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German Pages 292 Year 1998
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 55
Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik
Von
Bernd Hoppe
Duncker & Humblot · Berlin
B E R N D HOPPE
Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 55
Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik
Von Bernd Hoppe
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hoppe, Bernd: Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat: Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik / von Bernd Hoppe. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 55) Zugl.: Gießen, Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-428-09131-0
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-09131-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort Die hier vorgelegte Arbeit ist im Wintersemester 1996/97 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen worden. Aus Anlaß ihrer Veröffentlichung danke ich sehr herzlich und an erster Stelle meinem Lehrer und Doktorvater Herrn Prof. Dr. Brun-Otto Bryde für seine vielfältige Förderung, die mir während meiner Zeit zunächst als studentische Hilfskraft und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seiner Professur zuteil wurde. In diesen Jahren bin ich ganz maßgeblich durch sein Vorbild nicht nur im Hinblick auf wissenschaftliche Grundfragen - geprägt worden. Ohne seine Unterstützung und ohne die von ihm gestiftete Arbeitsatmosphäre hätte mein Dissertationsprojekt nicht erfolgreich abgeschlossen werden können. Herrn Prof. Dr. Heinhard Steiger danke ich sowohl für die Mühe der Zweitbegutachtung als auch für sein großes Interesse am Fortgang meiner Arbeit nicht nur während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seiner Professur. Mein Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Klaus Lange für seine langjährige Förderung von meinen ersten juristischen Gehversuchen an bis zum Abschluß der Dissertation. Frau Marga Pfeffer hat die Druckvorlage erstellt. Dafür und für - gelegentlich erforderlichen - sehr weltlichen Zuspruch während unserer gemeinsamen Tätigkeit danke ich sehr herzlich. Schließlich möchte ich vielen Freunden und Kollegen an den Professuren Bryde, Lange, Steiger und von Zezschwitz für vielfältige Hinweise und Anregungen danken, besonders Herrn Dr. Ralf Kleindiek für eine gründliche und kritische Durchsicht des Manuskriptes.
Bernd Hoppe
Inhaltsverzeichnis A. Problemstellung
13
I.
Gegenstand und Aufbau der Arbeit
13
II.
Zur Methode
15
III.
Forschungsstand und Quellenlage
17
B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der Weimarer Reichsverfassung
20
I.
Die Auffassung der Literatur
20
II.
Der Wortlaut und die Systematik
22
III.
Die Entstehungsgeschichte
23
1. Zur Entstehung der Verfassung
23
2. Die Debatten um das Regierungssystem in der Nationalversammlung
24
a) Der Verfassungsentwurf von Hugo Preuß
24
b) Zum Verständnis des Preußschen Entwurfs: Der preußische Verfassungskonflikt
27
c) Die Haltung der Parteien zum Preußschen Entwurf.
33
aa) Die Sozialstruktur und die Programmatik der Parteien der Nationalversammlung
33
(1) Die Deutschnationale Volkspartei
34
(2) Die liberalen Parteien
36
(3) Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei
39
(4) Die Sozialdemokraten
42
bb) Die erste Lesung in der Nationalversammlung
44
8
nsverzeichnis (1) Die Parteien der Weimarer Koalition
44
(2) Die Deutsche Volkspartei
45
(3) Die Deutschnationale Volkspartei
46
(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten
47
cc) Die Beratungen im Verfassungsausschuß
47
(1) Die Parteien der Weimarer Koalition
47
(2) Die Deutschnationale Volkspartei
51
(3) Die Deutsche Volkspartei
52
(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten dd) Die zweite Lesung in der Nationalversammlung (1) Die Parteien der Weimarer Koalition
53
(2) Die Deutsche Volkspartei
54
(3) Die Deutschnationale Volkspartei
54
(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten
55
ee) Die dritte Lesung in der Nationalversammlung
55
(1) Die Parteien der Weimarer Koalition
56
(2) Die Deutsche Volkspartei
57
(3) Die Deutschnationale Volkspartei
58
(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten
59
3. Die beiden die Verfassungsberatungen begleitenden Kabinettsbildungen
IV.
52 53
59
a) Das Kabinett Scheidemann
59
b) Das Kabinett Bauer
63
Ergebnis
C. Die Staatspraxis
68 70
I.
Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch: Das erste Kabinett Müller
70
II.
Die Deutsche Volkspartei wird Regierungspartei: Das Kabinett Fehrenbach
79
Für ihn stand der Feind rechts: Joseph Wirth
88
1. Das erste Kabinett Wirth
88
2. Das zweite Kabinett Wirth
94
III.
nsverzeichnis IV.
Politische Laien als sogenannte Fachmänner: Das Kabinett Cuno
V.
Der sogenannte Vernunftrepublikaner: Gustav Stresemann
105
1. Das erste Kabinett Stresemann
105
2. Das zweite Kabinett Stresemann
112
Die Ausschaltung des Parlaments: Das erste Kabinett Marx
122
VI.
98
VII. Nach der erneuten Niederlage der parlamentarischen Demokratie bei der Reichstagswahl: Das zweite Kabinett Marx
132
VIII. Ein Anachronismus: Hans Luther, der Politiker ohne Partei. Das erste Kabinett Luther
139
IX.
X.
XI.
Von der republikanischen Spitze zum Ersatzkaiser: Eberts Tod und Hindenburgs Wahl
149
Der Reichspräsident arbeitet gegen eine parlamentarische Mehrheitsregierung: Das zweite Kabinett Luther
152
Der Kanzler wird ausgetauscht: Das dritte Kabinett Marx
161
XII. Erneute Regierungsbeteiligung der DNVP: Das vierte Kabinett Marx
167
XIII. Die letzte parlamentarische Regierung: Das zweite Kabinett Müller
181
XIV. Das Ende der parlamentarischen Demokratie: Das Kabinett Brüning
190
XV. Zusammenfassung
202
D. Die Rolle der Wissenschaft
204
I.
Der Kampf um die Auslegung des Art. 54 WRV
206
II.
Der soziale und institutionelle Hintergrund der deutschen Hochschullehrer
214
Die Methoden- und Richtungsänderung in der Weimarer Staatsrechtslehre
216
Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Weimarer Wissenschaft
227
III.
IV.
10
nsverzeichnis 1. Die Ideen von 1914 a) Die deutsche Freiheit
228
b) Die Demokratie
229
c) Der Parlamentarismus
231
d) Der Staat und die Parteien
233
2. Das Meinungsklima an den Hochschulen
234
3. Carl Schmitt
239
a) Carl Schmitts Idealbild von der parlamentarischen Demokratie
240
aa) Das Parlament als Ort öffentlicher Diskussion
240
bb) Der aristokratische Charakter der Parlamentswahl
241
cc) Die Parteien als luftige Gebilde
242
dd) Die Homogenität als Voraussetzung der parlamentarischen Demokratie
242
b) Carl Schmitts Darstellung der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik aa) Das Parlament
V.
228
243 243
bb) Die Wahl
244
cc) Die Parteien
245
dd) Heterogenität und Pluralismus
246
c) Der Hüter der Verfassung als Ausweg aus der Krise
247
d) Carl Schmitt: Der Panegyriker des Staates
248
4. Die Verachtung der liberalen Demokratie
254
5. Der Haß gegen den Parlamentarismus und die Parteien
257
Zusammenfassung
261
E. Zusammenfassung
263
Quellen- und Literaturverzeichnis
265
Sachwortverzeichnis
287
Abkürzungsverzeichnis a. A.
anderer Auffassung
Abs.
Absatz
AD AP
Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik
AfS
Archiv für Sozialgeschichte
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ARSP
Archiv flir Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
ASwSp
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik
AVAVG
Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
BBB
Bayerischer Bauernbund
Bd.
Band
BVP
Bayerische Volkspartei
DAZ
Deutsche Allgemeine Zeitung
DDP
Deutsche Demokratische Partei
ders.
derselbe
DHP
Deutsch-Hannoversche Partei
Diss.
Dissertation
DJZ
Deutsche Juristenzeitung
DNVP
Deutschnationale Volkspartei
Dok
Dokumente
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
DuM
Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung
DVFP
Deutschvölkische Freiheitspartei
DVP
Deutsche Volkspartei
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Fn.
Fußnote
FZ
Frankfurter Zeitung
Hrsg.
Herausgeber
HZ
Historische Zeitschrift
JA
Juristische Arbeitsblätter
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
12
Abkürzungsverzeichnis
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
Kab.
Kabinett
KJ
Kritische Justiz
KPD
Kommunistische Partei Deutschlands
Nachl.
Nachlaß
N. F.
Neue Folge
NG/FH
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
o. J.
ohne Jahr
Prot.
Protokolle
PVS
Politische Vierteljahresschrift
RDI
Reichsverband der Deutschen Industrie
RV
Reichsverfassung
RWiR
Reichswirtschaftsrat
s.
siehe
s. o.
siehe oben
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SZ
Süddeutsche Zeitung
taz
tageszeitung
USPD
Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
v.
vom
Verh. Rt.
Verhandlungen des Reichstags
VfZ
Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte
VSPD
Vereinigte Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WRV
Weimarer Reichsverfassung
Z
Zentrum
ZfP
Zeitschrift für Politik
A. Problemstellung I. Gegenstand und Aufbau der Arbeit Verfassungen als "Kodificationen der Grundlagen der Staats- und Rechtsordnung" sind mit der Vorstellung einer besonderen Festigkeit und Stetigkeit verbunden. 1 Sie haben den Anspruch, "Ausdruck konsensfähiger Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft und Fundament der geistigen, politischen, sozialen und ökonomischen Struktur zu sein."2 Eine Verfassung soll nicht nur für die Zukunft verbindlich sein als Proklamation politischer Zielsetzungen,3 sondern den Staat als Handlungseinheit hervorbringen, 4 zumindest aber die Entwicklung eines Staates begleiten und formen. 5 Mit der Bezeichnung der Verfassung als rechtliche Grundordnung 6 oder Fundamentalnorm 7 will man nicht nur die Wichtigkeit ihres Inhalts, sondern ebensosehr ihre Beständigkeit verdeutlichen. Als ranghoher, konzentrierter Ausdruck von rechtlichen Grundvorstellungen 8 ist mit ihr in ganz besonderer Weise die Vorstellung des Dauernden verbunden, 9 sie ist "entzeitet".10 Durch ihre Gesetzesform gewinnt sie zusätzlich eine spezifische Art von Evidenz und Stabilität,11 sie erhält eine rationalisierende, stabilisierende und machtbegrenzende Funktion. 12
1
So bereits P. Laband, Wandlungen, S. 1. K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. VIII. 3 H. Ridder, Ordnung, S. 90 f. 4 D. Grimm, AöR 97 (1972), S. 495. 5 P. Kirchhof, Identität, S. 777. 6 U. Scheuner, Staatslexikon, Stichwort: Verfassung, S. 118. 7 P. Badura, Festschrift für U. Scheuner, S. 34. 8 P. Lerche, Festgabe Maunz, S. 286. 9 W. Kägi, Verfassung, S. 52. 10 So W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), S. 566 und S. 570, unter Hinweis auf E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsbegriff, für das säkularisierte Denken der Aufklärung; die Verfassung erscheine dort als Ausdruck zeitloser Vernunft und als eine im wesentlichen unbewegte Ordnung. 11 E. Forsthoff, Festschrift für Carl Schmitt, S. 36. 12 K. Hesse, Festschrift für U. Scheuner, S. 134; von einer stärkeren Bindungswirkung der Verfassung gegenüber allen anderen Gesetzen spricht auch K. Larenz, Methodenlehre, S. 347. 2
A. Problemstellung
14
Trotz der Warnungen vor "Modewissenschaften mit antijuristischem Affekt, in denen das Fließende gegenüber dem Stabilisierenden dominiert", 13 erkennen aber auch Verfassungsjuristen, daß Verfassungen kein normatives Eigenleben führen. 14 Wie andere Rechtsnormen sind sie bezogen auf die Realität. Dabei gehört die Wirklichkeit der Verfassungen zu den "widerständigsten, weil sie eine besonders hohe Eigendymamik aufweist." 15 Geschichtlicher Wandel 16 und die Dynamik des gesellschaftlichen und politischen Prozesses17 führen deshalb dazu, daß sich Verfassungsrecht ändert, wandelt oder fortentwickelt. 18 Vorangetrieben wird die Entwicklung einer Verfassung von den Akteuren dieses politischen Prozesses.19 Für die organisationsrechtlichen Bestimmungen sind dies vor allem die in den Verfassungsorganen handelnden Personen als unmittelbare Anwender dieser Vorschriften. Daneben spielt für diesen Prozeß aber auch die Wissenschaft, insbesondere die des Verfassungsrechts, eine große Rolle. Sie "deutet das Wort der Verfassung ..." und "trägt Verantwortung für das Gelingen des Verfassungsstaates, der sich im Ablauf der Zeiten zu bewähren und schöpferisch zu erneuern hat." 20 An einem konkreten Beispiel, der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik, möchte ich einen derartigen Prozeß der Verfassungsentwicklung nachzeichnen. Dabei sollen im Abschnitt B. die für die Regierungsbildung entscheidenden Normen der Verfassung ausgelegt werden. Ausführlich wird dabei die Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften untersucht. Anders als in der bisherigen Literatur zum Regierungssystem der Weimarer Republik möchte ich mich dabei aber nicht allein auf die leicht zugänglichen und zum Teil erst deutlich nach dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung entstandenen Schriften des maßgeblich an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligten Hugo Preuß stützen. Vielmehr soll ausführlich auf die Beratungen der einschlägigen Vorschriften in der Nationalversammlung und in ihrem Verfassungsausschuß eingegangen werden. Es wird sich herausstellen, daß in bewußter Abkehr von der konstitutionellen Regierungsweise des Kaiserreichs, in dem das Staatsober13
K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. VIII. D. Grimm, Gegenwartsprobleme, S. 336. 15 D. Grimm, AöR 97 (1972), S. 501. 16 K. Hesse, Grundzüge, Rn. 37. 17 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 19. 18 Aus der "entzeiteten" wird auf diese Weise eine zeitgeprägte Verfassung, W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), S. 566; ähnlich P. Lerche, Festgabe Maunz, S. 286, der eine Verfassung auch als Antwort auf die sich jeweils neu stellenden sozialen Fragen und ökonomisch-technischen Herausforderungen begreift; für den Bereich der Grundrechte W. Höfling, Grundrechtsinterpretation, bes. S. 186 ff. 19 Vgl. hierzu B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 111 ff. 20 J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, S. VII. 14
II. Zur Methode
15
haupt unabhängig vom Parlament über die Zusammensetzung der Regierung entschied, die Mehrheit der Weimarer Nationalversammlung das parlamentarische Regierungssystem durchsetzte. Die Regierung sollte nicht mehr von oben eingesetzt werden, sondern dem Volk wurde über das Parlament der entscheidende Einfluß bei der Regierungsbildung zugesprochen. Auf diese Weise erhielten auch jene gesellschaftlichen Kräfte Zugang zur Macht, denen eine Regierungsbeteiligung bisher erfolgreich verwehrt worden war: Sozialdemokraten, Linksliberale und Katholiken. Auch deshalb war die Realität der Weimarer Republik gegenüber dieser Neuordnung der Kräfteverhältnisse zwischen Staatsoberhaupt, Regierung und Parlament besonders widerständig. Im Abschnitt C. wird zu zeigen sein, daß sich die Praxis der Regierungsbildung immer mehr von den Vorgaben der Verfassung entfernte. A m Ende der Entwicklung vollzogen sich die Kabinettsbildungen wieder auf die im Kaiserreich praktizierte Weise: Nicht das Parlament und die dort wirksamen gesellschaftlichen Kräfte entschieden über die Zusammensetzung der Regierung, sondern unter ihrer bewußten Ausschaltung setzte das Staatsoberhaupt ein Kabinett seines Vertrauens ein. Im Abschnitt D. soll gezeigt werden, daß die Mehrheit der Ausleger der Verfassung diesen Prozeß der Verfassungsentwicklung unterstützend begleitet hat. Begünstigt durch eine Methodenänderung innerhalb der Staatsrechtslehre, die die normative Kraft der Verfassung schwächte, gewannen die am Kaiserreich mit seinem konstitutionellen Regierungssystem orientierten verfassungspolitischen Vorstellungen der Mehrheit der Hochschullehrer auch für die Auslegung der Verfassung eine steigende Bedeutung. Das als westlich geprägt empfundene parlamentarische Regierungssystem der Weimarer Verfassung wurde unter Anwendung der neuen Methode der Verfassungsauslegung uminterpretiert in ein der konstitutionellen Regierungsweise des Kaiserreichs entlehntes Präsidialsystem.
II. Zur Methode Zunächst soll in einer rein dogmatischen Vorgehensweise untersucht werden, welche Festlegungen die neue Verfassung hinsichtlich des Regierungssystems getroffen hat. Allein mittels methodisch kontrollierter Denkoperationen 21 soll ergründet werden, was zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Ver-
21 Vgl. nur P. Laband, Staatsrecht, S. IX; zu dieser positivistischen Methode s. auch unten D III. und die dort zitierte Literatur.
16
A. Problemstellung
fassung normativ Geltung beanspruchte. Diese rein dogmatische oder positivistische Methode wird aber nur zu Beginn der Arbeit benutzt. Wichtiger ist es mir zu untersuchen, warum diese Festlegungen der neuen Verfassung im Laufe der Weimarer Republik immer weniger befolgt wurden. Ergründet werden sollen also die "wechselseitige Interdependenz und der funktionelle Zusammenhang zwischen dem Recht und den nichtrechtlichen gesellschaftlichen Phänomenen."22 Im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht also nicht die Frage, wie sich die Anwendung und die Auslegung der einschlägigen Normen der Verfassung im Laufe der Weimarer Republik entwickelt haben. Vielmehr soll in erster Linie ergründet werden, warum es zu dieser Verfassungsentwicklung kam. 23 Die Arbeit stellt sich damit methodisch als rechtssoziologische Untersuchung dar. Eine verfassungshistorische Untersuchung mit diesem methodischen Ansatz wird ganz wesentlich begünstigt durch eine Methodenänderung in der Geschichtswissenschaft. Auch sie verfolgt heute nicht mehr ausschließlich einen altertümlichen 24 Positivismus, der Geschichte "als kausale Zurechnung wichtiger, d. h. schicksalhafter, Einzelzusammenhänge"25 begreift. Angestoßen durch eine Debatte über Gesellschaftsgeschichte in England 26 und Frankreich 27 sowie der Forderung nach einer Strukturgeschichte, 28 die im Gegensatz zur Ereignisgeschichte die Traditionen und Optionen bestimmenden, die Handlungsspielräume festlegenden historischen Strukturen der unterschiedlichsten Art zur Geltung zu bringen habe, kam es Ende der sechziger Jahre und in den siebziger Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft zu einer heftig
22
bend.
So T. Raiser, Rechtssoziologie, S. 7, die Aufgabe der Rechtssoziologie beschrei-
23 Vgl. hierzu K. F. Röhl, Rechtssoziologie, S. 1, der das Erkenntnisinteresse der Rechtssoziologie mit den Fragen umschreibt, warum die Gesetze gerade diesen und keinen anderen Inhalt haben, wem die Gesetze nützen und wem sie schaden und warum ein Richter gerade so und nicht anders entscheidet; zum Gegenstand und der Aufgabe der Rechtssoziologie vgl. auch H. Ryffel, Rechtssoziologie, S. 2; M. Rehbinder, Einfuhrung in die Rechtssoziologie, S. 1 f.; N. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 9; H. Rottleuthner, Einführung, S. 1 ff. 24 H. U. Wehler, Was ist Gesellschaftsgeschichte?, S. 124. 25 So noch Max Weber die Geschichte von der Soziologie abgrenzend, M. Weber, Wirtschaft, S. 14. 26 Vgl. hierzu E. J. Hobsbawm, Social History. 27 Vgl. hierzu J. Le Goff/P. Nora (Hrsg.), Histoire. 28 W. Conze, Strukturgeschichte.
III. Forschungsstand und Quellenlage
17
geführten Methodendiskussion.29 Als marxistisch kritisiert wurde vor allem, daß die Vertreter der neuen Methode sozialökonomischen Prozessen eine größere Durchsetzungsfähigkeit und Erklärungskraft zumaßen als anderen Prozessen. Dieser nicht unzutreffenden Kritik entziehen sich die Vertreter der neuen Methode heute dadurch, daß sie nicht mehr auf der Überlegenheit der wirtschaftlichen Dimension bestehen. Vielmehr wird ausdrücklich eingeräumt, daß von einer Unterlegenheit oder Zweitrangigkeit der beiden anderen Dimensionen, Herrschaft und Kultur, nicht mehr gesprochen werden kann. 30 Unter Berufung auf Max Weber nimmt nun Wehler an, daß "Herrschaft, Ökomomie und Kultur gleichwertige, gleichberechtigte Dimensionen jeder Gesellschaft" 31 darstellen. Ziel der Arbeit ist es nun nicht, eine umfassende Darstellung der Geschichte der Weimarer Republik zu erbringen. Untersucht werden soll vielmehr ein relativ beschränkter Ausschnitt aus der Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik. Dabei will ich aber diese Erkenntnisse der modernen historischen Methode nutzen und nicht nur die Ereignisse im Bereich der Herrschaft beschreiben. Wesentliches Ziel der Arbeit ist es vielmehr, auch die ökonomischen und kulturellen Einflüsse auf die Entwicklung der Verfassung deutlich zu machen.
III. Forschungsstand und Quellenlage Eine Untersuchung der Kabinettsbildung mit diesem methodischen Ansatz fehlt bisher in der überaus umfangreichen Literatur zur Weimarer Republik. Das schon wegen seines Umfangs noch immer herausragende siebenbändige Werk von Ernst Rudolf Huber 32 diskutiert in den beiden Bänden zur Weimarer Republik zwar ausführlich die einzelnen Regierungsbildungen. Auf Grund seines methodischen Ansatzes untersucht Huber aber nicht die ökonomischen und kulturellen Gründe für die feststellbare Verfassungsentwicklung in diesem Bereich. Seine etatistische Grundkonzeption führt außerdem zu einer Verklärung des deutschen Obrigkeitsstaates und zu einer immer wieder anzutreffen-
29
Zu dieser Diskussion vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von J. Kocka, Archiv für Sozialgeschichte XV (1975), S. 1-42 und für die Diskussion nach 1975 ders., Sozialgeschichte, S. 132-176. 30 So H. U. Wehler, Was ist Gesellschaftsgeschichte?, S. 120. 31 H. U. Wehler, Was ist Gesellschaftsgeschichte?, S. 123; vgl. auch ders., Gesellschaftsgeschichte, S. 7. 32 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte. 2 Hoppe
18
A. Problemstellung
den Einschleusung von antiliberalen und antidemokratischen Vorurteilen. 33 Die vorliegende Arbeit will sich deshalb - bezogen auf ihren eingeschränkten Gegenstand - kritisch mit Hubers imponierenden Werk auseinandersetzen. Die anderen umfassend angelegten verfassungshistorischen Arbeiten etwa von Willoweit, 34 Menger, 35 Kröger, 36 Grimm, 37 Boldt 38 , Kimminich 39 , Frotscher/Pieroth 40 oder Zippelius 41 können bereits wegen ihres Umfangs die hier untersuchten Fragen nicht erschöpfend behandeln. Die die Kabinettsbildung untersuchenden politikwissenschaftlichen und historischen Arbeiten befassen sich nur am Rande mit verfassungsrechtlichen Fragen. Ein Ausnahme bildet hier die Untersuchung von Haungs,42 der auch die normativen Vorgaben der Verfassung erörtert. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß das Präsidialsystem in der Weimarer Verfassung angelegt sei.43 Konsequent hält er dann Einflüsse des Parlaments und der Parteien auf die Regierungsbildung für verfassungsrechtlich bedenklich.44 Die anderen Arbeiten etwa von Stürmer, 45 Laubach,46 Blunck 47 oder Arns 48 befassen sich nicht oder nur am Rande mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Regierungsbildung. Dadurch und durch die Beschränkung dieser Untersuchungen auf wenige Jahre der Weimarer Republik 49 kann das Vorliegen einer Verfassungsentwicklung in diesen Arbeiten nicht erörtert werden. 33 So die zwar sehr pointierte aber wohl richtige Kritik von H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 2 f. 34 D. Willoweit, Verfassungsgeschichte. 35 C. F. Menger, Verfassungsgeschichte. 36 K. Kröger, Einführung. 37 D. Grimm, Verfassungsgeschichte, der bisher die Zeit von 1776 bis 1866 behandelt. 38 H. Boldt, Verfassungsgeschichte. 39 O. Kimminich, Verfassungsgesichte. 40 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte. 41 R. Zippelius, Verfassungsgeschichte. 42 P. Haungs, Reichspräsident; Haungs stellt an den Beginn seiner Arbeit einen Abschnitt über die Verfassungsberatungen zum Regierungssystem, S. 22-51. 43 P. Haungs, Reichspräsident, S. 24, 272. 44 P. Haungs, Reichspräsident, S. 273. 45 M. Stürmer, Koalition. 46 E. Laubach, Politik. 47 J. Blunck, Gedanke. 48 G. Ams, Regierungsbildung. 49 So untersucht Haungs die Jahre 1924 bis 1929, Stürmer die Jahre 1924 bis 1928, Arns die Jahre 1919 bis 1924, Blunck die Jahre 1923 bis 1928 und Laubach nur die Kabinette Wirth.
III. Forschungsstand und Quellenlage
19
Teil C der Arbeit stützt sich ganz wesentlich auf die von Erdmann, W. Mommsen und Booms herausgegebenen Akten der Reichskanzlei. Neben den Protokollen der Kabinettssitzungen sowie von Konferenzen und Besprechungen finden sich dort Berichte, Aufzeichnungen und Entwürfe der Kanzlei für den Reichskanzler. Enthalten ist auch seine Korrespondenz mit den verschiedenen Reichsministern, Ländern, Verbänden, Gewerkschaften und Persönlichkeiten des politischen und wirtschaftlichen Lebens. Daneben konnten die von Morsey und Ruppert herausgegebenen Sitzungsprotokolle der Zentrumsfraktion herangezogen werden. Benutzt wurden auch die von Albertin und Wegner bearbeiteten Protokolle der Sitzungen der Führungsgremien der DDP sowie die von Potthoff und H. Weber bearbeiteten Sitzungsprotokolle der SPD-Fraktion in der Nationalversammlung. A u f Grund dieser umfangreichen gedruckten Quellen mußten nur ausnahmsweise ungedruckte Quellen herangezogen werden.
2*
B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der Weimarer Reichsverfassung I. Die Auffassung der Literatur In der Literatur wird das Regierungssystem der Weimarer Reichsverfassung überwiegend als ein Präsidialsystem gekennzeichnet. Vertreten wird, daß die neue Verfassung ein duales System,1 ein gemäßigt dualistisches Gleichgewichtskonzept2 oder einen organisatorischen Dualismus geschaffen habe mit einer Abhängigkeit des Kanzlers auch vom Vertrauen des Reichspräsidenten 3 In ihr sei die Entwicklung des Verfassungslebens zum präsidialen Übergewicht bis hin zur Präsidialdiktatur angelegt gewesen.4 Auch Huber, der den Weimarer Verfassungsberatungen in seiner Verfassungsgeschichte erstaunlich wenig Platz einräumt, 5 sieht einen persönlichen Entschluß Eberts 6 für die Übernahme des Präsidentenamtes und damit die Vorwegnahme der institutionellen Entscheidung für einen starken Reichspräsidenten mit einem verborgenen Konstitutionalismus und einem Restbestand parlamentsunabhängiger Regierungsgewalt. 7 Hingewiesen wird auch auf eine deutliche Neigung der DDP, den Präsidenten in die Sphäre eines pouvoir neutre zu heben, der mehr sein sollte als nur ein gleichberechtigtes Gegengewicht zum Parlament. Gewünscht worden sei von den Linksliberalen eine starke Exekutive mit einem persönlichen Element.8 Die bereits im Verfassungsentwurf enthaltene starke Stellung des Reichspräsidenten sei sogar in den Verfassungsberatungen noch ausgebaut worden. 9
1
H. Boldt, Reichsverfassung, S. 54. E.-W. Böckenförde, Zusammenbruch, S. 41; vgl. auch ders., DÖV 1981, 947 f. 3 H. Steiger, Grundlagen, S. 210. 4 J. Delbrück, Reichspräsident, S. 142. 5 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1178-1205. 6 Zu Eberts Entschluß vgl. die Darstellung P. Scheidemanns, Memoiren, Bd. II, S. 352-355, die Hubers Einschätzung nicht stützt. 7 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 1081; ähnlich argumentiert, H. Möller, Weimar, S. 114. 8 R. Schiffers, Elemente, S. 122; D. Langewiesche, Liberalismus, S. 258. 9 U. Wengst, Staatsaufbau, S. 71. 2
I. Die Auffassung der Literatur
21
Häufig wird auch hingewiesen auf ein hohes Maß an kontinuierlicher Transformierung der konstitutionellen Monarchie in den neuen Staat.10 So springe die Parallele der neuen Organisationsvorschriften zu Reichstag, Kaiser mit Reichskanzler und Bundesrat ins Auge. 11 Abgeleitet vom Vorbild eines starken Staatsoberhaupts in der konstitutionellen Monarchie habe der Reichspräsident auch in der neuen Verfassung eine dominierende Stellung erhalten. 12 Er sei an die Stelle des Kaisers getreten 13 und habe als Ersatzkaiser die von vielen für unverzichtbar gehaltenen Funktionen eines Monarchen im Staat übernommen. 14 Als Konsequenz aus der festgestellten übereinstimmenden Stellung von Monarch und Reichspräsident wird das Recht des Kaisers, seine Regierung zu bilden, auf den Reichspräsidenten der Weimarer Verfassung übertragen. So sei der Reichspräsident bei der Regierungsbildung in der Vorhand. 15 Die Verfassung habe ihm nicht nur ein formelles Ernennungsrecht einräumen, 16 sondern ihm vielmehr das Recht einer freien Wahl der Reichsregierung ermöglichen wollen. 17 Zumindest aber stehe dem Reichspräsidenten ein Initiativrecht bei der Regierungsbildung zu. 18 Diese nicht allein auf der Auslegung der Verfassung selbst beruhenden, sondern auch unter dem Eindruck der Verfassungswirklichkeit in der Weimarer Republik stehenden Urteile über das Regierungssystem sollen im folgenden am Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte der Weimarer Verfassung überprüft werden.
10
H. Möller, Weimar, S. 116. W. Apelt, Geschichte, S. 70. 12 H. Möller, Weimar, S. 113 f. 13 P. Haungs, Reichspräsident, S. 24; W. J. Mommsen, Max Weber, S. 341; vom Reichspräsidenten als Ersatzmonarchen spricht auch D. Langewiesche, Liberalismus, S. 258. 14 H. Boldt, Reichsverfassung, S. 53 in Anlehnung an T. Eschenburg, Demokratie, S. 53. 15 E.-W. Böckenförde, Zusammenbruch, S. 41. 16 G. Ams, Regierungsbildung, S. 225. 17 E. U. Junker, Richtlinienkompetenz, S. 28; R. Mußgnug, Beziehungen, S. 312; ders., Wendemarken, S. 158; vgl. auch H. Schneider, Reichsverfassung, S. 123, wonach die Ernennung und Entlassung der Reichsregierung zu den politisch bedeutsamsten Befugnissen des Reichspräsidenten gerechnet wird. 18 D. Langewiesche, Liberalismus, S. 258. 11
22
B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
II. Der Wortlaut und die Systematik Nach Art. 53 WRV werden der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen. Diese Vorschrift deutet auf ein von der Verfassung vorgesehenes Präsidialsystem hin. Für ein solches Regierungssystem und die damit verbundene starke Stellung des Reichspräsidenten scheint auch Art. 25 Abs. 1 WRV zu sprechen, der dem Reichspräsidenten das Recht einräumt, den Reichstag aufzulösen. Gegen ein Präsidialsystem und der damit verbundenen Unabhängigkeit der Regierung vom Parlament sprechen hingegen Art. 54 Abs. 1 WRV, wonach der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages bedürfen, und Art. 54 Abs. 2 WRV, der jedes Regierungsmitglied zum Rücktritt zwingt, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht. Die große Bedeutung, die die Verfassungsväter dieser Vorschrift zumaßen, wird in Art. 17 Abs. 1 Satz 2 WRV deutlich, der eine dem Art. 54 Satz 1 WRV entsprechende Regelung ausdrücklich auch für die Länder vorsieht. Darüber hinaus bedürfen alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch ein Mitglied der vom Vertrauen des Reichstages abhängigen Regierung (Art. 50 WRV). Außerdem bestimmt der Reichskanzler und nicht, wie in einem Präsidialsystem üblich, der vom Parlament unabhängige Präsident die Richtlinien der Politik (Art. 56 Satz 1 WRV). Hinzu kommt, daß der Reichspräsident gemäß Art. 43 Abs. 2 WRV auf Antrag des Reichstages vor Ablauf seines Amtes durch Volksabstimmung abgesetzt werden kann und er durch einen solchen Antrag des Reichstages an der ferneren Ausübung seines Amtes gehindert wird. Interessant ist auch, daß die Vorschriften, die den Reichstag betreffen, im zweiten Abschnitt der Reichsverfassung zu finden sind, wohingegen der Reichspräsident erst im dritten Abschnitt und dort zusammen mit der Reichsregierung abgehandelt wird. Die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 war noch genau umgekehrt aufgebaut. Sie handelte den Reichstag erst nach dem Bundesrat, dem Kaiser und dem Reichskanzler ab. Diese Gliederung hatten auch die Paulskirchenverfassung und sämtliche Landesverfassungen des 19. Jahrhunderts eingehalten. Bereits der Wortlaut der einschlägigen Vorschriften und ihre Systematik lassen auf ein parlamentarisches Regierungssystem schließen. Allein Art. 53
III. Die Entstehungsgeschichte
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WRV deutet noch auf ein Präsidialsystem hin. Diese Vorschrift wird jedoch relativiert durch Art. 54 WRV, der die typische Formulierung für die Kennzeichnung eines parlamentarischen Regierungssystems enthält. Art. 54 WRV regelt außerdem das Recht des Reichstages, den Reichskanzler sowie jedes einzelne Regierungsmitglied zum Rücktritt zwingen zu können.19 Unterstützt wird die Annahme eines parlamentarischen Regierungssystems außerdem durch den gegenüber der Bismarckschen Reichsverfassung veränderten Aufbau der Weimarer Verfassung. Dies läßt sich nur als bewußte Abkehr von dem an das Präsidialsystem erinnernden konstitutionellen Regierungssystem deuten. Zu untersuchen ist nun, ob dieses Ergebnis durch die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschriften unterstützt wird.
m . Die Entstehungsgeschichte 1. Zur Entstehung der Verfassung A m 14. November 1918 berief der Rat der Volksbeauftragten Hugo Preuß 20 zum Staatssekretär des Innern mit dem Auftrag, einen Entwurf einer Reichsverfassung vorzubereiten. Vom 9.-12. Dezember 1918 fanden im Reichsamt erste Beratungen über einen Entwurf einer Reichsverfassung statt, an denen neben anderen Max Weber teilnahm. Im Anschluß an diese Beratungen kam es zu einem ersten Entwurf aus dem Reichsamt. Einen Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung wurde dieser erste bereits überarbeitete Entwurf veröffentlicht. In ihm fehlte das ursprünglich vorgesehene suspensive Vetorecht
19 Die Abschwächung des parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes durch eine erhebliche Erschwerung der Abwahlmöglichkeiten der Regierung durch den Bundestag fehlt damit gerade in der Weimarer Reichsverfassung. 20 Hugo Preuß hatte sich 1889 an der Berliner Universität für Staatsrecht habilitiert, wurde aber erst 1906 Professor an der neugegründeten Berliner Handelshochschule, nachdem mehrere Versuche, einen Lehrstuhl an der Berliner Universität zu erringen, gescheitert waren. Sein wissenschaftliches Renommee wurde zusätzlich dadurch geschwächt, daß Gierke, in dessen wissenschaftlicher Tradition stehend sich Preuß verstand, die Weiterentwicklung seiner genossenschaftlichen Theorie durch Preuß ausdrücklich ablehnte. Er gehörte zunächst der Fortschrittlichen Volkspartei an. Nach der Novemberrevolution wurde er Mitglied der DDP. Vom 13. Januar bis 30. Juni 1919 war er Innenminister im Kabinett Scheidemann. Trotz seiner eindeutigen Option fiir den politischen Linksliberalismus blieb er in beiden Parteien ein Außenseiter. Dies dokumentiert sich darin, daß er von seiner Partei weder in den Reichstag entsandt noch Mitglied der Reichsregierung wurde, nachdem die DDP im Oktober 1919 wieder in die Regierung eingetreten war, W. Kohl, Hugo Preuß, S. 258 f.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
des Reichspräsidenten gegen ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz. Dem Entwurf beigefügt war eine Denkschrift von Preuß. A m 11. Februar 1919 kam es zur Verkündung des von der Nationalversammlung beschlossenen Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt. Bereits dieses Gesetz kannte als Reichsorgane ein Parlament, einen Reichspräsidenten, eine Reichsregierung und einen Staatenausschuß. Die Vorschriften, die die Organisation der vorläufigen Reichsgewalt regeln, stimmen teilweise wörtlich mit den Organisationsvorschriften der Weimarer Reichsverfassung überein. Noch am gleichen Tag wurde Ebert von der Nationalversammlung zum Reichspräsidenten gewählt und einen Tag später die Regierung Scheidemann gebildet. A m 24. Februar 1919 begann die erste Lesung des inzwischen auch im Staatenausschuß diskutierten Verfassungsentwurfs mit einer großangelegten Rede von Preuß, an die sich in den folgenden Tagen eine Generaldebatte über den Verfassungsentwurf anschloß. Die erste Lesung endete am 4. März 1919 mit der Überweisung des Entwurfs an den neugegründeten Verfassungsausschuß. Dieser begann am 5. März 1919 mit seinen Beratungen und schloß sie am 18. Juni 1919 ab. Von dort gelangte der Verfassungsentwurf in die Nationalversammlung zurück, die über ihn erneut vom 2.-22. Juli 1919 in zweiter und vom 29.-31. Juli 1919 in dritter Lesung verhandelte. A m 31. Juli 1919 wurde die Weimarer Reichsverfassung in namentlicher Abstimmung mit 262 Stimmen der SPD, des Zentrums und der DDP gegen 75 Stimmen der DNVP, der DVP, der USPD, des BBB und eines Mitgliedes der BVP angenommen. Sie trat am 11. August 1919 in Kraft.
2. Die Debatten um das Regierungssystem in der Nationalversammlung a) Der Verfassungsentwurf
von Hugo Preuß
Preuß hatte seinen Verfasssungsentwurf in einer dem Entwurf beigefügten Denkschrift 21 begründet. In dieser Denkschrift ging Preuß auch auf die Stellung der obersten Reichsorgane ein. So gebe es grundsätzlich drei Möglichkeiten, die obersten Reichsorgane zu gestalten.22 Die erste Möglichkeit sei die unmittelbare Bestellung der Regierung durch das Parlament, indem das Parlament
21 22
Diese Denkschrift ist abgedruckt in: H. Preuß, Staat, S. 368-393. H. Preuß, Denkschrift, S. 384.
III. Die Entstehungsgeschichte
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nach den Grundsätzen der Verhältniswahl die Regierung wählt. 23 Diese Gestaltung der obersten Reichsorgane, die dem System der Schweizerischen Eidgenossenschaft entspreche, sei zwar einer demokratischen Empfindung angenehm, weil dabei der Dualismus zwischen dem Staatsoberhaupt und der verantwortlich arbeitenden Regierung fortfalle. 24 Ein solches System sei jedoch auf einen Großstaat wie Deutschland nicht anwendbar, weil dieser eine politisch homogene und in sich geschlossene Regierung brauche. 25 Interessant ist an dieser Stelle, daß Preuß nicht in Betracht zog, daß eine politisch homogene Regierung auch dadurch zustande kommt, daß sie vom Parlament in einer Mehrheitswahl bestimmt wird. So war für Preuß die Bestellung eines Reichspräsidenten nicht zu vermeiden, der seinerseits die Reichsregierung ernennt. 26 Das Verhältnis des Präsidenten zum Parlament könne man nun dualistisch oder parlamentarisch ausgestalten. Im dualistischen System sei der Präsident selbst unmittelbar das Haupt der Regierung, deren Ressortchefs lediglich seine Gehilfen, die ihm und nicht dem Parlament verantwortlich seien.27 Es beruhe auf einer starren Durchfuhrung der Gewaltenteilungslehre, die die Legislative im Prinzip ausschließlich dem Parlament, die Exekutive prinzipiell ebenso ausschließlich dem Präsidenten und seinen Gehilfen zuweise. Preuß beschrieb hier das Präsidialsystem und führte als Beispiel für ein solches System die USA an. Im folgenden kritisierte Preuß heftig dieses System. Stets führe es zur geistigen Verarmung und politischen Verödung der Parlamente. 28 In Deutschland habe man das dualistische System im Reich und in den Einzelstaaten, insbesondere in Preußen, lange und gründlich genug kennengelernt. 29 Die Parlamente seien beschränkt gewesen auf abstrakte Gesetzgebung, auf Kritik und Negation und deshalb ohnmächtig gegenüber der das praktische Leben wirklich bestimmenden Verwaltung. 30 Diese äußere politische Ohnmacht der Parlamente habe ihre innere politische Impotenz und die Zersplitterung der Parteien zur Folge gehabt.31 Er habe deshalb keinerlei Verlangen, das alte dualistische System nur mit veränderter Spitze wiederherzustellen und damit einen wichtigen 32 politischen Erfolg der Revolu23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
H. Preuß, Denkschrift, S. 384. H. Preuß, Denkschrift, S. 384. H. Preuß, Denkschrift, S. 384. H. Preuß, Denkschrift, S. 385. H. Preuß, Denkschrift, S. 385. H. Preuß, Denkschrift, S. 386. H. Preuß, Denkschrift, S. 386. H. Preuß, Denkschrift, S. 386. H. Preuß, Denkschrift, S. 386. Von Preuß hervorgehoben.
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tion wieder zu zerstören. 33 Preuß sprach sich deshalb für den Parlamentarismus aus, weil gerade die Deutschen wegen ihrer geschichtlichen Vergangenheit und Volksanlage dringendst des politischen Erziehungsmittels, das in der lebendigen Wechselwirkung von Volksvertretung und Regierung innerhalb des parlamentarischen Systems bestehe, bedürfen. 34 Die Aufgabe der Deutschen sei deshalb die Entwicklung und Festigung einer parlamentarischen Demokratie. 35 In Anlehnung an eine Schrift von Redslob36 unterschied Preuß zwischen einem unechten Parlamentarismus wie in Frankreich, bei dem der Präsident durch das Parlament gewählt werde, und einem echten oder wahren Parlamentarismus, bei dem der Präsident aus einer Volkswahl hervorgehe. 37 Auch wenn der echte Parlamentarismus damit zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane voraussetze, unterscheide er sich vom Dualismus dadurch, daß Präsident und Parlament nicht in unverbundener Gegensätzlichkeit nebeneinanderstehen, sondern daß die parlamentarische Regierung das bewegliche Bindeglied zwischen ihnen bilde. 38 Nur für seine Wahl und Wiederwahl sei der Reichspräsident vom Parlament unabhängig; sämtliche Regierungsfunktionen könne er nur unter der verantwortlichen Mitwirkung der von ihm zwar ernannten, doch vom Vertrauen des Parlaments abhängigen Reichsminister ausüben.39 Auch sei es ein wesentliches Erfordernis des parlamentarischen Systems, daß die Regierung ihre Amtsgeschäfte in Übereinstimmung mit der parlamentarischen Mehrheit führen und zurücktreten müsse, falls diese Mehrheit ihnen das Vertrauen versage. 40 Für die Gesamtpolitik trage nicht der Reichspräsident, sondern der Reichskanzler die Verantwortung. 41 Aus diesen Ausführungen wird deutlich, daß Preuß sich eindeutig gegen ein Präsidialsystem aussprach. Vielmehr wollte er die Verantwortung für die Gesamtpolitik der Reichsregierung übertragen, die des Vertrauens des Reichstages bedürfen sollte.
33 34 35 36 37 38 39 40 41
H. Preuß, Denkschrift, S. 386. H. Preuß, Denkschrift, S. 387. H. Preuß, Denkschrift, S. 387. R. Redslob, Regierung. H. Preuß, Denkschrift, S. 387. H. Preuß, Denkschrift, S. 387. H. Preuß, Denkschrift, S. 387. H. Preuß, Denkschrift, S. 387. H. Preuß, Denkschrift, S. 387.
III. Die Entstehungsgeschichte
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b) Zum Verständnis des Preußschen Entwurfs: Der preußische Verfassungskonflikt Aus mehreren Gründen will ich an dieser Stelle etwas ausführlicher als es zunächst geboten erscheint auf den preußischen Verfassungskonflikt eingehen. So werden Verlauf und Ausgang dieses Konflikts bis heute sehr unterschiedlich bewertet. Diese Bewertungen reichen von einer Niederlage des Parlamentarismus unter Hervorbringung eines spezifisch deutschen Regierungssystems über die Annahme eines Unentschiedens bis hin zu einem Sieg des parlamentarischen Regierungssystems über den deutschen Konstitutionalismus. Der Konflikt spielt außerdem eine kaum zu überschätzende Rolle in der immer wieder erfolgten Bestätigung des dualistischen Modells der deutschen konstitutionellen Monarchie 42 und der dadurch verhinderten Entwicklung Deutschlands zu einer parlamentarischen Demokratie. Wie sehr dies gerade in den Beratungen zum Regierungssystem der Weimarer Verfassung empfunden wurde zeigt die Tatsache, daß nicht nur Preuß, sondern auch andere Debattenredner immer wieder auf diesen Konflikt zu sprechen kamen. Verlauf und Ausgang des Konflikts hatten damit ganz entscheidenden Einfluß auf das Regierungssystem der Weimarer Verfassung. Dieser Konflikt begann mit einem Streit um eine vom Prinzregenten Wilhelm 43 gewünschte Heeresreform, für deren Durchführung die liberale Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses die erforderlichen Haushaltsmittel nicht zur Verfugung stellen wollte. Nachdem zwei Parlamentsauflösungen durch Wilhelm zu überwältigenden liberalen Wahlsiegen44 und einer damit verbundenen noch kompromißloseren Haltung der übermächtig erscheinenden liberalen Mehrheit des Parlaments geführt hatten, war Wilhelm zur Abdankung bereit. 45 In dieser Situation brachte sich Bismarck, der seit Monaten nicht nur sein persönliches Erscheinen in Berlin vorbereitet, sondern auch die entscheidende Zuspitzung des Konfliktes zwischen Parlament und König betrieben hatte,46 ins Spiel. In der entscheidenden Unterredung mit dem Monarchen am 22. Sep42 Vgl. hierzu die überaus klaren Ausfuhrungen von H. H. Rupp, Handbuch des Staatsrechts, Band I, S. 1190 ff., zur Entstehung und Bedeutung dieses Dualismus; s. auch ders., Grundfragen, bes. S. 104 ff. 43 Der spätere Wilhelm I. hatte 1858 für seinen geistig erkrankten Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft übernommen. 44 Zu den Wahlergebnissen vgl. D. Langewiesche, Liberalismus, Tabelle 2, S. 305. 45 Zum politischen Hintergrund der Heeresreform B. Hoppe, JA 1993, 146 f. 46 L. Gall, Bismarck, S. 233 ff., besonders S. 241.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
tember 1862 konnte Bismarck sofort den Eindruck vermitteln, er sei ein unbedingt ergebener Gefolgsmann, der sich ohne Wenn und Aber für die Person des Königs und seine Rechte einsetze. 4 7 Daraufhin berief Wilhelm ihn am 23. September 1862 zum Ministerpräsidenten und Außenminister. Bismarck, endlich im so lang angestrebten Amt, versuchte zunächst, eine Verständigung mit der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses zu erreichen. A m 30. September 1862 kam es zu jener so berühmt gewordenen Sitzung der Budgetkommission des Parlaments, in der Bismarck vom Abgeordnetenhaus den Verzicht auf seine Vorrangstellung in Haushaltsfragen und damit indirekt auch in anderen politischen Fragen verlangte. Als Gegenleistung deutete er an, über die Frage der 2-jährigen Dienstzeit mit sich reden zu lassen. Im übrigen, so Bismarck drohend, sehe Deutschland nicht auf Preußens Liberalismus, sondern auf seine Macht. Und weiter: "..., nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen - sondern durch Eisen und Blut." 48 Diese Eisen-und-Blut-Rede, wie sie sehr bald genannt wurde, führte zu heftigen Reaktionen insbesondere in der liberalen Öffentlichkeit. An eine Verständigung mit der Mehrheit des Abgeordnetenhauses war nun nicht mehr zu denken. A m 13. Oktober 1862 erklärte die Regierung, daß sie die Staatsgeschäfte vorläufig ohne Etat weiterführen werde. Der Heereskonflikt hatte sich damit zum Verfassungskonflikt ausgeweitet. Ziel der Mehrheit des Abgeordnetenhauses wurde es nun, über die Parlamentarisierung der Kommandogewalt und des Heeres zur Parlamentarisierung der Regierung und des Staates zu kommen. 49 Entschieden werden mußte die Frage, ob der Weg aus der Krise der konstitutionellen Monarchie zurück zum Absolutismus oder über diesen Dualismus hinaus ins parlamentarische System führen sollte. 50 Genau dies hatte auch Bismarck erkannt und so erklärte er bereits am 27. Januar 1863 im Abgeordnetenhaus, daß durch das bisherige Verhalten des Parlaments "dem Königlichen Haus der Hohenzollern seine verfassungsmäßigen Regierungsrechte abgefordert würden, um sie der Majorität dieses Hauses zu übertragen." 51 Und weiter: "Ein englisches Ministerium, es mag sich nennen 47
"Gar keine. Ich fühle wie ein kurbrandenburgischer Vasall, der seinen Lehnsherrn in Gefahr sieht. Was ich vermag, steht Euer Majestät zur Verfügung", so Bismarcks Antwort auf die Frage Wilhelms, welche Bedingungen er bei Übernahme der Regierung stellen würde, R. v. Keudell, Fürst, S. 110. 48 H. Kohl, Reden, S. 30. 49 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 298. 50 D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 235. 51 E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 51, S. 56.
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wie es will, ist ein parlamentarisches, ein Ministerium der Majorität des Parlaments; wir aber sind Minister seiner Majestät des Königs." 52 Bismarck schließt seine Rede mit der Bemerkung, daß das preußische Königtum seine Mission noch nicht erfüllt habe und noch nicht dazu reif sei, als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regierungssystems eingefügt zu werden. 53 Wie richtig Bismarck die Ziele des Abgeordnetenhauses einschätzte, das sich bisher stets auf die Rüge eines Verfassungsverstoßes der Regierung beschränkt hatte, zeigte die mit 239 gegen 61 Stimmen beschlossene Adresse des Parlaments vom 22. Mai 1863: "Das Haus der Abgeordneten hat keine Mittel der Verständigung mehr mit diesem Ministerium, es lehnt seine Mitwirkung zu der gegenwärtigen Politik der Regierung ab. Jede weitere Verhandlung befestigt uns nur in der Überzeugung, daß zwischen den Ratgebern der Krone und dem Lande eine Kluft besteht, welche nicht anders als durch einen Wechsel der Personen, und mehr noch, durch einen Wechsel des Systems ausgefüllt werden wird." 54 Dies war nicht nur ein Mißtrauensvotum gegen die Regierung, sondern die offene Forderung nach Einführung des parlamentarischen Systems. Genau auf diese Weise, durch einen tatsächlichen Angriff, mit dem das Parlament in einer bestimmten Situation den Sturz der bisherigen Regierung und die Berufung einer neuen erzwang, entstand in allen parlamentarisch regierten Staaten der Parlamentarismus. Nicht normatives Verfassungsrecht, sondern effektive Präzedenzfälle brachten in Westeuropa das parlamentarische System hervor. 55 Auch in Preußen bestand die Chance, auf diesem Wege das parlamentarische System einzuführen. So hieß es noch in dem Immediatbericht der Regierung Hohenlohe-Ingelfingen vom 9. September 1862, daß der Regierung die verfassungsmäßige Grundlage der Verwaltung entzogen sei, wenn der Landtag die Etatvorlage verwerfe. In einem solchen Fall könne sie nicht weiterregieren, "weil sie sich damit die Befugnis beilegen würde, gegen den ausdrücklichen Beschluß der bestehenden Landesvertretung und ohne gesetzlichen Etat die Staatsausgaben zu bestreiten." 56 Vom Boden dieser Rechtsauffassung aus wäre es konsequent gewesen, der parlamentarischen Mehrheit nachzugeben, um das Weiterfunktionieren des Staates zu gewährleisten. Ohne Bis-
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E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 51, S. 56. E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 51, S. 60. E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 58, S. 70. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 317. E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 41, S. 43.
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marcks Intervention wäre dieser Weg wohl auch beschritten worden, wie der Abdankungswille des Königs gezeigt hatte.57 Bismarck aber zog aus der Verfassungskrise den genau gegenteiligen Schluß. Zwar sei nach der Verfassung zu jedem Gesetz auch die Übereinstimmung des Abgeordnetenhauses erforderlich. Die Verfassung regele aber nicht, wer nachgeben müsse, wenn zwischen dem König und den beiden Kammern keine Übereinstimmung erzielt werden könne, vielmehr weise sie auf den Weg des Kompromisses. "Wird der Kompromiß dadurch vereitelt, daß eine der beteiligten Gewalten ihre eigene Ansicht mit doktrinärem Absolutismus durchführen will, so wird die Reihe der Kompromisse unterbrochen und an ihre Stelle treten Konflikte, und Konflikte, da das Staatsleben nicht stillzustehen vermag, werden zu Machtfragen. Wer die Macht in den Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor, weil das Staatsleben auch nicht einen Augenblick stillstehen kann." 58 Genau in diesem Sinne wies Wilhelm I. die Forderung des Abgeordnetenhauses nach Regierungswechsel und Parlamentarisierung schroff zurück: "Mit allem Ernst muß Ich dem Bestreben des Hauses der Abgeordneten entgegentreten, sein verfassungsmäßiges Recht der Teilnahme an der Gesetzgebimg als ein Mittel zur Beschränkung der verfassungsmäßigen Freiheit Königlicher Entschließungen zu benutzen. Ein solches Bestreben gibt sich darin kund, daß das Haus der Abgeordneten seine Mitwirkung zu der gegenwärtigen Politik Meiner Regierung ablehnt, und einen Wechsel in den Personen Meiner Ratgeber und Meines Regierungssystems verlangt. Dem Art. 45 der Verfassungsurkunde entgegen, wonach der König die Minister ernennt und entläßt, will das Haus Mich nötigen, Mich mit Ministern zu umgeben, welche ihm genehm sind; es will dadurch eine verfassungswidrige Alleinherrschaft des Abgeordnetenhauses anbahnen. Dies Verlangen weise Ich zurück. Meine Minister besitzen Mein Vertrauen, ihre amtlichen Handlungen sind mit Meiner Billigung geschehen, und Ich weiß es ihnen Dank, daß sie es sich angelegen sein lassen, dem verfassungswidrigen Streben des Abgeordnetenhauses nach Machterweiterung entgegenzutreten." 59 Einen Tag nach diesem Schreiben schloß der König den Landtag und löste ihn im September des gleichen Jahres auf. Der bis 1866 weiterschwelende Konflikt wurde schließlich dadurch gelöst, daß Bismarck in der Außenpolitik der liberalen Parlamentsmehrheit entgegen-
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D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 236. E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 51, S. 57. E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 59, S. 73.
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kam. 60 So schloß er nicht nur mit dem als revolutionär geltenden Frankreich einen Handelsvertrag, sondern setzte sich auch durch die Führung zweier Kriege an die Spitze der nationalen Einigungsbewegung. 1864 blieb Preußen im Krieg um Schleswig-Holstein gegen Dänemark erfolgreich; 1866 errang es gegen Österreich die Vormachtstellung in Deutschland. Bei den am Tag der Schlacht von Königgrätz abgehaltenen Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus kam es zu einem Debakel für die Liberalen. Dem neuen, zum Einlenken bereiten Parlament konnte Bismarck ein Indemnitätsgesetz vorlegen, das die Regierung von ihrer Verantwortung für die Staatsverwaltung ohne bewilligte Ausgaben entlastete. Verlauf und Ergebnis des Verfassungskonflikts haben in den letzten 130 Jahren zahlreiche auch sehr unterschiedliche Bewertungen erfahren. Im Kaiserreich wurde dieser Konflikt noch fast einhellig als Geburtsstunde eines monarchisch-konstitutionellen Regierungssystems preußisch-deutscher Prägung 61 begriffen, das sich grundlegend von einer parlamentarischen Monarchie unterschied. Man ging sogar so weit, konstitutionelle und parlamentarische Monarchie als verschiedene Staatsformen anzusehen.62 Wichtig war den Autoren dieser Zeit auch, die antimonarchischen und parlamentarischen Intentionen der liberalen Opposition der Konfliktszeit herauszuarbeiten. 63 In der Tradition dieser Bewertung steht auch Huber, wenn er sagt, daß durch die Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten sich die Verfassungskrise zum Entscheidungskampf zwischen dem parlamentarischen und dem konstitutionellen System verdichtete. 64 Auch seine Einordnung des deutschen Konstitutionalismus als eines systemgerechten Modells verfassungspolitischer Selbstgestaltung,65 das sich substantiell vom Parlamentarismus unterscheide, 66 läßt ihn in dieser Tradition stehend erscheinen. Seit dem Ende des Kaiserreichs werden diese bestehenden traditionellen Auffassungen zum Teil sehr heftig kritisiert. 67 So wird bestritten, daß es der liberalen Opposition in Preußen um die Ersetzung der monarchischen durch 60
H. Boldt, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 116. O. Hintze, Prinzip, S. 359. 62 M. v. Seydel, Regierung, S. 124. 63 A. Wahl, Beiträge, S. 16 ff., bes. S. 24 ff. und 40 ff. 64 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 299. 65 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 11. 66 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 18. 67 H. Boldt, Verfassungskonflikt, S. 99 geht sogar soweit, einem Vertreter dieser Tradition Geschichtsklitterung vorzuwerfen. 61
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eine parlamentarische Regierung ging 6 8 Dies sei eine von der Regierung und der Kreuzzeitung im Frühjahr 1862 benutzte Wahlparole, die den politischen Gegner antimonarchischer Gesinnung verdächtigen sollte. 69 Daß die Verfassungshistoriker des Kaiserreichs diese konservativ-gouvernementale Propagandathese70 wissenschaftlich zu untermauern suchten, habe politische Gründe. Denn ein verfassungsmäßiges Vorgehen der Opposition hätte das Vorgehen Bismarcks und des Königs in Frage gestellt. Dies hätte nicht zu dem Bild gepaßt, das man sich im Kaiserreich vom Reichsgründer und vom Heldenkaiser machte.71 Aber auch die These, der Verfassungskonflikt habe durch die Niederlage der liberalen Opposition eine eigene Staats- und Verfassungsform neben dem monarchischen Absolutismus und dem parlamentarisch-demokratischen Parteienstaat hervorgebracht, wurde angegriffen. Unter dem Hinweis auf die abgründige Doppeldeutigkeit des berühmten und vielzitierten Ausspruches von Anschütz zum Verfassungskonflikt: "Das Staatsrecht hört hier auf 1 , 72 nahm Carl Schmitt nunmehr an, daß der Verfassungskonflikt ohne Entscheidung endete.73 Preußen habe sogar für "das Linsengericht einer fremden Legalität das Prinzip seiner politischen Existenz in Frage gestellt."74 Diese Gedanken aufgreifend hält Böckenforde die Indemnitätserteilung für die entscheidende Weichenstellung in Richtung auf den Parlamentarismus. Das Parlament habe sich damit den Sieg auf Dauer erkauft. 75 Folglich liege die Bedeutung des Konflikts auch nicht in der Hervorbringung einer eigenständigen politischen Form, sondern in der Ermöglichung eines kontinuierlichen Übergangs von einer monarchischen zu einer parlamentarischen Regierung. 76 Trotzdem wird man sagen müssen, daß die liberale Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses in seiner Adresse vom Mai 1863 deutlich machte, daß sie nicht nur einen Wechsel der Personen, sondern auch des Regierungssystems anstrebte 77 und sich durch die Zuspitzung des Konflikts eine Parla68
L. Dehio, HZ 140 (1929), S. 288. H. Boldt, Verfassungskonflikt, S. 77. 70 H. Boldt, Verfassungskonflikt, S. 99. 71 H. Boldt, Verfassungskonflikt, S. 99. 72 G. Anschütz, Lehrbuch, S. 906. 73 C. Schmitt, Staatsgefüge, S. 11. 74 C. Schmitt, Staatsgefüge, S.U. 75 E. W. Böckenförde, Verfassungstyp, S. 158. 76 E. W. Böckenförde, Verfassungstyp, S. 159. 77 Vgl. auch die Kundgebung des Zentralwahlkomitees der Fortschrittspartei vom 20. Juni 1866: "Es handelt sich nicht etwa um eine bloße Rechtsfrage, deren Entscheidung man auf ruhige Zeiten vertagen könnte, sondern vielmehr um die einzige Möglichkeit, 69
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mentarisierung des Systems als mögliche Konsequenz abzeichnete.78 Indem es nicht zur Parlamentarisierung kam, hatte die konstitutionelle Regierungsweise nicht nur ihre Feuerprobe bestanden.79 Der Ausgang des Konflikts bot der Regierung in den Krisenzeiten des Kaiserreichs die Gelegenheit, das Parlament zu disziplinieren, indem sie in Anspielungen auf die Konfliktszeit an den unveränderten Fortbestand der im Verfassungskonflikt ausschlaggebenden Machtverhältnisse erinnerte. 80 Das Jahr 1866 hat damit den potentiellen Trägern des Parlamentarismus das Vertrauen in die Kraft zur eigenen RegierungsVerantwortung genommen81 und eine Parlamentarisierung zunächst Preußens und dann des Kaiserreichs verhindert. 82 Diese Erfahrung, die Preuß 1918/19 sehr viel gegenwärtiger war als uns heute, ist der Hintergrund für seine Bemerkung, er habe keinerlei Verlangen, das alte dualistische System nur mit veränderter Spitze wiederherzustellen und damit einen wichtigen politischen Erfolg der Revolution wieder zu zerstören. 83 Anders als im preußischen Verfassungskonflikt sollten diesmal der Dualismus und die damit verbundene politische Ohnmacht des Parlaments überwunden und dem Parlamentarismus zum Sieg verholfen werden.
c) Die Haltung der Parteien zum Preußschen Entwurf aa) Die Sozialstruktur und die Programmatik der Parteien der Nationalversammlung Die grundsätzliche Parteienstruktur des Kaiserreichs blieb auch in der Weimarer Republik erhalten. Allein die USPD und später die KPD traten als notwendige Organisierung einer bereits im Kaiserreich deutlich gewordenen Spaltung der Sozialdemokratie hinzu. Alle anderen Parteineugründungen stellten bloße Namensänderungen dar. Hintergrund für die Einschaltung des Attributes "Volkspartei" war der Versuch, den Herrschaftsanspruch der alten Machteliten
wie dem Volkswillen ein Einfluß auf die Regierung und ihre ganze Politik, durch welche doch das Schicksal des Volkes bestimmt wird, verschafft werden kann.", zitiert nach O. Hintze, Prinzip, S. 376. 78 So nun auch H. Boldt, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 115. 79 O. Hintze, Prinzip, S. 375. 80 R. Wahl, Verfassungskonflikt, S. 220. 81 R. Wahl, Verfassungskonflikt, S. 221. 82 Von einem eindeutigen Sieg der königlichen Regierung spricht auch H. H. Rupp, Handbuch des Staatsrechts, Band I, S. 1191. 83 H. Preuß, Denkschrift, S. 386. 3 Hoppe
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in der jungen Republik, in der die Staatsgewalt nunmehr vom Volke ausging, zu legitimieren. 84 Man kann deshalb sagen, daß das deutsche Parteiensystem mit seinen fünf unterschiedlichen Grundrichtungen des Konservatismus, des politischen Katholizismus, des rechten und linken Liberalismus und des demokratischen Sozialismus zu den kontinuitätswahrenden Momenten des Verfassungswechsels gehörte. 85
(1) Die Deutschnationale Volkspartei Die am 24. November 1918 gegründete Deutschnationale Volkspartei stellte eine Sammelpartei der konservativen Rechten dar. 86 Neben den beiden konservativen Parteien des Kaiserreichs, der Freikonservativen Partei, einem kleinen, aber machtvollen Zusammenschluß von agrarischem und industriellem Großbesitz mit der hohen Ministerialbürokratie und der Deutschkonservativen Partei, die gemeinsam mit dem Bund der Landwirte vorrangig die Ziele der Großagrarier verfolgt hatte,87 organisierten sich in der DNVP auch Teile der Christlichsozialen, der Deutschvölkischen und anderer antisemitischer Gruppen. In ihrem überaus gemäßigten Gründungsaufruf vermied die Partei noch ein offenes Bekenntnis zur Monarchie und gab vor, "auf dem Boden jeder Staatsform mitzuarbeiten, in der Recht und Ordnung herrschen". Die parlamentarische Regierungsform bezeichnete sie sogar als die "nach den letzten Ereignissen allein mögliche". 88 Diese wahltaktisch bedingte Zurückhaltung 89 legte die Partei in ihren 1920 formulierten "Grundsätzen" ab: 90 Danach wollten die Deutschnationalen in ruhigem Vertrauen der Zeit harren, "wo die heilige Flamme vaterländischer Begeisterung die müde gewordenen Herzen und trägen Geister entzündet, wo der feurige Idealismus der Jugend sich in männlichen Taten bewährt und in der nationalen Einheit eines geläuterten Volkes unter den alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot das Kaiserreich der Zukunft erwächst". In 84
S. Neumann, Parteien, S. 27. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 141. 86 Nach H. Schulze, Weimar, S. 80, sammelte sie alle "nicht-liberalen rechtsstehenden Kräfte". 87 H.-U. Wehler, Kaiserreich, S. 85; T. Nipperdey, Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 537 f. 88 Der Gründungsaufruf der DNVP ist abgedruckt in: G. A. Ritter/S. Miller, Revolution, S. 296 ff., Zitate auf S. 297. 89 Auch W. Liebe, DNVP, S. 11 spricht von einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit, die er in dem Wunsch begründet sieht, überhaupt aktionsfähig, und zwar im antidemokratischen Sinne, werden zu können. 90 Die Grundsätze der DNVP sind abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 533 ff. 85
III. Die Entstehungsgeschichte
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der Außenpolitik forderten sie "Deutschlands Befreiung" durch eine Änderung des Versailler Vertrages mit dem Ziel der Vereinigung eines neu erstarkten Reichs mit dem "abgerissenen deutschen Lande". Sie entsprachen damit den Forderungen der durch die Versailler Grenzziehung geschädigten ostelbischen Großgrundbesitzer und der Konzerne, die in Lothringen und im Saargebiet Hochöfen und Gruben verloren hatten. Die DNVP sprach sich außerdem für "den Wiedererwerb der für unsere wirtschaftliche Entwicklung notwendigen Kolonien aus". Die Deutschnationalen legten ein klares Bekenntnis zur monarchischen Staatsform ab, die dem Programm zufolge der Eigenart und geschichtlichen Entwicklung Deutschlands entsprach. "Über den Parteien stehend verbürgt die Monarchie am sichersten die Einheit des Volkes, den Schutz der Minderheiten, die Stetigkeit der Staatsgeschäfte und die Unbestechlichkeit der öffentlichen Verwaltung. Die deutschen Einzelstaaten sollen freie Entschließung über ihre Staatsform haben; für das Reich erstreben wir die Erneuerung des von den Hohenzollern aufgerichteten deutschen Kaisertums." Selbst wenn man dieses Bekenntnis zur Monarchie mit Huber als Traditionsformel ohne realen Gehalt und historisierende Fassade, die den realpolitischen Vernunftrepublikanismus der DNVP dekorativ verdecke, interpretiert, wird man feststellen müssen, daß die Deutschnationalen zumindest ein Präsidialsystem unter Wiederherstellung des konstitutionellen Regierungssystems anstrebten.91 Es war deshalb nur konsequent, wenn die noch im Gründungsaufruf ausgesprochene Anerkennung der parlamentarischen Regierungsform in den Grundsätzen nicht mehr enthalten war. Die Rechte des Parlaments waren beschränkt auf eine bereits im Kaiserreich verwirklichte Mitwirkung bei der Gesetzgebung und die Aufsicht über Politik und Verwaltung. Einen Rückschritt in der parlamentarischen Entwicklung bedeutete die Forderung nach einer Vertretung neben dem Parlament, "die auf einem nach Berufen gegliederten Aufbau der wirtschaftlichen und geistigen Arbeit beruht". Die in der DNVP aufgegangenen antisemitischen Gruppierungen des Kaiserreichs fanden sich in dem Abschnitt des Programms wieder, der den Kampf "gegen jeden zersetzenden, undeutschen Geist, mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen," versprach. "Wir wenden uns nachdrücklich gegen die seit der Revolution immer verhängnisvoller hervortretende Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit. Der Zustrom Fremdstämmiger über unsere Grenzen ist zu unterbinden." 91
E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 159, zu "allen Zeiten" sei es der DNVP auf starkes Reichsoberhaupt angekommen, "um in der Spitze der Exekutive ein effektives Gegengewicht gegen die Parteien und das Parlament zu gewinnen".
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
Die soziale Zusammensetzung der DNVP-Fraktion wandelte sich gegenüber der Deutschkonservativen Fraktion des Kaiserreichs. Beherrschten 1912 noch der Adel mit 37,7% und Vertreter der Landwirtschaft mit 60,9% das Bild der Fraktion, so nahm deren Anteil im Laufe der Weimarer Republik ab. Davon profitierte das höhere Beamtentum, deren Vertreter zeitweise die Hälfte der Fraktion ausmachten sowie Angehörige von Industrie und Handel mit der proportional größten Steigerung auf ein knappes Fünftel der Fraktion. 92 Zusammenfassend kann man deshalb die DNVP als die Partei des ostelbischen Großgrundbesitzes und des äußersten rechten Flügels der Schwerindustrie bezeichnen.93
(2) Die liberalen Parteien Der Ausgang des Verfassungskonflikts hatte die Liberalen in zwei Lager gespalten. Der linksliberale Teil verweigerte auch nach dem Konflikt dem Sieger Bismarck die Gefolgschaft. Der rechtsliberale Teil spaltete sich unter der Führung Rudolf von Bennigsens von der Fortschrittspartei ab und gründete die Nationalliberale Partei. Anders als die Linksliberalen, die ihre Gegnerschaft zu Bismarck mit einer völligen Einflußlosigkeit bezahlten und damit im Kaiserreich eine Stellung einnahmen, die der der "Reichsfeinde" von SPD und Zentrum entsprach, kooperierten die Nationalliberalen mit ihrem Bezwinger und nutzten diese Zusammenarbeit zumindest im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs, der "liberalen Ära", zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Allerdings erkauften sie sich die Möglichkeit einer Kooperation mit Bismarck durch ihren Verzicht auf die Forderung nach einer Parlamentarisierung der Reichsregierung. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches bot sich die Möglichkeit, den Liberalismus wieder in einer Partei zu vereinigen. A m 16. November 1918 kam es zu einem von 60 Personen unterzeichneten Aufruf zur Gründung einer "Deutschen Demokratischen Partei". Dieser überwiegend von Professoren und Journalisten unterzeichnete Aufruf bekannte sich zur republikanischen Staatsform und brach unmißverständlich mit dem Kaiserreich: "Nach einem entsetzensreichen Kriege gehen wir durch die Wirren einer gewaltigen Revolution. Ein Staatssystem, das unbezwingbar erschien, ist fast widerstandslos zusammengebrochen, die Säulen der alten Macht sind gestürzt. Das alles ist unrettbar 92 93
Zahlen aus A. Thimme, Flucht, S. 27 f. H. A. Winkler, Weimar, S. 61.
III. Die Entstehungsgeschichte
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tot. Niemand weckt es wieder auf. ... Viele andere Reformen werden mit starkem Hinwegschreiten über die seelenlos gewordenen Begriffe von gestern vollbracht werden müssen, um den neuen Staatsbau gesichert aufzurichten und damit einem hellen, wahrhaftigen Geiste zu erfüllen." 94 In den Verhandlungen zur Schaffung einer "großen demokratischen Partei für das einige Reich" zeigte sich sehr bald, daß mit der Monarchie nicht "auch die alten Parteiformen" zerbrochen waren. Ein großer Teil der alten nationalliberalen Partei war keineswegs bereit, sich derart eindeutig vom Kaiserreich loszusagen und sich auf den Boden der Republik zu stellen. Dies machte es dem Vorsitzenden der nationalliberalen Reichstagsfraktion, Gustav Stresemann, der wegen der im Krieg ausgesprochenen Befürwortung umfassender deutscher Annexionen 95 als "der junge Mann Ludendorffs galt" und deshalb nach dem Willen der Urheber des Gründungsaufrufs keine exponierte Stellung in der neuen Partei erhalten sollte,96 leicht, die Einigungsverhandlungen zu torpedieren. 97 Die Ablehnung der Linksliberalen machte Stresemann zum idealen Kristallisationspunkt jener Liberaler, die soviel wie möglich von der Vergangenheit in die Republik mitnehmen wollten. 98 Unerschütterlich in seiner Überzeugung, für die deutsche Politik unentbehrlich zu sein,99 gründete Stresemann mit diesen Kräften am 15. Dezember 1918 die Deutsche Volkspartei.
94
Der Aufruf ist abgedruckt in: A. Erkelenz, Jahre, S. 25 f. Zur Kriegszielfrage erklärten die Nationalliberalen am 16. Mai 1915, "daß die gewaltigen Erfolge unseres unvergleichlichen Heeres und unserer todesmutigen Flotte auch politisch restlos ausgenutzt werden müssen. Insbesondere sei im Westen das zur Sicherung und Verstärkung unserer Machtstellung zu Wasser und zu Land nötige Gebiet politisch, militärisch und wirtschaftlich an das Reich anzugliedern. Im Osten müsse nicht nur strategisch bessere Landesgrenzen, sondern auch neues Siedlungsgebiet erworben werden. Unser überseeischer Besitz endlich sei im Umfang und Gestaltung unseren Interessen als Welthandelsvolk entsprechend auszubauen, wobei unser bisheriges Kolonialreich, das in diesem Kriege so treu für das Vaterland gestritten hat, erhalten bleiben müsse.", die Erklärung ist abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 413 f. 96 So beschloß der Geschäftsfuhrende Ausschuß der DDP, daß mit den Nationalliberalen Verhandlungen über deren Beitritt zur DDP geführt werden sollten unter der Bedingung, "daß Stresemann sich zurückzieht, und die Nationalliberalen, die zur Deutschen Demokratischen Partei herüberkommen, ... öffentlich erklären, daß sich Stresemann vom politischen Leben zunächst zurückgezogen hat", Linksliberalismus, S. 3. 97 Hierzu die ausfuhrliche Darstellung der Verhandlungen sowie der Aktivitäten Stresemanns in: L. Albertin, Liberalismus, S. 59 ff. und W. Hartenstein, Anfänge, S. 14 ff. 98 D. Langewiesche, Liberalismus, S. 241. 99 L. Albertin, Liberalismus, S. 71. 95
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
Anders als die DDP bekannten sich die Rechtsliberalen nicht zur Republik. Ihr beschönigend mit "Vernunftrepublikanismus" 100 umschriebenes Verhältnis zur Weimarer Republik kommt im Programm 101 der Volkspartei vom Oktober 1919 zum Ausdruck. Darin forderten sie "die Wiederherstellung der ruhmvollen schwarz-weiß-roten Reichsfarben. Die Deutsche Volkspartei erblickt in dem durch freien Entschluß des Volkes auf gesetzmäßigem Wege aufzurichtenden Kaisertum, dem Sinnbild deutscher Einheit, die für unser Volk nach Geschichte und Wesensart geeignetste Staatsform." Gleichzeitig stellte sie in Aussicht, "im Rahmen ihrer politischen Grundsätze innerhalb der jetzigen Staatsform" mitzuarbeiten. Das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung wird mit den Worten umschrieben, daß eine verantwortliche Mitarbeit der Volksvertretung an der Regierung, ohne Ausbeutung der jeweiligen Parteimacht, als wesentliche Grundlage jeder Verfassung gelte. Trotz ihrer großen politischen Gegensätze hinsichtlich des zu schaffenden Staates wiesen die beiden liberalen Parteien ein sehr ähnliches soziales Profil auf. Beide sprachen sie vor allem die Bildungsschicht, die selbständigen Unternehmer, Handwerker und Kaufleute, Beamte und Angestellte an. Besonders stark ausgeprägt war der Einfluß großindustrieller Kreise, des Großhandels und der Banken auf die beiden liberalen Parteien, wobei die DVP vor allem Rückhalt in der Schwerindustrie, die DDP in den aufgeklärteren Kreisen der verarbeitenden Industrie fand. 102 Dieser Einfluß lag nicht zuletzt in der finanziellen Abhängigkeit der liberalen Parteien von den Spenden aus Wirtschaftskreisen begründet, die sich mit dem zunehmenden Mitgliederschwund noch verschärfte. So deckten solche Spenden in aufwendigen Wahljahren mehr als 90% des Etats etwa der DDP. Diese Abhängigkeit wurde von den Spendern benutzt, um politische Wünsche durchzusetzen und Unerwünschtes zu blockieren. 103 Den Einfluß der Wirtschaft auf die Entscheidungen der liberalen Parteien sicherte aber nicht nur deren finanzielle Abhängigkeit. Neben diese trat eine besonders ausgeprägte personelle Verflechtung, die für die DDP deren Schatz100 Vgl. etwa E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 179, der in dem Programm der DVP "die Erklärung der Bereitschaft zur Mitarbeit auf dem Boden der Republik" erblickt. 101 Das Programm der DVP ist abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 519 ff 102 H. A. Winkler, Weimar, S. 63. 103 D. Langewiesche, Liberalismus, S. 248, dort auch Klagen von Parteiführern über diese Einflußnahme; zum Einfluß der Industrie auf die DDP: W. Schneider, DDP, S. 69 ff.
III. Die Entstehungsgeschichte
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meister, Hermann Fischer, verkörperte, der in insgesamt 51 Aufsichtsräten saß.104 Noch dichter als die DDP war die DVP mit Vertretern aus der Wirtschaft durchsetzt. Von den knapp 3300 Personen, die über eine bloße Mitgliedschaft aktiv in der Partei mitarbeiteten, kamen knapp 40% aus der Groß- und Mittelindustrie, dem Großhandel und den Banken. 105 Außerdem saßen in den Führungsorganen der meisten Wirtschaftsverbände Mitglieder der Volkspartei, so mit 35% im Bereich der Schwerindustrie, mit 33% im Bereich des Großgewerbes und mit 31% im Bereich der verarbeitenden Industrie. 106 In den Organen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie stellte die DVP durchschnittlich 26% aller Mitglieder. 107
(3) Das Zentrum und die Bayerische Volkspartei Das Zentrum, in der Nachfolge der "Katholischen Fraktion" im Dezember 1870 gegründet und zunächst als überkonfessionelle Partei gedacht,108 entwickelte sich sehr schnell zu einer konfessionellen Partei. Kennzeichen des Zentrums war nicht nur sein katholischer, sondern auch sein schichten- und klassenübergreifender Charakter. Je nach Sozialstruktur der katholischen Bevölkerung verfügte die Zentrumspartei in den einzelnen Gebieten des Reiches über eine unterschiedliche soziale Basis.109 Sie umfaßte sowohl Bauern als auch Handwerker, Kleinhändler und Arbeiter. 110 Die heterogene soziale Basis führte jedoch nicht zu einer Gefährdung der Einheit der Partei. Grundlage der Einheit bildete der von Bismarck und den Liberalen gegen die Katholiken geführte Kulturkampf, der nicht nur dazu führte, daß die unterschiedlichen politischen Richtungen ihre Gegensätze hinter die Verteidigung des katholischen Interesses zurückstellten. 111 Der Kulturkampf führte auch zu einer Politisierung und Mobilisierung der katholischen Bevölkerung, von denen das Zentrum bis in die
104
D. Langewiesche, Liberalismus, S. 248. L. Döhn, Politik, Tabelle 1, S. 79. 106 L. Döhn, Politik, Tabelle 3, S. 127. 107 L. Döhn, Politik, S. 79, 114. 108 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 51. 109 H. Gottwald, Zentrum, S. 557, spricht deshalb von einer klassenmäßig außerordentlich diffusen Parteibildung; F. Mehring, Geschichte, Bd. 2, S. 394, kennzeichnet das Zentrum als "eine Masse der politisch und sozial verschiedensten Elemente, die nach den verschiedensten Richtungen auseinandergingen, von den Auffassungen kleinbäuerlicher und kleinbürgerlicher Demokratie bis zu den Auffassungen feudaler Romantik und zünftlerischen Krähwinkelei." 110 G. A. Ritter, Parteien, S. 53. 1,1 T. Nipperdey, Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 343; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 54; H. Gottwald, Zentrum, S. 560. 105
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
Weimarer Republik zehrte und die eine außerordentliche Stabilität des Zentrums bewirkten. 112 Die Heterogenität der sozialen Basis kennzeichnet die Partei auch in der Zeit der Weimarer Republik. Neben Arbeitern, Handwerkern und Kleingewerbetreibenden organisierten sich im Zentrum auch agrarische und industrielle Gruppierungen, die dort nicht weniger rigoros als in den Rechtsparteien versuchten, ihre Interessen durchzusetzen. 113 Zunächst spiegelte sich der gesellschaftliche Umbruch auch in der Sozialstruktur der Zentrumsfraktion in der Nationalversammlung wider. Der grundbesitzende Adel, der jahrzehntelang den konservativen Flügel der Partei gebildet hatte, konnte keinen Vertreter mehr in die Fraktion entsenden. Demgegenüber erhöhte sich der Anteil der Gewerkschaftsfunktionäre in der Fraktion auf 20%. Gestiegen war auch der Anteil der Professoren und Lehrer auf 13,2%. Justizbeamte und Landwirte stellten jeweils 8,9% der Abgeordneten. 7,9% der Zentrumsabgeordneten waren Kaufleute, Industrielle, Gewerbetreibende oder Handwerker. A u f 5,5% vermindert hatte sich der Anteil der Geistlichen.114 Die "Linkswendung" in der Sozialstruktur der Zentrumsfraktion wurde jedoch durch die 1920 neugewählte Fraktion erheblich korrigiert. Die Zahl der Arbeiter- und Gewerkschaftsvertreter ging von 24 auf 13 zurück. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl der Vertreter der Landwirte sowie der Industrie und des Handels. Auch die Zahl der selbständigen Handwerker und der kleineren Kaufleute erhöhte sich. Insgesamt läßt sich sagen, daß die soziale Schichtung der neuen Fraktion ein vergleichsweise getreues Spiegelbild der Zentrumswählerschaft bildete. 115 A u f Grund dieser heterogenen sozialen Basis vereinte die Partei sehr unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche politische Anschauungen: Liberale und Republikaner waren im Zentrum ebenso zu finden wie Konservative und Monarchisten. 116 Das Bekenntnis zur Republik fiel deshalb im Aufruf des Zentrums vom 30. Dezember 1918 - ein halbes Jahr, nachdem sich der Reichsausschuß der Partei noch für eine "starke Monarchie" 117 ausgesprochen hatte - sehr 112 Die Stabilität des Zentrums ist ablesbar an den Wahlergebnissen zur Reichstagswahl. Der Stimmanteil des Zentrums bewegte sich nach 27,9% in der Hochphase des Kulturkampfes 1874 zwischen 20% und 25% im Kaiserreich und zwischen 15% und 20% in der Weimarer Republik, D. Langewiesche, Liberalismus, Tabelle 4 und 16, in den Zahlen der Weimarer Republik ist der Stimmanteil der BVP enthalten. 113 H. Schulze, Weimar, S. 77. 1,4 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 154 ff., eine Tabelle zur Sozialstruktur der Fraktion auf S. 156. 115 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 324 f. 1,6 H. Schulze, Weimar, S. 77. 117 W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 481.
III. Die Entstehungsgeschichte
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verhalten aus.118 "Durch gewaltsamen Umsturz ist die alte Ordnung Deutschlands zerstört, sind die bisherigen Träger der Staatsgewalt teils beseitigt, teils lahmgelegt worden. Eine neue Ordnung ist auf dem Boden der gegebenen Tatsachen zu schaffen; diese Ordnung darf nach dem Sturz der Monarchie nicht die Form der sozialistischen Republik erhalten, sondern muß eine demokratische Republik werden." In den Leitsätzen des Zentrums vom selben Tag bekannte sich das Zentrum zum parlamentarischen Regierungssystem, indem es Volksregierungen forderte, "die des Vertrauens der Volksvertretung für ihre Amtsführung bedürfen, mit starker Vollzugsgewalt in Reich und Bundesstaaten."119 Die Richtlinien der Zentrumspartei vom Januar 1922 vermieden ein Bekenntnis zur Republik. Das Zentrum kennzeichnete sich darin als christliche Volkspartei, die "in einer zielklaren christlich-nationalen Politik die sichere Gewähr für die Erneuerung und die Zukunft des deutschen Volkes" sah. Nicht mehr ausdrücklich erwähnt war die Anerkennung der parlamentarischen Regierungsweise. Das Zentrum bekannte sich nur noch "zum deutschen Volksstaat, dessen Form durch den Willen des Volkes auf verfassungsmäßigem Wege bestimmt wird." 1 2 0 Die Bayerische Volkspartei, die sich im November 1918 vom Zentrum abspaltete, bildete bis 1920 eine Fraktionsgemeinschaft mit dem Zentrum. In ihrem Programm vom November 1918 machte sie deutlich, daß sie mit der Art der Herbeiführung des "gegenwärtigen staatspolitischen Zustands Bayerns, wie er durch die Ereignisse in der Nacht vom 7. zum 8. November in München geschaffen wurde", grundsätzlich nicht einverstanden sei. Sie erklärte jedoch, daß sie "eine Änderung dieses Zustandes nur auf dem Wege von Recht und Gesetz" erstrebe. Von der einzuberufenden konstituierenden Nationalversammlung erwartete die BVP die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems. Der partikularistische Charakter der Partei 121 wurde noch einmal
118 So der Eindruck von H. A. Winkler, Weimar, S. 64; E.-W. Böckenforde, Zusammenbruch, geht sogar soweit, das Zentrum nicht als wirklichen Befürworter der demokratischen Grundlagen der neuen Staatsordnung zu betrachten. 119 Der Aufruf und die Leitsätze des Zentrums vom Dezember 1918 sind abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 482 ff. 120 Die Richtlinien des Zentrums vom Januar 1922 sind abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 486 ff. 121 Diesen Charakter der Partei belegt besonders eindrucksvoll folgender Passus des Parteiprogramms vom November 1918: "Wir haben es satt, für die Zukunft von Berlin aus bis ins kleinste regiert zu werden. Berlin darf nicht Deutschland werden und Deutschland nicht Berlin."
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
verstärkt durch ein das Parteiprogramm ergänzendes föderalistisches Programm vom Oktober 1922. 122
(4) Die Sozialdemokraten Die SPD verstand sich als eigentliche Staatspartei der Republik. 123 Als stärkste und im demokratischen Sinne zuverlässigste Partei der Weimarer Zeit lag auf ihren Schultern die Hauptlast der Republik. 124 Von ihrer Sozialstruktur war die SPD eine Arbeiterpartei mit fester Bindung an die Gewerkschaften. So gaben 118 der 165 Abgeordneten der SPD in der Nationalversammlung Arbeiter als erlernten Beruf an. 125 Allerdings übten die Abgeordneten zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Nationalversammlung andere Berufe aus, jedoch ohne daß sich dadurch der Charakter der Partei veränderte. 36 der Parlamentarier gaben als aktuell ausgeübten Beruf besoldeter Gewerkschaftsfunktionär an, 24 Redakteur der Parteipresse, 21 Parteisekretär und neun Besitzer, Geschäftsführer oder Angestellter einer Einrichtung der Arbeiterbewegung. Neben diesen Berufsgruppen, die bereits im Kaiserreich das Bild der sozialdemokratischen Reichstagsfraktionen geprägt hatten, kamen, hervorgerufen durch die Umwälzungen der Novemberrevolution, drei neue Gruppen von Abgeordneten hinzu: So waren 18 Parlamentarier Minister im Reich oder in den Bundesländern, elf gehörten dem öffentlichen Dienst an und 14 gaben an, Hausfrau zu sein. 126 In der Nationalversammlung verfügte die Arbeiterbewegung über keine einheitliche Interessenvertretung. Bereits am 6. April 1917 hatte sich unter der Führung von Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann der linke Flügel der SPD-Reichstagsfraktion abgespalten. Er gründete an diesem Tag in Gotha die Unabhängige Sozialdemokratische Partei. Diese neue Partei, die sich in ihrer Sozialstruktur von der SPD darin etwas unterschied, daß sie über einen größeren Flügel von Intellektuellen und Freiberuflern verfügte, 127 stand "in grundsätzlicher Opposition zum herrschenden Regierungssystem, zur Kriegspolitik der Reichsregierung und zu der vom Parteivorstand im Regierungsfahr-
122
Das Parteiprogramm der BVP sowie seine Ergänzung sind abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 502 ff. 123 Vorwärts, Nr. 597 vom 19. Dezember 1924. 124 So das Urteil von H. Schulze, Weimar, S. 73 und 75. 125 S. Miller, Bürde, Anhang II, S. 460. 126 S. Miller, Bürde, Anhang II, S. 459; vgl. auch G. A. Ritter, Sozialistische Parteien, S. 126 f. 127 G. A. Ritter, Sozialistische Parteien, S. 140; H. Möller, Weimar, S. 106.
III. Die Entstehungsgeschichte
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wasser geführten Politik der nominellen Partei". 128 Ausschlaggebend für die Trennung waren Differenzen in der Haltung zur Frage der Kriegskredite, für deren Bewilligung die Mehrheit der Partei eintrat. In der Folgezeit entwickelten sich die beiden Parteien programmatisch jedoch immer weiter auseinander. Deutlich wird diese Entwicklung an den Bedingungen, die die USPD im November 1918 für einen Regierungsbeitritt stellte. So forderte sie, daß die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte liegen müsse. In der neuen Republik solle "die gesamte exekutive, legislative und jurisdiktioneile Macht ausschließlich in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten sein." Die SPD lehnte dies als die Diktatur eines Teils einer Klasse ab, hinter dem nicht die Volksmehrheit stehe und forderte statt dessen eine Entscheidung des Volkes über die anzustrebende Politik durch die Einberufung einer konstituierenden Versammlung. 129 Mit dieser Ablehnung des von der USPD geforderten Rätesystems setzte die SPD ihre Politik der Parlamentarisierung des Reiches fort. Bereits im Mai 1918 hatte die SPD einen maßgebenden Einfluß des Volkes auf die Regierung durch den Übergang des alten Obrigkeitsstaates in einen demokratisch-sozialistischen Verwaltungsstaat gefordert. Die demokratische Durchdringimg des Staates sollte dadurch erreicht werden, "daß das Volk entscheidenden Einfluß auf den Reichstag, die einzelstaatlichen und kommunalen parlamentarischen Vertretungen erlangt und diese wieder auf die Regierungsgewalt." Neben der Einführung demokratischer Wahlen forderte die SPD deshalb die "Entscheidung der Volksvertretungen bei der Berufung und Entlassung des Reichskanzlers, der Staatssekretäre und Minister, die gegenüber den Parlamenten die volle Verantwortung für ihre Amtshandlung zu tragen haben." 130 Nach einem kurzen Bündnis der beiden sozialdemokratischen Parteien im Rat der Volksbeauftragten, das an den unüberbrückbaren Gegensätzen in den Fragen des anzustrebenden Regierungssystems, der Sozialisierung und des Verhältnisses zum Militär noch im Jahr 1918 zerbrach, kam es im September 1922 zu einer Wiedervereinigung von SPD und dem gemäßigteren Teil der USPD.
128
So die Organisationsgrundlinien der USPD abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 389. 129 Der Schriftwechsel zwischen SPD und USPD in der Frage einer Regierungsbeteiligung der USPD ist abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 429 f. 130 Der Entwurf des Aktionsprogramms ist abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 391 ff.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
bb) Die erste Lesung in der Nationalversammlung Nach der kurzen Darstellung der Sozialstruktur und der Programmatik der in der Nationalversammlung vertretenen Parteien sollen im folgenden die Positionen ihrer Fraktionen in der Verfassungsdebatte geschildert werden. Dabei werden die Stellungnahmen der Vertreter der das Verfassungswerk von Weimar tragenden Parteien der Weimarer Koalition - SPD, DDP und Zentrum - gemeinsam erörtert. Ihnen gegenübergestellt werden die Äußerungen der Debattenredner von DVP, DNVP und USPD, die die neue Verfassung ablehnten.
(1) Die Parteien der Weimarer Koalition Den Rednern der SPD war es wichtig zu betonen, daß mit der neuen Verfassung auch ein neues Reich entstehen sollte. Nicht auf Blut und Eisen wie das alte Reich, sondern auf dem breiten Fundament der Freiheit, des Rechts und der Gerechtigkeit solle es gebaut werden. 131 Die stets herrschende tiefe Kluft im alten System zwischen den Regierenden und Teilen der Regierten 132 sei mit Hilfe des parlamentarischen Systems zu überwinden, indem das Volk bei der Wahl des Parlaments auch seine Regierung wähle. 133 Die Volksvertretung solle Quelle aller politischen Macht werden. 134 Sie solle ein vollwertiges Parlament und nicht nur ein Scheinparlament 135 wie der frühere Reichstag sein, in dem man habe reden können, der aber nichts zu sagen gehabt habe. 136 Insbesondere forderten die Redner der SPD für die neue Verfassung die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Reichstages, denn das Recht, einen Minister zu entfernen, habe doch erst dann Sinn, wenn ein Parlament auch das Recht habe, den neuen Mann zu stellen.137 Anders als im alten System, in dem der Minister "gewissermaßen an einem Draht (hing), der nach oben führte", 138 sei die Stellung des neuen Ministers die eines Vertrauensmannes der Volksvertretung, der dem Volk unmittelbar in seiner ganzen Wirksamkeit verantwortlich sei. 139
131 132 133 134 135 136 137 138 139
Fischer, Verh. Rt, Bd. 326, S. 371. Fischer, Verh. Rt., Bd. 326, S. 372. David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 499. David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 498. David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 498 David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 499. David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 499. David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 499. David, Verh. Rt., Bd. 326, S. 499.
III. Die Entstehungsgeschichte
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Die Redner der SPD sahen nicht nur das parlamentarische System in der neuen Verfassung verankert, sie wiesen auch auf die Gefahren hin, die diesem System durch eine zu starke Stellung des Reichspräsidenten drohe. 140 Das Amt des Reichspräsidenten solle deshalb nicht auf Ebert zugeschnitten sein, vielmehr müsse man mit der Tatsache rechnen, "daß eines Tages ein anderer Mann aus einer anderen Partei, vielleicht sogar aus einer reaktionären, staatsstreichlüsternen Partei an dieser Stelle stehen wird". 141 Auch die Redner der DDP kritisierten das alte System, das in der Stunde der Bewährung zusammengebrochen sei. 142 Man wollte sich deshalb an der Verfassung von 1848 orientieren, von der eine große und gerade Linie auf die Revolution von 1918 führe. 143 Immer wieder wurde hervorgehoben, daß mit der Verfassung die Abkehr vom Bismarck-Reich vollzogen und etwas Neues geschaffen werden solle. 144 Die Abkehr werde insbesondere an der Einführung des parlamentarischen Regierungssystems deutlich, das die beste Ausdrucksform für die Demokratie sei. 145 Die Stellung des Reichspräsidenten wurde allerdings von der DDP weniger kritisch gesehen als von der SPD. Zwar solle er kein Geschäftemacher sein, der in den ganzen parlamentarischen Dingen hinter den Kulissen seine Finger habe, sondern den Parlamentarismus nur ergänzen. 146 Der Reichspräsident solle aber ein Gegengewicht gegen die Parlamentsroutine bilden. 147 Die Redner des Zentrums äußerten sich nicht zum Regierungssystem.
