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German Pages 182 [183] Year 2005
ACHIM HACKETHAL
Der Einsatz von Vomitivmitteln zur Beweissicherung im Strafverfahren
Schriften zum Prozessrecht Band 192
Der Einsatz von Vomitivmitteln zur Beweissicherung im Strafverfahren Zur Diskussion um die Zulässigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare"
Von
Achim Hackethal
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 188 Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-11611-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Danksagung Mein besonderer Dank für seine unermüdliche und umfassende Fürsorge und Unterstützung nicht nur bei Erstellung dieser Arbeit, sondern insbesondere auch während meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl, gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Eisenberg. Herrn Richter am Bundesgerichtshof a.D. Prof. Dr. Hartmut Horstkotte bin ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sehr zu Dank verpflichtet. Diese Arbeit widme ich den Menschen, die durch ihre Zeit, Unterstützung, Geduld, Anteilnahme und wertvolle Kritik die Fertigstellung des Manuskripts erst ermöglicht haben, allen voran meinen Eltern, meinen Schwestern, Herrn Alexander Hörder und in besonderer Weise den Personen, die zum Licht meines Lebens geworden sind: Alexandra Hörder und Leonard.
Achim Hackethal
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Kapitel 1 Verfassungsrechtlicher Hintergrund I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld 1. Körperliche Eingriffe als Mittel staatlicher Informationsbeschafüing 2. Körperliche Integrität und „effektive" Strafverfolgung im Lichte der Verfassung a) Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG b) Eingriffszweck „effektive" Strafverfolgung aa) Problemstellung bb) Die gesellschaftliche Bedeutung der Strafrechtspflege ( 1 ) Vom Zweck des Strafens und der Aufgabe des (materiellen) Strafrechts (2) Strafrecht und Rechtsstaatlichkeit (3) Erhaltung von Rechtsfrieden 3. Kriterien der Verhältnismäßigkeitsabwägung 4. Zusammenfassung und Würdigung 5. Kompetenzerweiterungen als Reaktion auf eine gestiegene Gefährdungslage : II. Weitere verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit § 81a StPO 1. Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot? 2. Verstoß gegen die Unschuldsvermutung? III. Zur Entstehungsgeschichte der Norm
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Kapitel 2 Materielle Voraussetzungen I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2 1. Anwendungsbereich von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO
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Inhaltsverzeichnis
a) Der persönliche Anwendungsbereich: Der Begriff des Beschuldigten aa) Die Ambivalenz des Beschuldigtenstatus bb) Beschuldigter und Tatverdacht cc) Kriterien der Verdachtsbegründung (1) Allgemeines (2) Definitionsbemühungen (3) Einflussfaktoren dd) Zusammenfassung b) Definition des körperlichen Eingriffs aa) Begriffskriterien bb) Fazit 2. Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen a) Zuständigkeiten aa) Anordnung ( 1 ) Gesetzlicher Regelfall § 81 a Abs. 2 Hs. 1 StPO (2) Gesetzlicher Ausnahmefall § 81a Abs. 2 Hs. 2 StPO bb) Vollstreckung b) Beschränkung auf verfahrensbedeutsame Tatsachen aa) Durchsuchen nach Fremdkörpern (1 ) Verstoß gegen des Subjektstatus des Beschuldigten? (2) Feststellung contra Sicherstellung? bb) Verfahrenserheblichkeit c) Durchführung und Vollziehung des Eingriffs aa) Arztvorbehalt bb) Ausschluss von Gesundheitsnachteilen cc) Grenzen zwangsweiser Durchsetzung ( 1 ) Methoden unmittelbaren Zwangs (2) Beschränkung der Freiheit i.S.v. Art. 104 Abs. 1 GG? (3) Vorbereitende Unterbringung? 3. (Normbereichsüberschreitende) Einwilligung, Freiwilligkeit und Belehrung II. Rechtsschutz 1. Angriffe im Ermittlungsverfahren a) Richterliche Anordnung b) Nichtrichterliche Anordnung 2. Revision a) Unverwertbarkeit von Ermittlungsergebnissen b) Unverwertbarkeit nach Eingriffen gemäß § 81 a StPO 3. Probleme der Verteidigung
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Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 3 Die Praxis der Brechmittelvergabe
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I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln 1. Sirup Ipecacuanha a) Herkunft und Wirkungsweise b) Anwendung, Nebenwirkungen, Risiken 2. Apomorphin 3. Alternative Methoden zum Nachweis inkorporierter Drogen 4. Ergebnis: Medizinische Rahmenbedingungen II. Die Praxis in den Bundesländern
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1. Hamburg a) Allgemeines b) Konkretisierende Weisungen c) Vergabehäufigkeit und Ablauf 2. Bremen 3. Berlin 4. Andere
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Kapitel 4 Zur Dogmatik der Brechmittelvergabe I. Die Brechmitteleinsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung 1. OLG Frankfurt v. 11.10.1996 - lSs 28/96 2. Die gegenläufigen Entscheidungen des Kammergerichts a) Das Urteil vom 28.3.2000 b) Das Urteil vom 8.5.2001 II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit 1. „Nemo tenetur se ipsum accusare" a) Kerninhalt des Grundsatzes b) Herkunft des Grundsatzes c) Konsequenzen 2. Das Verhältnis von nemo tenetur und Art. 1 GG a) Plausibilität der Schutzbereichsbestimmung von nemo tenetur auf Grundlage der Objektformel b) Ungeeignetheit des „objekttheoretischen" Argumentes fur nemo tentur III. Duldungspflichten des Beschuldigten - Der Meinungsstand zu den Brechmitteleinsätzen in der Literatur
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Inhaltsverzeichnis
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1. Erbrechen als Form der Selbstbelastung a) Äußeres Erscheinungsbild b) Einwände 2. Die (Un-)Willkürlichkeit der Mitwirkung a) These b) Einwände 3. Der Beschuldigte als Wissensträger und die Beschränkung auf vertretbare Handlungen 4. Der Beschuldigte als Gegenstand des objektiven Personalbeweises 5. Forderung nach Unberührtheit der Subjektstellung des Beschuldigten 6. Zusammenfassung IV. Folgerungen 1. Gefahren gewaltsamer Durchsetzung 2. Das Recht des Beschuldigten, sich zu wehren 3. Beschränkung der Duldungspflichten durch die „Gesundheitsklausel" des § 81a StPO a) Verbot der Verpflichtung zur Passivität bei der Brechmittel vergäbe.. b) Verbot der Verwertung verbotswidrig erlangter Drogenpäckchen V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung von nemo tenetur 1. Möglichkeiten der mittelbaren Durchsetzung von Mitwirkungs- bzw. „Stillhaltepflichten" a) Erlass eines Untersuchungshaftbefehls? b) Verwertbarkeit des prozessordnungswidrigen Verhaltens? 2. Ausgewählte Konzepte einer Pflichtenerweiterung a) Der rechtsphilosophische Ansatz (Pawlik, Lesch) b) Schutz des Beschuldigten als Wissensträger in Kombination mit einem beschränkten Methodenverbot (Verrei)
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VI. Ergebnis
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Literaturverzeichnis
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Sachwortverzeichnis
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Einleitung An der Problematik der Brechmitteleinsätze lassen sich die Grundsatzfragen des Strafprozesses - insbesondere des Ermittlungsverfahrens - außerordentlich gut und plastisch darstellen. Das liegt nicht zuletzt an den Assoziationen, die das Wort „Brechmittel" auszulösen vermag. Hiernach verwundert es nicht, dass die Diskussion über eine Vergabe von Vomitiva zu Zwecken der Strafverfolgung häufig eher politische denn fachwissenschaftliche Züge trägt. Anders als etwa bei der Frage des Lauschangriffs oder auch der verdachtsunabhängigen Ermittlungen, wie sie immer mal wieder vorgeschlagen werden, eignen sich Brechmitteleinsätze zur Bekämpfung von Drogenkriminalität in besonderer Weise, grundlegende politische Positionen publikumswirksam darzustellen: Als unerbittlich im Kampf gegen das Verbrechen gilt den einen, wer in positivem Sinne nicht mal davor zurückschreckt, mutmaßliche (oder: in der öffentlichen Meinung bereits verurteilte) Straftäter „kotzen zu lassen", während andere hierin den letzten Beweis fur den „alltäglichen Rassismus" des Rechtsstaates erblicken. Die wissenschaftliche Erörterung des Themas hat sich selbstredend fern von solch polemischen Ausfällen abzuspielen. Der Anspruch, das Thema gänzlich unpolitisch zu behandeln, dürfte allerdings von vorneherein ein nicht zu erreichendes Ideal jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein. Niemand - auch der Verfasser der vorliegenden Arbeit - kann sich vollständig von ihrem oder seinem politischen Vorverständnis lösen. Zudem berührt das in Rede stehende Thema einige grundlegende Fragen des Strafprozesses, die schon ihrer Natur nach politisch sind. Auch das versuchen die folgenden Ausfuhrungen zu zeigen. Bereits der Aufbau der Arbeit, der vom Allgemeinen zum Besonderen geht, folgt dieser These, wenn verfassungsrechtliche Determinanten vorgezogen behandelt (Kapitel 1), sodann die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen körperlicher Eingriffe im Strafverfahren allgemein beleuchtet werden (Kapitel 2), bevor die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Fallgestaltungen durch einen Überblick über die Rechtspraxis eingeleitet wird (Kapitel 3). Den Kern bildet abschließend das 4. Kapitel, in dem auf die wissenschaftliche Diskussion um die Brechmitteleinsätze im Rahmen der Strafverfolgung vertiefend eingegangen wird. Wie der Untertitel der vorliegenden Arbeit bereits vermuten lässt, spielt dabei der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit eine maßgebliche Rolle. Dies nicht so sehr, weil die Ansicht vertreten worden ist, der Vorgang des Erbrechens sei bereits als aktive Mitwirkung an der eigenen Verfolgung einzustufen. Vielmehr belegt die Diskussion um die Zulässigkeit der Brechmitteleinsätze
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Einleitung
einmal mehr, dass die Bestimmung der Pflichten des Beschuldigten in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren nach wie vor Schwierigkeiten bereitet. Die vorliegende Untersuchung versucht, einen Beitrag zur Harmonisierung des Schutzbereiches des nemo tenetur-Grundsatzes mit § 81a StPO zu leisten. Um den Einstieg in das Thema mit seinen Fragestellungen zu erleichtern, soll bereits im Rahmen dieser Einleitung vorweg der „Normalfall" kurz dargestellt werden. Im Regelfall 1 geht dem Brechmitteleinsatz die (zum Teil länger andauernde) Beobachtung eines mutmaßlichen „Straßendealers" voraus. Hierbei handelt es sich häufig um Menschen nichtdeutscher Herkunft, die ihrer Kundschaft in bestimmten Lokalen, Cafes oder auch auf bestimmten Plätzen, Straßen etc. bereits abgewogene und zu Portionen verpackte Päckchen mit Heroin, Crack oder Kokain verkaufen. Aus Gründen der Sicherheit werden die Drogenpäckchen im Mund behalten und nur in der verkauften Menge ausgespuckt, im Falle des Zugriffs der Polizei hingegen heruntergeschluckt. Bemerken die Beamten des Polizeidienstes diese „verräterischen" Schluckbewegungen, erfolgt die Mitnahme der Betroffenen zu einem medizinischen Institut bzw. dem polizeiärztlichen Dienst. Dort wird das Brechmittel nach mehr oder weniger eingehender Untersuchung auf Gegenindikatoren durch einen approbierten Arzt auf Anordnung regelmäßig eines Staatsanwalts verabreicht. - Schwierigkeiten entstehen zusätzlich, wenn die Betroffenen der deutschen Sprache unkundig sind und in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit - die Drogenpäckchen verbleiben nur etwa zwei bis drei Stunden im Magen - ein Dolmetscher nicht herbeigeholt werden kann. Da es gegebenenfalls notwendig wird, das Emetikum zwangsweise zu verabreichen, wird der mutmaßliche Dealer vor die Wahl gestellt, das Mittel selbst zu trinken oder eben die (unangenehme) Prozedur der Verbringung in den Magen per Nasensonde über sich ergehen zu lassen. Dabei wird durchaus auch mal der Schlauch drohend vorgehalten, um die für den Betroffenen zu erwartenden Unannehmlichkeiten zu untermauern. Lehnt dieser die selbsttätige Einnahme des Sirups dennoch ab, wird er von den Polizeibeamten festgehalten und fixiert, d.h. ihm werden Arme, Beine und der Kopf so festgebunden und -gehalten, dass er sich möglichst nicht bewegen kann. Hierbei trägt der Beschuldigte zuweilen erhebliche Prellungen, Blutergüsse und sonstige „stumpfe" Verletzungen davon. Sodann beginnt der die Prozedur durchführende Arzt damit, die
1
Die Schilderung basiert auf dem in verschiedenen Gerichtsurteilen und Aufsätzen mitgeteilten Sachverhalt. Sie verallgemeinert und erhebt daher weder Anspruch auf Vollständigkeit noch darauf, dass sie der Mehrzahl der in der Praxis vorkommenden Fälle entspricht. Vielmehr bezweckt sie eine kurze Einführung in die Problemstellung, kombiniert also verschiedene Schwierigkeiten, die auftreten können und zum Teil aufgetreten sind.
Einleitung
Magensonde durch die Nase zu führen und auf diese Weise den IpecacuanhaSirup unmittelbar in den Magen zu pumpen. Nach etwa einer halben Stunde übergibt sich der Betroffene schwallartig und spuckt dabei etwa verschluckte Drogenpäckchen aus, die dann als Beweismittel eingesammelt und verwertet werden. Der Beschuldigte kann, sofern kein Haftbefehl erlassen wird, gehen. Die grundlegende Frage, was der Beschuldigte zumutbar dulden muss im Interesse einer effektiven Strafverfolgung, wird in dem geschilderten Sachverhalt besonders deutlich und bildet nicht zuletzt den roten Faden, an dem sich die folgenden Ausführungen orientieren.
Kapitel 1
Verfassungsrechtlicher Hintergrund I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld Die StPO kennt neben anderen eine Vielzahl von Eingriffen, deren Zweck die Beschaffung von Material ist, das sich als Beweismittel zur Aufklärung einer mutmaßlichen Tat verwenden lässt. Entgegen der mehrheitlich gebräuchlichen Bezeichnung „Zwangsmittel" 2 , handelt es sich tatsächlich überwiegend nicht um willensbeugende Maßnahmen, sondern unter Ausnutzung des technischen Fortschritts um solche, die gerade ohne Wissen des Betroffenen erfolgen.3 Zu nennen sind insbesondere die Überwachung des Fernmeldeverkehrs (§ 100a StPO), das Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes (§ 100c Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO) sowie sonstige Maßnahmen der Observation entweder durch Verdeckte Ermittler, V-Personen etc. oder mit Hilfe technischer Mittel (§§110, 100c Abs. 1 Nr. 1 StPO). Daneben stellen die „klassischen" Ermittlungsmethoden der Durchsuchung (§ 102 ff. StPO), der Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO) und der körperlichen Untersuchung (§§ 81a, 81c StPO) im eigentlichen Sinn des Wortes „Zwangsmittel" dar, da sie nicht nur gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen durchgesetzt werden können, sondern insbesondere auch dann noch geeignet sind, verwendbare Informationen zu liefern. Nach der Zweckrichtung lassen sich hiervon zunächst alle strafprozessualen Eingriffsmaßnahmen unterscheiden, die der Sicherung des Vollstreckungsverfahrens oder der Allgemeinheit dienen.4 Hiergegen betrifft die Beschaffung von 2
Hierunter wird gemeinhin die „Prozesshandlung eines Strafverfolgungs- bzw. Rechtspflegeorgans, mit der zum Zweck der Strafverfolgung gegen den Willen des Berechtigten in dessen Grundrecht eingegriffen wird" verstanden; siehe nur Schlüchtern Strafprozessrecht, 86; weiter dagegen Peters, Strafprozess, 415: „Ohne oder gegen den Willen". 3 Vgl. etwa Roxin. Strafverfahrensrecht, Kap. 6, der den Einsatz technischer Mittel systematisch nicht unter den Begriff der Zwangsmaßnahmen fast. Zur „Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens durch präventiv ausgerichtete Zwangsbefugnisse" siehe ausführlich König, Zwangsmaßnahmen, 121 ff. 4
Vgl. Roxin* Strafverfahrensrecht, § 29 Rn. 1 f.
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
15
Informationen über die mutmaßliche Tat notwendig den Bereich des Ermittlungsverfahrens und dient dementsprechend der Durchführung der Hauptverhandlung, als denjenigen Verfahrensabschnitt, der auf Urteilsfindung gerichtet ist (vgl. § 264 Abs. 1 StPO). Durchführung in diesem Sinne kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Zum einen ist die Hauptverhandlung auf inhaltliche Auseinandersetzung mit der angeklagten Tat gerichtet, zum anderen dient sie der Sicherung der unverzichtbaren Verfahrensrechte des Beschuldigten, die das Gesetz in § 338 StPO benennt. Hiernach können vorliegend von vornherein diejenigen Zwangsmittel außer Betracht bleiben, die nicht selbst5 auf Erkenntnissteigerung gerichtet sind, sondern die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung sicherstellen sollen (z.B. §§ 112 ff., 230 Abs. 2 StPO). Innerhalb der auf Informationsbeschaffung zielenden Eingriffe kann weiterhin nach dem betroffenen Schutzgut unterschieden werden. Darin nehmen Zwangseingriffe in die körperliche Unversehrtheit eine herausragende Stellung ein, weil der Betroffene hierdurch unmittelbar in seiner Existenz berührt wird. Dagegen betreffen etwa die Wohnungsdurchsuchung, die Beschlagnahme von (Eigentums-)Gegenständen oder auch die molekulargenetische Untersuchung von gemäß § 81a StPO gewonnenem Körpermaterial den Menschen nur mittelbar, nämlich in seiner Beziehung zu außerhalb seiner Person stehenden Gegenständen und Prozessen. Die Privatsphäre (Art. 10, 13 GG), die Anerkennung einer Eigentumsordnung (Art. 14 GG) oder auch das informationelle Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) stellen Rechtsgüter dar, deren Existenz in grundlegender Weise Auskunft über das von der Rechtsordnung vorgesehene Verhältnis des Einzelnen zu der Gemeinschaft gibt. Die Einschränkung der genannten Grundrechtspositionen aus Gründen effektiver Strafverfolgung lässt demgegenüber den Stellenwert erkennen, den der Gesetzgeber einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege für das Gemeinwesen beigemessen hat.6 Das so entstehende Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft ist im Rahmen der Strafverfolgung also prinzipiell im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit der Person entschieden, sofern nicht ein letzter unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung betroffen ist, den das BVerfG schlechthin als der öffentlichen Gewalt entzogen ansieht.7
5
Dabei ist nicht zu verkennen, dass gerade die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen im Ermittlungsverfahren die Möglichkeiten zur Beschaffung von Informationen wesentlich steigern kann. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO, sondern vor allem wegen der Gelegenheit, etwa Inhaftierte zum Zwecke der Aushorchung von Mithäftlingen anzuwerben bzw. den Besuchsraum abzuhören, vgl. nur BGH, NStZ 1999, 146 (3. Senat) und 147 (5. Senat). 6
Vgl. BVerfGE
7
Vgl. nur BVerfG, NJW 1996, 772.
77, 65 (76).
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Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
1. Körperliche Eingriffe als Mittel staatlicher Informationsbeschaffung Etwas anders stellt sich das angesprochene Verhältnis hingegen im Rahmen körperlicher Eingriffe dar. Der Gesetzgeber hat § 81a Abs. 1 StPO mit einer „Gesundheitsklausel" ausgestattet, nach der Zwangsmaßnahmen zur Beweisgewinnung verboten sind, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit8 auszuschließen ist, dass der Betroffene hierdurch in seiner Gesundheit geschädigt wird. Trotz aller damit noch nicht geklärten Fragen über Umfang und Intensität erlaubter Eingriffe im Einzelnen, lässt sich dem immerhin entnehmen, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung seine Grenze in der gesundheitlichen Integrität des Betroffenen findet. Informationen dürfen daher nicht an bzw. aus dem Körper des Beschuldigten zu dem Preis der Beschädigung seiner Gesundheit gewonnen werden. Das stellt eine Ausprägung des häufig wiederholten Satzes dar, dass das Strafverfahren nicht der Ermittlung der Wahrheit um jeden Preis dient.9 Auch darüber hinaus weisen körperliche Untersuchungen und Eingriffe zum Zwecke der Beweisgewinnung gegenüber anderen Ermittlungsmaßnahmen charakteristische Besonderheiten auf, die Auswirkungen auf ihre Zulässigkeit im Einzelfall haben können. Von besonderer Bedeutung etwa im Hinblick auf den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare (prodere)", der noch eingehend zu erörtern sein wird, ist die Tatsache, dass der Beschuldigte mit seinem Körper und damit unmittelbar selbst zur Quelle belastender Beweise wird; er wird zum Augenscheinsobjekt in eigener Sache10 gemacht und daher in gewissem Sinne zum Objekt des Strafverfahrens. 11 Damit steht im Zusammenhang, dass der Beschuldigte sich dieses Beweismittels nicht entledigen kann, wie er etwa einen verräterischen Gegenstand beseitigen könnte. Informationen, die aufgrund körperlicher Eingriffe erlangt werden, sind wegen der Möglichkeit ihrer zweifelsfreien Zuordnung zu der Person, von der sie herrühren, von besonderem Gewicht im Strafverfahren. 12 - Abgesehen davon werden in der Praxis vor allem Ergebnisse aufgrund von medizinischen und biologischen Untersuchungen gemäß § 81a StPO erlangten Spurenmaterials als besonders aussagekräftig angesehen.13
8
Meyer-Goßner, § 81a Rn. 17.
9
YXJPfeiffer,
Einl. Rn. 2.
10
Vgl. nur Peters, Strafprozess, 325 ff.
11
Burhoff,
12
Peters, Strafprozess, 325.
13
Hdb. EV, Rn. 500.
BVerfG (Beschl. v. 18. 9. 95 - 2 BvR 103/92) NJW 1995, 772; BGHSt 38, 324; Eisenberg, BewR, Rn. 1687b mit weiteren Nachweisen.
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
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Bereits hierin zeigt sich, dass aus körperlichen Untersuchungen stammendes Beweismaterial jedenfalls aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden wesentliche Bedeutung hat. 14 Nichtsdestotrotz stellt seine Erlangung gerade wegen der hohen Eingriffsintensität besondere Anforderungen an Staatsanwaltschaft und Polizei bei Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen. Das daraus resultierende Spannungsfeld zwischen Wahrung der (Grund-)Rechte des Betroffenen und Gewährleistung einer effektiven Strafverfolgung steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen körperliche Eingriffe zur Informationsbeschaffung im Strafverfahren überhaupt nur zulässig sein können.
2. Körperliche Integrität und „effektive" Strafverfolgung im Lichte der Verfassung a) Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG § 81a StPO ermächtigt zu Eingriffen unmittelbar in den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Bereits die Existenz des in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG normierten Gesetzesvorbehalts, dessen einfachgesetzliche Ausprägung § 81a StPO ist, macht deutlich, dass der Schutz der körperlichen Integrität nicht in einem absoluten Sinne verstanden werden kann. Vielmehr geht das Grundgesetz selbst davon aus, dass unter bestimmten weiteren Voraussetzungen Eingriffe in den Körper und sogar das Dasein in Einzelfällen zulässig sind. 15 Da § 81a Abs. 1 StPO seinerseits den Bereich zulässiger Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit auf solche beschränkt, die einen Nachteil fur die Gesundheit nicht befürchten lassen, konkretisiert er den grundrechtlichen Schutz im Zusammenhang mit strafverfolgender Tätigkeit. Insoweit steht er in Einklang mit der sogenannten Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die es dem Gesetzgeber verbietet, wesentliche Entscheidungen über Eingriffe auf die Exekutive zu delegieren. 16 Hierbei ist allerdings nicht zu verkennen, dass sich nur aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG selbst ergeben kann, wann die zulässige Verletzung des Körpers zu Zwecken der Strafverfolgung in eine unzulässige Gesundheitsbeschädigung um-
14 Siehe nur Messer/Siebenbürger wichtigsten Beweismittel.
in: Handbuch StA, Teil A Kap. 1 Rn. 87: Eines der
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Das wird schon daran sichtbar, dass der Grundgesetzgeber sich veranlasst sah, eine ausdrückliche Regelung für das Verbot der Todesstrafe in Art. 102 GG zu treffen; vgl. im übrigen etwa, Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 53, 85 f. zur Zulässigkeit des gezielten polizeilichen Todesschusses. 16
Siehe dazu nur BVerfG E 88, 103 (116).
Kapitel 1: Verfassungsrechtlicher Hintergrund
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schlägt, denn entsprechend seinem einfachgesetzlichen Rang ist § 81a StPO verfassungsgemäß auszulegen, kann also nicht über dasjenige hinausgehen, was von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gestattet ist. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat keine Vorläufer in der deutschen Verfassungsgeschichte. Es ist erst in Reaktion auf die Verbrechen der nationalsozialistischen Zeit konstituiert worden. 17 Nach allgemeiner Auffassung enthält Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG neben der Abwehrfunktion einen Anspruch auf Schutz des Lebens und der Gesundheit durch den Staat.18 Erfasst sind zunächst unbestritten das körperliche Dasein und die Gesundheit im biologisch-physiologischem Sinne.19 Ziel ist es, gemeinsam mit der in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Bewegungsfreiheit, die physische Existenz des Menschen als Voraussetzung für seine geistige Existenz zu sichern; hierdurch werden „elementare Bedingungen für die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Entfaltung" garantiert. 20 Demgemäß kommt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG fundamentale Bedeutung zu: Einer gängigen 21 Formulierung des BVerfG zufolge stellt das Recht auf Leben „einen Höchstwert" innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar; es ist „die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte". 22 Dabei hat die körperliche Integrität des Menschen parallel zur Herausbildung zum modernen Verfassungsstaat insgesamt wachsende Anerkennung erfahren, was z.B. in der Abschaffung von Folter und Leibesstrafen zum Ausdruck kommt. 23 Aufgrund der darin offenbar werdenden Nähe des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG ist es nahezu selbstverständlich, dass die körperliche Integrität in ihrem Wesensgehalt sogar der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen ist (Art. 79 Abs. 3 GG). 24 Von hier aus ist es konsequent, den Begriff der körperlichen Unversehrtheit nicht nur auf die biologisch-physiologische Gesundheit, sondern auch - wie dies heute überwiegend anerkannt ist 25 - in einem weiteren Sinne auf die geis-
17
BVerfGE 39, 1 (36 f.); Pieroth/Schlink,
18
Seit BVerfGE
19
Schulze-Fielitz
in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 19.
20
Schulze-Fielitz
in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 10.
Grundrechte, Rn. 390.
39, 1 (4) ständige Rechtsprechung.
21
Kritisch hierzu Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 44: „Formelhaft".
22
BVerfGE 39, 1 (42); E 49, 24 (53).
23
Schulze-Fielitz
24
Pieroth/Schlink,,
25
in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 1. Grundrechte, Rn. 403.
Siehe nur BVerfGE 56, 54 (75); Schulze-Fielitz 20; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 393.
in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn.
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
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tig-seelische Identität des Menschen zu beziehen. Nicht zuletzt die Erfahrung mit dem nationalsozialistischen Regime hat gelehrt, dass psychischer Terror, seelische Folterungen und entsprechende Verhörmethoden in ihren Wirkungen körperlichen Eingriffen gleichzustellen sind, wenn und soweit sie das Befinden des Menschen etwa durch Hervorrufen von Angstzuständen in einer Weise verändern, die der Zufiigung von Schmerzen entspricht. 26 Zuletzt folgt aus der engen Verknüpfung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, dass vom Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur die Gesundheit sondern auch die körperliche Integrität an sich geschützt ist. Insbesondere spricht Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG selbst nicht von „Gesundheit". Deshalb besteht der Abwehranspruch nicht nur gegen staatliche Eingriffe, die zu Verletzungen im engeren Sinne oder etwa dem Verlust von Körperbestandteilen fuhren, sondern auch gegen Heileingriffe oder solche Interventionen, die keine Schmerzen bedingen oder zum Status des Krankseins fuhren. 27 Entscheidend ist, dass gemäß dem Zweck des Grundrechts, nämlich die Bestimmung über seine leiblich-seelische Integrität als ureigensten Teil der Persönlichkeit des Menschen zu gewährleisten 28, jedermann in der Lage bleiben muss, grundsätzlich frei darüber zu entscheiden, welchen Einwirkungen er sich aussetzen will oder nicht. Gerade darin besteht die Freiheit zur Selbstbestimmung, die insbesondere durch Art. 2 Abs. 2 GG verbürgt ist. Folglich stellt es auch einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar und bedarf daher einer gesetzlichen Ermächtigung gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, wenn die Maßnahme lediglich diagnostischen Charakter hat oder gesundheitsneutral ist. 29 Auch wurde die Veränderung der Haar- und Barttracht zwecks Gegenüberstellung mit Zeugen als Eingriff angesehen/0 Soweit in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bisweilen der Versuch unternommen wird, solche Maßnahmen aus dem Begriff des Eingriffs herauszunehmen, durch die die Körpersphäre nur geringfügig und damit zumutbar betroffen werde, 31 erscheint dies zwar von dem an sich berechtigten Anliegen getragen, nicht jeder Beeinträchtigung der Körpersphäre den Grund-
26
Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 63; a.A. Lorenz in: Isensee/Kirchhof, § 128 Rn. 18, der insoweit Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG für einschlägig hält, sofern nicht die seelische Einwirkung zu körperlichen Beeinträchtigungen fuhrt. 27
Hirsch, Niebier, Steinberger, Sondervotum zu BVerfG E 52, 131 (174 f.); SchulzeFielitz in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 22; Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn.
62. 28
Hirsch, Niebier, Steinberger, Sondervotum zu BVerfGE
29
Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 62.
30
BVerfGE Al, 239(248).
31
So BVerfGE
52, 131 (175).
Π, 108(115); vgl. auch KG, NJW 1987, 2311.
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Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
rechtsschutz aktivierende Wirkung zuzuerkennen. Jedoch zeigt bereits der verwendete Begriff der Zumutbarkeit, dass es sich hierbei richtigerweise nicht um eine Frage der Schutzbereichsbestimmung oder auch des Eingriffs handelt, sondern um eine solche der Verhältnismäßigkeit. 32 Vorerst ist daher festzuhalten, dass der Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die Gesundheit im biologischphysiologischen sowie im geistig-seelischen Sinne als auch die körperliche Integrität an sich umfasst. Als Eingriff ist je nach Art der Berührung des Schutzbereiches unzweifelhaft jede Gesundheitsbeschädigung zu werten, darüber hinaus aber auch jede staatlichen Organen zurechenbare Wirkung, die nicht eine bloß alltägliche Lästigkeit (wie z.B. die Feuerwehrsirene) 33 darstellt.
b) Eingriffszweck
„ effektive
" Strafverfolgung
aa) Problemstellung Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG gestattet Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit aufgrund eines Gesetzes. Gesetz wird dabei im Hinblick auf den außerordentlichen Stellenwert des Eingriffsgutes allgemein als Parlamentsgesetz verstanden. 34 Hinsichtlich des Eingriffszwecks werden hingegen keine weiteren Anforderungen an das ermächtigende Gesetz gestellt (sog. einfacher Gesetzesvorbehalt). Befugnisnorm kann daher prinzipiell jedes verfassungsmäßige Parlamentsgesetz sein, das ein schutzbereichsrelevantes Handeln staatlicher Organe gestattet. Das ist einerseits selbstverständlich, überrascht auf den ersten Blick dennoch, vergegenwärtigt man sich die bereits zitierte Wertung des BVerfG 35 , wonach die Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gleichsam unabdingbare Voraussetzung der Verwirklichung aller anderen Grundrechte ist; schließlich stellt das Grundgesetz etwa an Eingriffsnormen in die Meinungsfreiheit oder die Freizügigkeit qualifizierte Anforderungen (vgl. Art. 5 Abs. 2, 11 Abs. 2 GG), wobei es insbesondere im letzten Falle dezidierte Vorgaben zu den zulässigen Eingriffszwecken enthält.
32
Kunig in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 64.
33
Anders stellt sich die Situation allerdings dar, wenn die fragliche Immission sich in unmittelbarer Nähe der Wohnung entfaltet und zu einer - im wahrsten Sinne des Wortes alltäglichen - Belästigung wird; vgl. BVerwGE 79, 253 (257). 34 Pieroth/Schlink, lehre des BVerfG. 35
BVerfGE
Grundrechte, Rn. 397 mit Hinweis auf die Wesentlichkeitsrechts-
39, 1 (42); E 49, 24 (53).
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
21
Nach der verfassungsrechtlichen Dogmatik bedeutet das allerdings keinen Widerspruch, denn die grundrechtliche Ausgestaltung des Gesetzesvorbehalts trifft keine Aussage hinsichtlich der Wertigkeit der Grundrechte in dem Sinne, dass ein „bloß einfacher" Gesetzesvorbehalt Eingriffe unter erleichterten Voraussetzungen gestatten würde. Andernfalls würde z.B. der Kunstfreiheit ein höheres Gewicht zukommen als dem Recht auf Leben/ 6 Aus der Art des Gesetzesvorbehalts kann also nicht auf die Rechtmäßigkeitsanforderungen an die Eingriffsgrundlage geschlossen werden. Aussagen hierüber müssen gemäß allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen getroffen werden, wobei im Mittelpunkt der Überlegungen der Zweck des staatlichen Handelns steht. Es steht außer Frage, dass Strafverfolgung ein legitimer Zweck hoheitlicher Tätigkeit ist. Das folgt schon aus Art. 103 Abs. 2 GG und ist allgemein anerkannt/ 7 Allerdings ist damit nicht viel gewonnen, denn ungeklärt bleiben die inhaltlichen Anforderungen an konkrete Maßnahmen der Strafverfolgung. Denkbar ist z.B., dass körperliche Eingriffe zu Verfolgungszwecken von Verfassungs wegen schon dann als unzulässig qualifiziert werden müssen, wenn sie mit einem Eindringen in das muskelumschlossene Gewebe verbunden sind oder umgekehrt als zulässig, selbst wenn ihnen erhebliche Lebensgefahren innewohnen. Entscheidend ist die Bedeutung, die der Strafrechtspflege nach der grundgesetzlichen Werteordnung insbesondere gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit zukommt. Einen ersten Anhaltspunkt mag insoweit eine Äußerung des BGH geben, wonach „unverhältnismäßig (...) der (...) Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen (...) nur dann [ist], wenn diesem gegenüber den Bedürfhissen einer nach dem Rechtsstaatsprinzip gebotenen wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung das größere Gewicht zukommt." 38 Aus diesem Blickwinkel bewegt sich eine Strafrechtspflege, die an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientiert ist, im ständigen Spannungsfeld zwischen individuellem Freiheits- und kollektivem Sicherheitsinteresse. Das Ziel kann im Sinne eines allgemeinen Grundsatzes dahingehend umschrieben werden, dass beide gegenläufigen Bedürfnisse im Einzelfall so zu einem Ausgleich zu bringen sind, dass eine jeweils größtmögliche Verwirklichung gewährleistet ist. 39
36
v. Münch in: v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1-19 Rn. 46.
37
Vgl. nur KK/Pfeiffer,
38
£G//NStZ 98, 397; vgl. auch BVerfGE
39
Sogenannte „praktische Konkordanz' 4.
Einl. Rn. 1 f. 80, 367; BGHSt 34, 397 (401).
22
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
bb) Die gesellschaftliche Bedeutung der Strafrechtspflege Das Strafrecht ist einer Vielzahl von Zielen und Aufgaben mit gesellschaftspolitischer Bedeutung verpflichtet, die sich teilweise in einem dialektischen Verhältnis gegenüberstehen. Verallgemeinernd ausgedrückt, dient das Strafrecht der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Was allerdings gesamtgesellschaftlich sinnvoll erscheint, mag im sozialen Nahbereich das komplette Gegenteil bewirken. Strafe fur begangenes Unrecht kann dabei fördernd und zugleich auch zerstörerisch sein. Das gilt für alle Bereiche, in die das Strafrecht vordringt: Die Durchsetzung des „staatlichen Strafanspruchs" belastet den als Täter beurteilten Menschen - gewollt, wenn es sich um den wirklichen Täter handelt, ungewollt (aber in Kauf genommen) und umso schwerwiegender, wenn es sich um ein Fehlurteil handelt. Die Untätigkeit der StrafVerfolgungsbehörden belastet hingegen das Opfer, die Gesellschaft im Ganzen und so fort. Bereits daraus wird deutlich, dass die Strafrechtsordnung unterschiedlichsten Bedürfnissen Rechnung zu tragen hat, die nicht gleichgerichtet sind und von denen keiner a priori der Vorrang zukommt: Sie dient dem Schutz des Opfers ebenso wie dem des Beschuldigten. Sie hat befriedende Funktion durch Sanktionierung des Unrechts und Verhinderung künftiger Taten und sie zielt auf Einbindung des Täters (wieder) in die Gesellschaft ab. Die Aufgabe der Strafrechtspflege besteht deshalb zunächst darin, die unterschiedlichen Interessen auszubalancieren.
(1) Vom Zweck des Straf ens und der Aufgabe des (materiellen) Strafrechts Die Diskussion über den Zweck des Strafens ist seit Ende des Neunzehnten Jahrhunderts bemüht, über die bloße Funktion der Vergeltung hinaus eine präventive Aufgabenstellung zu verankern. 40 In der Gegenwart erlangt Strafe damit Bedeutung als Instrument, mit dessen Hilfe die Rechtsordnung gegen Angriffe von innen verteidigt werden soll. Welche Bedeutung Sanktionen tatsächlich für ein „gedeihliches Zusammenleben der Menschen"41 haben, sei dahingestellt. Wichtiger ist, dass die Theorien über Strafzwecke naturgemäß erst an die Verurteilung und nicht unmittelbar die Tatbegehung anknüpfen. Prozessuale Eingriffe im Rahmen des Ermittlungsverfahrens dienen als Informationsbeschaffungsmaßnahmen von Gesetzes wegen niemals präventiven Zwecken oder
40 41
Zusammenfassend Roxin, Strafrecht AT, § 3 Rn. 11 f f
Vgl. Wessels/Beulke, zugsziel.
AT, Rn. 9 sowie das in § 2 S. 1 StVollzG formulierte Voll-
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
23
solchen des Schuldausgleichs. Das wäre ein Verstoß gegen das verfassungsmäßige Prinzip der Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 MRK und ein Widerspruch zur Aufgabe des Ermittlungsverfahrens. Erwägungen bezüglich Abschreckung, Sicherung der Allgemeinheit oder auch Stärkung des Normbewusstseins haben daher bei Anordnung eines konkreten Zwangsmittels im Ermittlungsverfahren außer Betracht zu bleiben. 42 Die Strafzweckdiskussion fuhrt bezüglich der Überlegungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der Strafrechtspflege daher nur insoweit weiter, als die Strafzwecke im Kontext der allgemeinen Aufgabe des Strafrechts zu verstehen sind. Die besondere Aufgabe des Strafrechts im weiteren Sinne wird überwiegend im Schutz individueller wie kollektiver Rechtsgüter erkannt 43, wobei Strafe als ultima ratio der Erhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung durch den Staat gilt. Aus diesem Grund stellt das materielle Strafrecht keine Sittenordnung dar, sondern bildet quasi den Katalog der als besonders schutzwürdig geltenden rechtlichen Güter und Interessen, also derjenigen, die als notwendig fur das Zusammenleben der Menschen angesehen werden. 44 Auch das ist Ausdruck von Grundrechtsbindung: Schutz vor rechtsverletzenden Eingriffen, die durch Dritte drohen. 45 Welche Maßnahmen insbesondere der Gesetzgeber ergreift, um diesem Auftrag nachzukommen, unterliegt nach der Rechtsprechung des BVerfG prinzipiell seiner durch die Verfassung oder internationale Verträge etc. mehr oder weniger beschränkten Entscheidungsfreiheit. Allerdings gebiete es vor allem das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprinzip, die betroffenen Interessen möglichst in einen - ihren jeweiligen Rang berücksichtigenden -
42
Nicht zu verkennen ist allerdings, dass solche Kriterien rechtstatsächlich durchaus von Belang sein können. Unmittelbar einleuchtend wird das im Hinblick auf die häufig intendierte abschreckende Funktion konkreter Ermittlungsmaßnahmen innerhalb eines bestimmten „kriminellen Milieus". Beispielhaft seien hier die sog. „apokryphen Haftgründe" im Rahmen der Untersuchungshaft angeführt. Darüber hinaus können aber auch Razzien oder Durchsuchungen den primären Zweck verfolgen, „in der Szene Präsenz zu zeigen". 43 SK-StGB/Rudolphe Vor § 1 Rn. 2; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 3 Rn. 10 ff.; Wessels/Beulke, AT, Rn. 6 f f ; kritisch gegenüber (herkömmlichen) Rechtsgutskonzepten etwa Roxin, Strafrecht AT, § 2 Rn. 5 ff.; Hassemer, NStZ 1989, 557. 44 SK-StGB/Rudolphi, Vor § 1 Rn. 5; Baumann/Weber/Mitsch, senberg,, Kriminologie, § 22 Rn. 1. 45
AT, § 3 Rn. 4 f.; Ei-
Grundlegend BVerfGE 7, 198, wonach die Grundrechtsbestimmungen eine objektive Wertordnung verkörpern und so auch zwischen Privaten ausstrahlen. Siehe auch Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 37 f. (aus der Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 S. 2); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 103 ff.; Wessels/Beulke, AT, Rn. 6. Leutheusser-Schnarrenberger (ZRP 1998, 89 f.) sieht hierin die „Dialektik des materiellen Rechtsstaats".
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
24
Ausgleich zu bringen. 46 Im Einzelfall könne sogar der Erlass von Strafrechtsnormen geboten sein, wenn etwa die Ausübung eigener Freiheitsrechte notwendig bedeutet, dass ein anderer unwiederbringlich in seinen elementaren Grundrechten verletzt wird. 47 Nach diesem Ansatz kann sich wirksamer Rechtsgüterschutz nicht darauf beschränken, erfolgte Rechtsverletzungen zu sanktionieren. Über die erstrebte präventive Wirkung der Strafe hinausgehend, erhält so auch das Ermittlungsverfahren eine - elementare - vorbeugende Dimension, da anzunehmen ist, dass die Verhinderung sanktionierten Verhaltens ein Verfolgungs- und Entdeckungsrisiko voraussetzt. 48 Insofern kommt den Ermittlungsmaßnahmen eine ebenso große Bedeutung zu, wie der materiellen Strafhorm selbst, da selbstverständlich dem Urteil die Aufklärung der Tat voranzugehen hat. Darin könnte ein gewisser Widerspruch zu der oben getroffenen Aussage gesehen werden, wonach sich präventive Gesichtspunkte bei Anwendung konkreter Ermittlungsmaßnahmen verbieten. Schließlich ist schon das Empfinden von Sicherheit unabdingbare Voraussetzung freier Persönlichkeitsentfaltung. 49 Das damit verbundene Dilemma lässt sich indes auflösen, wenn strikt zwischen theoretischer Grundlegung der Aufgaben strafrechtlicher Ermittlungen als Teil des Strafverfahrens und der konkreten Anwendung einzelner Ermittlungsmaßnahmen differenziert wird. Nicht die konkreten Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung haben eine selbständig präventive Funktion, sondern nur die Erforschung der materiellen Wahrheit an sich.
(2) Strafrecht
und Rechtsstaatlichkeit
Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung hervorgehoben, ohne eine funktionstüchtige Strafrechtspflege könne Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden. 50 Der Rechtsstaat sei nur zu verwirklichen, „wenn sichergestellt ist,
46
Vgl BVerfGE
56, M {!%).
47
BVerfG E 39, 1 (41); E 88, 203 (257 f.); Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 84 ff. 48
Vgl. etwa Schmidhäuser, AT, Rn. 17.
49
So steigt die Bereitschaft zur Teilnahme am sozialen Leben mit dem Gefühl der Abwesenheit von Bedrohung tendenziell an. Damit geht allerdings der Befund einher, dass die Produzierung eines Sicherheitsgefühls auch Machtinstrument ist; vgl. etwa zur Nutzung der Polizeistatistik für diese Zwecke Hess/Scheerer, KrimJ 1997, 83 ff: „Machtressource eigener Art". 50
Siehe nur BVerfGE Einl. Rn. 1.
46, 214 (222); E 51, 324 (343); E 74, 257 (262); HYJKrehl,
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
25
dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden." 51 Das allein sagt indes noch nicht viel: Eine Strafrechtspflege mag sich zwar im Rahmen der geltenden Gesetze halten, kann aber dennoch „ungerecht" sein, wenn es die geltende Rechtsordnung ist; allein die Existenz von Normen garantiert noch keine Rechtsstaatlichkeit. Jedoch deuten die zitierten Aussagen in die richtige Richtung, denn die Herstellung von „Gerechtigkeit" bezieht nicht nur das Verhältnis der Machtunterworfenen untereinander ein, sondern ebenso deren Beziehung zum Träger der Macht. Sofern „Gerechtigkeit" als zentrales materielles Element des Rechtsstaates verstanden wird, bezeichnet der Begriff eine Zielvorstellung; den notwendigen Abwägungsprozess in dem Dreiecksverhältnis gegenläufiger Interessen kann er nicht ersetzen. Ein grundlegendes Bestreben des Rechtsstaates ist es also, eine rechtliche Ordnung und Begrenzung der Befugnisse sowie Mittel staatlicher Hoheitsgewalt und Machtausübung zu gewährleisten. Dabei sind als wesentliche Elemente die Grundsätze der Gewaltenteilung, der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 1 Abs. 3 GG), der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes 52, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, 97 GG) sowie nicht zuletzt des Schutzes der Rechte und Freiheiten des einzelnen erkannt worden. 53 Daraus wird unmittelbar die überragende Rolle des Gesetzgebers bei Verwirklichung dieses Ziels deutlich. 54 Die Bändigung der eigenen Macht erfolgt in erster Linie durch Bindung der exekutiven Staatsgewalt an die Strafprozessordnung. Das Bestreben, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor willkürlichen oder übermäßigen staatlichen Eingriffen zu schützen, prägt das Strafverfahren bis ins Detail. 55 Der Aufgabe, die materielle Wahrheit zu erforschen sind damit rechtliche Grenzen gesetzt: Sie darf nur in justizförmiger Weise, insbesondere mit den zulässigen Mitteln erfolgen. 56 In diesem Sinne ist Straf(-verfahrens)recht das individuelle Abwehrrecht gegen staatliche Willkür. 57 Die Formulierung einer Ermächtigungsnorm für einen Eingriff in Individualrechtsgüter bedeutet zugleich Schutz vor Be-
51
BVerfGE
51,324 (343).
52
Auch: Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Organe, vgl. BVerfGE 51,324 (343). 53
Badura, Staatsrecht, Abschn. D, Rn. 46.
54
BVerfGE 65, 283 (290); Badura, Staatsrecht, Abschn. D, Rn. 46.
55
LR-Rieß, Einl. Abschn. B, Rn. 6; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 2 Rn. 9.
56
BGHSt 31, 308; Eisenberg, BewR, Rn. 329.
57
Vgl. Fincke, ZStW 95 (1983), 922.
26
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
schränkungen persönlicher Freiheitsrechte durch staatliches Handeln, das den Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage nicht genügt.58 Erreicht wird damit nicht nur Rechtssicherheit im Sinne von Vertrauensschutz 5 9 durch Transparenz exekutiver Entscheidungsvorgänge, sondern auch durch prinzipielle Gleichbehandlung strafrechtlich relevanten Verhaltens. Prozessualen Niederschlag hat das u.a. im Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft sowie im Legalitätsprinzip gefunden (§ 152 Abs. 1 und 2 StPO). Daneben ist das Verhältnis des verfolgenden Staates zum mutmaßlich Verletzten bzw. zur Allgemeinheit von besonderer Bedeutung. Kanalisierung von Macht impliziert nämlich auch die ausschließliche Kompetenz des Staates, Verhalten als sanktionswürdig zu definieren und zu verfolgen (sog. Strafmonopol). 60 Erst auf dieser Grundlage wird die Eindämmung von willkürlicher Selbstjustiz überhaupt denkbar. Die Strafrechtsordnung ist daher auch insofern Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, als hierdurch ein Recht zur Rache ausdrücklich negiert wird. Die Überleitung des Strafanspruchs auf den Staat, wie sie sich im Offizialprinzip darstellt, begründet somit eine doppelte Verantwortlichkeit: Verfolgungspflicht auf der einen, Selbstkontrolle auf der anderen Seite.
(3) Erhaltung von Rechtsfrieden Der dargestellte Zusammenhang liegt im Ergebnis auch der sogenannten „befriedenden Funktion" des Strafverfahrens zugrunde. 61 In diesem Terminus soll das Verständnis von Strafrecht nicht nur als Schutz- sondern auch als Friedensordnung zum Ausdruck kommen, „die auf der sozialethischen Wertordnung unserer Verfassung beruht und sich an deren Zielsetzung orientiert." 62
58
Dieser gesetzlich intendierte Schutz wird indes auf die richterrechtliche Ebene verlagert, wenn die Bestimmung der Beweiserhebungsverbote retrospektiv von der Frage der Revisionserheblichkeit aus geschieht (in diesem Sinne LR/Gössel, Einl. Abschn. K, Rn. 17 f., 113 ff.). Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf die Vorhersehbarkeit und damit Rechtssicherheit bleiben. 59
Vgl. Badura, Staatsrecht, Abschn. D, Rn. 53.
60
Dabei kann dem Gesetzgebungsprozess eine verschleiernde Dimension nicht abgesprochen werden. Gegenwärtig erlangt dieser Zusammenhang vor allem in der Instrumentalisierung von Zahlen über (vorgebliche) Kriminalitätsentwicklungen unter Propagierung konkreter kriminalpolitischer Aktionen Bedeutung , vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 9 Rn. 1 ff. 61
Vgl. LR-Rieß, Einl. Abschn. B, Rn. 4 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 2.
62
Wessels/Beulke,
AT, Rn. 6.
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
27
Was Rechtsfrieden ist, kann schwerpunktmäßig in individualistischer oder kollektivistischer Weise verstanden werden. Die erste bezeichnet das Verhältnis der an der konkreten Straftat beteiligten Personen zueinander, die zweite die öffentliche Wirkung der - mutmaßlichen - Straftat. Angesprochen ist damit zunächst die Ausgleichsfunktion des Strafrechts. Tatausgleich, sowohl psychisch im Sinne von Genugtuung als auch materiell als Schadenskompensation verstanden, spielt im vorliegenden Zusammenhang allerdings eine nur untergeordnete Rolle, da sich der Ausgleich regelmäßig erst durch das Urteil selbst einstellen kann. 63 Diese Funktion der Strafrechtspflege ist also in gewissem Sinne vergangenheitsbezogen. Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und Interessen bei Anwendung von Zwangsmitteln zur Informationsbeschaffung, insbesondere im Ermittlungsverfahren, wird dadurch nicht berührt; die Verschaffung von Genugtuung ist insoweit kein legitimer Zweck. Demgegenüber ist hier die öffentliche Wirkung von weitaus größerem Gewicht, die von der mutmaßlichen Straftat und vor allem von der Verfolgung derselben ausgeht. Neben der Vermittlung eines Empfindens von Sicherheit sind die fortlaufende Aktualisierung des Normbewusstseins in der Bevölkerung sowie eine gegebenenfalls abschreckende Komponente zu nennen.64 Entsprechende Vorstellungen liegen den bereits angesprochenen „Strafzwecken" nach heutigem Verständnis in deren positiven und negativen Ausprägung zugrunde, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein. Hier zeigt sich die präventive Dimension bereits des Ermittlungsverfahrens. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die integrative bzw. ausgrenzende Komponente der Strafverfolgung,
63
Auch Privat- [§§ 374 ff. StPO] und Nebenklage [§§ 395 ff. StPO]) sind auf Herbeiführung eines „Genugtuung" verschaffenden Urteils gerichtet. Weiterhin wurde mit § 46a StGB (eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 VerbrBekG v. 28.10.1994 [BGBl. I, 3186]) der Aspekt der - allerdings nicht nur materiellen - Wiedergutmachung (Täter-OpferAusgleich) für die Strafzumessung hervorgehoben, der durch G. v. 20.12.1999 (BGBl. I, 2491) durch Änderung von § 153a Abs. 1 StPO sowie Einfügung der §§ 155a, 155b StPO ausgebaut wurde. Rechtstatsächlich scheint von der Möglichkeit zum Täter-OpferAusgleich jedoch von den Staatsanwaltschaften nur restriktiv Gebrauch gemacht zu werden (vgl. Schimmel, TOA, 255 f f , betreffend Berlin zu § 45 Abs. 1 JGG). 64
Hierunter ist die ständige Aktualisierung eines spezifischen und umfassenden Kontrollsystems im „Bewusstsein" der Gesellschaft zu verstehen (positive Generalprävention). Dieses System wird zudem als geeignet angesehen, die Stabilisierung der Sozialstruktur zu fördern, indem es insbesondere gegenüber sozial unterlegenen und benachteiligten Personen und Gruppen eingesetzt werde. Hiernach läge die Funktion der Strafrechtspflege darin, diejenigen Verhaltensmuster zu sanktionieren, deren Verbreitung u.a. die bestehenden wirtschaftlichen Strukturen stören oder gar gefährden könnte (vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 10 Rn. 20, 23).
28
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
das heißt, die Differenzierung von „Rechtstreuen" 6 5 und „Straftätern" 6 6 in der Öffentlichkeit.
3. Kriterien der Verhältnismäßigkeitsabwägung Das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren Entscheidungen konkret mit der Frage des Verhältnisses der körperlichen Unversehrtheit und dem Wert einer effektiven Strafverfolgung befasst. Dies geschah nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Verfassungsmäßigkeit von § 81a StPO u.a. deshalb angezweifelt worden war, weil die N o r m keine konkretisierenden Anforderungen an den vorausgesetzten Verdacht und auch keine Begrenzung zulässiger Eingriffe enthält. 6 7 Der erste Senat hat sich dabei den Argumenten der Kritiker verschlossen und in seiner Begründung die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung entwickelt. Hierdurch wurde die angesprochene Problematik des Verhältnisses zwischen körperlicher Integrität und den Belangen einer wirksamen Strafverfolgung weitgehend auf die Ebene der einzelnen Anwendungsfälle verlagert. 6 8
65
Die Vorstellung eines integrativen Charakters geht im Wesentlichen von einer Bekräftigungs- und Entlastungsfunktion des „kriminellen" Verhaltens und dessen Sanktionierung aus, indem letztere gesellschaftlich wahrgenommen werde. Hierdurch würden einerseits essentielle Normen der Gesellschaft ständig im Bewusstsein der Allgemeinheit gehalten, andererseits diese in ihrer Unsicherheit bzgl. der Zuverlässigkeit ihrer Ordnung entlastet {Durkheim, 157 ff.). Weiterhin bewirke die Beurteilung einer Person als „Straftäter" ein Solidaritätsgeflihl unter denjenigen, deren Einstellung sonst auf divergierende Interessen gerichtet sind (vgl. Durkheim , 144; näher Eisenberg, Kriminologie, § 10 Rn. 1 ff.). 66
Der Aspekt der Ausgrenzung hat Bezüge zu der Vorstellung von Strafe als Aggressionsableitung in (sozial-) psychologischem Sinne. Danach erfolge in der Sanktion eine Abreaktion angestauter „Triebenergie", die sich zuvor durch Verdrängung latent vorhandener Triebregungen zu gesetzwidrigem Verhalten aufgestaut habe (vgl. dazu Eisenberg, Kriminologie, § 10 Rn. 13 f f mit weiteren Nachweisen). Jedoch meint „Ausgrenzung" im hier verwendeten Sinne weniger ein gezielt eingesetztes psychologisches Instrument der Triebableitung sondern vielmehr im soziologischen Sinne die Kehrseite des integrativen Charakters von Strafe, die sich insbesondere im Umgang der Gesellschaft mit als Straftätern beurteilten Personen festmacht. 67
Sax in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, 983 ff.; siehe dazu auch unten II. 68
Kritisch dazu Degener, Verhältnismäßigkeit, 185 f f , der in dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gegenwärtiger Prägung eine Alibifunktion erkennt, die eine faktische Erweiterung gesetzlich unzureichend begrenzter Ermittlungsbefugnisse bedingt. In diesem Sinne auch Köhler, ZStW 107 (1995), 16 f.
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
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Im Einzelnen hat der erste Senat des BVerfG in drei Entscheidungen ausgeführt, neben der Stärke des Verdachts 69, der Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses und dessen Erkenntniswertes 70 sei bei Maßnahmen im Rahmen von § 81a StPO auch zu berücksichtigen, ob das Gewicht der zu ahndenden Tat die Anordnung rechtfertige. 71 Der Terminus „Gewicht der Tat" entpuppt sich bei näherer Betrachtung vor dem Hintergrund der Vermittlung eines allgemeinen Sicherheitsgefuhls als relativer Begriff. Dennoch oder gerade deswegen erkennt der erste Senat eine absolute Grenze nicht hinnehmbarer Beeinträchtigungen des Verfolgten an. In einem weiteren Beschluss aus dem Jahre 1979, betont das Gericht, dass die verfassungsrechtliche Pflicht zu einer wirksamen Rechtspflege nicht in jedem Fall eines hinreichenden Tatverdachts die Durchführung des Strafverfahrens rechtfertige. 72 Vielmehr weist er auf das Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte hin, zu deren Schutz das Grundgesetz den Staat ebenfalls verpflichte. 73 Keiner dieser Belange genieße schlechthin den Vorrang. Zwar sei nicht jede denkbare Gefährdung der Beschuldigtenrechte geeignet, den Strafverfolgungsanspruch zurückweichen zu lassen. Führe die vorzunehmende Abwägung jedoch zu dem Ergebnis, dass die Interessen des Beschuldigten im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen, als diejenigen Belange, zu deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll, so verletze der gleichwohl erfolgte Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. 74 Als „wesentlich schwerer" in diesem Sinne sah es der Senat an, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung die naheliegende, konkrete Gefahr für das Leben des Beschuldigten bedeuten würde oder eine schwerwiegende Schädigung seiner Gesundheit befurchten lassen müsste. Für die Beurteilung dieser Frage im Einzelfall sei von Bedeutung, ob der Schaden, dessen Eintritt drohe, dauernder oder nur vorübergehender Natur sei. Ob der Beschuldigte auf die Möglichkeit späterer Heilung oder Besserung verwiesen werden dürfe, hänge vom Gewicht der zu befürchtenden Beeinträchtigung sowie der Aussicht auf einen günstigen Verlauf ab. Die „absolute Grenze, die bei der Abwägung auch durch den schwersten Schuldvorwurf nicht zurückgedrängt werden" könne, verlaufe Jedenfalls nicht unerheblich unterhalb der Prognose eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu bestimmenden Kausalablaufs." 75 69
BVerfGE
17, 108(119).
70
BVerfGE
16, 194 (201).
71
BVerfGE
16, 194 (202); 17, 108 (117); 27, 211 (219).
12
BVerfGE
51,324 (345).
™ BVerfGE
51,324 (345).
™ BVerfGE
51,324 (346).
15
51,324 (349).
BVerfGE
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
30
In gleichem Sinne hatten sich der vierte und fünfte Strafsenat des BGH in einer Stellungnahme zu einer dem ersten Senat des BVerfG im Jahre 1963 vorliegenden einschlägigen Frage sogar dahin eingelassen, „körperliche Eingriffe dürften nur angeordnet werden, wenn unverzichtbare überwiegende Gegeninteressen dies unabwendbar forderten, und stets nur in dem unvermeidbar geringsten Maße." 76
4. Zusammenfassung und Würdigung Der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs kommt für die Gemeinschaft nach der geltenden Rechtsordnung ein überragender Wert zu. Der Einzelne muss daher prinzipiell Eingriffe in seine körperliche Unversehrtheit hinnehmen, nicht aber Schädigungen seiner Gesundheit. Insoweit konkretisiert § 81a Abs. 1 S. 2 StPO lediglich eine Vorgabe der verfassungsrechtlichen Abwägung. Ob der jeweilige Eingriff für den Betroffenen zumutbar ist, soll nach nahezu allgemeiner Ansicht hauptsächlich von der Schwere der mutmaßlichen Tat sowie des Eingriffs und dem konkreten Verdachtsgrad abhängen.77 Das letztgenannte Kriterium ist allerdings mit Vorsicht zu behandeln. Wenn es nämlich maßgeblich auf die Stärke des Tatverdachts im Sinne einer Erweiterung der Eingriffsbefugnisse tatsächlich ankäme, müsste ein körperlich wirkender Eingriff etwa bei hinreichendem Tatverdacht eher zulässig sein als im Falle bloß zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO. Hierzu passt allerdings nicht die Vorgabe des Gesetzes, wonach Gesundheitsbeeinträchtigungen in jedem Verfahrensstadium weitestmöglich zu vermeiden sind. Ein an sich unverhältnismäßiger Eingriff zum Zwecke der Überführung wird z.B. nicht deshalb zulässig, weil sich ein weiterer Belastungszeuge gefunden hat. Im Gegenteil erscheint es eher einleuchtend, an sich verhältnismäßige Eingriffe ab einem bestimmten Verdachtsgrad für nicht mehr erforderlich anzusehen.78 Davon unabhängig zeigt sich weiterhin, dass die Lösung des BVerfG zu Ergebnissen führt, die in Abhängigkeit zu ihrem zeitlichen Kontext stehen. Das hängt mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im Allgemeinen und damit zusammen, dass die Bewertung einer Tat und eines Eingriffs als schwerwiegend nicht
76
Vgl. BVerfGE
Μ, 108(113).
