Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst: Ein Beitrag zur Geltung des Satzes 'Nemo tenetur seipsum prodere' im Strafprozeß [1 ed.] 9783428437801, 9783428037803


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German Pages 276 Year 1977

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Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst: Ein Beitrag zur Geltung des Satzes 'Nemo tenetur seipsum prodere' im Strafprozeß [1 ed.]
 9783428437801, 9783428037803

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KLAUS ROGALL

Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst

Schriften zum Prozessrecht

Band 49

Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich seIhst Ein Beitrag zur Geltung des Satzes "Nemo tenetur seipsum prodere" im Strafprozes

Von

Dr. Klaus Rogall

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutsdlen

~ibliothek

RogaU,Klaul

Der Besdluldigte als Beweismittel gegen sidl selbst: e. Beitr. zur Geltung des Satzes .Nemo tenetur seipsum prodere" im Strafprozeß. - 1. Aufl. - Berlin: Dundter und Humblot, 1917. (Sdlriften zum Prozessredlt; Bd.49) ISBN 3-428-03180-4

Alle Redtte vorbehalten @ 1977 Dundter a. Humblot, Berlln 4.1 Gedrudtt 1977 bel Bartholdy a. Klein, Berlln 65 Prlnted In Germany ISBN 3 4.28 03780 4.

Vorwort Die vorliegende Arbeit hat der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn im Wintersemester 1975/76 als Dissertation vorgelegen. Das Hauptanliegen der Arbeit ist es, den Grundsatz des Schutzes vor Selbstbelastung in seiner ihm zukommenden Bedeutung darzustellen und eine Lücke zu schließen, die durch eine allzu große Vernachlässigung im deutschen Rechtskreis entstanden ist. Es bleibt zu hoffen, daß diesem Grundsatz in Deutschland bald eine genauso starke Beachtung wie im Ausland geschenkt wird. Rechtsprechung und Literatur sind bis Ende 1975 verwertet worden. Leider konnte die Untersuchung von Vittorio Grevi, "Nemo tenetur se detegere", Studi di diritto processuale penale, fase. 34 mit Besprechung Siegert, GA 1975, 156, nicht berücksichtigt werden. Auf sie sei deshalb an dieser Stelle hingewiesen. Der Verfasser hat in jeder Hinsicht für die Förderung und Hilfe zu danken, die ihm zuteil geworden ist. Dank sage ich in erster Linie Herrn Professor Dr. Rudolphi, der die Arbeit angeregt und vorbildlich betreut hat. Ebenso danke ich meinen Eltern und meiner Frau für die Unterstützung, die ich durch sie erhalten habe. Dem Verlag danke ich für die freundliche Bereitschaft zur Aufnahme dieser Arbeit in die Schriftenreihe. Bonn, im Mai 1976

Klaus Rogall

Inhaltsverzeichnis Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

Erster Teil

Das Nemo-tenetur-Prinzlp Im strafprozeßreeht A. Die Beweisfunktion des Beschuldigten im Stra.fverfa.hren ............

20

I. Der Begriff des Beschuldigten ..................................

20

1. Die gesetzliche Regelung .................................... 2. Beginn und Ende der Beschuldigteneigenschaft .............. 3. Der Rechtsgedanke des § 432 I AO ............................

20 24 27

11. Der Beschuldigte als Beweismittel ..............................

31

1. Die Stellung des Beschuldigten innerhalb der Beweismittel .. .. 2. Der Beschuldigte als Augenscheinsobjekt und als Aussageperson 3. Zwangsmaßnahmen zur Sicherung der Beweisfunktion des Beschuldigten .................................................. 4. Der Schutz der Beweisfunktion des Beschuldigten durch materielles Strafrecht ............................................

31 33

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion des Beschuldigten ..............

42

I. Die Freiheit der Aussage ......................................

42

Die gesetzlichen Bestimmungen .............................. Der Geltungsbereich der Aussagefreiheit ..................... Der Schutz der Aussagefreiheit .............................. Zur Frage der Wahrheitspfticht ..............................

42 44 49 52

11. Die Freiheit der Mitwirkung ..................................

54

1. Die Stellung des Beschuldigten beim Augenscheinsbeweis .... 2. Die Befreiung von der Editionspfticht ........................

54 57

1. 2. 3. 4.

35 37

111. Der Sinngehalt der beschränkten Beweisfunktion des Beschuldigten ......................................................... 58 1. Der Beschuldigte als bedingtes Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Aussagefreiheit und Mitwirkungsfreiheit als prozessualer Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Inhaltsverzeichnis

8

c. Das Nemo-tenetur-Prinzip

beim Zeugen............................

61

I. Der verdächtige Zeuge ........................................

61

1. Die Aussagefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Mitwirkungsfreiheit ....................................

61 63

11. Der verwandte Zeuge ..........................................

63

1. Das Zeugnisverweigerungsrecht .............................. 2. Das Untersuchungsverweigerungsrecht .......................

63 65

D. Zusammenfassung .................................................. 65

Zweiter Teil

Herkunft und Eniwicklung des Nemo-ieneiur-Saizes A. Bildung und Fortschritt des "Nemo-tenetur"-Gedankem 'Vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz ........................................

67

I. Uralte Wurzeln des Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Das talmudische Recht ...................................... 2. Das kanonische Recht ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

67 70

11. Der Kampf um Nemo-tenetur in England ...................... 72 1. Akkusationsprinzip. Inquisitionsprinzip und der Eid ..ex officio" 72 2. Die Entstehung der Nemo-tenetur Maxime im Widerstand gegen den Offizialeid ........................................ 76

111. Die übernahme des Grundsatzes in Amerika ............. . . . . . . . 81 1. Die Entstehung des 5. Verfassungszusatzes ................ .... 2. Zur nachkonstitutionellen Entwicklung .......................

81 85

B. Die Geschichte des Schutzes 'Vor Selbstbezichtigung im deutschen Recht 87 I. Vorbedingungen für die Entstehung des Grundsatzes in Deutschland........................................................... 87 1. Die Entrechtung des Beschuldigten .......................... 2. Das Zeitalter der Aufklärung als Wendepunkt................

87 89

11. Rezeption und Erstarkung des Nemo-tenetur-Prinzips ..........

91

1. Liberalismus contra Inquisitionsprozeß ...................... 2. Das Entstehen des Nemo-tenetur-Satzes ...................... 3. Die Konsolidierung des Schutzes vor Selbstbezichtigung

91 93 97

C. Zusammenfassung .................................................. 103

Inha.ltsverzeichnis

9

Dritter Teil

Die Grundlagen und dle Gel&un1J des Nemo-&enetur-Prinzlps A. Die RechtsgrundZagen .............................................. 104

I. Strafprozeßrechtliche Vorschriften .............................. 104 1. Die Belehrungsvorschriften .................................. 104 2. Die Bedeutung des § 136 a StpO .............................. 105 3. Die Herleitung aus dem Wesen des Anklageprozesses und der freien Beweiswürdigung .................................... 107 4. Das Verbot der Selbstbelastung als materiell-staatsrechtlicher Grundsatz .................................................... 108

H. Die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) .............. 109 1. Die Unschuldsvermutung, Art. 6 H MRK .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109 2. Der Anspruch auf "Anhörung in billiger Weise", Art. 6 I MRK 112

IH. Der Internationale Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte ......................................................... 116 1. Die Herleitung des Nemo-tenetur-Satzes aus Art. 14 III lit. g.)

Pakt ........................................................ 116 2. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Paktes ... . . . . . . . . . . . . . .. 119 . 3. Zum innerstaatlichen Rang der Normen des Internationalen Paktes ...................................................... 121 IV. Das Grundgesetz .............................................. 124 Das rechtliche Gehör (Art. 103 I, 104 IH 1 GG) ................ Die Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) ...................... Die Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) .......................... Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) als Grundlage des Nemo-tenetur-Prinzips .................... 5. Das Rechtsstaatsprinzip und das Recht auf ein faires Verfahren 6. Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte (Art. 1 11 GG) ................................................ 7. Das Verbot der Selbstbelastung als Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I, 1 I GG) ............................................

1. 2. 3. 4.

124 125 127

129 137 139 139

B. Inhalt und Grenzen des Verbots der Selbstbetastung ................ 148

I. Der Anspruchsberechtigte ...................................... 149 1. Der Beschuldigte ............................................ 149

2. Der Zeuge .................................................. 150 3. Der Auskunftsp1l.ichtige ...................................... 150 4. Der Angehörige (§§ 111 StGB, 52 I StpO) .................... 150

10

Inhaltsverzeichnis 11. ])er llnspruchsgegner .......................................... 153 1. Staatliche Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153 2. Private ...................................................... 153

111. ])er Anspruchsinhalt ........................................... 1. Aussagen und Auskünfte .................................... 2. Herausgabe von Beweismaterial ............................. 3. Grenzen des Schutzes vor Selbstbelastung ....................

155 155 157 158

I". ])er llnspruchsumfang ......................................... 1. Inkriminierende Sachverhalte ................................ 2. Ordnungsrechtlich und disziplinarisch relevante Sachverhalte 3. Ehrmindernde Sachverhalte ..................................

164 164 164 166

". ])je Geltendmachung des Anspruchs ............................ 1. "erfahrensarten ............................................. 2. Zeitliche Geltung ............................................ 3. Rechtsmittel ................................................

167 167 167 168

C. Zusammenfassung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 169 VieTteT Teil

Die Auswirkungen des Nemo-tenetur-Satzes auf das Strafprozeßreeb.t A. DeT Schutz VOT GefähTdungen deT Aussage- und MitwiTkungsfTeiheit 170

I. ])je Herbeiführung von Aussagen gegen sich selbst .............. 170 1. ])je Selbstbelastung im Steuerstrafverfahrensrecht ............ 2. ])je Pflicht zur Angabe der Personalien ...................... 3. ])je "überwachung des Fernmeldeverkehrs .................... 4. Fragen der Einstellung des "erfahrens .......................

170 176 179 182

11. Aspekte der Belehrungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 186 1. Belehrung und Selbstbelastung .............................. 186

2. Mängel der Belehrung bei der Aussage des Beschuldigten und des verdächtigen Zeugen .................................... 187 3. Mängel der Belehrung im Rahmen der Mitwirkungsfreiheit .. 191

B. DeT Schutz VOT Gewinnung und VeTweTtung selbstbelastenden Ma-

terials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196

I. Beweisverbote als Folgen der "erletzung des Nemo-tenetur-

Satzes ......................................................... 196 1. ])er Begriff des Beweisverbots .............................. 196 2. ])as "erbot der Selbstbelastung als Beweiserhebungsverbot .. 198 3. ])as "erbot der Selbstbelastung als Beweisverwertungsverbot 199

Inhaltsverzeichnis

11

II. Beweisverbote wegen Anwendung verbotener Vemehmungsmethoden (§ 136 aStPO) ........................................ 1. Das Verwertungsverbot des § 136 a III 2 StPO ................ 2. Zur "Drittwirkung" des § 136 a StPO ........................ 3. Das Verbot der Umgehung des Beweisverbots ................

208 208 210

III. Beweisverbote wegen Unterlassung des Hinweises auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten .................................. 1. Die einzelnen Fallgruppen ................................... 2. Die Verletzung der Belehrungspftichten der §§ 136 I 2, 243 IV 1 StPO ....................................................... 3. Unschädlichkeit und Heilung des Verfahrensfehlers .......... 4. Das Verbot der Umgehung ..................................

211

212 212 212 217 221

IV. Beweisverbote wegen Mißachtung der Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten ................................................. 227 1. Die Editionspfticht nach § 95 StpO ............................ 227 2. Tests und Schriftvergleiche .................................. 229 V. Beweisverbote wegen Mißachtung der Zeugnisverweigerungsrechte des verwandten und verdächtigen Zeugen ................ 1. Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 stPO ................ 2. Das Untersuchungsverweigerungsrecht nach § 81 c III StpO .. 3. Das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StpO ............ 4. Das Verbot des Fragens nach unehrenhaften Tatsachen, § 68 a StPO ........................................................

230 230 233 234 238

VI. Beweisverbote wegen Ausübung des Schweigerechts ............ 1. Der nachträglich schweigende Angeklagte ................... , 2. Der nachträglich schweigende Angehörige .................... 3. Der nachträglich schweigende verdächtige Zeuge ............

239 239 242 247

VII. Die Verwertung des Schweigens für den Schuldspruch .......... 1. Das totale Schweigen des Beschuldigten .................... " 2. Das zeitweise Schweigen des Beschuldigten .................. 3. Das Teilschweigen des Beschuldigten ........................ 4. Das Schweigen des Zeugen ..................................

247 247 250 250 256

Sdllu8betrachtung ..................................................... 257 Literaturverzeichnis ................................................... 262

Ahkürzungsverzeichnis a.A. abw. a.E. a.F. AJCL Anm.

AO AöK

Art.

AT Auf!. BayObLGSt Bd BDO Begr. BGB BGBI BGH BGHSt BGHZ BK BK-Drucks BT BT-Drucks BVerfG BVerfGE BVerwG BYIL BZRG CCC DAR DJT

DJZ Doc. DKiZ DStR DVBI ECOSOC EGStGB Einl. Entw. EuGH EuGHE

anderer Ansicht abweichend am Ende alter Fassung American Journal of Comparative Law Anmerkung Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Allgemeiner Teil Auflage Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Band Bundesdisziplinarordnung Begründung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bonner Kommentar Bundesrats-Drucksache Besonderer Teil Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht British Yearbook of International Law Bundeszentralregistergesetz Constitutio Criminalis Carolina Deutsches Auto-Recht Deutscher Juristentag Deutsche Juristen-Zeitung Document Deutsche Richterzeitung Deutsches Steuerrecht Deutsches Verwaltungsblatt Economic and Sodal Council Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Einleitung Entwurf Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Abkürzungsverzeichnis FamRZ tl.. Fn FR GA GAOR GG GR Grünhut'sZ GS GVG HandwO Harv.L.R. Hbuch H-H-Sp h.L. i.d.F. i.d.R. i. e.

i.S.d i.V.m. i.w.S. IYHR JA Jb. J.Crim.L., Crim.&P.S.

JiR

JMBlNRW

JR JurJb JuS JW JZ Kap. KG KMR Kornm.E Krim. Lb. LG LK L-K LM L-R m.a.W. MDH MDR MRK m.w.N.

n.F.

NJW OGHSt

13

Familienrechtszeitung folgende Fußnote Finanzrundschau Goltdammer's Archiv für Strafrecht General Assembly Official Records Grundgesetz Die Grundrechte Grünhut's Zeitschrift Der Gerichtssaal Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung) Harvard Law Review Handbuch Hübschmann-Hepp-Spitaler herrschende Lehre in der Fassung in der Regel im einzelnen im Sinne des (der) in Verbindung mit im weiteren Sinne Israel Yearbook on Human Rights Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch Journal of Criminal Law, Criminology and Political Science Jahrbuch für Internationales Recht Justiz-Ministerialblatt Nordrhein-Westfalen Juristische Rundschau Juristenjahrbuch Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Müller-Sax, Kommentar zur Strafprozeßordnung Entscheidungen der Europäischen Menschenrechtskommission Kriminalistik Lehrbuch Landgericht Leipziger Kommentar Lehrkommentar Lindenmaier-Möhring Löwe-Rosenberg mit anderim Worten Maunz-Dürig-Herzog Monatsschrift für Deutsches Recht Menchenrechtskonvention mit weiteren Nachweisen neuer Fassung Neue Juristische Wochenschrift Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen

14

Abkürzungsverzeichnis

OLG OLGSt OR OWiG Pakt

Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Strafsachen Official Record Ordnungswidrigkeitengesetz Internationaler Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte Prüfe Dein Wissen Rechtsfälle in Frage und Antwort Gesetz über Personalausweise Preußische Criminal-Ordnung Publication Resolution Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts ·in Strafsachen Reichsmilitärgericht Randnummer Rechtsprechung siehe Seite Sonderausschuß siehe auch Schmidt-Bleibtreu-Klein Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schweizer Juristenzeitung Session Süddeutsche Juristen-Zeitung Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch siehe oben Statute Staatsrecht Steueranpassungsgesetz Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke Steuerberater-Jahrbuch Die Steuerliche Betriebsprüfung Strafgesetzbuch Staatskirchenrecht Strafprozeßordnung Strafrechts änderungs gesetz ständige Rechtsprechung State Trials, von Cobbett & Howell, London 1809 - 1829 Steuer und Wirtschaft Gesetz zur Reform des Strafverfahrens siehe unten Supplement Theologisch-praktische-Quartalsschrift United Nations Documents United States unter Umständen vergleiche Die Vereinten Nationen, zeitschrift für Vorbemerkungen Verkehrsrechtssammlung Wehrdisziplinarordnung

PdW PersAuswG PrCrimO Pub!. Res. RG RGBI RGSt RMG Rn Rspr

s.

S.

SA s.a. S-BK SchlHA SchwJZ Sess. SJZ SKStGB s. o. St StaatsR StAnpG StatG StbJb stBp

StGB StKirchR Stpo StrafÄndG st.Rspr St. Tr. Stuw StVRG

S.u.

Supp. ThprQS Un-Doc U.S. u.U. vgl. VN

Vorb. VRS WDO

Abkürzungsverzeichnis WRV ZAkDR ZDStV Ziff.

ZPO

ZStw

15

Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8.1919 (Weimarer Reichsverfassung) Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Zeitschrift für das Deutsche Strafverfahren Ziffer Zivilprozeßordnung Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung "Est enim regula iuris naturaZis: nemo tenetur prodere seipsum", so heißt es in einem Kommentar des kanonischen Rechts aus dem Jahre 19391 zu c. 1743 § 1. Die naturrechtlich begründete Einsicht in das unantastbare Recht eines jeden Menschen, nicht zur eigenen überführung beitragen zu müssen, hatte freilich lange auf sich warten lassen. Erst Benedikt XIII verbot 1725 die bequeme Praxis, den Beschuldigten eidlich über die Tat zu befragen und setzte damit dieser Form der "tortura spiritualis" ein Ende!. Indessen erging es dem Beschuldigten im Bereich staatlichen Strafens auch nicht viel besser. Der absolutistische Polizeistaat, der von einem Subjektionsverhältnis des Untertans zum Staat geprägt war, behandelte den Beschuldigten als Objekt des Verfahrens'. Rücksichtslos wurde der Beschuldigte mit der Folter und später mit den sog. Lügenstrafen zur eigenen überführung gezwungen. Im modernen Verfassungsstaat fällt dieses Subjektionsverhältnis jedoch fort. Der einzelne wird zum Staatsbürger4 , dessen Menschenrechte unantastbar sind. Der Beschuldigte wird zur Prozeßpartei, dessen Grundrechte und dessen Menschenwürde selbst im Strafprozeß keine Einbuße erleiden dürfen 5 • Das heutige Strafverfahren fordert nicht, "daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte"6. In diesem Sinne ist uns heute genauso wie den Vätern der StP01 der Grundsatz vertraut, daß niemand zur eigenen überführung gezwungen werden darf. So hat der Bundesgerichtshof schon des öfteren in bezug auf das Schweigerecht des Beschuldigten ausgeführt, daß das Wesen jenes Rechts darin bestehe, "daß der Angeklagte nicht gezwungen werden darf, ein Beweismittel gegen sich selbst zu Ziefern"8. Auch in der Literatur erfreut sich 1 Lega / Bartoccetti, Commentarius in Iudicia Ecclesiastica, Bd. II (Rom 1939), S.607. 2 Meile, Die Beweislehre des kanonischen Prozesses, S. 48 ff. 3 Wahlberg, Grünhuts Z 1, 152; Liepmann ZStW 44, 647 ff. (658); Henschel, Beilageheft GS 74, 13 ff. 4 Liepmann ZStW 44, 659. 5 Zum Ganzen eingehend Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (12. Aufi. von K. Zweigert), S. 185 ff. e BGHSt 14, 358 (365). 7 Materialien zur StPO, Hahn I, S. 139 f., 700 ff.; StPO vom 1. 2. 1877 i. d. F. der Neubekanntmachung vom 11. 1. 1975 (BGBl I, S. 129). 8 BGH bei Dallinger MDR 1972, 18; s. a. BGHSt 14, 358 (364) und BGH NJW 1974, 1570 ff. sowie BVerfG NJW 1975, 103.

2 Rogall

18

Einleitung

die Nemo-tenetur-Maxime nahezu uneingeschränkter Anerkennung'. Mehr als diese pauschale Zustimmung läßt sich allerdings im wesentlichen10 auch nicht nachweisen. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, daß das Recht, nicht zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht zu werden, wörtlich in keiner positiven Gesetzesbestimmung enthalten ist. Immerhin läßt sich die überwiegende Meinung dahingehend formulieren, daß es sich bei der Nemo-tenetur-Maxime um einen rechtsstaatlichen Grundsatz handelt, der seine letzte Rechtfertigung im Grundgesetz11 , und zwar namentlich in der Würde des Menschen (Art. 1 I GG)12 findet und im Strafprozeßrecht deshalb lediglich "als selbstverständlich vorausgesetzt" wirdl3 • Die Schwierigkeiten setzen sich naturgemäß bei der Frage fort, welchen Geltungsbereich und welches Ausmaß das Verbot der Selbstbezichtigung hat. Noch schwieriger wird es sein, die Funktion und die Auswirkungen des Nemo-tenetur-Satzes im Strafprozeßrecht zu bestimmen. All diese Fragen zu beantworten, ist Versuch und Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Dies erscheint trotz der Bedenken Betings, der in weiser Voraussicht erkannte: "Was freilich Menschenwürde ist - darüber werden sich wohl noch Generationen den Kopf zerbrechen"14 nicht unmöglich. Im Gegenteil, das Bemühen um eine verfassungsgemäße Konkretisierung und Auslegung strafprozessualer Normen - also eine Aufgabe, die sich wegen der verfassungsrechtlichen Bezüge des Verbots der Selbstbelastung im Rahmen dieser Untersuchung stellt - ist nicht nur ein aktuelles, sondern vor allem auch ein notwendiges Anliegen. Die Gefahren, die der Strafrechtspfiege durch eine Hypertrophie des Grundrechtsschutzes drohen und die oft beschworen worden sindUl, liegen auf der Hand. Im Ergebnis vermögen diese Bedenken jedoch nicht zu überzeugen. Sicher darf man die Bedeutung des einfach-gesetzlichen Rechts für die Ausfüllung und Auslegung der Verfassung nicht verkennen. Dennoch ist es letztlich unmöglich., an der Tatsache vorbeizuschauen, daß in einer durch das Grundgesetz geschaffenen 9 Gänzlich abI. BGHZ 41, 318 ff., der die Existenz des Verbots der Selbstbelastung schlechthin leugnet; s. a. Stümpfler DAR 1973, 1 (9 f.), der die Abschaffung des Prinzips im Bereich der Ordnungswidrigkeiten empfiehlt. 10 Deutlicher jetzt Eser ZStW 86 (Beiheft), 136 ff. 11 GG vom 23. 5. 1949, BGBI I S. 1. 12 Eser ZStW 86 (Beiheft), 144 f.; Kleinknecht, StPO, § 136 Anm. 3; BGHSt 14, 364; BGH NJW 1974, 1570; a. A. etwa Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 GG, 5.131. 13 BGHSt 1, 39 f.; BVerfG NJW 1975, 103. 14 Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozeß (1903), 5.37. 15 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, GR III/2, S. 969 ff.; Eb. Schmidt JZ 1968, 354 (361); Kleinknecht, StPO (31), EinI. 1 E a. E.; Schäfer, L-R, EinI. Kap. 5 2.

Einleitung

19

"objektiven Wertordnung"18 unter Beachtung des "Menschenbildes des Grundgesetzes"17 kein Platz ist für einschränkende Grundrechtsinterpretationen. Im Zweifel wird stets zugunsten des Grundrechts zu entscheiden sein18. Die allgemeinen Gesetze müssen sogar im Gegenteil aus der "wertsetzenden Bedeutung"1' des Grundrechts verstanden und ausgelegt werden und auch der Strafrichter muß es hinnehmen, daß seine Entscheidung aufgehoben wird, weil er die "Ausstrahlungswirkungen" der Grundrechte auf das Strafrecht und das Strafprozeßrecht verkannt hat20 • Diese Grundsätze gilt es zu beachten, wenn der Geltung, der Geschichte, den verfassungsrechtlichen Grundlagen und den Auswirkungen des Verbots, den Beschuldigten zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen, nachgegangen werden soll. Doch zunächst ist nach der beweisrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Prozeßrecht und dem dort realisierten Schutz vor Selbstbelastung zu fragen. Dabei mag auch ein Blick auf den verwandten (§ 52 StPO) und verdächtigen (§ 55 StPO) Zeugen geboten sein, denn ihnen kann ebenso die Gefahr drohen, sich oder Angehörige zu belasten. Das "nemo tenetur seipsum prodere" wird aber auch hier Geltung zu beanspruchen haben.

18 BVerfGE 2, 1 ff. (12); 7, 198 (205); 35, 79 (114); BVerfG JZ 1975, 205 (208) jeweils mit Nachweisen. 17 Vgl. BVerfGE 4, 7 (15 f.). 18 BVerfGE 6, 55 (72); Habscheid, Peters-Gedächtnisschrift, S. 840 ff. (855 f.). 19 Vgl. BVerfGE 7, 198 (207). 20 Vgl. BVerfGE 7, 204 ff.; 12, 113 (124 ff.); BVerfGE 13, 318 (325 H.); s. a. Maunz I Sigloch I Schmidt-Bleibtreu / Klein, BVerfGG, § 90 Rn 146.

ETsteT Teil

Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafproze13recht A. Die Beweisfunktion des Beschuldigten im Strafverfahren I. Der Begriff des Beschuldigten

Der Beschuldigte als strafrechtlich Verfolgter ist im Gegensatz zum Zeugen mit einem besonderen Schutz ausgestattet, der vor allem im Fehlen jeglicher Aussagepflicht und in den darauf bezüglichen Belehrungspflichten Ausdruck findetl. Sinn dieser Regelung ist es namentlich, den Beschuldigten, dem die Gefahr der Strafverfolgung am unmittelbarsten droht, nicht zur Selbstbelastung zu zwingen. Dagegen ist die Aussagepflicht des ebenfalls verfahrensbeteiligten .Zeugen im Prinzip unbegrenzt und wird nur nach Maßgabe der §§ 52 ff. StPO eingeschränkt. Andererseits unterliegt der Beschuldigte einer Reihe von Eingriffsmaßnahmen, die der Zeuge zu dulden nicht verpflichtet ist. Die Stellung und die Funktion beider Verfahrensbeteiligter erscheint daher nicht nur mit Rücksicht auf das Verbot der Selbstbelastung grundverschieden!. Diese noch näher zu spezifizierenden Unterschiede bedingen eine sorgfältige Scheidung der jeweiligen Verfahrensrollen, eine Aufgabe, die trotz der begrifflich scharfen Trennung zwischen dem Status des Zeugen und des Beschuldigten besonders für das Vorverfahren Schwierigkeiten bereitet.