(2) Die Deutsche Volkspartei Die Redner der DVP kritisierten, daß sich der Entwurf bewußt gegen die Bismarck-Verfassung stelle, obwohl das deutsche Volk unter dieser Verfassung zur höchsten Blüte gelangt sei. 148 Insbesondere sei der Zusammenbruch nicht 140
Fischer, Verh. Rt., Bd. 326, S. 373; Vogel, Verh. Rt., Bd. 326, S. 463. Fischer, Verh. Rt., Bd. 326, S. 374. 142 Preuß, Verh. Rt., Bd. 326, S. 451. 143 Koch, Verh. Rt., Bd. 326, S. 390. 144 Koch, Verh. Rt., Bd. 326, S. 390; Preuß, Verh. Rt., Bd. 326, S. 451; Schücking, Verh. Rt, Bd. 326, S. 476. 145 Koch, Verh. Rt, Bd. 326, S. 392; von der Einfuhrung des parlamentarischen Regierungssystem durch die Verfassung geht auch Schücking, Verh. Rt, Bd. 326, S. 478 aus. 146 Koch, Verh. Rt, Bd. 326, S. 393. 147 Koch, Verh. Rt, Bd. 326, S. 393. 148 Heinze, Verh. Rt, Bd. 326, S. 396. 141
B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
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von der Verfassung verursacht worden. Diese habe einen festen Halt gegeben, ohne den Deutschland nicht einer Welt von Feinden habe standhalten können. 149 Kritisiert wurde ebenfalls, daß die Staatsgewalt vom Volk ausgehen solle und nicht - angelehnt an die alte Verfassung - von den Einzelstaaten.150 Auch Stresemann nahm in seiner Rede das Bismarck-Reich in Schutz151 und nannte die Anklagen gegen Preußen eine grenzenlose geschichtliche Undankbarkeit. 152 Trotzdem sprach er sich aber für die Einführung des parlamentarischen Systems aus,153 auch wenn er diesem System wenig Vertrauen entgegenzubringen schien. Denn die Staatssekretäre und die Diplomaten sollten nicht parlamentarisiert werden, da diese Ämter so eminent wichtig seien und deshalb nur von Fachleuten bekleidet werden dürfen. 154 Kritisiert wurde auch die Stellung des Reichspräsidenten. So sei es mit der Würde eines deutschen Präsidenten unvereinbar, daß er jederzeit abgesetzt und vor dem Staatsgerichtshof auch bei kleineren Rechtsverletzungen angeklagt werden könne. 155
(3) Die Deutschnationale Volkspartei Die DNVP sprach sich für die Einführung einer demokratischen Monarchie aus.156 Deutlich wurde die große Sympathie für die Bismarck-Verfassung, 157 erkennbar in der Ablehnung des neuen Regierungssystems. 158 Das parlamentarische Regierungssystem führe zum Rückgang des Einflusses des Reichstages, weil die Regierungsfraktionen es nicht mehr wagen werden, ihrer Regierung zu widersprechen. 159 Außerdem beschränke das herrschende parlamentarische System die Auswahl der Reichsregierung durch den Reichspräsidenten, da sie in Zukunft aus dem Parlament gewählt werde. 160 Die Reichsregierung stütze sich in Zukunft auf den Reichstag, aus dessen Mehrheit sie hervorgehe. 161 Aus 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161
Heinze, Verh. Rt., Bd. 326, S. 396. Heinze, Verh. Rt., Bd. 326, S. 397. Stresemann, Verh. Rt., Bd. 326, S. 491. Stresemann, Verh. Rt., Bd. 326, S. 492. Stresemann, Verh. Rt., Bd. 326, S. 496. Stresemann, Verh. Rt., Bd. 326, S. 496. Heinze, Verh. Rt., Bd. 326, S. 400. v. Delbrück, Verh. Rt., Bd. 326, S. 383. v. Delbrück, Verh. Rt., Bd. 326, S. 385. v. Delbrück, Verh. Rt., Bd. 326, S. 384. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 326, S. 387. Düringer, Verh. Rt, Bd. 326, S. 472. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 326, S. 389.
III. Die Entstehungsgeschichte
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diesen Bemerkungen wird erkennbar, daß auch die DNVP von der Einführung des parlamentarischen Regierungssystems durch die neue Verfassung ausging.
(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten Auf ebenfalls grundsätzliche Ablehnung stieß der Verfassungsentwurf bei der USPD. Kritisiert wurde seine bürgerlich-kapitalistische Orientierung 162 und die mangelnde Vollzugsgewalt des Parlaments, 163 die nach Auffassung der USPD zu einem von ihr abgelehnten bürgerlich-kapitalistischen Parlamentarismus führen. 164 Interessant ist auch die Bemerkung von Cohn, daß ein Reichspräsident in einer Demokratie unnötig sei, die eine dem Parlament verantwortliche und von seinem Vertrauen abhängige Reichsregierung habe.165
cc) Die Beratungen im Verfassungsausschuß (1) Die Parteien der Weimarer Koalition Bei den Beratungen über den Abschnitt der Reichsverfassung, der die Rechte und Pflichten des Reichspräsidenten regelt, ergriff zunächst der Berichterstatter Ablaß das Wort. In enger Anlehnung an die Ausführungen seines Parteifreundes Preuß bei der Einbringung des Verfassungsentwurfs diskutierte er die unterschiedlichen Regierungssysteme in der Schweiz, in Frankreich und in den USA. Die Einführung des Schweizer Direktorialsystems in Deutschland lehnte er ab, weil es für ein großes Reich wie das Deutsche Reich nicht passe.166 Deutschland müsse als oberste Spitze eine starke Einzelpersönlichkeit haben, die nicht an Direktiven gebunden sei und die dem Parlament gegenüber ein Gegengewicht bilde. 167 Aber auch das französische Modell lehnte er ab, weil der Präsident dort vom Parlament gewählt werde und deshalb nur eine repräsentative Figur sein könne. Dieser Zustand, bei dem das Parlament die volle Omnipotenz besitze, habe mit einer wahren Demokratie nichts zu tun. 168 Im übrigen habe Redslob recht, wenn er den französischen Parlamentarismus als entartet bezeichne.169 Aber auch das amerikanische Modell passe nicht, weil 162 163 164 165 166 167 168
Henke, Verh. Rt, Bd. 326, S. 486. Henke, Verh. Rt, Bd. 326, S. 488. Henke, Verh. Rt, Bd. 326, S. 489. Cohn, Verh. Rt, Bd. 326, S. 404. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
man sich in Deutschland grundsätzlich für ein parlamentarisches System entschieden habe.170 In Amerika erstrecke sich die Tätigkeit des Parlaments nur auf die Legislative, die gesamte Exekutive liege völlig in der Hand des Präsidenten. Dieses Regierungssystem sei unannehmbar für alle, die das parlamentarische Regierungssystem bevorzugen. Insbesondere müsse der Reichstag ein viel umfassenderes Tätigkeitsgebiet haben als das amerikanische Parlament. 171 Indem der Verfassungsentwurf sowohl das amerikanische als auch das französische Modell ablehne, gehe er einen neuen, den Grundsätzen des echten Parlamentarismus entsprechenden Weg. So unterliege das Parlament einer demokratischen Kontrolle durch den Reichspräsidenten, der damit ein Gegengewicht zum Parlament bilde. Die Reichsregierung sei als ein Bindeglied zwischen beiden Organen gedacht, die die Vermittlung dieser beiden Spitzen herbeiführe. 172 Zur Veranschaulichung der starken Stellung des Reichspräsidenten nach dem Verfassungsentwurf zählte Ablaß anschließend die Befugnisse des Reichspräsidenten auf. Er erwähnte dabei interessanterweise nicht ein Recht des Reichspräsidenten zur Bildung der Regierung. 173 A m Ende seiner Rede führte er aus, durch welche Regelungen des Entwurfs die starke Stellung des Staatsoberhauptes eingeschränkt werde. So könne der Reichspräsident abgesetzt und vor dem Staatsgerichtshof angeklagt werden. Der Reichspräsident habe außerdem keinen Sitz in der Regierung und es bestehe zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung kein SubordinationsVerhältnis. 174 Auch Preuß ergriff bei den Beratungen des Regierungssystems im Verfassungsausschuß mehrfach das Wort. Zunächst hob er hervor, daß der entscheidende Punkt der Organisation der Regierung ein vom Volk gewählter Präsident mit streng parlamentarischer Regierung sei. 175 In der sich anschließenden Erörterung von Einzelheiten seines Entwurfs kam er dann zu der Frage, ob auch die Anordnung der Auflösung des Reichstages durch den Reichspräsidenten einer Gegenzeichnung bedürfe. 176 Preuß bejahte dies entschieden mit dem Argument, daß der ganze politische Sinn der Auflösung nur darin bestehe, daß der Reichs169 170 171 172 173 174 175 176
Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 231. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 232/233. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 234. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 235. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 237.
III. Die Entstehungsgeschichte
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Präsident durch die Neuwahlen versuche, die Mehrheit zur Minderheit und die Minderheit zur Mehrheit zu machen. Es sei deshalb für alle Beteiligten am besten, den Reichspräsidenten zu dieser politischen Überlegung zu zwingen, indem er vor der Auflösung zunächst die von der Mehrheit des Parlaments getragene Regierung durch eine Minderheitsregierung ersetze. Diese neue Regierung und nicht die alte, die an einer Auflösung des Parlaments und dem möglichen Verlust ihrer Mehrheit kein Interesse haben könne, zeichne die Auflösungsanordnung gegen. Fallen die Wahlen gegen die auflösende Regierung und damit auch gegen den Reichspräsidenten aus, dann habe der Präsident die alte oder eine ähnlich gerichtete Regierung wieder zu berufen. Genau dieser Fall, so Preuß, habe an der Wiege des modernen englischen Parlamentarismus gestanden und entscheidend zur Befestigung des reinen parlamentarischen Systems in England geführt. 177 Zwar erklärte Preuß damit die später sogenannte Kampfregierung in diesem Ausnahmefall mit seinem Entwurf für vereinbar. Gleichzeitig machte er aber deutlich, daß der Reichspräsident keine Minderheitsregierung gegen den Reichstag ernennen und im Amt halten könne. Angesichts einer Frage seines Parteikollegen Naumann 178 ging Preuß anschließend auch auf das Verhältnis des Reichspräsidenten zur Reichsregierung ein. Zwar sei der Reichspräsident oberstes Organ des Reiches und die Minister seine nächsten Berater; trotzdem sei der Reichspräsident aber nicht Vorgesetzter in dem Sinne, daß er dem Reichskanzler oder einem seiner Minister etwas befehlen könne. 179 Vielmehr sei die Reichsregierung politisch verantwortlich und handele nicht auf Befehl, sondern auf Grund ihrer politischen Überzeugung. 180 Der von Fischer im Laufe der Beratungen vorgetragenen sozialdemokratischen Kritik 1 8 1 an seinem Entwurf begegnete Preuß mit dem Vorwurf, daß das parlamentarische System dem deutschen Volk auch in seinen fortschrittlichsten politischen Richtungen noch immer wesensfremd sei. 182 Die Kritiker begreifen nicht, daß die Regierung nicht mehr die Obrigkeitsregierung, sondern Blut von ihrem Blute und Fleisch von ihrem Fleische sei. 183 Das parlamentarische System selbst werde alle aufgeworfenen Zweifelsfragen lösen, weil es auf dem Zusammenwirken einer zwar nicht notwendig unmittelbar aus dem Parlament 177 178 179 180 181 182 183
4 Hoppe
Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 237. Naumann, Verh. Rt, Bd. 336, S. 234. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 238. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 238. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 274 f. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 275. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 276.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
hervorgegangenen, aber in politischer Homogenität und Überzeugungsgemeinschaft mit seiner Mehrheit stehenden Regierung beruhe. 184 In diesem verfassungsmäßigen Parlamentarismus liege die Garantie gegen einen Machtmißbrauch des Reichspräsidenten. 185 Im übrigen solle mit dem Reichspräsidenten kein Monarch geschaffen werden. Der Entwurf vermeide deshalb persönliche Privilegien, die den Anschein erwecken könnten, es solle ein neuer Kaiser geschaffen werden. 186 Für die SPD sprach sich Fischer als Mitberichterstatter gegen die Einrichtung eines Reichspräsidenten aus. Entweder ernenne der Reichspräsident die Reichsregierung - dieser Gedanke widerspreche der Demokratie - oder er sei nur eine dekorative Spitze, die zwar formell die Reichsregierung ernenne, dabei aber an den Willen des Parlaments gebunden sei.187 Eine reine repräsentative Vertretung verbiete sich allein schon wegen der Armut des Landes.188 Darüber hinaus lasse der Entwurf einige wichtige Fragen offen. So werde nicht klar, wie es mit der Gegenzeichnung bei einer neuen Reichsregierung stehe, die noch kein Vertrauensvotum besitze, weil der Präsident die Auflösung des Reichstages gegen dessen Willen herbeigeführt habe.189 Ungeklärt sei auch das Verhältnis von Reichspräsident und Reichskanzler bei Meinungsverschiedenheiten über große politische Fragen. 190 Außerdem bestehe die Gefahr, daß der Reichspräsident in einer aufgeregten Zeit eine so ausschlaggebende Rolle spiele, daß das Parlament dagegen ohnmächtig sei 191 . Unter allen diesen Gesichtspunkten sei deshalb die Institution eines Reichspräsidenten im Interesse der ruhigen Entwicklung des Reichs weder notwendig noch wünschenswert. 192 Dieses allgemeine Mißtrauen gegenüber der Einrichtung eines Reichspräsidenten fand sich immer wieder in Äußerungen der Debattenredner der SPD 193 und führte auch zu konkreten Anträgen etwa mit dem Ziel, die Mitglieder der früheren landesherrlichen Familien der zum Deutschen Reich gehörenden Länder von der Wählbarkeit zum Reichspräsidenten auszuschließen194 oder die 184
Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 276. Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 277. 186 Preuß, Verh. Rt, Bd. 336, S. 293. 187 Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 274. 188 Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 275. 189 Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 275. 190 Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 275. 191 Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 274. 192 Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 275. 193 Davidsohn, Verh. Rt, Bd. 336, S. 252; Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 277; Quarck, Verh. Rt, Bd. 336, S. 278; Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 336, S. 288. 185
III. Die Entstehungsgeschichte
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Befugnisse des Reichspräsidenten zu beschränken. Im einzelnen wurde gefordert, die vom Reichspräsidenten anzuordnende Reichsexekution gegen die Länder von der Zustimmung des Reichstages abhängig zu machen,195 die Anordnungen des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Zustimmung der gesamten Reichsregierung zu unterwerfen, 196 dem Reichskanzler beim Begnadigungsrecht des Reichspräsidenten ein Vorschlagsrecht einzuräumen, 197 die Gegenzeichnungen der Anordnungen und Verfugungen des Reichspräsidenten nicht nur durch ein Regierungsmitglied, sondern durch den Reichskanzler und ein weiteres Regierungsmitglied vorzusehen 198 und schließlich die Begrenzung seiner Amtszeit auf fünf Jahre und die Zulassung nur einer einmaligen Wiederwahl. 199 Ein Antrag zur Änderung des späteren Art. 53 WRV, also des Artikels, der für die Verankerung eines Präsidialsystems in der Verfassung spricht, wurde nicht gestellt, weil die SPD dieser Bestimmung ohnehin keine große Bedeutung beimaß. 200 Auch im Verfassungsausschuß fehlte es an Äußerungen der Redner des Zentrums zum Regierungssystem. (2) Die Deutschnationale Volkspartei Die Redner der DNVP machten in den Beratungen deutlich, daß sie ihre grundsätzlich monarchische Überzeugung nicht aufgegeben hatten. 201 Da die Wiedereinführung der Monarchie nicht durchsetzbar war, versuchten sie, das Präsidialsystem in der Verfassung zu verankern, das der konstitutionellen Monarchie noch am ehesten entsprach. Sie plädierten deshalb für eine freiere Stellung des Reichspräsidenten, um ihm die Möglichkeit zu geben, im Reichstag die richtige Mehrheit zustande zu bringen und daraus die Regierung zu bilden. 202 Eine Stärkung der Stellung des Reichspräsidenten war deshalb auch regelmäßig das Ziel der Anträge der DNVP. So sollte die generelle ministerielle Gegenzeichnungspflicht der Anordnungen des Reichspräsidenten be-
194 195 196 197 198 199 200 201 202 41
Quarck, Verh. Rt, Bd. 336, S. 278. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 287. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 288. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 289. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 290. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 292. Fischer, Verh. Rt, Bd. 336, S. 302. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 336, S. 239. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 336, S. 253.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
schränkt werden, 203 und bei einem Angriff auf das Reich sollte die Kriegserklärung nicht durch Reichsgesetz, sondern durch den Reichspräsidenten erfolgen. 204 Von großer symbolischer Wichtigkeit war der Antrag, die strafrechtliche NichtVerfolgbarkeit des Monarchen auf den Reichspräsidenten zu übertragen. 205 Insgesamt wurde die Tendenz des Verfassungsentwurfs beklagt, den Reichspräsidenten einer persönlichen Initiative zu entkleiden. Damit liege der Schwerpunkt der Zentralgewalt nicht in der Person des Reichspräsidenten, sondern bei der Reichsregierung. 206
(3) Die deutsche Volkspartei Die Anträge der DVP stimmten zum großen Teil mit den Anträgen der DNVP überein. So war auch bei ihnen der Wunsch zu spüren, die Stellung des Reichspräsidenten zu stärken und damit der des Monarchen im konstitutionellen Regierungssystem anzugleichen. Auch die DVP verlangte die Möglichkeit der sofortigen Kriegserklärung durch den Reichspräsidenten bei einem Angriff auf das Deutsche Reich, die strafrechtliche NichtVerfolgbarkeit des Reichspräsidenten sowie eine Einschränkung der generellen ministeriellen Gegenzeichnungspflicht. 207
(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten Die Redner der USPD sprachen sich gegen die Einrichtung eines Reichspräsidenten aus.208 Da sie eine solche Einrichtung nicht verhindern konnten, waren sie bemüht, die Stellung des Reichspräsidenten zu schwächen. So sprach sich die USPD dafür aus, daß der Reichspräsident die Auflösung des Reichstages nur auf vorherigen Antrag der Reichsregierung vornehmen dürfe 209 und daß nicht der Reichspräsident, sondern der Reichstag die Geschäftsordnung des Kabinetts genehmigen solle. 210
203 204 205 206 207 208 209 210
v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 336, S. 252. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 336, S. 280. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 336, S. 293. v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 336, S. 296f. Heinze, Verh. Rt, Bd. 336, S. 288. Cohn, Verh. Rt, Bd. 336, S. 238 und S. 459. Cohn, Verh. Rt, Bd. 336, S. 251. Cohn, Verh. Rt, Bd. 336, S. 302.
III. Die Entstehungsgeschichte
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dd) Die zweite Lesung in der Nationalversammlung (1) Die Parteien der Weimarer Koalition Auch in der zweiten Lesung des Verfassungsentwurfs zeigten sich die Redner der SPD bemüht, jede Spur von Machtbefugnissen des Reichspräsidenten zu tilgen, die an die alte Monarchie und an den alten Despotismus erinnerten. 211 Sichtbar wurde dieses Bemühen in einem Antrag, die vom Reichspräsidenten anzuordnende Reichsexekution gegen ein Land an die Zustimmung des Reichstages und der gesamten Reichsregierung zu binden. 212 Deutlich wurde auch noch einmal das Verständnis der SPD vom parlamentarischen System. In diesem System sei die Reichsregierung nichts als der Ausschuß der Mehrheit des Parlaments und in jedem Augenblick abhängig vom Vertrauen des Reichstages.213 Zwar wandte sich auch die SPD gegen eine unumschränkte Parlamentsherrschaft, in der Aufzählung der von der Verfassung vorgesehenen Einschränkungen des Parlaments fehlte aber ein Hinweis auf den Einfluß des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung. 214 Im Widerspruch dazu befand sich allerdings eine Bemerkung von Quarck, die Zusammenstellung der Reichsregierung sei eine der Hauptfunktionen des Reichspräsidenten. 215 Für die DDP war der Reichstag dasjenige Organ, das nach der Struktur der Verfassung die Volkssouveränität in sich am stärksten verkörperte. 216 Allerdings legten die Redner der DDP Wert auf eine starke Stellung des Reichspräsidenten217, der ein Gegengewicht zum Reichstag bilden und diesen kontrollieren solle. 218 Erneut wurde aber betont, daß der Verfassungsentwurf nicht die amerikanische Verfassung nachahme.219 Dadurch bestehe keine Gefahr einer revolutionären Richtung im monarchischen Sinne. 220 Auch in der zweiten Lesung äußerten sich die Redner des Zentrums nicht zum Regierungssystem.
211 212 213 214 215 216 217 218 219 220
So die Formulierung von Quarck, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1311. Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1321. Heine, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1336. Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1263. Quarck, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1311. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1309. Haas, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1306 f. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1309. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1310. Ablaß, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1310.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
(2) Die Deutsche Volkspartei Die Redner der DVP beklagten die zu geringe Machtfiille des Reichspräsidenten221 und betrachteten den Präsidenten des Entwurfs mehr oder weniger als Dekorationsstück. 222 Sie lehnten deshalb die von der SPD beantragte Bindung der vom Reichspräsidenten anzuordnenden Reichsexekution ebenso ab 223 wie die Bildung eines ständigen Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten.224 Außerdem plädierten sie dafür, daß die Regierung Bündnisse wie bisher auch ohne Zustimmung des Reichstages abschließen können müsse.225 Besonders wichtig zur Feststellung des Verständnisses der DVP vom anzustrebenden Regierungssystem war ein Antrag, der das Ziel verfolgte, dem Reichspräsidenten die freie Auswahl der Regierungsmitglieder zu überlassen. 226 Eine solche deutliche Änderung des Entwurfs hin zu einem Präsidialsystem wurde von allen anderen Fraktionen - wenn auch zum Teil mit Sympathie für die Begründung des Antrags - abgelehnt.227
(3) Die Deutschnationale Volkspartei Auch die Redner der DNVP schätzten die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten nach dem Entwurf als zu gering ein. 228 Wenn Deutschland wieder Weltmacht werden wolle, sei eine einheitliche und machtvolle Obrigkeit und eine persönliche Spitze unentbehrlich. 229 Die Stellung des Reichspräsidenten könne deshalb nicht mächtig genug sein. 230 Allerdings sei es ein großes Unglück, wenn die höchste Würde des deutschen Volkes das Werkzeug einer einzelnen Partei sein sollte. 231 Deshalb dürfe der Reichspräsident kein ausgesprochener Parteimann sein. 232 221
Heinze, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1311. Heinze, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1312. 223 Heinze, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1324. 224 Heinze, Verh. Rt, Bd. 337, S. 1291. 225 Heinze, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1319. 226 Der spätere Art. 53 WRV sollte folgende Fassung erhalten: "Der Reichspräsident ist in der Wahl des Reichskanzlers und der Reichsminister frei, doch müssen sie zurücktreten, wenn der Reichstag ihnen durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.", Antrag Heinze, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1339. 227 Vgl. die Stellungnahmen von v. Delbrück (DNVP), Koch (DDP), Quarck (SPD) und Wurm (USPD), Verh. Rt, Bd. 327, S. 1340 f. 228 v. Delbrück, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1302; Philipp, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1304. 229 Philipp, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1304. 230 Philipp, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1304. 231 Philipp, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1306. 222
III. Die Entstehungsgeschichte
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(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten Unverändert ablehnend stand die USPD dem Institut des Reichspräsidenten gegenüber. So beantragte sie, die Vorschriften über den Reichspräsidenten aus der Verfassung zu streichen. 233 Als sie dafür keine Mehrheit bekam, versuchte die USPD, durch Einzelanträge die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten zu Gunsten des Reichstages zu beschneiden. So sollten alle Verträge mit auswärtigen Staaten der Zustimmung des Reichstages unterworfen werden. 234 Außerdem sprachen sich die Redner der USPD gegen ein Ernennungsrecht des Reichspräsidenten in Bezug auf die Beamten aus.235 Dem Reichspräsidenten sollten nach ihren Vorstellungen auch nicht der Oberbefehl über die Streitkräfte und die Anordnung der Reichsexekution gegen die Länder zustehen.236 Begründet wurde die ablehnende Haltung gegenüber dem Institut des Reichspräsidenten immer wieder mit der Warnung vor einem persönlichen Regiment. 237 Zwar sei der Reichspräsident nur Dekoration, wenn er sich streng auf diejenigen Befugnisse beschränke, die ihm von der Verfassung eingeräumt werden. Dafür bestehe aber keine Gewähr. 238 Denn insbesondere die DNVP verkünde nicht nur die Theorie des beschränkten Untertanenverstandes, 239 sondern versuche auch, über den Reichspräsidenten die Monarchie in die Verfassung zu schmuggeln.240
ee) Die dritte Lesung in der Nationalversammlung Die dritte Lesung des Verfassungsentwurfs begann mit einer Generaldiskussion, in der die Debattenredner noch einmal die grundsätzliche verfassungspolitische Haltung ihrer Parteien verdeutlichten.
232 Philipp, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1305; auf der S. 1306 spricht er von einem ausgesprochenen Parteireichspräsidenten, den die Revolution gebracht habe und von einem der tollsten Kuriosa der Weltgeschichte, daß in einem überwiegend bürgerlichen Staat ein Sozialdemokrat die höchste Würde im Staate innehabe. 233 Antrag Agnes, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1304. 234 Cohn, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1320. 235 Cohn, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1322. 236 Cohn, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1322. 237 Haase, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1308 und S. 1309. 238 Haase, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1308. 239 Haase, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1295. 240 Haase, Verh. Rt, Bd. 327, S. 1309.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
(1) Die Parteien der Weimarer Koalition Als Vertreter der Reichsregierung ergriff zunächst Preuß das Wort. Er betonte erneut die Selbstverständlichkeit der Einfuhrung des parlamentarischen Regierungssystems. 241 Gleichzeitig warf er Adel und Bürgertum in Deutschland das Versäumnis vor, das parlamentarische System nicht stetig - und damit der Umgestaltung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse Rechnung tragend - zu einem demokratischen Parlamentarismus weiterentwickelt zu haben.242 Die neue Verfassung müsse daher einen scharfen Schnitt ziehen zwischen dem System der Vergangenheit, das an seiner inneren Unhaltbarkeit zusammengebrochen sei, und der politischen Gegenwart und Zukunft. 243 Sein immer wieder deutlich werdender Wille zu einer Abkehr vom alten System gipfelte in der Bemerkung, daß das von den Rechtsparteien in den Verfassungsdebatten vorgetragene Lob für die Bismarcksche Verfassung ihn an Leichenreden erinnere. 244 Für die Regierungsbildung bedeute die Abkehr vom alten System, daß die Minister nicht mehr von oben kommen, sondern aus dem Volk und der Volksvertretung und damit aus dem freien Streit und Wettkampf der Parteien und politischen Geistesrichtungen hervorgehen. 245 Katzenstein als Redner der SPD betonte, daß durch die neue Verfassung eine parlamentarische Demokratie eingeführt werde. 246 Die Regierung solle sich nach dem Willen der Mehrheit betätigen und bilden. Dies sei der Sinn der Regelung, die für die Ausübung der Regierungstätigkeit das Vertrauen der Mehrheit des Reichstages vorsehe. 247 Deutlich wurde auch noch einmal das Mißtrauen der SPD gegenüber der Institution des Reichspräsidenten. Die Rechte des Reichspräsidenten seien aber, so Katzenstein, im Laufe der Verfassungsberatungen beschränkt worden. Die SPD habe deshalb die Möglichkeit, für diese Einrichtung zu stimmen. 248 Gleichwohl beantragte sie zur Verhinderung einer
241
Preuß, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2072. Preuß, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2072. 243 Preuß, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2078. 244 Preuß, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2101; auch Haußmann (DDP) hob in der Debatte hervor, daß der Zusammenbruch Deutschlands durch das falsche System mitverschuldet worden sei, Haußmann, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2083. 245 Preuß, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2101. 246 Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2075. 247 Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2076. 248 Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2076. 242
III. Die Entstehungsgeschichte
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bonapartistischen Plebiszitpolitik, den Reichspräsidenten nicht unmittelbar durch das Volk, sondern mittelbar durch Reichstag und Reichsrat wählen zu lassen. Auch die Amtsdauer sollte nach den Vorstellungen der SPD auf fünf Jahre begrenzt werden. 249 Herausgefordert durch den Antrag der SPD-Fraktion, den Reichspräsidenten nicht unmittelbar durch das Volk wählen zu lassen, nahm das Zentrum erstmals in den Verfassungsberatungen kurz Stellung zum Regierungssystem. Der Reichspräsident müsse, so Spahn, ein Gegengewicht zum Reichstag bilden. 250 Ein solches Gegengewicht könne er aber nur dann darstellen, wenn er unabhängig vom Reichstag sei. Der Reichspräsident müsse deshalb sein Mandat unmittelbar vom Volk herleiten. 251
(2) Die Deutsche Volkspartei Auch in der dritten Lesung blieb es sowohl bei der ablehnenden Haltung der DVP zur neuen Verfassung als auch bei ihrer Sympathie für die Monarchie. 252 Anders als die Bismarcksche Verfassung, die immer wieder als leuchtendes Beispiel hingestellt wurde, 253 laufe die neue Verfassung, so Heinze, dem nationalen Empfinden direkt zuwider. 254 In ihr wohne der Geist einer extremen Demokratie, 255 in der das Parlament im Mittelpunkt stehe.256 Das neue Parlament versammele, vertage und schließe sich aus eigenem Gutdünken. 257 Außerdem sei die Regierung, die den Staat bilde, völlig abhängig vom Parlament, weil die Minister das Vertrauen des Reichstages haben und jederzeit zurücktreten müssen, wenn der Reichstag es fordere. 258 Dadurch und durch die Einrichtung eines auswärtigen Ausschusses sowie der Möglichkeit der Bildung eines Überwachungsausschusses greife das Parlament in die Staatsverwaltung ein. Demgegenüber fehle es an genügenden Gegengewichten gegen die Parlaments- und Parteiherrschaft. 259 Der Reichspräsident sei auf Grund seiner eingeschränkten 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259
Katzenstein, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2076. Spahn, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2078. Spahn, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2078. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2092. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2093, 2096. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2093. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2093. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2094. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2094. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2094. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2095.
B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
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Befugnisse nur Dekoration. 260 Die Möglichkeit seiner Absetzung durch den Reichstag lähme nicht nur seine Tatkraft, sondern führe auch zu einer Abhängigkeit vom Parlament. 261 Auch bei der Ministerwahl sei er abhängig vom Parlament, da ihm die Kandidaten von den Parteien präsentiert werden. 262 Mit der Aufhebung der Verfassung von 1871 scheide Deutschland auch formal von der stolzesten Epoche seiner zweitausendjährigen Geschichte.263
(3) Die Deutschnationale Volkspartei Die DNVP legte in der Debatte erneut ein Bekenntnis zur Monarchie ab. 264 Die Deutschen brauchen, so Düringer, ein Staatsoberhaupt, das nicht von der Parteien Gunst und Haß bestimmt werde, sondern, über den Parteien stehend, mit starker Hand die Auseinanderstrebenden zusammenhalte.265 Darüber hinaus könne sich der bei den Deutschen verbreitete Zug zu persönlicher Hingabe und Treue in einer Republik nicht entfalten. 266 Die Republik sei eine dem Deutschen wesensfremde und fremdländische Pflanze. 267 Auch der Reichspräsident könne die für die Entwicklung und den Zusammenhang eines so großen und vielgestaltigen Volkes notwendige starke Zentralgewalt nicht ersetzen. 268 Dieser sei als bloßes Dekorationsstück ein in jeder Hinsicht gebundener Mann. 269 Er habe weder in der Wahl des Reichskanzlers noch in der seiner Minister freie Hand. 270 Vielmehr werden ihm diese von den Fraktionen präsentiert und er müsse sie ernennen. Düringer schließt seine Ausführungen zum Regierungssystem der neuen Verfassung mit der Bemerkung, daß sich das deutsche Volk noch einmal mit Wehmut nach dem alten sogenannten Obrigkeitsstaat der Jahre 1871-1919 zurücksehnen werde. 271
260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271
Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2095. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2095. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2095. Heinze, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2096. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2088. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089. Düringer, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2089 f.
III. Die Entstehungsgeschichte
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(4) Die Unabhängigen Sozialdemokraten Genau entgegengesetzt zur Kritik der Rechtsparteien am Regierungssystem fielen die Ausfuhrungen der USPD aus. Für Cohn fanden sich in den Bestimmungen über den Reichspräsidenten starke Anklänge an monarchische Einrichtungen. 272 Die Beschränkungen der Befugnisse des Reichspräsidenten seien nur formaler Natur. Es bestehe deshalb die Gefahr einer Rückkehr zur Monarchie. 273 Anstelle der Einrichtung von schein- oder halbmonarchischen Strukturen, so Cohn, wäre es besser gewesen, die oberste Reichsgewalt beim Ministerium selbst zu belassen.274
3. Die beiden die Verfassungsberatungen begleitenden Kabinettsbildungen Die Kabinette Scheidemann und Bauer wurden nicht auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung gebildet, da die Verfassung erst am 11. August 1919 in Kraft trat. Dennoch sind auch diese Kabinettsbildungen von großer Bedeutung. Zum einen stimmt das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, die verfassungsrechtliche Grundlage für diese ersten Kabinettsbildungen, in den für die Regierungsbildung entscheidenden Bestimmungen fast wörtlich mit der späteren Reichsverfassung überein. Zum anderen kann man am Verhalten der Parteien der Weimarer Koalition ablesen, wie sie sich die Bildung einer Regierung in der Praxis vorstellten. Gerade diese Kabinettsbildungen dienen damit der Veranschaulichung der Vorstellungen zum anzustrebenden Regierungssystem zumindest der regierungsbildenden Parteien in den gleichzeitig stattfindenden Verfassungsberatungen.
a) Das Kabinett Scheidemann Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1918 brachten der SPD nicht die erhoffte absolute Mehrheit. 275 Dennoch ergriff die SPD als die mit Abstand stärkste Partei, die außerdem die bisherige Regierung stellte, die
272
Cohn, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2097. Cohn, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2098. 274 Cohn, Verh. Rt, Bd. 328, S. 2098. 275 Die SPD errang 165 von 423 Mandaten; auf die USPD entfielen 22, das Zentrum 91, die DDP 75, die DVP 19, die DNVP 44; 7 Sitze errangen Splitterparteien, J. Falter/T. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.1.3, S. 44. 273
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
Initiative zur Regierungsbildung. 276 Noch in Berlin hatten sich Ebert und Scheidemann darauf geeinigt, daß Ebert Reichspräsident und Scheidemann Reichskanzler werden sollte. 277 A m 1. Februar 1919 kam es zu einer ersten Vorbesprechung über die Bildung einer Regierung zwischen der SPD und der DDP. 278 Die DDP äußerte dabei den Wunsch, auch das Zentrum an der Regierung zu beteiligen. 279 Innerhalb der SPD-Fraktion war eine Regierungsbeteiligung des Zentrums zunächst umstritten. 280 Schließlich beugte man sich dem Druck der DDP und stimmte mit großer Mehrheit einer Regierungsbeteiligung des Zentrums zu. Diskutiert wurde innerhalb der SPD-Fraktion auch über eine Regierungsbeteiligung der USPD. Nach langer und heftiger Diskussion wurde am 4. Februar 1919 mit Mehrheit beschlossen, bei der USPD anzufragen, ob sie bereit sei, auf der Grundlage des Bekenntnisses zur parlamentarischen Demokratie und unter grundsätzlicher Ablehnung jeder Putschtaktik in die Reichsregierung einzutreten. 281 Daraufhin erklärte David, er müsse auf Grund dieses Beschlusses für seine Stellung als Fraktionsvorsitzender Konsequenzen ziehen. 282 Diese bestanden jedoch nicht in einem Rücktritt, sondern in der Weigerung, den Beschluß der Fraktion auszuführen. 283 Schließlich übernahm Löbe diese Aufgabe.284 Zur allgemeinen Erleichterung 285 antwortete die USPD ablehnend.286 276 S. Miller, Bürde, S. 243 spricht von einer Selbstverständlichkeit, daß die SPD die Initiative zur Regierungsbildung ergriff. 277 P. Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 352-355; zu Scheidemann s. H. Lademacher, Scheidemann. 278 Für die SPD nahmen Ebert, Scheidemann und David an dem Treffen teil, für die DDP Schiffer, Naumann und Fischbeck, so Fischbeck in seinem Bericht über dieses Treffen in der Sitzung des Hauptvorstandes der DDP vom 4. Februar 1919, Linksliberalismus, Nr. 15, S. 26 f. 279 So übereinstimmend Ebert am 4. Februar 1919 in der SPD-Fraktion, SPD-Fraktion, Nr. 1 a, S. 5 und Fischbeck im Hauptvorstand der DDP, Linksliberalismus, Nr. 15, S. 26. 280 Aus den Protokollen der Fraktion nicht ersichtlich; nach A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 21, leistete besonders der linke Flügel der Partei Widerstand; vgl. auch C. Severing, Lebensweg, Bd. 1, S. 237 f , C. Haußmann, Schlaglichter, S. 275 f. und Lobes Bericht auf dem SPD-Parteitag 1919, Prot. SPD-Parteitag 1919, S. 348. 281 SPD-Fraktion, Nr. 2, S. 8. 282 SPD-Fraktion, Nr. 2, S. 8. 283 SPD-Fraktion, Nr. 3, S. 8. 284 SPD-Fraktion, Nr. 3, S. 8. 285 So die Einschätzung von H. Schulze, Kabinett Scheidemann, S. XXV. 286 Das Antwortschreiben der USPD lautete wie folgt: "Auf Ihr Schreiben vom 5. Februar 1919 erwidern wir folgendes: für die Fraktion der USPD kommt der Eintritt in die Regierung solange nicht in Frage, bis die gegenwärtige Gewaltherrschaft beseitigt ist und bis die sämtlichen Mitglieder der Regierung nicht nur das Bekenntnis ablegen, sondern auch den entschlossenen Willen betätigen, die demokratischen und sozialisti-
III. Die Entstehungsgeschichte
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Glaubt man Haußmann, dann war dieses Angebot an die USPD zumindest für Ebert nur ein Scheinangebot. Denn dieser habe Haußmann erklärt, er wolle "es nur so weit kommen lassen mit Besprechungen mit der äußersten Linken, daß er diese ins Unrecht setzt."287 Die Beteiligung an der Regierung war aber auch innerhalb des Zentrums heftig umstritten. Hintergrund waren Überlegungen, der SPD als der treibenden Kraft der Revolution zunächst die alleinige Regierungsverantwortung zuzuschieben.288 Nach dreitätigen ausgiebigen Debatten beschloß die Zentrumsfraktion mit 64 gegen 5 Stimmen die Beteiligung an der Koalition. 289 Öffentlich begründete die Zentrumsfraktion ihre Entscheidung zu Gunsten einer Regierungsbeteiligung mit ihrem staatsbürgerlichen Pflichtgefühl. 290 Die wirklichen Gründe für die Entscheidung zu Gunsten des ungeliebten Bündnisses mit der Linken lagen eher in Überlegungen, die vom Zentrum als extrem empfundenen Forderungen der SPD im kirchen- und kulturpolitischen Bereich am besten als Regierungspartei abwehren zu können. 291 Außerdem erhoffte man sich ein Ende der sogenannten imparitätischen Personalpolitik, also der traditionellen Benachteiligung von Katholiken bei der Berücksichtigung von Positionen in der Regierung und in der Verwaltung. 292 A m 6. Februar 1919 kam es in der SPD-Fraktion zu Beratungen über die Besetzung der Position des Reichstagspräsidenten. Im Gespräch waren zunächst Hildenbrand und Bauer. Schließlich einigte man sich einstimmig auf David, 293 der sich zur Übernahme des Amtes bereit erklärte. 294 Darauf wurde David am 7. Februar 1919 mit 374 von 399 zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt. 295 Diese Wahl stellte für David die Krönung seiner politi-
schen Errungenschaften der Revolution gegen die Bourgeoisie und die Militärautokratie sicherzustellen. Die Fraktion der USPD. Fritz Geyer."; SPD-Fraktion, Nr. 2, Fn. 3. 287 Haußmann, Schlaglichter, S. 276, Haußmann erwähnt in diesem Schreiben auch, daß eine Regierungsbeteiligung der DDP nur dann in Frage komme, wenn die USPD nicht an der Regierung beteiligt werde. 288 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 166, mit Nachweisen aus der zentrumsnahen Presse. 289 K. Epstein, Erzberger, S. 327 f.; gegen eine Beteiligung an der Regierung stimmten nur die Abgeordneten der BVP. 290 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei R. Morsey, Zentrumspartei, S. 169. 291 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 169. 292 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 169. 293 SPD-Fraktion, Nr. 4; s. aber die Darstellung von W. Keil, Erlebnisse, Bd. 2, S. 170, der berichtet, man habe ihn selbst vorgeschlagen. 294 SPD-Fraktion, Nr. 5, S. 15. 295 Verh. Rt. Bd. 326, S. 8.
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
sehen Laufbahn dar. 296 Über die Besetzung dieses Amtes wurde aber kurze Zeit darauf in der erst zu bildenden Koalition heftig gestritten, da die bürgerlichen Parteien nicht alle drei Präsidenten 297 der SPD überlassen wollten. 298 In den Verhandlungen über die Forderung der bürgerlichen Parteien am 8. und 9. Februar 1919, einen der Präsidenten stellen zu wollen, erklärte die SPD zunächst, daß sie auf keines der Ämter verzichten könne. 299 Die Koalitionsverhandlungen wurden daraufhin ergebnislos abgebrochen. 300 Erst nach einem Gespräch zwischen Ebert, Scheidemann und David, 301 in dem sich David bereit erklärte, auf das Amt des Reichstagspräsidenten zu verzichten und statt dessen in die Reichsregierung als Minister ohne Portefeuille einzutreten, beschloß die SPD-Fraktion am 10. Februar 1919, den bürgerlichen Parteien das Amt des Parlamentspräsidenten anzubieten.302 Der Weg war damit frei zur Bildung einer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum. A m 11. Februar erfolgte verabredungsgemäß die Wahl Eberts zum Reichspräsidenten 303 und zwei Tage später die Bildung des Kabinetts Scheidemann.304 David trat mit Schreiben vom 13. Februar 1919 als Präsident der Nationalversammlung zurück. 305 A m 14. Februar 1919 wurde Fehrenbach vom Zentrum zum neuen Präsidenten der Nationalver-
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So K Hildenbrand, in: Sozialistische Monatshefte, 73 (1931,1), S. 30. Gemeint waren das Amt des Reichspräsidenten für Ebert, das des Ministerpräsidenten für Scheidemann und das des Reichtagspräsidenten für David. 298 SPD-Fraktion, Nr. 6, S. 15 f. 299 Payer in seinem Bericht vor der DDP-Fraktion, SPD-Fraktion, Nr. 6, Fn. 2; s. auch Vorwärts, Nr. 71, vom 8. Februar 1919. 300 Löbe vor der SPD-Fraktion, SPD-Fraktion, Nr. 6, S. 15 f. 301 Nach A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 23, unter Hinweis auf den Nachlaß David, begaben sich Scheidemann, Ebert, Löbe, Severing und Baake zu dem gerade erkrankten David und bewogen ihn zum Rücktritt. 302 Das Protokoll an dieser Stelle lautet: "Nach längerer Debatte ... wurde mit 45 gegen 29 Stimmen beschlossen, den Anspruch auf Besetzung der drei Präsidentenposten aufrecht zu erhalten. Sollte auf dieser Basis eine Einigung nicht zu erzielen sein, dann soll nach dem Vorschlage der Unterhändler den bürgerlichen Vertretern der Posten des Parlamentspräsidenten angeboten werden. Dem letzten Vorschlag stimmte die Fraktion mit allen gegen 5 Stimmen bei", SPD-Fraktion, Nr. 6, S. 17. 303 Ebert wurde mit 277 von 379 Stimmen zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt, Verh. Rt, Bd. 326, S. 40. 304 In der Sitzung der Nationalversammlung vom 13. Februar 1919 verlas Vizepräsident Haußmann ein Schreiben Eberts, in dem er die Berufung des Reichsministeriums mitteilte, Verh. Rt, Bd. 326, S. 43. 305 "Infolge meiner Berufung in die Reichsregierung sehe ich mich genötigt, das Amt des Präsidenten der Nationalversammlung niederzulegen.", Verh. Rt, Bd. 326, S. 43; vgl. auch Vorwärts, Nr. 32 vom 14. Februar 1919 und P. Löbe, Erinnerungen, S. 61 f.; P. Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 360; W. Oehme, Nationalversammlung, S. 135. 297
III. Die Entstehungsgeschichte
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Sammlung gewählt. Die Nationalversammlung gab am 21. Februar 1919 dem Reichsministerpräsidenten Scheidemann ein formelles Vertrauensvotum. 306 Die erste Kabinettsbildung der Weimarer Republik enthielt nicht die Vorwegnahme der institutionellen Entscheidung für ein starkes Präsidentenamt und ein Moment des verborgenen "Konstitutionalismus" in der werdenden Verfassung.307 Sie hat vielmehr deutlich gemacht, daß den Fraktionen und Parteien der entscheidende Anteil an der Regierungsbildung zukam. 308 Erkennbar wird dies auch, wenn man die scharfe Kritik und die heftigen Vorwürfe betrachtet, mit der die Zentrumspresse die "politische Mischehe mit der Häresie" 309 , wie die Koalition mit SPD und DDP bezeichnet wurde, kommentierte. Bereits in diesem Zusammenhang fiel das böse Wort vom "parlamentarischen Kuhhandel", 310 das von da ab immer wieder von den Kritikern des parlamentarischen Regierungssystems der Weimarer Republik benutzt wurde. Gerade diese Kritik macht deutlich, daß die erste Regierung der Weimarer Republik nicht mehr wie eine konstitutionelle Regierung von "oben" eingesetzt wurde, sondern das Ergebnis von Verhandlungen der Koalitionspartner war. In diesen ersten Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer Regierung wurden nicht nur die unterschiedlichen Interessen der Partner sichtbar, sondern auch die Art und Weise, wie in einer parlamentarischen Demokratie gegenläufige Interessen durch das Eingehen von Kompromissen zum Ausgleich gebracht werden. Das Kabinett Scheidemann ist deshalb als vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit getragene und damit parlamentarische Regierung zu bezeichnen.
b) Das Kabinett Bauer In der Nacht zum 20. Juni 1919 trat das Kabinett Scheidemann wegen der Auseinandersetzungen um die Unterzeichnung des Friedensvertrages zurück. 311 306
Verh. Rt, Bd. 326, S. 278, der Beschluß lautet im Wortlaut: "Die Nationalversammlung billigt den Arbeitsplan des Reichsministeriums und spricht dem Reichsministerium das Vertrauen aus.", Verh. Rt, Bd. 335, Nr. 52, S. 44. 307 So aber E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1081. 308 Kastning, Sozialdemokratie, S. 23, spricht davon, daß die Parteien "bei der Regierungsbildung alle Zügel in der Hand" hielten. 309 Diese Formulierung und weitere scharfe Kritik der Zentrumspresse nachgewiesen bei R. Morsey, Zentrumspartei, S. 172 ff. 310 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 173. 311 Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 373, schildert die entscheidende Kabinettssitzung wie folgt: "Im Kabinett wurde um das Ja oder Nein gekämpft bis nachts um 3 Uhr. Es war wirklich ausgeschlossen, daß einer den anderen hätte überzeugen können. Mit Landsberg, dem Grafen Brockdorff-Rantzau und den demokratischen Kabinettsmitgliedern war ich vollkommen einig. Wozu die fortgesetzte Silbenstecherei, bei der
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
Die SPD-Fraktion schien über diesen Rücktritt nicht unglücklich zu sein, 312 jedenfalls lehnte sie es am Morgen des 20. Juni nach ausgiebiger Erörterung ab, einem Wunsch Eberts zu folgen und Scheidemann zum Verbleib in der Regierung aufzufordern. 313 Vielmehr beschloß sie gegen wenige Stimmen in ihrer Sitzung am Mittag, dem bereits im Kabinett Scheidemann neben Erzberger eifrigsten Befürworter einer bedingten Unterzeichnung des Friedensvertrags, David, das Amt des Ministerpräsidenten zu übertragen. 314 In ihrer Abendsitzung nahm sie einen Antrag von Wisseil an, den Reichspräsidenten zu ersuchen, sofort ein neues Kabinett zu bilden, bestehend aus Mitgliedern der SPD, des Zentrums und solchen Mitgliedern der demokratischen Partei, die zur Unterzeichnung des Friedensvertrages bereit seien.315 Zu einer Beteiligung der DDP an der neuen Regierung kam es jedoch nicht, da die DDP-Fraktion bereits am 20. Juni nachmittags beschloß, jedem Mitglied, das ohne ihre Zustimmung in die Regierung eintrete, den Ausschluß anzudrohen. 316 A m nächsten Morgen berichtete Hermann Müller der SPD-Fraktion von den "notwendigen Vorarbeiten" des vorangegangenen Abends zur Bildung des neuen Kabinetts. 317 David sei aus verständlichen gesundheitlichen Gründen nicht zur Übernahme der Ministerpräsidentschaft bereit. Die daraufhin an ihn selbst gerichtete Bitte,
nichts mehr herauskommen konnte, noch länger fortsetzen? Ich machte dem grausamen Spiel ein Ende, indem ich Ebert aufsuchte und demissionierte." 312 Sojedenfalls der Eindruck von S. Miller, Bürde, S. 292. 3,3 SPD-Fraktion, Nr. 50, S. 94 f.; da der Inhalt der Diskussion im Protokoll nicht angegeben wird, läßt sich über die Gründe für diese Haltung der Fraktion nur spekulieren. S. Miller, Bürde, S. 292 sieht einen Anhaltspunkt bei F. Stampfer, Jahre, S. 126, der Scheidemanns Rede am 12. Mai 1919 als politisch anfechtbar und deklamatorisch überhitzt kritisiert. Scheidemann hatte in jener Rede vor der Nationalversammlung die Friedensbedingungen der Alliierten als unannehmbar bezeichnet: "Was unseren Beratungen zugrunde liegt, dieses dicke Buch, in dem hundert Absätze beginnen: 'Deutschland verzichtet - verzichtet - verzichtet,' dieser schauerlichste und mörderische Hexenhammer, mit dem einem großen Volk das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, die Zustimmung zur erbarmungslosen Zerstückelung, das Einverständnis mit Versklavung und Helotentum abgepreßt werden sollen, dies Buch darf nicht zum Gesetz der Zukunft werden ... Ich frage Sie: wer kann als ehrlicher Mann, ich will gar nicht sagen als Deutscher, nur als ehrlicher vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?", Verh. Rt, Bd. 327, S. 1082, 1083. 314 SPD-Fraktion, Nr. 51, S. 96; vgl. auch M. Erzberger, Erlebnisse, S. 378, wonach "als neuer Ministerpräsident ... nach dem parlamentarischen Verlauf der Dinge der Sozialdemokrat David oder Noske in Betracht gekommen" sei, und W. Keil, Erlebnisse, Bd. 2, S. 183. 315 SPD-Fraktion, Nr. 52, S. 99. 316 L. Albertin, Liberalismus, S. 339, Fn. 126; Löbe am 21. Juni in der SPD-Fraktion, SPD-Fraktion, Nr. 54, S. 104. 317 SPD-Fraktion, Nr. 53, S. 102.
III. Die Entstehungsgeschichte
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diese Position einzunehmen, lehnte Müller ab. 318 Es sei für die Partei besser, wenn er sich als ihr Vorsitzender jetzt der Regierung fernhalte. Er bat, ihn für spätere Zeiten in Reserve zu halten. Müller berichtete weiter, daß schließlich Bauer in Vorschlag gebracht worden sei. Noske, der ebenfalls für das Amt des Ministerpräsidenten im Gespräch gewesen sei, Wisseil, Schmidt und Giesberts sollten an ihren Posten verbleiben. Abschließend appellierte er an die Fraktion, an der vereinbarten Liste nichts zu verändern. Daraufhin autorisierte die Fraktion ihre Vertreter, auf der Grundlage dieser Liste weiterzuverhandeln. Bereits wenige Stunden nach diesen Erörterungen stellte sich in einer weiteren Sitzung der SPD-Fraktion heraus, daß Davids Gesundheit zumindest soweit wiederhergestellt war, daß er das Amt des Innenministers übernehmen konnte. 319 Auch Müller gab seine Zurückhaltung auf und wurde Außenminister im neuen Kabinett. Um das Amt des Arbeitsministers kam es in der Fraktion zu einer Kampfabstimmung zwischen Sinzheimer und Schlicke, die letzterer für sich entschied. Nachdem Müller dargelegt hatte, warum er sich doch für einen Eintritt in die Regierung entschieden hatte, wurde der Kabinettsliste ohne weitere Debatte zugestimmt. Abschließend beschloß die Fraktion, daß das neue Kabinett sich einer Vertrauensabstimmung im Plenum der Nationalversammlung zu stellen habe. A m 22. Juni 1919 sprach die Nationalversammlung der neuen Regierung in namentlicher Abstimmung mit 236 von 394 Stimmen das Vertrauen aus. 320 Die DDP begründete ihr Ausscheiden aus der Regierung mit außenpolitischen Gründen. Intern erhoffte man sich jedoch innenpolitische Vorteile. So sprach Schiffer von einer freieren Stellung in der Opposition und stellte eine Konsolidierung der liberalen Anschauung in Aussicht. Auch sei in der Opposition eine freiere Kritik gegenüber Wissell möglich, dessen Ablösung man auf Grund seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen bereits gefordert habe 3 2 1 Schiffer wiederholte am 22. Juni vor der Nationalversammlung diese Gedanken, indem er die Koalition als patriotisches Opfer bezeichnete, mit dem man die Freiheit der Entschließung im Interesse des Vaterlandes preisgegeben habe. Diese Freiheit habe die DDP nunmehr wieder, und sie werde von ihr nach ihren Anschauungen auch Gebrauch machen.322 Auch wenn es auf dem Parteitag der DDP einen Monat später Kritik am Rückzug aus der Regierungsverantwortung 3,8 Mit Müller als Nachfolger Scheidemanns rechnete man auch in der Zentrumsfraktion, R. Morsey, Zentrumspartei, S. 186. 319 S. den Bericht von Heinrich Schulz in der SPD-Fraktion am 21. Juni nachmittags, SPD-Fraktion, Nr. 54, S. 104 f. 320 Der Wortlaut des Vertrauensvotums lautete: "Die Nationalversammlung spricht der Regierung ihr Vertrauen aus.", Verh. Rt, Bd. 327, S. 1135. 321 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei L. Albertin, Liberalismus, S. 338 f. 322 Verh. Rt, Bd. 327, S. 1120. 5 Hoppe
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B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
und an der Rede Schiffers gab, so lag die Hauptursache für den Rückzug der DDP aus der Regierungsverantwortung in der Innenpolitik der Koalition. Insbesondere der nicht durchsetzbare Unitarismus in der Verfassungspolitik sowie die Schulpolitik führten zu einer innerparteilichen Unzufriedenheit 323 Der Streit um die Unterzeichnung des Friedensvertrages bot deshalb nur den willkommenen Anlaß, um die Regierungskoalition zu verlassen. Die Vorgänge um die Auswahl Bauers als Ministerpräsident sind aktenmäßig nicht belegt. Es wird vermutet, daß Reichspräsident Ebert entscheidenden Einfluß auf diese Personalentscheidung genommen hat. 324 Gefolgert wird dies zum einen aus einer vergleichbaren psychologischen Situation, in denen sich Ebert und Bauer befunden haben.325 Anders als David seien beide zunächst Gegner einer Vertragsunterzeichnung gewesen. Solidarität unter Parteigenossen und Verbundenheit zwischen persönlichen Freunden sollen das Angebot Eberts an Bauer erklären, Ministerpräsident eines "Unterzeichnungskabinetts" zu werden, das vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Weltkriegsniederlage eingestehe.326 Zum anderen wird die Einflußnahme des Reichspräsidenten bei dieser Kabinettsbildung aus dem besonderen Vertrauensverhältnis gefolgert, das nach dem Eindruck von Zeitgenossen zwischen Ebert und Bauer geherrscht haben muß. So habe Bauers illusionslose Nüchternheit und Sachlichkeit Ebert besonderes Vertrauen eingeflößt. 327 Andere sahen in Bauer einen unbedingt ergebenen 328, intimen Freund des Reichspräsidenten und dessen willfähriges Werkzeug. 329 Aus diesen Umständen kann man deshalb folgern, daß besonders Ebert sich für Bauer als Ministerpräsident stark gemacht hat, auch wenn dies aus den Akten nicht belegbar ist. Auf Grund der Diskussionen in der SPDFraktion kann man Bauer aber auch als Kandidat der Verlegenheit in einer Krise bezeichnen, die eine rasche Regierungsbildung notwendig machte. 330 Bauer bot sich auch deshalb an, weil er bereits dem alten Kabinett angehört 323
L. Albertin, Liberalismus, S. 346. A. Golecki, Kabinett Bauer, S. XXIV; A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 25; von einem mehr als bloß formalen Akt des Reichspräsidenten spricht auch S. Miller, Bürde, S. 292. 325 A. Golecki, Kabinett Bauer, S. XXV. 326 A. Golecki, Kabinett Bauer, S. XXV. 327 F. Stampfer, Jahre, S. 128; weniger freundlich werden diese von Ebert so geschätzten Eigenschaften Bauers bei H. Wachenheim, Arbeiterbewegung, S. 553 beschrieben, wonach er ein trockener Geselle gewesen sei, "der, was er dachte, mit primitiver Rücksichtslosigkeit vertrat."; zu Bauer vgl. auch K. L. Rintelen, Bauer und M. Vogt, Bauer. 328 P. Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 373 f. 329 O. Braun in einem Brief an J. Wirth vom 18. September 1941, dokumentiert in: H. Schulze, VfZG, 26 (1978), S. 181. 330 E. Deuerlein, Kanzler, S. 262. 324
III. Die Entstehungsgeschichte
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hatte und daher seit Monaten mit allen Geschäften der Reichsregierung vertraut war. 331 Zu weit geht auch deshalb eine Interpretation, die aus diesen Vorgängen um die Kabinettsbildung eine völlige Ausschaltung der SPD-Fraktion erkennt. 332 Gefolgert wird dies aus dem angeblich an Müller gerichteten Verlangen der Fraktion, ihr eine rechtfertigende Erklärung wegen der angeblichen Nichtbeteiligung an der Kabinettsbildung zu geben. Ein solches Verlangen der SPD-Fraktion ist jedoch aus den Akten nicht ersichtlich. Müller legte nur dar, warum er sich hat bewegen lassen, nun doch als Außenminister in die neue Regierung einzutreten. 333 Die Annahme eines völligen Ausschlusses der SPDFraktion von den Beratungen über die Kabinettsbildung liegt auch deshalb fern, weil es in den 36 Stunden zwischen dem Rücktritt des Kabinetts Scheidemann und der konstituierenden Sitzung des Kabinetts Bauer 334 zu insgesamt fünf Sitzungen der SPD-Fraktion kam. In jeder dieser Sitzungen wurde über die anstehende Kabinettsbildung gesprochen und die unterschiedlichen, von den Verhandlungsführern der Fraktion vorgelegten Kabinettslisten verabschiedet. Über die Besetzung des Arbeitsministeriums entschied die Fraktion sogar in einer Kampfabstimmung. 335 Auch bei dieser Kabinettsbildung wird man deshalb sagen müssen, daß zumindest die SPD-Fraktion nicht nur an ihr beteiligt war, sondern auch maßgeblichen Einfluß auf die Zusammensetzung des Kabinetts genommen hat. A u f Grund der geschilderten Kabinettsbildung ist deshalb auch das Kabinett Bauer als vom Vertrauen der Nationalversammlung getragene parlamentarische Regierung einzuordnen. Dies gilt umso mehr, als Bauer selbst unmittelbar vor der Vertrauensabstimmung ausführte, daß das Kabinett nach geltendem Recht
331
W. Ziegler, Nationalversammlung, S. 78. Nach A. Golecki, Kabinett Bauer, S. XXIV, sei die Kabinettsbildung in frappanter Weise über den Kopf der SPD-Fraktion hinweg erfolgt. 333 Die Protokollnotiz lautete: "Hermann Müller legt dar, warum er sich jetzt hat bewegen lassen, den Posten des Außenministers anzunehmen.", SPD-Fraktion, Nr. 54, S. 105, nähere Angaben macht das Sitzungsprotokoll nicht. 334 Eine Niederschrift über die erste Sitzung des Kabinetts Bauer konnte nicht ermittelt werden. Löbe berichtete jedoch in der SPD-Fraktion, daß die erste Kabinettssitzung am 21. Juni um 15 Uhr stattfinden sollte, SPD-Fraktion, Nr. 54, S. 104. 335 Mit diesem Beschluß verstieß die Fraktion gegen einen Beschluß des alten Kabinetts, der dem Ministerpräsidenten das Recht zusprach, seine Minister auszuwählen. Der Beschluß lautete: "Die Auswahl der Minister soll grundsätzlich nicht in der Weise geschehen, daß einzelne Fraktionen aufgefordert werden, eine Persönlichkeit zu benennen. Es ist vielmehr Sache des Ministerpräsidenten, aus den Parteien, die berücksichtigt werden sollen, die ihm geeignet erscheinenden Persönlichkeiten auszuwählen und dem Reichspräsidenten vorzuschlagen.", Kabinett Scheidemann, Nr. 41, S. 161. 332
5*
68
B. Die Auslegung der einschlägigen Normen der WRV
eines ausdrücklichen Vertrauensvotums der Volksvertretung bedürfe, bevor es die Amtsführung übernehme. 336
IV. Ergebnis Die Weimarer Reichsverfassung schuf in bewußter Abkehr vom konstitutionellen Dualismus des Kaiserreichs ein parlamentarisches Regierungssystem. Dieses bereits durch die Auslegung des Wortlauts und der Systematik der einschlägigen Verfassungsartikel zum Regierungssystem gefundene Ergebnis wird durch ihre Entstehungsgeschichte gestützt. Die Mehrheit der Nationalversammlung wollte den Dualismus des konstitutionellen Regierungssystems des Kaiserreichs überwinden. 337 Auch wenn die DDP mit dem Reichspräsidenten ein Gegengewicht zum Parlament schaffen wollte, so sollte dieses Gegengewicht gerade nicht bei der Kabinettsbildung wirksam werden. Ganz bewußt wollte auch die DDP mit der neuen Verfassung nicht an das von Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt geschaffene konstitutionelle Regierungssystem anknüpfen, sondern einen Bruch mit dieser Vergangenheit herbeiführen. Die Regierung sollte nach der Vorstellung der Parteien der Weimarer Koalition nicht mehr von oben durch ein Staatsoberhaupt eingesetzt, sondern von unten vom Volk über das Parlament bestimmt werden. Sie sollte Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische des Volkes sein.338 Gestützt wird die Annahme eines parlamentarischen Regierungssystems dadurch, daß die Forderung nach einer Parlamentarisierung der Regierung bereits im Verfassungskonflikt erhoben wurde. In der Nationalversammlung verfügten die im Verfassungskonflikt noch unterlegenen Kräfte über eine komfortable Mehrheit und konnten so ihre Forderung nach einem parlamentarischen Regierungssystem gegen den erbitterten, allerdings durch die Revolution auch sehr geschwächten Widerstand der im Kaiserreich führenden Kräfte von Konservativen und Rechtsliberalen durchsetzen.
336
Verh. Rt, Bd. 327, S. 1125. Vgl. auch D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 284, der es ausdrücklich ablehnt, den Reichspräsidenten als Quasimonarchen anzusehen; von der parlamentarischen Demokratie als Leitgedanken der Weimarer Verfassung spricht auch A. Rosenberg, Geschichte, S. 78 f. 338 So H. Preuß ausdrücklich in den Verfassungsberatungen, Verh. Rt. Bd. 336, S. 276. 337
IV. Ergebnis
69
Bestätigt wird diese Annahme außerdem durch die beiden während der Verfassungsberatungen durchgeführten Regierungsbildungen. Indem die die neue Verfassung tragenden Parteien der Weimarer Koalition auf der Grundlage des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt, das in den Vorschriften über die Regierungsbildung mit der späteren Weimarer Reichsverfassung im Wortlaut übereinstimmt, parlamentarische und nicht präsidiale Regierungen bildeten, machten sie deutlich, wie sie sich in der Praxis die Regierungsbildung vorstellten. Die fast einhellige Auffassung der Literatur, die das Präsidialsystem bereits in der Weimarer Verfassung selbst angelegt sieht, ist zum einen dadurch erklärbar, daß sie die Verfassung und ihre Entstehung nicht isoliert betrachtet, sondern die spätere in der Verfassungswirklichkeit tatsächlich eingetretene Entwicklung zu einem Präsidialsystem in ihr Urteil über die normativen Vorgaben der Verfassung miteinbezieht. Zum anderen spielt wohl auch eine Rolle, daß an die Stelle der Quellenarbeit die Lektüre eines leicht zugänglichen, allerdings tagespolitisch motivierten Zeitungsartikels von Hugo Preuß aus dem Jahre 1921 tritt, in dem sich dieser von dem von ihm selbst geschaffenen parlamentarischen Regierungssystem der Weimarer Verfassung distanziert. 339
339 So auch der Eindruck von G. Ams, Regierungsbildung, S. 9; der Zeitungsartikel von Preuß über die parlamentarische Regierungsbildung vom Oktober 1921 ist abgedruckt in: H. Preuß, Staat, S. 442-446, dort, S. 445, räumt Preuß dem Reichspräsidenten ein Initiativrecht bei der Regierungsbildung ein.
C. Die Staatspraxis In diesem Teil der Arbeit wird untersucht, ob und wieweit die Staatspraxis die normativen Vorgaben der Verfassung bei der Regierungsbildung beachtete. Nach der Darstellung der Kabinettsbildung wird deshalb erörtert, ob sich die Bildung der neuen Regierung nach dem parlamentarischen oder dem präsidialen Prinzip vollzog. Maßstab für die Einordnung ist zum einen der Einfluß des Reichstages und zum anderen der Einfluß des Reichspräsidenten bei den Kabinettsbildungen. Als parlamentarisch werden solche Regierungen bezeichnet, die vom Vertrauen des Reichstages getragen wurden. Diese Regierungen entstanden durch Diskussionen und Übereinkünfte der an der Kabinettsbildung beteiligten Reichstagsfraktionen und der in ihnen wirksam werdenden gesellschaftlichen Kräfte. Einen Hinweis auf das Vorliegen einer solchen Regierung bot häufig der Wortlaut des Vertrauensvotums. Als präsidial werden solche Kabinette bezeichnet, deren Bestand vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhing. Häufig ist aber eine klare Unterscheidung nicht möglich, weil sich die Entwicklung vom parlamentarischen zum präsidialen Regierungssystem nicht abrupt, sondern schleichend vollzog. In diesen Fällen wurde auf das jeweilige Maß des Einflusses von Reichstag und Reichspräsident auf die Kabinettsbildung abgestellt.
I. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch: Das erste Kabinett Müller Das Kabinett Bauer wurde Opfer des ersten Versuchs rechtsgerichteter Kreise, die verfassungsmäßige Regierung der Republik zu stürzen. Es ist das Verdienst Ergers, nachgewiesen zu haben, daß der Kapp-Lüttwitz-Putsch nicht das dilettantische Abenteuer des Generallandschaftsdirektors Wolfgang Kapp war, sondern daß der Verlauf des Putsches maßgeblich von der Reichswehr bestimmt wurde. 1 Erst diese Erkenntnis macht die Vorgänge um den Rücktritt
1 J. Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch, s. besonders Ergers Zusammenfassung S. 296 ff.; als nicht zufällig und verkürzend kritisiert deshalb auch S. Miller, Bürde, S. 375, die in
I. Das erste Kabinett Müller
71
der Regierung Bauer und die Bildung des ersten Kabinetts Müller verständlich. Im folgenden sollen deshalb kurz die Auswirkungen des Putsches auf die Bildung des Kabinetts Müller geschildert werden. 2 A m 10. März 1920 kam es zu einer Unterredung zwischen Reichspräsident Ebert und General Walther von Lüttwitz. Äußerer Anlaß war die vom Friedensvertrag geforderten Truppenreduzierungen, die in der Reichswehr heftig diskutiert wurden. Lüttwitz forderte in diesem Gespräch von Ebert scharf die sofortige Auflösung des Reichstages und Neuwahlen,3 Ersetzung mehrerer Reichsminister durch sogenannte Fachminister, Absetzung des republiktreuen Generals Reinhardt und Zurücknahme der Auflösungsbefehle, die im Vollzug der Regelungen des Friedensvertrages ergangen waren. Ebert und Noske, der sich die Teilnahme an diesem Gespräch bei Ebert ausdrücklich erbeten hatte,4 lehnten die Forderung ab. Daraufhin trennte man sich im Zorn. 5 A m nächsten Tag wurde Lüttwitz beurlaubt und man versuchte vergeblich, Kapp und Major Papst zu verhaften. 6 Als am 12. März bekannt wurde, daß die Brigade Ehrhardt zum Marsch von Döberitz nach Berlin bereit sei, kam es zu einer Besprechung Noskes mit hohen Militärs. Noske machte deutlich, daß er Verhandlungen mit Ehrhardt strikt ablehnte und sprach sich für den bewaffneten Widerstand aus.7 Nur Reinhardt und v. Gilsa wollten der Aufforderung des Reichswehrministers folgen; 8 die anderen Offiziere, darunter Seeckt,9 lehnten es mit wenig überzeugender Argumentation ab, 10 dem Putsch bewaffneten Widerstand entgegenzuder Literatur bis dahin allgemein übliche und auch heute noch geläufige Bezeichnung dieser Episode als Kapp-Putsch. 2 Zur Darstellung der Vorgänge im einzelnen vgl. J. Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch. 3 Lüttwitz griff damit einen am Vortag von DVP und DNVP in der Nationalversammlung gestellten Antrag auf, baldige Neuwahlen für Reichstag und Reichspräsident durchzufuhren. Der Antrag fand auch die Zustimmung der USPD, Verh. Rt, Bd. 332, S. 4830 ff.; Antrag in: Verh. Rt, Bd. 341, Nr. 2286. 4 G. Noske, Kiel, S. 206. 5 J. Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 121 f. 6 J. Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 123 f.; die Verhaftung scheiterte, weil die beiden von einem Regierungsbeamten gewarnt worden waren. 7 G. Noske, Kiel, S. 209. 8 G. Noske, Kiel, S. 209. 9 Nach F. Rabenau, Seeckt, S. 221, soll Seeckt die Besprechung maßgeblich mit folgender, berühmt gewordener Bemerkung beeinflußt haben: "Truppe schießt nicht auf Truppe. Haben Sie, Herr Minister, etwa die Absicht, eine Schlacht vor dem Brandenburger Tor zu dulden zwischen Truppen, die eben erst Seite an Seite gegen den Feind gekämpft haben?". 10 So gaben die Offiziere nach W. Wette, Noske, S. 638, zu bedenken, daß auf Grund der zahlenmäßigen Überlegenheit und der entschlossenen Stimmung der Marinebrigade der Widerstand nur von kurzer Dauer sein könne. Der bewaffnete Widerstand führe außerdem zu einer Spaltung der Reichswehr, die unter allen Umständen vermieden
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C. Die Staatspraxis
setzen. Daraufhin brach Noske mit einem Gefühl tiefsten Ekels11 die Verhandlung ab. Der Verlauf der Unterredung hatte gezeigt, daß für die Offiziere um Seeckt die Macht und die Einheit der Armee und nicht die verfassungsmäßige Regierung und die Nationalversammlung der Grundpfeiler des Staates waren. 12 Für sie stellte das Zerbrechen der Reichswehr die eigentliche Gefahr dar. Vor diesem Hintergrund entschied sich das Kabinett in der sich anschließenden Nachtsitzung in einer erregt geführten Debatte für die Flucht aus Berlin nach Dresden. Dort angekommen kam es zu einer weiteren Enttäuschung Noskes. Der Wehrminister hatte Dresden als Fluchtort vorgeschlagen, weil er den dortigen General Maercker für absolut zuverlässig gehalten hatte. Es stellte sich jedoch heraus, daß Maercker sich ebenfalls nicht eindeutig auf die Seite der verfassungsmäßigen Regierung stellen wollte. Die Regierung floh daraufhin am 14. März weiter nach Stuttgart und wartete dort auf den Zusammenbruch des Putsches. Auf Grund eines Generalstreiks, zu dem die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder und der SPD-Parteivorsitzende Wels im Morgengrauen des 13. März aufgerufen hatten,13 brach der Putsch am 17. März zusammen. Als entscheidend werteten auch die Gewerkschaften selbst ihren Anteil an der Beendigung des Putsches.14 Die Folge war, daß sie am 18. März Bedingungen für den Abbruch des Generalstreiks formulierten. So forderten sie den Rücktritt Noskes und einen entscheidenden Einfluß bei der Neubildung der Regierung. 15 Ebenfalls am 18. März trat in Stuttgart zum ersten Mal nach dem Putsch die SPD-Fraktion zusammen. Scheidemann richtete darin heftige Angriffe gegen die Politik Noskes.16 A m Nachmittag wiederholte er seine Kritik vor der Nationalversammlung. "Wer Augen und Ohren nicht absichtlich verschloß", so begann Scheidemann seine Rede, "mußte herankommen sehen, was wir im Laufe der letzten Tage mit Abscheu und Empörung erlebt haben. Immer frecher wurden die preußischen Reaktionäre, die in der Reichswehr eine Position nach der anderen gewannen und in der deutsch-nationalen Presse immer kräftigere werden müsse. Schließlich drohe bei dem Kampf Truppe gegen Truppe die Zerstörung der militärischen Befehlsverhältnisse, was im Hinblick auf einen zu erwartenden Aufstand linksradikaler Elemente nicht zu verantworten sei. 11 G. Noske, Kiel, S. 209. 12 J. Erger, Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 145. 13 Der Wortlaut dieses Aufrufs ist abgedruckt in S. Miller, Bürde, S. 377 f.; zur Entstehung dieses Aufrufs s. dort, S. 378 ff. 14 So der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Legien, gegenüber Schiffer, Kabinett Bauer, Nr. 204, S. 721. 15 So Legien in einer Verhandlung zwischen Mitgliedern der Preußischen Regierung, der Reichsregierung, Vertretern der Mehrheitsparteien und der Gewerkschaften am 18. März 1920, Kabinett Bauer, Nr. 204, S. 710 f. 16 Schultheß 1920, Bd. 1,S.63.
I. Das erste Kabinett Müller
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Unterstützung fanden." 17 Auch ohne Noskes Namen zu erwähnen war klar erkennbar, daß Scheidemann damit die seiner Auffassung nach verfehlte Politik des Reichswehrministers geißelte. Noch im Verlauf der Sitzung der Nationalversammlung schrieb Noske sein Abschiedsgesuch.18 Koch, 19 der ihn bat, wenigstens mit der Einreichung noch zu warten, antwortete er: "Keine Stunde mehr." 20 Die SPD-Fraktion distanzierte sich am folgenden Tag von Scheidemanns Vorstoß in der Nationalversammlung und forderte unter dem Einfluß Eberts Noske auf, im Amt zu verbleiben. 21 In Berlin waren die Verhandlungen zwischen den Vertretern der Mehrheitsparteien und den Gewerkschaften in der Nacht zum 20. März zum Abschluß gekommen. Vereinbart wurde in einem 9-Punkte-Programm, daß die Gewerkschaften bei der Neubildung der Regierungen im Reich und in Preußen maßgeblich beteiligt werden und daß sie einen entscheidenden Einfluß auf die Neuregelung der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesetzgebung erhalten. Das Programm sah auch die sofortige Entwaffnung und Bestrafung aller am Putsch Beteiligten sowie der Beamten vor, die sich der Putschregierung zur Verfügung gestellt hatten. Der neunte Punkt enthielt die Mitteilung, daß Noske sein Abschiedsgesuch eingereicht habe.22 Das Kabinett, 23 das am 20. März im Laufe des Vormittags wieder in Berlin eintraf, 24 diskutierte noch am gleichen Tag über die Entlassung Noskes. Wels erklärte, daß die ruhige Entwicklung von der Entlassung des Wehrministers abhänge. Er sei politisch nicht mehr haltbar und die gesamte Vereinbarung mit den Gewerkschaften sei in Frage gestellt, wenn Noske im Amt verbleibe. 25 Die kontroverse Diskussion26 beendete Bauer mit dem Hinweis auf die Unvollstän-
17
Verh. Rt, Bd. 332, S. 4905. Kabinett Bauer, Nr. 203, Fn. 10. 19 In seinen Tagebuchaufzeichnungen vom gleichen Tag bezeichnete Koch Scheidemann als rachsüchtigen Meuchelmörder, Kochs Aufzeichnungen vom 18. März sind abgedruckt in Kabinett Bauer, Nr. 203. 20 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 84. 21 P. Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 403 f , spricht davon, daß seine Rede nicht restlos freudig aufgenommen worden sei; vgl. auch G. Noske, Erlebtes, S. 163. 22 Dieses Programm ist abgedruckt in: Kabinett Bauer, Nr. 218, S. 790. 23 Ohne Ebert, Noske, David und Koch. 24 Mitteilung des Unterstaatssekretärs Albert, Kabinett Bauer, Nr. 218, S. 791. 25 Kabinett Bauer, Nr. 206, S. 729 f. 26 Für ein Verbleiben Noskes im Amt sprachen sich Seeckt, Haas, Brauns und Geßler aus; Stampfer, Meerfeld und Lewald für seine Entlassung, Kabinett Bauer, Nr. 206, S. 730 f. 18
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C. Die Staatspraxis
digkeit des Kabinetts27 und schlug vor, die Diskussion über diese Frage in den nächsten Tagen fortzusetzen. 28 Als auch am 22. März die Entscheidung über Noskes Entlassung noch ausstand und sowohl der Reichspräsident als auch Vertreter der Mehrheitsparteien den Versuch machten, Noske zu halten,29 begaben sich Wels und Legien gemeinsam zu Ebert. Wels 30 erklärte, daß Noske im Interesse der Partei nicht zu halten sei, selbst wenn er unentbehrlich wäre. Es sei nicht möglich, einen Wehrminister im Amt zu belassen, der "vor seinen eigenen Truppen davongelaufen" sei. Wels wies auch auf das "brennende Interesse" der Partei hin, "endlich die Verantwortung los zu werden für jeden Übergriff, der immer gegen Noske ausgemünzt und immer der Partei zur Last gelegt wurde". Außerdem habe der Parteivorstand in den Verhandlungen mit den Gewerkschaften der Forderung nach Noskes Rücktritt bereits zugestimmt. Dennoch lehnte Ebert zunächst weiter die Entlassung seines Freundes ab. Er fühle sich verantwortlich für die Handlungen des Kriegsministers und wolle selbst gehen, wenn Partei und Gewerkschaften weiter auf Noskes Rücktritt bestehen. Wels blieb jedoch hart und drohte nun seinerseits mit Rücktritt. Daraufhin gab Ebert seinen Widerstand auf 3 1 und genehmigte noch am selben Tag das Rücktrittsgesuch Noskes.32 Der Weg war damit frei für die Verhandlungen zur Neubildung des Kabinetts. Diese setzten auch sofort nach dieser Entscheidung ein. Bereits am 23. März berichtete Payer in der DDP-Fraktion über die von Bauer ihm gegenüber geäußerten Kabinettsergänzungspläne. 33 Danach sollte Cuno das Finanzmini-
27
Kabinett Bauer, Nr. 206, S. 731. Kabinett Bauer, Nr. 206, S. 732. 29 G. Noske, Erlebtes, S. 163. 30 Nach seinem Bericht in der Sitzung des Parteiausschusses der SPD am 30. März 1920, Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 806 f., auch zum folgenden; vgl. auch Schultheß, 1920, Bd. 1,S.71. 31 Auch F. Stampfer, Jahre, S. 176 berichtet, daß Wels und Legien am 22. März Ebert zur Annahme des Rücktrittsgesuch bewegten. 32 Schultheß 1920, Bd. 1, S. 71; wie schwer Ebert diese Entscheidung gefallen sein muß zeigt sich auch in einem Brief Eberts an Noske anläßlich dessen Entlassung: "In zielbewußter harter Arbeit hast Du den Boden vorbereitet, auf dem das große Werk der neuen demokratischen Staatsordnung begonnen werden konnte. Daß dies in verhältnismäßig kurzer Zeit gelang, daß das Reich zusammenhielt und bald wieder zur Ordnung und Arbeit kam, das ist in erster Linie Dein großes Verdienst, das ist Deine Tat, die in der Geschichte unseres Vaterlandes nicht vergessen werden wird.", Schultheß 1920, Bd. 1, S. 71; Noskes selbst empfand sich als Sündenbock für die Fehler anderer und als Opfer vorerst unüberwindlicher Schwierigkeiten, G. Noske, Kiel, S. 210. 33 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 155 f. 28
I. Das erste Kabinett Müller
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Stenum übernehmen. Für das Wehrministerium wurden von der Fraktion Haas, Blunck und Geßler vorgeschlagen, auch wenn es in der DDP-Fraktion viel Widerstand gegen die Übernahme dieses Ressorts gab. Einig war man sich jedoch darin, jetzt keinen "Sozi mit der Aufgabe zu betrauen". Im Anschluß an die Fraktionssitzung kam es zu einer Unterredung zwischen Ebert und Haußmann. Der Reichspräsident sprach sich dabei gegen Geßler als Wehrminister aus, weil er "zu weich" sei. Nach der Absage Haas' befürwortete er die Kandidatur Bluncks. 34 Haußmann zufolge bedauerte Ebert nochmals das Ausscheiden Noskes. Die Vertreter der Mehrheitsfraktionen setzten in der Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses35 am gleichen Abend die intensiven Personaldiskussionen fort. 36 Sowohl das Zentrum als auch die SPD reklamierten das Wehrministerium für sich.37 Im Verlauf der Diskussion wurden für dieses Amt außerdem General Reinhardt und Petersen genannt.38 Nachfolger Noskes wurde schließlich mit Otto Geßler ein Monarchist. 39 Zur Lösung der Kabinettskrise zog man sogar die Aufnahme je eines Mitglieds von USPD und DVP in die Regierung in Betracht. 40 Interessant ist die Rolle Eberts in diesem Personalkarussell. Keiner der Personalvorschläge stammte vom Reichspräsidenten. Vielmehr äußerte er mehrfach den Wunsch, daß jede Partei einfach sage, was sie wünsche. Die Parteien sollten deutlich machen, so seine Auffassung, welche Posten sie behalten wollen und welche sie für sich beantragen. 41 Aber nicht nur die Mehrheitsparteien diskutierten die Neubildung der Regierung. Aufgeschreckt durch die fortdauernden gewerkschaftlichen Interven-
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So die Aufzeichnungen Haußmanns, zit. nach Kab. Bauer, Nr. 213, Fn. 4. Dieser Ausschuß wurde am 26. März 1919 gegründet und diente nicht nur der Koordination des Vorgehens der Regierungsparteien, sondern ebenso der Kontrolle der Regierungsvorhaben durch die drei Fraktionen, zur Gründung und Aufgabe dieses Ausschusses s. Protokoll der SPD-Fraktion v. gleichen Tag, SPD-Fraktion, Nr. 32. 36 Über diese Sitzung existiert eine Tagebuchaufzeichnung Kochs, Nachl. KochWeser, Nr. 27, S. 33-37, sie ist abgedruckt in: Kabinett Bauer, Nr. 213. 37 Löbe schlug Wels, dem einstimmigen Votum seiner Fraktion folgend, als Wehrminister vor, F. Stampfer, Jahre, S. 176; Trimborn behielt sich für das Zentrum vor, diese Position zu besetzen, Kabinett Bauer, Nr. 213, S. 756. 38 Kabinett Bauer, Nr. 213, S. 757. 39 Geßler hatte im Herbst 1919 nach dem Wiedereintritt der DDP das Wiederaufbauministerium übernommen und galt bereits für dieses Amt als Verlegenheitslösung, so L. Albertin, Liberalismus, S. 183. Neben dem Mangel an sachlicher Qualifikation für das Amt des Wehrministers trat seine fortdauernde Anhänglichkeit an die Monarchie. Ebert gegenüber erklärte er, daß ihn ein starkes Gefühl der Treue mit dem Hause Wittelsbach, seiner heimatlichen Dynastie, verbinde und daß er höchstens Vernunftrepublikaner sei, O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 130. 40 Kabinett Bauer, Nr. 213, S. 756 f. 41 Kabinett Bauer, Nr. 213, S. 756 u. 757. 35
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C. Die Staatspraxis
tionen bei der Kabinettsneubildung formierten sich am 23. und 24. März zahlreiche Wirtschafts- und Berufsverbände und berieten Gegenaktionen.42 Diese Verbände protestierten gegen die diskutierte Beteiligung der Gewerkschaften im neuen Kabinett für den Fall, daß sie nicht auch selbst an der Regierung beteiligt würden. 43 A m Vormittag des 24. März setzte Ebert das Gespräch über die Kabinettsumbildung mit den führenden Vertretern der Mehrheitsparteien fort. Man stimmte darin überein, daß der Reichspräsident Bauer oder einen anderen auf der Grundlage eines festen Programms mit der Kabinettsbildung beauftragen sollte.44 In dem sich anschließenden Gespräch von Vertretern der DDP mit Bauer rückte der Reichskanzler von dem mit den Gewerkschaften vereinbarten 9-Punkte-Programm ab. Insbesondere die Befragung der Gewerkschaften über die Ministerbesetzung sei Sache der einzelnen Parteien, so Bauer, und diese müssen sich im Falle des Unterlassens mit den Gewerkschaften auseinandersetzen.45 Damit war eine wesentliche Forderung der DDP-Fraktion 46 erfüllt und die Verhandlungen konnten, nachdem Legien seinen Kampf gegen die Kandidaturen Cunos für das Finanzministerium und Schlickes für das Arbeitsministerium aufgegeben hatte, am folgenden Tag zum vorläufigen Abschluß gebracht werden. 47 A m gleichen Tag taten sich jedoch neue Schwierigkeiten auf, weil Legien und Teile der SPD sich gegen ein Verbleiben Schiffers im Amt aussprachen.48 Daraufhin beschloß die DDP-Fraktion noch am gleichen Abend, an Schiffer als Kabinettsmitglied festzuhalten. 49
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L. Albertin, Liberalismus, S. 380 Fn 160, spricht von einem aufschlußreichen Querschnitt durch die unübersehbaren Organisationen der "schaffenden Stände" und des "nationalen Bürgertums". 43 L. Albertin, Liberalismus, S. 380. 44 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 191 ff. 45 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 191 ff., Koch zufolge zeigte sich Bauer "entgegenkommender als je". 46 Die DDP-Fraktion hatte am 23. März auf Antrag Kochs beschlossen, daß die Partei sich dem 9-Punkte-Programm vom 20. März nicht "fügen wolle", insbesondere lehnte sie die Forderung nach einer Arbeiterregierung ab, Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 157 f. 47 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 200 f. 48 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 200 f.; Schiffer hatte sich den Zorn der SPD und der Gewerkschaften zugezogen, weil er während des Kapp-Lüttwitz-Putsches mit den Putschisten verhandelte, s. hierzu die Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses vom 23. März , Nachl. Koch-Weser, Nr. 27, Bl. 21-31, abgedruckt in Kabinett Bauer, Nr. 211. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung Schiffers über die Danksagung Bauers an die während des Putsches in Berlin gebliebenen Mitglieder der Regierung. Die Danksagung an ihn sei, so Schiffer, so frostig und gezwungen ausgefallen, daß ihre Dürftigkeit nicht mehr mit der mangelhaften rhetorischen Begabung
I. Das erste Kabinett Müller
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Über diese neuen Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung berichtete Bauer in der Kabinettssitzung am folgenden Morgen. 50 Wenn keine Verständigung über das Verbleiben Schiffers erzielt werden könne, so Bauer, müsse das Kabinett zurücktreten und dem Reichspräsidenten seine Portefeuilles zur Verfügung stellen.51 Schiffer entgegnete, daß er persönlich zum Rücktritt bereit sei, daß aber seine Fraktion Wert auf sein Verbleiben im Kabinett lege, weil sie es als politisch unerträglich empfinde, dem Druck von außerhalb der Verfassung stehenden Organisationen, nämlich der Gewerkschaften, nachzugeben.52 Nach einem weiteren, ebenfalls ergebnislos verlaufenden Verständigungsversuch griff Ebert den Vorschlag Bauers auf und erklärte sich bereit, die Demission des Kabinetts anzunehmen, wenn er bei der Bildung des neuen Kabinetts frei sei.53 Müller billigte für die SPD-Fraktion Eberts Vorschlag für das weitere Verfahren, 54 während Koch widersprach. 55 Das Kabinett stimmte schließlich nach kurzer Diskussion, in der auch über die Differenzen zwischen SPD und DDP wegen der 9-Punkte-Forderungen der Gewerkschaften vom 20. März gesprochen wurde, dem Vorschlag des Reichspräsidenten zu und trat geschlossen zurück. 56 Müllers Zustimmung zum Vorschlag Eberts ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß die SPD-Fraktion unmittelbar vor der Kabinettssitzung beschlossen hatte, dem Reichspräsidenten Müller als Kanzlerkandidat zu präsentieren. 57 Ungeachtet der in der Kabinettssitzung gemachten Äußerungen entsprach Ebert dem "einstimmigen Beschluß der sozialdemokratischen Fraktion" 58 und betraute am frühen Nachmittag Müller mit der Bildung eines neuen Kabinetts. Ebert nahm auch nicht teil an dem sich seiner Entscheidung anschließenden
des Redners entschuldigt werden könne. Anschließend sei Legien, "der nicht zur Regierung gehörte, aber zu durchsichtigen Zwecken mit eingeladen war, mit geschlossenem Visier und eingelegter Lanze" gegen Schiffer zum Angriff übergegangen, Nachl. Schiffer, Nr. 16, Bl. 127. 49 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 202 ff.; Nachl. Schiffer, Nr. 16, Bl. 129 ff. 50 Kabinett Bauer, Nr. 216, S. 763. 51 Kabinett Bauer, Nr. 216, S. 763. 52 Kabinett Bauer, Nr. 216, S. 763; vgl. aber die Darstellung Schiffers, daß die Haltung der Fraktion zwar durchaus korrekt gewesen, sie dennoch aber Schiffer als Belastung empfunden und nach seinem Rücktritt sichtlich froh gewesen sei, ihn los zu sein, Nachl. Schiffer, Nr. 16, Bl. 130 f. 53 Kabinett Bauer, Nr. 216, S. 763. 54 Kabinett Bauer, Nr. 216, S. 763. 55 So Koch, Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 190 f. 56 Kabinett Bauer, Nr. 216, S. 764. 57 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24 Bl. 212; zu Müller vgl. M. Vogt, Müller. 58 Vorwärts, Nr. 159 vom 26. März 1920.
78
C. Die Staatspraxis
Koalitionsgespräch zwischen Müller, Löbe, Trimborn und Payer. Dort wurde eine Kabinettsliste59 entworfen, die am frühen Abend in den Fraktionen zur Diskussion stand.60 In den anschließend fortgesetzten Koalitionsverhandlungen ließ Landsberg telefonisch 61 erklären, daß er sich dem Amt des Außenministers nicht gewachsen fühle. Erörtert wurde in diesem Gespräch auch die Möglichkeit einer Kabinettsbildung durch Legien, Wissell und Bauer. Da diese Erörterung ergebnislos verlief, nahm Müller am kommenden Morgen die Kabinettsbildung wieder auf. Diese Verhandlungen verliefen erfolgreich, so daß am Abend eine neue Kabinettsliste veröffentlicht werden konnte. 62 Eine letzte Schwierigkeit ergab sich jedoch durch den Verzicht Cunos auf das Finanzministerium vom gleichen Tag. Er sah eine "rein sachliche Führung der Reichsfinanzen" durch den von ihm befürchteten Einfluß der Gewerkschaften und Parteien gefährdet. 63 Eine Rolle für den Verzicht Cunos spielte wohl auch die in Aussicht genommene Besetzung des Schatzministeriums durch den dem linken Flügel des Zentrums angehörenden Wirth. 64 Jedenfalls einigte man sich nach dem Verzicht Cunos schnell auf Wirth als künftigen Finanzminister. 65 Bauer übernahm das Schatzministerium. So konnte noch am 27. März die Neubildung des Kabinetts unter Reichskanzler Müller bekanntgegeben werden. 66 Obwohl die Koalition im Parlament über eine breite Mehrheit verfügte, kam es am 30. März nicht zu einem ausdrücklichen parlamentarischen Vertrauens-
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Die Liste sah unter anderem Müller als Reichskanzler, Landsberg als Außenminister, Cuno als Finanzminister, Wirth als Schatzminister, Geßler als Wehrminister, Koch als Innenminister und Bauer als Wirtschaftsminister vor; diese Liste wird am Morgen des 27. März in der Tagespresse veröffentlicht, Vorwärts, Nr. 160 vom 27. März 1920. 60 für die DDP-Fraktion: Tagebuchaufzeichnung Kochs vom 26. März, Nachl. KochWeser, Nr. 24, Bl. 213 ff. 61 Kab. Bauer, Nr. 216, Fn. 7; Landsberg war zu dieser Zeit Gesandter in Brüssel. 62 Vorwärts, Nr. 161 vom 27. März 1920. 63 In der Begründung seines Verzichts führte Cuno aus, daß "die Herren Bauer und Schiffer ... dem Einspruch der Gewerkschaften (haben) weichen müssen, derselben Machtgruppe, die die Bedenken gegen mich erhob und schließlich nur zögernd zurückstellte. Es ist zu erwarten, daß der parteipolitische und außerparlamentarische Einfluß der Gewerkschaften auch fernerhin auf die Geschäftsführung des Kabinetts einwirken und in einem besonderen Widerstand sich bemerkbar machen wird in allen Fällen, in denen eine rein sachliche Führung der Reichsfinanzen mit dem Parteiprogramm der in Frage kommenden Kreise nicht völlig kongruent ist.", Kab. Bauer, Nr. 217, Fn. 1. 64 J. Becker, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Bd. 112 (1964), S. 249. 65 Nachl. Koch-Weser, Nr. 24, Bl. 223. 66 Schultheß 1920, Bd. 1,S. 74 f.
II. Das Kabinett Fehrenbach
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votum. Unter Abkehr von der bisherigen Praxis begnügte sich die Nationalversammlung mit einem Billigkeitsbeschluß.67 Dennoch ist auch das erste Kabinett Müller als parlamentarische Regierung einzuordnen. Die Regierung ist in erster Linie aus den umfangreichen Beratungen68 der Mehrheitsfraktionen hervorgegangen. Insbesondere das Ausscheiden Noskes und Schiffers ist nicht vom Reichspräsidenten, sondern von den die Regierung tragenden Fraktionen der Nationalversammlung und den in ihnen wirksam werdenden gesellschaftlichen Kräften betrieben worden.
II. Die Deutsche Volkspartei wird Regierungspartei: Das Kabinett Fehrenbach Die Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 endeten für die Parteien der Weimarer Koalition mit einem Debakel.69 Sie verloren ihre Mehrheit von zwei Drittel der Mandate in der Nationalversammlung und kamen nur noch auf 43,6% der Stimmen.70 Vor allem SPD und DDP gaben einen bedeutenden Anteil ihrer Stimmen an ihre direkten Konkurrenzparteien USPD und DVP ab.71 Das Ergebnis der Wahl war eine klare Niederlage gerade der Parteien, die die eigentlichen Träger der Verfassung waren. Es war ein klares Votum gegen die politische Mitte und den von ihr getragenen demokratischen Staat.72
67 Verh. Rt, Bd. 332, S. 5028; der Wortlaut dieses Votums lautet: "Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung billigt die Erklärung der Reichsregierung.", Verh. Rt, Bd. 342, Nr. 2494. 68 Die Absprachen der Parteien reichte bis in die Besetzung von Referentenposten in den Ressorts, s. hierzu das Schreiben Kochs an Müller vom 21. Mai 1920, Kab. Müller I, Nr. 112, in dem Koch die Einhaltung einer Koalitionsabsprache zu Gunsten seiner Partei über die Besetzung eines Generalreferenten im Arbeitsministerium anmahnt. 69 S. Miller, Bürde, S. 412; von einer Katastrophe spricht auch H. Schulze, Weimar, S. 222. 70 Die SPD erreichte nur noch einen Anteil von 21,7% nach 37,9%, die DDP 8,3% nach 18,6% der Stimmen; das Zentrum blieb relativ stabil und kam auf einen Stimmenanteil von 13,6% nach 15,9%, J. Falter/T. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.1.2, S. 44. 71 Die USPD erreichte einen Anteil von 17,9% nach 7,6% und die DVP 13,9% nach 4,4% der Stimmen; zu den Gewinnern der Wahl gehörte auch die DNVP, die ihren Stimmenanteil von 10,3% auf 15,1% erhöhte, J. Falter/T. Lindenberger/S.Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.1.2, S. 44. 72 P. Wulf, Kabinett Fehrenbach, S. VIII; wie sehr sich das Bürgertum seit Generationen an den Ruhe und Ordnung gewährleistenden Obrigkeitsstaat gewöhnt hatte zeigt folgende Tagebuchnotiz von Thomas Mann: "In der Zeitung Nachrichten über den
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C. Die Staatspraxis
Mit der DVP bekam eine Partei - auch für zukünftige Regierungsbildungen große Bedeutung, die nicht nur die Verankerung des parlamentarischen Regierungssystem in der Verfassung abgelehnt, sondern auch während des KappLüttwitz-Putsches eine höchst zweideutige Haltung eingenommen hatte. In einem Aufruf vom 13. März 1920 hatte sie zunächst der "bisherigen Regierung" vorgeworfen, die Gewaltanwendung provoziert zu haben,73 um anschließend mit unverkennbarem Wohlwollen 74 der "neuen Regierung" 75 ihre Wünsche für die zukünftige Regierungsarbeit mitzuteilen. A u f Grund dieser Haltung der Partei erscheint es dem heutigen Betrachter als nahezu unfaßbar, 76 daß die DVP in den nur wenige Wochen später stattfindenden Wahlen einen derartigen Erfolg erzielen konnte. Als wichtigstes Ergebnis der Wahl bleibt festzuhalten, daß die demokratisch-parlamentarischen Parteien über keine Mehrheit mehr im Parlament verfügten. Den drei Parteien der Weimarer Koalition sollte eine Rückgewinnung der Mehrheit bis zum Ende der Republik auch nicht mehr gelingen. Dadurch war eine Regierungsbildung durch das Parlament nur noch unter zwei sehr ungünstigen Voraussetzungen möglich. Entweder man bildete eine Koalition mit prinzipiell oder latent undemokratischen Parteien mit der Folge von grundlegenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kabinetts, oder es kam zu Minderheitsregierungen, die von der parlamentarischen Duldung zumindest einiger ihrer grundsätzlichen Gegner abhing. Beide Möglichkeiten führten zu von der Öffentlichkeit eher als schwach empfundenen Kabinetten. Die Folge war, daß sich der Prozeß der Abwendung der Wähler von den demokratischen Parteien hin zu den extremen Alternativen, die jedenfalls eine straffe Machtausübung versprachen, verstärkte. 77
Ausfall der Wahlen, mit dem die 'Demokratie' offenbar sehr unzufrieden zu sein, Ursache hat. Kein Wunder, eher anerkennenswert, daß sich die Wahlen zu einem Protest gegen den gegenwärtigen Saustall gestaltet haben. Autoritative Ordnung oder Diktatur der Arbeiter, die öffentliche Stimme mußte so urteilen.", T. Mann, Tagebücher 19181921, S. 444. 73 Der Aufruf ist abgedruckt in: Schultheß 1920, Bd. 1, S. 51 f. 74 L. Albertin, Liberalismus, S. 371; auch W. Hartenstein, Anfänge, S. 157 f., hält die Kennzeichnung der neuen Machthaber als "provisorische" Regierung für die einzige Andeutung von Kritik, die jedoch durch den Sinnzusammenhang wieder relativiert werde. Tatsächlich wurde der Begriff "provisorisch" in der Erklärung in einem technischen Sinn gebraucht, da die DVP "die schnellste Überleitung der heutigen provisorischen Regierung in eine gesetzmäßige" forderte. 75 "Nunmehr hat sich eine neue Regierung gebildet ...", Schultheß 1920, Bd. 1, S. 51 f. 76 So L. Albertin, Liberalismus, S. 375, der außerdem an dieser Stelle laute Zweifel an dem politischen Urteilsvermögen der DVP-Wählerschaft deutlich werden läßt. 77 So auch H. Schulze, Weimar, S. 222 f.
