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German Pages 264 Year 1999
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Band 50
Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
Von
Friedrich Karl Fromme Dritte, ergänzte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
FRIEDRICH KARL FROMME
Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin Heckel, Karl-Hermann Kästner Ferdinand Kirchhof, Hans von Mangoldt Thomas Oppermann, Günter Püttner Michael Ronellenfitsch sämtlich in Tübingen
Band 50
Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur
Von Friedrich Karl Fromme
Dritte, ergänzte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fromme, Friedrich Karl:
Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz : Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur / von Friedrich Karl Fromme. - 3., erg. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 50) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1958 ISBN 3-428-09992-3
1. Auflage 1960 2. Auflage 1962 erschienen bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Nr. 12)
Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-09992-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Z u m Geleit An der Wiege der neuen Ordnung stand die alte Verfassung. Zum Verständnis der politischen Gründungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland ist der Blick in die Weimarer Reichsverfassung, auf ihre Praxis und die Vorarbeiten zum Grundgesetz unentbehrlich. „Nie wieder Weimar!" - das Wort leitete die Verfassungsväter, als sie die normative Grund- und Rahmenordnung für das staatlich-gesellschaftliche Nachkriegsleben formulierten. Die Weimarer Mißstände, Erfahrungen und Träume inspirierten die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat - mit stabilisierender Wirkung auf die im Entstehen begriffene neue Republik. Die Anti-Weimar-Weichenstellungen von 1948/49 wie auch die be wußten Kontinuitäten (etwa die Übernahme der Weimarer Staatskirchenartikel) stießen auf Widerhall bei den Kundigen. Dies und die sich bessernde wirtschaftliche und soziale Lage verhalfen der Bundesverfassung zur Akzeptanz. Im Laufe der Zeit wuchs ihr als Institution und Symbol eine einzigartige Popularität zu. Anders als in der Weimarer Republik steht die Verfassung heute außerhalb des Streites einer Gesellschaft, die nahezu alles streitig zu stellen liebt. Alle beugen sich über das Grundgesetz wie über eine säkularisierte Bibel. In unserem an Traditionen und Autoritäten armen Gemeinwesen wurde die gesamtstaatliche Verfassung zum Integrationspunkt und Legitimationsquell. An jenen Vergangenheitsbezug des Grundgesetzes ist angesichts des Nachdrucks des bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienenen Werkes von Friedrich Karl Fromme Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz (1. Auflage 1960; 2., unveränderte Auflage 1962) zu erinnern. Dessen Gegenstand ist die Vor- und Frühgeschichte der neuen Charta, zumal die Reaktion der founding fathers auf die Weimarer Verfassungszustände. Die Spezialliteratur über diese Gründungsphase der Zweiten Deutschen Republik ist nach wie vor spärlich. Fromme weist nach, daß das Grundgesetz zahlreiche Weiterentwicklungen enthält, die auf den Komplex „Weimar" zurückzuführen sind. Die staatsorganisatorischen Vorschriften, mit denen sich die Bundesverfassung von der Reichsverfassung abhebt, sind in den vergangenen Jahrzehnten nahezu unverändert geblieben - im Unterschied zum Grundrechtsteil und zu diversen Staatszielbestimmungen. Insgesamt erwies sich die Statik des neuen Gebäudes als solide. Das Grundgesetz, so der Tenor der 50Jahres-Laudationes 1999, hat sich „bewährt". Frommes Arbeit, nur zehn Jahre jünger als die damals neue Ordnung, wurde zu einem längst vergriffenen Klassiker der Verfassungszeitgeschichte sowie der „vertikalen", an der Zeitachse orientierten Rechtsvergleichung. Manche Vorkehrungen des Grundgesetzes, zur Abwehr angeblicher oder tatsächlicher Weimarer Konstruk-
Zum Geleit
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tionsfehler entworfen, erwiesen sich als übertrieben oder überflüssig. Andere haben sich möglicherweise gerade darin als sinnvoll erwiesen, daß sie nicht „angewendet" werden mußten. Gefahren für ihre Konsenskraft erwuchsen der Bonner Verfassung aus anderen Richtungen als einst der Weimarer Verfassung. Regierungspraxis, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Staatsrechtslehre halfen, auch den neuen Problemen verfassungsgerecht zu begegnen. Als förderlich erwiesen sich dabei die Wahl von hinreichend offenen Begriffen wie Gleichheit, Meinungsfreiheit, Wohl der Allgemeinheit, Wesensgehalt der Grundrechte, sozialer Rechtsstaat sowie das weitgehende Offenhalten der Wirtschaftsordnung. Diese bei aktuellen Novellierungen vernachlässigte Technik der Konstitutionalisierung erhielt dem Grundgesetz die Offenheit für realen Wandel, stärkte die normative Kraft des Parlamentsgesetzes und ermöglichte ein ausreichendes Maß an wissenschaftlicher und, zunehmend das Feld beherrschend, verfassungsrichterlicher Rationalisierbarkeit. Die Analyse von Friedrich Karl Fromme wirkt beim neuerlichen Lesen so frisch wie vor Jahrzehnten. Sie ist heute eher noch wertvoller als damals, macht sie doch deutlich, wie sehr es neben der Verfassungsschöpfung auf den Verfassungsvollzug ankommt. Dem gelebten Grundgesetz gilt Frommes besonderes Interesse. Seit den sechziger Jahren war er führend bei der verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Berichterstattung, zumal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Gibt es einen intimeren Kenner der Bundesgerichte, der Kommentarliteratur, der Strömungen in der Staatsrechtslehrervereinigung, der Zusammensetzung der Richterwahlausschüsse? In der Fähigkeit, ein juristisch-politisches Problem zu durchschauen, zu seinem Kern vorzudringen und dabei das treffende, eigenständige Wort zu prägen, bleibt Fromme unerreicht. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands brilliert er auch mit an Fontane erinnernden Beschreibungen der „neuen Länder", vor allem seiner sächsischen Heimat. Darüber hinaus ist er als Autor mehrerer erfahrungsgesättigter staatsrechtlich-politikwissenschaftlicher Bücher hervorgetreten. Memoiren aus seiner Feder werden eine wichtige zeithistorische Quelle sein. Der hier in dritter Auflage veröffentlichten Studie hat Fromme ein ausführliches - fortschreibendes und wertendes - Nachwort beigefügt. So ist diese Neuauflage der von zwei großen Tübingern, Theodor Eschenburg und Günter Dürig, betreuten Dissertation zugleich eine Bilanz von fünf Jahrzehnten Grundgesetz. Die (etwas) jüngeren Tübinger Publizisten, aufgewachsen mit Porträts und Rezensionen aus der Werkstatt dieses bedeutenden Staatswissenschaftlers, freuen sich, jene Bilanz als fünfzigsten Band ihrer Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht vorzulegen. Dies erfolgt zum Zeitpunkt der Feiern zum Halbzentenarium des Grundgesetzes, einer der großen Verfassungen des Jahrhunderts. An der Neuauflage werden Wissenschaft und Praxis sowenig vorbeigehen wie an der Erstauflage, die der Geburt dieser neuen Ordnung gewidmet war. Tübingen, im Mai 1999
Wolf gang Graf Vitzthum
Vorwort zur ersten Auflage Jede Bewegung, die das politische Geschehen in das verfassungsrechtliche Gefüge der Bundesrepublik bringt, zeitigt Betrachtungen darüber, wie der Blick auf die Weimarer Verfassung, wie die Erlebnisse aus der Zeit von Weimar und der nationalsozialistischen Phase dem Parlamentarischen Rat in der Gestaltung des Grundgesetzes die Hand geführt haben. Die Erörterungen bleiben aber stets punktuell auf ihren aktuellen Anlaß beschränkt. Wohl gibt es eine Reihe mehr oder weniger polemisch gefärbter kurzer Vergleichungen des Grundgesetzes mit der Weimarer Verfassung. In den Besprechungen des neu ergangenen Grundgesetzes in der juristischen Fachpresse wurde die enge Beziehung des Grundgesetzes zur Weimarer Verfassung konstatiert. Die Kommentare zum Grundgesetz geben bei den einschlägigen Artikeln Hinweise auf bewußte Distanzierungen des Grundgesetzes von der Weimarer Verfassung, auch auf augenfällige Übereinstimmungen. Einige juristische Spezialarbeiten schließlich vergleichen bestimmte Einzelkomplexe aus beiden Verfassungen. Ein Versuch, die Beziehungen des Grundgesetzes zur Weimarer Verfassung in einem Gesamtüberblick ausführlich darzustellen, ist noch nicht gemacht worden. Diese Lücke erscheint bei tieferem Eindringen in die Materie verständlich. Sobald man über eine allgemeine Konstatierung eines bestimmten Verhältnisses zwischen Grundgesetz und Weimarer Verfassung, wie es bei aufeinanderfolgenden Verfassungen ohnehin vorauszusetzen ist, hinausgeht, sieht man sich einer Hochflut von Problemen gegenüber, sofern man sich nicht auf die Insel einer reinen Rechtsvergleichung rettet. Aus der Fülle der Probleme sei nur das Wichtigste genannt: die allgemeinen Beziehungen von einander folgenden Verfassungen, vor allem unter der Bedingung entsprechender gleicher Staatsordnung, die Abgrenzung des Einflusses der Vergangenheit auf eine Verfassung von dem anderer bestimmender Kräfte, die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit, mit einer Verfassung politische Entscheidungen vorauszubestimmen und vieles mehr. Entsprechend erdrückend ist die Fülle des Materials: sie reicht von den Entstehungsgeschichten beider Verfassungen über die staatsrechtliche und politische Literatur bis zur politischen Verfassungsentwicklung, die wiederum nur auf dem Hintergrund des historischen Ablaufs und der soziologischen Struktur verständlich wird. Hinzu treten als hinweisende und antizipierende Parallelerscheinungen die Länderverfassungen der Weimarer und der Bonner Zeit, vorbildhaft wirkende ausländische Verfassungen ähnlicher Staatsordnung und schließlich die Verfassungsdiskussion aus dem Ver-
8
Vorwort zur ersten Auflage
fassungsinterregnum zwischen dem Ende des Krieges und dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rats. Sowohl was die Fragestellung, wie was das verarbeitete Material angeht, ergab sich die Notwendigkeit einer so energischen Beschränkung, daß die hier vorgelegte Arbeit kaum mehr als eine Studie, ein Versuch sein kann. Als ein solcher zeigt sich die Arbeit auch darin, daß sie die - erheblich umgearbeitete - Dissertation des Verfassers darstellt. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich Herrn Professor Dr. Theodor Eschenburg, der die Anregung zur vorliegenden Arbeit gab und ihr Entstehen verständnisvoll gefördert hat. Herrn Professor Dr. Hans Rothfels danke ich ebenso für das Interesse, das er an der Arbeit genommen hat, wie für seine Zustimmung zu ihrer Drucklegung. Herr Professor Dr. Günter Dürig hat sich der Mühe unterzogen, die Dissertation als Mitberichterstatter vom juristischen Standpunkt aus durchzusehen. Ihm schulde ich Dank für eine Reihe wertvoller Hinweise. Tübingen, im Dezember 1959
Friedrich
Karl Fromme
Inhalt Einleitung
15
1. Weimarer Verfassung uûd Bonner Grundgesetz
15
2. Das Bonner Grundgesetz als Rezeption der Weimarer Verfassung
18
3. Die Differenzierung des Bonner Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Verfassung
22
4. Gegenstand
24
5. Abgrenzung
28
6. Verfahren
33
Abschnitt I Die Neuorganisierung des demokratischen Staates
38
Vorbemerkung: Der Parlamentarismus in der Weimarer Verfassung und im Bonner Grundgesetz - Die Stellung des Staatsoberhauptes als tertium comparationis beider parlamentarischen Systeme
38
Kapitel A: Die Bestellung des Staatsoberhauptes in Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz
49
1. Die Abschaffung der Volkswahl des Staatsoberhauptes im Bonner Grundgesetz ...
49
2. Die Kürzung der Amtszeit und die Beschränkung der Wiederwählbarkeit des Staatsoberhauptes im Bonner Grundgesetz
58
3. Qualifizierte Staatsangehörigkeit des Staatsoberhauptes im Bonner Grundgesetz?
60
Kapitel B: Das Parlamentsauflösungsrecht des Staatsoberhauptes in Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz - Die Abwendung des Bonner Grundgesetzes vom Gegengewichtsgedanken der Weimarer Verfassung
61
Kapitel C: Die Rechte des Staatsoberhauptes in der Regierungsbildung nach Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz
71
1. Die Regierungsbildung nach der Weimarer Verfassung
71
2. Die Regierungsbildung nach dem Bonner Grundgesetz
88
10
Inhalt
3. Die Stabilisierung der Regierung im Bonner Grundgesetz 4. Ansätze zur Stabilisierung der Regierung in Verfassungspraxis und Verfassungsdiskussion der Weimarer Republik
92 102
5. Vorwegnahme des parlamentarischen Systems des Bonner Grundgesetzes in der Verfassungsentwicklung der deutschen Länder der Weimarer Zeit 112 6. Die Steigerung der Regierungseffektivität nach dem Bonner Grundgesetz - Die parlamentarische Alleinverantwortlichkeit des Bundeskanzlers 119 Kapitel D: Die Notgesetzgebung in der Weimarer Republik und nach dem Bonner Grundgesetz 125 1. Der Reichspräsident als Notgesetzgeber
125
2. Die Lösung des Problems der Notgesetzgebung im Parlamentarischen Rat
135
a) Der technische Notstand
137
b) Der Gesetzgebungsnotstand
139
3. Die Notgesetzgebung in der Weimarer Republik aufgrund parlamentarischer Delegation des Gesetzgebungsrechts (,»Ermächtigungsgesetze") 143 4. Die Bestrebungen des Parlamentarischen Rats zur Ausschließung von Ermächtigungsgesetzen
150
Kapitel E: Weitere Kompetenzen des Staatsoberhauptes in Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz 152 1. Die Reichsexekution
152
2. Die Organisationsgewalt
156
3. Der Reichspräsident als Veranstalter des Referendums
158
Anhang: Die unmittelbare Gesetzgebung durch das Volk nach Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz
159
Zusammenfassung und Schlußbetrachtung
164
Abschnitt II Die Stärkung des Verfassungsschutzes im Bonner Grundgesetz 1. Das Fehlen von Verfassungsschutzbestimmungen in der Weimarer Verfassung
176 176
2. Notverordnungen und Ausnahmegesetzgebung im Dienste des Schutzes der Weimarer Verfassung 177 3. Die Erschwerung des Weimarer Verfassungsschutzes durch die Legalitätstaktik der Gegner 181
Inhalt 4. Der Verfassungsschutz im Bonner Grundgesetz
182
a) Der Verfassungsschutz durch Grundrechtsverwirkungen
183
b) Der Verfassungsschutz durch Erschwerung der Verfassungsänderung
189
Abschnitt III Die Reaktion des Bonner Grundgesetzes auf die nationalsozialistische Diktatur
195
1. Verfassungsrechtliche Ausdrücklichkeit demokratischer Grundentscheidungen im Bonner Grundgesetz 197 2. Sicherung der demokratischen Grundentscheidungen des Bonner Grundgesetzes gegen Verfassungsänderung 199 3. Verfassungsrechtlicher Niederschlag der Reaktion auf die Diktatur in Einzelbestimmungen des Bonner Grundgesetzes 199 a) Einzelbestimmungen zur Sicherung der Demokratie
200
b) Einzelbestimmungen zur Sicherung der Gewaltenteilung
202
c) Einzelbestimmungen zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit
203
d) Besondere Verstärkungen des Grundrechtsschutzes
206
e) Erweiterungen der verfassungsrechtlichen Schutzbestimmungen in der Rechtspflege 211 f) Verfassungsrechtliche Bindung des neuen Staates an Frieden und Verständigung 215 g) Das Widerstandsrecht
217
Überblick und Abschluß: Gefahren, Grenzen und Chancen der abwehrenden Vergangenheitsorientiertheit einer Verfassung 221
Nachwort zum Neudruck 1999
234
Literaturverzeichnis
253
Verzeichnis der Abkürzungen Abg.
= Abgeordneter
Abs.
= Absatz
AöR
= Archiv des öffentlichen Rechts
ARA
= Allgemeiner Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rats
Art.
= Artikel
aRV
= Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871
BGBl.
= Bundesgesetzblatt
BK
= Bonner Kommentar zum GG (s. Literaturverzeichnis)
BVP
= Bayerische Volkspartei
CDU
= Christlich-Demokratische Union
CSU
= Christlich-Soziale Union
DDP
= Deutsche Demokratische Partei
DJZ
= Deutsche Juristenzeitung
DÖV
= Die Öffentliche Verwaltung
DNVP
= Deutschnationale Volkspartei
DP
= Deutsche Partei
DRZ
= Deutsche Rechtszeitschrift
DV
= Deutsche Verwaltung
DVB1.
= Deutsches Verwaltungsblatt
DVP
= Deutsche Volkspartei
EA
= Europa-Archiv
FDP
= Freie Demokratische Partei
GeschO
= Geschäftsordnung
GG
= (Bonner) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949
GSA
= Ausschuß für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rats
HA
= Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats
HA Steno
= Verhandlungen des HA (s. Literaturverzeichnis)
HChE
= Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (s. Literatur-
HChE darst. T.
= Darstellender Teil des HChE
verzeichnis) HChE komm. T. = Kommentierender Teil des HChE HdbDStR = Handbuch des Deutschen Staatsrechts (s. Literaturverzeichnis unter Artschütz) Heilfron
= Verhandlungsberichte der Weimarer Nationalversammlung (s. Literaturverzeichnis)
Verzeichnis der Abkürzungen JiaöR
13
= Jahrbuch für internationales und ausländisches öffentliches Recht
JöR
= Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
JW
= Juristische Wochenschrift
JZ
= Juristenzeitung
KPD
= Kommunistische Partei Deutschlands
MDR
= Monatsschrift für Deutsches Recht
N. F.
= Neue Folge
NJ
= Neue Justiz
NJW
= Neue Juristische Wochenschrift
NSDAP
= Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
OrgA
= Ausschuß für Organisation des Bundes des Parlamentarischen Rats
PlenStenBer.
= Verhandlungen des Plenums des Parlamentarischen Rats (s. Literaturver-
PR
= Parlamentarischer Rat
zeichnis) RGBl.
= Reichsgesetzblatt
RPflA
= Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege des Parlamenta-
RuL
= Reich und Länder
SED
= Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
rischen Rats
Sitz.