77
BVerfGE 16, 194 (202); E 17, 108 (117); £ 2 7 , 211 (218 f.); Eisenberg., BewR, Rn. 1622; LRJDahs, Rn. 3; SK-StPO/Rogali, Rn. 12 (jeweils zu § 81a StPO). 78 Vgl. auch Köhler, ZStW 107 (1995), 24, der es für den „Grundfehler des Inquisitionsprozesses" hält, aus Schuldpräsumtionen Vorgaben für die zulässige Eingriffsschwere abzuleiten.
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
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unabhängig nebeneinander stehen bleiben, sondern vielmehr relativ aufeinander bezogen sind. Ob nämlich ein Eingriff, der einen Gesundheitsnachteil nicht befurchten lässt (sonst wäre er ohnehin unzulässig), schwer wiegt oder nicht, hängt maßgeblich davon ab, ob die Tat, deren Aufklärung er dient, ihrerseits als gewichtig angesehen wird oder nicht. Formulierungen wie „absolute Grenze", „unverzichtbar" und „unabwendbar" lassen zwar den Wert der körperlichen Unversehrtheit gegenüber den Belangen einer wirksamen Strafverfolgung vergleichsweise gewichtig erscheinen. 79 Ob das aber auch noch heute so gilt, ist vor dem Hintergrund gegenwärtiger Tendenzen in der Kriminalpolitik fraglieh. 80
5. Kompetenzerweiterungen als Reaktion auf eine gestiegene Gefährdungslage Die rechtstatsächlich unstreitige schrittweise Ausdehnung des Bereichs strafbaren Verhaltens auf der einen und strafprozessualer Befugnisse 81 auf der anderen Seite lässt vermuten, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der nicht ohne Einfluss auf die Rechtsprechung geblieben sein kann. Zu berücksichtigen ist dabei, dass höchstrichterliche Entscheidungen sicherlich nur wenig Aufschluss darüber geben können, inwieweit die alltägliche Rechtspraxis an den Amts- und Landgerichten Veränderungen unterworfen ist. Die Schaffung neuer Straftatbestände bzw. die Ausdehnung von als sanktionswürdig erachtetem Verhalten auf Bereiche bloßer Vorbereitungshandlungen, die Zunahme von Gefährdungsdelikten 82, die Erhöhung der Strafandrohungen in einzelnen Bereichen 83 und nicht zuletzt die Gesetze zur Bekämpfung als kriminell erachteter Erscheinungsformen 84 sind nur zum Teil als Reaktion
79
Siehe auch noch OLG Hamm, NJW 1971, 1904.
80
Siehe dazu sogleich unter 5.
81
Dazu sind auch die Bestrebungen, polizeiliches Handeln von der Voraussetzung des Gefahren- und Tatverdachts zu lösen, zu rechnen, wenngleich diese nur zum Teil Niederschlag in der Strafprozessordnung finden; vgl. Köhler, ZStW 107 (1995), 11 mit weiteren Nachweisen. 82
Vgl. etwa §§ 223 Abs. 2, 265 StGB jeweils i.d.F. des 6. StrRG v. 26.1.1998 (BGBl. I, 164). 83 Z.B. durch das „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität" v. 15.7.1992 (BGBl. I, 1302); dazu kritisch Endriß/Male/c, BtM-Strafrecht, Rn. 18, 24a und 25 ff. 84 Neben dem „OrgKG" das „Verbrechensbekämpfungsgesetz" v. 28.10.1994 (BGBl. I, 3186); „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Strafta-
32
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
auf die tatsächliche Zunahme von Risiken zu verstehen. 85 Vielmehr scheint sich das Verständnis von individueller Freiheit gewandelt zu haben, nämlich durch zunehmende Betonung des Gedankens, Freiheit durch Sicherheit schaffen zu können und zu wollen. Einige Bedeutung dürfte dabei das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung haben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn innere Sicherheit zunehmend als präventive Aufgabe verstanden wird, die immer weitreichendere Bedeutung gerade im Bereich strafprozessualer Ermittlungsmethoden bekommt.86 Auch insofern scheint das zugrundeliegende Konzept sich mehr und mehr auf Abschreckung durch erhöhtes Entdeckungsrisiko zu verlagern. Nicht von der Hand zu weisen ist auch, dass der Steigerung von Ängsten unter gleichzeitigem Anbieten eines Konzepts zur Bekämpfung der tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung eine taktisch-politische Dimension zukommt. 87 Soweit die vom Gesetzgeber geschaffenen Möglichkeiten Anwendung in der Praxis finden, entspricht das der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG und ist daher Ausdruck des Rechtsstaates. Auffallend ist es aber, wenn Gerichte sich zuweilen zu einer extensiven Auslegung ohnehin weitgefasster Tatbestände verpflichtet sehen. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung des zweiten Senats zur Strafbarkeit der Annahme von (Wahl-)Verteidigerhonorar in Kenntnis der (höchstwahrscheinlich) deliktischen Herkunft des Geldes.88 Auch in
ten" v. 28.1.1998 (BGBl. I, 160); „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität" v. 4.5.1998 (BGBl. I, 845); „Strafverfahrensänderungsgestz 1999" v. 2.8.2000 (BGBl. I, 1253); „Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus" v. 14.12.2001 (BGBl. I, 361). 85 Zu der symbolischen Bedeutung legislatorischer Tätigkeit siehe Eisenberg, Kriminologie, § 23 Rn. 6 ff. 86
Kritisch auch Lisken in Lisken/Denninger, Hdb. PolizeiR, C Rn. 97 f f
87
Beispielhaft lässt sich der Begriff der „Organisierten Kriminalität" anführen, dem insbesondere seine Unschärfe und mangelhafte empirische Fundierung vorgeworfen wird. Vgl. dazu Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1998, 87 f.: „Die besondere Gefährlichkeit der Organisierten Kriminalität wird mangels zuverlässiger Fakten ... gerade damit begründet, dass man wenig von ihr wisse." Zu den vergleichsweise niedrigen Zahlen selbst auf der Ebene polizeilicher Ermittlungen vgl. BKA, Jährliches Lagebild OK. 88
BGH, NStZ 2001, 535. Nach eigenem Verständnis sieht der Senat zu einer „teleologischen Reduktion" der Norm bzgl. Strafverteidigern keinen Anlass. Zutreffend ist, dass der Wortlaut des § 261 Abs. 1 StGB die Verurteilung trägt. Allerdings wird das Ergebnis nur durch eine restriktive Interpretation sowohl der auf Art. 6 EMRK gründenden Verfahrensrechte des Beschuldigten sowie der Berufsfreiheit des Verteidigers erreicht. Eine Anwendung der Entscheidung auf andere privatrechtliche Rechtsverhältnisse hätte unabsehbare Folgen. Mit Betonung des standeswidrigen Verhaltens bei Annahme von Verteidigerhonorar „bemakelter" Herkunft wird zudem der Strafverteidiger in
I. Beweisgewinnung im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld
33
Fragen der strafprozessualen Informationsbeschaffung ist wenig Zurückhaltung der Gerichte zu erkennen, was sich exemplarisch an der Rechtsprechung zur Fernwirkung rechtswidriger Beweisgewinnung89, der Einschaltung privater Dritter unter Umgehung gesetzlicher Beweismethodenverbote 90 und der strafprozessualen Nutzung präventiv-polizeilich erlangter Kenntnisse91 festmachen lässt.92 Vereinzelt ist sogar das Bemühen einzelner Gerichte erkennbar, im Wege der Rechtsfortbildung kriminalpolitische Entwicklungen im Sinne einer Ausweitung vorhandener Aufklärungsmöglichkeiten vorwegzunehmen. 93 Nicht zuletzt zeigt sich die Veränderung des (nicht nur) „gerichtlichen Standpunktes" - wie bereits angedeutet - auch und gerade darin, dass bei Abwägung von Individualrechtsgütern und dem Eingriffszweck zunehmend der Schwerpunkt der menschenwürderechtlichen Betrachtung auf die Intention der strafprozessualen Wahrheitserforschung gelegt wird 9 4 : Obwohl anerkannt ist, dass die Achtung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG absolut und also jeglichem Eingriff in den Schutzbereich entzogen ist 95 , wird nunmehr offenbar in dem genannten Ziel ein Wert entdeckt, der der Annahme eines
die „Schmuddelecke" des - übrigens noch als unschuldig zu behandelnden - beschuldigten Mandanten verwiesen. 89 BGHSt 27, 255 (358); StV 1996, 185 m. abl. Anm. Köhlen kritisch auch Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 266, 476, 482. Für eine Negation der Fernwirkung wird im übrigen angeführt, dies sei zu einer „wirksamen Verbrechensbekämpfung" notwendig (BGHSt 34, 364). 90
In diesem Sinne BGH (GrS) St 42, 139 (149; [=NStZ 1996, 502 m. Anm. Rieß]) in der vieldiskutierten Hörfallenentscheidung, wo das Mithören als „kriminalistische List" angesehen wurde. Das könnte dahingehend missverstanden werden, der Senat habe die Umgehung von § 136 Abs. 1 S. 2 StPO letztlich als wünschenswerte Ermittlungsmethode anerkannt. 91
BGH, NStZ 1992, 44 f. mit Anm. Rogali ; NStZ 1995, 601 f. mit Anm. Welp.
92
Vgl. WYJKrehL
Einl. Rn. 2: Zumindest faktische Umwertung der Grundrechte.
93
Vgl. z.B. die BGHSt 34, 39 zugrundeliegende Entscheidung des OLG Düsseldorf betreffend das Mithören eines nichtöffentlichen Gesprächs zur Erlangung einer Stimmprobe aus dem Jahr 1983. 94 95
Siehe z.B. Verrei
Selbstbelastungsfreiheit, 227.
BVerfGE 6, 32 (41); E 80, 367 (373 f.); vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 413: „Mit Kennzeichnung der Menschenwürde als oberstem Wert in der freiheitlichen Demokratie [ist] zum Ausdruck gebracht, dass die anderen Verfassungsgrundsätze, auf die Art. 79 Abs. 3 Bezug nimmt, um der Menschenwürde willen bestehen. Auch scheiden sie daher zur Eingriffsrechtfertigung ausiehe" In diesem Sinne auch Kunig in: v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rn. 4; Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 30 sowie 31 mit Nachweisen zur Gegenansicht.
34
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
Menschenwürdeverstoßes grundsätzlich entgegenstehe.96 Demgemäß wird der Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG mehr und mehr restriktiv dahin ausgelegt, der Betroffene werde schon deshalb nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns degradiert, weil dieses Handeln im Hinblick auf Zweck und Auswahl der Mittel nicht missbräuchlich sei. 97 Auswirkungen hat das im Übrigen auch für das Verständnis des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare", der maßgeblich den Rechte- und Pflichtenkreis des Beschuldigten im Strafverfahren 98
begrenzt.
II. Weitere verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit § 81a StPO Die Verfassungsmäßigkeit von § 81a StPO ist seit jeher unter verschiedenen Gesichtspunkten in Zweifel gezogen worden. 99 Bemängelt wurde, die Norm verstoße gegen das Bestimmtheitsgebot100, die Unschuldsvermutung 101 und die Menschenwürde. 102 Von Gewicht ist auch die - neuerdings wiederholte - Ansicht, dass aus dem nemo tenetur-Grundsatz ein Verbot jeglicher zwangsweiser Untersuchung des Beschuldigten abzuleiten und dementsprechend § 81a StPO „systemwidrig" sei. 103 Die genannten Kritikpunkte werden im Folgenden zunächst nur kurz behandelt, da die Problemstellungen, die sich bezüglich der Selbstbelastungsfreiheit und damit einhergehend hinsichtlich der Menschenwürdegarantie - ergeben,
96
BVerfGE 30, 1 (26); E 47, 239 (247); Rogali NStZ 1998, 68; Benfer, JR 1998, 54: Grüner, JuS 1999, 123; kritisch dazu Neumann, FS Wolff, 383. 97 So Benfer, JR 1998, 54; a.A. Neumann, FS Wolff, 383. Für eine Anwendung der „Objektformel" nur auf den status activus des Betroffenen siehe hingegen BVerfGE 66, 313 (318) sowie Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 227 m. zahlr. Nachw. 98
Siehe dazu sogleich II. sowie ausführlich unten Kapitel 4. II. und III.
99
Schon während des Gesetzgebungsverfahrens ist die Auffassung vertreten worden, „die Zulassung des Untersuchungszwanges (bedeute) ... eine Einführung des Inquisitionsverfahrens und damit eine Überschreitung der Grenze, die in Art. 1 GG durch die Anerkennung der Würde des Menschen gezogen sei"; vgl. Sautter , AcP 161 (1962), 247 f. mit Nachweisen. 100
So vormals UUSarstedt, (21. Auflage 1962) § 81a Rn. 1.
101
Sax in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, 983 ff.
102
Rossmanith, Verfassungsmäßigkeit, 37; Sautter , AcP 161 (1962), 248, 259.
103
Vgl. schon Sautter , AcP 161 (1962), 247 ff.; Rossmanith, Verfassungsmäßigkeit, 80; sodann Kopf Genomanalyse, 158.
II. Verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit § 81a
35
erst im Zusammenhang mit der Brechmittelvergabe entwickelt und diskutiert werden. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich nicht zuletzt aus der zunehmenden Ablehnung der herkömmlichen Differenzierung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Duldung, die gerade bei den Fällen erzwungenen Erbrechens eine neue Brisanz erfahren hat.
1. Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot? Soweit zunächst auf die weitgehende Unbestimmtheit der in § 81a StPO verwendeten Begriffe hingewiesen worden ist 1 0 4 , hat es das BVerfG in der Entscheidung aus dem Jahre 1963 105 abgelehnt, daraus die Verfassungswidrigkeit der Norm zu folgern. Vielmehr sei es nichts Ungewöhnliches, „dass der Gehalt einer unvollkommen gefassten Vorschrift erst durch Auslegung unter Berücksichtigung ihres Zwecks (...) erschlossen werden muss". 106 Im Folgenden hat es die bereits oben aufgeführten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsabwägung formuliert (Schwere des Eingriffs auf der einen, Schwere der Beschuldigung sowie Stärke des Verdachts auf der anderen Seite). Im Übrigen obliege die Anordnung schwerer Eingriffe praktisch ausschließlich dem Richter, von dem das Gesetz erwarte, „dass er dieselbe spezifische richterliche Denkweise anwende (...) wie bei der Nachprüfung von Handlungen" der Verwaltungsbehörden. Diese Ansicht hat im Ergebnis überwiegend Zustimmung erfahren 107, wenn auch die Begründung als „schwächlich" bezeichnet worden ist. 108 Allerdings hat Kopf 09 hierzu zutreffend angemerkt, dass die Verlagerung der Problematik auf die Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht die Unbestimmtheit einer Norm beseitigen kann. Wenig überzeugend ist es allerdings, wenn etwa Dahsno die Bedenken gegen die Norm damit auszuräumen sucht, es werde nicht genügend beachtet, dass die Untersuchungen und körperlichen Eingriffe häufig genug dazu dienten, entlastende Umstände zu finden, wie etwa bei Untersu-
104
UUSarstedt, (21. Auflage 1962) § 81a Rn. 1. BVerfGE
106
Β VerfGE
16, 194 (200 ff.). 16, 194 (201 ); E 20, 150 ( 158); E 21, 73 (78).
107
LRJDahs, Rn. 3; SK-StPO/Rogali, Rn. 12 (jeweils zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1621 f. 108
Eb. Schmidt, MDR 1970, 461. In diesem Sinne auch LRJDahs, § 81a Rn. 3; Kopf, Genomanalyse, 174. 109
Genomanalyse, 174.
1,0
In: LR, §81aRn. 3.
36
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
chung des Beschuldigten auf seinen psychischen Zustand. Diese Argumentation lässt außer Acht, dass es zum einen dem Beschuldigten überlassen bleiben muss, was er im Hinblick auf eine mögliche Anordnung gem. §§ 63, 64 StGB fur sich als „entlastend" empfindet. Zum anderen dürfte es für die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm kaum eine Rolle spielen, ob sie auch vermeintlich positive Wirkungen haben kann. 111 Abgesehen davon, dass auch der Entlastung dienende Beweisergebnisse jedenfalls dann nur aufgrund eines Eingriffs gewonnen werden können, wenn der Betroffene mit der Durchführung der Maßnahme nicht einverstanden ist, ist entscheidend, dass körperliche Eingriffe in aller Regel zu Zwecken der Überführung des Beschuldigten, zumal im Ermittlungsverfahren, vollzogen werden. Es kann daher keinesfalls aus einem für den Beschuldigten möglicherweise positiven Untersuchungsergebnis, durch das etwa eine strafbare Handlung oder aber eine Täterschaft widerlegt würde, geschlossen werden, die der Überführung dienende Maßnahme sei rechtmäßig gewesen. Soweit Dahs anmerkt, oftmals könnten eindeutige, der Rechtssicherheit dienende Grenzziehungen zwischen straflosem und strafbarem Verhalten nur aufgrund körperlicher Untersuchungen erlangt werden, stellt sich allerdings die Frage, ob in diesen Fällen überhaupt der „Einstiegsgrad" des Anfangsverdachts i.S.v. § 152 Abs. 2 StPO erreicht ist. Die Gestattung der Anordnung einer körperlichen Untersuchung oder sogar eines Eingriffs mit dem Ziel festzustellen, ob überhaupt eine Straftat vorliegt, würde den Spielraum vorbeugender Ermittlungen unverhältnismäßig auf Kosten individueller Rechtsgüter ausdehnen. Aber auch die weiteren kriminalpolitischen Erwägungen begegnen Bedenken 112 : Auch wenn, wie bereits dargestellt wurde, die Abwägung zwischen Individualrechtsgütern und Belangen einer wirksamen Strafverfolgung 113 zunehmend zugunsten letzterer ausfällt, bleibt es doch dabei, dass jede Form hoheitlicher Eingriffe seine Grenze in dem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG findet und darüber hinaus im Verhältnis zu ihren Wirkungen stehen muss. Nicht zuletzt diese Gedanken kommen insbesondere in § 136a StPO unbedingt
111
Zu bedenken ist auch, dass das Untersuchungsergebnis bei Anordnung der Maßnahme naturgemäß nicht feststeht. Insofern könnte ohnehin erst im Anschluss festgestellt werden, ob es tatsächlich entlastend ist. 112
Kritisch gegenüber einer Anwendung und Auslegung entsprechend den Bedürfnissen der Praxis auch Kopf Genomanalyse, 175. 113
Bemerkenswert ist allerdings, dass Dahs (in: LR, § 81a Rn. 3) auf Belange der „Rechtssicherheit" abstellt, die nur einen Teilaspekt der Ziele von Strafverfolgung ausmachen. Was letztlich gemeint ist, bleibt offen, denn Rechtssicherheit könnte auch dadurch gewahrt werden, dass körperliche Untersuchungen gänzlich untersagt würden und damit das verfolgte Verhalten straflos bliebe; dass dies im Hinblick auf als schützenswert erachtete Rechtsgüter unerwünscht ist, ist keine Frage der Rechtssicherheit.
II. Verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit § 81a
37
zum Ausdruck. Wenn demgegenüber die Zulässigkeit von Eingriffen mit ihrer Effektivität und ihrem Nutzen für die strafprozessuale Wahrheitsermittlung an sich lu begründet wird, bleiben die Auswirkungen für den Betroffenen ebenso unberücksichtigt, wie der mit der Maßnahme konkret verfolgte Zweck. Das aber bedeutet im Ergebnis die Negation jeder konkreten Verhältnismäßigkeitsabwägung. Im Ergebnis ist daher zu konstatieren, dass die Problematik der Bestimmtheit im Hinblick auf § 81a StPO bislang nicht überzeugend gelöst worden ist. Die durch die sogenannte „Wesentlichkeitsrechtsprechung" des BVerfG seither formulierten Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Ermächtigungsgrundlagen 113 lassen es mehr denn je notwendig erscheinen, dass der Gesetzgeber insoweit tätig wird. Auch wenn nicht zu übersehen ist, dass ein Ermessensspielraum des Rechtsanwenders unumgänglich und sinnvoll ist, handelt es sich gerade im Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG doch um eine sensible Materie. Denkbar wäre insoweit etwa die Formulierung eines Straftatenkatalogs für Eingriffe, die in ihrer Intensität über die bloße Blutprobenentnahme hinausgehen oder auch die Konkretisierung der Verdachtsanforderungen.
2. Verstoß gegen die Unschuldsvermutung? Vor allem Sax ] 1 6 hat aufgrund eines Vergleiches der durch § 81a StPO mit denen durch § 81c StPO zugelassenen Eingriffe den Schluss gezogen, die erstgenannte Vorschrift stelle einen „handgreiflichen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung" des Art. 6 Abs. 2 MRK dar. Zur Begründung hierfür bezieht er sich auf den Tatverdacht, soweit dieser zu stärkeren Eingriffen als bei Unverdächtigen berechtige. Demgemäß trage jeder Eingriff, der über eine Blutprobenentnahme hinausgeht, die Vermutung der Schuld des Betroffenen in sich. Das BVerfG ist in der besagten Entscheidung auf diesen Punkt nicht weiter eingegangen, obwohl es ihn selbst anspricht. 117 Allerdings geht es im Er-
114
Der Rekurs auf Belange der „Rechtssicherheit" ist gerade geeignet, ein Abwägungskriterium zu liefern, das sich vom konkreten Fall abhebt, denn hierbei handelt es sich um einen übergeordneten Zweck, der völlig unabhängig von der Schwere der mutmaßlichen Tat oder auch dem Gewicht des betroffenen Rechtsguts ist. 115
Vgl. nur BVerfGE 49, 89 (126 f.): „Heute ist es ständige Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, - losgelöst vom Merkmal des „Eingriffs" - in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, ... alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen." 116
In: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, 986.
117
BVerfGE
16, 194 (200).
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
38
gebnis zutreffend davon aus, dass die von Sax geäußerten Bedenken nicht durchgreifen. Entscheidend ist nämlich, dass auch unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung Strafverfolgungsmaßnahmen naturgemäß dann zulässig sind, wenn und soweit sie erst den Tatvorwurf klären sollen. 118 Damit allein kommt ihnen noch kein Sanktionscharakter zu. Vielmehr knüpft § 81a StPO gerade nicht an den Begriff der Schuld sondern an den des Verdachts an. Gegenüber § 81c StPO wird insofern nur zum Ausdruck gebracht, dass der Verdächtige gegenüber dem Unverdächtigen Eingriffe von erhöhter Intensität hinnehmen muss, weil die Wahrscheinlichkeit, bei ihm relevante Beweismittel zu finden größer ist, als bei einem Unverdächtigen. Insofern korrespondiert die „erhöhte Aufopferungspflicht" des Beschuldigten mit der Strafaufklärungspflicht des Staates.119 Dass der Beschuldigte dann nicht mehr hinzunehmen hat als jeder andere auch, wenn die Wahrscheinlichkeit der Beweiserlangung bei ihm nicht größer ist, steht dabei außer Frage. Allerdings ist das als Aspekt der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zu prüfen. 120
I I I . Zur Entstehungsgeschichte der Norm Die Berücksichtigung von Entstehung und Anpassung der Norm an das nachkonstitutionelle Recht gebietet sich deshalb, weil die mit § 81a StPO verbundenen Problemstellungen in besonderem Ausmaß der Rechtsentwicklung unterliegen. Wenn daraufhingewiesen wird, dass „nicht wenige (...) die gegen den Willen des Beschuldigten durchgeführte Verabfolgung von Brechmitteln für ohne weiteres zulässig (hielten)" 121 , lassen sich daraus nur beschränkt Schlüsse für die heutige Rechtslage ziehen: Zum einen hat sich das Grundrechtsverständnis seit 1945 radikal geändert 122, zum anderen ist insbesondere die Problematik der Reichweite des „nemo tenetur-Grundsatzes" erst mit dem sog. „Gemeinschuldnerbeschluss" des Bundesverfassungsgerichts 123 wieder 124
118
Kopf Genomanalyse, 171 f.
119
Neumann, FS Wolff, 391.
120
Vgl. Neumann, FS Wolff, 391.
121
Rogali , NStZ 1998, 66.
122
Vgl. nur BVerfGE 6, 32 (36 f.); £ 7, 198 (204 ff.); E 65, 1 ff. sowie die Stellung der Grundrechte im GG gegenüber ihrer Position in der WRV. 123 124
BVerfGE
56, 37 ff.
Allerdings waren auch schon während des Gesetzgebungsverfahrens 1950 Zweifel an der Vereinbarkeit von § 81a StPO mit der Verfassung aufgetaucht. Siehe dazu sogleich unten.
III. Zur Entstehungsgeschichte der Norm
39
verstärkt ins Blickfeld der Diskussion geraten 125. Der Wille des (vorkonstitutionellen) Gesetzgebers kann demgemäß gegenwärtig nur noch eine eingeschränkte Rolle spielen. 126 Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher im Wesentlichen auf die Nennung der historischen Eckdaten. Vor Einführung einer gesetzlichen Regelung für körperliche Untersuchungen bzw. körperliche Eingriffe von Beschuldigten und tatunverdächtigen Personen bestand zwar weitgehende Einigkeit darüber, dass jedenfalls Untersuchungen gestattet sein müssten, nicht aber unter welche Anforderungen diese zu stellen wären. Vor allem in der Rechtsprechung wurden die Vorschriften über die Durchsuchung (§§ 102, 105 StPO) angewendet127, in weiten Teilen der Literatur dagegen die über den Augenschein.128 Eine weitere Ansicht kombinierte beide Ansätze. 129 Überwiegend für unzulässig erachtet wurden hingegen Blutprobenentnahmen und andere körperliche Eingriffe. § 81a StPO selbst wurde durch Art. 2 Nr. 4 des „Ausführungsgesetzes zu den Gesetzen gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" (AGGewVerbrG b0 ) vom 24. 11. 1933 eingefügt. Damit wurde der Streit um die Anordnungsvoraussetzungen entschieden. Auch körperliche Eingriffe zu Zwecken der Strafverfolgung waren nunmehr generell gestattet, wobei die Vorschrift ursprünglich körperliche Untersuchungen sowohl von Beschuldigten als auch von anderen Personen umfasste. Blutproben durften im Unterschied zur heutigen Rechtslage auch durch andere Personen als Ärzte entnommen werden. Immerhin war damit ein Schritt im Dienste der Rechtssicherheit getan, da sich nunmehr - im Vergleich zu vorher - rechtswidrige Übergriffe von zulässigen Eingriffen prinzipiell unterscheiden ließen. Spezifisch nationalsozialistisches Gedankengut ist in der Vorschrift nicht enthalten (sieht man von der Bezeichnung „Gewohnheitsverbrechergesetz" ab). Auf dem Boden des Grundgesetzes erhielt die Norm durch das „Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit" vom 12. 9. 1950 131 sowie Art. 4 Nr. 10 des 3. StRÄndG 132 vom 4. 8. 1953 ihre heute gültige Fassung, indem die körperlichen Untersuchungen und Eingriffe bei tatunverdächtigen Personen geson125
Zu Nachweisen siehe SK-StPO ! Rogali, vor § 133 Rn. 66 und 130; Verrei , NStZ 1997, 361 und 364. 126
Kritisch insoweit auch Dalimeyer (KritV 2000, 256), der allerdings zu weitgehend jeden Rekurs auf den gesetzgeberischen Willen abzulehnen scheint. 127
RGSt 14, 189; St 42, 440.
128
Vgl. UUDahs, § 81a Rn. 1 m.Nachw.
129
Beling, ZStW 15 (1895), 508.
130
RGBl. I, 1000.
131
BGBl. I, 629.
132
BGBl. I, 735.
40
Kapitel 1 : Verfassungsrechtlicher Hintergrund
dert geregelt und nunmehr auch die Entnahme von Blutproben ausschließlich ärztlichem Sachverstand anvertraut wurden. 133 Die Verfassungsmäßigkeit von § 81a StPO wurde von vorneherein bezweifelt. Schon in den Beratungen im Bundestag vertraten verschiedene Abgeordnete die Auffassung, die Vorschrift führe das Inquisitionsverfahren wieder ein und verstoße daher gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit. lj4 Dieser Standpunkt vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen.
133
Die Notwendigkeit, eine Regelung für den Verbleib des erlangten Materials zu treffen, wurde naturgemäß erst im Zusammenhang mit der Möglichkeit von Genomanalysen gesehen: Absatz 3 wurde erst durch das Strafverfahrensänderungsgesetz vom 17.3.1997 (BGBl. I, 534) an die Norm angefügt. 134 Siehe die Abgeordneten Dr. Reismann, Dr. v. Bretano, Dr. Etzel in: Verhandlungen des Dt. Bundestages, 79. Sitzung vom 26.7.1950, 907.
Kapitel 2
Materielle Voraussetzungen I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2 Auf die Besonderheiten körperlicher Eingriffe als Mittel der Informationsbeschaffung im System strafprozessualer Zwangsmaßnahmen wurde bereits eingegangen. Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung auf die inhaltlichen Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage, wobei zunächst ein Überblick über den Anwendungsbereich gegeben wird.
1. Anwendungsbereich von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO Seinen unzweifelhaft größten Anwendungsbereich hat § 81a StPO in der Blutentnahme zwecks Bestimmung des Blutalkoholwertes in Verkehrsstrafsachen. Verlässliche Daten über die Anwendungshäufigkeit sind wegen der Normalität dieses Vorgangs allerdings nicht zu erlangen. Sie dürften außerordentlich hoch sein. 135 Daneben gewinnen körperliche Eingriffe zur Durchführung von DNA-Analysen gem. §§ 8le, 81g StPO im Windschatten des medizinischen Fortschritts zunehmend an Bedeutung. Weiterhin ist die Norm Grundlage für Röntgen- und sonstige Untersuchungen zur Feststellung von Inkorporierten Drogencontainern in Fällen internationalen Schmuggels. Als weitere Beispiele körperlicher Untersuchungen bzw. Eingriffe werden zudem u.a. genannt: Phallographie 136 , Liquorentnahme 137, Hirnkammerlüftung 138 , Angiographie 139 , Ver-
135 Die PolSt weißt keine Daten bezüglich eingeleiteter Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Straftat im Straßenverkehr wegen Trunkenheit (§§ 315c Abs. 1 S. 1 Nr. la, 316 StGB) aus. Jedoch sind laut Verkehrsunfallstatistik in den Jahren 1994, 1996, 1998 7,3%, 8,1 % sowie 6,9% aller Verkehrsunfälle auf Alkoholeinfluss zurückgeführt worden (VerkehrsUnfallSt, jew. Tab. 6.1; Eisenberg, Kriminologie, § 46 Rn. 17). 136 Messung der körperlichen Reaktion männlicher Untersuchungspersonen auf sexuelle Reize; nach nahezu einhelliger Auffassung unzulässig wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde, vgl. nur Eisenberg, BewR, Rn. 1640 mit weiteren Nachweisen.
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
42
gäbe von Abführmitteln und Magenaushebung 1 4 0 , Entnahme von U r i n mittels Katheter zum Nachweis des Intoxikationszustandes aufgrund einer Einnahme von Drogen oder Medikamenten 1 4 1 , Computertomographie und andere röntgendiagnostische Verfahren sowie Szintigraphie 1 4 2
a) Der persönliche
Anwendungsbereich:
Der Begriff des Beschuldigten
aa) Die Ambivalenz des Beschuldigtenstatus N u r der Beschuldigte ist Adressat von Maßnahmen gemäß § 81a StPO. Andere Personen als Beschuldigte dürfen Eingriffen in ihre körperliche Integrität zu Zwecken der Strafverfolgung nur unter den Voraussetzungen von § 81c StPO unterworfen werden. Der Beschuldigte ist die „Zentralgestalt des Strafprozesses". 143 Er kann zahlreichen Eingriffen und Zwangsmaßnahmen unterworfen werden und sogar
137 Nach BVerfGE 16, 194 ff. und der h.L. (statt vieler: SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 46; Meyer-Goßner, § 81a Rn. 22) nicht schlechthin unzulässig (a.A. Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 174; Malek/Rüping, Zwangsmaßnahmen, Rn. 179; HK/Lemke, § 81a Rn. 17), jedoch nur bei schweren Straftaten und dringendem Tatverdacht. 138
Sie dient der röntgenologischen Kontrastdarstellung der Hirnventrikel zur Feststellung der Gehirnmasse oder von Asymetrien des Gehirnsiehe Aufgrund ihres geringen diagnostischen Wertes und der hohen Gefahr von Nebenfolgen muss die Maßnahme als unzulässig - jedenfalls aber überflüssig - eingestuft werden, zumal sie unproblematisch durch die Computertomographie ersetzt werden kann, vgl. SK-StPO//toga//, § 81a Rn. 50 mit zahlreichen Nachweisen. 139
Röntgenologische Darstellung der Hirngefäße nach Einspritzung eines Kontrastmittelsiehe Wegen der Gefahr von Komplikationen wird dieser Eingriff überwiegend für unzulässig erachtet, vgl. KMR7Paulus, § 81a Rn. 25. 140
Beide Eingriffe werden allgemein als zulässig angesehen; siehe näher unten Kapitel 3.1. 3. 141 Wegen der Gefahr einer Infektion und Schmerzhaftigkeit des Eingriffs wird die Maßnahme vor allem in der wissenschaftlichen Literatur als generell unzulässig eingestuft bzw. nur zur Aufklärung schwerster Straftaten zugelassen. Dagegen hält das BVerfG (NStZ 1983, 482; ebenso Kühne, Strafprozesslehre, Rn. 237; SK-StPO /Rogali, § 81a Rn. 44) die Urinentnahme mittels Katheter für generell zulässig. 142 Szintigraphie ist ein nuklearmedizinisches, bildgebendes Verfahren zur Darstellung von Organen unter Verwendung von Radionukleiden oder Radiopharmaka. Alle drei Maßnahmen werden allgemein als zulässig angesehen, vgl. SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 49, 51. 143
Siehe nur Roxin, Strafverfahrensrecht, § 18 und § 25.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
43
Beweismittel gegen sich selbst sein. 144 Gerade deshalb ist es im Hinblick auf seine durch Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG garantierte Verfahrenstellung als Prozesssubjekt 1 4 5 unerlässlich, ihn mit Verteidigungsrechten auszustatten und deren uneingeschränkte Inanspruchnahme in jeder Verfahrenslage sicherzustellen. Die Inkulpation ist also einerseits „Kriegserklärung", andererseits rechtsbegründender Akt. Eine Definition des „Beschuldigten" enthält das Gesetz nicht, setzt ihn aber verschiedentlich voraus (vgl. nur § 157 StPO sowie die Überschrift des zehnten Abschnitts). Die nach wie vor geführten Auseinandersetzungen um den Begriff betreffen in erster Linie die Frage nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Beschuldigteneigenschaft und damit der hieran geknüpften Verteidigungsrechte. 1 4 6 Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei sicherlich das umfassende Schweigerecht des Beschuldigten gemäß §§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 4 StPO. Es bedarf nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass die ermittelnden Beamten des Polizeidienstes im Zweifel geneigt sein werden, in der potentiellen Auskunftsperson so lange als möglich einen bloßen Zeugen zu sehen, um die obligatorische Belehrung hinauszuschieben.147 Der Grat ist allerdings schmal: Eine unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommene Aussage des Beschuldigten ist immer dem Risiko ihrer Unverwertbarkeit ausgesetzt.148 Diese Problematik hat im Anwendungsbereich von § 81a StPO als Zwangsmaßnahme zunächst keine Entsprechung, denn sie betrifft die Frage nach Existenz und Ausgestaltung einer Inkulpations/?/7/c/tf. 149 Demgegenüber fungiert der Beschuldigte hier nicht als Auskunftsperson sondern als Augenscheinsobjekt150, so dass - unbeschadet bestehender Differenzen im Einzelnen 151 - ohnehin spä-
144
Grundlegend Rogali, 1977, 20 ff.; siehe auch SK-StPO/Rogali, vor § 133 Rn. 62; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 1; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 86. 145
Allgemeine Ansicht, vgl. nur Finche , ZStW 95 (1983), 918.
146
Vgl. BGHSt 37, 49 (51 f.); Rogali, 1977, 24 ff.; ders., Anm. zu BGH, NStZ 1997, 398 f.; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 76 f f ; Eisenberg, BewR, Rn. 505; Finche, ZStW 985 (1983), 919 ff.; Volk, Strafprozessrecht, § 9 Rn. 2. 147
Siehe dazu auch BGH, NStZ 1997, 397 f. m. zust. Anm. Rogali; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 110; Gusy, Anm. zu BVerfG, JZ 1996, 1177. 148
BGHSt 38, 214 f f ; Volh, Strafprozessrecht, § 9 Rn. 2.
149
Soweit ersichtlich ist der Begriff der Inkulpation zuerst von Finche (ZStW 985 [1983], 919) in das deutsche Strafprozessrecht eingeführt worden. Damit wird ein Prozessakt bezeichnet, dem die Funktion zuwächst, „den Prozessgegenstand fur das aufgewertete Ermittlungsstadium festzulegen". 150 Insoweit ist der Beschuldigte auch Beweismittel im technischen Sinn; so zutreffend Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 2. 151
Siehe dazu sogleich unten bb).
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
44
testens die Anordnung der Untersuchung bzw. des Eingriffs den Statuserwerb herbeifuhrt. 152 Dennoch bleibt die Frage offen, wann frühestens ein Inkulpationsrecht der Strafverfolgungsbehörden entsteht und welche Folgen an eine insoweit rechtswidrige Anordnung geknüpft sind. 153
bb) Beschuldigter und Tatverdacht Geeignet, die Beschuldigtenstellung zu begründen, sind zunächst nur Strafverfolgungsmaßnahmen, nicht hingegen solche, die dem Bereich der präventivpolizeilichen Tätigkeit zugeordnet werden, auf Verhütung von Straftaten gerichtet sind oder erst der Verdachtsgewinnung dienen (Vorfeldermittlungen, vorbeugende Verbrechensbekämpfung). 154 Sie leiten kein Ermittlungsverfahren ein, denn ihnen liegen keine „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte" im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO zugrunde; es fehlt an Erkenntnissen über eine konkrete Straftat. Der in den §§152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO zum Ausdruck kommende Legalitätsgrundsatz verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden nicht nur bei Vorliegen eines sog. Anfangsverdachts einzuschreiten, also zu ermitteln. Er untersagt zugleich die konkret-repressive Tätigkeit, wenn keine „zureichenden tatsächli-
152
BGHSt 38, 214 (228); BGH, NStZ 1997, 398 f. m. Anm. Rogali LRJHanack § 136 Rn. 4; Eisenberg, BewR, Rn. 505; Rogali, 1977, 31; Volk., Strafprozessrecht, § 9 Rn. 3. Siehe aber Fincke, ZStW 95 (1983), 951, nach dessen Auffassung keine Zwangsmaßnahmen existieren, die generell inkulpativ wirken. 153 Auswirkungen hat der Streit um eine Inkulpationspflicht auf die Blutprobenentnahme im Rahmen der hier nicht weiter interessierenden sog. „Massenverfahren": Da der Kreis „potentiell Verdächtiger" (vgl. BVerfG, NJW 1996, 1587) für eine generelle Inkulpation in der Regel zu groß ist und sich ein Tatverdacht auch nicht aus der Weigerung Einzelner zu einer freiwilligen Blutprobenentnahme herleiten lässt (BVerfG, NJW 1996, 1588), ist vorstellbar, dass die Anforderungen von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO dadurch umgangen werden, dass eine entsprechende Anordnung auf Grundlage von § 81c Abs. 2 S. 1 erfolgt. Das diese Sorge nicht völlig unbegründet ist, zeigt etwa die Begründung der in dem Fall von BVerfG NJW 1996, 1587 erkennenden Schwurgerichtskammer, nach der die Verwertbarkeit des Untersuchungsergebnisses aus § 81c Abs. 2 StPO folge. Demgegenüber erscheint es angebracht, den Anwendungsbereich von § 81 c Abs. 2 StPO auf Personen zu begrenzen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Täter gerade nicht in Betracht kommen. 154
Für die Klassifikation dieser Maßnahmen als präventiv Eisenberg, Kriminologie, § 27 Rn. 20; Lisken in: Lisken/Denninger, Hdb. PolizeiR, D Rn. 10; a.A. Weßlau, Vorfeldermittlungen, insbesondere 28 ff, 105 f f : „antizipierte Strafverfolgung".
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
45
chen Anhaltspunkte" bestehen.155 Insofern erscheint der Tatverdacht als notwendige Bedingung der Beschuldigteneigenschaft. 156 Sogar dort, wo Ermittlungsmaßnahmen keinen Beschuldigten voraussetzen (z.B. §§ 98a, 111, 163d StPO) 157 , ist der Tatverdacht im Erkenntnisverfahren gleichsam anstelle der Schuldfeststellung die entscheidende Eingriffsgrundlage. 158 Beide Begriffe stehen damit in einem Abhängigkeitsverhältnis voneinander: Weder ist eine Definition des Beschuldigtenbegriffs denkbar, die nicht den des Tatverdachts bemüht, 159 noch können die Anforderungen an die Einleitung eines (personenbezogenen) Ermittlungsverfahrens ohne Berücksichtigung der mit der Beschuldigtenstellung verbundenen Rechtsposition bestimmt werden. In diesem Sinne trifft es zu, wenn der Beschuldigtenstatus als „Produkt eines Zuschreibungsprozesses" bezeichnet wird. 1 6 0 Dennoch ist der Verdacht nicht Merkmal des Beschuldigtenbegriffs sondern lediglich Zulässigkeitsvoraussetzung der Inkulpation. 161 Er ist nicht notwendig für die Beschuldigteneigenschaft, weil der tatsächlich Unschuldige nicht weniger schutzwürdig ist, als der berechtigt Verfolgte; im Gegenteil erscheint ersterer in erhöhtem Maße auf Verfahrensgarantien angewiesen zu sein. 162 Der Verdacht ist aber auch nicht hinreichend für den Statuserwerb, wie dies von einer
155
Sog. „Limitierungsfunktion", vgl. Eisenberg, BewR, Rn. 506; ders./Conen, NJW 1998, 2241; LR/Rieß, § 152 Rn. 22; Hund, ZRP 1991, 463. Seine materiellrechtliche Absicherung findet das Legalitätsprinzip dabei v.a. in § 258a StGB (Strafvereitelung im Amt) einerseits und § 344 StGB (Verfolgung Unschuldiger) andererseits, seine verfahrensrechtliche in § 172 StPO. 156 Meyer-Goßner, Rn. 2; LR/Rieß, Rn. 22; KMR/Müller, Rn. 5 (alle zu § 152); Weßlau, Vorfeldermittlungen, 40. 157 Siehe dazu Walder, ZStW 95 (1983), 868, der zutreffend daraufhinweist, dass die Ermittlungstätigkeit zunächst nur einen Tatverdacht voraussetzt, der sich jedoch nicht auf eine bestimmte Person als Täter beziehen muss. 158 Lohner, Tatverdacht, 17; Walder, ZStW 95 (1983), 866: „Der Verdacht einer Straftat ist...conditio sine qua non für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens überhaupt." 159
Lohner, Tatverdacht, 23.
160
Vgl. Eisenberg, BewR, Rn. 505.
161
Fincke, ZStW 95 (1983), 919.
162
Dies verkennt Benfer, JR 1998, 53 f., wenn er in schwer nachzuvollziehender Weise zu differenzieren sucht zwischen der Situation, dass der Eingriff den Nachweis der Straftat selbst erst bringen und derjenigen, dass er die Überführung ermöglichen soll. Diese Unterscheidung berücksichtigt nicht hinreichend, dass das Ermittlungsverfahren nicht auf dem sicheren Wissen von Tat und Täterschaft basiert sondern naturgemäß auf dem Verdacht.
46
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
„objektiven" Auffassung vertreten worden ist. 163 Mit Blick auf die §§ 55, 60 Nr. 2 StPO wird dieser Ansatz von der h.M. zu Recht verworfen. 164 Da das Gesetz neben dem Beschuldigten auch einen „tatverdächtigen Zeugen" kennt, muss die Inkulpation maßgeblich von dem - nach außen tretenden 165 - Willen der Strafverfolgungsbehörden abhängig sein, gerade den Betroffenen in dem konkreten Ermittlungsverfahren zu verfolgen. 166 Dies entspricht dem Rechtsgedanken von § 397 Abs. 1 AO, wonach ein Steuerstrafverfahren für eingeleitet erklärt wird, sobald eine zuständige Behörde eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat vorzugehen. 167 Bei Vorliegen entsprechender Verdachtsgründe steht den Strafverfolgungsbehörden zwar kein Ermessensspielraum bezüglich der Frage des Einschreitens, wohl aber hinsichtlich der Inkulpation zu. Erst bei starkem Verdacht erwächst das Inkulpationsrecht zur Pflicht. 168
cc) Kriterien der Verdachtsbegründung Grundsätzlich ist die Frage der Verdachtsbildung mit zahlreichen Problemstellungen verbunden, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht vertieft werden können. Es wird daher im Folgenden nur ein kurzer Überblick gegeben, wobei schon vorab auf das besondere Gewicht der Subjektivität für die Verdachtsbegründung hingewiesen wird.
163 So Peters, Strafprozess, 201; Grünwald, Beweisrecht, 78; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 43. 164
Vgl. BGHSt 10, 8 (10 ff); St 34, 138 (140); OLG Frankfurt, NStZ 1988, 485 f.; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 76; LR/Hanack, § 136 Rn. 4; Eisenberg, BewR, Rn. 505; Rogali, 1977, 22; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 111; Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, 25 f f ; Fincke, ZStW 95 (1983), 919 f.; i.E. auch von Gerlach, NJW 1969, 779 f. 165 Soweit die Anordnung der Untersuchungsmaßnahme auf einen Antrag der StA erfolgt (§ 162 StPO), ist hierin der Inkulpationsakt zu sehen; vgl. Fincke, ZStW 95 (1983), 940. 166
A.A. Montenbruck, ZStW 89 (1977), 880, der aus § 60 Nr. 2 StPO herleiten will, dass derjenige, der sich während seiner Vernehmung selbst belaste oder sonst in Verdacht gerate, nicht mehr als Zeuge zu behandeln sei. Dagegen zutreffend Rogali NJW 1978, 2536; Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, 26 f. 167
Sogenannte „gemischt subjektiv-objektive Theorie' 1, vgl. Rogali Anm. zu BGH, NStZ 1997, 398. 168
BGHSt 37, 48 (51 f.); NStZ 1997, 397 f. m. zust. Anm. Rogali Gusy, Anm. zu BVerfG, JZ 1996, 1177; a.A. Fincke, ZStW 95 (1983), 935 f. und Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, 8 f f , die stattdessen einen Beurteilungsspielraum annehmen, dabei aber die Verdachtsbegründung von der Inkulpation nicht differenzieren.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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(1) Allgemeines
§ 81a StPO stellt seinerseits keine besonderen Anforderungen an den vorausgesetzten Verdachtsgrad. Es genügt daher - ungeachtet sich aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergebender Abweichungen 169 - ein sogenannter „Anfangsverdacht" im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO. Zuständig für die Feststellung des Vorliegens zureichender Anhaltspunkte sind in Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Verdacht" nach pflichtgemäßer Beurteilung 170 die StrafVerfolgungsbehörden. 171 Allerdings ist in diesem Bezug daraufhinzuweisen, dass in aller Regel die Beamten des Polizeidienstes faktisch den (über § 163 Abs. 1 StPO hinausgehenden) „ersten Zugriff 4 nehmen und - entgegen § 163 Abs. 2 S. 1 StPO - „ihre Verhandlungen" erst nach Abschluss der eigenen Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft übersenden. 172 Damit obliegt ihnen rechtstatsächlich jedenfalls in den Bereichen der kleinen und ggf. sogar mittleren Kriminalität die maßgebliche Definitionsmacht. 173 Obwohl die Beamten des Polizeidienstes gemäß § 170 Abs. 1 StPO nicht zur Verfahrenseinstellung befugt sind, kommt es insbesondere bei Anzeigenaufnahmen z.T. aus sachfremden Erwägungen gar nicht erst zu einer Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Auch in diesen Fällen müsste demgemäß nach § 163 Abs. 2 StPO verfahren werden. 174 Der Anfangsverdacht hat nicht nur Bedeutung für die Einleitung des Strafverfahrens überhaupt, sondern auch für den Umfang der Ermittlungstätigkeit. 175 Damit kommt ihm auch eine Abgrenzungsfunktion zu den Bereichen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung und der Gefahrenabwehr zu. 1 7 6 Im Übri169
BVerfGE
16, 194 (202; E 17, 108 (117); Ell,
211 (218 f.); £ 4 7 , 239 (248).
170
H.M., vgl. nur BGHSt 37, 48 (51); Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4; LR/Hanack. €, § 136 Rn. 4; Eisenberg, BewR, Rn. 506; kritisch aber ders./Conen, NJW 1998, 2241 f. mit Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG. Gegen einen Beurteilungsspielraum Störmer, ZStW 108 (1996), 516. 171
Vgl. BGHSt 37, 48 (51); Finche, ZStW 95 (1983), 935; Eisenberg, BewR, Rn. 506.
172
Eisenberg, Kriminologie, § 27 Rn. 6; ders./Conen, NJW 1998, 2243; allg. zum Verhältnis von StA und Polizei siehe Schünemann, Kriminalistik 1999, 74 ff., 146 ff. 173
Schünemann, Kriminalistik 1999, 148: „Insgesamt ist der Einfluss der Polizei auf die Abschlussentscheidung des Staatsanwalts in der Praxis ... weitaus größer als dies nach der normativen Regelung der Strafprozessordnung ersichtlich ist"; allgemein dazu Feest/Blanhenburg, Definitionsmacht. 174
A.A. wohl Finche , ZStW95 (1983), 947.
175
Walder, ZStW 95 (1983), 872; vgl. dazu auch Nrn. 13-16 RiStBV.
176
Siehe dazu umfassend Weßlau, Vorfeldermittlungen; Warschho, Verbrechensbekämpfung, 33 ff., 110 ff.; Keller/Griesbaum, NStZ 1990, 416 f.; Hund, ZRP 1991, 464 ff.
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
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gen ist er auf Anhaltspunkte über verfolgbare Straftaten bezogen. Das setzt voraus, dass sich aus dem Wahrgenommenen überhaupt eine strafrechtliche Relevanz ergeben kann. 177 Hieraus verbietet sich von vornherein die (prozessual allerdings wirksame) Inkulpation Schuldunfähiger bzw. Strafunmündiger. 178 Auf allen Stufen der Verdachtsbegründung, die den Tatverdacht, den Tatverdächtigen sowie das Vorliegen etwaiger qualifizierter Anforderungen der Eingriffsgrundlage (z.B. das Vorliegen einer Katalogtat etc.) betreffen, handelt es sich um Wahrscheinlichkeitsurteile, wobei die Bemühungen, den Begriff einerseits für die Praxis handhabbar zu machen, andererseits größtmögliche Rechtssicherheit zu gewährleisten, letztlich darauf gerichtet sind, den Terminus der „zureichenden Anhaltspunkte" zu konkretisieren. 179
(2) Definitionsbemühungen Nach einer vor allem in der Kommentarliteratur häufig gebrauchten Definition soll unter Anfangsverdacht ein Zustand zu verstehen sein, in dem es konkrete Tatsachen als möglich erscheinen lassen, dass nach allgemeiner kriminalistischer Erfahrung eine Straftat vorliegt. 180 Nicht ausreichend hierfür seien bloße Vermutungen oder kriminalistische Hypothesen.181 Andere sehen die Staatsanwaltschaft immer dann nicht zum Einschreiten verpflichtet, wenn sie Kenntnis von möglichen, nicht von vorneherein völlig unglaubwürdigen Verdachtsgründen erhalte. 182 Damit im Einklang stehen bezüglich der Tatsache, dass ein Anfangs verdacht jedenfalls einen unter eine Strafhorm subsumierbaren Sachverhalt voraussetzt, die Aussagen, wonach es möglich bzw. nicht ausge-
177 Bereits bei dieser Schlüssigkeitsprüfung besteht zugunsten der Staatsanwaltschaft tatsächlich ein Beurteilungsspielraum, da es ihr frei steht, einen Sachverhalt, den sie entgegen höchstrichterlicher Rechtsprechung für strafbar erachtet, anzuklagen; vgl. Bruns, GS Kaufmann, 870. 178
OLG Hamm, NJW 1974, 914 f.; Eisenberg, StV 1989, 554 ff.; UUHanack, § 136 Rn. 6; Fincke, ZStW 95 (1983), 943 f . Eine Ausnahme besteht in engen Grenzen nur zwecks Altersbestimmung, vgl. Eisenberg, BewR, Rn. 507; Verrei NStZ 2001, 286. 179
Vgl. Eisenberg/Conen,
180
Meyer-Goßner, Rn. 4; YMYU Müller, Rn. 4; UURieß, Rn. 22 (jeweils zu § 152).
NJW 1998, 2243.
181
Enger LR/Rieß, § 152 Rn. 24: Nur offensichtlich haltlose oder unrichtige Umstände, wie etwa Angaben bekannter „Querulanten", seien zur Verdachtsbegründung ungeeignet. 182
KK/Schoreit,
§ 152 Rn. 29.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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schlossen erscheinen dürfe, dass sich die Tatsachengrundlage als wahr erweist. 183 Die höchstrichterliche Rechtsprechung sieht sich hingegen nur selten zu einer Auseinandersetzung mit dem Verdachtsbegriff veranlasst. Das hat neben der Anerkennung eines sogenannten „gerichtsfreien" Beurteilungsspielraums der Ermittlungsbehörden durch die Gerichte 184 auch in der bislang herrschenden Auffassung seinen Grund, wonach die Entscheidungen über Einleitung und Aufrechterhaltung von Ermittlungen selbst nicht justitiabel seien. 185 Ausnahmen bilden insoweit beispielsweise zwei Entscheidungen des BVerfG zur Zulässigkeit sogenannter „Massentests" bzw. „Reihenuntersuchungen" 186 sowie des Berliner VerfGH betreffend einer Wohnungsdurchsuchung gemäß § 102 StPO. 187 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Anfangsverdacht naturgemäß weder die Überzeugung von der Täterschaft einer Person noch eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit im Sinne von § 203 StPO voraussetzt. Nicht einmal erforderlich ist, dass die zur Kenntnis gelangten Anhaltspunkte selbst schon ein objektives Tatbestandsmerkmal erfüllen. Andererseits reicht unter Umständen der Verdacht der objektiven Tatbestandsmäßigkeit nicht ohne weiteres zur Verfahrenseinleitung aus, wenn jegliche Anhaltspunkte für eine subjektive Entsprechung des potentiell Verdächtigen fehlen. 188 Es muss begründeter Anlass zu der Vermutung bestehen, dass die Suche nach weiteren Anhaltspunkten zur Aufdeckung einer Straftat fuhren wird. Das zeigt vor allem die durch § 81a Abs. 1 S. 2 StPO ausdrücklich zugelassene Blutprobenentnahme in den Fällen einer mutmaßlichen Straftat nach § 316 StGB: Hier bezweckt die Blutuntersuchung nicht nur die Überführung des Fahrzeugführers, sondern auch die Klärung der Frage, ob überhaupt eine Straftat vorliegt. Allein auffälliges Fahrverhalten kann zwar den Verdacht nahe legen, muss aber für sich genommen noch nicht einmal den Grad einer Ordnungswidrigkeit erreicht haben. - Auf der anderen Seite genügt es für einen begründeten Verdacht nicht, wenn die Anhaltspunkte lediglich in Hypothesen ohne konkrete Tatsachengrundlage bestehen. Auf intersubjektiv wahrnehmbare Erscheinungen kann keinesfalls verzichtet werden. Dagegen ist es wenig hilfreich, Anhaltspunkte nur dann fur unzureichend zu halten, wenn sie offensichtlich haltlos sind. Denn das hieße im
183
Vgl. LRJRieß^ 152 Rn. 24.
184
BGHSt 37, 48 (51); NStZ 1997, 398 f. m. Anm. Rogali; einschränkend: Fincke, ZStW 95 (1983), 935 f. 185
Zum Streitstand Meyer-Goßner,
186
BVerfG,
§ 23 EGGVG Rn. 9.
JZ 1996, 1175 f. m. Anm. Gusy und Anm. Benfer, NStZ 1997, 397 f.
187
VerfGH Berlin, StV 1999, 296 ff.
188
VerfGH Berlin, StV 1999, 297.
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
50
Ergebnis, die befugnisbegrenzende Funktion des Verdachtsbegriffs zu missachten: 189 Ein Einschreiten wäre nur dann ausgeschlossen, wenn sich ein angezeigter Sachverhalt unmöglich so zugetragen haben könnte (also der Tatbestand des § 145d Abs. 1 Nr. 1 StGB objektiv erfüllt wäre) oder aber unter keinen Umständen zur Feststellung eines strafbaren Sachverhalts führen könnte. Abgesehen davon liegt auf der Hand, dass die Behörden auf Grundlage dieser Interpretation schon faktisch dem Normbefehl der §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO wegen Überlastung nur noch im Ausnahmefall nachkommen könnten. Zuletzt darf es nicht zur Grundlage eines Verdachts gemacht werden, wenn der Betroffene lediglich ihm zustehende Rechte ausübt, wie etwa die Weigerung einer freiwilligen Teilnahme an einer Reihenuntersuchung. 190
(3) Einflussfaktoren Der Prozess des Verdächtigens ist zwangsläufig auch von Subjektivität geprägt. 191 Schon aus diesem Grunde vermögen Definitionsversuche darüber, was unter „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten" zu verstehen sei, nur eingeschränkt Tragfähigkeit zu erlangen. Subjektivität existiert dabei auf zwei Ebenen, nämlich derjenigen der Wahrnehmung der Tatsachengrundlage sowie derjenigen der Bewertung der zur Kenntnis genommenen Anhaltspunkte als zureichend oder nicht. Letzterer zeichnet sich wiederum durch zwei Schritte aus, nämlich der Diagnose des vorhandenen Materials sowie einer Prognose über die Aufklärbarkeit des Sachverhalts mit den vorhandenen Ressourcen (also etwa mittels körperlicher Eingriffe). Was die Kenntnisnahme des entscheidungserheblichen Sachverhalts anbetrifft, kommt von vornherein neben Mitteilungen von Privaten und anderen Behörden die - im Zusammenhang mit der Brechmittelvergabe elementare eigene Wahrnehmung der Beamten des Polizeidienstes in Betracht. Dass diese einer Vielzahl von Einflüssen und verfälschenden Faktoren ausgesetzt ist, liegt auf der Hand. Insbesondere aus psychologischer Sicht stellt sich etwa das Problem der Beeinflussung von Klassifikationsprozessen des Wahrgenommenen durch Kontext und Erwartung} 92 Die Stichhaltigkeit dieser Annahme wird auch
189
Eisenberg/Conen,
190
BVerfG,
NJW 1998, 2243.
JZ 1996, 1176 m. Anm. Gusy sowie Anm. Benfer, NStZ 1997, 397.