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Der Verlust der Mehrheit der parlamentarisch-demokratischen Parteien im Parlament wirkte sich deshalb sofort auf die nach dem am 8. Juni erfolgten Rücktritt des Kabinetts Müller erforderlich werdende Regierungsneubildung aus. Eine Schlüsselstellung bei dieser Kabinettsbildung wuchs zunächst dem Reichspräsidenten zu. Er beauftragte am 11. Juni Müller als Mitglied der nach wie vor stärksten Fraktion mit der Bildung der Regierung. Die SPD hatte sich jedoch unmittelbar nach der Wahl auf Grund der neuen Sitzverteilung im Reichstag gegen ein Wiederaufleben der alten Koalition ausgesprochen.78 Auch eine Erweiterung der Koalition nach rechts unter Einbeziehung der DVP lehnte sie strikt ab. Für die SPD kam eine Zusammenarbeit mit einer offen monarchistischen und antidemokratischen Partei nicht in Betracht. 79 Die Sozialdemokraten plädierten vielmehr für eine Erweiterung der Koalition nach links und forderten die USPD auf, politische Einsicht zu zeigen und auf radikale Forderungen zu verzichten, um dadurch eine nach links erweiterte Koalition zu ermöglichen.80 Folgerichtig lud Müller am 11. Juni die USPD zu einem Gespräch über eine Regierungsbeteiligung ein. Er begründete dies mit der Notwendigkeit einer nach links hin verstärkten Koalitionsregierung. Nur eine solche Regierung könne die sozialpolitischen Errungenschaften der Nachkriegszeit verteidigen und habe die Möglichkeit, die Außenpolitik an republikanischen und pazifistischen Ideen zu orientieren. 81 Die Antwort der USPD noch vom gleichen Tag war eine schroffe Ablehnung des Koalitionsangebots. Die USPD könne nicht, so der Vorsitzende der Unabhängigen, Crispien, in seinem Antwortschreiben, 82 in eine Regierung eintreten, die sich die Wiederaufrichtung der im Kriege zusammengebrochenen kapitalistischen Ausbeutungswirtschaft zum Ziel gesetzt habe. Ein Regierungseintritt der USPD würde eine Unterstützung der konterrevolutionären Politik und den Verrat an den Interessen ihrer Wähler bedeuten. Diese haben der USPD ihre Stimme zur Fortsetzung ihrer Politik des rücksichtslosen proletarischen Klassenkampfes mit dem Ziel der Beseitigung der kapitalistisch-militärischen Klassenherrschaft gegeben. Das in den Reichstagswahlen zum Ausdruck gekommene Erstarken der Reaktion sei nur die Folge der rechtssozialistischen Kompromißpolitik mit den geschworenen Fein-
78 So ein ungezeichneter Artikel unter dem Titel "Rücktritt und Neubildung" im Vorwärts, Nr. 289 vom 8. Juni 1920, der als halboffizielle Stellungnahme der SPD zur kommenden Neubildung des Kabinetts gelten konnte. 79 So der Artikel im Vorwärts, Nr. 289 vom 8. Juni 1920. 80 Vorwärts, Nr. 289 v. 8. Juni 1920. 81 Der Brief Müllers an den Vorsitzenden der USPD, Crispien, ist auszugsweise abgedruckt in: Schultheß 1920, Bd. 1, S. 156. 82 Das Antwortschreiben Crispiens ist auszugsweise abgedruckt in: Schultheß 1920, Bd. 1,S. 156 6 Hoppe
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den der Arbeiterklasse und könne nicht bekämpft werden durch die Fortsetzung einer das Proletariat spaltenden Koalitionspolitik. Für die Unabhängigen komme deshalb nur eine rein sozialistische Regierung in Betracht, in der die USPD die Mehrheit habe.83 Da die SPD sowohl das Wiederaufleben der alten Koalition als auch ihre Verbreiterung nach rechts ablehnte, gab Müller nach dieser eindeutigen Absage der USPD am 12. Juni dem Reichspräsidenten sein Mandat zur Regierungsbildung zurück. 84 Ebert beauftragte daraufhin am 13. Juni den Fraktionsvorsitzenden der DVP, Heinze, mit der Bildung der Regierung. 85 Dieser wandte sich sofort an die SPD, um sie für eine Regierungsbeteiligung zu gewinnen. Die Sozialdemokraten diskutierten am gleichen Tag in einer gemeinsamen Konferenz von Reichstagsfraktion, Parteivorstand und Parteiausschuß die Frage der Regierungsbeteiligung. Besonders Müller, aber auch Scheidemann86 und Wels 87 sprachen sich gegen ein Verbleiben in der Regierung und gegen eine Koalition mit der DVP aus. Müller machte insbesondere außenpolitische Gründe gegen eine Koalition mit der DVP geltend. Gefordert sei eine auswärtige Politik als europäische und nicht als nationalistische Politik wie sie die DVP vertrete. Gegen eine Koalition mit der DVP führte er außerdem deren im Wahlkampf deutlich gewordenen monarchistischen Charakter an.88 Diesen Argumenten widersprach Bernstein. Er warf Müller vor, die Schäden, die eine Rechtsregierung insbesondere in der Personalpolitik und der Außenpolitik verursachen werde, zu unterschätzen. 89 Zusammen mit David 90 trat er deshalb für eine Erneuerung der Weimarer Koalition ein. In der abschließenden Abstimmung konnten sich die Vertreter des eher rechten Flügels jedoch nicht durchsetzen. Das Tagungsergebnis wurde in folgenden drei Punkten zusammengefaßt: 1. Die Bildung einer Linkskoalition ist nicht möglich angesichts der Ablehnung der Unabhängigen. 2. Die SPD ist nicht bereit, in eine nach rechts erweiterte Koalition einzutreten. 3. Eine
83 Diese schroffe Haltung der USPD war innerhalb der Partei nicht unumstritten. So übte insbesondere Gründungsmitglied Kautsky von Wien aus heftige Kritik an Crispiens Brief, s. hierzu und zu weiterer Kritik H. A. Winkler, Revolution, S. 360 f. und A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 55. 84 Schultheß 1920, Bd. 1,S. 156. 85 Schultheß 1920, Bd. 1,S. 156. 86 Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 958. 87 Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 959 f. 88 Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 944 ff. 89 Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 952 f. 90 Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 955 f.
II. Das Kabinett Fehrenbach
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Fortsetzung der bisherigen Koalition ist gegenwärtig unmöglich. 91 Dieses Ergebnis der Konferenz teilten Müller und Löbe am gleichen Abend in einer Unterredung den Unterhändlern der DVP, Heinze und von Kardorff, mit. Heinze gab daraufhin den Auftrag zur Regierungsbildung zurück. 92 A m Vormittag des 14. Juni rief der Reichspräsident den Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Trimborn, zu sich und beauftragte diesen mit der Kabinettsbildung.93 Auch Trimborn versuchte zunächst, nach einer Fühlungnahme mit Vertretern der DNVP, 94 die SPD für eine Koalitionsregierung zu gewinnen. Die sozialdemokratischen Unterhändler Müller und Löbe machten ihm jedoch deutlich, daß die SPD weder in eine nach rechts erweiterte Koalition eintreten noch die bisherige Koalition unter Hinzuziehimg der BVP 95 fortführen wolle. Allerdings sagten sie ihm die Tolerierung einer rein bürgerlichen Regierung bestehend aus Zentrum, DDP und DVP zu. 96 A m Abend des 15. Juni kam es dann zu einer längeren Unterredung zwischen Ebert und Fehrenbach. Nachdem der Reichspräsident noch einmal deutlich gemacht hatte, daß die SPD unter keinen Umständen der neuen Regierung beitreten werde, schlug Fehrenbach vor, Mayer-Kaufbeuren 97 die Kanzlerschaft anzutragen. 98 Dieser lehnte jedoch am Abend des 16. Juni die ihm angetragene Kandidatur unter Hinweis auf die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag ab.99 Noch vor dieser Absage erklärte Fehrenbach vor der Zentrumsfraktion seine grundsätzliche Bereitschaft, die Kanzlerschaft zu übernehmen. 100 Ebert, der Fehrenbach 101 bereits am
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Prot. SPD-Parteiausschuß, Bd. 2, S. 964, die Punkte 1 und 2 wurden einstimmig angenommen, gegen Punkt 3 erhoben sich 6 Stimmen; vgl. auch Schultheß 1920, Bd. 1, S. 156 f. 92 Schultheß 1920, Bd. 1, S. 157. 93 Schultheß 1920, Bd. 1,S. 157. 94 Nach R. Morsey, Zentrumspartei, S. 330, war diese Fühlungnahme mehr als ein reiner Höflichkeitsbesuch. 95 Die BVP hatte sich zu Beginn des Jahres 1920 vom Zentrum abgespalten. Zum Hintergrund dieser Separation s. R. Morsey, Zentrumspartei, S. 280 ff. 96 Schultheß 1920, Bd. 1, S. 157. 97 Mayer war zu Beginn des Jahres 1920 als Folge der Separation der BVP vom Zentrum als Reichsschatzminister zurückgetreten, s. hierzu R. Morsey, Zentrumspartei, S. 283, der ihn als allgemein beliebten und angesehenen Politiker beschreibt. 98 Bericht Fehrenbachs über diese Unterredung in der Zentrumsfraktion am 16. Juni 1920, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 2, S. 7. 99 Die telegrafische Antwort Mayers ist abgedruckt in: R. Morsey, Zentrumspartei, S. 331, Fn. 16. 100 Fehrenbach vor der Zentrumsfraktion am Nachmittag des 16. Juni, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 2, S. 7. 6*
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Abend des 15. Juni die Übernahme der Kandidatur angeboten hatte, beauftragte den Zentrumspolitiker am 17. Juni mit der Bildung der Regierung. Gemeinsam mit Trimborn versuchte Fehrenbach, eine rein bürgerliche Minderheitsregierung aus Zentrum, DDP und DVP zu bilden. 102 Durch eine Erklärung der DDP am Morgen des 16. Juni hatten sich jedoch neue Schwierigkeiten für die Bildung einer solchen Koalition ergeben. 103 In dieser Erklärung wandten sich die Demokraten nicht nur gegen die bisher geübte, dem parlamentarischen Regierungssystem entsprechende Praxis der Regierungsbildung, 104 sondern sie stellten auch Bedingungen an zukünftige Koalitionspartner. Diese sollten die Verfassung anerkennen, monarchistische Agitation ablehnen sowie eine Politik des politischen, sozialen und kulturellen Ausgleichs betreiben. Ziel dieser Erklärung war es nicht nur, die DNVP von einer bürgerlichen Koalition abzuhalten,105 sondern auch die DVP in der sich abzeichnenden Koalition an diese Grundsätze zu binden. 106 Die DVP reagierte noch am gleichen Tag mit einer Gegenerklärung, 107 in der sie deutlich machte, daß sich an ihren Grundsätzen durch einen Eintritt in die Regierung nichts ändern werde. Außerdem forderte sie, daß die Leitung der Außen- und Wirtschaftspolitik Fachleuten übertragen werde. Diese Gegensätze, die eine Regierungsbildung gefährdeten, konnten erst überbrückt werden, als die DDP-Fraktion am 20. Juni in einer erneuten Erklärung ihre Forderungen abmilderte. 108 Sie verlangte nicht mehr einen Verzicht der DVP auf ihre monarchistische Grundhaltung, sondern begnügte sich damit, daß sich der künftige Koalitions101 Fehrenbach galt als Mann der Mäßigung und Vermittlung, der ausgleichend wirkte und politische Schärfen vermied, so die Charakterisierung von P. Wulf, Fehrenbach, S. 213. 102 Schultheß 1920, Bd. 1, S. 157. 103 Der Wortlaut der Erklärung ist abgedruckt in: Vorwärts, Nr. 302 v. 16. Juni 1920. 104 Koch schreibt zu dieser von Petersen an Trimborn überreichten Erklärung in seinen Aufzeichnungen: "Die Regierungsbildung gleitet in den alten Sumpf hinein. ... Das ergibt wieder die alte, jetzt ganz aussichtslose Verhandlung von Partei zu Partei. Nun haben Petersen und ich uns endlich dahin geeinigt, daß wir diesem System eine Abfuhr geben, die hoffentlich der alte Trimborn nicht zu persönlich nimmt.", Nachl. KochWeser 27, Bl. 129. 105 Dieses Ziel wurde erreicht, s. die Rede von Hergt (DNVP) am 28. Juni im Reichstag, Verh. Rt., Bd. 344, S. 34. 106 So der Eindruck von P. Wulf, Kabinett Fehrenbach, S. XVII. 107 " 1. An unseren Grundsätzen wird durch den Eintritt in die Regierung nichts geändert. 2. Die Rücksicht auf den Wiederaufbau Deutschlands erfordert fachliche Leitung der Geschäfte auf den Gebieten der auswärtigen Politik und des Wirtschaftslebens ohne Rücksicht auf die parlamentarische Zugehörigkeit und die Parteistellung. 3. Alle Beamtenstellen sind in Zukunft nach Fähigkeiten ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit zu besetzen.", Schultheß 1920, Bd. 1, S. 157. 108 Die Erklärung der DDP-Fraktion ist abgedruckt in: Schultheß 1920, Bd. 1, S. 158.
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partner auf den Boden der neuen Verfassung stelle und erkläre, daß er die Verfassung verteidigen werde. 109 Der Weg war damit frei zu einer gemeinsamen Programmerklärung vom 21. Juni, in der die neue Koalition erklärte, den Wiederaufbau Deutschlands auf dem Boden der bestehenden republikanischen Staatsform zu fördern und alle Versuche einer gewaltsamen Umwälzung, woher sie auch kommen würden, zu bekämpfen. Außerdem versprachen die Parteien, daß der entscheidende Gesichtspunkt der Besetzung der nicht rein politischen Ämter die persönliche Tüchtigkeit und nicht die Parteizugehörigkeit sein werde. 110 Allerdings veröffentlichte die DVP noch am selben Tag eine weitere Erklärung, in der sie darauf hinwies, daß eine Regierungsbeteiligung der DVP nur möglich geworden sei, "nachdem ihr von Vertretern der verhandelnden Parteien in unzweifelhafter Weise zugebilligt worden war, daß der Partei eine Preisgabe ihrer Grundsätze nicht zugemutet würde." Insbesondere halten, so die Erklärung, sowohl Fraktion als auch Partei an ihrer grundsätzlichen Haltung zur Staatsform fest. 111 Noch am Mittag des 21. Juni erfolgte die offizielle Ernennung Fehrenbachs zum Reichskanzler. 112 In der Zeit vom 21.-24. Juni verhandelten die Parteien über die Besetzung der einzelnen Ressorts. 113 In diesen Verhandlungen forderte die DVP immer wieder die Ablösung des zum linken Flügel des Zentrums zählenden Finanzministers Wirth. 114 Dieses Verlangen der DVP-Fraktion, 115 hinter dem man in
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Koch beschreibt die Diskussion in der DDP-Fraktion wie folgt: "20. Juni 1920, Fraktionssitzung morgens 11 Uhr. Formulierungen wie weit die Deutsche Volkspartei der Monarchie abschwören soll. Ich bitte dringend, zwar zu verlangen, daß sie erklärt, daß sie unumwunden auf dem Boden der republikanischen Verfassung mitarbeiten werde, aber nicht, daß sie erklärt, sie habe sich die Monarchie aus dem Herzen gerissen. Treibe man Gesinnungsschnüffelei, werde die Schuld am Bruch bei uns liegen.", Nachl. Koch-Weser 27, Bl. 143. 110 Die Programmerklärung ist abgedruckt in: Schultheß 1920, Bd. 1, S. 159. 111 Diese Erklärung ist abgedruckt in: Schultheß 1920, Bd. 1, S. 159. 112 Vorwärts, Nr. 311 v. 21. Juni 1920; Schultheß 1920, Bd. 1, S. 159. 113 Über diese Verhandlungen existieren in den Akten der Reichskanzlei ungezeichnete Aufzeichnungen, abgedruckt in: Kab. Fehrenbach, Nr. 2, S. 6 ff. 114 So in der 2. und 3. Verhandlung am 22. Juni und in der 5. Verhandlung am 23. Juni, Kab. Fehrenbach, Nr. 2, S. 6 ff, 9. 115 Die DVP-Fraktion gab am 22. Juni im Anschluß einer Fraktionssitzung folgende Erklärung ab: "Die Fraktion ist sich darüber klar geworden, daß die vom Reichskanzler vorgeschlagene Ministerliste nicht annehmbar ist. Die Fraktion hält nach wie vor daran fest, daß die Wirtschaft ein einheitliches Arbeitsgebiet ist und daß deshalb die Frage des Verkehrs, der Post, der Wirtschaft und der Finanzen im Zusammenhang gelöst werden muß und daß zu diesem Zweck hervorragende Persönlichkeiten unbeschadet ihrer Parteistellung zu dieser Aufgabe gewonnen werden müßten. Die Fraktion wird diesem Grundsatz entsprechend dem Reichskanzler ihre Vorschlagsliste überreichen. Sie ist der Überzeugung, daß, wenn eine Verständigung über diese Punkte erzielt wird, der Kabi-
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der Zentrumsfraktion den großindustriellen Flügel der Volkspartei um Everling und Stinnes vermutete, 116 konnte Fehrenbach nur mit Hilfe einer ultimativen Rücktrittsdrohung abwehren. 117 Außerdem zeigte sich in diesen Verhandlungen, daß die DVP große Mühe hatte, die ihr zur Besetzung überlassenen Ressorts mit sogenannten Fachministern zu besetzen. Becker 118 und Wiedfeldt 119 lehnten das Angebot ab, in die Regierung einzutreten. Andere sogenannte Fachleute, wie Kraemer, 120 galten als unerwünscht 121 oder, wie Glässing, 122 als politisch und fachlich zu schwach.123 Nicht ohne Schadenfreude wurde ihr dies von den Verhandlungsführern der anderen Parteien vorgehalten, 124 da eine Hauptkritik der DVP an den bisherigen parlamentarischen Regierungen die angeblich mangelnde fachliche Qualifikation der Minister, die als Partei- und nicht als Fachmänner die Ressorts übernommen hätten, gewesen war. Als Minderheitskabinett war die neue Regierung abhängig vom Verhalten der SPD im Reichstag. Die Verhandlungen zur Kabinettsbildung kamen deshalb ins Stocken, als die SPD-Fraktion am 22. Juni beschloß, bei dem der Abgabe der Regierungserklärung folgenden Vertrauensvotum sich der Stimme zu enthalten, weil sie keine Regierung unterstützen könne, der auch die DVP angehöre. 125 Daraufhin erklärte die DDP-Fraktion, daß auf dieser Grundlage eine Regierung nicht gebildet werden könne. 126 Diese Krise in den Koalitionsver-
nettsbildung keine Schwierigkeiten mehr im Wege stehen.", Schultheß 1920, Bd. 1, S. 159 f. 116 Wirth selbst, Trimborn, Brauns und Stegerwald, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 2, S. 11, 14. 1,7 So R. Morsey, Zentrumspartei, S. 333. 118 Mitglied des Vorstandes der Rheinischen Stahlwerke, Kab. Fehrenbach, Nr. 2, Fn. 6. 119 Mitglied des Direktoriums der Friedrich-Krupp-AG, Kab. Fehrenbach, Nr. 2, Fn. 10. 120 Mitglied des Präsidiums des RDI und des vorläufigen RWiR, kam aus der Papierund Druckindustrie, Kab. Fehrenbach, Nr. 2, Fn. 14. 121 Über Kraemer heißt es in einer ungezeichneten und undatierten Aufzeichnung in den Akten der Reichskanzlei, er sei Jude, Junggeselle, Journalist und "mit Harden einst intim gewesen", Kab. Fehrenbach, Nr. 2, Fn. 14. 122 Oberbürgermeister von Wiesbaden, Kab. Fehrenbach, Nr. 2, Fn. 9. 123 Kab. Fehrenbach, Nr. 2, S. 11. 124 Kab. Fehrenbach, Nr. 2, S. 10; Koch spricht in seinen Aufzeichnungen von der Hilflosigkeit der DVP, Fachminister zu berufen, weil Leute wie Becker nicht ihre großen Gehälter aufgeben wollten, Nachl. Koch-Weser 27, Bl. 147. 125 Schultheß 1920, Bd. 1, S. 160. 126 Schultheß 1920, Bd. 1, S. 160.
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handlungen127 wurde schließlich dadurch beigelegt, daß der Reichstag am 2. Juli 1920 darauf verzichtete, der neuen Regierung das Vertrauen auszusprechen. Vielmehr nahm er nur in einem Beschluß, dem auch die SPD nach vorausgegangenen, längeren Verhandlungen mit den Koalitionsparteien 128 zustimmte, die Regierungserklärung zur Kenntnis. 129 Die Bildung des Kabinetts Fehrenbach unterscheidet sich von den bisherigen Kabinettsbildungen durch die aktivere Rolle des Reichspräsidenten. A u f Grund der unklaren Verhältnisse im neugewählten Reichstag wuchs ihm eine entscheidende Rolle bei der Besetzung des Kanzleramtes zu. Neu ist auch, daß Ebert den Reichskanzler offiziell ernannte, bevor sich die Parteien auf die Besetzung der einzelnen Ministerien geeinigt hatten. Diese Einigung wurde wie bisher auch in Verhandlungen der Parteien untereinander erzielt. Trotz dieser Verhandlungen wird man aber nicht von einer parlamentarischen Regierung sprechen können, weil der Reichstag sich in seinem Beschluß mit der Kenntnisnahme der Regierungserklärung begnügte. Die Regierung Fehrenbach stellt aber auch kein Präsidialkabinett dar. Dafür nahm Ebert bei seiner Auswahl der Kanzlerkandidaten zu viel Rücksicht auf die Parteien. Außerdem wurde er bei den Beratungen der Parteien über die Besetzung der Ministerien nicht beteiligt.
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Heinze (DVP) hatte vor dem Hintergrund dieser Erklärungen in den Verhandlungen der Parteien die Frage aufgeworfen, ob die Nichtbeteiligung der DVP an der Kabinettsbildung die Situation erleichtere, Kab. Fehrenbach, Nr. 2, S. 9. 128 Die Schwierigkeiten dieser Verhandlungen werden deutlich in den Aufzeichnungen Kochs vom 30. Juni: "Das quasi Vertrauensvotum ist noch nicht fertig. Müller klammert sich mit einem merkwürdigen Herdentierinstinkt daran, daß auch die Deutschnationalen dem Votum zustimmen. Ich würde an seiner Stelle umgekehrt operieren und halte übrigens auch vom Standpunkt der Regierung, namentlich mit Rücksicht auf Spa, die Zustimmung der Deutschnationalen eher für schädlich als für nützlich. Aber die Sozis meinen offenbar, ihre Zustimmung erscheint farbloser, wenn sie möglichst eine Angelegenheit ist, die alle Welt mitmacht. Sie möchten nicht wegen der besonderen Freundschaft mit uns erröten brauchen.", Nachl. Koch-Weser 27, Bl. 159. 129 Der Antrag der Regierungsfraktionen vom 2. Juli 1920 lautete: "Der Reichstag hat die Erklärungen der Reichsregierung vom 28. Juni 1920 zur Kenntnis genommen. Er erwartet von der Regierung, daß sie diesen Erklärungen entsprechend die Politik des Reiches, insbesondere auch bei den bevorstehenden Verhandlungen in Spa, führen wird.", Verh. Rt, Bd. 363, Nr. 80; Abstimmungsergebnis in Verh. Rt, Bd. 344, S. 181.
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III. Für ihn stand der Feind rechts: Joseph Wirth 1. Das erste Kabinett Wirth A m 4. Mai 1921 trat das Kabinett Fehrenbach zurück. Der Grund für den Rücktritt lag im Scheitern der Reparationspolitik dieses Kabinetts. Noch im März 1921 hatte Außenminister Simons in London die von den Alliierten aufgestellten Reparationsforderungen von 226 Milliarden Goldmark abgelehnt130 und sich für diese Ablehnung nach seiner Ankunft in Berlin feiern lassen.131 Die Ententemächte antworteten mit der Besetzung Düsseldorfs, Duisburgs und Ruhrorts. Es folgten verzweifelte Bemühungen der deutschen Regierung, Einfluß auf die Verhandlungen der Ententemächte zu nehmen. Jedoch waren weder der Vatikan, dessen Einschaltung an deutschen Presseindiskretionen scheiterte, 132 noch der amerikanische Präsident Harding bereit, sich für die Interessen des "lästigen Bittstellers" 133 einzusetzen. So kam es zum Londoner Ultimatum, in dem die Alliierten Deutschland aufforderten, die Reparationsschuld in der Höhe von 132 Milliarden Goldmark 134 nebst eines Zahlungsplanes anzuerkennen, die bereits im Versailler Friedensvertrag auferlegte Entwaffnung, mit der Deutschland im Verzuge war, pünktlich durchzuführen und schließlich die Aburteilung der deutschen Kriegsverbrecher vor deutschen Gerichten zu gewährleisten. Die Entente forderte das Einverständnis Deutschlands ultimativ bis zum 12. Mai 1921. Bei der Nichtannahme drohte sie mit der Besetzung des Ruhrgebiets. 135 Das Ultimatum erreichte Deutschland am Abend des 5. Mai. Dort hatte das Kabinett in der Erwartung des drohenden Ultimatums 136 bereits am 3. und 4.
130 Nach dem Versailler Friedensvertrag hatte spätestens am 1. Mai 1921 die endgültige Festsetzung der Höhe der Reparationsleistungen zu erfolgen. 131 Nach F. Stampfer, Jahre, S. 228, wurde Simons bei seiner Ankunft aus London auf dem Potsdamer Bahnhof von einer großen Menschenmenge mit Hochrufen empfangen. "Endlich einmal ein deutsches Nein!", so die Menge. 132 E. Laubach, Politik, S. 11. 133 So der Eindruck von F. Stampfer, Jahre, S. 230. 134 Diese Schuld war bereits wesentlich niedriger als die 226 Milliarden der "Pariser Beschlüsse". 135 Zum deutschen und englischen Text dieser Noten s. Verh. Rt., Bd. 367, Nr. 1979. 136 Im Kabinett befürchtete man sogar ein neues Diktat seitens der Alliierten, Nachl. Koch-Weser 27, Bl. 481-483, vollständig abgedruckt in: Kab. Fehrenbach, Nr. 244, S. 662 f.
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Mai mehrfach den Rücktritt der Regierung 137 diskutiert. Diese quälenden Diskussionen138 kamen am Abend des 4. Mai in einer Sitzung des Kabinetts mit den Parteiführern zum Abschluß. Wider alle Absprache 139 brachte Fehrenbach noch einmal die Frage der Demission des Kabinetts zur Sprache. Kempkes und Rießer sprachen sich vehement für den Rücktritt aus. Daraufhin erklärte Simons aus Verärgerung 140 über die Haltung der beiden Volksparteiler, daß er nicht mehr bleiben könne. Fehrenbach folgte seinem Außenminister und erklärte ebenfalls seinen Rücktritt. Koch, der sich bisher gegen die Demission der Regierung ausgesprochen hatte,141 überzeugte seine Parteifreunde auf Grund der fehlenden Unterstützung der Regierung durch die Führer der Koalitionsparteien von der Notwendigkeit der Demission des gesamten Kabinetts. 142 Die Folge war der einstimmige Rücktrittsbeschluß der Regierung Fehrenbach. Neben der Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung des Ultimatums mußte der Reichstag nun auch eine neue Regierung bilden. Dabei hing die Zusammensetzung der künftigen Regierung entscheidend vom Verhalten der Mehrheit des Reichstages zum Ultimatum ab. Sollte sich das Parlament in seiner Mehrheit zur Annahme durchringen, dann kamen für die Bildung der neuen Koalition nur solche Parteien in Betracht, deren Fraktionen der Annahme des Ultimatums zugestimmt hatten.143 Mit der Entscheidung über ihre Haltung zum Londoner Ultimatum trafen die Parteien damit gleichzeitig eine Entscheidung über ihre Beteiligung an der künftigen Regierung. A m leichtesten machten es sich die extremen Parteien vom Rand des politischen Spektrums. Die einen lehnten das Ultimatum als "Frucht der imperialistischen Raubpolitik der Bourgeoisie sowohl der Ententestaaten wie Deutschlands"144 ab. Den anderen ging es um die "Wahrung unserer Ehre 11 . 145 Auch die Bayerische Volkspar-
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Kab. Fehrenbach, Nr. 243, 244 und 245, S. 661 ff. F. Stampfer, Jahre, S. 231, spricht von einem qualvollen Tod der Regierung Fehrenbach. 139 So Koch in seinen Aufzeichnungen, Nachl. Koch-Weser 27, Bl. 483-485, vollständig abgedruckt in: Kab. Fehrenbach, Nr. 245, S. 663 f. 140 So der Eindruck von Koch, Tagebuchaufzeichnungen, Kab. Fehrenbach, Nr. 245, S. 663 f. 141 Koch, Tagebuchaufzeichnungen, Nachl. Koch-Weser, Nr. 27, Bl. 481-483, vollständig abgedruckt in: Kab. Fehrenbach, Nr. 244, S. 662. 142 Koch, Tagebuchaufzeichnungen, Nachl. Koch-Weser, Nr. 27, Bl. 483-485, vollständig abgedruckt in: Kab. Fehrenbach, Nr. 245, S. 663 f. 143 R. Wertheimer, Einfluß, S. 56; E. Laubach, Politik, S. 13. 144 So der kommunistische Abgeordnete Koenen am 10. Mai im Reichstag, Verh. Rt, Bd. 349, S. 3650. 145 Hergt (DNVP) am 10. Mai im Reichstag, Verh. Rt, Bd. 349, S. 3634. 138
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tei entschied sich für die Ablehnung des Ultimatums. Der Grund für die ablehnende Haltung der Partei war die Entwaffnungsfrage, die insbesondere die bayerischen Einwohnerwehren 146 betraf. 147 Anders die SPD, die bereits vor dem Bekanntwerden der einzelnen Bestimmungen des Ultimatums für die Annahme plädierte, 148 auch wenn sie die Bezahlung der Schuld für unmöglich hielt. 149 Nach "schwerem, innerem Ringen" 150 sprach sich auch die Zentrumsfraktion nahezu einstimmig für die Annahme aus.151 Entscheidend war der Einfluß Mayers, dessen Ausführungen großen Eindruck auf die Fraktion machte. 152 Auch die DVP schien zunächst unter dem Einfluß Stresemanns,153 der sich durch eine positive Stellungnahme seiner Fraktion die Möglichkeit der Kanzlerschaft eröffnen wollte, 154 der Annahme des Ultimatums zuzuneigen. Der schwerindustrielle Flügel der Volkspartei trat jedoch "um der Ehre der Nation willen" 1 5 5 entschieden für die Ablehnung ein. Dem Flügel um Stinnes und Vogler kamen die Diskussionen in der DDP-Fraktion zu Hilfe, die unter der Führung von Schiffer zunächst eine ablehnende Haltung einzunehmen schien.156 Da sich kein Volksparteiler an "nationaler Haltung" von der direkten liberalen Konkurrenzpartei übertrumpfen lassen wollte, 157 wurde schließlich mit großer Mehrheit 158 die Ablehnung des Ultimatums beschlossen. Durch dieses
146 Das am 11. August 1920 in Kraft getretene Entwaffhungsgesetz hatte die bayerische Regierung nicht durchgeführt, da der Ministerpräsident v. Kahr die Einwohnerwehren als Basis seiner Regierung ansah. 147 So auch E. Laubach, Politik, S. 15 f. 148 Vorwärts, Nr. 207 vom 4. Mai 1921 in einem mit Vorrede überschriebenen Artikel. 149 F. Stampfer, Jahre, S. 233, hielt den "Plan für einen brutalen Unsinn, dessen Zweck höchstens der sein konnte, das deutsche Volk zu vernichten. Zur Abwehr dieses Vernichtungswillen war jedes Mittel recht - auch das der Annahme!" 150 S. das Schreiben von E. Bolz vom 7. Mai 1921, M. Miller, Eugen Bolz, S. 191. 151 Sitzung vom 10. Mai 1921, 11.15 Uhr, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 66 a und b, S. 203 f. 152 So der Eindruck ten Hompels von der Rede Mayers in der Sitzung der Zentrumsfraktion vom 9. Mai 1921, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 63 b, S. 195. 153 Auch noch nach der Veröffentlichung des Ultimatums hatte Stresemann erklärt, daß er die Notwendigkeit der Annahme einsehe, Nachl. Koch-Weser Nr. 28, Bl. 230 f. 154 E. Laubach, Politik, S. 18 f. 155 So die Stinnes gehörende DAZ, Nr. 209 vom 6. Mai 1921, zit. nach E. Laubach, Politik, S. 18. 156 So Schiffer gegenüber Ebert, Nachl. Koch-Weser, Nr. 28, Bl. 234 f.; vgl. auch Trimborn am 6. Mai vor der Zentrumsfraktion, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 60, S. 189. 157 So auch E. Laubach, Politik, S. 18. 158 Das Abstimmungsergebnis lautete trotz der gegenteiligen Stellungnahmen Stresemanns, von Raumers und von Seeckts, der als Gast an der Sitzung teilnahm, 54:5 für die Ablehnung des Ultimatums, Nachl. Koch-Weser, Nr. 28, Bl. 255.
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Votum seiner Fraktion bei gleichzeitiger sich abzeichnender Mehrheit im Reichstag für die Annahme schied Stresemann als Kanzlerkandidat aus.159 Die DDP nahm am Ende ihrer ausfuhrlichen Diskussionen keine einheitliche Stellung ein und stellte, nachdem sich die Fraktion mit knapper Mehrheit gegen die Annahme ausgesprochen hatte, 160 jedem Abgeordneten sein Abstimmungsverhalten im Reichstag frei. 161 Parallel zu diesen Entscheidungsprozessen in den Fraktionen über die Annahme oder Ablehnung des Londoner Ultimatums verliefen die Verhandlungen über die Kabinettsbildung. Zunächst strebten sowohl Stresemann als auch Schiffer die Kanzlerschaft an, 162 jedoch ohne sich auf eine bestimmte Haltung zum Ultimatum festzulegen. 163 Ebert, der von der Notwendigkeit der Annahme des Ultimatums überzeugt war, 164 wollte den ebenfalls zur Annahme bereiten Mayer-Kaufbeuren 165 mit der Kanzlerschaft betrauen. 166 Dieser lehnte jedoch ab. Als am 9. Mai durch die Beschlüsse der Fraktionen von Zentrum, SPD und USPD deutlich wurde, daß der Reichstag in seiner Mehrheit die Annahme des Ultimatums beschließen würde, war damit auch die Entscheidung für eine Annahmeregierung gefallen. 167 Allerdings war bis zu diesem Zeitpunkt allein das Zentrum bereit, in eine solche Regierung einzutreten. Die SPD entschloß sich erst am Morgen des 10. Mai nach einer Intervention Eberts zu einer Beteiligung an der Regierung. 168 Der Reichspräsident verlangte außerdem von den Parteien, sich bis zum Mittag auf ein neues Kabinett zu verständigen. 169 Im
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So auch seine eigene Einschätzung, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. I, S. 20 f. In der Fraktion hatten 15 Abgeordnete mit Ja und 16 mit Nein gestimmt, Nachl. Koch-Weser, Nr. 28 Bl. 256. 161 Im Reichstag stimmten 17 Abgeordnete der DDP für und 21 gegen die Annahme, Verh. Rt, Bd. 349, S. 3652 ff. 162 "Schiffer und Stresemann voll Eifer. ... Auszuschiffen" seien "Fehrenbach, Wirth, Scholz, Simons.", Nachl. Koch-Weser, Nr. 28, Bl. 226. 163 Das Taktieren der beiden Bewerber wird eingehend geschildert in den Aufzeichnungen von Koch, Nachl. Koch-Weser, Nr. 28, Bl. 226 ff. 164 M. Peters, Ebert, S. 140 f. 165 Er empfahl der Zentrumsfraktion die Annahme, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 62 b, S. 192. 166 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 59 b, S. 186. 167 So auch E. Laubach, Politik, S. 22. 168 O. Meissner, Staatssekretär, S. 100; auch nach F. Stampfer, Jahre, S. 234, erklärte sich die SPD erst "nach einigem Widerstreben" bereit, in die Regierung einzutreten. Den Wiedereintritt stellt Stampfer als ein Opfer der Partei aus nationalen Gründen dar und nicht als Ergebnis eines zielbewußten Machtstrebens. 169 Nach Trimborn, der am Morgen des 10. Mai mit Ebert gesprochen hatte, wollte Ebert die Annahme des Ultimatums nicht durch die alte Regierung bewirken lassen, um 160
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Vorstand der Zentrumsfraktion kam es daraufhin zu einer Diskussion um den Kanzlerkandidaten. Stegerwald und ten Hompel unterstützten eine Kandidatur des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer. Dieser erklärte, daß er unter bestimmten Bedingungen zur Annahme der Kandidatur bereit sei. So forderte er die Einführung von indirekten Steuern, den vorläufigen Verzicht auf weitere Enteignungen, die Wiedereinführung der neunten Arbeitsstunde und Unabhängigkeit bei der Auswahl der Minister. 170 Obwohl Adenauer betonte, daß er seine Bedingungen nicht als verklausulierte Ablehnung verstanden wissen wollte, kam es zu keiner Diskussion seiner Vorschläge. Vielmehr brachten Spahn und Trimborn Wirth als Kanzlerkandidaten ins Gespräch. 171 Stegerwald, der über diese Behandlung Adenauers "außerordentlich erregt" 172 war, und ten Hompel sprachen sich jedoch gegen Wirth aus, weil dieser nicht die nötigen Verbindungen nach rechts besitze. In der sich anschließenden Fraktionssitzung wurde die Personaldiskussion fortgeführt. Erneut setzten sich Stegerwald 173 und ten Hompel sowie weitere Mitglieder der Fraktion für Adenauer ein. 174 A m Ende setzten sich jedoch Trimborn und Spahn mit ihrem entschiedenen Eintreten für den auch von Ebert favorisierten Wirth durch. Wahrscheinlich waren sie der Meinung, daß eher ein erfahrener Parlamentarier und Minister, der auch das Vertrauen der SPD genoß, in der Lage sein würde, die Kanzlerschaft mit Erfolg zu übernehmen. 175 Allerdings geriet die Kabinettsbildung noch einmal ins Stocken, als Trimborn, vom Reichspräsidenten kommend, in der Fraktion über die Bedingungen berichtete, unter denen die SPD bereit sei, in die Regierung einzutreten. So
sich nicht "vor ganz Europa zu blamieren". Er drohte sogar mit seinem Rücktritt, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 65, S. 196. 170 Prot. Zentrum 1920-1925, S. Nr. 65, S. 196 f. 171 Ten Hompel beschreibt die Situation wie folgt: "Darauf machte Spahn die kurze Bemerkung, daß wir dann wohl auf Wirth zurückgreifen müßten. Trimborn führte aus, daß das Programm des Herrn Adenauer durchaus richtig sei, aber formell nicht durchführbar. Die Parteien würden sich nicht von vornherein darauf festlegen. Es könne wohl der Versuch gemacht werden, dieses Programm später durchzuführen und die Parteien dafür zu gewinnen.", Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 65, S. 197. 172 So ten Hompel in seinen Aufzeichnungen, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 65, S. 197. 173 Stegerwald trat mit folgender Argumentation für Adenauer ein: "Falls ein Dauerkabinett gebildet werden soll, ist Adenauer als Kanzler der richtige Mann, im anderen Falle Dr. Wirth.", Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 66 a, S. 199. 174 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 66 a, S. 200. 175 So auch die Vermutung von R. Morsey, Zentrumspartei, S. 383; s. dort auch zu den Spekulationen über die Bedenken führender Zentrumspolitiker an der politischen Qualifikation Adenauers; zu Wirth als linksstehenden, entschiedenen Republikaner s. auch I. Schulze-Bidlingsmaier, Wirth, S. 218.
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forderte die SPD, daß sie mit Bauer den Kanzler stellen müsse und daß kein Mitglied der DVP im Kabinett verbleiben dürfe. 176 Möglicherweise war jedoch die sozialdemokratische Forderung, das Kanzleramt zu besetzen, nur taktisch bedingt. 177 Jedenfalls akzeptierte die SPD am Ende der Verhandlungen Wirth als Kanzler. Nun bat Wirth seine Fraktion darum, "von seiner Person unter allen Umständen für den Reichskanzlerposten Abstand zu nehmen." 178 Nur durch "wiederholtes lebhaftes, ja geradezu gewaltsames Drängen" der Fraktion 179 erklärte sich Wirth schließlich bereit, das Amt zu übernehmen. Nachdem auch die DDP sich nach langem Ringen für eine Beteiligung an der Regierung entschieden hatte, 180 konnte Wirth noch am gleichen Tag vom Reichspräsidenten zum Kanzler einer Koalition aus Zentrum, DDP und SPD ernannt werden. A m Abend des 10. Mai hielt Wirth seine erste Rede als Regierungschef vor dem Reichstag. Nachdem Ende Mai mit Rosen als Außenminister und Rathenau als Wiederaufbauminister die letzten beiden noch offenen Personalfragen geklärt waren, stellte sich die neue Regierung dem Reichstag. Dieser begnügte sich am 4. Juni anstelle eines Vertrauensvotums mit einem Beschluß, der die Erklärung der Reichsregierung zur Kenntnis nahm. 181 Der am selben Tag eingebrachte Mißtrauensantrag der DNVP scheiterte. 182 Ähnlich wie das Kabinett Fehrenbach läßt sich das erste Kabinett Wirth nicht eindeutig als parlamentarische oder präsidiale Regierung kennzeichnen. Gegen die Annahme einer parlamentarischen Regierung spricht zunächst, daß sich das neue Kabinett nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. 183 Dies kommt in der Weigerung des Reichstages zum Ausdruck, der neuen Regierung eindeutig das Vertrauen auszusprechen. Vielmehr begnügte er
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Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 66 a und b, S. 200. So die Vermutung von A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 67, unter Hinweis auf den Reichstagsabgeordneten W. Keil, Erlebnisse, Bd. 2, S. 233, wonach es die SPD ablehnte, "den Firmenträger zu stellen". 178 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 66 b, S. 203. 179 So Marx am 1. Oktober 1921 im Reichstag, Verh. Rt, Bd. 351, S. 4674. 180 Ausführliche Darstellung der internen Kämpfe der DDP im Nachlaß Koch-Weser, Nr. 28, Bl. 257 ff. 181 Der das Vertrauensvotum umgehende Beschluß des Reichstages lautete wie folgt: "Der Reichstag nimmt von der Erklärung der Reichsregierung Kenntnis. Er erklärt sich damit einverstanden, daß die Regierung alles daran setze, um die übernommenen Verpflichtungen gegenüber den Alliierten zu erfüllen. Der Reichstag billigt insbesondere die Erklärung der Reichsregierung über Oberschlesien.", Verh. Rt, Bd. 367, Nr. 2117; Abstimmungsergebnis in Verh. Rt, Bd. 349, S. 3829. 182 Verh. Rt, Bd. 349, S. 3829. 183 Die Parteien der Weimarer Koalition verfügten nur über 44,6% der Mandate des Reichstages, J. Falter/T. Lindenberger/S. Schumann, Tab. 1.3.1.4, S. 45. 177
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sich mit der Kenntnisnahme der Regierungserklärung und billigte allein die Haltung der Regierung zu Oberschlesien. Auch die aktive Rolle Eberts, der seine eigene Partei erst zur Regierungsbeteiligung bewegen mußte, spricht gegen die Annahme einer parlamentarischen Regierung. Die erste Regierung Wirth war aber auch kein Präsidialkabinett. So bildete Ebert die Regierung nicht selbst, sondern forderte im Gegenteil die Parteien ultimativ auf, sich auf ein neues Kabinett zu verständigen. Über die Person des Kanzlers entschied auch nicht Ebert, sondern zunächst die Zentrumsfraktion, die ihren Kandidaten anschließend in Verhandlungen mit der SPD durchsetzte. 2. Das zweite Kabinett Wirth A m 22. Oktober 1921 trat das Kabinett Wirth zurück. Anlaß war die Entscheidung des Völkerbundes, Oberschlesien zwischen Deutschland und Polen zu teilen, obwohl die gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages durchgeführte Abstimmung in der Bevölkerung Oberschlesiens eine sechzigprozentige Mehrheit für den Verbleib bei Deutschland ergeben hatte. Begründet wurde die Teilung mit dem Abstimmungsergebnis in den abzutrennenden Teilen im Osten und Südosten Oberschlesiens. Dort hatte sich eine Mehrheit für Polen entschieden. Die Erregung in Deutschland über diese Entscheidung war sehr groß. In der Teilung sah man nicht nur einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages, 184 sondern auch eine bewußt durchgeführte Schwächung Deutschlands, weil die wirtschaftlich wertvollen Teile Oberschlesiens an Polen fielen. 185 Besonders in die Kritik kam die Reichsregierung, die ihre Zustimmung zum Londoner Ultimatum an den Verbleib ganz Oberschlesiens beim Reich gebunden hatte. Nach der Entscheidung des Völkerbundes forderten insbesondere die DDP, 186 aber auch das Zentrum 187 den Rücktritt des Kabinetts.
184 Der Art. 88 des Versailler Vertrages lautete: "In dem Teil Oberschlesiens, der innerhalb der nachstehend beschriebenen Grenzen gelegen ist, werden die Einwohner berufen, im Wege der Abstimmung kundzugeben, ob sie mit Deutschland oder Polen vereinigt zu werden wünschen ... ", Ursachen und Folgen, Bd. 4, Nr. 733, S. 396. 185 Nach H. Schulze, Weimar, S. 232, fielen 90 Prozent der oberschlesischen Kohlevorkommen sowie sämtliche Zink-, Blei- und Silberhütten an Polen. 186 Wie heftig die Kritik an der Regierung selbst in der Regierungskoalition ausfiel, zeigt eine Bemerkung des stellvertretenden Vorsitzenden des Parteiausschusses der DDP, Gerland, auf einer gemeinsamen Sitzung des DDP-Vorstandes mit der Reichstagsfraktion und den Fraktionen in den Ländern am 13. Oktober 1921: "Als Wirth die Politik der Erfüllung inaugurierte, wurde in allen Zeitungen erklärt, das Kabinett Wirth steht und fällt mit der oberschlesischen Frage. Hier ist die Hand, die verdorrt, und wenn diese
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Eine Rolle für den Rücktritt spielten aber auch heftige Auseinandersetzungen in der Zentrumsfraktion 188 um den zum linken Flügel zählenden Reichskanzler. 189 Bereits im September mündeten diese Auseinandersetzungen in die Forderung nach einer Verbreiterung der Koalition nach rechts, also nach einer Aufnahme der DVP. Im Zuge der sich an diese Diskussionen anschließenden Verhandlungen mit der DVP 1 9 0 über eine Regierungsbeteiligung wurde auch immer wieder der Rücktritt des Kabinetts diskutiert. Marx meinte in diesen Verhandlungen sogar, daß ein Verweilen Wirths im Amt für die Zentrumspartei nur dann erträglich sei, wenn die DVP in die Koalition eintrete. 191 So kam es, daß viele Anhänger des Zentrums dem Rücktritt Wirths weniger nachtrauerten als weite Bevölkerungskreise, die im Reichskanzler den Repräsentanten der Demokratie erblickten. 192 In der SPD vermutete man sogar, daß das Zentrum Adenauer als Nachfolger von Wirth nominieren werde. 193 Jedenfalls gab es in der Zentrumsfraktion viele Stimmen, die eine Fortsetzung der
Hand weiter die Geschicke Deutschlands leitet, so gibt das nur dem Auslande Grund zum Hohnlächeln. Wollen Sie die Komödie dem Deutschen Reiche ersparen, dann haben sie doch den Mut, Wirth erst gar nicht zum Rücktritt zu veranlassen, sondern lassen Sie ihn in der Regierung mit einem Vertrauensvotum. Was hat uns das Vertrauen Wirths im Auslande genutzt? Das Vertrauen zu Wirth ist das Vertrauen zu einem guten Hausknecht, der einem das Gepäck bis an die Bahn bringt, gar nichts anderes.", Linksliberalismus, Nr. 85, S. 202. 187 Zu den Diskussionen in der Zentrumsfraktion, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 84 und 85, S. 267-278; der Zentrumsfraktionsvorstand hatte sich am 19. Oktober für die Demission des Kabinetts ausgesprochen, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 84 b, S. 268. 188 Spahn, der seit 1882 verschiedenen Zentrumsfraktionen angehört hatte, bemerkte zu den Diskussionen um Wirth, daß er solch scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion seit 1882 noch nicht erlebt habe, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 81 b, S. 253. 189 So hatte Wirth nach der Ermordung von Erzberger in sehr temperamentvollen Reden nicht nur um Verständnis für eine sozial ausgerichtete demokratische Republik geworben, sondern auch massiv die reaktionäre und nationalistische Rechte angegriffen. Besonders umstritten bei seiner eigenen Fraktion war eine Äußerung Wirths, wonach er im Falle eines stattfindenden Kampfes zwischen Proletariat und Bürgertum auf Seiten des Proletariats zu finden sein werde, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 80, S. 234. 190 Verhandelt wurde am 28. September, 3 , 17, 18. und 20. Oktober, die Protokolle der Besprechungen sind abgedruckt in: Kab. Wirth I und II, Nr. 102, 106, 114, 115 und 116. 191 Kab. Wirth I und II, Nr. 115, S. 329. 192 So auch der Eindruck von R. Morsey, Zentrumspartei, S. 418; nach F. Stampfer, Jahre, S. 248, wurde der Rücktritt Wirth von den Deutschnationalen mit Triumpfgeschrei, von der Volkspartei mit stillen Hoffnungen und vom Zentrum mit ziemlicher Gleichgültigkeit aufgenommen, wohingegen die Sozialdemokraten beider Richtungen leidenschaftlich für den Zentrumskanzler eintraten. 193 F. Stampfer, Jahre, S. 248.
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Koalition ohne Einschluß der DVP ablehnten.194 Auch die DDP beschloß, aus der alten Koalition auszuscheiden, wenn es nicht zu einer Großen Koalition mit der DVP kommen sollte. 195 In dieser Situation kam es am Abend des 24. Oktober zu einer Besprechung beim Reichspräsidenten, in der ein Kompromiß zwischen der SPD und der DVP bezüglich der Oberschlesienfrage gefunden wurde. 196 So sollte in einer besonderen Note der Entente gegenüber eine Rechtsverwahrung gegen die Grenzfestsetzung eingelegt werden, 197 im übrigen aber den Forderungen entsprochen werden. Der Weg zu einer Großen Koalition schien damit frei zu sein. Noch am selben Abend kam es jedoch zu einer Fraktionssitzung der DVP, in der der gefundene Kompromiß keine Zustimmung fand. 198 Die Fraktion lehnte es ab, sich an einer Regierung zu beteiligen, die den Teilungsbeschluß des Völkerbundes über Oberschlesien annehmen wollte. 199 Als am nächsten Morgen das Ergebnis der DVP-Fraktionssitzung bekannt wurde, war die Empörung groß. 200 Besonders Ebert war sehr erregt und zum Rücktritt entschlossen.201 In dieser Situation richtete der Reichspräsident als gleichsam letzten Versuch zur Kabinettsbildung an Wirth die dringende Bitte, "unter Hintanstellung persönlicher und parteipolitischer Rücksichten die Bildung der Regierung zu übernehmen." 202 Als Wirth diesen Wunsch des Reichspräsidenten, eine Übernahme der Kanzlerschaft ohne Eintritt des Zentrums in die Regierungskoalition, seiner Fraktion übermittelte, kam es dort zu einer
194 Sitzung der Zentrumsfraktion vom 23. Oktober 1921, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 88 f., S. 278 f. 195 So Marx in der Sitzung der Zentrumsfraktion vom 23. Oktober 1921, Prot. Zentrum 1920 -1925, Nr. 89, S. 278. 196 S. den Bericht von Marx in der Zentrumsfraktion vom 25. Oktober, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 91, S. 281. 197 Text der Note in: Schulthess 1921, Bd. 2, S. 294. 198 S. den Bericht von Marx in der Zentrumsfraktion vom 25.Oktober, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 91, S. 281. 199 So Stresemann in einem Schreiben vom 25. Oktober an den Reichspräsidenten, vgl. H. A. Turner, Stresemann, S. 93. 200 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 91, S. 282, schildert die Stimmung am Morgen des 25. Oktober wie folgt: "Nach Mitteilung des inzwischen eingetroffenen Reichskanzlers war der Reichspräsident ebenso wie die Sozialdemokraten über das Schreiben der Volkspartei im höchsten Grade erregt und verstimmt und herrschte allgemein die Auffassung, daß durch dieses Vorgehen der Volkspartei eine Zusammenarbeit in der Großen Koalition auf absehbare Zeit unterbunden worden sei.". 201 Wirth, Festigung, S. 321, schildert Eberts Zustand wie folgt: "Damals sah ich Ebert zum ersten Male vor dem Zusammenbruch seiner physischen und psychischen Kräfte. Er eröffnete mir (...) seinen Wunsch, mich für den nächsten Tag bereit zu halten, um seine Abdankung als Reichspräsident entgegennehmen zu können." 202 Schreiben des Reichspräsident an den Reichskanzler vom 25 Oktober, in: Kab. Wirth, Nr. 123, S. 343.
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heftigen Diskussion. 203 A m Ende der Auseinandersetzungen wurde ein Antrag von Fehrenbach mit knapper Mehrheit abgelehnt, eine Regierung zwischen Zentrum und SPD zu bilden. 204 Die Fraktion beschloß jedoch mit Mehrheit, Wirth nicht an der Bildung eines Kabinetts zu hindern. 205 Wirth nahm sofort Verhandlungen zur Regierungsbildung auf. Zentrum und SPD hinderten ihre bisherigen Minister nicht, auch dem neuen Kabinett anzugehören. Auch die DDP erklärte sich zunächst zu einer Mitarbeit in einem "unpolitischen" Kabinett 206 bereit. Sie zog diese Zusage jedoch zurück, als Wirth eine im Vergleich zum alten Kabinett nahezu unveränderte Kabinettsliste vorlegte. Vielmehr beschloß sie, kein Mitglied der DDP in die neue Regierung zu entsenden207 und gab allein Geßler als sogenannten Fachminister frei. 208 Auch Rathenau akzeptierte den Beschluß der Fraktion, den er nicht für richtig hielt. 209 So kam es, daß Wirth als wiederernannter Reichskanzler dem Reichstag am 26. Oktober 1921 ein "Kabinett der Persönlichkeiten" 210 vorstellen konnte, das sich nur auf wenigen Positionen verändert hatte.211 Neu war jedoch die Art und Weise der Bildung der Regierung. Wirth war als Reichskanzler nicht aus Koalitionsverhandlungen hervorgegangen, sondern ganz wesentlich vom Vertrauen des Reichspräsidenten getragen. Ausgestattet mit diesem Vertrauen hatte er in kurzer Zeit ein Kabinett seiner Wahl zusammengestellt, selbst wenn man sagen muß, daß sich dieses neue Kabinett nicht
203 Nach ten Hompel, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 92 b, S. 286, wurde dieser Vorschlag lang und in gespannter Atmosphäre diskutiert. 204 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 92, S. 286. 205 Der Beschluß lautete: "Das Zentrum hindert Herrn Wirth nicht, morgen (mit einem neugebildeten Kabinett) vor dem Reichstag eine positive Lösung in der oberschlesischen Frage zu suchen und wird das Kabinett Wirth unterstützen.", Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 92 b, S. 285. 206 So Petersen in seinem Bericht über die Kabinettsbildung in der Sitzung des Parteiausschusses der DDP vom 11. November 1921, Linksliberalismus, Nr. 87, S. 219 f. 207 Petersen in seinem Bericht über die Kabinettsbildung in der Sitzung des Parteiausschusses der DDP vom 11. November 1921, Linksliberalismus, Nr. 87, S. 220. 208 O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 358 f. 209 Vgl. die Briefe Rathenaus an Koch, von Batocki und Melchior, W. Rathenau, Politische Briefe, Nr. 204, 206 und 207, S. 315 ff.; Kommentierung von H. Pogge-v. Strandmann, in: W. Rathenau, Tagebuch 1907-1922, S. 262; R. Morsey, Zentrumspartei, S. 219; E. Laubach, Politik, S. 105. 210 So die Kennzeichnung von Breitscheid, Verh. Rt, Bd. 351, S. 4759, der außerdem auf den umgestalteten Charakter des Kabinetts verwies; Wirth selbst sprach vom neuen Kabinett von Mitarbeitern, die er gesucht und gefunden habe, Verh. Rt, Bd. 351, S. 4733. 211 "Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung.", so der Beschluß des Reichstags, Verh. Rt, Bd. 369, Nr. 2879; Abstimmungsergebnis in Verh. Rt, Bd. 351, S. 4781. 7 Hoppe
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sehr vom alten unterschied. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß diese Kabinettsbildung sich nicht mehr auf der Grundlage des parlamentarischen Regierungssystems vollzog, sondern sehr stark vom Reichspräsidenten beeinflußt war. Ein wesentlicher Schritt in Richtung auf ein präsidiales Regierungssystem war damit getan.
IV. Politische Laien als sogenannte Fachmänner: Das Kabinett Cuno "Am 24. November 1922 öffnete ein hochgewachsener eleganter Herr die Tür am Südportal des Reichstages, lief an der Portiersloge vorbei und sprang leichtfüßig die Marmortreppe hinauf. 'Pst, pst, wohin?', rief der erstaunte Türhüter dem Eindringling nach. Der drehte sich an der obersten Treppenstufe um, lüftete den Hut und sagte: 'Ich bin der Reichskanzler Cuno.'" Mit diesen Worten beschreibt Stampfer 212 sehr anschaulich die nahezu völlige Unbekanntheit des neuen Kanzlers im Parlament. Wie konnte es dazu kommen, daß nach den erfahrenen Politikern Scheidemann, Bauer, Müller, Fehrenbach und Wirth mit dem parteilosen 213 Cuno ein sogenannter Fachmann aus der Wirtschaft 214 ins Kanzleramt einzog, der über nur geringe politische Erfahrungen 215 verfügte? Diese Frage ist besonders deshalb berechtigt, weil seit dem Zusammenschluß der beiden sozialdemokratischen Parteien 216 das Kabinett Wirth im Reichstag über eine komfortable Mehrheit verfügte. 217 Wie brüchig diese Mehrheit aber war, zeigte sich bereits am 24. Oktober 1922, als die vereinigte SPD gegen die von allen bürgerlichen Parteien unterstützte Erhöhung der Ge-
212
F. Stampfer, Jahre, S. 307. Cuno war wegen der zweideutigen Haltung der DVP während des Kapp-Putsches aus dieser Partei ausgetreten, F. Stampfer, Jahre, S. 308. 214 Cuno war nach dem Selbstmord Ballins Generaldirektor der Hamburg-AmerikaLinie geworden. 215 Der deutschen Regierung hatte Cuno bei zahlreichen Konferenzen als Sachverständiger gedient und war dabei "mit mancherlei Kenntnissen, gesundem Menschenverstand und angenehmen Manieren ... überall gut durchgekommen.", F. Stampfer, Jahre, S. 308. 216 SPD und USPD hatten sich am 24. September 1922 in Nürnberg zur Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (VSPD) zusammengeschlossen. Bereits auf dem Parteitag in Berlin im Jahre 1924 wurde jedoch wieder die alte Bezeichnung SPD eingeführt, die der Einfachheit halber auch im folgenden benutzt wird. 217 Zentrum, DDP und die nun vereinigte SPD verfügten über 289 von insgesamt 459 Reichstagssitzen. 213
I . Das Kabinett
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treideumlage - einen den Brotpreis erheblich verteuernden Inflationsausgleich zu Gunsten der Landwirtschaft - stimmte. David als Vertreter des rechten Parteiflügels sah in dieser Entscheidung der Fraktion, die auf der ersten Fraktionssitzung der Vereinigten Sozialdemokratie 218 fiel, eine Verbeugung vor den Unabhängigen und einen üblen Anfang. 219 Die bürgerlichen Parteien, die wegen des sich anbahnenden Zusammenschlusses der beiden sozialdemokratischen Parteien bereits im Juli eine aus DDP, Zentrum und DVP bestehende "Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte" gegründet hatten, sahen sich durch diese Entscheidung in ihrem Argwohn gegenüber der sich nach links geöffneten SPD bestätigt. Sie drängten nun darauf, die Koalition durch eine Beteiligung der DVP nach rechts zu verbreitern. So kam es am 10. November im Kanzleramt zu einer Besprechung mit den Parteiführern, in der Wirth die Ergänzung des Kabinetts durch die Besetzung der Vakanzen in der Regierung 220 ankündigte. Er dachte dabei nicht an eine Große Koalition, sondern wollte nur versuchen, "die wirtschaftlichen Kräfte zu gewinnen, die für die schwere Lage des Winters und für die Erreichung einer Anleihe nötig" 221 seien. Ähnlich wie schon bei vergleichbaren Vorstößen Wirths in der Vergangenheit reagierte die SPD zurückhaltend. 222 Für sie war die Erarbeitung eines gemeinsamen Regierungsprogramms dringlicher als die Besetzung der freien Ministerien durch Personen, die außerhalb der bestehenden Regierungskoalition standen. 223 Dennoch wäre die SPD bereit gewesen, in einem neuen Kabinett Wirth einige sogenannte Fachmänner aus dem Umfeld der DVP zu akzeptieren. 224 Die
218 Auf Initiative der SPD hatten sich am 14. Juli 1922 die beiden sozialdemokratischen Fraktionen schon vor der Vereinigung der beiden Parteien zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, H. A. Winkler, Revolution, S. 487, dort auch die Einzelheiten der Vereinigung. 219 Nachl. David, Nr. 17, Bl. 19; nach David habe Müller die alte Majorität umgeworfen; neben David sprachen sich auch Georg Schmidt, Robert Schmidt, Bauer und Sollmann gegen die Erhöhung aus. 220 Ohne Minister waren das Außenministerium, das Wiederaufbauministerium und das Ministerium ohne Portefeuille. 221 Kab. Wirth, Nr. 404, S. 1164. 222 So hatte Wirth in der Kabinettssitzung vom 23. Oktober 1922 unter Hinweis auf seine Richtlinienkompetenz eine Konzentration der wirtschaftlichen Kräfte verlangt. Unter dieser Konzentration verstand er "eine Umbildung der Reichsregierung durch Heranziehung der besten Kräfte, die für den Wiederaufbau in Frage kämen". Bauer erwiderte daraufhin, daß er persönlich diesem Bestreben Sympathie entgegenbringe, er aber nicht sagen könne, wie sich seine Fraktion dazu stellen werde, Kab. Wirth, Nr. 391, S. 1136 f. 223 So Müller, Kab. Wirth, Nr. 404, S. 1164. 224 Sojedenfalls Stampfer, Jahre, S. 307; vgl. auch die Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 190 b, S. 414, Fn. a, wonach die SPD bereit gewesen wäre, ein "Kabinett der Persönlichkeiten" zu akzeptieren. T
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C. Die Staatspraxis
Koalitionskrise verschärfte sich jedoch, als die DVP am 12. November beschloß, entweder offiziell in die Koalition einzutreten oder aber, wenn die bestehende Koalition dies ablehne, in der Opposition zu verbleiben. 225 Daraufhin verlangten am folgenden Tag die bürgerlichen Parteien die Aufnahme der DVP in die Koalition. 226 Wirth entschloß sich nun, die SPD zu einer Entscheidung über die offizielle Aufnahme der DVP in die Koalition zu zwingen. 227 Unklar ist, ob auf ihn in dieser Frage seitens seiner Fraktion Druck ausgeübt worden ist. 228 Jedenfalls erklärte Wirth vor der Presse, daß er zunächst für ein Kabinett der wirtschaftlichen Konzentrierung eingetreten, durch die Forderung seiner eigenen Fraktion nach einer Großen Koalition aber auf einen anderen Weg gedrängt worden sei. 229 So unter Druck gesetzt, lehnte die SPD-Fraktion am 14. November eine Koalition mit der DVP ab. 230 Sie hielt der Volkspartei eine Rede von Stinnes vom 9. November vor, in der dieser ein Streikverbot in wichtigen Industrien und die Erhöhung der regelmäßigen Arbeitszeit auf zehn Stunden pro Tag gefordert hatte.231 Eine Rolle spielte sicher auch die gerade erfolgte Vereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien, die durch eine Koalition mit der "Stinnes-Partei" nicht belastet werden sollte. 232 So beeindruckte auch die Warnung Otto Brauns, der seit einem Jahr in Preußen einer Großen Koalition als Ministerpräsident vorstand, durch einen entschiedenen Kurs gegen die DVP werde die Regierung in deutschnationale Arme getrieben, 233 die Fraktion nicht
225 Schultheß 1922, S. 139; F. Stampfer, Jahre, S. 307; R. Morsey/K. Ruppert, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 184, Fn. 1. 226 Vorwärts, Nr. 538 vom 14. Nov. 1922; vgl. auch Müller, Verh. Rt, Bd. 357, S. 9168 f. 227 Kab. Wirth, Nr. 408, S. 1169; von einem ultimativen Verlangen spricht F. Stampfer, Jahre, S. 306. 228 So H. A. Turner, Stresemann, S. 102. 229 Vorwärts, Nr. 540 vom 15. November 1922. 230 Zu dieser Fraktionssitzung vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 106 f , E. Laubach, Politik, S. 310; H. A. Winkler, Revolution, S. 500. 231 Auszüge aus der Rede in: Vorwärts, Nr. 535 vom 11. November 1922. 232 Nach F. Stampfer, Jahre, S. 307, glaubte die Parteiführung die neue Einigkeit nicht durch einen möglichen, aber knappen Mehrheitsbeschluß zu Gunsten einer Großen Koalition belasten zu dürfen; auch Wels sah die Gefahr, daß man durch eine solche Entscheidung die Vereinigung der beiden sozialistischen Parteien wieder aufs Spiel setze, so das "Berliner Tageblatt", Purlitz 1922, Bd. 2 (Inland), S. 170-172. 233 H. Schulze, Otto Braun, S. 408.
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mehr. Sie beschloß mit übergroßer Mehrheit, 234 die Erweiterung des Regierungsbündnisses abzulehnen, weil sie "in der bisherigen Stellungnahme der Deutschen Volkspartei keine Garantie für die Durchführung der Stabilisierungsaktion und damit für die Förderung der endgültigen Lösung des Reparationsproblems" 235 erblickte. Bauer gab diesen Beschluß der SPD-Fraktion noch am gleichen Abend im Kabinett bekannt und fügte hinzu, daß er den Rücktritt der Regierung für unvermeidlich halte. Wirth, ebenfalls zum Rücktritt entschlossen, pflichtete Bauer bei. 236 Trotz letzter Verständigungsversuche von Brauns (Zentrum) und Köster (SPD) 237 beschloß das Kabinett seine Demission, die Wirth im Anschluß an die Sitzung dem Reichspräsidenten überbrachte. Gestützt auf einen Briefwechsel zwischen Otto Braun und Wirth aus dem Jahre 1941 238 vertritt H. Schulze die These, daß der Sturz Wirths durch eine sorgfältig von SPD und DVP geplante Intrige herbeigeführt worden sei. 239 So hatten sich im Sommer oder Herbst 1922, so Otto Braun an Wirth, auf Einladung von v. Raumer (DVP) Stresemann, Hermann Müller, Wels und Braun zu einem interparlamentarischen Frühstück getroffen. Dabei erklärten Stresemann und v. Raumer, daß die DVP in die Regierung eintreten wolle. Bedingung sei jedoch die Ablösung Wirths als Kanzler. 240 Er selbst, so Braun, habe dieses Ansinnen abgelehnt, seine Parteifreunde seien leider geneigter gewesen, darauf einzugehen. H. Schulze folgert aus diesem Brief, daß bei dieser Gelegenheit eine Große Koalition gegen den Sturz Wirths ausgehandelt worden sei. 241 Er unterstützt seine These mit dem Mißtrauen in der SPD gegenüber Wirth, das seit dem Abschluß des Rapallo-Vertrages bestand, den Wirth weitgehend im Alleingang und gegen den Willen der sozialdemokratischen Minister und besonders Eberts abgeschlossen habe.242 Gegen diese These spricht zum einen, daß nach dem Sturz Wirths eine Große Koalition nicht gebildet wurde und damit dieser Teil der angeblichen Intrige nicht zur Ausführung kam. 243 Zum
234 So Bauer in der Kabinettssitzung vom 14. November, in der er das Abstimmungsverhalten der SPD zur Erweiterung der Koalition bekannt gab, Kab. Wirth, Nr. 408, S. 1169. 235 Vorwärts, Nr. 538 vom 14. November 1922. 236 Kab. Wirth, Nr. 408, S. 1169. 237 Kab. Wirth, Nr. 408, S. 1169 f. 238 Der Briefwechsel ist dokumentiert bei H. Schulze, Rückblick, S. 164-185. 239 H. Schulze, Weimar, S. 247. 240 Brief von O. Braun an Wirth, dokumentiert in: H. Schulze, Rückblick, S. 173. 241 H. Schulze, Rückblick, S. 161. 242 H. Schulze, Rückblick, S. 162. 243 H. Schulze führt dies auf die mangelnde Übung der SPD im Intrigieren zurück, H. Schulze, Weimar, S. 248.
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C. Die Staatspraxis
anderen spielten Mitte November die Vorbehalte gegen Wirth bei Ebert und der DVP keine große Rolle mehr. 244 Nach dem Rücktritt des Kabinetts versuchte Ebert erneut, Mayer (BVP) zur Übernahme der Kanzlerschaft zu gewinnen. Dieser lehnte auch dieses Mal ab, wobei die Weigerung des Vorstandes der Zentrumsfraktion, den neuen Kanzler zu stellen oder auch nur zentrumsnahe Persönlichkeiten vorzuschlagen, 245 eine Rolle spielte. Daraufhin beauftragte der Reichspräsident Cuno mit der Kabinettsbildung. Dieser führte am 16. und 17. November Gespräche mit den Parteien, 246 die zunächst erfolglos verliefen. So gab Cuno am 18. November den Auftrag zur Regierungsbildung zurück und beschwerte sich brieflich beim Reichspräsidenten, "daß einzelne Parteien nicht nur Anregungen und Wünsche, sondern Anträge und Ansprüche vorbringen, die die Zahl der einer Partei zu entnehmenden Kabinettsmitglieder, deren Person, deren Ressort, ja sogar die Frage betreffen, ob ein Mitglied des bisherigen Kabinetts ein anderes Ressort übernehmen soll." 247 Ebert berief noch für den selben Abend eine Besprechung mit den Führern der Parteien von SPD bis DVP ein. Er wollte wissen, ob ein Kabinett Cuno, das sich in seiner Politik auf die deutsche Note vom 14. November 1922 248 festlegte, parlamentarische Unterstützung erhalten würde. Die bürgerlichen Parteien sagten eine solche Unterstützung zu, so daß Cuno erneut den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt. 249 In der Zentrumsfraktion kam es daraufhin am Morgen des 20. November zu einer eingehenden Diskussion über die Möglichkeit der raschesten Bildung eines Kabinetts der bürgerlichen Gruppen. Diskutiert wurde aber auch die Möglichkeit einer Reichstagsauflösung. 250 Die SPD lehnte am gleichen Tag mit großer Mehrheit die Beteiligung an einer Regierung Cuno ab. 251 Damit war klar, daß die neue Regierung allein auf eine Unterstützung der bürgerlichen Parteien DDP, Zentrum, BVP und DVP setzen konnte. So beschloß auch das Zentrum, da ein Kabinett Cuno nicht mehr zu
244
So auch H. A. Winkler, Revolution, S. 500, Fn. 225. Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 186, S. 410. 246 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 190, S. 413. 247 Vorwärts vom 19. November 1922, Nr. 548. 248 Die Parteien von SPD bis DVP hatten sich in intensiven Beratungen vom 24. Oktober bis 13. November auf ein gemeinsames Wirtschafts- und Währungsprogramm geeinigt. Auf dieser Grundlage unterbreitete die Reichsregierung am 14. November 1922 in einer Note den Plan zur Stabilisierung der Reichsmark mit Hilfe einer Auslandsanleihe, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 183, Fn. 2. 249 Vorwärts, Nr. 548 vom 19. November 1922. 250 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 191, S. 416. 251 Vorwärts, Nr. 550 vom 21. November 1922; die SPD, so F. Stampfer, Jahre, S. 309, konnte Cuno nicht geben, was sie Wirth verweigert hatte. 245
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verhindern war, 252 noch am Abend des 20. November die Regierungsbeteiligung. Bis zum Abend des folgenden Tages hatte Cuno ein bürgerliches Minderheitskabinett mit Ministern der DDP, DVP, BVP und des Zentrums sowie fünf Parteilosen gebildet, so daß Ebert am 22. November die neue Regierung ernennen konnte. Bereits die Kennzeichnungen der neuen Regierung als "Geschäftsministerium", "Kabinett der Köpfe", "Kabinett der Fachleute", "Kabinett der Arbeit" oder als "Kabinett der diskontfähigen Unterschriften" machen deutlich, daß hier keine parlamentarische Regierung ins Amt gekommen war. 253 Vielmehr stand die Regierungsbildung stark unter dem Einfluß des Reichspräsidenten. 254 Man kann sogar sagen, daß Cuno seine Berufung ausschließlich Ebert verdankte,255 der ihn bei einigen Begegnungen schätzen gelernt hatte und zusätzlich durch den Vorsitzenden der DDP-Fraktion und späteren Hamburger Bürgermeister Petersen (DDP) in seiner Entscheidung bestärkt worden war. 256 Gleichwohl war die Berufung einer solchen Regierung nur möglich auf Grund der geradezu mystischen Vorstellung 257 weiter Bevölkerungskreise von "der Wirtschaft". Anders als in den Politikern, die nach weit verbreiteter Ansicht nur miteinander stritten und nichts vorwärts brachten, sah man in den Wirtschaftsführern Nationalhelden, die die vom Ausland beklagte angebliche Blüte der deutschen Wirtschaft hervorgebracht hatten.258 Cuno, der noch nie ein Parlament von innen gesehen hatte, 259 vom Reichstag keine hohe Meinung besaß260 und den Parteienstreit verachtete, 261 entsprach als erfolgreicher Generaldirektor und damit als "Fachmann aus der Wirtschaft" in hohem Maße dieser Stimmung in der Bevölkerung. Auch das neue Kabinett, dem außer ihm
252
S. 417.
So jedenfalls Wirth in der Fraktionssitzung, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 192,
253 Vgl. die Übersicht über die die Regierungsbildung kommentierenden Pressestimmen bei Purlitz 1922, Bd. 2 (Inland), S. 173 f.; von einer gewissen Loslösung der Regierungsbildung vom Reichstag spricht auch Schiffer in der parlamentarischen Aussprache über die Regierungserklärung, Verh. Rt., Bd. 357, S. 9122. 254 A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 109. 255 K.-H. Harbeck, Kabinett Cuno, S. XX; von einer persönlichen Wahl Eberts spricht auch H.-J. Rupieper, Cuno, S. 231. 256 Sojedenfalls C. Severing, Lebensweg, Bd. 1, S. 377. 257 F. Stampfer, Jahre, S. 308. 258 F. Stampfer, Jahre, S. 309. 259 H. Schulze, Weimar, S. 248. 260 Dies zeigte sich auch daran, daß er während seiner Kanzlerschaft nur sehr selten bei Parlamentssitzungen anwesend war. 261 K.-H. Harbeck, Kabinett Cuno, S. XX.
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C. Die Staatspraxis
noch vier weitere parteilose Minister 262 angehörten, war Ausdruck seines Ideals einer "sachlichen", über den Parteien und nach Möglichkeit unabhängig von deren Einfluß angesiedelten Politik. 263 Es wies auch deshalb wie keine zweite Regierung der Weimarer Republik große Ähnlichkeit mit einem Beamtenkabinett der monarchischen Zeit auf. 264 Gleichzeitig war die nur vermeintlich überparteiliche Regierung Ausdruck eines deutlichen Rechtsruckes. 265 Wie gering die parlamentarische Verankerung der neuen Regierung war, zeigte sich bei deren Vorstellung im Reichstag. Das Parlament sprach dem neuen Kabinett nicht das Vertrauen aus und billigte auch nicht die Regierungserklärung. Vielmehr nahm der Reichstag die Erklärung der Regierung nur zur Kenntnis und billigte allein, daß die neue Regierung die Note der alten Regierung vom 13. November 1922 zur Grundlage ihrer Politik machen wollte. 266 Dieses Verhalten der im Parlament vertretenen Parteien, das bereits zum wiederholten Male praktiziert wurde, verbunden mit der starken Einflußnahme Eberts bei dieser Regierungsbildung, entzog dem parlamentarischen System den Boden 267 und machte einen Rückfall in den Obrigkeitsstaat 268 möglich. Das Kabinett Cuno als Regierung von Eberts Gnaden269 war damit das erste Präsidialkabinett der Weimarer Republik. 270
262 Außenminister wurde der Berufsdiplomat Rosenberg, Ernährungsminister der vorherige Oberbürgermeister von Essen, Luther, Verkehrsminister der frühere Generalquartiermeister Groener und Schatzminister der frühere Staatssekretär der Reichskanzlei Albert. 263 H. Schulze, Weimar, S. 248. 264 H. A. Winkler, Weimar, S. 185. 265 So notierte Graf Kessler, Tagebücher, S. 360, nach einem Frühstück bei Stresemann am 10. November 1922, auf dem von den Ministern der Reichsregierung mit größter Geringschätzung gesprochen worden war: "Alles in allem: man wittert in diesen Kreisen Morgenluft. Revolution, Sozialisierung, Linksregierung liegen wie böse Träume schon hinter ihnen. Wir segeln mit geschwellten Segeln nach rechts."; von dem rechtesten aller bisherigen Kabinette spricht auch H. A. Winkler, Weimar, S. 186. 266 Die Entschließung lautet im Wortlaut: "Der Reichstag nimmt Kenntnis von der Erklärung der Reichsregierung. Er billigt, daß die Regierung die Note vom 13. November zur Grundlage ihrer Politik machen will.". 267 H. A. Winkler, Revolution, S. 501. 268 H. A. Winkler, Weimar, S. 185. 269 H. Schulze, Weimar, S. 248. 270 H. A. Winkler, Weimar, S. 185.
V. Das Kabinett Stresemann
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V. Der sogenannte Vernunftrepublikaner: Gustav Stresemann 1. Das erste Kabinett Stresemann Wie wenig das "Kabinett der Fachleute" aus "der Wirtschaft" gerade von der Wirtschaftspolitik verstand, zeigte sich sehr bald nach seinem Amtsantritt. A u f Grund von Verstößen gegen den Versailler Vertrag 271 marschierten im Januar 1923 französische und belgische Truppen im Ruhrgebiet ein. Deutschland antwortete darauf nicht mit gewaltsamen Aktionen, sondern mit der Ausrufung des passiven Widerstands. Dieser passive Widerstand erreichte zunächst sein Ziel, indem er die Pläne der Besatzer durchkreuzte, deutsche Reparationen zu erzwingen. A u f längere Sicht mußte er jedoch die Reichsfinanzen ruinieren, da die Regierung nicht nur die Gehälter der Reichsbahnbediensteten, die von den Okkupanten auf Grund ihres Widerstands ausgewiesen worden waren, weiterzahlte, sondern auch Kredite in Billionenhöhe an die ebenfalls von den Besatzern stillgelegten Betriebe des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie vergab, damit diese die Löhne weiter zahlen konnten. A u f Grund dieser Zahlungen stieg die kurzfristige Verschuldung des Reiches von 840 Milliarden Mark im November 1922 auf 8,4 Billionen im April und 22 Billionen im Juni 1923.272 Hinzu trat eine galoppierende Inflation 273 und ein Verfall des Außenwertes der Mark. 274 Allein diese Zahlen machen deutlich, wie sehr das "Kabinett der Fachmänner" aus "der Wirtschaft" gerade auf dem Gebiet der Währungs- und Finanzpolitik versagte. 275 Hinzu kam ein Stillstand in der Außenpolitik: Denn trotz dieser alarmierenden wirtschafts- und währungspoli-
271
Die deutsche Regierung hatte Anfang Dezember 1922 eine Fristverlängerung für Holzlieferungen beantragt, die nach dem Versailler Vertrag bis Ende 1922 fällig waren. Die Reparationskommission hatte daraufhin eine schuldhafte Verfehlung Deutschlands bei der Lieferung von Holz gegen die Stimme des britischen Vertreters festgestellt. Anfang Januar stellte die Kommission außerdem eine absichtliche Verfehlung Deutschlands bei den Kohlelieferungen fest, nachdem Verhandlungen über ein Moratorium für die deutschen Reparationszahlungen gescheitert waren. 272 H. A. Winkler, Weimar, S. 193. 273 Bei den Großhandelspreisen stieg der Index, der 1913 eins betragen hatte im Januar 1923 auf 2785 und im Juli 1923 auf 74787, W. Michalka/G. Niedhart, Geschichte, Nr. 45, S. 80. 274 Der Außenwert der Mark, gemessen an einem Dollar, fiel von 17972,- Mark im Januar 1923 auf 353412,- Mark im Juli 1923, W. Michalka/G. Niedhart, Geschichte, Nr. 44, S. 80. 275 K.-D. Erdmann, M. Vogt, Kab. Stresemann, S. XXII.
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C. Die Staatspraxis
tischen Daten war Cuno nicht bereit, den Besatzungsmächten zumindest ein Zeichen von Verhandlungsbereitschaft zu geben. Die Folge war, daß das Kabinett, das zunächst von einer Welle der nationalen Empörung über die Besetzung des Ruhrgebietes getragen worden war, zunehmend unter Druck geriet. Aus dem "Fachmann" Cuno wurde im Urteil von Zeitgenossen ein unfähiger 276 Dilettant 277 , der den Eindruck hinterließ, jede Gelegenheit zu suchen, sein Amt niederzulegen 278. Bereits im April 1923 kam es zur ersten Rücktrittsforderung durch den Vorsitzenden des ADGB, Leipart, der eine Große Koalition unter Stresemann als Kanzler verlangte. 279 Wie eine Bombe 280 schlug dann am 27. Juli ein Artikel in dem Zentrumsblatt Germania ein, in dem insbesondere die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Regierung heftig kritisiert wurde. 281 Unter dem Eindruck dieser Kritik hielt Cuno am 8. August im Reichstag eine wenig überzeugende Rede,282 in der er einen Überblick über den bisherigen Verlauf des Ruhrkampfes gab. 283 Marx antwortete am nächsten Tag im Reichstag mit der Forderung nach einer Verbreiterung der Regierung. 284 Die Krise verschärfte sich noch einmal am 10. August, als durch einen Streik der Buchdrucker die Notenpresse stillgelegt wurde. In dieser Situation kam es am 11. August zu einer Besprechung Cunos mit den Fraktionsvorsitzenden der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft, in der Cuno den Eindruck gewann, daß der "Gedanke der Er-
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So Adenauer, R. Morsey, Zentrumspartei, S. 515, Fn. 32. F. Stampfer, Jahre, S. 345. 278 So Stresemann in einem Brief an Jänecke vom 1. August, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd 1, S. 75. 279 Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 817 f. 280 Stresemann in einem Brief an seinen Parteifreund Kemkes, Kab. Cuno, Nr. 233, Fn. 1. 281 "Die Regierung Cuno bedeutet eine einzige Enttäuschung. Der Regierung Wirth wurde vorgeworfen, sie hätte sich häufiger gewandelt und sich im Zickzackkurs bewegt, aber die Regierung Cuno bewegt sich überhaupt nicht mehr. Sie steht still.", Germania vom 27. Juli 1923, Kab. Cuno, Nr. 233, Fn. 1. 282 Innerhalb der Zentrumsfraktion wurde der Kanzler im Anschluß an seine Rede zum Teil sehr heftig kritisiert, so meinte Esser, Prot. Zentrum 1920-1925, S. 469, "wenn die Männer der Regierung keine Ahnung von den Zuständen haben, so muß die Partei eingreifen."; einen sehr deprimierenden Eindruck machte die Rede des Kanzlers auch auf Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 75. 283 Verh. Rt, Bd. 361, S. 11749 ff. 284 Verh. Rt, Bd. 361, S. 11771. 277
V. Das Kabinett Stresemann
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Setzung des Kabinetts durch eine Regierung der Großen Koalition" bei diesen Parteien Anklang gefunden habe.285 Aber nicht nur bei den bürgerlichen Parteien, sondern auch in der SPD wuchs der Wunsch nach einer Ablösung der Regierung. A m 10. August drängte Hilferding in einer Unterredung mit Stresemann auf eine Große Koalition. 286 A m Abend des 11. August kam es dann in der SPD-Fraktion zu einem Mißtrauensvotum gegen das Kabinett Cuno. 287 A u f Nachfrage bestätigte der SPD-Fraktionsvorsitzende Müller am folgenden Morgen dem Kanzler, daß dieser Beschluß seiner Fraktion nicht nur die Forderung nach Rücktritt des Kabinetts, sondern auch die Bereitwilligkeit der SPD zur Bildung einer Großen Koalition enthalte.288 Cuno entschloß sich nun zum Rücktritt, zumal auch die bürgerliche Presse an diesem Morgen offen seine Ablösung gefordert hatte. 289 Seinen Entschluß gab er am Mittag des 12. August in der Kabinettssitzung bekannt und wies der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft die Schuld für seinen Rücktritt zu. 290 Als Cuno im Anschluß an die Kabinettssitzung seinen Rücktrittsentschluß den Fraktionsvorsitzenden der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft mitteilte, waren diese sehr überrascht und fanden sich in eine unangenehme
285
So Cuno in seinem Bericht über diese Besprechung in der Kabinettssitzung vom 12. August, Kab. Cuno, Nr. 246, S. 733. 286 Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 77. 287 Der Beschluß lautete wie folgt: "Die Fraktion hält angesichts der schweren außenund innenpolitischen Situation eine vom Vertrauen der breiten Masse mitgetragene und unterstützte Regierung, die stärker ist als die gegenwärtige, für notwendig. Sie hat zur Regierung Cuno nicht das Vertrauen, diesen Voraussetzungen zu genügen.", Wortlaut der gesamten Erklärung in DuM, Bd. 7/2, Nr. 363, S. 403. 288 So Cuno am 12. August im Kabinett, Kab. Cuno, Nr. 246, S. 733. 289 So schrieb die DVP-nahe DAZ, Nr. 369 vom 12. August 1923, nachdem sie den Beschluß der SPD-Fraktion mitgeteilt hatte: "Hiermit ist offenbar das Schicksal des Kabinetts Cuno besiegelt. Zwar könnten alle bürgerlichen Parteien zusammen, die über die Mehrheit im Reichstag verfügen, die Regierung halten, aber die meisten von ihnen werden zweifellos nicht daran denken, und auch Dr. Cuno wird wohl mit Vergnügen sein Amt niederlegen, wenn jetzt die Große Koalition zustande kommt und ein neues Reichskabinett sich auch parlamentarisch fest auf die Mehrheit der Parteien und des Volkes stützen kann. ... Als deren Leiter dürfte nur Dr. Stresemann, der Führer der DVP, in Betracht kommen.", Kab. Cuno, Nr. 247, Fn. 1. 290 Cunos Entwurf für sein Demissionschreiben enthält folgenden, von der Endfassung abweichenden Passus: "Auch der gestrige Fraktionsbeschluß der SPD würde mich nicht beeinflußt haben; denn er weicht in den wesentlichsten Punkten von dem gegenwärtigen Regierungsprogramm nicht ab und würde mir die parlamentarische Möglichkeit zur Fortführung der Geschäfte nicht genommen haben. Die Arbeitsgemeinschaft der bürgerlichen Parteien hat mir jedoch mitgeteilt, sie glaube, daß der entschlossene Wille der Nation zur Selbstbehauptung durch eine auf der Koalition der großen Parteien des Reichstages beruhende Regierung besser vertreten und zum Ausdruck gebracht werde.", Kab. Cuno, Nr. 246, S. 736 f., Fn. 11.
108
C. Die Staatspraxis
Lage gebracht. 291 Sie erinnerten Cuno an die Vereinbarung vom Vortage, wonach das Kabinett erst dann zurücktreten solle, wenn eine Große Koalition gebildet worden sei. 292 Erschüttert zeigte sich Stresemann über Cunos Rücktrittsbegründung. 293 Er wollte unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, als haben die bürgerlichen Parteien die Demission des Kabinetts bewirkt. An einem Kabinett, so der DVP-Fraktionsvorsitzende, das die Regierung Cuno gestürzt habe, könne sich seine Partei nicht beteiligen. Vielmehr müsse in Cunos Demissionsschreiben deutlich werden, daß in der Erklärung der SPD der Grund für den Rücktritt liege. 294 Stresemann ging sogar so weit, seinem Vorgänger diese entscheidende Passage des Rücktrittsgesuchs zu diktieren, 295 um ihn anschließend zu ersuchen (!), das Schreiben bis 18 Uhr zurückzuhalten, 296 um Zeit für die Verhandlungen mit der SPD zu gewinnen. Die Koalitionsverhandlungen mit der SPD verliefen so erfolgreich, daß Marx noch am selben Abend in einer weiteren Besprechung Cunos mit den Fraktionsvorsitzenden der bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft feststellen konnte, daß unübersteigliche Hindernisse zur Bildung einer Regierung auf der Grundlage der Großen Koalition nicht vorhanden seien.297 Es schloß sich erneut eine lebhafte Diskussion um das Demissionsschreiben an, in der Cuno ein letztes Mal und erneut vergeblich versuchte, seine Auffassung über den Grund seines Rücktritts in seinem Rücktrittsgesuch zum Ausdruck zu bringen. Aber noch nicht einmal der leiseste Hinweis 298 im Demissionsschreiben auf ein Mitwirken der bürgerlichen Parteien an seinem Sturz wurde von den Vertretern dieser Parteien zugelassen.299
291
So Marx in dieser Besprechung, Kab. Cuno, Nr. 247, S. 740. So Marx, der von einem Bestreben zu retardieren sprach, Kab. Cuno, Nr. 247, S. 742 und Koch, wonach man sich auf die Vermeidung eines Zwischenzustandes geeinigt habe, Kab. Cuno, Nr. 247, S. 741. 293 Stresemann, Kab. Cuno, Nr. 247, S. 740. 294 Stresemann, Kab. Cuno, Nr. 247, S. 742. 295 Stresemann und Cuno, Kab. Cuno, Nr. 247, 742. 296 Stresemann, Kab. Cuno, Nr. 247, S. 743. 297 Marx, Kab. Cuno, Nr. 248, S. 743. 298 So erwiderte Cuno auf eine Bemerkung von Koch, der einen Hinweis im Demissionsschreiben darauf empfahl, daß der Wunsch zur Bildung einer Großen Koalition schon seit langer Zeit die Öffentlichkeit und die Parteien beherrscht habe: "Wenn ich so sagen würde, sähe es aus, als ob ich seit acht Monaten nur darauf warte, bis sich die Koalition bildet. Es wird mindestens gesagt werden müssen, daß ich die Überzeugung gewann, daß in den Parteien der Arbeitsgemeinschaft eine Regierung der Großen Koalition als parlamentarisch stärkerer Ausdruck des Widerstandswillens erwünscht sei.", Cuno, Kab. Cuno, Nr. 248, S. 745. 299 Die umstrittene Passage in der Endfassung des Demissionsschreibens lautete wie folgt: "Aus der Entwicklung der letzten Tage habe ich die Überzeugung gewonnen, daß nach einer in weiten Kreisen der berufenen Vertretung des Volkes vorherrschenden Ansicht der entschlossene Wille zur Selbstbehauptung noch stärker und noch nach292
V. Das Kabinett Stresemann
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Cuno, am Ende seiner Kraft, 300 begab sich im Anschluß an diese Sitzung zum Reichspräsidenten und teilte ihm seinen Rücktritt mit. 301 Der Nachfolger stand schon bereit, er lag förmlich in der Luft 3 0 2 : Gustav Stresemann. Noch am Abend der Demission des Kabinetts Cuno beauftragte Ebert den linken Flügelmann der DVP 3 0 3 mit der Regierungsbildung, obwohl der Reichspräsident Stresemann wenig Sympathien entgegenbrachte. 304 Die Regierung selbst wurde maßgeblich durch interfraktionelle und zwischenparteiliche Übereinkünfte gebildet. 305 So verlangte die SPD neben der Ablösung des Reichswehrministers Geßler - der Grund war die Verbindung der Reichswehr zu illegalen Organisationen, die der Minister zumindest duldete, - die Ministerien Inneres, Finanzen, Arbeit und Justiz. Außerdem sollte dem preußischen Ministerpräsidenten Braun in einer Doppelfunktion das Vizekanzleramt übertragen werden. 306 Stresemann hatte sich jedoch bereits am 10. August in der DVP-Fraktion für das Verbleiben Geßlers im Amt ausgesprochen, "es sei denn, daß eine Persönlichkeit wie Noske an seine Stelle trete." 307 Man einigte sich dahin, daß die SPD anstelle von einem bis zwei 308 vier Minister, darunter mit Wilhelm Sollmann den Innenminister, stellen sollte. Im Gegenzug verzichtete die SPD auf eine Ablösung Geßlers und auf Braun als Vizekanzler 309 . Die Beteiligung an einer Regierung der Großen Koalition war innerhalb der SPD jedoch nicht unumstritten. Bereits am 29. Juli 1923 hatte sich die Parteilinke unter der Führung von Paul Levi gegen eine Große Koalition ausgesprochen drücklicher durch eine Regierung verkörpert würde, die von einer Koalition großer Parteien gebildet und damit von einer starken festen Mehrheit des Reichstages getragen ist.", Kab. Cuno, Nr. 248, S. 745, Fn. 5. 300 So schreibt O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 250, daß Cuno beim Abgang völlig zermürbt gewesen sei: "Cuno stand vor einem nervösen Zusammenbruch. Einige Tage zuvor kam er zu mir in die Bendlerstraße und sagte: 'Lassen Sie mich hier ein paar Stunden still sitzen, ich habe das Gefühl, über mir stürze das Haus ein.'" 301 Kab. Cuno, Nr. 248, S. 745. 302 So v. Seeckt in einem Brief an seine Schwester vom 19. August 1923, Kab. Cuno Nr. 246, Fn. 12; nach O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 250, hatte Stresemann diese Stunde heiß ersehnt. 303 So F. Stampfer, Jahre, S. 341; vgl. auch die differenzierte Charakterisierung Stresemanns von W. v. Sternburg, Stresemann, bes. S. 255 ff.; einer Legendenbildung entgegenwirkend auch A. Thimme, Stresemann und W. Rüge, Stresemann; vgl. auch K. Koßzyk, Stresemann. 304 Viscount d'Abernon, Botschafter, Bd. 2, S. 319. 305 So auch der Eindruck von A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 114306 H. Schulze, Otto Braun, S. 433. 307 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 78. 308 So noch die brieflich geäußerte Vorstellung von Stresemann am 1. August, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 75. 309 H. Schulze, Otto Braun, S. 434.