= Sitzung
SJZ
= Süddeutsche Juristenzeitung
SPD
= Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Staatsleben
= Poetzsch-Heffter,
Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung (s. Li-
teraturverzeichnis) USPD
= Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VerfA
= Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung (s. Literatur-
VjhZ
= Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte
VVDStRL
= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WRV
= (Weimarer) Reichsverfassung vom 11. August 1919
verzeichnis)
Ζ
= Zentrum
ZöR
= Zeitschrift für öffentliches Recht
ZustA
= Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung des Parlamentarischen Rats
Einleitung 1. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz Die Weimarer Reichs Verfassung vom 11. August 19191 stellt das erste demokratische Verfassungsinstrument in Deutschland dar. Der konstitutionell-monarchische Staat Bismarcks stand im Herbst 1918 vor der militärischen Niederlage. Die hierdurch in ihrer Verwurzelung gelockerte Monarchie stürzte mit einem fast überraschenden Mangel an Widerstandsfähigkeit, als die Revolution in Deutschland ausbrach. Einem halbanarchischen Zwischenzustand mit starken Tendenzen zu einer Räteherrschaft setzte die Weimarer Reichsverfassung ein Ende: sie organisierte Deutschland als einen demokratischen, gewaltenteilenden Rechtsstaat. Die Weimarer Reichsverfassung, formell betrachtet ein von der Weimarer Nationalversammlung beschlossenes Gesetz, schuf und befestigte damit eine politische Entscheidung über die Staatsform des Deutschen Reiches. Hieraus ergibt sich eine Doppeldeutigkeit des Begriffes „Verfassung", den Carl Schmitt erstmals versucht hat, in ein System zu bringen 2. „Verfassung" heißt zunächst das in bestimmten Formen beschlossene und in bestimmter Weise änderungsgeschützte Gesetz, das die Staatsorganisation regelt. Neben dieser Bedeutung als „Verfassungsgeserz" kann „Verfassung" aber auch heißen eine „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit und Ordnung" 3. In diesem Sinne ist die Verfassung eine Willenskundgebung über die Art der politischen Existenz des Staates. Das Verfassungsgesetz und die Verfassung im Sinne der politischen Entscheidung können zusammenfallen; sie decken sich weitgehend im demokratischen Rechtsstaat, ja ihre Kongruenz ist in dem Maße das Kennzeichen und das Essentiale des demokratischen Rechtsstaates, daß man diesen geradezu als „Verfassungsstaat" schlechthin bezeichnet hat4. Die politischen Grundentscheidungen, die die Weimarer Reichsverfassung gefällt hatte, wurden im Jahre 1933 umgestoßen. An die Stelle der gewaltenteilenden, rechtsstaatlichen Demokratie trat die gewaltenvereinigende, willkürstaatliche Diktatur. Dieser Wandel kam nicht in einem neuen Verfassungsgesetz zum Ausdruck. 1 Zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung (neben den Kommentaren usw.) vgl. Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946; Wilhelm Ziegler, Die Deutsche Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk, Berlin 1932. 2 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, S. 11 ff. 3 Vgl. aaO. S. 20 ff. 4 Vgl. hierzu aaO. S 127; auch Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 37.
16
Einleitung
Ein eigentliches nationalsozialistisches Verfassungsgesetz ist nie entstanden. Kennzeichnend für ein Nachwirken des Gedankens des Verfassungsstaates, des Staates mit einer geschriebenen, die Herrschaftsordnung erkennbar machenden und garantierenden Verfassung, ist, daß die Nationalsozialisten sich bemühten, eine Reihe die Etablierung ihrer Herrschaft einleitender Gesetze5 als „nationalsozialistische Verfassung" zu deklarieren 6. Trotz dieser Bemühungen war die nationalsozialistische „Verfassung" nichts anderes als der Inbegriff der von den Nationalsozialisten getroffenen Entscheidung über Art und Form der politischen Existenz ihres Staates. Diese neue Verfassung im Entscheidungssinne hat das alte Verfassungsgesetz, die Weimarer Reichsverfassung, beiseite geschoben und verdrängt 7, nachdem die von dieser gefällten politischen Grundentscheidungen aufgehoben waren. So war die Weimarer Reichsverfassung wirkungslos geworden, obwohl sie niemals formell außer Kraft gesetzt wurde. Die militärische Niederlage Deutschlands im Jahre 1945 setzte dem nationalsozialistischen Staat und seiner Verfassung ein Ende. Nicht nur diese allein verschwand im Strudel des Zusammenbruches, sondern auch der deutsche Staat. Die Frage, ob der deutsche Staat im Jahre 1945 zu existieren aufgehört oder ob er in irgendeiner mehr oder weniger latenten Form fortbestanden habe, hat eine Fülle von völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Literatur, von Gutachten und Gerichtsentscheidungen gezeitigt8. Diese Diskussion um den Fortbestand des deutschen Staates war oftmals politisch motiviert. Die einen wollten mit der Behauptung der Existenz des deutschen Staates9 gleichsam einen Grundstock für den Wie5 Hierher gehören etwa die folgenden Gesetze: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich v. 24. März 1933; Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 31. März 1933; Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 7. April 1933; Gesetz gegen die Neubildung von Parteien v, 14. Juli 1933; Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat v. 1. Dezember 1933; Gesetz über den Neuaufbau des Reichs v. 30. Januar 1934 u. a. 6 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1939, S. 44 ff. - Häufig erhalten oder geben sich Diktaturen auch ein Verfassungsgesetz, das in äußerster demokratischer Formenstrenge die Rolle einer „Maskerade ... über der nackten Gewalt" zu spielen hat. Vgl. Karl Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungsrealität, in: AöR 77(1951/52) S. 404. 7 So die herrschende Meinung in der nationalsozialistischen Zeit, vgl. Walz, Autoritärer Staat, nationaler Rechtsstaat oder völkischer Führerstaat?, in: DJZ 38 (1933) Sp. 1336; Carl Schmitt auf dem Deutschen Juristentag vom 3. Oktober 1933, vgl. den Bericht in: DJZ 38 (1933) Sp. 1321; Meyer, Deutscher Juristentag und Rechtserneuerung, in: DJZ 38 (1933) Sp. 1220; Otto Koellreutter, Der nationale Rechtsstaat, in: DJZ 38 (1933) Sp. 517; Karl Bilfingen Das Reichsstatthaltergesetz, in: DJZ 38 (1933) Sp. 581; später Huber, aaO. S. 46 ff. 8 Eine ausführliche Übersicht gibt Rolf Städter, Deutschlands Rechtslage, Hamburg 1948 (mit Literaturangaben). Vgl. ferner: Georg A. Zinn, Das staatsrechtliche Problem Deutschland, in: SJZ 2 (1947) S. 4 ff.; Eberhard Menzel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands. Ein Zwischenbericht über den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, in: EA 2 (1947) S. 1009 ff.; Günter Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, in: VVDStRL 13 (1955) S. 27 ff. u. a.
Einleitung
deraufbau bewahren, die anderen wollten mit der Behauptung des Endes des deutschen Staates die „Chance des Nullpunktes" 10 realisieren 11. Wenn auch die Erörterungen über die Existenz des deutschen Staates vielfach nichts anderes waren, „als die rechtliche Formulierung der für politisch zweckmäßig gehaltenen Nachkriegslösung für Deutschland"12, war ihre politische Bedeutung doch gering. Die letzte Entscheidung über den staatlichen Neubau Deutschlands lag bei den Alliierten. Der staatliche Neubau erfolgte von unten herauf, beginnend auf der Gemeindeebene bis zur Bildung von Ländern. Über diesen erhoben sich Zusammenschlüsse innerhalb einzelner und von mehreren Besatzungszonen. Im Frühjahr 1948 entschlossen sich die drei Westmächte im Einvernehmen mit den Benelux-Staaten, den drei westlichen Zonen die Möglichkeit zur Bildung einer staatlichen Organisation zu geben, nachdem die Gewinnung der vierten Besatzungsmacht zur Mitarbeit ausgeschlossen erschien. Als Adressaten des alliierten Auftrages kamen die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder in Frage. Ihnen erschien die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung nicht ratsam, einerseits wegen der labilen politischen Lage, andererseits weil sie dem provisorischen Charakter des neuen Staatsgebildes, auf dem die Ministerpräsidenten aus gesamtdeutschen Erwägungen bestanden, widersprochen hätte. So griff man auf die in den westdeutschen Ländern vorhandenen Volksvertretungen zurück. Von den elf Landtagen wurden, proportional ihrer parteipolitischen Zusammensetzung, insgesamt 65 Abgeordnete in einen sogenannten Parlamentarischen Rat (PR) delegiert. Hinzutraten, ohne Stimmrecht, fünf Berliner Abgeordnete. Der Parlamentarische Rat hatte einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, der anschließend den Landtagen zur Beschlußfassung vorgelegt werden sollte. Der Entwurf mußte in zwei Dritteln der Länder an-
9 In der Periode bis 1949 - die seitherige Entwicklung hat neue Gesichtspunkte hervorgebracht - war die Lehre vom Fortbestand des Deutschen Reiches eindeutig herrschend. Vgl. Städter, aaO. S. 45 f.; Entschließung der deutschen Völkerrechtslehrer auf ihrer Tagung 1947 in Hamburg, abgedr. JiaöR 1 (1948) S. 6; Rudolf Laun, Der gegenwärtige Rechtszustand Deutschlands, in: JiaöR 1 (1948) S. 13; Friedrich Klein, Neues deutsches Verfassungsrecht, Frankfurt (Main) 1949, S. 33 u. a. 10 Nach einer Formulierung von Karl Barth, zit. bei Oskar Stark, Wege zur Demokratie in Deutschland, Freiburg i. Br. 1947, S. 13. 11 Hans Kelsen, The legal status of Germany according to the declaration of Berlin, in: American Journal of International Law 39 (1945) S. 518 ff., war wohl der bedeutendste Verfechter der Untergangsthese. In einer Zuschrift an die New York Times, veröffentlicht in der Nr. v. 7. September 1947, erklärt Kelsen, die Annahme des Endes des deutschen Staates „might facilitate the development of a new political philosophy as ideological basis of the new State". Zur Kritik an Kelsen: Eberhard Menzel, Deutschland - ein Kondominium oder Koimperium?, in: JiaöR 1 (1948) S. 43 ff. Die Untergangsthese vertraten ferner: Jürgen v. Kempski, Deutschland als Völkerrechtsproblem, in: Merkur 1/2 (1947/48) S. 188 ff.; Wolfgang Abendroth, Die Haftung des Reiches, Preußens, der Mark Brandenburg und der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts für Verbindlichkeiten, die vor der Kapitulation vom 8 Mai 1945 entstanden sind, in: NJ 1 (1947) S. 73 ff.; Karl Polak, Rechtsgutachten vom 15. September 1945, zit. aaO. S. 78. 12 Menzel, Zur völkerrechtlichen Lage, S. 1009.
2 Fromme
18
Einleitung
genommen werden. Von einer Volksabstimmung, die ursprünglich vorgesehen war, wurde aus den gleichen Gründen wie beim Verzicht auf eine Nationalversammlung abgesehen13. Der Parlamentarische Rat trat am 1. September 1948 in Bonn zusammen. Ihm lagen als Material - neben zahlreichen mehr oder weniger privaten Entwürfen und Vorschlägen 14 - die Arbeit eines von den Ministerpräsidenten eingesetzten Sachverständigenausschusses vor, der vom 1 0 . - 2 3 . August 1948 in Herrenchiemsee getagt hatte. Er hatte einen artikulierten Verfassungsentwurf (HChE) vorgelegt, in dem Mehrheits- und Minderheitsstandpunkt als Varianten nebeneinandergestellt worden waren. Der Parlamentarische Rat bildete eine Reihe von Fachausschüssen, sodann einen sogenannten Hauptausschuß (HA), in dem die Vorlagen der Fachausschüsse in mehreren Lesungen zum eigentlichen Verfassungsentwurf verschmolzen wurden. Ein dreiköpfiger Allgemeiner Redaktionsausschuß (ARA) hatte in Streitfragen zu vermitteln. Gegen Ende der Beratungen führten alliierte Interventionen zur Einsetzung weiterer Schlichtungsausschüsse (sogenannter Fünferausschuß und Siebenerausschuß)15. Am 8. Mai 1949 wurde der Entwurf eines Grundgesetzes - auf diesen Namen hatte man sich zur Betonung des Provisoriums festgelegt - vom Parlamentarische Rat mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen. Zwischen dem 18. und dem 21. Mai wurde das Grundgesetz (GG) von allen Landtagen bis auf den bayerischen angenommen. Die Genehmigung der Militärgouverneure war - mit einigen Vorbehalten - schon am 12. Mai 1949 erteilt worden. So konnte das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft treten. Dem Verfassungsgesetz des Grundgesetzes war aufgegeben, eine Verfassung im Sinne einer bestimmten politischen Entscheidung zu etablieren. Diese Auflage ergab sich aus der Situation und auch formell im sogenannten Dokument I der Militärgouverneure 16, das den Anstoß zur Bildung eines (west-)deutschen Staates gegeben hatte. Die „Verfassung" im Sinne der politischen Richtungsgebung, die das Grundgesetz dem neuen Staat anzuweisen hatte, war wie im Jahre 1918 die des demokratischen, gewaltenteilenden Rechtsstaates.
2. Das Bonner Grundgesetz als Rezeption der Weimarer Verfassung Die politischen Entscheidungen, die die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz verfassungsrechtlich zu normieren hatten, zeigen eine weitgehende 13
Die ausführlichste Darstellung der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt bisher Bodo Dennewitz, Einleitung zum BK. 14 Sie werden erläutert aaO. S. 56 f. 15 Vgl. die Darstellung des Ablaufs der Beratungen des Parlamentarischen Rates aaO. S. 75 ff. 16 Abgedr. JöR N. F. 1 S. 1 ff.
Einleitung
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Parallelität. Die politische Situation, in der sie entstanden, und die politische Aufgabe, der sie dienstbar zu sein hatten, waren ähnlich. Beide Verfassungen mußten, nachdem ein autoritäres System in einer militärischen Niederlage zusammengebrochen war, den Staat im demokratischen Sinne neu organisieren. Dies gilt im Grundsätzlichen, wobei gewichtige Unterschiede nicht übersehen werden dürfen. Der 1918 abgelöste Staat war ein autoritärer, monarchischer Rechtsstaat, der 1945 zusammengebrochene Staat eine totalitäre cäsaristische Diktatur. Im Jahre 1918 teilten sich die militärische Niederlage und die innerstaatliche Revolution in die Ablösung des alten Staates. Im Jahre 1949 leistete dies der militärische Zusammenbruch allein. Die Revolution war ausgeblieben, die Alliierten hatten gleichsam als stellvertretende Revolutionäre gewirkt 17 , die nun in Wahrnehmung des „Geschäftswillens der Revolutionäre" 18 über Art und Zeitpunkt des staatlichen Neuaufbaus entschieden. Im Jahre 1918 war der Staat erhalten geblieben und wurde kraft eines innenpolitisch bestimmten Entschlusses, wenn auch im Hinblick auf außenpolitische Rückwirkungen, demokratisch neu organisiert. Im Jahre 1945 kam es auf den Willen der Alliierten an, in welcher Form, aus welchen Bruchstücken des deutschen Staates ein neues Staatsgebilde zusammengefügt wurde. Das Grundgesetz sollte hier nur ein erster Schritt sein; es ist von dem Vorbehalt des Provisorischen überschattet. Bei all diesen Unterschiedlichkeiten gilt, daß die politische Grundentscheidung, die Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz zu treffen hatten, die gleiche war, und daß die politische Ausgangssituation beider Verfassungen verwandte Züge aufweist. Im Jahre 1918 wie im Jahre 1948 war die gleiche „Verfassung" im Sinne der „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit und Ordnung" 19 zu errichten. Hieraus mußte sich ein enges gegenseitiges Verhältnis auch der beiden Verfassungsgesetze Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz ergeben; die Vermutung spricht zunächst dafür, daß das Grundgesetz im Verhältnis einer Rezeption zur Weimarer Reichsverfassung stehen müsse20. 17 „Eine Prüfung der in Deutschland 1945 eingetretenen Lage wird ... beachten müssen, daß die Okkupation zugleich eine politische Intervention war und ist, die in ihrer Wirkung einer Revolution gleichkommt." Zinn, aaO. S. 8. Alfons Steiniger bezeichnete 1948 auf der Hamburger Völkerrechtslehrertagung die Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes durch die Alliierten als eine „Revolution von außen", vgl. den Tagungsbericht, in: JiaöR 1 (1948) S. 245. Ähnlich auch Walter Dirks, Die Zweite Republik, Frankfurt/M. 1947, S. 22 und Karl Heinrich Knappstein, Die versäumte Revolution, in: Die Wandlung 2 (1947) S. 663 ff. 18 Ausdruck bei Abendroth aaO. S. 76. 19 s.o.S. 15. 20 v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 11 führt die Weimarer Reichsverfassung unter den „Materialien" an, die dem Parlamentarischen Rat zur Verfügung gestanden haben. Vgl. auch die Begründung, die Abg. Dr. Heuss (FDP) für seinen Vorschlag der Präambel gab: „Ich habe den Ausdruck ,neu geschaffen' am Anfang gewählt, um so den Anschluß an bestimmte Traditionen, die in Weimar doch geschaffen wurden, zum Ausdruck zu bringen." Abgedr. JöR N. F. 1 S. 23.
