Theodor Maunz, Die gegenwärtige Gestalt des Grundgesetzes, BayVBl 1979, 513 (517). 146 Vgl. zum Begriff der „Verfassungserwartung“ ausführlich Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (285 ff.). 147 Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 49 (93).
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fassung auseinander zu setzen und sie dadurch abzuwehren.“ 148 Die Auseinandersetzung mit den Feinden der Verfassung soll vorrangig auf der Kommunikationsebene stattfinden. Daher wird grundsätzlich auch die verfassungsfeindliche Meinung durch das Grundgesetz geschützt, um allen am Diskurs Beteiligten „Waffengleichheit“ zu verbürgen. Insoweit wird aber zugleich auch deutlich, dass die Verfassung auf eine positive Verfassungstreue eines Großteils der Bürger setzt. Wenn die Verfassung auf der Ebene der Demokratiegrundrechte die verfassungsfeindliche Meinung schützt und damit Verfassungstreue gerade nicht verbindlich vorschreibt, so vertraut sie im selben Moment also darauf, dass die verfassungsfeindliche Meinung sich nicht durchsetzt und von der demokratischen Mehrheit „im Zaum gehalten“ werden kann. Treue wird also nicht verbindlich eingefordert, sondern ganz ihrem etymologischen Ursprung entsprechend voll Vertrauen erwartet. Von der Weisheit, dass Vertrauen gut, Kontrolle aber besser sei, lässt sich der freiheitliche Staat des Grundgesetzes also nicht leiten. Vertrauen ist vielmehr das Prinzip seiner Existenzweise, der Bestand des Staates damit immer prekär. Das nimmt das Grundgesetz in Kauf. Garantiert werden soll in prozeduraler Hinsicht durch Art. 5 und 8 GG allerdings eine umfassende, aber freie, faire und gleichberechtigte politische Auseinandersetzung in der Sache. Eine solche gehört nämlich zur Funktionsfähigkeit der Demokratie so wesensnotwendig dazu, dass darauf nicht verzichtet werden kann, ohne die Demokratie insgesamt in Frage zu stellen. b) Die Wunsiedel-Entscheidung und das Verbot der Standpunktdiskriminierung Die bisher dargestellte Rechtsprechung stellte die individuelle Freiheit in den Vordergrund. Im Gegensatz dazu wurde die Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts149 zum Ausgangspunkt verfassungsrechtlicher Streitigkeiten über die Grenze des Schutzes verfassungsfeindlichen Gedankenguts durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Betont wurde jedoch auch darin eingangs in Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung, dass durch Art. 5 Abs. 1 GG die Meinungsäußerung unabhängig von ihrem Inhalt geschützt ist. Daher spielt es keine Rolle, „ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“.150 Der Staat ist damit im Grundsatz zur Neutralität bezüglich des Meinungsinhalts angehalten.151 Auch in dieser Entscheidung wurde erneut hervorgehoben, dass auch solche Meinungen vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG erfasst sind, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen“, und 148 149 150 151
BVerfG, NJW 2009, 908 (909). BVerfG, NJW 2010, 47–56. BVerfGE 90, 241 (247). Vgl. BVerfG, NJW 2010, 47 (49), Rn. 56.
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der Staat insoweit auf die „Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe [. . .] gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“ vertraut.152 Grundsätzlich soll durch das aus dem Allgemeinheitserfordernis des Art. 5 Abs. 2 GG abgeleitete Verbot meinungsspezifischen Sonderrechts jegliche Standpunktdiskriminierung untersagt werden.153 Eine solche liegt dann vor, wenn „eine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet“.154 Darunter werden vor allem politische [. . .], religiöse [. . .] oder weltanschauliche [. . .] Grundpositionen [– oder Standpunkte –]“ 155 verstanden. Unter Hinzuziehung des Rechtsgedankens von Art. 3 Abs. 3 GG ist es daher verboten, einzelne Meinungen gegenüber anderen zu diskriminieren.156 Dennoch wurde § 130 Abs. 4 StGB, der die Störung des öffentlichen Friedens durch Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellt, als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen, obwohl sich die Norm ausdrücklich nur gegen eine bestimmte Meinung richtet. Begründet wurde dies mit der Interpretation des Grundgesetzes als „Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“.157 Dogmatisch wurde eine dem Grundgesetz immanente Ausnahme vom Erfordernis des „allgemeinen Gesetzes“ nach Art. 5 Abs. 2 GG angenommen, der die Meinungsneutralität von Gesetzen sicherstellen soll.158 Dieser dogmatische Weg lässt die Schutzbereichsebene bewusst unangetastet. Der Beschluss ändert also nichts an der Meinungsneutralität des Grundgesetzes, sondern geht selbst davon aus. Trotz dieser ausdrücklich als Ausnahme deklarierten Konstellation stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Grundgesetz „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip [kenne], das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubte“.159 Jedoch gestatte das Grundgesetz zumindest dem einfachen Gesetzgeber durch Schrankenkonkretisierung höchst ausnahmsweise (!) dann eine Standpunktdiskriminierung, wenn sie sich gegen eine ganz bestimmte Meinung, namentlich die 152
BVerfG, NJW 2010, 47 (49), Rn. 50. Mathias Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70, S. 73 (115). 154 BVerfG, NJW 2010, 47 (49), Rn. 57. 155 BVerfG, NJW 2010, 47 (50), Rn. 58. 156 BVerfG, NJW 2010, 47 (50), Rn. 59. 157 BVerfG, NJW 2010, 47 (51), Rn. 65. 158 BVerfG, NJW 2010, 47 (51), Rn. 64. 159 BVerfG, NJW 2010, 47 (51), Rn. 67. 153
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Propagierung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, richtet. Eine solche immanente „partielle Schrankenerweiterung“ wirft trotz des betonten singulären Charakters die Frage auf, ob diese allein auf den Anwendungsfall des § 130 Abs. 4 StGB beschränkt bleiben kann, wenn man sich der Argumentationsfigur des „Gegenentwurfs“ erst einmal bedient hat. Vielmehr könnte sich das Gegenentwurf-Argument dogmatisch auch auf anderen Ebenen160 auswirken (z. B. Schutzbereichsverkürzungen) oder auf andere Konstellationen (z. B. Versammlungsverbote) übertragen lassen. So besteht die Gefahr, eine argumentative Stütze in allen Fällen zu finden, in denen der Gesetzgeber inhaltlich gegen nationalsozialistische Meinungsäußerungen oder gar Gesinnungen vorgehen will161, was zu einem vom Bundesverfassungsgericht nicht intendierten „einseitigen Verfassungstreuevorbehalt“ zu Lasten nationalsozialistischer Meinungsinhalte führen würde. Zwar ordnet das Grundgesetz selbst einen solchen Vorbehalt nicht an, da der Schutzbereich grundsätzlich auch nationalsozialistische Propaganda umfasst, jedoch würde es so dem Gesetzgeber „erlaubt“, bestimmte negative Treueanforderungen in Gestalt verbaler Unterlassungspflichten anzuordnen. Dass der Gesetzgeber etwas verbieten kann, was das Grundgesetz grundsätzlich erlaubt, ist der grundrechtlichen Dogmatik selbstverständlich immanent und daher für sich gesehen noch nichts Neues; schließlich ist allein durch Art. 2 Abs. 1 erst einmal „alles“ erlaubt und jedes Verbot damit ein Grundrechtseingriff. Es widerstrebt jedoch dem von den Demokratiegrundrechten intendierten Prinzip der „Waffengleichheit“ im politischen Diskurs und dem in Art. 5 Abs. 2 GG normierten Grundsatz der Meinungsneutralität des Staates, wenn hier zu Ungunsten bestimmter Meinungsinhalte überhaupt eine Ausnahme gemacht wird, deren grundrechtsdogmatische Einordnung und methodische Herleitung noch dazu einmalig bleiben.162 Denn selbst die Einschränkbarkeit der Meinungsfreiheit durch Art. 5 Abs. 2 GG in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit befreit nicht vom Gebot der Standpunktneutralität, welches damit gerade keiner Abwägung unterliegt.163 160 Vgl. Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (418), wonach die Auswirkungen auf die Schrankenebene und nicht schon auf den Schutzbereich „nicht ohne Weiteres klar oder zumindest begründungsbedürftig“ sind. 161 Vgl. zum singulären Charakter dieser Ausnahme vom Sonderrechtsverbot Mathias Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70, S. 73 (118 ff.) mit Zitaten aus dem BVerfG-Beschluss, die zeigen, dass auch das Gericht nicht von einer Verallgemeinerbarkeit der Argumentationsfigur ausging. 162 Mathias Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70, S. 73 (118) [„radikale[s] Abweichen von der herkömmlichen Dogmatik des Art. 5 GG“, „kaum in gewohnten grundrechtsdogmatischen Kategorien fassbar“]. 163 Mathias Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70, S. 73 (117).
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Das Gegenentwurf-Argument selbst könnte man sogar für die entgegengesetzte Position fruchtbar machen. Es lässt sich auch so interpretieren, dass das Grundgesetz als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus gerade auf jegliche Vorgaben an den Meinungsinhalt verzichten wollte, um sich damit von der gängigen undemokratischen Praxis der NS-Diktatur gegen deren Feinde abzugrenzen. Eine Demokratie, die ihre Bestandserhaltung maßgeblich dem freien politischen Diskurs anvertraut, kann doch nicht ausgerechnet auf dieser Kommunikationsebene Einschränkungen vornehmen, indem sie bestimmte Standpunkte verbietet. Jede Ausnahme durchbricht hier die Freiheitlichkeit und ihren Geltungsanspruch durch ihre vollumfängliche Gewährleistung. Daher hätte das Bundesverfassungsgericht die Ausgangsfeststellungen über die Schutzbereichserstreckung auf verfassungsfeindliche Meinungen konsequenterweise nicht auf der Schrankenebene wieder relativieren sollen. Auch überzeugt das historische Argument im Hinblick auf die Einzigartigkeit des Unrechtsregimes nach so langer Zeit in einer stabilen freiheitlichen Demokratie ohnehin nur noch bedingt.164 c) Das Problem der hetzerischen Kampfrede („hate speech“) Die Meinungsfreiheit unterliegt demnach gemäß Art. 5 Abs. 2 GG den Schranken der „allgemeinen Gesetze“, sodass über diese der Verfassungsschutz Eingang finden und eine Grenze der Meinungsfreiheit bilden kann. Jedoch muss das Gesetz einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden, in welcher die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie besondere Berücksichtigung zu finden hat. Hierbei müsste der Gesetzgeber besonders begründen, warum die konkrete Meinungsäußerung eine tatsächliche Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellt. Dabei gilt konsequenterweise, dass auch kollidierendes Verfassungsrecht durch ein Schrankengesetz nur in standpunktneutraler Weise konkretisiert werden darf.165 Die bloße Verfassungsfeindlichkeit einer Meinung selbst reicht dafür dann eben nicht aus, da diese – wie vom Bundesverfassungsgericht mehrfach hervorgehoben – gerade zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit gehört. Daher kommt es darauf an, dass „Rechtsgüter Einzelner oder Schutzgüter der Allgemeinheit erkennbar gefährde[t]“ 166 werden. Insbesondere wurde in der Ent164 Mathias Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70, S. 73 (119); vgl. auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten? – Grundsatzüberlegungen zum Gebot rechtsstaatlicher Toleranz, NJW 2004, 2777 (2782) [„In über 50 Jahren ist der Rechtsstaat des Grundgesetzes stark genug geworden, um sich auch gegenwärtig zuzutrauen und zutrauen zu dürfen, seine Garantien unparteiisch auf alle zu erstrecken.“]. 165 Mathias Hong, Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, ZaöRV 70, S. 73 (117). 166 BVerfG, NJW 2010, 47 (52), Rn. 74.
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scheidung zur Bochumer Synagoge in einem Fall des „inhaltsbezogenen Versammlungsverbots“ herausgestellt, dass „Ermächtigungen zur Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten nicht an die Gesinnung, sondern an Gefahren für Rechtsgüter [anknüpfen], die aus konkreten Handlungen folgen“.167 Damit muss auch hier die Demokratie – insbesondere auf der Kommunikationsebene – bis zur Schwelle ihrer konkreten Gefährdung alles aushalten. Eine solche Schwelle zur tatsächlichen Gefahr könnte durch die hetzerische Kampfrede (sog. „hate speech“) überschritten sein, da diese darauf aus ist, die reine Kommunikationsebene hin zur Agitation und zum Handlungsantrieb zu verlassen und daher den Kampf nicht mehr allein durch das Mittel des politischen Diskurses auszutragen beabsichtigt. Insoweit wird durch das Grundgesetz eben vorrangig die „Freiheit zur geistigen Auseinandersetzung“ – oder plakativer eine „Geistesfreiheit“ 168 – geschützt. Das Bundesverfassungsgericht trennt strikt zwischen einer „rein geistigen Sphäre des Für-Richtig-Haltens“ und der „Sphäre des Äußerlichen“.169 Dabei muss jedoch bedacht werden, dass jede Meinungsäußerung ein Eintreten in die letztgenannte Sphäre bedeutet, da sprachphilosophisch in jedem Sprechen ein Handeln liegt.170 Die rein geistige Wirkung einer Meinung als solche ist aber nicht imstande, konkrete Rechtsgüter der Grundordnung zu gefährden, da das „geistige Klima“ 171 für sich gesehen noch nicht dazu gehört. Dieses wäre im Übrigen auch kein allgemein und unabhängig von der Verletzbarkeit durch Meinungsäußerungen geschütztes Rechtsgut, da das „geistige Klima“ typischerweise nur durch Meinungsäußerungen verletzt wird.172 Damit ist die Anknüpfung allein an den geistigen Gehalt einer Meinung nicht von der Schranke des „allgemeinen Gesetzes“ gedeckt. Der bloße Schutz des „geistigen Klimas“ ist daher kein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriffsgrund.173 Die rein geistige Ebene wird jedoch verlassen, sofern darauf abgezielt wird, damit den aktiven – und nicht rein diskursiven – Kampf zu eröffnen. Bei der Kampfrede geht es nämlich mehr um die durch ihre agitative Art und Weise hervorgebrachte Gefahr einer Realisierung des Gewaltaufrufs, die der rein geistigen Äußerung nachfolgt.174 Ihr Inhalt besteht unabhängig vom Standpunkt – also der 167
BVerfGE 111, 147 (159) unter Verweis auf BVerfGE 25, 44 (58). Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (419). 169 BVerfG, NJW 2010, 47 (52), Rn. 74. 170 Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (419). 171 Vgl. Norbert Ullrich, Das Demonstrationsrecht – Im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und öffentlicher Sicherheit, S. 348. 172 Norbert Ullrich, Das Demonstrationsrecht – Im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und öffentlicher Sicherheit, S. 348. 173 BVerfGE 124, 300 (334). 174 Vgl. Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam 168
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politischen Richtung, aus der die Meinung kommt – darin, andere zur Gewalt gegen bestimmte angefeindete Personengruppen aufzuhetzen; ähnlich wie es zum inhaltlichen Kerngehalt einer Beleidigung gehört, die Ehre eines anderen zu verletzen. Daher fällt der Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB mit seinen Handlungsalternativen des Aufstachelns zum Hass175 und der Aufforderung zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen ganz eindeutig in diese Kategorie. Bei der strafrechtlichen Sanktionierung der Volksverhetzung geht es daher um einen „vorgelagerten Rechtsgüterschutz“.176 Zudem ist die Norm standpunktunabhängig formuliert und ist daher im Gegensatz zu § 130 Abs. 4 StGB verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn auch die Bewertung und Einordnung einer hetzerischen Kampfrede erfolgt auf der grundrechtsdogmatischen Schranken- und Rechtfertigungsebene durch ihre spezifische Güterabwägung. Das Aufhetzen gefährdet nämlich konkrete Rechtsgüter, was durch das einfache Äußern einer verfassungsfeindlichen Meinung – auch die Billigung des Nationalsozialismus – noch nicht geschieht. Einfache Äußerungen müssen daher vorrangig durch geistige Auseinandersetzung „bekämpft“ werden. Ein Verbot ist nicht angezeigt. Je mehr ein staatlicher Eingriff die reine Gesinnung betrifft und je weniger dieser auf eine nach außen gerichtete Rechtsgutsgefährdung abstellt, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung.177 Zwar ist es im Grunde für jede politische Meinungsäußerung wesenstypisch, auf Handlungswirksamkeit abzuzielen178, jedoch geschieht dies im von Art. 5 Abs. 1 GG vorgesehenen Fall mit „ideellen Mitteln sachlicher Überzeugung“ 179 einer Mehrheit innerhalb eines de-
und Verfassungsschutz, S. 11 (18) mit einer Abgrenzung zwischen bloßer Äußerung und gefährdender Bestrebung nach Gesichtspunkten der Sprechakttheorie (vgl. dazu John R. Searle, Sprechakte, S. 48 ff.). Danach dürfe erst der performative Gehalt einer Äußerung Maßnahmen des Verfassungsschutzes nach sich ziehen, nicht bereits ein rein propositionaler Gehalt. Diese Abgrenzung lässt sich auf die Unterscheidung der bloß propositionalen Kritik (= einfache Meinungsäußerung) von der performativen „hate speech“ mit ihrem Anstiftungs- und Aufforderungscharakter (= verbotene Meinungsäußerung) übertragen. 175 Vgl. zum Tatbestandsmerkmal „Aufstacheln zum Hass“ Matthias Krauß, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Band 5, StGB-Kommentar, § 130 Rn. 38, wonach die damit verbundene emotionale Einwirkung „auf die Erzeugung oder Steigerung von Hassgefühlen anderer angelegt“ ist. Sie muss als „Grundlage für Aktionen gegen die betroffene Bevölkerungsgruppe“ in Betracht kommen. 176 BVerfGE 124, 300 (335). 177 Helmut Reisnecker, Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und die Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, S. 134 spricht von einem „ungeistigen Außenerfolg“ einer Meinungsäußerung als Kriterium für eine erhöhte Einschränkbarkeit. 178 Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (419). 179 Kurt Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, S. 651 (661).
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mokratischen Verfahrens und nicht durch Aufstacheln von Menschen zu Hass und Gewalt. Damit werden dann eben über die ideelle Meinungsäußerung hinaus materielle Rechtsgüter verletzt oder zumindest unmittelbar gefährdet.180 Unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit sind Einschränkungen in solchen Fällen möglich. Legitimer Zweck gesetzgeberischer Tätigkeit ist dabei der Anspruch aller Menschen auf gleiche Achtung und Respekt als Konkretisierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Im Rahmen der Angemessenheit wird auch unter Berücksichtigung der Wechselwirkungslehre181 der Meinungsfreiheit des „Kampfredners“ oder „Hasspredigers“ wohl keine allzu große Schutzwürdigkeit zu bescheinigen sein, da seine Rechte durch das Verlassen der Ebene rein geistiger Auseinandersetzung in ihrer Bedeutung für die Demokratie kaum noch ins Gewicht fallen. Dies gilt in standpunktneutraler Weise für Kampfreden aus jedem politischen Lager. Denn die hetzerische Rede ist nicht das Mittel der freiheitlichen Demokratie, die vielmehr auf dem Überzeugen einer Mehrheit mit dem Ziel der parlamentarischen Umsetzung beruht. Insoweit wird ähnlich wie bei Fällen der Schmähkritik182 die Abwägung bei einer Gefährdung der Grundordnung durch eine hetzerische Meinungsäußerung regelmäßig zu Ungunsten des Kampfredners auszufallen haben. d) Vertrauen auf die Bewährung demokratischer Gesinnung Wenn es der Demokratie nicht gelingt, die Bürger zu bändigen, die im Wege der freien Meinungsäußerung ohne Einsatz hetzerischer Kampfreden oder gar aktiv-kämpferischer Handlungen eine verfassungsfeindliche Einstellung verbreiten, dann ist auch dies das Risiko, von dem Böckenförde183 sprach. Diesbezüglich vertraut das Grundgesetz darauf, dass es nicht zu einer entsprechenden Mehrheit kommt. Es ist aber gerade deswegen notwendig, jegliche Meinung am Diskurs vollumfänglich teilhaben zu lassen, damit sich die „demokratiefreundliche“ Meinung in diesem bewähren kann. Dies wäre nicht möglich, wenn man die Feinde von vornherein vom Diskurs fernhalten würde. Solche Meinungen blieben durch ihr Verbot im Verborgenen und könnten nicht im offenen demokratischen Prozess widerlegt werden.184 Eine Auseinandersetzung mit ihren Ansich180 Vgl. Kurt Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Anschütz/ Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, S. 651 (661). 181 Dazu statt vieler Jörn Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, Rn. 487 ff. 182 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juni 2016 [„ausnahmsweise keine Abwägung“; „Meinungsfreiheit regelmäßig hinter dem Ehrenschutz zurücktreten wird“]; vgl. auch BVerfGE 82, 43 (51); 93, 266 (294). 183 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 60 [„das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“]. 184 Vgl. den Hinweis bei Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, S. 111, dass wir „die Gegner der Demokratie dadurch anerkennen [müssen], dass wir Gründe für die Demokratie liefern“.
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ten sowie eine Verfestigung der Mehrheitsmeinung durch demokratische Bewährungsleistung würden so verhindert. Der Staat kann allerdings die Meinungsbildung durch entsprechende gegenläufige Aufklärungskampagnen zu Gunsten der Demokratie beeinflussen und insoweit am Diskurs aktiv teilnehmen. Dabei darf er allerdings nur als „Verfechter der Freiheit“ in Erscheinung treten und muss sich dabei an die Grenzen seiner ethischen Neutralitätspflicht halten. Er ist damit gewissermaßen ein „ungleicher Diskursteilnehmer“. Zudem darf er sich nicht spezifisch hoheitlicher Mittel (z. B. Verbote, rechtliche Benachteiligungen) bedienen, um die freie Meinungsäußerung gezielt zu beeinträchtigen. Hier verweist das Bundesverfassungsgericht neben dem bürgerschaftlichem Engagement im freien Diskurs auf die staatliche Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäß Art. 7 GG.185 Es muss zwischen demokratiefördernder Einflussnahme, zu der der Staat kraft seines Verfassungsschutzauftrages verpflichtet ist, und unverhältnismäßigem Eingriff in die Meinungsfreiheit, der ihm verboten ist, unterschieden werden. Staatliche Erziehung durch Schule oder das stets mit einem Gesetz mitverfolgte Ziel der Erzeugung von Rechtsbewusstsein186 stellen im Gegensatz zur strafrechtlichen Sanktionierung bestimmter Meinungsäußerungen keine Verkürzung von Rechten dar. Denn eine nicht mit rechtlicher Zwangswirkung ausgestattete Einflussnahme auf die Gesinnung – wie dies bei staatlicher Schulbildung etwa geschieht – überschreitet noch nicht notwendig die Schwelle zum Eingriff. Gelingt dem Staat die Verhinderung einer revolutionären Mehrheit nicht, so hat er noch die Maßnahmen der wehrhaften Demokratie als ultima ratio in der Hinterhand. Aber auch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine demokratische Ordnung jederzeit durch eine neue, gegebenenfalls postdemokratische Ordnung ersetzt werden könnte.187 e) Ausnahme für Ausländer? Zum Deutschen im Sinne des Art. 116 GG existiert denknotwendig ein Gegenbegriff. § 1 AufenthG bezeichnet „jede[n], der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist“ als Ausländer. Dies wirft die Frage auf, ob auch hinsichtlich des Schutzes verfassungsfeindlicher Ausübung der Meinungsund Versammlungsfreiheit Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern bestehen. Wird also der Ausländer im Gegensatz zum Deutschen vom Grundgesetz 185
BVerfG, Beschluss vom 04. November 2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 50. Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, NJW 2010, 417 (419) zieht diese Parallele als Beispiel dafür, dass der Staat sich in gewissen Grenzen sehr wohl für die Gesinnung seiner Bürger interessiert. 187 Gerd Roellecke, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, DÖV 1978, 457 (457) geht davon aus, dass auch unserer Ordnung ein solches Schicksal nicht erspart bleibt. 186
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in eine besondere Verantwortung gezogen, die erhöhte Anforderungen an die Verfassungstreue an diesen rechtfertigen? Angesichts des Treuebekenntnisses im Einbürgerungsrecht entsteht der Eindruck, dass Ausländer zumindest in bestimmten Bereichen erhöhte Treue aufzubringen haben. Denn das Bekenntnis wird von einem Ausländer – nicht von einem Deutschen – verlangt. Das Migrationsrecht wird von Daniel Thym durch einen „Prozess des Statuswandels“ 188 charakterisiert, bei dem die Einbürgerung den Endpunkt der Stellung als Ausländer und den Beginn der Stellung als Staatsbürger markiert.189 Dies wirft die Frage auf, ob sich die Veränderungen der Anforderungen prozedural („Prozess“) – also sukzessive mit dem weiteren Fortschreiten der Aufenthaltsdauer – oder punktuell mit dem Statuswechsel („des Statuswandels“) – also ipso iure durch den Akt der Einbürgerung – vollziehen. Zunächst muss erneut daran erinnert werden, dass das Grundgesetz mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit eine Person vollumfänglich als Deutschen behandelt. Insoweit macht der Erwerbsgrund – wie oben bereits dargelegt – keinen Unterschied.190 Das Grundgesetz kennt auch keine Vorstufe zur Staatsangehörigkeit, sondern nur Deutsche und Nicht-Deutsche. Dies spricht zunächst gegen eine prozedurale Entwicklung der Anforderungen an Ausländer in der Zeit vor der Einbürgerung. Insbesondere beim „Deutschengrundrecht“ der Versammlungsfreiheit wird deutlich, dass das Grundgesetz die kollektive Meinungsäußerung in Gestalt von Versammlungen als demokratischen Kommunikationsakt originär denjenigen zuweist, die zum Staatsvolk gehören und ihren Willen effektiv im Wege des Wahlakts in die staatliche Sphäre einbringen können. Für individuelle Meinungsäußerungen bleibt dem Ausländer der spezielle Schutz von Art. 5 Abs. 1 GG. Eine kollektive Einflussnahme auf die politische Willensbildung scheint dem Grundgesetz offenbar für Ausländer nicht spezifisch schützenswert, da die Willensbildung eben – auch außerhalb des Wahlaktes – beim Volk liegen soll.191 Die Versammlungsfreiheit ist eben „Ausdruck der Volkssouveränität und demgemäß als demokratisches Bürgerrecht zur aktiven Teilnahme am politischen Prozeß“ zu verstehen.192
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Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 7. Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 7. 190 Vgl. B. V. 2. 191 Vgl. aber den wichtigen Hinweis von Helmut Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2000, § 120 Rn. 94, wonach die Versammlungsfreiheit auf einfachgesetzlicher Ebene ein Jedermann-Recht ist. Verfassungsrechtlich ist die Versammlung von Ausländern insoweit durch das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG gedeckt. 192 BVerfGE 69, 315 (343). 189
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Jedoch kann dieser Konzeption keine erhöhte Anforderung im Hinblick auf Verfassungstreue entnommen werden, da die zentralen Gesichtspunkte eines Rechts zur verfassungsfeindlichen Äußerung gerade aus der auch für Ausländer geltenden Meinungsfreiheit abgeleitet wurden. Da es sich bei der Meinungsfreiheit um ein Jedermann-Grundrecht handelt, haben Ausländer grundsätzlich ebenso wie Deutsche das Recht, eine verfassungsfeindliche Meinung zu haben und zu äußern. Art. 5 GG sind insoweit kein abweichenden Schutzbereiche zu entnehmen. Die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit oder die Berufsfreiheit etwa gelten im Gegensatz dazu nur für Deutsche, während sich Ausländer für die entsprechenden Betätigungen auf die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht berufen müssen.193 Der Umstand, dass das Grundgesetz die Meinungsfreiheit nicht nur den Deutschen vorbehalten hat, spricht dafür, keine Unterschiede im Schutzbereich zu machen. Aber gilt das auch für die Schranken des Grundrechts? Im Hinblick auf die politische Betätigung von Ausländern lässt die Existenz von § 47 AufenthG – geht man von seiner Verfassungskonformität aus – entgegen den bisherigen Feststellungen vermuten, dass die Anforderungen an Ausländer eben doch strenger ausgestaltet werden können. Danach kann die politische Betätigung – wozu auch Meinungsäußerungen, aber auch Versammlungen zählen – für Ausländer unter bestimmten ordnungsrechtlichen Voraussetzungen beschränkt oder untersagt werden. Ein bedeutsamer Untersagungsgrund ist dabei die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder das Widersprechen gegen die kodifizierten Normen des Völkerrechts (vgl. § 47 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Die Verfassungskonformität einer solchen Norm könnte man darauf zurückführen, dass die Schranken für beide Personengruppen unterschiedlich ausgestaltet werden dürfen.194 Nach Karl Doehring sei eine solche Regelung195 durch Art. 25 GG gerechtfertigt, wonach die allgemeinen Regeln des Völkerrechts unmittelbar Rechte und Pflichten für die Bewohner des Bundesgebiets erzeugen.196 Diese Inkorporation der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in die Verfassung deutet er als Anordnung des Grundgesetzes, nichts zu tun, was das Völkerrecht den Staaten verbietet. Der unterschiedliche Pflichtenkanon wird hier mit der Differenzierung zwischen
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Vgl. Wolfram Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 8 Rn. 50. Vgl. dazu Karl Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 7 (38 ff.). 195 Er bezog sich allerdings auf die entsprechende Vorgängerregelung des § 6 Ausländergesetz in der Fassung vom 28. April 1965, wonach die politische Betätigung unter anderem dann „unerlaubt [war], wenn sie [. . .] mit dem Völkerrecht nicht vereinbar ist [oder] die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet“. 196 Karl Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 7 (38 f.). 194
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Staatsangehörigen und Fremden (womit im Völkerrecht Ausländer gemeint sind) begründet. Die Regelung der Beziehung eines Staates zu seinen eigenen Bürgern wird dem Staat selbst überlassen. Die Frage hingegen, was Ausländer in einem Staat – also etwa in Deutschland – tun dürfen, ist völkerrechtlich determiniert.197 Damit kann durch Art. 25 GG zumindest gerechtfertigt werden, warum Ausländer sich völkerrechtsgemäß zu verhalten haben. Danach darf das Individuum nichts tun, was den Staaten selbst völkerrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen untersagt ist, wie etwa die Intervention in innerstaatliche Angelegenheiten.198 Diese Pflicht wird dann dogmatisch als Schranke des Grundrechts eingeordnet.199 Diese besondere Verantwortung von Ausländern gegenüber dem Völkerrecht findet aber gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes selbst keine Entsprechung. Art. 25 GG könnte nur dann eine besondere Treuepflicht von Ausländern gegenüber Deutschland begründen, wenn es eine entsprechende allgemeine Regel des Völkerrechts geben würde, wonach der Aufenthalt in einem Staat zur besonderen Treue verpflichtet. Diese Frage wird aber als Ausfluss ihrer Territorialhoheit gerade den Staaten selbst überlassen. De lege lata sind für eine solche Regelung jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich. Daher bleibt es gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei den allgemeinen Anforderungen, wie sie auch für Deutsche gelten. § 47 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verdeutlicht dies insbesondere auch durch die Differenzierung zwischen den Handlungsmodalitäten „gefährden“ und „widersprechen“. Bezüglich der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann erst eine (konkrete) Gefährdung ein behördliches Eingreifen überhaupt rechtfertigen. Das reine Widersprechen gegen die Grundordnung reicht – im Gegensatz zu den „kodifizierten Normen des Völkerrechts“ – gerade nicht aus. In Ansehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips muss aber der Begriff der „Gefährdung“ hier so eng ausgelegt werden, dass er eine Intensität erreicht, die auch für Staatsbürger einen Grundrechtseingriff rechtfertigten würde. Allein eine verfassungsfeindliche Äußerung oder Zielsetzung kann daher nicht ausreichen. Dies beruht vor allem auf dem Umstand, dass das Grundgesetz die Meinungsfreiheit als Jedermann-Grundrecht ausgestaltet hat. Die Anforderungen an die Verfassungstreue von Ausländern unterscheiden sich daher in der aktuellen Fassung des Grundgesetzes nicht von der staatsbürgerlichen Verfassungstreue.200 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gesetzgeber 197 Karl Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 7 (39). 198 Karl Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 7 (39). 199 Karl Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32, S. 7 (39). 200 Vgl. Erhard Denninger, Integration und Identität. Bitte um etwas Nachdenklichkeit, KJ 2001, 442 (445) mit der Forderung, dass die Loyalitätsanforderungen gegenüber Ausländern nicht stärker sein dürfen als gegenüber Staatsangehörigen.
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nicht durch gerechtfertigte Eingriffe oder der verfassungsändernde Gesetzgeber durch eine Grundgesetzänderung hiervon de lege ferenda abweichen könnten. Eine positive Verfassungstreue, die auf aktive Förderung der Verfassungsordnung abzielt, dürfte aber dem temporären Charakter des Ausländerstatus201 ohnehin nicht entsprechen. Warum sollte ein Ausländer, dessen Status ohnehin nur zeitlich begrenzt ist oder zumindest auf jederzeitige Aufenthaltsbeendigung hin angelegt ist, für den Bestand der deutschen Verfassungsordnung in Anspruch genommen werden? Wenn schon der mit dauerhafter Bindung ausgestattete Staatsbürger eine solche Anforderung nicht zu erfüllen hat, leuchtet eine entsprechende Anforderung an den Ausländer jedenfalls nicht ein. Die negative Verfassungstreue in Gestalt der Pflicht zur Unterlassung der aktiv-kämpferischen Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist dagegen schon fast eine Selbstverständlichkeit. 6. Schutz des verfassungsfeindlichen Glaubens Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Zeugen Jehovas müssen Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts werden wollen, rechtstreu sein.202 Ferner müssen sie die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die fundamentalen Verfassungsprinzipien nicht gefährdet.203 Die entscheidende Feststellung des Urteils lautet aber, dass die Religionsgemeinschaften eine über diese Anforderungen hinausgehende Loyalität zum Staat gerade nicht schulden.204 Dies leitet das Gericht daraus ab, dass das Wirken der Religionsgemeinschaften von der grundrechtlichen Freiheit des Art. 4 GG geprägt ist.205 Eine wesentliche Komponente der Religionsfreiheit ist es nämlich, dass der Grundrechtsträger selbst darüber bestimmt, wie er den Freiheitsraum ausfüllt. Damit ist aber in der Tat eine Loyalitätsanforderung nicht vereinbar. Dies gilt vor allem, soweit damit Forderungen bestimmter innerer Dispositionen verbunden sind, durch die Gesinnungen und nicht mehr nur äußeres Verhalten geregelt werden sollen.206 Die Grenzziehung zwischen „innerer Gesinnung“ und „äußerer Handlung“ wird hier deutlich erkennbar. Gerade bei der Glaubensfreiheit spielt das forum internum, also die innere Haltung zu bestimmten Wertfragen, eine herausgeho-
201 Vgl. dagegen zur Beständigkeit der Staatsangehörigkeits-Beziehung Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 232–235 [„sein Domizil auf Dauer zumindest angelegt“ (S. 235)]. 202 BVerfGE 102, 370 (390). 203 BVerfGE 102, 370 (392). 204 BVerfGE 102, 370 (395). 205 BVerfGE 102, 370 (395). 206 BVerfGE 102, 370 (395).
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bene Rolle.207 Glauben meint nämlich die subjektive Überzeugung bezüglich einer Religion oder Weltanschauung208, welche beide insbesondere Antworten auf die Fragen nach dem guten Leben geben wollen.209 Die Glaubensfreiheit schützt sowohl das innere Haben als auch das äußere Bekenntnis des Glaubens sowie das Recht, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten“.210 Der jeweilige Inhalt der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen wird nicht von der Verfassung vorgegeben, sondern durch das Selbstverständnis der Gläubigen bestimmt.211 Daher unterliegt der Glaubensinhalt und seine Praktizierung gerade keinem „Verfassungsverträglichkeitsvorbehalt“.212 Er muss weder einen verfassungstreuen Inhalt haben, noch darf er durch den Staat auf Verfassungstreue überprüft werden.213 Es wird nur Rechtsgehorsam sowie ein Verzicht auf aktiv-kämpferische Agitation gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verlangt. Im Ergebnis ergibt sich auch hier nur die Anforderung einer negativen Verfassungstreue. Die Glaubensfreiheit unterliegt damit auch der grundsätzlichen Einschränkbarkeit durch den Staat in den verfassungsrechtlichen Grenzen. Selbstverständlich kann glaubensgeleitetes Handeln unter dem Gesichtspunkt kollidierenden Verfassungsrechts beschränkt werden.214 Das kann aber nur durch konkrete verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter – etwa auch die freiheitliche demokratische Grundordnung, soweit diese konkret gefährdet ist – gerechtfertigt werden. Eingriffsgrund kann aber nicht allein fehlende Verfassungstreue des Glaubensinhalts sein, der zu der Handlung motiviert hat.215 Der Staat wird hier vor besondere Herausforderungen gestellt, etwa wenn eine Religion bestimmte Werthaltungen zum Gegenstand hat oder gewisse Praktiken verlangt, die mit den Grundwerten der Verfassung in keiner Weise – auch nicht bei wohlwollender Auslegung – vereinbar sind. Er muss aber stets zwischen bloßem Glaubensinhalt und glaubensgeleitetem Handeln unterscheiden. Nur im Bereich des äußeren Handelns 207 Vgl. zur Gedankenfreiheit Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 4 Rn. 34. 208 Ute Mager, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 12. 209 Ute Mager, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 13. 210 BVerfGE 32, 98 (106). 211 BVerfGE 83, 341 (353 ff.). 212 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (28). 213 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (15). 214 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (17). 215 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (17).
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können überhaupt andere Verfassungsgüter von Relevanz durch die Religionsausübung verletzt werden. Der Glaubensinhalt als solches geht den Staat nichts an. Diese Unantastbarkeit des Glaubensinhalts führt zum Gebot weltanschaulichreligiöser Neutralität des Staates216, dem auch unter dem Grundgesetz eine besondere Bedeutung zukommt. Es wird aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG217 bzw. aus Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV i.V. m. Art. 140 GG dogmatisch hergeleitet.218 Ideengeschichtlich ist das Gebot infolge eines Prozesses der Säkularisierung und Individualisierung entstanden. Es gebietet insgesamt eine Zurückhaltung im staatlichen Einfluss auf die Religion. Soweit es dem Staat generell untersagt ist, bestimmte Konzeptionen guten Lebens besonders zu fördern219 oder sich mit speziellen persönlichen (ethischen) Wertsystemen zu identifizieren, kann mit Stefan Huster umfassender von der „ethischen Neutralität des Staates“ 220 gesprochen werden. Die Neutralitätspflicht verlangt vom Staat insbesondere, „sich gegenüber den geistigen Inhalten von Religionen und Weltanschauungen neutral zu verhalten“.221 Daraus folgt zum einen ein Verbot der Identifikation mit sowie ein Gebot der Gleichbehandlung von bestimmten Religionen und Weltanschauungen.222 Eingriffe in die Glaubensfreiheit müssen daher stets „glaubensneutral“ erfolgen und dürfen nicht an den „geistigen Gehalt“ einer Religion oder Weltanschauung anknüpfen, insbesondere auch dann nicht, wenn dieser mit der Verfassung nicht in Einklang steht.223 Insoweit erinnert der Grundsatz an das Gebot der Meinungsneutralität, wonach der geistige Gehalt einer Meinung grundsätzlich kein Anknüpfungspunkt staatlicher Eingriffe sein darf. Das Gleichbehandlungsgebot verbietet also die Diskriminierung bestimmter Religionen durch staatliche Maßnahmen – insoweit die Herleitung aus Art. 3 GG – vergleichbar mit dem Verbot der Standpunktdiskriminierung bei der Meinungsfreiheit. Der Schutz der Glaubensfreiheit geht im Vergleich zur Meinungsfreiheit jedoch weiter. Dogmatisch wird dies schon dadurch erkennbar, dass Art. 18 GG keine Verwirkung der Glaubensfreiheit vorsieht und sie zudem nicht unter der 216
BVerfGE 19, 206 (216). BVerfGE 93, 1 (16 f.). 218 BVerfGE 108, 282 (300). 219 Vgl. Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 5 ff., 47 ff., 98. 220 Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 12. 221 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (15). 222 Ute Mager, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 3. 223 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (15). 217
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Schranke der allgemeinen Gesetze steht.224 Ein gewichtiger Unterschied liegt aber vor allem im Verbot der Identifikation.225 Danach ist der Staat über das Verbot der Diskriminierung bestimmter Religionen und Weltanschauungen hinaus auch gehalten, sich selbst nicht mit solchen Glaubensinhalten zu identifizieren, welche ihren Ursprung in einer Religion oder Weltanschauung haben. Die Meinungsneutralität hingegen verbietet es dem Staat nicht, selbst bestimmte Werturteile – also „Meinungen“ – zu vertreten, sofern sie ihren Ursprung in der staatlichen Wertordnung haben. Der Staat darf sich in ethischen Fragen also gar nicht einmischen und hat eine Einflussnahme auf die Gesinnung des Bürgers zu unterlassen. Im politischen Diskurs hingegen darf der Staat eine demokratiefreundliche Haltung offen einnehmen. Dies ist kraft seines Verfassungsschutzauftrages sogar seine Pflicht. Die vom Staat „vertretenen“ und verteidigten Werte dürfen eben nur nicht den Charakter einer Religion und Weltanschauung mit ihrem Ganzheits- und Wahrheitsanspruch annehmen.226 Damit wird zugleich eine Aussage über den Gehalt dieser Wertordnung getroffen, nämlich, dass diese sich in einem Minimalgehalt für die staatliche Ordnung erschöpft und keine Vorgaben für ein gutes Leben für die Bürger machen darf. Insoweit beschränkt sich die umfassende (ethische) Neutralität in Gestalt eines Gebotes der Nicht-Identifikation nur auf die Identifikation mit einer Religion, Weltanschauung oder sonstigen ethischen Konzeptionen guten Lebens. Der Staat darf solche Konzeptionen nicht in das von ihm verkörperte Wertsystem internalisieren und diesbezüglich erst recht keine Treueanforderungen aufstellen.
III. Verfassungstreue und Schulpflicht An kaum einem Ort ist der (junge) Bürger dem staatlichen Wertvermittlungseinfluss stärker ausgesetzt als in der Schule. Denn die nach Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat obliegende Aufsicht über das gesamte Schulwesen hat weitreichende Folgen für den Bürger. Schließlich wird daraus ein allgemeiner Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates abgeleitet227, mit dem die allgemeine Schulpflicht des 224 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (16). 225 Vgl. zum Identifikationsverbot BVerfGE 30, 415 (421 ff.); näher dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 178 ff., der von einem „Gebot der Nicht-Identifikation“ spricht, aber in der Sache wohl dasselbe meint; vgl. auch Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 237 [„Der ,Moderne Staat‘ darf sich mit keiner Besonderheit identifizieren. Die Gesellschaft ist die Sphäre der Besonderheiten, dorthin sind sie vom Staat zu verweisen“]. 226 Vgl. zur „Totalität“ als Abgrenzungsmerkmal religiös-weltanschaulicher von anderen Überzeugungen Michael Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 14. 227 BVerfGE 93, 1 (21); vgl. auch Michael Bothe, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, in: VVDStRL 54, S. 7 (17 ff.).