191
Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2244; Lohner, Tatverdacht, 44; Fincke, ZStW 95 (1983), 923 f. mit dem zutreffenden Hinweis, dass Vorstellungen von einem objektiv feststellbarem Verdacht verfehlt sind. 192
Klassifikation wird als Vorgang beschrieben, innerhalb dessen Gedächtnis, Erwartung, Motivation, Persönlichkeitseigenschaften und soziale Erfahrungen eingesetzt
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
51
und gerade durch das Beispiel verdachtsbegründender Tatsachen193 bei BtMDelikten gestützt: In der kriminalistischen Literatur 194 wird dazu ausgeführt, der Verdacht sei aus dem „Habitus einer Person (z.B. lange Haare), Benehmen, Äußerlichkeiten (z.B. szenetypischer Gang), Jargon, Alter, Geschlecht (männlich) und kränklichem Aussehen" zu schöpfen. Als Exempel aus der Praxis kann weiterhin auf einen später noch ausfuhrlich zu besprechenden Fall verwiesen werden, den das Kammergericht zu entscheiden hatte. 195 Dort wurde angegeben, der Verdacht der Inkorporierung von Drogen habe sich aus verdächtigen Schluckbewegungen ergeben, die der Beschuldigte während der Flucht vor den folgenden Polizeibeamten machte. Auch darin zeigt sich, dass erlebte Wirklichkeit zu einem Teil sozial konstruiert ist, also auf wechselseitigen Übereinkünften bezüglich der Wahrnehmung signifikanter Ereignisse beruht (sog. „konsensuale Validierung"). 196 Bezüglich des angesprochenen Bewertungsprozesses zeigt der „Arbeitsschritt" der Diagnose des vorhandenen Materials die enge Verknüpfung zum Prozess ihrer Kenntnisnahme an. Dennoch ist er hiervon zu unterscheiden, denn er betrifft nicht die Klassifikation des Wahrgenommenen innerhalb der Kategorie wichtig/unwichtig, sondern die Beurteilung des für wichtig erachteten als zureichend bzw. nicht zureichend. Was dabei als rechtlich zur Verdachtsbegründung ausreichend angesehen wird, hängt gemäß empirischer Untersuchungen auch von der Qualität der mutmaßlichen Tat, dem beeinträchtigten Rechtsgut und dem sozio-ökonomischen Status sowohl des Anzeigenerstatters als auch des Verdächtigen ab. 197 Insofern ist kritisch zu bemerken, dass solcherart Tatsachen nicht in jedem Fall unter § 152 Abs. 2 StPO subsumierbar sind. Insbesondere der sozio-ökonomische Status des potentiell Verdächtigen als auch sein strafrechtlich relevantes Vorleben können zwar als zusätzliche An-
werden, um Wahrgenommenes zu erfassen; zu Fakten werden so Bedeutungen hinzugefügt. Bedeutsam sind dabei zeitlicher und örtlicher Kontext, durch den wiederum Erwartungen in Bezug auf das Auftreten von Ereignissen begründet werden. Auch spielt eine Rolle, ob der Kontext eindeutig oder - vermeintlich - vertraut ist: Im letzteren Fall werden relativ weniger Informationen zur Einordnung des Geschehens gebraucht; siehe näher Zimbardo, Psychologie, 180 ff.; Bender/Nack; Tatsachenfeststellung I, Rn. 18 ff. 193
Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rn. 13, weisen zutreffend daraufhin, dass es die „Tatsache als solche" nicht gibt. Sie ist vielmehr in aller Regel nichts weiter als eine Ganzheit („chunk"), auf die aus wahrgenommenen Einzelheiten („item") geschlossen wird. So wird bereits aus einer wahrgenommenen Person mit langen Haaren und Rock gefolgert, dass es sich um eine Frau gehandelt haben müsse. 194
Meyer/Wolf
195
KG, StV 2002, 122 ff. (dazu näher unten Kapitel 3).
Lehrbuch, 415 f.
196
Vgl. Zimbardo, Psychologie, 187 f.
197
Nachw. bei Eisenberg/Conen,
NJW 1998, 2246.
52
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
haltspunkte für eine Täterschaft herangezogen werden, nicht aber begründen, dass überhaupt eine strafbare Handlung vorliegt. Andernfalls müsste im Sinne eines „Vorverdachts" davon ausgegangen werden, dass bestimmte Personen an sich schon verdächtig sind und daher gleichsam aus ihrer Existenz heraus strafverfolgenden Eingriffen unterworfen werden dürften - ein offensichtlich unhaltbares Ergebnis. Dies hat auch im Kontext der Fälle einer Brechmittelvergabe insofern Bedeutung, als hierbei die Maßnahme nicht bloß der Überführung sondern auch dem Beweis dient, dass überhaupt eine Straftat (Handel mit BtM) begangen wurde.
dd) Zusammenfassung Der persönliche Anwendungsbereich von § 81a Abs. 1 StPO beschränkt sich auf Beschuldigte, wobei zwar nicht der Statuserwerb selbst, wohl aber die Zulässigkeit der Anordnung eines körperlichen Eingriffs maßgeblich davon abhängt, ob gegen den Betroffenen ein Tatverdacht vorliegt. Diesbezüglich haben die Ausführungen ergeben, dass der Prozess des Verdächtigens subjektiv determiniert ist. Das betrifft sowohl den Vorgang der Wahrnehmung des entscheidungserheblichen Sachverhalts als auch die Bewertung desselben als „zureichend" im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO.
b) Definition des körperlichen
Eingriffs
Die Norm gestattet es, dass der Beschuldigte zum Augenscheinsobjekt gegen sich selbst gemacht wird, indem sie die Untersuchung seines Körpers bzw. die Verletzung seiner körperlichen Integrität zur Gewinnung von Beweismitteln zulässt.198 Der Terminus des körperlichen Eingriffs ist im Gesetz nicht definiert. Fest steht aber, dass er nicht mit dem verfassungsrechtlichen Eingriffsbegriff gleichzusetzen ist. Wie die Ausführungen zum Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ergeben haben 199 , unterfällt diesem auch die geistig-seelische Integrität des Menschen, so dass weder ein Eingreifen in den Körper noch eine gezielte Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit erforderlich ist. Demgegenüber bezieht sich der Eingriffsbegriff von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO nur auf bewusste und gewollte Einwirkungen und, in Abgrenzung zu bloßen Untersuchungen, auf Beeinträchtigungen des Körpers im physisch-biologischen Sinne.
198
Eisenberg. BewR, Rn. 1621.
' " O b e n Kapitel 1 I. 2. a).
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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aa) Begriffskriterien Hinsichtlich der Abgrenzung zur Augenscheinseinnahme, die nicht von § 81a StPO erfasst ist, bereitet nur der Untersuchungsbegriff Schwierigkeiten. Die Untersuchung des menschlichen Körpers ist nicht schon jede „sinnliche Wahrnehmung der physischen Beschaffenheit" 200, sondern entsprechend dem natürlichen Sprachgebrauch nur die den menschlichen Körper erforschende Tätigkeit. 201 Darunter fallen also nicht schon Wahrnehmungen, die sich gleichsam auf den ersten Blick darbieten. 202 Das gilt auch, wenn es um die Feststellung der Beschaffenheit eines durch Kleidung verhüllten Körperteils geht, denn die beweisrechtliche Einordnung als Untersuchung oder Augenscheinseinnahme kann nicht von der Art der Bekleidung abhängig sein. 203 Dagegen wird nach allgemeiner Auffassung als körperlicher Eingriff zunächst nur angesehen, was mit einem Eindringen in das muskelumschlossene Gewebe verbunden ist, 204 die Entnahme von Körperbestandteilen wie Blut, Harn, Liquor 2 0 5 oder Samen und das Zufügen von Stoffen wie Medikamenten oder Röntgenbestrahlung. 206 Problematisch ist allerdings, ob ein Eingriff im Sinne von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO notwendig eine Körper-, das heißt Substanzverletzung voraussetzt. Die Bejahung dieser Frage fuhrt zu einem logischen Dilemma: Es ist ja gerade der Sinn der Hinzuziehung eines Arztes, Gesundheitsgefahren möglichst auszuschließen. Dann kann aber nicht die sachgemäße Durchführung, die Substanzverletzungen verhindern soll, den Charakter der Maßnahme als körperlichen Eingriff beseitigen. Zum anderen ist kaum zu begründen, wieso zwar eine Injektion einen körperlichen Eingriff darstellen sollte, nicht aber z.B. das Legen einer Magensonde, das zwar gefährlich sein kann, bei fachgerechter Durchführung aber womöglich keinerlei Verletzung bedingt. Ob es zu einer Substanzverletzung kommt, ist letztlich ex ante gar nicht zu beurteilen. 207 Das Kriterium ist daher zur Abgrenzung ungeeignet. Entscheidend muss die potentielle Gefährlichkeit der Maßnahme für die Gesundheit des Betroffenen sein und nicht die Frage, ob sie selbst mit einer Sub-
200
So die sog. klassische Definition von Beling, ZStW 15 (1895), 472.
201
Schlüchtern Strafverfahren, Rn. 172.
202
SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 22; ders., ZStW 105 (1993), 603.
203
SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 23; a.A. LR/Dahs, Rn. 16; AK-StPO/Wassermann, Rn. 2 (jeweils zu § 81a); Kohlhaas, Untersuchung, 33; Dzendzalowski, Untersuchung, 16. 204
Vgl. statt vieler nur Meyer-Goßner,
205
BVerfGE
206
OLG Schleswig, NStZ 1982, 81; Eisenberg, BewR, Rn. 1639.
207
Solbach, MedR 1987,81.
§ 81a Rn. 15; UUDahs, § 81a Rn. 22.
16, 194 (198).
54
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
Stanzverletzung des Körpers einhergeht.208 Demgemäß ist ein körperlicher Eingriff immer bereits dann anzunehmen, wenn er mit einem Eindringen in das Körperinnere verbunden ist. 209 Die Veränderung der Haar- und Barttracht ist daher kein Eingriff i.S.v. § 81a Abs. 1 S. 2 StPO. 210 Noch unbeantwortet ist damit die (weiterführende) Frage, ob jede Inspektion einer natürlichen Körperöffiiung eine bloße Untersuchung darstellt. 211 Das ist im Hinblick auf obige Ausführungen naheliegend, da dort auf die potentielle Gefährlichkeit der Maßnahme abgestellt wurde, so dass Eingriffe, die sich auf die äußere Peripherie beschränken, als einfache körperliche Untersuchungen gewertet werden könnten. 212 Jedoch greift diese Schlussfolgerung insoweit zu kurz, als sie in Wahrheit nicht allein auf die Gefährlichkeit rekurriert, sondern auf die Tiefe des Eindringens und erst daraus potentielle Risiken ableitet. 213 Umgekehrt ist nicht schon jedes Hineingreifen in natürliche Körperöffnungen als Eingriff im Sinne von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO anzusehen.214 Entscheidend ist vielmehr auch hier, ob die Hinzuziehung eines Arztes notwendig erscheint, was jedenfalls immer dann anzunehmen ist, wenn für bestimmte Maßnahmen ein ärztliches Regelwerk existiert, also medizinischer Sachverstand erforderlich ist. 215
bb) Fazit Es kann demnach festgehalten werden, dass es für die Abgrenzung von körperlichen Untersuchungen und Eingriffen darauf ankommt, ob die in Frage stehende konkrete Maßnahme wegen der mit ihr verbundenen Gesundheitsgefahren die Hinzuziehung eines Arztes objektiv erforderlich macht. Das ist bei rein visuellen Inspektionen der natürlichen Körperöfftiungen dann nicht der
208
LG Trier, NJW 1987, 722; UUDahs, § 81a Rn. 23; Solbach, MedR 1987, 80 f f ; a.A. UUMeyer, § 102 Rn. 34; KKJSenge, § 81a Rn. 6; Dzendzalowski, Untersuchung, 55, die eine „wenn auch noch so kleine Verletzung" für erforderlich halten. 209
Eisenberg, BewR, Rn. 1632; KKJSenge, § 81a Rn. 6; Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 719; Schlüchter, Strafprozessrecht, 89. 210
BVerfGE 47, 239 (247); HYJLemke, Rn. 15; SK-StPO/Rogali, Rn. 30; MeyerGoßner, Rn. 23; a.A. Odenthal, NStZ 1985, 434. 2,1
So HYJLemke, § 81a Rn. 9; LR/Dahs, § 81a Rn. 23; Roger, Verwertbarkeit, 12.
212
Vgl. die Nachw. in der vorigen Fn.
213
So zutreffend SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 37.
214
So aber LG Trier, NJW 1987, 722; Körner, StV 1988, 488.
215
SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 37, 40.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
55
Fall, wenn das Vorhandensein von Fremdgegenständen festgestellt werden soll, da hierfür kein medizinischer Sachverstand erforderlich ist. Andererseits ist das Zuführen von Stoffen aller Art als körperlicher Eingriff zu werten, weil und soweit es mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist, die nur aufgrund einer vorhergehenden ärztlichen Untersuchung ausgeschlossen werden können. Weiterhin erfordert jede Substanzverletzung die Hinzuziehung eines Arztes. Jedoch ist der Begriff des Eingriffs hierauf nicht beschränkt, da auch schon zur Vermeidung von Gesundheitsgefahren medizinischer Sachverstand notwendig ist. Lediglich die rein visuelle Feststellung des Vorhandenseins von Fremdkörpern in den natürlichen Körperöffnungen ist als bloße Untersuchungsmaßnahme i.S.v. § 81a Abs. 1 S. 1 StPO anzusehen.
2. Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen a) Zuständigkeiten aa) Anordnung Einer Anordnung des Eingriffs in die körperliche Integrität bedarf es jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte nicht einwilligt. Sofern Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verletzungshandlung trotz Einwilligung bestehen (§ 228 StGB), soll eine Anordnung ebenfalls erforderlich sein 216 , wobei zweifelhaft ist, ob hierdurch die Sittenwidrigkeit des Eingriffs beseitigt werden kann. 217 Die Wirksamkeit der Einwilligung hängt davon ab, ob der Beschuldigte vollständig über Bedeutung und Risiken des Eingriffs sowie sein Weigerungsrecht aufgeklärt worden ist. 218 Weiterhin wird von einer die Anordnung entbehrlich machenden Einwilligung überhaupt nur auszugehen sein, wenn sie freiwillig, das heißt ohne Zwang, Täuschung oder sonstige Willensbeeinflussung erfolgte. 219 Jedoch setzt ihre Wirksamkeit nicht Geschäftsfähigkeit, sondern lediglich das Vermögen voraus, die Tragweite der eigenen Entscheidung einzusehen.220
216
BVerfGE 27, 211 (219); KKJSenge, § 81a Rn. 3.
217
Malek/Rüping,
Zwangsmaßnahmen, Rn. 164; siehe auch unten I. 3. a.E.
2.8
BGH, NJW 1964, 1177; Kohlhaas, NJW 1968, 2277; KKJSenge, § 81a Rn. 3 mit weiteren Nachweisen. 2.9
BGH, VRS 29 (1964/65), 203; OLG Bremen^RS gung, 16 ff. 220
KKJSenge, § 81a Rn. 3.
36, 182; Amelung, Einwilli-
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
56
Dem Beschuldigten ist rechtliches Gehör zu gewähren. Ob dies generell vor Erlass der Anordnung oder nur unter den Voraussetzungen von § 33 Abs. 3 StPO zu geschehen hat, ist umstritten, 221 praktisch aber - jedenfalls in den in Rede stehenden Fallgestaltungen - von nur geringer Bedeutung.
(1) Gesetzlicher Regelfall § 81a Abs. 2 Hs. 1 StPO Gemäß § 81a Abs. 2 Hs. 1 StPO obliegt es dem Richter, die in Rede stehenden Maßnahmen anzuordnen. Zuständig ist im Vorverfahren gemäß §§ 162 Abs. 1, 169 StPO der Ermittlungsrichter 222 , außer in den Fällen gleichzeitiger Unterbringung gemäß § 81 StPO. Nach § 81 Abs. 3 StPO ist - ebenso wie nach Anklageerhebung - das Gericht zuständig, das auch für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständig wäre, nach Eröffnung der Hauptverhandlung das erkennende Gericht (§§ 25, 30, 77 GVG). 2 2 3 Die Anordnung hat in Form eines schriftlichen Beschlusses zu ergehen, der im Falle seiner Anfechtbarkeit mit Gründen zu versehen ist (§ 34 StPO). Dieser muss inhaltlich neben der Art der Maßnahme auch die festzustellenden Tatsachen enthalten. Der den Eingriff ausführenden sachverständigen Person darf lediglich die Auswahl der Methode und die Art der technischen Umsetzung überlassen bleiben, wobei dies eine Aufsicht des Richters insbesondere hinsichtlich möglicher Gesundheitsgefahren nicht obsolet werden lässt. 224 Zudem hat der Beschluss, soweit die Verbringung des Beschuldigten in ein Krankenhaus erforderlich wird, die Höchstdauer des Aufenthaltes genau zu bezeichnen.225
(2) Gesetzlicher Ausnahmefall § 81a Abs. 2 Hs. 2 StPO In Eilfällen, wenn also die Einholung einer richterlichen Anordnung den Untersuchungserfolg mutmaßlich gefährden würde, bestimmt § 81a Abs. 2 Hs. 2 StPO allerdings eine abweichende Ausnahmeregelung, nach der der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten (§ 152 GVG) die Anordnungskompetenz zusteht. Diese Eilkompetenz wird praktisch nur im Vorverfahren bedeutsam.
221
Siehe nur Eisenberg, BewR, Rn. 1642 einerseits und SK-StPO ! Rogali, § 81a Rn. 105 andererseits jeweils mit weiteren Nachweisen. 222
BGH, NStZ 2000,212.
223
HKJLemke, § 81a Rn, 25.
224
SK-StPO/ Rogali, § 81a Rn. 104.
225
SK-StPO/Rogall,
§ 81a Rn. 104; HK/Lemke, § 81a Rn. 21; UUDahs, § 81a Rn. 56.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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Von ihr ausgenommen bleiben jedoch nach Auffassung des BVerfG 2 2 6 schwerwiegende Eingriffe: Hier bleibt es auch in Eilfällen bei der richterlichen Anordnungszuständigkeit, eine Gefährdung des Untersuchungserfolges ist also hinzunehmen. Die Rechtswirklichkeit stellt sich indes anders dar: Verbreitet erscheint die Annahme, die Anordnungskompetenz insbesondere in den Fällen des § 81a Abs. 1 S. 2 StPO stehe grundsätzlich der Staatsanwaltschaft und bei Eilbedürftigkeit deren Hilfsbeamten zu. 2 2 7 Diese Sichtweise resultiert womöglich aus einem relativ weitem Verständnis davon, wann eine Gefährdung des Untersuchungserfolges anzunehmen sei. Zudem kann es als offenes Geheimnis angesehen werden, dass entgegen ihrer verfahrensrechtlichen Stellung (vgl. § 163 Abs. 2 S. 1 StPO) die Polizei faktisch allein aufgrund erheblich besserer Ausstattung die beherrschende Stellung im Ermittlungsverfahren einnimmt 228 und deshalb die originär richterliche Anordnungskompetenzen nicht selten von den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund überrascht es beinahe schon wieder, wenn - wie unlängst in Hamburg geschehen - die Anordnung der Brechmittelvergabe in die Hände eines eigens zu diesem Zweck gebildeten Bereitschaftsdienstes der Staatsanwaltschaft gelegt wird. 2 2 9 In dieselbe Richtung weisen verschiedene rechtstatsächliche Untersuchungen: 230 Hingewiesen werden in diesem Zusammenhang zum einen nur auf eine Erhebung von 76 Fällen, in denen Personen auf dem Flughafen wegen des Verdachts inkorporierter Drogen geröntgt wurden. Dieser zufolge ist die Anordnung in 52,6% der Fälle durch die Polizei bzw. die Zollverwaltung ergangen, in 46,1% seitens der StA und in nur einem Fall durch das Gericht. 231 Zum anderen ergab eine fur das Jahr 1971 durchgeführte Aktenerhebung in den Landgerichtsbezirken Bochum, Duisburg und Köln, dass von 300 Blutproben nur eine einzige (in Bochum) aufgrund einer richterlichen Anordnung entnom-
226 BVerfGE 16, 194, 201; siehe auch SK-StPOIRogali, § 81a Rn. 103; KMR7Paulus, § 81a Rn. 29; Ostendorf/Brüning, JuS 2001, 1066. 227
Vgl. etwa Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 279.
228
Eisenberg, Kriminologie, § 27 Rn. 9; Peters, Strafprozess, § 24 III; Lilie, ZStW 106 (1994), 626; Lisken in: Lisken/Denninger, Hdb. PolizeiR, C Rn. 95. Dem entspricht es im Übrigen, dass die Polizei mit Novellierung der StPO durch Gesetz v. 15.7.1992 (BGBl. I, 1302) ihre erste exklusive Zuständigkeit erhielt (§ 110a StPO) und ihre präventiv-polizeilich erlangten Kenntnisse nunmehr auch strafprozessual nutzen kann (vgl. Art. 13 Abs. 5 GG sowie § 161 Abs. 2 StPO i.d.F. des StVÄG 1999 v. 2.8.2000 [BGBl. I, 1253]). 229
Vgl. Die Welt vom 11.12.2001.
230
Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 29 Rn. 9 ff.
231
Kraushaar, Körperschmuggel, 155.
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
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men wurde. 232 In den Fällen einer Brechmittelvergabe ist hier nicht in einem einzigen die Anordnung durch einen Richter bekannt geworden. Als mutmaßliche Gründe fur deliktsstrukturelle Unterschiede bei Annahme von „Gefahr im Verzug" 233 werden u.a. Art und Ausmaß der faktischen Beschwerdemacht des Betroffenen (insbesondere betreffend Wirtschaftsdelikte), gegebenenfalls aber auch behördeninterne Motive (etwa betreffend Totschlagsund Raubermittlungen) ausgemacht.234 Dass dieses Verständnis der gesetzlichen Anordnungszuständigkeiten unzutreffend ist, ergibt sich schon daraus, dass es das vom Gesetzgeber vorgesehene Regel-Ausnahmeverhältnis umkehrt, indem es vom konkreten Anwendungsfall abstrahiert. 235 Im Ergebnis wird nicht danach verfahren, ob besondere Gründe eine sofortige Durchführung der Maßnahme gebieten, sondern umgekehrt danach, ob außergewöhnliche Umstände die Eilbedürftigkeit in Frage stellen. Für die konkrete Zuständigkeitsverteilung sind dagegen zwei Fragen von Interesse: Erstens ist maßgeblich, ob der Untersuchungserfolg durch Zuwarten gefährdet wird und zweitens, ob der intendierte Eingriff als schwerwiegend zu beurteilen ist. Während sich die letztere der beiden Fragen kaum pauschal wird beantworten lassen - an dieser Stelle wird auf die Ausführungen zur Praxis der Brechmittelvergabe weiter unten verwiesen 236 - , können doch einige allgemeine Gesichtspunkte benannt werden, die zumindest eine Eilbedürftigkeit im Einzelfall nahe legen, wenn sie auch die konkrete Prüfung nicht ersetzen können. Eine Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung (Gefahr im Verzug) wird allgemein anzunehmen sein, wenn die Maßnahme bei weiterem Abwarten einen geringeren Beweiserfolg verspräche 237 oder konkret, wenn sich die körperliche Beschaffenheit bzw. der Zustand des Beschuldigten mit Zeitablauf ändert und sich der Beweiswert des Untersuchungsergebnisses vermindert. Ob dies der Fall ist, also das Bemühen um eine richterliche Anordnung entbehrlich ist, soll nach teilweiser Auffassung in „pflichtgemäßem Ermessen" der
232
Nelles, Kompetenzen, 229; SK-StPO/floga//, § 81a Rn. 106.
233
Vgl. Benfer, Haussuchung, 201 ff., dessen Angaben jedoch z.T. auf Schätzungen beruhen und deshalb nur beschränkt aussagekräftig sind; siehe näher Eisenberg, Kriminologie, § 29 Rn. 9. 234
Eisenberg, Kriminologie, § 29 Rn. 10.
235
Ostendorf/Brüning, JuS 2001, 1066; Weßlau, Anm. zu OLG Frankfurt, StV 1997, 342; Dzendzalowski, Untersuchung, 33 f. 236 237
Kapitel 3. II.
BGH, JZ 1962, 609 m. Anm. Baumann; KG, NJW 1972, 171; SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 106.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
59
jeweiligen Beamten liegen. 238 Das ist aus zwei Gründen wenig einleuchtend: Erstens kann der Terminus „Gefahr im Verzug" schon deshalb kein Ermessen eröffnen, weil es sich hierbei um einen tatbestandliche Voraussetzung der Anordnungskompetenz handelt. Insofern handelt es sich hierbei allenfalls um einen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriff. 239 Zweitens eröffnet er keinen gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbaren Beurteilungsspielraum, denn ob eine konkrete Situation die Einholung einer richterlichen Anordnung gestattet oder nicht, ist prinzipiell objektiv zu ermitteln. 240 Eine andere Frage ist es, ob der ermittelnde Beamte alle Parameter kennt, die eine korrekte Beurteilung der Lage gestatten. Insoweit spricht indes nichts dagegen, in Anlehnung an die Einschätzung einer Gefahrenlage im Polizei- und Ordnungsrecht auf die exante-Betrachtung eines „objektiven Dritten" abzustellen und zu fragen, ob der Beamte aufgrund der konkreten Situation und der ihm zur Verfugung stehenden Informationen und Kenntnisse davon ausgehen durfte, dass ein Zuwarten den Beweiserfolg mindern würde. Ist dies der Fall, begründet das seine Anordnungskompetenz. Andernfalls wäre die dennoch angeordnete Maßnahme mangels Zuständigkeit rechtswidrig. Eines Beurteilungsspielraumes bedarf es nicht und er ist mit Blick auf die ohnehin eingeschränkten richterlichen Überprüfungsmöglichkeiten etwa betreffend des Vorliegens eines Anfangsverdachts auch nicht wünschenswert. Speziell bezogen auf den Einsatz von Brechmitteln lässt sich der Rahmen weiterhin dahin abstecken, dass die Eilbedürftigkeit der Maßnahme zum einen von der Dauer abhängig ist, die mutmaßlich verschluckte Drogenpäckchen benötigen, um vom Magen in den Darmtrakt zu gelangen, zum anderen davon, ob eine ermittlungsrichterliche Anordnung innerhalb dieses Zeitraums zu erlangen ist. Insgesamt dürfte diese Zeitspanne etwa 2 bis 3 Stunden betragen. Da richterliche Bereitschaftsdienste auch in anderen Zusammenhängen nichts Ungewöhnliches sind, kann die befürchtete Gefährdung des Untersuchungserfolges in den Fällen der Brechmittelvergabe nicht darin begründet liegen, überhaupt eine richterliche Anordnung herbeizuführen. Problematisch erscheint hier vielmehr die Einhaltung des gesetzlich vorgesehenen rechtsstaatlichen Verfahrens zur Wahrung der Beschuldigtenrechte. Soweit die Anordnung durch die StA oder ihre Hilfsbeamten getroffen wird (§ 81a Abs. 2 StPO), ist es allgemeine Auffassung, dass sie - auch wenn die Vorschrift dieses Recht nicht aus-
238 RGSt 23, 334; BGH, JZ 1962, 609 m. Anm. Baumann; Meyer-Goßner, HK/Lemke, Rn. 13; KK/Nack, Rn. 14 (beide zu § 98).
§ 98 Rn. 7;
239 So auch Störmer, ZStW 108 (1996), 520. Nunmehr hat das BVerfG in seinem Urteil vom 20.2.2001 (NJW 2001, 1121) für die nichtrichterlich angeordnete Durchsuchung ganz in diesem Sinne eine unbeschränkte richterliche Kontrolle angenommen. 240 Ν elles, Kompetenzen, 99 ff.; Störmer, ZStW 108 (1996), 520; SK-StPO IRudolphi, § 98 Rn. 11; Ostendorf/Brüning, JuS 2001, 1063.
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
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drücklich zugesteht - sofort vollzogen, also auch durch unmittelbaren Zwang durchgesetzt werden kann. 241 Eine vorherige Anhörung des Beschuldigten findet bei Eilbedürftigkeit wegen § 33 Abs. 4 StPO allerdings auch im Falle einer richterlichen Anordnung nicht statt; sie muss weder schriftlich ergehen noch begründet werden. 242 Insoweit ist zweifelhaft, ob unter diesen Voraussetzungen eine richterliche Entscheidung gegenüber einer polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Anordnung ein gesteigertes Maß an Rechtsstaatlichkeit gewährleisten könnte, zumal die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung in jedem Falle von den Beamten des Polizeidienstes mitgeteilt werden und - was etwa die Frage des Verdachts der Inkorporierung von Drogen angeht - von dem Ermittlungsrichter ohnehin nicht überprüft werden können. In Bezug auf die Wahrung der Beschuldigtenrechte, ändert es daher nichts, ob die Anordnung durch einen staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Bereitschaftsdienst ergeht. De lege lata endet die die staatsanwaltschaftliche bzw. polizeiliche Anordnungskompetenz jedoch, wenn im Einzelfall die Herbeiführung einer ermittlungsrichterlichen Entscheidung in der verfahrensmäßig gebotenen Weise irgend machbar ist. 243 Die Überprüfung der anordnenden Entscheidung hat so oder so ohne jede Einschränkung aus der Position des objektiven Dritten ex ante zu erfolgen.
bb) Vollstreckung Die Vollstreckung der richterlichen Anordnung obliegt gemäß § 36 Abs. 2 S. 1 StPO der Staatsanwaltschaft. Diese bedient sich hierzu der Beamten des Polizeidienstes (§ 161 Abs. 1 StPO), nicht nur ihrer Hilfsbeamten im Sinne von § 152 GVG. 2 4 4 Umstritten ist die Frage, ob im Falle des Ausbleibens trotz Ladung vor den Arzt ein richterlicher Vorführungsbefehl notwendig wird. 2 4 5 Eine Vertiefung dieses Problems erscheint jedoch entbehrlich, da es im Rahmen der in Rede stehenden Fallgestaltungen kaum jemals auftreten wird.
241 OLG Köln, NStZ 1986, 235; BayObLG, JR 1964, 149 m. Anm. Dünnebier, Eisenberg, BewR, Rn. 1646. 242
Meyer-Goßner,
§ 81a Rn. 26.
243
Siehe auch Weßlau in: Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 53 f.
244
KK/Senge, § 81a Rn. 9; LRJDahs, § 81a Rn. 57.
245
Bejahend: Eisenberg, BewR, Rn. 1645; Dzendzalowski, Untersuchung, 40; ablehnend die h.M.: vgl. nur SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 109 mit zahlreichen Nachweisen. Für körperliche Eingriffe gegenüber Nichtbeschuldigten vgl. § 81c Abs. 6 S. 2 StPO.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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Anordnungen der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten werden von diesen selbst oder anderen Polizeibeamten vollstreckt. Die StPO geht wie selbstverständlich davon aus, dass ihnen das Recht zur Durchsetzung mit Hilfe unmittelbaren Zwanges zusteht.246
b) Beschränkung auf verfahrensbedeutsame
Tatsachen
Körperliche Eingriffe sind zu repressiven Zwecken nur erlaubt, wenn sie konkret zur Feststellung von Tatsachen dienen, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Die Anordnung einer Maßnahme, die von vorneherein nicht darauf abzielt, verfahrenserhebliche Fakten auszukundschaften, verbietet sich daher. § 81a StPO eröffnet kein „Feld beliebigen Nachforschens". 247
aa) Durchsuchen nach Fremdkörpern Unstreitig gestattet § 81a Abs. 1 StPO die Untersuchung der Beschaffenheit des Körpers und seiner Bestandteile (Blut, Magensaft). 248 Das ergibt sich schon daraus, dass die Norm als zugelassenen Eingriff ausdrücklich die Entnahme einer Blutprobe zu Untersuchungszwecken nennt. Dies impliziert die Klärung, ob und inwieweit sich Fremdstoffe mit Bestandteilen des Körpers verbunden haben, wie das insbesondere bei der Feststellung des Blutalkoholgehalts der Fall ist. Kontrovers diskutiert wird dagegen die Frage, ob die Suche nach Fremdkörpern, die als Beweismittel dienen können oder dem Verfall bzw. der Einziehung unterliegen, prinzipiell durch § 81a StPO zugelassen sind, oder ob es einer Eingriffsermächtigung hierfür schlicht ermangelt.
(1) Verstoß gegen den Subjektstatus des Beschuldigten? Die h.M. wertet die Suche nach im Körper befindlichen Gegenständen konsequent als durch § 81a Abs. 1 S. 2 StPO zugelassenen Eingriff. 249 Die gegen-
246
Allgemeine Meinung, vgl. nur OLG Köln, NStZ 1986, 236; LRJDahs, § 81a Rn. 58; Eisenberg, BewR, Rn. 1646. 247
KMRJ Paulus, § 81a Rn. 24.
248
Eisenberg, BewR, Rn. 1625.
249
BGHSt 5, 332 (336); KG, StV 2002, 123; Meyer-Goßner, Rn. 6; LRJDahs, Rn. 13, 16; SK-StPO/Rogali, Rn. 11, 25 f.; KK/Senge, Rn. 5; Pfeiffer, Rn. 2 (alle zu § 81a);
62
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
teilige Auffassung von Dalimeyer 250 geht davon aus, dass es - unbeschadet sich aus dem nemo tenetur-Grundsatz ergebender Beschränkungen - zwar nicht die Subjektstellung des Beschuldigten verletze, wenn sich die Suche auf mit dem Körper verbundene Substanzen beziehe. Andererseits soll es aber eine Instrumentalisierung zu einem fremden Zweck sein, wenn die Suche Gegenstände betreffe, die sich nicht mit dem Körper verbunden haben. Dies mache den Beschuldigten zum bloßen Objekt des Verfahrens. 251 Demnach sieht Dallmeyer in der Durchsuchung des Körpers zum Zwecke des Auffindens von Fremdgegenständen letztlich einen Verstoß gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Unantastbarkeit der Menschenwürde. Diese Differenzierung nach „Fremdzweck" und „Selbstzwecklichkeit" findet keine Grundlage im Gesetz und erscheint auch nicht sinnvoll. Im Ausgangspunkt beruft sich Dallmeyer 252 auf eine Formulierung des BVerfG, wonach der Mensch „immer Zweck an sich bleiben" müsse.253 Gegenstand der zugrundeliegenden Entscheidung war jedoch die Frage der Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe, die den ersten Senat zu der Klarstellung veranlasste, dass die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs an dem betroffenen Menschen orientiert bleiben muss. Hieraus hat das Gericht gefolgert, dass es nicht mit der Menschenwürde zu vereinbaren wäre, „wenn der Staat fur sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können." 254 Soweit daher der Mensch in den Mittelpunkt
Eisenberg, BewR, Rn. 1625; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 241; Geppert, JK 97, StPO § 81 a/2. 250
In: StV 1997, 609 sowie in: KritV 2000, 255 ff.
251
Die verwendeten Begrifflichkeiten finden sich schon bei Sautter , AcP 161 (1962), 256 f., der sie jedoch vor dem Hintergrund eines natürlichen Selbsterhaltungstriebes in einem umfassenderen Sinne verwendet. Danach negiere es die Selbstzwecklichkeit des Beschuldigten, wenn dieser zur Mitwirkung an seiner Selbstüberfiihrung gezwungen werde. Die Auflösung des Gegensatzes zu den Fremdzwecken der Strafverfolgung gelinge nur, wenn das Individuum imstande sei, „die ihm auferlegten Pflichten in seine Selbstzwecklichkeit hineinzunehmen und so das Staatsbürgertum zum integrierten Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung zu machen." - Diese Auffassung von Selbst- und Fremdzweck führt Sautter zu der Annahme der Verfassungswidrigkeit von § 81 a StPO, da der von körperlichen Eingriffen Betroffene zu selbstschädigendem Verhalten gezwungen und so zum bloßen Mittel staatlicher Zwecke werde. 252
Dallmeyer, StV 1997, 608.
253
BVerfGE 45, 187 (228).
254
BVerfGE 45, 187 (229). Diese Argumentation entspricht im Grundgedanken eher der soeben dargestellten Verwendung des Begriffes der Selbstzwecklichkeit in dem auch von Sautter (AcP 161 [1962], 256 f.; siehe Fn. 251] gebrauchten Sinne.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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(auch) repressiven staatlichen Handelns gestellt wird, verbietet es sich hieraus, das Strafverfahren sowie die Vollstreckung der Strafe aus bloßem Selbstzweck durchzusetzen. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet deshalb die Rechtsgemeinschaft, den Existenz- und prinzipiellen Freiheitsanspruch eines jeden Menschen anzuerkennen. 255 Wenn demgegenüber der eingangs genannten Formulierung entnommen wird, das BVerfG habe zum Ausdruck bringen wollen, die Subjektstellung des Einzelnen werde schon dadurch gewahrt, dass er selbst bzw. sein Körper Gegenstand der konkreten staatlichen Strafverfolgungsmaßnahme bleibe, bedeutet dies im Ergebnis nicht nur die Aufweichung des Selbstzweckgedankens bis zur Konturenlosigkeit, sondern eine Verkürzung des Schutzbereiches von Art. 1 Abs. 1 GG. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Dallmeyer hieraus das Ergebnis ableitet, die Würde des Beschuldigten verbiete die Suche nach Fremdgegenständen in seinem Körper. In der Konsequenz macht er nämlich die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG u.a. von der Existenz einer medizinischen Methode abhängig, die es erlaubt, einen bestimmten Nachweis mittels Untersuchung körpereigener Flüssigkeiten etc. zu fuhren. 256 Etwa ware es ebenso denkbar wie absurd, erzwungenermaßen exkorporierte Drogenpäckchen fur unverwertbar zu erachten, wenn sich zugleich anhand winziger Spuren von Betäubungsmitteln im erbrochenen Magensaft Rückschlüsse auf genaue Menge und Art der Rauschmittel ziehen ließen. Vom Standpunkt des Betroffenen kann das im Hinblick auf seine Würde ersichtlich keinen Unterschied machen: So oder so muss er seinen Körper als Beweismittel zur Verfügung stellen. Entscheidend ist im Sinne der „Objektformel" 257 deshalb allein, ob und inwieweit der Beschuldigte durch den Eingriff selbst zum Verfahrensobjekt gemacht wird und nicht, ob der aus dem Körper gewonnene Untersuchungsgegenstand zuvor von diesem abgetrennt werden musste. Zudem kann in Einzelfällen problematisch sein, wann ein von außen aufgenommener Fremdkörper sozusagen Körperbestandteil geworden ist. 258 Beispielsweise setzt der Verdauungsprozess bekanntlich bereits im Magen ein, so dass aufgenommene Nahrung nach Vermischung mit Magensäften gemäß der in Rede stehenden Logik exkorporiert werden dürfte. Die Stellung des Betroffenen im Strafverfahren ändert sich nach alledem nicht aufgrund der Frage, ob es sich bei dem Untersuchungsgegenstand um einen Bestandteil des Körpers handelt oder nicht.
255 Vgl. auch BVerfGE 70, 297 (315) - betr. Sicherungsverwahrung-: Die zunehmende Dauer des Freiheitsentzuges ist zu einer möglichen Gefährdung der Allgemeinheit in Beziehung zu setzen. 256 Dies hat nur hinsichtlich des Ausschlusses bestehender Gesundheitsgefahren und damit für die Verhältnismäßigkeitsabwägung Relevanz. 257
Zur Kritik siehe unten Kapitel 4. II. 2.
258
So auch Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 228 f.
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Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
(2) Feststellung contra Sicherstellung? Das OLG Frankfurt hat in seiner Entscheidung betreffend die Zulässigkeit des Einsatzes von Brechmitteln dahingehend differenziert, dass die Suche nach Gegenständen im menschlichen Körper mit der Durchsuchung eines Behältnisses gemäß § 102 StPO vergleichbar sei und deshalb jedenfalls dann nicht dem Regelungsbereich von § 81a StPO unterfallen könne, wenn es gar nicht um die Feststellung des Vorhandenseins von Fremdkörpern, sondern um deren Sicherstellung gehe. 259 Hieraus hat es geschlossen, dass die Vergabe von Vomitivmitteln keine Grundlage im Gesetz habe, da § 102 StPO Eingriffe in die körperliche Integrität nicht vorsehe. 260 Auch das ist nicht tragfähig. Zwar ist zuzugeben, dass nicht allein aus der potentiellen Gefährlichkeit einer Maßnahme für die Gesundheit geschlossen werden kann, es handele sich um einen von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO umfassten körperlichen Eingriff. Ebenso gut könnte umgekehrt angenommen werden, dass bestimmte, etwa besonders gefährliche Eingriffe generell nicht durch § 81a StPO gedeckt sein sollen. Allerdings enthält die Norm keinen Hinweis darauf, dass sie nur eine bestimmte Art von körperlich wirkenden Eingriffen, nämlich solche, die rein suchenden Charakter haben, erfassen will. 2 6 1 Sie erlaubt vielmehr generell Eingriffe in die körperliche Integrität „zur Feststellung von Tatsachen ..., die für das Verfahren von Bedeutung sind". Was unter dem Begriff des Feststellens zu verstehen ist, sagt das Gesetz an keiner Stelle. Jedoch ist (auch mit dem natürlichen Sprachgebrauch) davon auszugehen, dass der Terminus in einem weiteren Sinne als die Durchsuchung zwecks Sicherstellung von Beweismitteln verstanden werden muss. Andernfalls müsste die Exkorporation von Beweismitteln um so eher als unzulässig angesehen werden, je größer die Sicherheit der Strafverfolgungsbehörden darüber wäre, dass der Beschuldigte solche inkorporiert hat. 6 2 Das erscheint insbesondere mit der vom BVerfG formulierten Anforderung an schwerwiegende körperliche Eingriffe
259 OLG Frankfurt, NJW 1997, 1648. In diesem Sinne auch OLG Celle, NStZ 1998, 87 f., das die Durchsuchung des Mundes nach Fremdgegenständen als Anwendungsfall von § 102 StPO wertet, inkonsequenterweise dann aber die Rechtmäßigkeit ohne Hinzuziehung eines Arztes von der Notwendigkeit medizinischer Mittel abhängig macht; zustimmend zunächst auch Verrei , NStZ 1997, 419, der seine Ansicht jedoch an anderer Stelle (Selbstbelastungsfreiheit, 221) wieder aufgegeben hat. 260
OLG Frankfurt, NJW 1997, 1648; ebenso Dallmeyer, KritV 2000, 255, unter Hinweis auf Wortlaut und Systematik von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO. 261
Zur Normgeschichte siehe näher oben Kapitel 1. III.
262
Rogali NStZ 1998, 67.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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unverträglich, wonach deren Zulässigkeit (auch) von der Stärke des Verdachts abhängt.263 Dementsprechend muss es auch als Feststellung verfahrensbedeutsamer Tatsachen angesehen werden, wenn der Eingriff in die körperliche Integrität nicht dem Auffinden von Gegenständen dient, sondern, weil deren Vorhandensein positiv bekannt ist, nur noch zu ihrer Sicherstellung. Nach hier vertretener Auffassung unterfällt die Vergabe von Vomitivmitteln zwecks Exkorporation verschluckter Drogenpäckchen damit dem Regelungsbereich von § 81a Abs. 1 StPO. 264
bb) Verfahrenserheblichkeit Verfahrenserheblich in dem verwendeten Sinne sind alle Tatsachen, die für die Rechtsfolgen der angeklagten Tat von Bedeutung sein können. Das betrifft im Einzelnen z.B. Fragen der Täterschaft, der Schuldfeststellung, der Verhandlungsfähigkeit, der Strafzumessung einschließlich etwa der körperlichen und geistigen Eignung i.S.v. § 69 StGB sowie bezüglich der Einziehung bzw. dem Verfall unterliegende Gegenstände.265 Die Begutachtung der Glaubwürdigkeit des Beschuldigten mag zwar an sich eine verfahrenserhebliche Tatsache sein 266 , ist jedoch schon deshalb nicht zulässig, weil sie nicht ohne freiwillige Mitwirkung in rechtmäßiger Weise zu erlangen wäre (§ 136a StPO). 267 Soweit in diesem Zusammenhang zweifelhaft gewesen ist, ob die Norm über den Eingriff hinaus auch zu einer gegebenenfalls notwendig werdenden sachverständigen Auswertung des Beweisgegenstandes ermächtigt, ist dem Streit hierüber durch Einführung der §§ 81a Abs. 3, 8le und 81 f StPO die Relevanz genommen.268 Im Übrigen erscheint die Annahme nahezu selbstverständlich, dass § 81a Abs. 1 S. 2 StPO nicht nur ausdrücklich zur Entnahme einer Blut-
™ BVerfGE
16. 194 (201).
264
So auch die h.M., vgl. KG, JR 2001, 163; StV 2002, 123; Meyer-Goßner, Rn. 22; KYJSenge, Rn. 5; WYJLemke, Rn. 9; SK-StPO/floga//, Rn. 48; Pfeiffer, Rn. 1 (alle zu § 81a); Benfes JR 1998, 54; Grüner, JuS 1999, 122; Schaefer, NJW 1997, 2438; Rogali NStZ 1998, 67; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 4 Rn. 54. 265
BVerfGE
27, 211 (219); OLG Schleswig, NStZ 1982, 81; Eisenberg, BewR, Rn.
1625. 266
Dzendzalowski, Untersuchung, 20.
267
Eisenberg, BewR, Rn. 1625; UUDahs, § 81a Rn. 13.
268
Vgl. nur Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 242.
66
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
probe ermächtigen will, sondern auch zur Untersuchung derselben. 269 Andernfalls wäre nicht zu erklären, warum das Gesetz zwar den Eingriff in die körperliche Integrität zur Feststellung verfahrensbedeutsamer Tatsachen gestattet, nicht aber die Klärung des tatsächlichen Beweiswertes. Insoweit war die Einfuhrung der speziellen Ermächtigungsgrundlagen §§ 8le und 81 f StPO allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeitsrechtsprechung notwendig. 270
c) Durchführung
und Vollziehung des Eingriffs
aa) Arztvorbehalt Wie bereits angesprochen worden ist, zieht § 81a Abs. 1 S. 2 StPO die Grenze zulässiger Eingriffe dort, wo keine Gesundheitsnachteile zu befürchten sind. Konsequenterweise überträgt die Norm die Durchführung der Maßnahmen den Ärzten, die Eingriffe in die körperliche Integrität „nach den Regeln der ärztlichen Kunst" vorzunehmen haben. Damit handelt es sich bei dem Arztvorbehalt systematisch um eine Zuständigkeitsregelung, deren Zweck in der Absicherung des Verhältnismäßigkeitsprinzips besteht. Dementsprechend werden hieran strikte Anforderungen gestellt: Arzt im Sinne der Vorschrift setzt eine Approbation (§§ 2 Abs. 1, 2a, 3 BÄO) voraus, weshalb weder nur vorübergehend zur Ausübung des Arztberufes berechtigte Heilkundige (§§2 Abs. 2-4, 10, 10a, 10b BÄO) noch sog. Ärzte im Praktikum (AiP - §§ 3 Abs. 5, 10 Abs. 4 BÄO) selbständig zur Durchführung von Eingriffen gemäß § 81a Abs. 1 S. 2 StPO befugt sind. 271 Bei Blutprobenentnahmen erscheint es allerdings unproblematisch, auch Krankenschwestern, Pfleger oder „AiP-ler" unter Aufsicht durch einen Arzt zuzulassen, wenn nicht zu erwarten ist, dass sich der Beschuldigte wehrt. 272 Die Norm schließt von ihrem Wortlaut her keine Fachrichtungen aus, das heißt, Eingriffe können prinzipiell von jedem Arzt, also auch dem Zahnarzt, Augenarzt etc. vorgenommen werden. Dass dabei Rücksicht darauf zu nehmen ist, ob der hinzugezogene Mediziner fachlich in der Lage ist, den verlangten Eingriff durchzuführen, liegt auf der Hand. Dies wird aber nicht durch eine im
269 Deshalb haben Rspr. und h.L. auch schon vor Einführung der §§ 8le und 81 f StPO die Genomanalyse auf Grundlage von § 81a StPO prinzipiell für zulässig erachtet; vgl. etwa BVerfG, NJW 1996, 771 sowie 1587; BGHSt 37, 157 (157 f.); 38, 320 (324). 270
So zutreffend Fezer, Strafprozessrecht, Rn. 6/16; SK-StPO ! Rogali, § 81a Rn. 11.
271
Vgl. statt vieler BGHSt 24, 125 (127 f.); Meyer-Goßner,
272
BGHSt 24, 125 (127 f.); AK-S\?OI Wassermann, lowski, Untersuchung, 36 f.
§ 81a Rn. 19.
§ 81a Rn. 3; anders Dzendza-
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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Wege teleologischer Reduktion vorzunehmende Begrenzung des verwendeten Arztbegriffes erreicht, sondern durch eine sachgerechte Anwendung der Formulierung „nach den Regeln der ärztlichen Kunst". Es bedarf dabei wohl keiner weiteren Begründung, dass diese Regeln im Falle der Brechmittel vergäbe von einem Internisten im Zweifel eher eingehalten werden als von einem Zahnarzt. 273 Umgekehrt wird ein Eingriff innerhalb der Mundhöhle voraussichtlich geringere Komplikationen nach sich ziehen, wenn er von einem Dentisten vorgenommen wird. 2 7 4 Demgemäß gebietet es der Zweck des Arztvorbehaltes gerade im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, je nach Schwere des Eingriffs einen Spezialisten heranzuziehen. Maßstab ist, ob und inwieweit die Maßnahme Speziai wissen voraussetzt oder sozusagen zur Routine jeden Mediziners gehört, wie etwa die Blutabnahme. Der konkret fur den Einsatz vorgesehene und gemäß §§ 161a Abs. 1 S. 2 StPO von der Staatsanwaltschaft bzw. gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 StPO vom Gericht als Sachverständige hinzugezogene Arzt kann im Zweifel die Gutachtenerstattung nicht verweigern. 275 Eine sonstige berufsrechtliche oder gesetzliche Verpflichtung besteht allerdings nicht. 276 Dementsprechend müssen Ärzte Eingriffe gemäß § 81a Abs. 1 S. 2 StPO grundsätzlich nicht allein aufgrund einer (gemäß §§ 161a Abs. 1, 163 Abs. 1 S. 1 StPO) polizeilichen Aufforderung vornehmen. Allerdings gilt auch die Mitwirkungspflicht Sachverständiger nur innerhalb der Grenzen der §§ 74, 76 StPO. 277 Zudem ist nur der den Eingriff durchfuhrende Arzt fachlich in der Lage, mögliche Gesundheitsgefahren abzuschätzen. Insoweit besteht eine faktische Bindung der den Eingriff anordnenden Person an das Urteil des Arztes, so dass auch insoweit ein Zwang zur Durchführung rechtstatsächlich kaum besteht. 278
bb) Ausschluss von Gesundheitsnachteilen Die Gestattung körperlicher Eingriffe zu Zwecken der Strafverfolgung hängt bereits von Verfassungs wegen davon ab, dass Gesundheitsnachteile nicht zu befürchten sind. 279 Insofern drückt § 81a Abs. 1 S. 2 StPO in gewissem Sinne 273 In diesem Sinne auch Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 175; Benfer, Eingriffsrechte, Rn. 7/37. 274
So zutreffend SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 53.
275
LR/Dahs, § 81a Rn. 32.
276
SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 55.
277
Allgemein hierzu Blank, BA 1992, 83 f.
278
Eisenberg, BewR, Rn. 1635; Malek/Rüping,
279
Vgl. Kapitel 1 I. 3.
Zwangsmaßnahmen, Rn. 159.
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
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Selbstverständliches aus. Ebenso ist es konsequent, wenn zur Absicherung dieses Ziels verlangt wird, dass die Eingriffe lege artis erfolgen. Damit ist aber auch ausgedrückt, dass § 81a StPO kein Spielfeld fur Experimente eröffnet. 280 Was in diesem Sinne unter Gesundheitsnachteilen zu verstehen ist, folgt ebenfalls unmittelbar aus der oben dargestellten verfassungsrechtlichen Abwägung zwischen körperlicher Integrität und Belangen der Strafverfolgung: Die Gesundheit umfasst neben dem körperlichen auch das seelische Wohlbefinden, denn der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG umfasst neben der biologisch-physiologischen Gesundheit auch die geistig-seelische Integrität des Menschen.281 Nachteile sind demgegenüber nicht schon alle Beeinträchtigungen sondern, unter Berücksichtigung eines Zeitfaktors 282 , nur solche Folgen, die die Gesundheit dauerhaft verschlechtern, d.h. ohne Aussicht auf unverzügliche Besserung. 283 Inwieweit der Betroffene dazu gehalten ist, durch Angaben zu seinem Gesundheitszustand mögliche Gesundheitsnachteile auszuschließen, ist - ebenso wie eventuelle Duldungspflichten im Rahmen der Untersuchung - wiederum eine Frage nach bestehenden Mitwirkungspflichten bzw. dem Verständnis und der Reichweite des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare". Hierzu wird auf die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3 verwiesen.
cc) Grenzen zwangsweiser Durchsetzung Die StPO gestattet Eingriffe in Grundrechte gegen den ausdrücklichen bzw. mutmaßlichen Willen der Betroffenen. Insoweit ist es überflüssig, wenn § 81a Abs. 1 S. 2 StPO dies ausdrücklich betont. Ob hiermit eine Duldungs/?/7/'c/j/ korrespondiert, wie Rogali meint 284 , sei hier dahingestellt. Zwingend ist das jedenfalls nicht. Zunächst bedeutet dies lediglich, dass es den vollstreckenden Polizeibeamten erlaubt ist, die Maßnahme unter Anwendung von Zwang durchzusetzen. Vorab sei daraufhingewiesen, dass § 81a Abs. 1 StPO nicht zu körperlichen Durchsuchungen oder dem Betreten und Durchsuchen der Wohnung des Be-
280
BGHSt 8, 144 (148); Meyer-Goßner, Rn. 16; UUDahs, Rn. 25; KKJSenge, Rn. 6; SK-StPO/Rogali, Rn. 56 (alle zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1634. 281
Siehe nur BVerfGE
282
SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 57.
283
SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 57.
284
SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 57.
56, 54 (75) sowie oben Kapitel 1 I. 2. a).
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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schuldigten oder eines Dritten zwecks Ergreifung ermächtigt. Hierfür müssen die Voraussetzungen der §§ 102, 103, 105 StPO vorliegen. 285
(1) Methoden unmittelbaren Zwangs Mit welchen Mitteln der Zwang ausgeübt werden darf, richtet sich nach den einschlägigen Gesetzen des Bundes und der Länder. 286 In Betracht kommen der Gebrauch von Hiebwaffen, Reizstoffen und Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt (z.B. Fesseln, vgl. etwa §§ 19, 2 Abs. 3 UZwG Bin). Der Einsatz von Schusswaffen - auch zur bloßen Drohung - verbietet sich ersichtlich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Soweit jedoch die zwangsweise Durchsetzung des Eingriffs gestattet ist, rechtfertigt § 81a Abs. 1 StPO Eingriffe in die persönliche Freiheit des Betroffenen, die an sich tatbestandsmäßig i.S.d. §§ 239, 240, 223, 340 StGB sind. Davon umfasst sind auch alle Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen, die den körperlichen Eingriff überhaupt erst ermöglichen sollen. 287 Im Einzelnen ist es daher zulässig, den Beschuldigten festzuhalten und erforderlichenfalls zu fixieren 288 , ihn in eine für die Maßnahme erforderliche Körperhaltung zu bringen 289 , ihn zu entkleiden, die Augenlider sowie den Mund zu öffnen. 290 Sonstige Maßnahmen, die lediglich der Erleichterung des Eingriffs dienen, wie etwa das Setzen einer Beruhigungsspritze, sind dagegen unzulässig, wenn der Beschuldigte nicht hierin einwilligt. 291
(2) Beschränkung der Freiheit i.S.v. Art. 104 Abs. 1 GG? Wenn wie soeben die Fesselung und sonstige Fixierung des Beschuldigten zur Durchführung des körperlichen Eingriffs als durch § 81a StPO gedeckt erachtet wurde, ist es nahezu notwendige Konsequenz, auch Freiheitsbeschrän-
285
KKJSenge, Rn. 10; LR/Dahs, Rn. 62; Meyer-Goßner, Rn. 29 (jeweils zu § 81a).
286
BGHSt 26, 99 (101); SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 110 und Rudolphi, vor § 94 Rn.
36. 287
SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 110 f.
288
OLG Koblenz, VRS 54 (1977/78), 357; YMRJ Paulus, § 81a Rn. 38.
289
AK-SïPO/Wassermann,
290
Eisenberg, BewR, Rn. 1647.
291
§ 81a Rn. 10; Eisenberg, BewR, Rn. 1647.
Meyer-Goßner, Rn. 29; SK-StPO/Rogali, Rn. 111 (jeweils zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1647 (allg. Ansicht).
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Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
kungen im Sinne von Art. 104 Abs. 1 GG auf dieser Grundlage zuzulassen.292 Von einem gewissen Standpunkt aus lässt sich sogar vertreten, dass dies aus Gründen des Gesundheitsschutzes geboten ist. Wenn nämlich eine bestimmte Maßnahme, deren Durchführung sinnvollerweise nur stationär erfolgen kann, prinzipiell durch § 81a Abs. 1 S. 2 StPO zugelassen ist, also auch gegen den Willen des Betroffenen durchgesetzt werden kann, wäre es widersinnig, die Gefährdung seiner Gesundheit in Kauf zu nehmen, weil die Voraussetzungen von § 127 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Umgekehrt lässt sich auch nicht vertreten, dass dann der Eingriff gänzlich zu unterbleiben habe. Wäre das richtig, würde die Rechtmäßigkeit des Eingriffs letztlich davon abhängen, ob die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorlägen. 293 Diese Folge findet allerdings keine Grundlage im Gesetz, denn weder deuten Entstehungsgeschichte noch Wortlaut der Norm auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers hin. Weiterhin ist kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Vorliegen von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr und der Zulässigkeit eines körperlichen Eingriffs zu erkennen. Insbesondere begründet es nicht die Voraussetzungen von § 112 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 StPO, wenn das Beweisergebnis der Untersuchung durch Zeitablauf vermindert zu werden droht. 294 Zudem ist schwerlich zu erklären, warum etwa eine Blutprobenentnahme letztlich davon abhängen soll, dass der Beschuldigte zu fliehen versucht, wenn es doch primär Sinn des Eingriffs ist, Tatsachen zu finden, die fur das Verfahren von Bedeutung sind. Zweck von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist es dagegen, die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren sicherzustellen. 295 Darauf läuft es aber hinaus, wenn es fur unzulässig erachtet wird, den Beschuldigten überhaupt ins Krankenhaus oder jedenfalls zum polizeiärztlichen Dienst zu verbringen. Die gegenläufige Argumentation, die den Charakter der Ermächtigungsnorm als eine auf Beweise abzielende Eingriffsmaßnahme in die körperliche Integrität hervorhebt 296 , verkennt diesen, weil sie die Beweisgewinnung davon abhängig macht, an welchem Ort sich der Beschuldigte im Zeitpunkt der Anordnung
292 So auch die h.M.: BayObLG, NJW 1964, 772; OLG Schleswig, NJW 1964, 2215; OLG Köln, NStZ 1986, 236; UUDahs, Rn. 59; KMR/Paulus, Rn. 40; KKJSenge, Rn. 10; SK-StPO//toga//, Rn. 111; Meyer-Goßner, Rn. 29 (jeweils zu § 81a). A.A. Benfer, NJW 1980, 1611; Geerds, GA 1965, 331; ders., Jura 1988, 11 f. 293
So aber wohl Mertens, Grundrechtseingriffe, 38, unter Hinweis auf den Wortsinn der Ermächtigungsgrundlage. 294 SK-StPO/Rogali, Rn. 106; KMR/Paulus, Rn. 42; Meyer-Goßner, Rn. 29 (alle zu § 81a); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 33 A II 2; a.A. Schlüchter, Strafverfahren, Rn.
261.1. 295 Vgl. nur OLG Köln, StV 1997, 642; Meyer-Goßner, prozesslehre, Rn. 418. 296
Geerds, Jura 1988, 11.
§ 112 Rn. 17; Kühne, Straf-
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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gerade aufhält. Beispielsweise ist es nicht fernliegend, dass ein Unfallbeteiligter sich augenblicklich der Anordnung einer Blutprobenentnahme bereits im Krankenhaus befindet. Es ist nicht einzusehen, warum die Anordnung rechtswidrig sein soll, wenn sich derselbe Unfallbeteiligte zu diesem Zeitpunkt noch am Unfallort befindet. Dass er sich in dem einen Fall aus freien Stücken in das Krankenhaus begibt, kann nicht ausschlaggebend sein, da das die Verweigerung der Blutabnahme zu Zwecken der Strafverfolgung nicht berührt. Alles andere hieße, die Behandlungsbedürftigkeit mit der Zustimmung zu dem Eingriff zu vermengen. § 81a Abs. 1 StPO ist daher förmliches Gesetz im Sinne von Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. 2 9 7 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich weiterhin, dass die Freiheitsbeschränkung auf Grundlage von § 81a Abs. 1 StPO zeitlich naturgemäß auf die Dauer des Eingriffs begrenzt ist. Einer absoluten zeitlichen Begrenzung bedarf es allerdings nicht. 298 Es versteht sich von selbst aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass körperliche Zwangseingriffe so zügig wie möglich durchzuführen sind. Eine feste Obergrenze von etwa drei Stunden, wie dies vorgeschlagen worden ist, ist lediglich geeignet, zusätzlichen Druck auf die durchführende Person auszuüben und dürfte daher eher kontraproduktive Wirkung haben, wenn sie für den konkreten Eingriff zu kurz bemessen ist. 299 Ebenfalls ermächtigt nach hier vertretener Auffassung § 81a Abs. 1 StPO nur zur unmittelbaren Verbringung an den Ort des Eingriffs. 300 Das muss zwar nicht das nächstgelegene Krankenhaus sein j01 , jedoch ist insbesondere in den hier maßgeblichen Fällen der „Gefahr im Verzug" ausgeschlossen, dass der Beschuldigte zunächst zur Polizeiwache gebracht wird.