1. Die gesetzliche Regelung Die StPO enthält selbst keinen Hinweis auf den Begriff des Beschuldigten3 • In § 157 StPO heißt es lediglich: "Angeschuldigter ist der Beschuldigte, gegen den die öffentliche Klage erhoben ist, Angeklagter der Beschuldigte oder Angeschuldigte, gegen den die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen worden ist." Wenn § 157 StPO zwar keine Zum Folgenden vgl. unten B I. Vgl. eingehend BVerfG NJW 1975, 103. 3 Dieser sei als allgemeiner Begriff verstanden, ohne Rücksicht auf eine mögliche Modifizierung durch andere Vorschriften, etwa die §§ 81, 81 aStPO; vgl. OLG Hamm NJW 1974, 914 f. 1

l!

A. Die Beweisfunktion des Beschuldigten

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Legaldefinition des Begriffs des Beschuldigten beinhaltet4, so geht aus der Vorschrift doch klar hervor, daß der Ausdruck als Oberbegriff für alle diejenigen Personen verwendet wird, gegen die der Strafprozeß stattfindet, und zwar ohne Rücksicht auf den jeweiligen Verfahrensabschnitt5. In einem engeren Sinne kann man aber auch denjenigen als Beschuldigten bezeichnen, der noch nicht die Stellung eines "Angeschuldigten" oder "Angeklagten" innehat&. Mehr als diese negative Abgrenzung läßt sich aufs Erste dem Gesetz nicht entnehmen, zumal die Terminologie der StPO nicht einheitlich ist. Im Vollstreckungsverfahren wird der Beschuldigte "Verurteilter" genannt (§§ 449 ff. StPO)1. In den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens heißt er bald "Verurteilter" (§ 359 StPO), bald "Angeklagter" (§ 362 StPO). Im Sicherungsverfahren (§§ 413 ff. StPO) ist wieder vom "Beschuldigten" die Rede'. Bei der Privatklage' (§§ 374 ff. StPO) taucht einerseits der Begriff des "Beschuldigten" (§§ 375 111, 379 I, 383 I, 11, 394 StPO) , andererseits aber auch der des "Angeklagten" (§§ 38611, 387 I, 111, 391 I, 11) auf. Diese Beispiele genügen, um aufzuzeigen, daß mit dem Begriffsmaterial der StPO eine genaue Bestimmung des Beschuldigtenbegriffs unmittelbar nicht möglich ist. Auch in anderen Verfahrensordnungen fehlt es an einer Definition des Begriffs10 • Dennoch bietet die StPO gewisse Anhaltspunkte, die einen Rückschluß auf die Figur des Beschuldigten zula~sen, so etwa die Existenz des sog. "verdächtigen Zeugen", §§ 60 Nr.2, 55 StPO. Nach § 60 Nr.2 StPO besteht ein Vereidigungsverbot für Personen, die im Verdacht der Täterschaft, der Beteiligung, der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei an dem abzuurteilenden Delikt stehen. Gemäß § 55 StPO hat der Zeuge ein Auskunftsverweigerungsrecht bezüglich der Fragen, deren Beantwortung ihm oder einem Angehörigen die Gefahr der Strafverfolgung zuziehen würde. Nun ist es ein fundamentales Prinzip des deutschen Strafprozeßrechts, daß der Beschuldigte nicht Zeuge in eigener Sache 4 RGSt 27, 312 ff. (314); nach Eb. Schmidt, L-K II, § 157 Rn 1 enthält § 157 StPO nur "Benennungen" (technische Ausdrücke) zur Bezeichnung des Verfahrensstadiums. 5 Bauer S.15; Castringius, S.25; v. Gerlach JR 1969, 149 ff. (150); Kern / Roxin S.21; Kleinknecht, StPO, § 157 Anm.4; Sax, KMR, § 157 Anm.1; Zipf S.107. s Bauer S.15; Castringius, S.25; Kohlhaas, L-R, § 157 Anm.1. 7 In den §§ 453, 465 StPO ist allerdings vom "Angeklagten" die Rede; in § 467 StPO wird wiederum der Begriff des "Angeschuldigten" verwendet. 8 Ebenso im Adhäsionsverfahren, StPO §§ 403 ff. 9 Hier gilt nach Eb. Schmidt (L-K H, § 157 Rn 2) die Nomenklatur des § 157 StPO nicht. 10 Im Bußgeldverfahren (§§ 35 ff. OWiG, vom 24.5. 1968, BGBl I, S.481) tritt an die Stelle des Beschuldigten der "Betroffene", dazu Kleinknecht, StPO, Anh. A 5, § 35 OWiG, Anm.3; zu § 432 AO vgl. unten AI 3; vgl. dagegen die Definition der Reichstagskommission bei Hahn II, S.2198.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

sein kann11 • Wenn aber die Rolle des Beschuldigten mit der des Zeugen prinzipiell unvereinbar ist, so beweist die Existenz des "verdächtigen Zeugen", daß das Kriterium des Verdachtes, d. h. eines sich von der bloßen Möglichkeit über die Wahrscheinlichkeit bis zur Gewißheit hin entwickelnden geistigen Vorgangs, der die Strafbarkeit menschlichen Verhaltens zum Gegenstand hat1!, für die Bestimmung des Beschuldigtenbegriffs allein nicht ausreicht. Sowohl Zeugen als auch Beschuldigte können danach zum Kreis der Verdächtigen gehören13. Man könnte nunmehr allerdings einwenden, daß § 60 Nr.2 StPO lediglich ein Vereidigungsverbot enthält und daher die prozessuale Position des Betroffenen gar nicht bestimmt14• Doch wird diese Auffassung schon formal dadurch entkräftet, daß § 60 StPO systematisch im 6. Abschnitt ("Zeugen") angesiedelt ist, während die "Vernehmung des Beschuldigten" erst im 10. Abschnitt folgt. Der Beschuldigte, der ja nicht Zeuge in eigener Sache sein kann, wird im übrigen auch schon gar nicht vereidigt. Die §§ 55, 60 Nr. 2 StPO erhalten, wie der BGH16 zutreffend ausführt, erst dann einen Sinn, wenn ein Verdächtiger als Zeuge vernommen werden darf. Obwohl er verdächtig ist, bleibt seine Zeugenposition erhalten18. Daraus folgt, daß der Ansicht Eb. Schmidts 17 , Beschuldigter und Verdächtigter seien (in der Regel) identisch, nicht zugestimmt werden kann. Der Beschuldigte ist regelmäßig verdächtig18, der Zeuge kann es sein, muß es aber nicht. Somit ist der Verdächtige noch nicht ohne weiteres Beschuldigter11t. Gleichwohl bildet aber der Tatverdacht den "Begriffskern"20 der Verdächtigen- und der Beschuldigteneigenschaft. Das zweite Begriffselement ergibt sich daraus, daß der Beschuldigte im Gegensatz zum Zeugen Objekt staatlicher Strafverfolgung ist. Dem verdächtigen, zur Auskunftsverweigerung berechtigten Zeugen droht lediglich die Gefahr der Strafverfolgung (§ 55 StPO), während der Beschuldigte bereits von ihr erfaßt istt1 • Er wird strafrechtlich verfolgt 11 Bauer S. 21; v. Gerlach JR 1969, 150; Kern / Roxin, S. 122; Eb. Schmidt, L-K II, vor § 48 Rn 3; Walder, S. 54; RGSt 6, 279 ff. (280); BGHSt 10, 8 H. (10) mit weiteren Nachweisen. 11 Vgl. ausführlich v. Hindte, S.19 ff.; Peters, Welzel-Festschrift, S. 415 ff. (422); Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 28. , 13 BGHSt 10, 10; Artzt Kriin. 1970, 379; v. Gerlach NJW 1969, 776 ff. (779). 14 Nach Peters, Gutachten, S.137, geht die Vorschrift von einer falschen Vorstellung über das Wesen des Zeugen aus. 15 BGHSt 10, 10. 11 BGHSt 17, 128 ff. (133). 17 L-KII (Nachtrag), §81a Rn 11; L-KII, §97 Rn8; §99 Rn2; §102 Rn6; § 103 Rn 6. 18 Vor der Verfolgung Unschuldiger schützt § 344 StGB. 19 Zutreffend Artzt Krim. 1970, 379. 20 Dünnebier, L-R, § 102 Anm. 1. 21 Bauer S.24; v. Gerlach NJW 1969, 777; Peters, Gutachten, S.137.

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mit dem Ziel, seine Verurteilung zu erreichen. Er nimmt die Rolle desjenigen ein, der sich gegen den gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwurf zu verteidigen hatZ!. So gesehen stellt die gemäß § 136 I StPO vorgeschriebene Belehrung tatsächlich eine Art "Kriegserklärung" dar!3. Als Beschuldigter kann also derjenige angesehen werden, gegen den wegen Verdachts einer strafbaren Handlung Strafverfolgungsmaßnahmen durchgeführt werdenl4 • Als prozessuale Maßnahme" ist also noch das Betreiben der Strafverfolgung gegen den Verdächtigen wegen einer strafbaren Handlung erforderlich. Doch bedarf dies der Präzisierung. Nicht jeder noch so vage Verdacht kann als geeignet angesehen werden, die Strafverfolgung gegen den Beschuldigten auszulösen. Wäre das der Fall, so hätte man es mit einem unüberschaubaren Kreis von Beschuldigten zu tun und für den nach §§ 55, 163 a V StPO zu belehrenden verdächtigen Zeugen bliebe kaum noch Raum. Auf der anderen Seite ist auch kein "dringender" (§§ 111 a, 112 StPO) oder "hinreichender" (§ 203 StPO) Tatverdacht erforderlich!8. Denn daß verhaftete oder gemäß § 203 StPO angeklagte Personen jedenfalls "Beschuldigte" i. S. d. StPO sind, dürfte, soweit es nicht schon selbst aus § 157 StPO hervorgeht, klar sein27• Darum handelt es sich bei dem Verdachtsgrad, der Anlaß für die Strafverfolgung ist, um den "Anfangsverdacht"28 oder "einfachen Tatverdacht"!9 i. S. d. §§ 152 II, 160 I StPO ("zureichende tatsächliche Anhaltspunkte")30, der ja schon in konkreten Tatsachen bestehen muß, also konkret zu sein hatS1 • Ist dieser Verdacht nicht personenbezogen, haben sich die Ermittlungen gegen Unbekannt zu richten. Ist er von Anfang an oder wird er täterbezogen, so muß (§§ 152 II, 160, 163 StPO) gegen den Betroffenen eingeschritten werden. Werden die Ermittlungen rein tatbezogen, also gegen Unbekannt, geführt, so gibt es keinen Beschuldigten, weil das Verfahren nicht gegen Z! Zum Rollengedanken auch v. Gerlach NJW 1969, 777; Peters, Gutachten, S.136. 23 Devlin, S.31. 24 Statt aller: Henkel, S.169; Kohlhaas, L-R, § 157 Anm. 1; Peters, S.172, 173; Walder, S.53; Zipf, S.56. 25 BGHSt 10, 10 f.; v. Hindte, S.18, 48 ff. 11 Zu diesen Begriffen vgl. v. Hindte, S. 89 ff., 167 ff. 27 Artzt, S. 380. 28 Kleinknecht, StPO, § 152 Anm. 2 B; Artzt Krim. 1970, 380. 29 Geerds GA 1965, 321 ff. (327). 30 Zum Ganzen v. Hindte, S. 65 ff. 31 Kohlhaas NJW 1965, 1254 ff. (1255) fordert einen "konkretisierten Tatverdacht"; vgl. auch Kern / Roxin, S. 119; Roxin, PdW (5), S.46, Zipf, S.107; Kleinknecht, StPO, Ein!. 3 B b; soweit damit ein auf den Beschuldigten gerichteter Anfangsverdacht gemeint ist, der ja schon in konkreten Tatsachen bestehen muß, ist dem zuzustimmen, vgl. Fn 28 ff.; s. a. v.·Gerlach, S.780; v. Hindte, S. 36 f.

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den Täter geführt wirdM. Täterbezogen sind die Ermittlungen dann, wenn sie sich, wie im Falle der Verjährungsunterbrechung nach § 78 c StGB, wegen einer bestimmten Tat (§ 264 StPO) gegen einen individuell bestimmten Täter richten3!. Die Kenntnis des Verfolgten von den Ermittlungsmaßnahmen ist unerheblich; ebenso kommt es nicht darauf an, ob der Beschuldigte "schuldig" i. S. d. materiellen Strafrechts ist und ob auch alle prozessualen Voraussetzungen für das Strafverfahren vorliegen34 • Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, daß sich die prozessualen Maßnahmen auf eine strafbare Handlung gründen müssen (§ 152 11 StPO). Daher kann das gemäß § 19 StGB schuldunfähige Kind kein Beschuldigter sein, und zwar schon oder erst von dem Zeitpunkt ab, in dem die mangelnde strafrechtliche Verantwortlichkeit erkannt ist35•

2. Beginn und Ende der Beschuldigteneigenschaft Nach der Identifizierung des Beschuldigten als derjenigen Person, die durch den Verdacht einer strafbaren Handlung belastet und durch Strafverfolgungsmaßnahmen in das Strafverfahren verstrickt ist3 &, stellt sich die Frage nach den zeitlichen Grenzen der Beschuldigteneigenschaft. Sie endet jedenfalls mit der Erledigung der Beschuldigung37• Eine solche Erledigung ist etwa anzunehmen bei der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft (§ 170 11 StPO), denn auch sie beendet das Verfahren, obgleich ihr eine Rechtskraft nicht zukommt38• Aber auch nach rechtskräftigem Abschluß des Erkenntnisverfahrens endet die Beschuldigteneigenschaft, weil dann das Ziel der Strafverfolgungsmaßnahmen gegen den Betroffenen erreicht ist3t• Die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß §§ 359 ff. StPO kann allerdings dazu führen, daß der "Verurteilte" oder "Freigesprochene" erneut zum Beschuldigten wird. 32 a. A. Eb. Schmidt, L-K II, § 97 Rn 8, § 99 Rn 2 unter Berufung auf RGSt 50, 241 (242); vgl. auch RGSt 20, 91 (92); ebenso Müller, KMR, § 97 Anm. 2 a; dagegen aber treffend Dünnebier, L-R, § 97 Anm. III 2. 33 Peters, S.172; BGH GA 1961, 239. 34 Bauer S.34; Henkel, S.169 Fn 1; Höra, S. 32 f.; Peters, S.173; Walder, S.54; differenzierend v. Hindte, S. 29 ff., 71 ff. 3S Greiner Krim. 1972, 92 f.; Steinke Krim. 1972, 290; die Schuldunfähigkeit des Kindes ist Prozeßhindernis, vgl. Dreher, StGB, § 19 Anm.2; Rudolphi, SK StGB, § 19 Rn 3. 36 Artzt Krim. 1970, 380; v. Gerlach NJW 1969, 778. 37 Jung, S. 74 ff. (76). 38 Selbst der Verwerfungsbeschluß des OLG im Klageerzwingungsverfahren hat nur eine beschränkte materielle Rechtskraft (vgl. § 174 II StPO). 39 OLG Hamm NJW 1974, 914 ff. (915); v. Gerlach, S.778.

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Läßt sich das Ende der Beschuldigteneigenschaft noch relativ leicht klären, so ist die Frage um so schwieriger zu beantworten, wann sie beginnt"°. Sie beginnt jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte als solcher zur Vernehmung geladen wird (§§ 133 ff. StPO, §§ 161, 163 a StPO). Die Ladung soll nämlich erkennen lassen, daß er als Beschuldigter vernommen werden soll (RiStBV Nr.35). Ebensowenig dürfte zweifelhaft sein, daß Zwangsmaßnahmen wie die vorläufige Festnahme (§ 127 StPO), die Verhaftung (§§ 112 ff. StPO) und die Maßnahmen nach §§ 81 ff. StPO die Beschuldigteneigenschaft stets begründen 41 • Dagegen ist die Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO) nicht an das Vorhandensein eines Beschuldigten geknüpft. Auch die Durchsuchung (§ 102 StPO) ist schon beim Verdächtigen, der ja noch nicht Beschuldigter zu sein braucht4!, zulässig. Die beiden letzteren Maßnahmen sagen also nichts über den Beginn der Beschuldigtenstellung aus. Abgesehen von diesen gesetzlichen Anhaltspunkten fehlt es an greübaren Kriterien für die Bestimmung des Zeitpunkts, von dem ab jemand Beschuldigter wird. Diese Frage ist trotz grundsätzlicher Einigkeit über den Beschuldigtenbegriff43 lebhaft umstritten44, dies um so mehr, weil dieser Zeitpunkt darüber entscheidet, wann jemand in die gesamte Rechts- und Pflichtenstellung des Beschuldigten mit allen ihren Konsequenzen einrückt. Da jeder Strafverfolgte Beschuldigter ist und die Staatsanwaltschaft bzw. die Polizei das Ermittlungsverfahren beherrschen", kommt es darauf an, wen sie als einer Straftat Verdächtigen verfolgen. Daraus kann vorab geschlossen werden, daß es von einem "Willensakt" der Strafverfolgungsbehörde abhängt, wer und ab wann jemand zum Beschuldigten wird". Zur Vollziehung dieses Willensaktes sind die Ermittlungsbeamten nach pflichtgemäßem Ermessen4T verpflichtet, wenn die Voraussetzungen der §§ 152 II, 160 I, 163 I StPO vorliegen48, d. h. wenn konkrete Tatsachen ("zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" i. S. d. 40 Hier kommt es darauf an, ab wann genau aufgrund eines konkreten Verdachts täterbezogen ermittelt wird. 41 Sarstedt, L-R, § 136 Anm.2; v. Gerlach NJW 1969, 779 Fn 35; unklar v. Hindte, S. 74 f., 77 f.; die gleiche Wirkung hat der Erlaß eines Vorführungsbefehls, § 134 StPO. 42 Ebenso v. Hindte, S. 77 f. 43 Vgl. oben Fn 36. 44 Dazu ausführlich Artzt Krim. 1970, 379 ff. sowie v. Gerlach NJW 1969, 776 ff.; v. Hindte, S. 73 ff. 45 §§ 152 ff., 160 ff. Stpo. 46 Artzt Krim. 1970, 380; Kleinknecht, StPO, Einl. 3 B; Sarstedt, L-R, § 136 Anm.2; Walder, S.53; wohl auch BGHSt 10, 12; Zipf, S.107 f.; Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 11 ff. 47 Die Einzelheiten sind freilich sehr streitig: vgl. BGH NJW 1970, 1543 f.; Kohlhaas, L-R, § 152 Anm. 6 sowie die Nachweise bei v. Hindte, S. 34 ff. 48 Artzt Krim. 1970, 380; Kleinknecht, StPO, Einl. 3 B b; Zipf, S. 107; Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 12.

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§ 152 II StPO) den naturgemäß ebenso konkreten "Verdacht einer strafbaren Handlung" (§ 160 I StPO) ergeben. Dies gilt sowohl bei anfangs täterbezogenen als auch bei tatbezogenen Ermittlungen. Diese "subjektive" Betrachtungsweise ist im Grundsatz zu billigen. Sie trägt der Tatsache Rechnung, daß die Verfolgung einer Person als Beschuldigter eine auf einem Willensakt beruhende Prozeßhandlung ist'!'. Zutreffend weist Jung50 deshalb darauf hin, daß die Begründung der Beschuldigteneigenschaft das "Produkt eines Zuschreibungsprozesses" ist. Dennoch vermag diese Auffassung im Ergebnis nicht ganz zu befriedigen. Ihre Schwäche liegt zunächst, wie v. GerlachBl zutreffend bemerkt, darin, daß dadurch der Status des Beschuldigten davon abhängig ist, ob der Verfolgungsbeamte dem Legalitätsprinzip (§ 152 II StPO) zufolge pflichtgemäß ermittelt und einen zu Beschuldigenden auch als Beschuldigten behandelt. Allerdings meint der BGHe, daß von sachfremden Erwägungen gespeiste und daher willkürliche Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden, wie etwa die mißbräuchliche Vorführung eines Beschuldigten als Zeuge, unbeachtlich seien und deshalb dem Betroffenen seinen Charakter als Beschuldigter nidlt zu nehmen vermöchten. Doch fällt die Begründung dafür schwer, wenn man als alleinigen Ausgangspunkt einen pflichtgemäßen Willensakt der Strafverfolgungsbehörde anerkenntllS ; und so bleibt denn auch BGHSt 10, 12 eine nähere Begründung scquldig. Die zweite Schwäche dieser Auffassung liegt darin, daß der Anfangszeitpunkt der Rechts- und Pflichtenstellung des Beschuldigten dem subjektiven Empfinden des Ermittlungsbeamten anheimgestellt wird. Das ergibt eine gewisse Rechtsunsicherheit, zumal nicht jede ungleichmäßige Verfolgungspraxis zu einem durch § 346 StGB sanktionierten Verstoß gegen das Legalitätsprinzip führt. Aus diesen Gründen ist versucht worden, den Willensakt der Strafverfolgungsbehörde transparent zu machen, indem er an objektiven Kriterien orientiert wird". Danach soll die "Lage des Verfahrens", der "Stand der Ermittlungen" usw., also objektive Gegebenheiten, über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft entscheidenlltll• Liegt hiernach aus der Sicht eines objektiven Betrachters ein hinreichend konkretisierter Verdacht vor, so rückt der Betroffene "automatisch" in die Beschuldigten411 Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 11; von Hindte, S.18; Eb. Schmidt, L-K I (2), Rn 57; L-K II, vor § 158 Rn 9; RGSt 56, 341 f.; Jung, S.74. 60 Jung, S. 74. 51 NJW 1969, 779. 5! BGHSt 10, 12. 53 Bedenken deshalb auch bei v. Gerlach NJW 1969, 779 Fn 40. 54 So insbesondere v. Gerlach NJW 1969, 779 f.; ders. JR 1969, 150; ähnlich schon Thomä, S. 68 f.; vgl. auch Geerds GA 1965, 321 f.; Schuhmann StBp 1973, 101. 65 v. Gerlach NJW 1969, 779.

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stellung ein511• Gegen diese Auffassung sind jedoch ebenfalls Bedenken anzumelden. Es bleibt unklar, von welcher Beschaffenheit die Lage des Verfahrens und der Stand der Ermittlungen sein muß, um die Beschuldigteneigenschaft begründen zu können. Das gilt insbesondere für den Fall, daß von tatbezogenen zu täterbezogenen Ermittlungen übergegangen wird. Außerdem bleibt unklar, wie der objektive Betrachter aussehen soll&1, der über das Vorliegen des notwendigen, aber auch genügenden Fortschritts in den Ermittlungen entscheidet. Solange der Beginn der Beschuldigteneigenschaft zwingend davon abhängt, daß das Verfahren gegen den Täter betrieben wird, muß das Verhalten der Strafverfolgungsbehörde ausschlaggebend bleiben. Ist sie untätig, so gibt es keinen Beschuldigten. Ermittelt sie rein sachbezogen, so fehlt die Richtung auf den Betroffenen. Niemand kann daher "automatisch" zum Beschuldigten werdenlS• Auf der anderen Seite ist natürlich auch richtig, daß ein Willensakt, bezogen auf eine ausdrückliche "Beschuldigung" oder konkrete "Bezichtigung" nicht vorzuliegen braucht6t • Der Willensakt soll aber für die Richtung des Verfahrens gegen den Täter unentbehrlich sein60 , wodurch die Nachprüfbarkeit dieser Entscheidung ungeheuer erschwert und die Rechtsstellung des Beschuldigten beeinträchtigt werden kann. Mangelnde Transparenz der Entscheidung und eine nicht zu leugnende Umgehungsgefahr auf der einen Seite sowie die kaum nachvollziehbare, an der Lage des Verfahrens orientierte "Automatik" in der Begründung der Beschuldigtenstellung lassen daher beide Wege als nicht gangbar erscheinen .

.1. Der Rechtsgedanke des § 432 I AO Wenn das Strafprozeßrecht auch keine unmittelbaren Anhaltspunkte für den Beginn des Status eines Beschuldigten hergibt, so enthält die Abgabenordnung in § 432 I A061 einen Hinweis des Gesetzgebers darauf, wann der für die Beschuldigtenstellung konstitutive Akt der Strafverfolgung eingeleitet ist. "Das Strafverfahren ist eingeleitet, sobald das Finanzamt, die Polizei, die Staatsanwaltschaft, einer ihrer Hilfsbeamten oder der Strafrichter eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abv. Gerlach, S. 779 f. Artzt Krim. 1970,381; Kleinknecht, StPO, Einl. 3 B; Jung, S. 74; v. Hindte, S. 36 f.; Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 11. 58 So zutreffend Artzt Krim. 1970, 381; Kleinknecht StPO, Ein!. 3 B; Jung, S. 74; v. Hindte, S. 37; Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 11 f. 58 Steinke Krim. 1972, 290; doch dürfte die Auffassung von Gerlachs weiter gehen, als Steinke meint. 80 Kleinknecht, StPO, Ein!. 3 B. 81 Fassung des AO StrafÄndG vom 10. 8. 1967, BGBI I, S. 877 = § 397 I AO 1977 (BGBI I 1976, S. 613). 56

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zielt, gegen jemanden wegen eines Steuervergehens strafrechtlich vorzugehen." Es liegt daher nahe, den in § 432 I AO zum Ausdruck gekommenen Gedanken des Gesetzgebers für das allgemeine Strafverfahren nutzbar zu machen4l2 • Ausgangspunkt ist der Begriff der "Maßnahme". Darunter fällt alles das, ., was die Behörden in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gegen den Bürger unternehmen können"63. Auf eine bestimmte Form kommt es nicht an; auch konkludentes Verhalten kann ausreichen4l4 • Das Abstellen auf eine Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden bietet den Vorteil, daß es nicht auf die jeweilige Lage des Verfahrens oder den Stand der Ermittlungen ankommt; niemand wird daher "automatisch" zum Beschuldigten, sondern nur, wenn gegen jemanden eine Maßnahme wegen einer strafbaren Handlung getroffen wird65• Bleibt die Behörde untätig, so gibt es keinen Beschuldigten. Auch die normale Aufklärungstätigkeit der Strafverfolgungsorgane reicht für den Maßnahmebegriff ebensowenig aus wie Ermittlungen gegen Unbekannt". Hinzukommen muß noch die Richtung gegen den Betroffenen. Als Einschränkung des weiten Maßnahmebegriffs fungiert das Merkmal der Erkennbarkeit87• "Maßnahmen" i. S. d. § 432 I AO liegen erst dann vor, wenn sie objektiv auf eine Strafverfolgung abzielen88• Dadurch wird verhindert, daß es allein auf die Willensentschließung der Strafverfolgungsorgane ankommt89• Diese wird in den meisten Fällen vorliegen, doch ist das Strafverfahren auch dann eingeleitet, wenn zwar objektiv Strafverfolgungsmaßnahmen vorliegen, doch der Beamte eine entsprechende Willensrichtung nicht gehabt hat oder nicht gehabt ZtI. haben behauptet. Nun könnte man einwenden, daß mit dem Merkmal der objektiv zu bestimmenden "Erkennbarkeit" sachlich nicht viel gewonnen ist. Gleichwohl besteht aber ein gewichtiger Unterschied zu der oben dargestellten "objektiven Auffassung". Die Erkennbarkeit bezieht sich nämlich weder auf die Lage des Verfahrens oder den Stand der Ermittlungen noch auf die Konkretisierung des (notwendig auch 82 Ein erster Ansatz dazu bei Zipf, S.108; ähnlich Barske / Gapp, S.108; Göhler, OWiG, vor § 59 Anm. 3, stellt für das Bußgeldverfahren (Beginn des Betroffenenstatus) ebenfalls auf § 432 I AO ab. 83 Kohlmann, V, Rn 60. 84 Zur Streitfrage, ob es sich dabei um eine prozessuale Willenserklärung handelt, vgl. Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 11. 05 Ein Abstellen auf das Handeln der Strafverfolgungsorgane findet sich schon bei Thomä, S. 68, vgl. auch Artzt Krim. 1970, 382. 88 Barske / Gapp, S. 108. 87 Dazu ausführlich Kohlmann, V, Rn 61 ff. 88 Kohlmann, V, Rn 63. 89 Auch die englischen Judges Rules stellen nicht mehr auf den Willensentschluß des Verfolgungsbeamten ab; vgl. auch Devlin, S. 29 f. und Eser ZStW 79, 565 ff. (590 Fn 96).