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Es wurde sogar, bevor mit der Einberufung des Parlamentarischen Rates die Entscheidung für die Schaffung einer neuen Verfassung gefallen war, angeregt, ob einer künftigen gesamtstaatlichen Ordnung Deutschlands nicht wiederum die Weimarer Reichsverfassung zugrunde gelegt werden könnte. Diesen Vorschlag machte der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto Braun in einer Denkschrift vom 28. Januar 194321. In einer Artikelserie der „Leipziger Zeitung" hat im Jahre 1947 der jetzige Ordinarius für politische Soziologie in Berlin, Otto Stammer, ähnliche Anregungen vorgetragen 22. Sogar in Beratungen der Alliierten wurde der Gedanke einer Rückkehr Deutschlands zur Weimarer Reichsverfassung geäußert. Der sowjetische Außenminister Molotow meinte auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947, man könne sich vielleicht dahin einigen, die Weimarer Reichsverfassung als Grundlage für eine neue Staatsordnung Deutschlands zu nehmen 23 . Die Regierungschefs der sowjetisch besetzten Länder vertraten auf der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz vom Mai 1947 einen ähnlichen Standpunkt 24 . Gelegentlich wurde sogar die Meinung geäußert, daß die Weimarer Reichsverfassung überhaupt noch in Geltung sei 25 , allerdings zumeist nur in Rechtsgutachten und Gerichtsentscheidungen26, wobei wahrscheinlich dem Gutachtenzweck oder der Entscheidungsabsicht eine Bestimmung der Weimarer Reichsverfassung förderlich war, um derentwillen dann die Geltung der Weimarer Reichsverfassung behauptet wurde 27 . Politische Bedeutung hatten diese Äußerungen nicht. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ist ihnen die Grundlage entzogen. Wenn auch - im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung 28 - das Grundgesetz seine Vorgängerverfassung nicht ausdrücklich aufhebt 29, war doch im Parlamentarischen Rat 30 und 21
Die Denkschrift ist abgedr. in: Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949, S. 287 ff. Vgl. bes. S. 290. 22 Nach persönlicher Rücksprache mit dem Autor. Die „Leipziger Zeitung" ist nicht zu verwechseln mit dem SED-Organ „Leipziger Volkszeitung". Sie wurde seinerzeit wegen positiver Stellungnahme zum Marshall-Plan verboten. 23 Vgl. EA 2 (1947) S. 698. Der britische und der französische Außenminister erhoben Widerspruch. Vgl. aaO. S. 711. 24 Vgl. BK Einleitung S. 38. 25
So (nicht ganz eindeutig) Otto Braun in der in Anm. 21 genannten Denkschrift. So in einem Rechtsgutachten des V. Senats des obersten Finanzgerichtshofes in München v. 5. April 1946, abgedr. JiaöR 1 (1948) S. 189 ff.; Beschluß des Landgerichts Hamburg, Strafkammer 1, v. 18. März 1947, abgedr. MDR 1 (1947) S. 38 f. Weitere Entscheidungen bei Stödter, aaO, S. 260 Anm. 327. 27 So erklärt das Landgericht Hamburg in seinem Anm. 26 angeführten Beschluß die Weimarer Reichsverfassung für gültig, weil die Immunität Hamburgischer Bürgerschaftsabgeordneter in Frage stand. Die Hamburger Verfassung v. 15. Mai 1946 enthielt keine Immunitätsbestimmungen. 2 « Art. 178 Abs. 1. 2 9 Abg. Dr. Schmid (SPD) regte eine diesbezügliche Bestimmung an. Vgl. PlenStenBer. S. 12. 26
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ist in der späteren Staatsrechtslehre die Meinung einhellig, daß „von der Weimarer Verfassung in der Zeit nach 1933 kein wesentliches Stück in Geltung geblieben ... ist" 3 1 . Den Befürwortern der Wiederinkraftsetzung der Weimarer Reichsverfassung war eines gemeinsam: sie alle wollten die Rückkehr zur Weimarer Reichsverfassung nicht ohne Bedingungen und Vorbehalte. Otto Braun wollte der Regierung das Recht geben, von der Weimarer Reichsverfassung abzuweichen, wenn es „lebenswichtige Interessen des Staates erheischen" 32. Stammer 33 sah in der Weimarer Reichsverfassung nur eine Interimsordnung, die in einer gründlichen Verfassungsreform abgewandelt werden sollte. Auch Molotow schränkte seine Befürwortung der Weimarer Reichsverfassung ein: „Man könnte alle die notwendigen Verbesserungen an dieser Verfassung vornehmen, die wir alle als zweckmäßig anerkennen." 34 Eine kritische Haltung zur Weimarer Reichsverfassung nahm auch der Parlamentarische Rat ein. Prinzipiell wäre es möglich gewesen, die Schaffung der neuen Verfassung de facto einer Wiederbelebung der Weimarer Reichsverfassung gleichkommen zu lassen. Dem stand aber entgegen, daß die von der Weimarer Reichsverfassung normierte und begründete demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung sich nicht hatte behaupten können. Gerade das äußerlich legale Hinübergleiten des deutschen Verfassungszustandes in die totalitäre Diktatur mußte den Parlamentarische Rat veranlassen, der Weimarer Reichsverfassung mit Skepsis gegenüberzutreten und sich vor einer allzu genauen Kopie der Weimarer Reichsverfassung zu hüten. Bereits der HChE konnte sich einem „politischen Glauben von großer Tragweite nicht entziehen, ... nämlich daß das Weimarer Verfassungssystem schließlich versagt habe" 35 . So trat der Parlamentarische Rat der Weimarer Reichsverfassung nicht nur in einer rezeptiven Haltung gegenüber. Die Rezeption wurde überlagert von einem Bestreben zur Differenzierung. Dies wurde bestimmt von dem Anschauungsmaterial, das die Zeit seit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, die Zeit der 30 So etwa Abg. Dr. Schmid (SPD) aaO.; Abg. Zinn (SPD) HA Steno S. 599. 31
Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht. Ein Studienbuch, 7. Aufl. München und Berlin 1958, S. 40. Ebenso v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 1; Theodor Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 1956, S. 260 u. a. Schon vor 1948: Zinn, aaO. S. 7; Ernst /. Cohn, Zum rechtlichen Problem Deutschlands, in: MDR 1 (1947) S. 180; Stödter, aaO. S. 260 f.; Schätzet, Die neue Rheinisch-Pfälzische Verfassung, in: DRZ 1/2 (1946/47) S. 245; Abendroth, aaO. S. 78; Alfons Steiniger, Ausschließbarkeit des Rechtsweges bei Staatshaftungsklagen durch neues Landesrecht?, in: NJ 1 (1947) S. 146 f.; Rudolf Laun, Zu den Eingriffen in das Versicherungswesen in der östlichen Besatzungszone, in: Versicherungswirtschaft 1946, Heft 3, S. 4 f. 32
So Otto Braun in der in Anm. 21 genannten Denkschrift, S. 293. s.o. Anm. 22. 3 4 EA 2 (1947) S. 698. 3 5 Maunz, aaO. S 7.
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Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes, dem Parlamentarische Rat lieferte.
3. Die Differenzierung des Bonner Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Verfassung Einzelne Mitglieder des Parlamentarischen Rates distanzierten sich ausdrücklich von der Weimarer Reichsverfassung. „Eine Demokratie, die die Tyrannis so widerstandslos aus sich heraus entläßt, ist nicht wert, noch einmal geschaffen zu werden", sagte Abg. Dr. Kroll (CSU) 36 . Abg. Dr. Dehler (FDP) klagte, daß der Parlamentarische Rat sich „in gespenstischer Weise genauso benehme, wie die Leute von 1919" 37 . Zwar war der Parlamentarische Rat nicht zu grundsätzlichen Stellungnahmen geneigt. Dafür stand er zu sehr unter Zeitdruck und zu wenig (wahrscheinlich zum Nutzen seiner Arbeit) im Lichte der Öffentlichkeit 38. Seine Distanzierung von der Weimarer Reichsverfassung, wenn auch selten deklaratorisch verkündet, ist aber in den verfassungsrechtlichen Konstruktionen und in ihren Begründungen auf Schritt und Tritt spürbar, und zwar so deutlich, daß es kaum eine literarische Behandlung des Grundgesetz gibt - von der juristischen Fachliteratur bis zu Aufsätzen über Verfassungsfragen in Tageszeitungen - , die nicht in irgendeiner Weise das Grundgesetz als eine Art „Antiverfassung" 39 zur Weimarer Reichsverfassung klassifiziert. Diese allgemeine und verbreitete Feststellung, daß das Grundgesetz in einem „gewollten Gegensatz zu der Weimarer Regelung" stehe 40 , scheint einer näheren Erörterung zu bedürfen. Zunächst einmal setzt in der Regel jede neue Verfassung einen Gegensatz zu ihrer Vorgängerin. Die ersten Verfassungen, die der absoluten Monarchie abgerungen wurden und deren Umwandlung zur konstitutionellen Monarchie einleiteten, waren Antiverfassungen zum Verfassungszustand des Absolutismus. Die Weimarer Reichsverfassung war Antiverfassung gegenüber der Verfassungsordnung der konstitutionellen Monarchie. Je intensiver der politische Entscheidungscharakter einer Verfassung ist, um so stärker ist meist der Gegensatz zur Vorgängerin. Dagegen hat eine Verfassung, die ein reines Organisationsstatut ist, meist keinen historisch vorangehenden Gegner, es sei denn, man nehme den Zustand der Organisationslosig36 PlenStenBer. S. 114. 37 AaO. S. 88. 38 So v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 11. 39 Ausdruck bei Carl Schmitt, Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 58. Schmitt verwendet den Ausdruck zur Kennzeichnung der Beziehungen der Weimarer Reichsverfassung zur aRV und warnt vor einer klischeehaften Verallgemeinerung dieser Betrachtungsweise. 40 Walter Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Grundgesetz, in: VVDStRL 8 (1950) S. 5.
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keit oder der andersartigen Organisation als Gegensatz. So kann man die Bismarcksche Verfassung in ihrer weitgehenden Freiheit von weltanschaulichen Elementen kaum als Antiverfassung zu der ihr vorangehenden des Deutschen Bundes gelten lassen, es sei denn, man sehe in ihr den Gegensatz bundesstaatlicher Zentralisation zu staatenbundlichem Partikularismus. Das Grundgesetz sollte ursprünglich ein reines Organisationsstatut sein. Daß man dem Grundgesetz dennoch in so starkem Maße nachsagen kann, es sei eine Antiverfassung zu seiner Vorgängerin, wirft ein Licht darauf, wie sehr das Grundgesetz entgegen der ursprünglichen Absicht seiner Schöpfer zu einer Vollverfassung geworden ist. Daß das Grundgesetz als Antiverfassung zu seiner Vorgängerin bezeichnet wird, ist mithin nicht weiter verwunderlich. Daß aber die Verfassung, zu der das Grundgesetz in der Position der Antiverfassung steht, gemeinhin in der Weimarer Reichsverfassung gesehen wird, enthält eine systematische Ungenauigkeit. Der nationalsozialistische Staat hatte keine Verfassung im Sinne eines Verfassungsgesetzes. Er hatte aber wohl eine „Verfassung" im Sinne einer politischen Entscheidung über die Art und Form der staatlichen Existenz41. Diese „Verfassung" des nationalsozialistischen Staates ging dem Grundgesetz als Vorgängerin voran. Zu dieser „Verfassung" setzt das Grundgesetz den gewollten und betonten Gegensatz 42 . Im Grund ist also das Grundgesetz nicht die Antiverfassung zur Weimarer Reichsverfassung, sondern zur „Verfassung" des nationalsozialistischen Staates. Antiverfassung zur Weimarer Reichsverfassung ist das Grundgesetz nur in einem mittelbareren, komplizierteren Sinne. Der Parlamentarische Rat glaubte sich nicht mit einem direkten Gegenschlag gegen die Diktatur begnügen zu können. Bewußt oder unbewußt maß der Parlamentarische Rat der Weimarer Reichsverfassung eine Schuld an der Heraufführung der Diktatur zu. Bemüht, nicht nur den faktischen Erscheinungsformen der Diktatur zu begegnen, sondern tiefer zu den Ursachen der Diktatur zu dringen, die Diktatur gleichsam nachträglich in ihren Wurzeln zu bekämpfen, unterzog der Parlamentarische Rat die der Diktatur vorangehende demokratische Verfassung, die Weimarer Reichsverfassung, einer Revision. Das Bemühen des Parlamentarischen Rates, eine von der Weimarer Reichsverfassung abweichende Verfassung zu schaffen, ist gleichsam eine Ausstrahlung der Gegenposition, die der Parlamentarische Rat gegen die Diktatur bezog. So steht das Grundgesetz in der Position des schroffen, gewollten, emotional bestimmten, einer revolutionsähnlichen Staatsumwälzung entsprechenden Gegensatzes zur Verfassung des nationalsozialistischen Staates. Es steht in der Position einer intellektuell bestimmten Absicht des Besserns und Korrigierens zur Weimarer Reichsverfas41 s. o. S. 15 f. 42 In einer Reihe der zahlreichen Entwürfe zur Präambel des Grundgesetzes - sie ist nach Maunz, aaO. S. 41 „ein wichtiges Dokument für das Verständnis des Grundgesetzes" - war der Gegensatz der neuen Verfassung zur nationalsozialistischen Diktatur als zentrale Verfassungsentscheidung proklamiert worden. Vgl. JöR N. F. 1 S. 24 ff., 29.
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sung. Das Grundgesetz ist eigentlich Antiverfassung zur nationalsozialistischen Verfassung. Daß die Verfassungsordnung des Grundgesetzes schon einmal von der Weimarer Reichsverfassung verwirklicht worden war, macht das Grundgesetz zunächst zu einer Parallelverfassung zur Weimarer Reichsverfassung. Die historisch bedingte Modifikation des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung läßt das Grundgesetz aber auch als eine Antiverfassung besonderer Art zur Weimarer Reichsverfassung erscheinen.
4. Gegenstand Gegenstand der Untersuchung ist die Modifikation des Grundgesetzes gegenüber dem sich immer wieder aufdrängenden Vorbild der Weimarer Reichsverfassung. Der situationsbedingten Vorbildhaftigkeit der Weimarer Reichsverfassung muß man sich bewußt bleiben, wenn sich auch das Interesse den Unterschiedlichkeiten zwischen Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung zuwendet. , Jede Verfassungsgebung ... wird ... mitbestimmt von den Erfahrungen der unmittelbaren staatlichen Vergangenheit, und zwar um so stärker, je unglücklicher diese Vergangenheit war." 43 Die Erfahrungen aus der unmittelbaren Vergangenheit, die dem Parlamentarische Rat vorlagen, waren mehrschichtig, ja divergierend. Aufgerufen, seine Abwendung von der unmittelbar voraufgegangenen Diktatur verfassungsrechtlich zu proklamieren und zu institutionalisieren, sah sich der Parlamentarische Rat auf die dieser vorangehende demokratische Verfassung hingewiesen. Da der Parlamentarische Rat die Diktatur aber mit dieser Verfassung in einem Kausalzusammenhang sah, vermochte er auf diese Verfassung nicht unbedingt und ungeteilt zurückzugreifen. Der Parlamentarische Rat stand in einer doppelten, aber in sich divergenten Vergangenheitsnegierung. Aus den beiden Verfassungsformen, Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, die dem Parlamentarische Rat als Erfahrungsmaterial zur Verfügung standen, zog er, der Divergenz dieser Verfassungsformen entsprechend, divergierende Schlußfolgerungen. Die Erfahrungen aus der nationalsozialistischen Diktatur veranlaßten den Parlamentarischen Rat zu einem verfassungsrechtlichen Protest gegen die Diktatur. Das Erlebnis einer unbegrenzten Staatsmacht drängte den Parlamentarischen Rat zur Begrenzung der Staatsmacht. Die Erfahrungen aus der Weimarer Republik, das Erlebnis einer führungsschwachen Demokratie, die keine echte Alternative zur Diktatur mehr gesetzt hatte, und aus deren Krise die Diktatur entsprang, forderten den Parlamentarischen Rat zu einer Verbesserung der Funktion der demokratisch-parlamentarischen Regierungsform auf. Die Erfahrungen aus der nationalsozialistischen Herrschaft standen im Zeichen der Angst vor dem Staat, die aus der Weimarer Republik im Zeichen der Sorge um den Staat. Die ersteren hatten eine antistaatliche, die letzteren eine prostaatliche Tendenz. 43 Walter Strauß, Der Bundespräsident und die Bundesregierung, in: DÖV 1 (1948) S. 272.
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Der Parlamentarische Rat scheute den funktionsunfähigen demokratischen Staat ebensosehr wie die allzu funktionsfähige Diktatur. Diese Doppeltendenz des Parlamentarischen Rates mußte gelegentlich zu Situationen führen, in denen sich die Verfassungsresultante gleichsam im Kräfteparallelogramm divergierender prostaatlicher und antistaatlicher Tendenzen bestimmte. Der Grundgesetzgeber wollte um der Diktaturverhütung willen der Demokratie weitgehende Macht zugestehen. Diese Machtfülle erschien dann wiederum unerwünscht, wenn der demokratische Staat erneut diktatorisch entarten würde. Für den Parlamentarischen Rat war der zu organisierende Staat gleichsam ein anderer als der zu beschränkende Staat. Organisiert wurde der demokratische Staat, beschränkt wurde der diktatorische Staat. Was den Schöpfern des Grundgesetzes vorschwebte, war gleichsam eine automatische Staatsnotbremse für den Diktaturfall, eine demokratische Leitungssperre bei diktatorischem Kurzschluß, ein Organismus risikoloser Leistung also, der kaum aus dem Gebiet der Technik übertragbar ist in die kompliziertere, sich der Vorausberechnung stärker entziehende Materie der Staatsorganisation. Die Divergenz der Erfahrungstendenzen aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Herrschaft führte im allgemeinen nicht zu erheblichen Konflikten, weil jene sich in der Regel auf verschiedenen Gebieten der Verfassung auswirkten. Carl Schmitt bezeichnet es als Wesensmerkmal der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung - hierher gehören sowohl Grundgesetz wie Weimarer Reichsverfassung - , daß sie zerfällt in einen Teil, der die Staatsgewalt organisiert, und einen zweiten Teil, den Grundrechtsteil, der der Staatsgewalt Schranken setzt und die Rechte des Individuums angibt und sichert 44. Die konkret umschriebenen Übergriffe des diktatorischen Staates wirkten in der Regel in den Grundrechtsteil der Verfassung hinein. Die Absicht des Parlamentarischen Rates, die demokratische Staatsfunktion zu kräftigen, fand ihren Niederschlag vorherrschend im Organisationsteil des Grundgesetzes. In einem weiteren, systematisch abzutrennenden historischen Erfahrungsbereich aber trafen die Tendenzen zur organisatorischen Stärkung und zur wirkungsbereichsmäßigen Beschränkung des Staates hart aufeinander. Demokratie und Diktatur wurden im Jahre 1933 nicht durch eine klare Zäsur scharf voneinander getrennt. Zwischen der Demokratie und der Diktatur stand die bedrohte, in ihrer Abwehrfähigkeit behinderte Demokratie. In besonderem Maße von 1930 an waren antidemokratische Kräfte auf dem Wege, unter Nutzung der demokratischen Freiheiten und politischen Rechte der Demokratie den organisatorischen Herrschaftsapparat des Staates zu erobern, um diesen im diktatorischen Sinne umzugestalten und die demokratischen Freiheiten mit den Mitteln eines in seinem Sinninhalt pervertierten demokratischen Herrschaftsapparates zu vernichten. Diesem Vorgang stand die Weimarer Republik hilflos gegenüber. Hieraus zog der Parlamentarische Rat die Konsequenz, daß der demokratischen Herrschaftsordnung Mittel an die Hand zu geben seien, mit denen sie sich gegen derartige Attakken zur Wehr setzen könnte. Das hieß aber, daß dem aus der Diktatur abgeleiteten 44 Schmitt, Verfassungslehre, S. 40, 200.