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C. Die Staatspraxis
und statt dessen ein möglichstes Zusammenarbeiten mit den Kommunisten gefordert. 310 Eine solche rein sozialistische Arbeiterregierung oder ein Minderheitskabinett Wirth war neben der Möglichkeit einer Großen Koalition zumindest denkbar. 311 In der entscheidenden Fraktionssitzung am 13. August gelang es jedoch Severing, der als preußischer Innenminister Mitglied einer von einer Großen Koalition getragenen Regierung war, die Mehrheit der Fraktion zu überzeugen. Mit 83 : 39 sprach sie sich für eine Beteiligung an der Großen Koalition aus.312 Diskussionen gab es auch um die Besetzung des Postministeriums. Das Zentrum, dem dieses Ministerium zugesprochen war, wollte Giesberts benennen. Stresemann lehnte diesen Personalvorschlag jedoch mit dem Wunsch nach einer Besetzung dieses Ministeriums durch einen Süddeutschen ab. 313 Wahrscheinlich spielten für die Ablehnung aber neben diesem offen genannten regionalen Gesichtspunkt auch andere Gründe eine Rolle. 314 Vermutlich befürchtete Stresemann eine zu große Linksorientierung seines Kabinetts. 315 Für diese Annahme spricht eine Bemerkung des dem rechten Flügel seiner Partei angehörenden Stegerwald in der Zentrumsfraktion, wonach eine Kandidatur Giesberts aus politischen Gründen abzulehnen sei. 316 Daß auch die Zentrumsfraktion insgesamt hinter der Ablehnung Giesberts, der bereits über dreieinhalb Jahre das Postministerium geleitet hatte, nicht nur Gründe des Regionalproporzes vermutete, zeigt deren Verlangen, von Stresemann die Beweggründe für seine ablehnende Haltung zu erfahren. 317 Im Zentrum akzeptierte man schließlich die Ablehnung des Kanzlers und einigte sich mit ihm auf Höfle 318 als neuen Postminister. Mit Ausnahme der Einigimg über die Besetzung des Postministeriums wurden die Parteiabsprachen zur Bildung der neuen Regierung innerhalb weniger
310 "Unter vollster Wahrung unserer Anschauungen, Ziele und Selbständigkeit möglichstes Zusammengehen mit den Kommunisten zur Erreichung der nächsten proletarischen Ziele.", so die Forderung der Parteilinken, DuM, Bd. 7/2, Nr. 355, S. 377. 311 So auch die Einschätzung von Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 78. 312 A. Kastning, Sozialdemokratie, S. 115. 313 Stresemann, Kab. Stresemann, Nr. 1, S. 1 f.; Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 252, S. 472. 314 So R. Morsey/K. Ruppert, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 252, Fn. 1. 315 In diese Richtung spekulierend auch G. Arns, Regierungsbildung, S. 158. 316 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 252, S. 473. 317 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 253, S. 473. 318 Höfle war Zentrumsabgeordneter und Direktor des Gesamtverbandes der Deutschen Staatsbeamten- und Staatsangestelltengewerkschaften.
V. Das Kabinett Stresemann
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Stunden getroffen, so daß der Reichspräsident das Kabinett Stresemann noch am Abend des 13. August 1923 ernennen konnte. Die neue Regierung stellte sich am folgenden Tag dem Reichstag, der ihr das Vertrauen aussprach. 319 Allerdings war die Zustimmung in den Regierungsfraktionen nicht ungeteilt. So sprach im Reichstag für die SPD neben Müller 3 2 0 auch Breitscheid als Gegner der Großen Koalition und brachte die Bedenken der Minderheit der Fraktion zum Ausdruck. 321 Außerdem blieben 43 Abgeordnete der SPD der Vertrauensabstimmung fern und erklärten sich als Gegner der Großen Koalition. Sie forderten den Kampf gegen die Bourgeoisie anstatt eines Bundes mit dem Großkapital. 322 Aber nicht nur in der SPD, sondern auch in der DVP gab es Kräfte, die der neuen Regierung offen die Gefolgschaft versagten. So verließ etwa ein Drittel der Abgeordneten des rechten Flügels der DVP vor der namentlichen Abstimmung demonstrativ den Plenarsaal, um mit ihrem Verhalten ihre Unzufriedenheit mit der personellen Zusammensetzung des Kabinetts zum Ausdruck zu bringen. 323 Auf den ersten Blick erscheint das Kabinett Stresemann als eine parlamentarische Regierung. Das neue Kabinett konnte sich nicht nur auf eine breite Mehrheit im Reichstag stützen, sondern ihm wurde im Unterschied zu seinen unmittelbaren Vorgängern ausdrücklich vom Parlament das Vertrauen ausgesprochen. Außerdem hatte sich der Reichspräsident bei der Regierungsbildung im Hintergrund gehalten und stand darüber hinaus dem neuen Kanzler sehr reserviert gegenüber. 324 Schließlich war das Kabinett Stresemann maßgeblich durch die Absprachen der an der Regierung beteiligten Parteien zustande gekommen. Dennoch unterschied sich das neue Kabinett von den parlamentarischen Regierungen zu Beginn der Weimarer Republik. Mit Stresemann stand der neuen Regierung ein Kanzler vor, der das von der Verfassung verankerte parlamentarische Regierungssystem ablehnte. Dies folgt nicht allein aus seiner Mitgliedschaft in der DVP, also einer Partei, die in den Beratungen der Nationalversammlung der Verankerung des parlamentarischen Regierungssystems bekämpft hatte, sondern auch aus seinen Äußerungen im Reichstag, mit der er
3,9
239 Abgeordnete der Regierungsfraktionen stimmten mit Ja, 76 Abgeordnete der DVFP, der DNVP und der KPD mit Nein und 25 Abgeordnete der BVP, BBB und DHP enthielten sich der Stimme, Verh. Rt., Bd. 361, S. 11858 f. u. 11871 ff.; das Vertrauensvotum lautete im Wortlaut: " Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung und spricht ihr das Vertrauen aus.", Verh. Rt., Bd. 361, S. 11843. 320 Verh. Rt., Bd. 361, S. 11842 f. 321 Verh. Rt., Bd. 361, S. 1 1855 ff. 322 Schultheß 1923, S. 153. 323 Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 90. 324 Viscount d'Abernon, Botschafter, Bd. 2, S. 319.
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C. Die Staatspraxis
die Übernahme der Kanzlerschaft vorbereitete. So hatte Stresemann am 9. August 1923 im Reichstag nach einer "starken Persönlichkeit" gerufen, dessen das Reich an seiner Spitze bedürfe und für eine recht verstandene Diktatur durch eine Erweiterung der Vollmachten für die Regierung geworben. 325 Dies bedeutete eine Abkehr von dem zumindest zu Beginn der Weimarer Republik praktizierten parlamentarischen System, das das Parlament und die über die Parteien im Parlament wirksam werdenden gesellschaftlichen Interessen gestärkt und dadurch notwendig den Einfluß der Regierung geschwächt hatte. 326 Auch in seiner Regierungserklärung vom 14. August 1923 bezeichnete Stresemann seine Koalition nur als den Zusammenschluß aller den verfassungsmäßigen Staatsgedanken bejahenden Kräfte. 327 Mit dieser Formulierung verzichtete er bewußt auf ein ausdrückliches Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie oder gar zur Republik. 328 2. Das zweite Kabinett Stresemann Stresemann hatte schon seit langem eine Große Koalition angestrebt. Sein Ziel war es, den seiner Auffassung nach gemäßigten, staatstragenden Flügel der SPD durch die Bildung einer solchen Koalition von den Radikalen zu trennen. 329 Der rechte Flügel der DVP um Stinnes verfolgte ein anderes Ziel. Da klar war, daß der die Staatsfinanzen ruinierende passive Widerstand abgebrochen werden mußte, hatte für ihn die Große Koalition nur die Aufgabe, die SPD die Verantwortung für diesen unpopulären Schritt mitübernehmen zu lassen.330 Nachdem der Abbruch des passiven Widerstands am 7. September 1923 im Kabinett beschlossen worden war, 331 hatte deshalb die Große Koalition für den rechten Flügel der DVP, der ohnehin nur widerstrebend eine Koalition mit der SPD eingegangen war, ihre Aufgabe erfüllt. Das Streben dieses Flügels der Volkspartei richtete sich nun darauf, die Große Koalition möglichst schnell
325
Verh. Rt, Bd. 361, S. 11776; Stresemann dachte daran, die Stellung der Reichsregierung zu Lasten der Befugnisse des Parlaments und der Länder sowie der Unabhängigkeit der Reichsbank zu stärken. 326 So zu Recht E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 331, der allerdings hinzufugt, daß dadurch die Regierbarkeit des Staates gefährdet worden sei. 327 Verh. Rt, Bd. 361, S. 11839. 328 So auch der Eindruck von R. Morsey, Zentrumspartei, S. 518. 329 So Stresemann am 10. August 1923 vor der DVP-Fraktion, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 78. 330 P. Wulf, Stinnes, S. 443 f.; H. A. Winkler, Weimar, S. 205 f. 331 Kab. Stresemann, Nr. 47, S. 204 ff.
V. Das Kabinett Stresemann
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zu beenden. Zu diesem Zweck wurde im September eine Intrige verabredet, 332 die "die Parteigeschichte des deutschen Parlaments wohl noch nicht gesehen" hat. 333 Ziel dieser Intrige war zumindest334 die Sprengung der Großen Koalition mit der damit verbundenen Zurückdrängung des Einflusses der SPD und die Einsetzung eines Rechtskabinetts unter Einschluß der DNVP. 3 3 5 Gleichzeitig sollte die Verantwortung für das Scheitern der Koalition der SPD zugeschoben werden. 336 Nachdem am 26. September 1923 das Ende des passiven Widerstands gemeinsam von Reichspräsident und Reichsregierung verkündet worden war, 337 setzte schlagartig eine zügellose Hetze der rechtsstehenden Organisationen und ihrer Presse gegen das Kabinett Stresemann ein. 338 Dabei wurde nicht nur die Politik der Regierung heftig kritisiert, sondern auch Gerüchte vom unmittelbar bevorstehenden Bruch der Koalition verbreitet. Nach dieser publizistischen Vorarbeit stellte am 2. Oktober der Nachfolger Stresemanns im Fraktionsvorsitz der DVP, Scholz, in einer Besprechung des Kabinetts mit den Vorsitzenden der Regierungsfraktionen Forderungen an die Koalitionspartner, von denen er wußte, daß sie für die SPD unannehmbar waren: die Aufnahme der DNVP in die Koalition, 339 die Abschaffung des gesetzlichen Achtstundentages340 und die Entlassung der neben Stresemann exponiertesten Verfechter der Großen Koali-
332 S. hierzu die ausführliche Darstellung dieser Verabredungen von G. Arns, Staat 8 (1969), S. 181 ff.; dort auch zahlreiche Quellennachweise. 333 So die Kennzeichnung von Stresemann in einem Brief an seinen Fraktionskollegen Gildemeister am 10. Dezember 1923, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 233. 334 Noch weitergehend G. Arns, Staat 8 (1969), S. 181 ff., der zudem die Verabredung der Zerstörung der parlamentarischen Demokratie durch die Errichtung einer "nationalen Diktatur" mit General v. Seeckt an der Spitze behauptet. Die geplante Errichtung einer solchen Diktatur durch den rechten Flügel der DVP und noch weiter rechtsstehender Kreise kann nicht mit absoluter Gewißheit angenommen werden, da eine unmittelbare Begegnung zwischen v. Seeckt und Stinnes aus den Quellen nicht nachzuweisen ist. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang jedoch die ebenfalls im September 1923 von v. Seeckt handschriftlich verfaßte Regierungserklärung und sein Regierungsprogramm, beide abgedruckt in: Kab. Stresemann, Anhang 2 und 3, S. 1203 ff. 335 So auch A. Rosenberg, Geschichte, S. 144. 336 S. hierzu die ausführliche Darstellung von G. Arns, Staat 8 (1969), S. 181 ff. 337 Text bei E. R. Huber, Dok., Bd. 4, Nr. 263, S. 315 f.; zur Haltung Stresemanns in der Frage der Beendigung des passiven Widerstands s. A. Thimme, Stresemann, S. 5255. 338 G. Arns, Staat 8 (1969), S. 210; dort auch einige Beispiele für die Pressekampagne. 339 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 439. 340 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 438. 8 Hoppe
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C. Die Staatspraxis
tion, Hilferding und v. Räumer. 341 Der SPD-Fraktionsvorsitzende Müller machte sofort deutlich, daß sowohl für die Ausweitung der Koalition nach rechts 342 als auch für die Abschaffung des Achtstundentages durch Regierungsakt nach einer entsprechenden Ermächtigung durch das Parlament 343 eine Zustimmung der SPD ausgeschlossen sei. Möglich und auch nötig 344 sei allein eine Ermächtigung der Regierung durch das Parlament auf finanz- und währungspolitischem Gebiet. 345 Durch diese erwartete 346 und erhoffte Weigerung der SPD konnte nunmehr der SPD die Verantwortung für ein Scheitern der Großen Koalition angelastet werden. 347 Stresemann, von den Forderungen seiner eigenen Fraktion völlig überrascht, sah keine Möglichkeit des Ausgleiches mehr. Er verzichtete, trotz gegenteiliger Auffassung einiger seiner Minister, auf die für diesen Tag geplante Regierungserklärung vor dem Reichstag und bat die Regierungsfraktionen, die strittigen Fragen zu beraten. 348 In der sich anschließenden Fraktionssitzung der DVP erreichte Stresemann die Rücknahme der Forderung seiner Fraktion nach Aufnahme der DNVP in die Regierung. 349 Unter dem maßgeblichen Einfluß von Stinnes bestand die Fraktion jedoch weiterhin auf der Abschaffung des Achtstundentages.350 Gefordert wurde außerdem der Rücktritt ihres Wirtschaftsministers von Raumer, 351 der daraufhin seine Demission einreichte. 352
341 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 439; G. Stresemann, Vermächtnis Bd. 1, S. 140 u. 141; auch ten Hompel sah in diesen Forderungen der Volkspartei den Auslöser für die Regierungskrise, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 259, Fn b. 342 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 442. 343 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 442 u. 444. 344 So Müller zu Beginn der Sitzung auf die Forderung Stresemanns nach einem Ermächtigungsgesetz, Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 437. 345 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 444. 346 An der Forderung von Stinnes, den Achtstundentag abzuschaffen, war bereits die Bildung einer Großen Koalition nach dem Rücktritt von Wirth gescheitert, s. o. S. 129 f. 347 So auch heute noch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 358 f.; s. auch die Bemerkung von Stegerwald in der Fraktionssitzung des Zentrums vom 3. Oktober, wonach eine positive Politik mit der SPD undurchführbar sei, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 259, S. 485. 348 Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 444. 349 Vossische Zeitung, Nr. 467 vom 3. Oktober 1923, zit. nach G. Arns, Staat 8 (1969), S. 189. 350 So Stinnes selbst in der DAZ Nr. 467 vom 9. Oktober 1923, zit. nach G. Arns, Staat 8 (1969), S. 189. 351 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 140. 352 Das Rücktrittsgesuch ist abgedruckt in: Kab. Stresemann, Nr. 101, S. 446.
V. Das Kabinett Stresemann
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Die SPD lehnte es jedoch ab, sich in der Frage der Arbeitszeit zu bewegen. Insbesondere sollte sich das beabsichtigte Ermächtigungsgesetz, so Müller in einer weiteren Besprechung der Fraktionsvorsitzenden am Abend des selben Tages, auf die Finanz- und Währungspolitik beschränken. 353 Da auch diese Koalitionsverhandlungen keinen Kompromiß brachten, versuchte das Kabinett noch einmal am späten Abend des 2. Oktober, zu einer Einigung zu gelangen. Hilferding beschuldigte zunächst die DVP, mit ihren Forderungen an die SPD die Regierungskrise ausgelöst zu haben und äußerte den Verdacht, daß mit diesem Vorstoß der Volkspartei die SPD aus dem Kabinett herausgedrängt werden sollte. 354 Gleichzeitig bot der Finanzminister einen Kompromiß in der Arbeitszeitfrage auf der Grundlage der deutschen Note vom 14. November 1922 an die Reparationskommission an, in der von einem Achtstundentag als Normalarbeitstag unter Zulassung gesetzlich begrenzter Ausnahmen ausgegangen worden war. 355 Arbeitsminister Brauns stellte seine Formulierung vom sanitären Maximalarbeitstag vor, 356 mit der eine Verlängerung der Arbeitszeit auf das für die Arbeiter gesundheitlich tragbare ermöglicht werden sollte. Nach längerer Diskussion einigte sich das Kabinett auf den Vorschlag Brauns 357 und auf ein Ermächtigungsgesetz, das sich auch auf die Wirtschafts- und Sozialpo-
353
Kab. Stresemann, Nr. 100, S. 445. Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 448. 355 Die Formulierung aus der Note, auf die sich Hilferding bezog, lautete: "Deutschland wird alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen ergreifen, um insbesondere durch Erhöhung des Wirkungsgrades der Arbeit zu einer Steigerung der Produktion und damit zu einem Ausgleich der Handelsbilanz zu gelangen. - Zu diesem Zweck wird insbesondere eine Neuregelung des Arbeitszeitrechts unter Festhaltung des Achtstundentages als Normalarbeitstag und unter Zulassung gesetzlich begrenzter Ausnahmen auf tariflichem oder behördlichem Wege zur Behebung der Notlage der deutschen Wirtschaft in die Wege geleitet, alle Maßnahmen zur Heranbildung von Qualitätsarbeit gefördert, Luxusverbrauch und Luxuseinfuhr gehemmt und der Alkoholverbrauch beschränkt werden.", Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 448, Fn. 9. 356 Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 450. 357 Die Formel, auf die sich das Kabinett einigte, lautete wie folgt: "Die äußere Not unseres Volkes im schwersten Ringen um seine wirtschaftliche und politische Existenz zwingt uns, vorläufig in der Urproduktion die Arbeitszeit auf das Maß zu erhöhen, das gesundheitlich tragbar erscheint. Insbesondere ist im Bergbau unter Tage eine Arbeitszeit von 8 Stunden einschließlich Ein- und Ausfahrt unentbehrlich. Analog muß auch in der Industrie, insbesondere zur Ausnutzung inländischer Exportkonjunkturen und zur vermehrten Ausnutzung inländischer Rohstoffe die Möglichkeit zur Überschreitung der achtstündigen Arbeitszeit gegeben werden. Für die Öffentliche Verwaltung müssen ähnliche Grundsätze sinngemäß angewendet werden. Dabei ist selbstverständlich für schwere und gesundheitsgefährliche Betriebe der Achtstundentag beizubehalten.", Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 451. 354
8'
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C. Die Staatspraxis
litik erstreckte. 358 Die sozialdemokratischen Minister hatten sich damit mit ihren Forderungen nicht durchsetzen können. Die Fraktionssitzung der SPD am nächsten Morgen zeigte dann auch, daß die sozialdemokratischen Minister ihren bürgerlichen Kabinettskollegen zu weit entgegengekommen waren. Die Fraktion beharrte darauf, daß das Ermächtigungsgesetz sich nicht auf die Sozialpolitik erstrecken sollte. Auch in der Frage der Arbeitszeit war man nur zu einem Kompromiß auf der Grundlage der deutschen Note vom 14. November bereit. 359 Die DDP schlug nun vor, das Ermächtigungsgesetz nicht auf die Regelung der Arbeitszeit zu erstrecken und dadurch der Regierung in dieser Frage freie Hand zu geben, sondern die Arbeitszeit in einem eigenen Arbeitszeitgesetz zu regeln. 360 Die SPD war bereit, auf diesen Kompromiß einzugehen.361 Sie sah auf Grund ihrer relativen Mehrheit im Reichstag362 größere Einflußmöglichkeiten in einem Gesetzgebungsverfahren zu einem Arbeitszeitgesetz als in einer Regelung durch Verordnung einer Regierung, in der sie nur vier von zwölf Ministern stellte. Die größeren Einflußmöglichkeiten der SPD in einem Gesetzgebungsverfahren sahen aber auch die bürgerlichen Koalitionspartner. Sie hielten es für untragbar, daß die SPD im Reichstag in dieser Frage eigene Anträge stellen und dadurch eigene Wege gehen könne. 363 Außerdem machten sowohl Stresemann 364 als auch der der DVP nahestehende Ernährungsminister Luther 365 deutlich, daß die Volkspartei ein Herausbrechen der Arbeitszeitfrage aus dem Ermächtigungsgesetz nicht akzeptieren würde. So blieb dem Kabinett trotz der Kompromißbereitschaft der SPD keine andere Wahl, als die endgültige Entscheidung über die Forderungen der DVP nach Abschaffung des Achtstundentages durch Regierungsverordnung und die Entlassung des sozialdemokratischen Finanzministers
358 § 1 des Gesetzentwurfs lautete: "Die Reichsregierung kann die Maßnahmen anordnen, welche sie auf finanziellem und wirtschaftlichem Gebiet für notwendig und dringend erachtet. Die Verordnungen sind dem Reichstag unverzüglich zur Kenntnis zu bringen.". Stresemann stellte dazu fest, daß unter den wirtschaftlichen Maßnahmen auch soziale Maßnahmen zu verstehen seien, Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 452. 359 Kab. Stresemann, Nr. 104, S. 454. 360 Kab. Stresemann, Nr. 105, S. 455. 361 So ihre Minister Schmidt, Hilferding und Sollmann in der Kabinettssitzung vom 3. Oktober, 18.30 Uhr, Kab. Stresemann, Nr. 105, S. 456. 362 Die SPD verfugte nach der Vereinigung mit der USPD über 167 der 459 Abgeordneten des Reichstages, DDP, Zentrum und DVP über zusammen 173 Abgeordnete. 363 So Brauns im Kabinett, Kab. Stresemann, Nr. 105, S. 457. 364 Kab. Stresemann, Nr. 105, S. 456, S. 457 und S. 458. 3 Kab. Stresemann, Nr. , S. 4 .
V. Das Kabinett Stresemann
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und damit über das Schicksal des Kabinetts den Regierungsfraktionen zu überlassen.366 Die SPD-Fraktion lehnte es noch am Abend des 3. Oktober mehrheitlich ab, die Regierung auch zur Regelung sozialpolitischer Fragen zu ermächtigen. 367 Sowohl in der Bayernfrage 368 als auch in der Ermächtigung der Regierung in finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen habe die SPD Entgegenkommen gezeigt. Der Achtstundentag, so Vizekanzler Schmidt, sei aber das Einzige, was der Arbeiterschaft noch geblieben sei. 369 Nachdem auch Stresemann deutlich machte, daß seine Fraktion in der Arbeitszeitfrage zu einem Kompromiß nicht bereit sei, 370 blieb dem Kabinett nur noch die Möglichkeit, die Demission zu beschließen.371 Stresemann überbrachte dem Reichspräsidenten im Anschluß an die nächtliche Kabinettssitzung das Rücktrittsgesuch der Regierung und wurde von diesem erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. 372 Der erste Teil der Intrige, die Sprengimg der Großen Koalition, war damit erfolgreich durchgeführt. Auch der zweite Teil, die Bildung eines Kabinetts unter Ausschluß der SPD, schien zunächst zu gelingen. Stresemann verhandelte
366
Kab. Stresemann, Nr. 105, S. 458. So Hilferding in der Kabinettssitzung am späten Abend des 3. Oktober, Kab. Stresemann, Nr. 106, S. 459. 368 Bayern hatte unmittelbar nach dem Abbruch des passiven Widerstandes an der Ruhr den Ausnahmezustand verhängt und den rechtsradikalen Gustav Ritter von Kahr die vollziehende Gewalt in Bayern übertragen. Die Reichsregierung hatte noch in der Nacht zum 27. September mit einer Notverordnung des Reichspräsidenten geantwortet, die den Ausnahmezustand über das ganze Reich verhängte. Daraufhin hätte Bayern auf Verlangen des Reiches seine Maßnahmen aufheben müssen. Die sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts wollten auch in diesem Sinne bei der bayerischen Regierung intervenieren. Stresemann und die bürgerlichen Minister des Kabinetts lehnten ein solches Vorgehen jedoch ab, da sie davon ausgingen, daß sich Bayern einem solchen Verlangen der Reichsregierung nicht fügen würde, s. hierzu die Diskussionen im Kabinett am 27. September 1923, Kab. Stresemann, Nr. 83, S. 380 ff. Am 30. September gaben die sozialdemokratischen Minister im Kabinett nach. Zunächst einigten sich Stresemann, Geßler und Sollmann auf einen sehr zurückhaltenden Briefentwurf an die bayerische Regierung, in dem die Reichsregierung zum Ausdruck brachte, daß sie Wert darauf legte, daß "die Maßnahmen des Generalstaatskommissars auf dem Gebiet der Zivilverwaltung nach allen Seiten gleichmäßig getroffen" werden, zu den Diskussionen im Kabinett an diesem Tag, Kab. Stresemann, Nr. 95, S. 410 ff, dort, Fn. 6, auch der Briefentwurf. Das Kabinett beschloß jedoch, diesen Brief nicht abzusenden, Kab. Stresemann, Nr. 94, S. 415. 369 So Schmidt im Kabinett am späten Abend des 3. Oktober, das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion erläuternd, Kab. Stresemann, Nr. 106, S. 460. 370 Kab. Stresemann, Nr. 106, S. 460. 371 Kab. Stresemann, Nr. 106, S. 462. 372 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 141. 367
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C. Die Staatspraxis
am 4. Oktober mit den Wirtschaftsführern Rabethge, Schacht und Minoux über deren Eintritt in ein sogenanntes Fachkabinett.373 Allerdings gab es bereits am Tag nach dem Rücktritt der Regierung innerhalb des Zentrums und der DDP eine starke Strömung für die Wiederherstellung der Großen Koalition. 374 Auch die SPD machte Stresemann deutlich, daß er ohne eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten weder ein Vertrauensvotum für ein Rechtskabinett noch die Zustimmung zu einem Ermächtigungsgesetz von der SPD-Fraktion erhalten könne. 375 Den Ausschlag für das Scheitern der Bildung eines sogenannten Fachkabinetts gab dann eine öffentliche Erklärung der DNVP-Fraktion am Abend des 4. Oktober, die in rüder Form die eigene Regierungsbeteiligung forderte 376 und deutlich machte, daß sie Stresemann als Kanzler ablehne.377 Dies führte nicht nur zu einem Stimmungsumschwung in der DVP-Fraktion zu Gunsten einer Zusammenarbeit mit der SPD, 378 sondern auch zu einem Sinneswandel bei Stresemann noch am Abend des 4. Oktober, der nun wieder die Erneuerung der Großen Koalition betrieb 379 und am 5. Oktober zunächst mit Ebert und Müller verhandelte. 380 Die Verhandlungen der Parteien wurden durch
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G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 145; s. auch die Mitteilung von Höfle in der Zentrumsfraktion vom 4. Oktober, daß Stresemann über die Parteien hinweg ein Kabinett bilden wolle, Nachl. Feilmayr, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 260, S. 486. 374 So Müller am 4. Oktober vor der SPD-Fraktion, Kab. Stresemann, Nr. 113, Fn. 1. 375 Müller in seinem Bericht über ein am 4. Oktober mit Stresemann geführtes Gespräch in der SPD-Fraktion, Kab. Stresemann, Nr. 113, Fn. 1. 376 "Wie lange noch? Die Losung des Tages heißt: Das Steuer muß nach rechts geworfen werden! Die Koalitionsparteien des Reichstages aber antworten: Es soll weitergewurstelt werden. Der Marxismus hat Deutschland ruiniert. Er hat abgewirtschaftet. Die bürgerlichen Regierungsparteien halten ihn künstlich am Leben. Sie wagen nicht, den Trennungsstrich zu ziehen. So sinkt Deutschland in Not und Verderben. Wir fordern Klarheit! Schluß mit der Kompromißpolitik! Mit den Sozialisten aus der Regierung! Wir verlangen endlich eine Regierung, die sich bewußt auf die nationalen Kräfte in allen Volksschichten stützt.", G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 145. 377 Die DNVP-Fraktion gab der DVP-Fraktion bekannt, "daß sie auch einem neuen Kabinett Stresemann das Vertrauen versagen müsse, da ein solches Kabinett keine Gewähr dafür böte, daß die Sozialdemokraten auch aus der preußischen Regierung ausgeschaltet würden", G. Arns, Staat 8 (1969), S. 191, Fn. 42; s. dort auch den Hinweis auf einen Artikel in der Kreuzzeitung vom 5. Oktober 1923, wonach die DNVP nicht nur das Ermächtigungsgesetz ablehnen, sondern auch einem Kabinett mit Stresemann an der Spitze kein Vertrauensvotum erteilen werde. 378 Die FZ sprach von ziemlich lebhaften Auseinandersetzungen in der DVP-Fraktion und davon, daß die Abgeordneten Stinnes, Quaatz und Maretzky aus der Volkspartei austreten wollten, FZ Nr. 741 vom 6. Oktober 1923, zit. nach G. Arns, Regierungsbildung, S. 168, Fn. 66; sowohl Quaatz als auch Maretzky trennten sich 1924 von der DVP; Maretzky schloß sich der DNVP als Hospitant an, Quaatz trat ihr als Mitglied bei. 379 Stresemann habe noch am Abend des 4. Oktober die Fraktionsvorsitzenden gebeten, ernsthaft die Erneuerung der Großen Koalition zu erwägen, so der Vorwärts, Nr. 466 vom 5. Oktober 1923. 380 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 145.
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einen Beschluß der Zentrumsfraktion vom gleichen Tag erleichtert, in dem sich die Fraktion auch dann fiir die Erneuerung der Großen Koalition aussprach, wenn es nicht zu einer Verständigung über ein Ermächtigungsgesetz kommen sollte. 381 In der Nacht zum 6. Oktober handelten die Sozialpolitiker der Koalitionsparteien unter zeitweiliger Beteiligung des Reichskanzlers und der Fraktionsvorsitzenden einen Kompromiß zur Arbeitszeitfrage aus. Er sah vor, die Arbeitszeitfrage nicht in das Ermächtigungsgesetz aufzunehmen. Man einigte sich vielmehr auf Grundsätze für die Verabschiedung eines Arbeitszeitgesetzes auf der Grundlage der deutsche Note 382 an die Reparationskommission vom 14. November 1922.383 Da die SPD ihrerseits ihren Widerstand gegen das Ausscheiden Hilferdings 384 aus dem Kabinett aufgab, war der Weg frei für die Bildung des zweiten Kabinetts Stresemann. 385 Es wurde noch am gleichen Tag ernannt und erhielt am 8. Oktober das Vertrauen des Reichstages.386 A u f Grund dieses Vertrauensvotums des Parlaments und des großen Einflusses der Koalitionsfraktionen bei der Regierungsbildung liegt es nahe, das zweite Kabinett Stresemann als parlamentarische Regierung einzuordnen.
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Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 262, S. 490. S. o. S. 150 Fn. 355. 383 Der ausgehandelte Kompromiß lautete wie folgt: "Die schwere Not unseres Landes läßt eine Steigerung der Gütererzeugung dringend geboten erscheinen. Das wird nur unter restloser Ausnutzung der technischen Errungenschaften bei organisatorischer Verbesserung unserer Wirtschaft und emsiger Arbeit jedes einzelnen zu erreichen sein. Neben der Produktionssteigerung durch diese Mittel wird auch die Neuregelung der Arbeitszeitgesetze unter grundsätzlicher Festhaltung des Achtstundentages als Normalarbeitstag nicht zu umgehen sein. Dabei ist auch die Möglichkeit der tariflichen oder gesetzlichen Überschreitung der jetzigen Arbeitszeit im Interesse einer volkswirtschaftlich notwendigen Steigerung und Verbilligung der Produktion vorzusehen. Für öffentliche Verwaltungen ist eine ähnliche Regelung vorgesehen.", Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 263, S. 491. 384 Daß Hilferding auch in seiner eigenen Fraktion möglicherweise nicht ganz unumstritten war, zeigt eine Bemerkung von Stresemann, wonach Müller angedeutet habe, daß zwei Drittel der SPD-Fraktion der Meinung seien, daß Hilferding dem Amt nicht gewachsen sei, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 141; s. aber auch F. Stampfer, Jahre, S. 352, wonach Hilferding selbst den Rücktritt anbot, um die Fortsetzung der Großen Koalition zu erreichen; zu berücksichtigen ist auch, daß sich gegen Hilferding, einem jüdischen Marxisten aus Wien eine Kampagne richtete, die an Gehässigkeit den Angriffen auf Rathenau nicht nachstand, so auch der Eindruck von H. A. Winkler, Weimar, S. 207; Beispiel für die Kampagne: Kab. Stresemann, Nr. 60, S. 285 und Fn. 3. 385 An die Stelle von Raumers trat der parteilose Koeth als Wirtschaftsminister; Nachfolger von Hilferding im Finanzministerium wurde der bisherige Ernährungsminister Luther; an die Stelle Luthers trat - nach seinem Ausscheiden aus der DNVP Graf von Kannitz. 386 "Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung und spricht ihr das Vertrauen aus.", Verh. Rt, Bd. 380, Nr. 6243; Abstimmungsergebnis in Verh. Rt, Bd. 361, S. 12029. 382
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C. Die Staatspraxis
Zweifel an dieser Einschätzung kommen aber auf, wenn man sich die in den Kabinettsberatungen zum Ermächtigungsgesetz gefallenen antiparlamentarischen Äußerungen einiger Minister vor Augen fuhrt. A m 30. September 1923 sprach Brauns zum erstenmal von großen Vollmachten, die man vom Reichstag fordern müsse, um die schwere innere Wirtschaftskrise durch klare Richtlinien und entschiedenes Handeln zu überwinden. 387 Hilferding griff diesen Gedanken auf. Er befürchtete, daß bei den zu erwartenden Auseinandersetzungen im Reichstag die Situation nicht mehr zu beherrschen sei. Er schlug deshalb vor, das Parlament um Vollmachten zu bitten, um das in finanzieller und politischer Hinsicht Notwendige veranlassen zu können und im übrigen den Reichstag zu vertagen. 388 Auch Hilferdings Parteifreund Sollmann hielt es für möglich, vom Reichstag die erforderliche Ermächtigung zu erlangen. Wichtig sei aber, daß bei der Durchführung des Programms die Kabinettsmitglieder nicht Werkzeuge ihrer Fraktionen seien und daß die vorliegenden Fragen ohne parteipolitische Einstellung gelöst werden müssen. Es werde allgemein empfunden, daß diktatorische Maßnahmen nötig seien.389 Auch Geßler (DDP) empfahl nicht nur ein Direktoirs, unter dem ein klares Wirtschaftsprogramm gemacht werden müsse, sondern auch die Verschiebung der Reichstagsverhandlungen. 390 Stresemann griff diese Anregungen seiner Kabinettsmitglieder auf und forderte am 2. Oktober von den Vorsitzenden der Regierungsfraktionen die Zustimmung zu einem Ermächtigungsgesetz, um der Reichsregierung größere Bewegungsfreiheit zu verschaffen. 391 Petersen (DDP) stimmte dem Reichskanzler zu und begrüßte die durch das Ermächtigungsgesetz entstehende Entlastung der Parteien. 392 Auch Marx (Zentrum) erklärte sich mit den Ausführungen des Reichskanzlers einverstanden. Die Regierung müsse jetzt eine stärkere Selbständigkeit haben, da das Parlament sich nur noch in Parteistreitigkeiten bewege und keine politische Arbeit mehr leiste und dadurch die Gefahr bestehe, daß es abwirtschafte. 393 Allein Müller erkannte, daß der Reichstag noch keine Gelegenheit hatte, sich zu den anstehenden Fragen zu äußern. 394 Die antiparlamentarische Grundeinstellung einiger Minister wurde noch einmal in der Kabinettssitzung vom 2. Oktober deutlich. In dieser Sitzung sprach Geßler (DDP) dem Reichstag die Fähigkeit ab, die für den Wiederaufbau von Finanzen und Wirtschaft erfor-
387 388 389 390 391 392 393 394
Kab. Stresemann, Nr. 94, S. 411 f. Kab. Stresemann, Nr. 94, S. 413. Kab. Stresemann, Nr. 94, S. 414. Kab. Stresemann, Nr. 94, S. 414. Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 436. Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 440. Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 440. Kab. Stresemann, Nr. 99, S. 442.
V. Das Kabinett Stresemann
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derlichen schweren Opfer von allen Volkskreisen zu beschließen. Den Parteien, so Geßler, fehle es hierzu an der nötigen Handlungsfreiheit. Daher müsse das Kabinett auf allerbreitester Grundlage eine Ermächtigung erhalten, um die notwendigen Maßnahmen rücksichtslos durchzuführen. 395 Auch Stresemann forderte vom Kabinett den Mut, sich von den Fraktionen freizumachen und wurde dabei von Brauns (Zentrum) unterstützt, der vom Kabinett ein Programm der Tat ohne Rücksicht auf Parteiprogramme und sonstige Gebundenheiten verlangte. 396 Folgerichtig erklärte Stresemann als neuer Kanzler am 6. Oktober für die Regierung, daß man hin zum Staat und weg von den Parteien müsse. Das Reich sei das einzige, was nach all dem Zusammenbruch geblieben. Dieses Reich - und nicht etwa die parlamentarische Demokratie, die der Kanzler an dieser Stelle nicht erwähnte - zu erhalten, sei die Pflicht, die die neue Regierung zu erfüllen habe.397 Diese Äußerungen, die sich nahezu beliebig vermehren ließen, machen deutlich, daß entscheidende Politiker auch aus den Parteien der Weimarer Koalition ein vom Parlament unabhängiges Kabinett wünschten. A u f dem Höhepunkt der Krise vertrauten sie nicht dem in der Verfassung verankerten parlamentarischen Regierungssystem. Sie gaben ihm noch nicht einmal die Chance der Bewährung, indem sie verhinderten, daß der Reichstag über mögliche Lösungswege aus der Krise diskutierte und entschied.398 Über die Verabschiedung eines möglichst weitreichenden Ermächtigungsgesetzes sollte ein Kabinett installiert werden, das unabhängig vom Parlament arbeiten und damit angeblich über den Parteien und den von ihnen vertretenen Interessen stehen sollte. 399 Damit wird auch deutlich, welchem Wunschbild die Verfechter dieses
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Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 449. Kab. Stresemann, Nr. 102, S. 450. 397 Verh. Rt, Bd. 361, S. 11943. 398 Der Reichstag hatte in der Zeit vom 15. August bis 6. Oktober 1923 allein am 27./28. September getagt und sich an diesen beiden Tagen vornehmlich mit Regierungsmaßnahmen auf der Grundlage des Art. 48 WRV beschäftigt, Verh. Rt, Bd. 361, S. 11913 ff; ein Antrag der DNVP, allgemein über die Regierungspolitik zu diskutieren, wurde mit der Begründung abgelehnt, daß es selbstverständlich gar nicht möglich sei, in einer so gespannten Lage eine solche Diskussion zu fuhren, ohne das mit der Regierung Fühlung genommen ist und daß die Regierung sich bereit erklärt, in diese Tagesordnung einzuwilligen, Petersen, Verh. Rt, Bd. 361, S. 11914. 399 Die Parteilichkeit und Interessengesteuertheit einer mit diesen Vollmachten ausgestatteten Regierung wird sofort deutlich, wenn man die konkreten Maßnahmen betrachtet, die die Verfechter des Ermächtigungsgesetzes, Brauns (Zentrum) und von Raumer (DVP) von einer solchen Regierung erwarteten: die Verlängerung der Arbeitszeit, eine Verbesserung der Arbeitsdisziplin durch Einschränkung des Kündigungsschutzes, da die "Furcht vor Entlassungen ... den Trieb zur Arbeit" erhöhe, ein strafbewehrtes Verbot von Landarbeiterstreiks in der Erntezeit und den Wegfall der Freistel396
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C. Die Staatspraxis
Weges anhingen: dem vermeintlich überparteilichen, kaiserlichen und nichtparlamentarischen Kabinett des Obrigkeitsstaates vor 1918.
VI. Die Ausschaltung des Parlaments: Das erste Kabinett Marx Nach der Verabschiedung des ersten Ermächtigungsgesetzes der Weimarer Republik am 13. Oktober 1923, der eine erregte Debatte im Reichstag vorausgegangen war, 400 wurde der Reichstag bis zum 20. November vertagt. Das Kabinett wurde damit in die Lage versetzt, weitgehend diktatorisch zu regieren. Die weitreichenden Vollmachten auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet nutzte sie in der dreiwöchigen Geltungsdauer des Ermächtigungsgesetzes bis zum Bruch der Großen Koalition am 2. November 1923 durch den Erlaß von siebenunddreißig gesetzvertretenden Verordnungen. Zu erwähnen sind die Personalabbauverordnung, die eine Verminderung der Zahl der Staatsbediensteten um ein Viertel vorsah und die Schlichtungsverordnung, die dem Staat die Schiedsrichterrolle in Tarifkonflikten zumaß.401 Aber nicht an diesen Verordnungen zerbrach die Große Koalition, sondern am Gebrauch und am Nichtgebrauch einer weiteren ihr zur Verfügung stehenden Ermächtigung: der Präsidialverordnung vom 26. September 1923, die als Antwort auf die Ausrufung des Ausnahmezustandes in Bayern vom gleichen Tag ergangen war.
lung von Betriebsräten von der Arbeit, Kab. Stresemann, Nr. 97, S. 428 f.; es bedarf keiner Erläuterung, daß solche Maßnahmen in einem Parlament mit relativer sozialdemokratischer Mehrheit nicht oder zumindest sehr viel schwieriger durchzusetzen waren als in einem Kabinett ohne Beteiligung der SPD oder mit einer eindeutig bürgerlichen Mehrheit. 400 "Es handelt sich um die Entscheidung: entweder die Diktatur der großen Masse der Arbeiter, dieser 15, 20 Millionen, oder die Diktatur der Stinnes, Seeckt und Genossen. Wir haben jetzt diese Diktatur von Stinnes, verbündet mit Seeckt, Ludendorff und dem übrigen Gesindel, das dazu gehört.", so der kommunistische Abgeordnete Frölich, Verh. Rt., Bd. 361, S. 12038; von einem Drachenstaat sprachen Zwischenrufer der DNVP, Verh. Rt., Bd. 361, S. 12068; Kommunisten und Deutschnationale hatten den Plenarsaal vor der Schlußabstimmung in der vergeblichen Hoffnung verlassen, dadurch die erforderliche Anwesenheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Reichstages verhindern zu können, vgl. die namentliche Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz, Verh. Rt., Bd. 361, S. 12152 ff, bei der die Abgeordneten dieser beiden Fraktionen fehlten. 401 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 387, feiert diese Verordnungen als "große Reformgesetzgebungswerke, zu denen der parlamentarische Gesetzgeber auf Grund der Parteigegensätze unfähig gewesen wäre" und die durch das Zusammenwirken "der Regierungsgewalt mit der parteiunabhängigen, sachkundigen und sachorientierten Reichsbürokratie" entstanden seien.
VI. Das erste Kabinett Marx
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Bereits am 10. Oktober war es in Sachsen unter Ministerpräsident Zeigner zu einer Koalition aus SPD und KPD gekommen. Die Kommunisten erhielten mit Böttcher das Finanz- und mit Heckert das Wirtschaftsministerium. Kaum waren die kommunistischen Minister im Amt, löste der sächsische Wehrkreisbefehlshaber, General Müller, dem auf der Grundlage der Verordnung vom 26. September 1923 die vollziehende Gewalt in Sachsen übertragen worden war, am 13. Oktober die sogenannten proletarischen Hundertschaften auf. Diese Hundertschaften waren von SPD und KPD am 17. März 1923 gegründet worden, um - je nach Sichtweise - rechtsradikale Umsturzversuche abzuwehren oder für die Einführung der Räteherrschaft zu kämpfen. A u f diese Maßnahme General Müllers antwortete Böttcher mit der Forderung nach der sofortigen Bewaffnung des Proletariats. Die Versammlung, auf der der sächsische Finanzminister sprach, verabschiedete außerdem eine Resolution, die zum Kampf gegen "die mit dem Ermächtigungsgesetz geplante Diktatur Stinnes über die Arbeiterklasse" aufrief. 402 Müller seinerseits rügte am 15. Oktober die ohne seine Genehmigung erfolgte Plakatierung der Regierungserklärung Zeigners, die dieser am 12. Oktober im sächsischen Landtag abgegeben hatte. 403 Zwei Tage später wurde die sächsische Polizei der unmittelbaren Befehlsgewalt der Reichswehr unterstellt und der Landesregierung damit ihr einziges wirksames Machtmittel entzogen.404 Schließlich wurde - ohne daß das Reichskabinett darüber förmlich beschlossen hätte - am 19. Oktober damit begonnen, in Sachsen Truppen der Reichswehr zusammenzuziehen.405 Die Gefahr eines kommunistischen Aufstandes von Sachsen aus war endgültig gebannt, als sich am 21. Oktober bei einer Arbeiterkonferenz in Chemnitz herausstellte, daß die Kommunisten in der Arbeiterschaft völlig isoliert waren. Gegen die Forderung des kommunistischen Parteivorsitzenden Brandler, einen Generalstreik auszurufen, reichte die Drohung des sozialdemokratischen Arbeitsministers Graupe mit dem Auszug der SPD aus der Konferenz aus, um eine Weiterverfolgung dieser kommunistischen Forderung zu verhindern. 406 Der sozialdemokratische Reichsinnenminister Sollmann protestierte deshalb am 22. Oktober im Kabinett gegen die Handhabung des Ausnahmezustandes in Sachsen und verlangte unter Hinweis auf die taktischen Gründe, die zur Verordnung vom 26. September geführt hatten - mit der Verordnung hatte man eine Antwort auf entsprechende
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Die Rede Böttchers und die im Anschluß an seine Rede verabschiedete Resolution sind auszugsweise abgedruckt in: E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 272, S. 328 f. 403 Kab. Stresemann, Nr. 144, Fn. 30; dort auch der Protest gegen diese Aktion von Innenminister Sollmann (SPD). 404 Kab. Stresemann, Nr. 144, S. 613 und Nr. 147, S. 625 f. 405 So Stresemann in einer Mitteilung im Kabinett, Kab. Stresemann, Nr. 151, S. 639. 406 H. A. Winkler, Weimar, S. 225.
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C. Die Staatspraxis
bayerische Maßnahmen geben und die Möglichkeit eines Einschreitens gegen die dort an die Macht gelangten Rechtsradikalen schaffen wollen - eine Änderung des Verhaltens des Reiches gegenüber Sachsen.407 Dennoch forderte Reichswehrminister Geßler am 27. Oktober im Kabinett die sofortige Absetzung der sächsischen Landesregierung. 408 Die sozialdemokratischen Minister äußerten insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine solch schwerwiegende Maßnahme und wiesen auf die Ungleichbehandlung Sachsens im Vergleich mit Bayern hin. 409 Ein einseitiges Vorgehen gegenüber Sachsen, so Sollmann, gefährde die Koalition im Reich. 410 Stresemann, der den sächsischen Ministerpräsidenten Zeigner ohnehin nicht für voll zurechnungsfähig hielt, 411 unterstützte Geßler. Die geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken teile er nicht, da er eine Regierung mit kommunistischen Mitgliedern nicht als verfassungsmäßig anerkennen könne. 412 Nach einer von den Sozialdemokraten gewünschten Sitzungsunterbrechung, in der sie Kontakt mit dem Reichspräsidenten aufnahmen, schlugen diese vor, zunächst den Versuch zu unternehmen, Zeigner zum freiwilligen Rücktritt zu veranlassen. 413 Trotz des Widerspruchs von Geßler, der die sofortige Absetzung der sächsischen Regierung zur staatspolitischen Notwendigkeit erklärte, bei der man auf Stimmungen und Parteiwünsche keine Rücksicht nehmen könne, 414 einigte sich das Kabinett auf diesen Vorschlag. 415 Stresemann wurde vom Kabinett ermächtigt, die Demissionsaufforderung an das sächsische Kabinett zu formulieren und der Presse bekanntzugeben.416 Zeigner antwortete am 28. Oktober und lehnte für die sächsische Regierung einen Rücktritt entschieden ab. Er verwies darauf, daß allein der sächsische Landtag legitimiert sei, die sächsische Regierung abzuberufen. Solange dies nicht geschehe, werde die sächsische Regierung auf ihrem Posten ausharren. 417 Ohne noch einmal einen Kabinettsbeschluß herbeizuführen, 418
407
Kab. Stresemann, Nr. 166, S. 696 f. Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 854. 409 Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 854 f. 410 Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 856. 411 Kab. Stresemann, Nr. 144, S. 614. 412 Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 854. 413 Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 858. 414 Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 858. 415 Kab. Stresemann, Nr. 186, S. 859. 416 Der Wortlaut der Demissionsaufforderung ist abgedruckt in: Kab. Stresemann, Nr. 188, S. 860 ff. 417 Der Brief Zeigners ist abgedruckt in: Kab. Stresemann, Nr. 191, S. 868 f. 418 Dieser Umstand wurde bereits am selben Tag von den sozialdemokratischen Ministern des Kabinetts in einer Besprechung mit Stresemann gerügt, Kab. Stresemann, Nr. 192, S. 869 f. 408
VI. Das erste Kabinett Marx
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ernannte daraufhin Stresemann seinen Parteifreund Heinze zum Reichskommissar fiir Sachsen. Dieser setzte am 29. Oktober die sächsische Landesregierung ab 419 und erreichte durch den Einsatz der Reichswehr, daß die Minister am Mittag desselben Tages ihre Ministerien verließen. In Berlin kam es etwa zur selben Zeit zu einer Besprechung des Kanzlers mit Vertretern der Regierungsparteien, in der besonders der Sozialdemokrat Müller die Ungleichbehandlung Sachsens im Vergleich zu Bayern heftig kritisierte. Er forderte, um einen Bruch der Koalition zu verhindern, auch für Bayern die Einsetzung eines Reichskommissars. 420 Der Volksparteiler Scholz widersprach Müller. Anders als in Sachsen sei in Bayern Person und Eigentum gewährleistet.421 Das divergierende Vorgehen begründe sich damit aus der Verfassung. 422 Als am Abend die ersten Berichte über die Umstände der Absetzung der sächsischen Minister eingingen, verschärfte sich der Koalitionsstreit noch einmal. Innenminister Sollmann lagen Berichte vor, nach denen die Reichswehr zur Besetzung der Ministerien mit Musik aufgezogen sei. Man habe Maschinengewehre gegen die Ministerien aufgefahren und den Landtag militärisch besetzt. Außerdem seien Ministerpräsident Zeigner und Finanzminister Böttcher durch Militärpersonen hinausgeleitet worden. Dieses Verhalten der Reichswehr sei eine bewußte Provokation, für die er und seine beiden sozialdemokratischen Kabinettskollegen nicht die Verantwortung übernehmen können. Es bliebe ihnen keine andere Möglichkeit, als aus der Regierung auszuscheiden.423 Stresemann wies auf die erheblich unterschiedlichen Berichte 424 über die Vorgänge in Sachsen hin und bat die Minister, erst dann Beschlüsse zu fassen, wenn eine objektive Darstellung vorliege. 425
419 Das Schreiben Heinzes an die sächsische Landesregierung ist abgedruckt in: E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 276, S. 331. 420 Kab. Stresemann, Nr. 193, S. 871. 421 In Bayern war es unter der rechtsradikalen Herrschaft zu Verhaftungen und Ausweisungen von sogenannten Ostjuden gekommen, die der Reichskanzlei durch Berichte u. a. des Auswärtigem Amtes bekannt waren. Begründet wurden die Ausweisungen damit, daß die Betroffenen arm nach München gekommen seien und sich durch ihre besondere geistige Veranlagung zum Schaden des bayerischen Volkes Vermögen erworben haben, zu diesen Berichten s. Kab. Stresemann, Nr. 193, Fn. 11 und 12. 422 Kab. Stresemann, Nr. 193, S. 872. 423 Kab. Stresemann, Nr. 195, S. 880 und Nr. 196, Fn. 1. 424 S. etwa den telefonischen Bericht des Reichswehrministeriums vom selben Tag, wonach die Truppen zwar mit Musik anmarschiert seien, die Hinausbegleitung Böttchers durch einen Leutnant jedoch auf eine die "gesellschaftlichen Formen in jeder Weise" beachtenden Art geschah, Kab. Stresemann, Nr. 196, S. 883. 425 Kab. Stresemann, Nr. 195, S. 880.
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C. Die Staatspraxis
In Sachsen entspannte sich die Lage, nachdem Heinze unter massivem Druck von Stresemann 426 am 31. Oktober eine Sitzung des Landtages zuließ, in der der Sozialdemokrat Fellisch gegen einen Gegenkandidaten aus den Reihen der DVP zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Er stand einem rein sozialdemokratischen Kabinett vor. In Berlin tagte am selben Tag die SPD-Reichstagsfraktion, in der sie für ein Verbleiben in der Koalition ultimative Bedingungen aufstellte: Die Fraktion verlangte die Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes, eine Erklärung der Reichsregierung, daß sie das Verhalten der bayerischen Machthaber offen als Verfassungsbruch betrachte, die sofortige Einleitung der gebotenen Schritte gegen Bayern und schließlich für Sachsen die Beschränkung der Reichswehr auf Hilfsfunktionen im Dienste der zivilen Behörden sowie die Entlassung von Angehörigen rechtsradikaler Organisationen aus der Truppe. 427 In der Kabinettssitzung vom folgenden Tag wies Stresemann die Forderungen der SPD als marxistischen Druck zurück. Es sei unmöglich, daß eine Koalitionsregierung ultimative Forderungen irgendeiner Fraktion akzeptiere. 428 Geßler ging noch weiter und forderte die SPD offen zum Verlassen der Koalition auf. Der Weg der Verständigung mit Bayern sei erst dann möglich, wenn die Sozialdemokratie nicht mehr in der Reichsregierung vertreten sei. 429 Auch die Aussprache der bürgerlichen Minister am 2. November ergab kein anderes Bild: Einmütig lehnten die Minister eine Annahme der sozialdemokratischen Forderungen ab. Deutlich wurde auch hier die Hoffnung einiger Kabinettsmitglieder, daß nach dem Ausscheiden der SPD aus der Koalition eine Lösung der bayerischen Frage zu erreichen sei. 430 In der sich anschließenden Kabinettssitzung teilte Stresemann den sozialdemokratischen Ministern das Ergebnis der Beratungen der bürgerlichen Kabinettsmitglieder mit. Es sei unmöglich, den Forderung der SPD-Fraktion zu entsprechen, weil dadurch in der Tat, so der Kanzler, der Eindruck erweckt würde, daß das Kabinett unter einer marxistischen Diktatur stände.431 Daraufhin beschloß die SPD-Fraktion gegen 19 Stimmen, ihre Mini-
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S. hierzu die Aufzeichnungen Stresemanns über sein Telefongespräch mit Heinze am 29. Oktober, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 189 f.; s. auch die heftige Kritik Heinzes an diesem Vorgehen Stresemanns in der DVP-Fraktion am 6. November, Kab. Stresemann, Nr. 195, Fn. 3. 427 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 191 f. 428 Kab. Stresemann, Nr. 212, S. 937. 429 Kab. Stresemann, Nr. 212, S. 938. 430 Luther und Geßler, Kab. Stresemann, Nr. 214, S. 945 und S. 946. 31 Kab. Stresemann, Nr. , S. 4 .
VI. Das erste Kabinett
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ster aus der Regierung zurückzuziehen. 432 Diese reichten noch am 2. November ihre Demission beim Reichskanzler ein. 433 Mit dem Auszug der SPD aus der Koalition verlor die Regierung nicht nur ihre Mehrheit im Parlament. Gleichzeitig erlosch die Ermächtigung des Reichstags vom 13. Oktober 1923, mit der das Kabinett bisher regiert hatte. Dennoch beschloß Stresemann, mit einem Rumpfkabinett 434 weiterzuregieren. Ermöglicht wurde ihm diese Entscheidung durch das Verhalten von DDP und vom Zentrum, deren Fraktionen nach tagelangen Beratungen sich für eine fortdauernde Unterstützung Stresemanns entschieden.435 Gefahr drohte dem Rumpfkabinett aber von rechts. Unmittelbar nach dem Bruch der Großen Koalition wurde von Seeckt aktiv und verlangte vom Reichspräsidenten nicht nur die Entlassung Stresemanns,436 sondern verfolgte erneut 437 in Briefen an seinen Gesinnungsgenossen von Kahr 438 in Bayern und an den deutschen Botschafter in Washington, Otto Wiedfeldt, den Gedanken der Bildung eines "kleinen Kabinetts mit Direktoriumscharakter und Ausnahmevollmachten".439 Beide Vorstöße von Seeckts blieben mangels Unterstützung440 und Schneid441 ohne Folgen. Aber auch in der eigenen Fraktion
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G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 193. Kab. Stresemann, Nr. 216. 434 Von den durch die Rücktritte freigewordenen Ministerien wurde am 11. November nur das Innenministerium mit dem auf dem rechten Flügel der DVP stehenden Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres neu besetzt; die übrigen Ministerien blieben ohne Minister. 435 Feilmayr, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 265 f., S. 498 ff.; Linksliberalismus, Nr. 110, S. 302 f. 436 O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 299. 437 S. bereits seine Verstrickungen in die Intrigen, die zum Sturz des ersten Kabinetts Stresemann führten. 438 Kab. Stresemann, Anhang Nr. 4, S. 1211 ff., Brief von Seeckts an von Kahr, vom 2. November 1923, worin er diesem weitgehende Gemeinsamkeit der Anschauungen und Zielsetzungen versicherte, S. 1211; interessant auch seine Bemerkung, daß die Reichswehr nicht in die Lage gebracht werden dürfe, sich gegen Gesinnungsgenossen für eine ihr wesensfremde Regierung einzusetzen, S. 1214. 439 Kab. Stresemann, Anhang 5, S. 1215 f., Brief von Seeckt an Wiedfeldt vom 4. November 1923, von Seeckts Angebot erfolgte mit Wissen und auf Wunsch Eberts, so von Seeckt in diesem Brief, S. 1215. 440 Wiedfeldt lehnte mit Schreiben vom 24. November 1923 von Seeckts Angebot ab, Kab. Stresemann, Anhang Nr. 6, S. 1216 f. 441 Nach Geßler wagte von Seeckt es nicht, in Anwesenheit von Stresemann dessen Entlassung als Kanzler vom Reichspräsidenten zu fordern, O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 299; s. hierzu auch das Nachspiel und die Legendenbildung in der DVPFraktion, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 198 f. 433
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C. Die Staatspraxis
mußte sich Stresemann Angriffen erwehren. So nahm ihm der schwerindustrielle rechte Flügel der DVP übel, daß die Reichsexekution gegen Sachsen auf Anweisung Stresemanns nach nur zwei Tagen abgebrochen wurde und mit einem rein sozialistischen Kabinett in Sachsen endete.442 Diese in den Augen des rechten Flügels erfolglose Reichsexekution und der Bruch der Großen Koalition waren der willkommene Anlaß, für die Reichsregierung einen energischen Ruck nach rechts 443 und zum Teil auch offen den Rücktritt Stresemanns zu fordern. 444
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So führte der von Stresemann zum Reichskommissar in Sachsen ernannte Heinze in der DVP-Fraktionssitzung am 6. November aus, er habe "sofort Zeigner abgesetzt und suchte mir Männer zur Führung des Ministeriums, Reichsleitung fiel mir (telefonisch) in den Arm (Zwischenruf Dr. Becker: wer denn?). Heinze: Stresemann. Ich sollte kein Kabinett bilden, mindestens keine Ministerliste veröffentlichen. Am Dienstag kam Fischer im Auftrag Str., ich sollte schnellstens für Wahl eines Kabinetts durch Landtag sorgen, konnte nicht retardierend wirken, oder von mir aus unsere Landtagsfraktion instruieren, sonst würde ich selbstverständlich meines Amtes enthoben worden sein. Ich fuhr dann nach Berlin, um Erweiterung meiner Vollmacht zu erbitten, leider wurde Kabinett noch in derselben Nacht gebildet. Als ich Koch und Petersen in Berlin bat, Druck auf Demokraten in Dresden auszuüben, wurde mir geantwortet, Str. wünsche doch einen Druck auf die DVP, daß sie Fellisch dulde. (Bewegung) Geßler gibt mir vollkommen Recht und ist ebenso enttäuscht wie ich", Kab. Stresemann, Nr. 195, Fn 3; Piper kritisierte, daß man Heinze eine Rolle habe spielen lassen, "die sich weder mit seiner noch mit unserer Würde verträgt. Der Kanzler hat hier und in anderen Aufgaben versagt. Er müsse erklären: Meine Politik liegt im Sterben, eine andere mache ich nicht", G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1 S. 199. 443 So Scholz am 5. November in der Fraktion, in der er auch von einer langen Unterredung mit den Deutschnationalen Hergt und Westarp berichtete, die ein überparteiliches Kabinett mit starkem Rechtseinschlag forderten, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 195; für eine Aufnahme von Deutschnationalen in die Regierung sprachen sich auch Curtius, Albrecht, Stinnes, von Lersner und Dauch aus, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 196 f. und S. 198 f. 444 So etwa Gildemeister am 6. November in der Fraktion: "Ist das Kabinett richtig konstruiert? Warum sind in den höchsten Stellen nicht Männer, die das Vertrauen der Fraktion haben? Warum nimmt der Kanzler immer wieder Leute, die nicht im Parlament sitzen? Jetzige Lage: Sozialdemokratie hat Große Koalition gesprengt und ist dennoch stiller Teilhaber geblieben. Ich bin mit Scholz der Meinung, daß wir Verbreiterung nach rechts suchen. Stres. hat sich gestern dagegen ausgesprochen. Ist die Fraktion anderer Auffassung, dann muß sie ihren Weg gehen. Wir sind keine Partei Stresemann." In der selben Fraktionssitzung erklärte Curtius: "Reichskabinett hätte Aufforderung an Dtschn. richten müssen. Gestrige Erklärung Dr. Stresemanns hat mich auf das Äußerste verblüfft, glatte Desavouierung der Politik der Fraktion und ihres Vorsitzenden. Stresemann hat uns doch sozusagen den Bettel vor die Füße geworfen. Stresemann will diktatorisch regieren. Was sollen wir für Folgerungen daraus ziehen? Entweder wir treten still beiseite, oder wir sagen Stresemann: So geht das nicht weiter. Es ist doch unmöglich, daß Stres. als Kanzler Parteiführer bleibt, das fuhrt zu den schlimmsten Konsequenzen. Wir müssen Stres. um seiner selbst willen auffordern, das Amt des Parteiführers niederzulegen", Kab. Stresemann, Nr. 222, Fn. 10.
VI. Das erste Kabinett
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Gestürzt wurde das Rumpfkabinett Stresemann aber nicht von rechts, sondern von der SPD. Aus Enttäuschung darüber, daß das Reich auch nach dem Hitler-Putsch 445 vom 8. und 9. November nicht energisch gegen Bayern einschritt, brachte die Fraktion am 20. November einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung ein, den sie mit der unterschiedlichen Handhabung des Ausnahmezustandes in Sachsen und Thüringen 446 auf der einen und Bayern auf der anderen Seite begründete. 447 Folgt man der Darstellung von Stampfer, dann war es nicht das Ziel der Fraktion, Stresemann zu stürzen. Man wollte der Regierung lediglich das Mißtrauen aussprechen in der Hoffnung, daß die DNVP auf Grund der Begründung des Antrages diesen ablehnen und er dadurch ohne die erforderliche Mehrheit im Reichstag bleiben würde. 448 In diesem Fall hätte das Kabinett weiter amtieren können. Stresemann durchkreuzte aber diese Pläne der SPD, indem er an die der Regierung nahestehenden Fraktionen appellierte, im Reichstag einen Antrag einzubringen, der Reichsregierung das Vertrauen 449 auszusprechen. 450 A m 23. November lehnte der Reichstag diesen Antrag mit
445 Adolf Hitler benutzte am Abend des 8. November eine Versammlung der Anhänger Kahrs, um sich selbst zum Leiter der nationalen Regierung zu proklamieren. Mit vorgehaltener Pistole zwang er Kahr und seine Verbündeten Seißer und Lossow zur Beteiligung an seiner "Nationalen Revolution". Diese erklärten noch in der Nacht zum 9. November ihre erpreßte Stellungnahme für ungültig und bereiteten die Niederschlagung des Putsches vor. Diese gelang am 9. November mit Hilfe der bayerischen Landespolizei an der Münchner Feldherrenhalle. Hitler konnte zunächst entkommen, wurde aber zwei Tage später festgenommen. 446 Weniger radikal als in Sachsen ging das Reich gegen das Bündnis von SPD und KPD in Thüringen vor. Am 6. November rückten Reichswehrtruppen in Thüringen ein und erzwangen die Auflösung der proletarischen Hundertschaften. Am 12. November löste die thüringische SPD die Koalition mit der KPD auf, worauf die Kommunisten ihre beiden Minister aus der Regierung zurückzogen. Ministerpräsident Fröhlich blieb als Chef einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung bis zu den vorgezogen Landtagswahlen im Februar 1924 im Amt. 447 Der Mißtrauensantrag der SPD-Fraktion lautete: "Die Reichsregierung hat den militärischen Ausnahmezustand gegen Sachsen und Thüringen, ohne daß hierfür sachliche Gründe vorlagen, in schärfster Form angewandt, gegen die verfassungswidrigen Zustände in Bayern aber nichts Entscheidendes getan, sie hat daher nicht das Vertrauen des Reichstages", Verh. Rt., Bd. 380, Nr. 6349. 448 F. Stampfer, Jahre, S. 384. 449 DVP, Zentrum und DDP entsprachen der Bitte Stresemanns, Verh. Rt., Bd. 380, Nr. 6352. 450 "Der Antrag Müller (Franken) und Genossen spricht ein Mißtrauensvotum gegenüber der Regierung aus, das im einzelnen motiviert ist mit der Haltung der Reichsregierung in einzelnen politischen Fragen. Diese Motivierung des Mißtrauensvotums ergäbe parlamentarisch-taktisch die Möglichkeit, daß die eingegangenen Mißtrauensvoten aus ganz verschiedenen Beweggründen etwa abgelehnt würden. Die Reichsregierung hat nicht die Absicht, ihre Geschäfte fortzuführen auf Grund einer durch solche parlamentarische Arithmetik herbeigeführten Entscheidung. Ich wünsche eine klare unzweideutige Entscheidung darüber, ob die Regierung das Vertrauen des Parlaments besitzt oder 9 Hoppe
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den Stimmen von SPD, KPD, BVP, DNVP und den Deutschvölkischen ab. 451 Noch am selben Abend beschloß das Kabinett die Demission. 452 Zum ersten Mal stürzte ein Kabinett der Weimarer Republik, das insgesamt neunte, parlamentarisch, also durch die ausdrückliche Vertrauensversagung des Parlaments. Es fiel, so Stresemann ein wenig pathetisch, in offener Feldschlacht.453 Bereits am Vormittag des 24. November bot Ebert dem Zentrumsführer Marx die Kanzlerkandidatur an. Dieser lehnte das Angebot ab, weil das Zentrum, so Marx, oft genug das Kanzleramt getragen und dafür nur Undank geerntet habe.454 A u f Empfehlung Stresemanns455 verhandelte der Reichspräsident anschließend mit dem Deutschnationalen Hergt über dessen Übernahme der Kanzlerschaft. A u f Grund der Forderungen Hergts, der von Ebert die Möglichkeit des Regierens auf der Grundlage des Diktaturartikels der Verfassung, des Art. 48 WRV, und eine Blankovollmacht zur Auflösung des Reichstages verlangte,456 lehnte der Reichspräsident die Beauftragung Hergts zur Bildung der Regierung ab. Wenig Erfolg hatte auch der von Ebert auf Wunsch von Zentrum, DVP und DDP 4 5 7 beauftragte von Kardorff (DVP), dessen Bemühen um die Bildung einer Rechtskoalition am Widerstand der DNVP scheiterte. Bei der Weigerung der Deutschnationalen, von Kardorff zu unterstützen, spielten wohl weniger politische als persönliche Gründe eine Rolle. Von Kardorff war anläßlich des Kapp-Putsches von der DNVP zur Volkspartei gewechselt, was ihm die Deutschnationalen verübelten. 458 Nachdem auch dieser Kandidat gescheitert war, beauftragte der Reichspräsident den ehemaligen Minister Albert, dem er besonderes Vertrauen entgegenbrachte, 459 mit der Bildung eines Kabinetts. A u f
nicht. Deshalb richte ich an die Fraktionen, die der Regierung nahestehen, die Bitte, durch Einbringung eines solchen Vertrauensvotums eine klare Entscheidung herbeizuführen.", Verh. Rt, Bd. 361, S. 12240; außer der SPD hatten auch DNVP und KPD Mißtrauensanträge gestellt, Verh. Rt, Bd. 380, Nr. 6344 und 6346. 451 Verh. Rt, Bd. 361, S. 12294. 452 Kab. Stresemann, Nr. 279, S. 1163. 453 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 245. 454 R. Morsey, Zentrumspartei, S. 551, Fn. 17. 455 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 255. 456 Verh. Rt, Bd. 361, S. 12307; s. außerdem den Briefwechsel zwischen Ebert und Hergt in: Ursachen und Folgen, Bd. 5, Nr. 1103, S. 273 f. 457 Ebert in einem Schreiben vom 29. November 1923 an Hergt, E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 323, S. 379. 458 So die Vermutung von F. Stampfer, Jahre, S. 385. 459 So Luther, Politiker, S. 94; s. auch Viscount d'Abernon, Botschafter, Bd. 2, S. 327, der Albert als Eberts Protégé bezeichnet.
VI. Das erste Kabinett Marx
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Grund der mangelnden Unterstützung durch die bürgerlichen Parteien und der Weigerung von Seeckts, die vollziehende Gewalt, die ihm zur Niederschlagung des Hitlerputsches übertragen worden war, an die Regierung zurückzugeben, 460 scheiterte auch Albert. Nun versuchte Ebert noch einmal, das Zentrum zur Übernahme der Kanzlerschaft zu gewinnen. Er beauftragte Stegerwald, der in Verhandlungen mit der DNVP weitreichende Zugeständnisse erzielte. So waren die Deutschnationalen bereit, ihre Forderung nach Ungültigkeitserklärung des Versailler Vertrages, bis dahin das selbstverständliche Postulat aufrechter nationaler Politik, für die Beteiligung an der Macht preiszugeben. 461 Die Verhandlungen scheiterten schließlich an der deutschnationalen Forderung nach Auflösung der Großen Koalition in Preußen und der Beteiligung der DNVP auch an der dortigen Regierung. 462 Ebert unternahm nun noch einmal, am Nachmittag des 29. November, den Versuch, Marx zur Übernahme der Kanzlerschaft zu gewinnen.463 Diesmal verweigerte sich der Zentrumsführer nicht. Innerhalb eines Tages gelang ihm die Bildung einer Minderheitsregierung, indem er die Minister des Kabinetts Stresemann nahezu unverändert übernahm. Erwähnenswert ist allein die Verbreiterung der Koalition um die BVP, deren Abgeordneter Emminger das Justizressort übernahm. Das ebenfalls durch den Austritt der SPD noch vakante Wiederaufbauministerium blieb zunächst unbesetzt und wurde im Frühjahr 1924 aufgelöst. A m Abend des 30. November 1923 ernannte Ebert das erste Kabinett Marx, das auf ein Vertrauensvotum des Reichstages verzichtete. Marx erklärte statt dessen in der ersten Kabinettssitzung, daß die Zustimmung des Reichstages zu dem von der Regierung angestrebten Ermächtigungsgesetz als Vertrauensvotum ausreiche. 464 Das erste Kabinett Marx läßt sich damit kaum als parlamentarische Regierung bezeichnen. Zum einen spielte der Reichspräsident bei der Kabinettsbildung eine überaus aktive Rolle. Zum anderen vollzog sich die Regierungsbildung ohne parlamentarisches Vertrauensvotum. Ausschlaggebend für den Verzicht auf ein solches Votum war die begründete Angst der Minderheitsregierung, daß es ihr so ergehen würde wie dem nahezu identischen Kabinett Stresemann eine Woche zuvor, dem der Reichstag das Vertrauen versagte.
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Materialsammlung Lieber, Kab. Stresemann, Anhang 1, S. 1202. Kaas am 5. März 1924 im Reichstag, Verh. Rt., Bd. 361, S. 12600; s. auch H. J. Schorr, Stegerwald, S. 81. 462 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 258. 463 Ebert in einem Schreiben an Hergt, E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 323, S. 379; U. v. Hehl, Marx, S. 273, charakterisiert den neuen Reichskanzler als beamtenmäßig-biedere Erscheinung von ganz und gar unpolitischer Bescheidenheit. 464 Kab. Marx I und II, Nr. 1,S. 3. 461
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C. Die Staatspraxis
Auch die angestrebte und nach heftigen Kämpfen erreichte Regierungsweise, die durch ein weitreichendes Ermächtigungsgesetz das Parlament weitgehend ausschaltete, spricht gegen die Annahme einer parlamentarischen Regierung. Vielmehr war das erste Kabinett Marx ein vom Reichstag mit diktatorischer 465 Machtfülle ausgestattetes Präsidalkabinett.
VII. Nach der erneuten Niederlage der parlamentarischen Demokratie bei der Reichstagswahl: Das zweite Kabinett Marx Die auf der Grundlage der beiden Ermächtigungsgesetze vom 13. Oktober und 8. Dezember 1923 erlassenen Verordnungen der Reichsregierung waren im Parlament sehr umstritten, so daß es dort zu zahlreichen Änderungsanträgen von SPD, DVP, KPD und DNVP kam. 466 Die Sozialdemokraten forderten vor allem die Aufhebung der Verordnungen über die Arbeitszeit, den Personalabbau und die Mietzinssteuer. 467 Ebert ließ sich von der Reichsregierung davon überzeugen, daß die Verordnungen ein einheitliches Ganzes darstellen, aus denen kein wichtiger Teil herausgebrochen werden dürfe. 468 Noch bevor der Reichstag über die unterschiedlichen Anträge abstimmen konnte, löste Ebert am 13. März 1924 das Parlament auf. 469 So kam es am 4. Mai 1924, wenige Wochen vor Ende der Legislaturperiode des am 6. Juni 1920 gewählten ersten Reichstags, zu Neuwahlen. Diese Wahlen brachten eine deutliche Stärkung der antidemokratischen und antiparlamentarischen Rechten. So konnte die DNVP ihren Stimmenanteil von 15,1% im Jahre 1920 auf 19,5% erhöhen. Die mit den Nationalsozialisten verbündete Deutschvölkische Freiheitspartei erreichte einen Anteil von 6,5% der
465 Von Diktatur spricht auch Koch vor dem Parteiausschuß der DDP am 27. Januar 1924, Linksliberalismus, Nr. 122, S. 305. 466 Die Anträge von DVP, KPD und DNVP in: Verh. Rt, Bd. 380, Nr. 6593, 6571 und 6512. 467 Vgl. die Anträge und Interpellationen der SPD in: Verh. Rt, Bd. 380, Nr. 6470 bis 6487. 468 So Marx im Reichstag, Verh. Rt, Bd. 361, S. 12828. 469 "Nachdem die Reichsregierung festgestellt hat, daß ihr Verlangen, die auf Grund der Ermächtigungsgesetze vom 13. Oktober und 8. Dezember 1923 (RGBl. I 943 und 1179) ergangenen und von ihr als lebenswichtig bezeichneten Verordnungen zur Zeit unverändert fortbestehen zu lassen, nicht die Zustimmung der Mehrheit des Reichstages findet, löse ich auf Grund des Artikels 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf', E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 162, S. 185.
VII. Das zweite Kabinett Marx
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Stimmen. Mehr als ein Viertel der deutschen Wähler hatte sich damit für eine der rechtsradikalen Parteien entschieden. Verlierer der Wahlen waren die Parteien, die in der zurückliegenden Legislaturperiode Regierungsverantwortung übernommen hatten. So erreichte die DVP nach einem Stimmenanteil von 13,9% im Jahre 1920 nur noch 9,2%. Die DDP kam auf 5,7% nach 8,3%. Relativ stabil blieb das Zentrum, das nur 0,2 Prozentpunkte verlor und einen Stimmenanteil von 13,4% erreichte. A u f den ersten Blick gering waren auch die Verluste der SPD, deren Stimmenanteil von 21,7% auf 20,5% zurückging. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß sich die SPD in der zurückliegenden Wahlperiode mit der USPD vereinigt hatte, die 1920 noch einen Stimmenanteil von 17,9% erreichen konnte. Vor diesem Hintergrund war das Ergebnis für die SPD katastrophal. Nur sehr wenige der USPD-Wähler hatten sich für die vereinigte sozialdemokratische Partei entscheiden können. Einen großen Teil dieser Wähler gewann die KPD für sich, deren 3,7 Millionen Stimmen einem Anteil von 12,6% entsprachen. Bemerkenswert am Ausgang dieser Wahlen ist vor allem die erneute deutliche Absage der Wähler an die parlamentarische Demokratie. Die Parteien der Weimarer Koalition, die in der Nationalversammlung ihre Mehrheit von 78,1% zur Einführung dieses Regierungssystems gegen den Widerstand der übrigen Parteien durchgesetzt hatten und deren Anteil bereits 1920 auf 43,6% der Wählerstimmen zurückgegangen war, verloren noch einmal an Zustimmung. Sie erreichten bei dieser Wahl nur noch einen Stimmenanteil von zusammen 39,6%. Rechnet man die Stimmen der nach wie vor der parlamentarischen Demokratie höchst skeptisch gegenüberstehenden DVP 4 7 0 hinzu, dann ergibt sich ein Stimmenanteil der ehemals Großen Koalition, der nach dem Zusammenschluß der beiden sozialdemokratischen Parteien in der zurückliegenden Legislaturperiode 75,4% betragen hatte, von nur noch 48,8% mit einer überaus knappen Mehrheit von 2 Mandaten im Reichstag.
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Trotz des Ausschlusses eines Teils des rechten Flügels unmittelbar vor der Reichstagswahl im Zuge der innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Gründung einer sogenannten Nationalliberalen Vereinigung wurde die DVP nicht zu einer demokratisch-parlamentarischen Partei. Erkennbar ist dies insbesondere am Antrag der Volkspartei im neuen Reichstag auf Wiedereinführung der kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot als Reichsfarben, Verh. Rt, Bd. 382, Nr. 54; zu den Auseinandersetzungen um die sogenannte Nationalliberale Vereinigung innerhalb der DVP s. G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 354 ff.
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C. Die Staatspraxis
Auch die Basis des amtierenden Minderheitskabinetts aus DVP, Zentrum und DDP 4 7 1 verkleinerte sich von 35,8% Wählerstimmenanteil auf 28,3%. 472 Dennoch beschloß das Kabinett zunächst, im Amt zu bleiben. 473 Ausschlaggebend waren außenpolitische Gründe. Besonders Stresemann wollte verhindern, daß die Verhandlungen über das für Deutschland vergleichsweise günstige Gutachten der Dawes-Kommission zur Frage der Reparationen 474 durch einen Rücktritt der Regierung behindert würden. 475 Das Kabinett blieb bei seiner Entscheidung auch dann, als am 15. Mai ein Beschluß des Wahlsiegers DNVP bekannt wurde, der den Rücktritt des Kabinetts forderte und ihm das Recht absprach, Deutschland in den Verhandlungen mit der Reparationskommission zu vertreten. 476 Als Antwort entwarf das Kabinett einen Brief an den Reichspräsidenten, in dem es seine Entscheidung, im Amt zu bleiben, mit der Notwendigkeit der Fortführung dieser Verhandlungen begründete. 477 A m
471 Der Vertreter der BVP war bereits am 15. April 1924 aus dem Kabinett ausgeschieden, nachdem es zwischen der BVP und dem Zentrum zu einem Streit über die Reichstagskandidatur in der bayerischen Pfalz gekommen war, Kab. Marx I und II, Nr. 176 und 177, S. 565 ff. 472 Zu dem Ergebnis der Reichstagswahl s. J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tab. 1.3.1.1. bis 1.3.1.3., S. 41 ff. 473 Kab. Marx I und II, Nr. 193, S. 613 f. 474 Am 9. April 1924 wurde in Paris das Gutachten der Dawes-Kommission veröffentlicht, das zwar keine Gesamtsumme für die deutschen Reparationszahlungen nannte, aber offenbar davon ausging, daß die im Londoner Ultimatum aufgestellte Forderung von 132 Milliarden Goldmark die deutsche Leistungsfähigkeit überstieg. Die Tilgung der Reparationsschuld sollte in jährlich steigenden Raten beginnend bei einer Milliarde Goldmark erfolgen. Zur Sicherung der Ansprüche der Gläubigerstaaten sah das Gutachten außerdem vor, die Reichsbahn in eine Gesellschaft umzuwandeln und sie mit Obligationen zu belasten. Dem Aufsichtsrat der Reichsbahngesellschaft sollten auch Vertreter der Gläubigerstaaten angehören. Das Gutachten enthielt außerdem den Vorschlag, Deutschland eine Auslandsanleihe in Höhe von 800 Millionen Goldmark zu gewähren, die der neu zu gründenden Notenbank und der Sicherung der Währungsstabilität dienen sollte, Verh. Rt., Bd. 382, Drucks. Nr. 5. 475 Kab. Marx I und II, Nr. 199, S. 633 f. 476 Der Beschluß des DNVP-Vorstandes vom 15. Mai 1924, der im Kabinett verlesen wird, lautete: "Die gegenwärtige Reg. entbehrt jeglichen Rechtes, Deutschland in den Verhandlungen über die Sachverständigen-Gutachten noch entscheidend zu vertreten. Wir erheben entschiedenen Einspruch dagegen, daß das Kabinett etwa die Gesetzentwürfe zur Durchführung des Gutachtens der Repko vorlegt oder auch nur in den vorbereitenden Verhandlungen den Organisationskomitees oder der Repko irgendwelche Erklärungen über den Standpunkt der dt. Reg. abgibt oder abgeben läßt. Die DNVP wird derartige Erklärungen nicht als für sich bindend anerkennen.", Kab. Marx I und II, Nr. 199, Fn. 13. 477 "Die RReg. ist der einmütigen Ansicht, daß sie das Recht und die Pflicht hat, auch in der jetzigen Lage das dt. Volk in den durch das Sachverständigengutachten erforderlich gewordenen Arbeiten zu vertreten. Sie ist weiter der Auffassung, daß angesichts der bedrohlichen Wirtschaftslage die Fortführung dieser Arbeiten nicht aus innenpolitischen Gründen gehemmt werden darf. ... Unter Würdigung dieser Umstände hat die RReg.
VII. Das zweite Kabinett Marx
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16. Mai verhandelten die Regierungsparteien über die Neubildung des Kabinetts. Es wurde beschlossen, zunächst Verhandlungen mit den Deutschnationalen über deren Regierungsbeteiligung aufzunehmen. Vor dem Beginn dieser Verhandlungen wollten sich die Regierungsparteien auf die Grundlinien der zu führenden Außenpolitik verständigen. 478 A m 20. Mai einigte man sich auf eine programmatische Erklärung zur Außenpolitik, die das Gutachten der DawesKommission als ernsthaften Versuch einer friedlichen Lösung der Reparationsfrage anerkannte. 479 Mit dieser Erklärung, die auf Verlangen der DVP nicht veröffentlicht wurde, 480 gingen die Regierungsparteien in die Verhandlungen mit der DNVP. In den Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung am 21. Mai schlugen die Deutschnationalen, ohne daß über das außenpolitische Programm der Regierungsparteien gesprochen wurde, Großadmiral von Tirpitz als ihren Kanzlerkandidaten vor. Daraufhin verließ das Zentrum die Sitzung, weil sie in der Erörterung dieser Frage eine Desavouierung der amtierenden Regierung erblickte. 481 A m 24. Mai kam es dann zwischen den Deutschnationalen und den Regierungsparteien zu Verhandlungen über die Außenpolitik. Dabei zeigte sich, daß die DNVP bereits den ersten Satz der programmatischen Erklärung der Regierungsparteien vom 20. Mai ablehnte.482 Die Verhandlungen
sich entschlossen, den nach einer Neuwahl an sich naheliegenden Schritt eines sofortigen Rücktritts nicht zu tun.", Kab. Marx I und II, Nr. 199, Fn. 16; auf Wunsch des Reichspräsidenten unterbleibt die Absendung und Veröffentlichung dieses Schreibens, so Marx am folgenden Tag im Kabinett, Kab. Marx I und II, Nr. 201, S. 641. 478 So Marx in seinem Bericht von dieser Sitzung vor dem Kabinett, Kab. Marx I und II, Nr. 201, S. 640 und S. 642. 479 "Das Gutachten der Sachverständigen bildet den emsthaften Versuch einer friedlichen Lösung der Reparationsfrage. Es ist ein einheitliches und unteilbares Ganzes. ... Wir setzen dabei voraus, daß das Gutachten als einheitliches und unteilbares Ganzes auch von den übrigen Nationen anerkannt wird, daß seine Auslegung mit gutem Willen erfolgt und insbesondere dabei nicht nur die Herstellung unserer Souveränität in Wirtschaft, Finanz und Verwaltung, sondern auch die Aufrechterhaltung der neuen dt. Währung im internationalen Zahlungsverkehr gewährleistet ist. Die Lösung der Reparationsfrage durch das Gutachten bedeutet die Wiederherstellung aller vertragsmäßigen Rechte des Dt. Reiches und damit die Freiheit des nicht vertragsmäßig besetzten Gebietes von jeder Besetzung sowie die Wiederherstellung des Rheinlandabkommens für die vertragsmäßig besetzten Gebiete und die Gewährleistung der Rechtssicherheit für deren Bewohner. Wir erwarten von der Reg., daß sie mit Entschiedenheit diese Freiheiten sicherstellt.", Kab. Marx I und II, Nr. 206, Fn. 1. 480 So Koch in seinem Bericht über die Koalitionsverhandlungen vor dem Vorstand der DDP am 21. Mai 1924, Linksliberalismus, Nr. 114, S. 320. 481 So Marx in seinem Bericht über diese Sitzung vor dem Kabinett, Kab. Marx I und II, Nr. 206, S. 659; vgl. aber die Darstellung von Koch vor dem DDP-Vorstand am 21. Mai, wonach sich DVP und Zentrum der Kandidatur Tirpitz gegenüber "unklar" verhielten, wohingegen die DDP sich entschieden ablehnend verhielt, Linksliberalismus, Nr. 114, S. 321. 4 Kab. Marx I und I , Nr. , S. 6 0 .
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C. Die Staatspraxis
mit den Deutschnationalen wurden daraufhin abgebrochen. A m 26. Mai trat das Kabinett Marx auf Verlangen der DVP 4 8 3 zurück. 484 Zwei Tage später beauftragte der Reichspräsident den bisherigen Kanzler Marx mit der Regierungsbildung. 485 Marx nahm erneut Verhandlungen mit der DNVP auf. Die Deutschnationalen forderten nun eine Beteiligung an der Regierung in Preußen und einen Wechsel im Außenministerium. Anders als Marx, der diese Forderungen zurückwies, waren die Regierungsparteien bereit, Stresemann fallenzulassen. Zentrum und DDP erklärten, daß sie dieser Frage kein entscheidendes Gewicht beilegten 486 und Stresemanns eigene Partei wollte an ihm nur so lange festhalten, als er es selbst wolle. 487 In der Frage der Beteiligung der Deutschnationalen an der preußischen Regierung blieben die Regierungsfraktionen aber hart. Daraufhin beschloß die DNVP-Fraktion am Abend des 30. Mai den Abbruch der Verhandlungen. 488 Trotz der Absage der Deutschnationalen versuchten es die Regierungsparteien noch einmal, zusammen mit der DNVP ein Kabinett zu bilden. Im Verlauf dieser Verhandlungen verlangten sie am 2. Juni von den Deutschnationalen eine endgültige Stellungnahme zu dem von der Reichskanzlei erstellten Entwurf einer Regierungserklärung, 489 der an die programmatische Erklärung zur Außenpolitik der Regie-
483
Die DVP-Fraktion gab am 26. Mai bekannt, sie habe "entsprechend der bisherigen Haltung der Reichsminister Dr. Stresemann und Jarres einstimmig beschlossen, die Demission des Kabinetts zu fordern, um die Bahn frei zu machen für die verfassungsmäßige Aufgabe des Reichspräsidenten, eine den neuen parlamentarischen Verhältnissen entsprechende Regierungsbildung herbeizufuhren.", Kab. Marx I und II, Nr. 209, Fn. 2. 484 Kab. Marx I und II, Nr. 209, S. 666. 485 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 412. 486 So Marx am 31. Mai vor dem Kabinett, Kab. Marx I und II, Nr. 212, S. 672. 487 Stresemann selbst spricht von einem verklausulierten Votum, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 412; s. auch die Bemerkungen von Koch vor dem Vorstand der DDP am 21. Mai, wonach Stresemann in seiner Fraktion jeden Boden verloren habe, Linksliberalismus, Nr. 114, S. 320, und von Ebert, wonach es eine Tragik sei, wie ein Mann wie Stresemann von seiner eigenen Partei behandelt werde, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 413. 488 Der Beschluß der Fraktion lautet: "Die deutschnationale Fraktion vermag nicht darauf zu verzichten, daß in der auswärtigen und inneren Politik des Reiches eine Kursänderung erfolgt und daß hierfür bei der Regierungsbildung sichtbar Garantien geschaffen werden. Aus diesem Grunde hat sie sich stets mit aller Entschiedenheit für die Tirpitz-Lösung ausgesprochen. Da die von dem bisherigen Herrn RK Marx geführten Verhandlungen für die vorausgesetzte Kursänderung, namentlich auch, was die entsprechende Kursänderung in Preußen anbetrifft, keine Gewähr bieten, verspricht sich die deutschnationale Reichstagsfraktion von einer Fortführung dieser Verhandlungen keinen Erfolg.", Kab. Marx I und II, Nr. 212, Fn. 4. 489 Dieser Entwurf ist abgedruckt in: Kab. Marx I und II, Nr. 211, S. 669 ff.
VII. Das zweite Kabinett Marx
137
rungsparteien vom 20. Mai angelehnt war. 490 Als die DNVP am 3. Juni erneut einer Festlegung zur Außenpolitik auswich und ihrerseits als Vorbedingung ihre Regierungsbeteiligung in Preußen verlangte, scheiterten die Verhandlungen endgültig. DVP, Zentrum und DDP einigten sich darauf, die bisherige Regierungskoalition fortzusetzen. Noch am 3. Juni bestätigte Ebert den bisherigen Reichskanzler Marx und sämtliche bisherigen Minister in ihren Ämtern. 491 Parlamentarisch überlebte das Kabinett jedoch nur durch einen Geschäftsordnungstrick. Zwar lehnte der Reichstag am 6. Juni einen Mißtrauensantrag der DNVP ab. 492 Durch Übergang zur Tagesordnung kam ein Antrag der Nationalsozialistischen Freiheitspartei, der Regierung nach Art. 54 WRV das Vertrauen auszusprechen,493 nicht zur Abstimmung. 494 Statt dessen billigte der Reichstag mit den Stimmen der SPD die Regierungserklärung des zweiten Kabinetts Marx. 495 Bemerkenswert an dieser Regierungsbildung ist der fehlende Versuch der Regierungsparteien, zusammen mit der SPD ein Kabinett auf einer parlamentarischen Grundlage zu bilden. Dies ist auf den ersten Blick besonders deshalb überraschend, weil eine Übereinkunft in der im Vordergrund stehenden politischen Sachfrage, die Verhandlungen über das Gutachten der Dawes-Kommission, mit den Sozialdemokraten sehr viel leichter zu erreichen war als mit den Deutschnationalen. Hinzu kam, daß die DNVP noch sehr viel stärker als die DVP eine offen antidemokratische und antiparlamentarische Partei war. Eine Regierungsbeteiligung der DNVP hätte besonders in der Innenpolitik zu einem deutlichen Rechtsruck geführt. Dies befürchteten insbesondere Teile der DDP, die sich deshalb gegen Verhandlungen mit der DNVP aussprachen und im Falle
490
So Marx in seinem Bericht vor dem Kabinett am 3. Juni, Kab. Marx I und II, Nr. 213, S. 675. 491 Kab. Marx I und II, Nr. 213, Fn. 6. 492 Verh. Rt, Bd. 382, Nr. 184. 493 Verh. Rt, Bd. 382, Nr. 169. 494 Vgl. die erregte Diskussion über diese Verfahrensweise in: Verh. Rt, Bd. 381, S. 211 f.; Koch bezeichnete diesen Antrag als Scherzantrag. 495 "Indem der Reichstag über alle anderen Anträge zur Tagesordnung übergeht, billigt er die Erklärung der Reichsregierung, nach der sie das Gutachten der Sachverständigen als praktische Grundlage für eine schnelle Lösung der Reparationsfrage anerkennt. Er erwartet von der Reichsregierung, daß sie im Interesse der schwer leidenden besetzten Gebiete und zur Aufrechterhaltung der deutschen Wirtschaft mit größter Beschleunigung die zur Durchführung des Gutachtens erforderlichen Gesetzentwürfe vorlegt. Gleichzeitig erwartet er, daß die Reichsregierung die Freiheit der Gefangenen, die Rückkehr der Ausgewiesenen, die Räumung der nichtvertragsmäßig besetzten Gebiete und die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände in den vertragsmäßig besetzten Gebieten sichert.", Verh. Rt, Bd. 382, Nr. 170.
138
C. Die Staatspraxis
einer Regierungsbeteiligung dieser Partei den Austritt der DDP aus der Koalition forderten. 496 So konnte Koch am 21. Mai erst in letzter Minute einen Antrag im Vorstand der DDP verhindern, der eine Beteiligung der DNVP an der Regierung als außenpolitisch bedenklich und eine Beteiligung der DDP an einer gemeinsamen Regierung mit den Deutschnationalen als unmöglich erklärte. Koch, der sich in der Aussprache selbst gegen eine Regierungsbeteiligung der DNVP ausgesprochen hatte,497 bei einer Abstimmung über diese Frage aber die Spaltung der Partei befürchtete, 498 erreichte die Zurücknahme dieses Antrags, der auf Grund des Verlaufs der vorausgegangenen Diskussion im Vorstand eine gute Chance auf eine Mehrheit gehabt hätte, mit dem Hinweis, man solle ihn verhandeln lassen, damit die DNVP Farbe bekennen müsse. Außerdem werde er versuchen, der Partei schwere Krisen zu ersparen. 499 A m Ende setzten sich die jeweils rechten Flügel der Regierungsparteien durch, die sogar bereit waren, Stresemann gegen eine Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen einzutauschen. Auch nach dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen mit der DNVP kam es zu keinen Verhandlungen mit den Sozialdemokraten. Zu groß war die Aversion gegen diese Partei, die beispielhaft in einer Bemerkung des Wehrministers Geßler (DDP) am 16. Mai 1924 zum Ausdruck kam, der es für unerträglich hielt, auch nur äußerlich in Abhängigkeit von der Sozialdemokratie zu geraten. 500 Lieber regierte man mit der Unterstützung von nur 29,2% der Abgeordneten des Reichstages, als in Verhandlungen mit der SPD eine - rechnerisch mögliche - parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Diese Entscheidung fiel auch deshalb besonders leicht, da man ohnehin in dem Bewußtsein lebte, den gerade erst neu gewählten Reichstag für längere Zeit in die Ferien schicken zu können, damit das Kabinett in der Lösung der außenpolitischen Fragen freie Hand habe.501 Die Bildung des zweiten Kabinetts Marx macht damit deutlich,
496 In diesem Sinne äußerten sich Cohnstaedt, Stubmann, Fischer, Hellbach, Rönneburg, Haas, Siehr und Uth in der Sitzung des DDP-Vorstandes am 21. Mai 1924, Linksliberalismus, Nr. 114, S. 321 f. 497 Linksliberalismus, Nr. 114, S. 320. 498 Wie gespalten die DDP in der Frage der Regierungsbeteiligung der DNVP war, zeigt eine Tagebucheintragung von Koch vom 15. Mai 1924, in der er im Hinblick auf die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen feststellte, es bedürfe vor allem einer einigen Fraktion. "Und ob die bei der Geschwollenheit Siemens', der Intrigenhaftigkeit Dietrichs und der Verbohrtheit Keinaths zu erreichen sein wird, bezweifle ich. Möglich, daß es schon über die Frage, ob wir in die Opposition gehen sollen, zur Spaltung kommt.", Nachl. Koch-Weser, Nr. 31, Bl. 4. 499 Linksliberalismus, Nr. 114, S. 323. 500 Kab. Marx I und II, Nr. 201, S. 641. 501 So Geßler am 31. Mai im Kabinett, Kab. Marx I und II, Nr. 212, S. 673.
VIII. Das erste Kabinett Luther
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wie sehr sich die bürgerlichen Parteien von den parlamentarisch-demokratischen Vorgaben der Verfassung entfernt hatten.
VIII. Ein Anachronismus: Hans Luther, der Politiker ohne Partei. Das erste Kabinett Luther Es zeigte sich aber schon bald, daß das Kabinett auch in der Außenpolitik auf die Mitarbeit des Reichstages angewiesen war. Zur Umsetzung des DawesPlanes war sowohl die Verabschiedung von Reichsgesetzen als auch in Bezug auf die Organisation der Reichsbahn eine Verfassungsänderung erforderlich. Da das Kabinett im Reichstag über keine Mehrheit verfügte, mußte die Zustimmung des Parlaments in Verhandlungen mit den Oppositionsparteien erreicht werden. Dabei war die SPD in keiner starken Verhandlungsposition, da die Verabschiedung der Dawes-Gesetze den Vollzug einer auch von ihr angestrebten und bisher unterstützten Außenpolitik darstellte. Ihre Zustimmung zu den Gesetzen galt deshalb als sicher. Anders war die Position der Deutschnationalen, für die der Dawes-Plan ein "Zweites Versailles" darstellte. Ihre Stimmen benötigte man - die Zustimmimg der SPD vorausgesetzt - zwar nicht für die einfachen Dawes-Gesetze, aber für die Verfassungsänderung, die nur über eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag erreichbar war. Die DNVP war deshalb in der Lage, für ihre Zustimmung zu den Dawes-Gesetzen eine Änderung der Regierungspolitik zu verlangen. Bereits im Juni drängte deshalb Ernährungsminister von Kanitz, der wenige Monate zuvor noch selbst der DNVP angehört hatte, auf die Einführung von Agrarzöllen zu Gunsten der deutschnationalen Wählerklientel, um auf diese Weise den Widerstand der Partei in der Frage der Dawes-Gesetze zu überwinden. Eine Rücksichtnahme auf die SPD, die der Einführung von Einfuhrzöllen auf Grund der damit verbundenen Erhöhimg der Brotpreise und der Gefährdung der Arbeitsplätze in der Industrie wegen der zu erwartenden Gegenmaßnahmen des Auslandes nicht zustimmen konnte, sei, so von Kanitz, nicht erforderlich, da sich die Sozialdemokratie bereits zu Gunsten des Dawes-Planes festgelegt habe.502 Unter dem Druck der Deutschnationalen503 kam es außerdem im Zusammenhang mit der Verabschie-
502
So von Kanitz im Kabinett, Kab. Marx I und II, Nr. 226, S. 719; diese Prämie für deutschnationales Wohlverhalten, so H. A. Winkler, Weimar, S. 266, wurde schließlich am Tag nach der Annahme der Dawes-Gesetze, deren Verabschiedung durch ein uneinheitliches Abstimmungsverhalten der DNVP erreicht wurde, durch den Auszug von SPD und KPD aus dem Parlament vereitelt. 503 Kab. Marx I und II, Nr. 289, S. 1004.