(3) Vorbereitende
Unterbringung?
Über die kurzfristige Freiheitsentziehung zur Durchführung des körperlichen Eingriffs hinaus, nimmt die h.M. an, § 81a StPO gestatte aufgrund besonderer richterlicher Anordnung auch eine länger andauernde Unterbringung zwecks
297
OLG Bremen, NJW 1966, 743.
298
A.A. Dzendzalowski, Untersuchung, 101; Geerds, Jura 1988, 11.
299
So im Ergebnis auch Geerds, Jura 1988, 12.
300
BayObLGSt 1984, 3 (4); KG, NJW 1979, 1669; HK/Lemke, Rn. 23; KMRJPaulus, Rn. 42; Meyer-Goßner, Rn. 29; SK-StPO /Rogali, Rn. 111 (jeweils zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1646. 301
So aber wohl Peters, Strafprozess, 328. Überwiegend findet sich dagegen die Formulierung, dass der nächste und geeignete Arzt aufgesucht werden müsse.
72
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
Beobachtung des Beschuldigten von etwa vier bis fünf Tagen. 302 Begründet wird das damit, dass bestimmte Eingriffe intensiver Vorbereitung bedürften und daher ein stationärer Aufenthalt unumgänglich sei. Der Beschuldigte müsse sich daher auch erforderlichenfalls für längere Zeit in ein Krankenhaus begeben. 303 Die Ansicht der h.M. erscheint schon auf den ersten Blick fragwürdig, da sie nicht zwischen den Begriffen der Freiheitsbeschränkung gemäß Art. 104 Abs. 1 GG und der Freiheitsentziehung gemäß Art. 104 Abs. 2 GG differenziert/ 04 Soweit der Eingriff in die Freiheit unmittelbar der Durchführung des körperlichen Eingriffs dient, ist er gleichsam Teil der in § 81a StPO beschriebenen Maßnahme. Ein mehrtägiges Festhalten zur Beobachtung ist nur auf Grundlage von § 81 StPO zulässig, der jedoch keine Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit erlaubt. Dieses zu regeln, wäre Aufgabe des Gesetzgebers. 305
3. (Normbereichsüberschreitende) Einwilligung, Freiwilligkeit und Belehrung Der Wortlaut von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO geht allerdings über die zwangsweise Durchsetzung angeordneter Eingriffe hinaus, wenn dort die Zulässigkeit nicht gegen den Willen, sondern „ohne Einwilligung" geregelt ist. Mit der gewählten Formulierung geht das Gesetz offenbar davon aus, dass ein körperlicher Eingriff auch mit Willen des Betroffenen erfolgen kann. Dennoch ist anzunehmen, dass § 81a Abs. 1 S. 2 StPO gleichsam nur die Zulässigkeit zwangsweiser Eingriffe normiert und nur insoweit eine Abwägung trifft. Nichts ausgesagt ist damit über die Reichweite möglicher Eingriffe im Falle eines Grundrechtsverzichts des Betroffenen. Über die Frage, inwieweit die Grundrechte zur Disposition des Einzelnen stehen, besteht in der verfassungsrechtlichen Literatur jedenfalls dahin Einigkeit, dass hierdurch Eingriffe nicht per se rechtmäßig werden. Es gibt also kei-
302
BayVerfGH, NJW 1982, 1584; OLG Celle, NJW 1971, 257; OLG Schleswig, NStZ 1982, 81; OLG Frankfurt, MDR 1979, 694; Meyer-Goßner, Rn. 24; LR/Dahs, Rn. 29; KMRJPaulus, Rn. 43; AKJ Wassermann, Rn. 7 (jeweils zu § 81a und m.w.Nachw.). Bis zu vierzehn Tagen Dauer hielt für zulässig BayObLG, JR 1957, 1 10 m. abl. Anm. Eb. Schmidt. 303
LR/Dahs, § 81a Rn. 29.
304
SK-StPO//toga//, § 81a Rn. 112; Eisenberg, BewR, Rn. 1623; Eb. Schmidt, Nachtrag I, Rn. 19; Baumann, FS Eb. Schmidt, 539; Hahn, GA 1977, 65 ff.; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 174.4. 305
So zutreffend SK-StPO//?^//, § 81a Rn. 112.
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
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nen „Totalverzicht" 306 etwa mit der Folge, dass der Betroffene in seine Tötung einwilligen könnte (vgl. auch § 216 StGB). Begründet wird das nach einem modernen Grundrechtsverständnis damit, dass diese nicht nur Abwehrrechte, sondern „wertentscheidende Grundsatznormen der gesamten Rechtsordnung" sind. Demgemäß können die Grundrechte wegen ihres objektiven Gehalts auch nicht vollständig zu dessen Disposition stehen.307 Andererseits ist es im Interesse größtmöglicher Freiheitsverwirklichung des Einzelnen geboten, ihm die Möglichkeit einzuräumen, staatliches Verhalten durch Einverständnis- und Einwilligungserklärungen zu beeinflussen; als Abwehrrechte gewährleisten die Grundrechte ebenfalls die Freiheit zum Verzicht. 308 Voraussetzung ist aber immer, dass er ausdrücklich 309 , ernstlich und absolut freiwillig, das heißt aus autonomen Motiven, 310 geleistet wird. Jede Form von Täuschung, Drohung, Zwang oder mangelnder Einsichtsfähigkeit (z.B. aufgrund Alkoholkonsums) macht die Einwilligung daher unwirksam. 311 Aus dem Gesagten ergibt sich in der Konsequenz, dass der Beschuldigte, um überhaupt wirksam einwilligen zu können, vollständig über die Art des Eingriffs inklusive bestehender Risiken etc. aufgeklärt und über Möglichkeiten zwangsweiser Durchsetzung bzw. die gegebenenfalls bestehende Unzulässigkeit des Eingriffs bei Verweigerung der Einwilligung belehrt werden muss. 312 Dies impliziert zwar, dass es keine unerlaubte Drohung darstellt, wenn der Beschuldigte unter Hinweis auf die (tatsächliche) Gestattung der Durchsetzung gegen seinen Willen zur Mitwirkung aufgefordert wird. Es schließt aber die Freiwilligkeit der darauf hin erklärten Einwilligung aus, denn der Drohungscharakter der Aufforderung bleibt erhalten. 313 Als - gemäß dem Rechtsgedan-
306 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 163; siehe auch Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 32, 38,Amelung, Einwilligung, 4. 307
Pieroth/Schlink, Schutz der Würde. 308
Grundrechte, Rn. 163; das folgt auch schon aus Art. 1 Abs. 1 S. 2:
Geiger, NVwZ 1989, 35.
309
LRJDahs, Rn. 10; SK-StPO//toga//, Rn. 18 (jeweils zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1626; Malek/Rüping, Rn. 164; vgl. auch Robbers, JuS 1985, 925 f.; Amelung, StV 1985, 258, der zurecht daraufhinweist, „dass die Repräsentanten der staatlichen Strafverfolgung dazu neigen, schon die widerspruchslose Hinnahme der Grundrechtsbeeinträchtigung als Einwilligung zu deuten." 3.0
LRJDahs, § 81a Rn. 11.
3.1
BGH, NJW 1964, 1177; KMRJPaulus, Rn. 13; LRJDahs, Rn. 11; SK-StPO/Rogali, Rn. 18 (jeweils zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1626. 312
Meyer-Goßner,
Rn. 12; LRJDahs, Rn. 21 (beide zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn.
1628. 3,3
Deshalb hängt die Zulässigkeit des daraufhin unter Mitwirkung erfolgten Eingriffs einzig von der Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen ab. Dies verkennt KG, JR
74
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
ken von § 136a StPO - selbstverständlich unzulässige Täuschung wäre es hingegen zu qualifizieren, wenn die zwangsweise Durchsetzung de lege lata rechtswidrig ist. Einer gewissen Stichhaltigkeit entbehrt auf den ersten Blick auch nicht der in diesem Zusammenhang erhobene Einwand, dass bereits die Existenz einer Norm wie § 81a StPO die Freiwilligkeit etwaiger Einwilligungen ausschließe und insofern einen Wertungswiderspruch in sich darstelle. 314 Denn immerhin besteht ja - im Anwendungsbereich von § 81a StPO - in der Regel die Möglichkeit der zwangsweisen bzw. gewaltsamen Durchsetzung. Insofern könnte in der Tat bezweifelt werden, ob z.B. die Einwilligung trotz fehlender richterlicher Anordnung gemäß § 81a Abs. 2 StPO in dem Wissen, dass jene jederzeit beschafft werden kann, aus „autonomen Motiven" erteilt wird. Entsprechendes gilt, wenn in die Durchführung durch eine unbefugte Person eingewilligt wird, sofern ein hierzu Befugter erreichbar ist. 315 Allerdings werden bei einem solchen Verständnis übersteigerte Anforderungen an die Autonomie der Entscheidung gestellt, zumal die Grenze zu heteronomen Motiven wegen der Vielzahl an Einflüssen oft genug schwammig ist. Auch ist nicht klar, auf wessen Blickwinkel bei Beurteilung einer Entscheidung als selbstbestimmt abzustellen wäre: Soll etwa die Einwilligung in eine Durchführung der Blutentnahme durch einen Pfleger im Sinne einer objektivierenden Betrachtung deshalb als unfreiwillig angesehen werden, weil die latente Drohung ihrer Erzwingbarkeit im Raum steht, oder versubjektivierend als freiwillig, etwa weil der Beschuldigte möglichst bald nach Hause möchte? 316 Demzufolge hindert allein die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung des Eingriffs die Freiwilligkeit noch nicht. Umgekehrt ist aber die Einwilligung - bei Abwesenheit sonstiger Einflussnahmen der Strafverfolgungsbehörden als regelmäßig freiwillig anzusehen, wenn die betreffende Maßnahme gerade nicht zwangsweise durchgesetzt werden könnte. Das schließt andererseits aus, dass sich der Betroffene gerade durch die Verweigerung der Einwilligung verdächtig macht und auf diese Weise einer Anordnung des Eingriffs quasi den Boden bereitet. 317
2001, 164, wonach es in diesem Fall nicht darauf ankommen soll, ob die entsprechende Maßnahme auch mittels vis absoluta hätte durchgesetzt werden dürfen. Näher dazu unten Kapitel 4 IV. 314
So Kopf (Genomanalyse, 195), allerdings offenbar nur auf sog. „Reihenuntersuchungen" bezogen. 315
Vgl. zu diesen Mängeln nur SK-StPO /Rogali, § 81a Rn. 16 mit weiteren Nachw.
3.6
Siehe auch Amelung, StV 1985, 257, 261 f.: „Halbfreiwillige Einwilligung".
3.7 I.E. ebenso Amelung, StV 1985, 261; Dix , DuD 1989, 237; Jung. , MSchr 1989, 105; Kopf Genomanalyse, 194, die es jedoch als zwingend ansieht, dass mit der Weige-
I. Körperliche Eingriffe auf Grundlage von § 81a Abs. 1 S. 2
75
Bis hierhin ist daher festzuhalten, dass Freiwilligkeit ausschließende Umstände sich gerade als Folge staatlichen Zwanges darstellen müssen. Ob dieses Zwangsverhalten kausal für die getroffene Entscheidung geworden ist, ist sofern konkrete Anhaltspunkte fehlen - um so mehr zu vermuten, je eher das Verhalten der Strafverfolger objektiv als Drohung verstanden werden konnte. Eine andere Frage ist es wiederum, in welchem Umfang eine tatsächlich freiwillig erklärte Einwilligung in der Lage ist, an sich gemäß § 81a StPO unzulässige Maßnahmen zu legalisieren. Anhaltspunkt hierfür ist vor allem § 136a Abs. 3 S. 1 StPO, woraus sich entnehmen lässt, dass es Bereiche gibt, die der Einwilligung des Beschuldigten auch dann entzogen sind, wenn er sich von deren Ergebnis Entlastung erhofft. 318 Sicherlich ist es dem Beschuldigten unbenommen, sich selbst der Strafverfolgung auszuliefern und an dem Beweis seiner Schuld mitzuwirken. 319 Andernfalls müsste man unsinnigerweise etwa dafür Sorge tragen, dass er kein (freiwilliges) Geständnis ablegt oder sich selbst stellt. Es ist jedenfalls nicht Aufgabe des - wie auch immer verstandenen - „nemo tenetur-Grundsatzes", den Beschuldigten vor sich selbst „zu schützen". Allerdings ist er über die Freiwilligkeit der Mitwirkung zu belehren. 320 Ohne Bedeutung dürfte das erklärte Einverständnis hingegen in aller Regel bleiben, wenn die Maßnahme weder geeignet noch erforderlich für das Verfahren ist. 321 Strafverfolgung, die
rung im Wege des Ausschlussprinzips ein Tatverdacht herausgebildet wird. Eine andere Frage wäre es allerdings, ob auf Grundlage eines so erlangten Tatverdachts die - überführende - Anordnung des Eingriffs getroffen werden dürfte. Das BVerfG (JZ 1996, 1175 f. m. Anm. Gusy und Anm. Benfer, NStZ 1997, 397 f.) hat dies abgelehnt. - Zur parallelen Problematik der Selbstbelastung durch das (rechtsausübende) Prozessverhalten siehe näher BGH StV 2000, 234 (= JZ 2000, 683 m. Anm. Kühne) und StV 2000, 293, wo an die Frage angeknüpft wird, ob es sich um einen umfassend schweigenden Angeklagten handelt bzw. ob das fragliche Prozessverhalten gegenüber den sonstigen Einlassungen einen eigenen Erklärungswert hat (kritisch hierzu Keiser, StV 2000, 633 ff.). 318
Vgl. Meyer-Goßner, § 136a Rn. 26; betreffend die Anwendung eines Polygraphen wird in entsprechender Anwendung von § 136a Abs. 1 StPO eine Zulässigkeit auf Grundlage der Einwilligung des Beschuldigten von der h.M. verneint. Nunmehr hat der BGH (St 44, 308 [319 ff.]) allerdings insoweit entschieden, dass die freiwillige Mitwirkung am Lügendetektor-Test zwar nicht gegen Verfassungsgrundsätze oder § 136a StPO verstößt, jedoch als gemäß § 244 Abs. 3 S. 2 StPO völlig ungeeignetes Beweismittel anzusehen ist. Dagegen: Meyer-Mews, NJW 2000, 916. Ausfuhrlich zum Ganzen Eisenberg, BewR, Rn. 693 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 3,9
SK-StPO/ Rogali, § 81a Rn. 16.
320
Eisenberg, BewR, Rn. 1628; mj Lemke, § 81a Rn. 8.
321
Amelung, StV 1985, 259 mit dem Hinweis, dass den Elementen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eine subjektive Komponente innewohne und
76
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
sich grundrechtseingreifender Maßnahmen bedient, ohne dass dieses fur das in Frage stehende Verfahren bedeutsam werden könnte oder über das Erforderliche hinausgeht, verhält sich grundsätzlich rechtsstaatswidrig - unabhängig davon, ob der Betroffene insoweit seine Zustimmung erteilt hat oder nicht. Insoweit kommt das Verständnis der Grundrechte als objektiver Werteordnung zum Tragen. 322 Ob das allerdings auch ohne Ausnahme gilt, wenn die Angemessenheit von Mittel und Zweck in Frage steht, ist zweifelhaft. Insofern ist nämlich zu bedenken, dass es im Rahmen der Abwägung durchaus von Belang ist, ob der Beschuldigte seine Rechte durchsetzen will. Relevant kann das etwa werden, wenn der Beschuldigte einen bislang geringfügigen Verdacht endgültig auszuräumen beabsichtigt.323 - In jedem Fall unverhältnismäßig und auch nicht einwilligungsfähig ist es allerdings, wenn die Maßnahme mit Gesundheitsgefahren verbunden ist. Dann nämlich gilt wiederum das soeben Ausgeführte, d.h. dass die Grundrechte auch eine objektive Werteordnung darstellen. 324 Gleiches gilt auch hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Zwar gibt es keine Verpflichtung des Bürgers, seine eigene Würde zu beachten325, jedoch heißt das nicht, dass der Staat aufgrund der Einwilligung uneingeschränkt zu Eingriffen berechtigt wäre; der Schutz der Würde ist und bleibt oberste Handlungspflicht, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. 3 2 6 Zuletzt ist nur der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass eine Einwilligung, die gegen die guten Sitten verstößt, den Grundrechtseingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht legitimieren kann. Das ergibt sich schon aus § 228 StGB. Insoweit ist es nur schwerlich nachzuvollziehen, wenn bei Zweifeln über die Sittenwidrigkeit der Einwilligung empfohlen wird, eine richterliche Anordnung herbeizuführen 327 - als ob diese den Wirksamkeitsmangel beheben könnte/ 2 8
es deshalb im Einzelfall dem Betroffenen vorbehalten bleiben müsse zu entscheiden, durch welchen Eingriff er sich am wenigsten belastet fühlt. 322
Grundlegend dazu BVerfGE
323
Amelung, StV 1985,259.
7, 198 (205).
324 Im Ergebnis ebenso SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 17 mit Hinweis auf den Wortlaut von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO.
325
Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 32.
326
Im Ergebnis a.A. Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 32; Amelung, StV 1985, 259, der insoweit auf das Selbstbestimmungsrecht abhebt und Grenzen im Sittengesetz erkennt. 327 BVerfG, NJW 1970, 505 (zu § 226a StGB); Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 179.1; LR/Dahs, Rn. 9; KK/Senge, Rn. 3; HK7Lemke, Rn. 3; KMR/Paulus, Rn. 13 (alle zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1626; Graalmann-Scheerer, JR 1999, 453. 328 So zutreffend Malek/Rüping, Zwangsmaßnahmen, Rn. 164; SK-StPO/Rogali § 81a Rn. 17.
I
Rechtsschutz
77
II. Rechtsschutz 1. Angriffe im Ermittlungsverfahren a) Richterliche Anordnung Im Allgemeinen sind noch nicht vollzogene richterliche Anordnungen gemäß § 81a Abs. 2 Hs. 1 StPO mit der Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO anfechtbar. Das gilt in jedem Falle, wenn die Anordnung in der Zuständigkeit des Ermittlungsrichters erging, ist jedoch strittig, soweit sie durch das erkennende Gericht, also nach Eröffnung des Hauptverfahrens, erfolgte. 329 Hierauf wie auf die im Einzelnen ebenfalls umstrittene Frage der Anfechtung bereits vollzogener richterlicher Anordnungen 330 soll indes nicht weiter eingegangen werden, da in den Fällen der Brechmittelvergabe eine richterliche Anordnung praktisch ohnehin nicht vorkommt.
b) Nichtrichterliche
Anordnung
Während bis vor kurzer Zeit die Rechtsprechung noch in mehrfacher Hinsicht differenzierte und insbesondere Rechtsschutz gegen die Art und Weise des Eingriffs gemäß § 23 EGGVG behandelt wissen wollte 3 3 1 , hat sich nunmehr richtigerweise auch im Sinne größerer Transparenz und zur Vermeidung einer Rechtswegaufspaltung die Ansicht durchgesetzt, dass gegen nichtrichterliche Anordnungen als solche 332 , als auch gegen die Art und Weise der Durchführung, die gerichtliche Entscheidung gemäß § 98 Abs. 2 S. 2 StPO (analog)
329
Für generelle Unzulässigkeit gem. § 305 S. 1 StPO: OLG Frankfurt, NJW 1957, 839; OLG Hamm, NJW 1959, 447 f.; OLG Braunschweig, GA 1965, 345. Für generelle Zulässigkeit wegen der Unmöglichkeit, die Maßnahme rückgängig zu machen: BayObLG, JR 1957, 110 mit insoweit zustimmender Anmerkung Eb. Schmidts LG Bremen, NJW 1968, 208; Amelung, Rechtsschutz, 21 ff.. Für Zulässigkeit, wenn die Anordnung inhaltlich den Fällen von § 305 S. 2 StPO gleichkommt, also insbesondere mit einer Freiheitsentziehung verbunden ist: Eisenberg, BewR, Rn. 1648; KK/Senge, Rn. 13; KMK/Paulus, Rn. 52; LRJDahs, Rn. 68; HYJLemke, Rn. 30; Meyer-Goßner, Rn. 30; SK-StPO/Rogali, Rn. 115 (alle zu § 81a). 330 Beschwerde in Fällen leichterer Eingriffe nur bei besonderem „Feststellungsinteresse". Siehe dazu nur BVerfGE 96, 27 (41) = JR 1997, 382 m. Anm. Amelung = JZ 1997, 1059 m. Anm. Fezer (für richterlich angeordnete Wohnungsdurchsuchungen); Meyer-Goßner, vor § 296 Rn. 18a sowie die Nachweise bei Eisenberg, BewR, Rn. 1650. 331
So noch BGHSt 28, 206 (207); St 37, 79 (82).
332
Zu Einschränkungen siehe Eisenberg, BewR, Rn. 1652.
78
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
beantragt werden kann. 333 Die Erledigung der Maßnahme steht der Zulässigkeit des Antrags nicht entgegen.334
2. Revision Verstöße gegen die dargelegten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen können im Hauptverfahren mit der Revision geltend gemacht werden, wenn im Urteil ein unverwertbares Untersuchungsergebnis berücksichtigt worden ist und dieses hierauf beruht (§ 337 StPO). Die Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO sind bei der Darlegung zu beachten.
a) Unverwertbarkeit
von Ermittlungsergebnissen
Ob und inwieweit ein solcher Verfahrensverstoß zur Unverwertbarkeit des Untersuchungsergebnisses fuhrt, ist nach allgemeinen revisionsrechtlichen Grundsätzen zu ermitteln. 335 Da die Strafprozessordnung für die Fälle des § 81a StPO keine ausdrückliche Regelung trifft, ist für die Annahme ungeschriebener Beweisverwertungsverbote vor allem auf die verschiedenen einschlägigen Lehren in der Rechtsprechung und Literatur zurückzugreifen. Hierbei ist der Streit über die Dogmatik der ungeschriebenen Beweisverwertungsverbote allerdings nicht überzubewerten, da sich die sog. „Rechtskreistheorie" des BGH 336 und die in der Literatur vertretenen Lehren in ihren Ergebnissen weitgehend angeglichen haben. 337 Zwar besteht Uneinigkeit über die im Einzelnen einzubeziehenden Kriterien, jedoch ist die Lösung innerhalb des bereits dargestellten Rahmens von Individualinteresse auf der einen und Interesse an einer
333
BGHSt 44, 265; St 45, 183; OLG Koblenz, StV 2002, 126 f.; Meyer-Goßner, § 98 Rn. 23; SK-StPO//togö//, § 81a Rn. 118; Fezer, NStZ 1999, 152; Schroth, StV 1999, 118; a.A. HK! Lemke, Rn. 31; Meyer-Goßner, Rn. 31 (beide zu § 81a). 334
SK-StPO/ Rogali, Rn. 116; KYJSenge, Rn. 13; LR/Dahs, Rn. 72 (alle zu § 81a): SK-StPO/Rudolphi, Rn. 36; Meyer-Goßner, Rn. 23 (beide zu § 98); AK/Achenbach, § 163 Rn. 38; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 326 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 29 Rn.
12. 335 Für ein generelles Verwertungsverbot in Fällen der Verletzung von Beweiserhebungsverboten Kühne, Strafprozesslehre, Rn. 532. 336 337
Grundlegend BGHSt (GrS) 11, 213 (218).
Vgl. z.B. BGHSt 24, 125 (130 f. [speziell bezüglich § 81a Abs. 1 S. 2 StPO]); St 42, 73 (77). Als Überblick über die verschiedenen Ansätze, ihre Nachteile und Vorzüge vgl. Schroth, JuS 1998, 973 f.
II. Rechtsschutz
79
effektiven Strafverfolgung auf der anderen Seite zu suchen.338 Insoweit korrespondiert die allgemeine Sachaufklärungspflicht (§§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO) mit dem in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundgedanken der umfassenden Beweiswürdigung 339, während sich auch hier der schon referierte Satz niederschlägt, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis zu ermitteln ist. 340 Als maßgeblicher Wertungsgesichtspunkt lässt sich zusammenfassend festhalten, dass ein Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot jedenfalls dann ein Verwertungsverbot nach sich zieht, wenn dadurch gerade der Zweck des Erhebungsverbots unterlaufen würde. Etwas anderes wird nur angenommen, wenn das Beweisergebnis mit großer Wahrscheinlichkeit auch in rechtmäßiger Weise hätte erlangt werden können (sog. „Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung"). Im Falle der Verletzung bloßer Ordnungsregeln wird man ebenfalls kein Verwertungsverbot annehmen können. Im Einzelnen kann aber zweifelhaft sein, wann eine solche bloße Ordnungsvorschrift anzunehmen ist. Dagegen ist es als schwerwiegender Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorschriften zu bewerten, wenn wesentliche Voraussetzungen der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage nicht eingehalten bzw. der Richtervorbehalt willkürlich verletzt wird. Zwar nur eine untergeordnete, jedoch immerhin auch eine Rolle spielen die mit den Beweisverwertungsverboten einhergehende Disziplinierungsfunktion der Strafverfolgungsorgane sowie die Abwendung von Gefahren für die Wahrheitsermittlung. 341
b) Unverwertbarkeit
nach Eingriffen
gemäß § 81a StPO
Bezogen auf die Verwertbarke it der aus körperlichen Eingriffen resultierenden Untersuchungsergebnisse gilt danach Folgendes: Soweit der jeweilige Eingriff prinzipiell durch die Ermächtigungsnorm des § 81a Abs. 1 S. 2 StPO gedeckt ist, kommt ein (unselbständiges) Verwertungsverbot nahezu nur in Fällen schwerwiegender Verletzungen erheblicher Verfahrensvoraussetzungen in Betracht. Einen Anhaltspunkt dafür bietet der in § 136a StPO zum Ausdruck
338 Vgl. oben Kapitel 1 I. 2. Ob allein aus einer Abwägung dieser beiden Eckpunkte allerdings ein unselbständiges Verwertungsverbot gefolgert werden kann, ist zweifelhaft. Insoweit ist - mit Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 458 - festzustellen, dass die Abwägung gerade durch den Gesetzgeber bereits getroffen worden ist. 339
Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 454.
340
BGHSt 38, 214 (219 ff).
341
Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 454; Schroth, JuS 1998, 974.
80
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
kommende Gedanke. Demgemäß ist Unverwertbarkeit anzunehmen, wenn der Beschuldigte bewusst etwa darüber getäuscht wurde, dass der Eingriff durch einen Arzt vorgenommen werde 342 bzw. wenn der Polizeibeamte den Eingriff mittels Zwang oder Androhung von Zwang durchgesetzt hat, obwohl ihm bekannt ist, dass die den Eingriff vornehmende Person kein Arzt ist. 343 Verwertbar soll nach überwiegender Auffassung allerdings das Untersuchungsergebnis sein, wenn „lediglich" die Anordnungszuständigkeit missachtet wurde. 344 Das ist nach oben Gesagtem in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Soweit sich nämlich der jeweilige Angehörige der Strafverfolgungsbehörden bewusst über seine fehlende Kompetenz hinwegsetzt, stellt dies einen rechtsstaatswidrigen Akt von Willkür dar, der schon aus Gründen der Disziplinierung aber auch der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes die Unverwertbarkeit des so erlangten Beweismittels nach sich ziehen muss. 345 Gleiches gilt, wenn der Eingriff gänzlich ohne Anordnung durchgeführt wurde. 346 - Ob allerdings der Verwertung im Urteil auch entgegensteht, dass der Beamte seine Anordnungszuständigkeit irrtümlich angenommen hat, ist zweifelhaft. 347 Richtigerweise wird auf den Einzelfall und darauf abzustellen sein, ob die anordnende Person zum Kreis der grundsätzlich Anordnungsberechtigten i.S.v. § 81a Abs. 2 StPO gehörte 348 und - zumal nach hier vertretener Auffassung ein Beurteilungsspielraum bei Annahme einer Gefahr im Verzug nicht besteht - ob der Irrtum bei verständiger Würdigung auch der Anordnungssituation einsichtig gemacht werden kann. Faktisch nicht zu einer Unverwertbarkeit des Beweisergebnisses führt es in aller Regel, wenn die Anordnung des Zwangseingriffs (irrtümlich) ohne zureichende tatsächliche Anhaltspunkte (§ 152 Abs. 2 StPO) für das Vorliegen einer Straftat bzw. für die Täterschaft des Betroffenen erfolgte. Abgesehen davon, dass dieser Fall nach h.M. aufgrund des angenommenen Beurteilungsspielraums bei der Verdachtsbegründung ohnehin praktisch kaum vorkommen
342
Eisenberg, BewR, Rn. 1654.
343
BGHSt 24, 125 (131); Eisenberg, BewR, Rn. 1654.
344
BayObLG, JR 1966, 187 m. Anm. Kohlhaas; KK/Senge, Rn. 14; Meyer-Goßner, Rn. 32; LRJDahs, Rn. 75 (alle zu § 81a). 345
Im Ergebnis ebenso Grünwald, JZ 1966, 496.
346
SK-StPO/Rogali, § 81a Rn. 93.
347
Für Verwertbarkeit etwa Grünwald, JZ 1966, 496; LRJDahs, § 81a Rn. 75; dagegen z.B. Eisenberg, a.a.O., Rn. 1656; AK/Wassermann, § 81a Rn. 14. 348
Insoweit auch SK-Si?0/ Rogali, § 81a Rn. 93 mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenmeinung.
II. Rechtsschutz
81
wird 3 4 9 , sind die gesetzlichen Vorgaben an die Verdachtsbegründung so gering, dass sich die Ermittlungsperson - bei unbewusst falscher Annahme - davon gar nicht wird „weit entfernen können". 350 Etwas anderes gilt aber, wenn sich die anordnende Person bewusst über den fehlenden Verdacht hinwegsetzte. Insofern greift der wiederkehrende Gedanke, dass vorsätzliche Missachtungen von (befugnisbegrenzenden) Verfahrensvorschriften ausnahmslos zur Unverwertbarkeit des Beweisergebnisses fuhren müssen. Für den Anfangsverdacht als den die Türen zum Ermittlungsverfahren öffnenden Schlüssel muss das besonders gelten/ 51 Diese Situation wird man anzunehmen haben, wenn sich der Verdacht unter keinem Gesichtspunkt begründen lässt bzw. die dabei angestellten Erwägungen rechtsstaatswidrig und daher unzulässig sind/ 5 2 Dagegen muss es stets zur Unverwertbarkeit des Untersuchungsergebnisses fuhren, wenn der Eingriff ohne gesetzliche Ermächtigung erfolgte, so dass sich die Verwertung im Urteil als Vertiefung der Grundrechtsverletzung darstellen würde. Konkret bedeutet das, dass Beweisergebnisse außer Betracht zu bleiben haben, wenn der Eingriff ohne eine erforderliche (wirksame) Einwilligung des Beschuldigten durchgeführt wurde. 353 Damit in engem Zusammenhang steht auch das Verbot der Verwertung solcher Kenntnisse, die unter Verstoß gegen den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare" 354 oder hinsichtlich der Methode gegen elementare Grundsätze des Rechtsstaates erlangt wurden. 355 Aller-
349
Vgl. nur BGHSt 37, 48 (51); Meyer-Goßner, § 152 Rn. 4; UUHanack, § 136 Rn. 4; Eisenberg, BewR, Rn. 506; kritisch aber ders./Conen, NJW 1998, 2241 f.; Störmer, ZStW 108 (1996), 516. 350
Siehe dazu SK-StPOIRogali, § 81a Rn. 85; Roger, Verwertbarkeit, 100 f.
351
Hierüber besteht Einigkeit, jedoch differieren die Begründungen. Die h.M. leitet das Ergebnis aus dem „fair-trial-Grundsatz" ab, vgl. BGHSt 24, 124 (131); Rogali , ZStW 91 (1979), 37; MalekJRüping, Zwangsmaßnahmen, Rn. 193; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 39; siehe auch LR/Dahs, Rn. 79; SK-StPO /Rogali, Rn. 84 (beide zu § 81a); Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 477. 352
Vgl. etwa zur Verdachtsbegründung bei den sogenannten „Reihenuntersuchungen" BVerfG, NJW 1996, 1588: Kein Tatverdacht aus der bloßen Verweigerung der Teilnahme. 353
Eisenberg, BewR, Rn. 1653. Dazu zählt es auch, wenn der Beschuldigte nicht umfassend über die Freiwilligkeit seiner Mitwirkung belehrt wurde, vgl. KMR/Paulus, Rn. 61; AKJWassermann, Rn. 6, 14; SK-StPO/Rogali, Rn. 88 (alle zu § 81a); ders., Beweismittel, 229; a.A. BayObLG, bei Rüth, DAR 1966, 261 f.; OLG Hamm, NJW 1967, 1524 f.; Meyer-Goßner, Rn. 32; WYJ Lemke, Rn. 26; KYJSenge, Rn. 14 (alle zu § 81a). 354 355
Unstrittig; vgl. nur BGHSt 38, 214 (218 ff.); Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 467.
BGHSt 24, 125 (131); Rogali, ZStW 91 (1979), 37. In diesem Sinne ist auch die einhellige Zustimmung zu verstehen, die die Entscheidung OLG Frankfurt (NJW 1997, 1647 ff.) im Ergebnis trotz aller sonstigen Kritik erfahren hat.
82
Kapitel 2: Materielle Voraussetzungen
dings ist daraus nicht zu folgern, dass § 136a StPO im Rahmen von § 81a StPO Anwendung finden kann. 356 Dagegen spricht schon die unterschiedliche Zwecksetzung beider Normen, zumal es gerade bei alkoholisierten und sonst bewusstseinsgeminderten Beschuldigten nicht möglich wäre, Beweisergebnisse zu erlangen. Dass auf diesen Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit abgestellt werden darf, ergibt sich aus der Tatsache, dass es im Unterschied zur Vernehmungssituation bei körperlichen Untersuchungen im Rahmen von § 81a Abs. 1 StPO gerade nicht auf die Mitwirkung des Beschuldigten ankommt. 357 Abzulehnen ist es aber, wenn zuweilen ein Verwertungsverbot eines Beweisergebnisses verneint wird, obwohl der Eingriff trotz bestehender Gesundheitsgefahren durchgeführt wurde oder sogar zu gesundheitlichen Nachteilen geführt hat. 358 Soweit nämlich die Gesundheitsgefahren schon zuvor erkannt worden sind oder hätten erkannt werden müssen, ergibt sich die Unverwertbarkeit bereits aus der nicht erfolgten Belehrung über die Freiwilligkeit der Mitwirkung - sofern man solche Eingriffe entgegen der hier vertretenen Auffassung überhaupt für einwilligungsfähig erachtet. 359 Sind sie hingegen nicht erkannt worden, folgt die gleichwohl anzunehmende Unverwertbarkeit des Untersuchungsergebnisses letztlich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, die in § 81a Abs. 1 S. 2 StPO ihre Konkretisierung gefunden haben („Gesundheitsnachteile nicht zu befürchten sind"). Daraus ergibt sich nicht zuletzt, dass das Gesetz die Gesundheit des Betroffenen höher bewertet als das StrafVerfolgungsinteresse. Das gilt ausnahmslos und zwar auch dann, wenn das Untersuchungsergebnis vorliegt. Andernfalls kann dieser Schutz nicht wirksam durchgesetzt werden.
3. Probleme der Verteidigung Wie häufig bei Zwangseingriffen, die regelmäßig im Rahmen einer Eilzuständigkeit durchgeführt werden, erwachsen auch in den Fällen der Brechmittelvergabe erhebliche Schwierigkeiten, die Rechte des Betroffenen wahrzunehmen und durchzusetzen. Eine Pflicht, auf das Eintreffen des Verteidigers zu warten, besteht naturgemäß nicht, da dies den Untersuchungserfolg gefährden
356
H.M., BGHSt 24, 125 (129 ff.); KYJSenge, Rn. 14; KMR/Paulus, Rn. 59; UUDahs, Rn. 78 (alle zu § 81a); Eisenberg, BewR, Rn. 1655; a.A. OLG Celle, NJW 1969, 567; Rüping, Strafverfahren, Rn. 267. 357
So zutreffend Eisenberg, BewR, Rn. 1655.
358
LRJDahs, § 81a Rn. 75; differenzierend SK-StPOIRogali, § 81a Rn. 92; kritisch dazu auch Grünwald, JZ 1966, 496. 359
Vgl. dazu oben I. 3.
II. Rechtsschutz
83
würde (vgl. § 168c Abs. 3 S. 1 StPO). 360 Vielmehr ist es die Regel, dass der Verteidiger von der Anordnung und Vollziehung des Zwangsmittels erst Kenntnis erlangt, wenn es bereits abgeschlossen ist. 361 Dies hat weitreichende Konsequenzen: Entgegen dem Regelungszweck der von § 162 StPO erfassten Untersuchungshandlungen wird der Ermittlungsrichter erst nachträglich an dem Verfahren beteiligt. Seiner ursprünglichen Aufgabe, die Rechtmäßigkeit des Vorgehens vor dem Grundrechtseingriff m prüfen (§ 162 Abs. 3 StPO) 362 , kann er so faktisch nicht mehr nachkommen. Dem Beschuldigten steht ohnehin nur die Möglichkeit zur nachträglichen Erlangung von Rechtsschutz zur Verfügung (vgl. § 98 Abs. 2 S. 2 StPO). Demgemäß beschränken sich die Alternativen des Verteidigers darauf, durch Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe nachteilige Konsequenzen für den Beschuldigten so weit als möglich zu minimieren 363 . Hierbei schlägt allerdings das bereits soeben angeführte Problem durch, dass es nach einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung (der auch die Literatur überwiegend folgt) insoweit einen Beurteilungsspielraum der ermittelnden Beamten gibt. Aufgrund der eingeschränkten richterlichen Kontrolle existiert damit nur eine sehr geringe Möglichkeit, durch den Zwangsmitteleinsatz erlangte Beweismittel der Verwertung zu entziehen, so dass die Frage nicht einer gewissen Berechtigung entbehrt, ob die derzeitige Handhabung immer mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang zu bringen ist.
360
LR-Dahs, § 81a Rn. 17; KK-Senge, § 81a Rn. 4; Malek/Rüping, Zwangsmaßnahmen, Rn. 172; weitergehend KG, NJW 1979, 1668: Generell kein Anwesenheitsrecht bei Durchführung körperlicher Untersuchungen. Dagegen: Krause, StV 1984, 171. 361
Burhoff
Hdb. EV, Rn. 1008; Bockemühl/Hainzmann
in: Hdb. Fachanwalt, Β Kap.5
Rn. 3. 362
Die Prüfungskompetenz des Ermittlungsrichters erstreckt sich auch auf die Verhältnismäßigkeit der beantragten Maßnahme. Das gilt insbesondere für ihm vorbehaltene Anordnungen von Zwangsmaßnahmen, vgl. BGH (Ermittlungsrichter) vom 29.3.1989 (1 BGs 1 0 1 / 8 9 - 1 BJs 33/89), NStZ 1989, 333; Rieß, NStZ 1991, 515.; HKKrehl, § 162 Rn. 4 f. mit weiteren Nachweisen. 363 Bockemühl/Hainzmann in: Hdb Fachanwalt, Β Kap.5 Rn. 3; vgl. auch Ostendorf/Brüning, JuS 2001, 1064 f.
Kapitel 3
Die Praxis der Brechmittelvergabe Wurden in den vorangegangenen Kapiteln die Grundlagen strafprozessualer und speziell körperlicher Eingriffe behandelt, widmen sich die folgenden Ausführungen vor diesem Hintergrund nunmehr der Brechmittelvergabe im Besonderen. Dabei ist die Darstellung der Praxis von ausnehmender Bedeutung, weil sich hierin unbeschadet jeder Dogmatik die Problemstellungen aufzeigen lassen, über die sich auch eine noch so feinsinnige theoretische Differenzierung nicht hinwegsetzen kann. Ohne vorzugreifen sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die elementare Schwierigkeit darin liegt, den Beschuldigten vor möglichen Gefahren für seine Gesundheit zu bewahren - oft genug auch gegen dessen eigenes Handeln.
I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln Allgemein werden zur Exkorporation von giftigen Stoffen oder verschluckten Gegenständen, die sich wahrscheinlich noch im Magen befinden, regelmäßig sogenannte Emetika eingesetzt, also Medikamente, deren Wirkung im Hervorrufen eines Brechreizes und anschließender retrograder Entleerung des Magens besteht. Im Einzelnen kommt es beim Erbrechen zunächst zu einer Erschlaffung des Magens und des unteren Speiseröhrenausgangs sowie eines Verschlusses des Kehldeckels. Durch die unwillkürliche Kontraktion des Zwerchfells, des Pförtners und der Bauchmuskulatur steigt der Druck im Magen an und der Mageninhalt wird herausgewürgt. 364 Zur gezielten Auslösung des Brechreizes werden in den Fällen der Exkorporation verschluckter Drogenpäckchen auf Grundlage von § 81a StPO die Emetika „Ipecacuanha" sowie „Apomorphin" eingesetzt. Sowohl von der Methode der Verabreichung als auch von der Wirkungsweise unterscheiden sich beide Substanzen erheblich, was nicht ohne Auswirkung auf die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmende Abwägung bleibt.
364
Forth/Henschler,
Toxikologie, 207; Pschyrembel, Stichwort: Erbrechen, 427.
I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln
85
1. Sirup Ipecacuanha a) Herkunft
und Wirkungsweise
Ursprünglich wurde das Mittel Ipecacuanha von den Eingeborenen des brasilianischen Urwaldes zur Behandlung von Durchfällen bei der Amöbenruhr eingesetzt/ 65 Wesentlicher Bestandteil des Sirups ist das Alkaloid 3 6 6 Emetin, das aus getrockneten Wurzeln der sogenannten „Brechwurzel" gewonnen wird. 3 6 7 Hierbei handelt es sich um die getrockneten Wurzeln der brasilianischen Rötegewächse Cephaelis pecacuanha und Cephaelis acuminata. Emetin gehört zu der Gruppe der sogenannten „Reflex-Emetika", die im Unterschied zu den zentralen Emetika das Erbrechen durch Irritationen der Magenschleimhaut verursachen^ 8 und nicht über einen vom Zentralnervensystem ausgehenden Impuls. Es wird davon ausgegangen, dass die Wirkung des Emetins über periphere, serotoninhaltige Zellen der Magenschleimhaut vermittelt wird, nämlich durch Freisetzen des Hormons Serotonin, das wiederum eine Erregung afferenter, 369 im Nervus vagus verlaufender Nervenfasern bewirkt. 370 Der Vagusnerv ist der zehnte der zwölf Hirnnervenpaare und Teil des parasympathischen Systems, das zusammen mit dem sympathischen System das sogenannte vegetative oder autonome Nervensystem bildet. Diesem sind alle unwillkürlichen Körpervorgänge unterworfen, wie Atmung, Verdauung oder Ausscheidung. Der durch Emetin ausgelöste sensorische, afferente Impuls erreicht grundsätzlich nicht das Gehirn, sondern wird innerhalb der sogenannten grauen Substanz (Reflexzentren) direkt auf eine motorische, efferente Nervenfaser umgeschaltet (Reflexbogen). Jedoch wird nicht der gesamte Impuls unmittelbar umgeschaltet. Über einige Nervenfasern der sogenannten weißen Substanz, die im Bereich des verlängerten Rückenmarks die graue Substanz umschließt, übt Emetin auch im Gehirn eine (geringe) Wirkung auf das Brechzentrum aus. Die
365
Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 278. Landläufig bekannt ist das Mittel allerdings unter dem Namen „mexikanischer Sirup". 366 Alkaloide kommen ausschließlich in Pflanzen vor und haben ausgeprägte physiologische, toxische sowie pharmakologische Eigenschaften. Sie werden vielfach therapeutisch genutzt, z.B. Opium, Morphin, Codein, Papaverin und Narcotin zur Schmerzstillung; Chinidin gegen Herzrhythumsstörungen, vgl. Brockhaus, Stichwort: Alkaloide, 115. 367
Dettmeyer/Musshoff/Madea,
368
Forth/Henschler,
MedR, 319.
Toxikologie, 482.
369
Afferenz (lat.) bezeichnet die Zuleitung von Informationen über Nerven zum Zentralnervensystem. 370
Birkholz u.a., Kriminalistik 1997 279.
86
Kapitel
Di
der Brechmittelvergbe
Stimulation zentraler Gebiete ist überwiegend durch Cephaelin, das ebenfalls Bestandteil des Ipecacuanha-Sirups ist, verursacht. 371
b) Anwendung, Nebenwirkungen,
Risiken
Sirup Ipecacuanha wird bei Personen ab einem Alter von vier Jahren verabreicht. Die Regeldosis beträgt fur Erwachsene ca. 30 ml, verdünnt mit Wasser oder Saft. 372 Soweit notwendig soll eine einmalige Dosiswiederholung nach etwa 20 bis 30 Minuten möglich sein. Allerdings werden auch andere Mengenangaben gemacht. So werden bis zu 100 ml Sirup gemeinsam mit 1,5 1 Wasser als unbedenklich angesehen.373 Unzweifelhaft ist lediglich, dass Überdosierungen zu Schädigungen der Herz- und Skelettmuskulatur fuhren können. 374 Bezüglich Nebenwirkungen ist bekannt, dass die Einnahme von Sirup Ipecacuanha neben dem gewünschten emetischen Effekt, der normalerweise nach ca. 15 bis 30 Minuten einsetzt, allgemein Müdigkeit, Durchfall und fortgesetztes Erbrechen auslösen kann. 375 Letzteres ist zumeist in einem hohen Anteil Cephaelin in der Sirup-Zubereitung begründet. Im Rahmen zweier Untersuchungen an insgesamt 908 vergifteten Patienten gaben etwa zwei Drittel der Probanden nach Vergabe von Ipecacuanha derartige Beschwerden an; insgesamt elf (1,2 %) Patienten wurden anschließend stationär aufgenommen. 376 Allerdings wurde in diesen Fällen nicht geklärt, ob die Folgeerscheinungen alleinige Nebenwirkung des Brechmittels waren oder Folge einer Wechselwirkung zwischen Brechmittel und inkorporierter toxischer Substanz. Weiterhin werden Muskelschwäche oder -Steifheit und Dehydratation angegeben.377 Als mögliche Nebenwirkung der Vergabe von Ipecacuanha wird insbesondere das sogenannte „Mallory-Weiss-Syndrom" angegeben. Hierbei handelt es sich um
371
Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 279.
372
Mutschier, Toxikologie, 695.
373
Dettmeyer/Musshoff/Madea,
MedR 2000, 316.
374
Vgl. Dettmeyer/Musshoff/Madea, MedR 2000, 319: Schon bei zweimaliger Gabe kann eine toxische Schädigung des Herzmuskels zum Tragen kommen. 375
Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 279. Von anderer Seite wird eine durchschnittliche Dauer von etwa 50 Minuten angegeben (Männche in: Mitteilung der Pressestelle des Polizeipräsidiums Bremen vom 27. 9. 1993 [abgedr. in Anti-Rassismus-Büro Bremen, Broschüre, 121]). 376 Zitiert nach Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 279 f. Es wird berichtet, dass immerhin 17% der Probanden über fortdauerndes Erbrechen klagten. 377
Dettmeyer/Musshoff/Madea,
MedR 2000, 319.
I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln
87
eine spezielle Form einer ausgeprägten Schädigung der Speiseröhrenschleimhaut, die zu einer akuten Blutung im Magen-Darm-Bereich nach krampfartigem Erbrechen oder nach Fehlintubation in den Magen z.B. bei Reanimation fuhren kann. Nach gegenwärtigem medizinischem Erkenntnisstand wird allerdings überwiegend davon ausgegangen, dass eine Manifestation des Syndroms eine Vorschädigung dieser Region voraussetzt. Solche Vorschädigungen können ihre Ursache vor allem in Alkoholexzessen oder der Einnahme von Mitteln haben, die eine vermehrte Freisetzung von sauren H + -Ionen bewirken. Exemplarisch zu nennen sind Schmerztabletten (Acetylsalizylsäure [ASS]), Medikamente mit entzündungs- (nichtsteroidale Antiphlogistika) oder zellwachstumshemmender (Zystostatika) Wirkung, wie sie etwa zu Tumorbehandlungen eingesetzt werden und Kortison. Weitere Risikofaktoren bilden Erkrankungen der Speiseröhre oder des Magens (Tumorbefall [ösophagogastrale Karziome], Magenentzündungen aufgrund einer Übersäuerung durch abgestorbenes Gewebe [erosive Gastritiden mit peptischen Nekrosen] oder aufgrund einer Zentralisation 3 7 8 und daraus resultierender vermehrter Freisetzung von H + -Ionen bei einem Kreislaufschock), aber auch Röntgenbestrahlung. 379 Weitere mögliche Folge der Einnahme von Sirup Ipecacuanha ist die Erkrankung an Lungenentzündung infolge Einatmung von Erbrochenem (Aspirationspneumonie). Die Gefahr einer solchen Komplikation, die als „MendelsonSyndrom" bezeichnet wird, besteht insbesondere bei bewusstseinsgetrübten Patienten, so dass eine Vergabe des Sirups bei mutmaßlicher Drogeninkorporation jedenfalls ausgeschlossen ist, wenn Anzeichen fur eine Intoxikation aufgrund freigesetzter Drogen im Körper vorliegen. 380 Zudem findet Ipecacuanha wegen seiner die Bronchialsekretion aktivierenden Wirkung auch Anwendung als Hustenmittel, kann also gerade bei bewusstseinsgetrübten Personen die Gefahr erhöhen, sich zu verschlucken. 381 Da Ipecacuanha nach bisher Gesagtem auch eine ermüdende Wirkung hat, ist vorstellbar, dass sich die erwünschte Folge, nämlich das Erbrechen, erst nach Bewusstseinstrübung einstellt. Hinweise darauf, dass sich derartige Komplikationen bislang eingestellt hätten, finden sich in der einschlägigen Literatur allerdings nicht. Was speziell die Verabreichung von Sirup Ipecacuanha mittels Nasensonde anbetrifft, sollen bei einem kooperativen Patienten in der Regel keine zusätzli-
378
Von einer „Zentralisation" spricht man, wenn es zu einer gesteigerten Durchblutung wichtiger Organe, v.a. des Gehirns kommt. Damit geht die verminderte Durchblutung des Magens einher, in deren Folge es wiederum zu einer Ausschüttung von H + Ionen kommt. 379
Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 279.
380
Vgl. Bratke/Kauert,
381
Forth/Henschler,
FS-Schneider, 110 f. Toxikologie, 482.
88
Kapitel
: Di
der Brechmittelvergbe
chen Risiken bestehen, zumal wenn der Betroffene ruhig bleibe und das Einfuhren der Magenschläuche durch einen „geschickten Untersucher" vorgenommen werde. 382 Dagegen wird von dem Legen einer Magensonde bei einem nicht kooperativen Patienten gegen dessen Willen abgeraten; es besteht dann die ernsthafte Gefahr, Verletzungen herbeizufuhren. 383 Solche können etwa entstehen an der Speiseröhre bzw. der Magenschleimhaut. Im schlechtesten Falle kann es bis hin zum Herzstillstand kommen, da die Möglichkeit besteht, dass die Sonde den in der Speiseröhre liegenden Vagusnerv streift. 384 In der medizinischen Literatur wird darauf hingewiesen, dass eine nachsorgende Beobachtung von etwa vier Stunden nach dem zwangsweisen Auslösen des Erbrechens unbedingt zu empfehlen sei. Innerhalb dieser Zeit solle eine Mahlzeit aufgenommen werden, ohne dass es zu erneutem Erbrechen kommen dürfe. 385 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Vergabe von Sirup Ipecacuanha zur Exkorporation von verschluckten Drogenpäckchen kontraindiziert ist, wenn sich der Betroffene in einem bewusstseinsgetrübten Zustand befindet, keine ausreichenden Überwachungsmöglichkeiten bestehen oder aufgrund der Einnahme von Mitteln oder Giften (Säuren, Laugen, organische Lösungsmittel, schaumbildende Substanzen) es zu einer Übersäuerung des Magens gekommen ist. Während die Einnahme sonstiger Mittel nicht von vorneherein nahe liegt, ist bei dem für die Maßnahme in Frage kommenden Personenkreis jedoch davon auszugehen, dass jedenfalls geringste Mengen der inkorporierten Drogen in den Blutkreislauf gelangt sind. 386 Als Kontraindikatoren werden weiterhin angegeben: Schwangerschaft, Krämpfe, manifeste Herz- bzw. Herzrythmusstörungen oder Ateminsuffizienz, Schilddrüsenüberfunktion sowie Bluthochdruck. Insoweit ist bei der zwangsweisen Vergabe des Sirups zu berücksichtigen, dass bereits die Umstände schwerlich zu einer Beruhigung des Betroffenen beitragen, so dass sich eventuelle Sensibilitäten verstärken werden. Insgesamt wird die zwangsweise Gabe von Ipecacuanha-Sirup hinsichtlich medizinischer Risi-
382
KG, StV 2002, 124, unter Verweis auf das Sachverständigengutachten des Leiters des Instituts der Rechtsmedizin der FU Berlin; ebenso Bratzke/Kauert, FS-Schneider,
111. 383
KG, StV 2002, 124.
384
Binder/Seemann, NStZ 2002, 236, unter Berufung auf den Präsidenten der Hamburger Ärztekammer in der FAZ vom 12.12.2001, 9. 385 386
Dettmeyer/Musshoff/Madea,
MedR 2000, 319.
Insofern haben jüngere Untersuchungen am Institut für Rechtsmedizin der RWTH Aachen eine überraschend hohe Durchlässigkeit von Drogen aus für den Transport im Körper bestimmten Verpackungen ergeben, obwohl die Hüllen unbeschädigt waren (siehe Zimmermann, Kriminalistik 1995, 558).
I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln
89
ken jedoch unterschiedlich beurteilt. 387 Unstreitig kann es jedoch bei der Einfuhrung des Schlauches durch die Nase zu Verletzungen der Speiseröhre kommen.
2. Apomorphin Im Unterschied zum reflektorisch wirkenden Ipecacuanha-Sirup handelt es sich bei Apomorphin um ein zentral wirkendes Emetikum. Sogenanntes „zentrales Erbrechen" entsteht durch Hirndruck und nimmt seinen Ausgang von Erregungen der Area postrema am Boden der 4. Hirnkammer (Ventrikel). 388 Dementsprechend wird der emetische Effekt durch Stimulation des Brechzentrums - genauer: von Dopaminrezeptoren der Area postrema im verlängerten Rückenmark (Meulla oblongata), wo sich das 4. Ventrikel befindet - hervorgerufen. 389 Diese Stimulation erfolgt im Falle der Vergabe von Apomorphin durch einen direkten Angriff der Substanz (über den Nervus vagus) an der sogenannten „chemorezeptiven Triggerzone", die einen bahnenden Einfluss auf die Aktivität des Brechzentrums ausübt. Das Brechzentrum selbst koordiniert die dem Erbrechen zugrundeliegenden Vorgänge (s.o.). Apomorphin wird subcutan (unter die Haut) in einer Dosierung von 0,1 bis 0,15 mg / kg Körpergewicht, maximal aber 10 mg, verabreicht. Die Stimulation des Brechzentrums über den Nervus vagus, der auch blutdruckregulierende Funktion durch „Meldung" der Druckhöhe an die Blutdruckzentren (u.a. Kleinhirn, verlängertes Rückenmark) hat, 390 hat zur Folge, dass die Verabreichung von Apomorphin zu einem Blutdruckabfall fuhrt. 391 Deshalb wird Apomorphin nur bei gleichzeitiger Injektion von 10 mg Norfenefrin, das blutdruckerhöhende Wirkung hat, eingesetzt. Bezüglich in Frage kommender Personen ist eine Vergabe von Apomorphin an Kinder unter sechs Jahren nach medizinischem Erkenntnisstand ausge-
387 Erhebliche medizinische Risiken nehmen Dettmeyer/Musshoff/Madea, MedR 2000, 319 (Fn. 45) an, während Birkholz u.a. (Krininalistik 1997, 282) bei entsprechenden Vorkehrungen keine unvertretbaren Gefahren erkennen können. Gegen eine zwangsweise Vergabe mittels Magensonde auch das Sachverständigengutachten des Leiters des Instituts fur Rechtsmedizin der FU Berlin, auf das in KG v. 8.5.2001 ([4] 1 Ss 180/99), StV 2002, 122 ff. Bezug genommen wird. 388
Forth/Henschler,
Toxikologie, 482.
389
Forth/Henschler,
Toxikologie, 482.
390
Brockhaus, Stichwort: Blutdruck.
391
Mutschier, Toxikologie, 695.
90
Kapitel
Di
der Brechmittelvergbe
schlossen. Betreffend Rauschgiftkonsumenten wird von Abstumpfungseffekten berichtet mit der Folge, dass diese auf das Morphinderivat in keiner Weise mehr ansprachen. 392 Apomorphin hat neben der erregenden Wirkung auf das Brechzentrum auch dämpfende Effekte auf vegetative Zentren der Medulla oblongata, nämlich auf Atem-, Husten-, Sympathikus- sowie (überraschenderweise) das Brechzentrum. Letzteres erklärt sich daraus, dass sich zwar innerhalb eines Zeitraums von nur 4 bis 5 Minuten der gewünschte emetische Effekt einstellt, jedoch kurz darauf von einer antiemetischen Wirkung abgelöst wird. Das bedeutet, dass ein weiteres Erbrechen (z.B. durch nochmalige Vergabe von Apomorphin) nicht ausgelöst werden kann. 393 Die mit der Injektion von Apomorphin verbundenen möglichen Nebeneffekte werden als erheblich beschrieben. Betreffend die dämpfende Wirkung auf das Atemzentrum besteht diese in einer Hemmung der Atmung (Atemdepression). Das heißt, das Atemzentrum reagiert auf einen Anstieg der C0 2 Konzentration nicht mit verstärkter Atmung. Bei normaler Dosierung fuhrt der entstehende ungleiche 0 2 -C0 2 -Druck nur zu einem geringfügigen Anstieg der C0 2 -Konzentration im Blut, bei dem Schädigungen der Organe nicht zu erwarten sind. Eine Überdosierung hingegen kann erhebliche Atemhemmungen mit letalem Ausgang zur Folge haben. 394 Ebenso wie die Vergabe von Sirup Ipecacuanha ist auch die von Apomorphin bei folgenden Symptomen contraindiziert: Bewusstseinstrübung, Schwangerschaft, Krämpfe, manifeste Herz- bzw. Herzrhythmusstörungen oder Ateminsuffizienz, Schilddrüsenüberfunktion sowie Bluthochdruck. Von einer zwangsweisen Vergabe verschiedener Brechmittel in unmittelbarer Abfolge wird wegen der problematischen Abschätzung der Nebenwirkungen dringend abgeraten. 395
392
Männche in: Mitteilung der Pressestelle des Polizeipräsidiums Bremen vom 27. 9. 1993 (abgedr. m Anti-Rassismus-Büro Bremen [Anti-Rassismus-Büro], Broschüre, 119). 393
Forth/Henschler,
Toxikologie, 207.
394
In diesem Zusammenhang wird allerdings darauf hingewiesen, dass auch das frei verkäufliche „Aspirin" mit folgenden Nebenwirkungen beschrieben wird: Ekzeme, Erytheme, Magen-Darm-Störungen, Blutungen aus dem Magen-Darm-Trakt, Bronchospasmen, Verminderung der Thrombozyten, Überempfindlichkeitsreaktionen; vgl. Männche in: Mitteilung der Pressestelle des Polizeipräsidiums Bremen vom 27. 9. 1993 (abgedr. in Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 119). 395
2. b).
Dettmeyer/Musshoff/Madea,
MedR 2000, 320; siehe näher unten Kapitel 4 III.