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Willen des Parlamentarischen Rates, den Grundrechtsschutz des einzelnen zu verstärken und gegenüber dem staatlichen Zugriff zu verabsolutieren, ein Bedürfnis entgegentrat, den Grundrechtsschutz des Bürgers und dessen politische Rechte im Interesse des Staates wiederum einschränken zu können. Der demokratische Staat sollte also Rechte bekommen, die man dem diktatorischen Staat unbedingt versagen wollte. Da sich dies nicht mit absolut verläßlicher Automatik verfassungsrechtlich regeln läßt, geriet hier der Parlamentarische Rat in ein normatives Dilemma, in dem schließlich nur die Lösung eines vernünftig erscheinenden Mittelweges gefunden werden konnte. Während die Erfahrungen aus der Weimarer Republik vorwiegend den Organisationsteil des Grundgesetz, die aus der nationalsozialistischen Herrschaft seinen Grundrechtsteil affizierten, erstrecken sich die Erfahrungen aus der Situation der schutzlos bedrohten Demokratie auf beide Verfassungsbereiche. Der Staatsorganisation mußte der Eingriff in die Grundrechtssphäre - wenn auch unter bestimmten Vorbehalten - eröffnet werden. Das Erlebnis einer bedrohten und wehrlosen Demokratie führte so einen Verfassungsbereich in das Grundgesetz ein, der aus seiner historischen Motivation heraus als eigenständig zu betrachten ist, wenn er auch nicht als besonderer Abschnitt in der Verfassung abgegrenzt ist: den Verfassungsschutz als Verfassungsaufgabe. Den Schöpfern demokratischer Verfassungen ist immer die Aufgabe gestellt, die „magische Formel" zu finden, „wie Autorität und Freiheit sich verbinden könnten, ohne daß sie sich gegenseitig vernichten" 45. In besonderem Maße gilt das für den Parlamentarischen Rat, dem schutzlose Freiheit und zur Diktatur entartete Autorität als historisches Anschauungsmaterial zur Verfügung standen. Bei der Normierung des Verfassungsschutzes drängte sich die immanente Problematik jener Quadratur des Kreises gleichsam auf einem verfassungsrechtlichen Sachgebiet zusammen. Aus diesen Erwägungen ergibt sich eine Einteilung des Stoffes. Das Erlebnis der funktionsschwachen Demokratie veranlaßte den Parlamentarischen Rat, eine funktionsfähigere Organisation der demokratischen Herrschaft zu schaffen, als sie die Weimarer Reichsverfassung dargestellt hatte. (Abschnitt I.) Aus dem Erlebnis der in ihrem Abwehrkampf gegen ihre Feinde verfassungsrechtlich mangelhaft ausgerüsteten Weimarer Demokratie folgte eine Ausgestaltung des Verfassungsschutzes im Grundgesetz. (Abschnitt II.) Schließlich spiegeln eine Reihe von Bestimmungen und neuen systematischen Konzeptionen das Erlebnis der Diktatur im Grundgesetz wider. (Abschnitt III.) Diese Einteilung ist, wie alle Versuche, unauflöslich ineinander verfochtene Lebensverhältnisse in ein Schema zu gliedern, mit Elementen der Willkür behaftet und nicht voll befriedigend.
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Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 394.
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Der emotionale Motor sämtlicher Änderungen des Grundgesetz gegenüber der Weimarer Reichsverfassung war letztlich das Erlebnis der Diktatur. Die Verstärkung des Verfassungsschutzes sollte die demokratische Verfassungsordnung gegen die Diktatur erhalten. Die Verbesserungen in der Organisation der demokratischen Staatswillensbildung sollten die Diktatur dadurch verhüten, daß die demokratische Ordnung sich durch Funktion behauptet und die Diktatur weder gewünscht wird noch Chancen hat. „Wir wissen zu genau, daß hinter der Krise des demokratischen Systems der Diktator lauert", sagte der Abg. Dr. Katz (SPD) im Parlamentarischen Rat 46 . Betrachtet man die neuen Bestimmungen des Grundgesetzes aus allen drei Bereichen daraufhin, in welchem Ausmaß sie ihren Zweck, die Diktaturverhütung, erfüllen werden, wird sich die Waage zugunsten der organisatorischen Neuregelungen neigen. Hier wird die Verhütung der Diktatur vom Ursprung her versucht. Dagegen werden verfassungsrechtliche Spezialbestimmungen gegen typische Maßnahmen der Diktatur, auch verfassungsrechtliche Beteuerungen der Bindung des Staates an die Demokratie nicht viel ausrichten können, wenn eine Diktatur durch Versagen der Demokratie! - einmal so weit vorgedrungen ist, daß sie bereits an die papierenen Schranken der Verfassung stößt. Auch der Gedanke des Verfassungsschutzes ist begrifflich wie auf seine praktische Wirksamkeit hin betrachtet nicht ohne Problematik. Gegen breite, von allgemeiner Zustimmung getragene Bewegungen wird es ein auf Verfassungsbestimmungen sich stützender administrativer oder justizförmiger Verfassungsschutz schwer haben. Die hauptsächliche Bedeutung der Verfassungsschutzbestimmungen wird wohl darin liegen, daß den Anfängen gewehrt wird und daß das bloße Vorhandensein einer demokratischen Abwehr potentielle Attacken auf die Verfassung inhibiert. Die bedeutendste Auswirkung der nationalsozialistischen Diktatur im Grundgesetz ist also wohl nicht ihr unmittelbarer verfassungsrechtlicher Niederschlag, sondern ihre mittelbare Wirkung als Bekräftigung der Erfahrungen aus der Weimarer Zeit: funktionsfähige Ausgestaltung der Demokratie 47. Das Erlebnis der Diktatur hat gleichsam im Lehrbuch der Demokratie den Satz unterstrichen, daß es auch und gerade in der Demokratie auf die Bildung einer starken und klaren Führung ankommt 48 . So mahnte im Parlamentarischen Rat der Abg. Dr. Heuss (FDP), man
«6 PlenStenBer. S.91. „Doch ist sie (die Demokratie, F.) nicht durch Gewalt zu verteidigen (was sehr bald einmal ihrem Wesen widerspricht und sie von innen heraus unterminiert), sondern durch ein ausgezeichnetes oder doch korrektes Funktionieren." Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit. Versuch einer politischen Orientierung, München 1957, S. 290. 47
48 So bereits Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, Tübingen 1926, S. 426: „Der Parlamentarismus muß und soll die Führung der politischen Demokratie organisieren. Und auch in der Demokratie muß eine Regierung regieren können. " Rudolf Ritter, Lehren der Weimarer Republik, in: Schweizer Monatshefte 25
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möge sich durch die Erfahrungen aus der Diktatur - die in antistaatlicher Richtung wirkten! 49 - nicht zu weit in die Staatsverneinung treiben lassen50. So wird die Neugestaltung der demokratischen Staatsorganisation ausführlich zu behandeln sein. Der Verfassungsschutz und die direkten Reaktionen auf die Diktatur werden nur skizziert werden, um eine Gesamtschau der Reaktionen des Grundgesetzes auf die jüngste Vergangenheit zu erreichen.
5. Abgrenzung Die Darstellung eines so komplexen Stoffes wie des vorliegenden bedarf energischer Beschränkung. Jede Herauslösung eines Einzelaspektes aus größeren Zusammenhängen läuft Gefahr, in den Verdacht unzulässiger Verabsolutierung dieses Aspekts zu geraten. Sich auf einen Teilaspekt zu konzentrieren, heißt aber noch nicht, alles andere zu negieren. Von der Darstellung bestimmter Fragen abzusehen, heißt nicht, ihre Existenz zu übersehen. Der Parlamentarische Rat sah die Weimarer Reichsverfassung in bestimmtem Umfang als für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlich an. Dies ist zu registrieren, ohne daß der Grad der Berechtigung dieser Auffassung nachgeprüft wird. Es kann hier nicht der Ort sein, die Diagnose der Weimarer Republik zu stellen und zu ermitteln, welches ihrer Leiden tödlich war. Wie man sich bewußt sein muß, daß die Weimarer Reichsverfassung keine Alleinschuld am Scheitern der Weimarer Demokratie trifft, muß man erkennen, daß das Grundgesetz kein Allheilmittel, keine Garantie für eine glückliche verfassungspolitische Entwicklung sein kann. Daß ein Verfassungsgeber vorherrschend von der Verfassung spricht, darf nicht den Eindruck erwecken, als ob es nur die Verfassung gebe - oder auch nur, daß der Verfassungsgeber dies meine. Professionelle Einseitigkeit bedeutet noch nicht das Ableugnen aller anderen Faktoren 51. Der Verdacht, einen Einzelaspekt unzulässig zu verabsolutieren, kann aber noch in anderer Richtung aufkommen. Das Grundgesetz in seiner Bedingtheit durch historische Erfahrungen zu beschreiben, bedeutet nicht, zu negieren, daß noch andere Kräfte an der Formung des Grundgesetzes mitgewirkt haben. Die Verfassungsgeschichte eines Staates ist dem Wachstum eines Baumes zu vergleichen. Alles Gewesene setzt sich in Jahresringe um, die unverloren bleiben, auch wenn sie nach (1945/46) S. 33, nennt vor allem anderen die „Demokratie ... mit starker Staatsführung." Vgl. hierzu auch Abg. Dr. Dehler (FDP) HA Steno S. 637 f. 49 S. o. S. 24 f. 50 PlenStenBer. S. 44. 51
In seiner Polemik gegen das Grundgesetz unterlag Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, Göttingen 1949, S. 29, diesem Mißverständnis: „So wurde die Weimarer Verfassung zum Schuldigen und die Tilgung des Schwachen und Bösen an ihr zum ängstlichen Hauptinhalt der Bonner Bemühungen." Gegen Weber zutreffend v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 22.
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außen nicht sichtbar sind. So haben auch in die Zeit vor 1918 zurückreichende Traditionen den Parlamentarischen Rat, wenn auch nicht aus den Debatten ablesbar, mit beeinflußt. Auch ausländische Vorbilder 52 und vor allem ausländische Warnungen haben dem Parlamentarischen Rat in der Gestaltung des Grundgesetzes mit die Hand geführt. Das Bild des krisenhaften französischen Parlamentarismus bekräftigte die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit 5 3 ; die sich im sowjetischen Herrschaftsbereich etablierende Diktatur mahnte an die eigene einschlägige Vergangenheit. Interventionen der Besatzungsmächte haben stattgefunden. Wenn sie auch im Wortlaut des Grundgesetzes keinen Niederschlag gefunden haben, können sie doch nicht übersehen werden 54. Schließlich hat die politische Gegenwart, in die der Parlamentarische Rat gestellt war, gebieterisch ihre Forderungen angemeldet. Niederlage, Besatzung, Spaltung Deutschlands, wirtschaftliche Notlage, Flüchtlingsproblem und vieles andere forderten Eingang in das Grundgesetz 55. „Jede Verfassungsgebung ist ein Entschluß eines Volkes zu seiner Zukunft." 56 Zunehmend mit dem Fortgang der Beratungen wandte sich der Parlamentarische Rat von der Vergangenheit ab und lenkte sein Augenmerk auf den kommenden Staat. Die Orientierung an der Vergangenheit der Jahre 1919 bis 1945 ragt aber gegenüber allen anderen Faktoren, die die Verfassungsgebung des Parlamentarischen Rates beeinflußten, hervor. Zukunftsorientierung und Vergangenheitsbestimmtheit des Parlamentarischen Rates blieben weitgehend in Deckung. Wenn der Parlamentarische Rat die Zukunft gestalten wollte, hieß das immer, daß er der Zukunft nicht das Gesicht der Vergangenheit geben wollte. Überspitzt gesagt: der Parlamentarische Rat wußte nicht, was er wollte, er wußte aber sehr genau, was er nicht wollte. Weiterhin muß man sich fragen, wie weit man von historischen Erfahrungen „des" Parlamentarischen Rates überhaupt sprechen kann. Der Parlamentarische Rat war kein Monolith, sondern er bestand aus 65, mit den Berliner Abgeordneten 70, Persönlichkeiten. Sind nicht Erfahrungen ein Stück Vergangenheit, gesehen durch ein Temperament - um Emile Zolas Kunst-Definition abzuwandeln? Ist es nicht denkbar, daß die einzelnen Mitglieder des Parlamentarischen Rates aus der Vergangenheit so verschiedene Konsequenzen abzuleiten geneigt waren, daß das Grundgesetz allenfalls das Ergebnis eines Kompromisses aus den verschiedensten 52
Besonders in der Wahlrechtsfrage, die hier nicht behandelt werden kann. Das französische parlamentarische System beschworen als abschreckendes Beispiel etwa die Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) HA Steno S. 398; Schröter (CDU) aaO. S. 688. 54 Sie sind aufgeführt in der Einleitung zum BK S. 97 ff. 55 Einschlägige Bestimmungen sind besonders in Abschnitt X I des Grundgesetzes zu finden. Vgl. auch die Auseinandersetzungen um die Einbeziehung Berlins in die Länderenumeration der Präambel, JöR N. F. 1 S. 20 ff. Eine extreme Widerspiegelung der Gegenwart war der Vorschlag eines „Grundrechts auf Bezugsschein", vgl. HA Steno S. 487. 56 Strauß, aaO. S. 272. 53
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Auslegungen der Vergangenheit wäre? Das trifft bis zu einem gewissen Grade zu, aber eben nur bis zu einem gewissen Grade. Mit Ausnahme der beiden Abg. der KPD waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates über die zentralen, aus den Erfahrungen der Jahre 1919-1945 abzuleitenden Entscheidungen grundsätzlich einig: daß nämlich der demokratische Staat funktionssicherer gestaltet werden müsse als der von Weimar, daß dem demokratischen Staat Verteidigungsmittel gegen seine Gegner zu gewähren seien und daß in die Verfassung Schranken einzubauen seien gegen die Wiederkehr der Diktatur. Über Form und Ausmaß der Verwirklichung dieser Anliegen gab es in der breiten verfassungstragenden Mehrheit des Parlamentarischen Rates verschiedene Auffassungen, die dem Kompromiß der Verfassungsformulierung zustrebten 57. Hier kann man vom Parlamentarischen Rat als von einer Einheit sprechen, wobei die Abg. der KPD auszuklammern sind. Bezeichnend ist, daß die Abg. der KPD stark abweichende Konsequenzen aus der Vergangenheit zu ziehen geneigt waren: sie leiteten etwa das System der Gewaltenkonzentrierung beim Parlament aus den Erfahrungen der Vergangenheit ab 58 . Außerhalb des Bereiches der Funktionsverbesserung der Demokratie, des Schutzes der Verfassung und der Abwehr der Diktatur begannen aber auch bei den Mehrheitsparteien des Parlamentarischen Rates die Abweichungen. Außerhalb dieses Bereiches kann man tatsächlich nicht mehr von den Konsequenzen, die „der Parlamentarische Rat" aus der Vergangenheit zog, sprechen, sondern muß die Haltung der einzelnen Gruppen, ja der einzelnen Abgeordneten unterscheiden. Hierher gehört etwa der Problemkreis des Föderalismus. Seine Anhänger begründeten die Notwendigkeit einer radikalen Föderalisierung mit dem Zentralismus des nationalsozialistischen Staates und dem relativen, als Wegbereiter für diesen denunzierten Zentralismus der Weimarer Reichsverfassung 59. Hierbei zogen sie das Argument 57 Während in der Nationalversammlung rechts und links starke Gruppen von prinzipiellen Verfassungsgegnern standen, war der Parlamentarische Rat - von den Abg. der KPD abgesehen - über die grundsätzlichen Verfassungsfragen einig. Die Ablehnung des Grundgesetzes durch die Abg. der DP, des Zentrums und einiger Abg. der CSU ist nicht als Ausdruck eines Verfassungsgegensatzes zu werten, sondern als demonstrativer Protest gegen bestimmte Entscheidungen des Grundgesetzes (vor allem im Bereich des Föderalismus). - Der Verfassungsgegensatz von rechts und links hat die Weimarer Reichsverfassung ihre ganze Lebensdauer über begleitet. Dem Grundgesetz blieb glücklicherweise bisher die Konstellation seiner Geburtsstunde erhalten. 58 Abg. Reimann (KPD) PlenStenBer. S. 212: „Sie haben das Prinzip der Gewaltenteilung in seiner krassesten Form beibehalten, dieses Prinzip, an dessen Befolgung schon der Staat von Weimar zugrunde gegangen ist." Ähnlich Abg. Paul (KPD) aaO. S. 52 f. Ebenso schon programmatisch: Otto Grotewohl Deutsche Verfassungspläne, Berlin 1947, S. 41. 59 Abg. Dr. Schwalber (CSU) PlenStenBer. S. 36: „Aus einem Scheinföderalismus mit starken unitarischen Grundtendenzen konnte sich der zentralistische totale Machtstaat des Dritten Reiches nahezu organisch entwickeln." - Abg. Dr. Lehr (CDU) aaO. S. 85 f. wollte die Gleichberechtigung des Bundesrates in der Gesetzgebung mit dem Argument durchsetzen, daß ein gleichberechtigter Reichsrat das Ermächtigungsgesetz für Hitler zu Fall gebracht haben würde.