140
C. Die Staatspraxis
dung der Dawes-Gesetze zu einer Erklärung des Kabinetts zum VersaillerKriegsschuldartikel. 504 Als auch dies nicht ausreichte, die DNVP zur Annahme der Dawes-Gesetze zu bewegen, wurde ihr unmittelbar vor der Abstimmung seitens der DVP eine angemessene Regierungsbeteiligung versprochen. 505 A m 29. August 1924 ermöglichte die Zustimmung von 48 deutschnationalen Abgeordneten die Annahme des verfassungsändernden Reichsbahngesetzes. 52 ihrer Fraktionskollegen stimmten dagegen. Obwohl die DNVP damit keineswegs geschlossen die Annahme des Dawes-Planes im Reichstag ermöglicht und damit ihre Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit in der Außenpolitik gerade nicht unter Beweis gestellt hatte, löste die Volkspartei noch im September ihr Versprechen ein. Sie verlangte von ihren Partnern in einer einstimmig beschlossenen Entschließung ihrer Fraktion die "Erweiterung des Reichskabinetts durch Hinzuziehung deutschnationaler Männer entsprechend der Bedeutung und Stärke der Partei". 506 Marx, der eine Regierungsbeteiligung der DNVP wegen ihrer außenpolitischen Unzuverlässigkeit sehr skeptisch beurteilte, schlug daraufhin ein Kabinett der Volksgemeinschaft, also eine Koalition von DNVP bis SPD, vor. 507 Diese Idee des Kanzlers wurde von der DVP als wenig glücklich empfunden. Besonders von Kanitz versuchte, Marx von einer solchen Koalition abzubringen, indem er ihn an die Absprachen mit den Deutschnationalen anläßlich der Verabschiedung der Dawes-Gesetze erinnerte. 508 Dennoch konnte sich Marx mit seinem Vorschlag durchsetzen. Das Kabinett verabschiedete Anfang Oktober Richtlinien für die Verhandlungen mit der SPD und der DNVP über die Regierungsumbildung. In den eher vage gehaltenen Richtlinien bekannte sich das Kabinett zur Reichsverfassung, zum Londoner Abkommen, zur Steigerung der Produktion und zur sozialen Gerechtigkeit bei der Vertei-
504
Kab. Marx I und II, Nr. 290, S. 1006 f. G. Abramowski, Kab. Marx I und II, S. XLIX; H. A. Winkler, Weimar, S. 265; F. Stampfer, Jahre, S. 423; auch M. Stürmer, Koalition, S. 64, spricht davon, daß die Ermöglichung der Annahme der Dawes-Gesetze durch einen Teil der Deutschnationalen eine Vorleistung für den Griff nach der Regierungsmacht gewesen sei; vgl. auch Breitscheid, Verh. Rt., Bd. 381, S. 1081 f.; Schultheß 1924, S. 75 ff.; vgl. auch den Brief von Kanitz an Marx vom 4. Oktober 1924, Kab. Marx I und II, Nr. 316, wonach es im August "die Überzeugung der Mehrheit im Kabinett" gewesen sei, "daß man, koste es was es wolle, die Deutschnationalen zur Annahme der London-Gesetze bewegen müßte. Daß dies ohne Konzessionen betreffs Regierungsbildung erreicht werden würde, war unwahrscheinlich. ... Wir müssen doch jetzt die Versprechungen an die Deutschnationalen, durch die die Dawes-Gesetze schließlich zur Annahme kamen, loyal einlösen.". Die "fest zugesagte Verbreiterung nach rechts" dürfe nicht zerschlagen werden. 506 Schultheß 1924, S. 91 f. 507 Kab. Marx I und II, Nr. 309, S. 1074. 508 Brief von Kanitz an Marx vom 4. Oktober 1924, Kab. Marx I und II, Nr. 316, S. 1088 ff. 505
VIII. Das erste Kabinett Luther
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lung der Reparationskosten. 509 Die ursprünglich im Entwurf vorgesehene vorsichtige Festlegung zur Ratifizierung des Washingtoner Abkommens über die internationale Einführung des Achtstundentages war in der Endfassung nicht mehr enthalten.510 Die SPD antwortete am 8. Oktober auf die Übersendung der Richtlinien mit der Forderung nach präziseren Festlegungen. So verlangte sie die ausdrückliche Anerkennung der republikanischen Staatsform, ein klares Bekenntnis zur Fortführung der bisherigen Außenpolitik des Kabinetts Marx und die Ratifizierung des Washingtoner Abkommens. 511 Die DNVP kritisierte an dem Vorschlag des Kanzlers die Nichteinhaltung der ihnen gegebenen Zusicherungen. Außerdem stellte sie ihrerseits Forderungen für eine Regierungsbeteiligung auf, die eindeutig gegen die SPD gerichtet waren. 512 So verlangten sie von ihren potentiellen Koalitionspartnern ein Bekenntnis zur christlichen Jugenderziehung und zur christlichen Kultur sowie die Verneinung des Klassenkampfes. 513 Auf Grund dieser Erklärung lehnte die SPD am 9. Oktober eine Koalition mit den Deutschnationalen ab. 514 Marx erklärte daraufhin die Verhandlungen für die Bildung einer Koalition der Volksgemeinschaft für gescheitert. 515 Es folgten weitere Verhandlungen über eine Regierungsumbildung, in deren Verlauf sich zeigte, daß sowohl die DDP als auch das Zentrum eine Rechtskoalition mit der DNVP ablehnten.516 Von Marx zu einer endgültigen Entscheidung gedrängt, 517 beschlossen die Fraktionen von DDP und vom Zentrum am 14. Oktober, daß sie die bisherige Koalition fortsetzen wollten. 518 Daraufhin erklärte die DVP-Fraktion "die Fortführung der bisherigen Koalitionsregierung praktisch für unmöglich." 519 A u f diese Aufkündigung der Koali-
509
Kab. Marx I und II, Nr. 318, S. 1093 f. Kab. Marx I und II, Nr. 318, S. 1094, Fn. 6. 511 Brief des SPD-Fraktionsvorstandes an Marx vom 8. Oktober, Kab. Marx I und II, Nr. 319, S. 1095 ff. 512 So der Eindruck von Fehrenbach in einer Besprechung des Kanzler mit fuhrenden Vertretern der Regierungsparteien am 9. Oktober über die Antworten von SPD und DNVP, Kab. Marx I und II, Nr. 320, S. 1097. 513 Entschließung der DNVP-Fraktion vom 8. Oktober, Kab. Marx I und II, Nr. 320, S. 1097, Fn. 3. 514 So Müller in einer Besprechung mit Marx am 9. Oktober, Kab. Marx I und II, Nr. 322, S. 1101. 515 Kab. Marx I und II, Nr. 324, S. 1102. 516 So Fehrenbach (Zentrum) und Erkelenz (DDP) in einer Besprechung der Regierungsparteien mit Marx am 10. Oktober, Kab. Marx I und II, Nr. 324, S. 1102 und 1104. 517 Kab. Marx I und II, Nr. 326, S. 1108. 518 Die einmütigen bzw. einstimmigen Beschlüsse der beiden Fraktionen in: Kab. Marx I und II, Nr. 328, Fn. 1. 519 Der Beschluß der DVP-Fraktion in: Kab. Marx I und II, Nr. 328, Fn. 1. 510
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C. Die Staatspraxis
tion durch die DVP reagierte das Zentrum am gleichen Abend noch einmal mit einem Kompromißangebot. Die Fraktion erklärte sich bereit, "einer Erweiterung der Regierung nach rechts auf dem Boden der vom Reichskabinett aufgestellten Richtlinien zuzustimmen, falls die Demokraten auch in der Regierung verbleiben." 520 Die DDP blieb jedoch hart und erneuerte ihre Absage an eine Koalition mit den Deutschnationalen am 15. Oktober. 521 Die feste Haltung der DDP-Fraktion gegenüber den Deutschnationalen war innerhalb der Partei jedoch keineswegs unumstritten. Dies zeigte nicht nur der Parteiaustritt von insgesamt sieben prominenten Mitgliedern, unter ihnen Schiffer und Siemens, im Oktober 1924.522 Auch der Verhandlungsführer der DDP, Koch, hatte trotz der öffentlich gezeigten entschiedenen Ablehnung einer Rechtskoalition Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung.523 Trotz der eindeutigen Beschlüsse der Fraktionen wurde in den folgenden Tagen weiter versucht, eine Einbeziehung der Deutschnationalen in das Kabinett zu erreichen. Da der Weg einer parlamentarischen Regierungsumbildung verstellt war, versuchte man, durch die Einschaltung des Reichspräsidenten ein Rechtskabinett zu bilden. So schlug Luther vor, daß der Reichspräsident auf Vorschlag des Reichskanzlers drei Minister ohne Verhandlungen mit den Fraktionen ernennen sollte. 524 Brauns verlangte eine gemeinsame Initiative von Reichspräsident und Reichskanzler zu Gunsten einer Rechtskoalition, und Stresemann schlug eine Mahnung des Reichspräsidenten an die DDP vor, um bei einem Einzug der Deutschnationalen in die Regierung zumindest ein Verbleiben Geßlers im Amt zu erreichen. 525 Das Drängen seiner Kabinettsmitglieder führte dazu, daß Marx trotz erheblicher Bedenken noch einmal Verhandlungen mit den Deutschnationalen aufnahm.
520
Der Beschluß der Zentrumsfraktion in: Kab. Marx I und II, Nr. 328, Fn. 1. "Die demokratische Fraktion hält daran fest, daß die gegenwärtige Krise ohne Not heraufbeschworen ist und daß die schwerwiegenden Gründe der Außenpolitik ein Beibehalten der jetzigen Regierung erfordern. Die Regierung hat die Pflicht, sich vom Reichstag die Zustimmung für die Fortfuhrung der bisherigen Außen- und Innenpolitik geben zu lassen, und darf erst abtreten, falls wider Erwarten der Reichstag sie dazu zwingt. Entsprechend ihren bisherigen Entschlüssen vermag die Fraktion eine einseitige Erweiterung der Regierung nach rechts nicht mit ihrer Verantwortung zu decken.", Kab. Marx I und II, Nr. 329, Fn. 2. 522 Linksliberalismus, Nr. 117, Fn. 7. 523 S. seine Tagebucheintragung vom 23. Oktober 1924: "Viele innere Zweifel. War es recht, treu zu bleiben in der treulosen Politik? Beinahe möchte ich glauben, ich hätte besser für den Bürgerblock votiert.", Nachl. Koch-Weser 31, Bl. 34. 524 Kab. Marx I und II, Nr. 334, S. 1122. Kab. Marx I und I , Nr. , S. . 521
VIII. Das erste Kabinett Luther
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A m 18. Oktober berichtete Marx im Kabinett über seine Verhandlungen. Es stellte sich heraus, daß die DNVP zwar die vom Kabinett erarbeiteten Richtlinien anerkennen wollte, aber insgesamt vier Minister - von Kanitz nicht mitgerechnet - für sich verlangte. 526 Hinzu kam, daß zwei der vier deutschnationalen Kandidaten gegen das verfassungsändernde Reichsbahngesetz im Zuge der Verabschiedung der Dawes-Gesetze gestimmt hatten.527 Für Marx waren diese Bedingungen unannehmbar. Die äußerste Möglichkeit sah er in drei deutschnationalen Ministern bei gleichzeitigem Verbleiben Geßlers im Amt. Das Kabinett einigte sich auf dieses letzte Kompromißangebot und unterbreitete es den Fraktionen von DDP und DNVP. 5 2 8 Diese waren nicht bereit, auf diesen letzten Kompromißvorschlag einzugehen.529 Dem Kabinett blieb daraufhin nur noch die Möglichkeit, dem Reichspräsidenten die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen. Ebert entsprach dieser Bitte noch am 20. Oktober und löste den Reichstag auf. 530 Der Wahlkampf bot der DNVP noch einmal die Möglichkeit, ihre antidemokratische und antiparlamentarische Haltung zu unterstreichen. "Unsere Partei bleibt, was sie war: monarchisch und völkisch, christlich und sozial. Unsere Ziele bleiben wie unser Name: deutsch und national. Unsere ruhmreichen Farben bleiben Schwarz-Weiß-Rot, unser Wille ist fester denn je: ein Deutschland zu schaffen, frei von Judenherrschaft und Franzosenherrschaft, frei von parlamentarischem Klüngel und demokratischer Kapitalherrschaft. ,.." 531 Bekräftigt wurde diese Erklärung der deutschnationalen Reichstagsfraktion unmittelbar nach der Auflösimg des Reichstags durch den offiziellen Wahlaufruf der DNVP vom 29. Oktober. "Jetzt gilt es so stark zu werden, daß wir unseren Eintritt in die Regierung mit dem unserer Stärke und Bedeutung entsprechenden Einfluß erzwingen, jetzt naht der Großkampftag im Reich und in Preußen,
526
Kab. Marx I und II, Nr. 335, S. 1125. So Marx, Kab. Marx I und II, Nr. 336, S. 1126. 528 Kab. Marx I und II, Nr. 336, S. 1126 f. 529 Die Anwortschreiben der beiden Fraktionen in: Kab. Marx I und II, Nr. 338, Fn. 1; die Deutschnationalen beriefen sich außerdem auf weitgehende Versprechungen, die ihnen die DVP gemacht habe, vgl. die Bemerkungen Stresemanns, der solche Versprechungen bestritt, über eine nochmalige Besprechung mit der DNVP am Vormittag des 20. Oktober, Kab. Marx I und II, Nr. 338, S. 1131. 530 Die Verordnung des Reichspräsidenten lautete: "Parlamentarische Schwierigkeiten machen die Beibehaltung der gegenwärtigen Reichsregierung und gleichzeitig die Bildung einer neuen Regierung auf der Grundlage der bisher befolgten Innen- und Außenpolitik unmöglich. Auf Grund des Art. 25 der Reichsverfassung löse ich deshalb den Reichstag auf.", Verh. Rt, Bd. 383, Nr. 580. 531 Kundgebung der DNVP-Reichstagsfraktion vom 21 Oktober 1924, in: W. Liebe, Deutschnationale Volkspartei, S. 95. 527
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C. Die Staatspraxis
der über Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Gelb entscheidet. Keine Zersplitterung im nationalen Lager!" 532 Trotz dieser hemmungslosen Agitation gegen die Republik und ihre Verfassung läßt sich als Ergebnis der Reichstags wähl vom 7. Dezember 1924 eine Entradikalisierung im Stimmverhalten feststellen. Die SPD errang 26% der Wählerstimmen nach 20,5% im Mai 1924. Verbessern konnten sich auch die DDP von 5,7% auf 6,3% und das Zentrum von 13,4% auf 13,6%. Erstmals in der Geschichte der Republik konnten damit die Parteien der Weimarer Koalition bei einer Wahl ihren Stimmenanteil erhöhen. 533 Sie erreichten zusammen 45,9% der Wählerstimmen und errangen dadurch 47,1 der Mandate des Reichstages. Leichte Gewinne gab es auch für die DVP, deren Stimmenanteil von 9,2% auf 10,1% stieg und für die DNVP, die auf Grund ihres aggressiven Wahlkampfes von den Völkischen und Nationalsozialisten Stimmen gewann und ihren Anteil von 19,5% auf 20,5% erhöhte. 534 Über eine Mehrheit im Reichstag verfügte sowohl eine Rechtskoalition auch ohne die DDP aus DNVP mit dem Landbund, 535 DVP, BVP und Zentrum mit 50,7% als auch die Große Koalition aus SPD, DDP, Zentrum und DVP mit 57,4% der Mandate. 536 Die DVP machte aber bereits am 10. Dezember deutlich, daß sie eine Rechtskoalition notfalls auch ohne die DDP anstrebte. Eine Koalition mit der SPD als auch den Fortbestand der bisherigen Koalition lehnte sie ab. 537 A u f Grund dieser Haltung der Volkspartei beschloß das Kabinett seine Demission und überließ es dem Kanzler, zusammen mit dem Reichspräsidenten den genauen Zeitpunkt des Rücktritts zu besprechen. 538 Die SPD verlangte am 13. Dezember in einem ersten Sondierungsgespräch nach der Reichstagswahl mit Marx auf Grund des Wahlergebnisses personell eine nach links erweiterte
532 Wahlaufruf der DNVP vom 29. Oktober 1922, in: W. Liebe, Deutschnationale Volkspartei, S. 97. 533 Der Stimmenanteil der Parteien der Weimarer Koalition war von 72,4% im Jahre 1919 über 43,6% im Jahre 1920 auf 39,6% im Mai 1924 gesunken, J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.1.2., S. 44. 534 Die Ergebnisse der Wahl in: J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.1.2. und 1.3.1.3, S. 44. 535 Die Abgeordneten des Landbundes hatten bereits in der vorausgegangen Legislaturperiode eine Fraktionsgemeinschaft mit den deutschnationalen Abgeordneten gebildet. 536 J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.1.4., S. 45. 537 So Stresemann in seinem Bericht über eine DVP-Vorstandssitzung, Kab. Marx I und II, Nr. 368, S. 1219. 538 Kab. Marx I und II, Nr. 368, S. 1220 f.; der Rücktritt erfolgte am 15. Dezember, Kab. Marx I und II, Nr. 373, S. 1226 f.
VIII. Das erste Kabinett Luther
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Regierung und sachlich die Fortfuhrung der bisherigen Außenpolitik. Eine Koalition mit der DNVP schloß sie auf Grund deren Haltung im Wahlkampf genauso aus "wie ein erneutes Experiment nach Art der Cuno-Regierung." 539 Auch Marx zeigte sich in diesem Gespräch "aufs höchste erstaunt" über den Wahlkampf der DNVP besonders vor dem Hintergrund der mit deutschnationaler Hilfe erfolgten Verabschiedung der Dawes-Gesetze. Persönlich war für ihn eine Rechtskoalition unannehmbar. Er wollte aber die weitere Entwicklung der Regierungsbildung in erster Linie von einer Stellungnahme seiner Fraktion abhängig machen.540 Diese beschloß am Nachmittag des 17. Dezember, nachdem der Reichspräsident Stresemann gebeten hatte, die Regierungsbildung zu übernehmen, daß sie weiterhin eine Koalition von SPD bis DNVP anstrebe und sich an einer Rechtskoalition nicht beteiligen werde. 541 Die DVP antwortete mit dem Beschluß, sich an der Regierungsbildung führend nicht zu beteiligen und zog Stresemann zurück. 542 Daraufhin beauftragte der Reichspräsident erneut Marx mit der Regierungsbildung. Dieser führte am 18. Dezember nacheinander Gespräche mit den für eine Kabinettsbildung in Frage kommenden Parteien. 543 Dabei zeigte sich, daß die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung auf Grund der gegenläufigen Beschlüsse der Fraktionen unmöglich war. Die Volkspartei schloß eine Koalition mit der SPD, die DDP eine Koalition mit den Deutschnationalen aus,544 und das Zentrum wollte ohne Beteiligung der DDP eine Rechtskoalition nicht eingehen.545 In der Ministerbesprechung am folgenden Tag kam es daraufhin zu einer heftigen Kritik Geßlers an der Reichsverfassung. In ihr habe man "die unzweckmäßigsten Bestimmungen anderer Verfas-
539
So Müller, Kab. Marx I und II, Nr. 371, S. 1223 f. Kab. Marx I und II, Nr. 371, S. 1223 f. 541 Der Beschluß der Zentrumsfraktion lautete: "Die Zentrumsfraktion des Reichstages hält grundsätzlich an dem Streben zur Bildung einer Regierung der Volksgemeinschaft fest. Sie lehnt, vorwiegend aus außenpolitischen Gründen, die Beteiligung an einer Rechtskoalition ab. Sie wird sich nur an einer Regierung beteiligen, welche die Gewähr für die unveränderte Fortführung der bisherigen Politik der Mitte bietet.", Prot. Zentrum, 1920-1925, Nr. 279, S. 547. 542 Der Beschluß der DVP-Fraktion lautete: " Die Fraktion der DVP hat heute nachmittag nach Bekanntgabe des Beschlusses der Zentrumsfraktion beschlossen, sich an der Regierungsbildung führend nicht zu beteiligen. Auf Grund dieses Beschlusses hat Dr. Stresemann den Reichspräsidenten gebeten, von der Betrauung seiner Person mit der Regierungsbildung abzusehen.", Kab. Marx I und II, Nr. 373, Fn. 1. 543 Marx führte Gespräche mit Vertretern der SPD, der DVP, der BVP, der DDP, der Wirtschaftspartei und nochmals mit der DVP, Kab. Marx I und II, Nr. 373, Fn. 1. 544 Bereits am 16. Dezember hatten sich der Vorstand und die Fraktion der DDP für die Wiederherstellung der Großen Koalition und gegen die Bildung einer Rechtskoalition ausgesprochen, Kab. Marx I und II, Nr. 373, Fn. 2. 545 Vgl. die Aufzeichnungen über die Besprechungen mit der DVP in: Kab. Marx I und II, Nr. 373 und 374. 540
10 Hoppe
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C. Die Staatspraxis
sungen zusammengestoppelt" mit der Folge, daß eine dauerhafte Arbeit unmöglich sei. Er forderte deshalb eine Reform der Reichsverfassung zu Gunsten einer starken Staatsautorität durch die Stärkung der Stellung des Reichspräsidenten nach amerikanischem Vorbild oder durch die stärkere Stellung einer einmal berufenen Reichsregierung gegenüber dem Parlament. Diese dringende Reform sei, so Geßler abschließend, leichter mit einem nichtparlamentarischen als mit einem parlamentarischen Kabinett zu erreichen. 546 Sowohl Stresemann als auch Jarres stimmten Geßler zu. 547 Im neuen Jahr bekräftigte Ebert seinen Auftrag an Marx, zur Vermeidung einer überparteilichen Regierung in Verhandlungen mit den Fraktionen zur Bildung einer auf tragfähiger parlamentarischer Mehrheit ruhenden Reichsregierung zu kommen. 548 Die Regierungsfraktionen waren jedoch nicht bereit, ihre im Dezember gefaßten Beschlüsse zu ändern. 549 In Aussicht genommen wurde nun ein sogenanntes überparteiliches Kabinett, das die der Volkspartei nahestehende Zeitung "Die Zeit" als ein bürgerliches Kabinett bezeichnete, "in dem die freiwerdenden Posten mit Persönlichkeiten besetzt werden dürften, die auch den Deutschnationalen die jetzige Lösung annehmbar erscheinen lassen werden." 550 Männer, so Stegerwald, müsse man nun fragen und nicht Parteien. 551 Gefragt wurde Hans Luther. Der parteilose bisherige Finanzminister, sich selbst einen Politiker ohne Partei 552 rühmend, stand der DVP nahe, der er zwischen 1927 und 1933 auch angehörte. 553 Bereits Mitte Oktober 1924 hatte er in einer Ministerbesprechung vorgeschlagen, daß der Reichspräsident allein auf Vorschlag des Kanzlers und unabhängig von den Fraktionen die Minister ernennen sollte. 554 Dieser Richtschnur folgend regte Luther an, daß die an der Regierung beteiligten Parteien nur jeweils einen Vertrauensmann in das Kabi-
546
Kab. Marx I und II, Nr. 375, S. 1232 f. Kab. Marx I und II, Nr. 375, S. 1233. 548 Kab. Marx I und II, Nr. 383, Fn. 1. 549 Becker (Zentrum), Scholz (DVP) und Koch (DDP) bekräftigten in einer Besprechung mit Marx am 3. Januar 1925 die Beschlüsse ihrer Fraktionen, Kab. Marx I und II, Nr. 383, S. 1258 f. 550 Die Zeit vom 3. Januar 1925, Kab. Marx I und II, Nr. 384, Fn. 2.; vgl auch die Kennzeichnung eines solchen Kabinetts durch Koch als versteckten Bürgerblock, Kab. Marx I und II, Nr. 383, S. 1259. 551 Kab. Marx I und II, Nr. 383, S. 1260. 552 So der Titel seiner Memoiren. 553 K. G. Zinn, Luther, S. 295. Kab. Marx I und I , Nr. , S. . 547
VIII. Das erste Kabinett Luther
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nett entsenden sollten. Die übrigen Kabinettsposten wollte er an sogenannte Fachminister vergeben, bei deren Auswahl jedoch auf die Parteiorientierung der Kandidaten Rücksicht zu nehmen sei. 555 Luther wollte damit verhindern, daß sein Kabinett trotz einer festen Bindung an die Parteien nicht als ein eigentliches Parteienkabinett erscheine. 556 Entscheidend für Luthers Erfolg bei seinen Bemühungen war ein Sinneswandel bei der DDP und beim Zentrum. Luther konnte in seinen Verhandlungen erreichen, daß die Demokraten einem Verbleiben Geßlers im Amt des Reichswehrministers als sogenanntem Fachminister zustimmten, 557 ohne selbst der Regierung beizutreten. 558 Daraufhin gab auch das Zentrum, geschwächt durch die Verstrickung in den Barmat-Skandal, 559 den Widerstand gegen eine Beteiligung an einer Rechtskoalition ohne den gleichzeitigen Eintritt der DDP auf. 560 Zwar erblickte Wirth noch am 13. Januar im vorgesehenen Kabinett Luther eine ausgesprochene Bürgerblockregierung und kündigte seinen Widerstand gegen diese Regierung an. Auch Joos empfand die vorgeschlagene Zusammensetzung des Kabinetts als nahezu unerträglich. 561 Als sich die Regierungsfraktionen in Verhandlungen am 14. und 15. Januar auf eine Umgehung des von der DNVP zunächst geforderten parlamentarischen Vertrauensvotums durch die bloße Billigung der Regierungserklärung im Reichstag einigten, war die Entscheidung zu Gunsten der Beteiligung des Zentrums an der Rechtskoalition gefallen. A m 15. Januar glaubte Fehrenbach Luther versichern zu können, daß achtundfünfzig Mitglieder der Zentrumsfraktion die Erklärung der Reichsregierung billigen werden. 562 Noch am selben Abend wurde Luther zum Reichskanzler ernannt.
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H. Luther, Politiker, S. 316; vgl. auch Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 286, Fn. 1. H. Luther, Politiker, S.316. 557 Nachl. Koch-Weser, Nr. 32, Bl. 33 ff. 558 Die DDP sah sich trotz des Verbleibens Geßlers in Opposition zum Kabinett, vgl. die Ausführungen Kochs vor dem Partei vorstand der DDP am 2. Februar 1925, wonach die DDP seit der Revolution zum ersten Male in der Opposition sei, Linksliberalismus, Nr. 118, S. 333. 559 Postminister Höfle (Zentrum) wurde vorgeworfen, dem Barmat-Konzern, dessen Aufsichtsrat er angehörte, rechtswidrig ein Darlehen von 14 Millionen Mark aus Überschüssen der Postverwaltung zur Verfügung gestellt zu haben. Der Kredit galt als verloren, als der Konzern in Liquiditätsschwierigkeiten geriet und die Brüder Barmat Anfang 1925 verhaftet wurden. Ebert entließ Höfle am 9. Januar. 560 Vgl. die Bemerkung Kochs, wonach das Zentrum keinen zuverlässigen Bundesgenosse im Kampf gegen den Rechtsblock abgegeben habe, weil es nach dem BarmatSkandal innerlich gebrochen gewesen sei, Linksliberalismus, Nr. 118, S. 333. 561 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 286, S. 552. 562 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 288, S. 555. 556
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C. Die Staatspraxis
Wie heftig in der Zentrumsfraktion um die Beteiligung an der Rechtskoalition gestritten wurde, zeigte das Ringen in der Fraktion zur Frage des Abstimmungsverhaltens über die Regierungserklärung, 563 die auf Grund von Meinungsverschiedenheiten im Kabinett über die Erklärung verschoben worden war. 564 Brauns drohte sogar damit, aus der Regierung auszuscheiden, wenn ein wesentlicher Teil der Fraktion gegen die Regierung stimme oder sich der Stimme enthalte.565 Die Heftigkeit der Diskussion ist auch in dem Vorwurf Fehrenbachs an Marx erkennbar, daß jener die Regierungskrise verschuldet habe,566 was Marx bestritt. 567 Im Plenum wurde am folgenden Tag die Regierungserklärung mit großer Mehrheit auch vom Zentrum und gegen die Stimmen der SPD gebilligt. 568 Trotz ihrer parlamentarischen Mehrheit - die Regierungsfraktionen von DNVP, DVP, BVP und Zentrum verfügten über 50,7% der Mandate im Reichstag - war das erste Kabinett Luther keine parlamentarische Regierung. Dies folgt besonders aus der Art und Weise, wie Luther die Kabinettsbildung betrieb. Selbst parteilos wollte er einem Kabinett vorstehen, das überwiegend aus sogenannten Fachministern, Beamten höchster Kategorie mit Ministerrang, so Luther, 569 bestehen sollte. Den Regierungsfraktionen wollte er im Kabinett nur je einen Vertrauensmann zugestehen. Auch wenn sich Luther mit dieser Vorstellung bei der DNVP nicht durchsetzen konnte, die mit Innenminister Schiele, Finanzminister von Schlieben und Wirtschaftsminister Neuhaus insgesamt drei Ministerposten erhielt, so ist doch die Orientierung Luthers am vermeintlich überparteilichen Regierungssystem der konstitutionellen Monarchie offenkundig. 570 Bestätigt wird dieser Eindruck durch die an der Koalition beteiligten Parteien. Nur das Zentrum, in der neuen Koalition in der ungewohnten Rolle der linken Flügelpartei, hatte sich durch seine Zustimmung zur Weimarer Reichsverfassung zur parlamentarischen Demokratie bekannt. Die anderen
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Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 291, S. 558 f , besonders Fn. 5. Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 289, Fn. 1. 565 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 291, S. 558 f. 566 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 292, Fn. 1. 567 Marx gab am folgenden Tag in der Fraktion vor dem Eintritt in die Tagesordnung eine Erklärung über seine Haltung seit Beginn der Regierungskrise ab, Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 292, S. 559. 568 "Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung.", Verh. Rt, Bd. 398, Nr. 387; vom Zentrum kamen drei Enthaltung und zwei Nein-Stimmen, darunter eine von Wirth; die DDP hatte Stimmenthaltung und Fraktionszwang beschlossen, Verh. Rt, Bd. 384, S. 231 ff. 569 H. Luther, Politiker, S. 316. 570 So auch H. A. Winkler, Weimar, S. 274. 564
IX. Von der republikanischen Spitze zum Ersatzkaiser
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Regierungsparteien standen in einer mehr oder weniger offenen Gegnerschaft zum verfassungsgemäßen Regierungssystem.
IX. Von der republikanischen Spitze zum Ersatzkaiser: Eberts Tod und Hindenburgs Wahl A m 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Friedrich Ebert im Alter von 54 Jahren. Unmittelbare Todesursache war eine Blinddarm- und Bauchfellentzündung. Mittelbar spielten für seinen Tod aber auch die Kränkungen eine Rolle, die Ebert stellvertretend für die von ihm repräsentierte Republik seitens der sogenannten nationalen Kreise hinnehmen mußte. Als bekannteste und übelste Kränkung ist der Vorwurf des Landesverrats zu nennen, den ein Redakteur der Mitteldeutschen Zeitung, Erwin Rothardt, gegen Ebert wegen seiner Rolle im Berliner Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1918 erhob. Schlimmer noch als dieser Vorwurf wirkte der Ausgang des von Ebert selbst angestrengten Strafprozesses. Das Gericht verurteilte den Redakteur am 23. Dezember 1924 zwar wegen Beleidigung, sprach ihn jedoch vom Vorwurf der üblen Nachrede frei, da der Reichspräsident durch seine Teilnahme an dem Streik Landesverrat im strafrechtlichen Sinne begangen habe. Dieser Rufmord 571 der Richter am Reichspräsidenten und der Republik war leider keine einmalige Entgleisung, sondern nur ein Beispiel von vielen für die Republikfeindschaft der Weimarer Justiz.572 Wie gering der Rückhalt der Republik auch in der Bevölkerung - begünstigt durch solche Vorkommnisse - geworden war, bestätigte noch einmal der Ausgang der durch den Tod Eberts erforderlich gewordenen Präsidentschaftswahlen. Keiner der Kandidaten der Weimarer Koalition erreichte im ersten Wahlgang auch nur annähernd die erforderliche absolute Mehrheit. Noch am besten schnitt der Sozialdemokrat Braun mit einem Stimmenanteil von 29% ab.
571 So W. Birkenfeld, AfS 5 (1965), S. 453, dort auch eine Zusammenstellung der an Ebert begangenen Beleidigungen, dessen juristische Gegenwehr und der Ausgang der Verfahren mit Auszügen aus den Urteilen; zum Prozeß s. außerdem E. Eyck, Geschichte, Bd. I, S. 436 ff. und H. A. Winkler, Schein, S. 229 ff. 572 Zahlreiche Beispiele für die Republikfeindschaft der Weimarer Justiz in: H. Hannover/E. Hannover-Drück, Justiz und B. Engelmann, Rechtsverfall; von einer verhängnisvollen Einseitigkeit der Gerichte spricht auch G. Jasper, Schutz, S. 209; ähnlich argumentiert K. D. Bracher, Auflösung, S. 174; auch C. Gusy, Weimar, S. 360, sieht eine politische Einseitigkeit zu Lasten der politischen Linken und zu Gunsten der politischen Rechten; a. A. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 676.
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C.Die Staatspraxis
Die Kandidaten des Zentrums und der DDP, Marx und Hellpach, erreichten Anteile von 14,5% und 5,8%. Selbst die Addition der Stimmanteile dieser drei Kandidaten ergab mit 49,3% keine Mehrheit für die Republik. Dennoch konnten die Parteien der Weimarer Koalition auf eine Mehrheit für ihren Kandidaten im entscheidenden zweiten Wahlgang hoffen, da Jarres, der Kandidat der Rechten, nur 38,8% der Stimmen erhalten hatte.573 Zuvor mußten sich die Parteien der Weimarer Koalition jedoch auf einen gemeinsamen Kandidaten für den zweiten Wahlgang einigen, da im Wahlgesetz ein Stichentscheid zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten des ersten Wahlganges nicht zwingend vorgesehen war. Vielmehr war auch der zweite Wahlgang offen für alle Bewerber, allerdings mit der Maßgabe, daß nunmehr die relative Mehrheit für die Wahl zum Reichspräsidenten ausreichte. SPD, Zentrum und DDP einigten sich auf Marx als gemeinsamen Kandidaten. Gegen Braun als erfolgreichsten Bewerber der Weimarer Parteien aus dem ersten Wahlgang sprachen Erfahrungen mit Stichwahlempfehlungen bürgerlicher Parteien zu Gunsten der SPD aus dem Kaiserreich, die von vielen bürgerlichen Wählern nicht befolgt worden waren. Außerdem bot sich ein Tauschgeschäft mit der Position des preußischen Ministerpräsidenten an, in die Marx im Laufe des Jahres 1925 bereits zweimal gewählt worden war, die er jedoch jeweils nach kurzer Zeit wieder durch erzwungene Rücktritte verloren hatte. Marx verzichtete in Preußen zu Gunsten von Braun, der ohnehin nur widerstrebend für das Amt des Reichspräsidenten kandidiert hatte, 574 auf eine erneute Kandidatur und erhielt dafür die Unterstützung der SPD im zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl. 575 Gegen Marx, so war auch den sogenannten nationalen Kreisen klar, hatte Jarres nur geringe Chancen. Begünstigt durch das Wahlgesetz, nach dem im zweiten Wahlgang auch solche Bewerber zugelassen werden konnten, die im ersten Wahlgang nicht kandidiert hatten, erhielt die politische Rechte noch einmal freie Hand bei der Suche nach einem populäreren Kandidaten. Sie verfielen auf einen fast 78 Jahre alten Ruheständler, den vermeintlichen "Sieger von Tannenberg": Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorff und von Hindenburg. Seine Kandidatur wurde besonders von jenen Kräften betrieben, die bereits 1920 die demokratische Republik mit Gewalt hatten beseitigen wollen: altpreußische Kerntruppen der DNVP, Großagrarier und Militärs vom
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Thälmann (KPD) erreichte einen Stimmenanteil von 7%, Held (BVP) 3,7% und Ludendorff (NSDAP und Völkische) 1,1%, zum Ergebnis der Reichspräsidentenwahl 1925 s. J. Falter/T. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tab. 1.3.2, S. 46. 574 O. Braun, Weimar, S. 82 f.;; F. Stampfer, Jahre, S. 449; H. Schulze, Otto Braun, S. 471. 575 H. Schulze, Otto Braun, S. 473 f.
IX. Von der republikanischen Spitze zum Ersatzkaiser
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Schlage des Großadmirals von Tirpitz, 576 dem ein entscheidender Anteil an der Überwindung der Vorbehalte Hindenburgs an seiner Kandidatur zukam. 577 Die Hoffnung dieser Kreise, eine scharfe Wendung nach rechts diesmal streng legal zu vollziehen, erfüllte sich am 26. April 1925. Hindenburg erreichte mit etwa 900.000 Stimmen Vorsprung vor Marx die relative Mehrheit von 48,3% der Stimmen, 578 die im zweiten Wahlgang für seine Wahl zum Reichspräsidenten ausreichten. Entscheidend für diesen Sieg Hindenburgs war weniger die in seiner Person angeblich verbürgte Überparteilichkeit, 579 sondern die Unterstützung seiner Kandidatur durch DVP und BVP. Mit der Entscheidung zu Gunsten eines dem politischen Denken der republiktragenden Kräfte mehr als fern stehenden Monarchisten - Hindenburg hatte sich vor seiner Kandidatur der Zustimmung des ehemaligen Kaisers versichert 580 - stellten diese Parteien erneut unter Beweis, daß sie die Republik im Grunde ablehnten. Weder außenpolitische Bedenken im Falle der DVP noch konfessionelle Unterschiede im Falle der BVP stellten ernsthafte Hindernisse für eine Unterstützung Hindenburgs dar. Marx verlor aber durch die fehlende Unterstützung von DVP und BVP nicht nur Stimmen nach rechts. Durch den Beschluß der KPD, ihren Kandidaten Thälmann auch im zweiten Wahlgang antreten zu lassen, waren die 1,9 Millionen kommunistischen Stimmen für Marx verloren. Zumindest ein Teil dieser Wähler, so kann man spekulieren, 581 hätte sich, um Hindenburg zu verhindern, für den Zentrumsmann entschieden. Die KPD-Führung sah es jedoch nicht als die Aufgabe des Proletariats an, "den geschicktesten Vertreter der Bourgeoisinteressen auszusuchen".582 Das wichtigste Ergebnis dieser Wahl war jedoch, daß das schwarz-weiß-rote Lager mit seiner Forderung nach einem starken Staat, der das Parlament und die in ihm vertretenen Parteien ähnlich wirksam in ihre Schranken verweisen konnte wie die konstitutionelle Monarchie vor 1918,583 sich als stärker als die
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H. A. Winkler, Weimar, S. 280. H. Schulze, Weimar, S. 296. 578 Die Wahlergebnisse des ersten und zweiten Wahlganges in: J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tabelle 1.3.2., S. 46. 579 So aber E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 547. 580 H. A. Winkler, Weimar, S. 280 f. 581 In diese Richtung spekulierte wohl auch der Vorwärts, der am Tag nach der Wahl Hindenburg titelte: "Hindenburg von Thälmanns Gnaden", Vorwärts, Nr. 196 a, vom 27. April 1925. 582 H. Weber, Kommunismus, Nr. 43, S. 149. 583 H. A. Winkler, Weimar, S. 283. 577
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Kräfte der parlamentarische Demokratie erwiesen hatte. Mit Hindenburg als Reichspräsident konnte sich dieses Amt allmählich in eine Art Statthalterschaft für den nicht mehr vorhandenen monarchischen Willen verwandeln. Dies hatte auch Auswirkungen auf zukünftige Regierungsbildungen, 584 die Hindenburg gemeinsam mit seinen Beratern dazu nutzte, das Reichspräsidialamt als konkurrierendes Machtzentrum auszubauen585 und auf diese Weise das von der Verfassung vorgegebene parlamentarische Regierungssystem in ein Präsidialsystem zu verwandeln.
X. Der Reichspräsident arbeitet gegen eine parlamentarische Mehrheitsregierung: Das zweite Kabinett Luther Schon sehr bald nach der Bildung der Rechtskoalition zeigte es sich, daß die Regierungsparteien unfähig zur Formulierung einer gemeinsamen Außenpolitik waren. Anders als die SPD, die sich selbst in der Opposition in Fragen der äußeren Politik ausgesprochen gouvernemental gab und sich fast bedingungslos mit den Zielen der offiziellen deutschen Außenpolitik identifizierte, 586 waren die Deutschnationalen selbst als Regierungspartei nicht zu einer verantwortungsvollen Außenpolitik bereit. So kam es nach dem Bekanntwerden des Vorstoßes von Stresemann zum Abschluß eines Sicherheitspaktes der "am Rhein interessierten Mächte", 587 der im Oktober in Locarno tatsächlich erfolgreich in einen Vertrag mündete, zu einer deutschnationalen Pressekampagne gegen den Außenminister. 588 Auch im Kabinett selbst wurde sehr heftig über die Außenpolitik gestritten. 589 Stresemann gelang es jedoch, mit viel Geschick, aber auch massivem Druck bis hin zu einer Rücktrittsdrohung 590 die Außenpolitik deutschnationalem Einfluß zu entziehen. Zu Hilfe kamen ihm dabei die innenpolitischen Interessen der DNVP in Zoll- und Steuerfragen, deren Behandlung
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D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 292. D. Peukert, Weimarer Republik, S. 212. 586 So das Urteil von M. Stürmer, Koalition, S. 110. 587 Das geheime Memorandum Stresemanns an die britische und französische Regierung vom 20. Januar bzw. 9. Februar 1925 in: G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 62 f.; Stresemann hatte seinen Vorstoß aus Mißtrauen gegenüber den deutschnationalen Ministem nur mit Luther und nicht mit dem Kabinett insgesamt abgesprochen, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 64 ff. 588 H. A. Winkler, Weimar, S. 306. 589 S. nur den dramatischen Verlauf der Kabinettssitzung vom 2. Juli 1925 zur Frage einer außenpolitischen Interpellation der DVP-Fraktion, Kab. Luther, Nr. 116, S. 403 ff. 590 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 134. 585
X. Das zweite Kabinett Luther
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im Reichstag noch bevorstand. Die DNVP stand deshalb vor der Wahl, ihre außenpolitische Opposition zu Gunsten der Durchsetzung dieser innenpolitischen Interessen zunächst zurückzustellen oder die Koalition aus außenpolitischen Gründen zu sprengen und dadurch das Scheitern dieser zoll- und steuerpolitischen Gesetzesvorlagen im Reichstag zu riskieren. 591 Als die Deutschnationalen im August 1925 eine ihrer zentralen Forderungen, die Wiedereinführung von Schutzzöllen für Getreide und andere Agrarprodukte, den sogenannten Bülow-Tarif von 1902, im Reichstag durchsetzten, entfiel ein wesentliches Argument für ihre außenpolitische Zurückhaltung. Nun konnten sie, ohne die Interessen ihrer eigenen Klientel zu beschädigen, in der Außenpolitik sich ihrer sogenannten nationalen Gesinnung hingeben. Anlaß boten die zum Abschluß gebrachten Verhandlungen über die Locarno-Verträge, die am 16. Oktober 1925 von Luther und Stresemann paraphiert worden waren und die vom Reichstag bestätigt werden mußten. Nach der Rückkehr der Delegation billigte zunächst der deutschnationale "Vertrauensmann" im Kabinett, Schiele, die Arbeit der Delegation mit einem "lauten Ja". 592 Auch die übrigen deutschnationalen Minister widersprachen nicht, als Hindenburg die Aussprache über die Locarno-Verträge dahin zusammenfaßte, daß sowohl die Arbeit der Delegation als auch die von ihr vorgenommene Paraphierung der Verträge 593 vom Kabinett gebilligt werde. 594 Bereits einen Tag nach diesen Beschlüssen des Kabinetts begann das Eingreifen der DNVP-Fraktion. Sie untersagte Schiele, an weiteren Abstimmungen über die Verträge im Kabinett teilzunehmen, ohne vorher die Meinung der deutschnationalen Fraktion erfragt zu haben.595 A m folgenden Tag, dem 21. Oktober, beschloß die Fraktion, im Reichstag gegen die Locarno-Verträge zu stimmen. Die am 23. Oktober stattfindende Delegiertenversammlung aus DNVP-Vorstand und DNVP-Landesvorsitzenden 596 bekräftigte die ablehnende Haltung der Fraktion, indem sie das Vertragsergebnis von Locarno für unannehmbar erklärte. 597 Zwei Tage später
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So der Eindruck von M. Stürmer, Koalition, S. 117. Kab. Luther, Nr. 201, S. 786. 593 Das in Berlin verbliebene Restkabinett hatte unmittelbar vor der Paraphierung der Verträge durch Luther und Stresemann beschlossen, anstelle der Paraphierung lediglich eine Protokollierung vornehmen zu lassen und diesen Beschluß nach Locarno telegraphiert, Kab. Luther, Nr. 197, S. 772. 594 Kab. Luther, Nr. 210, S. 789. 595 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 205 f. 596 Zum dramatischen Verlauf dieser Sitzung s. M. Dörr, Deutschnationale Volkspartei, S. 173 ff. 597 Kab. Luther, Nr. 205, Fn. 5. 592
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C. Die Staatspraxis
gab die deutschnationale Reichstagsfraktion den sofortigen Austritt aus der Regierungskoalition bekannt.598 Vordergründiger Streitpunkt war die Auslegung des Art. 1 des Locarno-Vertrages. 599 Die Deutschnationalen sahen darin eine Anerkennung der bestehenden Grenzen und damit einen Verzicht auf "deutsches Land und Volk". 6 0 0 Der parteilose Justizminister Frenken verstieg sich sogar zu der Feststellung, jeden Examenskandidaten durchfallen zu lassen, der diesen Art. 1 "dahin interpretiere, daß darin ein Verzicht auf deutsches Land nicht liege". 601 Stresemann verwies darauf, daß sich Deutschland nur verpflichtet habe, in der in den dem Art. 1 des Vertrages folgenden Artikeln bestimmten Weise den territorialen Status Quo zu garantieren. Deutschland verzichte also nur darauf, die bestehenden Grenzen gewaltsam zu verändern. Ein Verzicht auf früheres deutsches Gebiet könne hieraus nicht entnommen werden. Nach Osten seien darüber hinaus nur Schiedsverträge abgeschlossen worden, die eine Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen nicht enthalten.602 Der Streit um die Auslegung des Art. 1 des Locarno-Vertrages hätte damit in befriedigender Weise durch einfache Lektüre der Vertragstexte gelöst werden können. In Wirklich-
598 "In Verfolg des Beschlusses der Reichstagsfraktion vom 21. Oktober und des Parteivorstandes und der Landesverbandsvorsitzenden vom 23. Oktober billigt die Fraktion den Entschluß der Herren Minister Schiele, Neuhaus und von Schlieben, noch heute um ihre Entlassung nachzusuchen.", Kab. Luther, Nr. 208, Fn. la. 599 Art. 1 des Vertrages lautet: "Die Hohen Vertragschließenden Teile garantieren, jeder für sich und insgesamt, in der in den folgenden Artikeln bestimmten Weise die Aufrechterhaltung des sich aus den Grenzen zwischen Deutschland und Belgien und zwischen Deutschland und Frankreich ergebenden territorialen Status Quo, die Unverletzlichkeit dieser Grenzen, wie sie durch den in Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrag oder in dessen Ausführung festgesetzt sind, sowie die Beobachtung der Bestimmung der Artikel 42 und 43 des bezeichneten Vertrages über die demilitarisierte Zone.", in Art. 2 und 3 des Vertrages verpflichten sich die vertragschließenden Teile zum Gewaltverzicht und zur friedlichen Regelung von Meinungsverschiedenheiten, E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, Nr. 354, S. 414 f. 600 So die von Westarp im Auswärtigen Ausschuß des Reichstag am 22. Oktober verlesene Erklärung der deutschnationalen Reichstagsfraktion, mit der sie ihre ablehnende Haltung zu den Locarno-Verträgen begründete: "Die deutschnationale Reichstagsfraktion vermag in dem Ergebnis der Verhandlungen von Locarno nicht die Erfüllung der Forderungen zu sehen, die den Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes gerecht werden. Die Fraktion vermißt außerdem die Erfüllung der Voraussetzungen für einen Vertragsabschluß sowie die Gegenleistungen der anderen beteiligten Mächte, die den Deutschland angesonnenen Opfern entspricht. Angesichts dieser Erkenntnis erklärt die Fraktion schon jetzt, daß sie keinem Vertrag zustimmen wird, der den deutschen Lebensnotwendigkeiten nicht gerecht wird und insbesondere einen Verzicht auf deutsches Land und Volk nicht ausschließt.", Kab. Luther, Nr. 203, Fn. 2. 601 Kab. Luther, Nr. 197, S.771. 602 Kab. Luther, Nr. 201, S. 781.
X. Das zweite Kabinett Luther
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keit ging es den sogenannten nationalen Kreisen aber gar nicht um die in den Verträgen nicht enthaltene formale Anerkennimg bestehender Grenzen. Sie störte der von Deutschland allerdings ausgesprochene Verzicht auf eine gewaltsame Veränderung dieser Grenzen. General von Seeckt machte dies bereits im Juni im Kabinett deutlich, indem er darauf verwies, daß "die Grenzen der Länder nie durch Verträge, stets aber durch die Waffen gezogen worden seien. ... Wenn Reichsminister Dr. Stresemann gesagt habe, wir könnten an eine Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen nicht denken, so müsse er sagen, Deutschland dürfe nur hieran denken." 603 Nach dem Austritt der DNVP aus der Regierungskoalition verlor das Kabinett seine Mehrheit im Reichstag. Die Locarno-Verträge konnten damit nur ratifiziert werden, wenn die Oppositionsparteien DDP und SPD im Reichstag für die Verträge stimmten. Der preußische Ministerpräsident Braun versprach dem Kabinett, für die Zustimmung zu den Verträgen bei den beiden Oppositionsparteien zu werben. Seine Bemühungen könnten aber nur dann erfolgreich sein, so Braun, wenn DDP und SPD "nicht gleich die Aussicht verschlossen werde, nach günstiger Erledigung des Werks von Locarno im Reichstage an einem Kabinett der Großen Koalition beteiligt zu werden". 604 Auch der Vorstand der DDP sprach sich am 3. November für die Bildung einer Großen Koalition 605 als günstigste und vorteilhafteste Lösung aus.606 Beim Zentrum war die Enttäuschung über die Haltung der DNVP besonders groß. Für Fehrenbach hatten sich die Deutschnationalen durch ihr verantwortungsloses Verhalten 607 als unwürdig erwiesen, einer Regierung anzugehören. 608 Auch sie forderten deshalb am 20. November die Bildung einer Großen Koalition. 609 Die DVP teilte zwar die Zentrumskritik an der DNVP bezüglich der Außenpolitik, lehnte
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Kab. Luther, Nr. 110, S. 366. Kab. Luther, Nr. 208, Fn. 3. 605 "Der Parteivorstand der Deutschen Demokratischen Partei billigt die Haltung des Parteivorsitzenden zur innen- und außenpolitischen Entwicklung und erklärt sich nur mit einer Lösung der Krise durch eine Regierung einverstanden, die 1. die Annahme des Vertrages von Locarno von einer befriedigenden Lösung der Rückwirkungen abhängig macht, 2. sich für eine sachliche Durchführung der Politik von Locarno und eine Annäherung der europäischen Staaten einsetzt, 3. eine Innenpolitik gewährleistet, die der Festigung der Republik dient und 4. sich auf die Parteien stützt, die diese Außen- und Innenpolitik entschlossen mitmachen.", Linksliberalismus, Nr. 126, S. 355. 606 So Koch in seinem vom Vorstand gebilligten Beschluß zur politischen Lage, Linksliberalismus, Nr. 126, S. 355. 607 So in einer Besprechung der Koalitionsspitzen am 3. November, Kab. Luther, Nr. 216, S. 833. 608 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 332a, S. 606 f. 609 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 334, S. 619. 604
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aber bereits am 3. November eine Zusammenarbeit mit der SPD "aus wohlverstandenen Gründen der deutschen Wirtschaft" in der Innen- und Wirtschaftspolitik ab. Sie favorisierte an der Stelle einer Großen Koalition eine "Politik der Mitte mit wechselnden Mehrheiten". 610 Die SPD, der die Koalitionsangebote galten, ließ jedoch in ihrer Mehrheit jeglichen Machtinstinkt vermissen. A u f Grund der Haltung der DNVP war die Regierung auf die Zustimmung der SPD im Reichstag zu den Locarno-Verträgen angewiesen. Sie hätte deshalb, das zeigen die Koalitionsangebote der bürgerlichen Parteien, für ihre Zustimmung zu den Verträgen einen Regierungseintritt unter für sie günstigen Bedingungen aushandeln können. Statt dessen erklärte der SPD-Fraktionsvorstand am 28. Oktober, daß sich an der scharfen Oppositionshaltung der SPD auch nach dem Austritt der Deutschnationalen nichts geändert habe. Die Fraktion bekräftigte am 6. November diesen Beschluß ihres Vorstandes und forderte zur Lösung der Krise Neuwahlen. 611 Gerechterweise muß man jedoch feststellen, daß die Verhandlungsposition der Sozialdemokraten nicht so günstig war, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mochte. Die Locarno-Verträge lagen genau auf der auch von der SPD immer verfolgten außenpolitischen Linie. Die Drohung der Sozialdemokraten mit dem Scheitern der Verträge hätte deshalb auf die bürgerlichen Verhandlungspartner wenig glaubhaft gewirkt. Auch bei einer vorzeitigen Auflösung des Reichstages hätte die SPD nüchtern betrachtet keinen günstigen Stand gehabt. Sie hätte im Wahlkampf nur schwer vermitteln können, warum sie um Stimmen für einen Vertrag warb, den sie unmittelbar vorher im Reichstag hatte scheitern lassen. Dies bedenkend, rückten die Sozialdemokraten immer mehr von ihrer Forderung nach Neuwahlen ab. 612 Luther konnte daher am 17. November im Kabinett berichten, daß die SPD die Auflösung des Reichstages nicht mehr erzwingen wolle und voraussichtlich für die Verträge von Locarno stimmen werde. 613 A m 27. November stimmte die SPD geschlossen für die Verträge und ermöglichte ihnen so eine Mehrheit von 291 gegen 174 Stimmen. Die Gegenstimmen kamen aus der DNVP, der KPD, der Wirtschaftspartei und den Völkischen bei drei Enthaltungen der BVP. 614
610 So ihr Fraktionsvorsitzender Scholz in der Besprechung der Koalitionsspitzen am 3. November, Kab. Luther, Nr. 216, S. 834. 611 Kab. Luther, Nr. 216, Fn. 7. 612 F. Stampfer, Jahre, S. 465 ; W. Keil, Erlebnisse, Bd. 2, S. 329; K. E. Rieseberg, VfZ 30(1982), S. 146 f. 613 Kab. Luther, Nr. 226, S. 872. 614 Verh. Rt.,Bd. 388, S. 4659 ff.
X. Das zweite Kabinett Luther
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Wie angekündigt615 trat das Kabinett nach der am 1. Dezember in London erfolgten Unterzeichnung der Locarno-Verträge am 5. Dezember zurück. 616 Es hätte nahe gelegen, die neue Regierung aus den Parteien zu bilden, die die Ratifizierung der Locarno-Verträge durch ihre Zustimmung im Reichstag ermöglicht hatten. Zentrum 617 und DDP 6 1 8 forderten auch zur Lösung der Regierungskrise die Bildung einer Großen Koalition. Richtschnur für die weiteren Verhandlungen zur Regierungsbildung wurde jedoch eine Denkschrift des Staatssekretärs im Reichspräsidialamt, Meissner, vom 2. Dezember. 619 Darin trug er für Hindenburg diejenigen Gründe zusammen, die für und gegen die Bildung einer Großen Koalition sprachen. Die zu großen sachlichen Gegensätze der beiden Flügelparteien DVP und SPD, die zu erwartende Verschlechterung des Verhältnisses zu Bayern bei der Aufnahme der SPD in die Reichsregierung, die angeblichen personellen Forderungen der Sozialdemokraten wie die Herausnahme Luthers und Geßlers aus dem Kabinett und ihre sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen lassen Meissner zu dem Schluß kommen, daß eine Große Koalition jetzt nicht möglich sei. Deshalb müsse man "von vornherein die Taktik bei der Regierungsbildung so einrichten, daß schließlich die Koalition der Mitte herauskommt." Um den Widerstand bei der DDP und beim Zentrum gegen diese Koalition zu überwinden, müsse zunächst versucht werden, eine Große Koalition zu bilden. Erweise sich diese auf Grund der gegensätzlichen sachlichen und personellen Forderungen von DVP und SPD als nicht möglich, "wird mit Sicherheit das Zentrum und mit Wahrscheinlichkeit auch die demokratische Fraktion bereit sein, eine Koalition der Mitte unter Luther zu bilden". Luther dürfe aber nicht von vornherein mit der Regierungsbildung betraut werden, "da er durch das System seines Versuches, die Große Koalition zu bilden, sich parlamentarisch verbrauchen und untauglich machen würde, die Koalition der Mitte (mit Anlehnung nach rechts) zu bilden". Bedenken wegen der fehlenden parlamentarischen Mehrheit eines solchen Kabinetts zerstreute Meissner mit der Bemerkung, daß außenpolitische Entscheidungen in der nächsten Zeit nicht zu erwarten seien und daß deshalb die Regierung auf eine Unterstützung durch die Sozialdemokraten verzichten
615 Das Kabinett hatte am 19. November beschlossen, nur bis zur Unterzeichnung der Locarno-Verträge im Amt zu bleiben, Kab. Luther, Nr. 230, S. 894 ff. 616 Kab. Luther, Nr. 243, S. 942. 617 Brauns sah am 5. Dezember im Kabinett in der Bildung einer Großen Koalition die einzig mögliche Lösung, Kab. Luther, Nr. 243, S. 942. 6,8 Koch empfahl in einer Unterredung mit dem Reichspräsidenten am 7. Dezember für seine Fraktion die Große Koalition. An einer anderen Lösung würde sich die DDP "kaum" beteiligen, Kab. Luther, Nr. 246, S. 986. 619 Die Schrift ist abgedruckt in: M. Stürmer, Koalition, Anhang IV, S. 288.
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C. Die Staatspraxis
könne. Für die wichtigen innenpolitischen Entscheidungen wie etwa die Minderung der Sozial- und Steuerlasten könne das Kabinett auf die Unterstützung der DNVP rechnen, "ohne daß die Reichsregierung besondere Verpflichtungen eingeht". Genau nach diesem von Meissner vorgegebenen Weg verfuhr Hindenburg bei der ersten Regierungsbildung unter seiner Präsidentschaft. Dem Volksparteiler Scholz, der sich für Luther als Kanzlerkandidaten aussprach, erklärte er in einer Unterredung am 7. Dezember, daß zunächst ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen wahrscheinlich wäre. In diesem Fall "würde Luther unnötig exponiert und immerhin so belastet, daß er es schwerer haben würde, eine Koalition zu bilden, die sich etwa auf Rechts stützen müßte". 620 Nachdem Fehrenbach am 13. Dezember es ablehnte, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen, 621 beauftragte Hindenburg am folgenden Tag Koch mit der Regierungsbildung auf der Grundlage einer Großen Koalition. 622 Die Verhandlungen scheiterten, wie erwartet, an den großen sachlichen Unterschieden der beiden Flügelparteien. Die Volkspartei war nicht bereit, auf die sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen der SPD einzugehen.623 Die SPD-Fraktion beschloß deshalb am 16. Dezember, daß keine geeignete Grundlage zur Bildung einer Großen Koalition bestehe.624 A m folgenden Tag gab Koch seinen Auftrag zur Regierungsbildung zurück. Gegenüber Hindenburg 625 und in seinen
620
Kab. Luther, Nr. 246, S. 986. Schultheß 1925, S. 190; Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 341, Fn. 5; Kab. Luther, Nr. 246, Fn. 10. 622 Schultheß 1925, S. 189 f. 623 Die SPD hatte am 9. Dezember Verhandlungen über die Bildung einer Großen Koalition von der vorrangigen Erörterung folgender Programmpunkte abhängig gemacht: offenes Eintreten für die Republik, Abwehr aller monarchistischer Restaurationsversuche, Wiederherstellung des achtstündigen Normalarbeitstages, baldige Verabschiedung eines Gesetzes über die Arbeitslosenunterstützung, Handelspolitik mit dem Ziel der Förderung des industriellen Exports, Schaffung eines endgültigen Reichswirtschaftsrates, reichsgesetzliche Regelung der Fürstenabfindung mit rückwirkender Kraft und baldigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, Schultheß 1925, S. 189; am 16. Dezember erhob sie weitere Forderungen wie die Erhöhung der Erwerbslosenunterstützungssätze, die Ausdehnung der Erwerbslosenunterstützung auf alle Arbeitslose und die Beschränkung von Überstunden, Schultheß 1925, S. 192. 624 Prot. Zentrum 1920-1925, Nr. 345, Fn. 1. 625 "Die Deutsche Volkspartei sei den Forderungen der Linken sehr weit entgegengekommen, die Sozialdemokraten hätten aber dieses Entgegenkommen für nicht ausreichend erklärt, und hieran seien die Verhandlungen schließlich gescheitert. Der tatsächliche Grund für das Scheitern des Gedankens der Großen Koalition sei der, daß die Sozialdemokratie innerlich die Große Koalition in diesem Winter wirtschaftlicher Schwierigkeiten und steigender Erwerbslosigkeit nicht will", so Meissner in einem 621
X. Das zweite Kabinett Luther
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Tagebuchaufzeichnungen 626 gab Koch, der nicht wußte, daß seine Kandidatur nur die Bildung einer bürgerlichen Minderheitsregierung unter Luther vorbereiten sollte, der SPD die Schuld am Scheitern der Verhandlungen. Im neuen Jahr versuchten Fehrenbach und Koch noch einmal die Bildung einer Großen Koalition. Obwohl Braun, Severing, Scheidemann und David sich am 12. Januar öffentlich für die Bildung einer Großen Koalition einsetzten,627 beschloß ihre Fraktion am selben Tag das endgültige Scheitern der Verhandlungen. 628 Der Weg war damit frei für Luther, der am folgenden Tag von Hindenburg mit der Bildung einer bürgerlichen Minderheitsregierung beauftragt wurde. Die Parteien einigten sich schnell auf ein neues Kabinett. Allein die Besetzung des Innenministeriums war umstritten. Zunächst reklamierte die DVP dieses Ministerium für sich. Da aber das Justizministerium mit Marx an das Zentrum und das Außenamt mit Stresemann an die DVP gegangen war, einigte man sich darauf, das Innenministerium der DDP zu überlassen. Die DDP schlug für diese Position ihren Fraktionsvorsitzenden Koch vor und folgte damit dem Beispiel der Koalitionspartner, die ebenfalls ihre Partei- und Fraktionsvorsitzenden ins Kabinett entsandten. Die Bayerische Volkspartei widersprach jedoch dieser Besetzung des Innenministeriums, da Koch ihnen als zu unitaristisch erschien. 629 Nach einer heftigen Auseinandersetzung innerhalb der DDP-Fraktion, in der Koch auf das Innenministerium verzichtete und sich dennoch aus parteitaktischen und staatspolitischen Gründen 630 für ein Eintreten seiner Partei in das Kabinett aussprach, beschloß die Fraktion mit nur einer Stimme Mehrheit die Teilnahme an der Koalition. 631 A m 20. Januar wurde das
Vermerk über das Gespräch Kochs mit Hindenburg anläßlich der Rückgabe seines Verhandlungsauftrages, Kab. Luther, Nr. 256, Fn. 1. 626 Kab. Luther, Nr. 256; dort auch die von Koch erarbeiteten Richtlinien für die Regierungsarbeit. 627 Vorwärts, Nr. 17 vom 12. Januar 1926. 628 "Die Deutsche Volkspartei war es insbesondere, die der sozialistischen Forderung über den Achtstundentag die Zustimmung versagte, die sich im Sozialpolitischen Ausschuß gegen die sozialistischen Anträge zur Erwerbslosenfürsorge erklärte und die in der Frage der jetzt zum öffentlichen Skandal gewordenen Fürstenabfindung die sozialistischen Forderungen zurückwies. Deshalb erklärt die sozialdemokratische Fraktion, daß für die Bildung einer Regierung der 'Großen Koalition' keine Grundlage besteht.", Schultheß 1926, S. 6. 629 So Koch in seinem Bericht über die Verhandlungen der Parteien zur Regierungsbildung am 24. Januar vor dem Parteiausschuß der DDP, Linksliberalismus, Nr. 129, S. 365. 630 So seine Formulierung vor dem Parteiaussschuß, Linksliberalismus, Nr. 129, S. 366. 631 Schultheß 1926, S. 7.
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C. Die Staatspraxis
neue Kabinett von Hindenburg ernannt. 632 Die Vertrauensabstimmung im Reichstag am 28. Januar 1926 ergab eine Mehrheit von 160 Ja-Stimmen der Koalition gegen 150 Nein-Stimmen der DNVP, der KPD und der Völkischen bei 130 Enthaltungen der SPD und der Wirtschaftspartei. 633 Die erste Regierungsbildung unter der Präsidentschaft Hindenburgs unterschied sich auf den ersten Blick nicht grundsätzlich von den bisherigen Kabinettsbildungen. Im Gegenteil: Die Diskussionen zur Bildung einer neuen Regierung wurden weitgehend von den Parteien und ihren Reichstagsfraktionen bestimmt. Luther, der durch seine Rolle bei der Bildung seines ersten Kabinetts dieses in die Nähe der konstitutionellen Beamtenkabinette des Kaiserreichs gebracht hatte, fühlte sich in seinem zweiten Kabinett, das "grundsätzlich, wenn auch nicht ausnahmslos, aus Parteivertretern gebildet war, niemals recht zu Haus ..." 634 Dennoch war die Bildung des zweiten Kabinetts Luther keine Rückkehr zum parlamentarischen und damit verfassungsgemäßen Regierungssystem. Die Kabinettsbildung vollzog sich exakt nach dem von Meissner am 2. Dezember 1925 verfaßten Plan. Hindenburg ließ die Parteien so lange verhandeln, bis das Koalitionsproblem nur noch in Gestalt einer bürgerlichen Minderheitsregierung lösbar schien.635 Erst dann präsentierte er Luther und verband dessen Beauftragung mit einem dramatischen Appell an die Parteien, 636 der nicht nur das Volk, sondern auch die beteiligten Akteure beeindruckte. 637 Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik hatte damit der Reichspräsident gegen und nicht für eine parlamentarische Mehrheitsregierung gearbeitet. 638 Das zweite Kabinett Luther läßt sich damit als eine Regierung im Übergang zu den Präsidialkabinetten bezeichnen.639
632
Kab. Luther, Nr. 265, S. 1044. "Die Reichsregierung besitzt das Vertrauen des Reichstages.", Verh. Rt, Bd. 406, Nr. 1799, Abstimmung in: Verh. Rt. Bd. 388, S. 5232 ff. 634 H. Luther, Politiker, S. 416. 635 So auch der Eindruck vom M. Stürmer, Koalition, S. 140. 636 "Sollte auch dieser Versuch scheitern, so wäre dadurch das deutsche Vaterland vor eine Lage von größtem Emst gestellt, da jedem Gedanken einer anderen Regierungsbildung schwerste Bedenken entgegenstehen.", Schultheß 1926, S. 6 f. 637 So P. Haungs, Reichspräsident, S. 105. 638 H. A. Winkler, Weimar, S. 311. 639 J. Curtius, Minister, S. 13. 633
XI. Das dritte Kabinett Marx
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XI. Der Kanzler wird ausgetauscht: Das dritte Kabinett Marx Das zweite Kabinett Luther blieb nur wenige Monate im Amt. Anlaß für seinen Sturz war der von Luther selbst provozierte Flaggenstreit, dessen Entstehen und Behandlung eindrucksvoll die politische Unerfahrenheit und die mangelnde Sensibilität für politische Fragen dieses sogenannten Fachmannes an der Spitze der Reichsregierung deutlich machte. A m 20. April 1926 wandte sich Luther brieflich an Stresemann mit der Frage, "ob es nicht zweckmäßig sei, für eine möglichst weite Verbreitung der Handelsflagge 640 einzutreten". 641 Anlaß war eine große Zahl von Eingaben an die Reichskanzlei und das Auswärtige Amt, im Ausland an Stelle der Reichsflagge die Handelsflagge zu zeigen. Für die deutschen Häuser in Übersee sei die schwarz-rot-goldene Flagge etwas Fremdes, das sie ablehnen. A n die alte schwarz-weiß-rote Flagge knüpfe sich demgegenüber "für die in der Fremde ringenden Landsleute in ganz besonderer Weise die Geltung des deutschen Reiches in der Welt". 642 Aber nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland symbolisierten die schwarz-weiß-roten Farben das alte Kaiserreich. Sie wurden im Kampf gegen die Republik eingesetzt, deren Farben gleichzeitig immer wieder verunglimpft wurden. Diskussionen um die Flagge waren damit immer hochbrisant und mehr noch als Fragen der praktischen Politik auf Grund ihres hohen Symbolwertes geeignet, Leidenschaften zu wecken und tiefe Gräben aufzureißen. Dennoch beschloß das Kabinett auf Initiative Luthers einstimmig, dem Reichspräsidenten eine Änderung der Flaggenverordnung vorzuschlagen mit dem Ziel, daß die gesandtschaftlichen und konsularischen Behörden des Reiches neben der Reichsflagge künftig auch die Handelsflagge zu führen haben.643 Die geringe politische Sensibilität des Kabinetts und besonders ihres sogenannten Fachmannes an der Spitze wird an dem Umstand deutlich, daß sich das Kabinett im Vorfeld einer solch brisanten Entscheidung nicht der Unterstützung der Regie-
640
Nach Art. 3 Satz 2 WRV war die Handelsflagge in den alten kaiserlichen Farben schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke. Die Verordnung des Reichspräsidenten vom 11. April 1921 beschränkte den Anwendungsbereich der Handelsflagge ausdrücklich auf die deutsche Handelsflotte. 641 Kab. Luther, Nr. 339, S. 1293. 642 So der Hamburger Senator Burchard in einem Schreiben an Luther vom 19. April 1926, auf das sich dieser in seinem Schreiben an Stresemann bezieht, Kab. Luther, Nr. 337, S. 1288. 643 Kab. Luther, Nr. 350, S. 1321. 11 Hoppe
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C. Die Staatspraxis
rungsfraktionen versicherte. 644 Entsprechend heftig fielen dort nach dem Bekanntwerden des Beschlusses die Reaktionen aus. In der Zentrumsfraktion kam es am 4. Mai zu einer "lebhaften Aussprache" mit dem Ergebnis, daß die Fraktion die Zurückziehung oder Nichtverkündung der Flaggenverordnung forderte. 645 Durch die Verordnung, die eine Etappe auf dem Weg zur ehemaligen Flagge sei, werde das deutsche Staatswesen zurückrevidiert. 646 Die Zentrumsfraktion beschloß, jede Verantwortung für die politischen Folgen abzulehnen.647 Ähnlich verlief die Diskussion in der DDP-Fraktion. Auch dort war die Entrüstung groß und die Fraktion beschloß, daß sie mit der Flaggenverordnung nicht einverstanden sei. 648 Aber nicht nur in den Regierungsfraktionen, sondern in der Öffentlichkeit insgesamt kam es zu heftigen Reaktionen. Das Reichsbanner veranstaltete im ganzen Reich Protestkundgebungen gegen die Flaggenverordnung. 649 Der Vorwärts sprach von einer Provokation des republikanischen Volkes durch Mißachtung des Flaggensymbols der Republik 650 und Theodor Wolff, DDP-Mitbegriinder und Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts, erklärte, er wolle nicht einen Zentimeter des schwarz-rot-goldenen Tuches durch zweideutige Griffe sich entreißen lassen.651 Beeindruckt von diesen Reaktionen beschloß das Kabinett am 5. Mai eine Beschränkung der Verordnung auf außereuropäische Plätze und solche europäischen Plätze, die von Seehandelsschiffen angelaufen werden. 652 Diese Beschränkung führte natürlich nicht zu einer Beruhigung der Situation. A m 6. Mai brachte die SPD eine Interpellation zur Flaggenfrage und einen Mißtrauensantrag im Reichstag ein. 653 Scheidemann rief aus, daß man einen Reichskanzler nicht dulden könne, der sich erlaube, derart mit dem zu spielen,
644 Koch, Nachl. Koch-Weser, Nr. 34, Bl. 147, spricht deshalb auch von einem unglaublichen Dilettantismus. "Taktisch bleibt es unglaublich, daß Luther gemeint hat, die ganze Angelegenheit erledigen zu können, ohne die Parteien zu hören. Ich nenne das nicht führen, sondern allein wegrennen. Daß unsere Minister es mitgemacht haben, beweist leider einmal wieder die eigenartige Tatsache, wie schnell einem Minister der politische Sinn schwindet.", so Kochs Tagebucheintragung vom 6. Mai, Nachl. KochWeser, Nr. 34, Bl. 129 f. 645 So das Protokoll, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 34, S. 32. 646 So Joos am 5. Mai in der Fraktion, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 35, S. 33. 647 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 35, S. 33. 648 Nachl. Koch-Weser, Nr. 34, Bl. 137. 649 Zu den Aktivitäten des Reichsbanners s. F. Stampfer, Jahre, S. 480 f. 650 Vorwärts, Nr. 209 vom 5. Mai 1926. 651 Die große Dummheit, Berliner Tageblatt Nr. 211 vom 6. Mai 1926, abgedruckt in: Th. Wolff, Journalist, S. 219. 652 Kab. Luther, Nr. 354 und 356. 653 Verh. Rt, Bd. 408, Nr. 2264 und 2269.
I. Das i t e Kabinett Marx
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was der deutschen Republik heilig sei. 654 Koch kündigte für seine Fraktion an, daß sie sich dem Mißtrauensvotum der SPD anschließen werde, "wenn die Dinge so blieben". 655 Die anderen Regierungsfraktionen lehnten jedoch eine Zurückziehung der Verordnung mit Rücksicht auf Hindenburg ab. 656 Daraufhin bot Koch am 8. Mai zur Lösung der Krise einen Brief Hindenburgs an den Reichskanzler an, in dem sich der Reichspräsident unter Wegfall der schwarzweiß-roten Handelsflagge ausdrücklich für die Reichsfarben schwarz-rot-gold als einheitliche Reichsflagge aussprechen sollte. 657 Der Briefentwurf wurde in den Koalitionsberatungen jedoch soweit verwässert, 658 daß Koch für seine Fraktion erklärte, daß sie nicht gegen das sozialdemokratische Mißtrauensvotum stimmen könne. 659 Trotz massiven Drucks, insbesondere mit der Drohung des Rücktritts des Reichspräsidenten und der dadurch eintretenden "Staatskrise", 660 lenkte Koch nicht ein. 661 Gemeinsam mit seinem Parteifreund Erkelenz forderte er am 10. Mai in einer Besprechung mit seinen Koalitionspartnern den Rücktritt Luthers, 662 der in seinen Augen die Krise herbeigeführt
654
Verh. Rt, Bd. 390, S. 7036. So Koch in einem Gespräch mit dem Staatssekretär beim Reichspräsidenten, Meissner, Kab. Luther, Nr. 357, S. 1343 und gegenüber seinen Koalitionspartnern im Interfraktionellen Ausschuß, Kab. Luther, Nr. 358, S. 1345. 656 So Marx im Interfraktionellen Ausschuß, Kab. Luther, Nr. 358, S. 1346. 657 Kochs Entwurf lautete: "Die Aufnahme, die die Verordnung vom Mittwoch, dem 5. Mai 1926, über die Flaggenfrage gefunden hat, bestärkt mich in der Überzeugung, daß in dem Streit um die deutsche Reichsfahne eine Teillösung nicht geeignet ist, dauernde Beruhigung zu schaffen." Die Reichsregierung möge deshalb "dem Reichstag in größter Beschleunigung eine Vorlage zur Schaffung einer einheitlichen Reichsflagge" vorlegen. "Dabei gehe ich von der Erwägung aus, daß die schwarz-rot-goldene Fahne, die auf der deutschen Reichsverfassung beruht, nicht beseitigt werden kann, ohne daß wertvolle Elemente, die unter dieser Fahne Staatsgesinnung gewonnen haben und auf deren Mitarbeit wir angewiesen sind, abgestoßen werden. ... Ohne den schlüssigen Erwägungen vorgreifen zu wollen, denke ich mir das in der Form, daß auf der schwarzrot-goldenen Fahne in weißem Felde ein schwarz-roter Adler erscheint.", Nachl. KochWeser, Nr. 34, Bl. 162 f. 658 S. zu diesen Beratung Kab. Luther, Nr. 360, Fn. 4-9; der endgültige und alles offen lassende Brief des Reichspräsidenten ist abgedruckt in: Schultheß 1926, S. 94 f. 659 Kab. Luther, Nr. 360, S. 1352. 660 So ausdrücklich Stegerwald, Kab. Luther, Nr. 360, S. 1354. 661 S. die Ausführungen von Scholz, Guerard und Stegerwald in einer Besprechung Luthers mit Vertretern der Koalitionsfraktionen, Kab. Luther, Nr. 360; wie heftig in dieser Frage gestritten wurde, zeigt die Bemerkung von Scholz, wonach sich bei einem Rücktritt Hindenburgs und des damit verbundenen Chaos "sich der ganze Groll und Haß des Volkes, soweit es überhaupt vernünftig und staatstragend denke, auf den Reichstag abladen" werde. Seine politischen Freunde würden dann "mit aller Energie das Volk dahin aufzuklären suchen ..., daß an diesem Chaos allein die Demokraten die Schuldigen seien.", Kab. Luther, Nr. 360, S. 1353 f. 662 Kab. Luther Nr. 360, S. 1353 und S. 1355. 655
Ii*
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C. Die Staatspraxis
hatte.663 Die Folge war die Solidarisierung des Kabinetts unter Einschluß der beiden DDP-Minister mit Luther. 664 A m folgenden Tag verschärfte sich die Krise noch einmal durch einen verunglückten Auftritt 665 des Reichskanzlers im Reichstag.666 Daraufhin beschloß die DDP-Fraktion in der Nacht zum 12. Mai, einen Mißbilligungsantrag gegen den Kanzler wegen dessen Verhalten in der Flaggenfrage im Reichstag einzubringen. 667 Dieser Antrag wurde mit 177 Stimmen von DDP, SPD und KPD gegen 146 Stimmen von DVP, Zentrum und BVP bei Stimmenthaltung der DNVP 6 6 8 angenommen.669 Noch am selben Tag trat das Kabinett zurück. 670 Zur Lösung der Regierungskrise kamen drei Möglichkeiten in Betracht: die Fortführung der bürgerlichen Minderheitskoalition, die Große Koalition unter Einschluß der SPD und die Rechtskoalition zusammen mit der DNVP. Die letzte Möglichkeit schied aus, weil sowohl Zentrum als auch DDP nach wie vor eine Zusammenarbeit mit den Deutschnationalen ablehnten. Aber auch das Verhältnis zur SPD war belastet. Die Sozialdemokraten bereiteten zusammen mit den Kommunisten einen Volksentscheid über die entschädigungslose Enteignung der ehemaligen deutschen Fürsten vor. Die bürgerlichen Parteien lehnten eine entschädigungslose Enteignung ab und strebten eine weniger radikale und parlamentarische Lösung an. 671 Die bisherigen Koalitionsparteien einigten sich deshalb am 14. Mai darauf, "das alte Kabinett zu belassen und ihm nur eine neue Spitze zu geben".672 Gleichzeitig verfolgte das Zentrum das Ziel, nach dem Volksentscheid über die Fürstenenteignung eine Große Koalition zu
663
So Koch in Vorstand seiner Partei am selben Abend, Linksliberalismus, Nr. 131, S. 389. 664 Kab. Luther, Nr. 361, S. 1360. 665 Nach F. Stampfer, Jahre, S. 482, zeigte sich Luther in dieser Debatte als ein Kanzler, der "innerlich bereit war, unter jeglicher Flagge, sei sie grün, gelb oder violett, mit dem selben Eifer Steuer, Zoll- und sonstige Fragen sachlich zu erledigen."; A. Brecht, Nähe, Bd. 1, S. 462, spricht von einem peinlichen und unglücklichen Auftritt. 666 Verh. Rt, Bd. 390, S. 7161 ff. und S. 7182 f. 667 Schultheß 1926, S. 99; Linksliberalismus, Nr. 132, Fn. 2. 668 Zur Haltung der DNVP-Fraktion M. Dörr, DNVP, S. 227 ff. 669 Verh. Rt., Bd. 390, S. 7220 ff. 670 Kab. Luther, Nr. 364. 671 Die DDP wollte die Entscheidung über die vermögensrechtliche Auseinandersetzung unter Ausschluß des Rechtsweges den Landesparlamenten übertragen, Verh. Rt., Bd. 405, Nr. 1527; zum Volksentscheid um die Fürstenenteignung vgl. die ausführliche Darstellungen bei M. Stürmer, Koalition, S. 155 ff. und H. A. Winkler, Schein, S. 270 ff.; aus Sicht der SPD, F. Stampfer, Jahre, S. 482 ff. 672 So Guerard in seinem Bericht über die Koalitionsverhandlungen vor der ZentrumFraktion, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 42, S. 38.
XI. Das dritte Kabinett Marx
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bilden. 673 Tatsächlich waren die Chancen zur Bildung einer Großen Koalition erheblich größer als noch im vorangegangen Winter, da die Bereitschaft der SPD, sich an der Regierung zu beteiligen, erheblich gewachsen war. So ließ Breitscheid Stresemann bereits am 12. Mai mitteilen, er solle das Kanzleramt übernehmen. Die SPD-Fraktion würde ihm als Kanzler das Vertrauen aussprechen. 674 Auch in den unter dem Kanzlerkandidaten Adenauer am 15. Mai stattfindenden Beratungen zur Bildung einer Großen Koalition zeigten sich die Sozialdemokraten kompromißbereit. Diese Verhandlungen scheiterten nicht an der SPD, sondern am Verhalten der DVP, die eine Große Koalition "auch von der gegenwärtigen Situation abgesehen"675 ablehnte.676 Insbesondere Stresemann soll, so die Vermutung Breitscheids, die Kanzlerschaft Adenauers hintertrieben haben.677 Stresemann wollte wohl nicht einen entschiedenen Gegner seiner Außenpolitik - Adenauer nannte sie unstet und schaukelnd678 und galt als Befürworter einer klaren Westorientierung - ins Kanzleramt einziehen sehen.679 Der Bericht Adenauers über Verlauf und Ergebnis dieser Verhandlungen in der Zentrumsfraktion führte dort zu heftigen Reaktionen.680 In der Diskussion entwickelte sich die einhellige Auffassung, daß Marx, mittlerweile vom geschäftsführenden Kabinett für die Übernahme der Kanzlerschaft vorgeschlagen, 681 dieses Angebot ausschlagen müsse.682 A m folgenden Tag hatte sich die Stimmung in der Fraktion jedoch wieder beruhigt. Bei nur zwei Gegenstimmen
673
Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 42, S. 38. G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 392. 675 So Scholz in den Koalitionsverhandlungen in der Erinnerung von Adenauer, festgehalten in einer ausführlichen Denkschrift Adenauers über diese Verhandlungen, abgedruckt in: P. Weymar, Adenauer, S. 129 ff. 676 So Adenauer auch in dem von ihm verfaßten Kommunique vom 15. Mai, in dem er eindeutig der DVP die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen zuweist, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 43, Anlage 1, S. 40. 677 vgl. die Notiz über ein Gespräch eines Zentrumsfraktionsmitgliedes mit Breitscheid, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 43, Anlage 2, S. 40. 678 So Adenauer in seiner Denkschrift über die mißglückte Kanzlerkandidatur, abgedruckt in: P. Weymar, Adenauer, S. 132. 679 So auch die Vermutungen von M. Stürmer, Koalition, S. 153 f.; F. Stern, Adenauer, S. 206 ff.; K. D. Erdmann, Adenauer, S. 121 ff, dort auch die Darstellung einer Auseinandersetzung zwischen Adenauer und der Reichsregierung wegen der Zahlungen an das Rheinland; H. A. Winkler, Schein, S. 268 f. 680 So Marx in seiner Erinnerung über diese Sitzung, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 43, Fn. 7. 681 Schultheß 1926, S. 100. 682 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 43, S. 39. 674
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C. Die Staatspraxis
beschloß die Fraktion, daß Marx die mittlerweile vom Reichspräsidenten offiziell ausgesprochene Übertragung der Kanzlerkandidatur 683 annehmen solle. 684 Einstimmig gebilligt wurde auch das Übereinkommen mit der DVP, wonach man sich zur Lösung der Regierungskrise auf eine neue Minderheitsregierung einigte. Gleichzeitig wurde vereinbart, daß möglichst schnell eine Mehrheitsregierung auf der Grundlage solcher Parteien geschaffen werden solle, "die die Rechtsgültigkeit der bestehenden internationalen Abmachungen anerkennen und für die Fortführung der bisherigen Außenpolitik Gewähr bieten". 685 A m folgenden Tag wurde Marx zum Reichskanzler ernannt. 686 Er und seine Minister behielten ihre Ressorts. 687 A m 19. Mai nahm der Reichstag in einfacher Abstimmung Kenntnis von der Regierungserklärung. 688 Ein Vertrauensvotum durch das Parlament erfolgte nicht. Trotz der fehlenden Vertrauenserklärung durch den Reichstag kann man das dritte Kabinett Marx nicht als ein Präsidialkabinett bezeichnen. Die Regierungsbildung wurde nicht sehr stark von Hindenburg beeinflußt. Er schaffte es nicht, seinen Kandidaten für die Nachfolge Luthers, Geßler, 689 durchzusetzen. Als sich herausstellte, daß sowohl DVP 6 9 0 als auch SPD Geßler nicht als Kanzler akzeptieren wollten, verfolgte Hindenburg diesen Gedanken nicht weiter. 691 Demgegenüber waren sowohl Adenauer als auch Marx Kandidaten der Parteien und die Diskussionen zur Regierungsbildung wurden weitgehend von den Fraktionen bestimmt. A m Ende der Diskussionen stand allein die Ersetzung Luthers durch Marx ohne weitere personelle Veränderungen. Die Flaggenverordnung, der unmittelbare Krisenanlaß, blieb auch nach dem Kanzlerwechsel bestehen. Daraus kann man folgern, daß es der DDP, deren Vorsitzender Koch maßgeblich den Sturz Luthers bewirkt hatte,692 nicht um die Lösung des
683
Brief Hindenburgs an Marx, Schultheß 1926, S. 100. Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 44, S. 41. 685 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 44, Anlage. 686 Kab. Marx III und IV, Nr. 1, Fn. 1. 687 Kab. Marx III und IV, Nr. 1, Fn. 1, Nr. 2 und Nr. 10. 688 "Der Reichstag nimmt von den Erklärungen der Reichsregierung Kenntnis und geht über alle Anträge zur Tagesordnung über.", Verh. Rt., Bd. 390, S. 7337, Abstimmung, Verh. Rt, Bd. 390, S. 7339. 689 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 2, S. 392. 690 Nach F. Stampfer, Jahre, S. 482 stand Geßler im starken Gegensatz zu Stresemann. 691 Vgl. J. Blunck, Gedanke, S. 163. 692 Daß diese Haltung in seiner Partei keineswegs unumstritten war zeigt folgende Bemerkung seines Parteifreundes Geßler: "Koch-Weser, den man sich als Kanzlerkandidaten hatte totlaufen lassen und dann auch noch bei der Besetzung der freien Portefeuilles enttäuscht hatte, machte aus seiner schlechten Laune keinen Hehl. Ein neuer 684
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Flaggenproblems, sondern um die Stärkung der eigenen parlamentarischen Machtposition gegangen sei. 693 Koch behauptete denn auch vor dem Vorstand seiner Partei, die DDP sei bei der Regierungskrise erfolgreich gewesen. Man habe jetzt ein Kabinett, das wieder mit links arbeiten könne. 694
XII. Erneute Regierungsbeteiligung der DNVP: Das vierte Kabinett Marx Tatsächlich unterstützte die SPD in der Außenpolitik auch weiterhin die Regierung. A m 10. Juni 1926 wurde mit den Stimmen der SPD im Reichstag der Berliner Vertrag mit der Sowjetunion gebilligt. 695 Auch die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund am 10. September wurde besonders von der Sozialdemokratie gefeiert. 696 Innenpolitisch bahnte sich jedoch im Herbst 1926 ein Streit mit der SPD über die Erwerbslosenunterstützung an. Die Sozialdemokraten forderten eine generelle Erhöhung der Unterstützungssätze um mindestens 25-30%. 697 Das Kabinett hielt jedoch eine allgemeine Erhöhung der Sätze für "selbstverständlich ... nicht möglich." 698 Besonders die DVP wandte sich gegen eine solche Erhöhung. Sie war für sie wirtschaftlich untragbar. Bereits jetzt habe "sich infolge hoher Erwerbslosenunterstützung ein Nachlassen der Arbeitswilligkeit bemerkbar" gemacht.699
Konflikt lag in der Luft. Es fehlte nur am konkreten Anlaß. Den lieferte eine Flaggenverordnung, für die sich Luther persönlich unnötig exponierte.", O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 366. 693 So die Einschätzung von H. Schustereit, Linksliberalismus, S. 121 und W. Schneider, DDP, S. 89 ff. 694 So Koch in der Sitzung des DDP-Vorstandes am 20. Mai 1926, Linksliberalismus, Nr. 132, S. 396. 695 Verh. Rt., Bd. 408, Nr. 2329, Abstimmung in: Verh. Rt., Bd. 390, S. 7444 f. 696 Vorwärts, Nr. 426 vom 10. September 1926, sprach von einer weltgeschichtlichen Wende. 697 Zunächst hatte die SPD sogar eine Erhöhung der Unterstützungssätze von 50% gefordert, Verh. Rt., Bd. 397, Nr. 249. Sie wiederholte ihre Forderung nach genereller Erhöhung der Unterstützungssätze in einer Besprechung mit Regierungsvertretern am 29. Oktober 1926, Kab. Marx III und IV, Nr. 101, S. 278 f. 698 Kab. Marx III und IV, Nr. 93, S. 260. 699 So Wirtschaftsminister Curtius (DVP) am 2. November 1926 im Kabinett, Kab. Marx III und IV, Nr. 104, S. 285.
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Dennoch kam es am 8. November zu einem Beschluß des Reichstages, der eine Erhöhung der Erwerbslosenunterstützung von 30% verlangte. 700 Er wurde ermöglicht durch ein rein taktisch motiviertes Abstimmungsverhalten der DNVP, die einem entsprechenden Antrag der SPD zustimmte. Die Deutschnationalen hofften, durch ihr Verhalten eine Regierungskrise auslösen zu können, die das gegenwärtige Minderheitskabinett zu Fall bringen sollte. Bedrängt von ihrer landwirtschaftlichen Klientel, die sich durch eine Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen eine verbesserte Durchsetzung ihrer Interessen versprach, wollte die DNVP-Fraktion mit diesem taktischen Manöver ihre Beteiligung an der Macht erzwingen. 701 Die DNVP wiederholte ihr Verhalten im sozialpolitischen Ausschuß des Reichstages. Die Regierung hatte dort ein Gesetz über die Fürsorge für solche Erwerbslose vorgelegt, die nach dem Ablauf von 52 Wochen aus der Erwerbslosenunterstützung "ausgesteuert" wurden. Auch hier stimmte die DNVP gemeinsam mit der SPD einem kommunistischen Antrag zu, der für die Regierung "gänzlich unannehmbar" 702 war. Die Lage für das Kabinett Marx wurde dadurch verschärft, daß am selben Tag der Personaletat des Reichsverkehrsministeriums, der zusätzliche Planstellen für das Ministerium vorsah, von den Vertretern des Zentrums 703 und der DDP im Haushaltsausschuß abgelehnt wurde. SPD und DNVP, die ursprünglich dem Nachtragsetat zustimmen wollten, schlossen sich daraufhin der ablehnenden Haltung der beiden Regierungsfraktionen an. 704 A u f Grund dieser Vorfälle sah sich das Kabinett am 10. November zu einer "grundsätzlichen Stellungnahme über die Zukunftspolitik" genötigt. Nach eingehender Diskussion im Kabinett, in der sowohl eine Verbreiterung der Regierungskoalition durch Beteiligung der SPD oder der DNVP angesprochen als auch die Auflösung des Reichstages in Betracht gezogen wurde, einigte man sich schließlich dahin, daß Marx in Verhandlungen mit den Sozialdemokraten zu einer Verständigung über einen "Modus Vivendi" kommen sollte. 705 Bereits am folgenden Tag berichtete Marx über seine Verhandlungen mit der SPD. Danach wurde weder eine Koalition noch eine Arbeitsgemeinschaft verabredet.
700
Verh. Rt, Bd. 391, S. 7960 ff.; Antrag in: Verh. Rt, Bd. 410, Nr. 2617. M. Dörr, DNVP, S. 251 ff., dort auch eine Darstellung der Auseinandersetzungen in der DNVP. 702 So Marx im Kabinett, Kab. Marx III und IV, Nr. 113, S. 318. 703 Der Vorstand der Zentrumsfraktion hatte am 8. November beschlossen, die vom Verkehrsminister geforderten zusätzlichen Stellen nicht zu genehmigen, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 67, S. 60 und Fn. 2. 704 So Marx in seinen Bericht im Kabinett, Kab. Marx III und IV, Nr. 113, S. 318. 7 Kab. Marx III und IV, Nr. 1 , S. . 701
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Vielmehr sollte von Fall zu Fall Fühlung mit den Sozialdemokraten aufgenommen werden. 706 Diese "stille Koalition" 707 mit der SPD fand nicht den ungeteilten Beifall des Kabinetts. Stresemann wandte ein, daß dadurch an die Stelle der Regierungspolitik eine nach links verschobene Kompromißpolitik trete. 708 Auch sein Parteifreund Curtius betonte, daß weder eine Ehe noch eine Liaison mit der SPD, sondern nur eine Begegnung von Fall zu Fall in Betracht komme. 709 Trotz dieser Widerstände in der DVP arbeitete die stille Koalition zunächst erfolgreich. Die SPD ließ sich in Verhandlungen mit der Regierung auf einen Kompromiß in der Unterstützung für die durch Ablauf der Unterstützungsdauer "ausgesteuerten" Erwerbslosen ein. Belastet wurde die Zusammenarbeit jedoch durch die am 3. Dezember mit Hilfe der Deutschnationalen und gegen die Stimmen der SPD durchgesetzte Verabschiedung eines auch in der DDP stark umstrittenen 710 "Schund- und Schmutzgesetzes".711 Das Gesetz sollte durch die Einrichtung von Prüfstellen die Jugend vor Schund- und Schmutzschriften bewahren. Der sozialdemokratische Debattenredner Breitscheid kündigte nach heftiger Kritik am demokratischen Innenminister Külz politische Konsequenzen an. 712 Beendet wurde die "stille Koalition" durch eine Rede des DVP-Fraktionsvorsitzenden Scholz in Insterburg am 5. Dezember. Darin warf er Zentrum und DDP eine "sinnlose, frühlingshafte Verliebtheit für die Sozialdemokratie" vor. Für die DVP sei die Kluft, die sie von der SPD trenne, größer als die zwischen der Volkspartei und den Deutschnationalen. In Fragen der Wirtschaft, des Rechts, der nationalen Bestrebungen, der inneren und äußeren Kulturpolitik stimme die DVP fast restlos mit der DNVP überein. Eine vom Zentrum und der DDP angestrebte Koalition mit der SPD, deren ständige Angriffe gegen die Reichswehr für die DVP unerträglich seien, könne "höchstens ein ephemeres
706
Kab. Marx III und IV, Nr. 114, S. 322. So F. Stampfer, Jahre, S. 492. 708 Kab. Marx III und IV, Nr. 114, S. 323. 709 Kab. Marx III und IV, Nr. 114, S. 323. 710 Linksliberalismus, Nr. 135, S. 403 ff. 711 Neben der SPD stimmten auch die Kommunisten und 15 Abgeordnete der DDP gegen das Gesetz. Verh. Rt., Bd. 391, S. 8391 ff. 712 Verh. Rt., Bd. 391, S. 8360. 707
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Gebilde auf Monate oder Wochen" sein. Die Deutsche Volkspartei erstrebe deshalb eine Zusammenarbeit aller bürgerlichen Parteien und Kräfte. 713 Hintergrund der Rede war ein sich andeutender Kompromiß mit der SPD in der Arbeitszeitfrage. Unter dem Hinweis auf die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit drängten Gewerkschaften und SPD auf eine Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit. Arbeitsminister Brauns war auch bereit, den Wünschen der SPD entgegenzukommen.714 Innerhalb der Koalition einigte man sich am 1. Dezember auf einen Kompromiß, der allerdings in der DVP-Fraktion nur eine knappe Mehrheit fand. 715 Scholz erklärte in seiner Fraktion, daß das Zentrum auf einem Arbeitszeitgesetz bestehe. "Nebenher gehe das Bestreben des Kanzlers," so Scholz weiter, "in dieser Sache den Sozialdemokraten entgegenzukommen und die Große Koalition anzustreben." 716 Genau dazu war aber die DVP nicht bereit. Sie wollte um jeden Preis die systematische Durchlöcherung des Achtstundentages durch die Arbeitgeber, wie sie die Arbeitszeitnotverordnung vom Dezember 1923 zuließ, verteidigen. 717 Aus diesem Grund kündigte Scholz mit seiner Insterburger Rede den Koalitionskompromiß auf und erteilte einer Großen Koalition eine deutliche Absage. Wie schon bei der ersten Großen Koalition unter Stresemann, die ebenfalls an der Arbeitszeitfrage zerbrochen war, wurde die sich anbahnende Annäherung von SPD und DVP durch eine unverhüllte Interessenpolitik der Volkspartei zerschlagen. 718 Wie erwartet erblickte die SPD in dieser Rede eine "offene Kriegserklärung". 719 Ihre Reichstagsfraktion beschloß am 9. Dezember, daß durch die Rede von Scholz die mit der Regierung getroffenen Vereinbarungen hinfällig geworden seien.720 Der SPD-Fraktionsvorsitzende Müller kündigte am 10. Dezember im Reichstag an, daß die SPD eine "Entscheidung über die künftige Reichspolitik insgesamt für
713 Nach einem Bericht der "Königsberger Allgemeinen Zeitung" vom 6. Dezember, referiert in: Kab. Marx III und IV, Nr. 141, Fn. 15. 714 Brauns warb für seinen Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes mit der Feststellung, daß ein Zurückstellen seines Entwurfs keineswegs das Festhalten der gegenwärtigen Arbeitszeiten zur Folge haben werde. Vielmehr würden sich die notwendigen Änderungen im Wege des Kampfes unter schweren Schädigungen der Wirtschaft und der Allgemeinheit vollziehen, so Brauns in einem Schreiben vom 22. November an sämtliche Reichsminister, Kab. Marx III und IV, Nr. 123, S. 357. 715 Kab. Marx III und IV, Nr. 133, S. 386 f. 716 Kab. Marx III und IV, Nr. 133, Fn. 2. 717 M. Stürmer, Koalition, S. 170. 718 So der Eindruck von M. Stürmer, Koalition, S. 174. 719 Vorwärts, Nr. 575 vom 7. Dezember 1926. 7 Kab. Marx III und IV, Nr. 1 , . .