I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln
91
3. Alternative Methoden zum Nachweis inkorporierter Drogen Die Alternativen zur Exkorporation verschluckter Drogenpäckchen sind begrenzt, denn eine Entleerung des Magens ist nur über den Weg der natürlichen Ausscheidung oder der sog. „Magenausheberung" möglich. 396 Während die letztgenannte Methode zwar allgemein als zulässig angesehen wird 3 9 7 , aber kriminalistisch von zweifelhaftem Nutzen sein soll 3 9 8 und im Einzelfall wohl auch nicht als „milder" gegenüber der Verabreichung von Brechmitteln bezeichnet werden kann 399 , ist die erstgenannte wegen der mit ihr verbundenen Freiheitsbeschränkung problematisch. Gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 StPO sind die Strafverfolgungsbehörden nur befugt, den Beschuldigten längstens bis zum Ende des nächsten Tages festzuhalten 400, grundsätzlich aber verpflichtet, unverzüglich den zuständigen Ermittlungsrichter einzuschalten. Sollte er bis dahin etwa vorhandene Drogenpäckchen nicht ausgeschieden haben, bliebe damit letztlich nur der Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gemäß § 114 StPO. 401 Ob allerdings dessen Voraussetzungen, also dringender Tatverdacht sowie ein Haftgrund gegeben ist und v.a. die Anforderungen von § 112 Abs. 1 S. 2 StPO eingehalten werden können, ist von dem Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen gemäß § 81a StPO wiederum prinzipiell unabhängig.402 Die Beschleu-
396
Natürlich ist auch an operative Methoden zu denken. Es dürfte sich allerdings von selbst verstehen, dass diese in den Fällen vorliegender Art fehl am Platze sind. Ihr Anwendungsbereich liegt wohl ausschließlich in präventiven Fallgestaltungen und dort in Situationen erheblicher Lebensgefahren für den Betroffenen. Vgl. zu einem solchen Fall Kraushaar, Körperschmuggel, 126; siehe auch OLG Hamm, StV 2002, 128 f f m. Anm. Lilie. 397
Vgl. nur SK-StPO ! Rogali, § 81a Rn. 43; Eisenberg, BewR, Rn. 1639.
398
Rogali, NStZ 1998, 67; Kühne, Strafprozesslehre, Rn. 237.
399
Siehe Benfer, JR 1998, 54; LRJDahs, § 81a Rn. 42.
400
Nach AG Frankfurt/M (Az. 931 Gs 496/98 v. 28.4.1998 - zitiert nach Grüner, JuS 1999, 125) soll die Verhaftung eines Beschuldigten in einem solchen Fall keine gesetzliche Grundlage haben. 401
Grüner, JuS 1999, 125; Wefilau, OLG Frankfurt, NJW 1997, 1649.
StV 1997, 344; keine Probleme sieht dagegen
402 Ob Verdunkelungsgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 3a StPO vorliegt, wäre allerdings im Einzelfall zu beurteilen, wobei es maßgeblich darauf ankommt, ob den Beschuldigten eine Duldungspflicht hinsichtlich der zwangsweisen Brechmittelvergabe trifft (siehe näher unten VI. 1.). Missverständlich ist in diesem Zusammenhang der Verweis Benfers (JR 1998, 55) auf die „ h . M " . Die angeführten Belegstellen beziehen sich auf Blutproben zum Zwecke des Alkoholnachweises. Dort wird die Verdunkelungsgefahr in der Tat zu Recht mit dem Hinweis verneint, diese setze eine Handlung des Beschuldigten voraus, sei also bei einem rein körperlichen Abbauprozess nicht gegeben, da eine prozessordnungswidrige Handlung des Beschuldigten nicht vorliege (vgl. nur LRJDahs, § 81a
92
Kapitel
: Di
der Brechmittelvergbe
nigung der Ausscheidung mit Hilfe von Purgativmitteln erscheint - insbesondere im Fall der Weigerung des Betroffenen - nicht weniger einschneidend als die Brechmittelvergabe. Erweisen sich danach alternative Methoden zur Exkorporation von Drogenbehältnissen als gegenüber dem Einsatz von Brechmitteln nicht (generell) vorzugswürdig, stellt sich die Frage, ob aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden andere Maßnahmen gegebenenfalls den gleichen Beweiswert bei geringerer Eingriffsintensität erbringen können. Strafprozessual geht es nämlich nicht darum, die Päckchen aus dem Körper zu holen, um sie als Augenscheinsobjekte im Strafverfahren präsentieren zu können. Entscheidend ist, ob nachgewiesen werden kann, dass der Beschuldigte eine entsprechend große Menge an Kokain oder anderen BtM bei sich hatte, um hiervon auf einen Handel mit den Substanzen (in nichtgeringer Menge 403 ) schließen zu können. Zwar dürfte zuweilen der Nachweis des Verstoßes gegen § 29 BtMG schon „gerichtsfest" durch die Zeugenaussagen der Polizeibeamten (die ja schon aus Gründen der Zulässigkeit einer Anordnung gemäß § 81a Abs. 1 S. 2 StPO einen entsprechenden Verdacht darlegen können müssen) sowie die Sicherstellung verkaufter Drogen beim Konsumenten erbracht sein. Jedoch spielt es insbesondere aus Gründen der Strafzumessung eine erhebliche Rolle, die Menge der mitgefühlten Betäubungsmittel einigermaßen genau bestimmen zu können. 404 Als Nachweisverfahren kommen vor allem die röntgenologische Untersuchung und andere bildgebender Verfahren (Radiographie, RöntgenComputertomografie) in Betracht, die alle ihrerseits körperliche Eingriffe im Sinne von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO darstellen. 405 Während der Beweiswert der konventionellen Röntgenaufnahme indes nicht allzu hoch anzusiedeln ist, da sich kleine Kügelchen nur mit großer Mühe erkennen lassen und sie zudem mit einer erheblichen Strahlenbelastung verbunden ist, ist die Radiographie wesentlich weniger gesundheitsgefährdend. 406 Allerdings scheint lediglich die Computertomografie eine vergleichsweise verlässliche Methode zum Nachweis von im
Rn. 61; Meyer-Goßner, § 112 Rn. 29). Ob die Fälle der Brechmittelvergabe dem gleichzustellen sind, hängt davon ab, ob man die Weigerung des Beschuldigten, die Maßnahme über sich ergehen zu lassen, als pflichtwidrig ansieht oder nicht. Da Benfer insoweit keinen Zweifel hegt, ist die von ihm gezogene Parallele unzutreffend; inkonsequent, wenngleich in „umgekehrter" Richtung, auch Zazcyk, StV 2002, 127 (siehe näher unten Kapitel 4 V. 3.). 403
Eine nichtgeringe Menge wird für Heroin bei 1,5 g Heroinhydrochlorid, für Kokain bei 5 g Kokainhydrochlorid angenommen; siehe näher Endriß/Malek, BtMStrafrecht, Rn. 435 ff., mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 404
Siehe zur Problematik OLG Frankfurt,
405
Siehe näher Freislederer/Bautz/Schmidt,
406
Freislederer/Bautz/Schmidt,
NStZ-RR 2003, 23. ArchKrim 182 (1988), 143, 145.
ArchKrim 182 (1988), 147.
I. Arten und Wirkungsweise von Vomitivmitteln
93
Körper befindlicher Drogenpäckchen zu sein: In einer Vergleichsuntersuchung wurden von 144 theoretisch möglichen Kügelchen zwar „nur" 86 nachgewiesen, davon aber immerhin 91 % durch Computertomografie, lediglich 23 % hingegen durch die übrigen Verfahren zusammen.407 Ungeachtet der hohen Anschaffungskosten für die notwendige Apparatur wird gegen die Computertomografie allerdings vor allem vorgebracht, dass sie wegen der relativ hohen Aufnahmezeit von 4 bis 5 Sekunden einen kooperationswilligen Probanden voraussetzt, in den Fällen des Körperschmuggels praktisch also wenig geeignet ist. 408 Allerdings besteht bei den bildgebenden Verfahren generell der Vorteil, dass sie auch zur Auffindung von Behältnissen führen können, die sich bereits im Darmtrakt befinden. 409 Als demgegenüber zunächst vorzugswürdig wird die sog. AbdomenLeeraufhahme genannt, da sie mit geringerer Strahlungsintensität gegenüber der Computertomografie verbunden sei. 410 Hierbei handelt es sich um eine radiologische Übersichtsaufhahme der Bauchweichteile beim stehenden Patienten. Gegenüber der röntgenologischen Untersuchung bietet sie allerdings im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit keine Vorteile. Zuletzt werden im vorliegenden Zusammenhang Gastroskopie und Koloskopie genannt, also Verfahren, bei denen ein Endoskop oral bzw. rektal eingeführt wird, um so den Magen- oder Darminhalt optisch beurteilen zu können. Beide Verfahren sind jedoch nicht nur mit erheblichen Schmerzen und Unannehmlichkeiten verbunden, sondern setzen Kooperationsbereitschaft und z.T. auch eine regelmäßige medikamentöse Therapie voraus. 411 Insoweit ist im Ergebnis festzuhalten, dass es zu den Brechmitteleinsätzen kein milderes, aber gleich wirksames Mittel zum Nachweis inkorporierter Drogenbehältnisse gibt.
407
Freislederer/Bautz/Schmidt,
ArchKrim 182 (1988), 147 ff.
408
Freislederer/Bautz/Schmidt, ArchKrim 182 (1988), 148 ff. In Schleswig-Holstein durchgeführte computertomografische Untersuchungen zur Altersfeststellung haben jedoch gezeigt, dass die Beschuldigten sich insoweit durchaus kooperativ verhalten haben. 409
Vgl. aber Solbach, MedR 1987, 80, demzufolge (entgegen der soeben beschriebenen Untersuchung) digitale Untersuchungen nur Aussicht auf Erfolg böten, wenn das Drogenpäckchen im Enddarm oder der Scheide versteckt sei. 410
Solbach, MedR 1987, 80.
411
Solbach, MedR 1987, 80; vgl. auch Körner, StV 1988, 449.
94
Kapitel : Di
der Brechmittelvergbe
4. Ergebnis: Medizinische Rahmenbedingungen Berücksichtigt man den hier nachgezeichneten (medizinischen) Rahmen für die zwangsweise Brechmittelvergabe, tut sich in gewissem Sinne ein Dilemma in der Verfolgung des Straßenverkaufs von Drogen auf. Es kann nicht bestritten werden, dass die Praxis der Brechmittelvergabe in den Ballungszentren wie Berlin, Hamburg und Frankfurt den Nachweis des Handeltreibens mit BtM erheblich erleichtert und in Einzelfällen sogar erst ermöglicht. 412 Andererseits zeigen die medizinischen Bedingungen ungeachtet ihrer rechtsdogmatischen Bewertung deutliche Grenzen der Verfolgbarkeit auf. Da verschluckte Gegenstände lediglich bis zu zwei Stunden im Magen verbleiben, ist der Anwendungszeitraum des in Rede stehenden Eingriffs äußerst begrenzt. In dieser kurzen Zeitspanne genügt nicht die Verbringung in ein Krankenhaus oder einen anderen geeigneten Ort zur Durchführung der Maßnahme. Vielmehr hat bis zur Verabreichung des Brechmittels eine ausführliche Anamnese der Krankengeschichte des Betroffenen sowie bestehender Kontraindikatoren stattzufinden. Hierbei ist zu bedenken, dass aus der Praxis berichtet wird, von der Brechmittelvergabe seien in hohem Maße Nichtdeutsche betroffen. 413 Insofern sind ggf. Verständigungsschwierigkeiten zu vermuten, die - da die Einschaltung eines Dolmetschers aus medizinischer Sicht unumgänglich sein wird - weitere zeitliche Verzögerungen mit sich bringen. Nimmt man daher die bestehenden Risiken solcherart Einsätze ernst und hält sich gleichzeitig vor Augen, dass das Zeitfenster, in dem sie überhaupt sinnvollerweise stattfinden können, äußerst begrenzt ist, muss man feststellen, dass jedenfalls eine „massenweise" Verabreichung aus Kapazitätsgründen nicht möglich ist: Mit Rücksicht auf das begrenzte medizinische Personal sowie die vergleichsweise lange Vorbereitungszeit, zumal bei einem nicht kooperativen Betroffenen 414, ist es bereits aus tatsächlichen Gründen nahezu ausgeschlossen, die Maßnahme zu einem Regeleingriff bei mutmaßlichen Drogendealern zu
412
Vgl. Schäfer, NJW 1997, 2438; Körner, BtMG, § 29 Rn. 705. Mit Blick auf die im Jahr 2001 in Hamburg eingeführte Praxis ist indes klarzustellen, dass die Vergabe von Brechmitteln von vorneherein ausschließlich den Nachweis strafbaren Verhaltens bzw. der mitgeführten (nichtgeringen) Menge erbringen soll und nicht etwa im Sinne eines „apokryphen" Anwendungsgrundes damit ein besonders konsequentes Image aus generalpräventiven Zwecken erstrebt werden darf. 413 414
Siehe näher sogleich unten II.
Es handelt sich schon bei der Angabe der eigenen Krankengeschichte bzw. bestehender Kontraindikatoren - soweit diese dem Betroffenen überhaupt bekannt sind nicht um eine „selbstverständliche Vorbereitungshandlung", zu der er nach h.M. verpflichtet wäre.
II. Die Praxis in den Bundesländern
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machen. Sie bleibt ungeachtet weiterer dogmatischer Einschränkungen von vorneherein auf Ausnahmefälle beschränkt. Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass die inkorporierten Drogen - insbesondere wegen des ungeeigneten Verpackungsmaterials 415 - zuweilen auch erhebliche gesundheitliche Risiken fur die Betroffenen bedeuten.416 Aus medizinischer sowie gefahrenabwehrrechtlicher Sicht stellt dies sicherlich einen Grund zur Intervention dar, nicht jedoch aus strafprozessualer.
II. Die Praxis in den Bundesländern Die Praxis der Brechmittelvergabe differiert in den verschiedenen Bundesländern, sowohl was Voraussetzungen als auch Durchführung des Einsatzes angeht, erheblich. Das liegt einerseits an unterschiedlichen Rechtsauffassungen, andererseits mit einer großen Wahrscheinlichkeit an der jeweiligen lokalen Drogenszene, deren Größe und Präsenz nicht ohne Einfluss auf die Rechtsauffassung (zumal in Wahlkampfzeiten) sein dürfte: Es liegt nahe, dass das Thema in Regionen mit einer vergleichsweise großen Drogenszene von erheblicher politischer Bedeutung sein kann. Dies betrifft vor allem die augenscheinlich gesteigerte Notwendigkeit zur Verfolgung von Betäubungsmitteldelikten und insbesondere deren Begleitkriminalität im Dienste einer Bewahrung der (potentiellen) Opfer vor Schädigungen. Gemäß der positiven Funktion von Straftaten sind hieran indes zugleich Eigenbelange der staatlichen Institutionen geknüpft, wobei die Existenz bzw. ein Ansteigen 417 von (registrierter) Kriminalität grundsätzlich geeignet ist, bestehende Strukturen zu verfestigen und so auch machterhaltend zu wirken. 418 Ungeachtet dessen bereitet die vor allem in den Großstädten stattfindende Brechmittelvergabe hinsichtlich zweier Faktoren außerordentliche Probleme für alle Beteiligten. Das sind oftmals vorhandene Sprachbarrieren sowie der Zeitfaktor: Die Prozedur der Vergabe bereitet sicherlich weniger Schwierigkeiten, wenn die betroffene Person der deutschen Sprache mächtig ist. Das gilt sowohl 4,5
Körner, BtMG, § 29 Rn. 704.
416
Bratzke/Kauert,
FS-Schneider, 110.
417
Kritisch gegenüber der Aussageföhigkeit ansteigender registrierter Rauschgiftkriminalität Eisenberg, Kriminologie, § 45 Rn. 132 ff. Siehe auch König in: Kreuzer, Hdb. BtM, 108, betreffend Rückschlüsse von der Anzahl der „Drogentodesfälle" auf die tatsächliche Drogenkriminalität. 418
Zur positiven Funktion von Straftaten und speziell von Betäubungsmitteldelikten siehe näher Eisenberg, Kriminologie, § 9 Rn. 9, 14 sowie § 23 Rn. 25; Kreuzer, Beschaffungskriminalität, 340 ff.
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Kapitel
: Di
der Brechmittel vergäbe
für die Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte und Pflichten während der Durchführung der Maßnahme, als auch für die vorbereitende Gesundheitsuntersuchung, die nur schwer ohne den Beschuldigten möglich ist. Das gilt umso mehr, als die Anamnese gegen seinen Willen wertvolle Zeit kostet, was sich auf die Erfolgsaussichten der Brechmittel vergäbe auswirkt. Zuletzt entbehrt es nicht einer gewissen Plausibilität anzunehmen, dass eine kleinere Drogenszene auch ohne solche Einsätze als eher kontrollierbar angesehen wird. Dem entspricht der häufig in diesem Zusammenhang geäußerte Satz, dass man im Interesse der Sicherheit der Bürger verpflichtet sei, „hart durchzugreifen". Damit dürfte sich regelmäßig auch die Hoffnung verbinden, das jeweilige unerwünschte Verhalten mit Hilfe faktisch abschreckend wirkender Verfolgungsmaßnahmen zu unterbinden. 419 Die folgenden Einblicke in die Praxis der Brechmittelvergabe konzentrieren sich daher auf die Großstädte Hamburg, Berlin und Bremen. Andere Bundesländer und Regionen werden dagegen nur kurz angesprochen. 420
1. Hamburg a) Allgemeines In Hamburg werden Brechmittel zur Exkorporation von mutmaßlich verschluckten Drogenpäckchen erst seit Juli 2001 überhaupt eingesetzt.421 Noch im Rahmen einer gemeinsamen Presseerklärung von Innen- und Justizbehörde am 7. Februar 2001 war der Einsatz von Brechmitteln als überflüssig, sogar systemwidrig angesehen worden. Wörtlich hieß es dazu: „Es gibt bei der Überfuhrung von Dealern keine Lücken in der Beweiskette, die Polizei und Staatsanwaltschaft nicht schließen können. Innen- und Justizbehörde haben in einer gemeinsamen Allgemeinen Verfugung festgestellt, dass es für die Beweisaufnahme ausreichend ist, wenn durch Zeugenaussagen (der Polizei) belegt ist, das bei
419 Zur präventiven Funktion auch von Ermittlungsmaßnahmen sowie zum Zusammenhang von öffentlicher Bewertung der mutmaßlichen Tat und Ermittlungsmaßnahme siehe näher oben Kapitel 1 I. 2. b) bb). 420 Verlässliches Zahlenmaterial konnte trotz teilweise mehrfacher Versuche bei den Innenministerien nicht erlangt werden. Es wurde daher auf Zeitungsberichte zurückgegriffen. Die folgende Darstellung kann deshalb keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erheben, sondern will lediglich die mit der praktischen Umsetzung verknüpften Problemstellungen sowie die unterschiedliche Rechtspraxis beleuchten. 421 Siehe die gemeinsame Verfügung der Staatsanwaltschaft und Polizei Hamburg vom 20. Juli 2001, HmbJVBl. 7/8/2001, 83.
II. Die Praxis in den Bundesländern
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der Festnahme von , Munddealern 4 in Zusammenhang mit deren szenetypischem Verhalten bei diesen Dealern Schluckbewegungen festgestellt wurden. Deshalb werden in Absprache mit der Staatsanwaltschaft Brechmittel in Hamburg nicht verabreicht. Diese Allgemeine Verfugung akzeptieren auch die Gerichte." 422
Werden hiernach Vomitiva schon generell als fur das Strafverfahren obsolet eingestuft, 423 sei darüber hinaus die Verabreichung von Brechmitteln als abzulehnende „Sofortstrafe" anzusehen.424 Diese Einschätzung entspricht der oben bereits geäußerten Befürchtung, dass derartigen Maßnahmen häufig eine präventive Funktion zukommt.
b) Konkretisierende
Weisungen
Dass die Strafverfolgungsbehörden in Hamburg zunächst bemüht gewesen sind, Emetika weitgehend zurückhaltend einzusetzen, wird durch die den Einsatz konkretisierende „Gemeinsame Verfügung" vom 20. Juli 2001 deutlich. 425 Besonders wird darin auf den Charakter der Maßnahme als ultima ratio hingewiesen. Bezüglich der Voraussetzungen im Einzelnen könne ein erforderlicher „klarer Verdacht" nur angenommen werden, wenn entweder die Verkaufsverhandlungen bzw. im Mund vorrätig gehaltene mutmaßliche Behältnisse beobachtet worden seien oder Zeugenaussagen von Drogenkäufern vorlägen. Kumulativ hierzu müsse die durch Feststellung typischer Schluckbewegungen begründete Annahme der Inkorporierung von Drogenbehältnissen vorliegen. Betreffend im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung einzubeziehender Umstände sei der Einsatz von Brechmitteln nur gerechtfertigt, wenn gemäß der §§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 und 2 Nr. 1, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG eine erhebliche Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme im Jugendstrafrecht zu erwarten sei, also mit besonders gefährlichen Betäubungsmitteln (Heroin, Kokain oder Crack), gewerbsmäßig oder gewohnheitsmäßig gehandelt
422 Gemeinsame Presseerklärung der Innen- und Justizbehörde vom 7. Februar 2001/ bfi07; Punkt 1. 423
Vgl. demgegenüber Schaefer, NJW 1997, 2438: Das Verbot der Brechmitteleinsätze durch das OLG Frankfurt habe die Drogenbekämpfung zumindest „dramatisch erschwert"; ebenso Kömer, BtMG, § 29 Rn. 705: „Wegen der unzureichenden Kontrollmöglichkeiten bei den Ausscheidungen konnten RG-Straßenhändler in Frankfurt am Main monatelang fast ungefährdet dealen und die Polizei verspotten". 424
Gemeinsame Presseerklärung der Innen- und Justizbehörde vom 7. Februar 2001/bfi07; Punkt 2. 425
Gemeinsame Verfügung der Staatsanwaltschaft und Polizei Hamburg zum Einsatz von Vomitivmitteln vom 20. Juli 2001, HmbJVBl. 7/8/2001, 83 ff.
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der Brechmittelvergbe
werde. Bei der Brechmittelvergabe selbst seien erstens nur Ärzte heranzuziehen, die für einen derartigen Eingriff ausreichend ausgestattet und zu diesem bereit seien. Zweitens solle gegebenenfalls kurzfristig ein Dolmetscher zur Verfügung stehen. Der Beschuldigte sei zunächst möglichst zur Kooperation zu bewegen, was durch Aufklärung über die Risiken zwangsweise durchgeführter körperlicher Eingriffe 426 und dem Hinweis auf mögliche Gefährdungen durch die inkorporierten Betäubungsmittel zu geschehen habe. Drittens sei die zwangsweise Exkorporation nach den Regeln der ärztlichen Kunst unter weitgehendem Ausschluss gesundheitlicher Risiken durch Untersuchung, Anamnese, Behandlung und Nachsorge durchzuführen. Eine Exkorporation etwaiger Behältnisse mittels Emetika sei nur innerhalb von zwei Stunden nach Verschlucken gerechtfertigt. Eine Änderung der Anwendungspraxis erfolgte Anfang Dezember 2001 im Anschluss an die Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft. Hierzu wurde die gemeinsame Verfügung vom 20. Juli 2001 4 2 7 Presseberichten zufolge dahingehend modifiziert, dass die Vergabe von Emetika nunmehr nicht erst bei einer konkret zu erwartenden Haftstrafe gestattet sein soll, sondern schon bei zureichenden Anhaltspunkten für „eine erhebliche Sanktion" 4 2 8 In der Folge stieg die Zahl der einschlägigen Fälle innerhalb weniger Tage sprunghaft an. 429
c) Vergabehäufigkeit
und Ablauf
Die zunächst bestehende Skepsis gegenüber den in Rede stehenden Eingriffen spiegelt sich, ebenfalls in der anfänglich eher geringen Zahl einschlägiger Vergaben wieder. So wurde für die ersten eineinhalb Monate lediglich von drei Fällen einer Verabreichung von Ipecacuanha-Sirup berichtet. 430 Für den anschließenden Zeitraum sind die Angaben bezüglich der Fallzahlen uneinheitlich. Bis Anfang Dezember sollen in Hamburg in insgesamt vierzehn 431 bzw. neunundzwanzig432 Fällen Vomitivmittel verabreicht worden sein, wobei ein „Erfolg" nur in den ersten beiden versagt geblieben sei. Seit Erweiterung der Einsatzvoraussetzungen am 6. Dezember 2001 sei eine Vergabe von Ipecacu-
426
Zu diesen bereits oben I. 1. b) und 4.
427
HmbJVBl. 7/8/2001, 83 ff.
428
Vgl. Die Welt vom 8.12.2001.
429
Genannt wird eine Zunahme um fast 100% in drei Tagen; siehe sogleich unten.
430
Hamburger Abendblatt vom 14.8., 22.8. und 6.9.2001.
431
Die Welt vom 6.12.2001.
432
Hamburger Abendblatt vom 26.9.2002.
II. Die Praxis in den Bundesländern
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anha-Sirup bis zum 9. Dezember 2001 in zwölf weiteren Fällen 433 geschehen und noch mal bei zwei Gelegenheiten innerhalb des folgenden Tages. 434 Im Januar 2002 sei es einunddreißigmal zu einer Brechmittelvergabe gekommen. 435 Für den Zeitraum Ende August bis Anfang Dezember 2002 ergab eine Senatsanfrage der GAL-Fraktion eine Vergabehäufigkeit von 31 Fällen. 436 Hierbei sei es in etwa einem Drittel der Fälle nicht zu einer Beweissicherung gekommen, zu drei Gelegenheiten habe der Sirup mittels Nasensonde verabreicht werden müssen. Zu Komplikationen sei es in keinem der Fälle gekommen. Über die Menge sichergestellter Drogen können keine genauen Angaben gemacht werden. Presseberichten zufolge differiert die Zahl exkorporierter Rauschmittelbehältnisse zwischen einem und einundvierzig pro Fall. 4 3 7 Die normalerweise verabreichte Dosis beträgt in Hamburg 30 ml Ipecacuanha, bei Misserfolg wird maximal eine weitere Dosis von 30 ml vergeben. Apomorphin setzen die Hamburger Behörden nicht ein. Was die Verdachtsbegründung angeht, sollen die Beschuldigten mehrheitlich beim mutmaßlichen Verkauf von Drogen beobachtet worden sein; in einem Fall sei der Betroffene den Polizeibeamten hingegen lediglich als „Dealer" bekannt gewesen und im Mund versteckte Kokainkügelchen seien erst im Zuge einer allgemeinen Überprüfung entdeckt worden. 438 Ein weiteres Mal sei ein Mann im Anschluss an ein Gerangel im Zuge einer Fahrkartenkontrolle aufgefallen; auf der Wache habe man dann ein Crack-Kügelchen in seinem Mund entdeckt und daraufhin den Brechmitteleinsatz angeordnet. 439 In der Regel seien jedoch deutliche Schluckbewegungen, z.T. sogar mit heftigem Husten verbunden, zu erkennen gewesen. Bezüglich des Alters der Betroffenen werden konkret ein etwa zwanzig Jahre alter sudanesischer Staatsangehöriger sowie zwei jeweils ca. Einundzwanzigjährige, ein Dreiundzwanzigjähriger und ein Sechzehnjähri-
433
Hamburger Abendblatt vom 10.12.2001; Die Zeit vom 13.12.2001.
434
Hamburger Abendblatt vom 11.12.2001.
435
Hamburger Abendblatt vom 26.9.2002.
436
taz Hamburg vom 7.12.2002.
437
Hamburger Abendblatt vom 6.9.2001: 1 Kügelchen Kokain (5 weitere 1 Gramm] waren bei dem Käufer gefunden worden); vom 11.12.2001: 41 Crack, 1 Crack sowie 3 Crack; Die Welt vom 16.10.2001: 28 Crack; taz Hamburg vom 23.2.2002, 25: 25 Crack. 438
Hamburger Abendblatt vom 22.8.2001. Da der sich anschließende Brechmitteleinsatz allerdings ergebnislos verlief, handelt es sich mindestens bei der Klassifikation des Rauschmittels um Spekulation. 439
taz Hamburg vom 23.2.2002, 25.
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Kapitel
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ger aus Burkina Faso 440 genannt.441 Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass sich unter den Betroffenen auch Kinder i.S.v. § 19 StGB befinden. So wird von ärztlicher Seite beklagt, dass immer wieder unter-14-jährige zugeführt würden, ohne dass ein Konzept bestehe, was mit diesen geschehen solle. 442 Im Sinne einer Gesamtbilanz wird angegeben, dass es seit Einführung der Brechmitteleinsätze bis September 2002 in Hamburg zu durchschnittlich zwölf Fällen pro Monat gekommen sei (n=162). Etwa ein Drittel der mutmaßlichen Dealer sei im Anschluss in Untersuchungshaft gekommen. In ungefähr der Hälfte aller Verfahren sei Anklage gegen die Festgenommenen erhoben worden. 443 Die Vergabe selbst gestaltet sich in der Weise, dass nach kurzfristiger Einholung der staatsanwaltschaftlichen Zustimmung 444 zu dem Einsatz, 445 der Beschuldigte in das Rechtsmedizinische Institut am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) gebracht wird, dessen Leiter das Konzept der Vergabe gemeinsam mit der Innenbehörde erarbeitet hat und dessen Mitarbeiter gemäß interner Dienstanweisung zur „Notfallbereitschaft bei Brechmitteleinsätzen aufgefordert" worden sind. 446 Dort wird der Beschuldigte intensiv „auf die Folgen einer zwangsweisen Verabreichung" hingewiesen.447 Bezüglich des Erfordernisses einer eingehenden medizinischen Untersuchung auf Kontraindi-
440
Die ungewöhnlich häufige Angabe, aus Burkina Faso zu stammen, dürfte darauf zurückzufuhren sein, dass die dortigen Behörden sich weigern, Heimreisepapiere auszustellen, was eine Abschiebung verhindert. Zudem war Hamburg bis Juli 2001 eines von zwei Bundesländern, das Flüchtlinge aus Burkina Faso gemäß dem Verteilungsschlüssel aufgenommen hat. 441
Die Altersangaben beruhen größtenteils auf gutachterlichen Schätzungen und stellen Mindestangaben dar. 442
Prof. Dr. Püschel, zitiert nach Die Welt vom 17.1.2002.
443
Hamburger Abendblatt vom 26.9.2002 unter Berufung auf Angaben des Senats sowie der Justizbehörde. 444 Es komme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit oder mangelnder zureichender Anhaltspunkte indes auch immer wieder zu ablehnenden Entscheidungen der StA, vgl. Hamburger Abendblatt vom 26.9.2002. 445
Die StA Hamburg hat zu diesem Zweck sogar einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst eingerichtet, vgl. Die Welt vom 11.12.2001. 446 taz Hamburg vom 22.12.2001, 25. Die Dienstanweisung sei jedoch seit Juli 2002 wieder außer Kraft, vgl. taz Hamburg vom 7.12.2002. 447
Vgl. Hamburger Abendblatt vom 14.8.2001. Im Fall eines mittlerweile verurteilten Mannes soll einem Presseartikel zufolge eine vorhergehende Untersuchung durch das Gericht jedoch nicht festgestellt worden sein (vgl. taz Hamburg vom 15.2.2002, 22 sowie vom 23.2.2002, 25).
II. Die Praxis in den Bundesländern
101
katoren ist lediglich bekannt, dass im Falle des verstorbenen Mannes aus Kamerun aufgrund dessen vehementer Gegenwehr hierauf verzichtet worden sein soll. 448 Um auf mögliche Komplikationen unmittelbar reagieren zu können, ist zu den Einsätzen gemäß Dienstanweisung zwingend ein Anästhesist hinzuzuziehen. Dies sei jedoch nach dem Todesfall im Dezember 2001 in zumindest zwei Fällen nicht geschehen.449 Hinsichtlich des Zeitraums zwischen mutmaßlichem Verschlucken der Drogenpäckchen und Brechmittelvergabe lassen sich keine Durchschnittswerte angeben. Jedoch seien nach zwei Zeitungsberichten in einem Fall lediglich 64 Minuten (12:30 Uhr bis 13:34 Uhr), in einem anderen Fall etwa 85 Minuten (16:50 Uhr bis 18:14 Uhr) vergangen. 450
2. Bremen Die Strafverfolgungsbehörden in Bremen haben bundesweit mit der Vergabe von Vomitivmitteln die größten Erfahrungen, setzen sie doch diese Methode der Beweissicherung bereits seit 1991 und damit am längsten ein. Während zu Beginn das Medikament Apomorphin injiziert wurde, wird auch in Bremen seit etwa Juni 1992 ausschließlich Ipecacuanha verabreicht, nachdem es in der Öffentlichkeit Proteste gegen die Anwendungspraxis gegeben hatte. 451 Die Kritik richtete sich dabei nicht lediglich gegen die Brechmitteleinsätze als solche, sondern insbesondere gegen die unklare Rechtslage. So war aufgrund einer Presseerklärung von Polizeipräsident und Generalstaatsanwalt der Eindruck entstanden, dass die Injektionen des Apomorphin zunächst von Polizeiärzten auf eigene Faust, d.h. ohne entsprechende Anordnung der Staatsanwaltschaft bzw. eines Richters erfolgt sei. 452 Auch nach Klärung rechtlicher Vorfragen soll allerdings bei der Vergabe von Ipecacuanha-Sirup eine Anordnung durch die Polizeibeamten als ausreichend angesehen worden sein, da wegen der kurzen
448
Hamburger Abendblatt vom 10.12.2001.
449
Vgl. taz Hamburg vom 23.2.2002, 25.
450
Hamburger Abendblatt vom 14.8. und 6.9.2001.
451
Teilweise anders Männche, Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Bremen vom 27.9.1993, abgedr. in Anti-Ras sis mus-Büro, Broschüre, 119: Es sei in keinem Fall gelungen, mittels Apomorphin einen Brechreiz auszulösen. Man habe daher auf das Mittel v.a. wegen Erfolglosigkeit verzichtet. 452
Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 86 f. und 88 f. mit Nachw.
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der Brechmittelvergbe
Verweildauer der Päckchen im Magen jedenfalls „Gefahr im Verzug" vorlie^
453
ge· Betreffend die Vergabehäufigkeit ist fur den Zeitraum vom Jahresende 1991 bis Anfang 1995 von etwa 400 Fällen die Rede. 454 Genau 202 Einsätze sollen es davon laut Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Bremen bis zum 15. 8. 1993 gewesen sein. 455 Für 1995 und das erste Quartal 1996 wird angegeben, dass Ipecacuanha bei 86 weiteren Gelegenheiten zur Anwendung gekommen sei. 456 Hinsichtlich der Quote „erfolgreicher" Einsätze, also solcher, in denen tatsächlich Rauschgiftpäckchen exkorporiert und sichergestellt werden konnten, lässt sich in Bremen eine allmähliche Steigerung feststellen. Nachdem zunächst offenbar mangels ausgelöstem Erbrechen kein Erfolg erzielt werden konnte 457 , wird die Quote der Einsätze, in denen es zum Erbrechen von Drogen kam gegenüber denjenigen, in denen keinerlei einschlägige Substanzen herausgefordert werden konnten, mit etwa 50% in den ersten 3 Jahren angegeben. Für die ersten 13Λ Jahre wird berichtet, dass insgesamt etwa 350 Gramm Kokain und Heroin sichergestellt werden konnten (in der Regel beinhalteten die Päckchen ca. 0,25 g Kokain bzw. Heroin). Betroffen seien überwiegend Schwarzafrikaner zwischen 16 und 35 Jahren gewesen. Bei 36 Personen habe es sich um Europäer gehandelt (= 17,8%). Eine genaue Auflistung des in Rede stehenden Verhältnisses für den Zeitraum 1995 bis April 1996 wird von Birkholz u.a. vorgelegt. 458 Während danach insgesamt 84 der 86 dem am 1.1.1995 neugeschaffenen ärztlichen Beweissicherungsdienst vorgeführten Personen Ipecacuanha entweder selbsttätig oder zwangsweise einnahmen, lag die Sicherstellungsrate im Durchschnitt bei 70,2% (42,8% im Januar 1995 [n=14] sowie 78,57% im April 1996 [n=14]). Sichergestellt wurden dabei 313 Container insgesamt oder 5,4 pro Person. In der weit überwiegenden Zahl der Behältnisse befand sich Kokain (299), in den restli-
453
Anti-Rassismus-Büro 1996, 254; dies wird indirekt durch den Leiter des die Einsätze in Bremen durchfuhrenden Instituts für Rechtsmedizin bestätigt (vgl. Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 277: „Die Anordnung hierzu trifft die Staatsanwaltschaft, bei Gefahr im Verzug der zuständige Polizeibeamte"). 454
Männche in: Süddeutsche Zeitung vom 16.3.1995, abgedr. in Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 98 f; taz Bremen vom 17.3.1995, abgedr. ebenda, 102 f.; Bild vom 18.3.1995, abgedr. ebenda, 117. 455
Abgedr. in Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 121.
456
Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 278.
457
Männche, Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Bremen vom 27.9.1993, abgedr. in Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 119; siehe dort auch zum Folgenden. 458
Kriminalistik 1997, 277; siehe zum Folgenden insbesondere dort Seite 278.
II. Die Praxis in den Bundesländern
103
chen Heroin. Bei 86 Prozent der Beschuldigten handelte es sich um Schwarzafrikaner, bei den verbleibenden vierzehn Prozent um Europäer. Zur Durchführung der Drogensicherstellungen wurde vormals von Betroffenen berichtet, dass die Emetika ohne vorhergehende Untersuchung sowie Anamnese verabreicht worden seien. 459 Auch habe es keine medizinische Betreuung im Anschluss an die Vergabe gegeben. Vielmehr seien die Betroffenen, auch und gerade wenn sich der Verdacht nicht bestätigt habe, ohne Geld oder sonstige Hilfe nach Hause geschickt worden. In allen Fällen gaben die Betroffenen an, noch lange andauernde, erhebliche Beschwerden wie Durchfall und fortdauerndes Erbrechen, Kopfschmerzen, Magenschmerzen etc. im Anschluss an die Prozedur gehabt zu haben. Einer der Beschuldigten habe sich sogar vier Tage lang in stationäre Behandlung begeben müssen. Betreffend die Verabreichung selbst stimmen die Angaben der Berichtenden dahin überein, dass diese lediglich unter Anwesenheit von zwei bis vier Polizeibeamten und einem Arzt stattgefunden hätten. Der Sirup sei entweder aufgrund erheblicher Drohungen und Gewalt selbsttätig oder unter Zwangsanwendung in der Weise verabreicht worden, dass der Kopf des Betroffenen nach hinten gedrückt und der Mund aufgehalten worden sei, woraufhin der Arzt den Sirup in den Schlund geschüttet habe. Lediglich in einem Fall sei eine Magensonde eingesetzt worden. In welcher Menge der Sirup jeweils vergeben wurde, ist den Berichten nicht zu entnehmen, allerdings wird geschildert, dass in Einzelfällen bis zu vier Becher mit Sirup und zusätzlich eine Salzlösung vergeben worden seien. 460 Hinweise auf den Ablauf des Verfahrens vor 1995 lassen sich auch den Angaben des zuständigen Polizeiarztes in der (bereits mehrfach zitierten) Pressemitteilung vom 27. September 1993 entnehmen.461 Daraus wird deutlich, dass offenbar Schwierigkeiten bestanden, die Brechmittel zeitnah zu verabreichen, da es mitunter über zwei Stunden gedauert habe, bis der Beschuldigte dem 459 Die insgesamt sieben Betroffenenberichte, die in Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 61 ff. abgedruckt sind, beziehen sich auf Vorfälle aus den Jahren 1993 und 1994. Bei Wiedergabe dieser Darstellungen ist zu berücksichtigen, dass sich deren Wahrheitsgehalt nicht nachprüfen lässt, zumal keinerlei Umstände mitgeteilt sind, die einer Überprüfung zugänglich wären. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Protokollierung durch Mitarbeiter des Anti-Rassismus-Büros eher dem Zweck diente, den Nachweis einer rassistischen und ausländerfeindlichen Grundhaltung der Bremer Polizeibehörden zu erbringen, als einen exakten Einblick in die Praxis der Brechmittelvergabe zu ermöglichen. Die Verwertung der Angaben in dieser Arbeit erfolgt daher der Vollständigkeit halber und unter größter Zurückhaltung. Zudem beschränkt sie sich auf die Darstellung von Informationen, die Schlüsse auf die Durchführung der Vergabe zulassen. 460 Die kumulative Vergabe von Salzlösungen als Abführmittel wird durch Angaben von Männche, Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Bremen vom 27.9.1993, abgedr. in Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 121 f. bestätigt. 461
In: Anti-Rassismus-Büro, Broschüre, 121 f.
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polizeiärztlichen Dienst vorgeführt worden sei. Auch seien - um eine Gegenwehr bei Inspektion der Mundhöhle im Rahmen der Voruntersuchung zu verhindern - Kiefersperren eingesetzt worden. Seit Einrichtung des Ärztlichen Beweissicherungsdienstes 1995 wird die Durchführung von Drogensicherstellungen wie folgt beschrieben 462: Der Beschuldigte werde auf kürzestem Wege dem Beweissicherungsdienst zugeführt, wo er über den Verdacht der Inkorporierung von Drogen und die Anordnung der Emetika-Vergaben aufgeklärt werde. Nach Untersuchung des Betroffenen und Dokumentation der Befunde wird - sofern keine Kontraindikationen erkennbar sind - der Sirup notfalls mittels Magensonde durch die Nase verabreicht. Die Anordnung hierzu treffe die StA, bei Gefahr im Verzug die Polizei. Im Anschluss werde solange Wasser zu trinken gegeben, bis sich in der erbrochenen Flüssigkeit kein Ipecacuanha-Saft mehr nachweisen lasse. Sodann werde, wenn kein weiteres Erbrechen mehr erfolge, der Beschuldigte nochmals auf seinen Gesundheitszustand untersucht und wenn möglich in die Obhut der Polizei entlassen. Zudem werde ihm ein schriftlicher Hinweis für den Fall des Auftretens von Komplikationen einschließlich nötiger Telefonnummern ausgehändigt. Die gesamte Prozedur dauere durchschnittlich eineinhalb Stunden.
3. Berlin Brechmittel werden in der größten deutschen Stadt zur Beweisgewinnung seit etwa 1994 eingesetzt.463 Als Reaktion auf das noch zu besprechende Urteil des OLG Frankfurt aus dem Jahr 1996 wurde jedoch diese Maßnahme zwischenzeitlich ausgesetzt.464 Seit März 2000, also im Anschluss an die Äußerungen des BVerfG in dessen Nichtannahmebeschluss bezüglich einer thematisch einschlägigen Verfassungsbeschwerde, wurde diese Zurückhaltung wieder aufgegeben, um das Verfahren dann nach dem Tod des jungen Mannes aus Kamerun in Hamburg erneut auszusetzen.465 Zwischen März 2000 und August 2001 sei der Sirup in insgesamt 121 Fällen verabreicht worden, wobei es in ,jedem zweiten Fall" zur Exkorporation von Drogenpäckchen gekommen sei. 466 1 7mal sei der Sirup dabei mittels Nasensonde verabreicht worden. 467
462
Vgl. Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 277.
463
taz Berlin vom 8.1.2002,21.
464
Vfg. der Senatorin für Justiz v. 18.10.1996.
465
taz Berlin vom 7.1.2002, 22.
466
Der Tagesspiegel vom 13.12.2001 unter Berufung auf die Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Inneres.
II. Die Praxis in den Bundesländern
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Konkretisierende Weisungen enthält die - auch heute noch maßgebliche Verfügung des Berliner Senators für Justiz aus dem Jahre 2000 4 6 8 , wonach das induzierte Erbrechen „auf Anregung der jeweiligen Fachdienststelle seitens des Polizeiärztlichen Dienstes" ausgelöst werde. Zweck der Maßnahme sei neben der Beweissicherung im Strafverfahren auch die Gesundheitssicherung des Tatverdächtigen. Das eingesetzte Mittel - Sirup Ipecacuanha - sei prinzipiell ungefährlich, wie das Kammergericht in einer Entscheidung ausdrücklich festgestellt habe. 469 Dennoch sei primär eine freiwillige Einnahme des Mittels durch den Beschuldigten unter Hinweis auf gesundheitliche Gefahren des Verschluckens von Rauschgift anzustreben. Zur Verdachtsbildung sei es erforderlich, sowohl den BtM-Handel als auch den Schluckvorgang zu beobachten.470 Das Verfahren selbst sei innerhalb kürzester Zeit (maximal zwei Stunden nach Inkorporation) beim Polizeiärztlichen Dienst in Berlin-Spandau unter Sicherstellung ärztlicher Betreuung durchzuführen. Vorab sei das Landespolizeiverwaltungsamt (LPVA) zu informieren, um die zeitlichen Komponenten einhalten zu können. Dies gilt auch außerhalb der Bürozeiten, wobei dann i.d.R. die Vorabinformation über mögliche Sondereinsätze bereits zwei bis drei Tage vorher erfolgen soll, um eine ärztliche Betreuung zu gewährleisten. Da es einen „sanitätsmäßigen" Bereitschaftsdienst vom LPVA an Feiertagen und Wochenenden nicht gibt, sei eine kurzfristige Realisierung des Brechmitteleinsatzes rund um die Uhr gegenwärtig nicht möglich, werde aber angestrebt.
4. Andere Außer in den drei genannten Bundesländern werden Brechmittel noch in Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und - wieder - in Niedersachsen zur Beweisgewinnung eingesetzt. Die anderen Länder verzichten generell hierauf. In Hessen, das heißt: im Frankfurter Raum, werden seit 1993 Brechmittel eingesetzt. Bis August 1994 sollen es etwa 200 Fälle gewesen sein, wobei in
467
taz Berlin vom 7.1.2002, 22 unter Berufung auf die Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Inneres. 468
Die Verfügung wurde dem Verf. von der Pressestelle des Berliner Senats für Inneres am 8. Mai 2002 zugänglich gemacht. Jedoch wurden weder Fundstelle noch Tag des Erlasses mitgeteilt. 469 470
KG, JR 2001, 162 m. Anm. Verf \ siehe dazu näher unten Kapitel 4 I. 2.
Die Praxis sieht gleichwohl anders aus, vgl. die einschlägige Stelle in der Entscheidung KG, StV 2002, 122 m. Anm. Zaczyk.
Kapitel : Di
106
der Brechmittelvergbe
90% der Fälle der Nachweis des Besitzes von Crack gelungen sei. 471 Nach dem Urteil des OLG Frankfurt vom 11.10.1996472, durch das die Einsätze für generell rechtswidrig erklärt wurden, wurde die Maßnahme zunächst ausgesetzt.473 Stattdessen bemühten sich die Strafverfolgungsbehörden, in einem Krankenhaus mit intensivmedizinischer Betreuung auf die natürliche Ausscheidung der Beweismittel zu warten. Zu diesem Zweck waren eigens spezielle Toilettenstühle angeschafft worden. 474 Nachdem das Bundesverfassungsgericht in einem Nichtannahmebeschluss aus dem Jahre 1999 die Brechmitteleinsätze für im Hinblick auf den Grundsatz der Menschenwürde und der Selbstbelastungsfreiheit unbedenklich erklärt hatte 475 , ließ der Generalstaatsanwalt durch Rundverfügung vom 1.10.1999476 die zwangsweise Anwendung von Brechmitteln mit Ausnahme des Apomorphin wieder zu. In Niedersachsen wurden lediglich im Landgerichtsbezirk Osnabrück Brechmittel verabreicht, diese jedoch als Reaktion auf den Todesfall in Hamburg im Dezember 2001 zunächst vom Justizminister per Erlass untersagt. Zur Begründung der genannten Haltung hatten sowohl der Innen- als auch der Justizminister von Niedersachsen die Ansicht vertreten, dass der Einsatz von Brechmitteln wegen der mit der zwangsweisen Vergabe von Vomitivmitteln verbundenen Gesundheitsgefahren unverhältnismäßig sei. 477 Auch, so die damalige Auffassung, hinterlasse die Ablehnung derartiger Eingriffe keine Lücke in der Verfolgung von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, insbesondere sei aus der polizeilichen Praxis bislang die Notwendigkeit solcher Einsätze nicht behauptet worden. Stattdessen würden in Niedersachsen der Inkorporierung von Drogenkapseln beschuldigte Personen solange festgehalten, bis die Behälter auf natürlichem Wege ausgeschieden sind. Sollte sich dies hinauszögern, werde Haftbefehl beantragt. 478 Mittlerweile ist diese Rechtsansicht überholt, denn Niedersachsen ist, soweit ersichtlich und nachdem der oben genannte
471
Bratzke/Knauert,
FS-Schneider, 108.
472
Dazu ausführlich unten Kapitel 4 I. 1.
473
Rundverfügung des GStA vom 11.10.1996-406/38-25.
474
Siehe Körner, BtMG, § 29 Rn. 705.
475
BVerfG, pitel 4 I.
NStZ 2000, 96 = StV 2000, 1 m. abl. Anm. Naucke\ vgl. näher unten Ka-
476
406/38-25.
477
Radiointerview mit dem Niedersächsischen Justizminister am 13.12.2001 auf NDR
4. 478 Interview mit dem Niedersächsischen Innenminister in taz Hamburg vom 24.12.2001, 29; vgl. auch den gegen das Verbot durch die Landesregierung gerichteten Antrag der CDU-Fraktion im Niedersächsischen Landtag vom 30. Januar 2002, Drs. 14/3115.
I
Die Praxis in den Bundesländern
107
Erlass im Juli 2002 wieder aufgehoben worden war, nunmehr das einzige Bundesland, in dem in den in Rede stehenden Fällen neben Ipecacuhana das Brechmittel Apomorphin standardmäßig verabreicht wird. 4 7 9 Die Anordnung hierzu trifft ausschließlich die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht. Im Zeitraum vom 1.11.1995 bis 14.12.2001 wurden in Niedersachsen überwiegend mit Einverständnis der Betroffenen in 23 Fällen (davon im Bereich der Staatsanwaltschaft Osnabrück: 22) Brechmittel eingesetzt (15 χ Ipecacuahna, 8 χ Apomorphin). Dies führte lediglich in acht Fällen zur Sicherstellung von Rauschgiftbehältnissen. Im gleichen Zeitraum wurde in Niedersachsen in 15 Fällen ein Abgang "via naturalis" abgewartet, der in zwei Fällen durch die Gabe von handelsüblichen Abführmitteln beschleunigt wurde. 480
479 Fernschriftliche Auskunft des Niedersächsischen Innenministeriums - Pressereferat - vom 11. Juni 2003. Siehe aber Kömer, BtMG, § 29 Rn. 70: Das Spritzen des Morphium-Derivats (...kann) im Hinblick auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs 2 S 1GG) unverhältnismäßig sein". 480
Fernschriftliche Auskunft des Niedersächsischen Inneministeriums - Pressereferat - vom 13. Mai 2003. Neuere Zahlen betreffend den anschließenden Zeitraum wurden nicht mitgeteilt.
Kapitel 4
Z u r Dogmatik der Brechmittelvergabe I. Die Brechmitteleinsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung Obwohl die in Rede stehenden Einsätze schon seit Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zur Exkorporation von Drogenpäckchen durchgeführt werden, hat es doch immerhin über vier Jahre gedauert, bis die damit verbundenen rechtlichen Problemstellungen innerhalb der (Straf-) Rechtswissenschaft offensiv diskutiert wurden. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die Entscheidung des OLG Frankfurt 481 aus dem Jahre 1996, die z.T. in einer nur selten vorkommenden Heftigkeit angegriffen worden ist. 482 Richtig ist zwar, dass es der Senat unterlassen hat, sich mit der gegenläufigen Entscheidung des OLG Düsseldorf 483 auseinander zu setzen484, die ihrerseits Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde 485 gewesen ist. Jedoch hat das OLG Düsseldorf die Revision des Angeklagten als „offensichtlich unbegründet" verworfen, insofern also keine Veranlassung zu einer vertieften Beschäftigung mit der Problematik erkannt. Gleichwohl hätte das OLG Frankfurt seine abweichende Rechtsauffassung zur Entscheidung dem BGH vorlegen müssen.486 Ob der Argumentation des OLG Frankfurt zu folgen ist, ist - soviel kann schon hier an Ergebnissen vorweg genommen werden - in weiten Teilen in der Tat zweifelhaft; diskussionswürdig ist die Entscheidung allemal. Sie ist dementsprechend auch Gegenstand einer Fülle von Aufsätzen und sonstigen Äußerungen gewesen487 - obwohl die Möglichkeit der Vergabe von Vomitivmitteln
481
Urt. v. 11.10.1996 - 1 Ss 28/96, NJW 1997, 1647 ff = StV 1996, 651 ff.
482
Rogali , NStZ 1998, 66: „abwegig", „...und den Leser fassungslos zurücklässt".
483
Unveröffentlichte Entscheidung vom 19.9.1995 - 2 Ss 290/95 - 45/94 III.
484
Diesen Vorwurf erheben ausdrücklich Schaefer, NJW 1997, 2438, und Körner, BtMG, § 29 Rn. 705. 485
Vgl. BVerfG, 2000,381. 486 487
StV 2000, 1 m. Anm. Naucke = NStZ 2000, 96 m. Anm. Rixen, NStZ
Vgl. Körner, BtMG, § 29 Rn. 705.
Weßlau, StV 1997, 341 ff.; Rogali , NStZ 1998, 66 ff.; Dallmeyer, StV 1997, 606 ff.; ders., KritV 2000, 252 ff.; Grüner, JuS 1999, 122 ff.; Benfer, JR 1998, 53 ff.;
I. Die Brechmitteleinsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung
109
zum Zwecke der Sicherstellung von Beweis- und Einziehungsgegenständen bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts offenbar bekannt gewesen ist. 488
1. OLG Frankfurt v. 11.10.1996 - 1 Ss 28/96 Der Sachverhalt, über den das OLG Frankfurt zu befinden hatte, wies nach den tatsächlichen Feststellungen des Gerichts eine Reihe von Besonderheiten auf, die an dem gefundenen Ergebnis in der Sache keinen Zweifel lassen können. 489 Da wurde der Beschuldigte aufgrund eines konkreten Verdachts von der Ärztin des polizeiärztlichen Dienstes - mangels sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten - offenbar ohne jede Voruntersuchung mit dem Dreifachen der ansonsten üblichen Menge des Sirups Ipecacuanha bedacht, wobei ihm das Mittel per Magensonde verabreicht worden war. In der Folge würgte der Beschuldigte einige Kokainbömbchen hervor, jedoch gelang es ihm, diese mit den Zähnen aufzufangen und wieder herunterzuschlucken. Hierdurch offensichtlich verärgert holte die zuständige Ärztin von der Staatsanwaltschaft die Anordnung zur Verabreichung von Apomorphin ein und injizierte eine Menge von 10 ml, woraufhin bei dem Betroffenen „neben Inkontinenz schnell krampfhaftes Erbrechen eingetreten ist und er seinen Mageninhalt völlig ausgespieen hat, darunter auch 20 Kokainbömbchen." 490 Nachdem man ihn auf einem Aktenbock zur Haftzelle gerollt hatte, weigerte sich der diensthabende Beamte zunächst, den Beschuldigten als haftfähig anzunehmen. Allerdings stellte der herbeigerufene Notarzt zwar äußere Verletzungen, erhöhten Blutdruck, erhöhte Pulsfrequenz, Zittern und „Atemstörungen" fest, befand den Beschuldigten aber offensichtlich gleichwohl für prinzipiell haftfähig. Eine weitere ärztliche Betreuung während der folgenden Nacht fand nicht statt. In der Sache hält der Senat eine Verurteilung beruhend auch auf den sichergestellten 20 Kokainbömbchen aus einer Reihe von Gründen für nicht zulässig.
Schmidt, Kriminalistik 1999, 92 ff.; Fahl, JA 1998, 277 ff.; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 4 Rn. 54; Dettmeyer/Musshoff/Madea, MedR 2000, 319 ff.; Birkholz u.a., Kriminalistik 1997, 277; siehe aber auch die Anmerkungen von Zaczyk (zu KG - [4] 1 Ss 180/99), StV 2002, 125 ff, und Verf. (zu KG [4] 1 Ss 87/98 [74/98]), JR 2001, 164 ff. 488
Vgl. die Nachweise bei Rogali, NStZ 1998, 66.
489
Das ist - wenn auch mit unterschiedlichster Begründung - unstrittig, vgl. nur Weßlau, StV 1997, 341 f.: „offenbar keinerlei Gespür für die von der Rechtsordnung gesetzten Grenzen strafverfolgender Ermittlungstätigkeit". 490
OLG Frankfurt,
NJW 1997, 1647.
110
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
Wie bereits an anderer Stelle besprochen 491, geht das Gericht zunächst davon aus, dass es sich bei dieser Maßnahme nicht um einen körperlichen Eingriff im Sinne von § 81a Abs. 1 S. 2 StPO gehandelt hat, da es nicht um die Feststellung, sondern vielmehr um die Sicherstellung des Rauschgiftes gegangen sei. Weiterhin werde der Beschuldigte bei dieserart Eingriff dazu gezwungen, „aktiv etwas zu tun, wozu er nicht bereit ist, nämlich sich zu erbrechen." Demgemäß erkennt das Gericht in der Brechmittelvergabe einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit, die nach weit überwiegender Auffassung von unmittelbar verfassungsrechtlichem Rang ist. 492 Ausgehend von der herkömmlichen Differenzierung zwischen Duldungspflicht und Mitwirkungs/rez/zez/ 93 wertet das OLG den Vorgang des Erbrechens als - willentlich nicht steuerbaren Zwang zur Selbstüberfiihrung. In der Konsequenz werde der Beschuldigte daher in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt. 494 Aber auch darüber hinaus nimmt der Senat auf dem Boden der sogenannten „Objektformel" einen Verstoß gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG an. Da der Mensch nämlich immer Zweck des staatlichen Handelns an sich bleiben müsse, dürfe seine Entschlussfreiheit darüber, ob und auf welche Weise er sich seines Mageninhalts entledigen wolle, nicht dadurch eingeschränkt werden, dass er dem Zweck des Hervorwürgens unterworfen werde. Die körperliche Reaktion stelle nichts weiter als das Ergebnis medikamentöser Einwirkungen dar und sei normalerweise ein der Intimsphäre zuzuordnender Vorgang, der nunmehr in relativer Öffentlichkeit stattfinden würde. Auch kämen im Falle der Zwangsauslösung des Erbrechens zur Sicherung von Mageninhalt weitere entwürdigende Umstände hinzu, weil die Zuführung nur mittels Magensonde bei gleichzeitiger Fixierung des Betroffenen erzwungen werden könne. 495 Aus dem so begründeten Beweiserhebungsverbot folgert das Gericht im Anschluss ein Verwertungsverbot, wobei es die Frage für wesentlich hält, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls das Strafverfolgungs interesse
491
Siehe oben Kapitel 2 I. 2. b) aa) (2).
492
BVerfGE 56, 37 (41 ff.); NStZ 1995, 555; BGHSt 38, 214 (220 f.); SKStPO/Rogali, vor § 133 Rn. 133; ders., Beweismittel, 145 ff.; Wolff Selbstbelastungsfreiheit, 49 ff.; Kopf Genomanalyse, 61 ff.; Günther, G A 1978, 193; Nothelfer, Selbstbezichtigungszwang, 10 f f ; Schneider, Grund und Grenzen, 37 f f ; LescK Strafprozessrecht, 95 ff.; a.A. Peters, ZStW 93 (1979), 123. 493 Siehe zu dieser Unterscheidung nur BGH, NStZ 1996, 504; Meyer-Goßner, Rn. 11. 494
NJW 1997, 1648 (Ii. Spalte).
495
NJW 1997, 1648 (re. Spalte).
§ 81a
I. Die Brechmitteleinsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung
111
höher zu bewerten sei als die Rechte des Angeklagten. Obgleich die qualitativ uneingeschränkt beweiskräftigen Gegenstände auch auf rechtmäßige Weise (im Wege natürlicher Ausscheidung) hätten erlangt werden können, ergebe sich das Verbot ihrer Verwertung zum einen aus der Verletzung von Verfahrensvorschriften, die „die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung" des Beschuldigten sichern sollten, zum anderen aus der „Anwendung von Methoden, die gegen die Grundsätze eines an Gerechtigkeit und Billigkeit orientierten Verfahrens" verstießen. 496 Zudem rügt der Senat die mehrfache Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wobei er ausdrücklich auch darauf abhebt, dass der Beschuldigte lediglich als „Kleindealer" in Betracht gekommen ist und es sich deshalb keinesfalls um große Mengen an Betäubungsmitteln hätte handeln können. 497 Zur Verdeutlichung des Gewichts des angenommenen Beweiserhebungsverbots für die Frage der Verwertung sieht das OLG Frankfurt Parallelen zu § 136a StPO. Die Beeinträchtigung der Willensfreiheit durch körperliche Eingriffe oder Verabreichung von Mitteln führe danach ohne weiteres zu einem absoluten Verwertungsverbot (§ 136a Abs. 3 StPO). Auch wenn die Vorschrift nur auf Vernehmungen anzuwenden sei, liege ihr doch der allgemeine Gedanke zugrunde, dass die Wahrheit nur in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren zu erforschen sei. Gegen diesen Grundsatz sei in dem vorliegenden Fall mit den Methoden des § 136a Abs. 1 S. 1 StPO verstoßen worden. 498 Letztlich keine Bedeutung erkennt das Gericht dem Umstand zu, dass der Beschuldigte keine andauernden gesundheitlichen Schäden davon getragen habe, da dies eher dem Zufall bzw. seiner Konstitution zu verdanken sei. Ebenfalls für unerheblich erachtet es den Umstand, dass das Erbrechen der 20 Kokainbömbchen womöglich auch im Interesse des Beschuldigten gelegen habe. Die Strafprozessordnung diene „nicht dazu, Straftäter durch eine Zwangsbehandlung vor der Realisierung von Gefahren zu bewahren, in die sie sich selbst begeben."499
2. Die gegenläufigen Entscheidungen des Kammergerichts Neben dem OLG Frankfurt in der soeben dargestellten Entscheidung hat sich als einziges deutsches oberes Gericht der 4. Strafsenat des Kammergerichts mit
496
NJW 1997, 1648 (re. Spalte); vgl. auch BGHSt 38, 214 (220).