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(jungen) Bürgers korreliert.228 Diese setzt dem Recht des Bürgers, sich einer Konfrontation mit staatlicher Bildung und Erziehung zu entziehen, eine klare Grenze.229 Sie begrenzt auch das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG.230 Damit tritt der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag neben die elterliche Erziehungsverantwortung.231 Da neben dem auf geistige Entwicklung der Persönlichkeit durch Vermittlung technischer Kenntnisse und Fähigkeiten abzielenden Bildungsauftrag auch von einem Erziehungsauftrag gesprochen wird, geht die Reichweite über die reine Wissensvermittlung hinaus.232 Erziehung beschreibt die „Beeinflussung der allgemein menschlichen Entwicklung durch die Vermittlung von Werten und Handlungsanweisungen“.233 Damit obliegt dem Staat neben dem Wissens- eben auch ein Wertvermittlungsauftrag. Die Schulpflicht hat somit eine besondere Tragweite, da sie eine Pflicht des Bürgers impliziert, die Vermittlung bestimmter Werte durch den Staat zu dulden. Diese Duldungspflicht geht so weit, wie der Wertvermittlungsauftrag des Staates reicht. Dieser wiederum muss zum einen begrenzt sein durch die Grundrechte des Einzelnen und zum anderen durch das Gebot der ethischen Neutralität des Staates. Insbesondere wird die Grenze der Wertvermittlung überschritten bei Indoktrination, die bei einer gezielten „Beeinflussung oder Agitation im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung“ stattfindet.234 Inhalt der vermittelten Werte muss vielmehr die Verfassung und ihre Wertordnung sein, da der Sinn und Zweck des staatlichen Erziehungsauftrags darin besteht, die Schüler dazu zu befähigen, „selbstverantwortlich in diesem politischen System zu leben“.235 Insoweit prägt insbesondere das Demokratieprinzip die Inhalte der Erziehungsziele.236 Schwerpunkt staatlicher Werterziehung muss nämlich die Vermittlung derjenigen Grundeinstellungen sein, die für
228
Sigrid Boysen, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 7 Rn. 39. Vgl. zum Verbot von „home schooling“ BVerwG Buchholz 421 Nr. 133. 230 Sigrid Boysen, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 7 Rn. 39. 231 Gerhard Robbers, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 7 Rn. 81; wohl mehr für eine Gleichordnung BVerfGE 34, 165 (165) [„gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule“]; deutlicher bei BVerfGE 47, 46 (72) [„Der allgemeine Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet.“]. 232 Gerhard Robbers, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 7 Rn. 80. 233 Peter M. Huber, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, BayVBl. 1994, 545 (545). Vgl. Thomas Oppermann, Schule und berufliche Ausbildung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl. 2001, § 135 Rn. 4. 234 Gerhard Robbers, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 7 Rn. 39. 235 Gerhard Robbers, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 7 Rn. 35. 236 Gerhard Robbers, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 7 Rn. 35. 229
III. Verfassungstreue und Schulpflicht
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die Erfüllung der staatsbürgerlichen Anforderungen in einer Demokratie notwendig sind.237 Die Fragen der persönlichen Lebensführung sowie religiös-weltanschauliche Erziehung sind hingegen den Eltern vorbehalten.238 Insoweit begrenzt das Neutralitätsgebot nicht nur die Duldungspflicht des (jungen) Bürgers, sondern grenzt auch den staatlichen vom elterlichen Erziehungsauftrag ab. Jedoch bedeutet dies nicht, dass der Staat jeden religiösen oder weltanschaulichen Bezug im Schulbereich gänzlich zu vermeiden hätte. Vielmehr soll er gerade entsprechend einer positiven Wertvermittlung den Raum für die gläubigen Schüler schaffen, den eigenen Glauben auch in diesem Kontext zu leben.239 Teilweise wird aus Art.7 GG im Hinblick auf die Erteilung von Religionsunterricht sogar eine positive und übergreifende Neutralität abgeleitet, kraft derer der Einzelne in einer von ihm selbst gewählten Religion aktiv gefördert wird.240 Der durch diesen Raum für eigene Glaubensüberzeugungen vermittelte Wert besteht dabei in dem positiven Aufzeigen von Glaubensfreiheit und Toleranz, die eben von den Schülern nicht nur theoretisch verstanden, sondern auch positiv erlebt werden sollen.241 Der Staat darf die Glaubensinhalte jedoch nicht in ihm zurechenbarer Weise zum Gegenstand der eigenen Wertvermittlung machen. Soweit der Staat die dargelegten Grenzen einhält, ist der Bürger dazu verpflichtet, die Wertvermittlung durch den Staat in der Schule zu dulden. Das bedeutet allerdings nicht, dass er auch die Pflicht zu Identifikation mit den vermittelten Werten hat. Insoweit kann für den Bürger in der Schule nämlich nicht weniger gelten als aus den Demokratiegrundrechten und dem Recht auf Religionsund Weltanschauungsfreiheit folgt, deren Träger er auch in der Schule ist.242 Er muss sich nur mit bestimmten (Minimal-)Werten konfrontieren lassen und dulden, dass diese in dem Staat, in dem er lebt, als richtig gelten und von staatlicher Stelle auch als richtig vermittelt werden.
237 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Elternrecht – Recht des Kindes – Recht des Staates. Zur Theorie des verfassungsrechtlichen Elternrechts und seiner Auswirkung auf Erziehung und Schule, in: Krautscheidt/Marré (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 14, S. 54 (84 ff., insb. 86). 238 Sigrid Boysen, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 7 Rn. 43. 239 Vgl. BVerfGE 52, 223 (241). 240 Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen?, S. 20 – Fußnote 34. 241 Vgl. Siegfried Schiele, Gibt es noch Werte?, in: APuZ 34–36, S. 15 (17), wonach Werte nicht allein gelehrt, sondern vorgelebt werden müssen [„exempla trahunt“]. 242 Insoweit wurde die Rechtsprechung vom besonderen Gewaltverhältnis, wonach die Grundrechte unter anderem in der Schule für die Schüler als besondere Gewaltunterworfene keine Geltung haben, durch die Strafgefangenenentscheidung (BVerfGE 33,1) aufgegeben.
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E. Verfassungstreue im Grundgesetz
IV. Sonstige Anhaltspunkte für Verfassungstreue im Grundgesetz 1. Würde des Menschen und Bekenntnis zu den Menschenrechten in Artikel 1 Absatz 1 und Absatz 2 Grundgesetz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – dies wird gemeinhin als ein für alle Gewaltunterworfenen verbindlicher Leitsatz verstanden, der im Gegensatz zu den Grundrechten ganz allgemein – mit Ausnahme von Art. 9 Abs. 3 GG – unmittelbare Verpflichtungswirkung für Privatpersonen hat.243 In erster Linie jedoch handelt es sich bei Art. 1 GG um den zentralen Handlungsauftrag an den Staat. Die Formulierung von der „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) ist insofern eindeutig staatsbezogen. Genau diese staatliche Achtungs- und Schutzpflicht ist es, von der hier schon mehrfach die Rede war. Für die Wahrung der Menschenwürde als zentralem Grundwert der verfassungsmäßigen Wertordnung ist zuvörderst der Staat zuständig, nicht seine Bürger. Denn die Menschenwürde umfasst gerade auch das Recht zur Selbstbestimmung, die der Staat den Bürgern nimmt, wenn sie sich einem fremdbestimmten Freiheitskonzept zu unterwerfen hätten. Allein die Menschenwürde anderer hat jeder Mensch äußerlich hinzunehmen. Der Staat muss insofern nur sicherstellen, dass jedem Individuum diese Selbstbestimmung gleichermaßen möglich ist. Dies schließt den Schutz derjenigen persönlichen Werthaltungen ein, zu denen die Menschen durch ihre selbstbestimmte Entscheidung gelangt sind. Diese gehören zu ihrem „individuellen Personsein [. . .] untrennbar“ dazu.244 2. Treue zur Verfassung in Artikel 5 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Eindeutiger kann Verfassungstreue kaum angeordnet werden. So zumindest scheint es auf den ersten Blick. Dennoch wird Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG in der vorliegenden Abhandlung an so unscheinbarer Stelle und nur kurz abgehandelt. Der Grund dafür liegt darin, dass es sich bei dieser Norm entgegen dem ersten Eindruck gerade nicht um die Anordnung staatsbürgerlicher Verfassungstreue handelt. Vielmehr führt die Norm ein „Schattendasein“ 245, da sie nur auf das enge An243 BVerfGE 24, 119 (144) [„Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren“]. 244 Hartmut Kreß, Selbstbestimmungsrecht und Toleranz – zwei Seiten einer Medaille. Mit einem Ausblick auf Probleme der Toleranz im kirchlichen Arbeitsrecht und beim islamischen Religionsunterricht, in: Babke (Hrsg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, S. 81 (85). 245 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (24).
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wendungsfeld der Wissenschaftsfreiheit – in concreto der Lehre – begrenzt ist.246 Da politische Agitation ohnehin nicht unter die Lehrfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fällt247, stellt sich die Frage nach ihrem Anwendungsbereich. Hintergrund dieses Zusatzes ist die Erfahrung mit der Weimarer Republik, wonach Wissenschaftler von den Universitäten aus Versuche unternahmen, den Staat zu unterwandern.248 Ziel ist die Vermeidung von Äußerungen, die die Demokratie unter dem Deckmantel der Wissenschaft verächtlich zu machen versuchen und damit in Wahrheit gar keine Wissenschaft, sondern Politik sind.249 Daher hat die Norm diesbezüglich deklaratorischen Charakter, da sie die Grenze dort setzt, wo ohnehin der Begriff der Wissenschaft gar nicht mehr erfüllt ist.250 Zudem kann man ihr im Anwendungsfeld der Wissenschaftsfreiheit auch einen konstitutiven Gehalt zusprechen. Verfassungskritik ist der Lehre zwar erlaubt, jedoch wird die Lehre diesbezüglich in besonderer Weise auf die Treue zur Verfassung verpflichtet, sodass unter Umständen eine Relativierung normativer Aussagen verlangt wird.251 Während diese besondere Treueanforderung für beamtete Professoren mit den Mitteln des Beamtenrechts durchgesetzt werden kann, bedarf es bei Privatpersonen mangels anderer Instrumentarien eines Rückgriffs auf Art. 18 GG, sofern die Lehrfreiheit „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht“ wird.252 Unterhalb dieser Schwelle bleibt es wohl bei einer „sanktionslosen Missbilligung des Verstoßes gegen die Verfassungstreue“.253 Die Norm bringt jedoch erkennbar eine Treueerwartung an die Lehrenden zum Ausdruck. Es handelt sich nämlich um das einzige Grundrecht, für das die Forderung der Verfassungstreue überhaupt aufgestellt wird. Im Wege eines Umkehrschlusses kann dadurch für die anderen Grundrechte geschlossen werden, dass diese einer entsprechenden Einschränkung gerade nicht unterliegen. Dies bestätigt den bisherigen Befund. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Wissenschaft auf Wahrheitsfindung hin angelegt ist und ihr politische Wertaussagen grundsätzlich fremd sind, war eine Treueklausel im Grundgesetz in diesem Zusammenhang gar nicht mal so dringlich wie es bei der Meinungs- oder Versammlungsfreiheit gewesen wäre. Denn letztere deckt gerade auch „unkritische, 246 Vgl. Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (24) [„sehr spezifische [. . .] Treueklausel“]. 247 Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 5 Rn. 358 [„unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 oder des Art. 21 Abs. 1“]. 248 Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 5 Rn. 427. 249 Vgl. Klaus-Berto Doemming/Rudolf Werner Füsslein/Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR NF, Band 1, S. 92 [„verhindern, dass unter dem Vorwand wissenschaftlicher Kritik vom Katheder aus eine hinterhältige Politik betrieben werde“]. 250 Vgl. Ulrich Scheuner, Pressefreiheit, in: VVDStRL 22, S. 1 (8 f.). 251 Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 5 Rn. 428. 252 Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 5 Rn. 428 f. 253 Christian Starck, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 5 Rn. 429.
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eilige und sogar leichtfertige Äußerungen [. . .]“ 254, die oftmals „Ausdruck persönlicher Lebensführung und zugleich als Mittel aktiver Teilhabe am politischen Leben erschein[en] “.255 Dort hat das Grundgesetz auf einen Vorbehalt der Treue jedoch offenbar verzichtet, obwohl hier die Verpflichtung auf die Verfassungstreue näher gelegen hätte. Dies kann demnach wohl kaum ein Versehen gewesen sein. Vielmehr soll nur Verfassungsfeindlichkeit unter dem Deckmantel der Wissenschaft mit ihrem immanenten Wahrheits(findungs-)anspruch vermieden werden. Dort, wo der Wertcharakter einer Aussage aber offen zutage tritt und wo eine Wertaussage eben nicht im Schleier einer wissenschaftlichen Wahrheit daherkommt, will das Grundgesetz auf Verfassungsfeindlichkeit gerade nicht mit einem Urteil der Missbilligung reagieren, sondern sie als Teil des politischen Diskurses gleichberechtigt akzeptieren. 3. Wehrpflicht in Artikel 12 a Grundgesetz Nach Art. 12 a Abs. 1 GG können „Männer [. . .] vom vollendeten achtzehnen Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“ (Wehrpflicht). Es handelt sich dabei nach allgemeiner Ansicht um eine verfassungsrechtliche Grundpflicht256, die auf die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung zurückzuführen ist.257 Als solche wird sie eben auch als „Ausdruck einer pflichtengebundenen Zugehörigkeit des einzelnen zum demokratisch-freiheitlichen Staat“ 258 verstanden. In einem ersten Reflex könnte man gerade deshalb aus dieser Norm einen gewichtigen Anhaltspunkt dafür erkennen, dass die Verfassung vom Einzelnen einen aktiven persönlichen Einsatz für den Staat und damit auch die verfassungsmäßige Ordnung fordert. Insofern mag es verwundern, dass diese Norm in den vorliegenden Überlegungen nur am Rande erwähnt wird. Ein Grund ist darin zu sehen, dass die Norm keine verfassungsunmittelbare Grundpflicht enthält259, sondern noch einfachgesetzlich konkretisiert und aus254
Ulrich Scheuner, Pressefreiheit, in: VVDStRL 22, S. 1 (9). Ulrich Scheuner, Pressefreiheit, in: VVDStRL 22, S. 1 (9). 256 Volkmar Götz, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: VVDStRL 41, S. 7 (23); Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, Art. 12 a Rn. 11. 257 Roman Schmidt-Radefeldt, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 12 a Rn. 1. 258 Roman Schmidt-Radefeldt, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 12 a Rn. 1. 259 Ferdinand Kirchhof, Verteidigung und Bundeswehr, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 84 Rn. 81; vgl. auch BVerfGE 69, 1 (54) [„Heranziehung zum uneingeschränkten Wehrdienst [. . .] wäre [. . .] mit Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG unvereinbar“ – Hervorhebung im Original]. 255
IV. Sonstige Anhaltspunkte für Verfassungstreue im Grundgesetz
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gestaltet werden muss.260 Sie berechtigt vielmehr den Staat unmittelbar, vom Grundrechtsadressaten ein bestimmtes positives Verhalten zu fordern.261 Damit enthält sie eine Einschränkung grundrechtlicher Freiheit.262 Vereinzelt wird sogar gefordert, die einzelnen wehrpflichtbezogenen Eingriffe am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen.263 Damit kann man sie dogmatisch problemlos in die oben264 ausgeführte Grundrechtsschranken- bzw. Grundpflichtendogmatik einordnen. Zudem manifestiert sich in ihr keine allgemeine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Bürgers zur Verfassungstreue. Vielmehr hat sie primär die Verteidigung des Staates gegen Feinde von außen im Blick und weniger den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gegen revolutionäre Umsturztendenzen. Landesverteidigung soll den Staat primär in seiner äußeren Souveränität schützen und nicht den materiellen Gehalt seiner inneren Wertordnung. Allerdings ist es durchaus richtig, dass die Wehrhaftigkeit des Staates – zumindest mittelbar – auch die freiheitliche Grundordnung schützen soll.265 Jedoch handelt es sich bei der Norm in Zusammenschau mit den anderen Verfassungsnormen eher um eine Ausnahme. Innerhalb des Grundrechtskatalogs erscheint sie sogar als Fremdkörper. Sie wendet sich von der grundsätzlichen Maßgabe ab, dass der Grundrechtsträger sein Handeln nicht an den Interessen des Staates auszurichten hat. Zwar ist die Wehrpflicht nach weit überwiegender Auffassung verfassungskonform.266 Dennoch gibt es vereinzelt Stimmen, die einen Verstoß gegen verschiedene Grundrechte annehmen.267 Es sollte schon eine Überlegung wert sein, ob es einem freiheitlichen Verfassungsstaat so problemlos möglich sein kann, den Einzelnen zum Einsatz des eigenen Lebens „zum Schutz der Würde und Freiheit Dritter“ 268 zu verpflichten.269 Zweifel daran dürfen jedenfalls erlaubt sein.
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Vgl. näher dazu BVerfGE 48, 127 (161) [„Grundentscheidung aktualisiert“]. Thorsten Ingo Schmidt, Grundpflichten, S. 36. 262 Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, Art. 12 a Rn. 11. 263 Jörn Axel Kämmerer, in: Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 12 a Rn. 3. 264 Vgl. unter II. 4. 265 Vgl. Ferdinand Kirchhof, Verteidigung und Bundeswehr, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 84 Rn. 81 [„zur Sicherung der Verfassungsordnung“]. 266 Kyrill-Alexander Schwarz, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 12 a Rn. 15. 267 Hans-Ernst Böttcher, Weg von den staatlichen Zwangsdiensten – Hin zu freiwilligen gesellschaftlichen Diensten, ZRP 1998, 399 (399) nennt das Recht auf Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person und die Berufsfreiheit; vgl. Dieter Deiseroth, Verfassungswidrigkeit der allgemeinen Wehrpflicht, NJ 1999, 635 (635 ff.). 268 Kyrill-Alexander Schwarz, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 12 a Rn. 15. 269 Grundlegend Christian Grimm, Allgemeine Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 66 ff., 110 f. 261
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Selbst wenn durch die Wehrpflicht die Bürger für die Verteidigung des Staates und damit auch seiner Wertordnung rekrutiert werden, so gilt dies nur für den dort eng umgrenzten Anwendungsbereich. Die Existenz dieser Norm belegt damit, dass es einer ausdrücklichen Verfassungsnorm bedarf, um die Bürger überhaupt in diesem Sinne für die Staatsverteidigung in Anspruch zu nehmen. Eine solche Ausnahme bestätigt die Regel, dass eine derartige Inanspruchnahme des Bürgers im Übrigen nicht dem Leitbild der Verfassung entspricht. Die Implementierung einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für eine staatsbürgerliche Verfassungstreue enthält die Norm daher nicht. 4. Verfassungsschutz in Artikel 87 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz Die Verfassungsschutztätigkeit wird vom Grundgesetz durch die Ermächtigung zur Einrichtung entsprechender Behörden zur „Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und des Schutzes gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden“ (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG), legitimiert. Auf Grundlage dieser Vorschrift wurde das Bundesamt für Verfassungsschutz eingerichtet und mit den genannten Aufgaben betraut.270 Der Bund hat diesbezüglich auch die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 b) GG für Regelungen der Zusammenarbeit von Bund und Ländern „zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Verfassungsschutz)“. Mit diesen spezifischen Aufgabenzuweisungen wird die „wehrhafte Demokratie“ um das Element des behördlichen Verfassungsschutzes ergänzt.271 Jedoch arbeiten diese Behörden mit dem Mittel der Beobachtung von Bestrebungen, die sich zu aktiv-kämpferischen Aktivitäten entwickeln können, die dann Anlass zu konkreten Maßnahmen der wehrhaften Demokratie geben.272 Es geht also um „Bestrebungen“ (vgl. Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG), welche die Verfassung als solche bedrohen.273 Damit scheidet auch nach dieser Konzeption der Zugriff auf gefährliche Gesinnungen durch die Mittel des Verfassungsschutzes aus, da „Bestrebung“ begrifflich nur jenes Verhalten meint, das sich irgendwie konkret nach außen manifestiert hat. Damit zeigt das Grundgesetz erneut, dass es keine 270
Martin Burgi, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 87 Rn. 49. Martin Burgi, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 87 Rn. 50. 272 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (14). 273 Hinweis bei Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (17) mit Verweis auf § 4 BVerfSchG. 271
IV. Sonstige Anhaltspunkte für Verfassungstreue im Grundgesetz
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Identifikation mit der Verfassung verlangt, sondern nur dort wachsam ist, „wo geistige Inhalte, die nicht mit der Verfassung vereinbar sind, sich zu Bestrebungen entwickeln, die auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind“.274 Anknüpfungspunkt für ein Tätigwerden ist also nicht die Gesinnung, sondern ein durch diese motiviertes äußeres Verhalten, das der Verfassungsordnung gefährlich werden kann. 5. Verfassungsablösung in Artikel 146 Grundgesetz Gilt das Grundgesetz ewig?275 Die Identitätsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG lässt vermuten, dass die Verfassung von der Unabänderlichkeit ihrer Identität ausging. Dagegen stellt Art. 146 GG ernüchternd fest, dass das Grundgesetz „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ seine Gültigkeit verliert. Da Art. 79 Abs. 3 GG auch zu „diese[m] Grundgesetz“ gehört, stellt Art. 146 GG ein Indiz dafür dar, dass selbst der freiheitliche Kern des Grundgesetzes dem Grunde nach der Abänderbarkeit unterliegt. Art. 146 GG will eine legale Verfassungsablösung ermöglichen, jedoch auf einem bestimmtem von der Norm selbst vorgegebenen Weg276 („von dem deutschen Volk in freier Entscheidung“). Damit verweist das Grundgesetz selbst auf die verfassungstheoretische Unterscheidung von „pouvoir constituant“ und „pouvoir constitué“ 277, wie sie auch schon in der Präambel („kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“) angedeutet wird. Die verfassungsgebende Gewalt („pouvoir constituant“) ist dem positiven Verfassungsrecht vorgelagert und unterliegt demnach grundsätzlich weder materiellen noch prozeduralen Bindungen.278 Die Regelungsabsicht des Art. 146 GG besteht dennoch nicht darin, auf die „Möglichkeit revolutionärer Verfassunggebung“ 279 hinzuweisen. Aus der Binnenperspektive der Verfassung sollten damit vielmehr bestimmte Tatbestands274 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (14). 275 Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat. 276 Axel von Campenhausen/Peter Unruh, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 146 Rn. 7; vgl. Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, S. 93 [„Zweck der Bestimmung [. . .], daß es [. . .] eines Bruches mit der alten Verfassung nicht bedarf“]. 277 Axel von Campenhausen/Peter Unruh, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 146 Rn. 7. 278 Axel von Campenhausen/Peter Unruh, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 3, Art. 146 Rn. 7; vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, S. 16 ff. 279 Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 144.
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E. Verfassungstreue im Grundgesetz
voraussetzungen erfüllt werden, damit das Grundgesetz die Ablösung als legal anerkennt.280 Davon abgesehen erhebt das Grundgesetz allerdings einen unbedingten Geltungsanspruch.281 Dadurch wird die Freiheitlichkeit auch zum Legitimationsgrund potenzieller Nachfolgeverfassungen erklärt. Zumindest im Ursprung muss eine solche Verfassung auf einer freien – also selbstbestimmten – Entscheidung des Volkes beruhen. Über die Verfassungstreue innerhalb des Systems des geltenden Grundgesetzes sagt die Norm hingegen gar nichts aus. Jedoch kann man ihr zumindest den Hinweis entnehmen, dass das Grundgesetz selbst – zwar im Bewusstsein auch der Möglichkeit einer missbilligten Revolution – an der Freiheitlichkeit um jeden Preis festhält. Insoweit drückt das folgende Zitat aus dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die freiheitliche Konzeption des Staates zutreffend aus: „Der Staat ist weder Mythos noch Selbstzweck, sondern die historisch gewachsene, global anerkannte Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft.“ 282 Die Mitglieder der politischen Gemeinschaft bedienen sich des Staates zur Freiheitssicherung. Die politische Gemeinschaft geht also dem Staat voraus. Der Staat ist allein um des Menschen willen da. Der Mensch wiederum ist im Ausgangspunkt frei und nur durch die Freiheit seiner Mitmenschen begrenzt. Staatshandeln darf daher nie zum Selbstzweck verkommen. Es muss stets im Dienst einer Wertordnung stehen, die um der Freiheit der Menschen willen gelten will und nicht um ihrer selbst willen.
280 Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 144. 281 Vgl. Josef Isensee, Schlussbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl. 1992, § 166 Rn. 6 [„Ausnahmetatbestand bestätigt den grundgesetzlichen Anspruch auf Dauer“]. 282 BVerfGE 123, 267 (346).
F. Synthese der Erkenntnisse zu einer Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue Die Zusammenführung der bisherigen Befunde soll resümierend eine Konzeption unterbreiten, wie unter den Maßgaben der Freiheit die Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue aussehen könnten. Sie erhebt keinen Anspruch darauf, vollständig oder selbst – wie der Grundwert der Freiheit – unverhandelbar zu sein. Sie ist nicht mehr als ein Vorschlag, wie der freiheitliche Staat Verfassungstreue ausgestalten kann. Die Konzeption behandelt dabei folgende Fragen: Welches Maß an Treue wird von dem Bürger gefordert? (I.) Welche (normative) Qualität haben die Anforderungen? (II.) Was ist der Gegenstand der geforderten Treue? (III.) Abschließend wird das Forschungsergebnis noch einmal zusammengefasst (IV.).
I. Gefordertes Maß an Treue 1. Modalitäten der Treue Menschliches Verhalten kann sich in aktivem Handeln oder passivem Unterlassen äußern. Gemeinhin wird noch das Dulden als Modalität hinzugenommen. Dieses besteht darin, ein bestimmtes Verhalten eines anderen nicht zu verhindern. Dulden stellt damit eine Unterform des Unterlassens dar, die auf das Verhalten einer anderen Person bezogen ist. Eine weitere Differenzierung kann danach vorgenommen werden, ob das Verhalten in der Außenwelt manifestiert wird. So kann zwischen innerem und äußerem Verhalten unterschieden werden.1 Inneres Verhalten ist typischerweise durch das Haben oder Begründen von Einstellungen und (Wert-)Haltungen gekennzeichnet. Äußeres Verhalten kann sich neben aktivem Tun auch dadurch zeigen, dass innere Einstellungen in Gestalt von Bekenntnissen oder Meinungsäußerungen nach außen treten. Nach den Befunden der vorliegenden Arbeit zeichnet sich zumindest eine grobe Richtung einheitlicher Anforderungen an das Treueverhalten der Staatsbürger ab. Das Erfordernis eines aktiven Eintretens für die Wertordnung kann unter den Prämissen eines freiheitlichen Verfassungsstaates nicht abgeleitet werden. Eine solche positive Verfassungstreue gehört vielmehr zu einer allein den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes – insbesondere den Beamten – vorbehalte1 Vgl. für einen weiten – auch innere Vorgänge erfassenden – Verhaltensbegriff Hagen Hof, Rechtsethologie, Recht im Kontext von Verhalten und außerrechtlicher Verhaltensregelung, S. 3 f.
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F. Synthese der Erkenntnisse
nen Anforderung. Ganz im Gegenteil wurde aus den Grundrechten mitunter sogar das – gegenständlich begrenzte – Recht zur Verfassungsfeindlichkeit herausgearbeitet. Die Erkenntnisse der Arbeit haben ergeben, dass sämtliche Treueanforderungen, die an den Bürger gerichtet sind, in die Kategorie der negativen Treue fallen. Insoweit richten sich an den Bürger allenfalls Duldungs- und Unterlassungspflichten, die wie folgt zusammengefasst werden können: Der Bürger soll zumindest die tatsächliche Gefährdung und Beseitigung der freiheitlichen Wertordnung unterlassen. Die Verteidigung und Sicherung der Freiheit aller erfordert die tatsächliche Geltung der freiheitlichen Ordnung. Ihre Beseitigung ist zugleich ein Angriff auf die Freiheit anderer, die nicht mehr grundsätzlich von der eigenen Freiheit erfasst ist. Daher findet die Freiheit zur Verfassungsfeindlichkeit maximal in dieser Modalität ihre Grenze. Aus der Begrenzung der Freiheit des Einzelnen durch die Freiheit anderer wird zudem eine Duldungsanforderung als Ausprägung der negativen Verfassungstreue abgeleitet. Allgemein wird dem Bürger die Duldung der Konfrontation mit der Wertordnung zugemutet (Konfrontationszumutung). Darunter fällt neben der Geltung als Ordnung insgesamt auch die Duldung der Freiheitsbetätigung anderer. Ferner gehört zur Konfrontationszumutung auch die Duldung der verfassungsschützenden Tätigkeit des Staates. Diese auf das staatliche Gewaltmonopol zurückzuführende Anforderung basiert auf dem Auftrag des Staates zur Verteidigung der Wertordnung, wogegen der Bürger nicht aktiv vorzugehen berechtigt ist. Es umfasst insbesondere das Verbot „gewaltsamer Selbsthilfe“.2 Neben dem klassischen Verfassungsschutz gegen Feinde gehört dazu aber vor allem auch die Duldung der Konfrontation mit den staatlich vermittelten Werten. Diese hat er allerdings nur soweit zu dulden, wie der Wertvermittlungsanspruch des Staates reicht. Daher findet die Duldungsanforderung insbesondere ihre Grenze im Gebot der Neutralität des Staates. Sofern diese Grenzen aber eingehalten werden, kann sich der Bürger der Konfrontation mit staatlicher Erziehung nicht entziehen, was etwa durch das Institut der Schulpflicht praktisch erkennbar wird. Mit den bisherigen Verhaltensmodalitäten wurde allein auf das äußere Verhalten Bezug genommen. Das ist das Ergebnis einer weiteren zentralen Erkenntnis der Arbeit: Das Innere der Person kann nicht von Anforderungen adressiert werden, die eine verbindliche normative Qualität haben. Daher ist die Identifikation mit den Werten des freiheitlichen Verfassungsstaates auch keine „echte“ Anforderung.3 Eine aktive Hinwendung zu freiheitlichen Werten wird vom Bürger daher nicht verlangt. Vielmehr wird ihm ein Recht zur freien Wertbildung gewährt, welche materiell nicht auf die Werte der Freiheitlichkeit begrenzt ist. Das reine 2
Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 189. Vgl. zur normativen Qualität der Anforderungen – auch an die Identifikation – insbesondere unter II. 2. 3
I. Gefordertes Maß an Treue
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forum internum, also die Gedanken- und Gewissensfreiheit, dürfen nicht hoheitlich adressiert werden. Meinungsäußerungen gehen hingegen schon über das forum internum hinaus, da dieses Verhalten andere berühren kann.4 Die Freiheit zur Äußerung ist jedoch „so eng mit der Gedankenfreiheit verknüpft“ 5, dass ein Bedürfnis nach prinzipiell unbegrenztem Schutz besteht.6 Daher wird den Kommunikationsgrundrechten im freiheitlichen Staat besondere Aufmerksamkeit zuteil. Diesen muss grundsätzlich ein weitreichender Schutz eingeräumt werden, sodass die rein verbale Verfassungsfeindlichkeit erst dort ihre Grenze findet, wo andere geschädigt werden.7 Diese Grenze könnte etwa bei der hetzerischen Kampfrede gezogen werden. 2. Stufen der Verfassungs(un)treue Mit Blick auf diese Verhaltensmodalitäten lassen sich verschiedene praktisch bedeutsame Stufen der Verfassungstreue ausdifferenzieren. Diese Abstufungen8 ergeben sich aus der Zuordnung von Verhaltensweisen zu ihrer jeweiligen Stellung, die der Bürger durch diese gegenüber der freiheitlichen Ordnung einnimmt. Als Stufen der Verfassungsuntreue werden nachfolgend die aktive Betätigung gegen die freiheitliche Ordnung, das Bekenntnis gegen die freiheitliche Ordnung sowie die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei betrachtet. Hier wird noch einmal differenziert dargelegt, welche praktisch denkbaren Verhaltensweisen der „Verfassungsuntreue“ oder auch Verfassungsfeindlichkeit dem Bürger erlaubt sein sollen und welche nicht. Die Stufen der Verfassungstreue sind die neutrale Grundhaltung (Indifferenz), das positive Bekenntnis zur freiheitlichen Ordnung, die äußere Übereinstimmung mit der freiheitlichen Ordnung sowie das aktive Eintreten für die freiheitliche Ordnung. Hier erfolgt die Differenzierung noch einmal danach, welche Verhaltensweisen vom Bürger verlangt werden und welche nicht. Aus den unterschiedlichen Verhaltensweisen kann der Staat verschiedene Charakteristika von Personen herausbilden, etwa den aktiven Verfassungsfreund, den bekennenden Verfassungsfreund, den Verfassungsindifferenten sowie den bekennenden Verfassungsfeind oder den aktiven Verfassungsfeind. Aus diesen Einordnungen kann er dann ableiten, welche Maßnahmen ihm bei welcher Personengruppe möglich sind. Die Differenzierung ist demnach eine praktische Zuordnungshilfe. 4
Helmut Steinberger, Konzeptionen und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 203. Helmut Steinberger, Konzeptionen und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 204. 6 Helmut Steinberger, Konzeptionen und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 204. 7 Vgl. auch Helmut Steinberger, Konzeptionen und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 204. 8 Die Abstufungen erfolgen in Anlehnung an Hans-Hermann Schrader, Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, S. 53 ff. 5
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F. Synthese der Erkenntnisse
a) Aktive Betätigung gegen die freiheitliche Ordnung Die Analyse des Verfassungsrechts hat eine grundsätzliche Freiheit zur verfassungsfeindlichen Grundrechtsbetätigung ergeben. Die intensivste Form der Verfassungsfeindlichkeit ist die aktive Bekämpfung der freiheitlichen Ordnung. Revolutionäre Bestrebungen, die noch dazu in aggressiver Weise und mit gewaltsamen Mitteln verfolgt werden, sind der Inbegriff aktiver Verfassungsfeindlichkeit. Ganz unabhängig von der dogmatischen Konstruktion ist aber ausweislich der Ableitungen aus Art. 21 Abs. 2 und Art. 18 GG die äußerste Grenze der von der Verfassung gewährten Freiheit zur Verfassungsfeindlichkeit in der aktiven Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ziehen. Denn sowohl die verfassungsrechtlichen Mechanismen der wehrhaften Demokratie als auch ihre staatsphilosophischen Fundierungen legen nahe, dass die Erhaltung des Bestandes der freiheitlichen Ordnung das höchste Ziel des Verfassungsstaates überhaupt ist. Dieses Ziel wird von dem Auftrag der (Mehrheits-)gesellschaft getragen, dem Wert der gleichen Freiheit aller Geltung zu verschaffen. Dieser ist bei einer tatsächlichen Beseitigung der freiheitlichen Ordnung nicht mehr gewährleistet. Die Bekämpfung der freiheitlichen Ordnung wendet sich aber aktiv gegen dieses Ziel und steht zu diesem in einem unauflösbaren Widerspruch. Daher ist zumindest die aktive Bekämpfung mit gewaltsamen Mitteln dem Staatsbürger untersagt. Als Sonderfall dieser aktiven Bekämpfung kann sogar die hetzerische Kampfrede oder „hate speech“ schon unter diese Kategorie fallen, etwa wenn zu konkreten Gewalttaten mit dem Ziel der Beseitigung der freiheitlichen Ordnung aufgerufen wird. In diesem Fall wird die besonders geschützte kommunikative Sphäre verlassen, sodass der „Kampfredner“ oder „Hassprediger“ seine Schutzwürdigkeit verliert. Grundrechtsdogmatisch fällt daher eine Abwägung mit dem Interesse am Bestand der freiheitlichen Grundordnung regelmäßig zu Ungunsten des Redners aus. Ein Blick auf Art. 18 und 21 GG legt nahe, die Grenze der erlaubten Verfassungsfeindlichkeit dort zu ziehen, wo der Bestand der freiheitlichen Ordnung tatsächlich bedroht ist. Das ist aber schon bei aktiven Bestrebungen der Fall, sofern diese von einigem Gewicht sind und hinreichende Erfolgsaussichten aufweisen. Kämpferische Mittel sind dafür rein praktisch gar nicht zwingend erforderlich, kann doch eine Revolution bekanntlich auch friedlich ablaufen. Die Maßnahmen der Grundrechtsverwirkung und des Parteiverbots sind als ultima-ratio im Grundgesetz vorgesehen, können allerdings erst bei einer konkreten Bedrohungslage ergriffen werden. Diese Einschränkungen sind aber allenfalls Ausfluss einer „verfassungsmäßig verbürgten Toleranz“.9 Das Grundgesetz hält sich mit konkreten Maßnahmen „um der politischen Freiheit willen“ zurück.10
9 10
BVerfGE 12, 296 (306). BVerfGE 12, 296 (306).
I. Gefordertes Maß an Treue
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Die reale Bedrohung für den Bestand der freiheitlichen Ordnung ist daher der konkrete Gradmesser für die Einschränkbarkeit der Freiheit zur Verfassungsfeindlichkeit. Auch bei der Betrachtung des Grundgesetzes wurde im Hinblick auf den Verfassungsschutz von einer Einschränkbarkeit der Grundrechte auch dann ausgegangen, wenn die tatbestandliche Schwelle zur Verwirkung noch nicht erreicht ist. Daher kann der Bürger auch dann Adressat gefahrenabwehrrechtlicher oder verfassungsschützender Maßnahmen in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit werden. Insoweit aktualisiert sich die Anforderung zur Unterlassung einer aktiven Beseitigung grundrechtsdogmatisch durch die gesetzgeberische Konkretisierung einer Schranke. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit begrenzt das staatliche Handeln und lässt die Freiheit zur verfassungsfeindlichen Grundrechtsbetätigung zur maximal erträglichen Entfaltung kommen. Insoweit sollte man die aktive Beseitigung, deren Unterlassen gefordert wird, nicht subjektiv-zielsetzungsorientiert, sondern vielmehr objektiv-ergebnisorientiert verstehen. Die Zielsetzung einer grundrechtlichen Betätigung darf demnach verfassungsfeindlich sein, solange dieses Ziel – prognostisch – nicht tatsächlich verwirklicht wird. Die Beurteilung ist eine Frage des Einzelfalls, die schlussendlich der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative überlassen bleiben dürfte. Das bedeutet aber zugleich, dass über sämtlichen Verhaltensweisen der Bürger, die auf die konkrete Abschaffung der freiheitlichen Ordnung abzielen, stets das Damoklesschwert staatlicher Intervention schwebt, das die negative Treueanforderung – bei Bedarf – mit den Mitteln des Verfassungsschutzes durchzusetzen bereit ist. Im Wesentlichen ist also die persönliche Zielsetzung des Grundrechtsgebrauchs auch dann „mit geschützt“, wenn diese einen verfassungsfeindlichen Inhalt hat. Erreicht diese aber den Grad einer realen Bedrohung für die freiheitliche Ordnung von erheblichem Gewicht, sprechen gute Gründe dafür, diese Rechte einzuschränken. Daher erstreckt sich der staatliche Schutz der Freiheit zur Verfassungsfeindlichkeit maßgeblich auf das Recht zur inneren – oder verbal-kommunikativen – Ablehnung, die sich jedoch nicht hin zur tatsächlichen äußeren Abschaffung hin verwirklichen darf. Allein in der inneren Ablehnung manifestiert sich nämlich für sich betrachtet eine reale Bedrohungslage noch nicht. Die negative Treue des Bürgers umfasst daher auch die Anforderung zur Unterlassung der tatsächlichen Beseitigung der freiheitlichen Ordnung, obwohl Bestrebungen dahingehend in den Grenzen der verhältnismäßigen Einschränkbarkeit erlaubt sind. b) Bekenntnis gegen die freiheitliche Ordnung Das gilt insbesondere für derartige Bestrebungen, die allein in der kommunikativen Sphäre erfolgen. Die Kommunikationsgrundrechte haben daher einen be-
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F. Synthese der Erkenntnisse
sonderen Stellenwert im Hinblick auf das Recht des Bürgers zur verfassungsfeindlichen Grundrechtsbetätigung. Die verfassungsrechtliche Auslegung der Kommunikationsgrundrechte – insbesondere der Meinungsfreiheit – hat einen umfassenden Schutz von verfassungsfeindlichen Meinungsinhalten ergeben. Insbesondere ist die Wunsiedel-Entscheidung abzulehnen, sodass der Meinungsinhalt vollkommen standpunktunabhängig umfassenden Schutz genießen muss. Erst die hetzerische Kampfrede kann als Grenze verfassungsfeindlicher Betätigung im Hinblick auf die Meinungsfreiheit angesehen werden, da dabei die kommunikative Ebene hin zur Agitation verlassen wird. Ein Ablehnungsrecht des Einzelnen gehört zu den elementaren Bestandteilen der freiheitlichen Wertordnung. Als unzugänglicher Bereich des Inneren ist die rein innere Ablehnung Ausfluss der umfassenden Freiheit, sich nicht mit heteronomen Werten jeglicher Art identifizieren zu müssen. Auch die freiheitliche Ordnung verlangt daher keine Identifikation. Die innere Ablehnung darf dann folgerichtig auch nach außen kundgetan werden, sofern diese äußere Handlung nicht die Schwelle zu einer „aktiven Betätigung“ gegen die freiheitliche Ordnung überschreitet. Dies ist aber bei einem reinen Bekenntnis gegen diese kaum vorstellbar. Die kommunikative Freiheit schützt also das Recht zur Äußerung der Ablehnung umfassend, auch wenn sich die Ablehnung gegen jene Freiheiten richtet, die ihm diese Freiheit überhaupt erst gewähren. Im Rahmen des kommunikativen Prozesses sind jedoch auch die prozeduralen Regeln des Minimalkonsenses einzuhalten, was eine Durchsetzung mit Gewalt ausschließt. Praktische Relevanz hat die strikte Differenzierung zwischen bloßen Äußerungen und tatsächlichen Aktivitäten etwa im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Antiterrordateigesetz erlangt.11 Ein streitiger Paragraph des Gesetzes ermächtigte den Staat zur Datenspeicherung über Personen auch schon dann, wenn „Gewaltanwendung [lediglich] befürworte[t]“ (vgl. § 2 Satz 1 Nr. 2 ATDG a. F.) wurde. Diese Formulierung wurde als Abstellen auf die innere Haltung ohne tatsächliche Aktivitäten für mit der Verfassung unvereinbar erklärt. Dazu führte das Gericht aus: „Das Anknüpfen an ein solches Kriterium, das unmittelbar auf das forum internum abstellt und damit auf den unverfügbaren Innenbereich des Individuums zugreift, ist besonders geeignet, einschüchternde Wirkung auch für die Wahrnehmung der Freiheitsrechte wie insbesondere der Glaubens- und Meinungsfreiheit zu entfalten.“ 12 Hier wird noch einmal deutlich, dass die innere Haltung als solche durch den Staat gar nicht zum Anknüpfungspunkt von Grundrechtseingriffen gemacht werden darf. Begründet wird dies vor allem auch mit der fehlenden Beherrschbarkeit von subjektiven Überzeugungen.13 Dies deckt
11 12 13
BVerfGE 133, 277. BVerfGE 133, 277 (348). BVerfGE 133, 277 (348).