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notwendig hält und bei der dritten Lesung des Nachtragsetats in der nächsten Woche herbeiführen wird". 721 Der Regierung drohte damit der Sturz durch ein Mißtrauensvotum des Reichstages. In dieser Situation machte Marx im Kabinett deutlich, daß für ihn außer einem Sturz der Regierung oder ihrem freiwilligen Rücktritt nur die Bildung einer Großen Koalition möglich sei. 722 Verhandlungen mit den Deutschnationalen lehnte er ausdrücklich ab. 723 Marx' Parteifreunde Brauns und Bell stimmten ihm ausdrücklich zu. Die anstehenden Fragen wie die Arbeitslosenversicherung und eine neue Arbeitszeitregelung seien allein mit der SPD befriedigend lösbar. 724 Trotz der Bedenken des Postministers Stingl von der BVP, der sich für eine Zusammenarbeit mit den Deutschnationalen aussprach, beauftragte das Kabinett den Kanzler, "mit den Regierungsparteien darüber zu verhandeln, ob sie bereit sind, in Verhandlungen mit der Sozialdemokratischen Partei mit dem Ziele der Bildung der Großen Koalition einzutreten". 725 In der Besprechung mit den Vertretern der Regierungsfraktionen am 15. Dezember machte Scholz sofort deutlich, daß von der Volkspartei kein begeistertes Bekenntnis zur Großen Koalition zu verlangen sei. Auf keinen Fall sei es möglich, daß die Regierungsparteien sofort Verhandlungen mit der SPD über eine Koalition aufnehmen. 726 Auch Leicht von der BVP ließ wenig Neigung zu sofortigen Verhandlungen mit der SPD erkennen. 727 A u f Drängen von Marx erklärten sich die Vertreter der Regierungsfraktionen vorbehaltlich der endgültigen Zustimmung ihrer Fraktionen dennoch grundsätzlich zu solchen Verhandlungen bereit. Guerard und Koch machten deutlich, daß an der Zustimmung ihrer Fraktionen nicht zu zweifeln sei. 728 Die SPD-Fraktion, von der grundsätzlichen Bereitschaft der Reichsregierung und der Regierungsfraktionen zu Verhandlungen über die Bildung einer Großen Koalition informiert, nahm nach längerer Diskussion am Abend des 15. Dezember das Angebot zu Verhandlungen an. Allerdings erklärte sie den
721 722 723 724 725 726 727 728
Verh. Rt., Bd. 391, S. 8413. So Marx am 13. Dezember im Kabinett, Kab. Marx III und IV, Nr. 152, S. 441 f. Kab. Marx III und IV, Nr. 156, S. 455. Kab. Marx III und IV, Nr. 152, S. 442. Kab. Marx III und IV, Nr. 156, S. 455 f. Kab. Marx III und IV, Nr. 157, S. 457. Kab. Marx III und IV, Nr. 157, S. 457. Kab. Marx III und IV, Nr. 157, S. 457.
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Rücktritt der Regierung zur Voraussetzung solcher Verhandlungen. 729 Der Grund für diese Haltung war die Rücksichtnahme auf eine starke Minderheit in der Fraktion, die für die sofortige Einbringung eines Mißtrauensantrages gegen die gesamte Regierung eintrat. Aber auch die Mehrheit wollte nicht einfach in die bestehende Reichsregierung eintreten, sondern strebte eine Neubesetzung grundsätzlich aller Portefeuilles an. Gefordert wurde insbesondere ein Wechsel im Wehrministerium. 730 A m folgenden Morgen lehnte das Kabinett einen Rücktritt ab. Dem Verlangen der Sozialdemokraten, so Marx, sei nicht stattzugeben. Auch der demokratische Innenminister Külz nannte das Verhalten der SPD unglaublich. 731 Hindenburg ließ über seinen Staatssekretär Meissner im Kabinett erklären, daß er in den Bestrebungen, Geßler zu entfernen, einen Anschlag gegen die Reichswehr erblicke. 732 A m Nachmittag des 16. Dezember kam es zu einer aufsehenerregenden Rede Scheidemanns im Reichstag, in der er "eine Reform der Reichswehr an Haupt und Gliedern" 733 forderte. 734 In seiner Rede trug Scheidemann Einzelheiten aus dem Material über die Reichswehr vor, das die SPD-Fraktion am 6. Dezember an die Reichsregierung übersandt hatte.735 Mit der Übersendung belegte die Fraktion ihre Vorwürfe über fortgesetzte illegale Aktionen der Reichswehr, die sie am 1. Dezember in einem Gespräch mit Marx, Stresemann und Geßler erhoben hatte. 736 Das Material dokumentierte die Verbindungen der Reichswehr zu rechtsradikalen Verbänden sowie die Rekrutierung der Reichswehr aus diesen Verbänden, die private und damit im Wehretat nicht enthaltene Finanzierung der Reichswehr aus Mitteln der Industrie und der Landwirtschaft und die Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee zur Umgehung
729
Kab. Marx III und IV, Nr. 159, Fn. 1. So die Erläuterungen des Vorwärts, Nr. 591 vom 16. Dezember, zum Beschluß der SPD-Fraktion. 731 Kab. Marx III und IV, Nr. 159, S. 459. 732 Kab. Marx III und IV, Nr. 159, S. 460. 733 Verh. Rt., Bd. 361, S. 8577 ff., S. 8584. 734 Die Zustände in der Reichswehr wurden auch innerhalb der DDP zum Teil sehr heftig kritisiert, vgl. die Diskussion im Parteiausschuß der DDP am 28. November 1926, Linksliberalismus, Nr. 135, S. 403 ff. 735 Der größere Teil dieses Materials ist abgedruckt in: Kab. Marx III und IV, Nr. 138, S. 402 ff. 7 Kab. Marx III und IV, Nr. 1 , . . 730
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der Auflagen des Versailler Vertrages. 737 Über die Herstellung von Flugzeugen und Giftgas in Rußland für den deutschen und russischen Heeresbedarf sowie die Ankunft von Schiffen mit Waffen und Munition aus Rußland in Stettin hatte am 3. Dezember ein englisches Blatt berichtet. 738 Der Vorwärts machte diese Verbindungen der Reichswehr am 5. Dezember auch der deutschen Öffentlichkeit bekannt.739 Dennoch führte die Rede Scheidemanns zu Tumulten im Reichstag.740 Die Deutschnationalen und die Völkischen verließen unter dem Vorwurf des Landesverrats gegen den Redner den Plenarsaal. 741 Marx drückte in seiner Antwort auf Scheidemann sein "allertiefstes Bedauern" über die Rede aus.742 Der von Scheidemann ebenfalls angekündigte sozialdemokratische Mißtrauensantrag gegen die Reichsregierung fand am folgenden Tag die Zustimmung des Reichstages. Mit der SPD stimmten die Deutschnationalen, die Kommunisten und die völkische Arbeitsgemeinschaft. 743 Im Anschluß an die Reichstagssitzung beschloß das Kabinett den Rücktritt. 744 Für Hindenburg bot sich nun die Gelegenheit, mit "Biegen oder Brechen" 745 eine Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen zu erreichen. Bereits am 16. Dezember hatte er erkennen lassen, daß er massiv in die Regierungsbildung eingreifen werde. Über seinen Staatssekretär Meissner hatte er im Kabinett eine "Verschiebung der Zuständigkeiten" kritisiert, wenn die Initiative zur Regierungsbildung, wie von den Sozialdemokraten gefordert, in den Reichstag gelegt werde. 746 A m 18. Dezember wurde in einer Denkschrift Meissners deutlich, in welchen Konstellationen sich die Umgebung Hindenburgs eine Regierungsbeteiligung der DNVP vorstellte. Für die weitaus beste Lösung hielt Meissner
737 Zu dieser Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee vgl. im einzelnen M. Zeidler, Reichswehr. 738 Der Artikel des "Manchester Guardian", der am 6. Dezember mit der Veröffentlichung von Einzelheiten über Abmachungen zwischen dem Wehrministerium, den Junkerswerken und der sowjetischen Regierung über die Produktion von Flugzeugen in Rußland fortgesetzt wurde und seine Behandlung im Auswärtigen Amt, ist dokumentiert in: AD AP, Serie B, Bd. II, 2, Dok. Nr. 150, 155-160 und Anhang II. 739 "Sowjetgranaten für Reichswehrgeschütze", Vorwärts, Nr. 572 vom 5. Dezember 1926. 740 Verh. Rt., Bd. 391, S. 8577 ff. 741 Verh. Rt, Bd. 391, S. 8579. 742 Verh. Rt, Bd. 391, S. 8586. 743 "Die Reichsregierung besitzt nicht das Vertrauen des Reichstages.", Verh. Rt. Bd. 412, Nr. 2874, Abstimmung in: Verh. Rt, Bd. 391, S. 8654 ff. 744 Kab. Marx III und IV, Nr. 161, S. 462. 745 So Koch in seinen Aufzeichnungen vom 22. Dezember 1926, Nachl. Koch-Weser, Nr. 34, Bl. 397. 746 Kab. Marx III und IV, Nr. 159, S. 460.
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eine Rechtsregierung unter Beteiligung des Zentrums. Als zweitbeste Lösung kam für ihn eine sogenannte Regierung der Persönlichkeiten in Betracht, die im Falle einer mangelnden Unterstützung durch den Reichstag - für diese Möglichkeit sah Meissner dessen Auflösung vor - durch "besondere Maßnahmen" des Reichspräsidenten gestützt und damit gegen den Reichstag regieren sollte. Erst als drittbeste Lösung schlug Meissner eine vom Zentrum tolerierte Rechtsregierung vor, die den Nachteil habe, in besonderem Maß "von Zentrums Gnaden" abhängig zu sein. 747 Dem Vorschlag Meissners folgend beauftragte Hindenburg am 10. Januar Curtius mit der Bildung einer Rechtsregierung. Vorher hatte er in Gesprächen mit Vertretern der Reichstagsfraktionen deutlich gemacht, daß für ihn auf Grund der "maßlosen Rede" Scheidemanns eine Große Koalition "untragbar" sei. 748 Curtius' Verhandlungen scheiterten am Zentrum, das sich gegen eine Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen aussprach. 749 Als am 14. Januar ein letzter Einigungsversuch Curtius 1 scheiterte, 750 gab er am 15. Januar seinen Auftrag zur Bildung einer Rechtsregierung zurück. 751 Den Verlauf der weiteren Verhandlungen nahm eine Denkschrift Schleichers, seit Anfang 1926 Leiter der neugeschaffenen Wehrmachtsabteilung des Reichswehrministeriums, von Ende Dezember 1926 vorweg. 752 Schleicher wies darin dem Zentrum eine Schlüsselstellung bei der Kabinettsbildung zu. Trotz seiner offiziellen Linie, ein Kabinett der Mitte ohne Bindungen an die Flügel-
747 Die "Bemerkungen zur Regierungsbildung" Meissners werden übereinstimmend referiert von M. Stürmer, Koalition, S. 180 und P. Haungs, Reichspräsident, S. 122 ff; vgl. auch den Bericht von Marx im Kabinett vom 18. Dezember über ein Gespräch mit Hindenburg vom gleichen Tage, in dem deutlich wird, daß sich Hindenburg die Vorschläge Meissner bereits zu eigen gemacht hatte. 748 Am 10. Januar hatte Hindenburg nacheinander Löbe (SPD), Bredt (Wirtschaftliche Vereinigung), Leicht (BVP), Westarp (DNVP), Gu6rard (Zentrum) und Curtius (DVP) empfangen. Zu diesen Besprechungen s. die Aktennotiz Meissners vom 11. Januar, abgedruckt in: W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 54, S. 256 ff. 749 So der Vorstand am 11. Januar, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 96, S. 81 und die Fraktion am 12. Januar, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 97, S. 83. 750 Das Zentrum hatte auf ein Schreiben Curtius mit einer endgültigen Absage an eine Koalition mit den Deutschnationalen geantwortet: "Wir halten den Versuch der Bildung einer Regierung der Mitte nach Lage der Dinge für den gegebenen Weg zur Beilegung der Krise. Wir können uns daher von einer Fortführung Ihrer Verhandlungen auf der Grundlage Ihres Schreibens vom 14. Januar keinen Erfolg versprechen. Ein Eingehen auf die in diesem Schreiben mitgeteilten Richtlinien dürfte sich danach erübrigen.", Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 99 und 100, S. 84 f. 751 W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 55 a, S. 261. 752 Schleichers "Politischer Lagebericht" ist abgedruckt in: J. Becker, VfZ 14 (1966), S. 76 f.
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Parteien SPD und DNVP zu bilden, arbeiteten die beiden Flügel der Partei "mit Hochdruck, um das Zentrum auf einen Rechts- bzw. Linkskurs festzulegen." In dieser Situation werde die Haltung des Reichspräsidenten entscheidend sein. Schleicher ging davon aus, daß Hindenburg einer Regierung ohne Geßler als Reichswehrminister nicht zustimmen werde. A u f der anderen Seite werde die SPD keine Regierung mit Geßler als Wehrminister unterstützen. Sein Konzept zusammenfassend gibt Schleicher zwei Ziele für "unsere Tätigkeit" vor: "1. Keine Mittelregierung ohne Geßler, 2. Zusammenbringen von Zentrum und Deutschnationalen zu irgendeiner Form der Zusammenarbeit." Daß der Widerstand des Zentrums gegen eine Rechtskoalition nicht unüberwindbar schien, hatte bereits Curtius unmittelbar nach seinen erfolglosen Gesprächen zur Bildung einer Rechtskoalition gegenüber dem Reichspräsidenten angedeutet. Das Zentrum werde dann mitmachen, "wenn ihm, dem Zentrum, die Führung und der Kanzlerposten zufielen". 753 Auch Guerard erklärte dem Reichspräsidenten, daß seine Fraktion letzten Endes bereit sein werde, "mit den Deutschnationalen zusammenzuarbeiten in einem Kabinett, dessen Kanzler ein Zentrumsmann wäre. Aber dieses Ziel könne man nur in Etappen erreichen." Daraufhin fragte Hindenburg, ob für das Zentrum eine Betrauung eines Zentrumsabgeordneten mit der Bildung eines Kabinetts der Mitte, "dem natürlich auch Geßler angehören müßte", bereits ausreichen würde, wenn sich diese Bemühungen als erfolglos herausstellen sollten. Guerard hielt dies für angängig. In einem solchen Fall wäre der Weg frei für eine Zusammenarbeit des Zentrums mit den Deutschnationalen.754 Auch Brauns erklärte dem Reichspräsidenten am selben Tag, daß "es für das Zentrum genüge, wenn Marx durch Verhandlungen feststelle, daß die Regierung der Mitte nicht möglich ist". Dann sei Marx in der Lage, eine Regierung mit den Deutschnationalen zu bilden. 755 Nachdem auch die DNVP keine Bedenken gegen die Betrauung des geschäftsführenden Kanzlers zur Führung dieser "Zwischenverhandlungen" 756 erhob, erhielt Marx am 15. Januar den Auftrag zur Regierungsbildung. 757
753 So am 14. Januar, Aktennotiz Meissner, W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 55 a, S. 261. 754 Aktennotiz Meissners über Hindenburgs Gespräch mit Guörard vom 15. Januar, in: W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 55 c, S. 262 f. 755 Aktennotiz Meissners über Hindenburgs Gespräch mit Brauns vom 15. Januar, in: W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 55 d, S. 263. 756 So Meissner in seinem Telefongespräch mit Westarp, Aktennotiz Meissner, in: W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 55 f, S. 264. 757 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 102, S. 86, Fn. 1.
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Die in den folgenden Tagen von Marx mit der SPD geführten Verhandlungen trugen nach diesen Verabredungen im Vorfeld gewisse farcenhafte Züge. 758 A u f Vorschlag des Staatssekretärs im Kanzleramt, Pünder, verfolgte Marx die Taktik, zunächst "die Sozialdemokratie über die Ausgestaltung der Tuchfühlung einen Beschluß fassen" zu lassen. Die von der SPD gestellten Bedingungen könnten dann von den Mittelparteien abgelehnt werden. Scholz, der zunächst den Abbruch der "Verhandlungen über Schaffung einer Mitte mit Tuchfühlung an die Sozialdemokratie" gefordert hatte, "erkannte die Richtigkeit vorstehender Schlußfolgerungen an". Er versprach, daß die Volkspartei "keine die weiteren Verhandlungen des Herrn Reichskanzler mit der Sozialdemokratie störenden Beschlüsse fassen und die Stellungnahme der Sozialdemokratie abwarten würde". 759 Marx erklärte daraufhin dem sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden Müller, daß bezüglich einer "dauernden Tuchfühlung mit der Linken" noch kein Beschluß der Volkspartei, "insbesondere auch noch kein ablehnender" vorliege. Er wolle deshalb die SPD veranlassen, sich darüber Gedanken zu machen, "wie sie sich selbst diese dauernde Tuchfühlung in der praktischen Arbeit ausgestaltet denke". Müller nahm diese Erklärung entgegen und ließ auch nicht erkennen, daß er "dieses taktische Vorgehen als unberechtigt ansehe". Von Müller auf die personelle Zusammensetzung des Kabinetts angesprochen erwiderte Marx, daß ihm von einem freiwilligen Rücktritt Geßlers nichts bekannt sei und "er ihm auch nicht wahrscheinlich erscheine". 760 A m Nachmittag des 19. Januar beschloß die SPD-Fraktion, daß sie sich ihre letzte Entscheidung über eine bürgerliche Minderheitsregierung vorbehalte, "bis über Zusammensetzung und Programm eines solchen Kabinetts Klarheit bestehe".761 Damit war klar, daß die SPD nicht bedingungslos ein bürgerliches Minderheitskabinett unterstützen würde. Nach wie vor strebte sie ein Ausscheiden Geßlers an. Mit dieser Erklärung lieferte sie den gewünschten Vorwand zum Abbruch der Verhandlungen. Zwar sei Geßler, so Scholz am 20. Januar gegenüber Marx, für die Volkspartei "keineswegs persona gratissima. Im gegenwärtigen Augenblick halte sie es aber aus sachlichen Gründen für völlig
758
M. Stürmer, Koalition, S. 185. Dieses von Pünder in seinen Aufzeichnungen über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung festgehaltene Gespräch zwischen Marx, Scholz und Pünder fand am 19. Januar statt, Kab. Marx III und IV, Nr. 171, S. 504. 760 Aufzeichnung Pünders, Kab. Marx III und IV, Nr. 171, S. 504 f. 761 Der Beschluß der SPD-Fraktion ist abgedruckt in: Kab. Marx III und IV, Nr. 172, Fn.3. 759
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ausgeschlossen, den Minister Geßler zu ersetzen. Zu einem solchen Schritt wäre die Volkspartei unter gar keinen Umständen bereit, denn in einem solchen Wechsel würde ein Symbol oder Symptom gegen die Reichswehr zu erblicken sein, selbst auch dann, wenn man einen weiter rechts stehenden Politiker nehmen sollte". 762 Marx gab daraufhin seinen Auftrag zur Regierungsbildung zurück. 763 Gegenüber seiner eigenen Fraktion konnte Marx nunmehr erklären, daß seine Verhandlungen zur Bildung einer von der SPD gestützten bürgerlichen Minderheitsregierung an der Volkspartei gescheitert seien. Die Stimmung innerhalb der Zentrumsfraktion sollte zusätzlich durch einen Brief Hindenburgs an Marx beeinflußt werden. Einen Entwurf dieses Briefes übersandte Meissner an Pünder bereits am 18. Januar, also zu einer Zeit, als Marx noch mit der SPD verhandelte. In dem Begleitschreiben teilte Meissner mit, daß nach Erledigung des "Zwischenstadiums"764 Hindenburg Marx mit der Bildung einer Rechtsregierung beauftragen werde. Er schlug Pünder vor, "diesen Auftrag in eine besondere Form zu kleiden und ihn zugleich mit einem Appell des Herrn Reichspräsidenten an die in Frage kommenden Fraktionen zu verbinden. Ich verspreche mir von einem solchen Schritt einen gewissen Eindruck auf die Fraktionen und eine große Wirkung auf Presse und Öffentlichkeit". 765 Der Entwurf des Briefes wurde von Pünder auf die Bedürfnisse des Zentrums umredigiert, 766 anschließend dem Reichspräsidenten vorgelegt und vom ihm genehmigt. 767 A m 20. Januar schickte Pünder diesen Brief 6 8 in die laufende Vorstandssitzung der Zentrumsfraktion. 769
762
Aufzeichnung Pünders, Kab. Marx III und IV, Nr. 172, S. 506. Aktennotiz Meissners, W. Hubatsch, Dok. Nr. 55 g, S. 264. 764 Gemeint waren die Verhandlungen mit der SPD. 765 Kab. Marx III und IV, Nr. 170, S. 501. 766 Pünder ergänzte den Appell Hindenburgs an die Fraktion zur Bildung einer Rechtskoalition neben weiteren kleinen Änderungen um folgenden Abschnitt: "Gerade eine solche Regierung wird mit besonderer Sorgfalt dem Wohle der werktätigen Bevölkerung Deutschlands dienen müssen, auch wenn es äußerlich vielleicht dem Fernstehenden so scheinen sollte, als wenn diese Regierung durch Nichtbeteiligung der SPD die berechtigten Interessen der breiten Arbeitermassen hinter anderen Staatsnotwendigkeiten etwa zurückstellen könnte.", M. Stürmer, Koalition, Anhang VII b, S. 302, Fn. 3. 767 Die endgültige Fassung des Briefes wurde noch einmal mündlich zwischen den beiden Staatssekretären abgesprochen und dabei leicht verändert, M. Stürmer, Koalition, Anhang VII b, S. 303, Fn. 8. 768 Die endgültige Fassung des Briefes ist abgedruckt in: Kab. Marx III und IV, Nr. 173, S. 507 f. 769 Auch diese auf größte Wirkungen zielende Übergabe war sorgfältig geplant. So erzählte Pünder Stresemann anläßlich eines Frühstücks am 20. Januar im Hause des 763
12 Hoppe
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C. Die Staatspraxis
Dort verfehlte er seine Wirkung nicht. Eine bereits getroffene Entscheidung des Vorstandes zur Beauftragung Marx 1 mit der Bildung einer Rechtskoalition wurde "unter dem Eindruck eines Briefes des Reichspräsidenten" 770 verändert. Auch innerhalb der Zentrumsfraktion bröckelte, trotz heftiger Gegenwehr insbesondere von Wirth, die Front der Gegner einer Koalition mit den Deutschnationalen.771 Man einigte sich zunächst auf die Ausarbeitung eines Memorandums, in dem "kristallklar die Stellung der Partei zu den staatspolitischen, außen- und sozialpolitischen Problemen herauszuarbeiten ... und dem Reichspräsidenten zur Kenntnis zu bringen" sei. 772 In dem von Wirth, Joos und Brauns verfaßten Memorandum bekannte sich die Zentrumsfraktion insbesondere zur Weimarer Republik mit ihren Symbolen. "Sie hat dem deutschen Volke seine Einheit in verzweifelten Tagen gerettet. Auch für die fernere Zukunft ist sie der allein hoffnungsvolle Weg." 773 Vorstand und Fraktion erklärten sich am 21. Januar mit dem Memorandum einverstanden und stimmten Verhandlungen zur Bildung einer Rechtskoalition unter Führung von Marx auf der Grundlage dieses Memorandums zu. 774 Als die BVP am 22. Januar zu erkennen gab, daß das Zentrumsmemorandum nicht Grundlage der Verhandlungen zur Regierungsbildung sein könne, weil für die BVP die Reichsverfassung nicht für alle Zeiten der allein hoffnungsvolle Weg sei, erklärte Marx, daß er nicht beabsichtige, "die Verhandlungen betreffend der Regierungsbildung an Hand des Zentrums-Manifestes, sondern auf Grund besonderer, noch zu bildender Formulierungen zu führen". 775 Marx erarbeitete am folgenden Tag "unter Beteiligung einiger Herren des Zentrums lose Richtlinien mit 5 Punkten", 776 die die Grundlage der Koalitionsverhandlungen bildeten. Bis zum 26. Januar hatten sich die DNVP, die DVP, die BVP und das Zentrum auf Richtlinien der künftigen Regierungspolitik geeinigt. 777 Die DDP, der am 26. Januar die Richtlinien vorge-
Außenministers, an dem auch Marx teilnahm, "daß er den Brief in der Tasche habe, er wolle ihn Marx aber pro forma erst in die Fraktions-Vorstandssitzung schicken, damit er um so mehr überzeugend wirke.", zit. nach M. Stürmer, Koalition, S. 187. 770 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 105, S. 88. 771 Prot Zentrum 1926-1933, Nr. 106, S. 89 f. 772 So Wirth in der Fraktion, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 106, S. 90. 773 Das Memorandum ist abgedruckt in: W. Mommsen, Parteiprogramme, S. 494 ff. 774 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 107, S. 91 und Nr. 109, S. 92. 775 Kab. Marx III und IV, Nr. 176, S. 515. 776 So Pünder in seinen Aufzeichnungen, Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 515. 777 Diese Richtlinien, in denen das von der BVP gegenüber Marx beanstandete Bekenntnis zur Republik auch für die fernere Zukunft fehlte, sind abgedruckt in: Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 516, Fn. 3; sie enthielten dennoch ein - wenn auch gegenüber der Formulierung des Zentrumsmemorandums abgeschwächtes - Bekenntnis zur Republik und Verfassung, von dem sich jedoch Westarp bereits am 3. Februar im Reichstag distanzierte, Verh. Rt., Bd. 361, S. 8804; Koch nannte die Unterschrift der
XII. Das vierte Kabinett Marx
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legt wurden, lehnte am 27. Januar auf Grund der vereinbarten Kulturpolitik das Zentrum hatte in den Verhandlungen die Festlegung auf ein christliches Schulgesetz erreicht - eine Regierungsbeteiligung ab. 778 Nach dieser inhaltlichen Einigung der Koalitionsfraktionen drohten die Verhandlungen nun an Personalfragen zu scheitern. Marx und die DNVP hatten sich im Vorfeld auf vier deutschnationale Minister verständigt. Im Gegenzug überließ die DNVP dem Zentrum das Finanzministerium. 779 Für die Volkspartei verblieb nach dieser Absprache das Außen- und das Wirtschaftsministerium. Das von ihnen bisher ebenfalls besetzte Verkehrsministerium hätten sie aufgeben müssen. Dagegen erhob sich in der Volkspartei heftiger Widerstand, der in den Koalitionsverhandlungen nicht überwunden werde konnte. 780 Erst als Hindenburg am 28. Januar Scholz gegenüber mit der Auflösung des Reichstages und dem eigenen Rücktritt drohte, lenkte die DVP ein. Zusätzlich ließ sich Scholz vorbehaltlich dem Einverständnis des Kanzlers von Hindenburg versprechen, "beim etwaigen Ausscheiden Geßlers die Nachfolge einem volksparteilichen Minister zu übertragen". 781 Ein weiteres Problem ergab sich bei der Besetzung der den Deutschnationalen zugesprochenen vier Ministerien. Den von Marx gemachten Vorschlag lehnte Westarp ab. Die DNVP machte nun ihrerseits Personalvorschläge, die von den anderen Fraktionen abgelehnt wurden. Insbesondere gegen die Vorschläge für das Innen- und Justizressorts, Hergt und Graef, erhoben sich "die lebhaftesten Bedenken".782 Daraufhin teilte Marx den deutschnationalen Unterhändlern am 29. Januar mit, daß er dem Reichspräsidenten Lindeiner für das Innen- und Hergt für das Justizministerium vorschlagen werde. Sollte er für diesen Personalvorschlag die Zustimmung der Deutschnationalen nicht erhalten, "werde er unter Vortrag dieses Ereignisses dem Herrn Reichspräsidenten noch am heutigen Abend den Auftrag zur Regierungsbildung zurückgeben". Damit drohten die Verhandlungen zu scheitern, da Marx das Verlangen Westarps zurückwies, noch einmal über die personellen Vorstellungen des Reichskanzlers eine Aussprache in der deutschnationalen Fraktion herbeiführen
DNVP unter diese Richtlinie "nicht einmal ein Lippenbekenntnis, sondern eine Maskerade", Linksliberalismus, Nr. 145, S. 444. 778 Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 518 f. 779 M. Dörr, Deutschnationale Volkspartei, S. 276. 780 Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 520. 781 W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 57, S. 265. 782 So Pünder in seinen Aufzeichnungen, Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 521; zu diesen Bedenken s. das Schreiben Stresemanns an Marx vom 30. Januar 1927, in: G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 103. 12*
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C. Die Staatspraxis
zu können. Den drohenden Abbruch der Verhandlungen verhinderte Pünder, der vorschlug, die Besetzung des Innen- und des Justizressorts bis nach der Aussprache in der deutschnationalen Fraktion zu verschieben und die anderen Minister bereits am Abend vom Reichspräsidenten ernennen zu lassen. Nach kurzer Erörterung dieses Vermittlungsvorschlages stimmte Marx zu, und Hindenburg ernannte am 29. Januar das vierte Kabinett Marx. 783 Nach weiteren Verhandlungen mit der DNVP, in denen Marx noch einmal die Berufung Graefs ins Kabinett ablehnte, einigte man sich schließlich auf Keudell als Innen- und Hergt als Justizminister. 784 A m 5. Februar 1927 sprach der Reichstag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen der neuen Regierung das Vertrauen aus.785 Die Bildung des vierten Kabinetts Marx wurde sehr stark von Hindenburg und seiner Umgebung geprägt. Die Regierungskrise bot ihnen die lange gesuchte Gelegenheit, die Zusammenarbeit der bürgerlichen Minderheitsregierung mit der SPD zu beenden, die Große Koalition zu verhindern und eine Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen durchzusetzen. 786 Daß Hindenburg gewillt war, sein Amt auch über die ihm verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen hinaus zur Erreichung dieses Zieles einzusetzen, zeigte sich bereits am 16. Dezember. Im Kabinett ließ er über Meissner erklären, daß die Initiative zur Regierungsbildung nicht in den Reichstag gelegt werden dürfe. In einem entsprechenden Vorstoß der Sozialdemokraten zur Lösung der Regierungskrise sah er eine "Verschiebung der Zuständigkeiten".787 Unmittelbar nach dem Sturz des dritten Kabinetts Marx konnte man in der Denkschrift Meissners nachlesen, daß bei einer Weigerung des Zentrums, eine Rechtskoalition zu bilden, eine sogenannte Regierung der Persönlichkeiten ernannt werden sollte, die nach der Auflösung des Reichstages durch besondere Maßnahmen des Reichspräsidenten gestützt werden sollte. Auch in die laufenden Koalitionsverhandlungen griff Hindenburg immer wieder massiv zu Gunsten einer Rechtskoalition ein, indem er sowohl mit der Auflösung des Reichstages als auch mit seinem eigenen Rücktritt drohte.
783
Vgl. hierzu die Aufzeichnungen Pünders, Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 521 f.; dem neuen Kabinett gehörte auch Geßler an, der am 28. Januar nach der Entscheidung der DDP über die Nichtbeteiligung am Kabinett aus seiner Partei ausgetreten war, um sein Ministeramt beibehalten zu können, O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 502 f. 784 Kab. Marx III und IV, Nr. 177, S. 523, Fn. 13. 785 "Der Reichstag billigt die Erklärungen der Reichsregierung und spricht ihr das Vertrauen aus.", Verh. Rt., Bd. 413, Nr. 2958; Abstimmung in: Verh. Rt., Bd. 391, S. 8890 ff. 786 So auch M. Stürmer, Koalition, S. 180. 787 Kab. Marx III und IV, Nr. 159, S. 460.
XIII. Das zweite Kabinett Müller
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Spürbare Veränderungen durch die Amtsführung Hindenburgs sind aber nicht nur durch die unmittelbare Beteiligung des Reichspräsidenten an den Koalitionsverhandlungen erkennbar. Hindenburgs Festhalten an Geßler war nicht allein taktisch bestimmt, um dadurch, wie von Schleicher vorgesehen, die SPD von einer Regierungsbeteiligung oder Tolerierung eines bürgerlichen Mittelkabinetts abzuhalten. Vielmehr fühlte sich Hindenburg als Reichspräsident in besonderem Maße berechtigt, Einfluß auf die Wehrpolitik und damit auch auf die Besetzung des Wehrministeriums zu nehmen.788 Trotz des entgegenstehenden Art. 50 WRV, der ausdrücklich die in der Bismarckschen Verfassung enthaltene besondere Verantwortung des Staatsoberhauptes für die Reichswehr beseitigte, beanspruchte Hindenburg damit eine Prärogative hinsichtlich der Besetzung des Wehrministeriums. Auch wenn Koch in diesem Zusammenhang von einem Wiederaufleben des persönlichen Regiments sprach, 789 wurde dieser Verfassungsbruch Hindenburgs von den Parteien faktisch hingenommen. Er führte zu einem weiteren konstitutionellen Element in der Weimarer Republik. 790
XIII. Die letzte parlamentarische Regierung: Das zweite Kabinett Müller Anders als die erste Rechtskoalition, die am mangelnden Realitätssinn der Deutschnationalen in der Außenpolitik gescheitert war, kam das vierte Kabinett Marx über einen innenpolitischen Streit zu Fall. Das Zentrum, das sich allein in einer Koalition mit den Deutschnationalen und ohne SPD und DDP die Durchsetzung ihrer kulturpolitischen Interessen versprechen konnte, verlangte die Verabschiedung eines christlichen Schulgesetzes. Darin sollte die kirchliche Mitbestimmung in Fragen des Religionsunterrichts und die Gleichberechtigung von Simultan- und Bekenntnisschulen festgeschrieben werden. Dies bedeutete
788
Vgl. nur seine Unterredung mit Reichstagspräsident Löbe. Hindenburg führte darin aus, daß eine Große Koalition in der Reichswehr eine große Beunruhigung hervorrufen würde, die er als Oberbefehlshaber nicht zulassen könne, W. Hubatsch, Hindenburg, Dok. Nr. 54, S. 257. 789 Nachl. Koch-Weser, Nr. 36, Bl. 9. 790 Noch weiter geht J. Becker, VFZ 14 (1966), S. 75, der in der Regierungskrise 1926/27 bereits jene Kräfte am Werk sieht, die zur Durchsetzung militärischer Partikularinteressen auf eine Umwandlung des Parlamentarismus drängten. Er faßt deshalb wohl nicht ganz zu Unrecht die Bildung des vierten Kabinetts Marx als eine Art Vorspiel zu den Vorgängen bei der Installierung der Präsidialkabinette ab 1930 auf.
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C. Die Staatspraxis
ein Zurückdrängen der Simultanschulen zu Gunsten der Konfessionsschulen, besonders in solchen Gebieten, wie etwa in Südwestdeutschland, in denen es bisher keine Konfessionsschulen gab. Die beiden DVP-Minister im Kabinett, Stresemann und Curtius, beantragten deshalb bei der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs im Kabinett am 13. Juli 1927 erfolglos eine Änderung der entsprechenden Passage im Gesetzentwurf. Sie machten auch deutlich, daß ihre Fraktion dem Gesetzentwurf starke Vorbehalte entgegenbringen würde. 791 Tatsächlich verzögerte sich durch die Einwände der DVP, die sich in der Nachfolge der Nationalliberalen sah, die zu Beginn des Kaiserreichs gemeinsam mit Bismarck Katholiken als "Reichsfeinde" noch massiv verfolgt hatten, die Behandlung des Gesetzentwurfs im Bildungsausschuß des Reichstages. Schließlich nahm der Bildungsausschuß einen Änderungsantrag der DVP mit den Stimmen der Oppositionsparteien an, der die dauernde Beibehaltung der in den Simultanschulgebieten bestehenden Verhältnisse ermöglichte. 792 Die dadurch eingetretene Regierungskrise konnte auch durch einen flammenden Appell des Reichspräsidenten, für den der Zerfall der Rechtskoalition eine "schwere Schädigimg vaterländischer Interessen" bedeutete,793 nicht mehr entschärft werden. Trotz tagelanger Beratungen über das Schulgesetz konnten sich die Regierungsparteien nicht auf einen Kompromiß einigen. 794 Der deutschnationale Westarp konnte daraufhin in der Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses am 15. Februar nur noch das Scheitern des Schulgesetzes feststellen. 795 In der sich anschließenden Besprechimg von Vertretern der Reichsregierung mit den Spitzen der Regierungsfraktionen erklärten Guerard, Leicht und Westarp auf Grund des Scheiterns einer der wichtigsten Gesetzesvorlagen der Koalition diese für beendet.796 Die bisherige Koalition verständigte sich noch mit der SPD und der DDP auf ein Arbeitsnotprogramm, 797 nach dessen Erledigung Hindenburg den Reichstag auflöste. 798
791
Kab. Marx III und IV, Nr. 276, S. 856. "In den Gebieten des Reichs, in denen eine nach Bekenntnissen nicht getrennte Volksschule gesetzlich oder nach Herkommen besteht, verbleibt es bei dieser Rechtslage", Kab. Marx III und IV, Nr. 402, Fn. 3, S. 1262. 793 Vgl. den Brief Hindenburgs an Marx vom 9. Februar 1928, Kab. Marx III und IV, Nr. 416, S. 1301. 794 Vgl. zusammenfassend zu den Beratungen des Schulgesetzes G. Grünthal, Reichsschulgesetz, S. 196-244; H. Köhler, Lebenserinnerungen, S. 265 f.; G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 273 ff. 795 Kab. Marx III und IV, Nr. 420, S. 1309 f. 796 Kab. Marx III und IV, Nr. 412, S. 1310 f. 797 Kab. Marx III und IV, Nr. 428, S. 1324 ff. 798 "Nachdem der Reichstag mit den gestern verabschiedeten Gesetzen das sogenannte Notprogramm erledigt hat, und da nicht zu erwarten ist, daß noch weitere 792
XIII. Das zweite Kabinett Müller
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Die Wahlen vom 20. Mai 1928 brachten der SPD und der KPD Gewinne. Nach 26% im Jahre 1924 erreichten die Sozialdemokraten nun einen Anteil von 29,8% der Wählerstimmen. Der Anteil der KPD stieg um 1,6 Prozentpunkte auf 10,6%. Regelrecht abgewählt wurde die amtierende Rechtsregierung. Die Koalitionsparteien, die in den Dezemberwahlen von 1924 einen Stimmenanteil von 48% erzielen konnten, erreichten nur noch 38,1%. Besonders groß war der Rückgang der Stimmen bei der DNVP, deren Anteil von 20,5% auf 14,2% sank. Geringer waren die Verluste des Zentrums (1,5 Prozentpunkte auf 12,1%), der BVP (0,7 Prozentpunkte auf 3,1%) und der DVP (1,4 Prozentpunkte auf 8,7%). Aber nicht nur die Parteien der Rechtskoalition verloren Stimmen bei dieser Wahl, sondern auch die oppositionelle DDP. Sie erreichte nur noch einen Stimmenanteil von 4,9% nach 6,3% 1924. 799 Trotz der Gewinne der SPD läßt sich das Ergebnis der Wahl aber nicht als klaren Sieg für die Republik werten. Den Verlusten der monarchistischen DNVP standen nicht Gewinne der bürgerlichen Mittelparteien gegenüber. Die von der einseitig an großagrarischen Interessen ausgerichteten Politik der Deutschnationalen enttäuschten Wähler wandten sich mittelständischen und agrarischen Interessenparteien wie der Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei), deren Stimmenanteil um 2,2 Prozentpunkte auf 4,5% stieg, und der ChristlichNationalen Bauern- und Landvolkpartei (CNBL), die auf Anhieb 1,9% der Wählerstimmen gewann, zu. 800 Diese Parteien standen dem parlamentarischen System ebenfalls sehr ablehnend gegenüber. Die Gewinne von SPD und KPD sind in der Hauptsache auf die hohe Mobilisierung ihrer Wählerschaft zurückzuführen. Entgegen der rückläufigen Wahlbeteiligung insgesamt, der niedrigsten Wahlbeteiligung bei einer Reichstagswahl seit 1898, nahm sie in den Bezirken mit einem hohen Arbeiteranteil zu. 801 Der Grund für die hohe Mobilisierung lag in dem von der Reichsmarine geforderten Bau eines Panzerkreuzers "A" als Auftakt zu einer Reihe von angeblich längst überfalligen Ersatzbauten. Der Reichstag bewilligte mit der Mehrheit des "Bürgerblocks" am 27. März 1928 die erste Baurate. Der Reichsrat unter der Führung Preußens lehnte am 31. März den Bau ab, indem er vom Kabinett Marx verlangte, die Arbeiten am Bau des Panzerschiffes erst nach einer erneu-
größere gesetzgeberische Arbeiten in dieser Wahlperiode zum Abschluß gebracht werden können, löse ich auf Grund des Artikel 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf.", Verh. Rt., Bd. 422, Nr. 4226. 799 Die Ergebnisse aus: J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tab. 1.3.1.2., S. 44. 800 Stimmenanteile errechnet aus: J. Falter/Th. Lindenberger/S. Schumann, Wahlen, Tab. 1.4., S. 51. 801 Vgl. die Tabelle in: H. A. Winkler, Schein, S. 522.
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C. Die Staatspraxis
ten Finanzprüfung und nicht vor dem 1. September 1928 zu beginnen. Die Arbeiterparteien, die nicht nur im Reichstag die Bereitstellung der Mittel für den Panzerkreuzer abgelehnt hatten, sondern deren Forderung nach der Einführung einer kostenlosen Kinderspeisung an Volksschulen von den bürgerlichen Parteien abgelehnt worden war, wurden dadurch in die Lage versetzt, im Wahlkampf mit der Parole "Kinderspeisung statt Panzerkreuzer" ihre Anhänger zu mobilisieren. 802 Eine Erneuerung der Rechtskoalition war auf Grund des Wahlergebnisses nicht möglich. Rechnerisch in Betracht kam die Weimarer Koalition, die trotz der Verluste von Zentrum und DDP bei einem Stimmenanteil von 46,8%, dem höchsten seit den Wahlen zur Nationalversammlung, mit 48,9% der Abgeordneten im Reichstag fast über eine absolute Mehrheit verfügte. Bei über 50 Abgeordneten von Splitterparteien und 16 Abgeordneten der BVP schien eine solche Minderheitsregierung, die sich von Fall zu Fall bei diesen Abgeordneten eine Mehrheit verschaffen konnte, möglich zu sein. Deutlicher noch war allerdings die Mehrheit der Großen Koalition mit einem Stimmenanteil von 55,5%. In jedem Fall fiel jedoch auf Grund ihres Wahlsieges der SPD die Führungsrolle bei der Kabinettsbildung zu. Als Kanzlerkandidaten kamen Otto Braun, der in Preußen einen eindrucksvollen Wahlsieg für die SPD erreicht und damit auch der von ihm geführten Minderheitsregierung der Weimarer Koalition zur Mehrheit verholfen hatte, sowie Hermann Müller in Betracht, der bereits 1920 für drei Monate Kanzler gewesen war. Zur Klärung dieser Personalfrage kam am 25. Mai die Führungsspitze der SPD zusammen. Braun, der bei diesem Gespräch nicht den Eindruck gewann, daß die Partei seine Kandidatur rückhaltlos unterstützen würde, 803 verzichtete. Damit war der Weg für Müller frei, der nicht nur in der Partei, sondern auch in der Reichstagsfraktion, deren Vorsitzender er seit 1919 fast ununterbrochen gewesen war, großen Rückhalt besaß. Die SPD-Fraktion erklärte sich daraufhin am 11. Juni damit einverstanden, daß ihr Vorsitzender einen eventuellen Auftrag Hindenburgs zur Regierungsbildung annehme. Das große Vertrauen der Fraktion gegenüber Müller wird auch daran sichtbar, daß sie auf inhaltliche Vorgaben für die Koalitionsverhandlungen verzichtete. 804
802 Vgl. zum Bau des Panzerkreuzers und seiner Behandlung im Reichstag, W. Wacker, Bau, S. 33-81, zu seiner Rolle im Wahlkampf, S. 90. 803 Sojedenfalls Brauns eigener Eindruck, O. Braun, Weimar, S. 133; zum Verlauf dieser Besprechung s. auch H. Schulze, Otto Braun, S. 539 ff. 804 Schultheß 1928, S. 115.
XIII. Das zweite Kabinett Müller
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A m 12. Juni erhielt Müller den offiziellen Auftrag des Reichspräsidenten zur Bildung einer Regierung auf möglichst breiter Grundlage. 805 Bei den noch am selben Tag von Müller aufgenommenen Verhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition taten sich sogleich große Meinungsunterschiede auf. So forderte die DVP für ihre Beteiligung an einer Koalition mit den Sozialdemokraten im Reich den Eintritt in die preußische Regierung. Aus staatspolitischen Gründen, so die Vertreter der DVP-Fraktionen im Reich und in Preußen auf einer gemeinsamen Sitzung am 13. Juni, müssen die Regierungen im Reich und in Preußen von denselben Parteien getragen werden. Der preußische Ministerpräsident Braun, dessen Regierung auf der Grundlage der Weimarer Koalition bei den Wahlen soeben erst die absolute Mehrheit errungen hatte, lehnte die Aufnahme der DVP in seine Regierung entschieden ab. In Württemberg und Bayern habe man, so Braun gegenüber Müller, seitens der DVP bei der Neubildung der Regierung auch nicht die Beteiligung der oppositionellen SPD gefordert. Außerdem dürfe sich Preußen vom Reich nicht vergewaltigen lassen.806 Streitpunkte waren auch die von der SPD geforderte Einführung eines gesetzlichen Feiertages am 11. August, dem Verfassungstag, und die Verschiebung des Panzerkreuzerbaus. Sowohl die DVP 8 0 7 als auch die BVP 8 0 8 lehnten diese sozialdemokratischen Forderungen ab. A u f Grund dieser nicht zu überbrückenden Meinungsunterschiede scheiterten die Koalitionsverhandlungen am 22. Juni. 809 In dieser Situation versuchte Müller, Stresemann als Fachminister für eine Regierung auf der Grundlage der Weimarer Koalition zu gewinnen. Stresemann, der sich am 20. Juni wegen seiner angegriffenen Gesundheit in das Sanatorium Bühlerhöhe im Schwarzwald begeben hatte, lehnte dieses Angebot ab. Gleichzeitig telegraphierte er Müller, daß "ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten bis Volkspartei notwendig und möglich ist. Dieses Zusammenwirken wird am besten zum Erfolg führen, wenn Persönlichkeiten aus den Fraktionen der Großen Koalition sich über das Programm klarwerden, mit dem sie vor den Reichstag treten, und ihrerseits mit diesem Programm stehen und
805
Kab. Müller II, Nr. 1, S. 1; Schultheß 1928, S. 115. Zu den Verhandlungen Müllers s. die vermutlich von Pünder stammenden Aufzeichnungen, Kab. Müller II, Nr. 1, S. 1 ff. 807 Schultheß 1928, S. 118 f. 808 Die BVP glaubte gegen die Einführung eines Nationalfeiertages am 11. August stimmen zu müssen, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 300, S. 216. 809 So die Mitteilung in der Zentrumsfraktion, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 303, S. 217. 806
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C. Die Staatspraxis
fallen. Eine solche Kabinettsbildung entspricht auch dem Geist der deutschen Reichsverfassung, die nur die persönliche Verantwortlichkeit der Reichsminister, aber nicht die Verantwortung von Fraktionen kennt." 810 Dieser "Schuß von Bühlerhöhe" sorgte für große Aufregung in Berlin. Der DVP-Fraktionsvorsitzende Scholz, sich selbst auf dem rechten Flügel seiner Partei ansiedelnd und im Innersten ein Gegner der Zusammenarbeit mit der SPD, fühlte sich desavouiert und spielte mit dem Gedanken, den Fraktionsvorsitz niederzulegen.811 Er erreichte einen Beschluß der DVP-Fraktion, der eine scharfe Zurechtweisung Stresemanns bedeutete: "Die Fraktion stellt fest, daß die richtige Leitung der Partei und der Fraktion eine ständige Fühlungnahme aller an den politischen Entscheidungen Beteiligten untereinander und mit dem Fraktionsführer voraussetzt, und erwartet daher, daß dementsprechend von allen Fraktionsmitgliedern verfahren wird." 812 Dieser Beschluß seiner Fraktion empörte Stresemann so, daß er seinerseits überlegte, Fraktion und Partei zu verlassen. 813 Der "Schuß von Bühlerhöhe" hatte aber die festgefahrenen Koalitionsverhandlungen wieder in Gang gebracht. Stresemanns Vorschlag, die Regierung nicht auf der Basis eines von den Fraktionen im voraus gebilligten Programms zu bilden, sondern zunächst sogenannte Persönlichkeiten aus den Fraktionen der Großen Koalition zu bestimmen, die zum Eintritt in eine solche Regierung bereit seien, bot tatsächlich eine größere Aussicht auf Erfolg. Allerdings kam es nun zu Schwierigkeiten mit der Zentrumsfraktion, die sich grundsätzlich für die Beteiligung an einem solchen "Kabinett der Persönlichkeiten" aussprach. 814 Wirth forderte nämlich am 26. Juni für sich die Vizekanzlerschaft. Nur in diesem Falle werde er ins Kabinett eintreten. 815 Die Fraktion machte sich diese Forderung trotz der Warnungen von Marx 8 1 6 zu eigen. Sie verlangte außerdem für Wirth das Ministerium für die besetzten Gebiete, für Brauns das Arbeitsministerium und für Guerard das Ernährungsministerium. 817 Diese Forderungen waren insoweit unerfüllbar, als Müller das Ernährungsministerium bereits dem Demokraten Dietrich zugesagt hatte und Müller diese Zusage einhalten
810
Das Telegramm ist abgedruckt in: G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 298 f. G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 306. 812 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 303. 813 Vgl. die Briefe Stresemanns an die badische DVP, an Scholz, an Kempkes, sowie den Briefentwurf an die Reichstagsfraktion abgedruckt in: G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 305 ff. 814 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 306, S. 219. 815 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 308, S. 220. 816 Vgl. hierzu die Aufzeichnungen Marx' über die entscheidende Fraktionssitzung abgedruckt in: Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 309, Fn. 2, S. 221. 817 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 309, S. 221. 811
XIII. Das zweite Kabinett Müller
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wollte. 818 Müller sprach sich auch grundsätzlich gegen die Installierung eines Vizekanzlers aus und wurde darin von Hindenburg 819 und Stresemann 820 unterstützt. Das Zentrum forderte nun ultimativ drei Minister mit dem Vizekanzler; anderenfalls werde man Arbeitsminister Brauns aus dem Kabinett zurückziehen. 821 Als Müller erneut die Vizekanzlerschaft für Wirth ablehnte, machte das Zentrum noch einmal einen Kompromißvorschlag: Anstelle der Vizekanzlerschaft wollte man sich mit einem klassischen Ministerium begnügen und dachte dabei an das Innenressort. Dieses reklamierten jedoch die Sozialdemokraten für sich. 822 Müllers Vorschlag, dem Zentrum das Finanz- und das Arbeitsressort sowie das Ministerium für die besetzten Gebiete zu überlassen, wurde von diesem abgelehnt.823 Das Zentrum begnügte sich damit, trotz des Widerstands von Marx, der der Fraktion vorwarf, Brauns einfach fallenzulassen,824 mit Guerard einen sogenannten Vertrauensmann in das Kabinett zu entsenden und auf diese Weise eine lose Fühlung zur Regierung herzustellen. Im übrigen wollte die Fraktion ihre Stellung zum neuen Kabinett vom Inhalt der Regierungserklärung abhängig machen.825 Diskussionen gab es auch um die Besetzung der der Volkspartei zugestandenen Ministerien. In der DVP-Fraktion wurde diskutiert, allein Stresemann und nicht auch Curtius ins Kabinett zu entsenden. Dies lehnte jedoch Stresemann entschieden ab. Er wolle nicht, so in einem Schreiben an seine Fraktion vom 27. Juni, "als Konzessionsschulze" einem Kabinett angehören, "in dem sich kein anderes Fraktionsmitglied befindet." 826 Die Fraktion beschloß
818
So Brauns im Vorstand der Zentrumsfraktion über sein diesbezügliches Gespräch mit Müller, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 310, S. 221. 8,9 Vgl. ein in der Sitzung des Zentrumsvorstandes referiertes Telefongespräch zwischen Meissner und Müller, wonach bei Hindenburg Bedenken gegen Wirth als Vizekanzler bestünden, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 310, S. 221; s. auch das Schreiben Meissners an Pünder vom 28. Juni, in dem er mitteilt, daß Hindenburg grundsätzlich gegen eine Vizekanzlerschaft sei, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 313, Fn. 2., S. 223. 820 Stresemann von Meissner telefonisch befragt, sprach sich auch grundsätzlich gegen eine Vizekanzlerschaft aus, die er als unnötige Einrichtung bezeichnete, die eine unerwünschte Zwitterstellung schaffe, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 302. 821 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 314, S. 223. 822 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 316, S. 224. 823 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 317, S. 225. 824 Vgl. die Aufzeichnung Marx' über diese Sitzung, Auszug abgedruckt in: Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 316, Fn. 1, S. 225. 825 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 317, S. 225 f. 826 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 301.
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C. Die Staatspraxis
daraufhin, daß sie "gegen eine Beteiligung ihrer beiden Minister an einer nicht fraktionsmäßig gebundenen Regierung keine Einwendungen erheben" wolle. Ausdrücklich stellte sie jedoch fest, "daß ihre Haltung zu etwaigen Vertrauensoder Mißtrauensvoten dadurch in keiner Weise gebunden ist und insbesondere von dem Verhalten der Regierungserklärung abhängig sein wird." 8 2 7 Nachdem auch diese Schwierigkeiten ausgeräumt waren, ernannte Hindenburg am 28. Juni das zweite Kabinett Müller. 828 In der ersten Kabinettssitzung schlug Müller vor, vom Reichstag ein ausdrückliches Vertrauensvotum zu fordern. Curtius widersprach sofort unter Hinweis auf eine große Reserve seiner Fraktion gegenüber der neuen Reichsregierung. Es sei "leicht möglich, daß die Mehrheit der Deutschen Volkspartei ein positives Vertrauensvotum ablehne." Er schlug deshalb anstelle eines ausdrücklichen Vertrauensvotums in Anlehnung an frühere Kabinette eine Billigungserklärung vor und wurde mit dieser Forderung vom Postminister Schätzel von der BVP unterstützt. Guerard, der "Beobachter" des Zentrums im Kabinett, verlangte demgegenüber ein ausdrückliches Vertrauensvotum, damit "die Fraktionen, die sich bis jetzt nicht gebunden hätten, zu einer Stellungnahme gegenüber dem Kabinett gezwungen werden." Auch der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes als Vertreter Stresemanns sprach sich für ein ausdrückliches Vertrauensvotum aus außenpolitischen Gründen aus und wurde in dieser Argumentation von dem sozialdemokratischen Finanzminister Hilferding unterstützt. Die anderen Minister forderten zumindest eine Billigung. 829 Nach nochmaliger Diskussion dieser Frage am 1. und 2. Juli, in die sich auch Stresemann aus Bühlerhöhe einschaltete und dem Kabinett mitteilen ließ, daß er ein ausdrückliches Vertrauensvotum aus außenpolitischen Gründen vorziehe, 830 einigte sich das Kabinett auf eine Formel, die eine Billigung der Regierungserklärung durch den Reichstag vorsah. 831 Das Kabinett folgte dabei der Einsicht Severings, der in der Diskussion erklärt hatte, er ziehe ein Billigungsvotum auf breiter Basis einem Vertrauensvotum auf schmaler Basis vor. 832 Tatsächlich fand sich am 5. Juli im Reichstag für
827 Die Erklärung der DVP-Fraktion ist abgedruckt in: G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 303. 828 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 317, S. 226, Fn. 2. 829 Kab. Müller II, Nr. 2, S. 7 ff. 830 Kab. Müller II, Nr. 3 und 4, S. 10 f.; s. hierzu Stresemanns Nachricht an seinen Staatssekretär, G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 304. 831 "Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung und geht über alle Anträge zur Tagesordnung über.", Kab. Müller II, Nr. 5, S. 13. 832 Kab. Müller II, Nr. 4, S. 11.
XIII. Das zweite Kabinett Müller
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diese Formel eine große Mehrheit von 261 gegen 134 Stimmen bei 28 Enthaltungen.833 Die Haltung von DVP und Zentrum legt es nahe, das zweite Kabinett Müller nicht als parlamentarische Regierung zu qualifizieren. Die Volkspartei stellte ausdrücklich fest, daß sie mit dem Eintritt ihrer Minister in ihrer "Haltung zu etwaigen Vertrauens- und Mißtrauensvoten ... in keiner Weise gebunden" 834 sei. Auch das Zentrum entsandte mit Guerard nur einen "Beobachter" in ein von der Fraktion so empfundenes "Übergangskabinett" und fühlte sich in ihrer Stellung zur Regierungserklärung nicht gebunden.835 Man kann daraus folgern, daß diese Koalitionsparteien im neuen Kabinett nicht ihre Regierung erblickten, die es gegen Angriffe der Opposition zu verteidigen galt, sondern sich vorbehielten, ihrerseits gegen das Kabinett zu opponieren - ein Verhalten, das die Parteien im Kaiserreich gegen die obrigkeitsstaatlichen Regierungen eingeübt hatten und das dem parlamentarischen System widersprach. 836 Auch das insbesondere von der DVP erzwungene bloße Billigkeitsvotum anstelle eines ausdrücklichen Vertrauensvotums spricht eher gegen als für ein parlamentarisches Kabinett. Die Regierungserklärung wurde jedoch von einer großen Mehrheit des Reichstages - auch von jenen Parteien, die zunächst einen größeren Abstand zur Regierung einnahmen - gebilligt. Wichtig ist auch, daß das ganz wesentlich unter dem Einfluß Hindenburgs installierte Rechtskabinett bei den Reichstagswahlen regelrecht abgewählt wurde. Es wurde ersetzt durch eine vom Wahlsieger SPD geführte Regierung, ohne daß Hindenburg fühlbaren Einfluß auf die Kabinettsbildung nahm. 837 Regierungswechsel dieser Art kennzeichnen parlamentarische Systeme, in denen die Regierungen abhängig sind vom Vertrauen des Parlaments. Allein in diesen Systemen führt eine durch
833 "Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregierung und geht über alle anderen Anträge zur Tagesordnung über.", Verh. Rt., Bd. 430, Nr. 159, Abstimmung in: Verh. Rt., Bd. 423, S. 120; durch diese Fassung des Antrages wurde eine Abstimmung über zwei Mißtrauensanträge und einen unwahrhaftigen, so Reichstagspräsident Löbe, Verh. Rt., Bd. 423, S. 112, Vertrauensantrag der NSDAP nach heftiger Debatte vermieden. Der Antrag der NSDAP, Verh. Rt., Bd. 430, Nr. 175, lautete: "Indem der Reichstag über alle Anträge zur Tagesordnung übergeht, spricht er der Reichsregierung das Vertrauen aus."; die gleichlautenden Anträge von DNVP (Verh. Rt., Bd. 430, Nr. 148) und KPD (Verh. Rt., Bd. 430, Nr. 155) lauteten: "Die Reichsregierung besitzt nicht das Vertrauen des Reichstages." 834 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 303. 835 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 317, S. 225. 836 So die Kritik von H. A. Winkler, Schein, S. 537. 837 Anders P. Haungs, Reichspräsident, S. 157, wonach Hindenburg darauf geachtet haben soll, daß der Besitzstand seiner Interessen und Kompetenzen nicht geschmälert wurde.
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C. Die Staatspraxis
Wahlen erfolgte Veränderung der Zusammensetzung des Parlaments auch zu einer Regierungsneu- oder umbildung. Das Kabinett Müller kann deshalb als letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik bezeichnet werden. 838
XIV. Das Ende der parlamentarischen Demokratie: Das Kabinett Brüning Nachdem im Jahre 1925 mit Hindenburg ein Mann ihres Vertrauens Reichspräsident geworden war, wurden die Versuche der politischen Rechte immer intensiver, das parlamentarische Regierungssystem der Verfassung zu Gunsten eines Präsidialsystems zu verändern. So beantragte die DNVP bereits im Juni 1926 im Reichstag die Aufhebung des Art. 54 WRV, die Stärkung der Regierungsgewalt und die teilweise Entmachtung des Parlaments durch eine Körperschaft, "deren Mitglieder nicht im Wege allgemeiner und direkter Wahlen bestellt werden". 839 Anfang 1929 kam es zu einer Initiative des Stahlhelms zur Durchführung eines Volksbegehrens mit dem Ziel der Abschaffung des Art. 54 WRV und der Stärkung der Rechte des Reichspräsidenten. Mangels ausreichender Unterstützung der DNVP und insbesondere der DVP blieb jedoch auch dieser Versuch erfolglos. 840 Erfolgreicher waren die Versuche, über den Reichspräsidenten und dessen Amtsführung eine Änderung des Regierungssystems auch ohne ausdrückliche Verfassungsänderung zu erreichen. Dazu mußte zunächst einmal das auf einer parlamentarischen Mehrheit beruhende Kabinett Müller beseitigt werden. Mit aller Macht versuchten deshalb Hindenburg und seine Umgebung, Müller zu stürzen. Wie konkret Hindenburgs Pläne zum Sturz der Reichsregierung bereits im März 1929 waren, zeigt sein Gespräch mit dem Deutschnationalen Westarp,
838
So F. Stampfer, Jahre, S. 517; dieser Auffassung zuneigend auch J. Blunck, Gedanke, S. 279 f. 839 "Der Reichstag möge beschließen: einen Ausschuß von 28 Mitgliedern einzusetzen, der die Reichsverfassung auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen einer Revision unterzieht, und zwar u. a. in der Richtung, 1. daß Artikel 54 aufgehoben oder mindestens im Sinne der Stärkung der Regierungsgewalt wesentlich abgeändert wird; 2. daß neben dem Reichstag als gleichberechtigter Faktor der Gesetzgebung eine Körperschaft eingeschaltet wird, deren Mitglieder nicht im Wege allgemeiner und direkter Wahlen bestellt werden.", Verh. Rt., Bd. 406, Nr. 1897. 840 Vgl. G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 321 und H. Mommsen, Freiheit, S. 283.
XIV. Das Kabinett Brüning
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dem er nicht nur seine Absichten mitteilte, sondern mit dem er auch die personelle Zusammensetzung des neuen Kabinetts besprach. Auch der Charakter der neuen Regierung wurde bereits in diesem Gespräch sichtbar. Hindenburg wollte ein Präsidialkabinett ohne vorherige Verhandlungen mit den Fraktionen einsetzen.841 Noch deutlicher wurde etwa zur selben Zeit Schleicher, der in nahen persönlichen Beziehungen zu Hindenburg stand842 und einen maßgeblichen Einfluß auf ihn ausübte. In einem Gespräch erklärte er Brüning, daß der Reichspräsident gewillt sei, "zusammen mit der Reichswehr und jüngeren Kräften im Parlament die Dinge vor seinem Tod in Ordnung zu bringen". Zu diesem Zweck wolle er "das Parlament im gegebenen Augenblick für eine Zeit nach Hause schicken und in dieser Zeit mit Hilfe des Artikels 48" regieren. 843 Brüning zufolge wollte Schleicher nach Hindenburgs Tod mit Hilfe dieses Artikels auch die Monarchie wieder einführen. Dem widersprach jedoch der Zentrumsmann mit dem Hinweis, daß man mit den unpopulären Maßnahmen zur Ordnung der Finanz- und Sozialpolitik die Monarchie nicht belasten dürfe. Die notwendigen Reformen müßten mit der jetzigen Mehrheit gemacht werden. Erst am Ende der Reformen dürfe die Monarchie stehen.844 Im Dezember 1929 erklärten Meissner, Schleicher und Groener gegenüber Brüning, daß Hindenburg Müller stürzen und daß sein Nachfolger "im Notfall die Vollmacht des Artikels 48 bekommen" werde. Sie machten außerdem deutlich, daß der Reichspräsident Brüning die Kanzlerschaft antragen wolle und er erwarte, daß dieser sich dem "Ruf nicht versagen werde". 845 Wie sich der Reichspräsident die politische Ausrichtung des neuen Kabinetts vorstellte, wurde am 15. Januar 1930 in Gesprächen Westarps mit Hindenburg und Meissner deutlich: Das "Hindenburgkabinett" solle antiparlamentarisch und antimarxistisch sein und überwiegend nicht aus Parlamentariern, sondern aus Berufsbeamten bestehen. Meissner appellierte an den Deutschnationalen, die Bildung einer solchen Regierung zu unterstützen, damit Hindenburg "von dem Regieren mit den Sozialdemokraten loskommen könne". Auch Hindenburg
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Hindenburg "beabsichtige nicht noch einmal nach diesem Brauch zu verfahren", so gegenüber Westarp, der ihn auf die "Zwangslage" hinwies, daß ein neu ernannter Kanzler durch ein Mißtrauensvotum beseitigt werden könne und sich deshalb der "Brauch" vorheriger Verhandlungen mit den Fraktionen des Reichstages entwickelt habe, eine Niederschrift Westarps über sein Gespräch mit Hindenburg am 18. März 1929 ist abgedruckt in: E. Jonas, Volkskonservativen, S. 186 ff. 842 So Hindenburgs Staatssekretär O. Meissner, Staatssekretär, S. 188; zur Rolle Schleichers als Berater Hindenburgs G. Treviranus, Rolle, S. 363 ff. 843 Das Gespräch ist wiedergegeben von H. Brüning, Memoiren, S. 145. 844 H. Brüning, Memoiren, S. 146. 845 H. Brüning, Memoiren, S. 150.
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selbst sprach gegenüber Westarp "in wiederholter Betonung ... die Sorge aus, daß ... wenn die Deutschnationalen sich im Frühjahr versagten, die Gelegenheit wieder einmal verpaßt werde und er in der Zwangslage bleibe, mit den Sozialdemokraten weiter regieren zu müssen".846 Die Entlassung der Reichsregierung und damit den offenen Verfassungsbruch wagte Hindenburg jedoch nicht. Vielmehr hoffte er darauf, daß die Große Koalition an ihren inneren Gegensätzen zerbrechen werde. Tatsächlich waren Hindenburgs Hoffnungen auf einen Bruch der Koalition zu Beginn des Jahres 1930 nicht unbegründet. Durch die im Herbst 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise tat sich im Reichshaushalt 1930 eine Lücke von 700 Millionen Reichsmark auf. Allein 250 Millionen Reichsmark entfielen dabei auf die Zuschüsse des Reiches zur Arbeitslosenversicherung. 847 Der Grund für das Defizit bei der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung lag darin, daß die von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern je zur Hälfte aufgebrachten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht ausreichten, den sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit von eineinhalb Millionen im September 1929 auf fast drei Millionen im Dezember 1929 zu finanzieren. 848 Die Vorschläge der Parteien zur Lösung der Finanzkrise gingen - entsprechend der von ihnen vertretenen Wählerklientel - weit auseinander. Die DVP verlangte eine Erhöhung der indirekten Steuern 849 und eine Senkung der Leistung der Arbeitslosenversicherung. 850 Die SPD befürchtete angesichts dieser Vorschläge, "daß ein einmaliges Defizit nach dem vorgetragenen Plan durch dauernde Massenbelastung gedeckt werden soll und daß dann nachher die durch die Konsumsteuern freigewordenen Beträge zur Senkung der Besitzsteuern benutzt würden". 851 Sie forderte deshalb, daß zumindest ein Teil der auf die Leistungsfähigkeit des Einzelnen keine Rücksicht nehmende und deshalb
846 Die Aufzeichnung Westarps über seine Gespräche mit Hindenburg und Meissner ist abgedruckt in: Politik, Nr. 7, S. 15 ff. 847 Bericht des Finanzministers Moldenhauer an den Staatssekretär der Reichskanzlei, Pünder, vom 3. Februar 1930 zum Haushalt 1930, Kab. Müller II, Nr. 432, S. 1422 ff. 848 L. Preller, Sozialpolitik, S. 167. 849 So der Vorschlag des volksparteilichen Finanzministers Moldenhauer am 3. Februar, Kab. Müller II, Nr. 432, S. 1426. 850 Auf eine "innere Senkung" der Arbeitslosenversicherung legte besonders Scholz großen Wert, Aufzeichnung des Finanzstaatssekretärs Schäffers über eine Aussprache der Vertreter der Regierungsfraktionen am 8. März, Kab. Müller II, Nr. 469, S. 1558, Fn. 9; s. auch den Beschluß der DVP-Fraktion vom 2. März, Kab. Müller II, Nr. 458, S. 1516 f., Fn. 2. 851 So Breitscheid gegenüber Brüning am 1. Februar, Breitscheids Aufzeichnung über seine Unterredung ist abgedruckt in: R. Morsey, Quellen, Nr. 1, S. 210.
XIV. Das Kabinett Brüning
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von ihr als unsozial empfundene Erhöhung der indirekten Steuern durch eine Erhöhung der direkten Steuern ersetzt werde. Die Sozialdemokraten schlugen deshalb eine Erhöhung der Erbschaftssteuer, ein einmaliges Notopfer der Besitzenden durch einen Sonderzuschlag zu den Steuern aus höheren Einkommen und Vermögen vor. Außerdem forderten sie einen Verzicht auf die der Industrie für das Jahr 1930 zugesagte finanzielle Entlastung von fünfzig Millionen Reichsmark. Zur Sanierung der Arbeitslosenversicherung schlugen sie statt der Leistungskürzung, die nach ihrer Auffassung allein eine Verlagerung der finanziellen Belastung vom Reich auf die für die Fürsorge zuständigen Kommunen bedeutete, eine Erhöhung der Beiträge um einen halben Prozentpunkt sowie die Heranziehung der Beamten zu den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung vor. 852 Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Auffassungen zur Behebung der Finanzkrise schien ein Kompromiß in der Koalition unerreichbar zu sein. Dies galt umso mehr, als nach dem Tod Stresemanns, der im Oktober 1929 mit letzter Kraft einen Kompromiß in der Arbeitslosenversicherung in seiner Fraktion durchsetzte und damit den Bruch der Koalition verhinderte, 853 innerhalb
852 So zusammenfassend Müller und Moldenhauer in der ersten Aussprache über die Etatgestaltung 1930 mit den Vertretern der Regierungsfraktionen am 7. Februar, Kab. Müller II, Nr. 437, S. 1436 ff. 853 "So war am 3. Oktober 1929 die Arbeitslosenversicherung und die Regierung der Großen Koalition gerettet, aber einer war dabei auf der Strecke geblieben: Stresemann ... Nach sechs Jahren eines aufregenden und aufreibenden Lebens war der Fünfzigjährige zur Ruine geworden. Erkrankung, notdürftige Erholung und wieder Erkrankung wechselten dauernd miteinander ab. Dabei waren es nicht die Sorgen um die auswärtige Politik allein, die den Minister bewegten. Er war zugleich auch Führer einer außerordentlich schwer zu behandelnden, innerlich zerrissenen Partei. Stresemann hatte fast die gesamte Zeit hindurch mit dem rechten schwerindustriellen Flügel im Kampf gelegen. Jetzt, wo es um die Arbeitslosenversicherung ging, war die Fraktion besonders schwierig. Die Unternehmer sträubten sich aufs heftigste gegen die Erhöhung der Beiträge, die die Ausgaben der Betriebe um 1/4 Prozent der Lohnsumme erhöhte. Wenn aber die Volkspartei im Reichstag gegen die Novelle stimmte, dann drohte ihr das Scheitern, und die Regierungskoalition war gesprengt. Diese Situation hatte Stresemann vor Augen, als er sein Krankenzimmer verließ, um in die Sitzung seiner Fraktion zu gehen. Was sollte denn werden, wenn die Regierung Hermann Müller stürzte? In den Jahren, in denen Westarp und Hergt in der Deutschnationalen Partei regierten, war der Bürgerblock eine parlamentarische Möglichkeit; seit Hugenberg, Stresemanns Todfeind, die Partei unter seiner Diktatur hielt, war diese Möglichkeit nicht mehr da. Von solchen Gedanken getrieben, geht Stresemann am 2. Oktober nachmittags in seine Fraktion. Die Hälfte ist für, die Hälfte gegen die Regierungsvorlage. Man entschließt sich zur Stimmenthaltung, es reicht auch so. Stresemann kann das Ende nicht abwarten, nach Hause zurückgekehrt, empfängt er um 7 Uhr den treuen Curtius, er erfährt, daß die Gefahr für die Regierung beseitigt ist und begibt sich zur Ruhe. Um 5 Uhr morgens trifft ihn ein Schlaganfall, dem er einige Stunden später erliegt. Im Reichstag wird die Vorlage zur 13 Hoppe
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C. Die Staatspraxis
der DVP der gemäßigte und zur Zusammenarbeit mit der SPD bereite Flügel entscheidend geschwächt war. Neben der Finanzkrise stand jedoch auch eine Frage der Außenpolitik, in der es seit langem eine große Übereinstimmung von DVP und SPD gegeben hatte, zur Beratung und Abstimmung im Reichstag an. A m 20. Januar war in Den Haag der Young-Plan unterzeichnet worden. Durch diesen Plan, der den Dawes-Plan ablöste, gewann Deutschland nicht nur seine Souveränität auf wirtschaftspolitischem Gebiet zurück. Durch die Zustimmung zu diesem neuen Reparationsabkommen kam Frankreich Deutschland in der Rheinlandfrage entgegen und unterzeichnete ein Abkommen über die vorzeitige Räumung des noch immer besetzten Rheinlandes.854 Das Zentrum versuchte nun, über diese im Reichstag zur Abstimmung anstehende außenpolitische Frage Druck auf die beiden Flügelparteien der Koalition auszuüben. A u f Vorschlag ihres Vorsitzenden Brüning beschloß die Fraktion am 28. Januar, "daß mit einer positiven Zustimmung des Zentrums zum Young-Plan nicht zu rechnen ist, wenn die Regierung nicht rechtzeitig Maßnahmen vorschlägt und die Zustimmung der Parteien dazu einholt, die die Kassensanierung vor Annahme des Young-Planes sicherstellen". 855 Unter dem Druck dieses Junktims einigte sich das Kabinett am 5. März auf einen Kompromiß zur Lösung der Finanzkrise. Um 240 Millionen Reichsmark drastisch erhöht werden sollte die Biersteuer. Eingeführt werden sollte außerdem eine Mineralwassersteuer sowie Zölle auf Mineralöle, die Einnahmen von 105 Millionen Reichsmark versprachen. Bezüglich der Industrie einigte man sich statt der Entlastung auf eine zusätzliche Belastung von fünfzig Millionen Reichsmark. Gleichzeitig legte sich das Kabinett auf eine Senkung der Einkommensteuer für das Jahr 1931 in der Höhe von 600 Millionen Reichsmark fest. Zur Sanierung der Arbeitslosenversicherung wurde die Einigung über einen Notstock erzielt, der aus der zusätzlichen Belastung der Industrie und dem Wegfall der Lohnsteuererstattung gespeist werden sollte. Gleichzeitig wurde der Vorstand der Reichsanstalt ermächtigt, zum Ausgleich der Einnah-
Arbeitslosenversicherung in dritter Lesung mit 238 gegen 155 Stimmen angenommen.", so die eindrucksvolle Schilderung F. Stampfers, Jahre, S. 551 f. 854 Zum Young-Plan vgl. M. Vogt, Einleitung Kab. Müller II, S. XXV ff.; ders., Entstehung, passim. 855 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 503, S. 377.
XIV. Das Kabinett Brüning
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men und Ausgaben der Anstalt den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf bis zu 4% zu erhöhen. 856 Die Spitzenverbände der Wirtschaft reagierten auf den gefundenen Kompromiß schroff ablehnend. Sie brachten in einer gemeinsamen Erklärung vom 7. März zum Ausdruck, "daß das vom Reichskabinett vorgelegte Finanz- und Steuerprogramm nicht den Notwendigkeiten einer auf Belebung der Wirtschaft und Minderung der Arbeitslosigkeit gerichteten Finanz- und Wirtschaftspolitik entspricht". 857 Damit war ein Erfolg des Kabinettskompromisses von vornherein stark gefährdet, da er nur zu verwirklichen war, wenn die Regierungsfraktionen, zu denen auch die sich an den Interessen der Wirtschaft orientierende DVP gehörte, ihn im Parlament unterstützten. Bereits am 24. Januar 1930 hatte sich jedoch der rechte Flügel der DVP auf die Senkung von Einkommens- und Vermögenssteuern sowie den Wegfall der Gewerbesteuer festgelegt, um die Wirtschaft "vor einem Zusammenbruch zu bewahren". Das dadurch sich vergrößernde Defizit im Haushalt sollte durch eine Erhöhung der Biersteuer und der Umsatzsteuer finanziert werden. Für den Ausgleich bei der Arbeitslosenversicherung wurde eine Reform dieser Versicherung, also eine Kürzung der Leistungen für die Arbeitslosen, vorgeschlagen. Sollte sich die SPD diesen Erfordernissen versagen, "so muß sie entweder aus der Regierung ausscheiden, oder die Volkspartei muß durch ihren Austritt die Regierung des Reichskanzlers Müller stürzen". 858 Unter dem Druck der Wirtschaft 859 machte sich die
856 Kab. Müller II, Nr. 461 und 462, S. 1532 ff., dort auch die Diskussionen im Kabinett zum erzielten Kompromiß. 857 Politik, Nr. 30, Fn. 1. 858 So die Aufzeichnung über diese Besprechung, Politik, Nr. 11 b, S. 33 f. 859 Vgl. hierzu die Briefe des Generaldirektors der Gutehoffnungshütte, Reusch, an seinen Vertrauensmann in der DVP-Fraktion, Erich von Gilsa, vom 12. Februar: "Ich bedauere, Ihren Mitteilungen entnehmen zu müssen, daß sich die Deutsche Volkspartei den Standpunkt der Spitzenverbände in der Frage der Finanz- und Steuerreform nicht zu eigen gemacht hat. Ich fürchte, daß damit eine günstige Gelegenheit verpaßt ist, die Reichsfinanzen auf längere Zeit in Ordnung zu bringen", Politik, Nr. 18, S. 50 f. und vom 20. Februar: "Je mehr ich mir die Sache überlege, für desto verfehlter halte ich die Stellungnahme der Deutschen Volkspartei. Sie wird durch ihre Haltung in der Frage der Reichsfinanzreform in der Wirtschaft keine Freunde gewinnen", Politik, Nr. 20, S. 53; zu den Vorschlägen Reuschs s. dessen Rede in der Hauptausschußsitzung des Deutschen Industrie- und Handelstages am 30. Januar 1930, Politik, Nr. 12, S. 35 ff; Brief und Memorandum des geschäftsführenden Vorstandsmitglieds des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Ludwig Kastl, an Finanzminister Moldenhauer, Politik, Nr. 15 a und b, S. 43 ff. sowie dessen Brief an Mitglieder des Reichstages vom 27. Februar im Namen der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft, Politik, Nr. 22, S. 55 f.; interessant in diesem Zusammenhang auch die Mitteilung von Gilsas an Reusch vom 26. 13*
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C. Die Staatspraxis
DVP-Fraktion diese Haltung der Parteirechten zu eigen. A m 2. März beschloß die DVP-Fraktion einstimmig, daß für sie "das Kernstück jeder Finanzreform eine Entlastung der Wirtschaft, die Wiederherstellung der Rentabilität in Landwirtschaft, Handel, Handwerk und Industrie sowie die Förderung der Kapitalbildung sein muß". 860 Auf der Grundlage dieses Beschlusses lehnte die DVP-Fraktion am 6. März in einer stürmisch verlaufenden Sitzung 861 den Kabinettskompromiß ab. 862 In den sich anschließenden Verhandlungen der Regierungsfraktionen über den Kabinettskompromiß verweigerte die DVP ihre Zustimmung zur Erhöhung der Industriebelastung und bestand auf einer Reform der Arbeitslosenversicherung. 863 Da eine Einigung auf der Grundlage des Kabinettskompromisses nicht zu erreichen war, brach Müller die Verhandlungen ab. 864 Im Zentrum und der DDP wuchs nun die Bereitschaft, eine Koalition auf der Grundlage der Weimarer Koalition unter Einschluß der BVP zu bilden. 865 Unmittelbar nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der DVP versuchten Vertreter von SPD, Zentrum, DDP und BVP ohne Einschaltung des Kabinetts, eine Lösung der Finanzkrise zu erreichen. Dies gelang am 11. März durch einen Verzicht auf die von der BVP abgelehnte Biersteuererhöhung, die durch die Erhöhung anderer indirekter Steuern finanziert werden sollte. 866 Dieser Kompromiß, der gleichzeitig ein Ausscheiden der DVP aus der Regierungskoalition bedeutet hätte, wurde jedoch nicht verwirklicht: Müller und Brüning hatten zuvor unabhängig voneinander eine Garantie Hindenburgs erhalten, daß dieser "von allen seinen verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch machen werde", um die Finanzkrise zu lösen.867 Nach damaligem SprachgeFebruar, daß Kastl und das geschäftsführende Mitglied des Vorstandes des Deutschen Industrie- und Handelstages, Eduard Hamm, "ins Finanzministerium kommen, um gemeinsam den Etat 1930 auf noch mögliche Streichungen durchzusehen.", Politik, Nr. 21, S. 54. 860 Einstimmiger Beschluß der DVP-Fraktion vom 2. März, Kab. Müller II, Nr. 458, S. 1516 f,Fn. 2. 861 Zum Verlauf der Sitzung s. I. Maurer, Reichsfinanzen, S. 118 und H. Timm, Sozialpolitik, S. 172. 862 Bericht Brünings in der Zentrumsfraktion, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 532, S. 405. 863 Kab. Müller II, Nr. 469, S. 1553 f. 864 Kab. Müller II, Nr. 470, S. 1560. 865 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 538, S. 409 f. 866 So Esser gegenüber Müller in einer Besprechung von Vertretern der Regierungsfraktionen, die erstmals ohne die DVP stattfand, Kab. Müller II, Nr. 471, S. 1562 f. 867 Kab. Müller II, Nr. 471, S. 1564 f.; H. Brüning, Memoiren, S. 155; Schultheß 1930, S. 67 f.; vgl. auch die Darstellung des Zentrumsabgeordneten Bolz am 24. März,
XIV. Das Kabinett Brüning
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brauch bedeutete dies, daß Hindenburg der amtierenden Regierung versprach, sich notfalls mit Hilfe des Art. 48 WRV auf dem Verordnungswege die nötigen Finanzmittel beschaffen zu können. Die Zentrumsfraktion sah darin einen großen Erfolg ihres Junktims und sprach sich am 11. März "in der Erwartung, daß das Finanzprogramm im wesentlichen verwirklicht" werde, mit großer Mehrheit für die Annahme des Young-Planes aus.868 Daraufhin wurde am folgenden Tag der Young-Plan mit großer Mehrheit vom Reichstag angenom869
men. Gegen den Young-Plan stimmte die BVP wegen der Drohung Preußens, die Alimentierung Bayerns aus dem Finanzausgleichsgesetz zu streichen. 870 Dies führte zu einer großen Verärgerung insbesondere beim Zentrum, das sich von der BVP abwandte und dadurch der DVP, die "wieder Anschluß an die Finanzverhandlungen gewinnen" 871 wollte, die Möglichkeit zur erneuten Einflußnahme auf die Lösung der Finanzkrise bot. Nicht mehr durchsetzbar war damit nicht nur der bereits zwischen den Parteien der Weimarer Koalition und der BVP erzielte Kompromiß, sondern auch eine mögliche Koalition dieser Parteien unter Ausschluß der DVP. Dadurch geriet auch das Kabinett Müller erneut in große Gefahr, da eine Einigung zwischen DVP und SPD nach der Annahme des Young-Planes, der durch das Junktim des Zentrums einen fühlbaren Druck zum Kompromiß erzeugt hatte, nicht sehr wahrscheinlich war. Das Ende des Kabinetts war besiegelt, als Hindenburg ihm das letzte verbliebene Druckmittel verweigerte: Entgegen seiner Müller und Brüning gegebenen Zuder Hindenburgs Worte zu Brüning wie folgt zitiert: "Sie dürfen überzeugt sein, die Finanzreform wird gemacht: wenn die Parteien versagen, dann mache ich es ohne die Parteien.", R. Morsey, Quellen, S. 219, Fn. 38. 868 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 542, S. 413. 869 Verh. Rt., Bd. 427, S. 4359. 870 Hintergrund der Drohung Preußens war der zwischen den Parteien der Weimarer Koalition und der BVP erzielte Kompromiß bezüglich der Biersteuer, der auf die Biersteuererhöhung als Reichssteuer verzichtete und gleichzeitig den Ländern das Recht übertrug, sich selbst durch eine Erhöhung der bestehenden Biersteuer Einnahmen zu verschaffen. Für den Verzicht des Reiches sollten die Länder auf Mehreinnahmen zu Gunsten des Reiches bei anderen geplanten Steuererhöhungen verzichten. Da Preußen auf Grund dieses Kompromisses den entstehenden Ausfall durch eine 70%ige Erhöhung der ohnehin unpopulären Biersteuer hätte ausgleichen müssen, während Bayern sich mit einem Aufschlag von 30% hätte begnügen können, wollte Preußen über die Änderung des Finanzausgleichsgesetzes eine einheitliche Erhöhung der Biersteuer durch die Länder erzwingen, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 546, S. 417; die Biersteuer war der BVP so wichtig, daß eigens der bayerische Ministerpräsident Held nach Berlin reiste, um die Haltung der BVP-Fraktion in dieser Frage zu beeinflussen, zum Hintergrund dieser Reise vgl. den Schriftwechsel zwischen Pünder und dem Vertreter der Reichsregierung in München, Haniel, vom 13. und 14. März, Kab. Müller II, Nr. 476 f., S. 1571 ff. 871 So Brüning am 14. März im Vorstand der Zentrumsfraktion, Prot. Zentrum 19261933, Nr. 546, S.418.
198
C. Die Staatspraxis
sage lehnte Hindenburg auf Betreiben von Groener und Schleicher einen ihm vorgelegten Entwurf eines Schreibens an das Kabinett ab, das diesem Vollmachten für die Auflösung des Reichstages und für ein Regieren auf der Grundlage des Art. 48 WRV geben sollte. Der Briefentwurf enthielt außerdem die Aufforderung an die beiden volksparteilichen Minister, in jedem Fall im Kabinett zu bleiben. 872 Statt die zugesagten Vollmachten zu erteilen, forderte der Reichspräsident nun in einem in befehlendem Ton abgefaßten Schreiben an das Kabinett vom 18. März finanzielle Hilfen für die Landwirtschaft. 873 Hindenburgs Staatssekretär Meissner sah in diesem Brief nicht nur die erste Etappe und die Brücke zur Lösung der Krise im Sinne Schleichers, sondern "auch die Unterlage zum besten, was wir haben können, zum Führertum 'Hindenburg'." 874 Die Weigerung des Reichspräsidenten, dem Kabinett die zugesagten Vollmachten des Art. 48 WRV zu erteilen, blieb auch den verhandelnden Parteien nicht verborgen. 875 Es zeigte sich nun, wie verhängnisvoll sich die Beseitigung des Junktims auf den Bestand der Reichsregierung auswirken sollte. 876 Ohne diesen Einigungsdruck fehlte es an der Bereitschaft, zu einem Ausgleich der von den Parteien vertretenen Interessen zu kommen. So scheiterte auch der letzte von Brüning unternommene Kompromißvorschlag zur Arbeitslosenversicherung, der in seinem Kern eine Vertagung der Hauptstreitpunkte vorsah: Der Reichszuschuß für die Arbeitslosenversicherung wurde bei einem Beitragssatz von 3,5% auf 150 Millionen Reichsmark für das Jahr 1930 festgesetzt. Die bestehende Darlehnspflicht des Reiches für weitere Fehlbeträge der Reichsanstalt sollte fortgelten "mit der Maßgabe, daß die Reichsregierung nach Prüfung weiterer Ersparnismöglichkeiten auf dem Wege der Gesetzgebung alsbald ein Gesetz vorzulegen hat, das entweder durch Beitragserhöhung die Rückzahlung der Darlehen ermöglicht oder durch eine Reform des Gesetzes über die
872 873 874
S. 94.
875
So v. Gilsa an Reusch, Politik, Nr. 36, S. 87 f. Kab. Müller II, Nr. 480, S. 1580 ff. Meissner an Schleicher, den Brief Hindenburgs erläuternd, Politik, Nr. 38 c,
Vgl. die Bemerkung Moldenhauers an seinen Staatssekretär Schäffer während der Verhandlungen der Regierungsparteien am 25. März, wonach dieser an keine Einigung glaube, weil die DVP erfahren habe, "daß der Reichspräsident dieser Regierung weder die Ermächtigung aus Art. 48 noch das Recht zur Auflösung gibt, Aufzeichnung Schäffer, Kab. Müller II, Nr. 484, S. 1595, Fn. 4; s. auch die Äußerung Brünings im Vorstand seiner Fraktion, wonach Hindenburg "diesem Kabinett" die Vollmachten aus Art. 48 WRV nicht erteilen werde, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 552, S. 423. 876 Von einem Fehler, sich auf das Versprechen Hindenburgs verlassen zu haben, spricht auch H. Brüning, Memoiren, S. 155.
XIV. Das Kabinett Brüning
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A V A V G den Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben herstellt 877 oder zur Deckung der für die Darlehen aufzuwendenden Beträge dem Reich die notwendigen Mittel zuführt". 878 Damit wurde die entscheidende Frage, ob das Defizit der Arbeitslosenversicherung durch Beitragserhöhung oder durch Leistungskürzung ausgeglichen werden sollte, vertagt. Dennoch wird man sagen können, daß der neue Vorschlag verglichen mit dem Kabinettskompromiß vom 5. März einen sozialpolitischen Ruck nach rechts bedeutete. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sollten bei der Höhe von 3,5% verbleiben. Bei einem eintretenden Defizit stellte die von der SPD favorisierte Erhöhung der Beiträge nur eine von drei Möglichkeiten dar. Ausdrücklich genannt wurden außerdem die Leistungskürzung und die Finanzierung des Defizits durch indirekte Steuern. Eingeschränkt wurde außerdem die bestehende Darlehnspflicht des Reiches gegenüber der Reichsanstalt. Dennoch stimmten am 27. März drei der vier sozialdemokratischen Minister für den "Brüning-Kompromiß". Die einzige Gegenstimmme im Kabinett kam von Arbeitsminister Wissell. 879 Dieser erreichte in der Sitzung der SPD-Fraktion am Nachmittag des selben Tages eine Ablehnung des Kompromisses. Müller, möglicherweise gelähmt durch ein im Reichstag umlaufendes Gerücht, wonach Hindenburg nicht mehr wünsche, daß der Kompromiß noch von der jetzigen Regierung durchgeführt werde, 880 kämpfte nicht mehr. 881 In der sich anschließenden Kabinettssitzung erklärte der Kanzler, daß die Fraktionen von Zentrum, DDP und DVP dem Kompromiß zugestimmt haben, die SPD-Fraktion den Regierungskompromiß vom 5. März angenommen habe, den neuen Kompromiß jedoch ablehne. Er schlug vor, den Regierungsentwurf im Parlament weiterzubetreiben oder, wenn dieser Weg nicht gangbar erscheine, zurückzutreten. Moldenhauer erklärte sofort, daß mangels einer ausreichenden Basis für die Regierung im Reichstag die von Müller vorgeschlagene Weiterbetreibung des Kabinettskompromisses ausscheide. Dietrich (DDP), Schätzel (BVP) und Severing (SPD) stimmten Müller zu und vertraten die Auffassung, daß das Kabinett die "offene Feldschlacht" mit dem Parlament suchen müsse. Die beiden Zentrumsminister Wirth, bei dem ebenfalls "nicht
877
Dieser Hinweis auf anzustrebende Leistungskürzungen war im ursprünglichen Entwurf Brünings nicht enthalten und wurde erst in letzter Minute auf Drängen der DVP in den Kompromißvorschlag aufgenommen, Kab. Müller II, Nr. 487, S. 1603. 878 Kab. Müller II, Nr. 487, S. 1604 f. 879 Kab. Müller II, Nr. 488, S. 1607. 880 So die Vermutung von H. Brüning, Memoiren, S. 156 f. 881 So J. Leber, Mann, S. 233; W. Keil, Erlebnisse, S. 370 f.
200
C. Die Staatspraxis
übel Lust zu herrschen" schien, den Regierungskompromiß im Reichstag zu verteidigen, 882 und Guerard baten um die Gelegenheit, noch einmal mit Brüning beraten zu können. 883 Dieser warnte vor einer offenen Auseinandersetzung im Parlament, da die DVP den Regierungsvorlagen nicht zustimmen werde und das Zentrum diese nicht ablehnen könne. Es bliebe dann nur die "Weimarer Koalition, von der man nicht weiß, ob sie Hindenburg mitmacht". 884 Nach der Wiederaufnahme der Beratungen im Kabinett verlangte Moldenhauer offen den Rücktritt der Regierung. Sollte die Mehrheit des Kabinetts der Meinung sein, den Regierungskompromiß im Parlament zu vertreten, dann "müsse er für seine Person vom Amt zurücktreten". 885 Daraufhin erklärte Müller "mit bewegter Stimme, er halte nunmehr die Fortsetzung der Großen Koalition nicht für möglich, denn sie hätte Einmütigkeit im Kabinett vorausgesetzt. Er werde sich unverzüglich zum Reichspräsidenten begeben, um ihm den Rücktritt des gesamten Kabinetts anzukündigen. Er dankte mit fast von Tränen der Rührung erstickter Stimme allen Mitgliedern des Kabinetts für die treue und loyale Zusammenarbeit." 886 Noch am Abend des 27. März bat Hindenburg Brüning, den Auftrag zur Regierungsbildung zu übernehmen. Der Reichspräsident wolle "die letzten Jahre seines Lebens nicht mit einer liberalen, sondern einer staatskonservativen Lösung arbeiten". 887 Für eine solche Lösung war Brüning für die Umgebung Hindenburgs "als Zentrumsabgeordneter mit konservativer Einstellung, als erfahrener Politiker und national gesinnter ehemaliger Frontsoldat der geeignete Mann: ihm würden die Rechtsparteien keine grundsätzliche Gegnerschaft entgegenbringen und er würde auch in der Reichswehr Vertrauen genießen".888 Nachdem Brüning signalisiert hatte, daß er zur Bildung eines antiparlamentarischen Kabinetts bereit war, erteilte Hindenburg dem Zentrumsmann am Morgen des 28. März den offiziellen Auftrag zur Regierungsbildung mit der
882
So Moldenhauer in seinem Bericht über die Demission der Regierung Müller, in Auszügen abgedruckt in: Politik, Nr. 43, S. 99. 883 Kab. Müller II, Nr. 489, S. 1608 f. 884 Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 556, S. 426. 885 Kab. Müller II, Nr. 489, S. 1610. 886 So der Bericht Moldenhauers über die Demission der Regierung Müller, in Auszügen abgedruckt in: Politik, Nr. 43, S. 100. 887 So Brüning im Vorstand seiner Fraktion am Abend des 27. März, Prot. Zentrum 1926-1933, Nr. 558, S. 427 f. 888 So O. Meissner, Staatssekretär, S. 188, der außerdem an dieser Stelle erwähnt, daß Schleicher Brüning als Kanzler vorgeschlagen habe; D. Junker, Brüning, S. 311, schildert den Zentrumsmann als asketischen und introvertierten Junggesellen ohne jede charismatische Ausstrahlung, der sich als Leutnant der Reserve dem ehemaligen kaiserlichen Generalfeldmarschall in soldatischem Pflichtgefühl zur Verfügung stellte.