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subjektiven) Verdachts, sondern auf eine konkrete Strafverfolgungsmaßnahme70 • Diese Feststellung ist aber weitaus leichter zu treffen. Auch der allerdings strafrechtliche Begriff der "Einleitung einer Untersuchung" i. S. d. §§ 15811, 16311 StGB und der §§ 343, 344 a. F. StGB wurde seit RGSt 21,8 (9) stets dahin gedeutet, daß entscheidend das Einschreiten der zuständigen Behörde sei, das in der äußerlich erkennbaren Absicht erfolgt, ein Strafverfahren gegen den Verdächtigen herbeizuführen 71 • Trotz verbleibender Schwierigkeiten 7l! ist die Anwendung des in § 432 I AO enthaltenen Rechtsgedankens vor allem auch praktikabel. Bloße innerdienstliche Mitteilungen oder die Prüfung einer Selbstanzeige stellen daher ebensowenig eine Einleitung der Ermittlungen dar wie ein bloßer Aktenvermerk über bestehende Verdachtsmomente73• Etwas anderes gilt aber für die übersendung von Akten bezüglich eines Täters und zur Verfolgung einer bestimmten Tat74 • Denn diese Maßnahme ist erkennbar gegen den Täter gerichtet. Führt die Staatsanwaltschaft dem Ermittlungsrichter einen zu Beschuldigenden mißbräuchlich als Zeugen vor7li, obwohl ein konkreter Tatverdacht i. S. d. §§ 160 I, 152 11 StPO gegeben ist, so stellt auch dies eine Maßnahme dar, die erkennbar darauf abzielt, gegen ihn wegen der Tat strafrechtlich vorzugehen76, indem er rechtswidrig dem Zeugniszwang ausgesetzt werden soll. Auch im Rahmen der Vernehmung eines (möglicherweise schon nach §§ 55 11 i. V. m. 163 a V StPO belehrten) Zeugen kann die Beschuldigteneigenschaft begründet werden, wenn die Vernehmung sich erkennbar darauf konzentriert, den Betroffenen zu überführen und seine Tatbeteiligung festzustellen 77• Trotz der Praktikabilität des Ergebnisses könnten jedoch Bedenken gegen die Anwendung des § 432 I AO im allgemeinen Strafverfahren bestehen. Wie aus der Vorschrift des § 420 AO (= § 385 AO 1977) hervorgeht, stellen die stra!verfahrensrechtlichen Normen der AO eine Sonderregelung zur StPO dar78• Allerdings hat das AO-StrafÄndG auch hier bewirkt, daß das Verfahren der AO an das der StPO angeglichen wurde, so daß die AO nicht mehr wie früher in sich abgeschlossen ist, s. oben Fn 67. RGSt 62, 303 (306); ebenso Dreher, StGB, § 158 Anm. 2 A; Schönke I Schröder, StGB, § 158 Rn 9; Willms, LK, § 158 Rn 11. 72 Im Bereich neutraler Maßnahmen, vgl. Kohlmann, V Rn 63 i. V. m. Rn 65: Hübner, H-H-Sp, § 432 AO Rn 3. 73 RGSt 46, 237 (250); RGSt 56, 341 (342). 74 Vgl. auch Artzt Krim. 1970, 383; Kohlmann, V, Rn 65. 75 Vgl. BGHSt 10, 12. 76 Für Zeugenvernehmungen als Maßnahme, vgl. Kohlmann, Rn 62, 65. 77 Vgl. Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 13. 78 Hübner, H-H-Sp, § 420 AO, Vorbem.; Koch, S.44. 70 71

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sondern auf der StPO aufbaut79 • Soweit die AO eine Materie nicht regelt, greift ergänzend die StPO ein. Aus dieser Sachlage könnte man nun folgern, daß ein Schluß von der lex specialis des § 432 I AO auf die StPO, die ja bekanntlich unmittelbar nichts über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft geschweige denn über den Begriff des Beschuldigten aussagt, nicht möglich ist. Dieser Schluß kann aber nur dann für unzulässig gehalten werden, wenn die Besonderheiten des Steuerstrafverfahrens eine Anwendung des Rechtsgedankens des § 432 I AO verbieten. Sinn des § 432 I AO ist es zunächstßO, die strafbefreiende Wirkung der Selbstanzeige auszuschließen, die nämlich nach Bekanntgabe der Einleitung des Strafverfahrens nicht mehr möglich ist. Die wichtigste Wirkung liegt aber in § 428 I Halbs. 2 AO: von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens ab darf das Finanzamt nicht mehr die Zwangsmittel der §§ 202 AO i. V. m. §§ 170, 171 AO anwenden, um den Beschuldigten zu einer Aussage oder zur Vorlage von Beweismitteln zu zwingen81 • Gemäß § 432 111 AO (= § 397 IIIAO 1977) ist ihm die Einleitung des Strafverfahrens spätestens dann mitzuteilen, wenn er zu einer Aussage oder zur Vorlage von Unterlagen aufgefordert wird. Er ist auch gemäß § 136 StPO i. V. m. § 433 AO über seine Rechte zu belehren8!. Diese Regelung erklärt sich daraus, daß der Steuerpflichtige zum Beschuldigten i. S. d. StPO geworden istsS und daher über alle Rechte, die ihm die StPO gewährt, verfügt. Er muß nach der AO zu seiner eigenen Besteuerung, nicht jedoch zu seiner eigenen Überführung beitragenM. Wegen der Parallelität von Besteuenmgsverfahren und Strafverfahren war es im Abgabenrecht besonders wichtig, den Zeitpunkt deutlich werden zu lassen, von dem ab der Steuerpflichtige Beschuldigter wird und nur noch den Regelungen der StPO unterliegt {§§ 136, 163 a IV, 243 IV StPO)85. Viele Maßnahmen des Finanzamtes sind nämlich neutral und lassen nicht erkennen, ob sie im Besteuerungsoder Strafverfahren erfolgen86• Mögen diese Konkurrenzprobleme im allgemeinen Strafverfahren auch nicht so bedeutend seinST, so ist doch deutlich geworden, daß § 432 I AO ein Problem zu bewältigen versucht, das allgemeiner Natur ist: ab wann jemand zum Beschuldigten i. S. d. Koch, S. 44. Zu den übrigen Wirkungen vgl. Kohlmann, V, Rn 70. 81 Hübner, § 432 Rn 1 i. V. m. Rn 8; Koch, S.70; Kleinknecht, StPO, § 160 Anm. 1 B b; Kohlmann, V, Rn 69; zur neuen Regelung vgl. § 393 AO 1977. 82 Vgl. Koch, S.48. 83 Hübner, § 432 Rn 1, Rn 7; Kohlmann, V, Rn 69. 84 BT-Drucks V/1812, S.32 zu E § 418 AO; Hübner, H-H-Sp, § 428 AO Rn 10ff. 86 Kleinknecht, StpO, § 160 Anm.l B b; Koch, S.58. 88 Paulick, Stock-Festschrift, S. 217 ff. (226); Kohlmann, V, Rn 50. 87 Vgl. dazu auch Paulick, S.226. 79

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A. Die Beweisfunktion des Beschuldigten

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Strafverfahrensrechts wird mit der Folge, daß seine steuerlichen Mitwirkungspftichten (AO) oder seine Zeugnispfticht (StPO) entfallen und ab wann er außerdem über seine Rechte gemäß §§ 136 I, 163 a IV, 243 IV StPO (§§ 420, 433 I AO) zu belehren ist. Hat der Gesetzgeber danach in § 432 I AO zwar aus Anlaß der Probleme des Steuerstrafverfahrens, so aber doch das allgemeine Problem des Beginns der Beschuldigteneigenschaft (mit-) geregelt, bestehen keine Bedenken mehr gegen die Übernahme des Rechtsgedankens der AO in die StPO. Beschuldigter ist also derjenige, der aufgrund konkreter Tatsachen (zureichende tatsächliche Anhaltspunkte, § 152 II StPO) einer Straftat verdächtig ist (§ 160 I StPO) und deshalb strafrechtlich verfolgt wird. Die Beschuldigteneigenschaft beginnt, wenn die Strafverfolgungsorgane Maßnahmen treffen, die erkennbar darauf abzielen, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen (§ 432 I AO)88. Sie endet mit der Einstellung des Verfahrens oder der Rechtskraft des Urteils. D. Der Beschuldigte als Beweismittel

1. Die Stellung des Beschuldigten innerhalb der Beweismittel

Der Beschuldigte, gegen den sich der Strafprozeß richtet, spielt noch heute eine wichtige Rolle als Erkenntnisquelle des Gerichts und damit als Beweismittel im weiteren Sinne. Dies hat zur Folge, daß er auch in großem Umfange ein Beweismittel gegen sich selbst ist. Die Tatsache, daß der Beschuldigte in den Dienst der Wahrheitsfindung gestellt werden kann, besagt aber noch nicht, daß er unter die Zahl der strafprozeßrechtlichen Beweismittel fällt und daher auch wie diese zu behandeln ist. Als Beweismittel kennt die StPO nämlich nur Zeugen (§§ 48 ff. StPO), Sachverständige (§§ 72 ff. StPO), Augenschein (-sobjekte, §§ 86 ff. StPO) und Urkunden (§§ 249 ff. StPO). Beweismittel können hiernach Personen oder Sachen sein. Es ist somit zwischen Personalbeweis und Sachbeweis zu unterscheideJl89 • Innerhalb des Personalbeweises kann danach differenziert werden, ob die Beweisperson eigene Wahrnehmungen, Empfindungen und eigenes Wissen mitteilt (Aussage) oder ob dritte Personen ohne Mitwirkung der Beweisperson Tatsachen an dieser feststellen 90 • Im ersten Fall handelt es sich um den "subjektiven Personalbeweis", der Mensch ist "aktives Beweismittel"; im zweiten Fall handelt es sich um den "objektiven Personalbeweis " , bei dem der 88 De lege ferenda empfiehlt sich ein Aktenvermerk wie in § 432 II AO. Diesem sollte aber wie in der AO (vgl. BT-Drucks V!1812, S.34) keine konstitutive Wirkung zukommen; s. a. Jung, S.74. 811 Zum Folgenden Peters, S. 272 H.; vgl. auch John, StPO I, S. 920 H.; Castringius, S. 4 fi. 110 Peters, S.272/273; s. a. OLG Hamm MDR 1974, 1036 m. N.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

Mensch als "passives Beweismittel" erscheint91 • Innerhalb des Beweissystems kommt der Beschuldigte daher von vornherein nur als Gegenstand sowohl des subjektiven als auch des objektiven Personalbeweises in Betracht. Er kann nämlich Aussageperson sein, und er kann auch als Gegenstand des Augenscheins in Erscheinung treten. Trotz dieser vorerst rein begrifflichen Klassifizierung fällt der Beschuldigte nicht unter die förmlichen Beweismittel der StPO. Er kann gleichzeitig weder Zeuge, noch Sachverständiger sein. Die StPO trennt außerdem in § 244 I StPO klar zwischen der Vernehmung des Angeklagten zur Sache und der Beweisaufnahme. Dieselbe Trennung zwischen dem Angeklagten und den Beweismitteln findet sich in § 243 I S. 2 StPO. Gemäß § 238 I StPO erfolgt die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises durch den Vorsitzenden. Aufgrund dieser allerdings eher formalen Trennung, die das Gesetz macht, hat das Reichsgericht 92 stets angenommen, daß die Vernehmung des Angeklagten keinen Teil der Beweisaufnahme bilde; der Angeklagte dürfe nicht zum Gegenstand einer förmlichen Beweisaufnahme gemacht werden und sei daher kein Beweismittel i. S. d. StP093. Im Vergleich zur Aussage des Zeugen ist allerdings auffällig, daß die Aussage des Beschuldigten nicht erzwungen werden kann (§ 136 I S. 2 StPO), während die Verweigerung des Zeugnisses oder Eides im Wege der Ordnungsstrafe in Geld oder der Haftstrafe geahndet wird, § 70 StPO. Außerdem soll die Vernehmung des Beschuldigten in erster Linie Verteidigungszwecken und nicht der Ermittlung der Wahrheit dienen, § 136 II StPO. Trotz dieser Verschiedenheit zwischen Zeugenaussage und Beschuldigtenvernehmung hat aber auch das Reichsgericht94 zugeben müssen, daß die Aussage und das sonstige Verhalten des Angeklagten Beweistatsachen sind und damit der aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfenden freien richterlichen Beweiswürdigung und überzeugungsbildung zugänglich sind". Wenn aber das Auftreten des Beschuldigten in der Hauptverhandlung und seine Aussage Gegenstand der freien richterlichen Beweiswürdigung i. S. d. § 261 StPO sind, so ist es gerechtfertigt, die Vernehmung des Angeklagten als Beweisaufnahme zwar nicht im formellen, wohl aber im materiellen Sinne anzusehen-. Der BePeters, S. 272 f. Zuerst RG Rspr 5 (1883), 784 ff. (785). 88 RGSt 48, 247 ff. (248/249). 84 RG Rspr 5 (1883), 785; RGSt 48, 249. 85 Dies mag zunächst als Grundsatz gelten, ohne Rücksicht auf die Frage, welche Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung gezogen werden müssen. 88 Bauer S.8; Bennecke / Beling, S.373; Castringius, S.6; Gerland, S.237; Henkel, S.172; Kern / Roxin, S.117; Kleinknecht, StPO, § 244 Anm.1 A; Mezger ZStW 40, 152 ff. (154); Sax, KMR, vor § 48 Anm. 1 d, § 244 Anm. 1; Eb. Schmidt, L-K II, vor § 244, Rn 8; Zipf, S.176/177. 91

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A. Die Beweisfunktion des Beschuldigten

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schuldigte liefert also keinen Beweis i. S. d. förmlichen Beweismittel der StPO (§§ 243,244 StPO): dennoch erbringt er Beweis im materiellen Sinne (§ 261 StPO).

2. Der Beschuldigte als Augenscheinsobjekt und als Aussageperson Soweit der Körper des Beschuldigten als Gegenstand des Augenscheinsbeweises dient97 , ist der Beschuldigte ein echtes Beweismittel im teC'hnischen Sinne. Ausweislich der §§ 81, 81 a, 81 b StPO kann der Beschuldigte sowohl psychisch als auch physisch untersucht werden, und es dürfen auch sonstige Identifizierungs- und erkennungsdienstliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden. Der Beschuldigte ist also, soweit die Beschaffenheit seines Körpers, seine Reaktionen und Fähigkeiten in Betracht kommen, ein echtes, vollen "objektiven Personalbeweis" erbringendes "passives" Beweismittel98• Zum Gegenstand des Augenscheins gehören aber nicht nur die körperlichen Reaktionen und Gegebenheiten des Beschuldigten, sondern auch seine sonstigen offen hervortretenden Ausdrucksbewegungen, die nicht Aussage- oder "Aussage-Surrogate" sind99 • Als solche kommen namentlich Ausdrucksbewegungen wie Erröten, Erbleichen, Stottern, Weinen, Zittern, Zähneklappern usw. in Betracht1OO • Allerdings verbietet § 136 a StPO die Erforschung des Unbewußten im Beschuldigten, etwa mittels eines Lügendetektors101 ; soweit aber körperlich-seelische Zustände ohne weiteres wahrnehmbar sind, erstreckt sich die freie richterliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO) auf sie102• Der Beschuldigte ist also Beweismittel insofern, als sein Körper zulässigerweise zum Gegenstand des Augenscheinbeweises gemacht wird und als sein gesamtes inner- und außerprozessuales Verhalten in Frage steht103 • Man mag ihn in dieser Hinsicht auch als "Untersuchungsobjekt" bezeichnen, wie dies gelegentlich geschieht104 , wenn man sich dabei bewußt bleibt, daß der Beschuldigte 17 Vgl. hierzu Henkel, S.172; Castringius, S. 5; Bauer S.10; Rinke, S.l ff.; Sarstedt, L-R, § 86 Anm. 5 f.; Sax, KMR vor § 72 Anm. 3 a; Eb. Schmidt, L-K H, § 86 Rn 5. 9S Kern / Roxin, S. 117; v. Hippel, S. 418 Anm. 1; Castringius, S. 5; Gerland, S.135. 10 Walder, S. 61; BGHSt 5, 332 ff. (335). 100 Walder, S. 61; Bauer S. 10; Castringius, S.7 faßt die Ausdrucksbewegungen als Bestandteil der Einlassung des Beschuldigten, also als "Aussage i. w. S.", auf; dagegen schon Walder, S.6I. 101 Vgl. statt aller BGHSt 5, 332 ff. (336). 102 BGHSt 5, 335; Sax, KMR vor § 48 Anm.1 d. 103 Gerland, S.135; BGHSt 1, 103; BGHSt 1, 105; Sick, S.37; Stock, S.84; Glaser, Handbuch I, S. 599. 104 Walder, S.57; Gerland, S.135; Rosenfeld, S. 121 f.; Kern / Roxin, S.79 und Henkel, S. 172 sprechen vom Beschuldigten als "Objekt staatlichen Zwanges"; dagegen aber entschieden Eb. Schmidt, L-K I, Rn 98 ff.

3 Rogall

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

Prozeßsubjekt, d. h. Verfahrensbeteiligter ist, dem alle verfassungsmäßigen Rechte zustehen und dessen Personenwürde (Art. 1 GG) auch durch ein Strafverfahren keine Einbuße erleiden darfl05• Aber auch soweit der Täter eigene Wahrnehmungen mitteilt, also "aussagt", (im weiteren Sinne) kann nur er selbst das Beweismittel sein, wenn seine Vernehmung Beweisaufnahme i. w. S. ist und als Beweismittel immer nur Personen oder Sachen in Frage kommen u18 • Abweichend hiervon wird teilweise die "Aussage des Beschuldigten" als Beweismittel angesehenl07 • Teilweise werden auch beide Bezeichnungen gebrauchtl08 • Die Aussage ist an sich aber nur Beweisaufnahme, während Beweismittel stets die Person, mithin der Beschuldigte selbst als Aussageperson istl09 • Der Beschuldigte selbst oder sein Verhalten ist aber auch in sonstiger Beziehung für den Schuldbeweis von erheblicher Bedeutung, so daß er als Beweismittel gegen sich selbst erscheint. Er muß z. B. die Gegenüberstellung mit Zeugen dulden, § 58 II StPO, wodurch er als Täter oder Tatverdächtiger identifiziert werden kann. Gemäß § 100 a StPO kann in bestimmten, näher bezeichneten Fällen der Fernmeldeverkehr des Beschuldigten überwacht und auf Tonträger aufgenommen werden. Das Wort des Beschuldigten zeugt also im Prozeß gegen ihn selbst. Schließlich kommt dem Geständnis des Beschuldigten, d. h. dem Zugestehen von Tatsachen, die für die Schuldfrage (und die Strafbemessung) erheblich sindllO , große Bedeutung zu. Soweit es glaubwürdig ist und vor Gericht oder außergerichtlich von einem Freigesprochenen abgelegt wird, bildet es einen Wiederaufnahmegrund zuungunsten des Angeklagten (§ 362 Nr.4 StPO). Soweit das Geständnis des Angeklagten in einem richterlichen Protokoll enthalten ist, kann dieses im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt und zum Zwecke der Beweisaufnahme über das Geständnis verlesen werden (§ 254 StPO)111. In allen diesen Fällen bildet also der Beschuldigte selbst, Peters, S.174; Zipf, S.56; BGHSt 14, 358 (364). So schon Bennecke / Beling, S.373/374; John, StPO I, S.920, 921. 107 Glaser, Beiträge, S. 312; ders., Handbuch I, S. 604; Rosenfeld, S.178, 179; v. LilienthaI, S.42; Ullmann, S.377, 378; Eb. Schmidt SJZ 1949, 449; ders. L-K, Rn 8 vor § 244; Sax, KMR, Anm. 1 d vor § 48. 108 Vgl. v. Kries, S.395/396; John, StPO I, S.920, 921; Mezger ZStW 40,154. 108 Castringius, S.5 Anm.4; Bennecke / Beling, S. 373 f.; John, StPO I, S.920; Sick, S.34; Stock, S.84; Henkel, S.172; Kern / Roxin, S.117; Sarstedt, L-R, § 136 Anm. 6; BGHSt 20, 298 (300). 110 RGSt 45, 197. 111 Darüber hinaus darf nach der Rechtsprechung (BGHSt 3, 149 ff.) dem Angeklagten auch ein nichtrichterliches Protokoll vorgehalten werden; kritisch hierzu Schroth ZStW 87, 103 ff. m. w. N. 106

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. seine Aussagen und sein Verhalten einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für die freie richterliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Ohne ihn ist die Führung des Schuldbeweises oft unmöglich oder sie wird doch nicht unbeträchtlich erschwert. Als Ergebnis läßt sich also feststellen, daß der Beschuldigte sowohl dann, wenn er aussagt1l2, als auch dann, wenn er zum Gegenstand des Augenscheinbeweises gemacht wird, selbst Beweismittel im materiellen Sinne (§ 261 StPO) und damit auch Beweismittel gegen sich selbst ist.

3. Zwangsmaßnahmen zur Sicherung der Beweisfunktion des Beschuldigten Zur Sicherung eines ordnungsmäßigen Prozeßablaufs ist der Beschuldigte einer Vielzahl von vorprozessualen und prozessualen Beschränkungen und Zwangsmaßnahmen ausgesetztU3, die seine Beweisfunktion garantieren sollen.

Die persönliche Freiheit des Beschuldigten (Art. 2 n S. 2 GG) wird am weitestgehenden durch die Verhaftung und die vorläufige Festnahme (§§ 112 ff., 127 StPO) berührt. Gemäß § 112 StPO ist die Anordnung der Untersuchungshaft zulässig, wenn der Beschuldigte der Tat dringend verdächtig U4 ist und ein Haftgrund besteht. Haftgründe bilden u. a. die Tatbestände der Flucht- und der Verdunkelungsgefahr (§ 112 II Nr.2, 3 StPO). Danach kann der Beschuldigte in Haft genommen werden, wenn zu besorgen ist, daß er sich dem Strafverfahren entziehen werde oder wenn sich aus dem Verhalten des Beschuldigten der dringende Verdacht ergibt, er werde Beweismittel beeinträchtigen oder in unlauterer Weise auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige einwirken. Hieraus folgt mit aller Deutlichkeit, daß der Beschuldigte nicht nur daran gehindert werden kann, sich dem Verfahren rein körperlich zu entziehen, sondern auch die Ermittlung der Wahrheit zu vereiteln. Gleiches läßt sich für die vorläufige Festnahme sagen (§ 127 StPO). Auch hier ist es ersichtlich das Anliegen des Gesetzes, den Beschuldigten körperlich-gegenständlich für das Verfahren sicherzustellenl15• Die gesetzliche Sicherung der Beweisfunktion des Beschuldigten wird schließlich vor allem dadurch verdeutlicht, daß der Beschuldigte zum 112 Schweigt er, so kann er immer noch objektiven Personalbeweis erbringen, so richtig Bauer, S. 11 Fn 3. 118 Hierzu Kern, GR Ir, S. 51 ff. (76 ff.); zum Rechtszustand nach dem 1. 1. 1975, vgl. Riess JZ 1975, 265 ff. 114 Zum Begriff des dringenden Tatverdachts v. Hindte, S. 167 ff. 115 Vgl. Eb. Schmidt, L-K I, Rn 99.

:so

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

Zwecke einer Vernehmung vorgeführt werden kann. Nach bisherigem Rechtszustand war der Beschuldigte nur zum Erscheinen vor dem Richter verpflichtet (§§ 133 11, 134 I StPO)116. Aufgrund des 1. StVRG117 ist er nunmehr auch verpflichtet, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, widrigenfalls er vorgeführt werden kann (§§ 163 a 111, 161 a III, 133 ff. StPO). Er hat nur die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Vorführung nachträglich vom Landgericht nachprüfen zu lassen l18. Die Vorführung ist zulässig, obwohl der Beschuldigte ausweislich des § 136 I S. 2 StPO zu einer Aussage nicht gehalten ist. Die Androhung der Vorführung kann aber unterbleiben, wenn der Beschuldigte endgültig keine Aussage machen will119. In jedem Falle kann die Vorführung zur Vernehmung ihren guten Sinn darin haben, dem Beschuldigten den gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwurf zu eröffnen und ihm das rechtliche Gehör zu gewähren (§ 136 II StPO). Die Erscheinens- und Anwesenheitspflicht des Beschuldigten im Strafprozeß bezieht sich besonders auf die Hauptverhandlun~. Der Angeklagte kann hier ebenfalls vorgeführt werden (§§ 216, 230 II StPO). Ist der Angeklagte einmal erschienen, so darf er sich nicht aus der Verhandlung entfernen, woran er auch zwangsweise gehindert werden kann (§ 231 StPO). Eine Verpflichtung zur Anwesenheit besteht auch für das Berufungsverfahren (§§ 329, 330 StPO). Dabei ist zu beachten, daß sich die Erscheinungspflicht des Beschuldigten nicht allein auf seine körperliche Anwesenheit bezieht, sondern auch seine Verhandlungsfähigkeit120 umfaßtl21 . Nach dem 1. Januar 1975 folgt dies bereits auf dem neuen § 231 a StPOl22, wonach es unter dort näher bezeichneten Voraussetzungen zulässig ist, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, wenn dieser seine Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführt hat. Daß die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung auch äußerlich ordnungsgemäß ist, wird durch die §§ 177, 178 GVG12l1 116 Arg. e § 135 StPO; vgl. Peters, S.175; Kern / Roxin (12), S.118; Roxin, PdW (5), S.44; a. A. aber Henkel, S. 223. 117 Vom 9. 12. 1974 (BGBl I, S. 3393). 118 Vgl. Kern / Roxin, S. 117. 119 Kleinknecht, StPO (31), § 133 Anm.3; nach LG Köln NJW 1967, 1873 verstößt eine Vorführung oder Ladung mit Vorführungsandrohung in diesem Falle gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dagegen spricht jedoch, daß die §§ 133 ff., 163 a III StPO damit praktisch gegenstandslos gemacht werden, vgl. Roxin, PdW (5) S.44; Eb. Schmidt JZ 1968, 354 ff. 120 Zum Begriff Henkel, S.233; Peters, S.220; Kern / Roxin, S.99; Zipf, S.86. Er bezeichnet herkömmlicherweise die tatsächliche Fähigkeit des Verfahrensbeteiligten, dem Verfahrensgang zu folgen und seine Rechte wahrzunehmen. 121 Vgl. BGHSt 23, 331 (334); Kleinknecht, StPO, § 329 Anm.4. 122 Vgl. hierzu Riess JZ 1975, 268 ff. 123 Vom 27.1.1877 i. d. F. der Gesetze vom 20.12.1974 (BGBl I, 3651 und 3686).