I. Gefordertes Maß an Treue
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sich mit den Erkenntnissen zur subjektiven Wertbildung, welche zur Begründung der grundsätzlichen Unzugänglichkeit der Gesinnung herangezogen wurde. Die Hoffnung der freiheitlichen Gesellschaft besteht nun darin, dass verfassungsfeindliche Inhalte schlussendlich nicht „Fuß fassen“ können. Das Ziel der prinzipiell grenzenlosen Kommunikation ist schließlich die Selbstbewährung der Freiheitlichkeit in einem offenen Prozess. Dabei wird schließlich darauf vertraut, dass die Anerkennung des Menschen in seiner Würde, Autonomie und Gleichheit stets von einer überwältigenden Mehrheit getragen bleibt. c) Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei Eine gewisse Ambivalenz kann man in der reinen Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei erkennen. Einerseits ist der Beitritt eine aktive Handlung, die zudem zumindest durch das Mitgliederverzeichnis nach außen erkennbar wird. Versteht man diese Mitgliedschaft als Ausdruck der Identifizierung mit den Zielen dieser Partei, so könnte man sie in diesem Sinne allenfalls mit einem Bekenntnis vergleichen. Andererseits unterstützt man durch die Mitgliedschaft sowie die Beitragszahlung die Betätigung der Partei als solche, sodass man auch annehmen könnte, den einzelnen Mitgliedern ihre verfassungsfeindlichen Aktivitäten zuzurechnen. Die reine Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei kann wohl nicht als Verstoß gegen die geforderte Verfassungstreue eingestuft werden. Dies muss für den Einzelnen auch dann gelten, wenn die Akteure der Partei in einer Weise gegen die Grundordnung vorgehen, die ein Parteiverbot rechtfertigen würde. Die Verfassung schützt auch hier in gewissen Grenzen verfassungsfeindliches Verhalten und besonders entsprechende Gesinnungen, die in der Mitgliedschaft zum Ausdruck kommen. An dem Parteienprivileg muss das einzelne Mitglied grundsätzlich Anteil haben, da es sonst durch Ausschalten sämtlicher Mitglieder der Partei im Wege der Strafverfolgung wegen ihrer politischen Betätigung umgangen werden könnte.14 Daher kann die Mitgliedschaft allein noch nicht als Verstoß gegen die Anforderungen an die Verfassungstreue angesehen werden, solange das Mitglied nicht selbst in seiner Person verfassungsfeindliches Verhalten zeigt, welches die Anforderungen an die geforderte (negative) Verfassungstreue nicht mehr erfüllt. d) Neutrale Grundhaltung (Indifferenz) Für die Beurteilung der Anforderungen an die Beamtentreue stellt die indifferente Haltung zur Verfassung ein besonderes Problem dar, da sie nur negative Treue darstellt und daher die gebotene positive Treue in Gestalt des „Eintretens für die Grundordnung“ vermissen lässt. 14
BVerfGE 12, 296 (305).
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F. Synthese der Erkenntnisse
Für die staatsbürgerliche Verfassungstreue hingegen ist es – gerade nach dem bisher Gesagten – geradezu eine Selbstverständlichkeit, dass auch eine indifferente Haltung zur Verfassung eingenommen werden darf. Dies ist die notwendige Folge der Ablehnung einer positiven Treueanforderung. Also besteht neben dem Recht auf verfassungsfeindliche Grundrechtsbetätigung – in den besagten Grenzen – insbesondere keine Pflicht, überhaupt von einem Grundrecht positiv Gebrauch zu machen. Vielmehr wird auch „Grundrechtsabstinenz“ 15 geschützt. In Bezug auf die Treue fällt darunter dann eben auch die Freiheit zur Indifferenz, also eine gegenüber der freiheitlichen Wertordnung gleichgültige Einstellung. Da mit einer neutralen Haltung das geforderte Dulden und Unterlassen im Sinne der negativen Treue regelmäßig einhergeht, erfüllt der Indifferente die Anforderungen an die Verfassungstreue. e) Positives Bekenntnis zur freiheitlichen Ordnung Ein positives Bekenntnis zur freiheitlichen Ordnung wird vom einfachen Staatsbürger gerade nicht verlangt. Denn er ist nicht gehalten, „sich mit dem [hinter dem Grundgesetz] liegenden Freiheitskonzept zu identifizieren, also das System des freiheitlichen Verfassungsstaates insgesamt gutzuheißen und innerlich zu bejahen – und es damit reziprok auch immer als Freiheit der Andersdenkenden und Andershandelnden zu akzeptieren“. 16 Aus diesem Recht zur NichtIdentifikation mit der Freiheit lässt sich folgerichtig das Recht ableiten, kein entsprechendes Bekenntnis abgeben zu müssen.17 Eine solche Erklärung könnte nämlich allenfalls ein unechtes Bekenntnis sein, wenn ihm keine tatsächliche Identifikation zu Grunde liegt. Zudem widerspricht die Anforderung, ein positives Bekenntnis abzugeben, schon denklogisch der Freiheit zur – auch offen erklärten – Ablehnung der freiheitlichen Ordnung. Eine positive Identifikation mit der Freiheitlichkeit durch eine Mehrzahl von Staatsbürgern ist allerdings notwendige Existenzbedingung des freiheitlichen Verfassungsstaates. Daher geht dieser von einer gewissen Selbsterhaltungskraft der Demokratie aus. Sein Vertrauen erstreckt sich schließlich auch auf die freiwillige Bereitschaft einer Mehrheit des Volkes, ein entsprechendes Bekenntnis in Übereinstimmung mit der inneren Haltung abgeben zu können. Die Verfassung vertraut darauf, dass von der Freiheit zur Ablehnung nicht mehrheitlich Gebrauch gemacht wird.
15 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (23). 16 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (26). 17 Grundlegend Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, S. 134.
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Ferner ist der Staat dazu berechtigt, die Identifikation durch Wertvermittlung zumindest zu begünstigen. Jedoch kann dabei nicht durch die Abgabe eines echten Bekenntnisses die tatsächliche Gesinnung „abgeprüft“ werden. Der entscheidende Schritt zur tatsächlichen Identifikation bleibt in der persönlichen Verantwortung des Bürgers, die von ihm nicht verbindlich gefordert, sondern allenfalls „erwartet“ wird. f) Äußere Übereinstimmung mit der freiheitlichen Ordnung Die äußere Übereinstimmung mit der freiheitlichen Ordnung ist das objektive Äquivalent zur inneren Indifferenz. Diese erschöpft sich darin, dass unabhängig von der inneren Einstellung die freiheitliche Ordnung nicht aktiv bekämpft wird, sondern nach außen hin eine „neurale Stellung“ zu ihre eingenommen wird. Eine solche kann etwa auch bei reinen Gesinnungsverfassungsfeinden zu finden sein. Vom Bürger wird eine solche äußere Übereinstimmung nur verlangt, soweit die Duldungs- und Unterlassungsanforderungen reichen. Sein Verhalten darf die freiheitliche Ordnung also nicht bekämpfen und auch nicht erfolgreich abschaffen, auch wenn verfassungsfeindlicher Grundrechtsgebrauch, insbesondere Bekenntnisse gegen die Freiheit, zu seinen Rechten gehört. Vor allem wird diese Anforderung durch das Unterlassen der Schädigung sowie die Duldung der Freiheitsausübung anderer Menschen erfüllt. Denn die Freiheiten anderer und der Respekt vor den Menschen in ihrer Würde, Autonomie und Gleichheit gehört zum unantastbaren Kernbestand des Minimalkonsenses der freiheitlichen Ordnung. Soweit die äußere Übereinstimmung verlangt werden kann, kann der Staat die Verhaltensanforderungen durch Rechtsnormen stabilisieren. Insoweit greift dann die unmittelbare Pflicht zum Rechtsgehorsam. Zu beachten ist bei der rechtsförmigen Durchsetzung solcher Anforderungen aber vor allem das Gebot der Neutralität. Es begrenzt die staatliche Zielsetzung zur Erzeugung von Konformität auf die Werte der freiheitlichen Ordnung und verbietet einen Rückgriff auf ethische Vorstellungen von einem guten Leben. Konformität ist also nur auf die minimalen Anforderungen der freiheitlichen Ordnung beschränkt. g) Aktives Eintreten für die freiheitliche Ordnung Das aktive Eintreten für die freiheitliche Ordnung wird vom Bürger – im Gegensatz zum Beamten – nicht verlangt. Der Widerstand gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen ist ausweislich des Art. 20 Abs. 4 GG allenfalls ein Recht des Bürgers, aber keinesfalls eine Widerstandspflicht. Die Entscheidung, inwieweit er bereit ist, durch aktiven Einsatz für die Freiheit und ihre institutionelle Absicherung zu kämpfen, ist allein eine Frage des persönlichen Gewissens. Nur vor diesem hat sich der Einzelne zu verantworten. Dem Staat ist es aber im Rahmen seiner Verfassungsschutztätigkeit unbenommen, an die Gewissensentschei-
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dung, also insbesondere an Courage, solidarischen Gemeinsinn und Engagement, zu appellieren. Dabei hat er sich hoheitlichen Zwangs zu enthalten. 3. Anforderungen an Neumitglieder im Staatsverband Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich die Anforderungen an die Neumitglieder im Staatsverband von den generellen Anforderungen an die Staatsbürger unterscheiden können. Daher verbietet es sich nicht, von einem Bewerber für die Einbürgerung mehr zu verlangen als von den Inhabern der Staatsangehörigkeit. Die Entscheidung über die Aufnahme von Mitgliedern in den Staatsverband ist nämlich Ausdruck einer souveränen Entscheidung des Staatsvolkes. Insoweit besteht insbesondere kein originärer Rechtsanspruch auf eine voraussetzungslose Einbürgerung. Das bestehende Volk ist an der Schwelle zum Übergang in den Staatsbürgerstatus dazu berechtigt, besondere „Treueanforderungen“ zur Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Staatsverband zu machen. Die Anforderungen dürfen aber kein so unerträgliches Maß annehmen, dass die Teilhabe an der Herrschaftsausübung, die de lege lata für einen Ausländer nur durch Einbürgerung erreicht werden kann, faktisch unmöglich wird. Zudem müssen die Individualinteressen des Einbürgerungsbewerbers in seiner Stellung als Grundrechtsträger berücksichtigt werden. Durch die Anforderungen darf kein unverhältnismäßiger Zwang auf den Bewerber entstehen, der sich als ungerechtfertigte Beeinträchtigung seiner Grundrechte darstellt. Aus dem Grundgesetz selbst konnten dagegen keine unmittelbaren Vorgaben für den Erwerb der Staatsangehörigkeit abgeleitet werden. Insbesondere enthält das Grundgesetz keine ethnischen Anforderungen, die es notwendig machen, die Staatsangehörigkeit an die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation zu knüpfen.
II. Normative Qualität der Anforderungen Die Anforderung an den Staatsbürger beschreibt nach der hier zu Grunde gelegten Definition die Beschaffenheit einer Relation zwischen Staat und Bürger, kraft derer der Staat von dem Bürger etwas verlangen kann. Die Anforderung an den Staatsbürger erstreckt sich also – umgekehrt formuliert – auf jenes Verhalten oder jene innere Haltung, die dieser seinem Staat gegenüber erbringen soll. Dieses Sollen kann unterschiedliche normative Qualität haben. So können Anforderungen ihren Ursprung innerhalb des Rechts haben oder aber „nur“ der Ebene der Staatsethik entspringen. Zudem können sie verschiedene normative Intensitäten haben, je nachdem welche Folgen mit der Nicht-Erfüllung der Anforderung verbunden sind. Je schwächer die normative Intensität, desto weniger negative Folgen kann die Nicht-Erfüllung haben und desto weniger dringlich und intensiv darf das mit der Anforderung verbundene Verlangen dem Bürger gegenüber formuliert werden.
II. Normative Qualität der Anforderungen
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1. Anforderungsmodalitäten Die Anforderungen lassen sich nach der normativen Quelle in rechtliche und ethische Anforderungen unterteilen. Nach ihrer Intensität des Sollens kann man Pflichten als Anforderungen mit stärkster Intensität von Anforderungen unterscheiden, die sich unterhalb einer „Pflicht“ einordnen lassen. Darunter kann man aus der Alltagssprache etwa Begriffe wie „Bitte“, „Wunsch“, „Aufforderung“, „Appell“, aber eben auch den Begriff der „Erwartung“ subsumieren. Gerade solche Terminologien lassen sich jedoch juristisch nur schwer fassen, sofern sie nicht – wie die Verfassungserwartungen18 – eine dogmatische Ausgestaltung erfahren haben. Von Bedeutung für die Staatspraxis ist insbesondere, inwieweit die Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue den Charakter einer echten Pflicht haben. Dies gilt vor allem dann, wenn sie dem Verfassungsrecht entspringen. Die hohe normative Intensität einer Rechtspflicht folgt aus dem Umstand, dass negative Rechtsfolgen an ihre Nicht-Erfüllung geknüpft werden oder ihre Geltung sogar mit Zwang durchgesetzt werden kann. Dahingehend wurde insbesondere festgestellt, dass es zumindest eine Grundpflicht der Verfassungstreue – auf einer den Grundrechten gleichgeordneten Ebene – nicht gibt. Soweit ein Verhalten durch den Staat angeordnet werden soll, das den Charakter von Treue hat, kann er dies nur durch einen Eingriff in Grundrechte in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit. Damit ist Treue zwar keine Grundpflicht, kann aber unter Umständen eine einfachgesetzliche Rechtspflicht werden. Dazu ermächtigt die Verfassung den Gesetzgeber durch die Implementierung von Grundrechtschranken. Die Pflichtendimension der negativen Verfassungstreue zeigt sich allenfalls in Art. 18 GG, wenn man die Verwirkungsandrohung als die unmittelbar verfassungsrechtlich angeordnete Sanktionsrechtsfolge begreift.19 Insoweit kann man von einer echten Pflicht zum Unterlassen der aktiv-kämpferischen Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sprechen. Diese aktualisiert sich zwar erst im konstitutiven Verwirkungsausspruch durch das Bundesverfassungsgericht, sodass auch der Missbrauch bis dahin von der Verfassung noch geduldet wird. Allerdings kann der Wertung des Art. 18 GG entnommen werden, dass die Grundrechte nicht zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eingesetzt werden dürfen. Daher kann man im Hinblick auf
18
Dazu unter 2. Vgl. Michael Brenner, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 18 Rn. 85 mit dem Hinweis, dass die Verwirkung nicht „punktuell-repressiv“ den Missbrauchsfall sanktionieren soll, sondern mit präventiver Wirkung für die Zukunft ausgestattet ist. Dies ändert aber nichts daran, dass auf Grund eines bestimmten Verhaltens eine negative Rechtsfolge ausgesprochen wird, weil eben dieses Verhalten unerwünscht ist. 19
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die aktiv-kämpferische Grundrechtsbetätigung von einer „systemvorgegebenen Grundrechtsschranke“ 20 sprechen. Eine Pflicht zum Unterlassen der aktiven Beseitigung der freiheitlichen Ordnung – unterhalb der tatbestandlichen Schwelle des Art. 18 GG – muss hingegen durch den einfachen Gesetzgeber konkretisiert werden. Sie ist allenfalls durch den hohen Stellenwert des Verfassungsschutzes verfassungsrechtlich antizipiert. Ein genereller Vorbehalt der Verfassungstreue hingegen ist abzulehnen. Daher ist der Schutzbereich der Grundrechte auch nicht von vornherein um jeglichen verfassungsfeindlichen Gebrauch „gekürzt“. Ebenfalls in der Verfassung angelegt ist aber bereits die Pflicht zur Duldung der Freiheitsausübung anderer, da die Grundrechtsausübung dadurch generell begrenzt ist. In der allgemeinen Einschränkbarkeit der Grundrechte durch den Staat, wie sie durch die Implementierung von Schranken manifestiert ist, äußert sich auch die Pflicht zur Duldung der freiheitsschützenden Staatstätigkeit. Diese ist angesichts der allgemeinen Rechtsgehorsamspflicht auch eine echte Rechtspflicht, da sie durch Normen stabilisiert und ihre Nicht-Erfüllung negativ sanktioniert werden kann. Diese Duldungspflicht ist durch die grundrechtlichen Schrankenvorbehalte auch unmittelbar in der Verfassung angelegt. Zwar kann es auch auf der Ebene der Staatsethik „Pflichten“ geben, gewissermaßen „ethische Pflichten“. Diese haben aber nur in ethischen Kategorien einen unbedingten Geltungsanspruch. Dazu wurde insbesondere im Hinblick auf die Neutralität des Staates herausgearbeitet, dass der Staat ethische Pflichten nicht zu Rechtspflichten machen darf, soweit sie über die Werte des Minimalkonsenses der Freiheitlichkeit hinausgehen. Daher ist er auf andere normative Kategorien angewiesen. Diesbezüglich hat sich insbesondere die Kategorie der Verfassungserwartung herausgebildet.21 Dort kann der Staat auch ohne die Begründung von Pflichten den Bürger mit Appellen konfrontieren, deren Erfüllung ausschließlich ihrem Adressaten selbst anheimgestellt ist. Sie ist damit ein Instrument, solches Verhalten zu fördern, das er mit normativem Verbindlichkeitsanspruch nicht verlangen darf. Dazu zählen insbesondere die Bereiche positiver Verfassungstreue, auf deren Erfüllung der Staat für seine Existenz notwendig angewiesen ist und für die er eben nur werben darf. Verfassungstreue ist in letzter Konsequenz vorrangig ein Recht des Bürgers22 und daher ungeeignet, zum Gegenstand von Anforderungen durch den Staat ge20
Michael Brenner, in: Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, Art. 18 Rn. 21. Vgl. zu dieser Kategorie grundlegend Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (285 ff.); Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190. 22 Vgl. Hans Hugo Klein, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 53 (81) [„Bürgerrecht“ – Hervorhebung im Original]. 21
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macht zu werden. Der Verpflichtungswille auf die Treue zur Freiheit und zu ihrer institutionellen Absicherung durch den Staat kann allein dem persönlichen Gewissen entspringen, das durch den Staat allenfalls appellativ – keinesfalls aber mit hoheitlichem Zwang – adressiert werden darf. 2. Verfassungstreue als Zumutung und Erwartung Im Zusammenhang mit Anforderungen, die an den Bürger in Ansehung von Demokratie und Freiheit gerichtet werden, findet man wiederholt die Begriffe der „Zumutung“ 23 und der „Erwartung“.24 Auch Verfassungstreue wird bisweilen eher einer Verfassungserwartung zugeordnet als einer echten Rechtspflicht.25 Allerdings ist nicht immer eindeutig, ob dem Gebrauch der Termini ein einheitliches Verständnis zu Grunde liegt. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass diese Begriffe nur näherungsweise bestimmt und vereinzelt auch kryptisch in ihrer Verwendung sind. Schon der allgemeine Sprachgebrauch legt nahe, dass es einen erheblichen Unterschied machen muss, ob Treue lediglich erwartet oder auch zugemutet wird. Zumutungen sind mit etwas Unangenehmem – oft Ungewolltem – konnotiert, das sich dem Adressaten aufdrängt, ohne dass er sich dem zugemuteten Inhalt entziehen könnte oder dürfte. Erwartungen hingegen drängen sich nicht auf diese Weise auf, sondern stellen es in letzter Konsequenz ihrem Adressaten frei, ob er sie enttäuschen will. Eine Abgrenzung von „Zumutung“ und „Erwartung“ unter Berücksichtigung der Befunde kann die Einordnung der Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue erleichtern und das Konzept systematisieren. „Zumutungen“ und „Erwartungen“ sind offenbar keine originären Rechtsbegriffe wie „Pflicht“, „Recht“ oder „Verfassungsauftrag“. Beide Begriffe dienen aber mitunter der Bestimmung eines Maßes an Bürgerverantwortung, die nach 23 Exemplarisch Uwe Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 245 (262) [„Zumutung der Konfrontation“]; ders., Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (149) [„Identifikationszumutungen“]; Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 312 [„Tugendzumutung“], S. 319 [„Abstraktionszumutungen“] – Hervorhebungen im Original; Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen; Gertrude Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, 121 (126) [„Zumutungen der Inhomogenität“]. 24 BVerfG, NJW 2001, 2069 (2070) [„Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht.“ – Hervorhebung durch den Verfasser]; Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (285 ff.); Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190. 25 Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (22).
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dem Befund der Arbeit ohnehin maßgeblich auf der „Ebene der Staatsethik“ 26 anzusiedeln ist. Hans Kelsen stellte dazu sogar fest: „Die mitunter behauptete besondere Treu- und Gehorsamspflicht der Staatsbürger ist – sofern sie sich nicht in konkreten Rechtspflichten, bzw. Unrechtsfolgen äußert – nur ein ethisch-politisches Postulat ohne rechtliche Bedeutung.“ 27 Dennoch sind damit gewisse Anforderungen verbunden, kraft derer ihr Adressat zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden soll. Die Anforderungen werden daher zwar der Ebene der Staatsethik zugeordnet. Sie können allerdings in die Rechtsebene überführt werden, sofern die normative Qualität der Anforderung dies zulässt. a) Terminologische Abgrenzung Eine Verfassungserwartung „appelliert an eine freie, vernünftige und förderliche Erfüllung“ 28, die dem Bürger die freie Möglichkeit gibt, „selbstständig [auf sie] antworten zu können, [anstatt] durch einen Befehl zu Aktivität gezwungen zu werden“.29 Damit ist vor allem „kein ,Verfassungsauftrag‘ “ 30 und aus Sicht des Bürgers auch keine echte Rechtspflicht gemeint, deren Nicht-Erfüllung negative Rechtsfolgen nach sich ziehen würde.31 Vielmehr schließen sich Verfassungserwartung und Rechtspflicht sogar gegenseitig aus.32 Erwartungen richten sich allein „auf das Ethos des Bürgers“.33 Allerdings gehen mit Erwartungen nicht zwingend ausschließlich normative Aussagen einher. Die aus der Psychologie bekannte Unterscheidung zwischen „Erwartungen als Antizipation“ 34 und „Erwar-
26 Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 471, 477; auch von Staatsethik spricht Hans Hugo Klein, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 53 (81). 27 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 159. 28 Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (306). 29 Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (304). 30 Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (306). 31 Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37, S. 7 (22); Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 204. 32 Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 207. 33 Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 207. 34 Bernhard Rosemann/Sven Bielski, Einführung in die Pädagogische Psychologie, S. 165 – Hervorhebung durch den Verfasser.
II. Normative Qualität der Anforderungen
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tungen als normative Aussage“ 35 trifft auch auf die Verfassung zu. Rein antizipatorisch ist die gesamte Regelungskonzeption der Verfassung von „Vermutungen darüber, was [. . .] andere tun“ 36 durchzogen. Nur so ist das freiheitliche Vertrauen in die Sicherung der Existenzbedingungen überhaupt zu verstehen. Insoweit „erwartet“ die Verfassung zunächst einmal, dass „die damit angesprochenen Bürger von sich aus [. . .] die ihnen zugedachte Rolle spielen“.37 Aber darin erschöpft sich der Erwartungsgehalt dann eben nicht. Er wird vielmehr mit der normativen Aussage verbunden, dass diese Erwartung nicht enttäuscht werden soll. Diese hat allerdings nur eine schwache normative Intensität, da sie allenfalls ein Appell an die Bürger ist. In letzter Konsequenz steht es „[. . .] den Staatsbürgern frei, auf welche Weise sie von ihren Kommunikations- und Teilnahmerechten Gebrauch machen wollen“.38 Ein bestimmter erwartungsgemäßer Gebrauch kann ihnen allenfalls „angesonnen, aber nicht zur Rechtspflicht gemacht werden“.39 Insbesondere darf der erwartungswidrige Gebrauch der Freiheiten, der grundsätzlich in den Schutzbereich der Grundrechte fällt, keinen rechtlichen Nachteil zur Folge haben.40 Es gibt also ausdrücklich ein Recht zur Enttäuschung der Erwartung. Die Erwartung ist also nur der Appell, dass von einem bestehenden Recht nicht oder nur in einer bestimmten Art und Weise Gebrauch gemacht wird. Hier liegt ein zentraler Unterschied zu einer Zumutung. Die Zumutung zeichnet sich gerade durch die Negation eines Rechts aus, sich ihr zu entziehen. Die stärkste Form der Zumutung ist daher die Pflicht zu einer positiven Handlung, da diese mit Sanktionen zwangsweise durchgesetzt werden kann. Aber auch unterhalb der Schwelle einer Pflicht zu positivem Tun liegt eine Zumutung dann vor, wenn ausdrücklich das Recht negiert wird, bestimmte Verhaltensweisen anderer aktiv zu verhindern. Damit geht dann die Pflicht zur Duldung dieses Verhaltens einher, sodass man sich diesem nicht entziehen kann. Die Zumutung ist daher eine Kategorie, um insbesondere das passive Moment des Aushaltens und Duldens unangenehmer und ungewollter Verhaltensweisen anderer normativ zu formulieren.
35 Bernhard Rosemann/Sven Bielski, Einführung in die Pädagogische Psychologie, S. 165 – Hervorhebung durch den Verfasser. 36 Bernhard Rosemann/Sven Bielski, Einführung in die Pädagogische Psychologie, S. 165. 37 Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (302). 38 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 311. 39 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 311. 40 Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 208.
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b) Treue als Zumutung Die Zumutung zur Verfassungstreue kann nur so weit reichen, wie es kein Recht zur Verfassungsfeindlichkeit gibt. Dieses Recht wird im Hinblick auf die innere Gesinnung durch das Recht zur Ablehnung der Wertordnung umfassend gewährt. Eine Identifikationszumutung wird dem Bürger daher gerade nicht auferlegt. Der Identifikation kann und darf sich der Bürger durch innere Ablehnung entziehen. Dies gilt hingegen nicht für die Konfrontation mit den Werten der Freiheit. Das Recht zur Verfassungsfeindlichkeit erstreckt sich nämlich nicht auf die aktive Beseitigung der Wertordnung oder auf die aktive Verhinderung der Freiheitsausübung anderer. Ferner umfasst es auch nicht das Recht, den Staat an der Wertvermittlung und -verteidigung zu hindern. Soweit es demnach ein solches Recht nicht gibt oder umgekehrt, soweit es eine Pflicht zur Duldung der Konfrontation oder Unterlassung von Beseitigungsbestrebungen gibt, werden dem Bürger also Zumutungen auferlegt. Diese wurden unter dem Begriff der Konfrontationszumutung zusammengefasst. Sie erstreckt sich auf die grade beschriebenen Duldungsund Unterlassungspflichten. Wird hingegen unter der „Zumutung der Identifikation“ 41 doch nur verstanden, dass die Einstellung „angesonnen“ oder „offensiv an [die Bürger] herangetragen“ werden darf, so dürfte sich der Unterschied maßgeblich in einem terminologischen Streit erschöpfen. Denn auch unter dem Postulat einer Identifikationszumutung wird anerkannt, dass es sich mangels Erzwingbarkeit nicht um eine Rechtspflicht handeln kann.42 Möglicherweise würde man im Sinne der hier vorgeschlagenen Terminologie daher auch besser von einer Identifikationserwartung sprechen.43 Ein Streit in der Sache selbst kann sich dann allenfalls noch in Bezug auf die Intensität ergeben, mit der die Werte an die Bürger herangetragen werden dürfen. Hier deuten starke Formulierungen wie „Zumutung“ und „offensiv“ auf ein Plädoyer für eine starke normative Intensität hin, die aber noch unterhalb der Schwelle einer Rechtspflicht bleiben muss. Die Unterschiede dürften in der Praxis daher verschwimmen und allenfalls in der Beurteilung von Einzelfällen zu differenzierten Gewichtungen führen. Zusammenfassend: Die Zumutung betrifft maßgeblich die generelle Konfrontation mit der Wertordnung, wozu insbesondere das Unterlassen der aktiven Beseitigung der freiheitlichen Wertordnung gehört. Ferner zählen dazu die Duldung 41 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (143). 42 Uwe Volkmann, Kommentar, in: Horst Dreier, Säkularisierung und Sakralität, S. 135 (143). 43 Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 156 (176) [„Identitätserwartungen, [. . .] nicht [. . .] Identitätszumutungen“].
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der Freiheitsausübung anderer und der freiheitsschützenden Staatstätigkeit, also auch die Wertvermittlung. c) Treue als Erwartung Soweit Verfassungstreue nicht zugemutet wird, also insbesondere im Hinblick auf die positive Treue in Gestalt aktiver Förderungsmaßnahmen (äußere positive Treue) oder einer Identifikation (innere positive Treue), kann sie allenfalls erwartet werden. Als Antizipation gründet die Verfassung existentiell auf der Erwartung, dass die Mehrheit der Bürger die freiheitliche Wertordnung auch innerlich teilt und zu einem Einsatz für die Freiheit – und auch das Gemeinwohl44 – bereit sind, sich also in ihrer „übergroßen Mehrheit [ihrem] Staat gegenüber loyal“ 45 verhalten. In diesem Sinne wurde hier etwa von einem Vertrauen oder einer Hoffnung der Verfassung gesprochen, dass ihre Existenzbedingungen nachhaltig Bestand haben. Auf Grund der Werthaftigkeit des freiheitlichen Verfassungsstaates verbindet er mit seiner Erwartung aber auch eine normative Aussage. Die Annahme, die Erwartung erschöpfe sich in der reinen Antizipation, würde dem Wertcharakter der Freiheitsordnung nicht gerecht, der auf unbedingte Verwirklichung abzielt. Daher ist auch die Konfrontation selbstverständlich von dem Appell und der offenen Zwecksetzung begleitet, dass diese überwiegend zu einer Identifikation führt.46 Diese Erwartung ist aber an sich von schwacher normativer Intensität, da an ihre Enttäuschung keine negativen Folgen – auch nicht außerrechtlicher Art – geknüpft werden dürfen. Da man die Erwartung selbst zwar enttäuschen darf, aber sich nicht der mit der Konfrontation einhergehenden Erwartung selbst entziehen kann, kann man von einer Erwartungszumutung sprechen. Insoweit geht die Verfassung von einem emanzipierten Bürger aus, der in der Lage ist, die Konfrontation auszuhalten, ohne sie schon als Freiheitseinschränkung zu empfinden. Daher ist es auch abzulehnen, schon solche Erwartungen als einen mit der Freiheitlichkeit unvereinbaren Freiheitseingriff aufzufassen.47 Die Konfrontation und die insbesondere mit der Wertvermittlung verbundene Erwartung sind eine zumutbare Anforderung an einen mündigen Bürger, der gelernt hat, 44 Vgl. Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 204, wonach der gemeinwohlgemäße Gebrauch der Grundrechte eine Verfassungserwartung darstellt. 45 Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 476. 46 Vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung der Anderen, S. 311, wonach die Gemeinwohlorientierung „angesonnen“ werden darf – Hervorhebung im Original. 47 Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 285 (304), der Verfassungserwartungen sogar als „unentbehrliches Lebenselement gerade einer freiheitlichen Verfassung“ bezeichnet.
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F. Synthese der Erkenntnisse
nein zu sagen. Denn auch das Recht zur Ablehnung gehört zum positiven Inhalt der freiheitlichen Wertordnung und wird dem Bürger daher auch vermittelt. Er weiß also um seine Freiheit, die an ihn herangetragenen Werte ablehnen zu dürfen, ohne mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. Er wird dadurch befähigt, sich in selbstbestimmter Entscheidung dem positiven Ansinnen gemäß zu identifizieren oder es eben nicht zu tun. Auf Grund der dargelegten Grenzen des freiheitlichen Erziehungsstaates, insbesondere dem Verbot der Indoktrination, ist so ein freiheitsgemäßer Ausgleich der Interessen gewährleistet, der die Selbstbestimmung des Einzelnen zur optimalen Entfaltung bringt. Im Sinne der hier eingeführten terminologischen Differenzierung kann die positive äußere Treue, etwa durch aktives Gemeinwohlengagement oder den Einsatz zur Verteidigung und Belebung der Verfassung, sowie positive innere Treue durch Identifikation mit der freiheitlichen Wertordnung, als Erwartung bezeichnet werden. Soweit ein Recht zur Verfassungsfeindlichkeit besteht, geht die Erwartung dahin, dass von diesem Recht kein Gebrauch gemacht, sondern vielmehr durch geistige Auseinandersetzung der demokratische Prozess gefördert wird.48 Wenn Isensee es zu einer Verfassungserwartung erklärt, „dem Mitmenschen die Freiheit zuzubilligen, die er für sich selber in Anspruch nimmt“ 49, dann kann dem allenfalls in einer subjektiven Dimension zugestimmt werden. Denn die aktive Verhinderung der Freiheitsausübung anderer ist nicht nur erwartungswidriges Handeln, sondern ist von der Freiheit gar nicht mehr erfasst. Denn die Freiheit findet ihre Grenze in der Freiheit der anderen, wie es Art. 2 Abs. 1 GG („soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“) zum Ausdruck bringt und letztlich auch Ausfluss des individualistischen Prinzips gleicher Freiheit aller ist. Äußere Toleranz ist daher eine echte Zumutung. 3. Verfassungstreue als Staatsauftrag Die rechtliche Hauptverantwortung für den Bestand der freiheitlichen Ordnung liegt schon kraft seines Existenzzwecks beim freiheitlichen Verfassungsstaat selbst. Durch die Charakterisierung als Wertordnung durchwirkt der Wert der Freiheit das gesamte staatliche Handeln. Der Staat ist dem Individuum gegenüber verpflichtet und darf als solcher nie Selbstzweck werden. Daher ist der Schutz der freiheitlichen Ordnung sein oberstes Ziel, soweit er damit die Freiheit des Individuums schützt. Zugleich findet sein gesamtes Handeln in dieser individuellen Freiheit seine Grenze. Somit ist er auch in der Auswahl seines Instrumenta48 Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 222. 49 Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 190 Rn. 310.
II. Normative Qualität der Anforderungen
211
riums zum Verfassungsschutz begrenzt und insoweit allein der individuellen Freiheit aller verpflichtet. Die Verfassungstreue des Staatsbürgers muss daher in erster Linie vom Staat her gedacht werden. Es verbleibt dann nur noch eine gewisse Restverantwortung beim Staatsbürger, für die ihn der Staat auch tatsächlich in Anspruch nehmen kann. Die ethische Verantwortung der Staatsbürger wird weit darüber hinausreichen, kann jedoch nicht mit den Mitteln des staatlichen Zwangs durchgesetzt werden. In den so begrenzten Möglichkeiten hat der Staat aber einen Beitrag zu leisten, damit „das staatsethische Leitbild des ,citoyen‘ Leuchtkraft gewinnt und behält“.50 Positive Verfassungstreue der Staatsbürger ist daher gewissermaßen ein „hinkendes“ Staatsziel51, da sich staatliches Handeln zwar daran auszurichten hat, aber die Grundrechte der Bürger dafür nicht freiheitsverkürzend eingeschränkt werden dürfen.52 Der Staat hat freiheitsschonende Mittel zu suchen, die Werte der Freiheitlichkeit zu verbreiten und für diese zu werben. Insbesondere hat er eine Atmosphäre zu schaffen, in dem die Treue zur Verfassung und die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat ermöglicht wird.53 Soweit Treue in die Verantwortung des persönlichen Gewissens fällt, das der staatlichen Regulierungsmacht entzogen ist, obliegt es dem auf den Wert der Freiheit verpflichteten Staat, offen für die Freiheit einzutreten und insoweit an das Gewissen zu appellieren. Die oben dargelegten Duldungspflichten des Bürgers sind Korrelat des originären Handlungsauftrags des Staates. Insoweit bildet der Bereich der Wertvermittlung – vor allem in den Schulen – den wichtigsten Bereich, in dem dieser Staatsauftrag zur Geltung kommt und durch die Duldungspflicht (Konfrontationszumutung) ermöglicht wird. Ob Freiheit und Demokratie als solche mit persönlichem Einsatz verteidigt werden, hängt entscheidend davon ab, wie überzeugend der Staat die Vorteile dieser Werte für den Einzelnen vermittelt. Der 50 Otto Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, S. 478; vgl. auch Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Krautscheidt/Marré (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 11, S. 92 (S. 102 ff., 108 ff.). 51 Vgl. zum Begriff des „Staatsziels“ Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 386 ff. 52 Vgl. Josef Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, NJW 1977, 545 (551), der die „Herstellung des realen Verfassungskonsenses“ als „Verfassungsauftrag“ bezeichnet; ebenso Paul Kirchhof, Demokratischer Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl. 1997, § 221 Rn. 60 [„notwendige Aufgabe des Staates, die Grundrechtsvoraussetzungen freiheitsgerecht zu pflegen“]; kritisch gegen die Annahme einer Staatsaufgabe hingegen Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 156 (184). 53 BVerfGE 40, 237 (251) [„Chance zur Identifikation“].
212
F. Synthese der Erkenntnisse
Auftrag des freiheitlichen Erziehungsstaates ist es also, die Möglichkeit freier Wertbildung zu schaffen, indem die Vorteile der Wertordnung des freiheitlichen Verfassungsstaates mit der Hoffnung – nicht dem Anspruch – auf Identifikation aufgezeigt werden. Es geht also darum, zu überzeugen, ohne zu zwingen. Wo aber die Wertvermittlung versagt hat und sich daher Verfassungsfeindlichkeit entwickelt, kann der Staat zu Maßnahmen des Verfassungsschutzes im engeren Sinne greifen. Dazu gehören die Mittel der Beobachtung derjenigen Bestrebungen, die eine Gefahr für die Verfassungsordnung darstellen. Diese können Anlass zu strafrechtlicher Verfolgung oder konkreten Maßnahmen der wehrhaften Demokratie geben.54
III. Gegenstand der geforderten Treue Gegenstand der geforderten Verfassungstreue ist nicht „die Verfassung“ als formales Rechtsdokument und auch nicht die Gesamtheit an Normen des Verfassungsrechts im materiellen Sinne.55 Inhaltlicher Bezugspunkt der Treue im freiheitlichen Verfassungsstaat ist vielmehr die freiheitliche Wertordnung.56 Diese Wertordnung ist Ausdruck des Minimalkonsenses einer Gesellschaft, die Freiheit zu ihrem obersten Wert erklärt hat und sich daher freiheitlich organisieren will. Zu diesem unverhandelbaren Minimalkonsens gehören in erster Linie grundlegende Verfahrensregeln zur Ermittlung eines grundsätzlich disponiblen Konsenses. Damit einher geht die Gewährleistung freier Wertbildung jedes Bürgers, die eine freie und gleiche Teilhabe am kommunikativen Prozess der Konsensfindung ermöglicht. Die Sicherstellung, dass jeder seine Werte autonom bilden und frei in den Diskurs einbringen kann, erfolgt im Verfassungsstaat vor allem durch die Garantie der Kommunikationsgrundrechte. In materieller Hinsicht gehört zum Minimalkonsens insbesondere der Respekt vor dem Individuum in seiner Würde, Autonomie und Gleichheit, der damit der mit höchster Priorität ausgestattete Wert der freiheitlichen Gesellschaft ist.57 In dieser grundlegenden Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller Bürger besteht das Verbindend-Gemeinsame, das die Gesellschaft zusammenhält.
54 Ralf Poscher, Religion und Verfassungstreue. Konstitutionalisierung der Religion – Sakralisierung der Verfassung?, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, S. 11 (14). 55 Vgl. zur Unterscheidung von Verfassung im materiellen und formellen Sinne statt vieler Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 15 Rn. 4. 56 Zusammenfassend Theodor Maunz, Die gegenwärtige Gestalt des Grundgesetzes, BayVBl 1979, 513 (516 f.). 57 Vgl. Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 299 [„Recht auf gleiche Rücksicht und Achtung“].
IV. Zwischenstand
213
Für den Geltungsbereich des Grundgesetzes wurden diese Grundwerte unter der Formel von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zusammengefasst. Diese wird im Verfassungsrecht zum inhaltlichen Bezugspunkt der staatsbürgerlichen Verfassungstreue. Sie ist eine Zusammenfassung des bundesdeutschen Minimalkonsenses. Gegenstand der geforderten Treue ist damit zwar grundsätzlich die freiheitliche Ordnung in ihrem Bestand. Der genaue Inhalt jedoch ist eine Auslegungsfrage, an der auch der einzelne Bürger mitwirken kann. In der Verfassungspraxis jedoch wird es darauf ankommen, ob die entscheidungsbefugten Organe, etwa das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Parteiverbotsentscheidung, eine grundlegende Gefährdung des Bestands der freiheitlichen demokratischen Grundordnung besorgen.
IV. Zwischenstand Die Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Staat hat einen durch die Verfassung vermittelten Auftrag des Volkes, die Wertordnung des Grundgesetzes zu verteidigen. Dabei ist er in der Wahl seiner Mittel selbst an die Wertordnung gebunden. Da zu dieser Wertordnung auch die Freiheit der Wertbildung gehört, muss er auch diese gewährleisten. Daher muss er dem Einzelnen auch das Recht zur Ablehnung der Wertordnung zubilligen und sogar absichern. Auf Grund seines Schutzauftrags darf der Staat zu den Werten der freiheitlichen Ordnung in bestimmten Grenzen – insbesondere durch das Verbot der Indoktrination – erziehen und für diese aktiv werben. Der staatliche Erziehungsanspruch und die damit verbundene Pflicht des Staates zur Wertvermittlung greifen nicht in das Ablehnungsrecht ein. Denn das Ablehnungsrecht schützt nur vor einer Identifikationszumutung, nicht aber davor, sich mit den Werten konfrontieren zu lassen. Eine tatsächliche Identifikation der Adressaten wird aber nicht verlangt. Auf diese kann der Staat nur vertrauen, indem er überzeugt, ohne dass er dabei aber auf spezifisch hoheitliche Mittel – wie Rechtszwang oder Gesinnungsprüfungen – zurückgreifen dürfte. Er kann insbesondere am demokratischen Diskurs teilnehmen, indem er für die Werte der Freiheit und Demokratie offen eintritt. Die Neutralitätspflicht zwingt den Staat zur Beschränkung seiner Wertvermittlung auf den unerlässlichen Minimalkonsens, dessen Inhalt frei von ethischen Vorgaben des guten Lebens sein muss. Insbesondere muss der Staat bei seiner Wertvermittlung hinsichtlich religiöser und weltanschaulicher Fragen neutral sein. Insofern besteht in einem freiheitlichen Staat eine Konfrontationszumutung im Sinne einer Duldungspflicht, aber gerade keine Identifikationszumutung im Sinne einer Identifikations- oder Bekenntnispflicht. Ferner trifft den Staatsbürger eine
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F. Synthese der Erkenntnisse
Unterlassungspflicht bezogen auf die aktive Beseitigung der freiheitlichen Wertordnung, die der Staat mit den Mitteln des Verfassungsschutzes durchsetzen kann. Insofern lassen sich die Verfassungstreueanforderungen mit einem normativen Verbindlichkeitsanspruch an den Staatsbürger auf die beiden wesentlichen Komponenten reduzieren: Duldung der Konfrontation mit der Wertordnung und Unterlassung ihrer aktiven Beseitigung. Darüberhinausgehende Treue kann allenfalls Gegenstand von normativ schwachen – also rein appellativen – Verfassungserwartungen sein. In letzter Konsequenz ist der Staat also darauf angewiesen, dass die Mehrzahl seiner Bürger sich mit der freiheitlichen Wertordnung identifiziert und ein Großteil sich auch aktiv für sie einzusetzen bereit ist. Nur mit Zwang kann er diese Existenzbedingung eben nicht durchsetzen. Dies ist das Risiko, welches Böckenförde meint und mit welchem wir uns genauso abfinden müssen wie mit dem immer bestehenden Risiko einer Revolution, die durch keine Verfassung – egal welche Schutzmechanismen sie vorsieht – mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht Staatsbürgerschaft ist ein Geschenk für all jene, die sie durch Geburt erwerben. Ausländer hingegen werden Staatsbürger – de lege lata – nur durch Einbürgerung, für die ihnen eine Gegenleistung abverlangt wird. Sie müssen nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz verschiedene Voraussetzungen erfüllen, um einen Einbürgerungsanspruch zu erwerben (§ 10 StAG) oder nach behördlichem Ermessen eingebürgert werden zu können (§ 8 StAG). Zu diesen Voraussetzungen gehören nach geltendem Einbürgerungsrecht auch bestimmte Anforderungen an die Verfassungstreue des Bewerbers. Diese einbürgerungsrechtlichen Treueanforderungen werden nachfolgend zunächst dargestellt. Dabei werden die Normen des Staatsangehörigkeitsgesetzes herangezogen, denen Anhaltspunkte für die geforderte Verfassungstreue zu entnehmen sind. Anschließend werden sie zueinander in Beziehung gesetzt (I.). Die geforderte Verfassungstreue wird dann unter Bezugnahme auf die Modalitäten von Treue – wie sie der hiesigen Untersuchung zu Grunde liegen – eingeordnet (II.). Schließlich werden die einbürgerungsrechtlichen Treueanforderungen anhand der allgemeinen Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue bewertet.1 Dabei wird besonders auf die Unterschiede zwischen den allgemeinen Anforderungen an die Staatsbürger und den spezifischen Anforderungen an die Einbürgerungsbewerber einzugehen sein. Die Bewertung erfolgt dabei mit Blick auf die Anhaltspunkte der Verfassung sowie die staatsphilosophischen Grundlegungen des freiheitlichen Verfassungsstaates (III.). Abgeschlossen wird das Kapitel von rechtspolitischen Bemerkungen zur Bedeutung von Integration im Einbürgerungsrecht (IV.).