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des Freiheitsschutzes und der Staatsbeschränkung als Akzessorium zumeist mit heran 60. Mit einiger Vorsicht kann man sagen, daß das einzige nicht an der Vergangenheit primär orientierte Leitbild des Parlamentarischen Rates die Idee des Föderalismus war. Aber auch sie borgte sich, um sich durchzusetzen, das Gewand der Erfahrungen aus der Vergangenheit - ein Beweis für die Allgegenwärtigkeit dieser Argumentation. Wo die Abg. des Parlamentarischen Rates nicht generelle, sondern individuelle Konsequenzen aus der Vergangenheit zogen, dort ist jeweils der Kreis der drei zentralen und allgemeinen Anliegen des Verfassungsgebers: Reform der demokratischen Herrschaftsbildung, Verfassungsschutz und Diktaturabwehr verlassen. Die individuellen Konsequenzen aus der Vergangenheit, die gleichzeitig nicht in den Kreis der zentralen Entscheidungen des Parlamentarischen Rates gehören, bleiben hier außer Betracht. So wird etwa der Problemkreis der föderativen Ordnung nicht in die Darstellung einbezogen. Zu erkennen, aber hier auszuscheiden sind auch Modifikationen des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung, die nur rechts- und verfahrenstechnischer Natur sind und keine oder nur untergeordnete politische Bedeutung haben 61 . Auch auf die Folgerungen, die der Parlamentarische Rat auf dem Gebiet der Justiz aus der Vergangenheit zog, muß weitgehend verzichtet werden. Es wird zu erwähnen sein, daß das Grundgesetz in seiner Rückkehr zum Gewaltenteilungsprinzip die Justiz als dritte Gewalt im Staate retabliert. Im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutz wird auf das BVerfG zu sprechen zu kommen sein. Etwa aber bei der Frage des Grades der Unabhängigkeit der Richter, ihrer Abberufbarkeit und ihrer politischen Bestellung wird bereits die Grenze berührt, wo die allen Kräften im Parlamentarische Rat gemeinsame Konsequenz aus der Vergangenheit von gruppenbedingten SpezialÜberzeugungen überlagert wurde. Die Justiz, die eine eigenständige Stellung neben den beiden anderen Gewalten, Gesetzgebung und Vollziehung, aber auch zwischen dem Staat und dem Einzelnen einnimmt, ist oft als „Staat im Staate" bezeichnet worden. Dieser ihrer autochthonen Stellung entspricht es, daß im Bezug auf den Fragenbereich der Justiz im Parlamentarischen Rat die Divergenz der Erfahrungen aus der Weimarer Republik und aus der nationalsozialistischen Herrschaft selbständig auftrat. Aus der Weima60 Nur durch einen „echten bundesstaatlichen Aufbau" könne „ein Rückfall in einen kriegslüsternen zentralen Machtstaat hintangehalten werden", meinte Abg. Dr. Schwalber (CSU) PlenStenBer. S. 36. 61 Hierzu gehören: Fortfall der Teilung der Legislaturperiode in Sitzungsperioden, vgl. HA Steno S. 14; ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt für Amnestien, aaO. S. 108; die Ablehnung einer berufsständischen Vertretung wegen der unbedeutenden Rolle des Reichswirtschaftsrates der Weimarer Reichsverfassung, vgl. PlenStenBer. S. 29. Die Abgrenzung von politischen und technischen Erfahrungen wird nicht immer eindeutig sein. Doch gehören die hier genannten Punkte jedenfalls nicht unter das Triptichon: Organisation der Demokratie Verfassungsschutz - Diktaturreaktion.
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rer Republik ergab sich die Tendenz, die Unabhängigkeit der Richter, die dem Weimarer Staat oft unloyal gegenübergetreten waren 62 , um des demokratischen Staates willen einzuschränken. Aus der nationalsozialistischen Zeit zog der Parlamentarische Rat die Folgerung, die Unabhängigkeit der Justiz als einer von den Nationalsozialisten planvoll zerstörten Bastion des Rechtsstaates neu zu festigen. Die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit wirkten hier also wiederum, wie in der Frage der Staatsorganisation, prostaatlich (Schutz des Staates vor der Justiz), die aus der nationalsozialistischen Herrschaft antistaatlich (Schutz der Justiz vor dem staatlichen Zugriff) 63 . Ein ähnliches gilt für eine Reihe von Detailregelungen, die sich schwer in ein Schema einordnen lassen. Etwa das Wirken der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sollte aus den Erfahrungen der Weimarer Republik heraus eingedämmt werden 64. Aus dem Erlebnis der Diktatur heraus wurde der Gedanke der Untersuchungsausschüsse wiederum als eines der Kontrollmittel gegenüber der Exekutive betont. Oder die Immunität der Abg. - allenfalls dem Grundrechtsbereich einzuordnen - wurde aus Erlebnissen der Weimarer Zeit heraus gewissen Einschränkungen unterworfen. Sie sollte nicht mehr die schützende Tarnkappe bei Verunglimpfungen politischer Gegner 65 oder gar für Attacken gegen die Demokratie sein 66 . Andererseits bestätigte sich die Notwendigkeit der Immunität auch in der heutigen Zeit angesichts der frühen und flagranten Eingriffe der Nationalsozialisten in die Schutzsphäre der Parlamentsabgeordneten 67.
62 So Abg. Dr. Löwenthal (SPD) HA Steno S. 302. 63 Vgl. Abg. Dr. Schmid (SPD) HA Steno S. 299: „Es handelt sich bei all den Fragen ... um zwei Dinge. Das erste ist der Schutz des Volkes durch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ... Es gibt aber auch ein anderes Interesse zu wahren: der Schutz des Volkes gegenüber einem Mißbrauch der Unabhängigkeit der Gerichte . . V g l . Kurt Oppler, Justiz und Politik, in: DRZ 1/2 (1946/47) S. 324: „Denn wie in der nationalsozialistischen Zeit die Richter sich zu stark dem Staat zur Verfügung stellten, so taten sie dies in der Weimarer Zeit zu wenig." 64 So v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 246 f. Im einzelnen: HChE darst. T. S. 36; die Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) HA Steno S. 14 f. und Dr. Schmid (SPD) aaO. S. 18 f. Zur Rolle der Untersuchungsausschüsse in der Weimarer Republik vgl. auch Erich Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Zürich und Stuttgart 1954/56, 1. Bd., S. 484. 65 Vgl. Art. 46 Abs. 1 S. 2 GG. 66 Die Nationalsozialisten erklärten offen, sich im Reichstag lediglich als J d l " (Inhaber der Immunität) zu fühlen. So Joseph Goebbels, in: „Der Angriff' v. 28. Mai 1928. Zit. n. Karl-Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Stuttgart und Düsseldorf 1955, S. 375 Anm. 39. 67 Aufgrund eines Gesetzes über die Immunität der Abg. v. 23. Juni 1933 konnte bei nichtversammeltem Parlament die Immunität eines Abg. durch einen besonderen Ausschuß, aber auch durch den Reichstagspräsidenten (Göring!) aufgehoben werden. Schon vorher hatten aber die Nationalsozialisten eine Reihe Abgeordneter der KPD, aber auch der SPD verhaftet. - Der Verstärkung des Immunitätsschutzes der Abg. dient im Grundgesetz u. a. der Fortfall der Beschränkung der Immunität auf die Sitzungsperiode, vgl. Art. 37 Abs. 1 WRV und Art. 46 GG.
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Darzustellen ist mithin die modifizierende Haltung des Parlamentarischen Rates gegenüber der Weimarer Reichsverfassung, die sich ihm zunächst als Modell anbieten mußte. Die Frage des Schuldanteils der Weimarer Reichsverfassung am Scheitern der Weimarer Demokratie bleibt außer acht, ebenso die Frage der Instrumentabilität der Verfassung gegenüber der politischen Wirklichkeit. Es ist lediglich ein diesbezüglicher mittelbar aus seinem Vorgehen abzulesender Glaube des Parlamentarischen Rates zu registrieren. Die Modifikationen des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung werden dargestellt, soweit die Erfahrungen aus der Weimarer Demokratie und der nationalsozialistischen Diktatur von der demokratisch eingestellten Mehrheit des Parlamentarischen Rates als Aufruf zur Festigung der Demokratie, zum Schutz der Verfassung und zur Abwehr der Diktatur verstanden wurden. Andere Einflüsse auf den Parlamentarischen Rat, die Modifikationen des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung bedingten, bleiben außer Betracht, ebenso Modifikationen, die außerhalb der genannten drei primären Verfassungsziele stehen.
6. Verfahren Ausgangspunkt wird die Feststellung einer Unterschiedlichkeit in der Konstruktion oder in der Formulierung des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung sein müssen; dies aber mit einer doppelten Einschränkung. Auf der einen Seite - dies ergibt sich aus der im vorigen abgeleiteten Abgrenzung - ist nicht jede Verschiedenheit im Verfassungswortlaut hier einschlägig. Andererseits zeigt sich das Wirken von Erfahrungen aus der Vergangenheit zuweilen nur in der Debatte des Parlamentarischen Rates, nicht im Wortlaut des Grundgesetzes. Mit der Weimarer Reichsverfassung übereinstimmende Formulierungen erhielten gelegentlich durch ihre Stellung in einer andersartigen Verfassungssystematik eine andere Bedeutung, oder durch die vorangegangene Diskussion ein besonderes Gewicht. Das gilt vor allem für den Bereich der Grundrechte. Eine Verfassung ist kein einen Lebenssachverhalt in Strenge regelndes Gesetz. Sie ist, nach einem Wort Rudolf Smends, nur „Anregung und Schranke" 68. Sie kann nur ein Spielfeld abstecken, auf dem nach ihren individuellen Kräften, nach Konstellation und Kondition die Spieler dem Spiel seine konkrete Gestalt geben. Ein Nebeneinander von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit ist daher durchaus legitim und jeder Verfassung naturnotwendig eigen. Die Weimarer Reichsverfassung hatte aber gleichsam ihre Spielregeln weit entfernt von den überkommenen Spielkonventionen aufgestellt. Das hatte zur Folge, daß Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit sich rasch sehr weit voneinander entfernten, bis schließlich in den 30er Jahren die Verfassung hinter ihrer praktischen Erscheinungsform kaum mehr zu erkennen Die Problematik der Immunität zwischen Schutz des Staates und Schutz der Abg. betont schon Nöldeke, Mißbrauch parlamentarischer Immunität, in: DJZ 30 (1925) Sp. 1759 ff. 68 Zit. n. Eschenburg, Staat, S. 656. 3 Fromme
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war 69 . Das Ergebnis war eine reiche Entfaltung der Verfassungsdiskussion, der Verfassungskritik und Verfassungsinterpretation. Je weiter Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auseinanderklafften, um so größeren Spielraum erhielt die Verfassungsdiskussion. Hierbei waren zwischen den Extremen der Bejahung der Verfassungswirklichkeit und ihrer Deklaration als eigentliches Verfassungsrecht und dem Rückzug auf den Verfassungswortlaut und der Denunzierung der Wirklichkeit als grober Verfassungswidrigkeit unendlich viele Schattierungen denkbar und vertreten. Der Lehrmeinung der Verfassungstheoretiker überlagerte sich, diese partiell bedingend, ihre politische Stellung zur Demokratie. Auch hier gab es zahlreiche Schattierungen: von der schroffen Attacke über die subversiv-heimtückische Kritik, die resignierte Duldung, die lustlose de-facto-Anerkennung und die halbherzige Verteidigung bis zur entschiedenen Bejahung. Verfassungstheoretische Auffassungen und politische Überzeugungen überlagerten sich zu den mannigfaltigsten Kombinationen. Es gab etwa Verfassungstheoretiker, die den Verfassungswandel mit der Absicht anerkannten, eine modifizierte Demokratie zu retten 70 . Andere Theoretiker vertraten einen steinernen Rechtsstandpunkt mit dem Ziel, die demokratische Verfassung ad absurdum zu führen 71. Die Konsequenz aus der Verfassungsdiskussion im politischen Bereich war das Streben nach einer Verfassungsreform. Auch ihr lagen heterogene Tendenzen zugrunde: Rettung oder legaler Abbau der Demokratie. Zum Vollzug der Verfassungsreform ist es nicht gekommen. Ernst Fraenkel kennzeichnet überspitzend, aber treffend das Dilemma: Eine Verfassungsreform kann nur zustande kommen, solange sie nicht notwendig ist; ist sie einmal notwendig, so hindert die bereits vorhandene Staatskrise ihren Vollzug 72 . Das entscheidende Anschauungsmaterial, das den Parlamentarischen Rat zur Distanzierung von der Weimarer Reichsverfassung veranlaßte, war nicht so sehr die Weimarer Reichsverfassung selbst, sondern die Weimarer Verfassungsentwicklung. In der Weimarer Verfassungsdiskussion und Verfassungsreform ist gleichsam bereits zur Zeit der Weimarer Republik begonnen worden, aus dem Verfassungsleben unter der Weimarer Reichsverfassung Lehren abzuleiten: nur konnten die praktischen Konsequenzen aus diesen Lehren nicht gezogen werden. Hier wurde vieles bereits angeregt, was der Parlamentarische Rat dann vollziehen konnte. Die Weimarer Verfassungsdiskussion weist häufig genug frappierend genau in die Richtung, die der Parlamentarische Rat dann eingeschlagen hat. 69
Vgl. Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 398. So etwa Eugen Schiffer, Die neue Verfassung des Deutschen Reichs. Eine politische Skizze, Berlin 1932, S. 7: Man müsse „durch Anpassung des Weimarer Verfassungswerks an zurück". die Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes zur Verfassungsehrlichkeit 71 Diese Tendenz ist oftmals bei Carl Schmitt festzustellen. 72 Ernst Fraenkel, Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik 2 (1932) S. 499. Angesichts der Unmöglichkeit, eine Verfassungsreform im Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung durchzusetzen, forderte Kitz, Die Einberufung einer neuen Nationalversammlung vom Rechtsstandpunkt, in: RuL 6 (1932) S. 287 ff., eben dies. 70
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Zwar ergeben die Debatten des Parlamentarischen Rates kaum Hinweise darauf, ob ihm die Weimarer Verfassungsdiskussion bei der Arbeit am Grundgesetz gegenwärtig war 73 . Es ist also die Frage offenzulassen, ob der Parlamentarische Rat Anregungen aus der Weimarer Verfassungsdiskussion aufnahm und durchführte, oder ob er aus der gleichen Situation die durch weitere Erlebnisse modifizierte und in ihrer Dringlichkeit erhärtete gleichgelagerte Konsequenz zog 74 . Die Weimarer Verfassungsdiskussion ist vor allem im Bereich der Staatsorganisation als partielle Vorwegnahme des Grundgesetzes zu registrieren. In den Bereich des Verfassungsschutzes reicht sie kaum hinein. Dazu lag der Gedanke des Verfassungsschutzes der Weimarer Reichsverfassung und der Weimarer Republik zu fern. In der Endphase - wo der Verfassungsschutz hätte aktuell werden müssen - mußte sich zudem die Verfassungsreform zu sehr auf Flickwerk am Organisatorischen beschränken, als daß der ganz neue Gedanke des Verfassungsschutzes hätte einbezogen werden können. Die Verfassungsentwicklung zeigt aber gewisse Ansätze. Für die Reaktion des Grundgesetzes auf die Diktatur kann die Weimarer Verfassungsdiskussion naturgemäß direkt nichts beisteuern. Der Blick auf Weimar kann hier nur überraschende Ahnungslosigkeit und zufällige Vorwegnahmen ohne inneren Zusammenhang mit dem späteren ergeben. Im Versuch, Vorwegnahmen des Grundgesetzes in der Weimarer Verfassungsdiskussion aufzuspüren, muß auch nur annähernde Vollständigkeit hoffnungslose Utopie bleiben. Bereits 1921 klagt eine Fachzeitschrift, es habe sich über die Weimarer Reichsverfassung „eine Flut von Druckerschwärze ergossen" 75. Im Jahr 1932 schrieb Anschütz über das Schrifttum zur Verfassungsreform, es bedürfte „fast eines bibliographischen Spezialisten, um die einschlägigen Literaturerzeugnisse auch nur zu registrieren 76. Die Verfassungsentwicklung in den Ländern der Weimarer Zeit vermag wie die im Reiche Hinweise beizusteuern und Parallelen zu liefern. Doch kann diese nur in einzelnen, besonders interessanten Fällen herangezogen werden. Um des Verständnisses der Weimarer Verfassungsentwicklung willen sind gelegentlich Übergriffe in das Gebiet der Historie unvermeidbar. Naturgemäß müssen 73
Allenfalls (aber in einseitig föderalistischer Tendenz) Abg. Dr. Schwalber (CSU) PlenStenBer. S. 36: „Die Weimarer Verfassung war schon lange vor 1933 weithin als unzulänglich empfunden worden. Ich verweise nur auf die bereits im Jahre 1924 einsetzenden Reformbestrebungen und auf die Länderkonferenz mit dem Ziel einer grundlegenden Verfassungsänderung." 74 Möglicherweise könnten die Protokolle der Fachausschüsse des Parlamentarischen Rates zur Klärung dieser Frage einiges beisteuern. Sie sind aber nicht gedruckt und konnten hier nicht herangezogen werden. 75 Bericht über das Schrifttum zur neuen Reichsverfassung, in: AöR 41 (1921) S. 237. Eine Bibliographie des Schrifttums zur Weimarer Reichsverfassung (unvollständig) vom Stande Herbst 1928 geben Cläre Kortum und Willy Meerwald, Schrifttui/i des geltenden Verfassungsrechts des Reichs und der Länder einschließlich der Freien Stadt Danzig, Berlin 1929. 76 Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 769.
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sie fragmentarisch bleiben. Vor allem dürfen sie nicht als eine objektive Schilderung des Ablaufs aufgefaßt werden. Sie zeigen die Entwicklung so, wie der Parlamentarische Rat sie sah. Der Parlamentarische Rat war geradezu in der klassischen Position des Geschichtskonstrukteurs ex post. Der Parlamentarische Rat sah in der Weimarer Verfassungsentwicklung eine Entelechie zur Diktatur. Hätte er dies nicht getan, wäre sein Versuch, diese Entelechie in seiner Verfassung zu vermeiden, subjektiv sinnlos gewesen. In gewissem Ausmaß brachte die nach 1945 einsetzende Diskussion über die Erneuerung des deutschen Staates eine Art von Aufbereitung des historischen Anschauungsmaterials für den Parlamentarischen Rat. Die Quellen fließen zunächst spärlich, zu sehr war man sich der weltpolitischen Bedingtheit von Form und Zeitpunkt der Staatserneuerung bewußt; man hielt sich in allgemeinen Formulierungen 77 oder glitt in die Utopie ab 78 . Bis zum September 1948 hatten sich die meisten deutschen Länder bereits Verfassungen gegeben79. Diese Länderverfassungen „stellen ... erste Versuche dar, sich mit den aus der Kritik an der Weimarer Reichsverfassung ergebenden Problemen auseinanderzusetzen und zu neuen und besser funktionierenden staatsrechtlichen Lösungen zu kommen" 80 ; sie waren „gleichsam eine Kodifizierung der an der Weimarer Reichsverfassung geübten Kritik" 8 1 . Sie galten schon vor dem Parlamentarischen Rat als „Vorboten der künftigen Reichsverfassung" 82. Sie waren für den Parlamentarischen Rat in gewisser Weise ein Modell der eigenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Erfahrungen der Jahre 1919 bis 1945 sind für den Parlamentarischen Rat gleichsam durch den Filter der Länderverfassungen gegangen. Hierauf kann allerdings nur gelegentlich Bezug genommen werden 83. Eine Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes in allen Details kann nicht gegeben werden. Hier wurde gleichsam versucht, ein Kapitel derselben zu schreiben: „Das Grundgesetz im Zeichen der Vergangenheit."