497
NJW 1997, 1649 (Ii. Spalte).
498
NJW 1997, 1649 (Ii. Spalte).
499
NJW 1997, 1649 (re. Spalte).
112
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
der Frage der Brechmitteleinsätze ausfuhrlich auseinandergesetzt. Soweit zuweilen in diesem Zusammenhang noch das OLG Bremen 500 und sogar das BVerfG 501 genannt werden, ist zu bemerken, dass beide damit angesprochenen Entscheidungen in der Sache keinerlei Stellung zu der in Rede stehenden Problematik beziehen. Während das OLG Bremen ohne weitere Begründung von einer Zulässigkeit der Brechmitteleinsätze ausgeht, hat sich der 2. Senat des BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss nur hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 1 Abs. 1 GG bzw. der Selbstbelastungsfreiheit in der Weise geäußert, dass grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen nicht bestünden. Naucke hat in seiner Anmerkung 502 hierzu treffend formuliert: „Ein ohne Begründung hingeworfener Halbsatz, derartige Sachverhalte hätten mit Art. 1 Abs. 1 GG nichts zu tun, ist so inhaltslos, dass er nicht einmal als obiter dictum taugt." Sogar das BVerfG selber hat sich mittlerweile veranlasst gesehen, der (sich zunehmend nicht nur in der Presse ausbreitenden 503) Ansicht, es habe praktisch ein für allemal die Frage der Zulässigkeit der Brechmitteleinsätze geklärt, in einer Presseerklärung entgegen zu treten. 504 Die vom Kammergericht zu beurteilenden Sachverhalte unterscheiden sich zunächst im Tatsächlichen wenig voneinander, jedoch offensichtlich von dem der Entscheidung des OLG Frankfurt zugrundeliegenden Fall. Wurde dort der Sirup mittels Sonde in den Magen verbracht, tranken die Beschuldigten hier jeweils das Emetikum selbst. Nach den gerichtlichen Feststellungen zu beiden Geschehensabläufen, wurde den Beschuldigten mitgeteilt, dass das Brechmittel, sofern sie es nicht freiwillig einnehmen würden, auch zwangsweise verabreicht werden könne und würde. 505 Nach dem ausdrücklichen Befund war der Beschuldigte in dem einen Fall allerdings nicht darüber belehrt worden, dass die selbsttätige Einnahme freiwillig sei, während sich die Urteilsfeststellungen in dem anderen Fall zu dieser Frage überhaupt nicht verhalten. Im Übrigen weisen beide Sachverhalte keine Besonderheiten auf. Vor allem die Durchführung der ärztlichen Voruntersuchungen sowie die Nachsorge erscheinen nach den mitgeteilten Fakten korrekt verlaufen zu sein. Demgemäß konzentrieren sich beide
500
NStZ-RR 2000, 270.
501
StV 2000, 1 m. Anm. Naucke = NStZ 2000, 96 m. Anm. Rixen, NStZ 2000, 381.
502
StV 2000, 2. Kritisch zu der Aussage des BVerfG auch Dalimeyer, KritV 2000, 252 f. und - polemisierend, aber zutreffend -Amelung, StV 2002, 167. 503
Siehe insbesondere die hier in Rede stehende Entscheidung des KG, JR 2001, 163, in der gerade der Hinweis auf den Halbsatz des BVerfG als Argument für den Mangel an Begründung in dieser Frage angeführt wird. 504
Pressemitteilung Nr. 116/2001 vom 13.12. 2001.
505
JR 2001, 163 (Ii. Spalte) und StV 2002, 122 (re. Spalte).
I. Die Brechmitteleinsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung
113
Entscheidungen letztlich auf die Grundfrage der Zulässigkeit des Brechmitteleinsatzes an sich. In der Sache kommt der 4. Strafsenat in beiden Entscheidungen zu dem Ergebnis, dass die zutage geforderten Drogenpäckchen in vollem Umfang verwertbar seien, wobei er ohne weiteres mit der h.M. von der Verfassungsmäßigkeit des § 81a StPO ausgeht506 und auch davon, dass es sich hierbei um die richtige Ermächtigungsgrundlage für die Vergabe von Vomitivmitteln handelt. 507
a) Das Urteil vom 28.3.2000 Im Einzelnen begründet das Gericht seine Entscheidung vom März 2000 im wesentlichen damit, dass es sich bei dem verwendeten Emetikum Ipecacuanha um ein weit gebräuchliches, wenig toxisches Mittel handele, „das bei gelegentlicher Anwendung (...) kaum Nebenwirkungen hat, und dass selbst das Zufuhren dieses Medikaments mittels einer Nasensonde aus ärztlicher Sicht unbedenklich ist, wenn ein Festgenommener eine solche Prozedur über sich ergehen lässt." 508 Bei dieser Sachlage entspreche es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn einerseits die Ungefährlichkeit des Brechmitteleinsatzes gegen den durch Beobachtung erhärteten Verdacht des Handeltreibens mit „harten Drogen" abgewogen werde, zumal der Nachweis schlüssig nur bei Auffinden entsprechender Mengen an Betäubungsmitteln zu fuhren sei. Abgesehen davon spreche es auch für die Verhältnismäßigkeit des körperlichen Eingriffs, „dass sich der Angeklagte durch das Herunterschlucken der Päckchen selbst in die Gefahr begeben hatte, bei einem Öffnen oder Platzen der Päckchen Schaden an der Gesundheit zu erleiden oder gar zu Tode zu kommen, und dass die Verabreichung des Brechmittels auch aus dem Grunde der Gesundheitssicherung des Angeklagten erfolgt sei." 509 Obwohl sich der Senat mit Hinweis auf das Bundesverfassungsgericht 510 nicht zu einer Auseinandersetzung mit der gegenläufigen Entscheidung des OLG Frankfurt in dem Punkt veranlasst sieht, ob die zwangsweise Brechmittelvergabe mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfrei-
506
JR 2001, 163 (Ii. Spalte) und StV 2002, 123 (Ii. Spalte).
507
JR 2001, 163 (Ii. Spalte) und StV 2002, 123 (Ii. Spalte).
508
JR 2001. 163 (re. Spalte) im Anschluss an das Gutachten des medizinischen Sachverständigen in der Vorinstanz, vgl. LG Berlin vom 12.1.1998 - (569) 5 Op Js 574/95 Ns (155/97), UAS. 10 ff. 509
KG, JR 2001, 164 (Ii. Spalte).
510
BVerfG,
StV 2000, 1.
114
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
heit kollidiert 511 , geht er quasi unter dem Stichwort der „verbotenen (Vernehmungs-)Methoden" doch der Frage nach, inwieweit den Beschuldigten eine Pflicht zur Duldung der zwangsweisen Vomitiva-Vergabe trifft. Hierbei stellt sich das Gericht auf den Standpunkt, dass die Drohung mit einer erlaubten Maßnahme erst recht gestattet sein müsse. Indes komme es nicht darauf an, ob die Maßnahme (im Hinblick auf Gesundheitsgefahren) auch dann zulässig sei, wenn sie unter Überwindung geleisteter Gegenwehr mittels Nasensonde durchgesetzt werde, denn hiermit sei dem Beschuldigten im konkreten Fall nicht gedroht worden. Die Beantwortung dieser Frage stehe somit in keiner Abhängigkeit zu der Situation, in der der Beschuldigte den Eingriff duldend über sich ergehen lässt. Aus diesem Grunde sei, da die getroffene Entscheidung nicht von derjenigen des OLG Frankfurt im Sinne des § 121 Abs. 2 GVG abweiche, auch eine Vorlage an den BGH nicht geboten gewesen.512 In ähnlicher Weise hatte das Landgericht Berlin in der Vorinstanz argumentiert. 513 Es führte aus, „auch die Strafkammer hätte in dem Fall, über den das OLG Frankfurt zu entscheiden hatte, wegen grober Unverhältnismäßigkeit auf ein Beweismittelverbot erkannt. - Hier aber liegt es anders." Zwar differenziert die Kammer zunächst nicht zwischen zwangsweiser und gewaltsamer Verbringung des Sirups mittels Nasensonde. Vielmehr hebt sie pauschal ausdrücklich hervor, dem Festgenommenen sei die zwangsweise Vergabe mittels Nasensonde angedroht worden. Da es sich jedoch auch hierbei um eine gemäß § 81a Abs. 1 S. 2 StPO gestattete Maßnahme handele, liege „kein Fall des § 136a StPO vor". 5 1 4 Allerdings kommt auch das Landgericht - nach Anhörung des medizinischen Sachverständigen - zu der Auffassung, dass der vorliegende Fall nicht die Entscheidung darüber verlange, ob „das gewaltsame Sondieren" noch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit liege. 515
5,1
KG, JR 2001, 163 (re. Spalte).
512
KG, JR 2001, 164 (re. Spalte). Das KG zieht sich insoweit auf die Position zurück, das OLG Frankfurt habe „letztlich die Auffassung vertreten, dass § 81a StPO eine solche [d.h. Verabreichung einer überhöhten Dosis bei heftiger Gegenwehr mittels Nasensonde] Behandlung nicht erlaube, und es hat daher ein Beweisverwertungsverbot angenommen". Vgl. dazu Verf., JR 2001, 165. 5,3
LG Berlin vom 12.1.1998, UA S. 9 f.
514
LG Berlin vom 12.1.1998, UA S. 10.
5,5
LG Berlin vom 12.1.1998, UA S. 11 f. Bemerkenswerterweise verneint die Kammer dies, obwohl es sich damit erkanntermaßen auf den Boden stellt, auf dem auch die Auffassung des OLG Frankfurt basiert.
I. Die Brechmitteleinsätze in der obergerichtlichen Rechtsprechung
115
b) Das Urteil vom 8.5.2001 Obwohl - wie bereits ausgeführt - sich die zugrundeliegenden Sachverhalte nicht wesentlich voneinander unterscheiden, setzt der 4. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 8. Mai 2001 516 einen argumentativ etwas anderen Schwerpunkt. Hierzu sieht er sich offenbar wegen Gründe des freisprechenden Urteils des Landgerichts in der Vorinstanz 517 gezwungen. Dort hatte die Strafkammer die Auffassung vertreten, die Vergabe der Brechmittel sei unverhältnismäßig, da nicht „erforderlich" gewesen. „In die Abwägung der widerstreitenden Interessen (seien) nicht nur die körperliche Integrität des Betroffenen, sondern alle betroffenen Interessen und Schutzgüter einzubeziehen. Neben den Beeinträchtigungen der Intimsphäre (seien) auch jene körperlichen und psychischen Belastungen in Rechnung zu stellen, die mit der zwangsweisen Einflößung des Mittels durch eine Magensonde verbunden (seien)". Zwar könne „der Betroffene (...) diese Beeinträchtigungen (...) abwenden, indem er das Mittel (...) ,freiwillig' schluckt. Das ändert aber nichts daran, dass zunächst einmal der Zwangseingriff als solcher gerechtfertigt sein (müsse)." Wäre er es nicht, dürfte der Beschuldigte „auch nicht vor die Alternative gestellt werden, das Mittel entweder freiwillig zu nehmen oder aber mit der Magensonde eingeflößt zu bekommen." 518 Demgegenüber stünden die Interessen an der Sachverhaltsaufklärung in Abhängigkeit von dem Gewicht der aufzuklärenden Tat. In der Folge gelangt die Kammer zu der Überzeugung, „dass das StrafVerfolgungs interesse in diesen Fällen [der Brechmitteleinsätze bei Straßendealern] nicht erheblich genug (sei), um die mit der Maßnahme verbundenen Beeinträchtigungen und Gefahren zu rechtfertigen". 519 Dementsprechend zieht die Strafkammer den Schluss, dass, da die Verabreichung des Brechmittels unzulässig gewesen wäre, auch die Drohung mit dieser Maßnahme rechtswidrig war. Weil aber weiterhin der Beschuldigte nicht über die Freiwilligkeit seiner Mitwirkung belehrt worden sei, seien die exkorporierten Betäubungsmittel rechtswidrig erlangt worden. In entsprechender Anwendung von § 136a Abs. 1 S. 2, Abs. 3 StPO folge daraus ein Beweisverwertungsverbot. 520
5,6
StV 2002, 122 ff.
517
LG Berlin vom 8.3.1999 - (574) 6 Op Js 923/95 Ns (128/98).
5,8
LG Berlin vom 8.3.1999, UA S. 10.
519
LG Berlin vom 8.3.1999, UA S. 11. In ihren Darlegungen weist die Kammer darauf hin, dass Hinweise auf schwerwiegende Einbußen fiir die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege im Falle der Nichtzulassung derartiger Eingriffe regelmäßig dazu erfolgten, um die Rechtfertigung für den Abbau von Beschuldigtenrechen zu liefern. 520
LG Berlin vom 8.3.1999, UA S. 12.
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Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
Der 4. Strafsenat des KG Berlin folgt dieser Argumentation nicht. Zunächst entwickelt er seine Position bezüglich der Frage des Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Insoweit stellt das Gericht fest, dass die Persönlichkeitssphäre des Menschen noch nicht zwangsläufig durch Vorgänge verletzt ist, die auch die Intimsphäre und das Schamgefühl berühren. Denn der Mensch sei nicht selten bloßes Objekt des Rechts, da er sich zuweilen ohne Rücksicht auf seine Interessen fügen müsse.521 Allein darin könne die Verletzung der Menschenwürde nicht gefunden werden. Hinzukommen müsse vielmehr eine Behandlung, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stelle oder seine Würde willkürlich missachte. Diese liege aber nicht in der Entleerung des Mageninhalts durch die Vergabe von Brechmitteln, die der Beschuldigte zu dulden habe. 522 Bezüglich der Frage, ob der Beschuldigte in die Brechmittelvergabe habe einwilligen und insoweit belehrt werden müssen, hat der Senat ein medizinisches Gutachten über die gesundheitlichen Gefahren der (zwangsweisen) Brechmittelvergabe eingeholt. Wie schon das medizinische Gutachten, das der oben dargestellten früheren Entscheidung des KG zugrunde lag 523 , kommt auch dieses (wenig überraschend) zu dem Ergebnis, dass sich die Vergabe der Vomitiva mittels Nasensonde nur bei einem kooperativen Beschuldigten empfehle, im übrigen hiervon aber Abstand genommen werden sollte. Der Senat folgt diesem Gutachten und begibt sich damit argumentativ wieder auf die Schiene, der er bereits in seiner früheren Entscheidung gefolgt ist: Der (auch von dem OLG Frankfurt zu entscheidende) Fall, dass sich der Betroffene gegen den Eingriff wehre, sei nicht Gegenstand der Beurteilung. Ausdrücklich bekennt sich der Senat aber auf Grundlage des Sachverständigengutachtens zu der Ansicht, dass im Falle der Gegenwehr wegen der „mit der Einführung einer Magensonde verbundenen Gefahren von dieser Form der zwangsweisen Zuführung des Brechmittels abgesehen werden müsse." 524 Unter Berücksichtigung dieser Darlegungen kann das Gericht auch entgegen der Ansicht der Strafkammer keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erkennen, denn die Maßnahme sei zum Nachweis des BtM-Handels geeignet und erforderlich gewesen, der Brechmitteleinsatz dagegen ungefährlich. 525 Von hier aus ist es konsequent, wenn der Senat bezüglich eines etwaigen Verwertungsverbotes ausführt, die Androhung der Polizeibeamten, den Ipecacuanha-Sirup not-
521
StV 2002, 123 (Ii. Spalte).
522
KG, StV 2002, 123 (re. Spalte).
523
Vgl. KG, JR 2001, 163 (re. Spalte): „Das LG hat nach Anhörung des medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. S. auch festgestellt, ... dass selbst das Zuführen dieses Medikamentes mittels einer Nasensonde aus ärztlicher Sicht unbedenklich ist, wenn ein Festgenommener diese Prozedur über sich ergehen lässt". 524
KG, StV 2002, 124 (Ii. Spalte).
525
KG, StV 2002, 124 (re. Spalte).
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
117
falls auch zwangsweise einzuflößen, sei nicht eine solche mit einem unzulässigen Mittel gewesen, da der Beschuldigte nicht habe einwilligen müssen. Zwar ergebe sich daraus keine Mitwirkungs- wohl aber eine Duldungspflicht hinsichtlich der Verabreichung des Sirups, zumal die Androhung des ^zwangsweisen Einflößens' nicht von vorneherein den Fall des Legens einer Magensonde bei einem sich dagegen wehrenden und körperlichen Widerstand leistenden Besch, umfasst." 526
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit Aus der Gegenüberstellung der Positionen, die vom OLG Frankfurt auf der einen und vom Kammergericht auf der anderen Seite entwickelt worden sind, lässt sich im wesentlichen der Rahmen abstecken, innerhalb dessen die Diskussion über den Einsatz von Brechmitteln zu Zwecken der Strafverfolgung rechtsdogmatisch stattfindet. Dabei kristallisiert sich in der Hauptsache die Frage heraus, in welchem Bezug speziell der Einsatz von Brechmitteln zu dem im Strafverfahren überragend bedeutsamen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit steht. Die Relevanz dieses Prinzips für die in Rede stehenden Fallgestaltungen zeigt sich nicht nur in der Streitfrage, ob es sich bei dem Vorgang des Übergebens überhaupt um eine selbstbelastende Aktivität handelt, sondern insbesondere in dem Bemühen, den Umfang der (Duldungs-)Pflichten des Betroffenen festzulegen. Insofern kann man ohne Übertreibung sagen, dass die Diskussion um die Brechmitteleinsätze das Ringen um den Inhalt des nemo tenetur-Grundsatzes auf das Neue angefacht hat. Aus der Perspektive der h.M., die den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit üblicherweise danach bestimmt, ob der Beschuldigte im Dienste seiner Überfuhrung selbst aktiv werden oder aber lediglich seinen Körper zu Verfügung stellen und also lediglich „erdulden" muss 527 , ergibt sich das Problem, die Pflichtenstellung des Beschuldigten zu konkretisieren, nicht ohne weiteres. Gerade im Anwendungsbereich von § 81a StPO erscheint es unproblematisch
526 g t y 2002, 124 (re. Spalte). Beinahe überflüssig zu erwähnen ist, dass der Senat die Ansicht des Landgerichts, das Verwertungsverbot ergebe sich aus § 136a StPO, mit Hinweis auf dessen Beschränkung auf Vernehmungen ablehnt. 527 Vgl. statt vieler nur BGHSt 34, 39 (45) m. Anm. Wolfslast, NStZ 1987, 103; Meyer-Goßner·, Rn. 10 f.; LR/Dahs, Rn. 17; KK/Senge, Rn. 4 (alle zu § 81a); SKStPO/Rogali vor § 133 Rn. 73; Eisenberg, BewR, Rn. 1627; Roxin, StrafverfahrensR, § 18 Rn. 11; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 241; Dallmeyer, StV 1997, 608. Undeutlich allerdings Meyer-Goßner, Einl. Rn. 80, wo als Beispiel für bestehende Mitwirkungspflichten im Strafverfahren auch die Duldung von Untersuchungshandlungen gem. § 81a StPO aufgeführt ist.
118
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
möglich, unzulässige Verfolgungsmaßnahmen von zulässigen zu unterscheiden: Solange dem Beschuldigten quasi nichts weiter abverlangt werden muss, als „selbstverständliche Vorbereitungshandlungen, die jedermann zugemutet werden können", erscheint es konsequent und sogar zwingend, die Vergabe von Brechsirup mittels Nasensonde jedenfalls dann als im Hinblick auf den nemo tenetur-Grundsatz unproblematisch anzusehen, wenn man den Akt des Erbrechens selbst nicht als Handlung ansieht.528 Von daher verwundert es nicht, dass der Streit um die Zulässigkeit der Vergabe des Brechmittels Sirup Ipecacuanha (auch) in der wissenschaftlichen Literatur in erster Linie darauf konzentriert ist, ob diese Art der Informationsbeschaffung dem Betroffenen lediglich Passivität abverlangt oder aber ihn zu aktivem Verhalten nötigt. 529 Dass die Auseinandersetzung mit den Brechmitteleinsätzen hierbei allerdings nicht stehen bleiben kann, offenbart sich nicht zuletzt in der Argumentation des Kammergerichts, mit der es etwa die Frage der Vorlagepflicht zum BGH verneint: Letztlich hält es der Senat bei der Rechtmäßigkeitsbeurteilung der Sirupvergabe mittels Nasensonde fur entscheidend, ob sich der Beschuldigte - pflichtgemäß! - ruhig verhalte und den Eingriff dulde. 530 Dem erkennenden Senat des Kammergerichts dürfte das Glatteis, auf das er sich mit dieser Argumentation begeben hat, mutmaßlich nicht verborgen geblieben sein. Darauf deutet schon der Umstand hin, dass die Duldungspflicht des Beschuldigten überhaupt als Begründungsaufhänger herangezogen worden ist. Dennoch zeigt der lapidare Hinweis, dass der Umgang mit dem (später gutachterlich festgestellten) Gesundheitsrisiko der unbedingten Durchsetzung der Sirupvergabe schwer gefallen ist. Die Lösung des zugrundeliegenden Problems der Verknüpfung von Selbstbelastungsfreiheit und Gesundheitsklausel des § 81 a StPO, wie sie bei den Brechmitteleinsätzen offenbar wird, ist dem Kammergericht - soviel sei vorweggenommen - gründlich misslungen.531 Die weitere Frage, mit der sich beide Gerichte in ihren Urteilen auseinandersetzen, ist die der Kollision derartiger Eingriffe mit Art. 1 Abs. 1 GG. Insoweit werden die Ausführungen zwar formell, nicht aber in der Sache von denjenigen zur Selbstbelastungsfreiheit getrennt. 532 Diesbezüglich sucht das OLG Frankfurt die Behauptung der Verletzung der Menschenwürde auf Grundlage der sog. „Objektformel" zu begründen, während das Kammergericht inte-
528
Vgl. etwa Zaczyk, StV 2002, 127: Klassischer Fall einer Nichthandlung.
529
Siehe einerseits Dalimeyer, StV 1997, 606 f f ; andererseits z.B. Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 4 Rn. 54; Weßlau, StV 1997, 341 f.; Zazcyk, StV 2002, 127. 530
KG, JR 2001, 164 und StV 2002, 124; siehe bereits oben unter I. 2. a).
531
Zur Kritik siehe schon Verf.,
532
Vgl. auch Grüner, JuS 1999, 124; Zaczyk, StV 2002, 126; Dalimeyer, StV 1997,
608.
JR 2001, 164 ff.
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
119
ressanterweise exakt denselben Ausgangspunkt wählt, um zum gegenteiligen Ergebnis zu gelangen. Es wird daher zu klären sein, welcher Wert der sog. „Objektforme 1" für die vorliegende Diskussion prinzipiell zukommt. 533 Dabei wird das bislang nicht abschließend geklärte Problem offenkundig, in welchem Verhältnis das Gebot der Achtung der Menschenwürde zu der Freiheit des Einzelnen steht, sich nicht selbst belasten zu müssen.534
1. „Nemo tenetur se ipsum accusare" Bevor im Folgenden auf die soeben angesprochenen Problemstellungen näher eingegangen wird, soll zunächst ein kurzer Überblick über den Kerninhalt der Selbstbelastungsfreiheit gegeben werden, um den Hintergrund der weiteren Ausführungen zu erhellen. Die Auseinandersetzung um den richtigen Inhalt des nemo tenetur-Grundsatzes ist so alt wie dieser selbst 535 und mittlerweile derartig facettenreich und spezialisiert, dass im Rahmen der vorliegenden Arbeit gleichsam nur ein Überblick gegeben werden kann. Die Aussagen der vorliegenden Arbeit beziehen sich in aller Regel lediglich auf den Spezialfall der zwangsweisen Vergabe von Vomitivmitteln; Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit erheben sie nicht.
a) Kerninhalt des Grundsatzes Während die verfassungsrechtliche Verbürgung der Selbstbelastungsfreiheit nahezu außer Streit steht 536 , besteht über ihre theoretische Herleitung bislang keine Einigung. Positivrechtlichen Ausdruck hat sie in Art. 14 Abs. 3 lit. g des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom 19. Dezember 1966 537 gefunden, in der deutschen Strafprozessordnung vor allem in § 136 sowie §55. Das in Rede stehende Prinzip ist nicht ausdrücklich im
533
Grundlegend zur „Objektformel" Dürig, AöR 81 (1952), 117.
534
Vgl. dazu Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 225 ff.; Wolff jeweils mit Nachweisen. 535
Selbstbelastung, 29 ff.
Zur geschichtlichen Entwicklung ausführlich Rogali, 1977, 67 ff.
536
A.A. Peters, ZStW 91 (1979), 123; soweit Starck in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 51 die Ansicht vertritt, die Aussagefreiheit gründe nicht auf der Menschenwürdegarantie, bringt er hierdurch nicht zum Ausdruck, dass nemo tenetur überhaupt keine Grundlage in der Verfassung habe. 537
BGBl. 1973 II, 1533.
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
120
Grundgesetz genannt. Ungeachtet dessen kann sich der Betroffene unmittelbar hierauf berufen. Hinsichtlich seiner grundsätzlichen Bedeutung ist festzustellen, dass das Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit innerhalb seines Anwendungsbereiches, also unbeschadet bestehender Differenzen im Einzelnen, nach allgemeiner Auffassung quasi absolut gilt und daher Eingriffen in seinen Schutzbereich nicht zugänglich ist. 538 Er kann somit nicht Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG sein, da deren Schutzumfang erst im Zuge einer Verhältnismäßigkeitsabwägung bestimmbar ist. 539 Auch unterliegt die Freiheit von der Mitwirkung an der eigenen Überfuhrung keinerlei moralischer Bewertung durch den Beschuldigten selbst 540 noch durch Dritte, weshalb auch eine Fundierung in der Gewissensfreiheit des Art. 4 GG nicht überzeugen kann. Das in Rede stehende Prinzip entfaltet seine Schutzwirkungen im gesamten Strafverfahren bis zum Schuldspruch; es ist nicht auf einen Verfahrensabschnitt beschränkt. In seiner Schutzrichtung zielt es auf Passivität im untechnischen Sinne, d.h. auf Nichtbeteiligung am Strafverfahren. 541 Von daher betrachtet bildet es in gewissem Sinne das Gegenteil des in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör, der gerade die Möglichkeit zur Mitwirkung am Verfahren sicherstellen will. 5 4 2 In seinem - soweit ersichtlich - unbestrittenen Kerngehalt gewährleistet der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit das Recht, sich nicht verbal selbst belasten zu müssen.543 Darüber hinaus soll er sicherstellen, dass niemand zu
538 Die Aussage ist indes einzuschränken: Soweit nemo tenetur auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zurückgeführt wird (siehe oben), sind Eingriffe in seinen Schutzbereich im Grundsatz möglich. Jedoch dürfte anzuerkennen sein, dass verhältnismäßige Eingriffe in die Selbstbelastungsfreiheit im Hinblick auf die Zielsetzungen des Strafverfahrens nicht denkbar sind. 539
Vgl. auch Nothelfer,
540
Rogali, 1977, 128 f.
Selbstbezichtigungszwang, 35 ff.
541
Ob sich dieses Recht auf Nichtbeteiligung gerade darin ausdrückt, dass dem Beschuldigten zwar keine Handlung im materiellen Sinne abverlangt werden kann, er jedoch andererseits Überfuhrungseingriffe zu dulden hat, ist eine andere Frage. Dazu näher unten III. und IV. 542 Wolff 1977, 125.
Selbstbelastung., 32; Nothelfer,
Selbstbezichtigungszwang, 53 f.; Rogali ,
543 BVerfGE 56, 37 (42 f.); E 95, 220 (241); BGHSt 45, 363 (364); Jarras/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 34; Kunig in: v.Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 35; Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 2 Rn. 100; UUHanack, § 136 Rn. 21; Eisenberg, BewR, Rn. 831; Dingeldey, JA 1984, 407; SK-StPO /Rogali, Vor § 133 Rn. 66: „Gesicherter Bestand unserer rechtsstaatlichen Tradition"; Weigend, ZStW 113 (2001), 293, mit internationalem Vergleich.
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
121
selbstbelastenden Handlungen im Sinne einer aktiven Mitwirkung gezwungen werden kann. 544 Demgemäß ist der Beschuldigte im Verfahren gegen sich selbst insbesondere frei darin, an Untersuchungen oder körperlichen Eingriffen mitzuwirken, die zu Zwecken seiner Überfuhrung durchgeführt werden. 545 Das Zugeständnis an die Persönlichkeit des Beschuldigten, sich passiv verhalten zu dürfen, wird als „Wesen" des nemo tenetur-Grundsatzes begriffen. 546 Die Freiheit von Selbstbelastung wird flankiert durch die in Art. 6 Abs. 2 EMRK niedergelegte Unschuldsvermutung. Sie zielt darauf, den Beschuldigten vor der Aufbürdung der Beweislast im Strafverfahren zu bewahren. 547 Dazu gehört es auch, dass er schweigen darf ohne dass ihm dies zum Nachteil gereichen dürfte. Der Beschuldigte braucht sich daher weder selbst zu belasten, noch muss er sich entlasten.548
b) Herkunft
des Grundsatzes
Eine vor allem früher vertretene Auffassung, führte das nemo tenetur-Prinzip praktisch allein auf die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürdegarantie zurück, wobei zur Begründung maßgeblich auf das mit diesem überragenden Grundwert verbundene Verbot abgestellt wurde, den Betroffenen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen. 549 Danach werde der Beschuldigte gerade dann zum „bloßen Objekt" herabgewürdigt, wenn er genötigt werde, an seiner eigenen Überführung mitzuwirken, insbesondere seine Tat zu gestehen. Die Argumentation mit dem Status des Betroffenen führt zu einer weitgehenden Identifizierung der Schutzbereiche von nemo tenetur und Art. 1 Abs. 1 GG, weswegen schon frühzeitig Bedenken gegen die Beschränkung der Selbstbelastungsfreiheit auf die Verhinderung einer Objektstellung des Beschuldigten vorgebracht worden sind. Insbesondere ist bemängelt worden, dass die „Objektformel" zur Erklärung der Anerkennung der Selbstbelastungsfreiheit durch das Strafverfahren nicht ausreiche, da sie nur einzelne Fallgruppen derselben abde-
544 Dies wird neuerdings zunehmend bestritten und stattdessen der dogmatische Versuch unternommen, den Anwendungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes auf verbale Selbstbelastungen zurückzuführen; vgl. Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 238, mit ausführlicher Besprechung der Vorschläge. Näher auch unten VI. 545
Eisenberg, BewR, Rn. 834 und 1627; Beulke, Strafprozessrecht, 241.
546
Vgl. SK-StPO/Rogali, Vor § 133 Rn. 141.
547
Vgl. Meyer-Goßner, Art. 6 EMRK Rn. 12.
548
Siehe näher Rogali, 1977, 112; UUGollwitzer,
549
Nachw. bei Rogali, 1977, 140; Sautter, AcP 161 (1962), 256.
Art. 6 EMRK Rn. 133.
122
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
cke. 550 In der Sache ändert es zudem auch nichts, wenn der Begriff der Objektstellung vermieden wird und in abgewandelter Terminologie zuweilen der demütigende Charakter hervorgehoben wird, den Strafverfolgungsbehörden das Beweismaterial zur eigenen Überfuhrung an die Hand zu geben. 551 Die heute weit überwiegende Ansicht in Literatur 552 und Rechtsprechung55"5 fuhrt den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit auf das aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Allgemeine Persönlichkeitsrecht zurück, womit ebenfalls der Kerngehalt in der Wahrung (eines Aspektes) der Menschenwürde gesehen wird. Dabei wird zur Begründung in aller Regel darauf abgehoben, dass „es nicht akzeptabel" erscheine, wenn jemand sich selbst den Straffolgen aussetzen müsse.554 Unakzeptabel, weil „anstößig", sei dies deshalb, weil der Mensch als Waffe zur Zerstörung eigener Rechtsgüter eingesetzt werde. Dies greife in den Kernbereich seiner Persönlichkeit ein, denn es stünden „höchstpersönliche Dinge" auf dem Spiel. 555 Letztlich wird es als ethische „Überforderung" bzw. unzumutbar angesehen, den Betroffenen zu einem selbstbelastenden Verhalten zu zwingen, an das sich die Folgen der Strafe knüpfen. 556 Die Wortwahl dieser Begründungen der Schutzfunktion des nemo tenetur-Prinzips deutet bereits darauf hin, dass es um einen überpositiven Wert geht, der als Bestandteil der Persönlichkeit eines jeden Menschen angesehen wird, nämlich dem menschlichen Trieb zur Selbsterhaltung 557 oder auch dem „faktisch-kreatürlichen Interesse an einer Verschonung vor Selbstbezichtigung". 558 Der Selbsterhaltungstrieb sei untrennbar mit dem „Menschsein" verbunden. Seine Respektierung führe zu einem durch die Rechtsordnung zu berücksichtigenden natürlichen Recht auf Selbstschutz, dem der Gesetzgeber z.B.
550
Rogali, 1977, 145.
551
Puppe, GA 1978, 304; Bosch, Aspekte, 283; Ransiek, Polizei Vernehmung, 50.
552
SK-StPO /Rogali, Vor § 133 Rn. 130 ff.; ders., 1977, 139 ff.; ders., StV 1996, 64: „Dass die Selbstbelastungsfreiheit ein Persönlichkeitsrecht ist (...), lässt sich heute nicht mehr ernstlich bestreiten." 553
BGHSt 14, 358 (364).
554
Rogali, 1977, 145.
555
Rogali, 1977, 147.
556
BVerfGE 56, 37 (49); vgl. auch Rogali, 1977, 146, der davon ausgeht, dass zwar oftmals ein gewisses Sühnebedürfnis den Angeklagten zur Selbstbelastung treibe, dies aber eine freiwillige Leistung zu bleiben habe. 557
Kopf, Genomanalyse, 62 ff.; Rogali, 1977, 146; Eb. Schmidt, NJW 1969, 1139: Sautter, AcP 161 (1962), 256 f.; Rosmanith, Verfassungsmäßigkeit, 72. 558
Vgl. Pawlik, GA 1998, 378; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 189; ders., ZStW 111 (1999), 637.
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
123
durch die Kodifikation des persönlichen Strafausschließungsgrundes bei der StrafVereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB) entsprochen habe. 5 5 9 Unter Zugrundelegung der genannten, dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit zugeschriebenen Funktionen, nämlich Verhinderung einer bloßen Objektfunktion, Respektierung des Selbsterhaltungsinteresses sowie Bewahrung vor Demütigung 6 0 , gehen die Vertreter der h . M . 5 6 1 somit davon aus, dass das Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit seine Wurzeln zumindest auch in der Menschenwürdegarantie hat, wobei die dogmatischen Begründungen im Einzelnen abweichen, die Ergebnisse jedoch weitgehend konform bleiben. Für den vorliegenden Zusammenhang spielt es schon aus diesem Grunde keine Rolle, ob die dogmatische Basis in Art. 1 Abs. 1 GG alleine, i m Allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder aber etwa im Schuldgrundsatz 5 6 2 gesehen wird. Z u erörtern w i r d
559
Kopf Genomanalyse, 62 f. Die von Kopf ins Feld geführte Argumentation ist indes wenig überzeugend, da die ausgewählten Beispiele aus dem materiellen Strafrecht noch nicht begründen, warum der Selbsterhaltungstrieb auch im Verfahrensrecht Anerkennung finden sollte. Gerade wenn der Gesetzgeber ein Verhalten als strafwürdig empfunden hat und daher nicht durch einen Strafausschließungsgrund privilegieren wollte, könnte es geradezu als widersprüchlich empfunden werden, dass die Anerkennung des Selbsterhaltungstriebs nunmehr dazu fuhren soll, den Verfolgungsbehörden die Überfuhrung zu erschweren. Zudem ist zweifelhaft, ob die Straflosigkeit der Selbstbefreiung (§ 120 StGB) tatsächlich auf das der Selbstbelastungsfreiheit zugrundegelegte Interesse an Selbsterhalt zurückgeführt werden kann. Immerhin knüpft die Vorschrift an die Situation des Strafvollzugs und damit einen Zeitpunkt nach der Verurteilung an. Nemo tenetur bezieht sich hingegen auf das Strafverfahren und nicht auf das Vollstreckungsverfahren. Es besteht daher guter Grund, zwischen Selbsterhaltung und Selbstbegünstigung begrifflich zu differenzieren. Zuletzt kann der von Kopf eingeschlagene Begründungsweg nicht die Strafbarkeit der Verkehrsunfallflucht erklären (vgl. dazu auch Nothelfer, Selbstbezichtigungszwang, 75 f.). 560
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 226 ff.
561
Vgl. z.B. BVerfGE 56, 37 (43); BGHSt 38, 214 (220); Kunig in: v.Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rn. 36; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 411; KKJBoujong, § 136 Rn. 10; Rogali, 1977, 145; Nothelfer, Selbstbezichtigungszwang, 82 f.; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, 156; Kopf, Genomanalyse, 61 ff.; Dallmeyer, StV 1997, 606; Haas, GA 1997, 370; Weigend, ZStW 113 (2001), 294. - Gegen eine Verankerung des nemo tenetur-Grundsatzes in Art. 1 GG vgl. Günther, GA 1978, 195 f f ; Schneider, Grund und Grenzen, 45 ff.; Peters, ZStW 91 (1979), 123; Grüner, JuS 1999, 124; Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Rn. 51; Pawlik, GA 1998, 380 ff.; Lesch, ZStW 111 (1999), 637. 562 So Wolff Verfahrenstrennung, 49 ff. Jedoch wird auch der Schuldgrundsatz auf Art. 1 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip - vgl. BVerfGE 80, 244 [255]) zurückgeführt.
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an späterer Stelle vielmehr sein, ob der nemo tenetur-Grundsatz überhaupt in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gebracht werden kann. Vorerst genügt es, die um die Brechmitteleinsätze geführte Diskussion vor dem Hintergrund der von der überwiegenden Auffassung befürworteten Fundierung der Selbstbelastungsfreiheit auch in Art. 1 Abs. 1 GG zu beleuchten.
c) Konsequenzen Geht man davon aus, dass der nemo tentur-Grundsatz (auch) aus Art. 1 Abs. 1 GG herzuleiten ist, ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Schutzbereichsabgrenzung des Prinzips der Selbstbelastungsfreiheit. Dass der Frage nach der Würde des Betroffenen gerade bei der Diskussion um die Brechmitteleinsätze mit besonderer Vehemenz nachgegangen wird, hängt demgemäß auch nicht so sehr damit zusammen, dass dem Vorgang des Erbrechens in einer „relativen Öffentlichkeit" 563 der Geruch der Unwürdigkeit anhaftet. 564 Sie resultiert vielmehr letztlich aus dem Bemühen, die Pflichten des Beschuldigten im Strafverfahren, zumal im Hinblick auf seine Überführung, schlüssig zu umreißen. Dabei ist von elementarer Bedeutung, dass die Würde des Menschen nach dem Gebot des Grundgesetzes unantastbar und damit jedem hoheitlichen Eingriff entzogen ist (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Sie unterliegt damit keinerlei Beschränkungen, auch nicht durch andere Verfassungsgüter. 565 Soweit sie auf andere Grundrechtsgarantien ausstrahlt, nehmen auch diese an der in Art. 19 Abs. 2 GG statuierten „Wesensgehaltgarantie" teil. Bezogen auf den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes bedeutet dies, dass es eine absolute Grenze gibt, jenseits derer eine Inanspruchnahme des Beschuldigten zu Zwecken der Strafverfolgung von Verfassungs wegen ungeachtet jeder Verhältnismäßigkeitsabwägung ausgeschlossen ist.
563
OLG Frankfurt,
NJW 1997, 1648.
564
Siehe Binder/Seemann, NStZ 2002, 238; Schäfer, NJW 1997, 2438: Die Menschenwürde könne nicht allein an der „Ästhetik des Vorgangs" gemessen werden, da sie innerhalb der Gesamtabwägung im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips zu sehen sei. Abgesehen davon, dass das Gebot der Achtung der Menschenwürde wegen seines Absolutheitsanspruchs keiner Abwägung zugänglich ist, ist es schlicht polemisch, die Situation der Brechmitteleinsätze auf ästhetische Aspekte zu reduzieren; kritisch zu dieser Terminologie auch Dalimeyer, KritV 2000, 253. Dagegen weist Rogali (NStZ 1998, 68) im Zusammenhang mit der Würde des Betroffenen und - zu Recht - des beteiligten Vollzugspersonals ausdrücklich auf die „Begleitumstände" des Brechmitteleinsatzes hin. 565
BVerfGE
75, 369 (380); E 93, 266 (293); Jarass/Pieroth,
GG, Art. 1 Rn. 12.
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
125
Hieraus folgt unweigerlich, dass unbeschadet des Verhältnisses im Einzelnen, der Schutzbereich des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare" nicht enger gefasst sein kann, als das Gebot der Achtung der Menschenwürde im Mindestmaß vorgibt. 566
2. Das Verhältnis von nemo tenetur und Art. 1 GG Die Menschenwürde bezeichnet nach einer Formel des Bundesverfassungsgerichts den sozialen Achtungs- und Wertanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt. 567 Art. 1 Abs. 1 GG vermittelt dabei allerdings nur einen Elementarschutz, so dass er nicht schon verletzt ist, wenn jemand in umgangssprachlich „unwürdigen" Umständen lebt. Träger des Grundrechts sind ausnahmslos alle Menschen, selbstverständlich auch Straftäter. 568 Da der Staat die Würde des Einzelnen zu achten hat (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), müssen seine Organe alle Handlungen unterlassen, die „die Subjektqualität des Betroffenen prinzipiell in Frage" stellen und den Menschen daher „zum bloßen Objekt des Staates" machen. 569 Ein Eingriff liegt deshalb vor, wenn jemand zum bloßen Gegenstand des Verfahrens gemacht wird und wenn in gravierender Weise in seine körperliche und geistige Integrität und Identität eingegriffen wird. 5 7 0 Eine Einwilligung des Betroffenen in den seine Würde verletzenden Eingriff macht diesen nicht rechtmäßig. 571 Da weiterhin die Würde des Menschen unantastbar ist (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG), unterliegt sie keinerlei Beschränkungen. Demgemäß ist ein Eingriff hierin nicht zu rechtfertigen und auch im Dienste anderer Verfassungsgüter nicht gestattet.572 Die Würde des Menschen verlangt also, ihn als Subjekt, nicht als Objekt, zu behandeln. Er ist deshalb insbesondere im Strafverfahren prinzipiell in einer
566
Vgl. Rogali, StV 1996, 64.
567
BVerfGE
87, 209 (228); Jarass/Pieroth,
GG, Art. 1 Rn. 5.
S6
* BVerfGE 61,269 (284).
569
Sog. „Objektformer, vgl. BVerfGE 87, 209 (228). 57 0 57 1
9, 89 (95); E 27, 1 (6); £ 38, 105 (114 f.); E
BVerfGE 63, 332 (337); E 45, 187 (228).
BVerwGE 86, 362 (366); Jarass/Pieroth, v.Mangoldt/ Klein, GG, Art. 1 Rn. 32.
GG, Art. 1 Rn. 8; a.A. Starck in:
57 2 BVerfGE 93, 266 (293); Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Rn. 30; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 12; Sautter , AcP 161 (1962), 255.
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„Subjektstellung" zu belassen573 und daher Verfahrensbeteiligter mit eigenen Rechten und Pflichten; er ist nicht bloßes Objekt der Wahrheitsfindung. 574 Indem speziell § 81a StPO den Beschuldigten jedoch zum Gegenstand des „objektiven Personalbeweises" 575 zwecks Augenscheinseinnahme oder sachverständiger Begutachtung macht, bindet das Gesetz ihn in die Strafverfolgung gegen sich selbst ein. Dabei zeichnen sich Augenscheinseinnahmen zunächst durch ihren relativ hohen Beweiswert aus und speziell der Beschuldigte ist als Erkenntnisquelle für das Gericht von ausnehmender Bedeutung. Insoweit wird er als Beweismittel im weiteren Sinne angesehen.576 Ein Widerspruch zu der Vorgabe des Grundgesetzes besteht darin noch nicht, denn Heranziehung des Beschuldigten als Gegenstand der Informationsbeschaffung und Missachtung seiner Würde sind nicht gleichzusetzen.577 Nach den im Zusammenhang mit der Würde des Betroffenen verwendeten Formeln verwundert es nicht, dass die Schutzbereichsdefinition des nemo tenetur-Grundsatzes in aller Regel ihren Ausgangspunkt in dem Objektgedanken nimmt und betont wird, der Beschuldigte dürfe nicht zum bloßen Mittel strafprozessualer Wahrheitsfindung reduziert werden. 578 Damit wird die sog. „Objektformel" zum maßgeblichen Begründungskriterium für die Begrenzung des Schutzbereiches der Selbstbelastungsfreiheit auf aktive Mitwirkungshandlun-
57 3
BVerfGE
56, 37 (49).
574
Historisch erfolgte die Anerkennung des Beschuldigten als ein mit selbständigen Verfahrensrechten ausgestattetes Prozesssubjekt im Zuge der sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Geisteshaltung des Liberalismusiehe Ansätze enthält bereits die Frankfurter Reisverfassung vom 28.3.1849 (Einfuhrung des Anklageprozesses, Verbot von Ausnahmegerichten, Grundsatz der richterlichen Anordnung von Verhaftungen; vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 70 Rn. 7). Eine differenzierte Ausgestaltung seiner Rechtsposition beinhaltete erstmals die Strafprozessordnung vom 1.2.1877 (§§ 133 ff., 112 ff, etc.), die im Rechtsstaat des Grundgesetzes weitere Ausprägungen und ihre verfassungsrechtliche Absicherung im Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) erfahren hat (BVerfGE 57, 250 [257]; E 63, 380 [390]; E 64, 135 [145]; £ 6 6 , 313 [318]. Vgl. auch LR/Rieß, Einl. Abschn. I Rn. 66 f.). 57 5
Peters, Strafprozess, 325 ff.
57 6
Rogali, 1977,31.
577
Demgemäß wird der Grund dafür, dass andere prozessuale Zwangsmaßnahmen wie etwa Durchsuchung und Beschlagnahme unter dem Aspekt der „Objektbehandlung" als unproblematisch gelten, in dem fehlenden unmittelbaren Bezug zur Person des Beschuldigten gesehen; Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 228; vgl. auch Sautter , AcP 161 (1962), 250; Kopf Genomanalyse, 166. 578
Vgl. etwa BGHSt 14, 358 (364); St 38, 214 (220); LR/Hanack, § 136 Rn. 21; Sautter, AcP 161 (1962), 248 f.; Dingeldey, JA 1984, 409; kritisch dagegen Verrei, Selbstbelastungsfreiheit, 226: „Formulierungsritual".
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
127
gen, da nur hierbei der Beschuldigte „Werkzeug seiner eigenen Überfuhrung" werde.
a) Plausibilität der Schutzbereichsbestimmung von nemo tenetur auf Grundlage der Objektformel Besonders Sautter hat die Ansicht vertreten, der Beschuldigte dürfe nicht gezwungen werden, sich als Untersuchungsobjekt zur Verfügung zu stellen, da er andernfalls in seiner ganzen Personenhaftigkeit dem Zweck der Aufklärung von Straftaten geopfert 579 und so zum bloßen Mittel staatlicher Ziele degradiert werde. Im Unterschied zur Anwesenheitspflicht des Beschuldigten in der Hauptverhandlung (vgl. § 230 StPO), die gerade Ausfluss der Anerkennung als Prozesssubjekt sei, 580 sieht er es unter dem Gesichtspunkt des natürlichen Rechtes auf Selbstschutz, dessen Wahrung einer totalen Aufopferung des Individuums vorbeugen solle, als letztlich unzumutbar an, dass der Beschuldigte gleich durch aktive Mitwirkung oder Duldung 581 - gezwungen werde, zu seiner eigenen Überführung beizutragen. Wer dem Beschuldigten die Möglichkeit nehme, über die Mitwirkung seiner Person an der Ausübung der Staatsgewalt in sittlicher Freiheit selbst zu entscheiden, entziehe ihm die rechtlichen Zuständigkeiten zur Wahrung seiner Ehre und damit die Ehre selbst. 582 Zudem stehe die „inquisitorische und deshalb systemwidrige" Zulassung des Untersuchungszwangs gegen den Beschuldigten in Widerspruch zum sonstigen Verzicht auf den Zwang zur Aussage. Sautter gelangt damit auf dem Boden der Objektformel zu einem „Verbot jeglicher Inanspruchnahme des Beschuldigten zu Beweiszwecken"583 und damit zu der Auffassung, dass § 81a StPO insgesamt verfassungswidrig sei. Die Schutzbereiche von nemo tenetur und von Art. 1 Abs. 1 GG sind für ihn identisch. 584 Zu anderen Schlussfolgerungen gelangt das Kammergericht in den schriftlichen Entscheidungsgründen seines Urteils vom 8. Mai 2001 585 . Zwar dürfe die 57 9
Sautter, AcP 161 (1962), 256.
580
Sautter, AcP 161 (1962), 252 f., 255.
581
Sautter, AcP 161 (1962), 249 ff.
582
Sautter, AcP 161 (1962), 255.
583
Vgl. Verrei,
Selbstbelastungsfreiheit, 236.
584
So auch Kopf, Genomanalyse, 62 ff., auf Grundlage des natürlichen Selbsterhaltungsinteresses des Beschuldigten. 585
StV 2002, 123.
128
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
prinzipielle Subjektstellung des Beschuldigten durch die Maßnahme nicht in Frage gestellt werden. Dies geschehe aber nicht, wenn und soweit den Beschuldigten eine Duldungspflicht treffe. 586 Beachtlich an dieser Argumentation ist, dass sich das Verhältnis von Objektstellung und Duldungspflicht praktisch umkehrt, da nicht geklärt wird, woraus die postulierte Duldungspflicht resultieren soll. Vielmehr wird ihr Bestehen und damit implizit die Rechtmäßigkeit der Vergabe von Vomitivmitteln per Nasensonde (auch im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG) vorausgesetzt. Wären sie nämlich generell als rechtswidrig zu qualifizieren, könnte aus ihnen auch keine Pflicht hergeleitet werden, ihre Durchführung zu dulden. 587 Das Kammergericht erliegt indes diesem Zirkelschluss 588 , weil es zwei Dinge miteinander vermengt: Die Objektstellung mag eine Begründungskategorie für die Selbstbelastungsfreiheit sein 589 , sie trägt jedoch nicht offensichtlich den Grund für die vorgenommene Differenzierung zwischen Mitwirkung und Duldung in sich. 590 Es hätte daher einer Begründung dafür bedurft, warum sich gerade aus der Duldungspflicht die Vereinbarkeit mit Art. 1 Abs. 1 GG ergibt und weiter, weshalb den Beschuldigten überhaupt eine Duldungspflicht treffen soll, der Schutzbereich des nemo tentur-Grundsatzes also auf Mitwirkungshandlungen beschränkt • 591
sei. Aber auch das OLG Frankfurt verfängt sich in diesen Gedanken, wenn es seine gegenteilige Auffassung bezüglich eines Verstoßes der Brechmitteleinsätze gegen Art. 1 Abs. 1 GG auf Grundlage der „Objektformer damit begründet, dass dem Beschuldigten seine Entschlussfreiheit darüber genommen werde, zu entscheiden, „ob er sich seines Mageninhalts auf diese Weise (durch Erbre-
586
Ebenso Grüner, JuS 1999, 124 f.. In der ersten Entscheidung vom 28.3.2000 (JR 2001, 162) behandelt der Senat die Frage nicht, sondern verweist allein auf die Äußerung des BVerfG, StV 2000, 1, wonach bezüglich der Vereinbarkeit der Brechmittel mit Art. 1 GG schlicht „keine Bedenken" bestünden (siehe dazu schon oben I.). 587
ZazcyK StV 2002, 126 und 127; Verf.,
JR 2001, 166.
588
Dass es sich vorliegend um einen echten Zirkelschluss handelt, folgt aus der Überlegung, dass die Existenz der Duldungspflicht (=Schlussfolgerung) u.a. davon abhängig ist, ob sie mit Art. 1 Abs. 1 GG (=Prämisse 1) vereinbart werden kann. Das aber setzt voraus, dass der Beschuldigte durch die Erduldung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme nicht unzulässigerweise zum bloßen „Objekt des Verfahrens" gemacht wird (=Prämisse 2). Wird nun die letztgenannte Frage mit einem Hinweis auf die Duldungspflicht des Beschuldigten beantwortet, so wird das Ergebnis tatsächlich bereits vorausgesetzt (Prämisse 2=Ergebnis). 589
A.A. Dalimeyer, StV 1997, 609.
590
Siehe dazu näher sogleich unten.
591
Für die Trennung dieser beiden Fragen auch Verrei
Selbstbelastungsfreiheit, 228.
II. Die Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit
129
chen) entledigen will". 5 9 2 Fraglich kann schon sein, ob eine solche Entschlussfreiheit realiter überhaupt existiert. Rechtlich kann sie jedenfalls nur zwischen zwei Alternativen bestehen, nämlich den Brechreiz selbst herbeizuführen oder aber die „natürliche" Ausscheidung abzuwarten. Die Entscheidung darüber, den Mageninhalt überhaupt zu exkorporieren, ist auch der Willkür des Beschuldigten entzogen. Wenn es demnach fur den Beschuldigten selbst lediglich die zwei genannten Wege gibt, kann die Festlegung auf die eine Alternative nur rechtswidrig sein, wenn diese es selbst ist. Ob aber die Alternative, vorliegend also die Nötigung, sich zu erbrechen, den Beschuldigten zum bloßen Objekt strafverfolgender Tätigkeit macht, klärt das OLG in der in Rede stehenden Entscheidung nicht. Insofern setzt es sein gefundenes Ergebnis bereits voraus, indem es in Wahrheit darauf rekurriert, dass der Beschuldigte vermeintlich aktiv zu seiner eigenen Überführung herangezogen wird. 5 9 3 Andernfalls wäre nämlich zu erklären, warum nicht etwa auch die Entnahme einer Blutprobe dann unter dem angeführten Aspekt rechtswidrig sein sollte, da dem Beschuldigten insoweit schließlich auch jede Entscheidungsgewalt im Zweifel entzogen wird. 5 9 4
b) Ungeeignetheit des „ objekttheoretischen
" Argumentes für nemo tenetur
Wenn auch hier nicht im Einzelnen der Frage nachgegangen werden kann und soll, ob die „Objektformel" für die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG überhaupt fruchtbar ist, so zeigen die Beispiele doch deutlich, dass sie jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang eher geeignet ist, Verwirrung zu stiften, als zur Erhellung der Problemstellungen beizutragen. Das liegt daran, dass der Rekurs auf die „Objektstellung" des Beschuldigten eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Schutzbereiche von Art. 1 Abs. 1 GG und der Selbstbelastungsfreiheit - jedenfalls in der vorliegenden Art der Verwendung verhindert. Auf diese Weise wird der Blick auf die Notwendigkeit einer eigenen Schutzbereichsbestimmung von nemo tenetur verstellt und die Gründe für oder gegen die Vereinbarkeit mit dem einen oder anderen Prinzip werden beliebig austauschbar: Von dem Standpunkt aus, der Beschuldigte werde zu (ak-
592
OLG Frankfurt,
NJW 1997, 1648.
593
So betrachtet ist es selbstverständlich, dass das OLG in der fraglichen Entscheidung einerseits einen nemo tenetur-Verstoß aufgrund des behaupteten aktiven Verhaltens und andererseits eine unzulässige Verdinglichung des Beschuldigten annimmt. Dabei von „Harmonie" zu sprechen, erscheint m.E. überzogen (so aber Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 238). 594 Zu der These, dass bereits der Objektformel selbst ein Zirkelschluss zugrunde liege, vgl. Kühne, Strafprozesslehre, 78 ff.
130
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
tiv) selbstbelastendem Verhalten gezwungen, weil er den Vorgang des Erbrechens nicht zu verhindern vermag, folgt jedenfalls dann zwingend die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG, wenn gerade in dem abgenötigten Verhalten die Begründung der „bloßen Objektstellung" liegen soll. Umgekehrt ist von der Grundüberzeugung aus, dass es eine Pflicht zur Duldung der zwangsweisen Vergabe von Vomitiva gebe, der Schluss unausweichlich, dass der Betroffene in seiner prinzipiellen Stellung als Subjekt des Strafverfahrens nicht berührt werden kann. Andernfalls müsste es möglich sein, den Beschuldigten zur Duldung eines Eingriffs zu verpflichten, durch den er - in der Diktion der „Objektformel" - zum bloßen Objekt der Strafverfolgung degradiert würde. Ein solches Ergebnis ist offensichtlich haltlos. 595 Es bleibt im Ergebnis der Eindruck zurück, dass die „Objekttheorie" quasi als Platzhalter anstelle einer Begründung für die Frage der Vereinbarkeit mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde eingesetzt wird. Aus dem bisher Gesagten ist ferner zu entnehmen, dass die „Objekttheorie" nicht geeignet ist, zur Konkretisierung des Schutzbereiches von nemo tenetur beizutragen. 596 Insbesondere lässt sich auf ihrer Grundlage die Differenzierung zwischen (zulässiger) Inanspruchnahme des Beschuldigten zu Zwecken der Strafverfolgung und (unzulässigem) Zwang zu aktiv selbstbelastendem Verhalten nicht begründen. 597 Im Gegenteil: Die „Objektformel" beschreibt ein Methodenverbot. 598 Sie richtet sich in ihrer Aussage daher an den Staat und seine Organe. Wenn es insoweit jedoch in erster Linie auf das Verhalten der ermittelnden Person ankommt, ist nicht verständlich, warum die Zulässigkeit des Eingriffs bezogen auf den in Rede stehenden Aspekt von der Art des abgenötigten Verhaltens abhängen soll. 599 Es erscheint schwerlich begründbar, die Subjektstellung des Beschuldigten im Strafverfahren nur dann als betroffen anzusehen, wenn er selbst aktiv wird und nicht schon dann, wenn er an jeder Aktivität gehindert wird. In der rechtlichen Bewertung kann es im Hinblick auf die Objektstellung des Betroffenen keinen Unterschied machen, ob er bei extremer Gegenwehr mittels massiver körperlicher Gewalt etwa gezwungen wird, die
595
Vgl. Rogali, 1977, 141: Mit der Objekttheorie lassen sich keine brauchbaren Ergebnisse erzielen; kritisch zur „Objekttheorie" auch schon Badura, JZ 1964, 340. 596 Einschränkend Rogali , 1977, 141: Die „Objekttheorie" reiche zur Fundierung des nemo-tenetur-Gedankens nicht aus. 597
Ebenso Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 227 ff.; ders., NStZ 1997, 417.
598
Rogali, 1977, 141.
599
Nicht angezweifelt werden soll damit der Befund, dass das Methodenverbot einen Teilbereich des nemo tenetur-Grundsatz abdeckt (so Rogali , 1977, 141) und insofern auch das Verhalten des Beschuldigten berücksichtigt. Jedoch ergibt sich hieraus keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei dem mit Hilfe verbotener Mittel erzwungenen Verhalten gerade um aktive Selbstbelastung handeln müsste.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
131
Entnahme von Blut zur Alkoholbestimmung zu dulden oder ob er durch Bußgeldandrohung genötigt wird, in ein Atemalkohol-Messröhrchen zu blasen. 600 Vom herkömmlichen Wortsinn des Begriffs „Objekt" aus betrachtet liegt es jedenfalls ebenso nahe, erzwungene Passivität hierunter zu fassen wie erzwungene Aktivität.