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers Das Einbürgerungsrecht enthält im Gegensatz zur Verfassung ausdrückliche Vorgaben für die Verfassungstreue des Ausländers, der sich um den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bemüht. Diesbezüglich normieren die §§ 8–16 StAG die maßgeblichen Voraussetzungen und Modalitäten für die Einbürgerung.
1
Vgl. unter F.
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
Die Anforderungen an die Verfassungstreue des Bewerbers ergeben sich dabei aus der Zusammenschau unterschiedlicher Normen. 1. Normierung im Staatsangehörigkeitsgesetz Das Staatsangehörigkeitsgesetz enthält das Wort „Treue“ selbst kein einziges Mal. Nach dem hier zu Grunde liegenden Treuebegriff findet man dennoch ausdrückliche Normierungen von Verhaltensanforderungen, die als Verfassungstreue eingeordnet werden können. Die einschlägigen Normen sind zuvörderst §§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 11, 16 Satz 2 StAG. Ferner haben §§ 8 und 37 Abs. 2 StAG Relevanz für die behördliche Anwendung der Treueanforderungen im Einbürgerungsrecht. a) § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Staatsangehörigkeitsgesetz Die „Leitnorm“ der einbürgerungsrechtlichen Treueanforderungen stellt § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG dar. Diese Norm gewährt einen subjektiv-öffentlich-rechtlichen Einbürgerungsanspruch2 mit dem Ziel der „Integration langjährig im Bundesgebiet lebender Ausländer“.3 aa) Bekenntnis und Loyalitätserklärung Voraussetzung für diesen Anspruch sind insbesondere ein Bekenntnis „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland“ sowie eine Erklärung, dass der Bewerber „keine Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die [. . .] gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder [. . .] eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eine Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder [. . .] durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden.“ Es werden also zwei unterschiedliche Treueanforderungen normiert: zum einen ein „aktives persönliches Bekenntnis“ 4 und zum anderen die „Bestätigung eines nicht verfassungsgefährdenden Verhaltens in Vergangenheit und Gegenwart“.5 Letzteres wird als Loyalitätserklärung bezeichnet.6
2
Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 39. Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 32. 4 Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (218). 5 Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (218). 3
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers
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Nach Nr. 85.1.1.1 StAR-VwV7 soll eine schriftliche und mündliche Belehrung des Bewerbers über die „Bedeutung des Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Erklärung“ erfolgen. Ferner soll er „befragt werden, ob er Handlungen vorgenommen hat, die als der Einbürgerung entgegenstehende Bestrebungen im Sinne der Erklärung anzusehen sind“. bb) Bekenntnis als materielle Einbürgerungsvoraussetzung Die genaue Auslegung und behördliche Anwendung des Bekenntnisses sowie der Loyalitätserklärung sind Gegenstand einer nicht abschließend beigelegten Kontroverse. Einigkeit besteht jedenfalls insoweit, als von dem Bewerber unter dem Gesichtspunkt des Bekenntnisses über die bloße verbale Bejahung der Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinaus nicht etwa noch ein Gewährbieten für ein jederzeitiges aktives Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung verlangt wird, wie man es etwa von Bewerbern für die Berufung in ein Beamtenverhältnis fordert (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG).8 Im Übrigen wird aber darüber gestritten, ob es sich bei dem Bekenntnis und der Loyalitätserklärung lediglich um formelle Einbürgerungsvoraussetzungen oder vielmehr um materielle Erfordernisse handelt. Als materielle Anspruchsvoraussetzungen müssten Bekenntnis und Erklärung inhaltlich der Wahrheit entsprechen, was von der Behörde dann auch bereits im Rahmen des § 10 StAG überprüft werden dürfte. Handelte es sich hingegen um bloß formelle Voraussetzungen, wären sie bereits durch die reine Abgabe – etwa durch die Unterschrift unter ein Formblatt mit den entsprechenden Erklärungsinhalten – erfüllt. Im Rahmen dieses Streits hat sich Uwe Berlit als prominenter Vertreter der These von der formellen Einbürgerungsvoraussetzung hervorgetan.9 Er nimmt sowohl für das Bekenntnis als auch für die Loyalitätserklärung an, dass es über die rein verbale Abgabe hinaus nicht auf einen im Rahmen des § 10 StAG überprüfbaren materiellen Wahrheitsgehalt ankomme.10 Neben dem Hinweis auf den 6 Vgl. etwa Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 134. Häufig wird der Terminus der Loyalitätserklärung auch als Überbegriff für das Bekenntnis und die Erklärung über fehlende verfassungsfeindliche Aktivitäten verwendet, so etwa Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 10. Die gesetzgeberische Differenzierung zwischen dem Bekenntnis und der Erklärung gebietet aber auch eine terminologische Abgrenzung beider Erfordernisse, die durch einen gemeinsamen Überbegriff zu verschwimmen droht. 7 Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht vom 13.12. 2000. 8 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 StAG Rn. 138; VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, NVwZ 2006, 484 (484). 9 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 134 ff. 10 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 StAG Rn. 135. Nicht folgerichtig ist dann aber die Annahme einer Rücknehmbarkeit der Ein-
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
nicht eindeutigen Gesetzeswortlaut11 wird dies maßgeblich mit einem systematischen Argument begründet. Die Regelung des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG hätte sonst – so Berlit – keinen selbstständigen Sinn und wäre demnach überflüssig, wenn die Einbürgerungsbehörde bereits nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG zur Prüfung der inhaltlichen Richtigkeit berechtigt wäre.12 Er stützt diese Folgerung auf den Umstand, dass die Wahrheit von Bekenntnis und Loyalitätserklärung angesichts der Unzugänglichkeit der Gesinnung ohnehin nur anhand äußerer Anhaltspunkte überprüft werden könne.13 Das Vorliegen solcher Anhaltspunkte sei aber tatbestandliche Voraussetzung des Einbürgerungsausschlusses nach § 11 StAG und daher auch erst dort zu prüfen. Dem Argument Berlits, dem sich die Rechtsprechung nur vereinzelt angeschlossen hat14, liegt offenbar die Annahme zu Grunde, dass der Wahrheitsgehalt beider Erklärungen des § 10 StAG bereits vollumfänglich anhand des Nichtvorliegens von Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen im Sinne des § 11 StAG geklärt werden könnte.15 Das trifft aber bei differenzierter Betrachtung allenfalls auf die Loyalitätserklärung zu. Die Erklärung, keine verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu verfolgen, ist nämlich in der Tat dann unwahr, wenn in Wahrheit doch solche Bestrebungen verfolgt werden. Ein Bekenntnis ist hingegen weit mehr als das bloße Unterlassen verfassungsfeindlicher Betätigung. Schon dem semantischen Gehalt nach zielt ein „Bekenntnis“ auf die Äußerung einer inneren Werthaltung ab.16 Die Notwendigkeit ihres Wahrheitsgehalts liegt bereits im Wortlaut der Norm verborgen, weil diese bürgerung nach § 35 Abs. 1 StAG wegen eines „materiell unrichtigen“ Bekenntnisses, wenn es „vorsätzlich fehlerhaft in Täuschungsabsicht abgegeben“ wurde, vgl. ders., in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 159; konsequenter ist Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 11, wonach es eine „materiell unrichtige Loyalitätserklärung“ bei der rein formalen Einordnung gar nicht geben kann. 11 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 134. 12 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 137; zustimmend Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 11. 13 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 137. 14 Vgl. etwa VG Aachen, Urt. v. 27.2.2008, 8 K 1717/06, Rn. 25 ff.; VG München, Urt. v. 24.11.2010, AZ M 25 K 09.5509. 15 Vgl. Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 139 [„jenseits der von § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG erfassten tatsächlichen Anhaltspunkte für das Gegenteil ist der Ausländer über eine Erklärung hinaus nicht in der Lage, das Nichtvorhandensein tatsächlicher Anhaltspunkte, die gegen seine Verfassungsloyalität sprechen, darzulegen und zu beweisen.“]. 16 Vgl. Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (218) [„verbal glaubhaft gemachte zumindest innerliche Hinwendung“]; ebenso Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (325) versteht darunter möglicherweise sogar ein „aktives, verfassungspositives Verhalten“.
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers
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von dem Bewerber verlangt, dass er „sich [. . .] bekennt“ und nicht etwa nur „erklärt, sich zu bekennen“. Daher muss es auch Tatbestandsvoraussetzung für den Anspruch auf Einbürgerung sein, dass sich der Bewerber tatsächlich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt, was dann auch – in den verfassungsrechtlichen Grenzen praktischer Überprüfungsmöglichkeiten17 – durch die Behörde von Amts wegen zu ermitteln ist. Für dieses Verständnis spricht auch die Gesetzesbegründung, wonach durch das Bekenntnis die „innere Hinwendung zur Bundesrepublik Deutschland ,dokumentier[t]‘ “ 18 werden soll. Eine innere Hinwendung ist wohl kaum allein durch die Abwesenheit verfassungsfeindlicher Bestrebungen belegt. Der Zweck des Bekenntnisses besteht nämlich insbesondere darin, die Einbürgerung von „Verfassungsfeinden und die daraus herrührenden Gefahren für die staatliche Ordnung zu verhindern“.19 Solche Gefahren bestehen aber nach gesetzgeberischer Einschätzung – besonders für die Zeit nach der Einbürgerung – schon bei innerer Ablehnung der Wertordnung, da dann die Neigung zur verfassungsfeindlichen Betätigung zumindest erhöht sein dürfte. Zudem kann auch bei einer gleichgültigen Einstellung gegenüber der Verfassung ein positives Bekenntnis nicht wahrheitsgemäß abgegeben werden. Verfassungsindifferenz ist – obgleich regelmäßig nicht von aktiven Bestrebungen begleitet – zwar keine Abwendung, aber eben auch keine Hinwendung zur Grundordnung. Der Gesetzgeber wollte aber offenbar eine positive Verfassungstreue im Sinne einer aktiven Bejahung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur Einbürgerungsvoraussetzung machen. Daher soll dem Bewerber „die Notwendigkeit einer glaubhaften Hinwendung zu den Grundprinzipien der deutschen Verfassungsordnung unmittelbar vor seiner Aufnahme in den deutschen Staatsverband“ 20 deutlich gemacht werden. Das grundsätzliche Erfordernis der materiellen Richtigkeit des Bekenntnisses verschafft der Behörde die Möglichkeit, bei Vorliegen entgegenstehender Anhaltspunkte – außerhalb des Tatbestands von § 11 StAG – genauer nachzuforschen. Andernfalls müsste sie sehenden Auges auch solche Bewerber einbürgern, die offen zugeben, dass sie das Bekenntnis „nur zum Schein“ unterschrieben haben. Ein solches Lippenbekenntnis kann aber nicht ausreichen.21 Die Bekenntnisanforderung würde sich sonst in einer Leerformel erschöpfen, deren tatbestandliche Existenz für das Einbürgerungsrecht keine Bedeutung hätte. Eine solche Auslegung missachtet den gesetzgeberischen Willen.
17
Vgl. unter III. 2. b) cc). BT-Drs. 14/533, S. 18. 19 VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, 13 S 2948/04, Rn. 10; vgl. auch Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 15a. 20 VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, 13 S 2948/04, Rn. 10; Kay Hailbronner/ Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 15a; vgl. BT-Drs. 14/533, S. 18. 21 VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14. 18
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
Berlit ist aber insoweit zuzustimmen, als die Prüfung des Nichtvorliegens verfassungsfeindlicher Bestrebungen – wie sie dem § 11 StAG zu Grunde liegt – in der Tat bereits in der Prüfung des Wahrheitsgehalts des Bekenntnisses aufgeht. Denn die Verfolgung verfassungsfeindlicher Bestrebungen impliziert wie kaum etwas anderes die inhaltliche Unrichtigkeit des Bekenntnisses, sodass die Behörde auch solche Anhaltspunkte bereits bei der materiellen Prüfung des Wahrheitsgehalts des Bekenntnisses zu ermitteln und berücksichtigen hat. Insoweit muss das Verhältnis von Bekenntnis und Loyalitätserklärung näher betrachtet werden. Nach Berlit solle die Unterscheidung lediglich dazu dienen, „dem Einbürgerungsbewerber den Bedeutungsgehalt des abzugebenden Bekenntnisses nachhaltiger vor Augen zu führen“.22 Dem kann man insoweit zustimmen, als der Erklärung ein indizieller und damit stützender Charakter gegenüber dem Bekenntnis beizumessen ist. Wer sich wahrheitsgemäß bekennt, muss zumindest auch die Abwesenheit verfassungsfeindlicher Bestrebungen bekunden. Die Abwesenheit verfassungsfeindlicher Bestrebungen ist notwendig – wenn auch nicht hinreichend – für ein wahrheitsgemäßes Bekenntnis. Wer verfassungsfeindliche Aktivitäten verfolgt oder bewusst unterstützt, kann sich wohl kaum positiv zur Verfassung bekennen. Nun kann man freilich einwenden, dass vielmehr die Loyalitätserklärung als solche bedeutungslos ist, da man bereits durch ein Bekenntnis implizit miterklärt, keine verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu verfolgen. Insoweit ist diese Erklärung – wie bereits gesagt – eine partielle Konkretisierung des Bekenntnisses, die noch einmal die gewichtigsten objektivierbaren Spielarten seines fehlenden Wahrheitsgehalts enthält. Dem liegt im Hinblick auf die verschiedenen Modalitäten der Loyalitätserklärung die praktische Annahme zu Grunde, dass auch Bestrebungen gegen den Staat und seine Organe angesichts der Notwendigkeit des Staates für die effektive Verwirklichung der Wertordnung nur von einer verfassungsfeindlichen Gesinnung getragen sein können. Dasselbe gilt für die Durchsetzung politischer Belange mit dem Mittel der Gewalt.23 Solches Verhalten begründet erhebliche Zweifel an einem wahrheitsgemäßen Bekenntnis zu einer Wertordnung, die Gewalt als Mittel politischer Zielerreichung grundlegend ausschließt. Damit ist praktisch kaum eine Konstellation denkbar, in der sich ein Ausländer wahrheitsgemäß zur Verfassung bekennt, obwohl er Bestrebungen im Sinne der Erklärung verfolgt. Daher ist zwar das Bekenntnis bei unwahrer Loyalitätserklärung notwendig falsch, nicht aber umgekehrt die Erklärung zwingend auch dann unwahr, wenn sich der Bewerber tatsächlich nicht zur 22
Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 143. Vgl. Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 3, wonach etwa Bestrebungen im Sinne des § 11 Satz 1 Nr. 1 Alt. 3 StAG, die in der Loyalitätserklärung in § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Hs. 2 c) StAG ihre Entsprechung finden, „politisch bestimmte [. . .], ziel- und zweckgerichtete [. . .] Verhaltensweisen [umfassen]“, die darauf gerichtet sind, „Gewalt als Mittel der Durchsetzung seiner politischen Belange einzusetzen“. 23
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers
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Verfassung bekennt. Denn auch der reine Gesinnungsverfassungsfeind kann sich trotz seiner Untätigkeit nicht wahrheitsgemäß zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen. Der Wahrheitsgehalt der Loyalitätserklärung ist allein von der Abwesenheit verfassungsfeindlicher Bestrebungen abhängig. Diese liegt der Prüfung des § 11 StAG zu Grunde, sodass diese in jedem Fall wahr sein muss, damit eine Einbürgerung erfolgen kann. Allerdings wird dem Bekenntnis bei einer rein formellen Interpretation im Ergebnis keine eigenständige Bedeutung mehr beigemessen. Es wird der Fall außer Acht gelassen, dass jemand – etwa im Rahmen einer kritischen Reflexion – zu einer innerlich ablehnenden Haltung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gelangt, ohne dass er aber diese Haltung durch aktive Bestrebungen zu verwirklichen sucht.24 Ein Bewerber kann demnach durchaus äußerlich verfassungstreu – im Sinne des § 11 StAG sein –, sodass seine Loyalitätserklärung wahr ist, während er zugleich auf Grund innerer Ablehnung ein materiell wahres Bekenntnis nicht abgeben kann. Hier kommt dem Bekenntnis eine eigenständige Bedeutung zu, die durch die rein formale Betrachtungsweise beider Erklärungen des § 10 StAG verschleiert wird. Das widerspricht aber angesichts der ausdrücklichen Differenzierung zwischen Bekenntnis und Loyalitätserklärung dem gesetzgeberischen Regelungskonzept. In der Praxis kann die eigenständige Bedeutung des Bekenntnisses vor allem durch bekannt gewordene – und verwertbare25 – verfassungsfeindliche Meinungsäußerungen relevant werden, wenn diese noch nicht die Voraussetzungen von „Bestrebungen“ im Sinne des § 11 StAG erfüllen. Denn nicht jede verfassungsfeindliche Äußerung erfüllt schon den Ausschlusstatbestand. Die Einbürgerung bekennender Verfassungsfeinde ist aber auch ohne konkrete Aktivitäten offensichtlich nicht im Sinne des Gesetzgebers, geht doch von diesen für die Zukunft ein – zumindest potenziell – höheres Risiko aus, ihr Denken in die Tat umzusetzen. Dies gilt auch für den reinen Gesinnungsverfassungsfeind, der über seine verfassungsfeindliche Einstellung gänzlich schweigt und sich auch auf Nachfrage nicht zu erkennen gibt. Hier greift dann zwar der berechtigte praktische Einwand der fehlenden Überprüfbarkeit der Gesinnung. Dies ist aber für sich genommen noch kein Argument dafür, die innere Haltung nicht grundsätzlich zu einer Einbürgerungsvoraussetzung erheben zu können. Vielmehr kommt es hier auf eine differenzierte und sachangemessene Ausgestaltung der Feststellungsmethoden26 und Beweislastverteilung27 an. 24 Vgl. etwa den Fall bei VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14; vgl. auch VG Aachen, Urt. v. 19.11.2015, 5 K 480/14, Rn. 86, wo dem Bekenntnis nach § 10 StAG eine gegenüber dem § 11 StAG eigenständige Bedeutung beigemessen wurde [„Ob der Einbürgerung daneben der Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG entgegensteht, kann offenbleiben“]. 25 Dazu unter III. 2. b) cc). 26 Vgl. unter III. 2. b) cc). 27 Vgl. unter 2. c).
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
Obwohl der materielle Wahrheitsgehalt des Bekenntnisses nach diesem Befund auch die Abwesenheit verfassungsfeindlicher Bestrebungen einschließt, ist § 11 StAG durch eine solche Sichtweise aus drei Gründen entgegen der Auffassung von Berlit nicht überflüssig: Erstens gilt er für sämtliche Einbürgerungstatbestände – also auch für § 8 StAG – und findet dort in jedem Fall einen eigenen Anwendungskontext. Dies folgt schon aus dem Wortlaut, wonach nicht (mehr) der Einbürgerungsanspruch, sondern ganz generell „die Einbürgerung“ ausgeschlossen ist.28 Zweitens wird durch § 11 StAG auch im Anwendungsbereich der Anspruchseinbürgerung klargestellt, dass bereits bei „tatsächlichen Anhaltspunkten“ für verfassungsfeindliche Bestrebungen die Einbürgerung ausgeschlossen ist. Die damit verbundene Beweiserleichterung erspart der Behörde den schwierigen Nachweis verfassungsfeindlicher Aktivitäten. Dem Bürger obliegt nach dieser Norm die Glaubhaftmachung der Abwendung von derartigen Bestrebungen, wenn er seinen Einbürgerungsanspruch erhalten will. Das Erfordernis der Glaubhaftmachung sieht auch bereits § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG am Ende vor. Insoweit kann man die Regelungstechnik wegen ihrer Redundanz durchaus kritisieren.29 § 10 StAG ist aber nicht klar zu entnehmen, unter welchen Umständen eine solche Glaubhaftmachung überhaupt nötig ist. § 11 StAG ist dahingehend klarer und verlangt die Glaubhaftmachung als Gegenausnahme („es sei denn“) zum Einbürgerungsausschluss beim Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für die Verfolgung oder Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die Norm konkretisiert daher insgesamt die Beweislastverteilung bei der Feststellung der einbürgerungsrechtlich relevanten Verfassungstreue. Will man der Vorschrift trotzdem kaum einen eigenen Anwendungsbereich entnehmen30, so muss man ihr zumindest eine klarstellende Funktion zugestehen. Dadurch wird nämlich schon bei Vorliegen von Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen die Darlegungs- und Beweislast zumindest für die über die reine Gesinnung hinausgehenden objektiv überprüfbaren Tatsachen ausdrücklich (wieder) dem Bürger zugewiesen, um so den Staat effektiv vor der Einbürgerung von (äußeren) Verfassungsfeinden zu schützen. Drittens bedarf es der Norm des § 11 StAG bei der Anspruchseinbürgerung von Ausländern, die nicht handlungsfähig im Sinne des § 37 Abs. 1 S. 1 StAG sind, also insbesondere von Ausländern unter 16 Jahren, da diese gemäß § 10 Abs. 1 S. 2 StAG das Bekenntnis und die Loyalitätserklärung nicht abzugeben haben. Hier geht der Gesetzgeber wohl davon aus, dass diese den Bedeutungsge28
Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 41. So auch Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 145. 30 So schon Astrid Wallrabenstein, in: Huber (Hrsg.), Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Band II, § 86 AuslG [100 B], Rn. 6 zur Vorgängerregelung. 29
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers
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halt ihrer Erklärungen (noch) nicht zu erfassen in der Lage sind, sodass er sie auch ohne positive Hinwendung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung einzubürgern bereit ist. Berlit sieht in dieser Freistellung von einem Bekenntnis sogar ein weiteres Argument für die formelle Betrachtungsweise.31 Er argumentiert, dass ein über den § 11 StAG hinausgehender Auftrag zur materiellen Prüfung – wenn man ihn in das Bekenntnis hineinlesen würde – auch bei fehlender Handlungsfähigkeit einen eigenen Sinn hätte, sodass sich der Ausschluss solcher Personen überhaupt nur bei formeller Sichtweise – also ohne zusätzlichen materiellen Prüfungsauftrag – erklären lässt.32 Diese Argumentation lässt wiederum den in der positiven Hinwendung manifestierten inneren Gehalt des Bekenntnisses außer Acht. Erst daraus erklärt sich nämlich die Freistellung vom Treuebekenntnis überhaupt. Der Gesetzgeber mutet Jugendlichen unter 16 Jahren und geschäftsunfähigen Personen schlichtweg die Entscheidung zur Identifikation mit der Wertordnung (noch) nicht zu. Schließlich wird dafür eine gewisse Reife in der persönlichen Wertbildungsentwicklung und eine gewisse Beurteilungsfähigkeit voraussetzt, die nach der gesetzgeberischen Entscheidung eben erst durch die Handlungsfähigkeit im Sinne des § 37 Abs. 1 S. 1 StAG erreicht wird. Der Hinweis, dass auf Grund des Schulbesuchs von Jugendlichen unter 16 Jahren hinreichende staatsbürgerliche Kenntnisse anzunehmen sind, sodass der tragende Grund fehlt, sie von einer solchen materiellen Anforderungen freizustellen33, überzeugt angesichts der in § 10 Abs. 1 S. 2 StAG ebenfalls angeordneten Freistellung vom Erfordernis eines Einbürgerungstests nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 StAG allenfalls als rechtspolitischer Appell. Denn auch hier geht der Gesetzgeber trotz des unbestritten materiellen Gehalts des über den Test abgeprüften Wissens davon aus, dass dieser Personenkreis diese Anforderung nicht zu erfüllen hat. Er fingiert eine nicht hinreichende Fähigkeit, den Bedeutungsgehalt von Treuebekenntnis und staatsbürgerlichen Kenntnissen umfassend zu beurteilen. Daher hat § 11 StAG gerade hier eine eigenständige und herausgehobene Bedeutung, da dadurch bei aktiven Bestrebungen gegen die Verfassung auch die Einbürgerung nicht handlungsfähiger Bewerber ausgeschlossen ist. Für das Bekenntnis als materielle Einbürgerungsvoraussetzung spricht auch eine Stellungnahme der Bundesregierung im Rahmen eines Verfahrens über einen schließlich nicht Gesetz gewordenen Vorschlag des Bundesrates, tatsächliche Anhaltspunkte für Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses zu einem Einbürgerungsausschlussgrund nach § 11 StAG zu erheben.34 Ein solcher Gesetzesvorschlag habe letztlich die „Überprüfung einer bereits bestehenden gesetzli-
31 32 33 34
Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 144. Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 144. Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 144. Vgl. BT-Drs. 16/5107, S. 6, zur Begründung S. 10.
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chen Regelung“ 35 zum Inhalt. Danach ist also bereits ohne einen ausdrücklichen gesetzlichen Ausschlussgrund in § 11 StAG der Wahrheitsgehalt des Bekenntnisses überprüfbar. Schlussendlich müssen also sowohl das Bekenntnis als auch die Loyalitätserklärung der Wahrheit entsprechen. In der Praxis fallen die Prüfungen von § 10 StAG und § 11 StAG durch einheitliche Behördenermittlungen regelmäßig zusammen, sodass eine klare Trennung ihrer Anwendungsbereiche im Kontext der Anspruchseinbürgerung nicht immer möglich – aber auch nicht notwendig – ist. In diesem Zusammenhang kann die Behörde auch in einem persönlichen Gespräch oder anhand eines standardisierten Fragebogens feststellen, ob der Bewerber überhaupt über Kenntnisse der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verfügt.36 Denn ein Bekenntnis setzt denknotwendig Mindestkenntnisse voraus.37 Die Überprüfung von Kenntnissen ist im Gegensatz zur Überprüfung von Gesinnungen auch weitaus leichter – und grundrechtsschonender38 – möglich. Allerdings können Kenntnisse allein noch nicht ausreichen, um ein wahrheitsgemäßes Bekenntnis anzunehmen. Sonst wäre das Bekenntnis neben dem geforderten Einbürgerungstest (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 StAG) überflüssig. Denn auch dort wird eine Mindestkenntnis über den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgeprüft. Der Befund, dass das Bekenntnis eine materielle Einbürgerungsvoraussetzung ist und somit ein Lippenbekenntnis nicht ausreicht39, ist allerdings nur das Ergebnis der Auslegung des geltenden Einbürgerungsrechts. Damit verbunden ist noch keine Bewertung einer solchen Bekenntnisanforderung sowie deren konkreter Anwendung in der Praxis. Die praktischen Probleme zeigen sich insbesondere dann, wenn es darum geht, in dem Gespräch mit dem Bewerber seine innere Haltung zu erforschen, ohne unzulässig in seine Rechte einzugreifen. Inwieweit dabei auch Gesprächsleitfäden herangezogen werden können, hängt wohl auch von den konkreten Fragestellungen ab. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie es zu bewerten ist, wenn ein Bewerber sich darauf berufen möchte, dass ihm aus reli35
BT-Drs. 16/5107, S. 14. VGH Mannheim, Urt. v. 20.2.2008, VBlBW 2008, 277. 37 VGH Mannheim, Urt. v. 20.2.2008, VBlBW 2008, 277. 38 Vgl. unter III. 2. b) cc). 39 Im Ergebnis ebenso VG Karlsruhe, Urt. v. 26.2.2003, 4 K 2234/01; VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, NVwZ 2006, 484; VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14; VG Aachen, Urt. v. 19.11.2015, 5 K 480/14; Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 15 a; so wohl auch Günter Renner, Ausländerrecht, Nachtrag zur 7. Auflage, AuslG-Kommentar, § 85 Rn. 26 [„Übereinstimmung des Einbbew. mit den Grundprinzipien des GG“; „bewußte Anerkennung der grundlegenden Verfassungsprinzipien“]; vgl. auch Ralph Göbel-Zimmermann/Alexander Eichhorn, Entwicklungen des Staatsangehörigkeitsrechts seit 2000 – eine kritische Bilanz (Teil 1), ZAR 2010, 293 (300). 36
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers
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giösen Gründen die notwendige Einstellung zu den Grundprinzipien nicht möglich ist.40 Diese und andere Fragen gehen aber über eine Darstellung der geltenden Rechtslage hinaus. Zur konkreten Bewertung des Bekenntnisses und seiner freiheitsschonenden Ausgestaltung wird daher ausführlich unter III. Stellung bezogen. cc) Begrenzung der Treue auf die freiheitliche demokratische Grundordnung Die geltende Rechtslage wird jedoch bisweilen auch im Hinblick auf den Gegenstand der Treue nicht einheitlich interpretiert. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut ist Gegenstand des geforderten Treuebekenntnisses ausschließlich die freiheitliche demokratische Grundordnung. Deren Inhalt wiederum wurde bekanntlich durch das Bundesverfassungsgericht konkretisiert.41 Einfachgesetzlich wurde der Begriff in § 4 Abs. 2 BVerfSchG definiert. Danach gehören dazu – noch in Anlehnung an die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Parteiverboten42 – „[. . .] das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, [. . .] die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, [. . .] das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, [. . .] die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, [. . .] die Unabhängigkeit der Gerichte, [. . .] der Ausschlu[ss] jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und [. . .] die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.“ Die Definition steht damit in untrennbarem Zusammenhang mit dem Prinzip der wehrhaften Demokratie.43 Daher ist auch eine Erstreckung des Bekenntnisses auf die „Einstellung zum deutschen Kulturkreis“ 44 sowie die Forderung, sich „in die deutschen Lebensverhältnisse einzuordnen und in die deutsche Umwelt einzuleben [und damit] die überkommenen und traditionellen deutschen Lebensgewohnheiten und die deutsche Rechtsordnung zu respektieren und zu beachten sowie die hiesigen Sitten und Gebräuche zu akzeptieren“ 45 eine deutliche Überdehnung des Treuegegenstands.46 40 Vgl. dazu Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (224). 41 Vgl. nunmehr BVerfGE, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13. 42 Vgl. noch BVerfGE 2, 1 (12 f.). 43 VGH Mannheim, Urt. v. 25.04.2017, NVwZ 2017, 1212 (1215). 44 VG Gießen, Urt. v. 7.6.2004, 10 E 2666/03, Rn. 21. 45 VG Gießen, Urt. v. 7.6.2004, 10 E 2666/03, Rn. 21. 46 Problematisch daher Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, JZ 1999, 538 (547), der – allerdings ohne Bezugnahme auf das
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Deshalb kann auch das Führen – oder nur Befürworten – einer Zweit- oder Vielehe als solches nicht als Anhaltspunkt dafür herangezogen werden, dass das Bekenntnis nicht der Wahrheit entspricht.47 Denn das der deutschen Rechtsordnung und auch dem Art. 6 GG zu Grunde liegende Prinzip der Einehe ist nicht Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.48 Auch wenn das Prinzip der Einehe „zweifellos zu den grundlegenden kulturellen Wertvorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland“ 49 gehört, weist es keinerlei thematischen Bezug zur wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes auf.50 Wer eine Doppelehe führt, ist schließlich dadurch nicht schon Verfassungsfeind. Allerdings steht das Führen einer Doppelehe nach dem seit dem 09.08.2019 geltenden Recht unter dem Gesichtspunkt der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse dem Einbürgerungsanspruch entgegen.51 Seitdem ist Voraussetzung für die Einbürgerung, dass die Einordnung des Bewerbers „in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet, insbesondere er nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet ist“. Diese gesetzgeberische Änderung bestätigt aber hinsichtlich des Bekenntnisses nur, dass dessen Gegenstand nicht auch die deutschen Lebensverhältnisse sein sollen. Denn sonst wäre eine derartige Änderung gar nicht erforderlich gewesen. Soweit damit die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse zu einer Einbürgerungsvoraussetzung erhoben wurde, gehen die Anforderungen über die bloße Treue zur Verfassung de lege lata nunmehr weit hinaus. Wer etwa infolge seiner fundamentalistischen Kultur- und Wertevorstellungen das Händeschütteln mit jeglicher Frau deshalb ablehnt, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung gilt, kann nunmehr – ohne allerdings allein deshalb als Verfassungsfeind zu gelten – unter dem Gesichtspunkt der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht mehr eingebürgert werden.52 Staatsangehörigkeitsrecht – einen Vorbehalt zu Gunsten der christlich-abendländischen Kultur ausruft; Rupert Scholz/Arnd Uhle, Staatsangehörigkeit und Grundgesetz, NJW 1999, 1510 (1512) [„effektive Homogenität“]. 47 BVerwG, Urt. v. 29.05.2018, 1 C 15.17; anders noch VG Karlsruhe, Urt. 8.5.2013, 4 K 1419/11; VG Gießen, Urt. v. 7.6.2004, 10 E 2666/03; zu Recht kritisch zur Gleichsetzung von Polygamie und Verfassungsfeindlichkeit Thomas Oberhäuser, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 35 Rn. 22; überzeugend ebenfalls VG Regensburg, Urt. 27.5.2009, RN 9 K 08.01658. 48 Mit ausführlicher Begründung VGH BW, Urt. vom 25.04.2017, NVwZ 2017, 1212 (1215); zustimmend Dirk Herrmann, Anmerkung zu VGH BW, Urteil vom 25.04.2017 (12 S 2216/14), NVwZ 2017, 1217 (1217 f.). 49 VGH Mannheim, Urt. v. 25.04.2017, NVwZ 2017, 1212 (1215). 50 VGH Mannheim, Urt. v. 25.04.2017, NVwZ 2017, 1212 (1215). 51 So bereits BVerwG, Urt. v. 29.05.2018, 1 C 15.17 im Rahmen der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse, die bis zum 08.08.2019 nur für die Einbürgerung von Ehegatten und Lebenspartnern Deutscher nach § 9 StAG Voraussetzung war und seit dem 09.08.2019 generell auch im Rahmen der Einbürgerung nach §§ 8 und 10 StAG gefordert wird. 52 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 20.08.2020 – 12 S 629/19.
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Die einbürgerungsrechtliche Verfassungstreue nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG ist daher begrenzt auf die freiheitliche demokratische Grundordnung mit ihrem in § 4 Abs. 2 BVerfSchG konkretisierten Minimalgehalt. b) § 11 Staatsangehörigkeitsgesetz Nach § 11 StAG ist die Einbürgerung – unter anderem53 – ausgeschlossen, „wenn [. . .] tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind [. . .]“. Der Gesetzgeber normiert damit Tatbestandsvoraussetzungen, die sowohl die Anspruchs- als auch die Ermessenseinbürgerung ausschließen. Damit will er seiner Verantwortung bei der Terrorismusbekämpfung auch im Staatsangehörigkeitsrecht gerecht werden.54 Zweck dieser Norm ist ausweislich der Gesetzesbegründung die Verhinderung der Einbürgerung von PKK-Aktivisten oder radikalen Islamisten auch dann, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen nicht sicher nachgewiesen werden können.55 Denn grundsätzlich trägt zwar die Behörde für den Einbürgerungsausschluss die materielle Beweislast.56 Allerdings ist der Tatbestand bereits bei „tatsächlichen Anhaltspunkten“ für entsprechende Bestrebungen erfüllt, was die Behörde von dem oft schwierigen Nachweis konkreter Aktivitäten befreit. Insbesondere die Frage der Verfassungsfeindlichkeit einer Organisation sowie der Umfang der Betätigung des Antragsstellers sind sonst kaum mit letzter Sicherheit zu beweisen.57 Allerdings reicht es nicht, dass die Behörde einen allgemeinen Verdacht, der nicht durch konkrete Tatsachen gestützt ist, zur Grundlage für den Ausschluss macht.58 Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sind „politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, die Grundprinzipien der politischen Ordnungs- und Wertvorstellungen, auf denen die Bundesrepublik 53 Die Ausführungen werden zwecks thematischer Eingrenzung auf die spezifische Verfassungstreue auf die Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung beschränkt. 54 Hans-Georg Maaßen, Staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen der Terrorismusbekämpfung, ZAR 2011, 336 (337). 55 BT-Drs. 14, 533, S. 18 f.; vgl. dazu VGH BW, Urt. v. 11.7.2002, DVBl. 2003, 84 zur Versagung der Einbürgerung eines PKK-Aktivisten; vgl. auch Hans-Georg Maaßen, Staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen der Terrorismusbekämpfung, ZAR 2011, 336 (337). 56 VG Kassel, Urt. v. 7.2.2008, 4 E 384/06; Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 14 f. 57 VG München, Urt. v. 14.1.2015, M 25 K 13.3143, Rn. 20. 58 Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 3.
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ruht, zu beeinträchtigen“.59 Die Beurteilung der Verfassungsfeindlichkeit erfolgt dabei regelmäßig auf der Grundlage einer Analyse der Struktur und Zielsetzung einer Organisation anhand ihrer Satzung und des Verhaltens ihrer Funktionsträger.60 Die Definition erfordert einen Bezug zu einem Personenzusammenschluss.61 Es geht also offenbar um Fälle organisierter Verfassungsfeindlichkeit. Einzelne verfassungsfeindliche Aussagen, die in keiner Weise von einer fördernden Zwecksetzung getragen sind oder in keinem organisatorischen Kontext zu anderen Personen stehen, sind also keine Bestrebungen im Sinne der Vorschrift.62 Als Handlungsmodalitäten unterscheidet § 11 S. 1 Nr. 1 StAG zwischen dem Verfolgen und dem Unterstützen der entsprechenden Bestrebungen. Verfolgen ist das „aktive Vorantreiben sicherheitsrelevanter Bestrebungen, das durch eigene Handlungen bewirkt wird und in Kenntnis der Tatsachen erfolgt, welche die nach Nr. 1 inkriminierten Ziele ausfüllen“.63 Darunter fällt wohl vor allem die hauptverantwortliche Leitungstätigkeit innerhalb einer Organisation, die durch eigenes Verhalten die genannten Schutzgüter beeinträchtigt.64 Die Handlungsmodalität des Unterstützens hingegen weist weitaus größere Auslegungs- und Anwendungsprobleme auf. Unterstützen ist nach einer Definition der Rechtsprechung „jede Handlung des Ausländers, die für Bestrebungen i. S. des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG objektiv vorteilhaft ist, d. h. sich in irgendeiner Weise für diese positiv auswirkt“.65 Darunter fällt „jedes Tätigwerden auch eines Nichtmitglieds, das die innere Organisation und den Zusammenhalt der Vereinigung, ihren Fortbestand oder die Verwirklichung ihrer inkriminierten Ziele fördert und damit ihre potentielle Gefährlichkeit festigt und ihr Gefährdungspotential stärkt“.66 Die objektive Vorteilhaftigkeit muss für den Ausländer sowohl erkennbar als auch von seinem Willen getragen sein.67 Das gilt auch für die Verfassungsfeindlichkeit der Zielrichtung einer durch Selbsterklärung unterstützten Vereinigung. Die Einbürgerung ist in einem solchen Fall allerdings dann nicht ausgeschlossen, wenn die verfassungsfeindliche Zielsetzung für den Bewerber nicht erkennbar
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Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 3. Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 9. 61 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 100. 62 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 100. 63 Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 3. 64 Vgl. Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 12. 65 BVerwG, NVwZ 2012, 1254 (1255). 66 OVG Saarlouis, Urt. v. 11.07.2007, 01 A 224/07, Rn. 73. 67 BVerwG, NVwZ 2007, 956 (957); BVerwGE 135, 302. 60
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war.68 Im Übrigen geht ein Irrtum des Einbürgerungsbewerbers über die Ziele der Organisation angesichts der Beweiserleichterung des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG zu seinen Lasten, ohne dass es ausdrücklicher Feststellungen über seine tatsächliche innere Einstellung bedürfte.69 Unerheblich ist daher auch der subjektive Vorbehalt, die verfassungsfeindlichen Aktivitäten nicht unterstützen zu wollen, etwa weil der Ausländer andere Motive für eine objektive Unterstützungshandlung hatte.70 Anders ist es jedoch zu beurteilen, wenn der Ausländer ausschließlich einzelne politische oder humanitäre Ziele der Organisation verfolgt, ohne dass er die verfassungsfeindlichen Ziele befürwortet.71 Sofern die Unterstützung sich nach außen erkennbar auf die nicht verfassungsfeindlichen Ziele beschränkt und damit keine Billigung der Förderung auch der inkriminierten Inhalte einhergeht, gibt es nach dem Normzweck des § 11 StAG keinen Grund, dem Bewerber die Einbürgerung zu versagen. Die Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen genügt hingegen auch schon in einem Vorfeldstadium, ohne dass es auf einen konkreten Erfolg oder auch nur eine objektive Gefährdungseignung ankäme.72 Der einbürgerungsrechtliche Sicherheitsschutz wird also weit in Bereiche vorverlagert, die weder strafrechtliche Relevanz haben noch eine unmittelbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstellen.73 Relevante Unterstützungshandlungen können etwa öffentliche – aber auch nicht öffentliche – Befürwortungen einschlägiger Bestrebungen durch „Wort, Schrift und Bild, die Gewährung finanzieller Unterstützung oder die Teilnahme an Aktivitäten zur Verfolgung oder Durchsetzung der [. . .] genannten Ziele“ sein.74 Danach können öffentliche Meinungsäußerungen durchaus hinreichend sein, um den Tatbestand des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG zu erfüllen. Jedoch gibt es 68 BVerwG, NVwZ 2007, 956, wo der Ausländer beim Unterzeichnen einer Selbsterklärung die den Wortlaut übersteigenden Ziele der PKK nicht erkennen konnte und nach seinem Kenntnisstand keine Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit der damals abgegebenen Erklärung der PKK hegen musste, sie werde zukünftig ihre Ziele legal und gewaltfrei verfolgen. 69 VGH München, Urt. v. 5.3.2008, 5 B 05.1449, Rn. 53; OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.7.2016, 13 LA 33/15. 70 VG Saarlouis, Urt. v. 26.2.2008, 2 K 366/07, wo der Bewerber den – schließlich unbeachtlichen – Einwand erhoben hat, er habe sich „subjektiv nicht für die inkriminierten Ziele der PKK einsetzen wollen, es sei ihm vielmehr nur darum gegangen, den Kurden in der Türkei mehr Rechte zukommen zu lassen“. 71 OVG Saarlouis, Urt. v. 11.7.2007, 1 A 224/07; VG Freiburg, Urt. v. 5.12.2007, 1 K 1851/06. 72 VG Bremen, Urt. v. 30.1.2012, 4 K 1704/09; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 7.6.2012, 5 B 5.10. 73 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 14. 74 VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, 13 S 2948/04; vgl. auch VGH München, Urt. v. 27.5.2003, 5 B 01.1805.