77 Die Notwendigkeit, die Erfahrungen aus der Weimarer Republik zu verwerten, konstatieren: Ferdinand Friedensburg, Die Weimarer Republik, Berlin 1946, S. 7; Ritter, aaO. S. 33; Karl Polak, Die Weimarer Verfassung. Ihre Errungenschaften und Mängel, Berlin 1948, S. 7; Apelt, aaO. S. 386,403; Georg Beeck, Das parlamentarische System der Weimarer Reichsverfassung, iur. Diss. Hamburg v. 10. Februar 1948, S. 1 u. a. 78 Beispiele: Ulrich Noack, Deutschlands neue Gestalt in einer suchenden Welt, Frankfurt/Main 1946; Robert Redslob, Betrachtungen über den politischen Wiederaufbau Deutschlands, in: Schweizer Monatshefte 25 (1945/46) S. 657 ff. 79
Ausnahmen: Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Berlin. Wolfgang Zeidler, Auswirkungen der westdeutschen Länderverfassungen auf das Bonner Grundgesetz, iur. Diss. Hamburg v. 9. März 1951, S. 5. ei AaO. S. 4. 82 Walter Jellinek, Die Verfassung des Landes Hessen, in: DRZ 2 (1947) S. 8. 83 Vgl. die eingehende, auch um politische Deutung bemühte Untersuchung bei Zeidler, aaO. passim. 80
Einleitung
Schließlich hat die Darstellung das Grundgesetz so hinzunehmen, wie es der Parlamentarische Rat 1949 beschlossen hat. An ihm Kritik zu üben, ist nicht die Aufgabe. Ob der Parlamentarische Rat und wo der Parlamentarische Rat in seinen Folgerungen aus der Vergangenheit eine glückliche Hand bewiesen hat, kann hier nicht entschieden werden. So wird auch die Verfassungsentwicklung unter dem Grundgesetz nicht weiter verfolgt. „Es kommt zuweilen wie für den Einzelnen so für ein ganzes Volk ein Moment, wo es über sich selbst Gericht hält. Es wird ihm nämlich Gelegenheit gegeben, die Vergangenheit zu reparieren ...", sagte Friedrich Hebbel. Diese Aufgabe erkannte der Parlamentarische Rat für seinen, den verfassungsrechtlichen Bereich. Ob er ihr gerecht zu werden vermochte, kann nur die kommende Entwicklung entscheiden.
Abschnitt I
Die Neuorganisierung des demokratischen Staates
Vorbemerkung
Der Parlamentarismus in der Weimarer Verfassung und im Bonner Grundgesetz Die Stellung des Staatsoberhauptes als tertium comparationis beider parlamentarischen Systeme Für den Parlamentarischen Rat bedeutete die rezipierende Anlehnung an die Weimarer Reichsverfassung in der Frage der Organisation des demokratischen Staates die Wiedereinführung des Parlamentarismus 1. Eine andere demokratische Regierungsform, wie etwa die Regierung auf Zeit 2 oder das Präsidialsystem3, wurde jeweils nur von einer Minderheit befürwortet. Wenn auch die Erfahrungen aus der Weimarer Republik zu beträchtlichen Verschiebungen innerhalb der Grenzen des Parlamentarismus führten, blieb die Grundentscheidung für das parlamentarische Regierungssystem von Anfang bis zum Ende bestehen4. Bis 1918 hatte in Deutschland nur eine schwache Tendenz zum Parlamentarismus bestanden5. Einige bürgerliche Autoren 6 hatten, mehr in Äußerungen ihrer Privatmeinung als in Formulierungen parteioffizieller Programmatik, sich zögernd für den Parlamentarismus ausgesprochen. Lediglich die Sozialdemokraten hatten 1 Scharf gegen den Parlamentarismus in einer kommenden Verfassung: Franz W. Jerusalem, Zum Verfassungsproblem, in: SJZ 1 (1946) S. 110. 2 Hierfür war eine „sehr kleine Minderheit" des HChE, vgl. darst. T. S. 36; später die verschiedenen Anträge der Abg. Dr. Dehler und Dr. Becker (FDP) im Parlamentarische Rat, vgl. u. S. 81, 88 Anm. 197, 104 Anm. 297. 3 Einer der Anträge Dehler-Becker (s. o. Anm. 2) kommt sehr nahe an das Präsidialsystem heran: er wollte die Position des Chefs einer Regierung auf Zeit mit der des Staatsoberhaupts koppeln, vgl. HA Steno S. 396 f. 4 Bereits HChE darst. T. S. 43 hatte sich „grundsätzlich für das parlamentarische System ausgesprochen". 5 Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus in Deutschland vgl. Theodor Eschenburg, Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik, Laupheim (Württ.) o. J., S. 11 ff. 6 Friedrich Naumann, Alfred Weber, Georg Jellinek, Hugo Preuß u. a., vgl. aaO. S. 14 ff.
Vorbemerkung
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nach der Daily-Telegraph-Affare einen Antrag im Reichstag eingebracht, wonach der Reichskanzler vom Vertrauen des Reichstages abhängig werden sollte7. Im Wahlaufruf der Sozialdemokratie zu den Reichstags wählen von 1912 wurde der Parlamentarismus zum Programmpunkt erhoben8. Von 1917 an wurde die Parlamentarisierung der Regierung häufiger diskutiert 9. Die Regierungsbildungen vollzogen sich gelegentlich in quasi-parlamentarischen Formen. „Plötzlich, gewalttätig beinahe, auf Verlangen der Obersten Heeresleitung" 10 wurde kurz vor der Niederlage durch Gesetz vom 28. Oktober 1918 die parlamentarische Regierungsform eingeführt 11. Diese Verfassungsänderung konnte sich praktisch nicht mehr auswirken, hat jedoch für die Weimarer Reichsverfassung eine Vorentscheidung getroffen. Die verfassunggebende Versammlung, die das Fazit aus der Revolution zu ziehen hatte, die die Monarchie beseitigte, konnte nicht gut hinter dem zurückbleiben, was bereits die Monarchie gewährt hatte. Ein „unerwartet oktroyierter" Parlamentarismus, „mehr eine Revolution von oben" 12 , ein „improvisierter Parlamentarismus" 13 mußte von der Nationalversammlung als Grundlage der Staatsorganisation übernommen werden 14. So sprang die Nationalversammlung nicht in revolutionärem Elan mitten in den Parlamentarismus hinein. Sie stand ihm als einer mühsam zu lösenden Aufgabe gegenüber. Der lange zurückgestaute Drang nach Beschränkung der Staatsmacht wirkte in der Nationalversammlung gegen den neuen Träger der Macht nach. Dem volksgewählten Parlament, an dessen Vertrauen die Regierung gefesselt war, wurde ein zweites, ebenfalls volksgewähltes Organ an die Seite gestellt: der Reichspräsident. Das Parlament hatte sich mit ihm in die Regierungsbildung zu teilen, er erhielt ein umfangreiches Notverordnungsrecht, und ihm wurde durch ein Auflösungsrecht gegenüber dem Parlament sowie durch das Recht, Ge7 Vgl. aaO. S. 16 Anm. 26. s Vgl. aaO. S. 12. 9 Vgl. aaO. S. 21 ff. 10
Karl Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: VjhZ 3 (1955) S. 9. 11 Vgl. Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, S. 28; Bracher, aaO. S. 12 ff.; zu den Vorgängen: Ernst Wolgast, Zum deutschen Parlamentarismus. Der Kampf um Art. 54 RV, Berlin 1929, S. 28 ff.; Schücking, HdbDStR I § 9 S. 87 ff. 12 Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, S. 28. 13 So die Überschrift eines Artikels von Hugo Preuß in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 26. Oktober 1918, abgedr. Preuß, Staat, S. 361 ff. 14 „Gegenüber den politischen Nachteilen des ,alten Systems4 war von demokratischer Seite ... immer wieder das parlamentarische Regierungssystem ... gefordert worden ... Da wäre es doch sehr unnatürlich gewesen, wenn die Demokratie, nunmehr zur Herrschaft gelangt, jetzt plötzlich ihre alte Forderung im Stich gelassen hätte." Josef Lukas, Die organisatorischen Grundgedanken der neuen Reichs Verfassung, Tübingen 1920, S. 25. Ähnlich auch Erich Kaufmann, Die Regierungsbildung in Preußen und im Reich, in: Die Westmark 1 (1921) S. 205; Axel Brusewitz, Typologische Verfassungsstudien, Heft 1/2, Königsberg 1930, S. 19.
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Die Neuorganisierung des demokratischen Staates
setze zum Volksentscheid zu stellen, die Befugnis zuerteilt, über die parlamentarische Repräsentation hinweg das Volk außerhalb der wahlperiodischen Regel zur Entscheidung anzurufen. In dieser Konstruktion des Parlamentarismus sah man eine glückliche Verbindung der Vorzüge des amerikanischen und des französischen Systems15, einen Mittelweg zwischen der Selbständigkeit des amerikanischen Präsidenten gegenüber dem Parlament und der parlamentarischen Abhängigkeit des französischen Präsidenten. Eine 1918 erschienene Schrift Robert Redslobs16 hat die Nationalversammlung, vor allem den Schöpfer der zugrunde liegenden Entwürfe, Hugo Preuß, stark beeinflußt 17 . Redslob sah darin das Kennzeichen eines „wahren" Parlamentarismus, daß Staatsoberhaupt und Parlament sich gegenseitig die Waage halten, wie angeblich in England18. Dieser Zustand werde garantiert durch ein selbständiges Auflösungsrecht des Staatsoberhaupts dem Parlament gegenüber 19. Wo es nicht bestehe (wie de facto in Frankreich), herrsche ein „unechter Parlamentarismus" 20, eine „parlamentarische Diktatur" 21 . Diese Unterscheidung - abgewandelt als „echter" und „unechter" Parlamentarismus - wurde von Hugo Preuß 22 und von maßgeblichen Mitgliedern der Nationalversammlung übernommen. Die Terminologie enthält eine deutliche Wertung und ihre Übernahme damit faktisch bereits eine Entscheidung - für den „echten" Parlamentarismus. „Der echte Parlamentarismus", so führte Abg. Ablaß (DDP) im VerfA aus, „besteht... darin, daß das Parlament nicht allmächtig sein darf, daß es einer Gegenkontrolle unterliegt, die wiederum durch eine demokratische Instanz ausgeübt werden muß, und jene demokratische Instanz ist bei uns der Reichspräsident" 23. Neben dem Einfluß des amerikanischen und des französischen Systems und neben der Ausstrahlung der Gedanken Redslobs - die, da Redslob den „wahren" Parlamentarismus in England zu finden glaubte, auch noch das englische Vorbild unter die Ahnen der Weimarer Reichsverfassung einreihen würde - , drängt sich ein näherliegendes Modell auf. Die Konstruktion der Weimarer Reichs Verfassung: 15 So Abg. Dr. Ablaß (DDP), VerfA S. 231 f. 16 Robert Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, Tübingen 1918. 17 So Kaufmann, aaO. S. 206 f. 18
Redslob, Die parlamentarische Regierung, S. 8 ff. 19 AaO. S. 3, 5. 20 AaO. S. 120 ff. 21 AaO. S. 139. - Zur Kritik an Redslob vgl. Ulrich Scheuner, Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems (II). Zugleich eine Kritik der Lehre vom echten Parlamentarismus, in: AöR N. F. 13 (1927) S. 337 ff. 22 Vgl. Hugo Preuß, Heilfron II S. 695 oder auch in der Denkschrift v. 3. Januar 1919, abgedr. Preuß, Staat, S. 387. 23 VerfA S. 232.
Vorbemerkung
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Staatsoberhaupt und Parlament voneinander unabhängig und in Balance, zwischen ihnen beiden die Regierung in einem labilen System doppelter Abhängigkeit, weist auf die aRV hin - zumal in ihrer Form nach den Oktobergesetzen von 1918 - : Kaiser und Reichstag standen selbständig nebeneinander, zwischen beiden der vom Kaiser ernannte und vom Parlament abhängige Kanzler. Damit wäre die Figur des Reichspräsidenten weniger am französischen und amerikanischen Präsidenten orientiert, als am deutschen Kaiser der aRV 24 . In der Tat ist die Stellung des Reichspräsidenten im System der Weimarer Reichsverfassung ungefähr gleich der des Kaisers in der aRV; das kommt besonders deutlich in den Kompetenzzuweisungsklauseln des Art. 179 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit § 4 des Übergangsgesetzes v. 4. März 1919 zum Ausdruck. Der Abg. Dr. Kahl (DVP) sagte im VerfA: „Es bestehen zweifellos starke Verbindungslinien zwischen dem bisherigen Reich und dem neu ... zu schaffenden ... in den Befugnissen des Reichspräsidenten .. . " 2 5 Die Existenz solcher „Verbindungslinien" erklärt sich aus der Situation von 1919. Die Revolution von 1918 war eine „nicht spontane, historisch in sich selbst legitimierte" Revolution 26 . Arthur Rosenberg bezeichnete sie schlechthin als die „Erhebung der friedensbedürftigen Sozialpolitiker" 27 . Dementsprechend fehlte der Weimarer Reichs Verfassung als der aus dieser Revolution hervorgehenden Verfassung eine einheitliche und unwiderstehliche Staats- und Staatsformidee. Selbst die staatliche Organisationsform des Parlamentarismus war nicht „von irgendeiner in die Breite und Tiefe gehenden politischen Bewegung im kaiserlichen Deutschland zum eigentlichen Hauptziel ihrer Forderungen gemacht"28, sondern vom alten Reich der Weimarer Republik gleichsam als halb unliebsames Erbe überlassen worden. Daß in der Nationalversammlung sich eine dünne intellektuelle Schicht der Anhänger des Parlamentarismus gleichsam konzentrierte, darf darüber nicht hinwegtäuschen. So lag es sehr nahe, daß im Bereiche der Staatsorganisation die Nationalversammlung sich weitgehend an das Schema des alten Staates hielt; der Sturz der Monarchie, ein politisches Faktum, bedingte lediglich die demokratische Abwandlung der alten Verfassung. Hinzu traten konkrete Überlegungen, die aber wohl mehr den
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„Man hat... davon gesprochen, daß die Institution des Reichspräsidenten eine Kompromißlösung zwischen der Einrichtung des französischen und des amerikanischen Präsidenten darstelle. Das mag richtig sein. Das maßgebende Modell ist aber doch wohl die verfassungsrechtliche Stellung des deutschen Kaisers gewesen." Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, S. 41. 25 VerfA S. 23. Nach Schmitt, Verfassungslehre, S. 347, war u. a. das Motiv der Ausgestaltung des Reichspräsidentenamtes, „in einem politisch einflußreichen Staatspräsidenten Reste der konstitutionellen Monarchie zu erhalten". Der Vergleich der Stellung des Reichspräsidenten mit der des deutschen Kaisers wurde mit Vorliebe als Thema von Dissertationen gestellt, vgl. eine Fülle von Titeln in zahlreichen Variationen bei Kortum/Meerwald, aaO. S. 41 ff. 2 6 Bracher, aaO. S. 21. 27
Arthur Rosenberg, Geschichte der Deutschen Republik, Karlsbad 1935, S. 44. 28 Erdmann, aaO. S. 9.
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Charakter von Rationalisierung einer emotionalen Haltung hatten. Man wollte einerseits das Parlament nicht unkontrolliert lassen29, andererseits die Staatsfunktion nicht allein auf ein in der politischen Führung unerprobtes Parlament gegründet wissen30. Man befürchtete gleichermaßen eine Machtanmaßung wie eine Machtunfähigkeit des Parlaments. Man vermochte sich dem nachwirkenden Einfluß des Konstitutionalismus nicht zu entziehen, und man wollte eine „Konstitutionalisierung" (im Sinne einer Beschränkung) des Parlaments. So wurde „das konstitutionell-monarchische System nicht durch das parlamentarische abgelöst, sondern beide ineinandergeschoben"31. Die DNVP, die sich im Grunde zur Monarchie bekannte, erkannte bereits während der Beratungen in der Nationalversammlung den monarchischen Ansatzpunkt, den die Weimarer Reichsverfassung im Reichspräsidenten bot. Sie bemühte sich - wenn sie auch die Weimarer Reichsverfassung im ganzen ablehnte - kräftig um einen Ausbau der präsidialen Position. Sie vertrat „die Auffassung, daß die Stellung des Reichspräsidenten nicht mächtig genug sein kann" 32 . „Der Präsident werde unendlich viel machen können", hatte Friedrich Ebert prophezeit33. Ebert sollte sich nicht getäuscht haben. Er sprach als Reichspräsident ein gewichtiges Wort in der Politik des Deutschen Reiches mit. Aber solange er Reichspräsident war, blieb das obrigkeitsstaatlich-monarchische Element, das die Weimarer Reichsverfassung im Reichspräsidenten enthielt, latent. Ebert faßte sein Amt streng konstitutionell im demokratischen Sinne auf. Während seiner Amtszeit war der autokratische Zug im Präsidentenamt gleichsam personell blockiert. Es war eine Eigenart der Weimarer Reichsverfassung - die sie mit den meisten zeitgenössischen Verfassungen teilte, die aber in der besonderen Situation in 29 Abg. Dr. Ablaß (DDP), Heilfron V S. 3194 f.: ,Aber daran lasse ich bei aller Vorliebe für das parlamentarische System keinen Zweifel, daß ... jede verfassungsmäßige Einrichtung sofort Gefahren in sich birgt, sobald man nicht dafür sorgt, daß ihr durch eine starke Kontrollgewalt eines anderen nebengeordneten Organs die Notwendigkeit aufgezwungen wird, ihr Machtbedürfnis zu zügeln ... In dieser Hinsicht haben wir uns gesagt, daß es ... notwendig ist, neben dem Reichstag ein Kontrollorgan zu schaffen, und als solches denken wir uns den Reichspräsidenten." Ähnlich auch ders., VerfA S. 232. 30 Abg. Dr. Ablaß (DDP), Heilfron V S. 3195: „Wir wünschen weiter auch nicht, daß der Reichstag allmählich der Gefahr verfällt, sich im Bewußtsein seiner Macht schließlich einem ungesunden Quietismus hinzugeben; daß diese Befürchtungen allzuleicht Wahrheit werden können, wenn wir ein starkes Kontrollorgan im Reichspräsidenten nicht schüfen ...". Die Erwägung, daß in Notzeiten ein Reserveorgan neben dem Parlament bestehen müsse, hat Friedrich Ebert bewogen, gegen die Meinung seiner Partei und Fraktion die Stärkung des Reichspräsidenten zu forcieren. Vgl. Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, S. 42. 31 Theodor Eschenburg, Die Richtlinien der Politik in Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, in: DÖV 7 (1954) S. 196, vgl. auch Schmitt, Verfassungslehre, S. 291: " ... der Staatspräsident ist der republikanisierte Monarch der parlamentarischen Monarchie ...". 32 Abg. Dr. Philipp (DNVP), Heilfron V S. 3183. Vgl. auch Abg. Dr. v. Delbrück (DNVP), VerfA S. 252. Siehe auch die großzügige Haltung der Rechten bei der Ausgestaltung der einzelnen präsidialen Kompetenzen. 33 Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Dresden 1928, 2. Bd. S. 354.