I I I . Duldungspflichten des Beschuldigten - Der Meinungsstand zu den Brechmitteleinsätzen in der Literatur Schon bei oberflächlicher Betrachtung der Urteilsbegründungen des OLG Frankfurt sowie des Kammergerichts wird offenbar, dass beide Gerichte im Prinzip von demselben Ausgangspunkt ausgehend zu gegenläufigen Ergebnissen gelangen.601 Während das OLG Frankfurt in der unwillkürlichen körperlichen Reaktion des Erbrechens eine actio sieht, stellt sich für das KG derselbe Vorgang ebenso eindeutig als passives Verhalten dar. 602 Grund für die konträre Betrachtung ist, dass beide Senate ihr Augenmerk auf unterschiedliche Zeitpunkte richten: Während nämlich das OLG Frankfurt die körperliche Reaktion als den maßgeblichen Wertungsgesichtspunkt ansieht 603 , stellt der 4. Strafsenat des KG auf die Zuführung des Emetikums selbst ab 6 0 4 ; dass hierfür eine Mitwirkung des Beschuldigten im Wortsinne nicht erforderlich ist, erscheint nicht weiter begründungsbedürftig. 605 Es liegt dabei in der Besonderheit der Brechmittelvergabe, dass Zwangsmitteleinsatz und Beweisgewinnung zeitlich auseinanderfallen 606, weswegen die Diskussion um dieserart Eingriffe im Hinblick auf den nemo tenetur-Grundsatz nicht ohne weiteres verallgemeinerungsfähig ist.
600
Zutreffend Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 227 f.
601
OLG Frankfurt, NJW 1997, 1648; KG, JR 2001, 163; StV 2002, 123; LG Berlin ([574] 6 Op Js 923/95 Ns [128/98]), UA S. 9 (unveröffentlicht). 602
Ausdrücklich KG, JR 2001, 163.
603
OLG Frankfurt, NJW 1997, 1648: „Denn sie [die Verabreichung des Brechmittels] soll den Beschuldigten zwingen, aktiv etwas zu tun, wozu er nicht bereit ist, nämlich sich zu erbrechen." 604
KG, JR 2001, 163: „... das Recht des Beschuldigten auf Passivität (wird) nicht dadurch berührt (...), dass der Beschuldigte einen Eingriff zu erdulden hat, der lediglich 'unwillkürliche Körperreaktionen auslöst"4. 605 606
Siehe aber unten IV.
Verrei, Selbstbelastungsfreiheit, 224; vgl. auch Verf., auch für Purgativmittel.
JR 2001, 165. Das gilt i.ü.
132
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
Im Unterschied zum OLG Frankfurt, das die Richtigkeit seiner auf das äußere Erscheinungsbild fixierten Ansicht nicht infrage stellt, kann den Ausführungen des Kammergerichts immerhin insofern der Ansatz einer Begründung entnommen werden, als es die Unwillkürlichkeit des Brechvorgangs hervorhebt. Darauf haben auch andere Autoren hingewiesen und dem Erbrechen deshalb attestiert, der „geradezu klassische Fall einer Nichthandlung" zu sein. 607 Die Unabhängigkeit vom Willen des Betroffenen, und nur so kann der Hinweis verstanden werden, soll es rechtfertigen, auf den Zeitpunkt der Verabreichung des Emetikums abzustellen: Die anschließende körperliche Reaktion kann dann an dem Duldungscharakter des Gesamtverhaltens nichts mehr ändern, da sie für den Betroffenen eben nicht zu verhindern ist. Untechnisch könnte man formulieren, die Magenentleerung sei dem Beschuldigten „objektiv nicht zurechenbar".
1. Erbrechen als Form der Selbstbelastung a) Außeres Erscheinungsbild Die referierte Ansicht des OLG Frankfurt in seiner „Brechmittelentscheidung" ist auf nahezu einhellige Ablehnung gestoßen, wobei auch Kritiker dieser Art der Beweisbeschaffung sich gezwungen sehen, den Ansatz des Gerichts zu verwerfen. 608 Soweit ersichtlich hat nur Dalimeyer sich der Argumentation angeschlossen609 und ausgeführt, der Beschuldigte dulde den Eingriff nicht lediglich passiv, sondern sein gesamter Organismus befinde sich „in heftigster aktiver Tätigkeit". 610 Es verstoße mithin gegen den in § 136a StPO zum Ausdruck kommenden „ohnehin gültigen Prozessgrundsatz" 611, wenn dem Betroffenen gegen dessen Willen aufgezwungen werde, mittels einer von ihm nicht zu kontrollierenden Körperreaktion zu seiner Überfuhrung beizutragen. Hierzu ist abstrakt zu bemerken, dass das „äußere" Erscheinungsbild in aller Regel kein verlässlicher Anknüpfungspunkt für die unterschiedliche Bewertung
607
Weßlau, StV 1997, 343; Zaczyk, StV 2002, 127; Rogali , NStZ 1998, 67. Das besagt indes nicht viel, da es keinen offensichtlichen Grund gibt, nur Handlungen im materiellrechtlichen Sinne in den Schutzbereich von nemo tenetur aufzunehmen; siehe näher sogleich unten. 608
Zaczyk, StV 2002, 127.
609
Zuvor bereits Rüping, Strafverfahren, Rn. 266, allerdings ohne weitere Begrün-
dung. 610
Dallmeyer, StV 1997, 608.
611
Vgl. Peters, Strafprozess, § 41 II 1; Rogali , 1977, 52.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
133
juristischer Sachverhalte ist. Das gilt insbesondere im materiellen Strafrecht ebenso wie im Strafprozessrecht. Hier wie dort erfüllt es seinen Zweck nur in den ohnehin „eindeutig" gelagerten Fällen. 612 Untauglich wird es spätestens, wenn das Gesamtverhalten von abwechselnder Aktivität und Passivität gekennzeichnet, also mehrdeutig ist. 613 Auch und gerade der Ablauf der Brechmitteleinsätze macht dies deutlich: Die Teilnahme des Beschuldigten an der vorausgehenden Untersuchung ist zweifellos eine Mitwirkung an dem Einsatz, während die Einführung des Mittels per Magensonde Passivität voraussetzt. 614 Darin zeigt sich, dass schon der Auswahl des Verhaltens, an das letztlich angeknüpft wird, eine Wertung über die Bedeutung der einzelnen Akte für den Gesamtzusammenhang vorausgeht. 615 Das OLG Frankfürt hat seine Bewertungsmaßstäbe nicht offen gelegt, als es auf den letzten (äußeren) Akt, nämlich das Erbrechen selbst abstellte. Obwohl verschiedene Anknüpfungspunkte zur Verfügung standen, hat es diesen unwillkürlichen „Gebeakt" zum maßgeblichen Verhalten erklärt, ohne die angenommene Überlegenheit dieses Ansatzes zu erläutern. Zudem hätte es nahe gelegen darzutun, aus welchem Grund es zulässig sein soll, von dem materiellen Handlungsbegriff abzuweichen und einen eigenen prozessualen zugrunde zu legen. 616 Es ist heute nahezu unbestritten, dass Handlung im materiellstrafrechtlichen Sinne nur die willentlich steuerbare körperliche Aktivität ist. 617 Das deckt sich mit dem Handlungsbegriff, wie er in anderen Rechtsgebieten gebräuchlich ist, wenn es wie etwa auch im Zivilrecht (§ 823 BGB) um vorwerßares Verhalten geht. Soweit dagegen im Gefahrenabwehrrecht das Verursacherprinzip gilt und daher unter den Begriff des „Verhaltens" auch bloße Reflexe gefasst werden, hängt dies mit der gänzlich differierenden Zweckset-
612
Vgl. z.B. BGHSt 7, 252 ff. bzgl. der Abgrenzung des Raubes (§ 249 StGB) von der räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) sowie dazu Eser in: Schönke/Schröder, § 249 Rn. 2. 6,3
Siehe dazu WesseIs/Beulke,
AT, Rn. 699 ff.
614
Auch der Pflicht nachzukommen, sich nicht zu bewegen, kann man im Sinne der Unterdrükkung eines inneren Drangs, sich zugefügten Schmerzen o.ä. zu entziehen, durchaus auch ein aktives Element abgewinnen. 615
Das ist für den Bereich des materiellen Strafrechts überwiegend anerkannt, wenn dort auf den „Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens" abgestellt wird; grundlegend RGSt 63, 211 im sog. „Ziegenhaarfall"; Tröndle/Fischer, vor § 13 Rn. 12. 616
Vgl. die Kritik bei Weßlau, StV 1997, 343; Grüner, JuS 1999, 124; Rogali , NStZ 1998, 67 f.; Zazcyk, StV 2002, 127. Im Ergebnis dem OLG Frankfurt zustimmend: Dallmeyer, StV 1997, 608. 617
Wessels/Beulke,
AT, Rn. 93.
134
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
zung zusammen.618 Der Grund für den Verzicht auf das Merkmal der willentlichen Steuerbarkeit im Zusammenhang mit körperlichen Eingriffen gem. § 81a StPO erschließt sich deshalb keineswegs von selbst. Die Strafprozessordnung selbst enthält jedenfalls ausdrücklich an keiner Stelle einen Hinweis darauf, dass sie als Handlung auch bloße Reflexe etc. anerkennt, wenngleich sie es auch nicht ausschließt. Insofern könnte über die Berechtigung eines eigenständigen prozessualen „Handlungsbegriffs" durchaus vor dem Hintergrund nachgedacht werden, weil es im Strafprozessrecht nicht wie im materiellen Strafrecht um Vorwerfbarkeit und also um (v.a. moralische) Bewertung von Verhalten i.S.e. Unrechts- und Schuldzuschreibung geht. 619 Vielmehr kommt dem Strafverfahrensrecht zunächst nur die Aufgabe zu, den Rahmen des ZuschreibungsVorganges abzustecken. Eigene Wertungen in den Kategorien „Gut" und „Böse" hat es nicht zu treffen. Deshalb ist die Kritik an dem Urteil des OLG Frankfurt in diesem Punkt durchaus zwiespältig: Dass sich bislang keine einheitliche Auffassung über die maßgeblichen Kriterien, nach denen zwischen unzulässigem Zwang zu aktiver Mitwirkung und zulässigem Zwang zu passiver Duldung abzugrenzen sei, herausgebildet hat 620 , macht die Anwendung eines eigenen „prozessualen Handlungsbegriffs" nicht per se falsch. Die These, man könne nicht auf den Vorgang des Erbrechens selbst abstellen, weil das keine Handlung sei, ersetzt nicht die Begründung dafür, überhaupt nur Handlungen im materiellrechtlichen Sinne in den Schutzbereich des nemo tenetur Grundsatzes aufzunehmen. Prinzipiell spricht genau so viel dafür wie dagegen, jede Form von „selbstbelastender" muskulärer Aktivität, die willkürliche ebenso wie die unwillkürliche, einzubeziehen.621 Mit einer gewissen Berechtigung lässt sich etwa argumentieren, dass es gerade der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit erfordere, auch materiellrechtliche Nichthandlungen als Mitwirkungsakte zu qualifizieren. Nicht zu bestreiten, da mit § 136a StPO nicht zu vereinbaren, ist etwa die Unzulässigkeit der Verabreichung eines „Wahrheitsserums" (Narcoanalyse) mit dem Ziel, „unkontrolliert hervorsprudelnden Worten" des Beschuldigten (selbst-)belas-
6,8 VGH München, DöV 1984, 443 f.; Denninger in: Lisken/Denninger, Handbuch, Abschn. E Rn. 61. 619
Siehe näher zum Handlungsbegriff Wessels/Beulke, AT, Rn. 85 f f . Zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen im materiellen Strafrecht vgl. Tröndle/Fischer, vor § 13 Rn. 12.:„Schwerpunkt des Verhaltens". 620
Weßlau, StV 1997, 342.
621
Ausdrücklich gegen das Erfordernis der Handlungsqualität Dallmeyer, StV 1997,
608.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
135
tende Äußerungen zu entnehmen. „Handlungsqualität" hätte solches Verhalten nicht. 622
b) Einwände Durchgreifend gegen eine rein äußerliche Betrachtungsweise ist indes das von Weßlau vorgebrachte Argument, dass umgekehrt selbstbelastendes Verhalten nicht deshalb vom Schutz des nemo tenetur Grundsatzes ausgenommen werden könne, nur weil es sich äußerlich als (erzwungene) Passivität darstellt. 623 Allerdings ist das von ihr angeführte Beispiel unbeschadet einer Plausibilität im Einzelnen in gewissem Sinne unglücklich gewählt: Das KCf 2 A hatte es als zulässig angesehen, sich einer Gegenüberstellung widersetzende Beschuldigte mittels Zufügung von Schmerzen gefügig zu machen. Dies stelle keinen Zwang zu aktiver Mitwirkung an der eigenen Überführung dar, weil hierdurch lediglich „das Abwenden und Senken des Kopfes, Schließen der Augen und Grimassenschneiden" vereitelt worden sei. Dagegen seien die Beschuldigten „nicht gezwungen worden, einen bestimmten Gesichtsausdruck anzunehmen". Letztlich sei mit der Maßnahme deshalb lediglich eine Duldungspflicht durchgesetzt worden, was nicht anders zu beurteilen sei, als die notfalls zwangsweise Durchsetzung einer Blutprobenentnahme. 625 - Man mag sich in der Tat fragen, ob ein solches Vorgehen noch mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbaren ist. Auch ist der Vorwurf der Willkürlichkeit nicht von der Hand zu weisen, hätte das Gericht doch ebenso gut darauf abstellen können, dass der Zwang darauf gerichtet war, einen anderen Gesichtsausdruck anzunehmen, also aktiv zu werden 626 , womit sich die Ungeeignetheit des äuße-
622
Siehe dazu Eb. Schmidt, Teil II, § 136a Rn. 3, 9; KK/Boujong, § 136a Rn. 17; Meyer-Goßner, § 136a Rn. 10; Eisenberg, BewR, Rn. 649; Roxin, Strafverfahrensrecht, §25 Rn. 21. 623
Vgl. Weßlau, StV 1997, 342.
624
NJW 1979, 1669.
625
Als Ermächtigungsgrundlage hierfür hat das KG § 58 Abs. 2 StPO herangezogen, die Gegenmeinung stützt sich auf § 81a StPO bzw. § 81b StPO (vgl. nur Eisenberg, BewR, Rn. 1224 mit weiteren Nachweisen). Ausführlich zum Ganzen Odenthal, Gegenüberstellung, 78 ff. (§ 81a StPO) sowie Mertens, Grundrechtseingriffe, 40 f f , der die Ansicht vertritt, weder die Gegenüberstellung noch die vorbereitenden Maßnahmen fänden im Gesetz eine Ermächtigungsgrundlage. 626 Grünwald, JZ 1981, 428 f.; Wolfslast, NStZ 1987, 103; Neumann, FS Wolff, 377. Der 4. Senat des KG hat dagegen die Einnahme einer die Identifizierung ermöglichenden Körper- und Gesichtshaltung als „selbstverständliche" Pflicht des Beschuldigten im Rahmen der Gegenüberstellung angesehen. Komme er dem nicht nach, könne „sein
136
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
ren Erscheinungsbildes zur Schutzbereichsabgrenzung erweist. Allerdings hätte Weßlau 627 bei Zugrundelegen des von ihr vorgeschlagenen Willenskriteriums zu demselben Ergebnis kommen müssen, zu dem auch das KG gelangte: Da den Beschuldigten gerade keine Chance gelassen wurde, sich der Gegenüberstellung zu entziehen, dürfte Weßlau unter Anwendung ihrer eigenen Argumentation ebenfalls nicht zu einem aktiv selbstbelastenden Verhalten kommen. 628 Dennoch ist spezifisch gegen die Betrachtung allein des Sichtbaren ohne jeglichen Bezug zum Handlungssinn einzuwenden, dass gerade dann, wenn der Betroffene gezwungen wird, Flucht- und Abwehr"reflexe" zu unterbinden, nicht von einem Unterlassen im Sinne bloßer Passivität gesprochen werden kann. Im Gegenteil steht solches Verhalten aktiver Mitwirkung sehr viel näher als bloßer Duldung. Ein Abstellen allein auf das äußerliche Erscheinungsbild ist daher abzulehnen.
2. Die (Un-)Willkürlichkeit der Mitwirkung a) These Wie angedeutet hat Weßlau in ihrer - soweit ersichtlich der ersten - Anmerkung die rein äußerliche Betrachtungsweise des OLG Frankfurt verworfen und stattdessen im Anschluss an Grünwalcf 29 darauf zurückgegriffen, ob der Beschuldigte unter Druck auf seine Willensbildung gestanden hat und auf Grund dessen an seiner Überfuhrung mitwirkte. 630 Von hier aus hält Weßlau es für unzutreffend, wenn willentlich nicht steuerbare Körperbewegungen als Mitwirkung qualifiziert werden. 631 Auf diese Weise wird das Problem der Nichteinbe-
Widerstand gegen die geordnete Durchführung ... durch Anwendung unmittelbaren Zwangs ... gebrochen werden" (JR 1979, 348). 627
StV 1997, 343.
628
Zur Kritik an dieser Argumentation siehe Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 223; Neumann, FS Wolff, 376 sowie unten 3. 629
JZ 1981,428.
630
Weßlau, StV 1997, 342; Grünwald, JZ 1981, 428. In der Sache bedeutet es keinen Unterschied, wenn Odenthal (Gegenüberstellung, 99) auf die „Entschließungsfreiheit" abstellt. Auch er will die Anwendung von Zwang nur dann zulassen, „wenn gegen den Willen des Beschuldigten eine strafprozessuale Maßnahme erzwungen werden soll". Vgl. dagegen Dallmeyer, StV 1997, 607, der einwendet, die Ausgrenzung der Willensbetätigungsfreiheit sei mit Blick auf § 136a StPO nicht zu begründen. 631
Weßlau, StV 1997, 342; ebenso Fahl, JA 1998, 279; insoweit zustimmend auch Zaczyk, StV 2002, 127 und Lesch, Strafprozessrecht, 181.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
137
ziehung des intendierten Handlungssinns dadurch gelöst, dass es gewissermaßen umgangen wird, denn nunmehr kann auch ein äußerlich scheinbares Unterlassen als Mitwirkung qualifiziert werden. Bezogen auf die Brechmitteleinsätze kommt Weßlau auf Grundlage dieses Ansatzes zu dem Ergebnis, dass der Zeitpunkt der Vergabe entscheidend und ein Verstoß gegen den nemo teneturGrundsatz deshalb ausgeschlossen ist. 632
b) Einwände Nun ist auch diese Argumentation von verschiedener Seite angegriffen und überzeugend verworfen worden. 633 Durchgreifend ist dabei insbesondere der von Verre f 34 und Neumann 535 gemachte Vorhalt, dass das Willenskriterium bei konsequenter Anwendung dazu fuhren müsste, den Fall der Brechmittelvergabe als rechtswidrig zu beurteilen. Geht man nämlich davon aus, dass der Beschuldigte deshalb nicht an seiner Überführung aktiv mitwirke, weil er keine Möglichkeit zur Gegenwehr habe, es also auf seinen Willen gar nicht ankomme, muss es als bereits aktive Selbstbelastung angesehen werden, wenn er sich schon durch die Androhung der Inkorporierung mittels Magensonde beeindrucken ließe und den Sirup selbsttätig trinken oder den Mageninhalt bewusst herauswürgen würde. Denn auch die Androhung eines Zwangseingriffs stellt sich selbst als Zwangsmittel dar. Dann aber könnte der Beschuldigte die Beweismittelgewinnung dadurch rechtswidrig machen und womöglich der Verwertung sogar entziehen636, indem er dem Druck der Androhung nachgibt. Es ist daher schlicht widersinnig, die zwangsweise Vergabe (vis absoluta) als zulässig anzusehen, wenn zugleich das auf die „vorbereitende Androhung" folgende Verhalten des Beschuldigten eine nicht erzwingbare Mitwirkungshandlung wäre. Damit ist der tragende Einwand angesprochen, dem die Abgrenzung des Schutzbereiches der Selbstbelastungsfreiheit anhand des Willenskriteriums ausgesetzt ist. Auf diese Weise werden die Fälle der vis absoluta aus dem
632
Weßlau, StV 1997, 342.
633
Siehe nur Dallmeyer, StV 1997, 607; Grüner, JuS 1999, 124.
634
Selbstbelastungsfreiheit, 223.
635
In: FS Wolff, 376.
636
Das Verwertungsverbot könnte ggf. daraus folgen, dass sich die Androhung als rechtsmissbräuchlich darstellen würde, da sie auf ein Verhalten abzielt, zu dem der Beschuldigte aufgrund seiner Selbstbelastungsfreiheit nicht verpflichtet ist; vgl. Eisenberg,, BewR, Rn. 386 sowie (zur Verwertbarkeit rechtsmissbräuchlich gem. § 81a erlangter Beweismittel) Rn. 382.
138
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
Schutzbereich von nemo tenetur ausgenommen.637 Entscheidend wird nämlich, ob der entgegenstehende Wille gebeugt oder gebrochen werden muss, so dass die Differenzierung in Wahrheit anhand der Art des eingesetzten Zwangsform erfolgt. 638 Insofern sind die insbesondere von Dallmeyer 639 gezogenen Parallelen zur unbestritten unzulässigen Gabe von „Wahrheitsserum" 640 sowie zur ebenfalls nicht angezweifelten Rechtswidrigkeit der Selbstbelastung unter Hypnose 641 überzeugend. Zwar ist auch nach hier vertretener Auffassung 642 § 136a StPO im Rahmen von § 81a StPO nicht, auch nicht analog 643 anwendbar, jedoch ist die Vorschrift, die einen Teil der Verstöße gegen das nemo tenetur-Prinzip erfasst 644, Ausdruck dafür, dass eine rechtsstaatliche Beweisgewinnung um so eher in Zweifel steht, je effektiver die Einwirkung auf die Willensfreiheit letztlich ist. 645 Deshalb wird man ihr immerhin die Aussage auch in Bezug auf Zwangssätze entnehmen dürfen, dass es für die Zulässigkeit der Willensbeeinträchtigung nicht darauf ankommen kann, ob diese gerade durch vis absoluta erfolgt. Andernfalls wäre zu erklären, warum es als schützenswert anzusehen sein soll, sich selbst trotz theoretischer Möglichkeit zum Widerstand nicht belasten zu wollen, nicht aber, wenn der ausgeübte Zwang unwiderstehlich ist. 646 Aus der Unwiderstehlichkeit der Selbstbelastung, so zu Recht Dali-
637
Dallmeyer, StV 1997, 607 und KritV 2000, 260 f.; ebenso Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 222 f.; kritisch gegenüber dieser Auffassung auch Grüner, JuS 1999, 124. 638 Vgl. Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 223, der daraus schließt, dass die Differenzierung zwischen den Verhaltensformen faktisch aufgegeben wurde und nur noch terminologisch an dem Begriffspaar Aktivität/Passivität festgehalten werde (ebenso Odenthal, Gegenüberstellung, 99). - Dagegen kann man den Ansatz Weßlaus allerdings auch so verstehen, dass lediglich die Verhaltensform anhand der Willensrichtung abgegrenzt wird und daher nach wie vor Bestand haben soll. 639
In: StV 1997, 608 und KritV 2000, 261.
640
Sog. Narkoanalyse; vgl. dazu nur Eisenberg, BewR, Rn. 649.
641
Ausdrücklich genannt in § 136a Abs. 1 S. 1 StPO; vgl. dazu ausführlich Eisenberg, BewR, Rn. 678 ff. 642
Vgl. oben Kapitel 2 II. 2.
643
A.A. LG Berlin, (574) 6 Op Js 923/95 Ns (128/98), UA S. 12; Dallmeyer, StV 1997, 606. 644
Dallmeyer, KritV 2000, 261.
645
Dallmeyer, KritV 2000, 261; vgl. auch BVerfG, NStZ 1984, 82; Meyer-Goßner, § 136a Rn. 1; Eisenberg, BewR, Rn. 625. Das gilt im Übrigen unabhängig davon, welchen Zweck man der Norm ansonsten beimisst. Auch Lesch (Strafprozessrecht, 182) dürfte der getroffenen Aussage zustimmen, da eine höhere Intensität der Willensbeeinträchtigung immer auch die zunehmende Gefahr falscher Geständnisse in sich birgt. 646
So zutreffend Verrei,
Selbstbelastungsfreiheit, 223.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
139
meyer 647, kann nicht auf ihre Zuordnung zu der nemo tenetur nicht unterfallenden Passivität geschlossen werden. 648 Retten lässt sich der Ansatz auch nicht durch den Verweis, der Eingriff sei fur den Beschuldigten weniger belastend, wenn er nicht „willentlich" an seiner eigenen Überfuhrung mitwirken, sondern sich selbst nur zur Verfügung stellen müsse.649 Dass das auf die Physis bezogen unrichtig ist, zeigen gerade die Brechmitteleinsätze, bei denen es für den Betroffenen im Einzelfall wesentlich angenehmer sein wird, den Brechreiz selbst herbeizuführen, als sich einen Schlauch durch die Nase einführen zu lassen, während er gleichzeitig durch mehrere Polizeibeamte fixiert wird. Aber auch die Annahme, es stelle für den Beschuldigten (nur) dann eine besondere „Überforderung" 650 dar, wenn die zur Überführung notwendigen Beweise aus dessen eigenen Mund stammen, ist eher eine Behauptung denn ein nachgewiesenes Faktum. Die Situation des erzwungenen Erbrechens durch Einsatz einer Magensonde dürfte als (mindestens) ebenso demütigend empfunden werden. Ebenfalls für maßgeblich hält Wolfslast die Willensfreiheit bei der hier diskutierten Abgrenzungsfrage. 651 Im Unterschied zu der oben referierten Ansicht steht für sie allerdings - ausgehend von den Fällen heimlicher Ermittlungstätigkeit - nicht die Zwangsform im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Frage, ob der Betroffene über den selbstbelastenden Charakter seines Verhaltens getäuscht wurde. Es liegt auf der Hand, dass dieses Kriterium von vorneherein nur für einen Teil der problematischen Fälle Bedeutung haben kann, so dass es für den weiteren Gang der vorliegenden Untersuchung keine Rolle spielt. Die Differenzierung nach Zwangsformen führt jedenfalls nicht zu überzeugenden Ergebnissen und ist daher zu verwerfen.
647
In: StV 1997, 608; auch Rosmanith, Verfassungsmäßigkeit, 68.
648
Weßlau (ZStW 110 [1998], 31) hat sich nunmehr in anderem Zusammenhang selbst gegenüber der von ihr zuvor noch letztlich vertretenen These, dass der Eingriff in die Willensentschließungsfreiheit im Falle der Erzwingung einer aktiven Mitwirkung größer sei als bei Durchsetzung einer Duldung, ablehnend geäußert. 649
Das Argument basiert auf der Vorstellung, den Beschuldigten vor einer Demütigung bewahren zu wollen. Vgl. auch Wolfslast, NStZ 1987, 104: „...die Perfidität einer Täuschung [liegt] doch darin, dass der Tatverdächtige die Freiheit der Entscheidung fur oder gegen ein Schuldeingeständnis nicht hat...". 650 651
So aber Rogali, 1977, 146.
Wolfslast, NStZ 1987, 104, die damit im Unterschied zu Weßlau allerdings weniger auf die Willensbetätigung denn auf die Willensentschließung abstellt; kritisch hierzu SK-StPO//toga//, Vor § 133 Rn. 73.
140
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
3. Der Beschuldigte als Wissensträger und die Beschränkung auf vertretbare Handlungen Obwohl der Ansatz, den Reiß in seiner Habilitationsschrift 652 zur Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes entwickelt hat, die herkömmliche Unterscheidung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Erduldung (letztlich) verlässt, soll er dennoch an dieser Stelle Erwähnung finden. Reiß knüpft darin ebenso wie Weßlau an das Grünwald'sehe Willenskriterium an, wenn er - aufgrund eines Vergleichs von § 81a StPO und § 81c StPO - die ratio der Selbstbelastungsfreiheit darin sieht, den Beschuldigten dadurch vor einer Mitwirkung an seiner Überführung zu schützen, dass er den Bereich zulässiger Eingriffe auf Vollstreckungsmittel des unmittelbaren Zwangs begrenzen will. 6 5 3 Zwar handele es sich dabei um die schwerwiegendere Zwangsform, jedoch könne nur so gewährleistet werden, dass der Beschuldigte nicht zu einer unvertretbaren Handlung gezwungen werde. Im Rechtsstaat seien die StrafVerfolgungsorgane gehalten, den überführenden Beweis auch ohne Mitarbeit des Beschuldigten zu führen. Hieraus folgert Reiß weiter, dass der Staat sich generell das Verbot jedweden zwangsweisen Zugriff auf den Beschuldigten als Wissensträger auferlegt habe. 654 Während Reiß die StrafVerfolgungsorgane damit zunächst auf Selbstbeschaffungsakte festlegt und den Beschuldigten so lediglich vor aktiver Mitwirkung bewahrt, bedeutet die Auffassung im Zusammenhang mit der Aussagefreiheit des Beschuldigten mindestens eine Aufweichung der hergebrachten Grundsätze. Zwar ist die Beschaffung von Wissen beim Informationsträger nach derzeitigen kriminaltechnischen Möglichkeiten nicht ohne dessen Mitwirkung möglich und erfordert deshalb die Erzwingung einer unvertretbaren Handlung. Allerdings weist Reiß in Abgrenzung von Grünwald selbst ausdrücklich darauf hin, dass das Wissen des Beschuldigten auch dann unantastbar bleiben müsse, falls es in Zukunft möglich sein sollte, dieses durch Anwendung reinen Duldungszwangs zu gewinnen. 655 Damit wird klar, dass das Verbot des Zwangs zu unvertretbaren Handlungen etwas anderes ist, als dasjenige zur Ausforschung des (Tat-)Wissens; die zwangsweise Einflussnahme auf die Willensbildung des Beschuldigten stünde einer unbedingt gewaltsamen Wissenserforschung gerade nicht entgegen.656
652
Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 1987.
653
Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 176 f.
654
Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 177 f.
655
Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 178 ff.; vgl. SK-StPOIRogali, vor § 133 Rn. 139; LR/Gollwitzer, Art. 6 MRK Rn. 253. 656
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 248.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
141
Es ist deshalb zweifelhaft, ob aus der in der Strafprozessordnung vorgesehenen Rolle des Beschuldigten als körperlicher Informationslieferant auf seinen umfassenden Schutz als Wissensträger geschlossen werden kann. 657 Allerdings ist die Frage im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung, weil es hier allein auf die Begründung der Duldungspflichten des Beschuldigten als Objekt körperlicher Untersuchungen und Eingriffe ankommt. Um Mitteilung von Tatwissen geht es dabei naturgemäß nicht. Was jedoch die zwangsformorientierte Auslegung des nemo tenetur-Grundsatzes angeht, sieht sich die Reiß 'sehe Konzeption denselben Einwänden ausgesetzt, die bereits gegen den Ansatz Weßlaus vorgebracht worden sind.
4. Der Beschuldigte als Gegenstand des objektiven Personalbeweises Weniger auf den Prozess der Willensbildung, sondern auf die „Inanspruchnahme der geistigen Handlungssteuerung" stellt dagegen Rogali 658 ab. Gemeint ist damit, dass die Selbstbelastungsfreiheit nur dort überhaupt betroffen sein könne, wo der Beschuldigte gezwungen werde, sein eigenes Handlungsmotiv aufgrund eines äußeren Drucks zurückzustellen. Der Wesensgehalt des nemo tenetur-Grundsatzes bestehe gerade darin, den Beschuldigten vor der Zumutung einer gewissermaßen eigenhändigen Selbstbezichtigungsleistung zu schützen. 659 Dem entspricht es, wenn der Beschuldigte auch im Anwendungsbereich von § 81a StPO als „Gegenstand des objektiven Personalbeweises" 660 bezeichnet und dem der Begriff des „subjektiven Personalbeweises" gegenübergestellt wird, bei dem der Beschuldigte sich selbst mitteile. 661 Die Statuierung ,passiver Duldungs- und Verhaltenspflichten' greife deshalb nicht in die Selbstbelastungsfreiheit ein, möge auch die ,personale Freiheit der Willensentschließung4
657
Ablehnend Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 248 f.
658
In: NStZ 1998, 68; zustimmend Roxin, StrafprozessR, § 33 Rn. 6. Die Formulierung der „Inanspruchnahme der geistigen Handlungssteuerung" stammt von Wolff Selbstbelastungsfreiheit, 94 f.. Gemeint ist damit nicht jede Willenssteuerung, sondern nur die Instrumentalisierung „der 'geistigen Kräfte' dafür (...), ihm selbst die Schuld nachzuweisen". Insoweit passt es auch, wenn Wolff als Gegenbeispiel die Erscheinensund Anwesenheitspflicht des Beschuldigten in der Hauptverhandlung anführt, da dies allein noch keine Mitwirkung im Sinne eines Schuldeingeständnisses verlangt. Die von Dallmeyer, KritV 2000, 261 geäußerte Kritik hieran geht daher fehl. 659
SK-StPO/Rogali, Vor § 133 Rn. 141.
660
Rogali , NStZ 1998, 67.
661
Rogali,
1977,31 f.
142
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
berührt sein. 662 Im Unterschied zu der oben dargestellten Ansicht Weßlaus kommt es hiernach nicht auf die Form des ausgeübten Zwangs an (vis absoluta/vis compulsiva bzw. Drohung), sondern im Ergebnis darauf, ob der Beweis ohne Mitwirkung des Betroffenen durch Dritte erhoben werden kann. 663 Wie Rogali betont auch Grüner 664, dass dem Beschuldigten in einer „spannungsreichen Doppelrolle" ebenfalls eine Objektstellung zukomme. Dies würde sowohl vom OLG Frankfurt in der in Rede stehenden Entscheidung als auch von Weßlau verkannt. Einzig entscheidend sei, dass der Beschuldigte insoweit Objekt des Strafverfahrens sei und sich daher „wie jeder Dritte" den Ermittlungsbehörden zur staatlichen Wahrheitsfindung grundsätzlich zur Verfugung zu stellen habe. 665 Er müsse nicht mehr, aber auch nicht weniger tun, als die körperliche Untersuchung über sich ergehen zu lassen.666 Es trifft in der Tat zu, wenn Verrei bemerkt, dass sich „aus einer solchen Unterscheidung zwischen der eingeschränkten Verfügungsgewalt des Beschuldigten über seinen Körper und der umfassend geschützten Freiheit, sich durch intellektuelle Mitwirkungsakte (...) an der eigenen Überfuhrung zu beteiligen (...), die Herausnahme der Brechmittelverabreichung aus dem Schutzbereich von nemo tenetur weit zwangloser" begründen lässt „als nach der überkommenen Grenzziehung nach der Verhaltens- oder Zwangsform". 667 Das ist allerdings auch wenig verwunderlich, wird doch auf diese Weise der Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit faktisch auf die Mitteilung von Tatwissen sowie die Herausgabe von Beweismaterial i.w.S. 668 beschränkt. Ob die „herkömmliche" Terminologie zumindest bei Grüner noch Sinn macht, mag hier dahinstehen. 669 Es muss auch eingeräumt werden, dass der Vorschlag, den Schutzbereich nach der grundsätzlichen Rolle des Beschuldigten im „inquisitorisch
662
SK-StPO/Rogali, Vor § 133 Rn. 141 unter Bezugnahme auf BVerfGE BGHSt 34, 39 (45 f.); Schneider, Grund und Grenzen, 28 f f 663
Vgl. Rogali, 1977,31 f.
664
In: JuS 1999, 124.
665
Grüner, JuS 1999, 124; i.E. ebenso Ranft, Strafprozessrecht, Rn. 712.
56, 37 (42);
666
Angesichts dieser Rechtslage sieht Grüner (JuS 1999, 124) es als konsequent an, wenn das KG im sog. „Gegenüberstellungsfair (NJW 1979, 1668 f.) „auf der Grundlage der §§58 Abs. 2, 81a StPO die Beschuldigten gezwungen habe, ihren rechtswidrigen Widerstand gegen die Erfüllung ihrer passiven Duldungspflicht aufzugeben." 667
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 224.
668
Darunter fällt nicht bloß die Editionspflicht gem. § 95 StPO sondern auch die „Herausgabe" verschluckter Drogenpäckchen durch Trinken des Emetikums bzw. der alkoholhaltigen Atemluft. 669
Verrei (Selbstbelastungsfreiheit, 224) hält das Festhalten Grüners hieran für inkonsequent.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
143
geprägten Strafprozess" 670 zu bestimmen, dogmatisch kaum angreifbar ist. Eine andere Frage ist es jedoch, ob die so vorgenommene Differenzierung tatsächlich dem „Wesen" des nemo tenetur-Grundsatzes entspricht, wie Rogali meint. 671 Das wäre zwar lediglich von akademischem Interesse, wenn sich hieraus konsistente und klare Ergebnisse erzielen ließen. Jedoch hebt auch Rogali hervor, dass „die Abgrenzung von Aktivität und Passivität im Einzelfall schwierig sein kann" 672 , wie der bereits angesprochene „Gegenüberstellungsfall" anschaulich werden lässt. 673 Zudem ist zu fragen, ob es sich im Falle einer zwangsweisen Brechmittelvergabe, die bei aktiver Gegenwehr des Beschuldigten wegen des damit verbundenen Gesundheitsrisikos rechtswidrig wäre, tatsächlich um eine Beweisgewinnung handelt, die quasi ohne Beanspruchung der geistigen Handlungssteuerung des Betroffenen möglich ist. 674
5. Forderung nach Unberührtheit der Subjektstellung des Beschuldigten Einen von den soeben dargestellten Begründungswegen abweichenden Ansatz verfolgt Zaczyk in seiner Anmerkung zu dem Urteil des Kammergerichts vom 8.5.2001. 675 Zwar schließt er sich der bereits von Weßlau u.a. geäußerten Ansicht an, dass es nicht deshalb gegen nemo tentur verstoße, den Beschuldigten per Emetikum zur Exkorporation seines Mageninhalts zu zwingen, weil dies als Mitwirkung im Sinne einer aktiven Selbstbelastung zu werten sei. Vielmehr gelangt er ausgehend von der Annahme, dass es gegen die Würde des Betroffenen verstoße, ihn zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen, zu der Überzeugung, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit strafprozessualer Zwangseingriffe sei davon abhängig, ob es ihm möglich bleibt, „sich von ihnen innerlich zu distanzieren". 676 Seine Subjektivität bleibe nur unangetastet, wenn und weil er dem Vorgang gleichsam unbeteiligt gegenüberstehen könne. Vorausset-
67 0
Grüner, JuS 1999, 124.
671
SK-StPOIRogali, Vor § 133 Rn. 141; die Gegenposition in ihrer extremsten Form wird wohl von Sautter (AcP 161 [1962], 247 ff.) vertreten. 672
SK-StPO ! Rogali, Vor § 133 Rn. 141.
67 3
KG, NJW 1979, 1668; dazu SK-StPO/Rogali, Vor § 133 Rn. 73: Der Beschuldigte dürfe zwar in eine bestimmte Körperhaltung gebracht werden, es sei aber nicht zulässig, ihn am Schließen der Augen oder am Grimassenschneiden mittels Zwangsausübung zu hindern. - Warum das eine gestattet, letzteres jedoch unzulässig sein soll, ist indes nicht ohne weiteres einsehbar. 674
Dazu näher unten IV. 3. a).
67 5
Zaczyk, StV 2002, 125 ff.
67 6
Zaczyk, StV 2002, 126.
144
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
zung hierfür sei aber, dass der Körper lediglich als Augenscheinsobjekt betroffen werde. Bei invasiven Eingriffen, wie etwa dem Brechmitteleinsatz, werde der Beschuldigte hingegen unter Ausschaltung seines Willens lediglich auf einen Organismus reduziert, der auf einen Reiz reagiere. Der Beschuldigte dulde dann nicht mehr die bloße Augenscheinseinnahme seines Körpers, sondern werde zum Gegenstandslieferanten gemacht, ergo zum Objekt herabgesetzt. 677 Das stelle die andere Seite des „allgemein anerkannten" Grundsatzes dar, dass der Beschuldigte in keiner Weise zur aktiven Mitwirkung verpflichtet • 678
sei. Hiernach verlässt Zaczyk faktisch den Boden der herkömmlichen Schutzbereichsabgrenzung entlang der Linie bloßer Passivität, obwohl er terminologisch daran festhält. 67 Tatsächlich aber bewertet er etwa die Blutprobenentnahme anders als die Brechmittelvergabe - obwohl beide invasive Eingriffe darstellen - , weil bei ersterer lediglich die Blutzirkulation ausgenutzt werde 680 , während das eingesetzte Emetikum zu einer körperlichen Reaktion fuhrt, die quasi nicht „natürlich" ist in dem Sinne, dass sie ohne Einwirkung von Außen nicht stattgefunden hätte. Aber auch gegenüber der Magenaushebung mittels Schlauch sieht Zaczyk einen qualitativen Unterschied, da es bei dieser nicht zu einer „Indienstnahme des Körpers" komme. 681 Im Ergebnis sind für ihn somit zwei Faktoren entscheidend, die mit der Verhaltensform des Beschuldigten nichts zu tun haben, an die die Differenzierung zwischen Aktivität und Erduldung im Grunde anknüpft: Nämlich zum einen, ob der Körper bzw. seine Funktionen und Reflexe selbst instrumentalisiert werden und zum anderen, im Sinne einer kumulativen zweiten Voraussetzung, ob die körperlichen Reaktionen erst durch die Zwangsmaßnahme selbst hervorgerufen wurden, oder ohnehin stattgefunden hätten. 682 Demgemäß müssen all jene zwangsweisen Überfuhrungs-
677
So auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 475.
67 8
Zaczyk, StV 2002, 126.
679
Aus diesem Grunde erfolgt die Auseinandersetzung mit seinem Ansatz auch an dieser Stelle im Zusammenhang mit der „herkömmlichen" Schutzbereichsfassung und nicht im Kontext derjenigen Vertreter, die fur eine Aufgabe der tradierten Abgrenzung plädieren. 680
Ausdrücklich Zaczyk, StV 2002, 126.
681
Zaczyk,, StV 2002, 126.
682
Zaczyk (StV 2002, Fn. 27) selbst differenziert diese beiden Voraussetzungen nicht ausdrücklich, wenn er die Blutprobenentnahme und die Magenaushebung in demselben Zusammenhang exemplarisch unter dem Begriff „Indienstnahme des Körpers" anführt und einerseits darauf abstellt, dass ein ohnehin organisch ablaufender Prozess in Dienst genommen wird, andererseits aber darauf, dass es überhaupt nicht zu einer Indienstnahme des Körpers komme. Auch nach seinem Ansatz berührt es daher die Subjektivität der Person nicht allein deshalb, wenn ihr Körper überhaupt in Anspruch genommen wird.
III. Duldungspflichten des Beschuldigten
145
eingriffe die Subjektivität des Beschuldigten beeinträchtigen und daher als rechtswidrig angesehen werden, durch die ein organischer Prozess in Gang gesetzt wird, der unter „normalen" Bedingungen nicht stattgefunden hätte. Das mag eine weitgehend klare Differenzierung zwischen zulässigen und unzulässigen Maßnahmen ermöglichen, wobei man fragen muss, ob hiernach auch die zwangsweise Vergabe von Abfuhrmitteln zulässig wäre. Immerhin wird hierdurch auch in Zaczyks Sinne ein natürlicher Vorgang „ausgenutzt", der ohnehin stattgefunden hätte, wenn auch nicht zu dieser Zeit. Ungeachtet dessen erscheint der Ansatz jedoch insoweit als konstruiert, als der qualitative Unterschied zwischen einer Magenaushebung und der Brechmittelvergabe jedenfalls nicht auf den ersten Blick einleuchten will - insbesondere nicht im Hinblick auf die Frage, inwieweit die Subjektivität des Betroffenen angetastet wird. Zaczyk selbst sieht den maßgeblichen Schutzzweck der Selbstbelastungsfreiheit offenbar in der Bewahrung davor, dass der Betroffene zum bloßen Objekt der Strafverfolgung gemacht wird, wenn er es als „die andere Seite" der Freiheit von aktiver Mitwirkung betrachtet, dass der Beschuldigte „dem Vorgang gleichsam unbeteiligt gegenüberstehen können" müsse.683 Von hier aus wird es erklärungsbedürftig, warum der Beschuldigte sich von der Schlaucheinführung zum Zwecke der Magenaushebung eher soll „innerlich distanzieren" können, als von derselben Maßnahme zu Zwecken der Brechmittelvergabe. - Nur nebenbei soll im Übrigen nicht unerwähnt bleiben, dass durch die Magenaushebung organische Abläufe keineswegs unbeeinflusst bleiben; schließlich wird ein bereits in Gang gesetzter Verdauungsprozess unterbrochen. Zwar kann man dies quasi als Gegenteil der Indienstnahme des Körpers des Betroffenen ansehen, jedoch lässt sich mit einer gewissen Plausibilität behaupten, dass sich gerade darin die völlige Negation seiner Subjektivität ausdrückt. Zaczyks Argumentation trägt deshalb nur, wenn es für das Empfinden des Betroffenen tatsächlich einen Unterschied macht, warum der Schlauch eingeführt wird, im Ergebnis also, ob das Objekt der Augenscheinseinnahme unmittelbar durch den Eingriff erlangt wird oder nur mittelbar. Weshalb darin das entscheidende Kriterium im Hinblick auf die Subjektivität des Betroffenen liegen soll, wenn der Eingriff an sich identisch ist, bleibt unklar. Es lässt sich jedenfalls nicht aus der Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten begründen 684, weil das bedeuten würde vorauszusetzen, was im Ergebnis herauskommen soll. 685
683
Zaczyk, StV 2002, 126.
684
So muss Zaczyk (StV 2002, 126) allerdings auch nicht verstanden werden, wenn er es als „die andere Seite" der Mitwirkungsfreiheit bezeichnet, dass der Beschuldigte „dem Vorgang gleichsam unbeteiligt gegenüberstehen" kann. 685 Hier bewahrheitet sich anschaulich Rogalls Kritik an einer alleinigen Rückführung des nemo tenetur-Grundsatzes auf die sog. „Objektformel", weil diese letztlich auf einem Zirkelschluss beruht und ohne zusätzliche Wertungskategorien nicht auskommt
146
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
Im Ergebnis ist auch der Ansatz Zaczyks deshalb zu verwerfen, da sich aus ihm die Herausnahme der Brechmitteleinsätze aus dem Schutzbereich von nemo tenetur nicht überzeugend begründen lässt.
6. Zusammenfassung Der Blick auf die Auseinandersetzung in der juristischen Literatur mit den Urteilen des OLG Frankfurt sowie des Kammergerichts macht die Schwierigkeiten deutlich, den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit abstrakt so zu beschreiben, dass sich daraus ein dogmatisch schlüssiger Umgang auch mit den Brechmitteleinsätzen ergibt. Auf das äußere Erscheinungsbild abzustellen führt dabei - wie gesehen - ebenso wenig zu einem tragfähigen, weil beliebigen Ergebnis wie die Unterscheidung nach der Zwangsform, der jedenfalls bezogen auf die Vergabe des Sirups Ipecacuanha ein innerer Widerspruch anhaftet. Auch der Versuch, den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes mithilfe der Frage abzugrenzen, ob der Beschuldigte sich von dem Eingriff „innerlich distanzieren kann" bzw. inwieweit organische Prozesse beeinflusst werden, fuhrt nicht zu widerspruchsfreien Ergebnissen. Letztlich lassen sich die Brechmitteleinsätze tatsächlich nur auf dem Boden der von Rogali und Grüner vorgeschlagenen Begrenzung des Schutzbereiches auf intellektuelle Mitwirkungsakte in ein Konzept des nemo tenetur-Grundsatzes einpassen, dem die Unterscheidung von passiver Erduldung und aktiver Mitwirkung zugrunde liegt. 686 Damit ist indes noch nichts über die Überzeugungskraft der damit erzielten Ergebnisse im Verhältnis zueinander ausgesagt. Dennoch lässt sich immerhin festhalten, dass die Vergabe des Brechsirups mittels Magensonde in dem herkömmlichen Schutzbereichsverständnis von nemo tenetur prinzipiell Platz findet. Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, ob die Brechmittelvergabe als zulässig angesehen werden muss, denn es bleibt zu fragen, ob es im Anwendungsbereich von § 81a StPO tatsächlich keines „intellektuellen Mitwirkungsaktes" dafür bedarf, einen Schlauch durch die Nase des Betroffenen in den Magen einzufügen und welche Konsequenzen daraus für den Schutzbereich von nemo tentur zu ziehen sind.
(in: Beweismittel, 141). Zur Argumentation auf Grundlage der „Objektformer siehe näher oben II. 2. 686 Kritisch insoweit Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 235, der die überwiegend bejahte Vereinbarkeit der Brechmitteleinsätze mit dem nemo tenetur-Grundsatz nur noch terminologisch auf dem Boden des überkommenen Schutzbereichsverständnisses sieht. Formeln wie ein Abstellen auf die „geistige Handlungssteuerung" deuteten darauf hin, dass nemo tenetur inhaltlich zunehmend qualitativ, auf den Zugriffsgegenstand bezogen, bestimmt werde.
IV. Folgerungen
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IV. Folgerungen Es soll im Folgenden noch einmal auf die Argumentation des Kammergerichts in seiner ersten Entscheidung zu den Brechmitteleinsätzen zurückgekommen werden. 687 Dabei wird zu zeigen sein, dass die Position des Senats nicht nur in sich widersprüchlich, sondern Ausdruck der generellen Unvereinbarkeit der Vomitiv-Vergabe mit der Selbstbelastungsfreiheit des Betroffenen ist, sofern man deren Schutzbereich in der dargestellten herkömmlichen Weise definiert.
1. Gefahren gewaltsamer Durchsetzung Ob der Senat die Reichweite seine eigenen Darlegungen vollständig überblickt hat, mag dahingestellt bleiben. Ganz wohl dabei dürfte ihm jedenfalls nicht gewesen sein 688 , dienten seine Ausführungen doch in erster Linie dem Ziel, die Vorlagepflicht vor den BGH gem. § 121 Abs. 2 GVG zu verneinen. Im Kern sah sich das KG gezwungen, einen maßgeblichen Unterschied zwischen dem von ihm zu entscheidenden Fall und demjenigen, den das OLG Frankfurt zu behandeln hatte, in der (mangelnden) Gegenwehr des Beschuldigten bei Inkorporierung des Magenschlauchs zu erblicken. 689 Grund hierfür war der Umstand, dass das Gericht erhebliche Gesundheitsgefahren bei Gegenwehr des Beschuldigten nicht ausschließen konnte. Diese Befürchtung wird durch das bereits angesprochene Gutachten des Leiters der Rechtsmedizin der Freien Universität Berlin bestätigt, worin ausgeführt wird, dass „von dem Legen einer Magensonde gegen den Willen eines nicht
687
KG, JR 2001, 164.
688
KG, JR 2001, 164; StV 2002, 124. Dass der Senat seiner eigenen Argumentation wohl auch nicht über den Weg traut, lässt sich daran erkennen, dass er falschlich unterstellt, das OLG Frankfurt habe „letztlich die Auffassung vertreten, dass § 81a StPO eine solche [d.h. zwangsweise Verabreichung einer überhöhten Dosis] Behandlung nicht erlaube". 689
Auf die fragwürdige Wertung des Gerichts, die Androhung der zwangsweisen Verabreichung des Sirups beinhalte nicht zugleich die unbedingte bzw. gewaltsame Durchsetzung auch bei Gegenwehr, soll im Folgenden nicht weiter eingegangen werden (siehe dazu Verf., JR 2001, 167). Sie spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle; entscheidend ist lediglich die darin implizierte Aussage über das Verhältnis der zwangsweisen Vergabe beim duldenden und der unbedingten Durchsetzung bei dem Gegenwehr leistenden Betroffenen.
148
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
kooperativen ,Patienten' Abstand genommen werden" sollte, „da die Gefahr, Verletzungen zu setzen, ernsthaft in Betracht gezogen werden müsse." 690 Wenn es daher wegen der in § 81a Abs. 1 StPO einfachgesetzlich konkretisierten Pflicht 691 , Gesundheitsrisiken fur den Beschuldigten zu vermeiden, nicht erlaubt ist, Brechmittel letztlich gegen den Willen des Beschuldigten gewaltsam zu verabreichen, schließt sich konsequenterweise die Frage an, ob es dann gestattet sein kann, den Beschuldigten zu verpflichten, die Verabreichung des Mittels wehrlos über sich ergehen zu lassen, sie also zu dulden. Der Senat bejaht diese Frage eher beiläufig und differenziert im Weiteren die zwangsweise und die gewaltsame Vergabe von Brechmitteln, wobei nur die letztere aufgrund der damit verbundenen Gefahren unzulässig sein soll.
2. Das Recht des Beschuldigten, sich zu wehren Die Argumentation des Kammergerichts klingt zunächst wenig spektakulär, da die Duldungspflicht durch den Ausgangspunkt - der Reduzierung des nemo tenetur-Grundsatzes auf aktiv selbstbelastendes Verhalten - vorgegeben ist. Allerdings beinhaltet das die Annahme, dass der Schutz der eigenen Gesundheit dem Beschuldigten obliege. Es kann nämlich nicht außer Betracht bleiben, dass der Beschuldigte in jedem Fall tatsächlich die Möglichkeit hätte, den ihn überführenden Eingriff rechtswidrig zu machen, also seinen Abbruch zu erzwingen. Wenn er dies nicht tut, obwohl damit ggf. der Nachweis seiner Schuld verbunden ist, dann geschieht das aus der an ihn gestellten Erwartung heraus, dass er seine Gesundheit schützen will. Aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden soll er sich ja gerade deshalb kooperativ verhalten, weil das Gesetz zur Gesunderhaltung des Beschuldigten verpflichtet, was im Falle der Gegenwehr nicht möglich ist. Mit anderen Worten: Die Argumentation des Kammergerichts basiert darauf, dass der Beschuldigte im Interesse der eigenen Unversehrtheit den Eingriff erduldet. Eine Pflicht hierzu trifft ihn deshalb nur, wenn es ihm von Rechts wegen auferlegt werden kann, seine eigene Gesundheit zu bewahren. Eine solche Rechtspflicht existiert indes schon im Grundsatz unstreitig nicht 692
690 KG, StV 2002, 124; der Senat schließt sich den „überzeugenden Ausführungen dieses Gutachtens (...) aufgrund eigener Beurteilung" an. 691 692
Siehe oben Kapitel 1 I. 4.
Das folgt unmittelbar aus den Funktion der Grundrechte (auch) als Abwehrrechte: Der Einzelne ist vor jeglichem staatlichen Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit bzw. in sein Selbstbestimmungsrecht geschützt, also auch den zwangsweisen medizinischen Heileingriff (status negativus; vgl. BVerfGE 52, 131 (171); Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Art. 2 Rn. 26; Hufen, NJW 2001, 851). Staatliche gesundheitserhaltende Maßnahmen bedürfen daher einer besonderen Ermächtigungsgrundlage (wie etwa
IV. Folgerungen
149
und kann auch nicht damit begründet werden, dass der Betroffene nunmehr in das gegen ihn gerichtete Strafverfahren eingebunden ist. Zwar enthält die StPO eine Vielzahl von Beispielen dafür, dass der Rechtskreis des Beschuldigten durch die Einleitung des Ermittlungsverfahrens durchlässiger wird, jedoch steht außer Zweifel, dass er nicht gehalten ist, seine Gesundheit zu pflegen, jedenfalls solange seine Verhandlungsfähigkeit nicht gefährdet ist (§ 231a Abs. 1 StPO). 693 Hinzu kommt im vorliegenden Zusammenhang, dass die Bewahrung der eigenen Gesundheit aus Sicht des Betroffenen eine Konzeption bedeutet, die in direktem Widerspruch zu den dem nemo tenetur-Grundsatz immanenten bzw. ihm zugeschriebenen Schutzfunktionen steht. 694 Soll nämlich der Beschuldigte in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren insbesondere davor bewahrt werden, entgegen seinem Trieb zur Selbsterhaltung zu handeln, dürfte es für ihn schlicht unzumutbar sein und auch eine „ethische Überforderung" 695 darstellen, sich im Dienste des allgemeinen Interesses an effektiver Strafverfolgung passiv zu verhalten. Die rechtliche Anerkennung des Selbsterhaltungsinteresses 696 in dem Sinne, dass jedenfalls eine Beteiligung an der Strafverfolgung unterbunden werden soll, die über bloße Passivität hinausgeht und daher den
§101 StVollzG). Im Umkehrschluss bedeutet das zwingend, dass dem Einzelnen keine Pflicht gegenüber dem Staat obliegen kann, seine Gesundheit zu erhalten; vgl. Hufen, NJW 2001, 852, der zutreffend daraufhinweist, dass es keine Pflicht zu leben gibt. 693 Zunächst ist der Beschuldigte nur verpflichtet, seine Verhandlungsunfähigkeit nicht aktiv herbeizuführen. Das folgt aus seiner Anwesenheitspflicht gem. §§ 230, 231 Abs. 1 StPO (siehe nur BGHSt 26, 84 (90); Beulke, Strafprozess^ Rn. 122; KYJTolksdorf § 230 Rn. 4; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 3 Rn. 45; Burhoff Hdb. HV, Rn. 788). Nicht verpflichtet ist er dagegen, eine ohne sein Verschulden eingetretene Verhandlungsunfähigkeit wieder zu beseitigen (BVerfG, NJW 1994, 1590 m.w.Nachw.).Ebenfalls ist er nicht gehalten, eine unvorsätzlich, aber schuldhaft herbeigeführte Verhandlungsunfähigkeit zu beseitigen (ebenso LG Nürnberg-Fürth, NJW 1999, 1125; offen gelassen in BVerfG, NJW 1994, 1590). Da *,Herbeiführen" i.S.v. § 231a StPO auch durch Unterlassen möglich ist (vgl. BVerfG, NJW 1994, 1590; OLG Hamm, NJW 1977, 1739; UUGollwitzer, § 231a Rn. 18; Burhoff Hdb. HV, Rn. 789), ist der Beschuldigte prinzipiell auch verpflichtet, eine noch nicht eingetretene Verhandlungsunfähigkeit durch medizinische Intervention zu verhindern. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass er sich während der Dauer der HV überhaupt gesund erhalten müsse. Er muss sich lediglich verhandlungsfähig halten, um seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zu bewahren. 694 Vgl. Kopf Genomanalyse, 62 ff.; Rogali , 1977, 146; Eb. Schmidt, NJW 1969, 1139; Sautter , AcP 161 (1962), 256 f.; Rosmanith, Verfassungsmäßigkeit, 72; siehe dazu schon oben III 3 a) bb). Ablehnend demgegenüber Pawlik, GA 1998, 378; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 245; ders., ZStW 111 (1999), 637. 695
Vgl. BVerfGE
696
Ablehnend Pawlik, GA 1998, 378 ff.; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 189.
56, 37 (49); Rogali, 1977, 146.
150
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittel vergäbe
Betroffenen zum Verfolger in eigener Sache macht, zwingt dazu, ihn insoweit vor dem skizzierten Interessenwiderspruch zu schützen. Die vom Kammergericht in beiden Entscheidungen zugrunde gelegte Differenzierung zwischen zwangsweiser und gewaltsamer Durchsetzung der Brechmittelvergabe ist ein Konstrukt, das in Widerspruch zu tragenden Grundsätzen der Rolle des Beschuldigten im Strafverfahren steht. Im Hinblick auf die Beurteilung der Zulässigkeit der Brechmittelvergabe kann es nicht darauf ankommen, ob die Maßnahme gegen den Willen des Beschuldigten und gegen seinen aktiven Widerstand durchgesetzt wird, oder ob er sie passiv über sich ergehen lässt. 697 Nur am Rande sei bemerkt, dass auch diese Differenzierung letztlich an die Zwangsform anknüpft, da sie - im Gegensatz zu Weßlaus Ansatz 698 - willensbeugende Gewalt für zulässig erachtet.
3. Beschränkung der Duldungspflichten durch die „Gesundheitsklausel" des § 81a StPO Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass die vom Kammergericht gezogene Grenze zwischen „zwangsweiser" und „gewaltsamer" Verbringung der Brechmittel in den Magen des Beschuldigten nicht haltbar ist, weil es keinen hoheitlich durchsetzbaren Anspruch gegen ihn gibt, die Maßnahme passiv über sich ergehen zu lassen. Im Folgenden ist die Fragestellung zu erweitern und zu überprüfen, ob und inwieweit auf dieser Grundlage die Brechmitteleinsätze überhaupt mit der herkömmlichen Schutzbereichsabgrenzung der Selbstbelastungsfreiheit in Einklang zu bringen sind. Diesbezüglich sollen nunmehr die verschiedenen Abgrenzungskriterien ungeachtet ihrer z.T. in Zweifel gezogenen Schlüssigkeit in Beziehung gesetzt werden zu dem Befund, dass den Beschuldigten nach hier vertretener Auffassung eben keine Duldungs/?/7/c/tf in dem Sinne trifft, sich passiv zu verhalten, wenn er eine alternative Verhaltensmöglichkeit mit für ihn prozessual günstigeren Folgen hat.
697 So auch LG Berlin v. 8. 3. 1999 - (574) 6 Op Js 923/95 (128/99), UA S. 10; Zaczyk, StV 2002, 126. 698
In: StV 1997, 342; siehe näher oben IV. 3.