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sichergestellt. Der neue § 231 b StP01Z4 ermöglicht dementsprechend die Verhandlung ohne den Angeklagten, wenn sich dieser ordnungswidrig benimmt und dadurch den Ablauf der Hauptverhandlung schwer~ wiegend beeinträchtigt. Der Beschuldigte ist aber auch sonst Adressat staatlichen Zwanges, so etwa bei Beschlagnahme (§§ 94 If. StPO) und Durchsuchung (§ 102 StPO), die ihn in seiner Verfügungsfreiheit über Eigentum und Wohnung beeinträchtigenl2S• Die Zusammenschau der prozessualen Vorschriften, die die Stellung des Beschuldigten regeln, zeigt also deutlich, daß er nicht nur Beweismittel ist, sondern daß seine Beweisfunktion auch zwangsweise gesichert werden kann. Insofern ist er aber lediglich "passiv Beteiligter"1211. Eine Verpflichtung, zur eigenen Überführung tätig zu werden, enthalten die untersuchten Vorschriften nicht.

4. Der Schutz der Beweisfunktion des Beschuldigten durch materielles Strafrecht Der Beschuldigte unterliegt wie jeder andere Bürger den Normen des allgemeinen Strafrechts. Das gilt völlig unabhängig von seiner Stellung als Beschuldigter und ist an sich selbstverständlich1!7. Eine andere Frage ist es allerdings, ob nicht die prozessuale Lage als Beschuldigter der materiell-rechtlichen Strafbarkeit eine Grenze setzt. Auszugehen ist davon, daß der Staat zur Realisierung seines Strafanspruchs nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist (§ 152 II StPO, Art. 20 III GG). Strafverfolgung und Strafe, sofern diese das Ergebnis eines justizförmigen, rechtsstaatlichen Verfahrens ist, sind daher von der Rechtsordnung gewollte und rechtmäßige Folgen der Straftatl28 , die der Beschuldigte zu dulden hat1 29 • Er darf daher grundsätzlich die staatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen gegen ihn nicht inhibieren. Das Trüben von Beweismitteln kann etwa als Urkundendelikt (§§ 267 ff., 271, 274 StGB) strafbar sein. Eine unzulässige Einwirkung auf Zeugen kann eine Strafbarkeit nach den §§ 26, 153 ff. oder § 240 StGB begründen. Lügnerische Behauptungen, die zu einer Schädigung fremden Vermögens führen, können einen Betrug (§ 263 StGB) darstellenl30 • So ge124 Vgl. Riess JZ 1975, 271. 125 Vgl. Eb. Schmidt, L-K I, Rn 99; Kern, GR H, S. 76 ff. 126 Kern / Roxin, S. 81. 127 Höra, S.75 Fn 226; für Straftaten in der Sitzung vgl. § 183 GVG! 128 Zum Ganzen Ulsenheimer GA 1972, 1 ff. (24 f.) m. w. N.; Rudolphi, SK StGB, vor § 13 Rn 33; auch Höra, S. 76 Fn 230. 129 Deshalb ist auch der unschuldig, aber rechtskräftig Verurteilte nicht zur Notwehr (§ 32 StGB) gegenüber freiheitsentziehenden Maßnahmen berechtigt. Ihm verbleibt nur die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens. 130 Zu den übrigen in Betracht kommenden Delikten Walder, S. 87 ff.

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sehen ist es sicherlich richtig, davon zu sprechen, daß es einen "Rechtfertigungsgrund kraft prozessualer Lage" nicht gebel3l • Der Beschuldigte ist duldungspflichtig; er trägt das Risiko des Strafverfahrens, und in den Rechtskreis Dritter darf er nicht eingreifen, wenn er sich nicht strafbar machen will. Eine Einschränkung dieser an sich lückenlosen Unterwerfung unter die Normen des allgemeinen Strafrechts besteht allerdings bei Begünstigung und Strafvereitelung 132 (§§ 257, 258 StGB). Die schlichte Selbstbegünstigung ist nämlich schon tatbestandlich in den §§ 257, 258 StGB nicht erfaßtm . Der Grundsatz der Straflosigkeit der eigenen Strafvereitelung greift sogar dann durch, wenn einem anderen Beistand in der Absicht geleistet wird, sich selbst zu begünstigen. § 258 Abs. 5 StGB bestimmt, daß wegen Strafvereitelung nicht bestraft wird, "wer durch die Tat zugleich ganz oder zum Teil vereiteln will, daß er selbst bestraft oder einer Maßnahme unterworfen wird oder daß eine gegen ihn verhängte Strafe oder Maßnahme vollstreckt wird". Durch diese Gesetzesfassung sollte der Grundsatz der Straflosigkeit eigener Strafvereitelung klargestellt werdenm. Auch die Anstiftung Dritter zur (eigenen) Strafvereitelung (sog. "mittelbare Selbstbegünstigung") ist im Gegensatz zur früheren Rechtslage135 straffrei gestellt worden, um der notstandsähnlichen Lage des Täters Rechnung zu tragen138• Etwas anderes gilt jedoch bei der (sachlichen) Begünstigung. Hier ist derjenige strafbar, "der einen an der Vortat Unbeteiligten zur Begünstigung anstiftet" (§ 257 Irr S. 2 StGB). Es fehlt nämlich an der notstands ähnlichen Lage des Täters137• Diese weitgehende Straflosigkeit der Selbstbegünstigung wirkt sich natürlich auch dann aus, wenn das Streben nach Strafvereitelung notwendigerweise die geschützte Rechtssphäre eines Dritten berührt. Dies ist z. B. bei der falschen Verdächtigung (§ 164 StGB) der Fall. Bestreitet der Beschuldigte den Tatvorwurf oder leugnet er seine Täterschaft, so ist er nicht nach § 164 I StGB strafbar, auch wenn daHöra, S. 76. i. d. F. des Art. 19 EGStGB vom 2.3. 1974, BGBI I, S. 469 ff. 131 Zu § 257 a. F. statt aller BGHSt 17, 236 (237) m. w. N.; zum jetzigen Rechtszustand vgl. BR-Drucks 1172, S. 239. 134 BR-Drucks 1172, S. 240. 135 RGSt 60, 346 (348); BGHSt 5, 75 (81); zur Begründung wurde angeführt, daß das "straflose Streben nach Strafvereitelung seine Grenze an dem Verbot der Betätigung durch Begehung, Veranlassung oder Unterstützung weiterer, für sich bestehender Straftaten finde". s. auch BGH NJW 1971, 525 (526 a.E.); abw. RGSt 57, 417 (418); BGHSt 14, 172 (174); zum damaligen Zustand eingehend Ruß, L-K, § 257 a. F. Rn 33 i. V. m. Rn 1. 131 BR-Drucks 1172, S.240. 137 BR-Drucks 1172, S. 238. 131

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durch zwangsläufig der Verdacht auf einen Dritten fällt138. Der Grund der Straflosigkeit wird darin erblickt, daß die Strafdrohung des § 164 StGB in Widerspruch zu § 136 StPO im Ergebnis eine Pflicht zur Selbstbezichtigung begründen würde1 39• Konsequenterweise wird man dem Beschuldigten dann auch gestatten müssen, auf die Folge seines Leugnens ausdrücklich hinzuweisen l40 • Die Grenze der Straflosigkeit wird aber erreicht, wenn der Beschuldigte aktiv vorgeht und wider besseres Wissen einen Dritten einer rechtswidrigen Tat verdächtigtlU. Erst dadurch wird der primäre Schutzzweck1C der Vorschrift, die Rechtspflege vor Irreleitung zu schützen, berührtl43• Die gleiche Grenze der Strafbarkeit durchläuft den § 145 d StGB (Vortäuschen einer Straftat). Auch hier erfüllt das bloße Leugnen der Täterschaft bzw. das Ablenken des Verdachts auf den "großen Unbekannten" nicht den Tatbestand des "Täuschens über die Person eines an einer rechtswidrigen Tat Beteiligten" (§ 145 d Nr.2 StGB), weil die Strafverfolgungsbehörden hier nicht unmittelbar irregeführt werden und der staatliche Machtapparat nicht überflüssigerweise in Anspruch genommen wird1". Ergreift der Beschuldigte aber die Initiative oder macht er ganz konkrete Angaben, so greift die Strafbarkeit wieder ein1". Es ist ihm nicht gestattet, den staatlichen Machtapparat ungerechtfertigterweise in Bewegung zu setzen, auch wenn dies zum Zwecke der Selbstbegünstigung geschieht l4e • Ebenso erfüllt auch ein falsches Geständnis den Tatbestand (§ 145 d Nr. 1 StGB}147. Bei der Beleidigung (§ 185 StGB) und der Verleumdung (§ 187 StGB) taucht ebenfalls die Frage auf, ob nicht der vom Angeklagten verfolgte 138 Ulsenheimer GA 1972, 21; OLG Hamm VRS 28, 428; VRS 32, 441 (442); Walder, S. 90. 130 Herdegen, L-K, § 164 Rn 7; OLG Celle NJW 1964, 733 (zu § 145 d StGB); OLG Hamm NJW 1965, 62. 140 a. A. OLG Hamm NJW 1965, 62; dagegen mit Recht Herdegen, Rn 7; Schönke I Schröder, StGB, § 164 Rn 5. 141 BGHSt 18, 204 ff.; Walder, S. 90; Ulsenheimer, S. 21; Schönke I Schröder, StGB, § 164 Rn 5. 142 Zu den Schutzzwecken des § 164 StGB vgl. Dreher, StGB, § 164 Anm. 1. 143 Die falsche Verdächtigung kann auch während der Vernehmung des Beschuldigten erfolgen, vgl. Schönke I Schröder, StGB, § 164 Rn 25; unklar RGSt 8, 162 (163), wenn dort von den "Grenzen sachlicher Verteidigung" die Rede ist. Die Entscheidung läßt sich jedoch vielleicht auch im Sinne der hier vertretenen Auffassung interpretieren. 144 Ulsenheimer, S.20; Dreher, StGB, § 145 d Anm. 2 B; Höra, S.76; Schönke I Schröder, StGB, § 145 d Rn 10; vgl. auch Walder, S.92. 145 Dreher, StGB, § 145 d Anm. 2 B; BGHSt 6, 251 (255); LM Nr.2 zu § 145 d; KG VRS 22, 346; Schönke I Schröder, StGB, § 145 d Rn 10; Ulsenheimer, S. 20. 146 Kritisch zur Vereinbarkeit mit dem Gedanken der §§ 136, 55 StPO, OLG Oldenburg MDR 1949, 308; vgl. auch BGHSt 19, 305 (307). 147 Schönke I Schröder, StGB, § 145 d Rn 9 a; a. A. Walder, S.94.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

Verteidigungszweck einen Rechtfertigungsgrund aus dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) abgibt1 48• Das Reichsgericht hat in dieser Frage stets auf den Einzelfall abgestellt und ein Berufen auf § 193 StGB nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen149 • Hierher gehört zunächst der Fall, in dem der Angeklagte ihn belastende Tatsachen sachlich leugnet und dieses Leugnen gleichzeitig und notwendigerweise die positive Behauptung einer ehrenrührigen Tatsache in bezug auf einen Dritten, etwa den Vorwurf einer Falschaussage, darstellt150 • Das Gericht gelangt hier deshalb zur Straflosigkeit, weil das bloße Bestreiten des Tatvorwurfs dem Angeklagten erlaubt ist und sich die Verleumdung nur aus dem Sinnzusammenhang des Bestreitens ergibt151 • Der zweite Fall ist der des sich Wehrens gegen einen unbegründeten Verdacht durch Verletzung fremder Rechte1e. Auch hier kommt nach der Rechtsprechung § 193 StGB grundsätzlich in Betracht. Als Quintessenz läßt sich also feststellen, daß § 193 StGB dem Beschuldigten nur einen geringen Schutz bietet. Jedenfalls ist ihm ein "aktives" Eingreifen in den Beweisführungsvorgang durch falsche Verdächtigung oder Verleumdung verboten15'S. Ein solches Verhalten ist materiell rechtswidrig164 • Daher ist der Beschuldigte für ein entsprechendes Verhalten auch zivilrechtlich nach den §§ 823 I, 11, 824, 826 BGB voll verantwortlichl511 und muß Schadensersatz leisten. Wenn auch dem Beschuldigten, der in der Absicht der Abwendung eigener Strafverfolgung die Normen des Strafrechts übertritt, kein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht, so kann sein Verhalten doch im Wege der Strafmilderung Berücksichtigung finden. Dem strafrechtlich Verfolgten mag es nämlich im Einzelfall schwerer gewesen sein, sich an die Strafgesetze zu halten, als dem "normalen" Straftäter158• Nach der h. L. wirkt das Streben nach eigener Strafvereitelung, namentlich bei den Unterlassungsdelikten, im übrigen auch nicht als Entschuldigungs148 Dazu eingehend Herdegen, LK, § 187 Rn 4; Maurach, BT, S.157; Schönke / Schröder, StGB, § 193 Rn 4; Henkel, S.178. 149 Vgl. etwa RGSt 42, 441 (442); RG GA 46, 205; Herdegen, Rn 4; BGHSt 14, 48 (51); dagegen verneint z. B. Schönke / Schröder, StGB, § 193 Rn 4 m. w. N. generell die Anwendbarkeit des § 193 auf die Verleumdung (§ 187 StGB). 150 RGSt 5, 56 ff.; RG GA 46, 205 (206 f.); RGSt 48, 414 (415); RGSt 58, 39; Herdegen, LK, § 187 Rn 4; Schönke / Schröder, StGB, § 193 Rn 4. 151 RG GA 46, 206; RGSt 48, 415. 152 RGSt 34, 222 f.; RGSt 42, 441 (442); RG GA 46, 207; OLG Hamm NJW 1971, 853; Maurach, BT, S.157; Henkel, S.178 Fn 25. 153 Herdegen, Rn 4; RGSt 58, 38; RGSt 48, 415. 154 Ob auch prozessual unzulässig, ist eine andere Frage; dazu einstweilen Henkel, S.178 und Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 26. 155 Henkel, S.178; Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 28. m Vgl. Ulsenheimer GA 1972, 22 ff.; Rudolphi, SK StGB, vor § 13 Rn 33.

A. Die Beweisfunktion des Beschuldigten

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grund167• So kann die Verletzung einer Handlungspflicht nach überwiegender Auffassung nicht damit entschuldigt werden, daß ihre Erfüllung wegen der Gefahr eigener Strafverfolgung unzumutbar gewesen seP58. In einem gewissen Gegensatz zu dieser Auffassung steht allerdings die Regelung der §§ 138, 139 StGB. Bei der unterlassenen Verbrechens anzeige ist der Täter selbst nicht anzeigepflichtig159• Hinzu kommt, daß nach § 139 IU S. 1 StGB derjenige straffrei ist, der einen Angehörigen anzuzeigen unterläßt, wenn er sich ernsthaft bemüht hat, ihn von der, Tat abzuhalten oder den Erfolg abzuwenden. Von der Straffreiheit ausgenommen sind lediglich Delikte des Mordes, des Totschlags und des Völkermordes (§§ 211, 212, 220 a I Nr. 1 StGB). In diesen Fällen hat die Gefahr der eigenen oder der Angehörigen-Strafverfolgung offenbar doch die Wirkung einer Unzumutbarkeit des Handeins. Ein Widerspruch zur Auffassung der h. L. läßt sich somit nicht ganz verneinen160 • Ähnliche Probleme entstehen bei der VerkehrsunfaUflucht, § 142 StGB. Auch hier entfällt nach der h. L. grundsätzlich nicht die Zumutbarkeit des Verbleibens am Unfallort, wenn der Täter die Aufdeckung eigener Straftaten befürchten muß l51 • Im Ergebnis läßt sich mithin feststellen, daß die Beweisfunktion des Beschuldigten durch die allgemeinen Strafgesetze schon im Vorfeld des Strafprozesses stark geschützt wird. Geringe Ausnahmen gelten lediglich dann, wenn der Beschuldigte nicht aktiv in Drittrechte eingreift, sondern sich auf die schlichte, straflose Selbstbegünstigung beschränkt18%. Aus dieser Sicht heraus kann sich der Beschuldigte seiner Beweisfunktion nicht entziehen. Andererseits genießt er aber auch Privilegien, die seine Stellung als Beweismittel einschränken und ihn davor schützen, zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht zu werden.

167 Nachweise bei Rudolphi, SK StGB, vor § 13 Rn 31 ff. (33); Heimann / Trosien, LK, Einl. Rn 148 ff., 199 ff. 158 Ulsenheimer GA 1972, 1 ff., 22 ff.; Rudolphi, m. w. N.; zum Ganzen s. u. 3. Teil, B III 3. 159 Vgl. Dreher, StGB, § 1382 C b m. w. N.; Schönke / Schröder, StGB, § 138 Rn 14; Heimann / Trosien, LK, § 138 Rn 20; Schwarz, S. 106 ff. 160 Vgl. hierzu auch unten 3. Teil, B III 3. 161 BGHSt 9, 267 ff.; 24, 382 (386); Nachweise bei Dreher, § 142 Anm.38; Rüth, LK, § 142 Rn 26; Differenzierend Schönke / Schröder, StGB, § 142 Rn 33 a; vgl. ferner BGHZ 41, 325. 162 Zu den weiteren materiell-rechtlichen Auswirkungen des Selbstbegünstigungsgedankens vgl. Ulsenheimer GA 1972, 1 ff.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion des Beschuldigten I. Die Freiheit der AUBBage

1. Die gesetzlichen Bestimmungen Bei der ersten richterlichen Vernehmung ist der Beschuldigte gemäß § 136 I S. 2 StPO darauf hinzuweisen, "daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen ... ". In der Hauptverhandlung wird der Angeklagte nach Verlesung des Anklagesatzes darauf hingewiesen, "daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen" (§ 243 IV S. 1 StPO). Die Regelung des § 136 I S. 2 StPO gilt ausweislich der Vorschrüt des § 163 a StPO sowohl für die Vernehmung des Beschuldigten durch die Staatsanwaltschaft (Abs.3) als auch für diejenige durch Beamte des Polizeidienstes (Abs. 4 S. 2). Schließlich bestimmt § 115 III S.l StPO für die Vernehmung des verhafteten Beschuldigten, daß er "auf die ihn belastenden Umstände und sein Recht1 hinzuweisen (ist), sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen". Kraft der Verweisung in § 128 I S.2 StPO ist der festgenommene und vorgeführte Beschuldigte entsprechend § 115 III StPO zu vernehmen. Das Bild, das uns die StPO hinsichtlich der Beschuldigtenvernehmung gemäß §§ 115 III S. 1, 128 I S. 2, 136 I S. 2, 163 a III, IV S. 2, 243 IV S. 1 StPO bietet, ist dies, daß dem Beschuldigten durch prozessuale Normen die Möglichkeit! eingeräumt wird, zur Beschuldigung oder zur Anklage Stellung zu nehmen oder zur Sache nicht auszusagen, d. h. zu schweigen. Gegenüber einem erhobenen strafrechtlichen Vorwurf hat der Beschuldigte also "zwei Verteidigungsmöglichkeiten"3 : reden oder schweigen. Die Gesetzesfassung, die auf Art. 4 des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG)4 beruht, läßt insofern gar keine andere Auslegung zu; daß der Beschuldigte die Befugnis hat, sich gegenüber der Beschuldigung passiv zu verhalten und zu schweigen, ist in RechtsprechungS und Lehre' daher auch durchweg unbestritten. Es ist somit auch nicht Hervorhebung vom Verf. Vgl. hierzu Eb Schmidt, L-K I, Rn 64 ff., 70, 71; Castringius, S. 14 ff.: das Prozeßrecht gewährt also nur prozessuale "Möglichkeiten" (Aussichten), nicht aber (materielle) "Rechte" und "Pflichten". Gegen diese Nomenklatur Walder, S.57 Fn 17, der die prozessualen Begriffspaare "Möglichkeiten" und "Lasten" wegen ihrer Wertneutralität als irreführend bezeichnet. 3 Kleinknecht, StPO, § 136 Anm. 3. 4 Vom 19.12.1964, BGBI I, 1067. 5 Vgl. zuletzt BGH NJW 1974, 1570 ff. 41 Vgl. zuletzt Eser ZStW 86 (Beiheft), S. 136 ff. m. w. N. 1

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B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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verwunderlich, wenn Niese 7 schon 1951 die Aussagefreiheit des Beschuldigten als "prozessuale Binsenwahrheit" bezeichnen konnte. Auch die sog. "Kleine Strafprozeßrechtsrefonn" von 19648 hat die Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht etwa erst hergestellt. Schon die RStPO vom 1. 2. 1877 schrieb in § 136 StPO a. F. vor, daß der Beschuldigte zu befragen sei. "ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle"9. Aus dieser Gesetzesfassung wurde dann auch einmütig10 geschlossen. daß es im Belieben des Beschuldigten stehe, ob er aussagen wolle oder nicht. Neben dieser am Wortlaut des § 136 StPO a. F. orientierten Interpretation hätte man sich aber auch schon auf die Motive zur RStPO berufen können: diese bezeichnen nämlich die Vernehmung des Beschuldigten "als freiwillig dargebotenes Untersuchungsmittel '" von größtem Werte"l1; auch in den Beratungen der Kommission ist es niemals zweifelhaft gewesen, daß der Beschuldigte zu einer Aussage nicht gehalten war1%. Strittig waren nur zwei Punkte, nämlich, ob erstens eine Verpflichtung des Beschuldigten zur Wahrheit gesetzlich zu statuieren sei und ob zweitens der Beschuldigte über seine Schweigebefugnis auch entsprechend zu belehren seps. Beide Fragen wurden schließlich verneint; die letztere aus Furcht vor Verkennung einer sittlichen Verpflichtung zur Wahrheit und vor allem deshalb, weil der Beschuldigte seiner Sache durch sein Schweigen keinen guten Dienst erweisen könnte, weil dieses oft zu seinem Nachteil gedeutet werde14 • Von diesem Rechtszustand wich der Entwurf 190815 nicht wesentlich ab: § 109 111 E 1908 verdeutlichte die Aussagefreiheit nur insofern1., als er bestimmte: "Ist er (seil.: der Beschuldigte) hierzu (seil.: zur Erwiderung auf die Beschuldigung) bereit, so ist er zu veranlassen, sich im Zusammenhange zu äußern." Erst der Entwurf 1920 17 bestimmte im ZStw 63, 199 H. (219). Vgl. Fn4. 9 Vgl. auch die Formulierung in §§ 257, 258 III StPo. 10 Gerland, S.138; Stock, S.86; v. Hippel, S. 276 ff., 417; Bennecke / Beling, S.118 f., 374; Ullmann, S. 236 ff.; v. Kries, S.397; Hellweg /Dochow, S.131, 180; Beling, S.145, 309; Stenglein, S.143; Rosenfeld, S. 122 f.; v. Lilienthal, S.23; Dohna, S.106; John, StPO I, vor § 133, S. 919 ff. (933); Thilo, StPO, § 136 Anm.2; v. Schwarze, StPO, S.271. 11 Bei Hahn I, S. 138. 12 Hahn I, S. 701 ff. 13 Hahn I, S. 701 ff. 14 Vgl. Fn 12. 15 Entwurf einer Strafprozeßordnung und Novelle zum GVG nebst Begründung, Berlin 1908. 18 S.230. 17 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des GVG und Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen nebst Begründung, Berlin 1920. 7

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

§ 35 11 2, 3: "Zur Aussage ist der Beschuldigte nicht verpflichtet. Der Beschuldigte ist bei einer jeden Vernehmung auf diese Vorschriften hinzuweisen." Damit sollte der schQn in der RStPO von 1877 enthaltene Grundsatz der Aussagefreiheit ausdrücklich ausgesprochen werden18. Gleichwohl konnte sich der E 1920 nicht durchsetzen. Und so blieb § 136 StPO i. d. F. von 1877 insofern eine "Halbheit"19, als er zwar von der Aussagefreiheit ausging, doch den Beschuldigten über seine Befugnisse nicht belehrte. Es blieb dem "feinen Gehör" des Laien überlassen, aus der Formulierung des § 136 StPO a. F. ("ob ... wolle") zu entnehmen, daß er das Schweigen als Verteidigungsmöglichkeit wählen konnte!O. Die Kritik der Lehre21 an der Gesetzesfassung war daher durchaus berechtigt. Erst das StPÄG brachte in seinem Art. 4 die geforderte Klarstellung und verwirklichte so seinen "Leitgedanken" der Aufklärung aller Prozeßbeteiligten über ihre gesetzlichen Rechte und Pflichten2'2.

Festzuhalten bleibt nur, daß die StPO von jeher dem Beschuldigten die Wahl des Schweigens nicht streitig machte und die Gesetzesänderungen diese Wahlmöglichkeiten nur verdeutlichten23• Jedenfalls ist ohne Rücksicht auf ein etwaiges materiell-rechtliches Schweigerecht durch den § 136 StPO und die ihm entsprechenden Regelungen!4 klargestellt, daß der Beschuldigte sich prozeßordnungsgemäß verhält, welche von den ihm in § 136 StPO garantierten Verteidigungsmöglichkeiten er auch wählen mag.

2. Der Geltungsbereich der Aussagefreiheit Mit der Klärung der unantastbaren Aussagefreiheit des Beschuldigten ist aber noch nichts über den Geltungsbereich dieser Befugnis gesagt. Aus dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen ergibt sich zunächst, daß der Beschuldigte Normadressat ist. Bezüglich des Beginns der Beschuldigteneigenschaft kann auf bereits Gesagtes verwiesen werdenZll• Die hier relevante Verhaltensfreiheit des Beschuldigten wird Begründung, Bes. Teil. S. 37. 19 v. Holtzendorff, HdBuch I, S.383; Baumann, JuS 1965, 172 ff. (174), spricht von einer "scheinheiligen Formulierung". 20 Radbruch, Sauer-Festschrift, S.121. 21 v. Holtzendorff, HdBuch I, S.383; Bennecke / Beling, S. 374 f.; Rosenfeld, S. 122; John, StPO I, S. 929 f.; Radbruch, S.121. 22 BT-Drucks IIII2037; IV1178. 23 Insofern zutreffend BGH NJW 1966, 1719; NJW 1974, 1570 ff. 24 §§ 115 IH, 128 I, 163 a HI, IV, 243 IV; vgl. auch §§ 257 I, 258 III StPO, die noch auf altem Sprachgebrauch beruhen. 18

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s. o. A 1.