Vorbemerkung
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Deutschland eine wesentliche Bedeutung erhalten sollte - , daß sie der politischen Parteien, die mit der Einführung des Parlamentarismus in eine zentrale staatliche Machtposition einrückten, nicht gedachte. Die Weimarer Reichsverfassung erwähnt die Parteien nur einmal 34 , und das „mit einer negativen Geste sprödester Abwehr" 35 . Es war dies ein Erbteil der liberalen Tradition, die den Abgeordneten als horizontal ungebundenen „Vertreter des ganzen Volkes" 36 auffaßte. Es wirkte aber auch als Bestätigung einer weithin sich erstreckenden Abneigung gegen die Parteien 37 . Der Obrigkeitsstaat hatte für sich in Anspruch genommen, „überparteilich" zu regieren. „Die Überparteilichkeit der Regierung war geradezu die ... Lebenslüge des Obrigkeitsstaates." 38 Daß nach der Weimarer Reichsverfassung die Regierung nicht mehr nur Zielpunkt der Parteienkritik, sondern Ergebnis von Parteikompromissen sein sollte, widersprach allen deutschen Traditionen. Der Obrigkeitsstaat hatte unter weitgehender Zustimmung für die von ihm ausgeübte althergebrachte und allgemein als durchaus erträglich empfundene Herrschaft den Charakter einer „überparteilichen" ja einer „unpolitischen" Regierung in Anspruch genommen39. Kritik an dieser selbstverständlichen Herrschaft war „Politik" und insoweit verwerflich. Der allgemeine Glaube an die Möglichkeit und Wünschbarkeit einer „überparteilichen" Herrschaft blieb im Staat von Weimar erhalten. Namentlich die Rechte - teils legitimer Erbe dieser Überzeugung, teils diese sich bewußt nutzbar machend - erklärte ihr eigenes Tun und Planen für „dem Ganzen dienend", „überparteilich", ja „unpolitisch". Gegenabsichten wurden als „egoistischen Interessen dienend", „parteilich", „politisch" hingestellt. So kam es zu der verwirrenden Negierung eigener Politik als Politik, zu der Beschimpfung fremder Politik als Politik 40 . So kam es zu 34
Art. 130 Abs. 1 WRV: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei." Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S. 64. Kaufmann, aaO. S. 207 spricht von den Parteien als „unheimlichen gesellschaftlichen Gewalten, die das geschriebene Recht gar nicht kennt". 36 Vgl. hierzu Fritz Morstein Marx, Rechtswirklichkeit und freies Mandat, in: AöR N. F 11 (1926) S. 430 ff. 37 Sehr reserviert - wie Kaufmann, s. o. Anm. 35 - gegenüber den Parteien auch Heinrich Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, S. 36: " ... auch ihre Stunde wird schlagen". 3 8 Radbruch, HdbDStR I § 25 S. 289. Dort heißt es weiter: „Der Obrigkeitsstaat, dessen Regierung sich nicht auf die parteipolitische Majorität des Parlamentes stützte, hatte zu seiner notwendigen Grundlage den ideologischen Glauben an die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien ...". 39 Vgl. Preuß, Staat, S. 462; Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 182. 40 „Wir wissen, daß es ein spezifisch politischer Kunstgriff ist, sich selbst als unpolitisch und den Gegner als politisch hinzustellen." Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, S. 6. Ebenso ders., Der Begriff des Politischen, München und Leipzig 1932, S. 19. 35
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dem Paradox, daß Parteipolitik in einem Staat, in dem die Parteien die wichtigsten Mittler der Macht darstellten, zum Schimpfwort wurde. Die Fiktion überparteilicher Entscheidungen setzt eine fest etablierte, in ihrer Herrschaft allgemein anerkannte, geschlossene Führungsschicht voraus, der es im Laufe der Zeit gelingen kann, sich mit dem „Staatsganzen" zu identifizieren. In einem pluralistischen Parteienstaat überparteiliche Entscheidungen zu konstruieren, ist unmöglich. Im Parlament enthüllt sich die Entscheidung zu deutlich als Sieg über Besiegte oder als Kompromiß. Hieraus ergab sich eine spezifische Diffamierung des Parlaments. Die verbreitete Sehnsucht nach einer Institution, die überparteiliche Entscheidungen zu fällen vermochte, wies auf den Reichspräsidenten hin 4 1 , auf eine Institution also, die starke Züge des Obrigkeitsstaates nicht verleugnen konnte. Die Volkswahl des Reichspräsidenten war sowohl geeignet, die obrigkeitsstaatlichen Elemente des Amtes demokratisch zu neutralisieren, wie auch, sie zur Entfaltung zu bringen. Das hing ganz von dem „Volk", von seinen Überzeugungen und Antrieben ab, das den Reichspräsidenten zu wählen hatte. Ebert konnte als Reichspräsident den Drang nach einer „überparteilichen" Führung nicht befriedigen. So sehr er seine Parteibindung als Reichspräsident zurückstellte, blieb er doch immer im Bewußtsein der Öffentlichkeit Sozialdemokrat. Hindenburg aber, der persönlich dem Obrigkeitsstaat immer verhaftet geblieben war, bot die personellen Voraussetzungen dafür, daß das Amt des Reichspräsidenten gleichsam auf seine obrigkeitsstaatlichen Wurzeln zurückgeführt wurde, daß die obrigkeitsstaatliche Potenz in der Institution des Reichspräsidenten virulent wurde. So war die Wahl Hindenburgs als eines „unpolitischen" 42 Kandidaten zum Reichspräsidenten nicht, wie es vereinfachend oft gesagt wird, Zeugnis der politischen Unreife des deutschen Volkes. Seine Wahl war einfach ein Bekenntnis zur „Überparteilichkeit" des Obrigkeitsstaates - deren eigentliche „Kryptoparteilichkeit" 4 3 nicht gesehen wurde. Die Wahl Hindenburgs war ein „Plebiszit für den Obrigkeitsstaat"44. Mit der Wahl Hindenburgs trafen die institutionellen, ideologischen und personellen Voraussetzungen zusammen, daß aus der von der Weimarer Reichsverfassung gewollten Gleichgewichtsstellung von Reichspräsident und 41 So hielt etwa Graf zu Dohna, Die Krisis des deutschen Parlamentarismus, Karlsruhe 1927, S. 34 f. dafür, „daß die Gefahr einseitiger Interessenpolitik bei der Reichstagsmehrheit präsumptiv größer ist als beim Reichspräsidenten, daß dieser also den Volkswillen in präsumptiv reinerer Form zur Erscheinung bringt". 42 Die Memoiren Hindenburgs zeigen die Haltung einer ostentativ zur Schau getragenen Indolenz in politischen Fragen, verbunden mit dem Anspruch, auf der Ebene verletzter Gefühle durchaus in der Politik mitzusprechen - eine Haltung, die vielen seiner Wähler mit Hindenburg gemeinsam gewesen sein mag. Vgl. Paul v. Hindenburg, Aus meinem Leben, Leipzig 1920, bes. S. 14, 102, 215. S. 277 spricht Hindenburg von seiner „Abneigung gegen Politik", S. 199 bezeichnet er sich als eine „unpolitische Natur". 43 Radbruch, HdbDStR I § 25 S. 289. 44
Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, S. 47.
Vorbemerkung
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Reichstag eine Antithese werden konnte. Ein Reichspräsident, der Hindenburg hieß, konnte von Carl Schmitt zu einem „Hüter der Verfassung" 45 erklärt werden, der die Aufgabe hatte, „die politische Einheit des ganzen Volkes vor einem zum Instrument pluralistischer Tendenzen gewordenen Parlament zu retten" 46 und „die Verfassung vor den Gefahren zu schützen, die ihr... von wechselnden Parlamentsmehrheiten drohen" 47 . Damit war das „Präsidialsystem" der dreißiger Jahre, die Ausschaltung des Parlaments und die Konzentrierung der Staatsführung beim Reichspräsidenten, in der Theorie bereits vorgedacht. Seine kampflose Verwirklichung erfuhr es durch den Machtverzicht des Parlaments durch Kompromißunfähigkeit der Parteien im März 1930. Die Funktionen des Reichspräsidenten: Regierungsbildung, Notverordnungsrecht und Parlamentsauflösung streiften die parlamentarische Kontrolle ab und erwiesen sich als hinlänglich, das Staatsleben ohne, aber auch gegen das Parlament aufrechtzuerhalten. Der Reichspräsident war „vom Schlichter der Parteien zum ,Hüter der Verfassung 4 und schließlich zum Diktator ohne und gegen die Verfassung geworden" 48. Der Reichspräsident erhielt zwar momentan den Staat, aber er verfügte auch über den Staat. Das Präsidialsystem, in der Weimarer Reichsverfassung als demokratische Abwandlung der konstitutionellen Monarchie latent enthalten, durch das Versagen der Parteien ins Leben gerufen, stellte eine Form der Verfassungswirklichkeit dar, in der dem Reichspräsidenten freistand, die Macht zu behalten - oder sie weiterzugeben, auch an eine totalitäre Partei. Nach der Verfassungswirklichkeit des Präsidialsystems hing die Vermeidung der Diktatur lediglich von der persönlichen Standfestigkeit und Einsicht des Reichspräsidenten ab. Die von der Verfassung geschriebene konstitutionalistische Rolle wurde im Jahre 1925 mit einem dem Konstitutionalismus innerlich verhafteten Akteur besetzt. Angesichts der parlamentarischen Schwierigkeiten der letzten Jahre der Republik verdrängte der Konstitutionalismus in der Weimarer Reichsverfassung den Parlamentarismus 49. „Das Endergebnis von Weimar war, daß an die Stelle des beabsich45 Vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, in: AöR N. F. 16 (1929) S. 218 ff. Der Aufsatz erschien 1931 in erweiterter Fassung unter gleichem Titel als selbständiges Buch. Bereits Ebert hat sich gelegentlich als „Hüter der Reichsverfassung" bezeichnet, so in einem Brief an die bayerische Regierung vom 27. Juli 1922 (vgl. Schmitt, Hüter 1931, S. 140 Anm. 1). Der Begriff wurde aber erst unter Hindenburg - im antiparteilichen Sinne - popularisiert. 46 Schmitt, Hüter, AöR, S. 233. 47 AaO. S. 237. 48 Bracher, aaO. S. 44. Vgl. aaO. S. 37 ff. allgemein zur obrigkeitlichen Ideologie von der Überparteilichkeit der Staatsführung, die zur Ablehnung des Parteienstaates führte, und zur Herausstellung des Präsidentenamtes als letzter Bastion der verlorenen „Überparteilichkeit". 49 „Das Oberhaupt der Republik wurde ... besonders in den Regierungskrisen der Endphase ohne wesentlichen Widerstand der Parteien an jene Stelle geschoben, die einst der Kaiser über einem zeitweise widerstrebenden, meist jedoch passiven Parlament eingenommen hatte." AaO. S. 65.
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tigten Parlamentarismus der Präsidentialismus trat, für den ohnehin von Anfang an der dolus eventualis bestanden hatte ... der Neo-Präsidentialismus war dann der Hebel, der es Hitler ermöglichte, das ganze konstitutionelle Gebäude abzumontieren", resümiert Loewenstein50 das staatsrechtlich-politische Fazit der Weimarer Verfassungsentwicklung. Die Diktatur hatte sich 1933 aus dem Präsidialstaat entwickelt. Der Präsidialstaat war ihre Voraussetzung gewesen51. Auch von dieser letzten Folge abgesehen, war der Präsidialstaat eine Entartungserscheinung der parlamentarischen Demokratie. Also suchte der Parlamentarische Rat in der neuen Verfassung die Ansätze für das Präsidialsystem zu beseitigen. Hier konstruierte der Parlamentarische Rat deutlich ex post 52 . Er fragte sich nicht, ob die Diktatur vielleicht, einem unaufhaltsamen Drang der Zeit entsprechend, auch auf andere Weise ihren Weg in die Wirklichkeit gefunden hätte. Er sah die verfassungsrechtliche Bedingtheit ihres Entstehens; als Verfassungsschöpfer suchte er ihr durch Verfassungskonstruktionen zu begegnen. Die ersten vorkonstitutionellen Vorschläge für eine neue Verfassungsordnung waren scharf antipräsidial. So etwa der des britischen Außenministers Bevin auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947: „Die Rechte und Pflichten des Präsidenten sollen auf diejenigen eines konstitutionellen Staatsoberhaupts ohne selbständige Exekutivgewalt begrenzt sein." 53
Die „Arbeitsgemeinschaft ,Das Demokratische Deutschland4 ", eine Vereinigung deutscher Politiker, unter denen prominente Staatsmänner aus der Weimarer Zeit zahlenmäßig stark vertreten waren 54 , erhob sogar die Forderung: „Das Amt des Reichspräsidenten wird aufgehoben." 55 Im HChE befürwortete eine Minderheit den Fortfall der Institution des Staatsoberhauptes. Grundsätzlich sei der Gedanke des pouvoir neutre überholt. Außerdem hätten „die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit bewiesen, daß in Grenzsituationen der Politik kein Präsident neutral über den kämpfenden Parteien stehen" könne 56 . so Karl Loewenstein, Der Staatspräsident, in: AöR 75 (1949) S. 185. 51 Gegen diese offensichtliche Überzeugung des Parlamentarischen Rats wendet sich Hans Luther, Weimar und Bonn, München 1951, S. 9 f. 52 S. o. S. 22. 53 EA 2 (1947) S. 705. 54 Ζ. B. der ehemalige Reichskanzler Dr. Josef Wirth und der einstige preußische Ministerpräsident Otto Braun. 55 Das Demokratische Deutschland, Grundsätze und Richtlinien für den Wiederaufbau im demokratischen, republikanischen, föderalistischen und genossenschaftlichen Sinne, hrsg. vom Hauptvorstand der Arbeitsgemeinschaft „Das Demokratische Deutschland", Bern und Leipzig 1945, S. 16. 56 HChE darst. T. S. 43. - Die repräsentativen Funktionen des Staatsoberhaupts sollte ein Dreierkollegium übernehmen, aus Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Bundeskanzler bestehend, vgl. aaO. S. 41.
Vorbemerkung
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Hingegen behielt der Parlamentarische Rat - mit der Mehrheitsfassung des HChE einig - den strukturellen Aufbau der Weimarer Reichsverfassung bei. Er verteilte die Machtpositionen des Parlamentarismus zwischen Bundestag, Bundespräsident, Bundesregierung und Bundesrat. Minderheitswünsche auf einen Verzicht auf ein Staatsoberhaupt sind im Parlamentarischen Rat nicht mehr vom Mißtrauen gegen den Präsidenten diktiert, sondern sie sind mehr Ausdruck des Wunsches namentlich der SPD, die Bundesrepublik durch das Fehlen eines Staatsoberhauptes äußerlich zum Provisorium zu stempeln57. Doch verteilte der Parlamentarische Rat die Macht zwischen Bundespräsident, Bundestag und Bundesregierung - der Bundesrat bleibt hier, da auf die Behandlung des Föderalismus verzichtet wurde 58 , außer Betracht - in ganz anderer Weise als die Weimarer Reichsverfassung. Bereits in HChE heißt es: „Wenn die Mehrheit sich für die Institution des Bundespräsidenten ausgesprochen hat, so glaubt sie doch, daß der Bundespräsident auf keinen Fall die starke Position haben darf, die der Reichspräsident der Weimarer Verfassung gehabt hat. Sie hält es andererseits nicht für vertretbar, den Bundespräsidenten allein auf eine Wahrnehmung der formalen Funktionen des Staatsoberhauptes zu beschränken. Mit dem Entwurf wird vielmehr der Vorschlag unterbreitet, den Bundespräsidenten als ein echtes pouvoir neutre in die Lage zu versetzen, eine ausgleichende Wirkung zwischen den verschiedenen Organen des Verfassungsaufbaus auszuüben."59
Der Parlamentarische Rat wollte die „gefährliche Zweiteilung der höchsten Staatsgewalt zwischen Reichskanzler und Parlament einerseits und dem Reichspräsidenten andererseits" 60 vermeiden. Dabei hatte er aber auch zu berücksichtigen, daß parlamentarisches Versagen der Ausweitung der präsidentiellen Elemente in der Weimarer Reichsverfassung zur präsidialen Diktatur entscheidende Hilfestellung gewährt hatte. Der Parlamentarische Rat hatte zu berücksichtigen, daß der Reichspräsident dank seiner Funktionen von 1930 bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten den parlamentarisch nicht mehr geführten Staat in Funktion erhalten und sogar den Bestand des Rechtsstaates gewahrt hatte. Der Parlamentarische Rat mußte sich also nach der Beseitigung des Reichspräsidenten als konstitutionell-monarchischen Elements aus dem Parlamentarismus um einen Ersatz für den Reichspräsidenten als Reserveorgan der Staatsführung bemühen. Das Bild des Parlamentarismus mußte gleichsam einerseits von der schädlichen präsidialen Tünche befreit, andererseits in seiner Eigenfarbe aufgefrischt werden.
57 Dieses Motiv klang schon im HChE darst. T. S. 42 an. Im Parlamentarischen Rat äußerten sich in dieser Richtung u. a. Abg. Dr. Menzel (SPD) PlenStenBer. S. 29; Abg. Dr. Katz (SPD) HA Steno S. 102. 118. 58 s. o. S. 28 f. 59 HChE darst. T. S. 41. Vgl. auch Abg. Dr. Schmid (SPD) PlenStenBer. S. 173; Abg. Dr. Lehr (CDU) aaO. S. 202. 60 Ritter, aaO. S. 25.