XIV. Das Kabinett Brüning
201
Maßgabe, "daß es angesichts der Schwierigkeiten der parlamentarischen Lage nicht zweckmäßig erscheine, die künftige Regierung auf eine koalitionsmäßige Bindung aufzubauen". 889 Brüning bildete sein Kabinett in drei Tagen. 890 Ersetzt wurden allein die vier sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung Müller durch Brüning, Bredt von der Wirtschaftspartei, Schiele, der im Juli 1930 die DNVP verließ und Treviranus, der bereits im Dezember 1929 aus der DNVP ausgetreten war. Das neue Kabinett verzichtete sowohl auf ein ausdrückliches Vertrauensvotum als auch auf eine Billigung der Regierungserklärung durch den Reichstag. Die von SPD und KPD eingebrachten Mißtrauensanträge 891 überstand das Kabinett mit Hilfe der Drohung, daß bei einer Annahme der Anträge der Reichstag aufgelöst und die Gesetzgebungsfunktion mit Hilfe des Art. 48 WRV von der Regierung selbst übernommen werde. 892 Mit dem neuen Kabinett sollte, so Brünings Vorstellung, eine neue Form des Regierens in Deutschland beginnen.893 Er selbst kennzeichnete diese neue Form des Regierens mit den Worten, daß der Einfluß der Fraktionen auf die Zusammensetzung und die Beschlüsse des Kabinetts gebrochen werden sollte. 894 Damit wurde aber auch deutlich, daß die von Brüning angestrebte Regierungsweise so neu nicht war. Sie brach mit dem von der Weimarer Reichsverfassung eingeführten parlamentarischen Prinzip, das gerade den Einfluß des Parlaments und damit der Fraktionen auf die Zusammensetzung der Regierung verlangte und stellte den konstitutionellen Zustand des Kaiserreichs wieder her, in dem die Regierung nicht vom Vertrauen des Parlaments, sondern vom Vertrauen des Staatsoberhauptes abhängig war. 895 Mit dieser Regierungsbildung war nicht
889
O. Meissner, Staatssekretär, S. 189, Schultheß 1930, S. 93. Am 30. März unterzeichnete Hindenburg die Ernennungsurkunden für Brüning und sein Kabinett, Schultheß 1930, S. 94. 891 Verh. Rt, Bd. 441, Nr. 1904 (SPD-Antrag) und Verh. Rt., Bd. 441, Nr. 1903 (KDP-Antrag). 892 So Brüning im Reichstag unmittelbar vor der Abstimmung über die Mißtrauensanträge, Verh. Rt., Bd. 427, S. 687; vgl. hierzu auch die Diskussionen im Kabinett am 3. April, Kab. Brüning, Nr. 5 und 6, S. 6 ff. Die Möglichkeit einer Reichstagsauflösung auch nach einem erfolgreichen Mißtrauensantrag wurde ebenso bejaht wie die Zulässigkeit von Steuererhöhungen, der Durchführung eines Agrarprogramms und einer Ostpreußenhilfe auch nach der Auflösung des Reichstages auf der Grundlage des Art. 48 WRV. 893 H. Brüning, Memoiren, S. 164. 894 H. Brüning, Memoiren, S. 163. 895 G. Jasper, Zähmung, S. 20 f. deutet diese Kabinettsbildung als Ausbruch aus den Zwängen parlamentarischer Kompromißbildung mit dem Ziel, den Einfluß der Sozial890
202
C. Die Staatspraxis
nur, so die Formulierung Brünings, "die Autorität der Regierung gegenüber dem Parlament wiederhergestellt", 896 sondern auch das Ende des von der Verfassung festgelegten parlamentarischen Regierungssystems markiert.
XV. Zusammenfassung Die Untersuchimg der einzelnen Kabinettsbildungen hat ergeben, daß sich die Praxis der Regierungsbildung immer mehr von den Vorgaben der Verfassung entfernte. Die Ursache für diesen nicht stetig verlaufenden Prozeß der Verfassungsentwicklung lag in der fehlenden Unterstützung der Bevölkerung für die die Verfassung und ihr Regierungssystem tragenden Parteien der Weimarer Koalition. Bereits bei der ersten Reichstagswahl verloren sie ihre Mehrheit. Dadurch wurden sie gezwungen, Koalitionen mit der DVP und sogar mit der DNVP einzugehen, die in ihrem Kern monarchistisch und antiparlamentarisch waren. Mit Stresemann konnte sogar eine dieser Parteien den Kanzler stellen. Diese Zusammenarbeit war insbesondere auf Grund der in den Parteien wirksamen ökonomischen Interessen nur sehr selten erfolgreich. Sie führte zu einem schleichenden Prozeß der Abkehr vom parlamentarischen Prinzip, der in zunehmendem Maße auch von den jeweils rechten Flügeln der Parteien der Weimarer Koalition unterstützt wurde. Neben den ökonomischen Gegensätzen spielte für die Hinwendung zu einem Präsidialsystem aber auch die in den Rechtsparteien vorhandene grundsätzliche Ablehnung des Parlamentarismus eine große Rolle. A u f Grund der Einführung des parlamentarischen Regierungssystems erhielten grundsätzlich alle im Reichstag vertretenen gesellschaftlichen Interessen die Möglichkeit, sich an der Regierung zu beteiligen. Dadurch blieben selbst höchste Regierungsämter nicht mehr wie im Kaiserreich einer kleinen Oberschicht vorbehalten, sondern standen nun neben linksliberalen Politikern sogar den einst als "Reichsfeinden" bekämpften Mitgliedern des Zentrums und der SPD offen. Gleichzeitig wurden die bisher nur im Reichstag ausgetragenen Kämpfe der gesellschaftlichen Interessen über das parlamentarische Prinzip bis in die Regierung und damit in den Staat hineingetragen. Dadurch mußte auf Regierungsebene versucht werden, die unterschiedlichen Interessen durch das Eingehen von Kompromissen zum
demokratie auf die Regierungsbeteiligung und auf die politischen Institutionen zurückzudrängen. 896 H. Brüning, Memoiren, S. 163.
XV. Zusammenfassung
203
Ausgleich zu bringen - ein Kennzeichen jeder parlamentarischen Demokratie. Diese als Schwächung des Staates empfundene Entwicklung verstärkte bei den Rechtsparteien die Ablehnung des parlamentarischen Prinzips und verringerte deren Neigung, Interessenkonflikte durch das Eingehen von Kompromissen zu überwinden. Vielmehr versuchte man mit der Forderung nach einem vom Parlament unabhängigen und überparteilichen Fachministerium, in dem allein die bereits im Kaiserreich regierenden Kräfte vertreten sein sollten, die Einheit des Staates wiederherzustellen. Mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, einem Repräsentanten der alten Kräfte, erhielt die Forderung nach einem Präsidialsystem zusätzlichen Auftrieb. Mit seiner Hilfe konnte über eine Änderung des Regierungssystems die Regierungsbeteiligung der im Kaiserreich so erfolgreich von der Ausübung staatlicher Macht ferngehaltenen gesellschaftlichen Kräfte wieder beseitigt werden. Konsequent baute Hindenburg gemeinsam mit seinen Beratern das Reichspräsidialamt als konkurrierendes Machtzentrum zum Reichstag aus und verwandelte allmählich das von der Verfassung vorgegebene parlamentarische Regierungssystem in ein der konstitutionellen Regierungsweise des Kaiserreichs entlehntes Präsidialsystem. Die Wahl Hindenburgs zeigte auch, daß die Parteien der Weimarer Koalition über keine ausreichende Unterstützung in der Bevölkerung verfügten und nicht in der Lage waren, ihren Kandidaten, den Zentrumspolitiker Marx, durchzubringen. Auch in dieser Wahl erwies sich das schwarz-weiß-rote Lager unter Einschluß der DVP als stärker als die Kräfte der parlamentarischen Demokratie.
D. Die Rolle der Wissenschaft Im dritten Teil der Arbeit soll die Rolle der Wissenschaft bei der festgestellten Entwicklung des Weimarer Regierungssystems von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem untersucht werden. 1 Dabei wird zunächst die konkrete Auseinandersetzung um die Auslegung des Art. 54 WRV, der zentralen Vorschrift zum Regierungssystem der Weimarer Republik, nachgezeichnet (I.). Der Entwicklung der Staatspraxis folgend läßt sich auch bei der Auslegung dieser Norm eine Entwicklung feststellen. Ging man zu Beginn der Weimarer Republik davon aus, daß diese Vorschrift ein parlamentarisches Regierungssystem festschreibt, so hatte sich am Ende die Meinung durchgesetzt, daß die Verfassung ein Präsidialsystem als Regierungssystem vorsieht. Im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht aber auch im letzten Teil der Arbeit nicht die Frage, wie sich die Auslegung der entscheidenden Normen der Verfassung entwickelt hat. Gemäß der eingangs erläuterten Methode soll in diesem letzten Teil in erster Linie untersucht werden, warum es in der Wissenschaft zu dieser Änderung in der Auslegung kam. Übersetzt in die Sprache des Historikers geht es hier darum, die kulturelle Dimension der Verfassungsentwicklung deutlich zu machen. Es bleibt deshalb nicht bei der Darstellung der konkreten Auseinandersetzung um das Weimarer Regierungssystem. Vielmehr kommt es im Anschluß daran zu einer kurzen Erörterung der sozialen und institutionellen Situation der deutschen Hochschullehrer (II.). Danach soll die herbeigeführte Methodenänderung bei der Verfassungsauslegung dargestellt werden (III.), um anschließend auf die durch diese Methodenänderung wichtig gewordenen verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft über das anzustrebende Regierungssystem einzugehen (IV.). Dabei kommen nicht nur Autoren der "Konservativen Revolution", 2 also Repräsentanten einer dezidiert rechten Strömung zwischen Deutschnationalen
1 Zum Einfluß der Wissenschaft auf die Verfassungsentwicklung B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 206 ff. 2 Vgl. hierzu die umfassenden Darstellungen von A. Möhler, Revolution; W. Hock, Antikapitalismus; F. Stern, Kulturpessimismus; K. Sontheimer, Denken; H. Rudolph,
D. Die Rolle der Wissenschaft
205
und Nationalsozialisten, zu Wort, sondern auch sogenannte Vernunftrepublikaner. A u f Grund der eingeschränkten Aufgabenstellung werden besonders jene verfassungspolitischen Vorstellungen herausgearbeitet, die die Verfassungsentwicklung von einer parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialstaat unterstützten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß in der Zeit der Weimarer Republik allein solche verfassungspolitischen Vorstellungen unter den Professoren und Intellektuellen existierten. 3 Sie waren jedoch stark genug, die angesprochene Entwicklung bei der Auslegung der Verfassungsnormen herbeizuführen. Bei der Bearbeitung einer solchen Aufgabe werden hochbrisante Fragen der deutschen Verfassungsrechtslehre berührt. Dies gilt besonders für die Abschnitte III. und IV. Bereits an dieser Stelle will ich deshalb darauf hinweisen, daß es in diesen Abschnitten nicht um den Nachweis der Überlegenheit der positivistischen oder der antipositivistischen Methode bei der Verfassungsauslegung geht. Ein solcher Eindruck kann deshalb entstehen, weil sowohl Anhänger als auch Gegner des staatsrechtlichen Positivismus die Überlegenheit ihrer Methode mit dem Nachweis der politischen Unhaltbarkeit der jeweils anderen Methode nachzuweisen versuchen. So machen Antipositivisten den Positivismus und die daraus folgende Gesetzestreue der Juristen für den Niedergang des Rechts unter dem Nationalsozialismus verantwortlich. 4 Umgekehrt werfen Positivisten den Antipositivisten vor, durch ihre Methode den Untergang der Weimarer Republik verursacht zu haben und setzen Antipositivisten mit Antidemokraten gleich.5 Es ist aber unzulässig, von der methodischen Grundhaltung eines Verfassungsauslegers auf dessen verfassungspolitische Vorstellungen zu schließen. Als Beleg für diese These kann aus der Zeit der Weimarer Republik Hermann Heller angeführt werden. Er war ein Gegner des im Kaiserreich herrschenden staatsrechtlichen Positivismus. Gleichwohl unterschieden sich seine demokrati-
Kulturkritik; M. Greiffenhagen, Dilemma; K. Lenk, Konservatismus; S. Breuer, Anatomie. 3 Einen Überblick über die große Breite des vorhandenen Gedankenguts bieten insbesondere die Gesamtdarstellungen zur Weimarer Republik, so vor allem H. Schulze, Weimar, S. 123 ff.; D. J. K. Peukert, Weimarer Republik, S. 166 ff.; H. A. Winkler, Weimar, S. 285 ff.; vgl. auch G. A. Craig, Geschichte, S. 410 ff und E. J. Hobsbawn, Zeitalter, S. 143 ff; s. auch M. Gangl/G. Raulet (Hrsg.), Intellektuellendiskurse sowie die Aufsätze von H. Kuhn, Gesicht, P. Gay, Hunger, H.-H. Knüter, Situation, W. Müller-Seidel, Moderne, K. Sontheimer, Kultur; bezogen auf Frankfurt am Main: W. Schivelbusch, Intellektuellendämmerung. 4 Vgl. die Zusammenstellung der eindrucksvollsten Beispiele dieser Argumentation bei I. Müller, Juristen, S. 222 ff. 5 Vgl. hierzu Teile der in den Abschnitten III. und IV. zitierten Literatur.
206
D. Die Rolle der Wissenschaft
sehen und am Verfassungswerk von Weimar ausgerichteten verfassungspolitischen Vorstellungen 6 deutlich von denen seiner methodischen Mitstreiter. Die ausfuhrliche Erörterung der verfassungspolitischen Vorstellungen der Weimarer Wissenschaft erfolgt also nicht mit dem Ziel, die politische Unhaltbarkeit der antipositivistischen Methode und damit die Überlegenheit des staatsrechtlichen Positivismus nachzuweisen. Sie verfolgt allein den Zweck, die erstaunliche Änderung in der Auslegung der einschlägigen Verfassungsnormen zu ergründen. Dabei ist auch der Frage nachzugehen, warum es zu diesem heftigen Methodenstreit kam und welche Auswirkung die in der Folge eintretende Änderung in der Methode der Verfassungsauslegung hatte.
I. Der Kampf um die Auslegung des Art. 54 WRV Zu Beginn der Weimarer Republik ging die Staatsrechtslehre davon aus, daß die neue Verfassung das parlamentarische Prinzip verankert habe. Die Reichsregierung wurde als geschäftsführender, wenn auch nicht notwendig aus ihrem Schöße hervorgegangener Ausschuß der Volksvertretung betrachtet. Sowohl die Gesamtpolitik als auch die einzelnen Funktionen der Reichsregierung müssen, so Giese, der Auffassung und dem Willen der Parlamentsmehrheit entsprechen.7 Parlamentarische Regierung sei "Staatsherrschaft der Volksvertretung durch Bestimmung der Richtlinien für die Verwaltung und durch Umbildung der Verfassung." 8 Betont wurde insbesondere, daß das Ernennungsrecht des Reichspräsidenten aus Art. 53 WRV nur ein formales sei, weil die politische Lage ihn zur Berufung des die jeweilige Mehrheit in der Volksvertretung leitenden Politikers führen müsse.9 Der Reichspräsident handele verfassungswidrig, wenn er entgegen Art. 54 WRV solche Politiker zu Ministern ernenne, die nicht das Vertrauen des Reichstages haben.10 Glum folgerte aus dem Zwang zur Koalitionsbildung im Parlament, daß der Reichspräsident verpflichtet sei, mit den Fraktionen vor der Kabinettsbildung zu verhandeln und daß diese ein Nominierungsrecht für das Amt des Reichskanzlers haben.11 Auch
6 Zu Heller vgl. die Arbeiten von W. Schluchter, Entscheidung und G. Robbers, Staat sowie C. Müller, I. Staff (Hrsg.), Rechtsstaat. 7 F. Giese, Verfassung, Art. 54, Anm. 3. 8 J. Hatschek, Reichsstaatsrecht, S. 275; mit ausführlicher, insbesondere historischer Begründung auch in: ders., Staatsrecht, S. 573 ff. 9 F. Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht, S. 620 f. 10 O. Koellreutter, System, S. 6 Anm. 1. 11 F. Glum, Stellung, S. 22, 28 ff., bes. die auf Seite 31 beginnende Anmerkung.
I. Der Kampf um die Auslegung des Art. 54 WRV
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ein Gleichgewicht zwischen Reichspräsident und Reichstag bestehe nicht. 12 Vielmehr sei der Reichspräsident ein willenloses Werkzeug der Mehrheitsparteien, weil er über die Kontrasignaturvorschrift des Art. 50 WRV dem diktatorischen Machtanspruch der Reichsregierung unterworfen sei, die in nichts von ihm, sondern vom Reichstag abhängig sei.13 Wie weit diese das parlamentarische Prinzip betonende Sichtweise des neuen Regierungssystems verbreitet war, zeigte die Reaktion der deutschnationalen Opposition auf eine Erklärung des Vorsitzenden der DDP, Petersen, vom Juni 1920, in der dieser unter Hinweis auf Art. 53 WRV verlangte, dem Reichspräsidenten mehr Einflußmöglichkeiten auf die Regierungsbildung zu geben: "Sie stellt zunächst in recht demokratisch doktrinärer Denkweise einen Grundsatz über das Vorgehen bei der Regierungsbildung auf, der praktisch undurchführbar ist. Sie verlangt nämlich, daß der Reichspräsident zunächst einen Reichskanzler ernennen solle, der dann auf Grund seines Regierungsprogramms seine Mitarbeiter zu gewinnen habe. Dr. Petersen beruft sich dafür auf Art. 53 der Verfassung. Dieser lautet: 'Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und erlassen.' Dieser Artikel besagt aber gar nichts über die Methode der Regierungsbildung, sondern setzt nur fest, daß der Reichspräsident nicht über den Kopf des Reichskanzlers hinweg Minister ernennen oder entlassen darf. Er bezweckt also vor allem die Wahrung der Einheitlichkeit des Ministeriums. Der Zwang, bei der Regierungsbildung so zu verfahren, wie es jetzt geschieht und übrigens unter demokratischer Billigung auch bisher geschehen ist, ergibt sich aus Artikel 54, nach dem der Reichskanzler und die Reichsminister des Vertrauens des Reichstages bedürfen. Danach muß jeder, ehe er das Kanzleramt zu übernehmen bereit ist, zusehen, ob er auf eine Mehrheit im Reichstage rechnen kann. Denn was hätte es für einen Sinn, wenn der Reichspräsident heute einen Reichskanzler ernennen würde, der dann morgen schon zurücktreten müßte, weil er inzwischen zu der Erkenntnis gelangt ist, daß er für sein Programm keine Mehrheit zu finden vermag? Die Forderung des Führers der demokratischen Partei muß also vom Standpunkt des parlamentarischen Staatsrechts aus geradezu als kindisch bezeichnet werden." 14 Bereits 1921 fand die politische Forderung der DDP nach einer Stärkung des Einflusses des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung auch wissenschaft12
L. Wittmayer, Reichsverfassung, S. 317. E. A. Hoffmann, AöR 46 (1924), S. 262. 14 Kreuzzeitung vom 16. Juni 1920, Abendausgabe, zit. nach F. Glum, Stellung, S. 3f,Fn. 1. 13
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D. Die Rolle der Wissenschaft
liehe Unterstützung. Das Ernennungsrecht des Reichspräsidenten sei keine bloß formelle Befugnis. Es widerspreche dem Geist der Verfassung, wenn "Reichskanzler und Reichsminister von der Reichstagsmehrheit oder gar nach einem Schlüssel der numerischen Stärke von den Fraktionen aus ihrer Mitte präsentiert werden." 15 Vielmehr sehe die Reichsverfassung vor, daß der Reichspräsident "mit starker Hand über die Grenzen der Parteien in deren Inneres hineingreift und eine 'Persönlichkeit' zum leitenden Staatsmann herausgreift". 16 Es sei im Sinne der Verfassung, so auch August Finger, daß der vom Vertrauen des ganzen Volkes getragene Reichspräsident einen entscheidenden Einfluß auf die Reichsregierung ausübe, indem er den Reichskanzler ernenne. Dieses formelle Recht der Ernennung sei materiell oder politisch-dynamisch eine Entscheidung des Reichspräsidenten im Sinne bestimmter politischer Ziele. Allein die Regierungsbildung von oben, vom Präsidenten, sei im Sinne der Reichsverfassung. Er habe die Männer der Regierung zu bestimmen, deren Aufgabe es sei, für ihr Programm eine Mehrheit im Parlament zu gewinnen. Gelinge ihnen dies nicht, könne der Reichspräsident neue Männer ernennen oder den Reichstag auflösen und sich vom Volk das Programm seiner Regierung bestätigen lassen.17 A u f diese Weise wurde aus dem von der Verfassung vorgesehenen parlamentarischen Regierungschef der vom Präsidenten ernannte und dessen Vertrauen genießende Reichskanzler als Finder und Schöpfer der der Idee des Richtigen entsprechenden politischen Maßnahmen.18 Finger lieferte auch die Begründung für seine neue Auslegung. Er fand sie nicht im Wortlaut der Verfassung. Die zentrale Vorschrift zur Regierungsbildung, Art. 54 WRV, die zur Parlamentarisierung der Reichsregierung zwang, erwähnte er nicht. Vielmehr benutzte er verfassungspolitischen Vorbehalte gegenüber der von der Weimarer Verfassung eingeführten liberalen Demokratie mit ihrem Parlamentarismus und ihrem Parteiensystem zur Begründung der präsidialen Regierungsweise. Es seien die häßlichen Parteiauswüchse und die widerliche Herabdrückung sachlicher Gegensätze zu Personenfragen, die dem Präsidenten eine schöpferische, führende und nicht eine lediglich ausführende Tätigkeit zuweisen.19 Die Lösung der Personenfrage müsse dem Parlament entzogen und dem zuständigen Organ, dem Reichspräsidenten, überlassen werden, weil Parlamente zur Bestellung geeigneter Persönlichkeiten ganz un-
15 So F. Poetzsch-Heffter bereits in der 2. Auflage seines Handkommentars, Art. 53, Anm. 1. 16 E. Kaufmann, Regierungsbildung, S. 377. 17 A. Finger, Staatsrecht, S. 311. 18 A. Finger, Staatsrecht, S. 313. 19 A. Finger, Staatsrecht, S. 311.
I. Der Kampf um die Auslegung des Art. 54 WRV
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tauglich seien.20 Wer die Politik nicht zielbewußt schöpferisch und gestaltungsgebend vom Präsidenten und dem Reichskanzler ausgehen,21 sondern sie von unten ausfuhren lasse, "sichert den einzelnen Parteien, den von der Volksgunst abhängigen Volksvertretern und der täglich, ja stündlich wechselnden Volksstimmung ... einen verhängnisvollen Einfluß auf die Politik und beraubt sie jeder Stetigkeit. Sie birgt die Gefahr, daß auch die Verwaltung immer mehr in Abhängigkeit von Parteiwünschen und Parteiströmungen gerät, daß die einzelnen Regierungsmaßregeln herabgedrückt werden von einheitlichen Schritten zur Erreichung eines klar ins Auge gefaßten politischen Zieles zu kleinlichen Mittelchen des Buhlens um die Gunst der von ihren Wählern abhängigen Abgeordneten." 22 Begünstigt durch den Wechsel im Amt des Reichspräsidenten von Ebert zu Hindenburg und damit von einem Republikaner und Demokraten zu einem erklärten Monarchisten erhielt diese Auslegung der Verfassung großen Auftrieb. 23 So stimmte Giese, der noch 1920 die Reichsregierung als geschäftsführenden Ausschuß der Volksvertretung betrachtet hatte, den Ausführungen Fingers ausdrücklich zu. 24 Es stehe außer Zweifel, daß der Reichspräsident nicht nur die Initiative zur Regierungsbildung zu ergreifen habe, sondern daß ihm dabei auch die führende Rolle zufalle. Andere Auffassungen seien längst als unrichtig erkannt und werden in der Theorie kaum noch vertreten. 25 Auch Wertheimer sprach dem Reichspräsidenten ein freies Ernennungsrecht zu. Insbesondere müsse er nicht wider bessere Erkenntnis eine der Mehrheit des Reichstages genehme oder gar von dieser Mehrheit präsentierte Persönlichkeit ernennen. 26 Noch weiter ging Heinrich Herrfahrdt, der dem Reichspräsidenten das Recht einräumte, eine Regierung auch gegen den erklärten Willen des Reichstages zu ernennen und im Amt zu belassen.27 Er begründete dies mit dem Vorliegen 20
A. Finger, Staatsrecht, S. 312. A. Finger, Staatsrecht, S. 312. 22 A. Finger, Staatsrecht, S. 313; vgl. auch U. Scheuner, AöR 52 (1927), S. 365, wonach infolge des demokratischen, nichtautoritären Aufbaus der Parteien deren Führer zu weitgehender Rücksichtnahme auf Wünsche von unten her verpflichtet seien, eine Pflicht, die mit einem Ministeramt schlecht vereinbar sei. 23 So der Eindruck von K. Rothenbücher, Zeitschrift für öffentliches Recht 7 (1928), S. 329. 24 Er bezeichnet Fingers Ausführungen als sehr gut, F. Giese, DJZ 1927, Sp. 278, Fn. 4. 25 F. Giese, DJZ 1927, S. 278; vgl. auch ders., Staatsrecht, S. 147. 26 R. Wertheimer, Einfluß, S. 125. 27 H. Herrfahrdt, Kabinettsbildung, S. 56. 21
14 Hoppe
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D. Die Rolle der Wissenschaft
einer echten Lücke in der Verfassung, die er zu Gunsten eines Vorrangs des Reichspräsidenten gegenüber dem Reichstag füllte. 28 Hintergrund für diese Auslegung waren auch bei Herrfahrdt verfassungspolitische Vorstellungen, die sich in Vorbehalten insbesondere gegenüber dem parlamentarischen Prinzip und dem damit verbundenen größeren Einfluß der Parteien äußerten. So sah er Kabinettsbildungen durch Parteiverhandlungen als verfehlt an, weil sie, wie die bisherige Erfahrung gezeigt habe, entweder wichtige Volkskräfte in eine gefährliche Opposition drängen oder Parteien umfassen, deren künstliche Verbindung bei der ersten Belastungsprobe zerbrechen müsse. In diesen Fällen habe nur durch den Reichspräsidenten und die ihn unterstützenden Dauermitglieder der Regierung eine Lösung gefunden werden können.29 Es bestehe deshalb eine Rechtspflicht des Reichspräsidenten, das Kabinett so zusammenzusetzen, wie es nach seiner Überzeugung das Staatswohl fordere. 30 Anders als die Mitglieder des Reichstages, die "durch die charakteristische Schwäche unseres Parteiwesens, das starke Vorherrschen von Interessen der einzelnen Volksgruppen, von denen jede den Einfluß der anderen im Staatsleben ausschalten möchte", 31 nicht in der Lage seien, als Parteimänner Vertreter des ganzen Volkes zu sein, habe der Reichspräsident die Pflicht zur Gerechtigkeit gegen jedermann, und seine Person erscheine auch im Volksbewußtsein als Hort der Gerechtigkeit. 32 Als solcher müsse der Reichspräsident die Männer des Kabinetts so auswählen, daß sie das Vertrauen des gesamten Reichstages genießen und nicht nur der Mehrheit des Reichstages genehm seien. "Der Reichspräsident soll vielmehr bei der Bildung des Kabinetts an den ganzen Reichstag und somit auch an das ganze Volk denken. Er soll sich fragen, wie das Kabinett zu den nicht in ihm vertretenen Teilen des Volkes stehen wird. Erfüllt die Reichstagsmehrheit die Pflicht nicht, Vertreter des ganzen Volkes zu sein, und versucht sie, den Staat den Interessen des einen Volksteils zu unterwerfen, so ist es Pflicht des Reichspräsidenten, entgegen den Wünschen der Reichstagsmehrheit das Kabinett zu einer Vertretung des ganzen Volkes zu machen."33 Herrfardt wollte mit dieser Argumentation nicht nur den Einfluß des Reichstages bei der Kabinettsbildung beseitigen, sondern ihm auch die Möglichkeit eines Sturzes der Regierung durch ein Mißtrauensvotum nehmen. "Es hätte in dieser Lage gar keinen Sinn, wenn der Reichspräsident, nur um pro forma sei-
28 29 30 31 32 33
H. Herrfahrdt, H. Herrfahrdt, H. Herrfahrdt, H. Herrfahrdt, H. Herrfahrdt, H. Herrfahrdt,
Kabinettsbildung, Kabinettsbildung, Kabinettsbildung, Kabinettsbildung, Kabinettsbildung, Kabinettsbildung,
S. 25, 46. S. 49. S. 55. S. 55. S. 55. S. 56.
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ner Pflicht zu genügen, das Kabinett entläßt und ein anderes Kabinett ähnlicher Art ernennt, das alsbald wieder ein Mißtrauensvotum erhält, oder daß er gar das bisherige Kabinett wiederernennt. " 3 4 Vielmehr bleibe "im Interesse der ordnungsgemäßen Weiterführung der Staatsgeschäfte" gar nichts anderes übrig, "als daß der Reichspräsident das Kabinett trotz des Mißtrauensvotums vorläufig im Amt beläßt, bis irgendwie eine Änderung der Verhältnisse eintritt." 35 Eine Auflösung des Reichstages durch den Reichspräsidenten in einer solchen Situation lehnte er ab. "Wenn in den Neuwahlen eine auf einseitige Interessenpolitik ausgehende Reichstagsmehrheit wiederkehrt, so ist das keine Entscheidung 'des Volkes', sondern nur eine Bestätigung der für den Reichspräsidenten an sich belanglosen Tatsache, daß ein Teil des Volkes zahlenmäßig stärker ist als der andere und ändert nichts an der Pflicht des Reichspräsidenten, gegenüber dieser Mehrheit Staat und Gesamtvolk zu vertreten. Der Reichspräsident wird daher, wenn keine wesentliche Änderung in der Zusammensetzung des Reichstages zu erwarten ist, den überflüssigen Aufwand einer Reichstagsauflösung besser vermeiden." 36 Den Einwand, daß einer solchen Auslegung nicht nur die Intentionen der Nationalversammlung, 37 sondern auch der klare Wortlaut des Art. 54 WRV widersprechen, ließ Herrfahrdt nicht gelten. Zum einen seien die in den Verhandlungen der Nationalversammlung sichtbar gewordenen Beweggründe der Verfassungsgeber ungeeignet, bei der Auslegung des organisatorischen Teils der Weimarer Verfassung herangezogen zu werden. In den Verfassungsberatungen habe die staatsfremde Denkweise überwogen, die nicht ausreichend in Rechnimg stelle, daß mit der Verfassung erst Staatsgewalt und Staatsleben geschaffen werden solle.38 Zum anderen werden die Kritiker seiner Auslegung "eben auch nur dem Wortlaut des Art. 54 gerecht. A n innerer Treue gegenüber der Verfassung wird man ihnen wohl kaum den Vorzug geben können vor meiner Antwort, daß das Mißtrauensvotum den von der Verfassung gedachten Sinn nur dann hat, wenn es den Weg zu einer in höherem Grade vom Vertrauen des Volkes getragenen Regierung bildet, und daß es seine zum Rücktritt ver-
34
H. Herrfahrdt, Kabinettsbildung, S. 53. H. Herrfahrdt, Kabinettsbildung, S. 53. 36 H. Herrfahrdt, Kabinettsbildung, S. 53, Fn. 43. 37 E. Wolgast, Parlamentarismus, sah den Grund der Parlamentarisierung zu Recht in der Ablehnung und dem deshalb bewußt herbeigeführten Bruch der Nationalversammlung mit der bisherigen Staatspraxis einer vom Reichstag unabhängigen Reichsregierung; Kritik an Herrfahrdt übten auch F. Glum, AöR 54 (1928), S. 442 ff. und K. Rothenbücher, Zeitschrift für öffentliches Recht, 7 (1928), S. 329. 38 H. Herrfahrdt, ZfP, 18 (1929), 734. 35
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pflichtende Kraft erst dann gewinnt, wenn feststeht, daß eine neue, bessere Kabinettsbildung möglich ist." 39 Die dargestellte Verfassungsentwicklung innerhalb der Verfassungsauslegung läßt sich auch am führenden Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung von Gerhard Anschütz ablesen. Der Reichspräsident sei bei der Regierungsbildung, so Anschütz in der ersten Bearbeitung der einschlägigen Vorschriften aus dem Jahre 1921, in der Auswahl der zu ernennenden Personen zwar formell frei, materiell aber durch Art. 54 WRV, der das parlamentarischen Regierungssystem proklamiere, 40 gebunden.41 Außerdem verfüge der Reichskanzler wegen des ihm zustehenden Vorschlagsrecht über eine überragende Stellung bei der Regierungsbildung. Der Reichskanzler und nicht der Reichspräsident erscheine als der eigentliche Bildner der jeweiligen Reichsregierung, der sich seine Mitarbeiter innerhalb der Schranken des Art. 54 nach Gefallen aussuchen und dem ein Mitarbeiter niemals vom Reichspräsidenten aufgedrängt werden könne. 42 Diese das parlamentarische Prinzip betonenden Formulierungen übernahm Anschütz auch in seine drei weiteren Bearbeitungen aus den Jahren 192543, 192944 und 193345. Bereits in der ersten Bearbeitung des Kommentars ist aber auch eine Auslegung der einschlägigen Vorschriften in Richtung auf ein präsidiales Regierungssystem erkennbar. So sah Anschütz eine staatsrechtliche und dienstrechtliche Überordnung des Reichspräsidenten über die Mitglieder der Reichsregierung. Diese Überordnung komme dadurch zum Ausdruck, daß der Reichspräsident jederzeit den Reichskanzler und auf dessen Vorschlag auch die Reichsminister entlassen könne.46 Diese Tendenz zur Auslegung der einschlägigen Vorschriften der Verfassung hin zu einem präsidialen Regierungssystem verstärkte sich in den folgenden Bearbeitungen, in denen sich Anschütz mit inzwischen erschienenen Literaturmeinungen auseinandersetzte. So widersprach er in der zweiten Bearbeitung mit großem Nachdruck Glum, dem er vorwarf, Tatsächlichkeiten, die auf der gegenwärtigen Struktur des Parteienwesens beruhen, unzulässig in Rechts39 40 41 42 43 44 45 46
H. Herrfahrdt, ZfP, 18 (1929), 735. G. Anschütz, Verfassung, 1. Aufl., Art. 54 Anm. 1. G. Anschütz, Verfassung, 1. Aufl., Art. 53 Anm. 1. G. Anschütz, Verfassung, 1. Aufl., Art. 53 Anm. 1. G. Anschütz, Verfassung, 3. und 4. Auflage, Art. 53 Anm. 1 und Art. 54 Anm. 1. G. Anschütz, Verfassung, 10. Aufl. Art. 53 Anm. 1 und Art. 54 Anm. 1. G. Anschütz, Verfassung, 14. Auflage, Art. 53 Anm. 1 und Art. 54 Anm. 1. G. Anschütz, Verfassung, 1. Aufl. Art. 53 Anm. 3.
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sätze umgedeutet zu haben. Das Ernennungsrecht des Reichspräsidenten sei kein bloß formelles Recht. Vielmehr widerspreche es dem Geist der Verfassung, so Positivist Anschütz die Auffassung Poetzsch-Heffters wörtlich zitierend, wenn Reichskanzler und Reichsminister von der Reichstagsmehrheit oder gar nach dem Schlüssel der numerischen Stärke von den Fraktionen aus ihrer Mitte präsentiert werden. 47 Diese Ausführungen wiederholte Anschütz in der dritten Bearbeitung und kennzeichnete die wörtlich zitierte Auffassung von Poetzsch-Heffter als "jetzt herrschende Meinung". 48 Außerdem fügte er in dieser Bearbeitung an, daß der Reichstag kein Recht habe, bei der Bildung der Regierung mitzuwirken. Ablehnend äußerte sich Anschütz auch zur Auffassung der Deutschnationalen Volkspartei, daß nach dem Rücktritt der Regierung der Führer der Opposition bzw. nach der Neuwahl des Reichstages der Führer der stärksten Fraktion zur Regierungsbildung berufen werden müsse. Diese Auffassung finde, so Anschütz, weder im Wortlaut noch im Sinn der Verfassung eine Stütze. Auch wisse die Staatspraxis von einem solchen Grundsatz nichts.49 Diese Ausführungen übernahm Anschütz auch in die vierte Bearbeitung. Die Auffassung von Poetzsch-Heffter wurde nunmehr als "durchaus herrschende Meinung" gekennzeichnet.50 Insoweit läßt sich feststellen, daß diese vierte Bearbeitung von Anschütz das Ende der Verfassungsentwicklung von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat innerhalb der Verfassungsauslegung markiert. In den folgenden Abschnitten soll untersucht werden, warum es zu dieser Entwicklung in der Auslegung der Verfassungsvorschriften zum Regierungssystem kam. Es wird sich herausstellen, daß diese Entwicklung entscheidend von den verfassungspolitischen Vorstellungen der Ausleger beeinflußt wurde (IV.). Die Wirksamkeit dieser Vorstellungen wurde begünstigt durch einen Methodenwandel in der Staatsrechtslehre, die die normative Kraft der Weimarer Verfassung schwächte (III.). Zunächst soll jedoch kurz der soziale und institutionelle Hintergrund der deutschen Hochschullehrer beleuchtet werden (II.). Hier liegt ein Teil der Erklärung für die Ablehnung der demokratischen Republik mit ihrem parlamentarischen Regierungssystem durch die Hochschullehrer. 47 48 49 50
G. Anschütz, Verfassung, G. Anschütz, Verfassung, G. Anschütz, Verfassung, G. Anschütz, Verfassung,
3. Aufl., Art. 53 Anm. 2. 10. Aufl., Art. 53 Anm. 2. 10. Aufl., Art. 53 Anm. 2. 14. Aufl., Art. 53 Anm. 2.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
II. Der soziale und institutionelle Hintergrund der deutschen Hochschullehrer Zu Beginn der Weimarer Republik wurde die ökomomische und gesellschaftliche Stellung der Bildungselite durch die verheerenden Folgen der Inflation erschüttert. Sie vernichtete insbesondere den mittleren Kapitalbesitz und führte zur Verarmung der Teile der Mittelschicht, die ihre Ersparnisse in Wertpapieren angelegt hatten. Zu ihnen gehörten neben kleinen Unternehmern, Handwerkern und Händlern insbesondere die Rentiers, Beamten, Freiberufler und akademisch Gebildeten.51 Neben die Vernichtung ihres Vermögens trat bei den Professoren zusätzlich eine Verschlechterung ihrer Einkommen. So gingen ganz allgemein die Bezüge aller Staatsbediensteten im Vergleich mit den Löhnen der Industriearbeiter zurück, wobei es dabei innerhalb der Beamtenschaft den höheren Besoldungsgruppen nochmals relativ schlechter erging als den niedrigen. Die Verschlechterung der Einkommenssituation eines höheren Beamten wird deutlich, wenn man sie mit dem Einkommen eines ungelernten Arbeiters vergleicht. War sein Einkommen 1913 noch siebenmal so groß wie das eines ungelernten Arbeiters, so schrumpfte es 1922 auf das doppelte zusammen. Besonders hart traf es aber die Professoren, die noch nicht einmal den Anschluß an die Besoldung jener höheren Beamten halten konnten, die vor dem Krieg die gleichen Bezüge erhalten hatten wie sie.52 Neben die Erschütterung ihrer ökonomischen Stellung trat bei den Professoren die Angst vor einer durchgreifenden Universitätsreform. So wurde in Preußen unter dem sozialdemokratischen Kultusminister Konrad Haenisch und seinem der DDP nahestehenden Staatssekretär Carl Heinrich Becker geplant, den Zugang zu den Universitäten zu erleichtern und sie für neue öffentliche Aufgaben zu öffnen. Zur Überwindung der Isolierung der Volksschulen sollte das Schulsystem vereinheitlicht werden und zu diesem Zweck auch Volksschullehrer die Universitäten besuchen. Professoren sollten ihrerseits an einzurichtenden Volkshochschulen unterrichten. Bei Berufungen wollte sich das Ministerium durch Komitees aus prominenten Vertretern des öffentlichen Lebens beraten lassen. Auch innerhalb der Universitäten sollte es zu entscheidenden Veränderungen kommen. So wurde eine Beteiligung von Studenten, Privatdozenten und außerordentlichen Professoren an der universitären Selbstverwaltung geplant.53
51 52 53
H. Schulze, Weimar, S. 37; H. A. Winkler, Weimar, S. 244. F. K. Ringer, Gelehrten, S. 63. F. K. Ringer, Gelehrten, S. 68 f.
II. Der soziale und institutionelle Hintergrund der Hochschullehrer
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Die Reformer, die darauf gebaut hatten, daß die Professoren den Problemen der Republik und dem Aufbau eines neuen demokratischen Staates ein wohlwollendes Interesse entgegenbringen würden, konnten sich nicht durchsetzen. Die Universitätsreform scheiterte auch an der schroffen Ablehnung der Professoren. Sie sahen in der Reform den Versuch der Ersetzung der Universitäten durch Arbeiterakademien und vermuteten als ihre Triebfeder "die Abneigung und das Mißtrauen des Proletariats und die persönlichen, berechtigten und unberechtigten Klagen akademischer Außenseiter". 54 Die Professoren lehnten deshalb sowohl die geplanten institutionellen Reformen 55 als auch eine Öffnung der Hochschulen ab. Für sie setzte die Reform gewisse Linien fort, "die sich für die geisteswissenschaftlichen Hochschulstudien schon bisher als verhängnisvoll erwiesen haben".56 Mit nicht mehr zu überbietender Arroganz sahen sie "mit schwerer Sorge die immer stärkere Erweiterung des Kreises der zu dem Universitäts- und Hochschulstudium Zugelassenen, deren Vorbildung im allgemeinen und deren sprachliche Ausbildung im besonderen den Anforderungen eines geregelten Studienganges nach dem übereinstimmenden Urteil der berufenen Vertreter der Hochschulen nicht genügt. ... Dieser Rückgang scheint ebensosehr veranlaßt durch die geistige Gesamtanlage unserer Zeit wie durch gewisse pädagogische Zielsetzungen und Methoden." 57 Die Professoren beklagten aber nicht nur die Öffnung der Hochschulen, sondern auch die der höheren Schulen mit der damit verbundenen "ungeheuren Verbreiterung der höher gebildeten Volksschichten". Die Folge sei, daß "heute eine sehr große Zahl von Schülern die höhere Schule besucht, deren Begabung selbst diesen verbreiterten und damit notwendig herabgesetzten Anforderungen nicht gewachsen ist. So gelingt es vielfach nur durch einen künstlichen und mühseligen Prozeß der Höherzüchtung, die Bildungsgüter der höheren Schule einem Publikum zugänglich zu machen, das von Hause aus ohne tiefere geistige Bedürfhisse ist." 58 Sowohl die Erschütterung der ökonomischen Situation der Professoren, die der Republik angelastet wurde, als auch die geplante, als Verschlechterung 54 R. Smend, Hochschule, S. 278; vgl. auch die bei F. K. Ringer, Gelehrten, S. 75 ff., zusammengefaßten arrogant-elitären Äußerungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen zu der geplanten Reform. 55 Vgl. hierzu die Stellungnahmen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 1921, S. 29-11 und S. 144-148, sowie 1922, S. 30. 56 So die Denkschrift der Philosophischen Fakultät Berlin über die Vorbildung der Studierenden, abgedruckt in: Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 1928, S. 44. 57 Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 1927, S. 100. 58 Denkschrift der Philosophischen Fakultät Berlin über die Vorbildung der Studierenden, abgedruckt in: Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 1928, S. 45.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
ihrer institutionellen Stellung empfundene Universitätsreform führte zu einer Distanz der deutschen Professoren gegenüber der demokratischen Republik.
III. Die Methoden- und Richtungsänderung in der Weimarer Staatsrechtslehre Mit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung setzte in der deutschen Staatsrechtslehre ein heftig geführter Methoden- und Richtungsstreit ein, der in einer neuen methodischen Einstellung der Verfassungsausleger mündete.59 Angegriffen wurde die bisher herrschende positivistische Richtung der Staatsrechtslehre, die versuchte, das Recht streng von der Politik und der Soziologie zu trennen. Ihre insbesondere auf Paul Laband zurückgehende Methode erschöpfte sich einerseits in der "Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen" durch "rein logische Denktätigkeit". Sie rühmte sich außerdem, daß für sie "alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen - so wertvoll sie an und für sich auch sein mögen - ohne Belang" seien. Solche Betrachtungen "dienen nur zu häufig dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen". 60 Georg Jellinek befaßte sich in seiner sozialen Staatslehre, der ersten Abteilung seiner allgemeinen Staatslehre, zwar auch mit dem Staat als gesellschaftlichem Gebilde, in der Staatsrechtslehre, der zweiten Abteilung, ging es ihm aber allein um den Staat als rechtliche Institution. 61 Für die Staatsrechtslehre als Normwissenschaft gelte zur Feststellung und der Entwicklung des Inhalts ihrer Rechtssätze allein die juristische Methode. "Ihre Normen sind von den Aussagen über das Sein des Staates als sozialer Erscheinung scharf zu trennen." 62 Hans Kelsen perfektionierte diese Methode in seiner reinen Rechtslehre. "Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts. ... Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik." A u f diese Weise wollte Kelsen die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen wie
59 U. Scheuner, AöR 97 (1972), S. 367 ff.; von einer nicht geringen Breite der Zustimmung für die Abkehr vom Positivismus spricht auch R. Smend, FS Scheuner, S. 576; eine Revolutionierung der Staatsrechtslehre sieht P. Badura, FS U. Scheuner, S. 19. 60 P. Laband, Staatsrecht, S. IX. 61 G. Jellinek, Staatslehre, S. 11. 62 G. Jellinek. Staatslehre, S. 50.
III. Die Methoden- und Richtungsänderung in der Staatsrechtslehre
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Psychologie, Biologie, Ethik und Theologie befreien, mit der sich die Jurisprudenz in völlig kritikloser Weise vermengt habe.63 Den Staat begriff Kelsen als eine normative Ordnung, als ein System von Normen, der genau wie das Recht als ein Sollen dem Sein entgegengesetzt sei.64 Der staatsrechtliche Positivismus blieb im Kaiserreich nahezu unangefochten. 65 Laband als "geradezu offiziöse Figur, ein Denkmal staatsrechtlicher Selbstgewißheit",66 übte jahrzehntelang die geistige Vorherrschaft in seinem Fach aus67 und beherrschte mehr als eine Generation deutscher Publizisten vollständig. 68 Dies war auch deshalb möglich, weil die Bismarcksche Reichsverfassung weitgehend den verfassungspolitischen Vorstellungen ihrer Ausleger entsprach. Laband als überzeugter Anhänger der konstitutionellen Monarchie zögerte nicht, ihren Fortbestand durch rechtsdogmatische Wahrheiten abzusichern und führte seine Argumentationen so, daß Kollisionen mit dem politisch gewünschten vermieden wurden. 69 "Den anderen Organen des Reiches gegenüber ist die Funktion des Kaisers dadurch gekennzeichnet, daß er allein für das Reich handeln kann. Bundesrat und Reichstag können nur Beschlüsse fassen, niemals sie zur Ausführung bringen oder Handlungen vornehmen. ... Sie sind vollkommen handlungsunfähig; sie können Handlungen des Reiches bestimmen, veranlassen, verhindern, aber niemals sie vornehmen. Die Staatsgewalt des Reiches, das Imperium, kommt ... nur durch den Kaiser und die ihm untergeordneten Reichsbehörden zur Verwirklichung." 70 Mit Hilfe des staatsrechtlichen Positivismus, also nach einer streng juristischen Methode, konnte Laband Reichstag und Volk auch jene Stellung im Verfassungsgefüge zuweisen, die ihnen nach seinem konservativen Staatsverständnis zukam. "Nur bei der Bildimg des Reichstages hat das Volk, d. h. die Gesamtsumme aller einzelnen wahlberechtigten Reichsangehörigen, eine rechtliche Mitwirkung am staatlichen Leben des Reiches; es ist bei jeder Wahl nur ein einmaliger Akt, 63
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 1. H. Kelsen, Staatsbegriff, S. 75. 65 Zu den Opponenten Labands vgl. M. Stolleis, Geschichte, Bd. 2, S. 348 ff.; Stolleis wendet sich gegen die Vorstellung, Labands Positivismus habe alle anderen Äußerungen erstickt. Er räumt aber ein, daß Laband die große und auch praktisch einflußreiche Hauptlinie des Reichsstaatsrechts repräsentiert; zur Kritik am staatsrechtlichen Positivismus im Kaiserreich W. Pauly, Methodenwandel, S. 228 ff.; zur sozialen Funktion des staatsrechtlichen Positivismus vgl. P. v. Oertzen, Funktion. 66 M. Stolleis, Geschichte, Bd. 2, S. 343. 67 M. Friedrich, AöR 111 (1986), S. 199. 68 H. Triepel, Staatsrecht, S. 9. 69 M. Stolleis, Geschichte, Bd. 2, S. 347; dies betonen auch P. von Oertzen, Funktion, S. 321 f. und K Sontheimer, ARSPh 46 (1960), S. 41. 70 P. Laband, Staatsrechts, Bd. 1, S. 229 f.; s. auch S. 255 zum Bundesrat und S. 298 f. zum Reichstag. 64
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D. Die Rolle der Wissenschaft
durch welchen der Reichsangehörige sein politisches Recht betätigt. Als unjuristisch muß dagegen die Auffassung bezeichnet werden, daß das Volk durch den Reichstag als seine Vertretung fortlaufend einen Anteil an den Staatsgeschäften des Reiches ausübt. Sowie die Wahl erfolgt ist, hört jeder Anteil, jede Mitwirkung, jeder rechtlich relevante Einfluß des 'gesamten Volkes', d. h. aller Reichsangehörigen, auf die Willensentschlüsse des Reichs auf. ... Oder mit anderen Worten: eine Volksvertretung ist der Reichstag nicht mit Rücksicht auf seine Rechte und Pflichten, sondern nur mit Rücksicht auf seine Bildung und Zusammensetzung. Der Reichstag leitet seine Zusammensetzung nicht aus dem Willen der Wähler, sondern unmittelbar aus der Verfassung und den Gesetzen des Reiches ab; sie stehen ihm im vollen Umfang zu, auch wenn er sich im offenen Widerspruch mit der im Volk herrschenden Stimmung befindet; der Reichstag ist nicht ein Repräsentant oder Delegator irgendwelcher Wählerschaften, Parteien oder Bevölkerungsgruppen und seine Befugnisse sind vollkommen unabhängig von dem Willen der Wahlberechtigten." 71 Die Einführung der parlamentarischen Demokratie durch die Weimarer Reichsverfassung sowie die Verankerung von liberalen und sozialen Grundrechten in der neuen Verfassung beendete die Phase der Übereinstimmung des positiven Verfassungsrechts mit den verfassungspolitischen Vorstellungen der überwiegenden Zahl der Staatsrechtslehrer. Dadurch verstärkte sich die bereits am Ende des Kaiserreichs sich andeutende Erosion der wissenschaftlichen Fundamente des staatsrechtlichen Positivismus.72 Ein großer Teil der Staatsrechtslehre entschied sich für eine Abkehr vom staatsrechtlichen Positivismus, der die Verfassungsausleger gezwungen hätte, die eigenen verfassungspolitischen Vorstellungen dem liberalen und demokratisch-parlamentarischen Charakter der neuen Verfassung unterzuordnen. Mit großer Schärfe wurde nun der staatsrechtliche Positivismus und seine Vertreter kritisiert. So warf Erich Kaufmann 73 in seiner "Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie" aus dem Jahre 1921 Kelsen vor, sein reiner Rationalismus führe zu inhaltsleeren Allgemeinbegriffen. Kelsen könne zu gar keinen Ergebnissen kommen und wenn er solche liefere, seien diese nur erschlichen. 74 Darüber hinaus sei Kelsens Reine Rechtslehre trivial und tautologisch.75 "Wenn man die Wirklichkeit unter einem 71
P. Laband, Staatsrechts, Bd. 1, S. 297 f. Zu dieser Erosion vgl. W. Pauly, Methodenwandel, S. 240 ff.; von einer Erschütterung des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich spricht S. Korioth, AöR 117(1992), S. 212. 73 Kaufmann gehörte zu jenen, die bereits im Kaiserreich dem staatsrechtlichen Positivismus kritisch gegenüberstanden, W. Pauly, Methodenwandel, S. 243; vgl. auch S. Korioth, AöR 117 (1992), S. 214 f. und S. 225 ff. 74 E. Kaufmann, Kritik, S. 21. 75 E. Kaufmann, Kritik, S. 22. 72
III. Die Methoden- und Richtungsänderung in der Staatsrechtslehre
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bestimmten abstrakten Gesichtspunkt betrachtet und von allem anderen als 'unwesentlich' absieht, dann springt eben immer wieder nur dieser abstrakte Gesichtspunkt heraus. Das ist ja so selbstverständlich, daß man die dicken Bücher von Kelsen, die an zahllosen Beispielen immer wieder dasselbe vermeintliche Kunststück vormachen, eigentlich gar nicht zu lesen braucht." 76 A m Ende seines Buches rief Kaufmann dazu auf, den Rationalismus aus dem Dasein des deutschen Geistes auszustoßen und seiner Seele wieder einen Ankergrund im Ewigen finden zu lassen, damit der Glaube an die unerschöpfliche metaphysische und mystische Tiefe des deutschen Geistes erhalten bleibe. 77 Bereits fünf Jahre später, auf der Staatsrechtslehrertagung 1926, konnte Kaufmann den Positivismus in der Rechtswissenschaft für erledigt erklären. Er selbst führte dies auf die Erlebnisse zurück, "die unser Volk, und wir mit ihm, im Kriege, im Zusammenbruche, in der Revolution und unter dem Versailler Vertrag inner- und außerpolitisch" erfahren habe. "Diese Erlebnisse haben uns den Zwang auferlegt, unsere Gedanken über Recht und Staat einer neuen Prüfung zu unterwerfen." 78 Ergebnis seiner Prüfung war, daß der neu entstandene Staat, demokratisiert und parlamentarisiert, kein Recht mehr schaffe, sondern nur noch Gesetze. Beide, Staat und Gesetz, stehen aber unter dem Recht. 79 Kaufmann verpflichtete jeden, der mit dem Recht zu tun habe, eine bestimmte materielle Ordnung zu schaffen, die inhaltlich gerecht sei. Er räumte zwar ein, daß sich Gerechtigkeit nicht definieren lasse. Fest stehe aber, "daß es etwas über den Menschen gibt, dem sie unterworfen sind, dem sie sich unterworfen fühlen, und von dem sie wissen, daß es wirklich existiert. Und zwar nicht nur als etwas Formales. Es handelt sich bei dem Begriff der Gerechtigkeit nicht bloß um eine Methode für Diskussionen, nicht bloß um Diskussionsregeln, wie vielfach behauptet wird, sondern um eine materielle Ordnung, die zu verwirklichen unsere Aufgabe ist." 80 Der Positivismus war aber noch nicht soweit erledigt, daß es auf der Staatsrechtslehrertagung keinen Widerspruch zu Kaufmanns Thesen gab. So bezog bereits der Mitberichterstatter der Tagung, Hans Nawiasky, eine deutliche Gegenposition. "Kaufmann ist Idealist, d. h. Naturrechtler, ich bin Skeptiker, d. h. Positivist, vielleicht ein noch nicht ganz erledigter. Für Kaufmann bilden Recht und Ethik in gewissem Sinne eine Einheit, für mich sind sie eine Zwei76 77 78 79 80
E. Kaufmann, Kritik, S. 21. E. Kaufmann, Kritik, S. 101. E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), S. 3. E. Kaufmann, WDStRL 3 (1927), S. 20. E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), S. 11.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
heit. Für ihn ist das Recht das Prius, an dem das Gesetz gewisse größere oder kleinere, mehr kleinere Veränderungen vornimmt; für mich ist das Gesetz das Prius, aus dem das Recht abgelesen wird." 81 Auch Gerhard Anschütz kritisierte in der Aussprache die Thesen Kaufmanns. Er sei überrascht, mit welcher Intensität und Bekenntniskraft Kaufmann die Idee des Naturrechts vorgetragen habe, die er als überwunden angesehen habe. Gegen das Naturrecht, das wieder in Mode gekommen sei, legte Anschütz ein eigenes Bekenntnis ab. "Ich sehe im Recht den Ausdruck einer menschlichen Macht, die sich auf den Gemeinwillen stützt, ob es sich nun um geschriebenes Recht oder um Gewohnheitsnormen handelt. Es versteht sich von selbst, daß auch das Gewohnheitsrecht positives Recht ist." 82 Auch Hans Kelsen wehrte sich gegen das Urteil Kaufmanns, daß der Positivismus erledigt sei. "Der Positivismus ist nicht erledigt und wird nie erledigt sein, so wenig wie das Naturrecht erledigt ist, dieses erledigt sein wird." 83 Kelsen arbeitete in seinem Diskussionsbeitrag außerdem die politische Ursache der neuesten Wendung zum Naturrecht in der Rechtswissenschaft heraus. Er vermutete einen Zusammenhang zwischen der Abkehr gewisser juristischer Kreise von dem bisher bedingungslos anerkannten Positivismus und der Änderung in der politischen Struktur des Gesetzgebungsorgans. Hinter dem Streit um das Naturrecht stehen, so Kelsen, politische Machtfragen. "Die Frage, die auf das Naturrecht zielt, ist die ewige Frage, was hinter dem positiven Recht steckt. Und wer die Antwort sucht, der findet, fürchte ich, nicht die absolute Wahrheit einer Methaphysik noch die absolute Gerechtigkeit eines Naturrechts. Wer den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen."84 Kelsen wurde unterstützt von Richard Thoma, der eine "gewisse milieugebundene Einheitlichkeit der Rechtsanschauungen" der akademisch gebildeten Juristen für den Wunsch "in unseren Kreisen" veranwortlich machte, die Stellung der Richter gegenüber dem Parlament zu stärken. Bei der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit der Wertmaßstäbe müsse aber das Parlament und nicht der Richter die letzte Entscheidung haben.85 Trotz dieser heftigen Gegenwehr fanden die Kritiker des staatsrechtlichen Positivismus einflußreiche Mitstreiter. So ergriff Günther Holstein in seinem Bericht über die Staatsrechtslehrertagung eindeutig Partei für die Position Kaufmanns. In dieser keineswegs einen normalen Tagungsbericht darstellenden 81 82 83 84 85
H. Nawiasky, VVDStRL 3 (1927), S. 25. G. Anschütz, VVDStRL 3 (1927), S. 47. H. Kelsen, VVDStRL 3 (1927), S. 53. H. Kelsen, VVDStRL 3 (1927), S. 54 f. R. Thoma, VVDStRL 3 (1927), S. 59.
III. Die Methoden- und Richtungsänderung in der Staatsrechtslehre
221
Abhandlung, einem Manifest der neuen Bestrebungen, 86 rief er die Rechtswissenschaft auf, sich nicht der Mitarbeit an den zentralsten Problemen einer ganzen Generation dadurch zu entziehen, daß sie sich auf den Standpunkt von vorgestern zurückziehe. Die Weltanschauungsfragen der Zeit können nicht, so Holstein, mit einem "Offenbarungseid der eigenen metaphysischen Impotenz" beantwortet werden. 87 A u f diese Weise würde die Jurisprudenz sich selbst aus der Reihe der Geisteswissenschaften ausstreichen und zur bloßen Technik deformieren. 88 Unter Hinweis auf die Kritik Gierkes an Laband warf er den Positivisten vor, das Recht nur als Mittel der Sicherung gesellschaftlicher und individueller Interessen anzusehen. Der Jurist aber dürfe nicht zum bloßen Rechtstechniker werden, der jederzeit jedes beweisen könne, sondern müsse sich das unmittelbare Gefühl für Reinheit und inneren Anstand bewahren. Deshalb dürfe er nicht der Gerechtigkeitsfrage aus dem Weg gehen, mit der Folge, "dem entschlossenen Unrechtswillen das Feld" zu räumen. 89 Die damit verbundene Gefahr, daß die "schöpferischen Entscheidungen" des Juristen "nur den zufälligen Anschauungskomplex des Kreises widerspiegeln, in dem er selber soziologisch wurzelt", sah Holstein als gering an. Zum einen komme es nicht auf die "unendliche Vielzahl literatenhaft konstruierter Weltanschauungen", sondern auf die wirklich anerkannten und gelebten Wertsysteme an, deren Zahl gering sei.90 Zum anderen wirken sich bei einem Juristen auf Grund seiner wissenschaftlichen Erziehung zur intellektuellen und willensmäßigen Selbstdisziplin, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen sei, parteipolitische Gedanken, Stimmungen und Erwägungen nicht abträglich aus.91 Insbesondere für die Staatslehre bestritt Holstein den Einfluß politischer Grundüberzeugung auf die wissenschaftliche Arbeit. In der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, umschlossen von einer letzten Einheit persönlicher Willensverbundenheit, 92 trete traditionell alles parteimäßig Politische von je völlig zurück. 93 Holstein konnte deshalb seine Kollegen guten Gewissens auffordern, den Staat nicht in formalen Begriffsbeziehungen zerfließen zu lassen, sondern "ihn in seiner eigentlichen, zielhaft geschlossenen Wesenstotalität von innen heraus" zu erfassen. 94 Der Rechtspositivismus müsse sich zum Rechtsidealismus entwickeln, die "begriffliche Formalistik zur geisteswissenschaftlichen Methode, die die ideen86 87 88 89 90 91 92 93 94
M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 190. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 27. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 28. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 34. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 35. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 39. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 38. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 37. G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 40.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
geschichtlichen Zusammenhänge unserer Rechtskultur bewußt als Erkenntnisquelle für die Erfassung des positiven Rechts und die Herausarbeitung seiner tragenden Rechtsgedanken fruchtbar zu machen versucht." 95 Als weiterer einflußreicher Kritiker des staatsrechtlichen Positivismus trat Rudolf Smend96 auf. So nannte er Labands Lehre verhängnisvoll. 97 Für ihn sei das Staatsrecht nicht ein Versuch gerechter politischer Ordnung, und die Staatsrechtslehre habe nicht die Aufgabe, darzutun, ob und wieweit dieser Versuch gelungen sei. Vielmehr entstehe durch Labands Formalismus "jenes seltsame Bild eines sinnentleerten Systems von Kompetenz- oder Machtparzellen, das zum Leben an sich keine Beziehung hat, wohl aber durch Nichterfüllung der dieser Wissenschaft obliegenden Aufgaben lebensschädigend wirken muß." 98 Er forderte statt dessen die methodische Erarbeitung materialer Gehalte für den juristischen Formalismus, die die Voraussetzung und Gegenstand seiner Normen seien. Insbesondere bedürfe die Staatsrechtslehre einer materialen Staatstheorie.99 Zentral für Smends Lehre ist der Begriff der Integration. "Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert, in und aus den Einzelnen aufbaut dieser dauernde Vorgang ist sein Wesen als geistig-soziale Wirklichkeit." 100 Dabei unterscheidet Smend drei Integrationstypen, die persönliche, die funktionelle und die sachliche Integration. Unter persönlicher Integration versteht er die Tatsache, daß politische Gruppen durch Führer wie etwa Monarchen, Minister, Parteifunktionäre oder Beamte zu einer staatlich-politischen Einheit integriert werden. 101 Als Beispiel einer funktionellen Integration nennt Smend die parlamentarische Willensbildung. Dabei hat er jedoch nicht eine parlamentarische Demokratie des 20. Jahrhunderts vor Augen, in der die im Parlament 95
G. Holstein, AöR 50 (1926), S. 31. Nach W. Pauly, Methodenwandel, S. 241 f. wollte Smend im Kaiserreich noch keinen verfassungstheoretischen Neuanfang wagen, an den sich eine dogmatische Neuorientierung anschließen sollte; s. aber auch S. Korioth, AöR 117 (1992), S. 214 f. wonach Smend neben Erich Kaufmann und Carl Schmitt bereits im Kaiserreich die Fundamente des juristischen Positivismus unterspült habe; Korioth schränkt dies wenig später, S. 224, wieder ein, indem er feststellt, daß es "Smend 1916 noch nicht in vollem Umfang bewußt geworden war, daß es bei seinem Neuansatz um fundamentale Fragen der Verfassungstheorie ging"; vgl. auch seine Aussage auf S. 228, wonach im Kaiserreich Kaufmann noch klarer als Smend die Bahnen des juristischen Positivismus verlassen habe. 97 R. Smend, Einfluß, S. 334. 98 R Smend, Einfluß, S. 335. 99 R. Smend, Verfassung, S. 124. 100 R. Smend, Verfassung, S. 138. 101 R. Smend, Verfassung, S. 142 ff. 96
III. Die Methoden- und Richtungsänderung in der Staatsrechtslehre
223
wirksam werdenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen in einem diskursiven Verfahren zu einem Ausgleich gebracht werden. Vielmehr könne das Parlament eine integrierende Kraft nur entfalten, wenn die in ihm vertretenen Gruppen durch die Einheit einer Wertgemeinschaft miteinander verbunden sind. Die integrierende Wirkung des Parlaments "wird bedingt durch eine vom politischen Kampf nicht in Frage gestellte Wertgemeinschaft, vorbehaltlich deren dieser Kampf gefuhrt wird, die diesem Kampf selbst Regeln und den Sinn gibt, eine Funktion integrierenden Gruppenlebens zu sein. Gruppenteile, die nicht genügend durch solche Wertgemeinschaft mit dem ganzen verbunden sind, werden sich leicht den Spielregeln des Kampfs und damit seiner integrierenden Wirkung entziehen."102 Die sachliche Integration schließlich führt zur Legitimation staatlicher Herrschaft. Der Staat erfahre seine Rechtfertigung dadurch, daß er die spezifischen Rechts- und Kulturwerte, die einem Staatsvolk eigen seien, verwirkliche. "Nur vermöge dieser Wertfülle herrscht der Staat, d. h. ist er ein dauernder einheitlicher motivierender Erlebniszusammenhang für die ihm Angehörenden - ein einheitliches Erlebnis ist er aber nur als eine Werttotalität. Vermöge des Erlebnisses dieser Wertfülle oder einzelner Momente daraus als Wesensmomente des Staats selbst erlebt man den Staat, wird man staatlich integriert ..." 103 Wesentlich für Smends Lehre ist auch sein Verfassungsbegriff. Die Verfassung eines Staates seien nicht allein die normativen Regelungen des Verfassungstextes. "Der Staat lebt natürlich nicht nur von den in seiner Verfassung geregelten Lebensmomenten: die Verfassimg selbst muß zu ihrer Ergänzung, um überhaupt in politisches Leben umgesetzt zu werden, auf die Triebgrundlage dieses Lebens und die ganze sonstige Fülle sozialer Motivierungen rechnen. Aber auch die von ihr selbst geregelten Lebensfunktionen des Staates kann sie nicht vollständig erfassen: auch diese kommen, wie alles politische Leben, aus der Totalität der Einzelpersönlichkeit und wirken in jedem Augenblick zu der überpersönlichen Totalität des Staates zusammen." Schematische Verfassungsartikel können, so Smend, eine solche Lebensfülle nicht erfassen und normieren, sondern nur andeuten und zur Integration anregen. 104 Sinngehalt und Geistesgesetzlichkeit der Verfassung gehen aber über den Verfassungstext hinaus und lassen stets eine neue souveräne Dezision zur Ordnung des Staatsganzen möglich werden. 105
102 103 104 105
R. Smend, Verfassung, R. Smend, Verfassung, R. Smend, Verfassung, R. Smend, Verfassung,
S. 155. S. 162. S. 189 f. S. 195 f.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
Als Gegenentwurf 06 zu Smends Integrationslehre läßt sich Hellers Konzeption des Staates als einer organisierten Entscheidungs- und Wirkungseinheit 107 verstehen. Er wirft Smend vor, mit seiner spezifisch geisteswissenschaftlichen Methode die wirkliche Einheit des Staates nicht glaubhaft zu machen.108 Gleichwohl ist auch Heller ein Gegner des staatsrechtlichen Positivismus. Dieser begnüge sich mit einer theoretischen Scheinobjektivität und verfalle unweigerlich in den radikalsten Subjektivismus, weil er weder die soziologischen und gesellschaftsorganisatorischen Notwendigkeiten noch die "Natur der Sache" und eine metaphysische Gerechtigkeitsidee berücksichtigen wolle. 109 Heller bestreitet, daß die normative Rechtswissenschaft die Basis der Staatslehre bilden könne. Vielmehr schaffe die Staatslehre auf weiten Gebieten erst die Voraussetzungen der normativen Rechtswissenschaft. Die Staatslehre "soll erst verständlich machen, warum die juristische Methode Imperative einer Gemeinschaftsautorität so behandelt, als ob sie absolut werthafte Normen wären. Die Problematik von Staat und Recht, Macht und Ordnung zwingt der Staatslehre das bedeutsame Problem auf: welche hinzunehmenden soziologischen und teleologischen Gehalte erzeugen erst die juristische Methode und was ist als Ergebnis der juristischen Methode in Relationsbegriffe auflösbar? Schon diese Fragestellung muß deutlich machen, daß der Staat die spezifisch juristische Methode transzendiert." 110 Folge dieser neuen Lehre war eine Zurückdrängung der normativen Gehalte der Weimarer Verfassung. 111 Es wurde nun möglich, die einzelnen Verfassungsbestimmungen "aus dem Ganzen" der Verfassung und im Einklang mit dem "Geist der Konstitution" heraus auszulegen,112 wobei unter der Verfassung nicht die geschriebene Verfassungsurkunde verstanden wurde, sondern alle das Wirken und Zusammenwirken der tatsächlich vorhandenen soziologisch-politischen Mächte normierenden, auch ungeschriebenen Rechtssätze.113 A u f diese Weise konnte ein geschriebener Verfassungssatz, der die Verfassungswirklichkeit verfehlte, "beschriebenes Papier" bleiben. 114 Die einzelnen Verfassungsorgane und ihre Kompetenzen betrachtete die neue Lehre "funktionell-physio106
W. Schluchter, Entscheidung, S. 90. H. Heller, Staatslehre, S. 259. 108 H. Heller, Staatslehre, S. 259 f. 109 H. Heller, WDStRL 3 (1927), S. 57. 110 H. Heller, Krisis, S.25. 111 K. Sontheimer, Denken, S. 88. 112 E. Kaufmann, Auswärtige Gewalt, S. 43,50 f., 71. 113 E. Kaufmann, Auswärtige Gewalt, S. 92. 114 So K. Rennert, Richtung, S. 284, eine der Auswirkungen der Kaufmannschen Lehre kennzeichnend. 107
III. Die Methoden- und Richtungsänderung in der Staatsrechtslehre
225
logisch". 115 A u f diese Weise versuchte man die Stellung des Verfassungsorgans "im Ganzen der Verfassung, seine Gleichgewichts- und Gegengewichts-, seine Attraktions- und Repulsions-Funktion im Verhältnis zu den anderen Organen und zu den lebendigen Mächten des gesamten Staatslebens" klarzustellen. 116 Diese Folgerungen aus der neuen Lehre zeigen, daß die Verfassung deutlich an Wirkungskraft verlor. 117 Der Inhalt einzelner Verfassungsnormen konnte sich sogar soweit verändern, daß er mit dem Text der Norm unvereinbar wurde. 118 Es wurde verzichtet auf die Bindung an den Text der Verfassung und damit auf die rationalisierende, stabilisierende und machtbegrenzende Funktion der Verfassung. Statt dessen wurde die Auffassung derjenigen für maßgeblich erklärt, die die Macht haben sich durchzusetzen. 119 Im Unterschied zum staatsrechtlichen Positivismus wurde außerdem das Parlamentsgesetz nicht mehr als Mittel zur Durchsetzung des Willens des Gesetzgebers gesehen. Eine parlamentarische Demokratie wie die Weimarer Republik verlor dadurch die Möglichkeit, über die unbedingte Maßgeblichkeit des Gesetzes die Demokratie abzusichern. 120 Es verwundert deshalb nicht, daß bereits Zeitgenossen Vertretern der neuen Lehre, die nunmehr das "Verfassungsrecht als politisches Recht" 121 betrachteten und die offen zugaben, die neue Verfassung vom Standpunkt des auf "völkischem Boden stehenden Monarchisten" aus zu beurteilen, 122 reaktionäre Revisionsversuche der Weimarer Verfassung vorwarfen. 123 Dieser Vorwurf lag auch deshalb nahe, weil es mit Ausnahme Hellers vor allem Antidemokraten
115
67.
E. Kaufmann, Bismarcks Erbe, S. 153; ähnlich R. Smend, Verschiebung, S. 60 f.,
116
E. Kaufmann, Bismarcks Erbe, S. 153. Nach D. Grimm, AöR 97 (1972), S. 494, brachte insbesondere Smends Übersteigerung des Prozeßhaften die Verfassung um ihre relative Statik und damit um ihre Normqualität; V. Hartmann, JöR N. F. 29 (1980), S. 56, spricht davon, daß die Integrationslehre Smends zum "Weichmacher objektiver Kodifikation" werde. 118 So K. Hesse, Festschrift U. Scheuner, S. 133, die Lehre Smends kritisierend; ähnlich P. Badura, Methoden, S. 189 f. 119 K. Hesse, Festschrift U. Scheuner, S. 134. 120 Auch wegen dieser Wirkungen wird das antipositivistische Naturrecht der politischen Reaktion zugerechnet, W. Rosenbaum, Naturrecht, S. 143 ff; G. Ellscheid, Naturrechtsproblem, S. 150; zur Fragwürdigkeit solcher Aussagen vgl. aber die einführenden Bemerkungen zu Beginn dieses Abschnitts. 121 So der Titel eines Aufsatzes von C. Bilfinger, ZfP 18 (1929), S. 281. 122 A. Frhrn. v. Freytagh-Loringhoven, Weimarer Verfassung, S. V. 123 O. Mainzer, Gleichheit, S. 119, sieht "den gegenrevolutionären Versuch, einer in die Demokratie hineinragenden Gruppe monarchischer Herkunft Anteil an der Souveränität zu erstreiten". 117
15 Hoppe
226
D. Die Rolle der Wissenschaft
waren, die sich dem Anti-Positivismus verschrieben. 124 Auch Sontheimer sieht in der neuen Position den erfolgreichen Versuch, die Verfassung konservativen weltanschaulichen Prämissen gefugig zu machen.125 In der Politisierung des Verfassungsrechts 126 werde der Wunsch nach größerer Dehnbarkeit und Verfügbarmachung der liberalen und parlamentarisch-demokratischen Weimarer Verfassung gegenüber den Wünschen und Interessen der politischen Rechten erkennbar. 127 Mit großer Heftigkeit 128 wurden derartige Deutungsversuche als Verdrehung, rabulistische Textinterpretation und völlige Verzerrung 129 zurückgewiesen. Der neuen Lehre sei es allein darum gegangen, bei der Interpretation des Verfassungsrechts die besonderen Aufgaben, Ansprüche, Regelungsinteressen und Wirkungsbedingungen einer Verfassung zu berücksichtigen. 130 Smend nahm für sich in Anspruch, mit der Integrationslehre den Versuch unternommen zu haben, "alle heteronomen Reste monarchischer Ordnung aus dem nunmehr geforderten Verfassungsdenken auszuschließen."131 Eingeräumt wird jedoch nicht nur, daß die neue Lehre als objektive Wirkung eine Herabsetzung der normativen Kraft der Weimarer Verfassung bewirkte. 132 Festgestellt wird auch, daß die Ursache der Methodendiskussion im Wechsel der Staatsform und der Einführung einer parlamentarischen Demokratie zu suchen ist 133 und daß diese Diskussion erst unter der neuen Verfassung und nach einer Periode in der Staatsrechtslehre ausbrach, die von Stetigkeit und vom Fehlen einer programmatischen Opposition gekennzeichnet war. 134 Zugestanden wird auch, daß die Vertreter der neuen Lehre mit Ausnahme Hellers als politisch rechtsstehend zu 124
So der Eindruck von I. Staff, Lehren, S. 348. K. Sontheimer, Denken, S. 88 f. 126 Diese Formulierung findet sich durchgängig bei W. Bauer, Wertrelativismus; von einer weiten Öffnung des Staatsrechts für die Politik und der Begründung eines politischen Staatsrechts spricht auch W. Henke, Staat 19 (1980), S. 182; ähnlich P. Badura, Methoden, S. 199, der eine Politisierung und Ideologisierung der Staatslehre erkennt. 127 W. Hill, Gleichheit, S. 118 ff.; W. Bauer, Wertrelativismus, S. 289, 323; I. Maus, Rechtstheorie, S. 17, 40; J. Meinck, Weimarer Staatslehre, S. 12. 128 G. Leibholz, AöR 18 (1930), S. 256 spricht in einer Rezension der Dissertation Mainzers von einem "schwülstigen, journalistisch-literatenhaften Pathos und der trotz Betonung des eigenen Sprachgefühls und Sprachsinns zweifelhaften sprachschöpferischen Begabung" des Autors. Er sah sich durch den "weitgehend pamphletartigen und insoweit nicht wissenschaftlichen Charakter" der Schrift (S. 260) politisch denunziert (S. 257). 129 M. Friedrich, PVS 13 (1972), S. 591 ff. 130 M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 172. 131 R. Smend, FS Scheuner, S. 585. 132 M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 170; M.-E. Geis, JuS 1989, S. 95. 133 M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 167; M.-E. Geis, JuS 1989, S. 95. 134 M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 168. 125
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
227
bezeichnen sind, jedenfalls dann, wenn man auch die DVP als rechtsstehend kennzeichnet135 - angesichts der Haltung der Partei bei der Abstimmung über die Weimarer Verfassung, während des Kapp-Putsches und bei der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten eine naheliegende Charakterisierung der Volkspartei. Unabhängig von den politischen Intentionen 136 der Vertreter der neuen Lehre kann als Ergebnis dieses Abschnitts festgehalten werden, daß die Abkehr vom staatsrechtlichen Positivismus eine Schwächung der normativen Kraft der Weimarer Verfassung bewirkte. Dadurch nahm gleichzeitig der Einfluß des verfassungspolitischen Vorverständnisses der Verfassungsinterpreten auf das Ergebnis der Auslegung zu. Im folgenden sollen deshalb die verfassungspolitischen Vorstellungen der Weimarer Wissenschaft vorgestellt werden, die entscheidend zur Entwicklung der Auslegung der einschlägigen Verfassungsnormen von einem parlamentarischen System zu einem an der konstitutionellen Regierungsweise des Kaiserreichs orientierten Präsidialsystem beigetragen haben.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Weimarer Wissenschaft Zur Verdeutlichung, wie sehr die Kritik am westlich-demokratischen Parlamentarismus der Weimarer Verfassung im Denken des dualistischen Modells des deutschen Konstitutionalismus verhaftet war, soll zunächst dieses Denken vorgestellt werden. Es ist besonders deutlich ablesbar in jenen "Ideen von 1914", die in zahlreichen Veröffentlichungen deutscher Professoren beschworen wurden (1.). Anschließend soll gezeigt werden, daß sich das Meinungsklima an den Hochschulen durch die Revolution und die Entstehung einer demokratisch-parlamentarischen Republik nicht veränderte (2.). Danach kommt mit Carl Schmitt ein typischer Vertreter der konservativen deutschen Intellek-
135
M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 174, Fn. 31; von einer antiliberalistischen Staatsauffassung allerdings ohne antiweimarische Gesinnung spricht auch M.-E. Geis, JuS 1989, S. 96. 136 Auch wenn sie nachweisbar sind, sollten die politischen Intentionen der Vertreter der neuen Lehre im Hinblick auf die erfolgte Methodenänderung nicht überbewertet werden, vgl. hierzu W. Pauly, Methodenwandel, S. 240 ff, der eine sich andeutende Erosion der wissenschaftlichen Fundamente des staatsrechtlichen Positivismus bereits in der Phase des Spätkonstitutionalismus erkennt; s. auch S. Korioth, AöR 117 (1992), S. 212 ff, der sogar von einer Erschütterung des staatsrechtlichen Positivismus bereits im ausgehenden Kaiserreich spricht. 1*
228
D. Die Rolle der Wissenschaft
tuellen zu Wort, der mit seiner Parlamentarismuskritik einen Grundkonsens des größten Teils der Weimarer Wissenschaft traf (3.). In den beiden letzten Abschnitten (4. und 5.) werden weitere Äußerungen deutscher Professoren und Intellektueller zum Parlamentarismus westlich-demokratischer Prägung diskutiert. 1. Die Ideen von 1914 "Der Geist von 1914", der in zahlreichen Aufrufen, Reden und Aufsätzen deutscher Professoren 137 beschworen wurde, stand für eine spezifisch deutsche Staatsgesinnung, die sich, so die allgemeine Auffassung, von jener der westlichen Demokratien grundsätzlich unterscheide. Man sah in dem in seinem Kern gesunden deutschen Staat138 mit seinem konstitutionellen und dualistischen Regierungssystem nicht nur das eigentlich normale Gegenstück zu den parlamentarischen Staaten,139 sondern "eine weit höhere und bessere Form der politischen Gestaltung ... als in irgendeinem anderen Staat der Gegenwart". 140 Das deutsche konstitutionelle System sei objektiv besser als der westliche Parlamentarismus. 141 Mit dem Ausbruch des Krieges werde man aufhören, so die Hoffnung, "mit begehrlichen Blicken nach den angeblich freieren Einrichtungen unserer westlichen Nachbarn zu schielen." Es habe sich gezeigt, daß "sie keinen Schutz gegen eine Mehrheitstyrannei bieten, die alle wahre Freiheit verschlingt." 142 a) Die deutsche Freiheit Diese wahre, die deutsche Freiheit sei die Freiheit "einer selbständigen und bewußten Bejahung des überindividuellen Gemeingeistes, verbunden mit der lebendigen Anteilnahme an ihm, die Freiheit einer freiwilligen Verpflichtetheit für das Ganze."143 Die deutsche Freiheit wolle keine formale Gleichheit gleichmäßig aller Individuen sein, sondern "die inhaltliche Freiheit einer unbegrenz-
137
Von 69 Historikern beteiligten 43 an der Kriegspublizistik, bei den Nationalökonomen waren es 21 von 36 und bei den Philosophen und Theologen 48 von 178, K. Schwabe, Wissenschaft, S. 290. 138 F. Meinecke, Erhebungen, S. 28. 139 H. Delbrück, Regierung, S. 93. 140 H. Delbrück, Regierung, S. 135. 141 H. Delbrück, Krieg, Bd. 3, S. 182. 142 O. v. Gierke, Krieg, S. 75. 143 E. Troeltsch, Ideen, S. 48.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
229
ten Mannigfaltigkeit persönlicher Selbstbildung."144 Die deutsche Freiheit werde immer anders sein als die der westlichen Nationen. Sie sei immer verbunden mit einem idealistischen Pflichtgedanken, 145 eine Freiheit des Ineinander, "die umwachsen, genährt und umwölbt ist von anderen höheren Individualitäten, von all den Lebenskreisen, die uns erfüllend und von uns erfüllt umgeben, bis zum Staat und der Nation herauf." 146 Ausgehend von diesem Freiheitsbegriff wurden die Deutschen aufgefordert, so zu sein, "daß du mit deinem Denken und Wollen in das starke Ganze deines Volkes paßt, so wie es durch seine ganze Geschichte und durch diesen Krieg geworden ist." 147 Wahre Freiheit bedeute Gehorsam gegenüber dem Gesetz,148 "mit ganzer Hingabe und unbehindert tun, was man tun soll, das tun wollen, was man tun muß. ... Nicht Willkür, ungebundene Zügellosigkeit und Sinnenfreiheit ist Freiheit. Sie bringen schließlich nur Überdruß und Ekel und innerliche Selbstauflösung. Dagegen wo die wahre Freiheit braust, in der Sollen und Wollen unter einem großen Gedanken eins sind, da blüht und glüht das Leben." 149 Mit diesem Freiheitsbegriff grenzten sich die Professoren bewußt gegenüber westlichen Freiheitsbegriffen ab. Sie wollten "die Freiheit aus unserer Vergangenheit und mit unserer Vergangenheit." 150 Die westliche Freiheit, "die nur freie Chancen für das Geschäft verlangt und ihren Idealismus ausschließlich an der allgemeinen Gleichheit berauscht, die in Wahrheit die allgemeine Mittelmäßigkeit und Seichtigkeit wäre und über die die feineren Geister auch dort sich beklagen", 151 lehnten sie ab. b) Die Demokratie Ausgehend von diesem spezifisch deutschen Freiheitsbegriff wurde auch die westliche Demokratie abgelehnt. Kennzeichnend für die demokratische Freiheit seien "die Prinzipien eines unduldsamen Jakobinertums, die Selbstsucht beutegieriger Parteien und die Beherrschung des politischen Denkens durch eine gewissenlose Presse." 152 Demokratie bedeute Herrschaft der Masse,153 Triumph 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153
E. Troeltsch, Wesen, S. 28. E. Troeltsch, Geist, S. 97. F. Meinecke, Freiheit, S. 27. J. Plenge, 1789, S. 135. A. Lasson, Deutsche Art, S. 129. A. v. Harnack, Was wir schon gewonnen haben, S. 156. A. v. Harnack, Wilsons Botschaft, S. 13. E. Troeltsch, Ansturm, S. 91. So ein Aufruf Bonner Historiker vom 1. September 1914, Aufrufe, S. 50 f. W. Goetz, Grundlagen, S. 229.
230
D. Die Rolle der Wissenschaft
der toten Zahl über die lebendige Form, in der nicht die Persönlichkeit herrsche, sondern die Vielen. 154 In ihrer abstrakt romanischen Form führe die Demokratie jedoch nicht zu einer Volksherrschaft, sondern zu einer Oligarchie von Berufspolitikern. 155 Diese verteilten nach gewonnenen Wahlen die öffentlichen Ämter nach dem Grundsatz "dem Sieger die Beute" unter sich auf. 156 Die Folge seien die Abwesenheit oder Erbärmlichkeit der Verwaltung, fehlende Sozialpolitik und die nackte Herrschaft der Parteimaschinen. 157 Dilettantismus werde damit zum Prinzip erhoben. 158 In dem Ansinnen der Westmächte, Deutschland durch den Krieg vom Obrigkeitsstaat zu befreien, konnten die deutschen Professoren deshalb nur reine Kriegspropaganda erkennen, die die eigenen Siegeschancen verbessern sollte. "Es ist klar: man will uns demokratisieren, um uns zu desorganisieren." 159 Für sie stand fest, daß es zwischen dem deutschen und dem demokratischen Geist keine Vermittlung geben könne. 160 Deutschland müsse Fortschritte in der Freiheit und der Selbstregierung machen, "ohne irgend das deutsche Wesen zu beeinträchtigen." 161 Die deutsche Lösung liege im monarchischen Volksstaat, der "ein Gegensatz zu aller romanischen und romantischen Demokratie" 162 sei. Auch für den inneren Staatsaufbau gab man deshalb die Losung aus: "Was deutsch ist, soll deutsch bleiben." 163 In den Worten Thomas Manns: "Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschriene "Obrigkeitsstaat1 die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. ... Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur." 164
154
M. Wundt, Staatsauffassung, S. 155. J. Unold, Deutscher Bürgerstaat, S. 178. 156 M. Sering, Staat, S.51. 157 E. Troeltsch, Ansturm, S. 105. 158 M. Sering, Staat, S. 52. 159 F. Meinecke, Freiheit, S. 30. 160 M. Wundt, Staatsauffassung, S. 155. 161 E. Troeltsch, Wesen, S. 28. 162 W. Goetz, Grundlagen, S. 228. 163 M. Wundt, Staatsauffassung, S. 157. 164 T. Mann, Betrachtungen, S. 22 und 23; T. Mann schrieb seine "Betrachtungen eines Unpolitischen in den Jahren 1915-1918, H. Helbling, Vorwort, S. I. 155
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
231
c) Der Parlamentarismus Abgelehnt wurde nicht nur die westliche Demokratie, sondern auch das parlamentarische Regierungssystem. Der Parlamentarismus mit seiner Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments garantiere keineswegs die Volksherrschaft, sondern führe zur Herrschaft einer kleinen Gruppe von Politikern. In Wirklichkeit sei er die Selbstergänzung der im Lauf der geschichtlichen Entwicklung einmal zur Gewalt gelangten Gruppe. 165 Eine ganz kleine Schicht komme ans Ruder, die "als Drahtzieher der herrschenden Partei eine wundervolle Gelegenheit erhalten, den Staat für sich auszubeuten."166 A u f diese Weise werde der Volkswillen auf rücksichtslose Weise von einem Klüngel von Berufspolitikern und skrupellosen Demagogen mit Hilfe einer Versammlung unterdrückt, "in der, da jeder sich durch so viele Nebenmänner gedeckt sieht, das Gefühl der Verantwortung rasch schwindet." 167 Das Parlament werde durch dieses Regierungssystem zu einer Bewilligungsmaschine herabgesetzt, die das aus ihrer Mehrheit entstammende Kabinett im eigenen Interesse in jeder Situation halten müsse.168 Noch schwerwiegender sei aber das durch die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament bedingte Fehlen der hohen Beamtenschaft, die als selbständige Säule der Macht die "für die Lenkung der Staaten unentbehrliche Ehrlichkeit, Weisheit und Festigkeit" verbürge. 169 Das Parlament biete dafür keinen Ersatz. Insbesondere wenn es auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählt sei, könne es "immer nur eine Durchschnitts-, eine Massenmeinung zum Ausdruck bringen." Der Abgeordnete sei - anders als der Beamte - abhängig von der Meinung der Wähler, "d. h. von Leuten, die sich ohne Fachkenntnis und nur sehr vorübergehend mit staatlichen Dingen beschäftigen." 170 Die Abgeordneten selbst seien vielfach Leute, "die reden können, auch wenn sie von den Dingen, die sie verhandeln, ein wirkliches Verständnis nicht besitzen."171 Bei den Parlamentsberatungen fehle es an einer gründlichen Vorarbeit, die in Deutschland Beamte und Vertreter der Wissenschaft leisten.172 Parlamentarismus bedeute
165 166 167 168 169 170 171 172
H. Delbrück, Regierung, S. 53. F. Meinecke, Freiheit, S. 35. M. Wundt, Staatsauffassung, S. 154. E. Troeltsch, Ansturm, S. 98. H. Delbrück, Regierung, S. 37. Erich Jung, Parlamentarismus, S. 174. M. Sering, Staat, S. 44. M. Sering, Staat, S. 53.