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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von § 136 StPO vom Zeitpunkt der ersten Vernehmung!1I zur Sache an gewährleistet. Was Art und Umfang der Aussagefreiheit anbelangt, so ist davon auszugehen, daß dem Beschuldigten die Entscheidung über das "Ob" seiner Aussage anheimgestellt ist. Kann er darüber entscheiden, so folgt daraus notwendigerweise auch die Freiheit über das "Wie" seiner Aussagel!7. So gesehen ist es nicht ganz zutreffend, von "zwei Verteidigungsmöglichkeiten"28 zu sprechen; vielmehr ergeben sich eine ganze Palette von Verhaltensweisen, die vom Reden über das Schweigen bis zum teilweisen Schweigen (partiellen Schweigen), das in der Aussageverweigerung zu einzelnen Tatkomplexen oder Belastungspunkten besteht, führen. Genauso ist es dem Beschuldigten unbenommen, einzelne belastende oder entlastende Umstände zu verschweigen. Er ist also weder zur Aussage, noch wenn er aussagt, zur Vollständigkeit seiner Ausführungen genötigt29. Schließlich kann der Beschuldigte auch wählen, in welchen Verfahrensabschnitten er schweigen oder reden will. Das ergibt sich aus den einzelnen Belehrungsvorschriften für die jeweiligen Verfahrensabschnitte (§§ 115 III, 128 I, 136 I, 163 a III, IV, 243 IV StPO). Denn die jeweils erneut vorzunehmende Belehrung über die Schweigebefugnis ist nur dann sinnvoll, wenn der Beschuldigte trotz vorherigen Redens schweigen kann und umgekehrt30 • Strittig ist dagegen, was den Gegenstand der Schweigebefugnis bildet, d. h. ob der Beschuldigte nur zur Sache oder auch zur Person schweigen darf. Da der Beschuldigte zur Sache jedenfalls schweigen darf, ist es von großer Bedeutung, was zu den Angaben "zur Sache" gehört. Zur Sache gehören zunächst die Umstände, die sich auf die Tat, die Gegenstand der Urteilsfindung ist (§ 264 StPO), beziehen. Damit sind also unzweifelhaft alle die Umstände erfaßt, die für die Beurteilung der Schuldfrage von Belang sind. Zur Person gehören demgegenüber die Umstände, die sich auf die Identität des Beschuldigten beziehen31 • Da das Gesetz aber in § 136 III StPO sowie in § 243 II S. 2 StPO von "persönlichen Verhältnissen" spricht, kann zweifelhaft sein, ob nicht noch andere Umstände als die Identitätsangaben zu den persönlichen Ver28 Zum Begriff der "ersten Vernehmung": Sarstedt, L-R, § 136 Anm.3; Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 6; Kleinknecht, StPO, § 136 Anm.1; Eser ZStW 79, 575. 27 Kleinknecht, StPO, § 136 Anm.3; Höra, S.58; Castringius, S.21; Eb. Schmidt SJZ 1949,450; Eser ZStW 79, 576; BGHSt 5, 334. 28 Kleinknecht, StPO, § 136 Anm. 3. 29 Höra, S.58; v. Kries, S. 398. 30 Stree JZ 1966, 597; vgl. auch Gollwitzer, L-R, § 243 Anm. 8; Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 243 Rn 30; Sax, KMR, § 243 Anm. 4 c. 31 Gollwitzer, L-R, § 243 Anm. 5 a; Sarstedt, L-R, § 136 Anm. 12 a; Peters, S.488; BayObLGSt 1971, S.44; s. a. OLG Stuttgart MDR 1974, 1037.

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hältnissen gehören. Herkömmlich versteht man unter "persönlichen Verhältnissen" "diejenigen Lebensumstände des Beschuldigten, die für die Beurteilung seiner Verantwortlichkeit und für die Bemessung der Strafe einschließlich der Frage einer Strafaussetzung von Bedeutung sein können "3!. Die persönlichen Verhältnisse sind ausweislich des § 46 II StGB in der Tat Umstände, die für die Strafzumessung von Bedeutung sind33• Angesichts der einschneidenden Folgen, die die Angabe der persönlichen Verhältnisse als Strafzumessungsgesichtspunkte für den Täter etwa unter dem Aspekt der Geldstrafe oder den Nebenfolgen der Tat haben kann, dürfte klar sein, daß auch die Umstände, die für die Straffrage von Bedeutung sind, mit zur Vernehmung zur Sache gehören. Dementsprechend wollen Peters!~ und Kleinknecht 311 die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen auf die Dinge beschränken, die weder mit der Sachverhaltserforschung noch der Straffrage etwas zu tun haben, sich also etwa auf die Identität, die Verhandlungsfähigkeit und die Verteidigungsfähigkeit beziehen3e• Diese Auffassung entspricht aber nicht dem Wortsinn des § 243 II S.2 StPO und steht auch mit § 46 II StGB nicht in Einklang. Eine andere Frage ist es dagegen, wie in der Praxis unter dem Gesichtspunkt der Belehrungspflicht in § 243 IV S. 1 StPO die Vernehmung zur Person im Einzelnen tatsächlich auszugestalten ist und welcher Zeitpunkt für die Belehrung gewählt werden muß37• Gänzlich problemlos dürfte die Sachlage im Hinblick auf die zeitliche Reihenfolge in § 243 StPO jedoch entgegen der Meinung Kleillknechts 3S nicht sein, wie der vom OLG Stuttgart" entschiedene Fall beweist. Immerhin ist festzuhalten, daß die Umstände, die für die Straffrage von Belang sind, zwar zu den "persönlichen Verhältnissen" gehören, aber trotzdem zugleich auch Angaben zur Sache sind40•· Zu solchen Angaben ist der Beschuldigte deshalb in keinem Falle verpflichtet u . Vernehmung zur Sache ist also derjenige Teil der Beweisaufnahme, der sich auf die Aussage des Angeklagten zur Schuld- und Straffrage bezieht. Letzteres gehört aber i. d. R. zugleich zur Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse. 3! Sarstedt, L-R, § 136 Anm.12 b; Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 243 Rn 18; BayObLGSt 1971, S.44; wohl auch OLG Stuttgart MDR 1974, 1037; s. a. Kern I Roxin, S. 118; BGH bei Dallinger MDR 1975, 368. 33 s. BayObLGSt 1971,45; offen gelassen von BGH MDR 1975, 368. 34 Lb, S. 488. 35 StPO, § 243 Anm.5; ders., Heinitz-Festschrift, S. 651 ff. (658 ff.). 86 s. a. OLG Stuttgart MDR 1974, 1037; Kern I Roxin, S.118; Dencker MDR 1975, 365. 37 Vgl. OLG Stuttgart MDR 1974, 1037; s. a. BGH bei Dallinger MDR 1975, 368. 3S StPO, § 243 Anm. 5. 311 MDR 1974, 1037. 40 So auch BayObLGSt 1971, 45. 41 Vgl. Sarstedt, L-R, § 136 Anm. 12 b a. E.

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Was die Frage der Schweigebefugnis zu den unstreitig zur Person gehörenden "Daten" angeht, so hat sich die ältere Lehre überwiegend auf den Standpunkt gestellt, daß sich die Schweigebefugnis, wenn sie schon zur Sache bestehe, erst recht auf die Angaben zur Person zu erstrecken habe42 . Demgegenüber hat die Rechtsprechungu eine Verpflichtung zur Angabe der Personalien aus § 360 I Nr.8 StGB a. F. gefolgert und dabei betont, zuständig im Sinne dieser Bestimmung sei nur der Beamte, "welcher im einzelnen Falle kraft seiner amtlichen Stellung und Wirksamkeit berechtigt erscheint, den bürgerlichen Namen der ihm bei Ausübung seiner Dienstpflicht gegenüberstehenden Person durch deren Befragung zu erforschen und festzustellen, demgemäß von derselben die wahrheitsgetreue Angabe ihres Namens zu fordern, auf diesem Verlangen ungeachtet erfolgender Weigerung zu bestehen und sie hierdurch durch die ihm etwa gesetzlich an die Hand gegebenen Zwangsmittel zu nötigen"44, so daß die Angabe eines falschen Namens als "Eingriff in ein staatliches Hoheitsrecht" erscheint'l'. Das Erfordernis der zwangsweisen Durchsetzbarkeit dieses Verlangens44 ist dann später vom RG47 ausdrücklich aufgegeben worden. Die neuere Rechtsprechung48 bejaht ebenfalls eine Verpflichtung des Beschuldigten zur Angabe der Personalien im Umfange des § 360 I Nr.8 StGB a. F. (= § 111 OWiG). Allerdings stützt sie sich hier auf ein argurnenturn e contrario zu § 136 StPO, der ja ausdrücklich nur die Verweigerung der Angaben zur Sache ins Ermessen des Beschuldigten stellt. In der Lehre ist die Frage äußerst umstritten, und teilweise wird die Verpflichtung zur Aussage ad personam ebenfalls per argumentum e contrario zu § 136 I 2 StPO bejah1;4ll, wobei der Umfang der Aussagepflicht sich an § 360 I Nr. 8 StGB a. F. (§ 111 OWiG) orientiert. Da jedoch Aussagen zur Person sehr häufig einer Aussage zur Sache gleichkommen, 42 v. Kries, S.224; Dohna, S.106; Glaser, HdBuch I, S.628; v. Hippel, S.423; Rosenfeld, S.122; Stenglein, S.143; Hellweg / Dochow, S. 131 f. (134); Stock, S.86; Gerland, S.237. 43 RGSt 17, 224 ff. (225, 226); RGSt 72, 30 f. 44 RG Rspr. 1,565; RGSt 17, 225; entsprechendes hat für die Verweigerung der Namensangabe zu gelten. s. a. BGHSt 25, 13 ff. 45 RGSt 72, 31; Mösl, LK, § 360 Rn 10 m. w. N. 48 RGSt 17, 225; RG Rspr 1, 565. 47 RGSt 72, 31; Höra, S. 91. 48 LG Köln NJW 1967, 1873; OLG Düsseldorf NJW 1970, 1888 f.; NJW 1971, 2237; OLG Oldenburg NJW 1971, 2237; BayObLG NJW 1969, 2037 mit abI. Anm. Seebode; BGHSt 25, 13 ff. 49 Sarstedt, L-R, § 136 Anm.12; Gollwitzer, L-R, § 243 Anm.56; Müller, KMR, § 136 Anm.3; Gegenfurtner DAR 1966, 98; Kleinknecht, StPO, § 136 Anm.6, § 163 Anm. 8 A; § 243 Anm.5; Guradze, Loewenstein-Festschrift, S. 151 ff. (152); Göhler, OWiG, § 111 Anm.2; Henkel, S.174 betont die Notwendigkeit der Identitätsfeststellung für die Vermeidung des Prozesses gegen einen Falschen.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

ja oftmals einem Geständnis gleichzuachten sind und für die Frage der Strafzumessung oder der Verhängung einer Maßregel (Berufsverbot, §§ 61 Nr.7, 70 StGB) von hervorragender Bedeutung sind50 , wird teilweise auch die Schweigebefugnis auf die Angaben ad personam erstreckt, mit der Konsequenz, daß der Beschuldigte die Vorschrift des § 360 I Nr.8 StGB a. F. (§ 111 OWiG) schon tatbestandlich nicht realisiert61 • Dagegen will eine vermittelnde Meinung nur dann zum Ausschluß des § 360 I Nr. 8 StGB a. F. (§ 111 OWiG) gelangen, wenn eine Kollision zwischen der Aussagefreiheit zur Sache und der Aussage zur Person im Einzelfall tatsächlich gegeben ist52, wobei die irrige Annahme einer solchen Kollision bereits zur Vermeidung von Strafe führen würde 53• Die dargestellten Meinungsverschiedenheiten dürften nach der Streichung des § 360 I Nr.8 StGB und seiner Ersetzung durch § 111 OWiG gemäß dem EGStGB vom 17.3.1974 nicht überwunden sein. Die bewirkten Änderungen sind bezüglich der hier interessierenden Frage nicht substantiell. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die Streitfrage durch die Gesetzesänderung auch gar nicht entschieden werden54 • Richtig ist allerdings, daß der Gesetzgeber des StPÄG von der Pflicht des Beschuldigten ausging, sich zu seinen Personalien wahrheitsgemäß zu äußern 55 • Dagegen enthalten die Motive zur RStPO diesbezüglich keinen Hinweigl56. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß die StPO anerkanntermaßen keine Zwangsmittel kennt, um den Beschuldigten zu einer Aussage hinsichtlich seiner Personalien (§ 111 OWiG) zu bestimmen57• Das gilt insbesondere von den Vorschriften der §§ 127, 163 StPO, die keine Pflicht zur

50 Seebode NJW 1969, 2057; ders. MDR 1970, 186; Rüping JR 1974, 137; Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 17; Eser ZStW 79, 576; Höra, S.92. 51 Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 17; § 243 Rn 17; Castringius, S. 54 f.; Walder, S. 84 f.; Seebode MDR 1970, 185 ff.; Peters, S.178; Rüping JR 1974, 137; Eser ZStW 86 (Beiheft), 152. 52 Wesseis JuS 1966, 176; Rotberg, OWiG, § 111 Rn 8; Kleinknecht, StPO, § 136 Anm. 6 entnehmen aus dem Schweigerecht zur Sache einen Rechtfertigungsgrund; Schönke / Schröder, § 360 Rn 27 beruft sich allgemein auf § 136 StPO, wobei er aber unverständlicherweise noch § 136 a StPO zitiert. Für einen Rechtfertigungsgrund auch Höra, S. 95; für einen Entschuldigungsgrund dagegen Sarstedt, L-R, § 136 Anm.12; Kern / Roxin, S.119; Roxin, PdW, S.38f. 53 Wesseis JuS 1966, 176; Höra, S.95 Fn 317; BGHSt 3, 105 ff.; BayObLG NJW 1965, 1492. 64 BR-Drucks 1172, S. 338. 55 BT-Drucks III/2037, S.31; BT-Drucks IV/178, S.32. 58 Hahn I, S. 140. 57 Müller, KMR, § 136 Anm. 3 a; Gollwitzer, L-R, § 243 Anm. 5 b; Peters, S.178; Henkel, S.174; Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 17; § 243 Rn 19; Seebode MDR 1970, 185.

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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Angabe der Personalien enthalten68 und im Falle des § 127 I StPO nur ein Eingriffsrecht des Strafverfolgungsorgans gewähren, ohne eine korrespondierende Handlungspflicht des Beschuldigten zu begründen59• Daher hat, wie Höra60 zutreffend ausführt, ,,§ 360 Nr.8 StGB (§ 111 OWiG) innerhalb des Strafverfahrens nur die höchst merkwürdige Funktion, etwas unter Strafdrohung zu stellen, was mit den Mitteln des Prozeßrechts nicht erzwingbar ist". Da im übrigen auch etwaige weitergehende landesrechtliche Vorschriften der bundesrechtlichen StPO gegenüber weichen müssen 81 , beschränkt sich die Frage, ob die Aussagefreiheit des Beschuldigten auch ad personam zu gelten habe, auf die einschlägigen Bestimmungen von StPO und OWiG. An der Kontroverse um diese Frage zeigt sich deutlich einer der kritischen Punkte des Rechts des Beschuldigten, nicht zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht zu werden. Nach der noch h. M.8! ist der Konflikt zugunsten des staatlichen Strafanspruchs zu lösenG. Ob der Grundsatz des "nemo tenetur seipsum prodere" aber wirklich zurückzustehen hat, hängt von seinem Normcharakter und seiner Rechtsnatur ab. Auf diese Frage wird daher noch zurückzukommen sein.

3. Der Schutz der Aussagefreiheit Die Aussagefreiheit wird von der Rechtsordnung in einer ganzen Reihe von Bestimmungen durch "flankierende Schutzmaßnahmen"u gesichert. So bestimmt z. B. Art. 104 III GG, daß der vorläufig Festgenommene vom Richter zu vernehmen ist und ihm Gelegenheitu zu Einwendungen zu geben ist. Dies kann als ein Beleg dafür angesehen werden, daß die Vernehmung des Beschuldigten für diesen eine Gelegenheit, eine Möglichkeit zur Selbstverteidigung ist, während ein auch irgendwie gearteter Zwang zur Aussage nicht denkbar erscheint66 • Bemerkenswert ist 58 Dazu Seebode MDR 1970, 187 m. w. N. sowie Höra, S.94; zu § 163 StPO vgI. Müller, § 163 Anm. 1 c; OLG Saarbrücken NJW 1959, 1190. 58 Dazu Seebode, S.187; Hoffmann DVBI. 1967, 751 (753 ff.). GO S.94. 81 Dazu Seebode, S. 187 ff. m. w. N., insbesondere S. 188. 62 VgI. zuletzt BGHSt 25, 13 ff. 63 Fälschlich bezeichnet Seebode seine Auffassung als die herrschende; hiergegen auch v. Hindte, S.77. 84 VgI. Eser ZStW 86 (Beiheft), S. 147 ff. 85 Hervorhebung vom Verf. 68 Niese ZStW 63, 221; Castringius, S. 21; Bauer, S. 51; vgI. im übrigen auch § 136 II StPO, wonach die Vernehmung dem Beschuldigten Gelegenheit geben soll, Verdachtsgründe zu beseitigen und günstige Tatsachen geltend zu machen.

4 Rogall

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

weiterhin die Regelung der §§ 153 ff. StGB. Die Aussagedelikte gelten ja bekanntlich nicht für Beschuldigte im Strafverfahren. Dadurch wird erreicht, daß jeder Zwang zu wahrheitsgemäßer Aussage vom Beschuldigten, wenn und soweit er aussagt, ferngehalten wird; diese Freistellung von der Strafsanktion dient damit indirekt der Aussagefreiheit des Beschuldigten, denn diese beansprucht Geltung sowohl bei der Aussage als auch beim Schweigen. Außerdem fehlt beim Beschuldigten eine dem § 70 StPO entsprechende Regelung'7. Nur ein Zeuge, nicht aber der Beschuldigte können durch Zwangsmittel zur Aussage angehalten werden. Ein weit deutlicherer Schutz der Aussagefreiheit ist aber noch in § 343 StGB88 gewährleistet. Der Tatbestand der Aussageerpressung schützt den Beschuldigten vor körperlicher Mißhandlung, Gewaltanwendung, Gewaltandrohung oder seelischer Qual, die in der Absicht69 angewendet wird, ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen. Abweichend vom früheren Recht sind damit sogar Verhaltensweisen erfaßt, die darauf abzielen, Aussagen zu verhindern7o• Das neue Recht hat auch klargestellt, daß der Schutz gegen Aussageerpressung auch in "Nicht-Strafverfahren" gewährleistet ist71 • Durch das Handlungsmerkmal der "körperlichen Mißhandlung", das ebenso wie in § 223 StGB auszulegen ist, wird der Beschuldigte auch gegen moderne Formen der Torturn wie etwa die Unterbringung in einer Dunkel- oder Stehzelle geschützt'3. Über die Rechtskraft des Urteils hinaus reicht sogar die Garantie der Aussagefreiheit, indem ihre Verletzung einen Wiederaufnahmegrund abgibt (§ 359 Nr.3 StPO i. V. m. § 343 StGB)14. Die Kernvorschrift zum Schutz der Aussagefreiheit stellt jedoch § 136 a StPO dar76• Durch sie wird die Freiheit der Willensentschließung Vgl. schon Gerland, S.138. Fassung des EGStGB, BGBI I (1974), S. 469 ff. (497); die Tat ist Verbrechen, § 12 Abs.1 StGB. Zum Schutz der Aussagefreiheit durch § 343 StGB: Gerland, S.138; Bennecke / Beling, S.375; Dohna, S.106 Fn 65; Eb. Schmidt SJZ 1949, 451; Niese ZStW 64, 219; Rüping JR 1974, 137. 88 BR-Drucks 1/72, S. 268. 10 BR-Drucks 1/72, S.268. 71 Vgl. § 343 I Nr.2 und 3, dazu BR-Drucks 1/72, S.267. 72 sog. "sensorische Deprivation" durch Entziehung von Sinneseindrücken. 73 Vgl. BR-Drucks 1/72, S.267; allerdings ist eine volle Angleichung an das Prozeßrecht (§ 136 aStPO) leider nicht herbeigeführt worden. Vgl. auch Rüping JR 1974, 137. 74 Vgl. Niese ZStW 63, 221. 75 § 136 a StPO gilt entsprechend für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, § 69 III, 72 StPO, und wendet sich auch an Polizei, Staatsanwaltschaft (§ 163 a I1I-V-StPO) und den Sachverständigen (BGHSt 11, 211 ff.). 81 88

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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und der Willensbetätigung des Beschuldigten vor Beeinträchtigungen geschützt, die beispielsweise in § 136 a StPO aufgeführt sind (Abs. 1). Die verbotenen Vernehmungsmittel sind daher nicht abschließend aufgezählt16• Darüber hinaus verbietet § 136 a StPO Maßnahmen, die das Erinnerungsvermögen oder die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten beeinträchtigen (Abs.2). Für die Stellung des Beschuldigten als Beweisperson bedeutet das, daß die Freiheit der Willensentschließung nur dann gewahrt ist, wenn der Beschuldigte unbeeinflußt und frei über das "Ob" und das "Wie" seiner Angaben entscheiden kann, ferner, daß die Freiheit der Willensbetätigung nur dann garantiert ist, wenn er über die Modalitäten seiner Aussage im einzelnen frei disponieren kann77 • Gemäß § 136 a Abs.3 StPO gilt das Verbot der Abs. 1 und 2 ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten und führt zu einem absoluten, der Disposition des Betroffenen entzogenen Beweisverwertungsverbot. Diese Folgen treten immer und schon dann ein, wenn ein "möglicher ursächlicher Zusammenhang" zwischen dem Erkenntnisinhalt und der verbotenen Vernehmungsmethode besteht78• Wenngleich an der Fassung des § 136 a StPO mancherlei Kritik79 zu üben ist, insbesondere an der mangelnden Trennung von verbotenen Mitteln und deren Auswirkungen auf die Aussagefreiheit8°, sollte klar sein, daß § 136 a StPO eine überragend wichtige Prozeßnorm für die Beweisstellung des Beschuldigten darstellt, die weder durchbrochen noch der Disposition des Beschuldigten anheimgestellt werden kann81 • Indem § 136 a StPO dem Beschuldigten die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung im Prozeß umfassend (§§ 136 a, 163 a, 69 III, 72 StPO) garantiert und eine Einwilligung des Beschuldigten in die Art der Vernehmung oder die Verwertung für unbeachtlich erklärt, wird seine Eigenschaft als Prozeßsubjekt klargestellt und seine sittliche

78 Kern / Roxin, S.120; Castringius, S.33; Sarstedt, L-R, § 136 a Anm.4; Eb. Schmidt, L-K H, § 136 a Rn 7; BGHSt 5, 334. 77 Besonders deutlich Müller, KMR, § 136a Anm.1 a (zugleich mit Kritik); Eb. Schmidt, L-K H, § 136 a Rn 5; ders., SJZ 1949, 449, 450; Kleinknecht, StPO, § 136 a Anm.2; Peters, S.281; Walder, S. 147 ff.; Peters, Gutachten, S.156; BGHSt 5, 334; BGHSt 11, 211 (212). 78 Peters, Gutachten, S.158; Müller, KMR, § 136 a Anm. 4 b; Höra, S.131 spricht von "vermuteter Kausalität"; Peters, S.280; Eb. Schmidt, L-K H, § 136 a Rn 22; BGHSt 13, 60, 61; Kern / Roxin, S. 120. 71 Zur Kritik Sarstedt, L-R, § 136 a Anm. 1 e und f; Müller, KMR, § 136 a Anm. 1 a; Baumann GA 1959, 33 f.; Eb. Schmidt, L-K H, § 136 a Rn 4 und Nachtrag, Rn4. 80 Dazu speziell Walder, S. 148 f.; Peters, S.280 unterscheidet zwischen absolut verbotenen Mitteln, denen eine abstrakte Beeinträchtigungsgefahr eigen ist und solchen, die allenfalls in concreto die Aussagefreiheit beeinträchtigen können. 81 Eb. Schmidt,- L-K I, Rn 100 ff.; Kern / Roxin, S. 119 f.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

Persönlichkeit für unantastbar erklärt!l2. Somit beruht § 136 a StPO nicht nur auf Art. 104 I 2 GG, sondern auch letztlich auf Art. 1 GG8lI. Er verdeutlicht folglich nur einen Prozeßgrundsatz, der auch ohne Einfügung des § 136 a StPO in das Prozeßrecht8' Geltung beanspruchen würde 86 • Ist somit der Grundsatz der Aussagefreiheit des Beschuldigten ausweislich der umfassenden gesetzlichen Schutzvorschriften über jeden Zweifel erhaben, so bedarf es nur noch eines ergänzenden Hinweises auf das in Art. 3 MRK8& niedergelegte Verbot der Folter und von erniedrigender Behandlung. Auch Art. 2 MRK dient damit ebenso wie Art.7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische RechteB 7, wenn auch nicht ausschließlich, dem Schutz der Aussagefreiheit des Beschuldigten.

4. Die Frage der Wahrheitspjlicht Ähnlich kontrovers sind auch heute noch die Meinungen, wenn es um die Frage geht, ob der Beschuldigte zur Angabe der Wahrheit gehalten ist, wenn er aussagt88• Mangels einer dem § 138 I ZPO entsprechenden Vorschrift läßt sich die Frage nur aus dem Sinnzusammenhang der prozessualen Normen beantworten, zumal die Vorschriften der §§ 57, 66 c StPO bekanntlich nur für Zeugen, nicht aber für Beschuldigte gelten. Außer Zweifel ist allerdings von jeher gewesen, daß eine ethische Verpflichtung zur Wahrheit besteht, und zwar für jedermann89 • Das Problem schien nur darin zu bestehen, eine rechtliche Pflicht zur An82 Eb. Schmidt, L-K I, Rn 100 spricht davon, daß durch § 136 a StPO die sittliche Persönlichkeit des Beschuldigten zu einem "noli me tangere" für alle Rechtspflegeorgane geworden ist. 83 Kern 1 Roxin, S.120; Eb. Schmidt, L-K 11, Nachtrag, § 136 a Rn 3; Kleinknecht, StPO, § 136 a Anm.1; BGHSt 5, 333, 334; Nipperdey, GR 11, S.l ff. (30 f.); Zippelius, BK, Art.1 GG, Rn 15 (Zweitbearbeitung); Dürig, MDH. Art. 1 GG, Rn 22, 34 f. 84 Durch Gesetz vom 12.9.1950, BGBl I, S.455; zur Entstehungsgeschichte eingehend Sarstedt, L-R, § 136 a Anm. 1 a - d. 85 Vgl. Peters, S.279. 86 Vom 4.11. 1950, Zustimmungsgesetz vom 7.8.1952, BGBI 11, 685, 953. 87 Vom 19.12.1966, Zustimmungsgesetz vom 17.12.1973, BGBI 11, 1533; zum Pakt: Goose NJW 1974, 1305 ff. 88 Zum folgenden eingehend Eb. Schmidt, L-K 11 (Nachtrag), § 136 Rn 20 H.; Pfenninger, Rittler-Festschrift, S. 355 ff. 8D Wesseis JuS 1966, 173; Engelhard ZStW 58,354; BT-Drucks IV/178, S.32; Henschel, S.22; Ullmann, S.380; Eb. Schmidt, L-K 11 (Nachtrag), § 136 Rn 23 m. w. N.; Castringius, S.l1; Peters, S.178; Höra, S.64 Fn 179; Rüping JR 1974, 138/139; Stock, S. 86.