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ebenso verfassungsfeindliche Meinungsäußerungen, die noch nicht die Schwelle des „Unterstützens verfassungsfeindlicher Bestrebungen“ erreichen. Im Anwendungsbereich der Anspruchseinbürgerung kann aber in solchen Fällen zumindest der Wahrheitsgehalt des Bekenntnisses bezweifelt werden. Die aktive Mitgliedschaft sowie die Tätigkeit in den Leitungsgremien einer Vereinigung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, wird generell als einbürgerungsschädlich angesehen, ohne dass es auf eine über die Funktion hinausgehende innere Einstellung ankommt.75 Die verfassungsfeindliche Zielverfolgung der Organisation muss aber mehr als nur unwesentlich sein.76 Bei diffusen Organisationen – also solchen mit sowohl verfassungsfeindlichen als auch verfassungskonformen „Flügeln“ – reicht die aktive Mitgliedschaft nicht aus. Vielmehr muss die Tätigkeit des Einbürgerungsbewerbers selbst als Unterstützung einer verfassungsfeindlichen Bestrebung qualifiziert werden können.77 Dazu muss er entweder zu verfassungsfeindlichen Aktivitäten einen konkreten Beitrag leisten oder zumindest die Organisation als Ganzes in zurechenbarer Weise unterstützen.78 Selbst die reine Mitgliedschaft als solche kann für die Annahme einer relevanten Unterstützung ausreichen.79 Jedenfalls dürfte die Mitgliedschaft zumindest hinreichenden Anlass für die Behörde bieten, genauere Nachforschungen anzustellen. Selbst wenn im Einzelfall ein Unterstützen nicht angenommen wird, wirft die Mitgliedschaft in einer eindeutig verfassungsfeindlichen Organisation zumindest erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt des Bekenntnisses nach § 10 StAG auf, sodass dies den Bewerber jedenfalls dahingehend in Erklärungsnot bringen dürfte. Auch das Handeln von Nichtmitgliedern kann – etwa durch finanzielle Unterstützung – einen Nutzen für die Organisation haben und so ihre potenzielle Gefährlichkeit festigen, sodass auch dann der Tatbestand erfüllt ist.80 Für einen Ausländer, der in der Vergangenheit den Tatbestand des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG erfüllt hat, sieht das Gesetz selbst die Möglichkeit vor, „glaubhaft [zu machen], dass er sich von früheren Verfolgungen oder Unterstützungen derartiger Bestrebungen abgewandt hat“. Durch das Erfordernis der Glaubhaftmachung
75 VG Mainz, Urt. v. 14.10.2004, 6 K 251/04.MZ; VG Neustadt/Weinstraße, Urt. v. 20.4.2004, 5 K 2179/03; VG Stuttgart, Urt. v. 26.10.2005, 11 K 2083/04; VGH München, Beschl. v. 27.8.2004, 5 ZB 03.1336. 76 VGH Kassel, Beschl. v. 6.1.2006, 12 UZ 3731/0406, 429. 77 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 9. 78 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 9. 79 BVerwGE 135, 302. 80 VG Freiburg, Urt. v. 5.12.2007, 1 K 1851/06 – Besitz von Publikationen und Symbolen des verbotenen „Kalifstaats“ sowie das mindestens dreijährige Verkehren in einer der ebenfalls verbotenen Teilorganisationen; VG Saarlouis, Urt. v. 26.2.2008, 2 K 366/ 07.
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wird der Beweismaßstab für den Ausländer derart herabgesetzt, dass sich nach einer „würdige[n] Gesamtschau“ 81 nur noch ein bestimmter Wahrscheinlichkeitsgrad ergeben muss, der zwar über das bloße Behaupten hinausgeht, aber dennoch keinen sicheren Nachweis erfordert.82 Die Voraussetzung ist in Entsprechung zur zivilprozessualen Glaubhaftmachung gemäß § 294 ZPO erfüllt, wenn das Vorliegen der relevanten Tatsachen „überwiegend wahrscheinlich“ 83 ist. Daher muss nach dem Vortrag des Einbürgerungsbewerbers schlussendlich mehr für die Abwendung von den verfassungsfeindlichen Bestrebungen sprechen als gegen sie.84 Zentral ist, dass an die Glaubhaftmachung des Abwendens keine strengeren Anforderungen gestellt werden dürfen als an den Nachweis des Ausschlussgrundes.85 In die Gesamtschau müssen die Art und das Gewicht, aber auch die Häufigkeit und der Zeitpunkt der relevanten Verhaltensweisen einfließen.86 Dabei sinken die Anforderungen an ein erfolgreiches Glaubhaftmachen mit der verstrichenen Zeit seit der letzten verfassungsfeindlichen Aktivität.87 Gegenstand der Glaubhaftmachung ist das Tatbestandsmerkmal des Abwendens. Dieses verlangt „mehr als ein bloß äußeres – zeitweiliges oder situationsbedingtes – Unterlassen“.88 Insbesondere wird ein innerer Lernprozess gefordert, der den Schluss zulässt, dass in Zukunft die durch § 11 S. 1 Nr. 1 StAG inkriminierten Bestrebungen nicht mehr unterstützt werden.89 Dieser Maßstab zeigt, wie sehr der Gesetzgeber bzw. die ihn konkretisierende Rechtsprechung von der Relevanz innerer Denkvorgänge ausgeht. Nur eine innere Distanzierung kann offenbar auch eine echte Gewähr dafür bieten, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Zukunft nicht mehr zu besorgen ist. Zwar muss der Ausländer dazu nicht von seinen früheren Auffassungen „abschwören“, indem er versichert, in der Vergangenheit eine falsche Auffassung vertreten zu 81 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 17. 82 Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 7. 83 Hanns Prütting, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar, ZPO-Kommentar, § 294 Rn. 24. 84 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 17; vgl. Hanns Prütting, in: Rauscher/ Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar, ZPO-Kommentar, § 294 Rn. 24. 85 BVerwG, NVwZ 2012, 1254 (1258). 86 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 17. 87 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 17. 88 Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 7. 89 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 155, 165; VGH München, Urt. v. 27.5.2003, 5 B 00.1819; VG Gießen, Urt. v. 3.5.2004, 10 E 2961/03; VGH München, Urt. v. 27.5.2003, 5 B 01.1805.
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haben.90 Jedoch setzt Abwenden voraus, dass der Bewerber einräumt oder zumindest nicht bestreitet, entsprechende Bestrebungen verfolgt oder unterstützt zu haben.91 Die Einbürgerung ist gemäß § 11 S. 1 Nr. 2 auch beim Vorliegen eines „besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse[s]“ gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AufenthG ausgeschlossen. Dieses liegt vor, wenn der Ausländer „die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet“ (Nr. 2) oder „sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht“ (Nr. 4). Nicht erforderlich ist, dass der Bewerber tatsächlich ausgewiesen wird oder rechtmäßig ausgewiesen werden könnte.92 Da die Voraussetzung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt ist, „wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass [der Ausländer] einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat“, dürften in den meisten dort genannten Fällen ebenfalls bereits die Voraussetzungen des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG vorliegen. Jedoch ist das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse unter Umständen bereits durch die Ausländerbehörde festgestellt worden und erspart der Einbürgerungsbehörde damit eigenständige Tatsachenermittlungen. c) § 16 Satz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz Nach § 16 S. 2 StAG muss der Einbürgerungsbewerber vor der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde folgendes feierliches Bekenntnis abgeben: „Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte“. Die Abgabe ist eine echte Wirksamkeitsvoraussetzung für die Einbürgerung93 und
90 Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 7; vgl. auch Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 17 a [„nicht verlangt werden darf eine darüberhinausgehende Revidierung politischer Anschauungen oder Sympathien, die als solche noch nicht notwendig mit der Verfolgung oder Unterstützung verfassungsfeindlicher oder sicherheitsgefährdender Handlungen identisch sind“]. 91 BVerwG, NVwZ 2012, 1254 (1258). 92 Florian Geyer, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 9; vgl. noch zum § 86 Abs. 1 AuslG (1990) BVerwG, Urt. v. 31.5.1994, NVwZ 1995, 1127. 93 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 15; a. A. Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 46 ff.
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soll – vorbehaltlich möglicher Ausnahmen94– in feierlichem Rahmen stattfinden.95 Allerdings ersetzt ihre Abgabe nicht die Prüfung, ob das Bekenntnis und die Loyalitätserklärung nach § 10 StAG abgegeben wurden.96 Hier wird also ein zweites Mal die Abgabe eines Bekenntnisses verlangt. Im Gegensatz zum Treuebekenntnis handelt es sich beim feierlichen Bekenntnis nach § 16 StAG jedoch lediglich um eine Formalvoraussetzung, die schon mit der Abgabe erfüllt ist.97 Darauf deutet bereits der Wortlaut hin, der allein verlangt, dass der Bewerber das Bekenntnis „abzugeben“ hat, nicht aber, dass er sich etwa auch zur Achtung von Grundgesetz und Gesetzen „bekennen“ müsste.98 Vielmehr soll dem Bewerber durch diese Voraussetzung die Bedeutung der Einbürgerung sowie der damit einhergehenden Rechte und Pflichten deutlich gemacht werden.99 Sie erfolgt ohnehin zu einem Zeitpunkt, in dem über die Verleihung der Staatsangehörigkeit praktisch bereits behördlich entschieden wurde und eine selbstständige materielle Prüfung keinen Platz mehr hätte. Damit kommt dem feierlichen Bekenntnis vornehmlich eine symbolische Funktion zu100, sodass es „keine Verpflichtungen aus sich heraus“ 101 hervorbringt. Schon seinem Wortlaut nach hat das feierliche Bekenntnis gemäß § 16 S. 2 StAG einen anderen Erklärungsgehalt als das Bekenntnis nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG. Zu seinem Gegenstand gehört die Achtung des Grundgesetzes und der Gesetze sowie das Unterlassen schädigender Verhaltensweisen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Aufnahme der Achtung der Gesetze erfolgt rein deklaratorisch eine Erinnerung an den jedermann gleichermaßen auferlegten Gesetzesgehorsam. Darin ist angesichts des formalen Charakters keine materielle Einbürgerungsvoraussetzung zu sehen. Sonst könnte nämlich jeder (zukünftige) Gesetzesverstoß – vermittelt durch das feierliche Bekenntnis – zu einem Grund
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Vgl. Nr. 16.2. AH-BMI. Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 16. 96 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 15. 97 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 15. 98 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 15 sprechen daher folgerichtig von einer „Bekenntniserklärung“ statt von einem „Bekenntnis“. 99 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 15; vgl. auch Reinhard Marx, in: Fritz/ Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 34. 100 Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 32. 101 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (27 f.). 95
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
für die Rücknahme der Einbürgerung erklärt werden.102 Die Erklärung zur Achtung des Grundgesetzes ist ihrem Wortlaut nach nicht etwa die Erinnerung an eine einbürgerungsrechtlich vorausgesetzte Verfassungstreue. Denn Achtung des Grundgesetzes ist nicht dasselbe wie Treue zur Verfassung.103 Erstere ginge nur dann mit einer Treuepflicht einher, wenn das Grundgesetz selbst den Ausländern eine solche unmittelbar auferlegen würde. Allerdings legt das Grundgesetz dem Einbürgerungsbewerber unmittelbar gar keine Pflichten auf, deren Achtung er erklären könnte.104 Damit wird durch diesen Passus streng genommen etwas Unmögliches verlangt.105 Angesichts des Zwecks der Bekenntniserklärung, die bereits in § 10 StAG erklärte Treue zu bekräftigen106, ist jedoch wohl davon auszugehen, dass der Gesetzgeber damit letztlich ein – diesmal rein symbolhaftes – Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung intendierte. Daher ist die Formulierung des feierlichen Bekenntnisses schlicht missverständlich oder ungenau geraten.107 Mit der Unterlassungserklärung am Ende der Bekenntniserklärung versichert der Einzubürgernde lediglich, „staatsschädigende Handlungen zu unterlassen“.108 Dieses Versprechen dürfte aber bereits in der Achtung von Grundgesetz und Gesetzen enthalten sein, sodass diesem Passus kein eigenständiger Sinn mehr zukommt.109 Er erinnert vielmehr an die existentielle Anforderung eines Schädigungsverbots, die noch einmal in besonderer Weise herausgehoben wird. Insbesondere kann der Passus nicht als Schadensabwendungspflicht verstanden werden.110 Schon der Wortlaut gibt dies nicht her. Die aktive Abwendung von Schaden ist etwas grundlegend anderes als das bloße Unterlassen von Schädigun102 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (27 f.). 103 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (28). 104 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (28). 105 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (28). 106 Vgl. 16.2 AH-BMI [„bekräftigt diese“]. 107 Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (28) [„falsch formuliert“]. 108 Vgl. BT-Drs. 15/5020, S. 3. 109 Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 36. 110 Diese Befürchtung äußert allerdings Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 39 mit Blick auf den „interpretationsoffene[n] Gehalt“ (Rn. 36) der Formulierung dieses Passus.
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gen und kann auch nicht dort hineingelesen werden. Daher ist die Befürchtung der Implementierung einer Treuepflicht in Dimensionen, die man sonst nur aus dem Beamtenrecht kennt, unbegründet. Angesichts seines symbolhaften Charakters kann § 16 S. 2 StAG nicht zur selbstständigen konstitutiven Ableitung von Treueanforderungen herangezogen werden. Jedoch setzt eine derartige deklaratorische Regelung von Treue ihrerseits Normen voraus, die Treueanforderungen konstitutiv begründen. Daher stellt die Norm in der Zusammenschau mit den anderen treuebezogenen Vorschriften einen Anhaltspunkt dafür dar, welches Maß an Verfassungstreue der Gesetzgeber voraussetzt. d) § 8 Staatsangehörigkeitsgesetz Liegen die Voraussetzungen von § 8 StAG vor, kann ein Ausländer nach Ermessen der Behörde eingebürgert werden. Zu den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen der Norm zählt allerdings weder ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch die Abgabe einer Loyalitätserklärung. Jedoch kommen über die Ermessensgesichtspunkte, die die Behörden für die Bejahung eines öffentlichen Interesses und damit für eine positive Entscheidung über die Einbürgerung regelmäßig heranziehen111, weitere Voraussetzungen hinzu, die der Bewerber regelmäßig zu erfüllen hat. Diese werden insbesondere durch die „Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht (StAR-VwV) vom 13.12.2000 ermessensleitend konkretisiert. Damit entstehen neben den legislativen Voraussetzungen nach § 8 StAG selbst noch weitere administrative Gesichtspunkte, die durch eine anerkannte Verwaltungspraxis und diese bestätigende Rechtsprechung zu faktischen Einbürgerungsvoraussetzungen werden.112 Zum einen muss der Bewerber bestimmte „staatsbürgerliche Voraussetzungen“ 113 erfüllen. Dazu gehört insbesondere der Nachweis von „seinem Lebenskreis entsprechende[n] Kenntnis[sen] der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“ (vgl. Nr. 8.1.2.5 StAR-VwV). Entsprechend der Voraussetzung in § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 StAG wird dieser Nachweis regelmäßig durch einen erfolgreich bestandenen Einbürgerungstest erbracht.114 Ebenso muss der Bewerber 111 Vgl. zur Bedeutung des „öffentlichen Interesses“ im Rahmen der Ermessensbetätigung Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 167 ff. 112 Vgl. Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 198, wonach zwischen den tatbestandlichen Mindestvoraussetzungen der Norm und den Kriterien der Ermessensausübung kaum noch ein Unterschied ausgemacht werden kann. 113 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 71. 114 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 71.
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„nach seinem Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart Gewähr dafür bieten, dass er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt“ (vgl. Nr. 8.1.2.5 StAR-VwV). Das Erfordernis eines „Gewährbietens“ geht allerdings über das bloß verbale Bekenntnis nach § 10 StAG hinaus.115 Daher wird die Einbürgerung regelmäßig abgelehnt, wenn bestimmte tatsächliche Umstände vorliegen, die Zweifel daran begründen, dass sich der Bewerber „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und für ihre Erhaltung eintreten wird“.116 Für die Beurteilung der Verfassungstreue werden regelmäßig die Grundsätze herangezogen, die für die Zulassung zum öffentlichen Dienst geläufig sind.117 Auch materiell erinnert das Erfordernis des „Gewährbietens für ein jederzeitiges Eintreten“ für die Grundordnung an die Treuepflicht der Beamten.118 Diesbezüglich wird auch in der Rechtsprechung ausdrücklich von „Verfassungstreue“ gesprochen.119 Insgesamt ist die Einbürgerung schon nach einer legislativen Entscheidung gemäß § 11 StAG ausgeschlossen, sofern der Bewerber die dort inkriminierten verfassungsfeindlichen Bestrebungen verfolgt oder unterstützt. In diesen Fällen hat der Gesetzgeber der Behörde die Möglichkeit der Ermessensbetätigung entzogen, sodass eine Einbürgerung in keinem Fall möglich ist. Das Erfordernis eines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Rahmen der Ermessenseinbürgerung ist dagegen von Seiten des Gesetzgebers nicht zwingend. Ausdrücklich geregelt hat er diese schließlich nur bei der Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG. Damit ist es der Behörde grundsätzlich möglich, das öffentliche Interesse auch ohne ein glaubhaftes Bekenntnis zu bejahen und eine Einbürgerung zuzulassen, sofern eben nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des zwingenden Einbürgerungsausschlusses nach § 11 StAG vorliegen. Allerdings muss nach dem seit dem 09.08.2019 geltenden Recht auch im Rahmen der Ermessenseinbürgerung die Einordnung des Bewerbers in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet sein. Vor diesem gesetzgeberischen Tätigwerden war dies bereits ermessensleitend nach Nr. 8.1.2.1. StAR-VwV vorgegeben. In diesem Rahmen sollte vor allem durch Sprachkenntnisse eine „erfolgreiche dauerhafte Integration“ 120 belegt werden. Jedoch wird darüber hinaus meist ne115 Vgl. Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 300 ff. 116 BVerwG, Urt. v. 21.10.1986, NJW 1987, 856. 117 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 75. 118 Zu Recht kritisch Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAGKommentar, § 8 Rn. 311 ff. 119 Vgl. etwa VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.2001, NVwZ 2001, 1434. 120 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 62.
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ben dem Nachweis hinreichender Kenntnis der deutschen Sprache auch eine grundlegende Übereinstimmung mit wesentlichen gesellschaftlichen Vorstellungen gefordert.121 Nicht selten fand auch schon vor der Gesetzesänderung über diesen Weg das Prinzip der Einehe Eingang in die Einbürgerungsvoraussetzungen.122 Die voll gerichtlich überprüfbare123 Ermessensausübung im Rahmen des § 8 StAG findet ihre Schranken maßgeblich in den Grundentscheidungen der Verfassung sowie der grundrechtlichen Wertordnung.124 Die Feststellung, dass es grundsätzlich nicht im öffentlichen Interesse liegt, denjenigen als neuen Staatsangehörigen aufzunehmen, dessen Haltung befürchten lässt, er werde diese wertgebundene Ordnung nicht bejahen oder sich gar gegen sie wenden, ist in der Tat nicht als ermessensfehlerhaft zu beanstanden.125 Es gibt gute Gründe dafür, dass der Staat seine Integrations- und Sicherheitsinteressen bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit in die Ermessensentscheidung mit einfließen lassen kann. Eine Mindestanforderung an die Verfassungstreue ist dabei keine grundlegend sachfremde Erwägung, sondern vielmehr ein nachvollziehbarer und sogar gewichtiger Belang des Staates. Das zeigt sich vor allem in der Implementierung einer entsprechenden Voraussetzung in § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG durch den Gesetzgeber selbst. Wenn schon die Anspruchseinbürgerung an diese Voraussetzung geknüpft ist, ist es zumindest nicht sachfremd, diese Anforderung auch zu einer Ermessenserwägung zu erheben. Das darüberhinausgehende Erfordernis eines Gewährbietens, welches im Rahmen des § 10 StAG ausdrücklich abgelehnt wurde126, ergibt sich daraus aber gerade nicht. Vielmehr ist eine Annäherung an die beamtenrechtliche Treue der einbürgerungsrechtlichen Regelungskonzeption gerade nicht zu entnehmen. Sie ist auch nicht mit der ratio der beamtenrechtlichen Treue, dem besonders engen Verhältnis zwischen Beamten und Staat Rechnung zu tragen, zu rechtfertigen.127 Eine solche Nähebeziehung besteht zu einem Einzubürgernden ebenso wenig wie zum Staatsbürger ganz allgemein. Daher sollte auf das Gewährbieten für ein jederzeitiges Eintreten für die Grund121 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 63. 122 OVG Lüneburg, Urt. v. 13.7.2007, 13 LC 468/03; vgl. VG Minden, Urt. v. 5.12. 2007, 11 K 812/07, wo das offizielle Zusammenleben als religiös angetraute Zweitfrau mit einem Mann und dessen Erstfrau als ein Hinweis für fehlende Integration in die deutsche Gesellschaft angesehen wurde. 123 Vgl. BVerwGE 4, 298 (300). 124 Ausführlich zur Einwirkung der Grundrechte auf das Staatsangehörigkeitsrecht Klaus Deibel, Deutsche Staatsangehörigkeit und Grundrechte, DÖV 1984, 322 (322 ff.). 125 BVerwG, DVBl. 1983, 1013 (1014); BVerwGE 75, 86 (94); OVG Saarlouis, Urt. v. 9.11.1992, 8 R 88/91. 126 VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, NVwZ 2006, 484 (485). 127 Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 314; vgl. BVerfGE 39, 334 (358).
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
ordnung verzichtet werden.128 Vielmehr sind die Bekenntniserfordernisse in beiden Normen gleichlaufend auszulegen. Bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse, die als solche weit über die Hinwendung zu den Minimalprinzipien der Verfassungsordnung hinausgeht, muss darauf geachtet werden, die Wertungen durch gesetzliche oder verfassungsrechtliche Anhaltspunkte zu fundieren. Sonst besteht die Gefahr, dass allgemeine politische oder gesellschaftliche Stimmungen über das Integrationserfordernis einfließen und so ein nicht hinreichend demokratisch legitimierter Assimilationsdruck aufgebaut wird. Das Spracherfordernis findet sich nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 StAG auch bei der Anspruchseinbürgerung, sodass es dem Gesetzgeber als Einbürgerungsvoraussetzung nicht fremd ist. Auch die Beachtung des Prinzips der Einehe dürfte durch das dem Art. 6 GG zu Grunde liegende Eheverständnis129 sowie die neuerdings erfolgte ausdrückliche Erwähnung in § 10 Abs. 1 S. 1 StAG mit gutem Grund auch im Rahmen des § 8 StAG zu den Einbürgerungsvoraussetzungen zu zählen sein. Auch wenn die Einehe dort – anders als bei 10 StAG – nicht ausdrücklich als Regelbeispiel zur Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse genannt wird, ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber dieses Prinzip im Rahmen der Ermessenseinbürgerung ebenfalls als Teil der deutschen Lebensverhältnisse aufgefasst haben wollte. Zentral bleibt trotz der herausgehobenen Stellung des öffentlichen Interesses als Ermessensgesichtspunkt der Anspruch des Bewerbers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.130 Dies ist für ihn von besonderem persönlichen Interesse, wenn keine ausdrückliche gesetzgeberische Begünstigung wie eine Soll-Vorschrift (§ 9 StAG) oder eben ein Rechtsanspruch (§ 10 StAG) für ihn streitet.131 Immerhin hat die Verleihung der Staatsangehörigkeit für den Einzelnen eine weitreichende Bedeutung und darf daher nicht bloß als „reflexartige Begünstigung [. . .]“ 132 begriffen werden.133 128 So zu Recht mit ausführlicher Begründung Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 311 ff. 129 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 25.4.2017, NVwZ 2017, 1212 (1215); grundlegend Arnd Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GG-Kommentar, Art. 6 Rn. 3. 130 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 51; Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 192; ablehnend Torsten Stein, Verwaltungsgerichtliche Kontrolle abgelehnter Ermessenseinbürgerungen?, DÖV 1984, 177 (180 f.). 131 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 51; grundlegend BVerwGE 7, 237 (238); bestätigt in BVerwGE, InfAuslR 1987, 41 (42). 132 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 51.
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Es bleibt also die Erkenntnis, dass im Rahmen der Ermessenseinbürgerung gemäß § 8 StAG Verfassungstreue in Gestalt eines positiven Bekenntnisses ein – nicht zwingender – Ermessensgesichtspunkt ist, der von den Einbürgerungsbehörden in sachangemessener Weise herangezogen werden kann. Soweit die Anforderungen an die Verfassungstreue nach § 11 StAG nicht erfüllt werden, ist auch hier die Einbürgerung zwingend ausgeschlossen. e) § 37 Absatz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz Gemäß § 37 Abs. 2 StAG richtet die Einbürgerungsbehörde zur Ermittlung der Ausschlussgründe nach § 11 StAG eine so genannte Regelanfrage an die Verfassungsschutzbehörden. Zu diesem Zwecke übermittelt die Behörde dem Verfassungsschutz die personenbezogenen Daten des Einbürgerungsbewerbers und erhält im Gegenzug Informationen über die bei diesem gespeicherten Daten über relevante verfassungsfeindliche Bestrebungen, mit denen der Bewerber in Verbindung stehen könnte. Mit dieser Regelung wird der Zweck verfolgt, „alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Terroristen vom Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auszuschließen“.134 Damit wird ein weiterer Mechanismus zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des Staates als ihrem Garanten in das Einbürgerungsrecht implementiert. 2. Zusammenschau der Verfassungstreueklauseln Die Verfassungstreueklauseln stehen – so wie gesetzliche Normen ganz allgemein – nicht beziehungslos nebeneinander. Ein Blick auf ihr systematisches Verhältnis lässt Wechselwirkungen erkennen. So entsteht erst das vollständige Bild der einbürgerungsrechtlichen Konzeption von Verfassungstreue. a) Mehrfache Absicherung gegen Verfassungsfeinde Im Ausgangspunkt fällt bei der Zusammenschau der Vorschriften auf, dass das Staatsangehörigkeitsgesetz Verfassungstreue – wenn auch nicht wörtlich, aber doch in der Sache – in mehr als nur einer Vorschrift regelt. Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, weil es bei allen um denselben staatlichen Hoheitsakt – die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung – geht. Sicherlich könnte man die mehrfache Absicherung gegen die Aufnahme von Verfassungs-
133 Vgl. Helmut Rittstieg, Anmerkungen zu BVerwG, Beschl. v. 5.8.1980, 1 B 793.80, InfAuslR 1980, 312 (312), wonach für den Ausländer mitunter „sehr wichtige persönliche Interessen auf dem Spiel“ stehen; ebenso Werner Meyer, Die deutsche Staatsangehörigkeit in der Rechtsprechung des BVerwG, NVwZ 1987, 15 (20). 134 BT-Drs. 15/955, S. 44.
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
feinden in den Staatsverband rechtspolitisch als „übertrieben“ bezeichnen.135 Schlussendlich dürfte aber die dreifache Verfassungstreue, die sich aus dem Treuebekenntnis (§ 10 StAG), dem Nichtvorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen (§ 11 StAG) sowie der feierlichen Bekenntniserklärung (§ 16 StAG) ergibt, Ausdruck einer „symbolischen Terrorismusabwehr“ 136 sein. Diese Interpretation überzeugt vor allem angesichts der durch § 16 S. 2 StAG geforderten symbolischen Bekräftigung des bereits abgegebenen materiellen Bekenntnisses nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG. § 16 StAG ermächtigt die Behörde nämlich gerade nicht zu einer zusätzlichen Prüfung der Verfassungstreue137, sodass der Norm allenfalls ein „selbstverpflichtende[r] Gehalt“ 138 zukommt. Aus der systematischen Spitzenposition des Bekenntnisses innerhalb der Einbürgerungsvoraussetzungen des § 10 StAG kann man daher eine „Gewichtsverschiebung“ 139 zu Gunsten der Treue jedenfalls nicht in dem Sinne ableiten, dass dem Verfassungstreueerfordernis eine materielle und rechtlich erhebliche Vorrangigkeit zukommt.140 Vielmehr sind die materiellen Voraussetzungen von § 10 und § 11 StAG in einem „einheitlichen Sinnzusammenhang“ 141 behördlich zu prüfen. Während in § 10 StAG das Vorliegen des Bekenntnisses und der Loyalitätserklärung als positive Einbürgerungsvoraussetzungen normiert sind, knüpft § 11 StAG an die Anhaltspunkte für eine Verfolgung oder Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen die Rechtsfolge des zwingenden Einbürgerungsausschlusses. Das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen nach § 11 StAG führt praktisch zwingend bereits zu einem Nicht-Vorliegen der materiellen Bekenntnisvoraussetzung nach § 10 StAG. Der eigenständige praktische Überprüfungsgehalt des § 10 StAG besteht daher vor allem in der Frage, ob der Bewerber das Bekenntnis nur 135
Günter Renner, Was ist neu am neuen Staatsangehörigkeitsrecht?, ZAR 1999, 154
(158). 136
Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 14. Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 38. 138 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 138, der dies bekanntlich bereits für das Treuebekenntnis nach § 10 StAG annimmt. 139 Astrid Wallrabenstein, in: Huber (Hrsg.), Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Band II, § 85 AuslG [100 B], Rn. 2. 140 Vgl. Astrid Wallrabenstein, in: Huber (Hrsg.), Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, Band II, § 85 AuslG [100 B], Rn. 2, die eine solche Gewichtsverschiebung vor allem darauf stützt, dass der Gesetzgeber die Reihenfolge der Einbürgerungsvoraussetzungen mit der Einführung des Treuebekenntnisses am 1.1.2000 änderte. Dies ist aber wohl vor allem als rechtspolitischer Befund zu verstehen, da der Gesetzgeber die Treue damit erstmals in den Rang einer Rechtsnorm erhoben hat. Versteht man diese Beobachtung im Sinne einer symbolischen Heraushebung des Bekenntnisses zur „Beschwichtigung“ einer stark emotional aufgeladenen rechtspolitischen Debatte, kann man ihr gewiss zustimmen. 141 Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 319 sowie § 16 Rn. 44. 137
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zum Schein abgegeben hat.142 Das kann auch dann der Fall sein, wenn der Bewerber Bestrebungen im Sinne des § 11 StAG weder verfolgt noch unterstützt. So sind vereinzelte verfassungsfeindliche Äußerungen des Bewerbers denkbar, die ein wahrheitsgemäßes Bekenntnis in Frage stellen können, ohne bereits zu einem zwingenden Einbürgerungsausschluss nach § 11 StAG zu führen. Denn der Begriff der Bestrebungen weist einen Bezug zu Personenzusammenschlüssen auf, der durch eine Einzelaussage nicht zwingend erfüllt sein muss. § 16 StAG richtet sich in seinem materiellen Gehalt maßgeblich an den Bürger und ist behördlich nur als formelle Wirksamkeitsvoraussetzung vor der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde zu überprüfen. Ins Auge fällt allerdings die Abweichung der Bekenntniswortlaute von § 10 und § 16 StAG. Neben dem Treueobjekt – hier die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ und dort das „Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland“ – unterscheiden sich auch die Verhaltensmodalitäten voneinander. Während sich der Bewerber nach § 10 StAG „bekennt“, erklärt er nach § 16 StAG nur, das Objekt der Treue zu „achten“. Achten kann sich auch in einem passiven Moment des Unterlassens von Schädigungshandlungen erschöpfen. Da neben dem Grundgesetz auch die Gesetze zu achten sind, kann nicht mehr gemeint sein als die Nichtverletzung von Normen. Eine innere Zustimmung zu diesen Normen kann vor allem bei Gesetzen angesichts der demokratischen Möglichkeit ihrer Aufhebung und Änderung gar nicht versprochen werden. Sich zu etwas zu bekennen, impliziert dagegen einen Ausdruck positiver Zustimmung. Vereinzelt wird es sogar als „aktives, verfassungspositives Verhalten“ interpretiert.143 Nach der Analyse des feierlichen Bekenntnisses144 haben seine Erklärungsgehalte aber vor allem den Zweck der Erinnerung an Selbstverständlichkeiten wie die Gesetzestreue und die Pflicht zur Unterlassung verfassungsfeindlichen Verhaltens. Insoweit proklamiert der Bewerber streng genommen sogar weitaus weniger als beim Treuebekenntnis. Allerdings stellt die Achtung des Grundgesetzes mitsamt ihrem Gehalt, verfassungsschädigende Handlungen zu unterlassen, einen Mindestgehalt des positiven Bekenntnisses zur Verfassung und somit einen praktisch unerlässlichen Teilausschnitt davon dar. Damit wird zumindest ein partieller, aber elementarer Kern des Treuebekenntnisses wiederholt und bestätigt. „Grundgesetz“ meint dann eben nicht die Verfassung als Rechtsdokument, sondern nur seine unveränderlichen Kerngehalte, wie sie durch die Formel von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zusammengefasst werden. Es sei 142 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 26.2.2001, NVwZ-RR 2002, 232; vgl. auch VG Aachen, Urt. v. 19.11.2015, 5 K 480/14, Rn. 86 [„Ob der Einbürgerung daneben der Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG entgegensteht, kann offenbleiben“], wo ein eigenständiger materieller Gehalt des Bekenntnisses gegenüber dem Ausschlusstatbestand offenbar vorausgesetzt wird. 143 Erhard Denninger, Loyalitätserwartungen, KJ 2011, 321 (325). 144 Vgl. unter 1. c).
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abschließend die vorsichtige Vermutung erlaubt, dass der Gesetzgeber sich über die konkrete Bedeutung seiner Formulierung – auch in Beziehung zum Wortlaut des Treuebekenntnisses nach § 10 StAG – nicht allzu umfassende Gedanken gemacht hat. b) Integration und Sicherheit als übergreifende Kriterien der einbürgerungsrechtlichen Verfassungstreue Aus der Zusammenschau der Einbürgerungsbestimmungen lassen sich im Wesentlichen zwei Hauptkriterien ableiten, die bestimmend für die Implementierung von Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht sind: Erstens Sicherheit und zweitens Integration. Zum einen ist der Zweck der einbürgerungsrechtlichen Treue die Gewährleistung der Sicherheit der staatlichen Ordnung durch den Schutz gegenüber Verfassungsfeinden. Zum anderen soll aber auch ein Mindestmaß an Integration145 sichergestellt werden, welches nach dem gesetzgeberischen Leitbild mit der Staatsangehörigkeit einherzugehen hat. Integration kann dabei verstanden werden als „Eingliederung in ein größeres Ganzes“ 146, kurzum als Einheitsbildungsprozess. Mittels des Treuebekenntnisses erklärt der Gesetzgeber die freiheitliche demokratische Grundordnung zum zentralen Gegenstand und Maßstab der Integration. Diesbezüglich möchte er ein Mindestmaß an demokratischer Homogenität bereits vor der Einbürgerung sicherstellen. Durch das seit dem 09.08.2019 bestehende Erfordernis der Gewährleistung einer Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse geht das Maß der geforderten Integration sogar noch weiter. Es erstreckt sich auch auf kulturelle Wertvorstellungen, die über die Freiheitsordnung in ihrem Minimalbestand hinausgehen. Durch die Einführung dieses Erfordernisses haben sich die Integrationsanforderungen im Rahmen der Einbürgerung verschärft. Früher beschränkten sich die über die freiheitliche demokratische Grundordnung hinausgehenden Anforderungen nämlich auf die Prüfung von Kenntnissen der deutschen Sprache (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 StAG) sowie der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 StAG). Hierbei genügte dem Gesetzgeber eine Integrationshoffnung, nach der im besten Fall die durch die Konfrontation mit der Ordnung erworbenen Kenntnisse auch zu einer Identifikation führen.147 Es bedurfte aber keiner verbindlichen „Einordnung“ in diese Lebensverhältnisse, sondern nur einer Hinwendung zur Freiheitsordnung. Mit dem Erfordernis der Gewährleistung einer Einordnung in die deutschen Lebensverhält145 Tine Stein, Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus?, in: Leviathan 36, S. 33 (47). 146 Erhard Denninger, Integration und Identität. Bitte um etwas Nachdenklichkeit, KJ 2001, 442 (442); vgl. Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (152) [„Vorgang, der zur Bildung eines Ganzen führt“]. 147 Vgl. Tine Stein, Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus?, in: Leviathan 36, S. 33 (48) [„bejahende Haltung“].
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nisse wurde die bloße Integrationshoffnung zu einer echten Integrationserwartung, die sich nicht mehr nur auf einen Minimalbestand an Werten erstreckt, sondern sich auch auf eine grundlegende Anerkennung der deutschen Kultur bezieht. § 16 StAG ruft schließlich noch einmal affirmativ die zentralen Elemente staatlicher Integrationshoffnung in Erinnerung. Auch wenn § 16 S. 2 StAG eine rein formale Voraussetzung sein mag, so hat die Norm dennoch Bedeutung für die Integrationsfunktion des Einbürgerungsrechts. Zwar hat der Gesetzgeber trotz dahingehender Initiativen148 einen Einbürgerungseid bisher nicht in das geltende Recht aufgenommen. Jedoch hat auch ein „feierliches Bekenntnis“ einen moralischen Verbindlichkeitsgrad, der die Bedeutung der Integration als Eigenleistung des Bewerbers betont. Im Gegensatz zur Integration folgt die gesetzgeberische Wertentscheidung zu Gunsten staatlicher Sicherheit eindeutig aus § 11 StAG. Sicherheit meint hier vor allem den Staats- und Verfassungsschutz. Insbesondere aktive Staats- oder Verfassungsfeinde sollen auf keinen Fall Mitglied des deutschen Staatsverbandes werden. Hier liegt auch schon bei tatsächlichen Anhaltspunkten ein hinreichender Grund vor, die Einbürgerung abzulehnen. Sicherheit wird hier unmissverständlich zu einem zentralen Leitprinzip des Einbürgerungsrechts. Selbst das Integrationskriterium steht in funktionalem Zusammenhang mit dem Kriterium der Sicherheit. Die Einbürgerungsvoraussetzungen – darunter nicht zuletzt die Anforderungen an die Verfassungstreue – sind so ausgestaltet, dass eine Eingliederung in die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Ordnung sowie eine Beachtung der hiesigen kulturellen und politischen Wertvorstellungen gewährleistet wird.149 Zumindest die Integration in die freiheitliche Wertordnung durch das materiell wahrheitsgemäße Bekenntnis und seine symbolische Bestätigung vor der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde beruhen auf dem Gedanken, dass vor allem der innere Verfassungsfreund auch in Zukunft – also auch noch nach der Einbürgerung – davon Abstand nehmen wird, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen und zu unterstützen. Eine darüberhinausgehende kulturelle Integration – etwa durch Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse oder zumindest den Nachweis von Kenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland – ist nur eine rechtspolitische Entscheidung für einen Integrationsmaßstab, der den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt, bestimmte Homogenitätskriterien festzuschreiben. Diesbezüglich geht das Integrationskriterium über die sicherheitsfunktionale Relevanz hinaus. Soweit jedoch echte Verfassungstreue als Integrationsleistung verlangt wird, ist sie jedenfalls auch von staatlichem Sicherheitsinteresse getragen.
148 Vgl. den Entwurf eines „Gesetzes über die Eidesleistung bei Einbürgerungen“, BT-Drs. 15/5020. 149 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 33.
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Das Verhältnis kann daher nicht etwa umgekehrt so interpretiert werden, dass die Integrationsvermutung durch die Gefährdung der Sicherheit im Einzelfall widerlegt wird.150 Der Schutz der staatlichen Ordnung liegt der Norm des § 11 StAG vielmehr als eigener Belang zu Grunde. Damit tritt die Nichtgefährdung der staatlichen Sicherheit als selbstständige Anforderung neben die integrationsbezogenen Einbürgerungsvoraussetzungen. § 11 StAG verlangt hingegen nicht, dass die Bewerber auch Verfassungsfreunde sein sollen. Dieses Erfordernis folgt erst aus § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG. Es muss zwar im Zusammenhang mit § 11 StAG gesehen, darf aber nicht mit diesem Erfordernis verwechselt werden. Der zwingende Einbürgerungsausschluss wird für alle Einbürgerungstatbestände normiert, während die integrationsbezogenen Voraussetzungen – insbesondere das Treuebekenntnis – gesetzlich zwingend nur bei der Anspruchseinbürgerung gelten. Dies zeigt, dass die Einbürgerung der Sicherheit in jedem Fall zu weichen hat, während die Integrationsvoraussetzungen variabel und flexibel sind. Sicherheit ist damit ein eigenständiger gewichtiger Belang. c) Beweislastverteilung zwischen Bewerber und Behörde Durch das Zusammenspiel von Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 10 StAG und Einbürgerungsausschlussgründen nach § 11 StAG wird verfahrensrechtlich auch die Beweislastverteilung zwischen Bewerber und Behörde festgelegt. Die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG erfolgt durch einen mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt. Im Ausgangspunkt gilt gemäß § 24 Abs. 1 VwVfG der Untersuchungsgrundsatz, sodass die Einbürgerungsbehörde sämtliche Einbürgerungsvoraussetzungen von Amts wegen zu prüfen hat.151 Dieser wird jedoch durch die Mitwirkungsobliegenheit des Antragsstellers beschränkt.152 Gemäß § 37 Abs. 1 S. 2 StAG i.V. m. § 82 Abs. 1 S. 1 AufenthG ist der Bewerber verpflichtet, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich beizubringen. Für das Vorliegen der materiellen Anspruchsvoraussetzungen nach § 10 StAG ist der Einbürgerungsbewerber darlegungs- und beweisbelastet, sodass grundsätzlich verbleibende Zweifel zu seinen Lasten gehen.153 Dies gilt demnach auch für die
150 Vgl. Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 30. 151 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 16 Rn. 17. 152 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 38. 153 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 38.
I. Anforderungen an die Verfassungstreue des Einbürgerungsbewerbers
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Abgabe des Treuebekenntnisses und der Loyalitätserklärung.154 Da das Bekenntnis nach der hier vertretenen Ansicht materiell wahr sein muss, ist grundsätzlich auch die materielle Wahrheit der erklärten Verfassungstreue vom Bewerber zu beweisen. In diesem Zusammenhang verweist Berlit auf die Schwierigkeiten des Bewerbers, seine innere Treue positiv zu beweisen.155 Diesem Problem kann aber dadurch begegnet werden, dass die Wahrheit ohne gegenteilige Anhaltspunkte unterstellt werden muss. Diese beweislastumkehrende Vermutung beruht auf dem praktischen Umstand, dass Rückschlüsse auf die Gesinnung stets nur aus dem Verhalten gezogen werden können. Fehlt es an einem solchen Verhalten, kann nur eine Vermutungsregel aushelfen. Das ändert nichts an der grundsätzlichen Beweislast des Bewerbers für die Voraussetzungen des § 10 StAG. Die Last kann aber nie so groß sein, dass jener, der sie zu tragen hat, darunter zu zerbrechen droht. Das ist ein Charakteristikum von Tatbestandsmerkmalen mit rein subjektivem Bezugspunkt, deren Vorliegen ohne gegenteilige Anhaltspunkte nun einmal vermutet werden muss. Denn die materielle Beweislast kann unmöglich auf eine vom „äußeren Verhalten abweichende, verfassungskonforme innere Einstellung“ 156 erstreckt werden.157 Kurzum: „Die innere Einstellung ist keine Tatsache, die nach prozessualen Regeln beweisbar ist.“ 158 Für die objektiv manifestierten verfassungsfeindlichen Bestrebungen hingegen, die für den Staat auch weitaus gefährlicher sind als bloße innere oder zumindest „untätige“ Verfassungsfeindlichkeit, hilft die beweiserleichternde Norm des § 11 StAG, die eine Einbürgerung bereits bei tatsächlichen Anhaltspunkten für solche Bestrebungen in jedem Fall ausschließt. Für das Vorliegen der Ausschlussgründe ist zwar grundsätzlich die Einbürgerungsbehörde beweisbelastet159, sodass sie Hinweise für verfassungsfeindliche Bestrebungen darzulegen und nachzuweisen hat. Durch das Tatbestandsmerkmal der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ wird jedoch die Beweisschwierigkeit der Behörde reduziert, da es nicht darauf ankommt, eine tatsächliche Gefährdung darzulegen oder zu beweisen. Ein zusätzlicher Schutz gegen Verfassungsfeinde besteht durch die Möglichkeit der Rücknahme einer Einbürgerung. Diese kann nach § 35 Abs. 1 StAG 154 Vgl. Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (218); VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.2001, 13 S 916/00. 155 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 139. 156 VGH Mannheim, Urt. v. 29.3.2000, InfAuslR 2001, 225 (226). 157 Thomas Oberhäuser, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 38. 158 Thomas Oberhäuser, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 38. 159 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 38.