IV. Folgerungen
a) Verbot der Verpflichtung
151
zur Passivität bei der Brechmittelvergabe
Stellt man mit dem OLG Frankfurt und Dallmeyer auf das äußere Erscheinungsbild des Erbrechens ab, bleibt das Ergebnis selbstredend gleich: Das passive Verhalten des Beschuldigten stellt sich zwar eindeutig als Duldung dar, jedoch soll es nach dieser Ansicht eben nicht auf den Zeitpunkt der Vergabe sondern auf denjenigen der Beweiserlangung ankommen. Demgemäß bleibt dieser Ansatz von den eben gemachten Ausführungen unberührt. Die Brechmittelvergabe bleibt danach unzulässig, weil sie den Beschuldigten zu aktiv selbstbelastendem Verhalten zwingt. Will man dagegen auf das äußere Erscheinungsbild der Vergabe abstellen, führt der Weg zu dem widersinnigen Ergebnis, dass der Beschuldigte zwar nicht unter Androhung des gewaltsamen Verbringens des Sirups in seinen Magen dazu genötigt werden dürfte, selbigen zu trinken, wohl aber die konkludente Drohung mit derselben rechtswidrigen Maßnahme zu seinem Nachteil gegen sich gelten lassen müsste, wenn er unter dem Eindruck der Risiken kooperiert und jeden Impuls zur Gegenwehr mit der Folge des sofortigen Abbruchs der Maßnahme unterdrückt. - Letztlich ließe sich dieser Widerspruch nur vermeiden, wenn man den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes jedenfalls für die vorliegenden Fälle auch auf das derart erzwungene Erdulden erweitert, womit der Ausgangspunkt, nämlich die Abgrenzung anhand des äußeren Erscheinungsbildes, obsolet würde. Nimmt man hingegen mit Weßlau an, der Beschuldigte dürfe in Anerkennung des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit nicht in seiner Willensbildung beeinträchtigt werden, muss man ebenfalls zur Rechtswidrigkeit der Brechmittelvergabe kommen. Ungeachtet des Umstandes, dass die konsequente Anwendung des Willenskriteriums - wie bereits ausgeführt wurde 699 - ohnehin dieses Ergebnis zur Folge hat, beinhaltet gerade die „Verpflichtung" des Beschuldigten zur Erduldung des Eingriffs unter der konkludenten Androhung möglicher gesundheitlicher Nachteile im Falle der Gegenwehr eine deutliche Einwirkung auf seine Willensbildungsfreiheit. Ein Fall der vis absoluta liegt insoweit nicht vor, was im übrigen besonders deutlich wird, wenn man die Frage nach der „Vertretbarkeit" der Handlung stellt: Man mag schon das Erbrechen selbst als unvertretbar (wenn auch nicht als „Handlung") im Sinne des Reiß'sehen Begründungsansatzes ansehen, die nicht erzwingbare Passivität erfüllt den Tatbestand der Unvertretbarkeit jedenfalls ohne Zweifel. Zu keiner anderen Schlussfolgerung gelangt man, wenn man mit Rogali und Grüner davon ausgeht, dass der Beschuldigte im Strafverfahren „nicht mehr, aber auch nicht weniger zu tun verpflichtet ist, als die körperliche Untersu-
699
Vgl. oben III. 3.
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
152
chung über sich ergehen zu lassen" 700 und deshalb annimmt, dass im Rahmen körperlicher Eingriffe der Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit prinzipiell gar nicht betroffen sei, soweit dem Betroffenen außer Passivität nichts abverlangt werde: Wie ausgeführt bedeutet der Verzicht auf Gegenwehr im vorliegenden Fall nicht schlichte Passivität, sondern setzt eine bewusste Entscheidung hierfür wider die eigene „strafprozessuale Interessenlage" voraus. Der Beschuldigte lässt daher die Einführung des Magenschlauchs nicht einfach über sich ergehen, sondern er kooperiert aus heteronomen Motiven heraus - würde er freiwillig handeln, läge es näher, den Sirup zu trinken. Von daher stellt die Erwartung an den Beschuldigten, dem Eingriff keine Gegenwehr entgegenzusetzen, sehr wohl die „Inanspruchnahme seiner geistigen Handlungssteuerung" 701 dar. Die Brechmittel vergäbe per Magensonde verlangt von dieser Position aus daher eine Mitwirkung vom Betroffenen und ist deshalb als unzulässig zu qualifizieren. Zuletzt hat Zaczyk in seiner Auseinandersetzung mit der zweiten kammergerichtlichen Entscheidung zu den Brechmitteleinsätzen selbst darauf hingewiesen, dass den Brechmitteleinsätzen die Zulässigkeit versagt werden müsse, weil eine körperliche Maßnahme, die unter Zwang nicht angeordnet werden dürfe, auch kein Zwangsmittel der StPO sein könne. 702 Obgleich dieser Aussage hier uneingeschränkt zugestimmt wird, ist kritisch zu bemerken, dass Zaczyk es versäumt, aus diesem Befund Konsequenzen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Brechmitteleinsätze im Hinblick auf nemo tenetur zu ziehen. Im Gegenteil hält er die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten für unberührt, weil dieser „nicht willentlich an seiner eigenen Überführung" mitwirke. 703 Genau das trifft indes nicht zu: der Beschuldigte wirkt - wie bereits ausführlich dargelegt worden ist - sehr wohl willentlich an seiner Überführung mit, indem er sich dafür entscheidet, der Maßnahme keine Gegenwehr entgegenzusetzen. Wenn es also nicht möglich ist, den Eingriff bei einer nicht kooperationsbereiten Person durchzuführen, ist es schlicht widersprüchlich, einen Verstoß gegen das Selbstbelastungsverbot letztlich mit der Begründung abzulehnen, die Maßnahme lasse dem Beschuldigten keine Entscheidungsalternative. Das zeigt sich insbesondere in dem von Zaczyk selbst angeführten Beispiel, dass der Beschuldigte nicht verpflichtet ist, seinen Mageninhalt bewusst herauszuwürgen. Wieso er dann aber verpflichtet sein soll, einen von § 81a StPO nicht gedeckten Eingriff zu dulden, bleibt ungeklärt.
700
Grüner, JuS 1999, 125.
701
Vgl. Wolff
702
Zaczyk, StV 2002, 126 f.
703
Zaczyk, StV 2002, 127.
Selbstbelastungsfreiheit, 94 f.; Rogali , NStZ 1998, 68.
IV. Folgerungen
153
Insgesamt zeigt sich, dass den Brechmitteleinsätzen auf Grundlage des herkömmlichen Verständnisses des Selbstbelastungsverbots die Zulässigkeit versagt werden muss. Um dabei Missverständnissen vorzubeugen, ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der durch die „Gesundheitsklauser erfasste Bereich mit der Selbstbelastungsfreiheit an sich nichts zu tun hat. Hier geht es einzig um die Konkretisierung der bereits verfassungsmäßig vorgegebenen Abwägung zwischen staatlichem StrafVerfolgungsinteresse und Individualinteresse des Betroffenen an seiner körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). 7 0 4 Allerdings strahlt das damit verbundene Verbot der Durchführung solcherart gesundheitsgefährdender Eingriffe auf die Duldungspflichten des Beschuldigten aus: Der Betroffene ist nicht gehalten, den Eingriff über sich ergehen zu lassen, er braucht nicht in bloßer Passivität zu verharren. Tut er dies dennoch, weil er etwa in Sorge um seine eigene Gesundheit ist, nimmt sein Verhalten qualitativ den Charakter einer Mitwirkung im Sinne einer Kooperation an, zu der er tatsächlich gezwungen wird. Das hat Konsequenzen für den Umfang seiner Selbstbelastungsfreiheit: sein Recht, aktiv nicht an der eigenen Strafverfolgung beteiligt werden zu dürfen, füllt quasi den „Vorhof'· des in § 81a StPO zum Ausdruck kommenden Gesundheitsschutzes aus und sichert diesen ab. Zieht man daher mit der h.M. die Abgrenzung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Erduldung, muss man diese Form der erzwungenen Nichthandlung als Mitwirkung bewerten oder aber den Schutzbereich des nemo teneturGrundsatzes insoweit auch auf duldendes Verhalten erweitern - und zwar unabhängig davon, anhand welcher Kriterien die Abgrenzung letztlich vorgenommen wird.
b) Verbot der Verwertung
verbotswidrig
erlangter Drogenpäckchen
Im Anschluss stellt sich naturgemäß die Frage, ob ein auf die genannte Weise verbotwidrig erlangtes inkorporiertes Drogenpäckchen in einem Strafverfahren gegen den Beschuldigten verwertet werden dürfte. Zur dogmatischen Einordnung ist dabei zunächst festzustellen, dass das Verbot zur Erzwingung selbstbelastenden Verhaltens die Art und Weise der Beweisgewinnung betrifft und daher ein Methodenverbot darstellt. 705 Solcherart Beweiserhebungsverbote betreffen nicht das Beweisthema an sich und so steht nicht in Zweifel, dass der Nachweis des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln selbstredend auf jede andere Art geführt werden darf.
704
Vgl. näher Kapitel 1 I. 4.
705
Siehe dazu Eisenberg, BewR, Rn. 347.
154
Kapitel 4: Zur Dogmatik der Brechmittelvergbe
Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung spielt bei der Frage nach der Verwertbarkeit des rechtswidrig erlangten Beweismittels durchaus eine Rolle. Zum einen wird das Urteil, das die vorgelegten Drogenpäckchen dennoch berücksichtigt, kaum auf diesem Fehler beruhen, wenn selbige auch auf andere Weise rechtmäßig hätten erlangt werden können. 706 Zum anderen dürfte dieser Aspekt im Rahmen der Abwägung zwischen Individual- und Allgemeininteresse an einer effektiven Strafverfolgung nicht ohne Bedeutung sein. Andererseits sind die in Rede stehenden Verbote auch immer ein Stück weit Formen staatlicher Selbstdisziplinierung, so dass auf die unter Verstoß gegen ein Methodenverbot erlangten Beweismittel zuweilen auch aus Gründen einer selbst auferlegten Machtbegrenzung nicht zurückgegriffen werden sollte. 707 - Allerdings wurde bereits ausgeführt, dass es - abgesehen von Fällen präventiver Zweckrichtung - keine alternative rechtmäßige Möglichkeit gibt, an die vermeintlichen Kokainbömbchen zu gelangen. Ungeachtet dessen steht am Ende der Frage nach der Verwertbarkeit eines unter Verstoß gegen ein ungeschriebenes Erhebungsverbot erlangten Beweismittels nahezu immer die Abwägung der gegenläufigen betroffenen Interesr^« 7 0 8 sen. In Bezug auf den nemo tenetur-Grundsatz gilt danach Folgendes: Nach h.M. handelt es sich hierbei um ein die Persönlichkeit des Betroffenen gewährleistendes Schutzrecht von Verfassungsrang. Wie § 136a StPO zeigt, ist es jedenfalls in seinem Kernbereich unveräußerlich. Soweit das Gesetz für die „Randbereiche" des Grundsatzes keine ausdrückliche Regelung trifft, sind die Bedeutung des Grundsatzes für den Betroffenen im konkreten Fall einerseits sowie die Bedeutung der Tataufklärung für die Allgemeinheit andererseits gegeneinander abzuwägen. Wegen seiner insgesamt als überragend zu beurteilenden Bedeutung für die Wahrung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren, wäre die Verwertbarkeit eines unter Verstoß gegen nemo tenetur erlangten Beweises nur denkbar, wenn das Gewicht der Tat im Einzelfall als überwiegend angesehen werden müsste. Das ist zwar prinzipiell nicht undenkbar in Fällen schwerster Straftaten, wenn der Eingriff in die Persönlichkeitssphäre als vergleichswei-
706
Zu den sog. „revisionsrechtlichen Theorien" vgl. Schlüchter, Strafverfahren, 7.
707
Dieser Grund wiegt allerdings nicht schwer, da es in aller Regel wenig Eindruck auf einzelne Ermittler machen dürfte, wenn der Beweis letztlich nicht gelingt. Es handelt sich ohnehin eher um eine „psychische Disziplinierung". 708 So die - bei ungeschriebenen Beweiserhebungsverboten - trotz einer nicht zu verkennenden Unschärfe vorzugswürdige sog. „Abwägungslehre", nach der das staatliche Interesse an der Strafverfolgung im Einzelfall gegen das Individualinteresse des Bürgers auf Wahrung seiner Rechte abgewogen werden muss; vgl. BGHSt, 38, 214 (220 ff); Eisenberg, BewR, Rn. 367, 370; Rogali , ZStW 91 (1979), 31; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 458.
IV. Folgerungen
155
se gering erscheint. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass der Anwendungsbereich der Selbstbelastungsfreiheit - und zwar unabhängig von den unterschiedlichen Ansätzen - bereits auf Abwägungsvorgängen beruht, die jeweils am unerlässlichen Minimum schutzwürdiger Belange des Betroffenen orientiert sind. Soweit daher etwa nonverbale Mitwirkungsakte in den Schutzbereich von nemo tenetur prinzipiell einbezogen werden, geschieht dies gerade deshalb, weil die erzwungene (aktive) Selbstbelastung als Eingriff in den Kernbereich der menschlichen Persönlichkeit angesehen wird. Wer hingegen lediglich den Zwang zu verbaler Selbstüberführung als verboten ansieht, tut dies letztlich unter Zugrundelegung derselben Abwägungskriterien - selbstredend mit differierender Wertung: Gegenübergestellt werden hier wie da das Ausmaß der Betroffenheit der Persönlichkeit des Beschuldigten auf der einen sowie das abstrakte Aufklärungsinteresse andererseits. Sieht man daher den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes im Einzelfall als tangiert an, ist für weitere Abwägungen jedenfalls dann kein Raum, wenn man den nemo tenetur-Grundsatz mit der h.M. überhaupt als im Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG fundiert ansieht. Dies entspricht i.E. dem Gedanken der sog. „Schutzzwecklehre" und ist deshalb konsequent, weil die einzubeziehenden Abwägungskriterien bereits in die Bestimmung der Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes eingegangen sind. Dementsprechend muss ein Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit immer zu einem Verwertungsverbot führen, also auch in Fällen rechtswidrig erzwungener Mitwirkung an selbstüberführenden körperlichen Eingriffen, sofern man diese als von nemo tenetur umfasst ansieht. 709 Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Vergabe von Brechmitteln jedenfalls bei herkömmlicher Interpretation des Schutzbereiches von nemo tenetur nicht nur rechtswidrig ist, sondern auch zu nicht verwertbaren Ergebnissen führt. Will man daher die Brechmittelvergabe zulassen, muss man wohl oder übel den verfassungsrechtlich fundierten Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit neu definieren oder aber einschränkend auslegen, wie dies in jüngerer Zeit vermehrt vorgeschlagen worden ist.
709
BGHSt 38, 214 (218 ff.); Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 467.
156
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittelvergbe
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung von nemo tenetur Die Bestimmung des Schutzbereiches von nemo tenetur anhand des Begriffspaares Mitwirkung/Erduldung ist in jüngerer Zeit vielfältiger und erheblicher Kritik ausgesetzt gewesen, die sich insbesondere darauf stützt, dass es jedenfalls per se keinen qualitativ stärkeren Eingriff bedeute, den Beschuldigten zur aktiven Teilnahme an seiner Überfuhrung zu zwingen als zu bloßer Passivität.710 Zur Verdeutlichung wird gemeinhin darauf verwiesen, dass es für den Betroffenen weit angenehmer sein dürfte, an einem Atemalkoholtest teilzunehmen als sich auf der nächsten Polizeiwache oder im Krankenhaus von einem Arzt Blut abnehmen zu lassen. Auch die vorliegenden Fallgestaltungen stützen insoweit die Gegenansicht, da das selbsttätige Trinken des Brechsirups ein zweifellos weniger einschneidendes Erlebnis für den Betroffenen sein dürfte, als die Verabreichung mittels Magensonde.711 Bevor im Folgenden auf diese Vorschläge einer Schutzbereichsbegrenzung näher eingegangen und überprüft wird, ob sich aus ihnen die Zulässigkeit der Brechmitteleinsätze begründen lässt, sollen vorab Möglichkeiten der mittelbaren Durchsetzbarkeit bei (zunächst zu unterstellender) Duldungspflicht erörtert werden. 712
1. Möglichkeiten der mittelbaren Durchsetzung von Mitwirkungs- bzw. „Stillhaltepflichten" Unterstellt man, dass der Beschuldigte grundsätzlich verpflichtet ist, die Einfuhrung der Magensonde widerstandslos über sich ergehen zu lassen, ist zunächst klar, dass zutage geförderte Kokainkügelchen ohne weiteres im Strafverfahren verwertet werden könnten, da der Eingriff dann rechtmäßig wäre und auch ein selbständiges Beweisverwertungsverbot nicht ersichtlich entgegenstünde. Allerdings kann die Maßnahme (unabhängig vom Verständnis der Selbstbelastungsfreiheit im Einzelnen) wegen der Gesundheitsklausel des § 81a Abs. 1 StPO nicht gegen den aktiven Widerstand des Beschuldigten durchge7,0
Ausführlich Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 225 f f ; Neumann, FS Wolff, 376 ff.; Pawlik, GA 1998, 378; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 4 Rn. 54; ders., ZStW 111 (1999), 637; vgl. auch Sautter, AcP 161 (1962), 247 ff. 711 712
Vgl. Verrei,
Selbstbelastungsfreiheit, 223.
Es geht also um die Zulässigkeit mittelbaren Zwangs bei Unzulässigkeit der Durchsetzung einer Pflicht im Wege des unmittelbaren Zwangs; siehe Neumann, FS Wolff, 389; Dzendzalowski, Untersuchung, 84 ff.; Geppert, FS Spendel, 655 ff.
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung
157
setzt werden. Leistet er Gegenwehr, stehen also im Zweifel keine Beweismittel zur Verfügung, über deren Verwertbarkeit entschieden werden könnte. Es bringt daher im Ergebnis für das Verfahren nichts, wenn man dem Beschuldigten etwa ein Bußgeld für den Fall mangelnder Kooperation androhte; die Auferlegung eines Bußgeldes kann den Beweis im BtM-Verfahren selbstredend nicht ersetzen.
a) Erlass eines Untersuchungshaftbefehls? Naheliegend ist der Gedanke, im Falle der Weigerung eine natürliche Ausscheidung der verschluckten Betäubungsmittel abzuwarten. Jedoch kann eine freiheitsentziehende Maßnahme nur auf Grundlage einer richterlichen Anordnung möglich erfolgen (Art. 104 Abs. 2 GG) und daher kann der Beschuldigte nicht ohne weiteres im Polizeigewahrsam belassen werden, bis der Ausscheidungsvorgang einsetzt (§ 128 Abs. 1 StPO) 713 . Ob die Voraussetzungen eines Haftbefehls gem. §§ 112 ff. StPO vorliegen, ist eine gesondert zu beantwortende Frage. Allerdings ließe sich der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 3a) StPO durchaus mit der Weigerung des Beschuldigten, zu kooperieren, begründen. Bei Bejahung einer „Stillhaltepflicht" 714 des Betroffenen kann die Verletzung dieser Pflicht als Unterdrückungshandlung im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 3a) StPO angesehen werden, denn der Beschuldigte wirkt auf die Kokainkügelchen und damit auf sachliche Beweismittel ein, indem er verhindert, dass sie als Beweismittel im Verfahren Verwendung finden können. 715 Auch wird man von einem Fortbestehen der Verdunkelungsgefahr selbst dann ausgehen müssen, wenn der zeitliche Rahmen, in dem die Brechmittelvergabe zur Beweiserlangung noch geeignet gewesen ist, überschritten wurde, denn dem Beschuldigten bliebe auch dann noch die Möglichkeit, die Kügelchen zu vernichten. Dagegen müssten die Voraussetzungen des dringenden Tatver-
713
Da es durchaus mehrere Tage dauern kann, bis der Mageninhalt ausgeschieden wurde, ist hier nicht mehr von einer bloß freiheitsbeschränkenden Maßnahme i.S.v. Art. 104 Abs. 1 GG auszugehen, für die es keiner richterlichen Anordnung bedarf; vgl. Jarass/Pieroth, GG, Art. 104 Rn. 10. 714 Geht man hingegen mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, dass eine solche Rechtspflicht nicht besteht, kann in der Verweigerung der Kooperation kein prozessordnungswidriges Verhalten gesehen werden, so dass sich Verdunkelungsgefahr nicht begründen lässt (vgl. Meyer-Goßner, § 112 Rn. 29); inkonsequent daher Zaczyk, StV 2002, 127. 715 Vgl. OLG Köln, StV 1997, 27; KK/Boujong, § 112 Rn. 23. Der Fall ist insoweit nicht anders zu beurteilen, als wenn die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte in seiner Wohnung gelagerte Betäubungsmittel beseitigt.
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittel vergäbe
158
dachts unabhängig davon bejaht werden, ob der Beschuldigte Kokain im Magen hat oder nicht, denn die Voraussetzungen des Haftbefehls müssen bereits bei dessen Erlass vorliegen und nicht bloß möglich sein. Dabei wird es maßgeblich darauf ankommen, aus welchen Begleitumständen darauf geschlossen wurde, dass der Beschuldigte Kokainkügelchen verschluckt hatte. Sobald allerdings die Beweismittel gesichert wurden, ist der ausschließlich auf § 112 Abs. 2 Nr. 3a) StPO gestützte Haftbefehl wieder aufzuheben.
b) Verwertbarkeit
des prozessordnungswidrigen
Verhaltens?
Sicherlich die am weitesten reichende, aus Sicht der Verfolgungsbehörden Verweigerung der Koaber auch effektivste Konsequenz einer pflichtwidrigen operation bei Vergabe von Brechmitteln ist die Verwertung dieses Verhaltens als Schuldindiz zulasten des Beschuldigten. Dass dies dogmatisch auf dem Boden der Annahme einer Mitwirkungspflicht möglich wäre, hat Verrei bereits ausgesprochen. 716 Ganz in diesem Sinne fuhrt Günther denn auch aus, „als Alternative zur uneingeschränkten Schweigebefugnis kommt (...) am ehesten eine als lex imperfecta ausgestaltete, i.U. auf bestimmte Deliktsgruppen beschränkte Aussagepflicht in Betracht (...), deren Einhaltung jedoch nicht durch Zwangsmittel durchgesetzt werden kann (...) und deren Verletzung keine direkten Sanktionen nach sich zieht." Dennoch stünde eine solche Verpflichtung nicht bloß auf dem Papier, „weil das dann unerlaubte Schweigen des Tatverdächtigen im Rahmen der Beweiswürdigung verwertet und als Schuldindiz herangezogen werden könnte." 717 In der Tat stünde insbesondere die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 MRK nicht notwendig entgegen, wenn man in ihr lediglich das nemo tenetur flankierende Schutzrecht sieht: Wenn der Beschuldigte schon nicht bloß passiv bleiben darf, entfällt der maßgebliche Grund dafür, dieses Verhalten als quasi neutral zu werten. Im Folgenden ließe sich etwa argumentieren, dass die Verweigerung der Kooperation oder das Schweigen trotz Pflicht zur Aussage in bestimmten Fällen sehr wohl Erklärungswert haben kann. In gewissem Sinne kann auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum sog. „Teilschweigen" 7 1 8 so verstanden werden. 719
7,6
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 285.
717
Günther, GA 1978, 203, der die Statuierung einer Aussageverpflichtung des Beschuldigten zwar für verfassungsrechtlich möglich, jedoch im Hinblick auf die psychische Belastung des Strafverfahrens für mit dem Selbsterhaltungstrieb unvereinbar und daher unzumutbar hält (Seite 205). BGHSt 20, 298.
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung
159
Dennoch erweisen sich die angeführten Argumente und auch die Schlussfolgerung als nicht tragfähig. Soweit Verrei an die Verweigerung der Kooperation im Ermittlungsverfahren einen bestimmten Erklärungswert knüpfen will, fingiert er letztlich einen Aussagegehalt, der objektiv nicht da ist. Gerade in den Fällen der Brechmittelvergabe zeigt sich deutlich, dass die Weigerung zur Kooperation gerade kein „Schuldeingeständnis" implizieren muss, sondern seinen Grund schlicht in der Angst um die Gesundheit oder vor dem Verfahren selbst liegen kann. Diese Angst ist indes nicht Ausdruck von tatsächlicher Schuld, sondern womöglich noch viel eher bei dem in Wahrheit Unschuldigen anzutreffen. Gerade deshalb muss der Verwertung des Schweigens als Schuldindiz von vorneherein die Eignung abgesprochen werden, zur Wahrheitsfindung beizutragen. 720 Die Verwertung des „pflichtwidrigen" Verhaltens zum Nachteil des Beschuldigten bedeutet demgemäß letztlich nichts anderes, als den Mangel an Beweisen zu ersetzen durch den Mangel an Kooperationsbereitschaft. Letzte Zweifel an einer Täterschaft werden so durch die Fiktion des Schuldeingeständnisses überbrückt. Dies kann auch bei Annahme einer grundsätzlichen Mitwirkungspflicht des Beschuldigten an seiner Überführung nicht im Sinne eines der materiellen Wahrheit verpflichteten Erkenntnisverfahrens dienlich
2. Ausgewählte Konzepte einer Pflichtenerweiterung Obwohl also mit einer abweichenden Schutzbereichsbestimmung der Selbstbelastungsfreiheit ein anderes Verständnis vom Umfang der Pflichten des Beschuldigten verbunden ist, differieren die Möglichkeiten der Überführung in der Anwendungspraxis wenig. Dieser Hintergrund ist zu bedenken, wenn die entsprechenden Konzepte im Folgenden in aller Kürze besprochen werden.
719
Siehe dazu nur Rogali, 1977, 250 f f ; Rüping, JR 1974, 138; Kühl, JuS 1986, 120 f.; ausführlich dazu Miebach, NStZ 2000, 236 ff.; Keiser, StV 2000, 633 f f ; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner, § 261 Rn. 17. 720 A.A. Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 242, der seine Ausführungen allerdings in einen anderen Zusammenhang, nämlich in die Auseinandersetzung mit dem Problem einbettet, ob und inwieweit das Zugeständnis einer Schweigebefugnis geeignet sein kann, einen möglichen Protest gegen das Verfahrensergebnis zu absorbieren. 721
Vgl. hierzu auch die Kritik Eisenbergs, BewR, Rn. 907 f f , an der Verwertung des teilweisen Schweigens des Angeklagten.
160
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittel vergäbe
a) Der rechtsphilosophische Ansatz (Pawlik,
Lesch)
Der rechtsphilosophische Ansatz von Pawlik und Lesch, der darauf hinausläuft, dem Beschuldigten außerhalb der einfachgesetzlich normierten Aussagefreiheit jedes Recht zur Passivität in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren zu verweigern, nimmt seinen Ausgang in der Kritik an der These, dass die Selbstbelastungsfreiheit letztlich Ausdruck der rechtlichen Respektierung eines menschlichen Selbsterhaltungstriebes sei. Demgegenüber sehen Pawlik und Lesch keinen tragfähigen Grund dafür, dem „faktisch-kreatürlichen" Interesse des Beschuldigten, nicht an der eigenen Überführung teilnehmen zu müssen, Anerkennung durch das Strafprozessrecht zu gewähren. 722 Das setzt zweierlei voraus: erstens diesen Selbsterhaltungstrieb, dessen Existenz im Übrigen auch von den Vertretern der Gegenmeinung nicht geleugnet wird 7 2 j , nicht als in der Menschenwürde verankerten Teil der menschlichen Persönlichkeit anzusehen, und zweitens die ratio der Selbstbelastungsfreiheit in anderer Weise zu begründen als in dessen Schutz. Versteht man demgegenüber das „faktischkreatürliche Interesse" an Selbsterhalt als Kernbereich der menschlichen Persönlichkeit, ist es gleichsam zwingend, ihm Anerkennung durch die gesamte Rechtsordnung und daher insbesondere auch im Strafverfahren zu verschaffen 724 - und zwar unabhängig davon, ob diese Funktion nun dem nemo teneturGrundsatz zugeschrieben wird oder einer anderen Rechtsgarantie. Andererseits ist es unbestritten, dass die Aussagefreiheit, die ihre einfachgesetzliche Ausprägung vor allem in § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO gefunden hat, den Kernbereich des nemo tenetur-Prinzips darstellt. 725 Wenn man also dem Trieb zum Selbsterhalt keine Respektierung durch das Strafprozessrecht zugestehen will, muss man erklären, welche Funktion der Selbstbelastungsfreiheit sonst zukommen soll. Gegen eine Fundierung des nemo tenetur-Grundsatzes in Art. 1 Abs. 1 GG hat vor allem Starck argumentiert, es könne nicht die Menschenwürde verletzen, wenn der Beschuldigte lediglich gezwungen werde, im Falle seiner Schuld die Konsequenzen seines Handelns zu tragen; im Übrigen könne er sich im Falle seiner Unschuld entlasten.726 Das ihm zuerkannte Schweigerecht habe
722
Pawlik, GA 1998, 378; Lesch, ZStW 111 (1999), 636 ff.
723
Pawlik, GA 1998, 378; Lesch, Strafprozessrecht, Rn. 189; ders., ZStW 111 (1999),
637. 724
Vgl. Rogali, 1977, 147; ders., StV 1995, 64.
725
Vgl. BGHSt 14, 358 (364); Meyer-Goßner, Einl. Rn. 29a sowie § 136 Rn. 7; Ranft, Strafprozessrecht, 292; Günther, GA 1978, 193; ausführlich Verrei, NStZ 1997, 361 ff., 415 ff.: „Das Recht des Beschuldigten, zum Tatvorwurf zu schweigen, gehört zu den elementaren und traditionellen Grundsätzen des Strafverfahrens" (361). 726 Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Rn. 51. Unzutreffend ist die Kritik von Neumann (FS Wolff, 382) und Nothelfer (Selbstbezichtigung, 76), die dieses Men-
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung
161
andere Gründe, insbesondere, dass die Möglichkeit fehle, ihn zu einer Aussage zu zwingen; Folter verstoße eindeutig gegen die Menschenwürde. 727 In gleicher Weise begründen Pawlik und im Anschluss an ihn Lesch ihre Ansicht, dass ein genereller Rechtsanspruch des Beschuldigten auf Verheimlichung der begangenen Straftat ihn auf eine Stufe mit einem reinen Triebwesen degradiere, indem gleichsam das Recht auf Selbstschutz als „Abwehrreflex" interpretiert werde. 728 Dagegen sei der Mensch als Subjekt im rechtlichen Sinne vielmehr auf die Einheit seiner Lebensgeschichte festgelegt; es sei ihm daher nicht gestattet, vor seiner Vergangenheit wegzulaufen. 729 Denn die Inanspruchnahme des die Personenhaftigkeit erst konstituierenden Rechts zur freien Verwaltung des eigenen Organisationskreises habe als notwendige Kehrseite die Verpflichtung zur Folge, Verantwortung für die daraus resultierenden Konsequenzen zu übernehmen.730 Hieraus folgert Pawlik, dass sich „ein Recht auf Nichtmitwirkung (...) konstruktiv lediglich als Ausnahme von einer grundsätzlichen Mitwirkungspflicht ergeben" könne. 7jl Das allerdings ist schon deshalb fragwürdig, weil Inkulpation eben nicht mit strafrechtlicher Schuld gleichzusetzen ist. Deshalb hat Lesch insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass auch derjenige, der sich „unschuldig" einem Strafverfahren ausgesetzt sieht, mit denselben Rechten und Pflichten ausgestattet werden muss, wie der „zu Recht" Beschuldigte, der durch eigenes strafrechtlich relevantes Verhalten tatsächlich die ursprüngliche Ursache für das Verfahren gesetzt hat. 732 Schließlich steht die Überführung des Beschuldigten (wenn überhaupt) erst am Schluss der Hauptverhandlung fest, so dass die Entscheidung für eine Mitwirkungspflicht des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nicht mit einem mutmaßlichen Fehlverhalten in Zusammenhang stehen kann. Dagegen ist es gerade deshalb, weil die Unschuld des Betroffenen nicht nur gemäß Art. 6 Abs. 2 MRK und damit verfassungsrechtlich zu vermuten ist, sondern Strafverfahren zu mitnichten vernachlassungsfähigem
schenwürdeverständnis fur unvereinbar mit der Aussagefreiheit halten, dabei aber übersehen, dass daraus keine Pflicht zu selbstbelastenden Angaben folgt, sondern lediglich die Ableitung des Schweigerechts aus Art. 1 Abs. 1 GG in Zweifel gezogen wird. Siehe Schneider, Grund und Grenzen, 47; Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 227. 727
Starck, in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Rn. 51.
728
Lesch, Strafprozessrecht, 182; Pawlik, GA 1998, 378 ff.
729
Lesch, Strafprozessrecht, 182.
730
Pawlik, GA 1998, 380 f.; ebenso schon Günther, GA 1978, 197; Schneider, Grund und Grenzen, 46. 731
Pawlik, G A 1998,381.
732
Lesch, ZStW 111 (1999), 637 f.
162
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittel vergäbe
Anteil 7 3 3 gegen Unschuldige geführt werden, unerlässlich, dem richtigerweise Beschuldigten wie dem tatsächlich zu Unrecht Inkulpierten exakt die gleichen Rechte einzuräumen. Das heißt, „der Beschuldigte muss also um des wirksamen Schutzes vor Selbstbelastung willen zugleich als potentiell Schuldiger und damit Schweigebefugter und als potentiell Unschuldiger angesehen werden, der sozusagen unnötigerweise zur Sache schweigt." 734 Obgleich Lesch für sich den Begründungsweg Pawliks letztlich verwirft, geht er wie dieser davon aus, dass es sich bei der Aussagefreiheit des Beschuldigten lediglich um eine Privilegierung handelt, deren Existenz besonderer Begründung bedarf. Auch er sieht dabei den maßgeblichen Anknüpfungspunkt in der Legitimationsfunktion des Strafprozesses, die er - im Sinne Luhmanns darin erblickt, den gegen das Verfahrensergebnis Protestierenden sozial zu isolieren. Dabei hält er es allerdings nicht für entscheidend, dass sich eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage ohnehin nicht in sozial akzeptierter Weise durchsetzen ließe. 735 Vielmehr greift er auf die Überlegung zurück, dass eine wirksame Absorption des Protestes gegen das Verfahrensergebnis eine Frage der effektiven Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten ist. Nur wenn dem Beschuldigten - wie auch dem Unschuldigen - gestattet werde, sich nach eigener Überzeugung bestmöglich gegen den Vorwurf des Fehlverhaltens zu verteidigen, bleibe er in der Lage, das Urteil anzunehmen. Als Konsequenz hieraus sieht Lesch das Recht zu Schweigen als bloßen Reflex eines - allerdings elementaren - Rechts auf freie Bestimmung der Art und Weise der Verteidigung im Strafverfahren an. 736 Das Verbot des § 136a StPO habe dabei die Funktion, förmliche Vernehmungen gegen Fehlerquellen zu immunisieren. Die von Pawlik und Lesch vertretenen Ansichten basieren auf der Vorstellung, dass dem Einzelnen Freiheiten durch die Gesellschaft zugestanden werden, die er im Gegenzug mit der Übernahme von Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft „bezahlt". Die Beziehung von Individuum zu dem die Allgemeinheit repräsentierenden Staat soll deshalb nur dann als /tecteverhältnis anzusehen sein, wenn es ersterem nicht gestattet werde, nach eigener Willkür jede Form von Nachteilen zu vermeiden. 737 Indem damit die Ausfüllung persönlicher Freiheiten als Verwaltung eines - von der Gesellschaft zugestandenen
733
Das ergibt schon die rechtstatsächliche Interpretation amtlicher Statistiken zu § 170 Abs. 2 StPO und im Übrigen die registrierte Freispruchquote. 734
So zutreffend Verrei
Selbstbelastungsfreiheit, 244.
735
Hierauf beziehen sich aber Pawlik, GA 1998, 382 f., und i.E. auch Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Rn. 51. 736
Lesch, ZStW 111 (1999), 639 ff.; ders., Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 190.
737
Pawlik, G A 1998,380.
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung
163
- „Organisationskreises" verstanden wird 7 3 8 , greift dieser Ansatz deutlich erkennbar auf das Menschenbild der absoluten Straftheorien zurück 739 , die den Einzelnen als befähigt ansehen, in uneingeschränkt autonomer Weise zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden.740 Das in Rede stehende Konzept wird bereits durch die Struktur der Grundrechte als - primär - Abwehrrechte in Zweifel gezogen, weil daraus deutlich wird, dass die Freiheit des Einzelnen nicht in erster Linie durch den Staat gewährleistet werden soll, sondern insbesondere vor hoheitlichen Eingriffen 741 ; nicht das Individuum bedarf der Rechtfertigung, wenn es seinen „Organisationskreis" verwaltet, sondern der Staat und seine Einrichtungen als demokratisch (nicht: absolutistisch) legitimierter Machtträger, wenn und weil er in diesen individuellen Organisationskreis eingreift. Deshalb sind die Strafverfolgungsbehörden auch lediglich berechtigt, aus Anlass der mutmaßlichen Straftat in die Rechte des Beschuldigten einzugreifen, nicht aber ihm gegenüber in dem Sinne verpflichtet, ihn quasi für sein Handeln zur Verantwortung zu ziehen. Im Ergebnis kommt es demgemäß gar nicht darauf an, ob es die Würde des Menschen berühren kann, wenn er überhaupt für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen wird, wie Starck ausgeführt hat 742 , sondern darauf, inwieweit es ihm zuzumuten ist, den Akt der Schuldzuschreibung unterstützen zu müssen. Ungeachtet dessen beachtet der rechtsphilosophisch begründete Vorschlag Pawliks und Leschs nicht hinreichend, dass Straftaten menschliches Verhalten betreffen, welches als strafwürdig definiert worden ist. Die rechtliche Anerkennung einer formell und materiell rechtmäßig zustandegekommenen Strafhorm impliziert nicht notwendig ihre Beachtung bei allen gesellschaftlichen Gruppierungen gleichermaßen. Die Diskussionen etwa um die Legalisierung sog. „weicher" Drogen oder auch die um den Schwangerschaftsabbruch belegen, dass es keineswegs ohne weiteres einleuchtet, sich selbst eines als individuell nicht strafwürdig erachteten Verhaltens zu überführen. Die Sanktionierung schädigender Handlungen setzt eben die Definition des geschützten Rechtsgutes voraus, der Einfluss auf den Definitionsprozess selbst ist eine Form der Machtausübung.743 Deshalb ist die Annahme einer „Organisationsfreiheit" in dem Sinne, dass dem Einzelnen Freiheiten zugestanden werden, deren Missbrauch ihn quasi moralisch zur Wiedergutmachung verpflichtet, bloße Fiktion, weil es homogene und abstrakt gültige Kriterien zur Bestimmung
738
Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 189.
739
Nothelfer, Selbstbezichtigungszwang, 64 f.; Schneider, Grund und Grenzen, 46; Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 241. 740
Gegen die These der Willensfreiheit zutr. Eisenberg, Kriminologie, § 24 Rn. 1.
741
Grundlegend BVerfGE 6, 32 (37 f.).
742
Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Art. 1 Rn. 51.
743
Zur Entstehung von Strafgesetzen siehe ausführlich Eisenberg, Kriminologie, § 25 Rn. 6 ff, insbesondere Rn. 10 f. sowie § 23 Rn. 37 f.
164
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittel vergäbe
legalen und illegalen Verhaltens nicht gibt. Gesellschaftliche Ordnung bedeutet daher nicht Schaffung, sondern Kanalisierung a priori bestehender Freiheiten zugunsten anderer Interessen und Machtbefugnisse. Zuletzt lässt sich selbst bei Annahme einer Verpflichtung zur Übernahme der Verantwortung für die Folgen der eigenen Organisation nicht schon daraus folgern, dass der Betroffene auch aktiv an seiner Überführung mitwirken muss; auch dem passiven oder schweigenden Beschuldigten wird nicht gestattet, vor seiner eigenen Vergangenheit „davonzulaufen". 744 Neben diesen grundsätzlichen Einwänden bestehen auch Zweifel an dem Versuch, das Schweigerecht des Beschuldigten mit der sozialen Funktion des Strafverfahrens zu verknüpfen, Rechtsfrieden zu schaffen. Zum einen ist nicht gesagt, dass möglicher Protest gegen die abschließende richterliche Entscheidung gerade durch die Verteidigungsmöglichkeit, sich nicht zur Sache einzulassen, absorbiert wird. In einer Vielzahl von Fällen dürfte der spätere Widerspruch (des Beschuldigten) gegen das Urteil um so weniger den Rechtsfrieden belasten, je weniger er während des Prozesses zu seiner Entlastung vorgebracht hat. 745 Zum anderen verfolgt die Rechtsfrieden schaffende Funktion des Strafverfahrens zwei Richtungen: Das Urteil muss nicht nur gesellschaftliche Akzeptanz finden, sondern insbesondere auch von dem Verurteilten selbst angenommen werden können. Insoweit aber dürfte es eher kontraproduktiv sein, die Freiheit des Beschuldigten hinsichtlich der Ausgestaltung seiner Verteidigung lediglich auf das Recht zu reduzieren, sich nicht zur Sache einlassen zu müssen. 4 6 So betrachtet käme der Selbstbelastungsfreiheit gerade nicht lediglich der von Pawlik zugeschriebene Ausnahmecharakter zu, sondern hätte - wie es von der überwiegenden Ansicht auch gesehen wird - das in § 136 StPO normierte Schweigerecht im Gegenteil „lediglich" exemplarische Funktion. Wenn Lesch darüber hinaus die Aussagefreiheit aus dem Recht des Beschuldigten herleitet, über die Art und Weise seiner Verteidigung zu bestimmen, und dieser wiederum die Funktion zuordnet, seinen möglichen Protest gegen die Entscheidung dadurch aufzufangen, dass er „die reale Chance erhält, auf das Ergebnis einzuwirken" 747 , übersieht er, dass einerseits auch eine pflichtgemäße Aussage nicht ohne Einfluss bliebe und andererseits, dass die Freiheit der Entscheidung über die sonstige (nonverbale) Mitwirkung ebenfalls geeignet ist, eventuellen Protest zu absorbieren. Einen spezifischen Zusammenhang zwischen negativer Aussage- und Verteidigungsfreiheit existiert nicht. 748
744
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 241.
745
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 242.
746
Vgl. Bosch, Aspekte, 119; Ransiek, Polizeivernehmung, 53 ff.
747
Lesch, ZStW 111 (1999), 636.
748
Im Ergebnis ebenso Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 243 f.
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung
165
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Akzeptanz eines menschlichen Selbsterhaltungstriebes notwendig zu dessen Anerkennung insbesondere durch das Strafprozessrecht fuhrt. Das zwingt zwar nicht dazu, den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes in der herkömmlichen Weise zu bestimmen, wohl aber, die Rechte und Pflichten des Beschuldigten danach zu bemessen, ob sie in Widerspruch zu diesem Interesse treten. Schon deshalb muss der Versuch, Umfang und Grenzen der Selbstbelastungsfreiheit allein aus der Funktion des Strafprozesses zu bestimmen, misslingen. Dessen ungeachtet ist die Reduktion der Selbstbelastungsfreiheit auf das Aussageverhalten zudem nicht überzeugend aus der Rechtsfrieden stiftenden Funktion des Strafverfahrens begründbar.
b) Schutz des Beschuldigten als Wissensträger in Kombination mit einem beschränkten Methodenverbot (Verrei) Wie Lesch und Pawlik kritisiert auch Verrei die naturalistische Begründung der h.M. für die rechtliche Anerkennung des Selbstbegünstigungsinteresses des Beschuldigten ohne jede gesellschaftliche Rückkoppelung. 749 Dagegen hält er es fur eine im Anschluss an den Gemeinschuldnerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts 750 erfolgte Dekonstruktion des nemo tenetur-Grundsatzes, dessen Schutzbereich von seinem klassischen Kerninhalt, der Aussagefreiheit, auf eine generelle (außerstrafrechtliche) Mitwirkungsfreiheit im Strafverfahren zu erweitern. 751 Einer extensiven Interpretation von nemo tenetur hält Verrei entgegen, dass ein überzeugender Grund für die Unterscheidung von Duldungs- und Mitwirkungspflichten im Strafverfahren bislang nicht gefunden worden sei. Die der Selbstbelastungsfreiheit zugeschriebenen Funktionen, nämlich die Verhinderung einer bloßen Objektstellung des Beschuldigten bzw. die Respektierung seines psychologischen Selbsterhaltungsinteresses, können seiner Meinung nach nicht erklären, warum es etwa zulässig sein soll, dem Beschuldigten zwar zwangsweise Blut zu entnehmen, nicht aber, ihn in ein Atemalkoholgerät blasen zu lassen.752 Seiner Auffassung nach müsse das spezifische Schutzanliegen von nemo tenetur neu bestimmt werden. Dabei verweist er auf das Nebeneinander zwischen „der gesetzlich garantierten Aussagefreiheit des Beschuldigten einerseits und der durch § 81a StPO ermöglichten, konsequenterweise nicht auf bloßes Dulden zu beschränkenden Zugriffsmöglichkeiten auf den Beschuldigten als sachliches Beweismittel andererseits", das nur durch eine Differenzie-
749
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 240.
75 0
BVerfGE
75 1
Verrei, NStZ 1997,364,417.
75 2
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 226 ff.
56,37.
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittel vergäbe
166
rung zwischen körperlicher und geistiger Inanspruchnahme bei Konkretisierung des Schutzbereiches erklärt werden könne. 753 Auf dieser Grundlage gelangt Verrei zu der Überzeugung, dass nonverbale Mitwirkungsakte generell aus dem Schutz der Selbstbelastungsfreiheit ausgenommen werden sollten und nemo tenetur also auf die Freiheit von Zwang zur Preisgabe von Tatwissen zu beschränken sei. 754 Den entscheidenden Ergebnisunterschied zum bisherigen nemo tenetur Verständnis sieht er darin, dass Zugriffe auf ausschließlich körperliche Eigenschaften des Beschuldigten damit keinen aus der Selbstbelastungsfreiheit abgeleiteten Begrenzungen mehr unterliegen. Vielmehr könne dieser jetzt auch zur aktiven Produktion von Beweismaterial angehalten werden, das Auskunft über seine körperliche Beschaffenheit gibt. Zwar müsse der Beschuldigte nunmehr nicht schrankenlos mit seinem Körper Beweis gegen sich selbst erbringen, jedoch sei die Grenze zur unzulässigen Gewaltanwendung erst auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit zu ziehen. 755 Die Verlagerung der Entscheidung über die Zulässigkeit verfolgender Eingriffe auf die Ebene des Einzelfalls überrascht. Nach Verreis Ansatz gibt es außerhalb der Aussagefreiheit keinen eigenständigen Anwendungsbereich mehr von nemo tenetur. Das von ihm eingestellte „beschränkte Methodenverbot" lässt sich ebenso zwanglos aus Art. 1 Abs. 1 GG erklären; eines eigenständigen, verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit bedarf es dafür nicht. Insofern reduziert sich der eigenständige Schutzbereichsvorschlag Verreis schlicht auf einen Kernbereich, der nicht wesentlich über die Regelungen der §§ 136 Abs. 1 S. 2, 136a StPO hinausgeht. Also ist der Vorschlag jedenfalls im Ergebnis nicht neu. Entscheidend gegen den in Rede stehenden Ansatz sprechen jedoch zwei Punkte: Erstens vermag Verrei das Problem der fehlenden Durchsetzbarke it nicht zu lösen. Wie bereits ausgeführt, behilft er sich damit, die Verweigerung der Mitwirkung als Schuldindiz zu werten. 756 Das ist aus den bereits angeführten Gründen nicht zu halten, womit sich seine ansonsten sorgfältig begründete Ablehnung der herkömmlichen Schutzbereichsbestimmung erheblich relativiert. Zweitens ergibt sich aus seiner Argumentation keineswegs zwingend die von ihm gezogene Schlussfolgerung einer Begrenzung des Schutzbereiches. Ebenso gut hätte Verrei nämlich auch zu dem gegenteiligen Ergebnis gelangen können, dass nemo tenetur jede Form der Inanspruchnahme des Beschuldigten zu Beweiszwecken untersagt. Auf Grundlage der von ihm abgelehnten Heranziehung des Verhaltenskriteriums ließe sich die Überlegenheit einer Schutzbe-
75 3
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 253 f f , 284.
75 4
Verrei,
Selbstbelastungsfreiheit, 284 f.
75 5
Verrei
Selbstbelastungsfreiheit, 285.
756
Siehe oben l . b ) .
V. Alternative Vorschläge einer Schutzbereichsbeschränkung
167
reichsbeschränkung dogmatisch nur begründen, wenn die körperliche gegenüber der geistigen Instrumentalisierung des Beschuldigten weniger (grundrechts-)intensiv wäre. Hierzu äußert Verrei sich jedoch nicht, sondern fuhrt insoweit lediglich das Argument kriminalpolitischer Notwendigkeiten an. 757 Das überrascht insoweit, als Verrei der h.M. selbst vorwirft, hinsichtlich der Eingriffsintensität zu wenig schlüssigen Ergebnissen zu gelangen.758 Zwar ist zuzugeben, dass es in der Tat eine erhebliche Behinderung der Deliktsaufklärung bedeuten würde, wenn sich der Beschuldigte etwa „keiner wissenschaftlich fundierten Untersuchung seines Alkoholisierungsgrades unterziehen müsste." 7 5 9 Andererseits zählt dieses Argument nicht viel, wenn die Würde des Betroffenen in Mitleidenschaft gezogen wird: Spätestens dann haben kriminalpolitische Erwägungen zurückzustehen mit der Folge, dass sich auch die körperliche Instrumentalisierung des Beschuldigten verbietet. Im Übrigen ist nicht gesagt, dass Eingriffe in die geistige Integrität des Beschuldigten nicht auch von Nutzen fur die Effizienz strafverfolgender Tätigkeit sein könnten. Demgemäß ist das Argument der kriminalpolitischen Notwendigkeit ebenso wenig geeignet, körperliche Eingriffe aus dem Schutzbereich von nemo tenetur generell auszuschließen wie der Verweis, dass „die zwangsweise kommunikative Inanspruchnahme (...) zu weit weniger verlässlichen Resultaten fuhren würde als naturwissenschaftlich abgesicherte Analysen seiner körperlichen Beschaffenheit." 760 Im Ergebnis kann Verreis Kritik an der h.M. eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden, jedoch bleibt seine Schlussfolgerung hieraus den überzeugenden Nachweis ihrer Folgerichtigkeit und Überlegenheit schuldig. Zudem ist ihr - wie an anderer Stelle ausgeführt wurde 761 - vorzuwerfen, dass sie letztlich dem Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozess widerspricht.
VI. Ergebnis Die Frage der Zulässigkeit der Brechmitteleinsätze muss vor dem Hintergrund des Umstandes betrachtet werden, dass eine gewaltsame Durchsetzung der Vergabe mittels Nasensonde erhebliche Gesundheitsgefahren mit sich bringt. Da der Eingriff insoweit also nur durchgeführt werden kann, wenn der
75 7
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 237 f.
75 8
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 226 ff.
75 9
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 238.
76 0
Verrei , Selbstbelastungsfreiheit, 284.
761
Siehe oben 1. b).
168
Kapitel 4: Dogmatik der Brechmittel vergäbe
Beschuldigte sich passiv verhält, ist die Durchführbarkeit der Maßnahme von seiner Kooperation abhängig. Entgegen der vom Kammergericht vertretenen Auffassung ist der Beschuldigte indes zu kooperativer Passivität nicht verpflichtet, so dass letztlich die Vergabe des Emetikums ein Verhalten des Beschuldigten erfordert, das zumindest in seiner Qualität wie eine Mitwirkungshandlung gewertet werden muss. Insoweit wird der Schutzbereich von nemo tenetur durch die in § 81a StPO enthaltene Gesundheitsklausel erweitert. Auf dem Boden der herkömmlichen Schutzbereichsbestimmung nach der Verhaltensform des Betroffenen führt dieser Befund zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Konsequenz hieraus ist die Unverwertbarkeit etwaiger erlangter Drogenpäckchen auch dann, wenn der Beschuldigte sich gegen den Eingriff nicht gewehrt hat. Alternative Konzepte, die den Pflichtenkreis des Beschuldigten im Strafverfahren dadurch zu erweitern suchen, dass sie den Schutzbereich des nemo tenetur-Grundsatzes auf selbstbelastende Aussagen begrenzen, überzeugen nicht. Da der Eingriff auf die Mitwirkung des Betroffenen angewiesen bleibt, können beweiskräftige Ergebnisse auch dann nicht erzielt werden, wenn der Beschuldigte zur Passivität für verpflichtet gehalten wird. Eine Verwertung der Weigerung im Sinne eines Schuldindizes verbietet sich. Im Übrigen ist nicht erkennbar, warum die Begrenzung des Schutzbereiches zu harmonischeren Ergebnissen führen soll, als die Differenzierung zwischen Passivität und aktiver Mitwirkung. Auf dem Boden der - mangels überzeugender Alternativen - vorzugswürdigen herrschenden Meinung bleibt es deshalb bei dem gefundenen Ergebnis: Die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zu Zwecken der Strafverfolgung ist mit dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare nicht zu vereinbaren und daher rechtswidrig.
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Alkoholbestimmung 133 Amöbenruhr 87 Anfangsverdacht 38, 46, 49, 50, 51, 61,83 Angiographie 43 Anordnung — nichtrichterliche 79 — richterliche 79 Apomorphin 86, 91, 92, 101, 103, 108, 109, 111 Approbation 68 Area postrema 91 Art. 6 Abs. 2 MRK 25, 40, 160, 164 Arzt im Praktikum 68 Arztvorbehalt 68 Aspirationspneumonie 89 Aufgabe des Strafrechts 25 Belehrung 45, 74, 84, 98 Belehrungspflicht 45, 118 Berlin 106 Beschuldigter als körperlicher Informationslieferant 143 Bestimmtheitsgebot 36, 37 Beurteilungsspielraum 61 Beweiserhebungsverbote 81, 112, 155 Beweismethodenverbote 35, 132, 155, 156, 167, 168 Beweisverwertungsverbote 80 Blutprobenentnahme 39,40,41,43, 46,51,68, 72, 73,76, 137, 146 Brechmittel 13, 14, 40, 61, 66, 88, 93, 94, 98, 99, 105, 106, 107, 108, 109, 114, 117, 118, 1 19, 130, 150, 152, 157, 160, 161 — Dogmatik der -vergäbe 110 — gewaltsame Vergabe von - η 76, 116, 150, 152, 153, 170 — Kontraindikatoren für die Vergabe von - η 90
— Nebenwirkungen 88 — Praxis der -vergäbe 86 — Vergabe von - η 37, 52, 54, 59, 60, 69, 79, 84, 86, 94, 96, 97, 98, 105. 112, 115, 118, 133, 139, 146, 149, 152, 153, 154, 157 — zeitlicher Rahmen der -vergäbe 159 — zwangsweise Vergabe von - η 14, 70, 92, 96, 116, 132, 139, 145, 150, 152, 170 Brechzentrum 87 Bremen 103 Computertomografie 94, 95 Computertomographie 44 Crack 14, 100, 101, 108 Dehydration 88 Duldungspflicht 70,93, 112. 119, 120, 130, 137, 144, 150, 152, 155, 158 Einwilligung 57, 74, 75, 76, 77, 78, 83, 127 Emetikum siehe Brechmittel Emetin 87 Erbrechen, Unwillkürlichkeit des - s 134, 138 Fesselung 71 Fluchtgefahr, Haftgrund der 72 Folter 20, 163 Freiheitsbeschränkung 73, 74 (siehe auch Freiheitsentziehung) Freiheitsentziehung 73, 74, 79 Freiwilligkeit 74, 75, 76, 77 Gefahr im Verzug 73 Gesundheitsgefahren 55, 56, 58, 65, 69, 78, 84, 108, 116, 150, 170
Sachwortverzeichnis
181
Gesundheitsklausel 18, 120, 152, 155, 159, 170 Gesundheitsnachteile 68, 69, 70 Gewaltenteilung 27 Gewissensfreiheit 122 Gewohnheitsverbrechergesetz 41, 42 Grundrechtsverzicht 74
Mendelson-Syndrom 89 Menschenwürde 20, 21, 35, 36, 43, 64, 108, 112, 118, 120, 121, 124, 126, 127, 132, 162 Menschenwürdegarantie 37, 121, 123, 125, 128 molekulargenetische Untersuchung 17
Haftbefehl 15, 72, 93, 109, 159, 160 Hamburg 98 Handlungsfreiheit, allgemeine 122 Hauptverhandlung 17, 31, 58, 129, 143, 163 Hirndruck 91 Hirnkammerlüftung 43 Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung 81, 156
Nationalsozialismus 20,21 nemo tenetur-Grundsatz 14, 36, 41, 64, 77, 119, 120, 121, 123, 125, 126, 128, 132, 133, 142, 143, 145, 148, 151, 153, 155, 156, 157, 160, 162, 167, 170 nemo tenetur se ipsum accusare 36, 70, 83, 121, 127, 170, (siehe auch nemo tenetur-Grundsatz) Nervensystem 87
informationelles Selbstbestimmungsrecht 17 Inkorporierung von Drogen 53, 62 Inkulpation 45, 46, 47, 48, 50, 163 Inkulpationspflicht 45, 46 Intimsphäre 112, 117, 118 Intoxikation 89 Ipecacuanha 15, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 100, 101, 103, 104, 106, 107, 111, 115, 118, 120, 148 Kokain 14,94, 100, 101, 104, 160 körperliche Eingriffe 18,19,23,32, 38,41,43, 54,55,63,66,71,94 körperliche Untersuchung 16, 18,38, 39,41,43, 56, 85, 143 körperliche Unversehrtheit 19, 20, 21, 22, 23,30,32,33,54, 74, 109, 117, 151, 155 Körperschmuggel 95 Legalitätsgrundsatz 46 Legalitätsprinzip 28, 47 Liquorentnahme 43 Lungenentzündung 89 Magenausheberung 93 Magensonde 15, 55, 90, 91, 105, 106, I I I , 112, 117, 118, 135, 139, 141, 149, 150, 154, 158 Mallory-Weiss-Syndrom 88 Massentests 51
Objekt der Wahrheitsfindung 128 Objektformel 36,65, 112, 120, 121, 123, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 148 Paradigmenwechsel 33 Persönlichkeitsrecht, allgemeines 23, 112, 122, 124, 125, 157 Phallographie 43 Purgativmittel 94 Radiographie 94 Rechtsfrieden 29, 166, 167 Rechtskreistheorie 80 Rechtsschutz 79 Rechtssicherheit 27, 28, 38, 39, 42, 50 Revision 80 Schusswaffen 71 Selbstbefreiung 125 Selbstbelastungsfreiheit 13, 35, 36, 37, 42, 65, 66, 108, 112, 114, 116, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 136, 138, 139, 140, 142, 143, 144, 147, 148, 149, 152, 153, 154, 155, 157, 158, 159, 161, 162, 163, 164, 166, 167, 168 Selbstbestimmung 20,21 Selbstdisziplinierung 156
182
arverzeichnis
Selbsterhaltungstrieb 124, 125, 160, 162 Serotonin 87 Sicherheit — Freiheit durch 34 — innere 34 Sprachbarrieren 97 Staatsanwaltschaft 19,28,49,50,58, 59, 62, 63,69, 98, 99, 103, 104, 109, 111 Straftatbestände, Schaffung neuer 33 Strafvereitelung 47, 125 Strafverfolgung 13, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23,30, 33,38,41,44, 46, 64, 75, 119, 126, 128, 132, 147, 152, 155, 156, 170 Strafverfolgungsinteresse 84 Subjektqualität 118, 127 Subjektstellung des Beschuldigten 64, 130, 132, 145 unmittelbarer Zwang 71 Unschuldsvermutung 25, 36, 39, 40, 123, 160 Unterbringung zwecks Beobachtung 74
Unverwertbarkeit 45, 80, 81, 82, 83, 84, 170 Verdunkelungsgefahr, Haftgrund der 72, 93, 159 Vergabe von Abführmitteln 44, 147 Verhältnismäßigkeit 22,31,40,71, 73, 77, 84, 85, 99, 102, 115, 116,
118, 168
Verteidigung, Probleme der 84 Vertrauensschutz 27, 28 Verwertbarkeit siehe Unverwertbarkeit Verwertungsverbot 80, 81, 84, 112, 113, 119, 139, 157 Vomitivmittel (siehe auch Brechmittel) — Arten und Wirkungsweise 86 Wesentlichkeitsrechtsprechung 19, 39, 68 Willensfreiheit 113, 140, 141, 165 Willenskriterium 139 Zwangsmittel 16, 17, 139, 154, 160 Zweck des Strafens 24