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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gabe der Wahrheit nachzuweisen. An Versuchen zur Lösung dieses Problems hat es daher auch nicht gefehlt90• So hat z. B. Castringius81 versucht, mit Hilfe des Art. 2 I GG (Schranke des allgemeinen Sittengesetzes) eine Transformierung der sittlichen Pflicht zur Wahrheit in eine Rechtspfiicht zu erreichen. Nun mag zwar die Pflicht zur Wahrheit ein Bestandteil des Sittengesetzes sein, doch hat Art. 2 I GG keinesfalls eine transformierende Wirkung92 , sondern setzt vielmehr eine positiv-rechtliche Regelung voraus, die diese Wirkung hat93• Nachdem diese Lösung als unrichtig erkannt wurde, war es folgerichtig'4, die Metamorphose von der sittlichen Pflicht in eine Rechtspfiicht auf andere Weise zu begründen, etwa mit der These, die Stellung des Angeklagten gegenüber dem Tatverdacht sowie seine Pflicht zur Sühne bedinge auch seine Wahrheitspfiicht9J5 • Ein solches Vorgehen muß aber durch die Unschuldsvermutung des Art. 6 11 MRK zunichte gemacht werden96 • Kein besseres Schicksal kann dem Lösungsansatz Höras ll7 beschieden werden. Er nimmt eine prozessuale Wahrheitspflicht des aussagebereiten Beschuldigten an. Soweit nämlich der Beschuldigte aussage, sei er ein normales Beweismittel. Wahrheitsermittlungszweck des Strafverfahrens und Justizgewährungspfiicht des Staates führten zur Wahrheitpfiicht des aussagenden Beschuldigten98• Demgegenüber ist aber zu bedenken, daß der Angeklagte nicht "im Lager" des Staates steht. Die StPO soll ihm sogar eine' wirksame Verteidigung gegen die Anklage ermöglichen; er ist nur passiv feststellungspflichtig, nicht mehr und nicht weniger. Außerdem wird der Konfliktslage des Beschuldigten nicht hinreichend durch die Einlassungsfreiheit Rechnung getragen"; diese Konfliktslage entschwindet ja nicht dadurch, daß der Beschuldigte freiwillig aussagt. Außerdem kann es entgegen Höra100 keinen Unterschied machen, ob der Beschuldigte bewußt die Unwahrheit sagt oder sich über diesen Punkt nicht erklärt, was er darf, da er nicht zur Vollständigkeit ver90 Zum Hintergrund der ganzen Frage, die ihren Ursprung auch in der mißglückten Fassung des § 136 a. F. hat, vgI. Baumann GA 1957, 407; Rüping JR 1974, 138. 91 S. 10 ff., 56 ff. (60 f.); ähnlich Henkel, S.l77; ohne dogmatische Einordnung Peters, S. 178. 92 Wesseis JuS 1966, 173 Fn 37; Höra, S.69; Rüping, S.139; Dürig, MDH, Art. 2 I, Rn 16. 98 Höra, S.69; Dürig, MDH, Art. 2 I Rn 16. 94 Zu den übrigen Lösungsansätzen vgI. Rüping JR 1974, 138; Wesseis JuS 1966, 173; Höra, S. 64 ff. 95 Walder, S. 71 ff. (79, 80). 96 Wesseis JuS 1966, 173; Rüping JR 1974, 139. 97 S. 64 - 81, S. 113 - 114. 98 S.71-74. 98 So aber Höra, S. 79 ff. 100 S. 79 f.

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1. Teil:

Das Nemo-tenetur-Prinzip im StrafprozeBrecht

pflichtet ist. Doch beides wäre gleichwohl "Lüge" im Rechtssinne, § 66 cl StPO (" ... und nichts verschwiegen habe ... ")! Letztlich ist Höra lOl den Beweis für seine Behauptung, der aussagende Beschuldigte sei ein Beweismittel wie jedes andere, schuldig geblieben. Die Synopse der Bestimmungen der StPO über den Beschuldigten und den Zeugen ergibt vielmehr klar, daß das nicht der Fall ist lO2 • Somit dürfte der Streit über die Wahrheitspflicht des Beschuldigten endgültig in den Bereich der Fabel zu verweisen sein. Völlig zu Recht hält RoxinlO3 ihn für "weitgehend müßig", da es keine prozessualen Lügensanktionen mehr gibt, sondern das Lügen allenfalls materielle Folgen nach sich ziehtlO4 • Sogar in nationalsozialistischer Zeit erkannte man die Müßigkeit der Diskussion um die Wahrheitspflicht und verzichtete auf ihre Einführung, wenngleich wohl eher aus psychologischen Gründen1Oll• Fehlt es daher an einer rechtlichen WahrheitspfiichtlO6, so mag man durchaus von einem "Recht zur Lüge" sprechenlO7 ; denn für das Recht ist jedenfalls eine ethische Wahrheitspflicht belanglos. Der Beschuldigte kann also über das "Ob" und "Wie" seiner Aussage frei entscheiden, und zwar in jeder Hinsicht. Zur Wahrheit ist er rechtlich nicht verpflichtet. Ob er auch hinsichtlich seiner Personalien schweigen darf, ist umstritten. D. Die Freiheit der Mitwirkung

1. Die Stellung des Beschuldigten beim Augenscheinsbeweis Wie wir gesehen haben, stellt es die StPO dem Beschuldigten weitgehenst anheim, sich zu dem strafrechtlichen Vorwurf zu äußern oder sich passiv zu verhalten. Er kann wählen, was er werden will: Aussageperson und insofern auch Beweismittel oder bloßer Gegenstand des Augenscheinsbeweises lO8, was dann seine Beweismittelrolle entS.73. Vgl. oben A II, BI; s. a. BVerfG NJW 1975, 103 f. 103 Kern I Roxin, S. 119. 104 Eb. Schmidt, L-K II (Nachtrag), § 136 Rn 26, 27, 28; zu den Folgen für die Strafzumessung, vgl. BGHSt 1, 103 ff., 105 ff. lOS Niederreuther GS 109, 81, 82; Engelhard ZStW 58, 351 ff.; Lautz, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren, S. 96 ff. (99); anders etwa Henkel DJZ 1935, 530 ff. (535 ff.), gegen ihn Eb. Schmidt, Kohlrausch-Festschrift, S. 263 ff. (291 ff.) und die ebenda S. 292 Fn 98 angegebene Literatur. lOS So die wohl h. M., vgl. Sarstedt, L-R, § 136 Anm.6 m. w. N.; WesseIs JuS 1966, 173; Eb. Schmidt, § 136 Rn 20 ff.; Beling, S. 310; Pfenninger, RittlerFestschrift, S. 355 ff. (367 ff.); Motive I, S.139/140. 107 Liepmann, Art. "Geständnis", Hdwörterbuch der Rechtswiss. II, S.890; Kohlhaas NJW 1965, 2284; RMG, Urt. v. 6.9.1905 bei Hauck ZStW 27, 926 ff. (927): "Naturrecht" des Angeklagten; Gneist, Vier Fragen, S. 81 ff.; Kohlrausch JW 1925,1441; a. A. Dohna, S.107; Beling, S. 310; Rüping JR 1974, 139. 108 Vgl. Grunwald JZ 1968, 752. 101

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B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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sprechend einschränkt. Der Beschuldigte kann also über seine Stellung als Beweismittel nur insoweit verfügen, als es darum geht, ob er aussagen will oder nicht. Dagegen kann er sich nicht dem Augenscheinsbeweis entziehen. Allerdings ist es auch hier denkbar, daß die StPO dem Beschuldigten entsprechend der Aussagefreiheit eine "Freiheit der Mitwirkung" bei der Einnahme des Augenscheins gewährt. Eine ausdrückliche Vorschrift darüber enthält die StPO jedoch nicht. Und es steht wohl auch außer Frage, daß es dem Beschuldigten nicht gestattet sein kann, jegliche Augenscheinseinnahme zu verweigern. Ohne ein gewisses unbedingt notwendiges Maß an Zwang geht es im Strafprozeß nicht, wenn man das Interesse an der Verbrechensaufklärung nicht hintan stellen wilp·. Dennoch kann sich aus der Regelung der Eingriffsrechte in der StPO ergeben, daß der Beschuldigte hinsichtlich einer aktiven Mitwirkung b~i der Einnahme des Augenscheins und überhaupt bei Eingrüfen in seine Rechtssphäre frei ist. Das gilt zunächst bei den Eingriffsrechten gemäß §§ 81 ff. StPO. Nach § 81 StPO kann der Beschuldigte zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen psychischen Zustand in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht110 und dort beobachtet110 werden. Das Gesetz gestattet nach seinem Wortlaut ausdrücklich nur ein "Beobachten", jedoch keine anderen Maßnahmen und erlegt dem Beschuldigten auch sonst keinerlei Handlungspflichten auf. § 81 StPO greift in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 11, 104 GG) ein, beschränkt aber seinerseits nicht etwa andere Grundrechte des Betroffenen, wie etwa das der körperlichen Unversehrtheit (Art. 211 S.1 GG)111. Wenn darüber hinaus ein Eingriff in andere Rechte des Beschuldigten gewollt worden wäre, hätte es der Grundsatz "Kein Zwang ohne Gesetz"11t erfordert, diese Eingriffsmöglichkeit auch ausdrücklich zu erwähnenUS • Demgemäß kann sich der Beschuldigte auch völlig passiv verhalten. Aus § 81 StPO ergibt sich daher weder ein Eingrtlfsrecht in die körperliche Unversehrtheit noch ein sonstiges Recht auf Mitwirkung des Beschuldigten bei der Beobachtung. Gestattet ist nur eine "beobachtende Untersuchung"114. 1011 Eingehend Sax, GR IIII2, S. 909 ff. (973 ff.); vgl. auch Eb. Schmidt, L-K I, Rn 99; ders., NJW 1962, 664 (665). 110 Hervorhebung vom Verf. 111 BGHSt 8, 144 (146 ff.); Kleinknecht, StPO, § 81 Anm.2; Sax, S. 979 f.; Eb. Schmidt NJW 1962, 664; Peters, S.274, allerdings a. A. bezüglich geringfügiger, üblicher und ungefährlicher Eingriffe; dagegen aber mit Recht Kleinknecht, StPO, § 81 Anm.2; vgl. auch BGH JZ 1969, 437. 112 Zusätzlich wäre der Grundsatz "in dubio pro libertate" zu nennen. 113 Eb. Schmidt NJW 1962, 665. 114 Sax, KMR, § 81 Anm.1 a; Kleinknecht, StPO, § 81 Anm. 2; Kern / Roxin, S. 165; Henkel, S.226 Fn 13.

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

Ähnliches hat für die körperliche Untersuchung des Beschuldigten gemäß § 81 a StPO zu gelten. Gestattet sind hiernach körperliche Untersuchungen 115 , Entnahmen115 von Blutproben oder andere körperliche Eingriffe 115 • Nach dem Wortlaut der Vorschrift wird hier nur ein Eingriffsrecht in die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten gewährt (Art. 2 11 S. 1 GG). Er wird zum Gegenstand des Augenscheins gemacht, indem der körperliche Zustand, die "äußere und innere Seinsweise"116 des Körpers festgestellt wird11T• Von einer aktiven Mitwirkung des Beschuldigten kann nicht gesprochen werden. Daher legt § 81 a StPO dem Beschuldigten nur eine Duldungspflicht, nicht aber eine Mitwirkungspflicht118, auf. Er kann beispielsweise nicht gezwungen werden, in ein Alkoholprüfröhrchen zu blasen119, sich einem Trinkversuch zu unterziehen120, die Fingerprobe zu machen oder sich sonstigen Tests oder Befragungen121 zu unterziehen. Ein Zwang hierzu ist einerseits nicht möglich, andererseits aber auch ausgeschlossen, da die StPO wegen des numerus clausus der Eingriffsrechte einen solchen Zweck nicht kennt121!. Wenig konsequent verhält sich hierzu die Behauptung, § 81 a StPO decke "notwendige Begleithandlungen" der Untersuchung wie Gehen, Armeausstrecken, Kniebeugen, Öffnen des Mundes oder das Herausstrecken der Zunge11'3. § 81 a StPO verleiht grundsätzlich keine Ermächtigung, vom Beschuldigten ein aktives Tätigwerden zu verlangen. Es ist auch kaum möglich, zwischen "notwendigen Begleithandlungen" und anderen Handlungen zur Beweisgewinnung zu unterscheiden. Die Grenzlinie liegt genau zwischen Aktivität und Passivität. "Nur passives Verhalten des Beschuldigten darf erzwungen werden. Wo immer sich der Wille des Beschuldigten zu aktivem Tun entschließen muß, ist er frei1 24 ." So zeigt schon die Betrachtung der Vorschriften der §§ 81, 81 aStPO, daß das Gesetz nur den Strafverfolgungsorganen eine Ermächtigungsgrundlage zu Eingriffen in die Rechtssphäre des BeHervorhebung vom Verf. Eb. Schmidt, L-K 11, § 81 a Rn 3. 117 Kleinknecht, StPO, § 81 a Anm.1. 118 Kleinknecht NJW 1964, 2181 ff. (2187); ders., StPO, § 81 a Anm. 2 C; vor § 72 Anm. 1 CI Ein!. 3 B d; Eb. Schmidt NJW 1962, 664; ders., L-K 11 (Nachtrag), § 136 Rn 19; Dahs I Wimmer NJW 1960, 2217 ff. (2219); Kern I Roxin, S. 166 f.; Müller, S.290; Jessnitzer, S. 91 f. 119 BayObLG NJW 1963, 772. 120 LG Karlsruhe DAR 1959, 246; BGH VRS 29 (1965), 203; OLG Hamm NJW 1967, 1524. 121 OLG Hamm NJW 1967, 1524; OLG Hamm MDR 1974, 508 ff. (509); Eb. Schmidt NJW 1962, 664; Dahs/Wimmer NJW 1960, 2217ff.; a.A. OLG Köln NJW 1962, 692. 122 Eb. Schmidt NJW 1962, 664 f. 123 Sax, KMR, § 81 a Anm.2; Reitberger Krim. 1968, 350; Müller, S.290. 124 Eb. Schmidt NJW 1962, 665; ders., L-K 11 (Nachtrag), § 136 Rn 19. 115 116

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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schuldigten gibt, ihm auf der anderen Seite aber keine Rechtspflicht zum eigenen Tätigwerden auferlegt. Der gleiche Grundsatz gilt im übrigen auch bei der Untersuchung von Personen, die nicht Beschuldigte sind (§ 81 c StPO). Das Gesetz gestattet lediglich ein Untersuchen nach Spuren des Delikts (Abs.l) oder zur Feststellung der Abstammung (Abs. 2) und die Entnahme von Blutproben (Abs.2). Eine Pflicht zur Mitwirkung oder Erleichterung der Untersuchung wird nicht statuiertlll11• Ebenso verhält es sich bei den Maßnahmen nach § 81 b. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten aufgenommen l !6 und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen l !6 werden. Nach dem Gesagten ist nicht zweifelhaft, daß auch hier nur ein passives Dulden des Beschuldigten zwangsweise durchgesetzt werden darfl27 • Schließlich begründet § 58 11 StPO (Gegenüberstellung) ebenfalls nur die Pflicht von Beschuldigten und Zeugenl !8, sich anderen Zeugen gegenüberstellen zu lassen, d. h. die Gegenüberstellung zu duldenl l!9, ohne jedoch irgendwelche Handlungspflichten aufzustellen. Aus alledem folgt, daß der Beschuldigte nur zum passiven Dulden der Augenscheinseinnahme verpflichtet ist und demgemäß dazu auch gezwungen werden kann. 2. Die Befreiung von der Editionsp!licht

Ein weiterer Hinweis auf die Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten ist bei der Regelung der Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO) zu finden. § 94 StPO gestattet es, Beweismittel oder Gegenstände, die der Einziehung unterliegen, in Verwahrung zu nehmen oder sonstwie sicherzustellen. Gemäß § 94 11 StPO ist eine Beschlagnahme erforderlich, wenn die Gegenstände nicht freiwillig herausgegeben werden. § 94 StPO verleiht hier wieder ausdrücklich eine Eingriffsermächtigung, begründet jedoch keine Handlungspflicht. Dies geschieht erst durch § 95 I StPO. Danach ist der Gewahrsamsinhaber zur Vorlage und Auslieferung von zu beschlagnahmenden Gegenständen verpflichtet. § 95 11 StPO, der bezüglich der Zwangsmittel auf § 70 StPO (Erzwingung des Zeugnisses und der Eidesleistung) verweist und außerdem zeugnisverweigerungsberech125

13.

Kleinknecht, StPO, § 81 c Anm. 2; Eb. Schmidt NJW 1962,664; BGHSt 14,

Hervorhebung vom Verf. Kleinknecht, StPO, § 81 b Anm. 1 A i. V. m. Einl. 3 Bd; Eb. Schrnidt, L-K H, § 81 b Rn 3 und Nachtrag, § 81 b Rn 2. 128 Für die Zeugen ist die Gegenüberstellung Teil der Vernehmung, vgl. Sarstedt, L-R, § 86 Anm. 5 f.; Kern / Roxin, S. 129 f. 128 Kleinknecht, StPO, § 58 Anm. 5. 128

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1. Teil:

Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

tigte Personen (§§ 52 ff. StPO) von der Herausgabepflicht befreit, beweist jedoch deutlich, daß die Herausgabepflicht an die Zeugnispflicht anknüpftlSO • Daraus folgt mit aller Deutlichkeit, daß § 95 StPO nicht für den Beschuldigten gilt lSl • Für ihn verbleibt es damit bei der Regelung des § 94 StPO. Das Gesetz selbst befreit den Beschuldigten von der Herausgabepflicht und liefert damit den schlagensten Beweis für die Mitwirkungsfreiheit im Prozeß, die der Regelung des § 136 I StPO entspricht. Auch die Bestimmung des § 102 StPO, die die Durchsuchung der Räume oder der Person des Verdächtigen oder seiner Sachen regelt, verschafft nur eine Eingriffsermächtigung in die Rechtssphäre des einzelnen. Es fehlt hier ebenfalls an einer Handlungspflicht des Betroffenen; nur sein etwaiger Widerstand darf mit Gewalt gebrochen werdeniM.

m. Der Slnngehalt der besdlrllnkten BewelsfuDktion des Besdluldlgten 1. Der Beschuldigte als bedingtes Beweismittel Wenn man die soeben dargestellte Stellung des Beschuldigten im Beweissystem betrachtet, so ergibt sich, daß er eine ambivalente Rolle spielt: einerseits ist er Beweismittel, sei es als Aussageperson, sei es als Gegenstand des Augenscheins. Sein Verhalten in der Rolle des Beweismittels ist für die Urteilsfindung von großer BedeutunglS3• Oftmals ist die Führung des Schuldbeweises nicht möglich, wenn der Beschuldigte seine Beweismittelrolle nicht ausfüllt. Wenn man auch nicht mehr wie zur Zeit des Inquisitionsprozesses beim Beschuldigten von der Zentralfigur des Beweisrechts sprechen kann134, so ist seine Bedeutung gegenüber dem Zeugen nicht geringer, eher vielleicht sogar noch größer. Andererseits genießt der Beschuldigte im Gegensatz zum Zeugen eine weitgehende Aussage- und Mitwirkungsfreiheit, die es ihm erlaubt, seine Beweismittelrolle entsprechend zu beschränken. Er kann sich generell weigern, auszusagen; er hat damit im Gegensatz zum Zeugen ein allgemeines Aussageverweigerungsrecht ll16 • Er kann überhaupt jedes Eb. Schmidt, L-K H, § 95 Rn 1; Kleinknecht, StPO, § 95 Anm.2. Dünnebier, L-R, § 95 Anm. 2; Müller, KMR, § 95 Anm. 2 b; Eb. Schmidt, L-KH, §95 Rn1; ders., Nachtrag, §95 Rn3; Kern/Roxin, S.173; Sax, GR HI/2, S.985, Beling, Beweisverbote, S.11. IS! Dazu Eb. Schmidt, L-K H, § 102 Rn 4. 133 Kern / Roxin, S. 117; Henkel, S. 172. 1M "confessio est regina probationum"! 136 Spendel NJW 1966, 1102 ff. (1106); Geerds, Stock-Festschrift, S.I71 ff. (183 ff.); Eser ZStW 79, 576. 130 ISl

B. Die Begrenzung der Beweisfunktion

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aktive Mitwirken verweigern. Es ist daher durchaus zutreffend, wenn Spendel 136 der Auffassung ist, daß die die Beweismittelrolle des Beschuldigten regelnden Vorschriften ein " (bedingtes) Beweismittelverbot" darstellen. Man kann aber berechtigterweise ganz allgemein sagen, daß der Beschuldigte ein bedingtes Beweismittel istl37 • Er bestimmt frei darüber, ob er Beweismittel werden Willl38 • Denkbar ist allerdings, daß der Beschuldigte Nachteile erleidet, wenn er von seinen prozessualen Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, etwa entlastende Umstände verschweigt l39 • Doch handelt es sich dann nur gewissermaßen um ein prozessuales "Verschulden gegen sich selbst". Jedenfalls sichert die StPO dem Beschuldigten durch die Regelung seiner Beweisfunktion die Autonomie seiner Persönlichkeit und damit auch seine Stellung als Prozeßsubjektl40 •

2. Aussagejreiheit und Mitwirkungsjreiheit als prozessualer Schutz vor unjreiwilliger Selbstbelastung Der Sinn der· positiv rechtlichen Regelung der Stellung des Beschuldigten und der Zweck, den der Gesetzgeber mit ihr verfolgt, ist damit aber noch nicht ausreichend gekennzeichnet. Der Beschuldigte hat die Möglichkeit, am Prozeß aktiv gestaltend mitzuwirken. Er kann aussagen oder sonst aktiv an der Beweisaufnahme mitwirken, um sich zu entlasten und die Wahrheitsfindung zu fördern. Aussagefreiheit und Mitwirkungsfreiheit entfalten damit eine positive Funktion: sie geben dem Beschuldigten die Möglichkeit der aktiven Verteidigung und der Wahrnehmung seiner Rechte im Prozeß141. Die Autonomie über die Beweismittelrolle führt aber auch dazu, daß der Beschuldigte jegliche Mitwirkung an seiner eigenen Überführung ablehnen kann. Die Strafverfolgungsorgane müssen den Schuldbeweis dann auf andere Weise erbringen l42 • Der Beschuldigte scheidet aus dem Kreis der Beweismittel weitgehend aus. Aussagefreiheit und MitwirNJW 1966, 1105. Beim Augenscheinsbeweis gilt dies natürlich nur für eine aktive Mitwirkung des Beschuldigten. 138 VgI. Grünwald JZ 1968, 752. 139 BGH JR 1962, 148; Kleinknecht, StPO, EinI. 3 Bd; Maunz I Dürig, MDH, Art. 103 Rn 6. 140 Zur Eigenschaft des Beschuldigten als Prozeßsubjekt Kern I Roxin, S. 79 ff., 117 ff. mit Übersicht zu den aktiven Verfahrensrechten; vgI. auch Henkel, S. 171 ff. 141 Eser ZStW 79, 571 mißt nur der Aussagefreiheit diese Funktion bei; die Aussagefreiheit stellt aber nur einen Aspekt dar. Hinzu kommt gleichberechtigt die Mitwirkungsfreiheit. 142 BGHSt 5, 330 ff. (333). 188

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

kungsfreiheit bewirken also zwangsläufig, daß er frei darüber befinden darf, ob er als Beweismittel an seiner überführung, d. h. an der Führung des Schuldbeweises, mitwirken will oder nicht. Daher ist den prozessualen Freiheiten des Beschuldigten eine "negative AbwehTfunktion"143 immanent, die zugleich auch das primäre Wesenselement darstellt, denn es geht in erster Linie darum, den Beschuldigten vor seiner eigenen überführung zu bewahren, nicht jedoch, ihm das rechtliche Gehör zu sichern. Man kann daher durchaus zutreffend sagen, daß das Wesen des Schweigerechts144 darin besteht, "daß der Angeklagte nicht gezwungen werden darf, ein Beweismittel gegen sich selbst zu liefern "145. Es wird von ihm nicht verlangt, daß er als "Zeuge" in eigener Sache auftrete. Dies ergibt sich schon aus der Aussage- und Mitwirkungsfreiheit, ohne daß man sich hierzu auf § 136 a StPO und § 343 StGB berufen müßte. Insgesamt ist also festzustellen, daß der Gesetzgeber mit der Regelung von Aussage- und Mitwirkungsfreiheit offensichtlich die Absicht verfolgt, dem Beschuldigten im prozessualen Bereich die Möglichkeit zu geben, nicht ein Beweismittel gegen sich selbst sein zu müssen148• Das Verbot der Aussageerpressung (§§ 343 StGB, 136 aStPO), das sich an die Strafverfolgungsorgane richtet, ist demgegenüber nur eine Begleiterscheinung, verdeutlicht aber gleichwohl das dargestellte Prinzip und stattet es mit dem notwendigen Schutz aus l47 • Man kann schließlich auch die Belehrungsvorschriften der §§ 136 I 2, 163 a III, IV, 243 IV 1, 115 III 1, 128 I 2 StPO anführen, die sicherstellen sollen, daß der Beschuldigte auch darüber unterrichtet ist, daß er kein Beweismittel gegen sich selbst abzugeben braucht. Die Hinweispflicht, die "Vorsorglichkeitsund Fürsorgecharakter" hat148, ist daher ebenfalls zu den "komplementären Schutzeinrichtungen" zu zählen, die einen Zwang zur Selbstüberführung verhindern sollen. Aussage- und Mitwirkungsfreiheit versetzen den Beschuldigten also in die Lage, in freier Selbstbestimmung darüber zu befinden, ob er ein Beweismittel gegen sich selbst sein will. Sie schützen ihn auf prozessualer Ebene vor unfreiwilliger Selbstbelastung. Immerhin enthält die StPO keine ausdrückliche Bestimmung über das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen. Das mag Veranlassung zu der überzeugung geben, das Gesetz bringe das VerEser, S.571. Und der Mitwirkungsfreiheit! 145 BGH bei Dallinger MDR 1972, 16 ff. (18); BGHSt 14, 358 (364, 365); BGH NJW 1974, 1570 ff. (1571). 146 Hahn I, Motive, S. 139 (E § 123): "Es kann nicht gefordert werden, daß der Beschuldigte gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitrage." 147 s. a. Eser ZStW 86 (Beiheft), S. 147 ff. 148 BGH NJW 1974, 1571; Petry, S.113. 143

146

c.