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etwa dann erfolgen, wenn die Einbürgerung durch „arglistige Täuschung [. . .] oder durch vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben, die wesentlich für seinen Erlass gewesen sind, erwirkt worden ist“. Darunter kann vor allem eine „inhaltlich unrichtige Erklärung über die Unterstützung oder Verfolgung verfassungsfeindlicher [. . .] Bestrebungen“ fallen.160 In diesem Zusammenhang hat die Loyalitätserklärung des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG zusätzlich den Charakter einer für die behördliche Tatsachenermittlung relevanten Mitwirkungshandlung des Antragsstellers. Ein unwahres Treuebekenntnis kann ihm daher auch im Rahmen eines Rücknahmeverfahrens zum Nachteil gereichen. Hier muss die Behörde allerdings den Nachweis erbringen, dass der Bewerber sich über die Unrichtigkeit im Klaren war.161 Daran kann es etwa angesichts einer unterschiedlichen Bewertung des eigenen politischen Verhaltens hinsichtlich ihrer Bedeutung für die freiheitliche demokratische Grundordnung fehlen.162 Allerdings enthält die Loyalitätserklärung im Gegensatz zum Bekenntnis grundsätzlich eine Aussage über nachprüfbare Tatsachen. So ist etwa die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation auch noch Jahre nach der Einbürgerung feststellbar. Die mit dem Bekenntnis erklärte innere Zustimmung zu den Werten der freiheitlichen Ordnung zum Zeitpunkt der Einbürgerung ist hingegen nachträglich kaum noch nachprüfbar. Damit erleichtert die abgegebene Loyalitätserklärung der Behörde die Möglichkeit, dem Bewerber unrichtige Angaben nachzuweisen. Soweit es Anhaltspunkte dafür gibt, dass allein das Bekenntnis unwahr ist, muss die Behörde in zulässiger Weise die Tatsachen ermitteln, wobei bereits tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit das Erfordernis einer Glaubhaftmachung durch den Bürger auslösen dürften. Diese Beweisverteilung kann mit einem Erst-Recht-Schluss aus § 11 StAG begründet werden: die Unwahrheit des Bekenntnisses aus anderen Gründen als dem Verfolgen oder Unterstützen von Bestrebungen – also eine untätige Verfassungsfeindlichkeit – ist weitaus weniger gefährlich und muss daher bei Glaubhaftmachung der Wahrheit erst recht zur Bejahung des Einbürgerungsanspruchs führen. Es kann daher nicht sein, dass trotz der grundsätzlichen Beweislast des Bürgers für die materielle Wahrheit des Bekenntnisses dieser den sicheren Gegenbeweis zu erbringen hat, wenn er dies nicht einmal bei Anhaltspunkten für eine tätliche Verfassungsfeindlichkeit nach § 11 StAG muss. Der Gesetzgeber hat zur gerechten Verteilung der Beweislast in § 11 StAG bewusst nicht das Erfordernis eines Gegenbeweises, sondern nur einer Glaubhaftmachung implementiert. Damit enthält die Norm die zentrale Regelung 160 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 154; vgl. auch Waltraud Nettersheim, Rücknahme und Widerruf von Einbürgerungen, DVBl. 2004, 1144 (1146). 161 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 154. 162 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 8.12.2011, 11 K 2043/11.
II. Einordnung der geforderten Verfassungstreue
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der Verteilung von Darlegungs- und Beweislast zwischen Bewerber und Behörde. Dies muss sich mittelbar auch auf die Verteilung der Beweislast beim Nachweis der Richtigkeit des Bekenntnisses auswirken, soweit die Beurteilung nicht ohnehin bereits von Gesichtspunkten abhängt, die nach § 11 StAG zum Einbürgerungsausschluss führen. Während im Rahmen der Glaubhaftmachung der Abwendung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen nach § 11 StAG eine „Revidierung politischer Anschauungen oder Sympathien“ 163 nicht verlangt wird, kann eine solche durchaus geeignet sein, ein wahrheitsgemäßes Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung glaubhaft zu machen. Insofern wird entsprechend dem materiellen Mehrgehalt des Bekenntnisses nach § 10 StAG gegenüber dem rein negativen Gehalt in § 11 StAG auch bei der Glaubhaftmachung inhaltlich mehr verlangt. Denn Zweifel am wahrheitsgemäßen Bekenntnis können wohl nur durch eine (zunächst rein verbale) Revidierung von Auffassungen ausgeräumt werden. Für diese Revidierung muss aber wiederum gelten, dass ohne gegenteilige Anhaltspunkte ihre Wahrheit unterstellt werden muss. Allerdings dürfte eine eindeutig nur zum Zwecke der Einbürgerung getätigte Revidierung – analog zum bloßen „Schein-Bekenntnis“ – nicht glaubhaft sein. Begründete Zweifel gehen dann in letzter Konsequenz zu Lasten des Bewerbers. Die systematische Beziehung von § 10 und § 11 StAG bringt also eine ausgewogene Beweislastverteilung hervor, die unter Berücksichtigung tatsächlicher und rechtlicher Determinanten ausgestaltet und umgesetzt werden muss.
II. Einordnung der geforderten Verfassungstreue Die vom Einbürgerungsbewerber geforderte Verfassungstreue kommt in unterschiedlichen Spielarten daher. Sie reicht von einem Unterlassen der Verfolgung und Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen über die Abgabe einer Loyalitätserklärung bis hin zur einer durch ein Bekenntnis offenbarten Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Verhaltensmodalitäten sollen in Ansehung der unterschiedlichen Dimensionen von Verfassungstreue eingeordnet werden. Damit wird zugleich der Grundstein für die sodann vorgenommene kritische Bewertung gelegt. 1. Negative Verfassungstreue Negative Verfassungstreue beschränkt sich auf das Unterlassen von gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Betätigungen. Äußerlich manifestiert sie sich auch schon in einer bloßen Indifferenz gegenüber der Ver163 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 17 a.
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
fassung. Sie ist damit zwar nicht auf die aktive Bestandserhaltung der freiheitlichen Ordnung gerichtet. Allerdings wird durch die negative Treue der Bestand in seinem status quo auch nicht angetastet und damit im Wortsinne – zumindest passiv – erhalten. Nach der einbürgerungsrechtlichen Regelungskonzeption fällt darunter das Unterlassen sämtlicher gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteter Verhaltensweisen, die zu einer Versagung der Einbürgerung führen. Vorrangig kann man die Anforderungen an die negative Verfassungstreue daher der Einbürgerungsausschlussnorm des § 11 StAG entnehmen. Sämtliche durch die Norm inkriminierten Verhaltensweisen führen zu einer zwingenden Versagung der Einbürgerung. Das Unterlassen der dort genannten Verhaltensweisen gehört daher zur Anforderung an den Bewerber, der die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung erwerben möchte. Konkret handelt es sich dabei um die Anforderung, die Verfolgung und Unterstützung der dort genannten verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu unterlassen. Die Anforderung wird schon durch die extensiv ausgelegte Modalität des Unterstützens auf ein erhöhtes Maß erstreckt. Darunter kann nämlich bereits jede Verhaltensweise verstanden werden, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die verfassungsfeindlichen Bestrebungen auswirkt. Damit muss der Bewerber also nicht nur die aktiv-kämpferische Beseitigung oder eine in seiner Person verkörperte Gefährdung unterlassen, sondern jede Betätigung, die eine verfassungsfeindliche Bestrebung auch nur geringfügig fördert. Insbesondere fallen darunter auch öffentliche Meinungsäußerungen, die etwa durch einen Bezug zu einer verfassungsfeindlichen Organisation eine Förderungseignung aufweisen. Eines realen Vorteils für die konkrete Bestrebung bedarf es nicht, sodass schon vorgelagertes Unterstützungsverhalten zu unterlassen ist. Durch die beweiserleichternde Beschränkung der Ausschlussgründe auf „tatsächliche Anhaltspunkte“ wird die Anforderung an die negative Verfassungstreue de facto noch erhöht. Dadurch ist der Einbürgerungsbewerber nämlich veranlasst, sämtliche Verhaltensweisen zu unterlassen, die auch nur den Anschein erwecken können, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu unterstützen oder zu verfolgen. Denn schon der Anschein führt zum Erfordernis der Glaubhaftmachung und erhöht somit das Risiko der Versagung der Einbürgerung. Die Mitgliedschaft in einer „diffusen Organisation“ etwa wird dadurch selbst dann ein heikles Unterfangen für den Bewerber, wenn er sich dem nicht-verfassungsfeindlichen Flügel zurechnet. Schon allein die Mitgliedschaft wird die Behörde meist dazu veranlassen, dem Bewerber eine glaubhafte Rechtfertigung abzuverlangen. Ihn trifft dann eine erhöhte (Beweis-)last, seine Verfassungstreue zu untermauern. Sofern der Bewerber sich dem Erfordernis der Glaubhaftmachung ausgesetzt sieht, werden die Anforderungen abermals erhöht. Aus dem ursprünglich geforderten Unterlassen wird die Notwendigkeit aktiven Tätigwerdens, um zumindest
II. Einordnung der geforderten Verfassungstreue
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die Einhaltung der negativen Treue zu bekräftigen. Regelmäßig dürfte sich der Bewerber faktisch dazu veranlasst sehen, Nachweise positiver Treue zur effektiven Abwendung des Einbürgerungsausschlusses zu erbringen. Jedenfalls steigt schon beim Vorliegen des geringsten Anscheins verfassungsfeindlicher Unterstützungshandlungen der Druck auf den Bewerber, seine Verfassungstreue aktiv zu belegen. Letztlich besteht durch diese Reduzierung auf einen Anschein die theoretische Möglichkeit, dass ein verfassungstreuer Ausländer auf Grundlage des § 11 StAG nicht eingebürgert wird. Mitunter hat der einzelne Ausländer es dabei nicht einmal in der Hand, den Anschein durch den Nachweis gegenteiliger Anhaltspunkte zu widerlegen. Angesichts des geforderten Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht die negative Treue im Anwendungsbereich der Anspruchseinbürgerung sogar noch weiter. Der Bewerber muss sämtliche Verhaltensweisen unterlassen, die berechtigten Zweifel an der positiven Hinwendung zur freiheitlichen Grundordnung begründen können. Dazu können dann neben Mitgliedschaften auch vereinzelte Meinungskundgaben gehören. Soweit für die Einbürgerung ein langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet verlangt wird, ist dies ebenfalls ein – fast unscheinbarer – Ausdruck einer Konfrontation mit der Wertordnung. Wer sich dem Staatsgebiet und damit auch der Möglichkeit zur Identifikation mit der freiheitlichen Ordnung entzieht, kann von vornherein nicht eingebürgert werden. Damit gehört auch die Konfrontation mit der Wertordnung durch dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet zu den basalen Anforderungen an die negative Treue der Einbürgerungsbewerber. Insgesamt gehen die einbürgerungsrechtlichen Anforderungen an die negative Treue über die allgemeinen Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue hinaus. Diese erschöpfen sich nämlich maßgeblich in einem Unterlassen der aktiven Beseitigung der freiheitlichen Wertordnung. Eine unterhalb dieser Schwelle verbleibende Verfassungsfeindlichkeit ist dem Staatsbürger dagegen erlaubt. Insbesondere auf der kommunikativen Ebene sind seinen verfassungsfeindlichen Bestrebungen – bis zur Schwelle der hetzerischen Kampfrede – kaum Grenzen gesetzt. Der Einbürgerungsbewerber muss also schon im Hinblick auf die negative Treue zum Zeitpunkt der Einbürgerung höhere Anforderungen erfüllen als der Staatsbürger allgemein. 2. Positive (äußere) Verfassungstreue Positive Verfassungstreue umfasst jenes Verhalten, das auf eine positive Hinwendung zur Verfassung durch äußeres Verhalten oder innere Einstellung gerichtet ist. Eine bloße Indifferenz gegenüber der Verfassung genügt nicht. Äußere Verfassungstreue ist jedes in der Außenwelt wirksame Verhalten, das auf die Erhaltung oder Pflege der verfassungsmäßigen Wertordnung gerichtet ist. Nach der einbürgerungsrechtlichen Regelungskonzeption fallen darunter diejenigen auf
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
positive Hinwendung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichteten Handlungen, die der Einbürgerungsbewerber vornehmen muss, um eingebürgert zu werden. Damit ist § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG die für die positive (äußere) Verfassungstreue maßgebliche Norm. Denn das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist eine Erklärung, die in der Außenwelt manifestiert wird. Damit wird eine positive Aussage über die innere Werthaltung getätigt, die sich nach dem Erklärungsgehalt des Bekenntnisses in Übereinstimmung mit der Wertordnung des Grundgesetzes befindet. Diese Übereinstimmung wird durch das Bekenntnis offenbart, was den Bewerber äußerlich in eine positive Beziehung zur Verfassung setzt. Diese positive Beziehung wird noch durch die Loyalitätserklärung untermauert. Letztere kann allerdings nicht als zusätzliche positive Treue aufgefasst werden, da ihr Erklärungsgehalt notwendig im positiven Bekenntnis mit enthalten ist. Sie ist die Erklärung über die in der positiven Treue (Bekenntnis) mit enthaltene Anforderung an die negative Treue (Unterlassen verfassungsfeindlicher Bestrebungen). Wer eine innere Übereinstimmung mit der Wertordnung erklärt, erklärt damit zugleich das Nichtvorliegen aktiver Bestrebungen gegen diese. Die in der Loyalitätserklärung verkörperte Aussage, negativ treu zu sein, konstituiert aber keine positive Beziehung zur Verfassung. Sie ist eine überprüfbare Aussage über äußere Tatsachen und bildet damit verbal nur eine bereits konstituierte negative Treue ab. Sie ist aber für sich gesehen noch keine Treue, erst recht keine positive Treue. Eine zusätzliche Komponente der positiven Treue stellt aber die Bekenntniserklärung nach § 16 S. 2 StAG dar. Damit wird ebenfalls eine positive Beziehung des Bewerbers gegenüber dem Grundgesetz erklärt. Trotz des rein formalen Charakters besteht sein Aussagegehalt in einer äußerlich verbalen Hinwendung zum Grundgesetz und ist damit positive (äußere) Verfassungstreue. Die erneute Bestätigung einer ohnehin bereits bekannten Treue verfestigt durch ihren affirmativen Charakter und ihre feierliche Form äußerlich das Band zur Verfassung und konstituiert damit ein weiteres Mal positive Treue. Die positive Treue reicht aber im Einbürgerungsrecht nicht so weit, dass auch ein jederzeitiges Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung verlangt wird. Insoweit ist das Erfordernis eines „Gewährbietens“ im Rahmen der Ermessenseinbürgerung abzulehnen.164 Die Anforderungen erschöpfen sich vielmehr stets in der rein verbalen Dimension eines Bekenntnisses und einer Bekräftigung desselben in feierlichem Rahmen. Ähnliche Bekenntnisse werden vom Staatsbürger nicht verlangt. Die Bekenntnisanforderung(en) manifestieren daher eine erhebliche Diskrepanz gegenüber den Anforderungen an die allgemeine staatsbürgerliche Verfassungstreue. 164
Vgl. unter I. 1. d).
II. Einordnung der geforderten Verfassungstreue
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3. Innere Verfassungstreue durch Treuebekenntnis? Innere Verfassungstreue umfasst eine gesinnungsmäßige Einstellung zu Gunsten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie zeigt sich in ihrer stärksten Ausprägung durch tatsächliche Identifikation in Form einer Übereinstimmung des persönlichen Wertsystems mit den Werten der freiheitlichen Ordnung. Nach der einbürgerungsrechtlichen Regelungskonzeption fallen darunter diejenigen Verhaltensweisen, durch die eine gesinnungsmäßige Zustimmung oder Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur Einbürgerungsvoraussetzung erhoben wird. Auch hier ist der zentrale Anknüpfungspunkt das Treuebekenntnis nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG. Nach der hier vertretenen Ansicht muss dieses Bekenntnis der materiellen Wahrheit entsprechen, was die Behörde auch überprüfen darf. Es genügt demnach nicht, dass sich der Bewerber durch die reine Erklärung nur äußerlich in eine positive Beziehung zur Verfassung setzt. Ein rein verbales Bekenntnis wird in der Rechtsprechung überwiegend gerade nicht für hinreichend gehalten. Vielmehr wollte der Gesetzgeber eine positive innere Verfassungstreue im Sinne einer aktiven Bejahung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur Einbürgerungsvoraussetzung machen. Nur so ist die gesetzgeberisch intendierte „innere Hinwendung“ 165 gewährleistet. Die innere Treue soll nämlich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Bewerber auch nach der Einbürgerung keine Gefährdung für die Wertordnung darstellt.166 Das Bekenntnis muss demnach von einer entsprechenden „inneren Einstellung des Einbürgerungsbewerbers getragen“ sein.167 Damit wird echte Identifikation mit der verfassungsmäßigen Ordnung von dem Bewerber verlangt.168 Die Anforderung eines materiell wahren Treuebekenntnisses richtet sich mithin unmittelbar an die Gesinnung des Einbürgerungsbewerbers. Sie ist innere Verfassungstreue. In der Verwaltungspraxis kann innere Treue aber nur durch einen Rückschluss aus bestimmten Verhaltensweisen behördlich überprüft werden. Der reine Gesinnungsverfassungsfeind, der seine Haltung in keiner Weise nach außen manifestiert, kann also de facto eingebürgert werden. Daher könnte man argumentieren, dass doch nur Anforderungen an die äußere Verfassungstreue gestellt werden. Diese sind dann so beschaffen, dass der Bewerber dazu angehalten ist, sämtliche Verhaltensweisen zu unterlassen, die den materiellen Wahrheitsgehalt des Be165
BT-Drs. 14/533, S. 18. Günter Renner, Ausländerrecht, Nachtrag zur 7. Auflage, AuslG-Kommentar, § 85 Rn. 23. 167 VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14; ebenso VG Aachen, Urt. v. 19.11. 2015, 5 K 480/14. 168 Friedrich Heckmann, Zur Gestaltung eines neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Vorschlag des efms zur Einrichtung von Einbürgerungskursen, in: Deutscher Bundestag, Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – Die parlamentarische Beratung –, S. 137 (137). 166
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kenntnisses in Frage stellen. Unter Umständen wird sogar ein Verhalten verlangt, das den materiellen Wahrheitsgehalt positiv untermauert. Insbesondere wird im Rahmen eines Einbürgerungsgesprächs regelmäßig eine glaubhafte Bejahung der Wertordnung verlangt. Eine solche allein auf das äußere Verhalten abstellende Sichtweise verschleiert jedoch die eigentliche Adressierungsabsicht des Gesetzgebers. Der Normappell, wie er sich auch aus der Formulierung des Rechtssatzes ergibt („sich bekennt“), richtet sich trotz der praktischen Grenzen der Überprüfungsmöglichkeiten einer rein inneren Verfassungstreue an die innere Einstellung des Bewerbers. Gegenstand der Überprüfung ist die Gesinnung, wenn auch auf Grund eines Verhaltens bestimmte Schlussfolgerungen gezogen werden. Denn konkrete Verhaltensanforderungen, auf die sich der Bewerber einstellen könnte, sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Vielmehr muss er auch selbst stets seine Gesinnung überprüfen, um daraus hervorgehendes einbürgerungsschädliches Verhalten zu vermeiden. Anforderungen an die Gesinnung werden sonst an den Staatsbürger nicht gestellt. Diese Anforderung übersteigt die allgemeinen Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue daher erheblich.
III. Bewertung der einbürgerungsrechtlichen Verfassungstreueanforderungen Bewerber werden zu Bürgern. Bürger sind als Mitglied des Volkes Inhaber demokratischer Teilhaberechte, allen voran des Wahlrechts. An der Schwelle zum Übergang in diesen privilegierten – aber auch verantwortungsbeladenen – Status sieht sich der Bewerber verschiedenen Anforderungen ausgesetzt. Treue in der dargelegten Dimension ist der Preis für die „Eintrittskarte“ in den Staatsverband. Angesichts der allgemeinen Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue stellt sich die Frage nach der Angemessenheit dieses Preises. Daher werden die einbürgerungsrechtlichen Treueanforderungen nun im Hinblick auf die allgemeine Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue bewertet. Ein kritischer Blick verbindet dabei die verfassungsrechtliche Bewertung mit ihrer staatsphilosophischen Grundlegung, um daraus praktische sowie rechtspolitische Konsequenzen abzuleiten. 1. Zumutungen im Einbürgerungsrecht Verfassungstreue ist – wird sie nicht aus innerer Überzeugung aufgebracht – eine Zumutung für einen an Freiheit gewöhnten Grundrechtsträger. Auch der Einbürgerungsbewerber ist Träger von Grundrechten und sieht sich daher in Gestalt der Voraussetzungen für den begehrten Erwerb der Staatsangehörigkeit bestimmten Zumutungen ausgesetzt. Darunter befinden sich nicht zuletzt auch Zumutungen der Verfassungstreue.
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Zumutungen wurden bisher durch die Negation eines Rechts gekennzeichnet, sich ihnen zu entziehen.169 In diesem Sinne lässt sich den Anforderungen an die einbürgerungsrechtliche Verfassungstreue der Zumutungscharakter mit dem Argument absprechen, dass diese gegenüber dem Bewerber gar nicht zwangsweise durchgesetzt werden. Er kann sich sämtlichen Treueanforderungen des Einbürgerungsrechts entziehen. Niemand wird zur Einbürgerung gezwungen. Der Staat wird von ihm weder unter Androhung von Freiheitsentzug ein Bekenntnis noch durch Anordnung eines Zwangsgelds den Austritt aus einer verfassungsfeindlichen Partei verlangen. Die einzige Konsequenz, die der Bewerber hinzunehmen hat, ist die Versagung der Einbürgerung. Die Treueanforderungen haben daher nicht etwa den Charakter einer Pflicht, sondern sind mehr „Obliegenheit“. Ihre Missachtung führt allenfalls zu dem persönlichen Nachteil, dass der begehrte Staatsbürgerstatus verschlossen bleibt. Dieser Nachteil besteht allerdings nicht schon in der Versagung einer verfassungsmäßigen Rechtsposition, da es im Grundgesetz keinen unmittelbaren Anspruch auf die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit gibt.170 Daher müssen andere Kategorien für die Bemessung dieses Nachteils herangezogen werden. Seine Intensität kann mitunter insbesondere dann ein erhebliches Ausmaß annehmen, wenn das persönliche „Einbürgerungsinteresse“ des Ausländers mit zunehmender Aufenthaltsdauer steigt. Schließlich hat dieser sich nach langjährigem gewöhnlichen Aufenthalt nahezu ausschließlich der deutschen Rechtsordnung unterworfen. Es besteht daher regelmäßig ein gewisses Interesse daran, weiterhin dem vertrauten System unterstellt zu bleiben. Nicht zuletzt entsteht aber vor allem angesichts der persönlichen Herrschaftsunterworfenheit des Ausländers ein gewichtiges Interesse an der eigenen Herrschaftsteilhabe. Diesem Bedürfnis zur persönlichen Legitimation von Staatsgewalt kann verfassungsrechtlich im Hinblick auf seinen Bezug zur Menschenwürdegarantie besondere Schutzwürdigkeit zukommen.171 Der auf den ersten Blick naheliegende Einwand, dass das Interesse zur demokratischen Teilhabe kaum schützenswert ist, wenn die Demokratie ohnehin abgelehnt wird, kann kaum überzeugen. Denn die Notwendigkeit einer demokratischen Gesinnung folgt aus dem Demokratieprinzip gerade nicht.172 Auch ein 169
Vgl. F. II. 2. b). Vgl. E. I. 1. a), vgl. auch Rolf Grawert, Deutsche und Ausländer: Das Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Asylrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 319 (338). 171 Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 85 [„Damit staatliche Gewalt legitimiert ist, muß sie die Menschenwürde achten und schützen und die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zur Grundlage allen staatlichen Handelns machen.“]; vgl. auch Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 105, wonach sich ein demokratischer Staat keine dauerhafte Etablierung von Statusunterschieden zwischen Bürgern und Ausländern leisten kann. 172 Vgl. unter E. I. 1. b). 170
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Anti-Demokrat hat durch das allen gleichermaßen zukommende Bedürfnis nach Legitimation ein schutzwürdiges Interesse an der Mitbestimmung eigener Geschicke, auch wenn er dieses Recht anderen selbst absprechen mag. Leitet man das schutzwürdige Interesse eines Ausländers an der Herrschaftsteilhabe unmittelbar aus der Menschenwürde ab, folgt bereits aus ihrer Unveräußerlichkeit, dass dieses Interesse auch nicht durch eine feindliche Gesinnung seine Schutzwürdigkeit einbüßt. Auch über die rechtlich greifbaren Interessen hinaus, gibt es maßgebliche Faktoren, die den Erwerb der Staatsangehörigkeit für den Einzelnen zu einem persönlich bedeutsamen Prozess werden lassen. So verschafft allein die Staatsangehörigkeit die mit einer dauerhaften Bleibeperspektive verbundene Statussicherheit.173 Menschlich kann dies nach langjährigem Aufenthalt bedeuten, etwa eine sichere Verbundenheit zu lieb gewonnenen Menschen zu genießen oder einfach Deutschland als das „Gewohnte“ 174 nicht mehr verlassen zu müssen. Auch solche Gesichtspunkte vermögen die Bereitschaft nähren, immensen Aufwand für den Erwerb der Staatsangehörigkeit zu betreiben. Aus diesen Gründen kann die Versagung der Einbürgerung für den Einzelnen unter Umständen so einschneidend sein, dass die Treueanforderung sich de facto eben als Zumutung darstellt, weil der Bewerber sich ihr nur zu einem hohen persönlichen Preis entziehen kann. Auch wenn die rechtmäßige Versagung der Einbürgerung mangels verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Verleihung der Staatsangehörigkeit keinen Grundrechtseingriff darstellt, können dadurch zumindest grundrechtliche Spannungen entstehen. Solche liegen etwa vor, wenn der Bewerber von der Ausübung eines Grundrechts Abstand nimmt, weil er befürchtet, damit Anhaltpunkte für unzureichende Verfassungstreue zu liefern. Problematisch kann dies beispielsweise sein, wenn sich der Bewerber durch die Verfassungstreueanforderungen dazu veranlasst sieht, sein mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung potenziell unvereinbares religiöses Bekenntnis aufzugeben oder zumindest auf eine aktive Betätigung nach außen zu verzichten. Ebenso ist es denkbar, dass sich ein politisch engagierter Ausländer in Grenzfällen bewusst mit einer Meinungsäußerung zurückhält, weil er befürchtet, diese könnte als verfassungsfeindlich eingestuft werden. Die Zumutungen bestehen dann auch darin, dass vom Einbürgerungsbewerber weit mehr verlangt wird als vom Staatsbürger allgemein. Der Ausländer kann sich daher insbesondere im öffentlichen kommunikativen Diskurs nicht „auf Augenhöhe“ mit seinen deutschen Diskurspartnern bewegen, wenn er seine Einbürgerung nicht riskieren will.
173
Astrid Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 87. So die Einlassung der Einbürgerungsbewerberin bei VG Aachen, Urt. v. 19.11. 2015, 5 K 480/14, Rn. 84. 174
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Vom Einbürgerungsbewerber wird weit mehr verlangt als die bloße Beachtung der Gesetze. Die Anforderungen gehen auch weit über eine bloße Konfrontationszumutung hinaus. Im Zentrum der Treue-Zumutungen im Einbürgerungsrecht stehen nämlich die Bekenntnis- sowie die Identifikationszumutung. Die Bekenntniszumutung wird durch das zweimalige Erfordernis einer Erklärung manifestiert, durch die eine positive Beziehung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgedrückt werden soll. Auch ohne den geforderten Wahrheitsgehalt besteht die Zumutung bereits darin, dass unter Umständen eine Erklärung abgegeben werden muss, deren Inhalt nicht mit der persönlichen Überzeugung übereinstimmt. Auch als rein formale Anforderung interpretiert sieht sich der Bewerber allein durch die damit verbundene – symbolische – Intention positiver Hinwendung einer erhöhten Treueanforderung ausgesetzt. Dies wird durch die Identifikationszumutung noch zugespitzt. Der Ausländer ist dadurch faktisch gezwungen, sein Verhalten stets darauf zu prüfen, ob es nach außen hin den Schluss einer fehlenden Identifikation zulassen könnte. Er wird daher zur ständigen inneren Auseinandersetzung mit der Wertordnung veranlasst. Auch wenn eine fehlende Zustimmung ohne äußere Anhaltspunkte unentdeckt bleiben mag, wird auch der reine Gesinnungsverfassungsfeind spätestens bei einer direkten Befragung unter Umständen in innere Konflikte geraten. Dann müsste er nämlich – um seine Einbürgerung nicht zu gefährden – aktiv lügen. Allein die Gewissheit, dass von ihm verlangt wird, dass er die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung tatsächlich bejaht, kann bei ihm einen besonderen psychischen Druck auslösen. Dieser kann sich auf die persönliche Handlungsmotivation auswirken, von bestimmten Grundrechten ungehindert Gebrauch zu machen. Allerdings ist es eine wesentliche Konsequenz der mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Statussicherheit, dass die Anforderungen sich nach der wirksamen Einbürgerung an die allgemeinen Anforderungen an die Verfassungstreue angleichen.175 Die Zumutungen des Einbürgerungsrechts lösen sich mit dem Verlassen seines Anwendungsbereichs auf. Damit besteht zwischen dem Staatsbürger kraft Geburt und dem Staatsbürger kraft Einbürgerung kein Unterschied in ihrem rechtlichen Status mehr.176 Das bedeutet plakativ gesprochen, dass sich der frisch Eingebürgerte noch beim Verlassen des Gebäudes der Einbürgerungsbehörde zum Verfassungsfeind wandeln könnte.
175 Vgl. Jörn Axel Kämmerer, Die Konzeption der Verfassungstreue im Verfassungsund Gemeinschaftsrecht, in: Kluth (Hrsg.), Verfassungstreue jenseits des Beamtentums, S. 13 (27). 176 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (13); Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (217 f.).
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2. Das Problem der überschießenden Treueanforderung Wer Deutscher werden will, muss treu sein. Wer aber Deutscher ist, darf untreu sein. Aus dem grundsätzlichen Recht des Staatsbürgers zur Verfassungsfeindlichkeit hat der Gesetzgeber nämlich nicht die Konsequenz gezogen, jeden einzubürgern, auch wenn er die freiheitliche demokratische Grundordnung als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens ablehnt.177 Es gibt vielmehr eine Diskrepanz zwischen Staatsbürgern und Anwärtern auf diesen Status. Diese ist durch überschießende Treueanforderungen an die Einbürgerungsbewerber gekennzeichnet. Die überschießenden Anforderungen sind jene, die an den Bewerber gestellt werden, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, ohne dass sie zugleich zu den allgemeinen Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue gehören. Der Befund überschießender Treueanforderungen wirft die Frage nach ihrer Rechtfertigung auf. a) Bewertungsmaßstab Der allgemeine Maßstab für die Rechtfertigung muss vorab festgelegt werden. Hier ist an die dargelegten Treue-Zumutungen im Einbürgerungsrecht anzuknüpfen. Die Einordnung einer Anforderung als Zumutung hat ausschließlich ihren Adressaten als Individuum im Blick. Die Bewertung dieser Zumutung hat aber den freiheitlichen Staat in seiner Gesamtheit zu berücksichtigen, sodass noch weitere Interessen mit einfließen müssen. Dazu gehört nicht zuletzt die objektive Bestandserhaltung der freiheitlichen Ordnung als zentrales Interesse des Verfassungsstaates. Angesichts des Terminus der Zumutung kann sich der Maßstab der Bewertung begrifflich danach erfassen lassen, ob die Zumutungen für den Einbürgerungsbewerber in eine Unzumutbarkeit umschlagen. Darunter soll die Wertung verstanden werden, dass die Zumutung nach der je herangezogenen normativen Perspektive unangemessen ist und daher nicht mehr ertragen werden muss. Die Perspektiven der Unzumutbarkeit richten sich dabei insbesondere nach dem Befund, wie er der allgemeinen Konzeption staatsbürgerlicher Verfassungstreue zu Grunde liegt. In dieser sind insbesondere eine verfassungsrechtliche Analyse sowie staatsphilosophische Grundlegungen im Hinblick auf die Ideen des freiheitlichen Verfassungsstaates zusammengeführt worden. Daher soll bei der Bewertung der Treueanforderungen zwischen der verfassungsrechtlichen sowie der freiheitlichen Perspektive unterschieden werden. Die freiheitliche Perspektive hat allein den Anspruch im Blick, die Treueanforderungen so auszugestalten, dass sie dem Ziel größtmöglicher Freiheit gerecht werden (freiheitsschonende Ausgestaltung). Die Einbürgerungsvoraussetzungen werden insbesondere danach bewertet, ob sie für die objektive Bestandserhaltung 177 Vgl. Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 55, der infolge der allgemeinen Ablehnung einer Identifikationszumutung diese Konsequenz für das Einbürgerungsrecht besorgt.
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der freiheitlichen Ordnung als Garant der Freiheitsentfaltung aller im Staat überhaupt taugliche Kriterien enthalten. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass der Bewerber in der juristischen Sekunde der Einbürgerung zum vollwertigen Staatsbürger wird, dem umfassende Freiheitsrechte zukommen. Diesbezüglich ist die Diskrepanz der Anforderungen vor und nach der Einbürgerung zu beurteilen. Die Festlegung der Treue als Einbürgerungsvoraussetzung ist danach vor allem dann optimal freiheitsschonend, wenn sie im Hinblick auf den Gesamtstaat in einem angemessenen Maße zur Erhaltung der Freiheitsordnung beiträgt. Die verfassungsrechtliche Perspektive bewertet die Anforderungen nach den Vorgaben des Grundgesetzes. Zwischen beiden Perspektiven besteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Denn die Verfassung hat die Idee der Freiheitlichkeit gleichsam inkorporiert und in eine konkrete Form gegossen. Allerdings fließt ins Verfassungsrecht auch das souveräne Recht des Staatsvolkes mit ein, die Aufnahmekriterien für Neumitglieder frei zu bestimmen.178 Die Verfassung macht dem Gesetzgeber nämlich keine inhaltlichen Vorgaben für die Festlegung der Einbürgerungskriterien.179 Allerdings unterliegt der parlamentarische Gesetzgeber einer Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Bei der Beurteilung der Aufnahmekriterien ist daher eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen: hier die individuelle Selbstbestimmung des Einzelnen in seiner Stellung als Grundrechtsträger, dort die kollektive Selbstbestimmung des Staatsvolkes in seiner Stellung als souveräner Entscheider über die Aufnahme neuer Mitglieder. Bei der grundrechtlichen Beurteilung ist allerdings der „gewährende Charakter“ 180 der Verleihung der Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen. Die Vorenthaltung des Staatsbürgerstatus geht nämlich nicht mit einer Verkürzung des Bestands bestehender Rechte einher. Es gibt nach dem Grundgesetz kein allgemeines Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit.181 Wo der Staat nicht unmittelbar in Grundrechte eingreift, sondern nur gewährend tätig wird, wird ein größerer gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum angenommen.182 Da der Bürger „nur motiviert, nicht gezwungen“ 183 wird, wird von einer geringeren Intensität der Grundrechtsbindung in der Leistungsverwaltung ausgegangen.184 Dies dürfte auch und beson178
Vgl. unter E. I. 1. a). Vgl. unter E. I. 1. b). 180 Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (220). 181 Rolf Grawert, Deutsche und Ausländer: Das Staatsangehörigkeits-, Ausländerund Asylrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 319 (338). 182 BVerfGE 11, 50 (60); 17, 210 (216). 183 Wolfgang Rüfner, Grundrechtadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 197 Rn. 67. 184 Wolfgang Rüfner, Grundrechtadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 197 Rn. 67. 179
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ders für den Akt der Verleihung der Staatsangehörigkeit gelten. Die souverän festgelegten Kriterien für die Aufnahme in den Staatsverband sind daher nicht umfassend an dem Ziel möglichst freiheitsschonender Ausgestaltung zu messen. Der Bewerber hat insgesamt einen erhöhten Aufwand hinzunehmen, denn er wird schlussendlich trotz aller Zumutungen nicht hoheitlich gezwungen, sich um die Staatsbürgerschaft zu bemühen und die Treueanforderungen zu erfüllen. Angesichts des Legitimationsanspruchs sowie der grundrechtlichen Spannungen hat aber eine angemessene Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Einbürgerungsbewerber zu erfolgen. Zieht man dabei Grundrechte heran, empfiehlt es sich jedoch, sich von der Eingriffs-Terminologie zu lösen. Es ist vielmehr darauf abzustellen, inwieweit der Bewerber sein Verhalten in Ansehung der Einbürgerungsvoraussetzung an deren Anforderungen ausrichtet, sodass er von grundrechtlich geschützten Freiheiten – rein faktisch – nicht mehr ungehindert Gebrauch macht oder jedenfalls die erhöhte Wahrscheinlichkeit dahingehend besteht. Schlussendlich darf der Gesetzgeber den Anspruch nicht dadurch faktisch ausschließen, dass er die Erfüllbarkeit seiner Voraussetzungen unangemessen hoch ansetzt. Der Bezugspunkt der Treue und das geforderte Verhalten müssen sich auf ein angemessenes und für den durchschnittlichen Bewerber in zumutbarer Weise erreichbares Maß beschränken. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine optimal freiheitsschonende Ausgestaltung, kann man – e forteriori – von der Einhaltung der (geringeren) verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgehen. Daher kann eine freiheitsschonende Ausgestaltung im Hinblick auf die genannten Maßstäbe zugleich als verfassungsrechtlich zulässig betrachtet werden. Entgegen dem ersten Anschein sind die überschießenden Treueanforderungen nicht etwa ein Problem des Gleichheitssatzes. Der Einbürgerungsbewerber und der deutsche Staatsbürger sind vor allem im Hinblick auf Art. 16 GG wesentlich ungleich und können daher auch wesentlich ungleich behandelt werden. Eine Differenzierung von „Noch-nicht-Staatsangehörigen“ und Staatsangehörigen ist demnach erlaubt.185 Ein Problem der Ungleichbehandlung würde nur dann entstehen, wenn man an den eingebürgerten und den originären Staatsangehörigen unterschiedliche Anforderungen stellen würde. Da die Anforderungen in der juristischen Sekunde des Einbürgerungserwerbs nivelliert werden, ist der Gleichheitssatz nachfolgend kein relevanter Bewertungsmaßstab. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass neben den Treueanforderungen als gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen für die Einbürgerung auch die Praxis ihrer behördlichen und gerichtlichen Anwendung Gegenstand der Bewertung ist. Denn diese ist – soweit sie keine rechtswidrige Kompetenzüberschreitung darstellt – meist durch die jeweilige Gesetzesnorm vorgezeichnet oder gar determiniert, zumindest aber veranlasst. Die Verwaltung und die Gerichte sind 185 Andrea Kießling, Die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit, Der Staat 54, S. 1 (23).
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dabei gemäß Art.1 Abs. 3 GG umfassend an die Grundrechte gebunden. Das ist insbesondere dort von Bedeutung, wo ihnen durch den Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum eingeräumt wird. Zudem müssen Verwaltungsbeamte und Richter während des Verwaltungsverfahrens oder Prozesses die Grundrechte der Beteiligten schützen. Auch im Bereich der Leistungsverwaltung mit ihrer grundsätzlich schwächeren Intensität der Grundrechtsbindung186 ist vor allem bei der Ausgestaltung des Verfahrens auf die Grundrechte des Bewerbers Rücksicht zu nehmen. Bei einer eigenmächtigen Überschreitung der gesetzlich eingeräumten Prüfungsbefugnisse etwa kann eine Grundrechtsbeeinträchtigung durch behördliche oder richterliche Rechtsanwendung zu besorgen sein. b) Positive Treue aus verfassungsrechtlicher Perspektive Die positive Treue erscheint vor allem als innere Treue in Gestalt der Identifikationszumutung schon aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch zu sein. Innere Treue in den Tatbestand einer Rechtsnorm aufzunehmen, lässt schon wegen der praktischen Unzugänglichkeit der Gesinnung gewichtige Einwände begründet erscheinen. Aber auch losgelöst von der Feststellbarkeit innerer Treue in der administrativen und judikativen Rechtsanwendung erweist sich schon allein die Adressierung der Gesinnung durch einen Hoheitsträger vor dem Hintergrund der Idee des freiheitlichen Verfassungsstaates als problematisch. aa) Grundrechtliche Spannungen Die rechtsförmige Forderung von Identifikation mit dem Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stellt den Einbürgerungswilligen vor die Herausforderung, seine innere Haltung in tatsächliche (psychologische) Übereinstimmung mit einem äußeren Wertsystem zu bringen. Dieser Vorgang soll schließlich durch verschiedene identifikationsbegünstigende Maßnahmen vorangetrieben werden. Der Ausländer wird etwa dazu angehalten, die freiheitlichen Werte kennen und verstehen zu lernen sowie sie letztlich auch inhaltlich zu bejahen. Durch die darauf abzielenden Verhaltensweisen kann der Ausländer unter Umständen von der ungehinderten Ausübung bestimmter Freiheiten abgehalten werden. So kann eine Identifikationsanforderung etwa Verhaltensweisen betreffen, die von den Grundrechten der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) geschützt sind. Die Meinungsfreiheit schützt die Meinung als Werturteil, das durch eine „subjektive Beziehung des Äußernden zum Inhalt seiner Aussage charakteri-
186 Wolfgang Rüfner, Grundrechtadressaten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 197 Rn. 67.
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siert“ 187 ist. Insbesondere wird dabei aber neben der Meinungsäußerung auch bereits die freie Meinungsbildung geschützt.188 Die Meinungen dürfen also insbesondere staatlich nicht beeinflusst werden.189 Das Befürworten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist ein Werturteil, das der Einbürgerungsbewerber zu bilden hat, um den Normbefehl zu erfüllen. Er muss also eine ganz bestimmte Meinung haben, um eingebürgert werden zu können. Insbesondere wäre es damit unvereinbar, verfassungsfeindliche Meinungen zu vertreten, obwohl dies gerade vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst ist. Die Meinungsfreiheit wird also berührt. Die Glaubensfreiheit stellt „eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens“ 190 unter ihren Schutz. Insbesondere erfasst diese mit dem forum internum auch schon die Freiheit, einen bestimmten Glauben zu bilden und zu haben.191 Dem Staat ist jeglicher Zugriff auf den Glaubensinhalt versperrt. Durch die Forderung einer Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wird zwar nicht schon ein bestimmter Glaubensinhalt staatlich verordnet. Denn die freiheitliche Wertordnung ist weder Religion noch Weltanschauung.192 Allerdings können bestimmte Glaubensinhalte ihrem freiheitlichen Gehalt widersprechen. Dennoch fordert der Staat von den Einbürgerungsbewerbern eine Identifikation mit ihren Werten. Dies kann für den Einzelnen dazu führen, dass er eine tatsächliche Identifikation mit den Werten des freiheitlichen Staates nicht bilden kann, ohne dafür seine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen aufzugeben. Daher ist auch die Glaubensfreiheit berührt. Auch die Gewissensfreiheit schützt das forum internum. Sie erfasst sämtliche „ernste sittliche Entscheidungen [. . .], die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt“.193 Diese Entscheidungen sind dabei regelmäßig für die „Konstituierung oder Dekonstituierung der Persönlichkeit“ 194 bedeutsam. Damit zeigt sich der Bezug der Gewis-
187 Christoph Grabenwarter, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 47. 188 Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, Art. 5 Rn. 67. 189 Christoph Grabenwarter, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 75. 190 BVerwGE 90, 112 (115). 191 Axel Freiherr von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 157 Rn. 57. 192 Vgl. unter D. I. 2. 193 Herbert Bethge, Gewissensfreiheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 158 Rn. 20. 194 Juliane Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 99.