232
D. Die Rolle der Wissenschaft
damit "eine Verringerung der Arbeitsteilung und der Fachkenntnisse. Er ist der organisierte Dilettantismus." 173 Die große Zahl der Parlamentarier und die Art und Weise der Berufung in dieses Amt bewirke außerdem, daß im Abgeordneten das Gefühl der Verantwortlichkeit für seine Handlungen gegenüber der Gesamtheit weniger erhalten sei als "bei einem Berufsbeamten, der sein ganzes Leben der öffentlichen Aufgabe gewidmet hat, oder gar bei einem erblichen Monarchen, der nicht nur durch seine Person, sondern die Generation vor und nach ihm mit dem Schicksal dieses Gemeinwesens verkettet ist." 174 Selbst bei einer Erweiterung der Mitwirkungsrechte des Volkes bleibe es deshalb notwendig, daß "das letzte Entscheidende durch sachkundige und erfahrene Beamte geschieht."175 Die unabhängige Stellung der Beamtenschaft verbiete die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems. 176 Dagegen führe das dualistische Regierungssystem in Deutschland mit dem Kaiser als legitimer Obrigkeit 177 und der organisierten politischen Intelligenz im Beamtentum auf der einen und der "Masse, die im Reichstag ihre verschiedenen Instinkte kundgibt" 178 auf der anderen Seite zum wahren Wesen des Volkstums. 179 Die Staatsregierung, vom Kaiser als obersten Träger der Reichsgewalt ernannt, 180 könne als konstitutionelle Regierung über den Parteien stehend gegenüber der Volksvertretung ihre Unabhängigkeit und Objektivität weit besser bewahren als eine parlamentarische Regierung. 181 Eine Massenherrschaft werde auf diese Weise vermieden, da neben dem Parlament andere Regierungsorgane von stärkster historischer Kraft und sachlicher Bedeutung bestehen.182
173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
Erich Jung, Parlamentarismus, S. 177. Erich Jung, Parlamentarismus, S. 177 f. E. Troeltsch, Freiheit, 212. H. Delbrück, Regierung, S. 104. H. Delbrück, Regierung, S. 49. H. Delbrück, Regierung, S. 114. H. Delbrück, Regierung, S. 32 f. G. Anschütz, Gedanken, S. 118. J. Unold, Bürgerstaat, S. 183. E. Troeltsch, Freiheit, S. 210.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
233
d) Der Staat und die Parteien Demokratie und Parlamentarismus gefährdeten aber nach Auffassung der deutschen Professoren nicht nur eine sachliche und unabhängige Politik, sondern auch den Staat selbst. Für die geistige Elite Deutschlands hatte der Staat einen über alle Einzelwillen erhabenen Eigenwert und Eigensinn.183 Der Staat verfolge überindividuelle Zwecke, denen der einzelne dienen müsse.184 Die geschichtlich erarbeitete hohe Staatsidee185 beruhe auf dem Gedanken der Treue, 186 dem Treuedienst des "freien Mannes für das erhabene Haupt, in dem alle Heiligkeit des Staates mit allen seinen großen geschichtlichen Erinnerungen zur konkreten Erscheinung gelangt." Dieser Treuedienst sei "noch heute die festeste Grundlage unseres staatlichen Bestandes mitten in der Flut und dem Wirrsal zersetzender Gedanken und auflösender Bestrebungen." 187 Der Staat sei deshalb nicht lediglich im Interesse der einzelnen da, 188 verstanden als bloße Einrichtung zur Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse, 189 nicht "die Schöpfung willkürlich zwecksetzender und schaffender Individuen, sondern ... eine geschichtliche organische Notwendigkeit, die uns im eigenen Staate ganz individuell, unnachahmlich und unersetzlich entgegentritt und unser Verständnis, unsere Liebe, unseren hingebenden Dienst verlangt, damit er leben könne, so wie wir selbst wollen, daß er lebe." 190 Die größte Gefahr für die Einheit des Staates wurde in den über die Parteien im Parlament wirksam werdenden unterschiedlichen gesellschaflichen Interessen gesehen. Der Einfluß der Parteien auf das staatliche Leben sollte deshalb so gering wie möglich sein. Der Staat müsse auch in Zukunft die "oft so kurzsichtige Selbstsucht der Parteitendenzen in Schranken halten" 191 und "dem Parteikampf entrückt bleiben". 192 Die Abneigung gegenüber den Parteien ging sogar so weit, deren Existenzberechtigung gänzlich in Frage zu stellen. Heraus-
183
M. Wundt, Staatsauffassung, S. 155. M. Sering, Staat, S. 69. 185 O. v. Gierke, Friedensziele, S. 18. 186 M. Wundt, Staatsauffassung, S. 152. 187 A. Lasson, Art, S. 128. 188 M. Sering, Staat, S. 70. 189 M. Wundt, Staatsauffassung, S. 153. 190 F. Meinecke, Freiheit, S. 27; von einer germanisch-organischen Staatsverfassung im Gegensatz zur romanisch-mechanischen spricht auch J. Unold, Bürgerstaat, S. 180. 191 A. Lasson, Art, S. 128. 192 M. Sering, Staat, S. 74 f. 184
234
D. Die Rolle der Wissenschaft
zulesen ist dies aus der besonders lebhaften Zustimmung 193 zum Ausspruch des Kaisers vom 4. August 1914 im Reichstag, der nur noch Deutsche, aber keine Parteien mehr kennen wollte. 194 Wie sehr Wilhelm II. mit diesen Worten gerade auch die Stimmung unter den Hochschullehrern getroffen hatte, zeigte deren Erklärung gegen die vom Reichstag mit den Stimmen von SPD, Zentrum und der Fortschrittspartei, der späteren Weimarer Koalition, verabschiedete Friedensresolution vom Juli 1917, in der sich die Parlamentsmehrheit für einen Verständigungsfrieden einsetzte ohne "erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen." 195 : 1100 Professoren, "unbeeinflußt von Ansichten irgendeiner Partei, frei von Sonderinteressen jeder Art, einzig und allein erfüllt von schwerer Sorge um die Zukunft des Vaterlandes", sprachen der Mehrheit des Reichstages das Recht ab, in "den heute zur Entscheidung stehenden Lebensfragen den Volkswillen in unzweifelhafter Weise zum Ausdruck zu bringen." 196 2. Das Meinungsklima an den Hochschulen Wie sehr die eben erörterten "Ideen von 1914" auch nach der Niederlage des Kaiserreichs gerade auch bei den Hochschullehrern fortwirkten, soll in diesem Abschnitt gezeigt werden. Kennzeichnend für das Meinungsklima an den Hochschulen ist bereits das folgende Zitat: "Bei den besonderen Verhältnissen der Universität Berlin ist es selbstverständlich, daß viele Lehrer es für ein Gebot der Würde und Aufrichtigkeit halten, ihre bisherige Anhänglichkeit an die glorreichen Traditionen des bisherigen Staates nicht zu verleugnen, und vor allem den Schmerz über den Verlust großer Güter empfinden ... 1,197 Mit diesen Worten begrüßten am 20. November 1918 die Berliner Universitätslehrer die wenige Tage zuvor ausgerufene Republik. Diese über den Zusammenbruch des Bismarckreiches anhaltende Verehrung für den alten Staat verwandelte sich 193
"Da kam der Krieg, da kam die Erklärung unseres teuren Kaisers: Tch kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur Deutsche.' Da kam die herrliche Reichstagssitzung vom 4. August - sie mitgemacht zu haben, wird mir eine leuchtende Erinnerung sein, so lange ich lebe - , jene Sitzung, in der man nun wirklich sah: es gab keine Parteien mehr, es gab keine Nationalliberalen und kein Zentrum und keine Sozialdemokraten; sie alle wollten nichts als Deutsche sein und dem Vaterlande jedes Opfer bringen. In dieser feurigen Bereitschaft: Für das Vaterland jeden Mann und jeden Groschen, zerschmolz alles Eigensüchtige und Parteimäßige, und als eine große Realität stand da: das Vaterland!", A. v. Harnack, Was wir schon gewonnen haben, S. 154. 194 Verh. Rt., Bd. 306, S. 2; das Protokoll vermerkt an dieser Stelle ein "langanhaltendes brausendes Bravo". 195 Verh. Rt., Bd. 321, Nr. 933; Abstimmung: Verh. Rt., Bd. 310, S. 360. 196 J. Haller, Erklärung, S. 184 f. 197 R. Seeberg, Erklärung, S. 238.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
235
schnell in eine tiefe Abneigung gegenüber der Weimarer Republik. Dies ist wenig verwunderlich, wies doch der neue demokratische Staat westlich-liberaler Prägung mit seinem Parlamentarismus und seinem Parteiensystem genau jene Eigenschaften auf, gegen die sich die Professoren mit ihren "Ideen von 1914" so heftig gewandt hatten. Dennoch gab es eine Minderheit unter den Professoren, die als Modernisten 198 eine Politik der Anpassung an die neuen Verhältnisse betrieben. Diese sogenannten Vernunftrepublikaner, die, wie Max und Alfred Weber, Ernst Troeltsch, Hans Delbrück und Friedrich Meinecke, bereits während des Krieges eine gemäßigte Position eingenommen hatten, fügten sich in das Unausweichliche, weil sie keine realistische Alternative zur Republik sahen. 1926 unterzeichneten 64 dieser Modernisten einen Aufruf, in dem sie ihre Kollegen aufforderten, "auf dem Boden der bestehenden demokratisch-republikanischen Staatsordnung" für das Gemeinwohl zu arbeiten. 199 Aber auch die Mehrheit dieser Vernunftrepublikaner waren im Grunde ihres Herzens keine Demokraten. Beinahe alle 200 zogen eine gemäßigte parlamentarische Monarchie der Republik vor. Die große Trauer über den Zusammenbruch des Bismarckreiches auch in dieser Gruppe der deutschen Professorenschaft wird deutlich in der Schilderung des siebzigsten Geburtstages Hans Delbrücks am 11. November 1918 durch Ernst Troeltsch: "Es war eine merkwürdige Feier, ähnlich einer Begräbnisfeier. Man sprach gedämpft. Der Glück wünschende Redner fand vor Tränen die Worte nicht. Delbrück erwiderte ergreifend, es sei das Ende der Fridericianischen Monarchie, mit der all sein politisches Denken und jeder Glaube an Deutschlands Zukunft verwachsen sei; sie habe stets an bösen Rückbildungen und Erstarrungen gelitten, woraus sich stets revolutionäre Neigungen ergaben. So furchtbar wie jetzt habe es freilich mit ihr noch nie gestanden."201 Auch bei diesen Vernunftrepublikanern finden sich deshalb die Demokratie im Grunde ablehnende Bemerkungen, die deutlich machen, daß die Zustimmung zum neuen Staat allein auf der Erkenntnis beruhte, daß eine Restauration sinnlos sei und nur die Republik Stabilität in Aussicht stellte. "Daß die Demokratie uns im Grunde nicht liegt und daß sie (übrigens vor allem in Deutschland) die Mängel der Mittelmäßigkeit und Spießerhaftigkeit trägt, ... das ist leider nicht zu leugnen. Ebensowenig aber, daß wir nichts Besseres haben ... 1,202 "Wir wurden Demokraten, weil wir uns klarmachten, daß auf keinem anderen Weg die 198 199
S. 38.
200 201 202
So die Bezeichnung von F. K. Ringer, Gelehrten, S. 187. Der Aufruf ist abgedruckt in: W. Kahl/F. Meinecke/G. Radbruch, Universitäten, So der Eindruck von F. K. Ringer, Gelehrten, S. 188. E. Troeltsch, Fehlgeburt, S. 10. E. Troeltsch, Spektator-Briefe, S. 52.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
nationale Volksgemeinschaft und zugleich die lebensfähigen aristokratischen Werte unserer Geschichte würden erhalten werden können." 203 "Die Republik ist heute diejenige Staatsform, die uns am wenigsten trennt." 204 Die weitaus größere Zahl der Professoren stand jedoch in scharfer Opposition zur Weimarer Republik. 205 Sie gefielen sich in der Rolle verzweifelter Patrioten und Moralisten in einer Zeit totaler Korruption. Für sie hatten sich in der Revolution von 1918 die materialistischen und vaterlandslosen Elemente in der deutschen Bevölkerung, die sich mit den äußeren Feinden Deutschlands verbündet hatten, durchgesetzt und den Umsturz bewirkt. 206 Betrachtet man deren Äußerungen zu Beginn der Weimarer Republik, dann wird das Entsetzen über diese Entwicklung in Deutschland deutlich. "In gespenstischem Nebel starrt uns die Zukunft an, als ein gähnendes Chaos, das nicht nur unser eigenes Volk, sondern die gesamte von den europäischen Nationen geschaffene Kultur zu verschlingen droht." "Wird es Ströme geben, die diese Schande von heute von uns abwaschen? Dieser Wunsch der Fühllosigkeit, der fast den Lebenden die Toten beneiden läßt, ist vielverbreitet." Dem heftig geäußerten Entsetzen über die jüngste Vergangenheit folgten dann sehr schnell scharfe Angriffe auf die Republik. "Wir zerschlugen den alten 'Obrigkeitsstaat' und haben aus den Trümmern nicht die Achtung vor der Persönlichkeit, wohl aber die Herrschaft der Straße und der selbstsüchtigen Instinkte gewonnen." Alles, "was selbständig, eigenartig, national... was spezifisch deutsch ist, soll ausgetilgt und ersetzt werden durch die entsetzliche Einöde der farblosen Homogenität und der toten Zahl." 207 In diesem Meinungsklima entwickelten sich die deutschen Universitäten schnell zu Hochburgen der rechten Opposition. 208 So wurde Reichspräsident Ebert in Gedenkreden als Usurpator bezeichnet und des Hochverrats beschuldigt, die Republik selbst wurde zum encanaillierten Staat.209 Nur konsequent war es dann auch, am Staatsfeiertag zu Ehren Rathenaus ein universitäres Prak203
F. Meinecke, Einleitung zu E. Troeltsch, Spektator-Briefe, S. V. F. Meinecke, Verfassung, S. 282. 205 G. A. Craig, Deutschen, S. 201. 206 F. K. Ringer, Gelehrten, S. 196. 207 Die Zitate stammen aus Festreden deutscher Professoren zu Beginn der Weimarer Republik gehalten bei Universitätsfeiem, nachgewiesen bei F. K. Ringer, Gelehrten, S. 196. 208 F. K. Ringer, Gelehrten, S. 198; anders E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, S. 987, der dies für ein durch die tatsächlichen Verhältnisse nicht gerechtfertigtes Vorurteil hält. Huber räumt aber einen erheblichen bürgerlich-konservativen Anteil unter den Hochschullehrern ein, S. 988. 209 Zitate nachgewiesen bei W. Hellpach, Wirken, Bd. 2, S. 175. 204
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
237
tikum abzuhalten,210 am Tag der Verfassungsfeier die schwarz-rot-goldene Reichsfahne vom Universititätsgebäude zu entfernen 211 oder anläßlich des siebzigsten Geburtstages des ehemaligen Kaisers einen Glückwunsch-Artikel zu veröffentlichen. 212 Die Gegnerschaft der Hochschullehrer gegenüber der Republik kommt auch in dem 1923 verkündeten Beschluß des Verbandes der Deutschen Hochschulen zum Ausdruck, daß "nach wie vor alle deutschen Hochschulen den 18. Januar, den Tag der Reichsgründung, als einen Tag vaterländischen Gedenkens und geistiger Erhebung festhalten, um dadurch zugleich der Einheitlichkeit der deutschen Hochschulen Ausdruck zu geben."213 Es kennzeichnet die deutsche Professorenschaft, daß derartige republikfeindliche Aktivitäten ihrer Kollegen wenn nicht begrüßt, so doch zumindest kritiklos hingenommen wurden. Kritisiert wurden nicht diese Aktivitäten, sondern die Gegenmaßnahmen der Hochschulverwaltung, die als parteipolitisch motiviert denunziert wurden. Gefordert wurde eine Stärkung der akademischen Autonomie, um "hochgesteigerte Machtbefugnisse der Verwaltung und nachdrückliche Anwendung dieser Befugnisse, wie sie zumal seit der Umwälzung geläufig geworden ist", 214 einzuschränken. Ganz anders verfuhr man innerhalb der Professorenschaft mit dem Heidelberger Privatdozenten Gumbel, einem Mitarbeiter der Deutschen Republik, einer angeblichen Kampfzeitschrift 215 der Republikanischen Union, in der Angehörige des Zentrums, der DDP und der SPD vereinigt waren. Gumbel hatte sich im Juli 1924 über die im Krieg gefallenen Soldaten geäußert, sie seien "nun, ich will nicht gerade sagen, auf dem Feld der Unehre gefallen, aber doch auf eine abscheuliche Weise ums Leben gekommen." 216 Trotz einer öffentlichen Entschuldigung Gumbels entschied die Philosophische Fakultät, daß er sich "der Achtung und des Vertrauens, die seine Stellung erfordert, unwürdig erwiesen" habe. Besondere Empörung rief außerdem der Umstand hervor, daß Gumbel einen "in französischer Sprache redenden Franzosen" zu dem Vorgang 210 So der später nationalsozialistische Theoretiker einer "deutschen Physik", Philipp Lenard, s. hierzu W. Hellpach, Wirken, Bd. 2, S. 169-171. 211 So der nationalsozialistische Rektor der Universität Greifswald am 11. August 1924, s. hierzu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 991. 212 So der deutschnationale Staatsrechtslehrer H. Helfritz, zu diesem Vorgang s. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 992 f. 213 Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 1923, S. 62. 214 R. Smend, Hochschule, S. 283. 215 So heute noch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 994, Fn. 23. 216 Hierzu und zum folgenden W. Hellpach, Wirren, Bd. 2, S. 171; vgl. auch das verkürzte und damit entstellende Zitat bei E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 994.
238
D. Die Rolle der Wissenschaft
Stellung nehmen ließ. Die Fakultät beschloß daraufhin im August 1924, einen Antrag auf Entziehung der Lehrbefugnis zu stellen, dem der Engere Senat der Universität beitrat. Im Mai 1925, der demokratische Kultusminister Hellpach hatte gezögert, dem Antrag zu entsprechen, nahm die Fakultät diesen Antrag auf Entzug der Lehrbefugnis gegen heftigen Widerstand der Gesamtuniversität - der Engere Senat erklärte in aller Form, er würde in dieser Sache anders entschieden haben - zurück. 217 Wie groß die Vorbehalte gegen Gumbel innerhalb der Fakultät dennoch waren, zeigte sich im November 1930, als die Fakultätsmehrheit gegen die Ernennung Gumbels zum außerplanmäßigen Professor durch das Kultusministerium protestierte. 218 Diesem Protest schloß sich im Januar 1931 auch der Engere Senat an. Im August 1932 - die Gewichte innerhalb des badischen Kabinetts hatten sich inzwischen durch die Regierungsbeteiligung der DVP nach rechts verschoben, 219 - entzog der Kultusminister Baumgartner vom Zentrum Gumbel die Lehrbefugnis. Vorausgegangen war ein entsprechender und einstimmig beschlossener Antrag der Philosophischen Fakultät und des Engeren Senats der Heidelberger Universität an das Ministerium. Gumbel hatte diesmal geäußert, "das angemessene Kriegerdenkmal sei nicht eine leichtbekleidete Jungfrau mit Siegespalme, sondern ein Stein mit einer Kohlrübe". 220 Für die Heidelberger Professoren stand damit fest, daß Gumbel über keine ausreichende Selbstkontrolle verfüge, um beleidigende und verletzend wirkende Äußerungen, die "die Achtung und das Vertrauen, dessen ein Hochschullehrer bedarf, erschüttern", zu vermeiden. Nicht viel besser als Gumbel erging es dem Philosophen und Pädagogen Theodor Lessing und dem Theologen Günther Dehn. 221 Lessing hatte sich während des Wahlkampfes um das Amt des Reichspräsidenten kritisch über den Kandidaten Hindenburg geäußert. Angetrieben von rechtsradikalen Studenten und Vorstößen der Rechtsparteien im preußischen Landtag beantragten der Rektor und der Senat der Technischen Hochschule Hannover die Suspension Lessings und ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel, ihm den Lehrauftrag zu entziehen. Der der DDP nahestehende preußische Kultusminister Becker lehnte die Einleitung eines solchen Verfahrens ab, rügte aber die Äußerungen Lessings und drohte ihm mit dem Entzug des Lehrauftrages. Als nichtbeamteter 217
Vgl. hierzu und zum folgenden E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S 995 ff. 218 Der sozialdemokratische Kultusminister Remmele hatte sich vor der Ernennung mit der Auskunft des Dekans begnügt, daß die Fakultät wohl keine Bedenken erheben werde und nicht offiziell bei der Fakultät angefragt. 219 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 797 f. 220 Der zweite Teil der Äußerung spielt auf den "Kohlrübenwinter" 1916/17 an. 221 Vgl. auch hierzu E. R. Huber, Verfassungsgeshichte, Bd. 6, S. 997 ff.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
239
Extraordinarius kam Lessing dadurch in eine prekäre Lage. Er vereinbarte deshalb mit dem Ministerium, durch Verzicht auf Lehrauftrag und Lehrbefugnis seine akademische Laufbahn zu beenden. Im Gegenzug erhielt er die seine Existenz sichernde Gewährung eines Forschungsauftrages. Dehn 222 wurden pazifistische Äußerungen zur Last gelegt. So hatte er zu fragen gewagt, ob es richtig sei, daß die Kirche den Gefallenen Denkmäler in ihren eigenen Mauern errichte oder ob es nicht besser sei, dies der bürgerlichen Gemeinde zu überlassen. 223 Der Vortrag und die sich anschließende hitzige Aussprache zogen nicht nur heftige öffentliche Angriffe auf Dehn nach sich, sondern brachten ihm auch eine Rüge des Brandenburgischen Konsistoriums mit der Begründung ein, er habe offenkundig seine Worte nicht so sorgfältig erwogen, wie es einem Geistlichen obliege. Als zwei Jahre nach diesem Vorfall Dehn einen Ruf des badischen Kultusministers Remmele auf einen Lehrstuhl nach Heidelberg erhielt, setzten die öffentlichen Angriffe auf den Theologen erneut ein. Die daraufhin von Dehn erbetene Vertrauenserklärung der Heidelberger Fakultät lehnte diese ab. Vielmehr sprach sie sich nunmehr gegen die von ihr selbst vorgeschlagene Berufung aus.224 Dehn nahm daraufhin einen Ruf nach Halle an. Aber auch hier konnte er nur mit Hilfe der Polizei seine Vorlesungen durchführen. Die Verehrung des alten und die Abneigung des neuen Staates wird aber nicht nur in diesen das allgemeine Klima an den Universitäten anschaulich machenden Beispielen sichtbar. Die vorhandene Republikfeindschaft wird auch deutlich an konkreten Äußerungen deutscher Professoren und Intellektueller. 3. Carl Schmitt A m prononciertesten hat sich einer der bedeutendsten Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik, Carl Schmitt, zum neuen, dem parlamentarischen Regierungssystem geäußert. A u f seine Thesen gehe ich an dieser Stelle deshalb ausführlicher ein, weil seine Parlamentarismuskritik einen Grundkonsens des 222
Vgl. hierzu E. Bitzer, Fall, S. 239 ff.; G. Dehn, Zeit, S. 247 ff. Der Text des Vortrages ist ausführlich wiedergegeben bei E. Bitzer, Fall, S. 240 ff. 224 "Unbeschadet der Vertrauenswürdigkeit des Herrn G. Dehn hält die Theologische Fakultät ihn auf Grund der erst jetzt bekanntgewordenen Akten für das hiesige Amt des ordentlichen Professors der praktischen Theologie und Leiters des Praktisch-theologischen Seminars nicht für geeignet.", so der mit sechs gegen eine Stimme gefaßte Beschluß der Theologischen Fakultät, Text: E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 1000, Fn. 51. 223
240
D. Die Rolle der Wissenschaft
größten Teils der Weimarer politischen Theorie traf. 225 Er war typisch für das Selbst- und Zeitverständnis der konservativen deutschen Führungsschicht und ihrer intellektuellen Wortführer, 226 ein Rhetor von Zeitgeist, 227 der eine ganze Generation mit Schlagworten versorgte, die ihr halfen, verworrene Ressentiments offiziell auszudrücken. 228 Als durchschnittlich anpassungbereiter deutscher Staatsrechtslehrer autoritär konservativer Provenienz 229 repräsentiert er eine damals weit verbreitete 230 und bis heute wirksame Tradition und Geisteshaltung in der Staatsrechtslehre. 231 Eine Beschäftigung mit Carl Schmitt führt deshalb zu einer Untersuchung der Geistes- und Ideengeschichte auch der Weimarer Republik an einem repräsentativen Beispiel. 232 Die Darstellung folgt der Methode Carl Schmitts, zunächst ein in der Wirklichkeit nicht erreichbares Idealbild der parlamentarischen Demokratie zu entwerfen (a), anschließend die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik an diesem Ideal zu messen (b), um schließlich einen Hüter der Verfassung als Retter aus der Krise zu präsentieren (c). a) Carl Schmitts Idealbild von der parlamentarischen Demokratie aa) Das Parlament als Ort öffentlicher Diskussion Nach Carl Schmitt ist das Parlament seiner Idee nach der Ort, an welchem eine öffentliche Diskussion der politischen Meinungen stattfinde. 233 Es versammele gebildete Menschen, die die Vernunft der gesamten Nation repräsen-
225
B. Blanke, Theorien, S. 151 f. N. Sombart, Carl Schmitt, S. 22. 227 H. Lietzmann, Vater, S. 108; ähnlich P. Noack, Carl Schmitt, S. 117, wonach Carl Schmitt den Nerv der Zeit getroffen habe und G. A. Craig, Geschichte, S. 563, wonach Schmitts "eigentümliche fröhliche Blutrünstigkeit" im Denken durch seinen literarischer und eleganten Stil all jenen schmackhaft gemacht wurde, denen die Mängel des demokratischen Systems Anlaß zur Sorge waren. 228 R. Leicht, Staatsrecht, S. 113; N. Sombart, Männer, S. 228; von einer hohen Verfügbarkeit der Texte Carl Schmitts, die auf Verwertbarkeit bei vielerlei Gelegenheiten angelegt seien spricht auch R. Waither, SZ vom 3. Januar 1994, S. 11. 229 H. Lietzmann, Carl Schmitt, S. 162. 230 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 294, Rn. 543. 231 B. Blanke, Theorien, S. 158; H. Lietzmann, Vater, S. I I I ; R. Reifenrath, FR v. 11. April 1985, S. 18. 232 N. Sombart, Carl Schmitt, S. 22. 233 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 315. 226
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
241
tieren. 234 Diese tragen die im ganzen Volk verstreuten Vernunftpartikel an einem Platz zusammen.235 Eine echte Diskussion könne allerdings nur dann entstehen, wenn sich im Parlament die gesamte Intelligenz des Volkes vereinige. 236 Um dies zu erreichen, müsse der einzelne Abgeordnete bestimmte Kriterien erfüllen. Dem Typ nach sei er ein durch Intelligenz und Bildung ausgezeichneter und nur für das politische Ganze als solches besorgter Mann 237 . Er stehe über den Interessengegensätzen, sei unabhängig und uneigennützig. 238 Eine ihrer ganzen Lebensstellung nach abhängige oder einer bestimmten Organisation eingeordnete Person dürfe deshalb nicht Abgeordneter werden. 239 Darüber hinaus könne der Abgeordnete weder von seinen Wählern noch vom Staat eine Bezahlung für die Ausübung seines Mandats verlangen. Sein Amt müsse er ehrenamtlich ausüben und könne nur den Ersatz seiner Auslagen erhalten. 240 Kern des parlamentarischen Systems sei neben der Diskussion die Öffentlichkeit der Verhandlungen. 241 Erst sie ermögliche die öffentliche und allgemeine Teilnahme aller Denkenden an der Argumentation und damit die Kontrolle staatlicher Machtausübung durch die Bürger. 242 bb) Der aristokratische Charakter der Parlamentswahl Aus dem repräsentativen Charakter des Parlaments folgt nach Carl Schmitt weiter, daß die Parlamentswahl nur den aristokratischen Sinn einer Heraushebung des Besseren und des Führers haben könne. 243 Sie solle Auswahl im Sinne der Heraus- und Höherstellung einer Elite und der Begründung einer unabhängigen Repräsentation sein. 244 Echte Repräsentation werde nur begründet, wenn die Wahl den Sinn habe, den Besten einer Auslese zu bestimmen, die Gewählten also die Höheren seien.245 Die Wahl sei dann das Mittel eines aristokratischen Prinzips, der Wähler erscheine dem Gewählten gegenüber als unter234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245
C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Lage, S. 43. C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Legalität, S. 339. C. Schmitt, Verfassungslehre,
16 Hoppe
S. 310 f. S. 311. S. 315. S. 217. S. 317. S. 317. S. 318. S. 316. S. 257. S. 219.
242
D. Die Rolle der Wissenschaft
geordnet. 246 Andernfalls habe die Wahl den demokratischen Sinn der Bestellung eines Agenten, Kommissars, Dieners 247 oder Partei- und Interessenfunktionärs, 248 der Bezeichnung eines abhängigen Beauftragten. 249 cc) Die Parteien als luftige Gebilde Sinn aller verfassungsmäßigen Institutionen und Methoden einer parlamentarischen Demokratie sei es, daß ein fortwährender Prozeß des Übergangs und Aufstiegs von egoistischen Interessen und Meinungen auf dem Weg über den Parteiwillen zu einem einheitlichen Staatswillen führe. 250 Das Parlament sei der Schauplatz eines Umschaltprozesses, durch den die Vielheit der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und konfessionellen Gegensätze, Interessen und Meinungen sich in die Einheit des politischen Willens verwandele. 251 Um diesen Prozeß nicht zu gefährden, müssen Parteien soziologisch wenig feste, wenig formierte, flüssige oder sogar luftige Gebilde sein, die - wie von der Weimarer Verfassung geschehen - sogar als nichtexistent behandelt werden dürfen. 252 Keinesfalls seien sie die feste Organisation interessen- oder gar klassenmäßig gebundener Massen.253 Der Gegensatz der Parteien dürfe außerdem nicht absolut sein, sie dürfen einander nicht vernichten oder beseitigen, sondern nach den Regeln eines fairen und loyalen Wechselspiels verständige Kompromisse erzielen wollen. 254 dd) Die Homogenität als Voraussetzung der parlamentarischen Demokratie Nach Carl Schmitt ist die in einer parlamentarischen Demokratie übliche Methode der Willensbildung durch einfache Mehrheitsfeststellung nur sinnvoll und erträglich, wenn eine substantielle Gleichartigkeit des ganzen Volkes vorausgesetzt werden könne. 255 Jede Demokratie beruhe auf der Voraussetzung des unteilbar gleichartigen, ganzen, einheitlichen Volkes. 256 Zur Demokratie gehöre 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256
C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Hüter, S. 87. C. Schmitt, Hüter, S. 87 f. C. Schmitt, Hüter, S. 83. C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Legalität, S. 284. C. Schmitt, Legalität, S. 284.
S. 257. S. 257. S. 239. S. 257.
S. 326. S. 326.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
243
deshalb erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen 257. Andernfalls führe die rein arithmetische Mehrheitsfeststellung zur Vergewaltigung der überstimmten und damit unterdrückten Minderheit. 258 Auf das Verfahren der Mehrheitsfeststellung lasse man sich in einer Demokratie nicht deshalb ein, weil man aus Relativismus oder Agnostizismus darauf verzichten wolle, das Wahre und Richtige zu finden. Vielmehr setze man voraus, daß kraft der gleichen Zugehörigkeit zum gleichen Volk alle im Wesentlichen das Gleiche wollen. 259 Bei substantieller Gleichartigkeit des ganzen Volkes liege nämlich keine Überstimmung der Minderheit vor; vielmehr lasse die Abstimmung die latent vorhandene und vorausgesetzte Übereinstimmung und Einmütigkeit zutage trete. 260 b) Carl Schmitts Darstellung der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik aa) Das Parlament Carl Schmitt zufolge repräsentierte das Parlament der Weimarer Republik nicht mehr die politische Einheit. Vielmehr sei es mehr und mehr zu einem Exponenten der Interessen und Stimmungen von Wählermassen geworden. 261 Auch der einzelne Abgeordnete sei nicht mehr unabhängiger Repräsentant, sondern abhängiger Agent von Wähler- und Interessenorganisationen. 262 Sein Standpunkt stehe parteimäßig fest, der Fraktionszwang gehöre zur Praxis des heutigen Parlamentarismus. 263 An die Stelle der Diskussion seien Verhandlungen getreten, bei denen es nicht darauf ankomme, die rationale Richtigkeit zu finden, sondern Interessen und Gewinnchancen zu berechnen und durchzusetzen und das eigene Interesse nach Möglichkeit zur Geltung zu bringen. 264 Das Parlament sei nicht mehr der Ort gegenseitiger rationaler Überredung. Es bestehe nicht mehr die Möglichkeit, daß ein Teil der Abgeordneten den anderen durch Argumente über-
257 258 259 260 261 262 263 264 1*
C. Schmitt, Lage, S. 14. C. Schmitt, Legalität, S. 284. C. Schmitt, Legalität, S. 284. C. Schmitt, Legalität, S. 284. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 314. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 217. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 319. C. Schmitt, Lage, S. 10.
244
D. Die Rolle der Wissenschaft
zeuge.265 Vielmehr treten die Fraktionen einander mit einer nach ihrer Mandatsziffer genau berechneten Stärke gegenüber, ohne Bereitschaft, ihre interessenoder klassenmäßigen Festlegungen durch die öffentliche parlamentarische Diskussion zu verändern. 266 Das Parlament als Schauplatz einer einheitsbildenden, freien Verhandlung freier Volksvertreter, als Transformator parteiischer Interessen in einen überparteiischen Willen, werde so zu einem Schauplatz pluralistischer Aufteilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte. 267 An die Stelle von Argumenten seien Appelle an nächstliegende Interessen und Leidenschaften der Massen durch Propaganda-Apparate getreten. 268 Neben der Diskussion entfalle auch die Öffentlichkeit. Die Entscheidungen kommen nicht mehr durch öffentliche Diskussionen in einer öffentlichen Vollversammlung zustande.269 Engere und engste Komitees von Parteien, Parteikoalitionen oder großkapitalistischen Interessenverbänden, also nicht einmal die Ausschüsse des Parlaments selbst,270 beschließen hinter verschlossenen Türen. 271 Die wesentlichen Entscheidungen werden damit außerhalb des Parlaments getroffen. 272 Das Plenum des Parlaments werde dadurch seinem Zweck entfremdet und notwendig zu einer Fassade gemacht.273 Insgesamt seien Diskussion und Öffentlichkeit durch die Wirklichkeit des parlamentarischen Betriebs zu leeren und nichtigen Formalitäten geworden. Das Parlament habe dadurch seine Grundlage und seinen Sinn verloren. 274 bb) Die Wahl Nach Carl Schmitt hatte sich auch der aristokratische Charakter der Wahl geändert. Das Verhältniswahlsystem mit seinem Listensystem führe dazu, daß die Masse der Wahlberechtigten überhaupt nicht mehr einen Abgeordneten wähle. 275 Vielmehr werde aus dem Dunkel geheimer Beratungen unkontrollierter Komitees eine Pluralität von Parteilisten mit einer langen Reihe von Namen
265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275
C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Hüter, S. 89. C. Schmitt, Lage, S. 11. C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Lage, S. 62. C. Schmitt, Verfassungslehre, C. Schmitt, Lage, S. 62. C. Schmitt, Lage, S. 63. C. Schmitt, Hüter, S. 86.
S. 319. S. 319.
S. 319. S. 319. S. 319.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
245
den Wählermassen vorgelegt. 276 Nicht der einzelne Wähler bestimme unmittelbar den einzelnen Abgeordneten; der Wahlakt reduziere sich auf eine statistische Gruppierung und Aufteilung der Wählermassen nach einer Mehrzahl von Parteilisten. 277 Dieser Vorgang bedeute bei den Wählern, die sozial gebundene Mitglieder oder Anhänger fester Parteiorganisationen seien, nichts als einen Appell der stehenden Parteiheere. 278 Der Abgeordnete werde nicht vom Volk gewählt, sondern von der Partei ernannt. 279 Anstelle einer Wahl habe das Volk nur eine Option auf Parteilisten, die auf höchst geheime, okkulte Weise entstanden und von Organisationen diktiert seien.280 Hinzu komme, daß die Option zwischen Organisationen bestehe, die untereinander völlig unvereinbar seien, die jede für sich ein in sich geschlossenes und totales System mit entgegengesetzten Weltanschauungen, Staatsformen und Wirtschaftssystemen aufweisen.281 Das Ergebnis dieser Prozedur sei deshalb auch nicht eine handlungs- und aktionsfähige Mehrheit. Vielmehr führe die Wahl zu verschiedenen Volksteilen mit verschiedenen politischen Systemen und Organisationen, die sich in ihrem feindlichen Nebeneinander zu besiegen und zu betrügen suchen.282 Vor diesem Hintergrund sei es wenig verwunderlich, daß die Politik nicht mehr die Angelegenheit einer Elite, sondern das ziemlich verachtete Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden sei. 283 cc) Die Parteien Auch die Parteien haben Carl Schmitt zufolge in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik einen Wandel erfahren. Sie seien nicht mehr liberale Meinungsparteien im Sinne von fluktuierenden Parteiungen im Bereich der diskutierenden öffentlichen Meinung, sondern feste, durchorganisierte Gebilde geworden. 284 Sie verfügen über einflußreiche Bürokratien mit einem stehenden Heer bezahlter Funktionäre und einem ganzen System von Hilfs- und Stützorganisationen.285 Ihr Ziel sei es, sich auf alle Gebiete des menschlichen Daseins auszudehnen und damit die liberalen Trennungen und Neutralisierungen ver276 277 278 279 280 281 282 283 284 285
C. Schmitt, Hüter, S. 86. C. Schmitt, Hüter, S. 87. C. Schmitt, Hüter, S. 87. C. Schmitt, Weiterentwicklung, C. Schmitt, Weiterentwicklung, C. Schmitt, Weiterentwicklung, C. Schmitt, Weiterentwicklung, C. Schmitt, Lage, S. 8. C. Schmitt, Hüter, S. 83. C. Schmitt, Hüter, S. 83.
S. 188. S. 188. S. 189. S. 189.
246
D. Die Rolle der Wissenschaft
schiedener Gebiete wie Religion, Wirtschaft und Bildung aufzuheben. 286 Das Ergebnis sei ein zur Totalität strebendes, ihre Mannschaft von Jugend erfassendes, soziales Parteigebilde. 287 Über Gesangverein und Sportclub bis zum bewaffneten Selbstschutz versuchen die Parteien, die Totalität in sich selbst und für sich selbst zu verwirklichen. 288 Partei, Verbindung und Orden werden damit gleich. 289 dd) Heterogenität und Pluralismus Die dargestellten Entwicklungen fuhren Carl Schmitt zufolge zu einer Verhinderung des Aufstiegs des egoistischen Parteiwillens zu einem verantwortlichen Staatswillen.290 Die Bildimg des staatlichen Willens sei auf die labile, von Fall zu Fall wechselnde Parlamentsmehrheit zahlreicher, in jeder Hinsicht heterogener Parteien angewiesen.291 Anstelle eines staatlichen Willens komme nur eine nach allen Seiten schielende Addierung von Augenblicks- und Sonderinteressen zustande.292 Die Folge seien unberechenbare Mehrheiten, regierungsunfähige Regierungen, ununterbrochene Kompromisse auf Kosten des staatlichen Ganzen, bei denen jede beteiligte Partei sich ihre Mitwirkung bezahlen lasse und schließlich die Verteilung der staatlichen, der kommunalen und anderer öffentlicher Stellen und Pfründe unter die Parteigänger nach irgendeinem Schlüssel der Fraktionsstärke oder der taktischen Situation. 293 Im pluralistischen Parteienstaat stehen sich Machtklumpen 294 gegenüber, die versuchen, die Legalität des jeweiligen Machtbesitzes, vor allem dessen politische Prämissen und Mehrwerte, nach Kräften auszunutzen.295 Legalität und Legitimität werden zu taktischen Instrumenten, derer man sich bediene, soweit es vorteilhaft sei und die einer dem anderen fortwährend aus der Hand zu schlagen suche.296 Eine solche Herabwürdigung zum technisch-funktionalistischen
286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296
C. Schmitt, Hüter, S. 83. C. Schmitt, Hüter, S. 83 f. C. Schmitt, Hüter, S. 84. C. Schmitt, Hüter, S. 85. C. Schmitt, Hüter, S. 88. C. Schmitt, Hüter, S. 88. C. Schmitt, Hüter, S. 88. C. Schmitt, Hüter, S. 88. C. Schmitt, Legalität, S. 343. C. Schmitt, Legalität, S. 339. C. Schmitt, Legalität, S. 343.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
247
Werkzeug könne aber kein Rechtfertigungssystem überdauern. 297 In einer solchen Situation werde die Verfassung selbst zerrieben. 298 c) Der Hüter der Verfassung als Ausweg aus der Krise Zur Rettung der Verfassung und zur Lösung der Schwierigkeiten, die durch das Wirken der pluralistischen Kräfte hervorgerufen werden, schlägt Carl Schmitt einen Hüter der Verfassung vor. Es bedürfe einer stabilen Autorität, um die totale Politisierung des gesamten menschlichen Daseins zu überwinden und damit wieder freie Sphären und Lebensgebiete zu gewinnen. 299 Der Hüter der Verfassung müsse ein neutraler Dritter sein, der neben die anderen Gewalten zu stellen und durch spezifische Befugnisse mit ihnen zu verbinden und auszubalancieren sei. 300 Eine solche Funktion könne sowohl der konstitutionelle Monarch als auch der republikanische Staatspräsident wahrnehmen. 301 Carl Schmitt fordert für einen solchen pouvoir neutre folgende Mittel und Einwirkungsmöglichkeiten: Unverletztlichkeit oder wenigstens privilegierte Stellung, Ausfertigung und Verkündung der Gesetze, Begnadigungsrecht, Minister- und Beamtenernennung sowie Auflösung der gewählten Kammer. 302 Ein so ausgestattetes Staatshaupt könne die Kontinuität und Permanenz der staatlichen Einheit und ihres einheitlichen Funktionierens darstellen und jene Autorität ver-
297
C. Schmitt, Legalität, S. 343. C. Schmitt, Hüter, S.91. 299 C. Schmitt, Legalität, S. 340. 300 C. Schmitt, Hüter, S. 132; Carl Schmitt stützt sich an dieser Stelle auf eine Lehre vom pouvoir neutre, intermédiaire und régulateur bei Benjamin Constant, der dem Leser als Kämpfer des französischen Bürgertums um eine liberale Verfassung gegen Bonapartismus und monarchische Restauration vorgestellt wird. Bei Hans Kelsen, Justiz VI (1930/31), S. 581, Fn. 1, ist dagegen folgendes zu lesen: "B. Constant, ursprünglich gemäßigter Republikaner, wird nach der Revolution Monarchist, tritt nach dem Sturz Napoleons in dem Buche 'De l'esprit de la conquete et de l'usurpation" für die legitimen Dynastien ein. Mit dieser Schrift wird er zum Mitbegründer auch der Legitimitätsideologie. Nichtsdestoweniger beteiligt er sich an dem Versuch, Bernadotte auf den Thron zu bringen. Da dies mißlingt, schlägt er sich auf die Seite der Bourbonen. Gegen den von Elba zurückkehrenden Napoleon schreibt er im 'Journal des Débats', er sei ein Attila und Dschingis-Chan. Aber nach einigen Wochen ist er Mitglied des Staatsrats und schreibt im Auftrage Napoleons die Zusatzakte zu den Konstitutionen des Kaiserreichs. Nach der zweiten Restauration ist Constant wiederum Anhänger der Charte und der Bourbonen. So sagt er z. B. 1820 in der Deputiertenkammer: 'Les Bourbons avec la charte sont un immense avantage, parce que c'est un immense avantage qu'une famille antique sur un trône incontesté.' Nach der Vertreibung Karls X. begegnen wir ihm wieder als einem eifrigen Verteidiger der Legitimität Louis Philippes." 301 C. Schmitt, Hüter, S. 133 f. 302 C. Schmitt, Hüter, S. 134. 298
248
D. Die Rolle der Wissenschaft
körpern, die ebensogut zum Leben eines Staates gehöre wie die täglich aktiv werdende Macht- und Befehlsgewalt. 303 A u f der Grundlage dieser Lehre von einer neutralen, vermittelnden, regulierenden und bewahrenden Gewalt lasse sich auch die Stellung des Reichspräsidenten der Weimarer Reichsverfassung bestimmen.304 Er stehe im Mittelpunkt eines ganzen, auf plebiszitärer Grundlage aufgebauten Systems von parteipolitischer Neutralität und Unabhängigkeit.305 A u f ihn sei die Staatsordnimg in dem Maße angewiesen, in dem der Pluralismus ein normales Funktionieren des Staates erschwere oder unmöglich mache.306 Er bilde ein Gegengewicht gegen den Pluralismus sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen und wahre die Einheit des Volkes als eines politischen Ganzen.307 d) Carl Schmitt: Der Panegyriker
des Staates
"Ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, die Verfassung anzutasten. Im Gegenteil, ich stand konsequent auf dem Boden der Verfassung und kämpfte gegen ihre Verfälschung. ... In meinem ganzen Leben bin ich immer vom Bestehenden ausgegangen. Ich bin Berufsjurist, nicht Berufsrevolutionär." 308 In diesem, von ihm selbst vorgegebenen Rahmen bewegen sich in jüngerer Zeit wieder zunehmend die Bewertungen der Schriften Carl Schmitts. So wird sein Bemühen unterstrichen, dem Regierungssystem der Weimarer Republik zur Funktionsfähigkeit zu verhelfen. 309 Seine Kritik habe nicht der Weimarer Republik und ihrer Verfassung gegolten, sondern sei zulässige Verfassungsinterpretation 310 zur Verteidigung der Verfassung gegen die Verfassungswirklichkeit gewesen.311 Diese Kritik - in erster Linie am Parteienstaat 312 - dürfe nicht verwechselt werden mit einer prinzipiellen Republikfeindschaft. 313 Insbe303
C. Schmitt, Hüter, S. 136. C. Schmitt, Hüter, S. 137. 305 C. Schmitt, Hüter, S. 158. 306 C. Schmitt, Hüter, S. 158. 307 C. Schmitt, Hüter, S. 159. 308 Gespräch mit K. F. Fritzsche, wiedergegeben in: K. F. Fritzsche, Romantik, S. 396, Fn. 34. 309 R. Mußgnug, Carl Schmitt, S. 525. 310 E. Kennedy, Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S. 413. 311 R. Altmann/J. Gross, Beilage FAZ v. 4. Oktober 1986. 312 R. Altmann/J. Gross, Beilage FAZ v. 4. Oktober 1986. 313 H. Quaritsch, Positionen, S. 67. 304
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
249
sondere die Verfassungslehre enthalte keine Opposition zur Weimarer Republik. 3 1 4 Vielmehr habe Carl Schmitt, als Vernunftrepublikaner wie Max Weber und Friedrich Meinecke, 315 die Weimarer Republik in ihrem Kampf gegen die Kommunisten und Nationalsozialisten316 unterstützt und damit verteidigt. 317 In diesem Sinne wird auch seine publizistische Vorbereitung bzw. juristische Flankierung 318 der geplanten und zum Teil ausgeführten Staatsstreiche am Ende der Weimarer Republik interpretiert. Diese seien als gegen Hitler gerichtete Staatsnotstandspläne319 der letzte Versuch zur Rettung der Republik gewesen.320 Neben diesem Hervorheben der Verteidigung der Weimarer Republik und ihrer Verfassung wird immer wieder die Gegnerschaft Carl Schmitts gegenüber dem Nationalsozialismus betont. Keiner seiner Professorenkollegen habe so gegen die NSDAP gearbeitet wie Carl Schmitt, 321 der noch 1932 ein Verbot der NSDAP nahegelegt habe.322 Auch in den schwierigen Jahren nach 1933 323 habe er als Relikt der Weimarer Zeit die Nazis immer wieder gereizt, indem er allerdings schüchterner - wiederholte, was er bis dahin immer gelehrt habe. 324 Deshalb sei er von der SS als geistige Gefahr ersten Ranges eingestuft worden. 325 Selbst seine rastlose Propaganda für den NS-Staat326 in den Jahren 314
R. Altmann, Beilage FAZ v. 8. Juli 1978. J. W. Bendersky, Carl Schmitt, S. 58 u. S. 73. 316 E. Straub, Beilage FAZ v. 18. Juli 1981. 3,7 H. Quaritsch, Positionen, S. 45 und 50; G. Krauss, Criticón 1986, S. 181; J. W. Bendersky, Carl Schmitt, S. 137 f. und 150; G. Schwab, Challenge, S. 80 ff.; D. Haselbach, Wandlung, S. 125, qualifiziert Schwabs Versuch, Carl Schmitt als rastlosen Verteidiger der Weimarer Reichsverfassung darzustellen als präventive Entnazifizierung, siehe auch die dort angegebenen überaus interessanten Hinweise zur Publikationsgeschichte des Buches von Schwab. 318 So H. Quaritsch, Positionen, S. 43. 319 H. Quaritsch, Positionen, S. 43. 320 E. R. Huber, Carl Schmitt, S. 49. 321 H. Quaritsch, Positionen, S. 84 f. 322 G. Maschke, FAZ v. 11. April 1985, S. 25; G. Maschke wird uns von J. Habermas, Schrecken, S. 108, als enttäuschter Aktivist der späten sechziger Jahre vorgestellt, "der seine politische Libido von Fidel Castro abgezogen und auf Carl Schmitt verschoben hat." 323 A. Möhler, Criticón 98 (1986), S. 265. 324 E. Straub, Beilage FAZ v. 18. Juli 1981. 325 G. Maschke, FAZ v. 11. April 1985, S. 25; von einer intimen Feindschaft der SS gegenüber Carl Schmitt spricht auch W. Grewe, FAZ vom 23. Juli 1993. 326 So das Urteil von B. Rüthers, Recht, S. 145 über die rund 40 (vierzig !) einschlägigen Beiträge Carl Schmitts in der Zeit von Mai 1933 (Parteieintritt) bis Ende 1936 (Verlust der Parteiämter), in denen er sich zum Sprecher jener nationalsozialistischen Ideologie machte, die "den Juden zum Vernichter der arischen Rasse mythisierte", so J. Taubes, taz vom 20. Juli 1985, S. 10; auch E. W. Böckenförde, DÖV 1967, S. 688 (S. 689), sieht in diesen Arbeiten ein Mitgehen mit den neuen Machthabern; erinnert sei 315
250
D. Die Rolle der Wissenschaft
nach der Machtübergabe an die Nazis wird als Versuch interpretiert, Elemente der Rechtsstaatlichkeit in den Nationalsozialismus einzubauen.327 Diese Schriften seien weniger als Überzeugungstaten denn als Konvertiten-Bekenntnisse zu werten. 328 Richtig verstanden seien sie sogar nur Narrenjubel, NonsensProskynese 329 oder Ableistung professoralen Kriegsdienstes an der Heimatfront. 330 Die nach 1945 zum Teil sehr heftig geübte Kritik an Carl Schmitt könne deshalb nur der Mißgunst des Alltagsformats, 331 der Eitelkeiten und Konkurrenzen des akademischen Betriebes 332 entsprungen sein. Diese Kritik sei das Ergebnis des Giftes des Tarantelbisses der Aufklärung, 333 des Hasses auf den Zerstörer humanistischer Illusionen, der obendrein deren Aggressivität enthüllt habe.334 Verläßt man diesen von Carl Schmitt selbst vorgegebenen Interpretationsrahmen seiner Schriften so kann man feststellen, daß die Grundlage der Schmittschen Thesen die Vorstellung von einer besonderen Substanzhaftigkeit des Staates ist. Diese staatliche Substanz ist demokratisch nicht legitimierbar. 335 Vielmehr erscheint der Staat als vorgängige, als unteilbare, geschlossene und undurchdringliche Größe, 336 als unaufgelöster Kern von irrationaler Autorität, 337 hier an die unter dem Titel "Der Führer schützt das Recht" erschienene Rechtfertigung der Mordaktion vom 30. Juni bis 2. Juli 1934, an seine Kommentierung der Ausbürgerung einer Vielzahl Intellektueller und der Verbrennung ihrer Bücher: "Auf jene Intellektuellen aber wollen wir verzichten ... Aus Deutschland sind sie ausgespien für alle Zeiten.", Westdeutscher Beobachter v. 31. Mai 1933, S. 1 und an seine antisemitischen Ausfälle: "Der Jude hat zu unserer geistigen Arbeit eine parasitäre, eine taktische und händlerische Beziehung ... Mit großer Findigkeit und schneller Witterung weiß er das Rechte zu treffen.", DJZ 1936, Sp. 1193 ff.; es sind diese Sätze und die dort zum Ausdruck kommende "hemmungslose Anpassungssucht an die neuen Machthaber", so I. Müller, Juristen, S. 51, die zu den sehr drastischen Urteilen über Carl Schmitt geführt haben wie: "Zuhälter der Gewalt", C. v. Krockow, FAZ-Magazin v. 18. April 1986, S. 28; "Anwalt der Gewalt", N. Sombart, taz vom 16. September 1985; "diabolischer Dialektiker", K. A. Bettermann, NJW 1947/48, S. 217, Fn. 3; "charakterloseste und geistig unredlichste Vertreter des orientierungslosen deutschen Bürgertums der zwanziger Jahre", R. König, Soziologie, S. 113; "reaktionärer Imperialist", G. Lukäcs, Zerstörung, S. 106. 327 E. Straub, Beilage FAZ v. 18. Juli 1981. 328 H. Quaritsch, Positionen, S. 98. 329 H. Quaritsch, Positionen, S. 101. 330 H. Quaritsch, Positionen, S. 112. 331 F. K. Fromme, FAZ v. 11. Juli 1973, S. 2. 332 H. Quaritsch, Positionen, S. 88. 333 G. Maschke, Tod, S. 35. 334 G. Maschke, Tod, S. 11. 335 U. K. Preuß, Begriff, S. 100. 336 T. Vesting, Einheitsbildung, S. 45. 337 J. Habermas, Begriff, S. 40 f.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
251
auf den sich die parlamentarische Willensbildung zwar beziehen, den sie selbst aber nicht begründen kann. 338 Verkörpert wird der Staat durch die Exekutive, die, zwar nicht mehr monarchisch, trotzdem aber ein Moment von Feudalität als Obrigkeit bewahren soll. 339 Vor diesem Hintergrund erscheint Weimar, das die parlamentarische Demokratie gebracht hat, als die Verfallsperiode: die letzten Reste dieser staatlichen Substanz lösen sich auf in einer unpolitischen Selbstorganisation der Gesellschaft. 340 Das Anliegen von Carl Schmitt ist es, diese staatliche Substanz vor den über die Parteien im Parlament wirksam werdenden pluralistischen Kräften der Gesellschaft zu retten. 341 Besessen von der Gefahr eines Bürgerkriegs, 342 den nicht nur Carl Schmitt, sondern das verstörte Bürgertum insgesamt durch den Einbau zumindest der reformistischen Sozialdemokratie in ein pluralistisches System heraufziehen sahen,343 entscheidet sich Carl Schmitt für den starken und totalen Staat, der dem Pluralismus und der Einmischung der gesellschaftlichen Kräfte in die staatliche Sphäre ein Ende setzen wollte. 344 Diese Einmischung, die für Carl Schmitt bereits in der Entstehung des Konstitutionalismus im Wege der Parlamentarisierung zur Degradation des starken Deutschland geführt hatte,345 sollte dadurch beendet werden, daß die Exekutive gegen alle prozeduralen Formen der politischen Willensbildung abgeschottet wurde. 346 Sein Ziel ist es, den parlamentarischen Ausgleich durch die autoritäre Entscheidung zu ersetzen. 347 Vor diesem Hintergrund ist die Schmittsche Parlamentarismuskritik zu sehen, die keineswegs um der Wahrung der parlamentarischen Demokratie willen geschieht.348 Er will den Parlamentarismus nicht reformieren, sondern beseitigen,349 "den letzten Kern der Institution des modernen Parlaments ... treffen". 350 Carl Schmitt spitzt zu diesem Zweck jene Ideen, die den Parlamentarismus nach seiner Auffassung erklären, von denen allerdings Thoma sagt, sie seien gänzlich verschimmelt, 351 idealistisch derart zu, daß Ideal und Wirklichkeit unüberbrückbar auseinander338
B. Blanke, Theorien, S. 158. J. Habermas, Begriff, S. 40; nach N. Sombart, Männer, S. 155, war für Carl Schmitt die absolute Monarchie das Modell des idealen Staates. 340 J. Habermas, Schrecken, S. 107. 341 H. Kelsen, Hüter, S. 625. 342 T. Schiller, Faszination, S. 148. 343 1. Maus, KJ 1969, S. 115. 344 D. Haselbach, Wandlung, S. 132. 345 G. Lukäcs, Zerstörung, S. 107. 346 T. Vesting, Einheitsbildung, S. 53. 347 C. v. Krockow, Entscheidung, S. 64. 348 K. Hansen, Feindberührung, S. 11; R. Reifenrath, FR v. 11. April 1985, S. 18. 349 P. Noack, Carl Schmitt, S. 79. 350 C. Schmitt, Lage, S. 30. 351 R. Thoma, ASwSp 53 (1925), S. 212 (S. 214). 339
252
D. Die Rolle der Wissenschaft
klaffen. 352 Seine ganze Analyse des Parlamentarismus, eine von Polemik und Abneigung gezeichnete Karikatur, 353 hat den Zweck, die Unmöglichkeit des Weimarer Regierungssystems nachzuweisen,354 um anschließend dieses System - als phantastischer Unsinn entlarvt 355 - leichten Herzens 356 zum Kehricht werfen zu können. 357 Auch seine Pluralismus- und Parteienkritik ist vor dem Hintergrund seiner tiefen Abneigung gegen das Weimarer Regierungssystem zu sehen. Sein Ziel ist es auch hier, die bedrohte Einheit des Staates vor Pluralismus und Parteienstaat zu schützen.358 Bewußt übersehen wird dabei, daß es der Sinn eines parteimäßig ausgestalteten Verfahrens ist, die tatsächliche Interessenlage deutlich herauszustellen. 359 Die Schmittsche Kritik will gerade diesen gegebenen Gegensatz der Interessen verhüllen, indem sie auf die Fiktion eines Gesamtinteresses, einer Interesseneinheit oder einer Einheit des Staatswillens abstellt. 360 Das so ausgebildete Allgemeininteresse wird mit dem Interesse des Bürgertums identifiziert 361 und auf diese Weise die Dominanz der bürgerlichen Interessen sichergestellt. 362 Gerechtfertigt wird eine inhaltlich bestimmte, an den Interessen des Bürgertums orientierte Gestaltung der staatlichen Ordnung. 363 Zum Wiederhersteller der staatlichen Einheit, zum Hüter der Verfassung wird der Reichspräsident erklärt. Er erscheint als die einzige Alternative, die pluralistischen Zersplitterungen zu beenden und damit den drohenden Bürgerkrieg aufzuhalten. 364 Nur der Reichspräsident - und nicht das Parlament als Schauplatz der Interessengegensätze - ist in der Lage, den "wahren" Staatswillen zu erzeugen. 365 Das Staatsoberhaupt wird stilisiert zum Mann des ganzen 352
J. Habermas, Schrecken, S. 112; von dem Messen an einem Ideal, das historisch bereits überwunden ist, spricht auch J. Fijalkowski, Wendung, S. 64. 353 So R. Reifenrath, FR v. 11. April 1985, S. 18. 354 G. Lukäcs, Zerstörung, S. 104. 355 B. Rüthers, Recht, S. 104. 356 K. Sontheimer, Zeit v. 19. April 1985, S. 7. 357 H. Ridder, Ex oblivione malum, S. 318. 358 B. Blanke, Theorien, S. 156. 359 So bereits H. Kelsen, Hüter, S. 601, in seiner Replik auf Carl Schmitts "Hüter der Verfassung". 360 H. Kelsen, Hüter, S.601. 361 J. Habermas, Begriff, S. 18; U. K. Preuß, Verantwortung, S. 255 f. 362 H. Lietzmann, Vater, S. 108 f. 363 H. Kelsen, Hüter, S.601. 364 R. Saage, Begriff, S. 172. 365 H. Kelsen, Hüter, S. 614.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
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Volkes, zur Verkörperung des 'Volonté générale" im Sinne Rousseaus,366 der über den Gegensätzen und Interessen der Gesellschaft steht.367 Es geht um die Installierung einer Dezisionsinstanz, die außerhalb geregelter Zugangsmöglichkeiten und organisierter Machtverteilungskämpfe steht und die an die Stelle der parlamentarischen Souveränität die eigene setzt.368 Damit ist aber auch die Substanz der Weimarer Reichsverfassung preisgegeben und in eine Präsidialdiktatur uminterpretiert. 369 Besonders Schmitts Arbeiten von 1930 bis 1933 lassen sich als Plädoyer für die Installierung der Präsidialkabinette interpretieren. 370 Carl Schmitt gehört damit nicht zu den Verteidigern der Weimarer Reichsverfassung, sondern vielmehr in die Reihe derer, die die Weimarer Republik und ihr Regierungssystem ablehnen.371 Seine Position folgt einer antidemokratischen Logik 3 7 2 mit dem Ziel, eine autoritäre bürgerliche Herrschaft ohne legitimierendes politisches Subjekt zu installieren. 373 Sein Kampf gegen Parlamentarismus, Parteien und Pluralismus ist eine leidenschaftliche Parteinahme für den autoritären Staat,374 für ein offen autoritäres Integrationsmodell. 375 Bereits Kelsen hat darauf hingewiesen, daß die These Carl Schmitts vom Reichspräsidenten als dem Hüter der Verfassung an die Auffassungen der Vertreter des konstitutionellen Systems angelehnt ist. Diese sahen im Monarchen den Hüter der Verfassung, allerdings nicht, um die Verfassung zu "hüten", sondern um ihre wirksame Garantie zu verhindern und eine Verletzung der Verfassung seitens des Monarchen zu ermöglichen. 376 Indem Carl Schmitt die 366
H. A. Winkler, Weimar, S. 302. T. Vesting, Einheitsbildung, S. 53. 368 H. Lietzmann, Vater, S. 110. 369 1. Maus, KJ 1969, S. 113. 370 V. Neumann, KJ 1981, S. 243. 371 R. Reifenrath, FR vom 11. April 1985, S. 18; A. Schüle, JZ 1959, S. 730; H. Schulze, Otto Braun, S. 761, spricht davon, daß das Auftreten Carl Schmitts vor dem Staatsgerichtshof anläßlich des Staatsstreiches des Reiches gegen Preußen 1932 wie eine formell Kampfansage an die Weimarer Republik wirkte; H. Ridder, Ex oblivione malum, S. 311; B. Rüthers, Recht, S. 104; K. Sontheimer, Zeit vom 19. April 1985, S. 7; T. Vesting, Einheitsbildung, S. 53 f.; G. Lukâcs, Zerstörung, S. 103; J. Fijalkowski, Wendung, S. 135; N. Sombart, Männer, S. 277 f.; R. Mehring, Carl Schmitt, S. 86 ff. 372 B. Blanke, Theorien, S. 149. 373 H. Lietzmann, Carl Schmitt, S. 163. 374 B. Rüthers, Recht, S. S. 160; R. Reifenrath, FR v. 11. April 1985, S. 18; W. Mantl, Kelsen, S. 187; in diesem Sinne auch T. Rasehorn, NG/FH 1986, S. 937, der meint, daß jedenfalls bei der Linken der Name Carl Schmitt bereits zu einer Chiffre für ein autoritäres, die demokratische Kultur verachtendes Staatsdenken geworden sei. 375 R. Saage, Begriff, S. 168 f. 376 H. Kelsen, Hüter, S. 577. 367
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ideologische These vom Staatsoberhaupt als pouvoir neutre 377 erneuert, das älteste Versatzstück aus der Rumpelkammer des konstitutionellen Theaters, 378 zeigt sich seine Verwandtschaft mit den Ideologen des Bismarckschen und wilhelminischen Reiches.379 Der letzte Bismarckianer 380 und Theoretiker der Gegenrevolution 381 bleibt in seiner Konzeption dem Staatsbegriff des 19. Jahrhunderts verpflichtet. 382 Orientiert an den "Ideen von 1914" 383 war die Einführung einer Liberaldemokratie nach westlichem Vorbild für ihn nicht nur eine tatsächliche, sondern, schlimmer noch, eine geistige Unterwerfung unter den Feind. 384 Folgerichtig verachtet Carl Schmitt in seinem rückwärtsgewandten Radikalismus385 die westlichen Werte der Weimarer Republik 386 wie Individualismus, Liberalismus, Pluralismus und Parlamentarismus, kann sie nur als ebenso gefährliche wie widerwärtige westlich-demokratische Verfallserscheinung begreifen. 387 Eine Republikfeindschaft ist aber nicht nur bei Carl Schmitt nachweisbar, sondern auch ablesbar an zahlreichen Äußerungen vieler deutscher Professoren und Intellektueller. Verachtet und bekämpft wurde vor allem die durch die Verfassung eingeführte liberale Demokratie sowie der Parlamentarismus und der damit verbundene Einfluß der Parteien auf die staatliche Willensbildung. 4. Die Verachtung der liberalen Demokratie "Am Liberalismus gehen die Völker zu Grunde." Mit diesen Worten beginnt Moeller van den Bruck das Kapitel über Liberalismus in seinem überaus einflußreichen Buch "Das Dritte Reich", das in seiner ersten Auflage bereits 1923 erschien. 388 Liberale Politiker werden darin als üble und prinzipienlose Geschäftemacher charakterisiert, die sich nur deshalb auf die Freiheit berufen, um damit ihre handfesten persönlichen Interessen zu verdecken. Die politische 377
H. Kelsen, Hüter, S. 582; W. Mantl, Kelsen, S. 197. H. Kelsen, Hüter, S. 579. 379 G. Lukäcs, Zerstörung, S. 105; ähnlich U. K. Preuß, taz vom 12. Juli 1983, S. 9. 380 So nennt ihn N. Sombart, Carl Schmitt, S. 20, dies erläuternd in: N. Sombart, Männer, S. 167 ff. 381 J. Seifert, KJ 1985, S. 193. 382 T. Vesting, Einheitsbildung, S. 44. 383 T. Vesting, Einheitsbildung, S. 56; S. Breuer, Unrechtsstaat, S. 71. 384 G. Maschke, Motive, S. 69. 385 B. Tucker, Ausnahmezustand, S. 101. 386 P. Merseburger, Carl Schmitt, S. 570. 387 B. Rüthers, Recht, S. 108. 388 A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 79. 378
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
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Freiheit, so Moeller, sei auch in liberalen Ländern nicht dem Volke vorbehalten, sondern einer gewissen Gesellschaft, die die Freiheit als Spielraum für ihre Machenschaften nutze. 389 Liberalismus ist deshalb für ihn eine politische Versippung "von kleinen Menschen, die unter Vorbehalt klug, mit Sicherheit niemals weise, aber geschäftig und überaus geschäftstüchtig sind." 390 Als Partei der Emporkömmlinge 391 schalte er das Volk aus.392 Die Folge sei, daß der Liberalismus als Ausdruck der minderwertigen Bestandteile des Volkes "den höherwertigen Menschen verfehlt, der die Werte, die er schafft, ursprünglich aus dem Volk empfängt und sie dem Volke gestaltet zurückgibt, so daß das Volk ihn nicht als seinen Gegensatz empfindet, der sich hier von ihm absondert, sondern als ein Beispiel, das es sich selbst gibt." 393 Moeller kommt deshalb zu dem Schluß, daß der Liberalismus Kulturen untergräbt. "Er hat Religionen vernichtet. Er hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösimg der Menschheit." 394 Moeller trifft mit dieser Kritik eine weit verbreitete Auffassung auch unter deutschen Professoren, die den Liberalismus regelmäßig mit Materialismus und Utilitarismus gleichsetzen. Immer wieder wird dem Liberalismus vorgeworfen, daß er allein die materiellen Interessen zur Vorherrschaft bringe und die Freude an der Arbeit im Hasten nach Gewinn und im Klassenkampf ertöte. 395 Er führe dazu, daß das "Zerstörende und Zerschwätzende, das Willkürliche und Formlose, das Nivellierende und Mechanisierende dieser maschinellen Zeit, die methodische Zersetzung alles Gesunden und Edlen, die Verhöhnung alles Starken und Ernsten, die Entwürdigung alles Göttlichen ..." die Deutschen bedränge. 396 Schon bald glaubte man deshalb feststellen zu können, daß sich der Liberalismus zu Tode gelaufen habe und abgelöst werden müsse.397 Insbesondere die Jugend wittere heraus, daß "es ein Betrug war, der uns die Freiheit, die uns der Westen versprach, nicht gebracht, sondern genommen hat." 398
389 390 391 392 393 394 395 396 397 398
A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 80. A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 94. A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 98. A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 97. A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 97 f. A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 100. Max Sering, Friedensdiktat, S. 45 f. K. A. v. Müller, Geschichte, S. 26. Edgar J. Jung, Herrschaft, S. 140. A. Moeller van den Bruck, Reich, S. 124.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
Kennzeichnend für das Denken der deutschen Professoren und Intellektuellen jener Zeit war, daß sie eine Verbindung herstellten zwischen Handel und Handelsgeist, zwischen den für die Produktion immer wichtiger werdenden Maschinen und maschinellen Auffassungen sowie zwischen der neuen, liberalen Wirtschaftsordnung und dem Rationalismus und Utilitarismus. Diese Einstellung erlaubte es ihnen, alles Beunruhigende an ihrer modernen Umwelt sowohl auf die materalistischen oder utilitaristischen Theoretiker als auch auf die Fabriken, aber auch auf die parlamentarische Demokratie zurückzuführen. 399 "Wer Individualist ist, Mechanisierung und Gleichheit wirklich will, kann Demokrat sein, wer aber den Kulturstaat will, wer etwas Geistiges vom Staat verlangt, kann nicht mehr Demokrat sein. Es kann ihm nicht mehr gleichgültig sein, ob die Masse ihre Stimme erhebt oder nicht, der kann die gleiche Abstimmung aller nicht wollen. ... Die Mehrheit in den Sattel setzen, heißt das Niedere herrschend machen über das Höhere. Demokratie heißt also: Mechanisierung der Organisation unseres Lebens (des Staates) und Ausschaltung jedes Wertgrundsatzes aus dem Baugesetz dieser Organisation durch Abstimmung, durch Herrschaft der Mehrheit." 400 Als besonders kritikwürdiger Ausdruck der beklagten Mechanisierung erschien ihnen das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Verbunden mit dem Verhältniswahlsystem führe der Wahlakt lediglich zur Offenbarung der zahlenmäßigen Stärke der im Volke vorhandenen Gegensätze. In Wahrheit finde keine wirkliche Wahl mehr statt, sondern eine Heerschau, eine Bestandsaufnahme der in Parteien zusammengefaßten Aktivbürgerschaft. 401 "Spätere, gläubigere und realistischere Zeiten werden einmal über den Aberglauben eines Jahrhunderts lächeln, welches der Annahme huldigte, der Wille eines Volkes lasse sich durch die Abgabe von 40 Millionen Stimmzetteln errechnen, werden mit Hohn einer Epoche gedenken, in der diese 40 Millionen Stimmen gleich gewertet wurden." 402 Die Folge dieses Wahlrechts sei eine "Herrschaft der Minderwertigen", 403 die Herrschaft eines Mengenbegriffs, der ungeachtet aller Qualität die Macht im Staate entweder auf Grund der Wähler- oder der Besitzmenge verteile. 404 Da es mindestens zweifelhaft sei, "ob die Masse der Bevölkerung imstande ist, auch nur Wahlen so vorzunehmen, wie es den Belangen des Staates entspricht" 405 werde dieser "eine Beute der Demagogen und Schwätzer, durchtränkt ... mit der Niedrigkeit ge-
399 400 401 402 403 404 405
F. K. Ringer, Gelehrten, S. 203. O. Spann, Staat, S. 118, 110. G. Leibholz, WDStRL 7 (1932), S. 170. Edgar J. Jung, Staatskrise, S. 118. So der Titel eines Buches von Edgar J. Jung. A. Winnig, Reich, S. 55. A. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Weimarer Verfassung, S. 77.
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meiner Triebe, mit dem Gift der Neidischen, der Ausgestoßenen, der Enterbten." 406 Der westlichen Vorstellung vom "demokratischen Polizeistaat" stellte man, wie bereits in den "Ideen von 1914", die echte oder germanische Demokratie gegenüber. In ihr habe das Volk einen Anspruch, gut regiert zu werden, jedoch ohne daß auf Selbstbetrug beruhende Recht auf Selbstregierung. 407 Das Wesen dieser Demokratie bestehe darin, daß das Volk als politische Ganzheit in Erscheinung trete. Der wirkliche Wille des Volkes spreche sich dann aus in einer einfachen Akklamation oder in dem "selbstverständlichen und unwidersprochenen Dasein einer aktiven politischen Führung und Gestaltung." Möglich sei eine solche echte Demokratie nur unter Gleichen. Allerdings höre sie nicht auf, eine Demokratie zu sein, "wenn sie die im Staate lebenden Ungleichen beherrscht und unter ein minderes Recht stellt. Darum kann auch eine Diktatur als vorübergehende Notwendigkeit demokratisch sein, wenn sie zwar nicht dem Willen der Gesamtsumme von Privatleuten, aber der Staatsnotwendigkeit und damit dem Willen der Volkheit entspricht." 408 In der angestrebten, spezifisch deutschen Demokratie sollte dann auch nicht das Volk herrschen, sondern der echte Staatsmann als "Gärtner seines Volkes". 409
5. Der Haß gegen den Parlamentarismus und die Parteien Neben die Verachtung der liberalen Demokratie trat der blanke Haß gegen ihre Institutionen. Besonders betroffen waren das von der Weimarer Verfassung mit dem Recht der Regierungsbildung ausgestattete Parlament und die in Deutschland bis heute wenig populären politischen Parteien. "Wir sehen unbehilfliche, vielhundertköpfige, arbeitsunfähige Körperschaften, die sich in Rüpelszenen vor der Nation gefallen." 410 Dem westlerischen Parteienparlamentarismus wurde außerdem Korruption und Dilettantismus vorgeworfen. 411 Die Abgeordneten verspottete man als Stimmvieh 412 und das Parlament als Spitzenorganisation der Biertische rings im Land, 413 das allezeit im Fraktions-
406 407 408 409 410 411 412 413
K. A. v. Müller, Randglossen, S. 161. Edgar J. Jung, Herrschaft, S. 336. G. Günther, Reich, S. 117. O. Spengler, Untergang, S. 552. F. G. Jünger, Einleitung zu E. Schultz, Gesicht, S. 19. Edgar J. Jung, Herrschaft, S. 110 ff. O. Spengler, Preußentum, S. 60. O. Spengler, Neubau, S. 190.
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D. Die Rolle der Wissenschaft
krakeel schwelge und im Interessenkampf aufgehe. 414 "So ist der deutsche Parlamentarismus: Seit fünf Jahren keine Tat, kein Entschluß, kein Gedanke, nicht einmal eine Haltung, aber inzwischen bekamen diese Proletarier Landsitze und reiche Schwiegersöhne, und bürgerliche Hungerleider mit geschäftlicher Begabung wurden plötzlich stumm, wenn im Fraktionszimmer hinter einem eben bekämpften Gesetzantrag der Schatten eines Konzerns sichtbar wurde." 415 Hintergrund dieser scharfen Kritik war die Parlamentarisierung der Reichsregierung. A u f Grund der Einführung des parlamentarischen Prinzips erhielten grundsätzlich alle im Reichstag vertretenen gesellschaftlichen Interessen die Möglichkeit, sich an der Regierung zu beteiligen. Dadurch blieben selbst höchste Regierungsämter nicht mehr wie im Kaiserreich einer kleinen Oberschicht vorbehalten, sondern standen nun neben liberalen Politikern sogar den ehemaligen "Reichsfeinden", dem Zentrum und der Sozialdemokratie, offen. Um diese im Grunde als illegitim empfundene Beteiligung dieser Gruppen an den Staatsgeschäften zu bekämpfen, wurde man nicht müde, Dilettantismus als unvermeidbare Begleiterscheinung des Parlamentarismus zu beklagen. "Der zum Minister emporgestiegene Parteiführer ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Dilettant und beim besten Willen nicht imstande, sein Ressort sachgemäß zu leiten. Das ist schon jetzt in Erscheinung getreten und wird es in noch höherem Grade, wenn erst die Beamtenschaft so politisiert sein wird, wie das die Parteien anstreben." Schob man hier noch angeblichen Dilettantismus zur Begründung der Forderung nach möglichst vom Parlament unabhängigen sogenannten Fachministern vor, so wurden wenige Zeilen später die wirklichen Beweggründe der Kritik am parlamentarischen System sichtbar. "Unabhängig von allen diesen Erwägungen muß auch der schon früher hervorgehobene Umstand berücksichtigt werden, daß die in seiner Zerrissenheit begründete Schwäche des Reichstages dazu führt, daß Gewerkschaften und ähnliche Verbände oder gar die unorganisierte Masse bestimmenden Einfluß auf die Haltung des Ministeriums gewinnen." 416 Wie weit verbreitet gerade diese Kritik am parlamentarischen Regierungssystem war, zeigen die Ausführungen des sogenannten Vernunftrepublikaners Ernst Troeltsch in seinen Spektator-Briefen, in denen er zu Beginn der Weimarer Republik - zunächst anonym - diese gegen ihre Feinde zu verteidigen versuchte. Auch er beklagte den Charakter der parlamentarischen Regierungen, 414 415 416
A. Winnig, Reich, S. 165, 245. O. Spengler, Neubau, S. 194. A. Frhr. v. Freytag-Loringhoven, Weimarer Verfassung, S. 160 f.
IV. Die verfassungspolitischen Vorstellungen in der Wissenschaft
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in denen Parteigrößen und Berufspolitiker Beuteverteilung und Ämterschacher betreiben. 417 Mit einem "gewissen Schrecken" dachte Troeltsch deshalb "an die unabsehbare Dauer dieser politischen Einrichtungen und Verfahrensweisen ...". Die "gegenwärtigen Machthaber" - Troeltsch veröffentlichte diese Kolumne wenige Tage vor dem Kapp-Lüttwitz-Putsch am 29. Februar 1920 und damit unter der Regierung Bauer, die sich im Parlament auf die Mehrheit von SPD, Zentrum und DDP stützen konnte - seien "charakteristisch für das System, das eine wirkliche Führerauslese nicht gestattet, vor allem nicht die Leute mit Geschäftserfahrung, Weitblick und sachlichen Fähigkeiten an die Spitze bringt, sondern Führer der Parteien der kleinen Leute mit rein innerpolitischem Horizont, mit der beständigen Gebundenheit an die Fraktionen und mit einer stets nur von unten nach oben gerichteten Lebenskenntnis. Es herrschen die Fraktionen und nicht die Minister, wie auch die Fraktionen die Beamtenposten verteilen und nicht die Minister sich Gehilfen wählen; und die von den Fraktionen bestellten Minister sind die in der Parteiarbeit bewährten Beamten, denen damit ohne weiteres die Eignung für Geschäfte zuerkannt wird, die bisher nur erfahrene Weltmänner und geschulte Beamte und Geschäftsleute mit Erfolg verwalten konnten und die auch in anderen Ländern nur mit solchen Männern besetzt werden." Der wirkliche Grund für den an dieser Stelle auch von Troeltsch vorgetragenen Vorwurf des Dilettantismus findet sich auch bei ihm in den sich anschließenden Sätzen. "Man darf nun aber nicht übersehen, daß dies ganz wesentlich nur von der sozialdemokratischen Fraktion gilt, die allerdings nach Lage der Dinge ... die herrschende ist. Beim Zentrum gilt das nur, soweit bei ihm ähnlich die Arbeiterinteressen befriedigt werden mußten." 418 Die in dieser Kritik am parlamentarischen System deutlich werdende Tendenz zur Entmachtung des Reichstages drückte sich auch in einer Verachtung des sogenannten Parteienstaates aus. Diese Tendenz beherrschte die staatsrechtliche und publizistische Diskussion im weitesten Sinne und wurde, da die Abneigung gegen das Parteiensystem in der Bevölkerung tief verwurzelt war, zu einem der wirkungsvollsten Instrumente der gegen den Weimarer Staat überhaupt gerichteten Bestrebungen. 419 Nach weit verbreiteter Meinung waren die Parteien noch nicht einmal ein notwendiges Übel, sondern sie waren schlicht ein Übel, 420 das mit blankem Haß verfolgt wurde. Man warf ihnen vor, das Volk zu verderben. 421 "Aus der Angst um den Beuteanteil entstand auf den 417
E. Troeltsch, Fehlgeburt, S. 22. E. Troeltsch, Fehlgeburt, S. 121 f. 419 K. D. Bracher, Auflösung, S. 34. 420 K. Sontheimer, Denken, S. 157. 421 "Es war nicht 'der Marxismus', sondern eine Partei, nicht 'der Liberalismus', sondern eine Partei; es waren nicht Weltanschauungen, sondern Genossenschaften und 418
17*
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D. Die Rolle der Wissenschaft
großherzoglichen Samtsesseln und in den Kneipen von Weimar die deutsche Republik, keine Staatsform, sondern eine Firma. In ihren Satzungen ist nicht vom Volk die Rede, sondern von Parteien, nicht von Macht, von Ehre und Größe, sondern von Parteien, keine Rechte, sondern Parteien, kein Ziel, keine Zukunft mehr, sondern Interessen von Parteien." 422 Auch sogenannte Vernunftrepublikaner wie Ernst Troeltsch empfanden nur Überdruß am Parteiwesen und Ekel an der "reinen Parteiregierung, wie sie sich ausgebildet hat und wie sie vor allem in dem Mitregieren der sozialdemokratischen Fraktion und neuerdings der Gewerkschaften in den sozialdemokratischen Ministerien zum Ausdruck kommt." 423 A n diesen Äußerungen wird deutlich, daß nicht die Parteien als solche Objekt der Kritik waren, denn politische Parteien, auch solche der Arbeiterbewegung, hatte es bereits im Kaiserreich gegeben. Kritisiert wurde vielmehr, daß die in den Parteien organisierten unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte durch die Einfuhrung des parlamentarischen Prinzips über den Reichstag Einfluß auf die Regierung und damit den Staat ausüben konnten. Die bisher in der Gesellschaft ausgetragenen Konflikte wurden dadurch in die Regierung und damit in den Staat selbst hineingetragen. Schlimmer noch: Die bisherigen "Reichsfeinde", die Sozialdemokratie und das Zentrum, wurden sogar durch ihre Regierungsbeteiligung in die Lage versetzt, den Ausgang dieser Konflikte mit den Mitteln des Staates zu beeinflussen. Dieser Vorgang der Demokratisierung der Staatsgewalt wurde als Krankheit, als Verfall des Staates, sogar als Entartung des staatlichen Körpers denunziert. 424 Beklagt wurde die Entstaatlichung des Staates sowie das Herabsinken der von dem Vertrauen der Parteien abhängigen Regierung von einer Staatsregierung zu einem Parteienausschuß.425 Um die Zersetzung des Staates zum "schrankenlosen Absolutismus einer öden Parteiherrschaft" 426 zu verhindern, wurde eine "Emanzipation des Staates von den gesellschaftlichen Kräften" 427 empfohlen. Durch die Überwindung der Massendemokratie und eine "Veredelung" der egalitären Demokratie sollte eine Führeroligarchie entstehen, in der "an Stelle der unverantwortlichen Partei-
Gruppen mit einem organisierten Anhang und einer zielbewußten Methode, welche das Reich bekrittelten, lähmten, unterwühlten.", O. Spengler, Neubau, S. 188. 422 O. Spengler, Neubau, S. 194. 423 E. Troeltsch, Fehlgeburt, S. 141. 424 H. Triepel, Staatsverfassung, S. 34. 425 F. G. Jünger, Einleitung zu E. Schultz, Gesicht, S. 7 f. 426 K. A. v. Müller, Erhebung, S. 55. 427 Edgar J. Jung, Deutsche Rundschau, 1933, S. 1.
V. Zusammenfassung
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Organisationen und der noch unverantwortlicheren, vielfach anonymen Mächte, die sich hinter ihnen verbergen, selbständige und daher verantwortliche Staatsleiter treten." 428 Bereits Gustav Radbruch hat das hinter diesen Vorstellungen stehende Ideal einer überparteilichen Regierung zutreffend als Legende und Lebenslüge des Obrigkeitsstaates gekennzeichnet. Vom Standpunkt des Obrigkeitsstaates erscheine "der Parteikampf als ein überflüssiger 'Hader der Parteien', als ein sachlicher Arbeit schädliches Gezänk, als Äußerung eines Parteigeistes, der aus mangelnder Einsicht und bösem Willen zusammengesetzt ist. Die Parteien erschienen von hier aus als etwas, das nicht sein sollte. Freilich war die vermeintlich oder vergeblich überparteiliche Regierung des Obrigkeitsstaates in Wahrheit nur eine kryptoparteiliche Regierung, von der echten Parteiregierung nur dadurch unterschieden, daß ihre parteipolitischen Stützpunkte nicht sichtbar vor den Augen der Öffentlichkeit lagen, sondern Gegenstand einer innerpolitischen Geheimdiplomatie waren. Der vermeintliche oder vorgebliche Standpunkt 'über den Parteien' war in Wahrheit nur einer unter andern Parteistandpunkten, von andern nur dadurch unterschieden, daß er sich für den einzig möglichen, alle anderen Standpunkte aber für böswillig oder töricht hielt." 429 Diese zutreffende Analyse der Weimarer Kritik an der parlamentarischen Demokratie konnte sich jedoch nicht mehr durchsetzen. 430
V. Zusammenfassung Die Verfassungsausleger sahen zu Beginn der Weimarer Republik in der Verfassung ein parlamentarisches Regierungssystem verankert. Parallel zur Entwicklung der Staatspraxis nahm man auch hier am Ende der Weimarer Republik an, daß die einschlägigen Verfassungsartikel eine Regierungsbildung nach dem Präsidialsystem vorsehen. Verantwortlich für diese Entwicklung waren jene Kräfte innerhalb der Verfassungsausleger, die einem parlamentarischen Regierungssystem ablehnend gegenüberstanden. Diese Ablehnung wurde hervorgerufen durch eine auch
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H. Triepel, Staatsverfassung, S. 35 f. G. Radbruch, Parteien, S. 289. 430 So kennzeichnet H. Nawiaksy, AÖR 59 (1931), S. 299, in seiner Besprechung des Handbuchs des Deutschen Staatsrechts von G. Anschütz und R. Thoma den Beitrag Radbruchs zwar als lebendig und fesselnd, aber auch als ideologisch. 429
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D. Die Rolle der Wissenschaft
nach der Niederlage des Kaiserreichs vorhandene starke Anhänglichkeit an das dualistische System des deutschen Konstitutionalismus, die sich besonders deutlich in jenem "Geist von 1914" zeigte. Dieser verstand sich als Gegenentwurf zu westlich-demokratischen Werten, zu denen auch der Parlamentarismus zählte. Die Parlamentarisierung der Reichsregierung verschaffte grundsätzlich allen im Reichstag vertretenen gesellschaftlichen Kräften die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung. A u f diese Weise gelangten auch Vertreter jener Parteien in höchste Regierungsämter, denen einen Regierungsbeteiligung im Kaiserreich erfolgreich verwehrt worden war. Dadurch wurden gesellschaftliche Konflikte, die bisher nur im Reichstag ausgetragen wurden, in die Regierung und damit in den Staat hineingetragen. Dies wurde von den Gegnern des Parlamentarismus als nicht hinnehmbare Schwächung des Staates kritisiert. Die pluralistische Zersplitterung des Staates konnte nach Auffassung dieser Autoren nur der Reichspräsident aufhalten. Er sollte die Einheit des Staates wiederherstellen. Für die Regierungsbildung bedeutete dies, daß nicht der Reichstag und die dort über die Fraktionen wirksamen gesellschaftlichen Kräfte über die Zusammensetzung des Kabinetts entscheiden sollten, sondern der die Einheit des Staates repräsentierende Reichspräsident. Dies bedeutete aber die Abschaffung des parlamentarischen Prinzips und die Errichtung eines Präsidialsystems nach dem Vorbild des konstitutionellen Regierungssystems des Kaiserreichs. Die verfassungspolitischen Vorstellungen der Verfassungsausleger konnten auch deshalb eine so große Wirkung entfalten, weil der im Kaiserreich herrschende staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik zunehmend in Frage gestellt wurde. Die neue Lehre bewirkte eine Schwächung der normativen Kraft der Weimarer Verfassung.
E. Zusammenfassung Die Weimarer Reichsverfassung schuf in bewußter Abkehr vom konstitutionellen Regierungssystems des Kaiserreichs ein parlamentarisches Regierungssystem. Dieses Ergebnis stützt sich auf den Wortlaut, die Systematik und die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Verfassungsnormen. Besonders in den Verfassungsberatungen wurde deutlich, daß die neue Verfassung nicht an den von Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt geschaffenen Dualismus des konstitutionellen Regierungssystems anknüpfen, sondern einen Bruch mit dieser Vergangenheit herbeiführen sollte. Die Regierung sollte nicht mehr von oben durch ein Staatsoberhaupt, sondern von unten vom Volk über das Parlament bestimmt werden. Dieses westlich-demokratische Regierungsmodell wurde von den Parteien der Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum gegen den Widerstand der im Kaiserreich führenden Kräfte von Konservativen und Rechtsliberalen durchgesetzt. Sie favorisierten in den Verfassungsberatungen ein am dualistischen Konstitutionalismus orientiertes Präsidialsystem. Die Praxis der Regierungsbildung entfernte sich immer mehr von den normativen Vorgaben der Verfassung. Die Ursache für diese Verfassungsentwicklung lag in der fehlenden Unterstützung der Bevölkerung für die Parteien der Weimarer Koalition. Sie verloren bereits bei der ersten Reichstagswahl ihre Mehrheit. Dadurch wurden sie zur Zusammenarbeit mit der DVP und der DNVP gezwungen. Insbesondere auf Grund der ökonomischen Gegensätze gestaltete sich diese Zusammenarbeit als wenig erfolgreich. Hinzu kam, daß sich die bereits in den Verfassungsberatungen deutlich gewordene Ablehnung des parlamentarischen Regierungssystems bei den Rechtsparteien im Verlauf der Weimarer Republik verstärkte und auch die Parteien der Weimarer Koalition erfaßte. Der Grund lag in der Parlamentarisierung der Reichsregierung. Sie verschaffte grundsätzlich allen im Reichstag vertretenen gesellschaftlichen Kräften die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung. Dadurch wurde nicht nur die bisher auf den Reichstag beschränkte Austragung gesellschaftlicher Konflikte in die Regierung und damit in den Staat hineingetragen. Sie machte auch den Ausgleich gegenläufiger Interessen durch das Eingehen von Kompromissen auf Regierungsebene erforderlich. Dieses
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E. Zusammenfassung
Verfahren, kennzeichnend für eine parlamentarische Demokratie, wurde insbesondere von den Rechtsparteien als Schwächung und pluralistische Zersplitterung des Staates abgelehnt. Sie forderten statt dessen ein vom Parlament unabhängiges und überparteiliches Präsidialkabinett. Mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, einem Repräsentanten der alten Kräfte, erhielt die Forderung nach einen Präsidialsystem zusätzlichen Auftrieb. Mit seiner Hilfe konnte nicht nur die beklagte pluralistische Zersplitterung des Staates durch den Parlamentarismus bekämpft werden. Sie bot auch die Möglichkeit, über eine Änderung des Regierungssystems die Regierungsbeteiligung der im Kaiserreich so erfolgreich von der Ausübung staatlicher Macht ferngehaltenen gesellschaftlichen Kräfte wieder zu beseitigen. Die Mehrheit der Verfassungsausleger hat diesen Prozeß der Verfassungsentwicklung unterstützend begleitet. Begünstigt durch eine Methodenänderung innerhalb der Staatsrechtslehre, die die normative Kraft der Verfassung schwächte, gewannen die an den "Ideen von 1914" orientierten verfassungspolitischen Vorstellungen der Wissenschaft für die Verfassungsauslegung große Bedeutung. A u f Ablehnung stieß auch hier die als westlich empfundene Parlamentarisierung der Reichsregierung, die für diese Autoren die Einheit des Staates gefährdete. Parallel zur Entwicklung der Staatspraxis verfiel man deshalb darauf, nicht länger den Reichstag und die dort über die Parteien wirksamen gesellschaftlichen Kräfte über die Zusammensetzung der Reichsregierung entscheiden zu lassen, sondern sprach dieses Recht dem Reichspräsidenten zu. Damit entschied man sich zugleich für die Abschaffung des parlamentarischen Prinzips und die Errichtung eines Präsidialsystems nach dem Vorbild des konstitutionellen Regierungssystems des Kaiserreichs.
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Koblenz: Nachlaß Eduard David Nachlaß Erich Koch-Weser Nachlaß Eugen Schiffer
Gedruckte Quellen Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. - Das Kabinett Scheidemann. 13. Februar bis 20. Juni 1919. Bearbeitet von Hagen Schulze. Boppard am Rhein 1971. - Das Kabinett Bauer. 21. Juni 1919 bis 27. März 1920. Bearbeitet von Anton Golecki. Boppard am Rhein 1980. - Das Kabinett Müller I. 27. März bis 21. Juni 1920. Bearbeitet von Martin Vogt. Boppard am Rhein 1971. - Das Kabinett Fehrenbach. 25. Juni 1920 bis 4. Mai 1921. Bearbeitet von Peter Wulf. Boppard am Rhein 1972. - Die Kabinett Wirth I und II. 10. Mai bis 26. Oktober 1921. 26. Oktober 1921 bis 22 November 1922. Bearbeitet von Ingrid Schulze-Bidlingsmaier. Boppard am Rhein 1973. - Das Kabinett Cuno. 22. November 1922 bis 12. August 1923. Bearbeitet von KarlHeinz Harbeck. Boppard am Rhein 1968. - Die Kabinette Stresemann I und II. 13. August bis 6. Oktober 1923. 6. Oktober bis 30. November 1923. Bearbeitet von Karl Dietrich Erdmann und Martin Vogt. Boppard am Rhein 1978. - Die Kabinette Marx I und II. 30. November 1923 bis 3. Juni 1924. 3. Juni 1924 bis 15. Januar 1925. Bearbeitet von Günter Abramowski. Boppard am Rhein 1973. - Die Kabinette Luther I und II. 15. Januar 1925 bis 20. Januar 1926. 20. Januar bis 17. Mai 1926. Bearbeitet von Karl-Heinz Minuth. Boppard am Rhein 1977. - Die Kabinette Marx II und IV. 17. Mai 1926 bis 29. Januar 1927. 29. Januar 1927 bis 29. Juni 1928. Bearbeitet von Günter Abramowski. Boppard am Rhein 1988. - Das Kabinett Müller II. 28. Juni 1928 bis 27. März 1930. Bearbeitet von Martin Vogt. Boppard am Rhein 1970.
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Sachwortverzeichnis Achtstundentag 113 ff.; 132; 158 f.; 170
- DNVP 34; 36
Agrarpolitik 34 ff.; 98 f.; 152 f.; 172 f.; 196; 198
BVP 39 ff.
Arbeiterbewegung 42 f.
Dawes-Plan 134 ff.; 139 ff.; 194
Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte 99
DDP 36 ff.
Arbeitslosenversicherung 192 ff. Arbeitslosigkeit 192 ff.
-
DVP38
Den Haag - Unterzeichnung des Young-Planes 194
Arbeitszeitgesetz 113 ff.; 158 f.; 170
Deutsche Demokratische Partei 36 ff.
Arbeitszeitnotverordnung 132; 170
Deutsche Volkspartei 36 ff.
Ausnahmezustand 117; 122 ff.; 129 Bayerische Volkspartei 39 ff. Bayern
Deutschnationale Volkspartei 34 ff. DNVP 34 ff. Dollar
- Ausnahmezustand 117 ff.
- Entwicklung gegenüber Reichsmark 105 f.
- Biersteuer 194 ff.
DVP 36 ff.
- Einfluß auf Regierungsbildung 157 - Finanzausgleich 197
Ermächtigungsgesetz
- Young-Plan 197
- Kabinett Marx 131 f.
Beamte 222; 231 f.; 259
- Kabinett Stresemann 115 ff; 120; 122; 123
- DDP 38 - DNVP 34; 36 -
DVP38
- Inflation 214 Berliner Vertrag 167 Biersteuer 194 ff. Bildungselite 214 ff. Bürgerblock 142; 146; 183; 193 Bürgertum 56; 79 - DDP 38
Fachkabinett 71; 86; 97; 103; 105 f.; 117 f.; 147; 185 - Kabinett Cuno 98 ff. Finanzpolitik 105 f.; 192 ff. Flaggenstreit 161 ff. Flotte - Panzerkreuzer „A" 183 f. Fürstenenteignung 164 f.
288
Sachwortverzeichnis
„Geist von 1914" 228 ff.; 234 ff.; 239 ff.; 254 ff.; 257 ff.
Katholizismus 39 ff.
Generalstreik 72; 123
Kommunistische Partei Deutschlands 33
Gewerkschaften 42 f.; 72 ff.; 106; 170
Konservatismus 34 ff; 204 ff
Große Koalition 144
KPD 33
- Kabinett Luther II 157 f. - Kabinett Marx III 164 f.; 170; 174
Länder 22; 51; 55; 112; 197
- Kabinett Müller II 181 ff.
Landwirtschaft 196
- Kabinett Stresemann I 105 ff.
- DNVP 34 ff.; 152 f.
- Kabinett Stresemann II 122; 128
- Getreideumlage 98 f. - Hindenburg 150 f.; 198
Hitler-Putsch 129
-
Hochschullehrer
Liberalismus 36 ff.; 254 ff.
- DDP 36
Locarno-Verträge 152 ff.
- Einfluß auf Verfassungsentwicklung 204 ff.
Londoner Ultimatum 88 ff.
- soziale und institutionelle Stellung 214 ff.
Methoden- und Richtungsstreit 216 ff.
- verfassungspolitische Vorstellungen 15; 227 ff.; 234 ff.; 254 ff. - Zentrum 40
Schutzzölle 152 f.
Monarchie - Brüning 191 - DDP 84 f. - DNVP 34 f.; 46; 51 f.; 58 f.: 84 f.
„Ideen von 1914" 228 ff.; 234 ff.; 23 ff.; 254 ff.; 257 ff.
- DVP 38; 57 f.; 84 f.
Industrie
- Hindenburg 149 ff.
- DDP 36 ff.
- Regierungssystem 21; 27 ff.; 51 f.; 53; 148 f.
- DNVP 34 ff.
- Geßler 75
- DVP 36 ff.
- SPD 53
- illegale Finanzierung der Reichswehr 172 f.
- Wissenschaft 227 ff.
-
- Zentrum 40 f.
Sturz Kabinett Müller II 194 ff.
- Sturz Kabinett Stresemann II 112 ff.
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei 150; 189; 205; 249
Inflation 105 f.
Nationalversammlung 24 ff.; 211
„Insterburger Rede" 169 f.
- Wahl 60
Integrationslehre 222 f.
NSDAP 150; 189; 205; 249
Justiz 149
Oberschlesien 94 ff.
Kapp-Lüttwitz-Putsch 70 ff.; 259
Obrigkeitsstaat 54; 59; 79; 104; 230; 232; 236; 251
Sachwortverzeichnis Parlamentarismus
Präsidialsystem
- Auslegung der Verfassung 21 ff.; 68 f.; 206 ff.
- siehe Parlamentarismus
- Beratungen in der Nationalversammlung 44 ff. - Carl Schmitt 239 ff. - Kabinett Bauer 66 ff.
Preußen 46 - Dualismus 25 - Finanzausgleich 197 - Große Koalition 100; 131
- Kabinett Brüning 201 f.
- Regierungsbildung 73; 136; 150; 185
- Kabinett Cuno 103 f.
- Reichspräsidentenwahl 150
- Kabinett Fehrenbach 87
- Verfassungskonflikt 27 ff.
- Kabinett Luther I 148 f.
Professoren
- Kabinett Luther II 160
- DDP 36
- Kabinett Marx I 131 f.
- Einfluß auf Verfassungsentwicklung 204 ff.
- Kabinett Marx II 138 f. - Kabinett Marx III 166 f. - Kabinett Marx IV 180 f. - Kabinett Müller I 79 - Kabinett Müller II 189 f. - Kabinett Scheidemann 63 - Kabinett Stresemann I 111 f. - Kabinett Stresemann II 121 f. - Kabinett Wirth I 93 f. - Kabinett Wirth II 97 f. - Verfassungsentwurf von Hugo Preuß 24 ff. - Verfassungswirklichkeit 70 ff.; 202 f.; 263 f.
- soziale und institutionelle Stellung 214 ff. - verfassungspolitische Vorstellungen 15; 227 ff.; 234 ff.; 254 ff. - Zentrum 40 Putsch - Kapp-Lüttwitz-Putsch 70 ff; 259 - Hitler-Putsch 129 Rapallo-Vertrag 101 Rat der Volksbeauftragten 23; 43 Regierungssystem - siehe Parlamentarismus
- Wissenschaft 231 f.; 234 ff.; 239 ff.; 257 ff.; 261 f.; 263 f.
Reichsexekution
Parteien
- Sachsen 123 ff.; 128 f.
- Carl Schmitt 242; 245 f.
- Thüringen 129
- Programme und Sozialstruktur 33 ff.
- Verfassungsberatungen 51; 53; 54; 55
- Wissenschaft 233 f.; 257 ff.
Reichskanzler
Polen 93 ff.
- Stellung nach der Reichsverfassung 20; 22 f.; 26; 47 ff.
Polizei 123; 239 Positivismus 16; 205 f.; 216 ff.; 262; 264 19 Hoppe
- Bayern 117 ff.; 129 f.
290
Sachwortverzeichnis
Reichspräsident
„Schuß von Bühlerhöhe" 185 f.
- Stellung nach der Reichsverfassung 20 f.; 22 f.; 26; 45; 47 ff.; 52; 54 f.; 57 f.
Sowjetunion
- Wahl 149 ff. Reichstag
- Berliner Vertrag 167 - Rote Armee 172 f. Sozialdemokratische Partei Deutschlands 42 ff.
- Stellung nach der Reichsverfassung 20 f.; 22 f.; 43 f.; 46; 47 ff.; 52; 53; 54; 57
Sozialisierung 43; 104
- Wahlen 79 ff.; 132 ff.; 143 ff.; 183 f.; 202
- Arbeitslosenversicherung 192 ff.
Reichswehr
Staatsrechtslehre
- Hindenburg 181
- Methoden- und Richtungsstreit 216 ff
- Kapp-Lüttwitz-Putsch 70 ff. - Rote Armee 172 f. - Sachsen 123 ff. - Thüringen 129 Reparationen - Dawes-Plan 134 ff.; 139 ff.; 194
Sozialpolitik 115 ff.; 191 SPD 42 ff.
Thüringen - Reichsexekution 129 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands 42 ff.
- Londoner Ultimatum 88 f.
USA
- „Ruhrkampf 4105 f.
- Regierungssystem 25,47
Republik
USPD 42 ff.
- BVP 41 f.; 161 ff.; 178 - DDP 36 f.; 161 ff. - DNVP 35; 46; 51; 58; 143 f.; 161 ff. - DVP 38; 57; 80; 111 f.; 158; 161 ff.
Verfassung, Weimarer Reichsverfassung - Beratung 24 ff. - Entstehung 23 f.
- Flaggenstreit 161 ff.
Versailler Vertrag 35; 131; 219
- Hindenburg 150 f.; 161 ff.
- Oberschlesien 94 ff.
- Hochschullehrer 234 ff.
- Reichswehr 172 f.
- Reichswehr 70 ff.
- „Ruhrkampf* 105 f.
- SPD 42 f.; 158; 161 ff.
Völkerbund
- Zentrum 40 f.; 95; 161 ff.; 178
- Aufnahme Deutschlands 158; 167
Rote Armee 172 f.
Volksentscheid
Ruhrkampf 105 f.; 112
- Fürstenenteignung 164 f.
Sachsen
Wahlen
- Reichsexekution 122 ff.
- Nationalversammlung 60 - Reichspräsident 149 ff.
Sachwortverzeichnis - Reichstag 79 ff.; 132 ff; 143 ff.; 183 f.; 202
- Verfassungsberatungen 44 f.; 47 ff.; 53; 56 f.
Währungspolitik 105 f.; 115 Weimarer Koalition - Begriff 44 - Reichstagswahlen 79 ff.; 132 ff.; 143 ff.; 183 f.; 202
19*
291
Young-Plan 194; 197
Zentrum 39 ff