Das Nemo-tenetur-Prinzip beim Zeugen

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bot der unfreiwilligen Selbstbelastung nicht sehr deutlich zum Ausdruck149 • Dennoch läßt es sich aus der Statuierung der Aussagefreiheit und aus der gesamten Struktur der Eingriffsrechte im Strafprozeß schließenl5tl • Es handelt sich somit um einen Rechtssatz, der unzweifelhaft Bestandteil des deutschen Rechts ist, aber strafprozessual nur lückenhaft geregelt worden ist.

C. Das Nemo-tenetur-Prinzip beim Zeugen L Der verdächtige Zeuge 1. Die Aussagefreiheit

Während im Strafprozeß vornehmlich derjenige vor unfreiwilliger Selbstbelastung geschützt wird, der als Beschuldigter bereits in ein Strafverfahren verstrickt ist, so schützt § 55 StP01 gleichermaßen den verdächtigen Zeugen, also denjenigen, dem die Gefahr droht, erst noch Beschuldigter zu werden. Er kann nämlich die Auskunft2 auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm oder einem Angehörigen die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit zuziehen würde. Allerdings hat er den Verweigerungsgrund auf Verlangen glaubhaft zu machen (§ 56 StPO). § 55 StPO umfaßt also zwei Fälle:': einmal den der Eigengefährdung des Zeugen (1. Alt.), zum anderen den der Gefährdung eines Angehörigen, eine Fallgruppe, die der des § 52 StPO ähnlich ist, bei der der Angehörige aber schon Beschuldigter geworden ist. Wenn das Gesetz dem Beschuldigten ein volles Aussageverweigerungsrecht zubilligt, macht es deutlich, daß der Beschuldigte nicht zu einer Aussage wider sich selbst gehalten ist. Wird nun dem Zeugen, der grundsätzlich zu wahrheitsgemäßer und vollständiger Aussage (§§ 57, 66 c StPO) innerhalb des Beweisthemas' verpflichtet ist, ein Auskunftsverweigerungsrecht6 hinsichtlich gefährdender Umstände eingeräumt, so verlagert das Gesetz den Schutz des Be148 Dahs I Wimmer NJW 1960, 2219. 160 s. a. Eb. Schmidt NJW 1962, 665. 1 Zu den hiermit verbundenen Problemen eingehend Hö!scher, S. 42 ff. 2 Eb. Schmidt, L-K H, § 55 Rn 1; Sax, KMR, § 55 Anm. 1 a sehen § 55 StPO als "partielles Zeugnisverweigerungsrecht" an, a. A. BGHSt 1, 39 f. 3 Zum Ganzen kritisch Geerds, Stock-Festschrift, S. 171 ff. (185 ff.), gegen ihn Hö!scher, S. 219 ff. 4 Geerds, S.174 m. w. N. 6 Die Ausübung des Rechts ist allerdings von der Abgabe einer Willenserklärung abhängig, vgl. RGSt 57, 152 (153); BGHSt, 7, 127 f.; Eb. Schmidt, L-KH, §55 Rn2; Sax, KMR, §55 Anm.le; Kleinknecht, StPO, §55 Anm.l; Kohlhaas, L-R, § 55 Anm.1.

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1. Teil:

Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

schuldigten vor; es geht ersichtlich davon aus, daß die Lage des Beschuldigten und die des gefährdeten Zeugen identisch ist'. So wie der Beschuldigte nicht ein Beweismittel gegen sich selbst zu sein braucht, soll auch der gefährdete Zeuge davor geschützt werden, sich der Strafverfolgung zu überliefern und schon ein Zeugnis wider sich selbst zu leisten. § 55 StPO trägt also der Zwangslage des Zeugen Rechnung, der sich im Spannungsfeld von Aussagepflicht und Gefahr der Selbstbelastung befindet7. Daneben mag auch der Schutz vor Falschaussagen, die in Konfiiktslagen fast immer unvermeidlich sind, von der Regelung des § 55 StPO mitbezweckt seins. Es ist allerdings zu überlegen, ob die Statuierung eines bloßen Auskunftsverweigerungsrechtes, deren Bezugstatsache darüber hinaus noch glaubhaft zu machen ist (§ 56 StPO), was den Schutz des Zeugen praktisch illusorisch macht, rechtspolitisch verfehlt ist9 • Gefährdeter Zeuge und Beschuldigter befinden sich in der gleichen Lage; beide müssen befürchten, ein Beweismittel gegen sich selbst zu liefern. Die Tatsache, daß der eine (noch) Zeuge, der andere (schon) Beschuldigter ist, vermag die unterschiedlichen Rechtsfolgen wohl kaum zu rechtfertigen. Immerhin zeigt die Gewährung eines Auskunftsverweigerungsrechtes im Falle der Gefahr einer Selbstbelastung, daß das Gesetz weder vom Beschuldigten, noch vom Zeugen eine Selbstbezichtigung verlangt. Die Motive bezeichnen § 55 StPO (E § 45) deshalb auch mit Recht als das notwendige Korrelat des Grundsatzes, daß ein Beschuldigter nicht zu einer Aussage wider sich selbst gezwungen werden darflo. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn der 1. Senat des BGHll unter Berufung auf das RG1! ausgeführt hat, das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO fiieße aus dem allgemeinen, für den Beschuldigten im § 136 StPO als selbstverständlich vorausgesetzten rechtsstaatlichen Grundsatz, daß niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagenl3 • Daraus folgt zugleich, daß der Anwendungsbereich des Grundsatzes "nemo tenetur seipsum prodere" wesentlich breiter ist und sich nicht auf die Stellung des Beschuldigten beschränkt. Geerds, S.186; BVerfG NJW 1975, 103 m. w. N. Sax, KMR, § 55 Anm.1 b; Geerds, S.173; Henkel, S.207; Kohlhaas, L-R, § 55 Anm.1, 3; BGHSt 1, 39 (40); BGHSt 9, 34 (36); BGHSt 11, 213 ff. (216 f.); Beling, S. 12 f.; RGSt 36, 114 (116); s. a. BVerfG NJW 1975, 103. BEb. Schmidt JZ 1958, 596 (600); ders. L-K H, vor § 52 Rn 4; Sax, KMR, § 55 Anm.1 b; a. A. aber BGHSt 11, 213 (215); gegen den BGH auch Petry, S.105. SI In diesem Sinne Geerds, S. 185 ff., 189 ff.; s. a. BVerfG NJW 1975, 103 zu § 55 H Stpo. 10 Hahn I, S. 107; s. a. RG Rspr.2, 305; RGSt 36, 114 (116); BGHSt 11, 216. 11 BGHSt 1, 39 (40). 12 RG Rspr. 2, 305. 11 Ebenso jetzt BVerfG NJW 1975, 103 f. «I

7

C. Das Nemo-tenetur-Prinzip beim Zeugen

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2. Die Mitwirkungsfreiheit

Aus dem Gesagten ergibt sich schon von selbst, daß der Aussagefreiheit auch eine Mitwirkungsfreiheit entsprechen muß. So gilt für den verdächtigen Zeugen namentlich die Befreiung von der Editionspflicht (§ 95 II S.2 StPO)14 als auch das Untersuchungsverweigerungsrecht des § 81 c III S. 1 StPOI5. Hiergegen könnte und ist eingewandt worden, daß es sich bei dem Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO nicht um ein Zeugnisverweigerungsrecht i. S. der genannten Bestimmungen handeW'. Doch letztlich ist der Streit im wesentlichen belanglos, da die Strafverfolgungsorgane die Weigerung des Zeugen zum Anlaß nehmen werden, ihn in die Rolle des Beschuldigten zu versetzen, um dann nach § 81 a StPO mit noch größerem Erfolg vorzugehen l7 • Insofern befindet sich der verdächtige Zeuge in bezug auf die Gefahr der Selbstbelastung in einer schlechteren Lage als der Beschuldigtel8 • Dennoch ergibt sich aus den die Stellung des verdächtigen Zeugen regelnden Bestimmungen zweifelsfrei die Geltung des Verbots der Selbstbelastung IL Der verwandte Zeuge 1. Das Zeugnisverweigerungsrecht

Gemäß § 52 I StPO sind die dort näher bezeichneten Angehörigen des Beschuldigten zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt. Über dieses Recht sind sie zu belehren, und sie können den Verzicht auf dieses Recht jederzeit widerrufen (§ 52 III StPO). Der durch § 52 StPO herbeigeführte Schutz des Zeugen wird in § 252 StPO dadurch verstärkt, daß zufolge dem Gesetzeswortlaut 19 frühere Aussagen des Zeugen nicht verlesen werden dürfen, wenn er erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Die Gesetzesbestimmungen verdeutlichen ohne weiteres das Ausmaß des Schutzes, den das Strafprozeßrecht dem verwandten Zeugen angedeihen läßt und der ihn vor allen anderen Verfahrensbeteiligten auszeichnet2°. Das Ziel des Gesetzes ist es ersichtlich, den Zeugen davor 14 Vgl. Dünnebier, L-R, § 95 Anm.5; Eb. Schmidt, L-K II, § 95 Rn 6.

11 Eb. Schmidt, L-K II, § 81 c, Rn 7; L-K II (Nachtrag), § 81 c Rn 12 ff.; Sax, KMR, § 81 c Anm. 5; Kleinknecht, StPO (31), § 81 c Anm.5. 10 Sarstedt, L-R, § 81 c Anm. 9. 17 Sarstedt, Anm.9. 18 s. a. Eser ZStW 86 (Beiheft), S. 165. 18 Zur Auslegung des § 252 StPO vgl. unten 4. Teil, B VI 2. 20 Das "nachträglich eingetretene Beweisverbot" des § 252 StPO (Schäfer, L-R, Einl. Kap. 12 V C) ist beispielsweise einzigartig.

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1. Teil:

Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

zu bewahren, seinen Angehörigen belasten zu müssen. Eser21 sieht daher in dem Zeugnisverweigerungsrecht einen "mittelbaren Schutz vor Selbstbelastung". Die Frage ist aber, ob § 52 StPO nicht selbst schon ein Aspekt des Verbots der "Selbst"-Belastung ist, d. h. ob der Satz "nemo tenetur seipsum prodere" nicht nur das Recht umfaßt, sich selbst, sondern auch Angehörige nicht belasten zu müssen. Hierfür spricht schon die überlegung, daß der Gewissenskonflikt eines Menschen, der seinen Angehörigen belasten soll, ebenso stark sein kann, wie dann, wenn er sich selbst zu belasten genötigt sieht. Zum anderen zeigt § 55 StPO deutlich, daß sowohl die Gefahr der Selbstbelastung als auch die Gefahr der Angehörigenbelastung in den Rechtsfolgen gleich behandelt wird. In Rechtsprechung und Lehre wird die angedeutete und mögliche Konsequenz allerdings nicht gezogen!2. Im Gegenteil, die Parallele zwischen dem Selbstinkriminierungsprivileg und dem Zeugnisverweigerungsrecht wird gerade nicht akzeptiert. Immerhin erkennt man an, daß die ratio des § 52 StPO auch in der Respektierung des persönlichen Interesses des Zeugen liege, nicht gegen einen nahen Angehörigen aussagen zu müssenD. Dieses Persönlichkeitsrecht des Zeugen wird aber nicht um seiner selbst willen anerkannt, sondern nur im Hinblick auf den dadurch realisierten Schutz der Familienbande2'. § 52 StPO soll daher letztlich auf Art. 6 I GG zurückzuführen sein25 • Darüber hinaus erblickt man in § 52 StPO eine Schutznorm für die staatliche Rechtspflege, die durch Falschaussagen nicht gefährdet werden soll26. Hiermit hängt es auch zusammen, wenn betont wird, daß der an sich aussagepflichtige Zeuge (im Gegensatz zu dem Beschuldigten) eines besonderen Schutzes durch Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht bedürfetT. Die Privilegierung des verwandten Zeugen gegenüber dem Beschuldigten und dem verdächtigen Zeugen28 findet hierin seine letzte Rechtfertigung. Ihr wäre jedoch jeder Boden entzogen, wenn es der primäre Schutzzweck des § 52 StPO wäre, dem Recht eines jeden Menschen Ausdruck zu verleihen, weder sich selbst, noch Angehörige beZStW 86 (Beiheft), S. 165. Nachweise bei Sax, KMR, § 52 Anm.1 c. 23 BGHSt 2, 351 (354); BGHSt 12, 235 (239); Sax, KMR, § 52 Anm.1 c; Kern / Roxin, S. 124; Kühne, S. 64 ff. 24 BGHSt 2, 354; 11, 213 (215 f.); 12, 239; 13, 394 (399); Eb. Schmidt, L-K 11, § 52 Rn 1; Sax, KMR, § 52 Anm. 1 c; Kern / Roxin, S. 124; Peters, S. 292. 25 Krauß, Gallas-Festschrüt, S.365 (386). 26 Eb. Schmidt, L-K 11, § 52 Rn 1; Sax, KMR, § 52 Anm. 1 c; so auch wohl die Motive bei Hahn I, S. 106 zu E § 42. 27 Vgl. etwa BGHSt 12, 239. 28 SO Z. B. in den Rechtsfolgen unterlassener Belehrung oder des nachträglichen Schweigens, vgl. unten 4. Teil, B V, VI2, 3. 21

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D. Zusammenfassung

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lasten zu müssen. Darauf wird infolgedessen bei der Bestimmung des Schutzumfangs des Verbots der Selbstbelastung zurückzukommen sein.

2. Das Untersuchungsverweigerungsrecht Faßt man das "materiell-staatsrechtliche Leistungsverweigerungsrecht"!9 des verwandten Zeugen als Ausdruck des Nemo-teneturSatzes auf, muß sich auch beim objektiven Personalbeweis eine entsprechende Regelung nachweisen lassen. Hier ergibt sich indessen, daß der Zeuge im Bereich des Augenscheinsbeweises ebenfalls privilegiert wird. Er ist nämlich nach § 81 c m S.1 StPO zur Verweigerung von Untersuchungen und Blutprobeentnahmen berechtigt. Da der Zeuge hier als Gegenstand des Augenscheinsbeweises herangezogen wird, mutet man ihm nur ein passives Dulden zu, das er aber im Gegensatz zum Beschuldigten verweigern darf. Der Beschuldigte kann nämlich nur ein aktives Tätigwerden zu seinen Lasten verweigern, während er passiv duldungspflichtig ist (§ 81 aStPO). Auch hier stellt sich deshalb die Frage, ob § 81 c III StPO auf das Verbot der Selbstbelastung zurückzuführen ist und wie dann das Verhältnis der Vorschrift zu § 81 a Stpo verstanden werden muß. Zumindest werden dem § 81 c III StPO jedoch die gleichen Schutzzwecke zugrunde liegen wie dem § 52 StPO, auf den in § 81 c verwiesen wird. Verfehlt ist es daher, wenn das OLG Hammso in § 81 c StPO den Schutz der persönlichen Freiheitsrechte und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit verbrieft sieht. Wie § 52 StPO zeigt § 81 c StPO jedenfalls auch, daß neben dem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ein (identischer?) Grundsatz besteht, wonach niemand zu einem unfreiwilligen Beweisakt gegen einen Angehörigen gezwungen werden darfS1•

D. Zusammenfassung Das Verbot der unfreiwilligen Selbstbelastung ist in der StPO nicht ausdrücklich normiert. Seine Geltung läßt sich aber aus der Zusammenschau der prozessualen Normen herleiten. Hauptadressat des Rechtssatzes ist der Beschuldigte. Aber auch der verdächtige Zeuge i. S. d. § 55 StPO kann sich auf den Nemo-tenetur-Satz berufen. Ein entsprechen-. der Schutz wird dem verwandten Zeugen i. S. d. § 52 StPO gewährt, der

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11

Eb. Sdunidt, L-K II (Nachtrag), § 81 c Rn 13. MDR 1974, 1036. s. a. BGHSt 13, 399.

& Balal!

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1. Teil: Das Nemo-tenetur-Prinzip im Strafprozeßrecht

seinen Angehörigen nicht zu belasten brauchtl. Der Umfang des Schutzbereiches und die Grenzen des Verbots der Selbstbelastung sind allerdings nicht unstreitig. Zu deren Bestimmung wird ein Rückgriff auf die Geschichte des Nemo-tenetur-Satzes von Nutzen sein.

1 Nicht zugestimmt werden kann Eser (ZStW 86 [Beiheft], S.165), wenn er in den übrigen Zeugnisverweigerungsrechten (§§ 53, 53 aStPO) einen mittelbaren Schutz vor Selbstbezichtigung erblickt. Ihnen liegen nämlich durchaus andere Erwägungen zugrunde, vgl. Eb. Schmidt, L-K H, vor § 52 Rn 4 ff.; § 53 Rn 3.

Zweiter Teil

Herkunft und Entwicklung des Nemo-tenetur-Satzes A. Bildung und Fortschritt des "Nemo-tenetur"-Gedankens vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz I. Uralte Wurzeln des Grundsatzes

1. Das talmudische Recht Der Gedanke, daß niemand verpflichtet ist, einen Beitrag zu seiner eigenen überführung zu leisten, die Doktrin "Nemo tenetur prodere seipsum", beruht nicht auf einem neuzeitlichen, modernen Verständnis des Strafprozesses. Mögen die Akzeptierung dieses Grundsatzes und das Bewußtsein von seiner Existenz sich erst seit ungefähr einem Jahrhundert in Deutschland bemerkbar gemacht haben1 , so gehen seine Wurzeln doch - über das Common Law hinaus - in uralte Zeiten zurück.. Schon das talmudische Recht, das auf den "Fünf Büchern Moses" (Pentateuch) beruht und im Laufe der Zeit durch die jüdischen Schriftgelehrten und Gesetzeslehrer weiterentwickelt und überliefert wurde, kannte einen der Nemo-tenetur-Maxime gleichwertigen Grundsatz, wonach niemand sich selbst zum Schuldigen oder zum Frevler machen darf!. Genauer Zeitpunkt und Grund seines Entstehens sind jedoch nicht völlig zu klären, so daß verschiedene, an sich gleichwertige Deutungen möglich sind. Die früheste jüdische Deutung stützt sich auf Deuteronomium 17, 6: "Auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen soll der Todeswürdige den Tod erleiden, aber nicht auf die Aussage eines einzigen Zeugen:!!" Diese Stelle wurde immer so verstanden, daß das Clemens, 51 J. Crim. L., 172 ff. The Jewish Encyclopedia I, S.163; Cohn, 51 J. Crim. L., 175; Levy, S.434. Der Satz geht auf Raba zurück und lautet: "Jeder steht sich nahe und macht sich selbst nicht zum Frevler"; vgl. Goldschmidt, Talmund Synhedrin I 9 b (Bd 8, S. 495). 3 Diese Regel wird in Deut. 19, 15 auf alle Strafprozesse ausgedehnt, ohne Beschränkung auf Kapitalfälle. Vgl. auch Talmud Synhedrin 19 b (L. Goldschmidt Bd 8, S. 494 f.). 1

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2. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung

Zeugnis des Angeklagten gegen sich selbst weder allein, noch zusammen mit der Aussage eines einzelnen Zeugen zur Verurteilung ausreichte'. Diese Regel galt uneingeschränkt im. Strafprozeß. Während das Geständnis der Partei im. Zivilprozeß akzeptiert wurde und höheren Wert als das "Zeugnis von hundert Zeugen" hatte', wurde das Bekenntnis des Angeklagten strikt zurückgewiesen: es bestand daher ein absolutes Beweisverwertungsverbot für belastende Aussagen des Angeklagten'. Ein Verzicht auf dieses Privileg war nicht möglich. Das Geständnis allein führte somit nur zu einer zivilrechtlichen Haftung für die Straftat. Gleichwohl hatte das Geständnis insofern Bedeutung, als es dem Täter eine Läuterung durch Bekenntnis seiner Sünden zu Gott ermöglichen sollte7• Die hierauf bezüglichen Schriftstellen8 wurden aber so verstanden, daß sie zeitlich nach dem Strafprozeß und nach der Verurteilung lagen, also beweisrechtlich irrelevant warenIl bzw., daß ihnen Ausnahmesituationen10 zugrunde lagen, die der Verallgemeinerung nicht zugänglich sind. Welcher Gedanke der Zwei-Zeugen-Beweisregel zugrunrle liegt. ist nach Levy11 kaum zu erklären, zumal das freiwillige Bekenntnis des Angeklagten durchaus als "Zeugnis" hätte gewertet werden können. Der Sinn wird aber klarer, wenn man Deut. 17, 6 im. Zusammenhang mit Deut. 17, 7 liest: danach waren die zwei Zeugen auch die Scharfrichter; zu diesen konnte aber der Delinquent selbst nicht gehören. Dies ist aber nicht die einzige Erklärung für die Existenz der Nemo-tenetur-Maxime im. jüdischen Recht. Es scheint, daß dieser Grundsatz auch ein Mittel war, um Zeugen zur Erfüllung ihrer Zeugenpflicht anzuhalten. Die Zeugenschaft war nämlich insoweit nachteilig, als die Strafen für Meineid der Strafe des Angeklagten entspracheni! und außerdem die Zeugen verpflichtet waren, den Verurteilten hinzurichten11• Deshalb versuchten viele Zeugen ihrer Pflicht dadurch zu entgehen, daß sie sich irgendeiner Straftat anklagten, um in GemäBheit der , COhn, S.177; The Jewish Encyclopedia I, S.163; Levy, S. 435 f. 11 Talmud Baba Mecia 3 b (L. Goldschmidt Bd 7, S.434); Libai, 2 IYHR, 247 ff. (254); Mandelbaum, 5 AJCL, 115 ff. (118, Fn 25); COhn, S.177 . • Mandelbaum, S.118; Cohn, S.177. 7 Talmud Synhedrin VI, 43 b (L. Goldschmidt, Bd 8 S. 633). 8 Jos. 7, 19 ff.; 2 Sam. I, 16: "David aber sprach zu ihm: Dein Blut komme über dein Haupt; denn dein eigener Mund hat gegen dich gezeugt, indem du sagtest: Ich habe den Gesalbten des Herrn getötet." 11 Cohn, S. 176. 10 The Jewish Encyclopedia I, S.163 r. Sp.; Libai, S.254. 11 Levy, S. 435, 438. 12 Deut. 19, 19. 11 Deut. 17, 7; vgl. auch Talmud Synhedrin 111, 29 a (L. Goldsdlmidt, Bd 8, S. 571 H.)

A. Vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz

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SchriftlC, die alle Straf- und Übeltäter vom Zeugnis ausschließt, ihre Zeugnisunfähigkeit herbeizuführen. Ein Mittel dies zu verhindern, war der talmudische Nemo-tenetur-GrundsatzI5 • Dieser besagte im Zusammenhang auch, daß jeder Mensch sich selbst der Nächste ist und sich nicht selbst zum Frevler machti'. Die Schriftgelehrten folgerten diesen Teil der Nemo-tenetur-Regel aus Deut. 24, 16, das die Zeugnispflicht gegen Angehörige ausschließt17• Wenn aber schon keine Zeugnispflicht gegen Angehörige besteht, so erst recht nicht gegen sich selbst, denn jeder ist sich selbst der Nächste l8• Die Unbeachtlichkeit des Geständnisses wurde schließlich auch damit begründet, daß das Leben der Menschen Gott gehört; sie selbst können es durch ihr Geständnis nicht aufgebeni'. Der Talmud-Gelehrte Maimonides führte das Nemo-tenetur-Prinzip schließlich darauf zurück, daß das Geständnis keine hohe Wahrheitsgarantie habe, etwa wenn es von einem Geisteskranken abgelegt wird!o. Das Geständnis kann daher auch eine "Form des Selbstmordes" sein'!, zu dem der geistig Normale niemals greifen würde. Maimonides nannte den Nemo-tenetur-Satz aber auch ein "Gesetz Gottes"!!. Dies zeigt, daß letztlich auch die Kommentatoren des Talmud keine rationale Erklärung für die Nemo-tenetur-Maxime hattenft• Immerhin zeigen die verschiedenen Auslegungen der talmudischen Regel, daß Nemo tenetur verschiedene Wurzeln hatte, ohne daß jedoch Einigkeit über den genauen Entstehungsvorgang bestünde. Jedenfalls ist der Grundsatz eine talmudische Rechtsregel, die auf die Bibel zurückgeht. Außer in den Büchern der jüdischen Schriftgelehrten fand die Nemo-tenetur-Maxime zunächst aber noch keine Anerkennung". Erst in dem England nach der Magna Charta!!' sollte Nemo tenetur zum ersten Mal öffentlich in Anspruch genommen werden. 14 Ex. 23, 1; "Du sollst einem, der im Unrecht ist, nicht hilfreich zur Hand gehen, indem du als falscher Zeuge auftrittst". Diese Stelle soll die Zeugnisunfähigkeit aller Straffälliger anordnen. 11 Dazu auch Levy, S. 436 f.; Cohn, 8.175 f.; Libai, S.255 Fn 39; dieser Zweck ist von dem des Zwei-Zeugen-Grundsatzes also völlig verschieden. l' Vgl. Talmud Synhedrin I, 9 b (L. Goldschmidt, Bd. 8, S.495). 17 Talmud Synhedrin 27 b, 28 a (L. Goldschmidt, Bd 8, S. 565 ff.); Mandelbaum, S. 117; Cohn, S. 176. 18 Mandelbaum, S.117; Levy, S.437. Ez. 18, 4; Cohn, S. 177 f.; Levy, S.439. 20 Levy, S.438; Libai, S.255. 21 Levy, S. 439. 21 Nachweise bei Libai, S.255 Fn 40; Levy, S.438. 23 Zu Ausnahmen vgl. den folgenden Text. 114 Zur Frage des Einflusses des Talmud auf die Entstehung von Nemo tenetur in England vgl. unten Fn 79.

1.

2. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung

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2. Das kanonische Recht Obgleich das talmudische Recht ohne Zweifel das Verbot enthielt, den Beschuldigten zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen, wäre es falsch, nur ihm allein dieses Prinzip zuzuschreiben. Schon im 5. Jahrhundert verteidigten berühmte Kirchenlehrer die Rechte des Angeklagten:5• Neben Aurelius Augustinugt8, der sich strikt gegen die Folter aussprach, tritt besonders Johannes Chrysostomus hervor; er kann mit Recht als einer der ersten Verfechter des Nemo-teneturGrundsatzes angesehen werden, wenn er schreibt!7: "Non tibi dieo ut te prodas in publieum, neque apud alium aeeuses. Sed in veritatem eonfiteretur in iudieio aeeusatus, seipsum proderet et aeeusaret. Non ergo tenetur veritatem dieere. Et ita non peeat mortaliter si in iudieio mentiatur28• " Auch er beruft sich für seine Meinung auf das Alte Testament, wenn auch nicht auf die gleichen Schriftstellen wie die jüdischen Gelehrten. Er verneint nicht nur die Wahrheitspflicht des Angeklagten, sondern wendet sich gegen jede Selbstanklage und Selbstüberführung überhaupt. Der Meinung des Chrysostomus, die von Gratian29 im 12. Jahrhundert noch einmal aufgegriffen wurde, war jedoch kein gutes Schicksal beschieden. Thomas v. Aquin verlangt in seiner Kritik des Chrysostomus wahrheitsgemäße Antworten vom Beschuldigten, der als Untergebener des Richters erscheint: "Ad primum ergo dieendum quod quando aliquis seeundum ordinem iuris a iudiee interrogatur, non ipse se prodit, sed ab alio proditur, dum ei neeessitas respondendi imponitur per eum eui obedire tenetur30." Diese Antwort an Chrystosostomus, die eine (scheinbare) Widerlegung seiner Thesen darstellt, entwickelt sich zur herrschenden, unbestrittenen Doktrin des kanonischen Rechts. Der Angeklagte war dem Richter gegenüber unbedingt zur Wahrheit verpflichtet. Diese Wahrheitspflicht war jedoch nicht, auch nicht bei Thomas v. Aquin81 , unbeschränkt. Sie erstreckte sich lediglich auf den Tatkomplex, der zur Anklage gebracht war oder wenigstens gerüchteweise ("per famarn") Zum Ganzen Levy, S.21, 96 und insbesondere S.21 Fn 26, 27, S. 445 f. De eivitate Dei, Lib XIX, eap. 6. 27 Bei Th. v. Aquin, Summa Theologiae 11, Quaest. LXIX, Art. 1 (S. 338). 28 Vgl. auch Chrysostomus, Epist. ad Hebraeos, Cap.12, Homil. XXI, bei Migne Bd 63, 216 ff.: "Non tibi dieo ut ea tamquam pompam in publieum proferas, neque ut apud alios te aeeuses, sed ut pareas Prophetae dieenti: Revela Domino viam tuam (Psal. 36, 5)." 211 Deer.lI, eaus. XXXIII, quaest.III, eap.87 bei: Friedberg, I, S. 1184 f. 30 Summa Theologiae 11, Quaest. LXIX, Art. 1, S. 338 ff. 81 Quaest. LXIX, vgl. Fn 27. 25

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A. Vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz

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bekannt war32• Straftaten, die nicht in dieser Weise offenkundig waren und die nur der Angeklagte selbst kannte, brauchten keinesfalls zuge~ geben werden. So hatte auch das kanonische Recht einen ihm eigenen "Nemo-tenetur-Satz", der allerdings von dem uns geläufigen verschieden ist und später im Kampf um Nemo tenetur unterging: "Lieet nemo tenetur seipsum prodere, tamen proditus per famam tenetur seipsum ostendere utrum possit suam innoeentiam ostendere et seipsum purgare88•" "Prodere" bedeutete hier nur soviel wie "das Unbekannte offenbaren", d. h. sich selbst eines strafbaren Geschehens anklagen, das noch nicht Gegenstand einer Beschuldigung ist84• War aber einmal ein "öffentliches Gerücht" vorhanden, so mußte der Angeklagte im Verfahren die reine Wahrheit sagen. Dieses Verfahren, das im frühen kanonischen Recht35 akkusatorisch gestaltet war, entwickelte sich unter dem Papst Innozenz IU. zu einem gänzlich inquisitorischen88 • Der Richter konnte von Amts wegen ("ex officio mero"), ohne jede Anklage, einschreiten, mußte aber vorher das Vorliegen der "fama" oder "clamosa insinuatio" prüfen37• Das vierte Laterankonzil bestätigte im Jahre 1215 dieses Verfahren 38 und beendete damit das archaische System, das auf dem Reinigungseid und dem Einsatz von Eideshelfern beruhte39 • Im Laufe des 13. Jahrhunderts verdrängte die Verfahrensart "inquisitio" im Laufe der Ketzereiprozesse die ebenfalls zulässigen Verfahrens arten der "accusatio" und "denuncia.tio"40. Es war dann nur noch ein kleiner Schritt erforderlich, um ohne jeden Anlaß Personen vorzuladen und inquisitorisch gegen sie zu verfahren. Im Vergleich Erdmann, S. 126 mit Fn 298. Levy, S.96; Wigmore, 5 Harv. L. R., 71 ff. (83) ders., on Evidence, § 2250, S.284. 34 Wigmore, 5 Harv. L. R. 84; Erdmann, S.127. 35 Zum kanonischen Recht ausführlich Biener, S. 16 ff.; Walder, S. 36 f. 38 Die kanonische Inquisition läßt sich auf ein Dekret des Innozenz IH aus dem Jahre 1199 zurückführen; vgl. Deer. Gregor. IX, Lib. V, Tit. XXXIV (De purgatione eanoniea) eap. 10 bei Friedberg H, S. 873: "nec illud etiam improbamus, quod, lieet contra eum nullus accusator legitimus apparet, ex offieio tue tarnen, fama publiea deferente, voluisti plenius inquirere veritatem." Dazu Wigmore, on Evidenee § 2250, S.283, Fn 28; Erdmann, S.126 Fn 300; Levy, S. 22 ff.; nach Biener, S.45 findet sich die erste Spur in einem Schreiben des Innozenz III an den Bischof von Mailand (1199). 37 Deer. Gregor. IX, Lib. V, Tit. I (De aeeusationibus) eap.17 bei Friedberg H, S. 739; Levy, S. 23; Erdmann, S.126; Holdsworth IX, S.199; Wigmore, 15 Harv. L. R., 616 f. 38 Levy, S.22; Biener, S.40 und 47. 89 Wigmore, on Evidenee, § 2250, S.280; Biener, S. 22 ff. 40 Vgl. dazu auch Walder, S. 36 f.; zu den kanonischen Verfahrensarten vgl. Deer. Gregor. IX, Lib. V, Tit. I (De aeeusationibus) Cap.24 bei Friedberg H, S. 746 f.; Biener, S. 16 ff., S. 42 ff. 82

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2. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung

zu dem früheren Reinigungseid brachte das Vierte Laterankonzil für das Inquisitionsverfahren eine weitere Neuerung mit sich: den Offizialeid "de veritate dicenda" oder Eid: "ex officio"41, der vom Beschuldigten geschworen werden mußte, ohne daß er gewußt hätte, wessen er beschuldigt wurde und welche Fragen er wahrheitsgemäß zu beantworten haben würde. Dieser Eid des kanonischen Rechts, der allenfalls mit dem kanonischen Nemo-tenetur-Prinzip, nicht aber mit dem des Chrysostomus in Einklang stand, sollte der Katalysator für das Entstehen unseres Nemo-tenetur-Satzes werden. U. Der Kampf um Nemo tenetur In Englanc1

1. Akkusationsprinzip, Inquisitionsprinzip und der Eid "Ex officio" Zu Beginn des 13. Jahrhunderts, als die Macht des Papstes Innozenz III. ihren Zenit mit dem Vierten Laterankonzil erreicht hatte und das inquisitorische Verfahren seinen Anfang nahm, begann sich in England ein Strafverfahren zu entwickeln und durchzusetzen, das von dem kontinentalen in wesentlichen Zügen abwich41• Es beruhte schließlich auf drei Hauptpfeilern, nämlich: 1. Die Versetzung in den Anklagestand durch die Anklagejury (Grand Jury)4S,

2. Die Anklageschrift (Written Indictment)",

3. Die Aburteilung mit Hilfe der Urteilsjury (petty Jury)". Das Hauptverfahren war durchweg akkusatorisch gestaltet'lI. Es herrschte Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Zu Beginn des Prozesses wurde die Anklageschrift, die Tatort, Täter und Tatzeit genau bezeich41 Auch dieser Eid läßt sich auf Dekrete des Innozenz 111 aus den Jahren 1205 und 1206 zurückführen: Deer. Gregor. IX, Lib. V, Tit. I (De aecusationibus) Cap.17, 18 bei Friedberg 11, S. 739 f.; zum Eid ex officio und zu den kanonischen Eidesformen vgl. Wigmore, § 2250 S. 281 Fn 23, S. 282 mit Fn 27; Levy, S. 22 ff.; gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird der Eid ohne Einschränkung angewendet: Sexti Deer. Lib.lI, Tit. X (De testibus), Cap.2 bel Friedberg 11, S. 1002. 42 Dazu Biener, S.216ff.; Mittermaier, Englisches Strafverfahren; S.l ff., S. 263 ff., S. 362 ff.; Wigmore, on Evidenee, § 2250, S. 276 ff.; Levy, S. 3 H.; Stephen I, S. 184 ff., 244 ff.; Köstlin, S. 296 ff. 43 Zur Entstehung Biener, S. 267 ff., 308 H.; Mittermaier, S. 263 ff.; Levy, S. 5 ff., 29 ff.; Köstlin, S. 348 ff., 370 ff.; Libai, 2 IYHR, 249; Stephen I, S. 252 ff. 44 Mittermaier, S. 244 ff.; Levy, S. 29; Stephen I, S. 273 ff. 'Ii Zufolge Biener, S. 281 ff. (284) ist die Urteilsjury zwischen 1219 und 1221 entstanden; vgl. auch Mittermaier, S. 362 ff.; Köstlin, S. 370 ff.; Levy, S. 3 ff., 29. 4S Zum Folgenden ausführlich Levy, S. 3 ff.; Stephen I, S. 273 ff.; v. Gerlach, S. 10 H.

A. Vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz

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nen mußteC7 und bereits von der Grand Jury geprüft worden war, verlesen. Sodann konnte der Angeklagte verlangen, daß die Zeugen persönlich erschienen und ihren Beweis zu erbringen versuchten. Der Richter diente dem Angeklagten als Verteidiger, ohne jedoch dabei seine im wesentlichen neutrale Beobachterrolle einzubüßen. Dennoch hatte der Angeklagte keine unserem Nemo-tenetur-Prinzip entsprechende Rechte. Das Vorverfahren war inquisitorisch und auch im Hauptverfahren war der Angeklagte zu antworten gehalten und wurde vom Richter auch dazu gedrängt'8. Ein weiteres Element des englischen Strafverfahrens war es, daß der Angeklagte dem Verfahren mittels Jury zustimmen und sich im Sinne der Anklageschrift für "schuldig" oder "nichtschuldig" erklären mußteG • Tat er dies nicht, wurde er mit der "peine torte et dure"1SO dazu gezwungen, etwa indem man ihn in Einzelhaft nahm, die Nahrung entzog oder ihn mit Steinen beschwerte, bis er eine Erklärung abgabISO. Diese Art der Tortur wurde aber niemals angewendet, um ein Geständnis zu erpressen; es ging nur darum, daß der Angeklagte sich überhaupt dem Juryverfahren unterwarfll. Demnach war das Strafverfahren vor den weltlichen Gerichten Englands durchaus akkusatorisch. Die Folter war unbekannt, soweit sie zum Ziel hatte, Geständnisse zu erpressen". Ob die berühmte "Magna Charta" von 1215 in ihrem 29. Kapitel "No Freeman shall be taken or imprisoned, or be disseised of his freehold, or Liberties, or free Customs, or be outlawed, or exiled, or any otherwlse destroyed; nor will we pass upon him, nor condemn him, but by lawful Judgment of his Peers, or by the Law of the Land51." dieses Strafverfahren garantierte, ist zweifelhaft und wohl zu verneinenll'; jedenfalls hatte England in der damaligen Zeit, gemessen an den heutigen Verhältnissen, einen erstaunlich modernen Strafprozeß. Dies war der Ausgangspunkt, als im Jahre 1236 das Inquisitionsprinzip und der Offizialeid de veritate dicenda durch den päpstlichen Legaten Otho in England eingeführt wurde: Mittermaier, S. 250 mit Fn 13. Erdmann, S.128; v. Gerlach, S.13; Libai, S.250; Levy, S. 35 H.; Mittermaier, S. 4 ff.; Holdsworth IX, S. 199. 48 Stephen I, S.299; Pfenninger, Rittler-Festschrift, S. 355 H. (358 Fn 8); Biener, S. 294 H.; Köstlin, S.369; Mittermaier, S.366. 110 Unter Edward I eingeführt, wurde sie erst 1772 von George III aufgehoben; vgl. Pfenninger, Rittler-Festschrift, S.358 Fn 8; ders., SchwJZ 1961, 297 ff. (298); zur "peine forte et dure" vgl. auch Biener, S. 294 ff.; Stephen I, S. 299 ff.; v. Gerlach, S. 11; unverständlich allerdings Fn 41; Levy, S. 17 ff. 111 Levy, S.326; Pfenninger SchwJZ 1961, 298. 112 Das galt jedenfalls im Common-Law-Prozeß, nicht jedoch für die "Prerogative Courts"; vgl. Mittermaier, S. 4 f.; v. Gerlach, S. 9 f.; Levy, S. 33 f. 113 Pallister, Magna Carta, Anhang. 114 Das geht schon daraus hervor, daß die Urteilsjury frühestens ab 1219 nachzuweisen ist; vgl. oben Fn 45. 47

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2. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung

"Jus jurandum calumniae in causis ecclesiasticis et civilibus de veritate dicenda in spiritualibus, quo ut veritas facilius aperiatur et causae ceierius terminentur, statuimus praestari de cetero in regno Angliae secundum canonicas et Iegitimas sanctiones, obtenta consuetudine in contrarium non obstante55." Nach Levyö6 wurde der Ex-officio-Eid zum ersten Mal im Jahre 1246 in England angewandt, allerdings zunächst nur von den kirchlichen Gerichten. Der Eid zwang die verhörten Personen, entweder selbstbelastende Aussagen zu machen oder einen Meineid zu leisten und damit ihr Gewissen zu belasten. Verweigerten sie den Eid, wurden sie "pro confesso"57 gehalten und verurteilt. Es handelte sich also um einen richtigen Selbstbelastungseid. Daher wuchs der Widerstand gegen dieses inquisitorische und der englischen Common-Law-Praxis völlig fremde Verfahren ständig an, zumal die Kirchengerichte anfingen, ihre Zuständigkeit auf Kosten der Common-Law-Gerichte auf Laien auszudehnen. Aber nicht nur die Betroffenen kämpften gegen Offizial eid und Inquisitionsverfahren, auch König Heinrich 111. selbst tat dies, indem er den Bischöfen verbot, mittels Eides und "ex officio" zu verfahren58• Gleichwohl setzten Bischöfe und Kirchengerichte den Inquisitionsprozeß fort. Anfang des 14. Jahrhunderts erließ das Parlament das Gesetz "Prohibitio formata de statuto articulorum cleri"59. Danach waren die "Sherriffs" verpflichtet, keine Laien zu den inquisitorischen Eidesverfahren zuzulassen, außer in Ehesachen und Erbstreitigkeiten. Sie sollten verhindern, "quod altiqui Iaici in ballione sua in aliquibus Iocis conveniant ad aliquas recognitiones per sacramenta sua facienda, nisi in causis matrimonialibus et testmentariis"60. Nach den "Articuli Cleri" erließ das Parlament noch mehrere Gesetze, die den Kampf um den Inquisitionseid deutlich werden lassen. Ein Gesetz aus dem Jahre 1368 sah vor: "that no man be put to answer without presentment before justices ... or by due process ... according to the old law of the land: and if any thing from henceforth be done to the contrary it shall be void in law, and holden for errorG1." 55 Bei Wigmore, on Evidence, § 2250, S.278; Guradze, Loewenstein-Festschrift, S.151 ff. (153); Levy, S. 46 ff.; zum ganzen auch Wigmore, 5 Harv. L. R., 71 ff. (72); ders., 15 Harv. L. R., 611. 58 S.47. 57 Sexti Decr. Lib. H, Tit. IX (De confessis) Cap. 2 bei Friedberg H, S. 1001; dazu auch Wigmore, 5 Harv. L. R., 84; Erdmann, S. 126 ff. (127 Fn 303). 58 Guradze, S. 153; Levy, S.47. 58 Levy, S.49; Wigmore, on Evidence, § 2250, S.278; ders., 5 Harv. L. R., S. 74 f.; ders., 15 Harv. L. R., 611 f. 80 Text bei Wigmore, S.278; 15 Harv. L. R., 612. 61 42 Edw. IH c. 3; vgl. Levy, S.53 m. w. N.

A. Vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz

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Aber schon im Jahre 1351 hatte Stat. V 25 Edw. 11 c. 482 das Kapitel 29 der Magna Charta wiederholt und ausdrücklich festgelegt: "Nul desore soit pris par petition ou suggestion faite au roi et a son conseil, s'il ne soit par enditement ou presentement des bons et loyaux du visnee ou par proces fait sur brief original a la commune leis2 ." Der Kampf zwischen Kirche und Parlament dauerte bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts an. Die Zunahme der Ketzerei in England gab aber allmählich der Sache der Kirche die Oberhand. Als unter Heinrich IV. die Sekte der Lollharden besonders stark wurde, fand ein Sinneswandel statt. Das Parlament erließ 1401 das Gesetz "De Haeretico Comburendo", auch als "Gesetz ex officio" bekannt83• Es ermächtigte die Kirche nach kanonischem Recht gegen Verdächtige vorzugehen; das bedeutete nichts anderes als die Sanktionierung von Inquisition und Offizialeid in den Kirchengerichtshöfen. Unter Heinrich VIII wurde aber schließlich das Gesetz von 1401 aufgehoben (1533)64. Maria die Katholische setzte es jedoch 1554 wieder in Kraft. 1558 wurde dieses Gesetz dann wiederum von Elisabeth I. aufgehoben-. Diese Tatsache bedeutete aber keineswegs, daß damit der Eid ex officio beseitigt war. Er wurde trotz des ewigen Hin und Hers in der Gesetzgebung weiterhin praktiziert, und zwar nicht nur in den Kirchengerichtshöfen, sondern auch in den sog. "Prerogative Courts", die neben den Common-Law-Gerichten standen und praktisch Sondergerichtshöfe waren86• Hierhin gehört einmal die sog. "Sternkammer" (Star Chamber)87 die ihren Namen daher hatte, daß sie im Sternsaal des Westminsterpalastes tagte. Sie wurde 1487 unter Heinrich VIII. geschaffen und saß über Strafsachen, hauptsächlich Staatsschutzdelikte zu Gericht8". Später entwickelte sie sich zu einem Instrument des Königs im Kampf gegen seine Gegner, insbesondere gegen das Parlament und übte eine berüchtigte Tätigkeit aus. Ein anderer "Prerogative Court", der nicht an das Common-Law gebunden war und sich ebenfalls des Offizialeides bediente, war der sog.

Biener, S.311 m. w. N.; vgl. auch Levy, S.52. St. 2 H IV, c.15; dazu Guradze, S. 153; Wigmore, 5 Harv. L. R., 76; ders., on Evidence, § 2250, S. 285, Levy, S.59. 84 St. 25 H VIII, c.14; vgl. Wigmore, S.285; ders., 5 Harv. L. R., 76; ders., 15 Harv. L. R. 618. 85 St. 1 Eliz. c. 1, § 15; Wigmore, S. 285; ders., 5 Harv. L. R., 76. 86 Dazu v. Gerlach, S. 7 ff.; Erdmann, S.126 ff.; Guradze, S.156; Mittermaier, S. 4 f. 87 v. Gerlach, S.7 m. w. N.; Levy, S.41, 49; Eser ZStW 79, 587; Williams, S. 38 ff. 88 3 H VII, c. 1; dazu Stephen I, S. 166 ff., 338; Erdmann, S. 126 mit Fn 301; v. Gerlach, S. 7; Libai, 2 IYHR, 249; Wigmore, on Evidence, § 2250, S.286. 82 83

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2. Tell: Zur geschichtlichen Entwicklung

"Court of High Commission"81, der die Aufgabe hatte, religiöse Dissidenten zu verfolgen und abzuurteilen, eine Tätigkeit, die sich besonders unter Elisabeth I. verhängnisvoll auswirkte. In England gab es also zwei verschiedene strafverfahrensrechtliche Systeme: die gemeinen Gerichte wandten Common-Law an; der Prozeß war akkusatorisch, und es gab keinen Offizialeid. Kirchengerichte und "Prerogative Courts" verfuhren inquisitorisch und benutzten den "Offizialeid de veritate dicenda". Dieser Zustand war die unerläßlichp. Voraussetzung für das Entstehen der Nemo-tenetur-Maxime. Ein immer breiter werdender Widerstand gegen den Offizialeid brachte die große Wende mit sich. 2. Die Entstehung der Nemo-tenetur-Maxime im Widerstand gegen den Ojjizialeid Wir verdanken das Entstehen des uns heute geläufigen Grundsatzes, daß niemand verpflichtet ist, sich zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen, der persönlichen Initiative und der Zivilcourage einiger mutiger Männer im Kampf gegen Kirche und Staat. Sie gehörten nicht alle dem gleichen Glauben und der gleichen Klasse an; sie waren Puritaner, Katholiken, Sektierer, ganz einfach Nonkonformisten in einer Zeit, als die Staatskirche so häufig wechselte wie der Landesherr, aber sie waren auch Juristen und hohe Staatsbeamte. Sie waren teilweise religiös Verfolgte, teilweise auch wirklich Schuldige, vor allem aber Vorkämpfer für die verfassungsmäßigen Rechte des Volkes. Und sie standen fest verwurzelt im akkusatorischen Prinzip gemäß den Regeln des CommonLaw, einem Verfahren "by the law of the land" (cap. 29 Magna Charta). Nachdem bereits William Tyndale7G 1528 gegen den Zwang zur Selbstbezichtigung protestiert hatte, berief sich 1532 John Lambert in einem Häresieprozeß zum ersten Mal auf die Nemo-tenetur-Maxime: "For it is written in jour own law, 'No man is bound to bewray himself'Nemo tenetur prodere seipsum71." .. Erdmann, S. 126; Guradze, S. 154; Wigmore, § 2250, S. 285; Levy, S. '11, '16; die Zeitangaben von Guradze (1557) und Wigmore (1558) sind insofern irreführend, als sich selbst nach Levy, S. 71, auf den Guradze sich beruft, die Spuren der Kommission bis 1535 zurückverfolgen lassen. 70 In seinem Buch ,The Obedience of a Christian Man' 1528; Tyndale übersetzte als erster die Bibel ins Englische. Vgl. zu ihm Levy, S.63, 451 und Guradze, S. 153. 71 Lambert wurde 1537 als Ketzer verbrannt; Levy, S. 3 ff.; Guradze, S.153; der Prozeß wurde 1563 von Foxe in seinem "Book of Martyrs" bekannt gemacht.

A. Vom Talmud bis zum 5. Verfassungszusatz

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Er setzte noch den Satz hinzu: "Cogitationis poenam nemo patiatur"1t, ein offensichtlicher Bezug auf die Gedanken- und Gewissensfreiheit. Man kann annehmen, daß, wie auch schon aus dem gesetzgeberischen Kampf des Parlaments gegen den Offizialeid hervorgeht, Tyndale und Lambert die Maxime nicht "erfunden" haben, sondern daß sie schon irgendwann einmal praktiziert worden sein muß 73• Sie blieb auch nach Lambert und Tyndale im Volksbewußtsein erhalten. In einem Prozeß unter Elisabeth I. vor dem "Court of High Commission" gegen den katholischen Anwalt Leigh wandte ein CommonLaw-Gericht im Jahre 1568 zum ersten Mal den Nemo-tenetur-Satz an14. Leigh, der den Offizialeid verweigert hatte, war in Haft genommen worden. Das Gericht, bei dem er zugelassen war, erreichte aber seine Haftentlassung, wobei Chief Justice Dyer die Begründung "quod nemo tenetur seipsum prodere" anführte1'. Damit war der kanonische Nemo-tenetur-Satz aufgegeben, denn Leigh war nam kanonischem Recht rechtmäßig angeklagt worden. In dem Prozeß Lord Vaux76, der 1580 stattfand, verweigerte Sir Thomas Tresham ebenfalls den Eid vor der Star Chamber, indem er sagte: "And, if I dyd accuse myselfe by my owne othe, I should condemne myselfe against the lawe of nature and Gods lawe77." Hier wird deutlich, daß das Verbot der Selbstbezichtigung auf das Naturrecht und das Recht Gottes zurückgeführt wird; wie aus anderen Prozessen78 hervorgeht, ist mit dem "Gesetz Gottes" das Verbot des Schwörens im Neuen Testament79 gemeint. Obwohl in den folgenden Jahren die Berufung auf das Naturrecht und das Neue Testament immer wiederkehrt80, wandelte sich allmählich die Begründung, mit der die Angeklagten es ablehnten, sich selbst oder andere zu belasten. Das Bewußtsein der Bürgerrechte wird stärker. In den Prozessen gegen den puritanischen Priester Udall81 berief sich dieser für seine Eidesverweigerung darauf, daß aufgrund der Magna

Levy, S.4. Guradze, S. 153; Levy, S. 64. 74 v. Gerlach, S. 10 f.; Guradze, S.155; Levy, S. 96 f., 456; Williams, S. 42 f. 76 Levy, S.96; v. Gerlach, S.l1. 78 Guradze, S. 155; Levy, S. 100 H. 77 Levy, S. 104, 458. 78 Vgl. etwa den Prozeß gegen Barrow u. a. bei Levy, S. 157; vgl. auch Guradze, S. 155. 78 Mt. 5, 33 H.; auffallend ist, daß sich kein Vertreter des Nemo-teneturGedankens auf den Talmud oder das Alte Testament berief. Es wird somit nicht nachzuweisen sein, daß der Talmud von Einfluß auf das englische Recht war; vgl. Levy, S. 439 H.; a. A. aber wohl Mandelbaum, 5 AJCL, 119. 80 Vgl. Fn 76. 81 1 St. Tr. 1271 H. (1590); dazu v. Gedach, S. 9 L; Wigmore, § 2250, S.295; Levy, S. 164 H.; Wigmore, 15 Harv. L. R., 629. 72

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2. Teil: Zur geschichtlichen Entwicklung

Charta und der Gesetze des Landes der inquisitorische Ex-officio-Eid rechtswidrig sei: "I will take an oath of a11egiance to her Majesty ... but to swear to accuse myself or others, I think you have no law for it82." In einem späteren Prozeß vor einer Jury verweigerte Udall sogar die Selbstbelastung, obwohl er nach gemeinem Recht ordnungsgemäß angeklagt war83 • Der Gedanke, daß es Magna Charta und das alte Recht des Landes, d. h. das Common-Law, waren, die jede Selbstbezichtigung verboten, nahm immer mehr an Stärke zu und wurde schließlich besonders durch wahrscheinlich heimlich verbreitete Schriften des Staatsbeamten Robert Beale zwischen 1588 und 1590 bekannt84. Er schrieb: "Whereby I doe inferre that by the Statute of Magna Charta and the olde lawes of this realme, this othe for a man to accuse himself was and ii!l utterlie inhibited84." Die erste theoretische Begründung des Nemo-tenetur-Satzes ist dem Anwalt Nicholas Fuller zuzuschreiben85• Sowohl als Strafverteidiger als auch selbst als Angeklagter verteidigte er um 1607 den Grundsatz, sich nicht selbst anklagen zu müssen. Er wies ausführlich die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes "Ex officio" von 1401 nach, erinnerte an das Gesetz von 1368, das das Eidesverfahren ex officio für nichtig erklärte, und schloß daraus, daß Magna Charta "would, a fortiori, make voyd a11 constructions of statuts contrary to Magna Charta"88. Er führte außerdem naturrechtliche Gedanken an, indem er auf