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sensfreiheit zur Menschenwürde.195 Insbesondere verbietet sich der hoheitlichzwangsweise Zugriff auf das Denken der Menschen, wie es in totalitären Staaten üblich ist.196 Mit der Identifikationsforderung wird unmittelbar das Denken des Einbürgerungsbewerbers adressiert, sodass ein Konflikt mit persönlichen Gewissensentscheidungen auftreten kann, wenn diese etwa mit dem Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar sind.197 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann ebenfalls ergänzend herangezogen werden, um die grundrechtlichen Spannungen zu begründen. Es schützt nämlich insbesondere die inneren Elemente, die noch nicht von den oben genannten Freiheitsgrundrechten geschützt sind, aber diesen „in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit des Menschen nicht nachstehen“.198 Der Schutz erstreckt sich auf die Gewährleistung eines „abgeschirmten Bereich[s] privater Lebensgestaltung“ 199, in dem der Einzelne die Möglichkeit hat, „frei von öffentlicher Beobachtung und damit der von ihr erzwungenen Selbstkontrolle zu sein“.200 Das Grundrecht soll mit seinem Menschenwürdekern „Distanz wahren [. . .] zwischen der organisierten Gesellschaft und dem eigenwilligen Einzelnen“.201 Die persönliche Wertüberzeugung gehört als Teil der persönlichen Identität des Einbürgerungsbewerbers zum Kern seiner Persönlichkeit. Soweit er diese nicht nach außen kundtut, verbleibt sie sogar in der innersten Sphäre seines Denkens und Fühlens. Hier kann die Identifikationszumutung dazu führen, dass er grundlegende Werthaltungen aufzugeben versucht, die bisher konstituierender Teil seiner Persönlichkeit waren. Damit kommt zumindest ergänzend eine Betroffenheit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht. bb) Unzumutbarkeit durch den Normbefehl Der freiheitliche Verfassungsstaat ist für die Gesinnung des Einzelnen nur sehr begrenzt zuständig. Die grundsätzliche Äußerlichkeit des Staates soll gerade die innerste Sphäre des Individuums vor hoheitlichem Zugriff schützen. Daher ist jede staatliche Einflussnahme auf die innere Einstellung sowie überhaupt jede Adressierung der Gesinnung eine starke Beeinträchtigung der individuellen Freiheit. Der Grund dafür liegt vor allem in ihrer generellen Unbeherrschbarkeit.202 195
Juliane Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 99. Juliane Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 100. 197 Vgl. Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 156 (181). 198 Hans-Detlef Horn, Schutz der Privatsphäre, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 149 Rn. 28; vgl. auch BVerfGE 95, 220 (241). 199 Hanno Kube, Persönlichkeitsrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 148 Rn. 38. 200 BVerfGE 101, 361 (383). 201 Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG-Kommentar, Art. 2 Rn. 127. 202 Vgl. unter C. II. 1. 196
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Die Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist für manchen Einbürgerungsbewerber daher unter Umständen gar nicht erfüllbar. Denn der entscheidende Schritt der tatsächlichen Internalisierung von Werten ist der sicheren Einflussnahme des Einzelnen entzogen. Die Forderung von innerer Treue als Voraussetzung für die Aufnahme in den Staatsverband ist aber aus verfassungsrechtlicher Perspektive dennoch angemessen. Das Staatsvolk hat ein legitimes Interesse daran, die Verfassungstreue grundsätzlich auch auf die Gesinnung zu erstrecken. Es handelt sich – unabhängig von ihrer tatsächlichen Feststellbarkeit – um eine Selbstvergewisserung des wertgebundenen Staates über seine normativen Grundlagen, die auf die Neumitglieder projiziert wird. Der Gesetzgeber verleiht damit seiner rechtspolitischen Entscheidung Ausdruck, dass zumindest die Neumitglieder im Staatsverband eine bestimmte freiheitliche Werthaltung aufweisen müssen. Zugleich ist das Erfordernis innerer Treue auch ein Appell an den Bewerber mit umfassendem normativen Wirkungsanspruch. Der Bewerber soll sich tatsächlich – nicht nur symbolischformal – mit der Wertordnung identifizieren und dies auch in den Grenzen der Zumutbarkeit nachweisen. Der Staat möchte sich nämlich vor der Einbürgerung von Verfassungsfeinden in den Staatsverband schützen. Durch die innere Komponente wird damit zugleich ein Mindestmaß an Integration verlangt, die die demokratische Homogenität verbürgt. Letztere kann nämlich nicht hoheitlich garantiert werden, sodass sie nur durch die Verleihung der Staatsangehörigkeit überhaupt noch im staatlichen Einflussbereich liegt. Das Einbürgerungsrecht ist angesichts seines Gestaltungsspielraums damit ein effektives Instrument für den Schutz der Verfassung durch ein Mindestmaß an Identifikation. Denn nach der Einbürgerung ist es dem Staat nicht mehr möglich, zu kontrollieren, ob der Bürger von seinen Rechten auch in demokratischer Weise Gebrauch macht. Er kann nur durch die Entscheidung über die Zusammensetzung des Staatsvolkes eine entsprechende Kontrolle ausüben. Eine innere Rechtfertigung wird zum Teil aus dem „nationalstaatlichen, volksdemokratischen Demokratieverständnis“ abgeleitet.203 Eine minimale Anforderung an die „demokratische Grundhaltung der Einzubürgernden“ 204 folge demnach schon allein daraus, dass nur die Staatsangehörigen demokratische Legitimation vermitteln können.205 Zwar folgt die Notwendigkeit einer demokratischen Gesinnung der deutschen Staatsbürger noch nicht zwingend aus dem Demokratieprinzip selbst. Als rechtspolitische Entscheidung ist es aber durchaus sachangemessen, zu verlangen, dass der Einbürgerungsbewerber als zukünftiger Teil des Staatsverbands seine freiheitlichen Grundlagen 203 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 133; vgl. zum volksdemokratischen Demokratieverständnis Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 5, S. 305 (305 ff.). 204 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 133. 205 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 133.
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„mitbildet und mitträgt“.206 Angesichts des mit dem Staatsbürgerstatus verbundenen umfassenden Kanons an Rechten – nicht zuletzt des Wahlrechts – hat der Staat ein erhebliches Interesse daran, diese nur solchen Personen zu verleihen, von denen eine grundlegende Zustimmung zu jenen Prinzipien anzunehmen ist, „die das Staatsvolk als verbindliche Grundordnung seines Zusammenlebens anerkannt hat“.207 Dabei kommt es ihm insbesondere für die Frage nach dem zukünftigen Gebrauch der Teilhaberechte – aber auch der sonstigen Grundrechte – darauf an, dass der Einbürgerungsbewerber die freiheitlichen Werte auch tatsächlich internalisiert hat. Denn nur dadurch wird die Funktionsfähigkeit der Demokratie gewahrt. Bei einer Verinnerlichung der Wertentscheidungen des Grundgesetzes ist mit weit höherer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass von verfassungsfeindlichen Bestrebungen auch nach der Einbürgerung Abstand genommen wird.208 Es handelt sich schließlich um ein legitimes Interesse eines Staatsvolkes, sich vor der Unterwanderung seiner grundlegenden Organisationsstrukturen zu schützen. Daher ist eine glaubhafte Identifikation des Bewerbers mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung von erheblichem Interesse für den Staat.209 Die geforderte Treue beschränkt sich zudem trotz der grundrechtlichen Spannungen auf ein für den durchschnittlichen Bewerber in zumutbarer Weise erreichbares Maß. Vor allem im Hinblick auf die freie Entscheidung des Staates über die Aufnahme von Neumitgliedern muss der Bewerber einen erhöhten Aufwand hinnehmen. Zum einen ist der Gegenstand der Treue ausschließlich die freiheitliche demokratische Grundordnung. Ihr Minimalgehalt ist angesichts seiner Offenheit mit einer Vielzahl an Lebenskonzeptionen und Wertvorstellungen vereinbar. Durch diese Begrenzung auf ein Minimum ist es für die meisten Bewerber daher möglich, sich mit ihrem Inhalt auch tatsächlich zu identifizieren. Allerdings gibt es auch Wertvorstellungen, die mit einer freiheitlichen und demokratischen Staats- und Gesellschaftsorganisation schlechthin unvereinbar sind. Für Anhänger solcher Werte ist eine tatsächliche Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mitunter unmöglich, zumindest aber schwierig. Allerdings kann sich der Einzelne darum bemühen, die freiheitlichen Werte kennen und verstehen zu lernen. Insoweit erschöpft sich der Vorgang zunächst 206 BVerfGE 37, 217 (246); vgl. Rolf Grawert, Deutsche und Ausländer: Das Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Asylrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 2, S. 319 (340 f.). 207 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 74. 208 Vgl. Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (220). 209 Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (220).
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einmal nur im reinen Wissenserwerb, der beeinflussbar und ohne Weiteres behördlich überprüfbar ist. Denn Identifikation setzt denknotwendig die Kenntnisse ihres Gegenstandes voraus. Zudem kann der Bewerber zumindest auch versuchen, die Vorzüge der freiheitlichen Ordnung für ein Gemeinwesen nachzuvollziehen und zu erkennen. So kann er sich zumindest um identifikationsbegünstigende Maßnahmen bemühen. Selbst wenn die Internalisierung ihm trotz aller Bemühungen schlussendlich nicht gelingt, so sind die Anforderungen angesichts ihres Minimalgehalts und ihrer Offenheit für eine Vielzahl an Lebenskonzeptionen zumindest nicht schlechthin unerfüllbar. Ferner wird auch für den reinen Gesinnungsverfassungsfeind die Intensität der Identifikationszumutung durch die reale Möglichkeit der Lüge über die tatsächliche Gesinnung deutlich abgeschwächt. Ihm bleibt nämlich noch die Möglichkeit eines Lippenbekenntnisses, wenn er unbedingt eine Einbürgerung erwirken will. Denn schlussendlich hat die Behörde auf die Gedanken- und Gefühlswelt des Einbürgerungsbewerbers nur begrenzt Zugriff. Sie kann ihren Inhalt nämlich nur dadurch ermitteln, dass der Bewerber diesen in irgendeiner Weise erkennbar in die Außenwelt trägt. Damit hat er erheblichen Einfluss auf die Feststellbarkeit seiner wahren Gesinnung. Seine unzugängliche innere Sphäre kann er daher weiterhin vor dem hoheitlichen Einblick verschließen. Die Intensität der Identifikationszumutung steht also in unmittelbarem Zusammenhang mit der behördlichen Feststellungspraxis. Erst durch intensive Befragungs- und Ermittlungsmethoden besteht für den Adressaten der Identifikationsanforderung eine erhöhte Belastung, die ihn zur Preisgabe der wahren Werthaltung bewegen könnte. Allein die Adressierung der Gesinnung erzeugt daher noch nicht per se eine unzumutbare grundrechtliche Spannung. Die äußere positive Treue in Gestalt des Treuebekenntnisses ist gegenüber der inneren positiven Treue kaum noch von eigenständigem Gewicht. Denn dadurch tritt die Identifikation nur noch einmal in Gestalt einer verbalen Erklärung nach außen. Wenn aber schon eine Identifikation grundsätzlich verfassungsrechtlich zumutbar ist, so muss dies erst recht für die Abgabe eines entsprechenden Bekenntnisses gelten. Eine verfassungsrechtliche Unzumutbarkeit der Adressierung der Gesinnung sowie einer Erklärung nach außen allein durch den Normbefehl kann daher nicht angenommen werden. cc) Unzumutbarkeit durch die Feststellungspraxis Das Problem der inneren Treueanforderung liegt also nicht etwa nur in der Adressierung der Gesinnung durch den Normbefehl an sich. Vielmehr erhöht sich die grundrechtliche Belastung durch die Feststellungspraxis der Behörde, wenn sie bei der Ermittlung des Wahrheitsgehalts des Bekenntnisses durch die Wahl ihrer Methoden mit hoher Intensität auf die Gesinnung des Bewerbers zugreift. Die Freiheitsbeeinträchtigung des gesetzlichen Normbefehls wird durch
III. Bewertung
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die behördliche Rechtsanwendung dann nicht nur perpetuiert, sondern vielmehr noch intensiviert. Verzichtet die Behörde etwa auf jegliche Befragung und lässt stets die einfache Unterschrift unter eine formale Erklärung ausreichen, so entstehen im Grunde kaum grundrechtliche Spannungen. Ermittelt die Behörde hingegen den Wahrheitsgehalt des erklärten Bekenntnisses, können gewichtige grundrechtliche Interessen des Bewerbers betroffen sein. Da die Gesinnung in der Rechtswirklichkeit nur durch Manifestation nach außen erkennbar wird, ist die Behörde darauf angewiesen, aus äußerlich ermittelten Verhaltensweisen auf die innere Einstellung wertend zu schließen.210 Durch diese praktischen Grenzen könnte sie sich veranlasst sehen, bestimmte Äußerungen durch gezielte Fragestellungen herbeizuführen, um eine Bewertungsgrundlage zu haben. Dabei kann die reale Möglichkeit der Lüge etwa durch eine intensive Gesinnungsprüfung entwertet werden, indem hoher psychischer Druck erzeugt wird. Bei den Feststellungmethoden kann man insoweit zwischen finaler Gesinnungsprüfung und reiner Gesinnungsinterpretation unterscheiden. Die Gesinnungsprüfung ist eine final auf die Erforschung der inneren Einstellung des Bewerbers abzielende Methode, welche durch gezielte Befragung anhand bestimmter vorgegebener Kriterien erfolgt. Die Befragung ist dabei vor allem auf Wertentscheidungen zu bestimmten Einzelfragen gerichtet, die dann auf ihre Übereinstimmung mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hin beurteilt werden.211 Das auf eine verfassungstreue Einstellung zu bewertende Verhalten besteht dabei maßgeblich in den gegebenen Antworten und dem dabei vermittelten Gesamteindruck. Dabei hat die Behörde die wahre Einstellung zunächst zu erforschen und anschließend unter Berücksichtigung von Glaubens- und Meinungsfreiheit zu bewerten.212 Der Bewerber wird angehalten, seine Einstellung zu bestimmten Wertentscheidungen offen zu legen. Er ist einem erheblichen Druck ausgesetzt, sein Antwortverhalten opportun auszugestalten. Das Recht zur inneren Ablehnung der Freiheitlichkeit wird negiert. Sogar bei einer grundsätzlichen Anerkennung der Freiheit als Organisationsprinzip von Staat und Gesellschaft wird der Bürger dazu gebracht, sich im Einzelfall selbst zu verleugnen, wenn er etwa davor zurückschreckt, einzelne Fragen nicht stets im Sinne der Freiheit zu beantworten.213 Vor allem die Auswahl bestimmter Einzelfragen kann 210
VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.2001, 13 S 916/003. Auf eine solche Gesinnungsprüfung war der von 2006–2011 in Baden-Württemberg angewandte „Gesprächsleitfaden für die Einbürgerungsbehörden“ gerichtet, vgl. Schreiben des Innenministeriums Baden-Württemberg 13.9.2005 (Az: 5-1012.4/12). 212 Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 15b; kritisch zu einer solchen Behördenkompetenz die Stellungnahme der Bundesregierung in BT-Drs. 16/5107, S. 12. 213 Vgl. Tine Stein, Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus?, in: Leviathan 36, S. 33 (48), wonach es dem Bürger beispielsweise erlaubt sei, eine eigene Einstellung zu Homosexualität zu haben, auch wenn die Diskriminierung homosexueller Menschen gegen die Verfassung verstößt. 211
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zu Unsicherheiten für den Bewerber führen. Denn die Einordnung einer Antwort als verfassungsfeindlich muss nicht immer eindeutig sein. Auch lässt eine freiheitsfeindliche Haltung in bestimmten Einzelfragen nicht den Schluss einer grundsätzlichen Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu. Je nach Gestaltung des Fragenkatalogs kann ein strenger Katholik ebenso zum Verfassungsfeind degradiert werden wie ein vergleichsweise liberaler Moslem. Grade dadurch besteht die Gefahr, durch die Fragestellungen gezielt bestimmte Personengruppen und Lebenskonzeptionen zu diskriminieren.214 Eine auf Einzelfragen gestützte gezielte Gesinnungsprüfung ist daher nicht besonders effektiv und zudem mit erheblichen Beeinträchtigungen für den Bewerber verbunden. Ähnliche Gedanken haben einst auch bei der Kriegsdienstverweigerung dazu geführt, auf Meinungs- und Gewissenserforschung zu verzichten.215 Es empfiehlt sich daher, die gezielte Befragung auf eine Überprüfung der Kenntnisse des Inhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beschränken. Denn diese können durch Lernen erworben werden und sind zumindest ein erster – zuverlässiger – Anhaltspunkt dafür, dass sich der Bewerber mit dem Gehalt der Wertordnung befasst hat. Erst bei konkreten Anhaltspunkten für eine Ablehnung sollte die Behörde eine weitergehende Prüfung vornehmen können.216 Es ist allerdings von erheblicher Bedeutung für die Behörde, dass sie etwa Anhaltspunkten dafür, dass der Bewerber das Bekenntnis nur zum Schein abgibt, durch weitere Ermittlungen nachgehen kann. Im Rahmen des Gesprächs soll die Behörde daher auch nachfragen, ob der Bewerber die dargelegten Inhalte bejaht oder ob er grundlegende Einwände gegen bestimmte Wertentscheidungen der Verfassung hat. Im Übrigen trägt es aber zu einer verfassungsmäßigen Ausgestaltung bei, die Wahrheit eines abgegebenen Bekenntnisses zu unterstellen, wenn der Bewerber sein Wissen über den Inhalt der Wertordnung dargelegt hat und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er diesen Inhalt nicht auch bejaht. Denn eine finale Gesinnungsprüfung im Einbürgerungsgespräch dürfte die Schwelle der Unzumutbarkeit erreichen, wenn der Bewerber einem systematischen Beantwortungsdruck ausgesetzt ist, der für abweichendes Denken in bestimmten Lebensbereichen keinerlei Spielraum lässt, sondern stets die „freiheitsfreundliche“ Antwort erwartet wird. Durch die reine Gesinnungsinterpretation erfolgt eine schlussfolgernde Bewertung bestimmter, dem Beweis zugänglicher Umstände auf ihre Eignung, berechtigte Zweifel an der Identifikation des Bewerbers mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu begründen. Da die Behörde hier nicht gezielt Aussagen 214 Vgl. Rüdiger Wolfrum/Volker Röben, Gutachten zur Vereinbarkeit des Gesprächsleitfadens für die Einbürgerungsbehörden des Landes BW mit Völkerrecht v. 8.3.2006, S. 16. 215 Rüdiger Wolfrum/Volker Röben, Gutachten zur Vereinbarkeit des Gesprächsleitfadens für die Einbürgerungsbehörden des Landes BW mit Völkerrecht v. 8.3.2006, S. 17. 216 Vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2005, 13 S 2948/04.
III. Bewertung
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des Bewerbers zu bestimmten Wertfragen herbeiführt, sondern vielmehr nur bestimmte durch anderweitige Ermittlungen bekannt gewordene Handlungen oder Aussagen bewertet, entsteht zumindest kein belastender Beantwortungsdruck auf den Einbürgerungsbewerber. Da berechtigte Zweifel an der Verfassungstreue auf Grund der allgemeinen Beweislastverteilung ausreichen, muss die innere Einstellung ohnehin nicht abschließend ermittelt werden.217 Allerdings unterliegt die Behörde bei ihrer schlussfolgernden Bewertung bestimmten Beschränkungen. Insbesondere muss sie auch hier die grundrechtlichen Interessen des Bewerbers wahren. Die Beeinträchtigung ist vor allem dann weitaus geringer, wenn der Bewerber mit den Verhaltensweisen grundsätzlich „freiwillig“ und nicht nur auf gezielte Veranlassung der Behörde nach außen getreten ist. Im Hinblick auf Verhaltensweisen außerhalb des Einbürgerungsgesprächs sind insbesondere Schlussfolgerungen aus bestimmten – der Behörde bekannt gewordenen – Meinungsäußerungen oder Mitgliedschaften von praktischer Relevanz. So kann eine verfassungsfeindliche Meinungsäußerung in der Vergangenheit – etwa auf der Seite eines sozialen Netzwerks – ein Anhaltspunkt für die Behörde sein, zumindest Zweifel an der Verfassungstreue des Bewerbers zu begründen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das „bloße Haben einer Überzeugung und die bloße Mitteilung, dass man diese habe“ 218 nicht einmal für Beamte eine Verletzung der Treuepflicht darstellt.219 Erst bei „Folgerungen für [die] Einstellung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung“ 220 liegt ein Treueverstoß des Beamten vor. Daher muss auch die Aussage des Einbürgerungsbewerbers eindeutig gegen den Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in ihrem grundlegenden Bestand gerichtet sein. Meinungsäußerungen, die „im Vertrauen auf die Überzeugungskraft des Arguments Kritik an bestehenden Zuständen“ 221 üben, reichen daher nicht aus. Sie müssen vielmehr eine grundsätzliche Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erkennen lassen. Bei Mitgliedschaften in Parteien ist ein negativer Schluss folgerichtig erst dann angemessen, wenn diese eine eindeutig verfassungsfeindliche Zielsetzung verfolgt und sich der Bewerber diese erkennbar zu eigen macht.222 Insoweit ist der Bewerber durch seine Meinungsfreiheit nicht vor negativen Schlussfolgerungen geschützt. Verfassungsrechtlich ist eine solche Schlussfolgerung zumutbar, da die Äußerung dieser Meinungen grundsätzlich
217
VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.2001, 13 S 916/003. BVerfGE 39, 334 (350). 219 BVerfGE 39, 334 (350). 220 BVerfGE 39, 334 (351). 221 BVerfGE 39, 334 (351). 222 Vgl. Kay Hailbronner/Jan Hecker, in: Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 75; ebenso BVerwGE 75, 86 (98). 218
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
freiwillig erfolgt ist. Der Staat schützt dabei zwar generell auch verfassungsfeindliche Meinungsinhalte. Angesichts seiner Wertbindung darf der Staat öffentliche Meinungsäußerungen aber hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewerten. Er darf dabei zwar diese Meinungen nicht hoheitlich benachteiligen, kann aber offen demokratische Werte im Diskurs entgegensetzen. Anders muss dies allerdings bei Schlussfolgerungen mit religiös-weltanschaulichem Bezug beurteilt werden. Denn die Glaubensfreiheit ist „zentral für die moralische Identität des Menschen“.223 Sie soll den Einzelnen vor allem davor schützen, entgegen eigener religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen handeln zu müssen.224 Damit ist auch der Rückzug ins Private sowie der Verzicht auf den offenen Vollzug religiöser Verhaltensweisen nicht zumutbar. Ein Unterschied zur Meinungsfreiheit besteht zudem vor allem angesichts der Neutralitätspflicht des Staates. Diese verbietet dem Staat neben der Identifikation mit bestimmten Glaubensinhalten auch die Bewertung dieser am Maßstab der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.225 Eine „Beurteilung des Freiheitsinteresses [. . .] ist dem religiös und weltanschaulich neutralen Staat prinzipiell verschlossen“.226 Daher darf der Staat auch die theologischen Aussagen einer Religion oder die Lehre einer Weltanschauung – kurzum den Glaubensgehalt – nicht inhaltlich bewerten.227 Ist der Einbürgerungsbewerber daher Anhänger einer Religion, deren Glaubensaussagen verfassungsfeindliche Inhalte enthalten, stellt sich für die Behörde die Frage nach der Möglichkeit, die Einbürgerung mangels innerer Treue abzulehnen. Im Ausgangspunkt verbietet sich ein negativer Schluss von der Zugehörigkeit zu einem Glauben auf ein falsches Bekenntnis228, da der Glaube auch im Einbürgerungsverfahren nicht auf seine Verfassungstreue hin beurteilt werden darf. Daher darf die freie Glaubensbetätigung dem Einbürgerungsbewerber nicht entgegengehalten werden.229 Insbesondere kann allein die Mitgliedschaft in einer bestimmten religiösen Vereinigung für sich betrachtet auch dann noch keinen negativen Schluss begründen, wenn diese
223
Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, Art. 4 Rn. 41. Ute Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: VVDStRL 68, S. 7 (16). 225 Vgl. auch Uwe Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, S. 245 (260 f.). 226 Michael Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, GGKommentar, Art. 4 Rn. 16. 227 Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, S. 56. 228 Günter Renner, Deutsche Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit, ZAR 2004, 130 (134). 229 Günter Renner, Deutsche Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit, ZAR 2004, 130 (134). 224
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Vereinigung verfassungsfeindliche Zielsetzungen verfolgt.230 Sofern die Vereinigung durch ihre Zielsetzung über die reine Glaubensbetätigung hinaus in die staatliche Sphäre eintritt, indem sie bestimmte Zielsetzungen für die politische Ordnung formuliert, dürfte dies aber zumindest Anlass bieten, den Bewerber danach zu befragen, inwieweit er sich diese Bestrebungen zurechnen lassen möchte. Denn dann beschränkt sich die Organisation nicht mehr nur auf ihre religiösen Ziele, sondern verfolgt eben – unabhängig vom Selbstverständnis der Organisation als religiöse Gemeinschaft231 – politische Ziele.232 Im Ergebnis muss stets eine auf die Person des Bewerbers bezogene konkrete verfassungsfeindliche Gesinnung nachgewiesen werden. Diese muss zudem über den reinen Glauben hinaus von der Überzeugung getragen sein, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung tatsächlich abgeschafft werden muss. Beschränkt sich die innere Überzeugung nur auf eine rein persönliche glaubensgeleitete Lebensentscheidung, liegt noch keine (relevante) Verfassungsfeindlichkeit vor.233 Dies kann vor allem auch damit begründet werden, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung für die persönliche Lebensführung gar keine Vorgaben enthält, sondern vielmehr nur die äußere Gestaltung der staatlichen Ordnung betrifft. Sofern der Bewerber selbst aber mit einer konkreten politischen Äußerung nach außen tritt, sollte der Staat ihren Inhalt auf die Übereinstimmung mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewerten dürfen. Das gilt auch dann, wenn die Aussage religiös motiviert war. Zwar können grundsätzlich auch verfassungsfeindliche Aussagen von der Glaubensfreiheit gedeckt sein.234 Jedoch unterliegt der Inhalt der Aussagen mit dem Eintreten in die staatliche Sphäre durch einen Bezug zur politischen Ordnung einer Bewertung durch die staatlichen Organe. Denn die Glaubensfreiheit hat nicht etwa den Zweck, Ausländern einen sonst nicht bestehenden Einbürgerungsanspruch zu gewähren.235 Andernfalls käme es zu einer Ungleichbehandlung von politischen Aussagen desselben Inhalts allein in Abhängigkeit von ihrer Motivation. Insbesondere wird dadurch auch nicht der Glaube selbst, sondern eine Folgerung für die Einstellung
230 Günter Renner, Deutsche Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit, ZAR 2004, 130 (134). 231 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 70.1. 232 BVerwG, Urt. v. 2.12.2009, DVBl. 2010, 580; vgl. Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, S. 81, wonach eine „Vereinigung, deren Hauptzweck nach ihrer nachweisbaren tatsächlichen Wirksamkeit auf politisches Handeln [. . .] gerichtet ist, [. . .] zumindest primär keine Religion“ verfolgt. 233 Ehrhart Körting, Die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG und der Salafismus, DVBl. 2014, 1028 (1029). 234 Ehrhart Körting, Die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG und der Salafismus, DVBl. 2014, 1028 (1030). 235 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 70.1.
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung beurteilt. Die Bewertung sämtlicher – religiös motivierter – Aussagen muss daher unabhängig vom (theologischen) Glaubensinhalt erfolgen. Sie muss sich neutral auf den konkreten Aussagegehalt und seine Bedeutung für die politische Ordnung beschränken. Zugestanden sei, dass die Grenzziehung zwischen reinem Glaubensinhalt und glaubensgeleiteter Meinung die Behörden im Einzelfall vor erhebliche Herausforderungen stellen dürfte. Allerdings kann eine schwierige Abgrenzbarkeit kein Argument dafür sein, die grundrechtlichen Wertentscheidungen nicht möglichst umfassend zu berücksichtigen. Schwierig kann etwa die Einordnung bei der Beantragung der Einbürgerung durch eine Burka-Trägerin sein. Um die Einbürgerung mit Berufung auf die fehlende innere Verfassungstreue ablehnen zu können, müsste das Tragen der Burka für sich genommen als Ausdruck einer verfassungsfeindlichen Haltung interpretiert werden können, ohne dabei die theologische Begründung der Ganzkörperverschleierung heranzuziehen. Hier wäre ein erheblicher Begründungsaufwand notwendig, allein aus dem Tragen der Burka auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung der Trägerin zu schließen. Zwei Bewertungsschritte wären dafür notwendig: Aus dem Tragen der Burka müsste zum einen der Aussagegehalt abzuleiten sein, dass die Trägerin eine zwangsweise Verschleierung aller Frauen in ganz Deutschland anstrebt.236 Zum anderen müsste eine solche Zwangsverschleierung aller Frauen eine grundlegende Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zwingend zum Ausdruck bringen und nicht nur eine freiheitsfeindliche Haltung in einer spezifischen Einzelfrage darstellen. Schon die erste Schlussfolgerung ist nicht zwingend, da es auch Burka-Trägerinnen gibt, die die Verschleierung allein für sich persönlich als verbindlich ansehen und anderen Frauen eine abweichende Haltung zugestehen. Daher können auch Burka-Trägerinnen grundsätzlich eingebürgert werden. Die schwierige Gratwanderung des Staates bei der Beurteilung der Verfassungstreue von Einbürgerungsbewerbern mit religiösem Hintergrund soll ein Fall des Verwaltungsgerichts Stuttgart illustrieren. Dort äußerte die Bewerberin im Einbürgerungsverfahren unter anderem: Die Steinigung von Frauen bei Ehebruch in islamischen Ländern sei zur Abschreckung ganz gut. Im Konfliktfall zwischen religiösen Vorschriften und weltlichen Gesetzen werde sie sich für die weltlichen Gesetze entscheiden. Sie lehne es ab, die Vorherrschaft der Scharia in Deutschland mit Gewalt durchzusetzen. Einen friedlichen Wechsel würde sie aber als positiv empfinden. Sie möchte bezüglich ihres Glaubens nicht missionieren, sondern durch ihr Tun überzeugen. Das Existenzrecht Israels lehne sie ab.237 236 Vgl. Günter Renner, Deutsche Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit, ZAR 2004, 130 (134) mit ähnlichen Argumenten zur Bewertung des Aussagegehalts des Kopftuches durch die Einbürgerungsbehörde. 237 VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14.
III. Bewertung
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Darf die Behörde oder das Gericht allein aus einer entsprechenden Haltung zur Scharia auf die innere Verfassungsfeindlichkeit schließen? Dieser Schluss gelingt wohl kaum ohne inhaltliche Interpretation der Scharia und die Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Daher kann wohl allein das Bekenntnis zur Scharia keinen negativen Schluss rechtfertigen. Insbesondere ist das Verhältnis der Scharia zur freiheitlichen Grundordnung auch unter Islamwissenschaftlern nicht unumstritten und daher nicht zwingend von einer verfassungsfeindlichen Haltung begleitet.238 Das Gericht hätte vielmehr nachfragen müssen, inwieweit die Bewerberin eine Veränderung der bestehenden staatlichen Ordnung anstrebt. Es überschreitet insbesondere die verfassungsrechtlichen Grenzen staatlicher Neutralität, wenn es – wie im Fall des VG Stuttgart geschehen – von der Bewerberin eine Stellungnahme zu konkreten Koranversen verlangt. Im Urteil heißt es dazu: „Auf Frage, was die Klägerin zu 1 unter dem Begriff Scharia verstehe, gab sie an, hierzu gehörten Gebete und Fasten. Dies habe sie dem Koran entnommen. Hieran wolle sie sich auch halten. Auf Vorhalt des Gerichts, dass im Mittelpunkt der Scharia das Ehe- und Familienrecht stehe und nach Vorhalt des Inhalts der Suren 4,34 („Die Männer stehen über den Frauen. Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben und gehorsam“) und 2,228 („Die Männer stehen eine Stufe über den Frauen“) gab die Klägerin zu 1 an, Frauen hätten die gleichen Rechte wie Männer. Auf Frage des Gerichts, wie die Klägerin zu 1 zu Koranversen zum Zeugenrecht (Sure 2,282: „Die Zeugenaussage eines Mannes kann nur von zwei Frauen aufgewogen werden“) stehe, ließ sie sich dahin ein, die Scharia könne nicht überall ausgeübt werden, sie halte sich an deutsche Gesetze.“ 239 Hier wird der Glaube anhand seines theologischen Fundaments – dem Koran – auf seine Verfassungstreue hin überprüft. Losgelöst von dem Vorhalt des Gerichts hat die Bewerberin die Frage nach der Bedeutung der Scharia nämlich vor allem auf die religiösen Riten des Betens und Fastens beschränkt, ohne offene Folgerungen für die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung daraus abzuleiten. Ohne allzu provokante Unterstellung sei Zweifel erlaubt, ob ein Gericht je auf die Idee gekommen wäre, einer streng katholischen Einbürgerungsbewerberin den Inhalt aus den Briefen des Apostels Paulus an die Epheser (Eph. 5, 22 „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus)“) oder an die Kolosser (Kol. 3, 18: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie es sich im Herrn geziemt.“) mit dem Hinweis auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau vorzuhalten. Die katholische Lehre leitet aus diesen Bibelstellen angesichts des Kontextes der Aussagen zwar gerade den christlichen Anspruch zur Gleichberechtigung von Mann und Frau ab. Aber auch das ist nur durch Auslegung der
238 Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 11 Rn. 111.2; vgl. VG München, Urt. v. 15.3.2010, M 25 K 08.2511. 239 VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14.
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G. Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht
Glaubensquelle möglich, zu der eine staatliche Instanz eben nicht befugt ist. Allein die Folgerungen des Bewerbers für seine grundlegende Haltung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht den Staat etwas an. Auf dem Richtertisch haben weder Bibel noch Koran neben dem Grundgesetz zu liegen. Auch in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen findet sich eine problematische Rechtsanwendung. Dort heißt es: „Die Kammer geht davon aus, dass die Klägerin der salafistisch-extremistischen Ausrichtung des Islam zumindest sehr nahesteht; vieles spricht dafür, dass sie eine Anhängerin dieser Ausrichtung ist. Salafisten verfolgen das Ziel, Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als gottgewollte Ordnung angesehen und propagiert wird, umzugestalten. Für Salafisten ist Allah der einzige Souverän und die Scharia das von ihm offenbarte – und damit einzig legitime – Gesetz. Sie wollen die deutsche Gesellschaft entsprechend ihrer Vorschriften missionieren. Demokratie ist in ihren Augen eine falsche ,Religion‘. Gesetze können der salafistischen Ideologie zufolge nur von Gott kommen (Prinzip der göttlichen Souveränität) und niemals vom Volk. Die Volkssouveränität als wesentliches Element der Demokratie westlicher Prägung ist demnach unvereinbar mit dem religiös argumentierenden Salafismus. Die salafistische Ideologie widerspricht in wesentlichen Punkten (Gesellschaftsbild, politisches Ordnungssystem, Gleichberechtigung, individuelle Freiheit) den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ 240 Hier wird die islamische Strömung des Salafismus inhaltlich interpretiert und auf ihre Vereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewertet.241 Darüber hinaus beschränkt sich das Gericht auf die Feststellung, dass die Bewerberin dieser Ausrichtung des Islam nahesteht. Aus der reinen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Glauben kann aber noch nicht auf eine innere Haltung geschlossen werden, die als Verfassungsfeindlichkeit anzurechnen ist.242 Daher genügt allein die Anhängerschaft nicht aus, wenn es sonst keine Akte der Veräußerlichung verfassungsfeindlicher Haltungen gibt. Die Gerichte – sowie zuvor die Behörden – hätten sich darauf beschränken müssen, die grundlegenden Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit den Bewerbern unabhängig von ihrem Glauben zu erörtern. Hätten diese dann offen – wenn auch glaubensgeleitet – die Ablehnung von gewichtigen Teilelementen erklärt, so könnte der Schluss auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung ohne Verletzung der Neutralitätspflicht erfolgen. Die Befragung ist glaubensneutral auszugestalten. Soweit die Antworten und das Verhalten des Bewerbers im Einbürgerungsgespräch bewertet werden, darf sich die Interpretation nur 240
VG Aachen, Urt. v. 19.11.2015, 5 K 480/14. Vgl. allgemein Ehrhart Körting, Die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG und der Salafismus, DVBl. 2014, 1028–1031. 242 Vgl. Ehrhart Körting, Die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG und der Salafismus, DVBl. 2014, 1028 (1029). 241
III. Bewertung
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auf zwei Faktoren beschränken: Zum einen das grundlegende Verstehen des Inhalts der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und zum anderen die grundlegende Bejahung dieses Inhalts. Die Beschränkung auf das Grundlegende steht in grundrechtsschonender Abgrenzung zur Bewertung von Antworten auf spezifische Einzelfragen. Der Bewerber hat hinreichenden Spielraum zu freiheitsfeindlichem Denken im Einzelfall. Im Übrigen sind Rückschlüsse aus solchen objektiven Verhaltensweisen auf die verfassungstreue Einstellung im Rahmen des Einbürgerungsgesprächs grundsätzlich zulässig.243 Die Behörde darf dabei aber nur auf die freiheitliche demokratische Grundordnung als Objekt der Identifikation abstellen. Daher ist es für die Annahme einer verfassungsfeindlichen Gesinnung schon einfachgesetzlich nicht ausreichend, dass der Bewerber im Einbürgerungsverfahren und im Gerichtsprozess bewusst falsche Angaben gemacht hat.244 Das Benehmen des Ausländers im Einbürgerungsverfahren kann nur auf seine Verfassungstreue hin bewertet werden, nicht aber auf seinen Rechtsgehorsam oder die adäquate Erfüllung seiner verfahrensrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten. Allerdings dürfte es durchaus zulässig sein, aus einem ausweichenden Antwortverhalten des Bewerbers negative Schlüsse zu ziehen, wenn sich der Bewerber eindeutig einer Überprüfung der inneren Überzeugungen entziehen will und dabei der Schluss begründet erscheint, dass er seine verfassungsfeindliche Einstellung zu verbergen versucht.245 Denn bei grundlegenden Fragen zu Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist eine bejahende Antwort zu erwarten. Die Überprüfung der Kenntnisse der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eröffnet eine grundrechtsschonende Möglichkeit, einen ersten Anhaltspunkt zu erhalten.246 Im weiteren Gesprächsverlauf müssen der Gesamteindruck, das Antwortverhalten und konkrete Aussagen in glaubensneutraler Weise bewertet werden. Die innere Verfassungstreue führt also zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten vor allem durch ihre konkrete Anwendungspraxis. Beim Zugriff auf die Gesinnung muss sich der Staat mit bestimmten Grenzen bei der Ermittlung ihres Inhalts abfinden. Damit einher geht das Risiko, entgegen der gesetzgeberischen Intention Gesinnungsverfassungsfeinde einzubürgern. Dieses Risiko muss ein Staat, der die freie Gesinnung als unzugänglichen Raum individueller Freiheitsentfaltung prinzipiell anerkennt, auch bei einer – grundsätzlich legitimen – Adressierung der inneren Werthaltung in Kauf nehmen.
243 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.2001, 13 S 916/003; VG Karlsruhe, Urt. v. 26.2.2003, 4 K 2234/01. 244 So aber VG Aachen, Urt. v. 19.11.2015, 5 K 480/14, Rn. 73. 245 VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14; vgl. auch VGH Mannheim, Urt. v. 07.03.2013, 1 S 617/12. 246 So auch im Einbürgerungsverfahren im Fall des VG Stuttgart, Urt. v. 20.4.2015, 11 K 5984/14 geschehen.
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c) Positive Treue aus freiheitlicher Perspektive Die positive Treue ist aus freiheitlicher Perspektive noch weitaus kritischer zu beurteilen. Angesichts des grundsätzlichen Rechts des Bürgers zur Verfassungsfeindlichkeit berührt die positive Treue diese Freiheit des Einbürgerungsbewerbers. Diese kann unter dem Gesichtspunkt der Meinungs-, Glaubens-, Gewissensfreiheit oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen sein. Die positive Treue geht weit über die allgemeinen Anforderungen an den Staatsbürger hinaus, sodass sie nicht etwa schon durch eine ohnehin bestehende Pflicht zur Verfassungstreue abgedeckt ist.247 Sie stellt also eine besondere Zumutung für den Bewerber dar. Das kann aus freiheitlicher Perspektive nur dann zumutbar sein, wenn dies durch einen übergreifenden Freiheitsschutz gerechtfertigt ist. Das Ziel der Verhinderung der Aufnahme von Verfassungsfeinden in den deutschen Staatsverband als Zweck des Treuebekenntnisses ist aus freiheitlicher Sicht legitim. Verfassungsfeinde gefährden nämlich vor allem dann die bestehende Freiheitsordnung, wenn diese Inhaber der deutschen Staatsangehörigkeit sind. Sie haben zum einen als Inhaber des Wahlrechts Einfluss auf staatliche Entscheidungen. Ihnen kann zum anderen dieser Status angesichts des Schutzes durch Art. 16 GG nicht mehr entzogen werden. Eine effektive Abwehr mit den Mitteln des Einbürgerungsrechts ist also vor der Statusverfestigung angezeigt. Jedoch ist jeglicher Gesinnungszugriff aus freiheitlicher Perspektive als unzumutbar einzustufen, da allein das Haben einer bestimmten freiheitsfeindlichen Werthaltung noch keine konkrete Gefährdung der Verfassungsordnung darstellt. Vielmehr kann die durch ihre Äußerlichkeit gekennzeichnete Freiheitsordnung des Grundgesetzes allein durch die Gesinnung gar nicht tangiert, schon gar nicht gefährdet werden. Erst mit einem Akt der Veräußerlichung ist dies überhaupt möglich. Die Begrenzung der Verfassungstreue auf äußeres Verhalten, welchem eine Eignung zur realen Bedrohung der Freiheitsordnung zukommt, wäre also weitaus freiheitsschonender. Die Verinnerlichung der Wertentscheidungen des Grundgesetzes mag zwar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass von verfassungsfeindlichen Bestrebungen auch nach der Einbürgerung Abstand genommen wird.248 Allerdings ist auch vom verfassungsindifferenten Bewerber keine verfassungsfeindliche Betätigung zu erwarten. Er wird für die Demokratie zwar nicht unbedingt einen förderlichen Beitrag leisten, stellt aber auch keine Gefährdung dar. Zudem ist seine Entscheidung gegen ein aktives politisches Engagement oder eine Auseinandersetzung mit den Belangen des Gemeinwesens als Akt
247 Vgl. Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62, S. 156 (182 f.). 248 Vgl. Franz-Wilhelm Dollinger/Andreas Heusch, Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverzichtbare Bedingung der Einbürgerung, VBlBW 2006, 216 (220).
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der Freiheit zur Indifferenz oder zur „Grundrechtsabstinenz“ 249 zu respektieren.250 Umgekehrt kann die Annahme, dass schon der reine Gesinnungsverfassungsfeind ein erhöhtes Potenzial zur Gefährdung der Verfassung auch in der Außenwelt in sich trägt, aus freiheitlicher Sicht nicht ausreichen. Allein das Denken muss nämlich nicht zwingend in ein Handeln umschlagen. Es gibt zahlreiche Menschen, die keinerlei Neigung für politisches Engagement aufweisen, obwohl sie eine klare Haltung in bestimmten Fragen haben. Die Annahme ist daher zu spekulativ, um einen so erheblichen Zugriff auf die Gefühls- und Gedankenwelt des Individuums noch mit dem Schutz der Freiheitsordnung zu rechtfertigen. Der Freiheitseingriff übersteigt den potenziellen – spekulativen – Vorteil für die freiheitliche Ordnung in ihrem Bestand um ein Vielfaches. Zudem können sich Menschen auch erst in einem Stadium nach der Einbürgerung radikalisieren, sodass selbst ein wahres Bekenntnis keine hinreichende Sicherheit bietet.251 Die Adressierung der Gesinnung ist aus freiheitlicher Perspektive daher unzumutbar. Die Gesinnung sollte vielmehr als unantastbarer Kernbereich individueller Freiheit von Zumutungen der Identifikation verschont bleiben. Wie aber steht es um eine rein formale Bekenntniserklärung, die sich in einem symbolischen Akt zumindest äußerer positiver Hinwendung erschöpft? Eine solche äußere Treue, die keine Entsprechung in der Innenwelt des Erklärenden hat, stellt den Erklärenden abermals vor die Entscheidung, inwieweit er bereit ist, ein bloßes Lippenbekenntnis abzugeben. Allein die mit einer solchen Erklärung implizierte „Selbstverpflichtung“ kann für das persönliche Gewissen des Einzelnen eine Zumutung sein. Möglich ist auch, dass er aus religiösen Gründen ein Bekenntnis gar nicht abgeben kann. Es werden also trotz des Minimalgehalts der freiheitlichen Ordnung diejenigen ethischen Lebenskonzeptionen diskriminiert, die mit der Freiheitlichkeit unvereinbar sind, da sie ein Bekenntnis nicht wahrheitsgemäß abgeben können. Ein rein formales Bekenntnis – das auch Lippenbekenntnis sein kann – ist zudem für den eigentlich intendierten Freiheitsschutz nahezu unwirksam. Es bleibt allein die Hoffnung, dass der Bewerber sich durch die Erklärung die freiheitliche demokratische Grundordnung noch einmal ins Bewusstsein ruft und sich daher die Chancen einer Identifikation mit ihr zumindest erhöhen. Versteht man das Bekenntnis insoweit als Ausdruck einer Konfrontationszumutung, die dem Bewerber noch einmal die Bedeutung der freiheitlichen demokratischen Grundord249 Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, 11 (23). 250 Vgl. auch Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 330. 251 Vgl. Hans-Georg Maaßen, Staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen der Terrorismusbekämpfung, ZAR 2011, 336 (338).
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nung bewusst machen soll, empfiehlt sich eine andere Formulierung. Gerade bei geforderten Erklärungen durch den Normadressaten kommt es entscheidend auf den Wortlaut an. Eine entsprechende „Erklärung“ sollte daher mehr auf eine Affirmation der allgemeinen Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue gerichtet sein. Denn mehr wird auch nach der Einbürgerung zum Zwecke des Freiheitsschutzes nicht verlangt. Sie könnte etwa lauten: „Ich bekräftige, dass ich die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht aktiv beseitigen werde.“ Oder: „Ich bin mir bewusst, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung unangetastet bleiben muss“. Jedenfalls empfiehlt es sich aus freiheitlicher Perspektive, eine Formulierung zu wählen, die dem Konfrontationscharakter Rechnung trägt. Für den Schutz der Freiheitsordnung muss es aber im Wesentlichen bei Anforderungen an die negative Treue bleiben. d) Erhöhte Anforderungen an die negative Treue Im Bereich der negativen Treue weichen die Anforderungen an den Bewerber gegenüber dem Staatsbürger am wenigsten voneinander ab. Denn auch der Bürger ist in bestimmten Grenzen grundsätzlich zu einer negativen Treue verpflichtet. Diese erschöpft sich allerdings im Erfordernis des Unterlassens der aktiven Beseitigung der freiheitlichen Wertordnung. Eine unterhalb dieser Schwelle verbleibende Verfassungsfeindlichkeit ist dem Staatsbürger dagegen erlaubt. Insbesondere auf der kommunikativen Ebene sind seinen verfassungsfeindlichen Bestrebungen – bis zur Schwelle der hetzerischen Kampfrede – kaum Grenzen gesetzt. Der Einbürgerungsbewerber hingegen hat auch schon durch verfassungsfeindliche Meinungsäußerungen eine Ablehnung seines Antrags zu befürchten. Ebenfalls sind die Anforderungen an seine Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung weitaus restriktiver. Da bereits eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Zumutbarkeit von positiver Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht angenommen wurde, sind erhöhte Anforderungen an die negative Treue aus verfassungsrechtlicher Perspektive erst recht zumutbar. Daher beschränken sich die Ausführungen auf die freiheitliche Perspektive. aa) Verfassungsfeindliche Meinungskundgabe Der Bewerber muss bei Äußerungen, die eine verfassungsfeindliche Einstellung vermuten lassen, mit einer Versagung der Einbürgerung rechnen. Damit wird ihm die gleichberechtigte Teilnahme am politischen Diskurs erschwert. Denn dem deutschen Staatsbürger ist auch eine offene und prinzipielle Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erlaubt. Auch wenn es sich in der Sache zwar nicht um einen Zugriff auf das Innere des Bewerbers handelt, da nur die nach außen tretende Meinung bewertet wird, haben Meinungs-
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äußerungen durchaus einen nicht unerheblichen Bezug zur Innenwelt.252 Daher muss die Anforderung, verfassungsfeindliche Meinungsäußerungen zu unterlassen, durch ein erhebliches Freiheitsschutzinteresse gerechtfertigt sein. Zum Bestandteil des Minimalkonsenses der freiheitlichen Ordnung gehört auch die Zulässigkeit einer Kontroverse über den Konsens. Dies muss aus freiheitlicher Sicht berücksichtigt werden, um eine Meinungsäußerung nicht vorschnell unter dem Stigma der Verfassungsfeindlichkeit für die Ablehnung der Einbürgerung heranzuziehen. Kritische Auseinandersetzungen mit den Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören also so wesentlich zu ihrem Bestandteil, dass ihr Bestand durch diese nicht gefährdet, sondern vielmehr bekräftigt wird. Denn der Zweck der Kontroverse über den Konsens ist die demokratische Selbstbewährung seines Inhalts im Diskurs. Anders muss dies hingegen bei einer grundlegenden und pauschalen Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung etwa durch die offene Befürwortung einer Gewalt- und Willkürherrschaft gesehen werden. Insoweit befähigt die Wertbindung des Staates diesen dazu, die einzelne Meinungsäußerung auf ihren Wert für den demokratischen Diskurs zu beurteilen. Zwar darf der Staat angesichts des umfassenden Grundrechtsschutzes grundsätzlich Meinungen nicht allein wegen ihres Inhalts diskriminieren. Allerdings kann er eine Bewertung von bestimmten Meinungsäußerungen bei der Einbürgerung in bestimmten Grenzen vornehmen. Denn die Einbürgerung von offenen Verfassungsfeinden, die die Freiheitlichkeit grundlegend ablehnen und auch verbal und offensiv für ihre Abschaffung eintreten, ist für den Bestand der Freiheitsordnung sehr wohl von einigem Gewicht. Dies gilt zumindest dann, wenn die Meinungsäußerung eindeutig und grundlegend gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet ist und nicht nur gegen einzelne Elemente. Eine kritische Auseinandersetzung muss auch dem Bewerber möglich sein. Auch wenn nach der Einbürgerung eine grundlegende Ablehnung der Grundordnung prinzipiell erlaubt ist, unterliegen sämtliche Verhaltensweisen stets der Beurteilung danach, ob sie geeignet sind, die freiheitliche Ordnung konkret zu gefährden oder zu beseitigen. Die Beseitigung der Ordnung ist nämlich auch dem Staatsbürger nicht erlaubt, auch wenn er diese befürworten und auch kommunikativ dafür eintreten darf. Insoweit ist aus freiheitlicher Perspektive grade in diesem Grenzbereich eine unterschiedliche Behandlung von Einbürgerungsbewerbern und Staatsbürgern gerechtfertigt. Hier kann es dem freiheitlichen Verfassungsstaat nicht verwehrt sein, das Einbürgerungsrecht als zusätzliches Mittel zum Freiheitsschutz heranzuziehen, indem er den Staatsbürgerstatus denjenigen verwehrt, die für den Bestand der Freiheitsordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine – potenzielle – Bedrohung darstellen. Denn durch die Kundgabe hat das verfassungsfeindliche Gedankengut die innere 252 Helmut Steinberger, Konzeptionen und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 204 [„eng mit der Gedankenfreiheit verknüpft“].
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Sphäre verlassen und ist damit in die zugängliche Außenwelt eingetreten. Sie ist Handlung und nicht mehr reine Gesinnung. Sie hat daher das Potenzial einer Gefährdung auch schon durch ihre geistige Wirkung, die eine Verbreitung sowie Handlungsmotivation herbeizuführen geeignet ist. Bei hinreichend eindeutiger und grundlegender Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung muss ein solches Gefährdungspotenzial angesichts seines Gewichts nicht hingenommen werden. bb) Verfassungsfeindliche Betätigung durch aktives Tun Eine erhebliche Gefahr stellen vor allem diejenigen Verfassungsfeinde dar, die nach der Einbürgerung im Bewusstsein ihres privilegierten Status die Freiheitsordnung aktiv zu unterwandern suchen. Ein starkes Indiz für eine solche Neigung stellen konkrete äußere Bestrebungen und Aktivitäten mit dem Ziel der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dar. Die Ablehnung der Einbürgerung von solchen aktiven Verfassungsfeinden ist daher auch unter Freiheitsschutzgesichtspunkten legitim. Denn äußeres Verhalten ist zum einen im Gegensatz zu einer Gesinnung regulierbar und zum anderen durch ein Verlassen der kommunikativen Sphäre nicht mehr allein Teil des schützenswerten demokratischen Diskurses. Ferner ist die aktive Beseitigung der freiheitlichen Ordnung auch dem Staatsbürger selbst nicht erlaubt. Soweit diese Verhaltensweisen nämlich für diesen grundrechtlich geschützt sind, reicht der Schutz stets nur so weit, wie eine reale Gefährdung der Grundordnung nicht zu besorgen ist. Aktive Beseitigungshandlungen sind ohnehin nicht privilegiert, sondern allenfalls im Sinne der individuellen Freiheit geduldet. Daher kann der Staat dem Erfolg solcher Bestrebungen auch dadurch Einhalt gebieten, dass er Personen mit dieser Neigung nicht in den Staatsverband aufnimmt. Denn mit der Verleihung des privilegierten Status der Staatsbürgerschaft steigt das Risiko der Unterwanderung der Freiheitsordnung. Allerdings kann dies nur dann gelten, wenn die Unterstützungshandlung auch von einer verfassungsfeindlichen Zielsetzung getragen war. Wer eine verfassungsfeindliche Organisation objektiv unterstützt, ohne dass sich seine Unterstützungsabsicht auf die verfassungsfeindliche Zielsetzung bezog, stellt allein deshalb auch nach der Einbürgerung noch keine Gefahr für die Freiheitsordnung dar. Denn ohne Unterstützungsabsicht ist eine weitere verfassungsfeindliche Betätigung – im Zweifel – nicht zu erwarten. Bei einer Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation erfordert der Freiheitsschutz zudem nur dann einen Einbürgerungsausschluss, wenn damit eine grundlegende Beseitigungshandlung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verbunden ist. Allein die Mitgliedschaft in einer – nicht verbotenen – Partei kann dafür nicht ausreichen. Es müssen vielmehr anderweitige Verhaltensweisen hinzutreten, die für sich genommen eine erhebliche Freiheitsgefährdung darstellen.
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Die Anforderungen an die negative Treue restriktiver zu gestalten, ist aus freiheitlicher Sicht also nicht nur legitim, sondern sogar geboten. Es ist dem Staat nämlich nicht zumutbar, aktive Verfassungsfeinde einzubürgern, auch wenn deren Verhalten einem Staatsbürger grundsätzlich ohne rechtliche Folgen erlaubt wäre. Die Versagung der Einbürgerung stellt vielmehr ein zusätzliches Instrument des Freiheitsschutzes dar. 3. Freiheitsschonende Ausgestaltung der Verfassungstreue im Einbürgerungsrecht Die rechtspolitischen Entscheidungen des Gesetzgebers sind in den Grenzen der verfassungsrechtlichen Zumutbarkeit zu akzeptieren. Dahingehend wurden die erhöhten Anforderungen an die positive Verfassungstreue durch das Bekenntnis auch insoweit noch für verfassungsrechtlich zulässig erachtet, als dadurch eine tatsächliche Identifikation mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verlangt wird. Allein die Praxis der Feststellung des Gesinnungsinhalts muss bestimmte verfassungsrechtliche Grenzen beachten. So kann nicht jede freiheitsfeindliche Meinungskundgabe bereits als Verfassungsfeindlichkeit ausgelegt werden. Sie muss hinreichend eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in ihrem grundlegenden Bestand gerichtet sein. Vor allem aber darf der Staat die Zugehörigkeit eines Einbürgerungsbewerbers zu einem bestimmten Glauben nicht als Indiz für eine verfassungsfeindliche Haltung heranziehen, wenn er dazu den Glaubensinhalt einer Verfassungstreueprüfung unterziehen muss. Insoweit ist der Staat auf eine glaubensneutrale Überprüfung der Gesinnung durch die Interpretation von öffentlichen Meinungsäußerungen des Bewerbers oder Aussagen im Verlaufe des Einbürgerungsgesprächs beschränkt. Die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation darf dabei für einen Einbürgerungsausschluss herangezogen werden, wenn dadurch die verfassungsfeindliche Haltung des Bewerbers eindeutig zum Ausdruck kommt. Eine gezielte Gesinnungsprüfung, durch die gezielte Werthaltungen zu bestimmten Einzelfragen abgefragt werden, ist allerdings verfassungsrechtlich problematisch. Aus freiheitlicher Perspektive kann man folgende Ausgestaltung empfehlen: Positive Treue kann nicht gefordert werden. Eine „Treueerklärung“ ist allenfalls möglich, soweit darin bekräftigt wird, dass die Geltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geduldet wird. Sie ist damit nur Ausdruck einer ohnehin bestehenden Konfrontationszumutung. Darüber hinaus ist auch eine Konfrontation mit dem Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durchaus legitim. Das kann für den Ausländer etwa bedeutet, dass ihm die Vorteile der Grundordnung im Einbürgerungsgespräch, auf einem Informationsblatt oder auch in einem Einbürgerungskurs dargelegt werden. Denn dadurch wird in freiheitschonender Weise die Chance zu einer Identifikation erhöht. Insoweit muss sich der Einbürgerungsbewerber – ebenso wie der Staatsbürger ganz allgemein – mit dem Inhalt und der Geltung der Wertordnung konfrontieren lassen.
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Jede Adressierung der Gesinnung durch die Forderung innerer Treue ist dagegen abzulehnen. Soweit der Gesetzgeber innere Anforderungen stellen möchte, sollte er sich auf eine reine Wissensprüfung beschränken, durch die nicht die innere Wertüberzeugung abgefragt wird.253 Im Übrigen muss er sich auf die Implementierung negativer Treue durch die Normierung äußerer Verhaltensweisen beschränken. Dabei können auch Meinungsäußerungen zu einer Versagung der Einbürgerung führen, wenn diese eine offene und grundlegende Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die öffentliche und eindeutige Befürwortung einer Gewalt- und Willkürherrschaft enthalten. Aktive Betätigungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung können erst recht die Einbürgerung ausschließen. Der Gesetzgeber sollte zu einer freiheitsschonenden Ausgestaltung auch in der Gesetzesformulierung allein das äußere Verhalten adressieren. So kann er etwa anordnen, dass die Einbürgerung ausgeschlossen ist, wenn der Ausländer öffentlich zur Errichtung einer Gewalt- und Willkürherrschaft aufruft. Verfassungsfeindliche Meinungsäußerungen müssen nicht über den „Umweg“ der Überprüfung des Wahrheitsgehalts eines Bekenntnisses zu einem Einbürgerungsausschluss führen, sondern können direkt zu einem negativen Tatbestandsmerkmal der Einbürgerung erklärt werden. Das steigert zusätzlich die Rechtssicherheit. Aktive Betätigungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sollten für einen Einbürgerungsausschluss unmittelbar von dem Ausländer ausgehen und von einer ihm zurechenbaren verfassungsfeindlichen Zielsetzung getragen sein. Eine Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation reicht allein noch nicht aus, sondern muss mit grundlegenden Beseitigungshandlungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verbunden sein. Ein Vergleich der verfassungsrechtlichen und freiheitlichen Perspektive zeigt eine gewisse Annäherung beider Anforderungskonzepte. Insbesondere die Praxis der Gesinnungsüberprüfung erfordert die Beachtung grundlegender Freiheitsschutzgesichtspunkte. Das ist die Folge der Inkorporation der Freiheitlichkeit in die Verfassungsordnung des Grundgesetzes. Vor allem im Verfahren der Rechtsanwendung muss eine grundlegende Bindung an die Grundrechte zu einer freiheitsgerechten Ausgestaltung führen. Der Gesetzgeber kann im Rahmen seines Gestaltungsspielraums weitaus strengere Anforderungen stellen. Vor allem könnte er bestimmte kulturelle Integrationserfordernisse formulieren, die weit über eine Anerkennung der freiheitlichen Ordnung hinausgehen. Will der Gesetzgeber, dass bestimmte Verhaltensweisen zu einem Einbürgerungsausschluss führen, muss er diese selbst gesetzlich normieren. Der Umweg über die Gesinnung bringt stets die grundrechtlichen „Probleme“ der Feststellungspraxis mit sich. Daher un253 Vgl. Felix Hanschmann, Die Einbürgerungstestverordnung – Ende einer Debatte?, ZAR 2008, 388 (390); Felix Ekardt/Monique Radtke, Einbürgerungstests in der rechtspolitischen Debatte, ZRP 2007, 28 (28 ff.).
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terscheiden sich die Anforderungen aus verfassungsrechtlicher und freiheitlicher Perspektive im Wesentlichen in der grundsätzlichen Adressierung der Gesinnung. Sie ist als rechtspolitische Entscheidung angesichts des erheblichen Interesses des Staates an verfassungstreuen Staatsbürgern zu akzeptieren. Daher ist das Treuebekenntnis vorbehaltlich der verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Anwendbarkeit zulässig. Die zentrale Erkenntnis der Bewertung der einbürgerungsrechtlichen Treuekonzeption kann also darin gesehen werden, dass von einem Treuebekenntnis trotz verfassungsrechtlicher Zulässigkeit aus Gründen der Freiheitlichkeit Abstand genommen werden sollte.
IV. Integration im Einbürgerungsrecht – rechtspolitische Bemerkungen Integration und Verfassungsschutz gehen im Hinblick auf die einbürgerungsrechtliche Treuekonzeption Hand in Hand. Sie stehen in einem untrennbaren Interdependenzverhältnis. Einbürgerung erfolgt immer unter dem Vorbehalt des Verfassungsschutzes. Um den Schutz der Verfassung möglichst effektiv zu gestalten, hat der Gesetzgeber Integration bereits vor der Einbürgerung zu einer Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit erhoben. Die mit einem materiell wahren Bekenntnis einhergehende Integration des Ausländers in die freiheitliche Verfassungsordnung kann als funktional für den Verfassungsschutz angesehen werden. Integration ist in diesem Zusammenhang ein Mittel zur Verteidigung der Verfassungswerte. Integration in eine freiheitliche Gesellschaft sollte jedoch vornehmlich durch Akte der Selbstverpflichtung stattfinden und weniger durch rechtlichen Zwang. Sie kann nämlich im Grunde gar nicht einseitig hoheitlich erzwungen werden, sondern ist vielmehr ein Prozess gegenseitigen Gebens und Nehmens zwischen Aufnahmegesellschaft und Aufgenommenen. Diese Charakterisierung von Integration korreliert mit der Erkenntnis, dass der entscheidende Schritt dieses Prozesses im subjektiven Moment des Integrationswillens – beider Parteien – liegt, der weder verbindlich reguliert noch hoheitlich kontrolliert werden kann. Ein Treuebekenntnis als elementare Integrationsleistung für die Aufnahme in den deutschen Staatsverband verbindlich einzufordern, stellt daher trotz der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Voraussetzung ein Wagnis dar. Migrationspolitisch scheiden sich gerade bei der Bewertung der Rolle und des Ausmaßes von Integration die Geister. Im Einbürgerungsrecht kulminiert dieser Streit in der Frage danach, ob Integration im Wesentlichen verbindliche Bedingung der Einbürgerung254 oder vielmehr erwartetes Ziel der mit der Einbürge254 BT-Drs. 16/5107, S. 1 [„Einbürgerung [. . .] Schlussstein einer gelungenen Integration“], vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.10.1095, InfAuslR 1996, 54 (54 f.).
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rung erworbenen Teilhabemöglichkeit ist.255 Hinsichtlich der Identifikation mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist sie de lege lata wohl Bedingung der Einbürgerung.256 Ein Gegenkonzept würde auf der Hoffnung aufbauen, dass der Neubürger durch seine neu erworbenen Teilhaberechte den Wert von Demokratie und Freiheit kennen und schätzen lernt. Diese Hoffnung ist aber – und so kann man die Verfechter des Treuebekenntnisses gut verstehen – nur begründet bei einer grundsätzlichen Bereitschaft, von diesen Teilhaberechten auch Gebrauch zu machen. Für diese Bereitschaft ist aber eine Anerkennung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht denknotwendig. Vielmehr kann von den Teilhaberechten auch in freiheitsfeindlicher Weise Gebrauch gemacht werden – ein Recht, das jedem Bürger kraft seiner umfassenden Freiheit zusteht. Der Einwand, dass ein Interesse an einer solchen Betätigung keinen Schutz verdient, ist seinerseits freiheitsfeindlich. Er stellt die selbstbestimmten Entscheidungen von Individuen infrage und wertet ihre Werthaltungen durch einen Absolutheitsanspruch der Freiheit ab. Verfassungsfeinden wird damit von vornherein jegliche Berechtigung zur Teilhabe abgesprochen. Die Wertordnung des Staates ist jedoch trotz aller identitätsprägenden Funktion nicht sein einziges Charakteristikum. Das Interesse an Partizipation oder an einem sicheren Aufenthaltsstatus innerhalb eines Staates kann daher nicht allein durch die Identifikation mit der Wertordnung des Grundgesetzes bedingt sein. Die Bindung von Ausländern an den Staat kann nämlich auch auf der persönlichen Beziehung zu hier lebenden Menschen und dem generellen Lebensumfeld („Land und Leute“) basieren. Die fehlende Bereitschaft, sich mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu identifizieren, ist zudem auch kein Garant für ihre Gefährdung. Ihre Geltung kann schließlich auch ohne Bekenntnis durch eine Betätigung nach ihren Spielregeln schlichtweg hingenommen werden. Mit dieser Duldung wird der Neubürger den Anforderungen an die staatsbürgerliche Verfassungstreue hinreichend gerecht. Eines Bekenntnisses bedarf es dafür nicht. Die Normierung eines Mindestmaßes an Integration in die freiheitliche Ordnung ist zwar Ausdruck der souveränen Freiheit zur Festlegung von Kriterien zur Aufnahme in den Staatsverband. Sie muss aber stets von dem Bewusstsein getragen sein, dass mit solchen materiellen Anforderungen die eigentliche Intention zur Förderung der Freiheit in ihr Gegenteil verkehrt wird. Integration in die freiheitliche Gesellschaft sollte daher nur so weit gehen, wie es die durch sie ver255 Vgl. Tine Stein, Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus?, in: Leviathan 36, S. 33 (52), wonach mit dem Rechtsanspruch auf Einbürgerung zugleich ein „Angebot der politischen Integration seitens der aufnehmenden Gesellschaft“ verbunden ist; vermittelnd Uwe Berlit, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 10 Rn. 33 [„Abschluss eines hinreichenden Integrationsprozesses und Grundlage weiterer Integration“ – Hervorhebung durch den Verfasser]. 256 Vgl. Rolf Grawert, „Volksbildung“. Zum Konzept einer nationalökonomischen Einwanderungspolitik, Der Staat 41, 163 (173) [„Integration nicht länger dem Einzelnen überlassen, sondern [. . .] Staatsaufgabe“].
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bürgte Freiheit fordert. In der freiheitlichen Gesellschaft wird aber von ihren Mitgliedern eine positive Treue gar nicht verlangt. Integrationsleistungen von Neumitgliedern zu verlangen, die gar nicht zum geforderten Verhalten der Mitglieder dieser Gesellschaft gehören, erscheint aus dieser Perspektive inkonsequent. Durch die Versagung der Einbürgerung bedient er sich eines de-facto-Zwangsmittels zur Schaffung der Bedingungen der Freiheitsordnung.257 Diese kann aber nur durch ein Mindestmaß an Vertrauen in den Einsatz der Bürger für die Freiheit Bestand haben. Der freiheitliche Verfassungsstaat macht den Bürgerstatus gerade nicht von einem „Wertordnungsbekenntnis“ abhängig.258 Dieses Prinzip muss auch im Einbürgerungsrecht fortwirken. Integration sollte daher nicht verordnet werden. Die freiheitliche Ordnung durch einen Zugriff auf den grundlegend unzugänglichen Bereich der inneren Gesinnung von Menschen zu schützen, ist nur deshalb zulässig, weil auf die Aufnahme in eine bestimmte Gemeinschaft kein Anspruch besteht. Allerdings offenbart sich gerade dort, wo keine umfassende Verpflichtung auf die Freiheit besteht, die wahre Bereitschaft der Gesellschaft, durch ihr Festhalten an ihren Werten auf ihre Selbstbewährung zu vertrauen. Insbesondere durch die Einbürgerungspolitik drückt sich nämlich der gesellschaftliche Umgang mit kultureller Vielfalt aus.259 Dem Selbstverständnis eines freiheitlichen Verfassungsstaates wird es demnach nicht gerecht, die Gesinnung von Einbürgerungsbewerbern zu adressieren. Die Zumutungen der freiheitlichen Wertordnung sind im Wesentlichen durch Konfrontation gekennzeichnet. Das sollte auch im Einbürgerungsrecht den zentralen Leitgedanken darstellen. Wissensvermittlung im Einbürgerungsverfahren durch bestimmte – auch vorgeschriebene – Kurse kann als Ausdruck einer solchen Konfrontation eine bejahende Haltung zur freiheitlichen Wertordnung im Sinne dieses Leitgedankens begünstigen.260 Integration bleibt damit eine Erwartung, die aber in selbstbestimmter Entscheidung ihres Adressaten enttäuscht werden kann. Das für die freiheitliche Ordnung wesentliche Ablehnungsrecht kann 257 Vgl. Reinhard Marx, in: Fritz/Vormeier (Hrsg.), GK-StAR, StAG-Kommentar, § 8 Rn. 334. 258 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, S. 38. 259 Olga R. Gulina, Rechtspolitische und rechtliche Probleme der Zuwanderung – dargestellt anhand der Zuwanderer aus den GUS-Staaten, S. 178; vgl. auch Heiner Bielefeldt, Einbürgerungspolitik in Deutschland. Zur Diskussion über Leitkultur und Staatsbürgerschaftstest, S. 4. 260 Tine Stein, Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus?, in: Leviathan 36, S. 33 (48); vgl. Friedrich Heckmann, Zur Gestaltung eines neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Vorschlag des efms zur Einrichtung von Einbürgerungskursen, in: Deutscher Bundestag, Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – Die parlamentarische Beratung –, S. 137 (137), der solche Kurse als ein „Integrations- und Identifikationsangebot“ durch die „Vermittlung von Gefühlen der Zugehörigkeit und Loyalität“ bezeichnet.
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auch im Migrationsrecht nicht ausgeklammert werden. Es gilt für jeden Menschen aus der Überzeugung, dass die Gesinnung zu einem unantastbaren Kernbereich der persönlichen Freiheitssphäre gehört, der nicht zwangsweise reguliert werden darf. Zugleich drückt sich damit die Überzeugung aus, dass Freiheit sich in einem Prozess der Selbstbewährung durchzusetzen imstande ist. Daher sollten auch die Konzepte von Integration mehr auf die Selbstbewährung von Freiheit vertrauen als sie fortwährend zu verordnen. Damit wird aber zugleich die sozialethische Verantwortung der Aufnahmegesellschaft aktualisiert. Sozialer Zusammenhalt oder ein gewisses „Wir-Bewusstsein“ fallen in die Zuständigkeit der Gesellschaft261 als Sphäre der freiheitlichen Selbstregulierung. Der Staat kann hier nur die äußeren Rahmenbedingungen sichern. Die Versagung der Einbürgerung an tätliche Verfassungsfeinde reicht aus, um den Bestand der freiheitlichen Ordnung zu bewahren. Die Zuständigkeit des Staates sollte sich daher auch im Einbürgerungsrecht auf die Adressierung und Regulierung des äußeren Verhaltens fokussieren.262 Die Bewahrung dessen, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, kann nämlich mit freiheitlichem Anspruch nur durch diese selbst erfolgen.
261 Vgl. Dieter Blumenwitz, Territorialitätsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, 151 (152) [„Verbindung einer Vielheit einzelner Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen Einheit“]. 262 Vgl. zur Beschränkung der Loyalität auf konkrete äußere Verhaltensweisen Heiner Bielefeldt, Einbürgerungspolitik in Deutschland. Zur Diskussion über Leitkultur und Staatsbürgerschaftstest, S. 13 ff.
H. Resümee Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt von der Treue seiner Bürger. Diese Eingangserkenntnis wurde durch die Überlegungen zur staatsbürgerlichen Verfassungstreue bestätigt. So eindeutig wie dieser Befund ist aber auch das Bewusstsein, dass diese Lebensbedingung nur sehr begrenzt mit den Mitteln des Rechtszwangs gesichert werden kann. Umso mehr gewinnt Treue als staatsethische Kategorie außerhalb des Rechts an Bedeutung. Die Grenzen ihrer Durchsetzbarkeit sind Kennzeichen der Freiheitlichkeit, das grundlegende Vertrauen in eine ständige Reproduktion des freiheitlichen Wertbestands ihr wesentlicher Garant. Ernüchterung ist aber nicht angezeigt; allenfalls eine Bereitschaft, diese Herausforderungen des freiheitlichen Verfassungsstaates zu meistern. Die Bewältigung des Paradoxons der Freiheit ist die Hauptaufgabe ihrer Verteidigung durch den Staat. Freiheit zwangsweise zu verordnen, bedeutet, sie zu verraten und damit als höchstes Leitprinzip staatlichen Handelns aufzugeben. Sie ist ein sich selbst limitierendes Prinzip. Für die Mitglieder der Gesellschaft ist sie dabei mit der Erwartung verbunden, dass sie durch freiwilliges Engagement gestützt und gelebt wird. Zugleich bringt sie für den einzelnen Träger der Freiheit aber auch die Zumutungen mit sich, die aus der Freiheit der anderen Menschen hervorgehen. Die Freiheit findet ihre Grenzen in der Freiheit der anderen. Keine neue Erkenntnis, aber so elementar, dass sie bei einem streng individualistischen Staatsverständnis gerne in Vergessenheit gerät. Auch die Idee der Legitimation staatlichen Handelns durch das Individuum als Inhaber prinzipiell unbegrenzter Freiheit kann diese Begrenztheit nicht außer Acht lassen: Individuen sind nicht allein und Freiheiten mehrerer können kollidieren. Der Staat hat gerade in dieser Bedrohung der individuellen Freiheit seinen eigentlichen Existenzzweck. Die Annahme negativer Treue in Gestalt einer Duldung der Freiheitsausübung anderer ist daher problemlos nicht nur mit einem individualistischen Staatsverständnis vereinbar, sondern zwingend durch dieses intendiert. Gerade in Zeiten, in denen unsere freiheitlichen Werte durch die Bedrohungen des islamistischen Terrorismus oder auch durch extremistische Bestrebungen realen Gefährdungen ausgesetzt sind, ist die Versuchung groß, zwecks Verteidigung dieser Werte besonders strenge Gesetze zu erlassen. Oft werden die Bürger sogar gerne bereit sein, zum Zweck des übergeordneten Schutzes unseres Wertefundaments und damit ihrer freiheitlichen Lebensgrundlagen diverse Einschränkungen hinzunehmen. Trotzdem darf die Verteidigung der Freiheit nicht mit dem Preis der Unfreiheit bezahlt werden. Die Freiheit vorne zu verteidigen, um sie hinten herum aufzugeben, ist in der Bilanz kein Gewinn für die Freiheit. Die
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Freiheitsordnung würde durch Verletzung ihrer eigenen Prinzipien geschützt, Freiheit durch Unfreiheit gesichert. Stattdessen muss das Prinzip der Freiheit zur optimalen Wirksamkeit gelangen. Das ist nur möglich durch die Anerkennung des Rechts eines jeden Individuums, die Freiheit als Wert auch abzulehnen. Natürlich ist es bequemer, ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abzuschießen, bevor es durch einen Absturz eine Vielzahl an Menschenleben auslöscht. Natürlich ist es erfolgsversprechend, einen Terroristen möglichst schnell einzusperren oder notfalls auch zu töten. Und aus gutem Grund ist es für die meisten Menschen in unserem Staat unerträglich, rassistischen und menschenverachtenden Nazi-Parolen auf den Straßen Raum zu geben. Das Problem des bequemen Weges ist aber, dass er nicht immer die Freiheit schützt. Freiheit ist nicht bequem. Außerdem müsste die Entscheidung über das Ausmaß des „noch Erträglichen“ hoheitlich getroffen werden. Der Gebrauch der Freiheit wäre damit prinzipiell schon seinem Inhalt nach vorgegeben, er wäre seiner Natur nach schon deshalb nicht mehr frei. Deshalb ist eine prinzipiell unbegrenzte Freiheit, die allen Individuen nur kraft ihres Menschseins zusteht, eine wesentliche Voraussetzung für eine freiheitskonforme Verteidigung der Lebensbedingungen des Staates. Menschenwürde steht eben auch dem Terroristen zu. Meinungsfreiheit hat auch der Rassist. Genau diese Begrenztheit der Verteidigung der Freiheit durch das Prinzip der Freiheit macht die elementare Grundlage des liberalen Staatsdenkens aus. Wurde dem Staat erst einmal – etwa auch vertragstheoretisch begründet – Herrschaftsgewalt übertragen, ist nämlich die Verlockung groß, die Bürger für den Freiheitsschutzzweck umfassend hoheitlich in Anspruch zu nehmen. Lebt der freiheitliche Verfassungsstaat von der Treue seiner Bürger, liegt es nahe, Treue auch positiv zu fordern. Denn der Staat ist auf die Sicherung seiner Lebensbedingungen angewiesen. Sie dient damit auf den ersten Blick grade der Freiheit der Individuen durch die Existenzsicherung ihres institutionellen Garanten. Hier entsteht das eigentliche Dilemma der Freiheitlichkeit. Positive Treue als echte Förderpflicht des Bürgers nimmt den Einzelnen für die Gemeinschaft in Anspruch und beschränkt damit zugleich seine Individualfreiheit. Die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ist für diese Einsicht von besonderer Bedeutung. Denn dadurch können die Sphäre der Freiheitsberechtigung und der Freiheitsverpflichtung klar abgegrenzt werden. Die Existenz des Staates zur Sicherung der Freiheit führt zu einer wichtigen Verantwortungsaufteilung: Der Staat ist zu freiheitsschonendem Gebrauch seiner Hoheitsgewalt zum Schutze der Freiheit und der Bürger nur in den Grenzen verhältnismäßiger Inanspruchnahme zum Rechtsgehorsam verpflichtet. Freiheitsschutz fällt also – originär und ganz prinzipiell – in die Zuständigkeit des Staates. Der Bürger ist zuvörderst aus der Freiheit berechtigt und nicht auf diese verpflichtet. Positive Treue ist also aus diesem Gedanken heraus dem Bürger grundsätzlich nicht verbindlich aufgegeben.
H. Resümee
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Das Grundgesetz trägt diesem Gedanken Rechnung, indem es die Grundrechte gerade nicht unter einen Verfassungstreuevorbehalt stellt. Auch das Recht zur Äußerung einer verfassungsfeindlichen Meinung ist daher geschützt. Die Grenze des Rechts zur Verfassungsfeindlichkeit besteht erst in der Freiheit der anderen, welche durch den Staat in Gestalt verhältnismäßiger Freiheitseinschränkungen konkretisiert werden darf. Die grundrechtliche Schrankendogmatik hat dies mit grundsätzlich weiten Schutzbereichen und der Anerkennung des Selbstverständnisses der Grundrechtsträger berücksichtigt. Die Mechanismen wehrhafter Demokratie dienen dem Schutz der Freiheit, weil sie den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sicherstellen, welcher Garant für einen gleichen Schutz der Individualfreiheit aller ist. Sie greifen aber nur als ultima ratio ein und schweben nicht gleichsam wie ein Damoklesschwert über jeder Freiheitsbetätigung des Bürgers. Im Staatsangehörigkeitsrecht hat der deutsche Gesetzgeber entgegen dem freiheitlichen Anspruch eine Anforderung positiver Treue an den Einbürgerungsbewerber implementiert. Angesichts des souveränen Rechts zur Bestimmung über die Kriterien zur Aufnahme in den deutschen Staatsverband besteht zwar keine umfassende Bindung an eine freiheitsschonende Ausgestaltung. Der Staat darf für die Einbürgerung also erhöhte Treueanforderungen formulieren. Allerdings wäre es ein Ausdruck der Bekräftigung seines freiheitlichen Selbstverständnisses, wenn er auch bei der Bestimmung der Aufnahmekriterien bestimmte elementare Freiheiten achtet. Dazu gehört das Recht des Individuums zur inneren Ablehnung der Freiheit in einem Prozess freier Wertbildung. Sofern durch die Aufnahme die Freiheitsordnung in ihrem Bestand nicht grundlegend gefährdet wird, schadet auch eine Aufnahme von jenen Menschen nicht, die die freiheitlichen Wertvorstellungen nicht innerlich teilen. Der Staat hat durch die Zulassung zum Staatsgebiet schließlich eine Beziehung zum Ausländer geschaffen, die mit zunehmender Aufenthaltsdauer eine zunehmende Schutzwürdigkeit seiner Interessen begründet. Daran ändert auch seine innere Haltung zur Freiheit nichts. Will der Staat solche Prozesse von vornherein vermeiden, muss er schon bei der Gebietszulassung Schutzmechanismen implementieren. Treue zur freiheitlichen Ordnung kann also nicht hoheitlich erzwungen werden. Sie muss im Wesentlichen aus der Gesellschaft als freiwillige Leistung hervorgehen. Die Bereitschaft dazu wird aus dem Bewusstsein genährt, dass nur die Freiheit den Interessen aller am besten gerecht wird. Dieses Bewusstsein zu schaffen und zu stärken, ist Aufgabe des Staates. Das Bewusstsein zu bilden und die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen, fällt dagegen in die Zuständigkeit der Gesellschaft. Damit bleibt Treue in ihrer positiven Ausprägung stets durch das Vertrauen auf die mehrheitliche Überzeugung darauf bedingt, dass die Freiheit ein schützenswertes Gut ist. So basiert die Existenz des freiheitlichen Verfassungsstaates, der von der Treue seiner Bürger lebt, zu einem wesentlichen Anteil auf dem Vertrauen in diese Einsicht.
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H. Resümee
Jeder Bürger ist also aufgerufen, die Freiheit als Wert in jeder Lebenssituation hochzuhalten. Sie zu verteidigen ist die größte Verantwortung eines jeden Einzelnen, der sich kraft seines Gewissens dazu berufen fühlt. So bleibt die Hoffnung für alle freien Bürger, dass diese Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit alle Zeit bestehen bleibt. Damit der freiheitliche Verfassungsstaat – von der Treue seiner Bürger genährt – am Leben bleibt.
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Sachwortverzeichnis Ablehnungsrecht 111 ff. Antiterrordateigesetz 198 Bekenntnis – Begriff 28 ff. Beutelsbacher Konsens 127 ff., 141, 148, 149, 186, 253, 286 Beweislast 222, 227, 244 ff. Böckenförde-Diktum 1, 131 ff. Burka 68, 156, 270 Deliberative Demokratie 77 Doppelehe 226 Einbürgerungstest 223, 224, 235 Einehe 226, 232 Erziehung 66 ff., 69, 121 ff., 124 ff., 128 ff., 183 ff. Europäische Menschenrechtskonvention 155 Ewigkeitsklausel 107 Faktum des Pluralismus 71 ff. Freiheitliche demokratische Grundordnung 118, 147 ff., 217, 225 Gegenentwurf 170 f. Genuine connection 40 Gesinnungsprüfung 213, 265, 266, 279 Glaubensfreiheit 180 ff. Gleichheit 80 ff., 148, 258 Grundpflichten 164 ff. Grundrechtsverwirkung 156, 160 ff., 196, 203 Hate speech 172 ff., 196 Homogenität 54, 58, 83 ff., 103 ff., 132, 140, 144 ff., 242, 262
Identifikation – Begriff 28 ff. Identifikationszumutung 90, 114, 125, 208, 213, 255, 259, 261, 264 Indifferenz 27, 62, 98, 155, 164, 195, 199, 219, 247, 275 Individualismus 58, 113, 134 Individualprivileg 162 Indoktrination 125 ff. Integration 52 ff., 110, 236, 242 ff., 281 ff. Kampfrede 172 ff., 196 Kollektivismus 58 Konfrontationszumutung 46, 89 ff., 116, 194, 208, 211, 213, 255, 275, 279 Kontroversitätsgebot 127 Kultur der Freiheit 95 Kulturnation 47 ff. Lebenstotalität 102 Leitkultur 95 Liberalismus 67, 71 Lippenbekenntnis 30, 219, 224, 247, 264, 275 Loyalitätserklärung 216 ff. Materiale Wertethik 74 Mehrheitsprinzip 78 Meinungsfreiheit 154, 167 ff., 172, 175, 176, 178, 179, 182, 198, 259, 260, 265, 267, 268, 286 Menschenwürde 58, 82, 85, 86, 106, 109, 111, 124, 127 Minimalismus 110 Nationalstaatsprinzip 49, 54 ff. Neminem laedere 89
Sachwortverzeichnis
313
Neutralität 82, 92, 97 ff., 104 ff., 108 ff., 117, 133, 137, 169, 182, 194, 201, 204, 268, 272 – ethische 98, 104, 111, 133, 176, 184 – Meinungs- 170, 171, 183 – Paradoxon der 98 ff.
Terrorismus 16, 227, 232, 240, 285 Toleranz 79, 83, 125, 128, 185, 196, 210 – Paradoxon der 116 Totalitarismus 92, 103, 170 Tugendmoral 130 Tyrannei der Werte 86 ff., 127
Paradox der Sozialisation 69 Parteiverbot 148, 149 ff., 196, 199, 213 Pflichtenmoral 130 Pluralismus 58, 71 ff., 83, 85, 90, 92, 96, 145 Prä-Prävention 121 ff., 124 ff.
Verfassungserwartung 203 ff., 214 – Begriff 206 Verfassungsfeindlichkeit 28, 131, 149 ff., 160 ff., 194, 196, 227 ff. – Recht zur 154 ff., 168 ff., 194, 208 ff. Verfassungspatriotismus 53, 58, 108, 118 ff., 124 Verfassungstreue – Begriff 23 ff. Versammlungsfreiheit 167, 177 Völkerrecht 40 ff., 176 ff. Volkssouveränität 140, 149, 177, 272 Volksverhetzung 167 ff., 170 Volkswillensbildung 139, 145
Rechtsgehorsam 90, 152, 165, 166, 181, 201, 273, 286 Regelanfrage 239 Rücknahme der Einbürgerung 234, 245, 246 Salafismus 272 Scharia 270, 271, 272 Schulpflicht 166, 167, 183 Schutzpflichten 94, 158 Schweigespirale 70 Selbstzwecklichkeitsformel 101 Souveränität 60, 105, 139, 141, 144, 189 Sozialisation 68, 70 ff. Staatsangehörigkeit – Begriff 33 f. – Funktion 34 ff. – Rechtsnatur 38 f. Staatsbürgerschaft 42 ff. Staatsnation 47 ff. Standpunktdiskriminierung 169 ff., 170, 182
Wahlrecht 44, 45 ff., 140, 263, 274 Wehrhafte Demokratie 145, 146 ff., 150 Weltanschauung 81, 83, 104, 106, 108 ff., 116, 182, 260, 268 Werte – Begriff 61 ff. Wertordnung – Begriff 61 ff. Wesentlichkeitstheorie 140 Widerstandspflicht 152 Wissensprüfung 280 Wunsiedel-Entscheidung 167 ff., 198 Zivilreligion 103, 105, 107