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Symptomatisch für den Willen des Parlamentarischen Rates, einen reinen Parlamentarismus einzuführen, ist es, daß im Grundgesetz das „Versteckspiel des Staatsrechtes gegenüber den politischen Parteien" 61 aufgegeben wurde. Art. 21 GG erkennt die Parteien als Träger der politischen Willensbildung a n 6 2 · 6 3 . Die Anerkennung der Parteien im Grundgesetz ist ein Schulbeispiel dafür, daß das Grundgesetz bemüht ist, selbst um den Preis schmerzlichen Aufgebens alter Traditionen, an die Wirklichkeit heranzukommen 64. Insoweit ist die Anerkennung der Parteien ein Vollzug einer Grundlehre der Vergangenheit. Speziell wird nunmehr verhindert, daß ein Auseinanderklaffen von Norm und Wirklichkeit in der Parteienfrage, wie unter der Weimarer Reichsverfassung, Wasser auf die Mühlen der Gegner des Parlamentarismus gibt 65 . Im Mittelpunkt der Neuformung des parlamentarischen Regierungssystems im Grundgesetz steht, daß der Parlamentarische Rat aufgrund der Erfahrungen aus der Verfassungsentwicklung der Weimarer Republik die weitgehenden und wucherungsfähigen Kompetenzen des Staatsoberhauptes entscheidend verringerte, die die Weimarer Reichsverfassung diesem zugewiesen hatte. Dies wird im einzelnen auszuführen sein. Der Übersichtlichkeit halber, die gelegentlich unvermeidliche Wiederholungen entschuldigen muß, wird dabei von den einzelnen Funktionen des Reichspräsidenten ausgegangen, die sich in der Vergangenheit als Vormarschstraßen des obrigkeitsstaatlichen Gedankens in das Gebiet des Parlamentarismus erwiesen hatten. Nicht nur die Ausschaltung des Staatsoberhauptes ist zu beachten, sondern auch die Ersatzlösung, durch die der Parlamentarische Rat den Reichspräsidenten als Reserveorgan entbehrlich zu machen suchte. Die Bestellung des Reichspräsidenten durch direkte Volkswahl war das notwendige Fundament seiner Funktionen gewesen. Ohne die Unabhängigkeit und die demokratische Legitimation, die die Volkswahl dem Reichspräsidenten verliehen 61 Radbruch, HdbDStR I § 25 S. 289 f. 62 So bereits HChE darst. T. S. 35: „Die Parteien sind im Grundgesetz als Organ der politischen Willensbildung anerkannt." Diese Notwendigkeit betonte u. a. Abg. Dr. Schmid (SPD) PlenStenBer. S. 15. Die erfolgte Anerkennung begrüßte Abg. Dr. Menzel (SPD) aaO. S. 203. 63 Als noch zu zurückhaltend erklärt Gerhard Leibholz, Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, Verhandlungen des 38. Deutschen Juristentags, staatsrechtliche Abteilung, Tübingen 1951, S. 2 ff. die Anerkennung der Parteien im Grundgesetz. Ähnlich Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 418. 64 Vgl. hierzu den Hinweis bei Eschenburg, Staat, S. 273. 65 Die Grenzpositionen: Zu Beginn der Weimarer Ära konstatierten die Theoretiker schmerzlich die Parteienwirklichkeit gegenüber dem parteienschweigsamen Verfassungsrecht. So z. B. Kaufmann, aaO. S. 206 ff., 208. Einige Autoren tadelten das Versäumnis der Weimarer Reichsverfassung. So Friedrich Glum, Die staatsrechtliche Stellung der Reichsregierung sowie des Reichskanzlers und des Reichsfinanzministers in der Reichsregierung, Berlin 1925, S. 31. Am Ende warf Müller, Organische Reichsverfassungsreform, in: DJZ 38 (1933) Sp. 525 der Weimarer Reichsverfassung vor, daß sie die Parteien nicht ausdrücklich ausgeschlossen, sondern „selbst ein Parteiprodukt, ... die Reichsgewalt den Parteien ausgeliefert habe".
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hatte, hätten sich seine Funktionen - bei gleichlautender verfassungsrechtlicher Formulierung - nie so weit in die Verfassungswirklichkeit erheben können66. Andererseits war die Volkswahl das Mittel zur Berufung eines zur obrigkeitlichen Verfassungswandlung geeigneten Kandidaten auf den Präsidentenstuhl gewesen. So war die Abschaffung der Volkswahl des Präsidenten für den Parlamentarischen Rat einmal direktes Gebot von Erfahrungen aus der Weimarer Republik, zum anderen war sie im Zusammenhang mit dem gleichfalls erfahrungsbedingten Entschluß zur Kompetenzminderung des Staatsoberhauptes möglich geworden. Im HChE heißt es - und dies ist vom Parlamentarische Rat grundsätzlich beibehalten worden: „Von dem Reichspräsidenten der Weimarer Verfassung unterscheidet sich der ... Bundespräsident dadurch, daß er nicht durch das Volk gewählt wird, daß ihm kein bestimmender Einfluß auf die Regierungbildung eingeräumt ist und daß er auch nur in einem einzigen Fall das Recht zur Auflösung des Bundestages haben soll... Darüber hinaus soll er weder ein Notverordnungsrecht haben noch bei der Bundesexekution mitwirken." 67
Kapitel A
Die Bestellung des Staatsoberhauptes in Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz I. Die Abschaffung der Volkswahl des Staatsoberhauptes im Bonner Grundgesetz Nach Art. 41 WRV Weimarer Reichs Verfassung wurde der Reichspräsident vom ganzen deutschen Volk unmittelbar gewählt1. Nur so konnte der Reichspräsident ein echtes Gegengewicht zum Parlament werden. Die Volkswahl des Reichspräsident sollte „seiner Stellung gegenüber dem Reichstag Festigkeit und Unabhängigkeit geben"2. Als Kontroll- und Ersatzorgan durfte der Reichspräsident nicht vom Reichstag kreiert werden, den er kontrollieren und für den er gegebenenfalls handeln sollte3. Möglicherweise wirkten bei der Einführung der Volks wähl des 66 Vgl. schon die Darstellung des französischen Regierungssystems bei Redslob, Die parlamentarische Regierung, S. 120 ff.: der kammerngewählte Präsident konnte das ihm formell zustehende Recht der Auflösung nicht wahrnehmen. 67 HChE darst. T.S. 41.
ι Zur Entstehung des Art. vgl. VerfA S. 232, 235, 274, 458 f. sowie die Kommentare zu Art. 41, auch Pohl, HdbDStR I § 41 S. 467 f. 2 Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 244. 3 Max Weber, Deutschlands künftige Staatsform, in: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 365, betonte, es würde „der vom Parlament gewählte Reichspräsident... auf formale Kontrolle und Legitimierung beschränkt bleiben wie der französische Präsident der Republik". Vgl. auch Abg. Dr. Ablaß (DDP), VerfA S. 232; ders., Heilfron V S. 3195. 4 Fromme
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Reichspräsidenten konstitutionell-monarchische Reminiszenzen mit; insoweit abgewandelt, als der Reichspräsident als Nachfolger des Kaisers sich auf die im demokratischen Staate höchste Legitimation sollte berufen können4. Als der spiritus rector der Volkswahl des Reichspräsidenten gilt Max Weber. Im Jahre 1917 hatte er sich zwar noch recht zögernd für die Volks wähl des Staatsoberhauptes im Eventualfall der Republikanisierung Deutschlands ausgesprochen5: „Das spezifisch cäsaristische Mittel ist das Plebiszit."6 Klar für die Volkswahl erklärte sich Max Weber aber bereits in seiner Schrift „Deutschlands künftige Staatsform" vom 15. Dezember 19187. Für Max Weber ist „das Recht der unmittelbaren Führerwahl" „die magna Charta der Demokratie" 8. Er gewann den anfanglich zur parlamentarischen Präsidentenwahl tendierenden Hugo Preuß für die Volkswahl9. Der volksgewählte Reichspräsident könne, so formulierte es Hugo Preuß in der Denkschrift zum Entwurf der Weimarer Reichs Verfassung vom 3. Januar 1919, „die mannigfaltigen ... Gesichtspunkte ... sicherer und besser abwägen" als ein parlamentarischer Präsident. Er sei mit Sicherheit ein „im politischen Treiben ... erfahrener Führer" 10 . Der Abg. Dr. Quarck (SPD) meinte, der Reichspräsident werde „kraft seiner politischen Geburt den Zusammenhang mit denselben Kräften haben, die das Parlament in sich verkörpert" 11. Die Hoffnung der Nationalversammlung, daß die Volkswahl die politische Führerauslese ebenso wie die innerstaatliche Harmonie zwischen Präsident und Parlament fördern werde, sollte sich nicht erfüllen. Schon in der Nationalversammlung war die Überzeugung von der Zweckmäßigkeit der Volkswahl nicht einhellig. Während die USPD Gegnerin des Präsidentenamtes überhaupt war 12 , gab es „in der Sozialdemokratie eine starke Strömung, die den Präsidenten vom Reichstag abhängig zu machen wünschte"13. Der erste 4 Vgl. das entschiedene Eintreten der DNVP für die Volkswahl, so etwa Abg. Philipp (DNVP), Heilfron V S. 3185. 5 Max Weber, Parlament und Regierung, S. 167. 6 AaO. S. 212. 7
„Ein auf die revolutionäre Legitimität der Volkswahl gestützter Reichspräsident... hätte eine unvergleichlich andere Autorität als ein parlamentarisch gewählter." Max Weber, Staatsform, S. 362. 8 Max Weber, Der Reichspräsident, in: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 393. 9 So Apelt, aaO. S. 57. 10 Abgedr. Preuß, Staat, S. 388. u Heilfron V S. 3200. 12 Die USPD wollte eine Direktorialverfassung auf der Basis des Räteprinzips. Vgl. Apelt, aaO. S. 199. ι 3 Apelt, aaO. S. 200. Vgl. auch einen Artikel von Eduard Bernstein in der Neuen Berliner Zeitung v. 25. Januar 1919, der die bezeichnende Überschrift trug: „Keinen Bonapartismus" und die Volkswahl des Reichspräsidenten scharf ablehnte, zit. Brusewitz, aaO. S. 26 Anm. 17. Zur Haltung der SPD zur Volkswahl im übrigen auch aaO. S. 25 f. Im ganzen beschränkte
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Reichspräsident, Friedrich Ebert, ist nicht durch Volkswahl in sein Amt berufen worden. Er wurde auf Grund des § 7 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919, einer Art Notverfassung für die Zeit bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, durch die Nationalversammlung gewählt. Schon im Frühjahr 1920 bemühten sich sozialdemokratische Kreise, die Weimarer Reichsverfassung im Sinne der parlamentarischen Präsidentenwahl zu ändern 14 . Sie machten geltend, die Volkswahl „sei in Wirklichkeit nur eine scheinrepublikanische, sich dem Monarchismus stark annähernde Einrichtung" 15 . Die Verfassungsänderung scheiterte am Widerspruch des Zentrums und der ablehnenden Haltung der Rechten 16 ' 17 . Ebenfalls im Frühjahr 1920 wurde Hindenburg von der alldeutschen Presse als Kandidat für den Reichspräsidentenposten genannt18. Der deutschnationale Pastor Traub bezeichnete Hindenburg als „den Kandidaten der Monarchisten, ... dessen Aufgabe es sei, der Monarchie den Weg zu ebnen" 19 . Die Versuche, die Volkswahl abzuschaffen, fielen in die Tage des Kapp-Putsches. Das bot den Anhängern von Kapp ein treffliches Argument gegen Parlament und Parteien: diese seien im Begriff, dem Volke das Recht der Präsidentenwahl zu nehmen und an sich zu reißen 20. Der offizielle Aufruf der Regierung Kapp sagte, die Nationalversammlung behandle die Verfassung „wie einen Fetzen Papier ... Schon will die Mehrheit die Wahl des Reichspräsidenten nicht durch die Gesamtheit des Volkes, sondern durch das Parlament vornehmen" 21.
sich die SPD aus ihren staats-ablehnenden Traditionen heraus im wesentlichen auf eine retardierende, nicht aktiv gestaltende Rolle in der Frage der Staatsorganisation. Mangelnde theoretische Beschäftigung mit einem Staats-Zukunftsbild in der SPD führte dazu, daß die Partei der Opposition die Staatsgestaltung überlassen mußte. Vgl. hierzu Theodor Heuß, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 2. Aufl., Tübingen und Stuttgart 1949, S. 461 f., 465. 14
Max Weber, Reichspräsident, S. 390, betonte, dies dürfe kein Präzedenzfall werden. So ein Artikel im „Vorwärts", zitiert Staatsleben IS. 132 (ohne genaue Quellenangabe). Vgl. auch Pohl, HdbDStR I § 41 S. 469 und Otto Koellreutter, Die Stellung des Deutschen Reichspräsidenten, in: DJZ 30 (1925) Sp. 551. 16 Vgl. aaO.; auch Friedrich Stampfer, Die ersten vierzehn Jahre der deutschen Republik, Offenbach/Main 1947, S. 164. 17 Den Ersatz der Volkswahl durch eine Parlamentswahl befürwortete auch Viktor Bredt, Der Geist der deutschen Reichsverfassung, Berlin 1924, S. 150 (in Unterschätzung des Präsidentenamtes) und Axel v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924, S. 122 (aus von Mißgunst gegen Ebert getriebener Verkleinerungssucht gegenüber dem Präsidentenamt, s. u. S. 76). is Vgl. Stampfer, aaO. S. 164; auch Eyck, aaO. I S. 191. 19 Stampfer, aaO. S. 164. 20 So Bredt, aaO. S. 150. 15
21 Der Aufruf ist abgedr. Staatsleben I S. 3, auch bei Fritz Stier-Somlo, Deutsches Reichsund Landesstaatsrecht, 1. Bd., Berlin 1924, S. 600. 4*
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Am 10. März 1920 war der später führend am Putsch beteiligte General Lüttwitz bei Ebert und forderte die Vornahme der Volkswahl des Reichspräsidenten22. Ob sich Kapp bei Gelingen seines Staatsstreichs an sein Programm der Vornahme der Volkswahl des Reichspräsidenten gebunden gefühlt hätte, ist zweifelhaft. Wesentlich ist, daß mit der Volkswahl des Staatsoberhaupts eine-Bestimmung in der Weimarer Reichsverfassung enthalten war, deren Vollzug bedenklich erschien. So konnten antidemokratische Putschisten die demokratischen Parteien auf einer Vernachlässigung der demokratischen Verfassung ertappen. Nachdem im Juni 1920 unter Reichskanzler Fehrenbach die erste „sozialistenreine" 23 Regierung gebildet worden war, drängten die Deutschnationalen erneut auf die Durchführung der Volkswahl 24 . Doch war die Freude der Verfassungsparteien an der Volkswahl durch das Eintreten Kapps für die Volkswahl nicht gesteigert worden 25 . Sie wurde weiter hinausgeschoben, obwohl Ebert den Reichskanzler aufforderte, gemäß dem Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten, das am 4. Mai 1920 (RGBl. S. 849) in erster Fassung ergangen war, den Termin für die Wahl festzusetzen. Man verschanzte sich hinter dem etwas formalistisch anmutenden Argument, daß vor der noch ausstehenden Abstimmung über den Verbleib Oberschlesiens beim Reich noch nicht klar sei, was das „ganze deutsche Volk, das den Reichspräsidenten zu wählen habe, eigentlich sei" 26 . Um aber die Stellung Eberts zu legalisieren, faßte der Reichstag, „als auch nach der Entscheidung über Oberschlesien in den Nachwehen der infolge der Ermordung Rathenaus ausgebrochenen Unruhen die ungestörte Vornahme einer Präsidentenwahl nicht gewährleistet schien" 27 , am 24. Oktober 1922 mit verfassungsändernder Mehrheit (314 gegen 76 Stimmen) den Beschluß, Ebert bis zum 1. Juli 1925 als Reichspräsident zu bestäti„28 gen , Nachdem Ebert vor Ablauf seiner Amtszeit im Februar 1925 gestorben war, mußte die mit soviel Pathos beschlossene, mit soviel Skepsis bisher umgangene Volkswahl zum ersten Male verwirklicht werden. Vorher hatte man wenigstens organisatorisch in bezug auf die Kandidatenaufstellung die Reichspräsidentenwahl in die Hände der Parteien gebracht. In einer (zweiten) Abänderung des Gesetzes über die Wahl des Reichspräsidenten vom 13. März 1925 (RGBl. I S. 159) 29 wurde für Wahlvorschläge eine Unterschriftenzahl von 20.000 Wählern verlangt. Es sollten 22 Vgl. Staatsleben IS. 2. 23 Formulierung bei Stampfer, aaO. S. 202. 24 AaO. 25 AaO. 26 AaO. 27 Staatsleben I S. 132. 28 Art. 190 WRV wurde dementsprechend abgeändert. Vgl. Staatsleben I S. 132; Stampfer, aaO. S. 303. Eyck, aaO. I S. 303 verzeichnet ein besonderes Verdienst Stresemanns am Zustandekommen der Maßnahme. 29 Vgl. hierzu Georg Kaisenberg, Die Wahl des Reichspräsidenten, 2. Aufl., Berlin 1925.
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20 Unterschriften genügen, wenn der Vorschlag von einer Gruppe ausging, die bei der letzten Reichstagswahl mindestens 500.000 Stimmen erhalten hatte (§ 2 a). Das hieß, daß im allgemeinen nur Parteien einen Kandidaten aufstellen konnten30. Nach dem Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten war im ersten Wahlgang absolute Mehrheit erforderlich. In einem zweiten Wahlgang genügte die relative Mehrheit. Im ersten Wahlgang erreichte keiner der aufgestellten Parteikandidaten das Erfordernis. Für den zweiten Wahlgang entschlossen sich die Linksparteien (mit Ausnahme der KPD) und die demokratische Mitte zu einer Sammelkandidatur. Die Rechtsparteien aber sahen sich nach einem „überparteilichen" Kandidaten um, der geeignet schien, auf dem Umweg über politische Emotionen in die Bereiche der Nicht- und der nicht gefestigten Wähler einzubrechen. Man fand diesen Kandidaten in der Person des kaiserlichen Feldmarschalls von Hindenburg, der dann auch über die Parteikandidaten siegte. Max Weber hatte im Jahre 1918 die Gefahr der „Retablierung einer Dynastie" durch die Volkswahl gering veranschlagt31. Doch erwies die Wahl von 1925 fast wortgenau die Skepsis der Sozialdemokraten, die Volkswahl sei eine „sich dem Monarchismus stark annähernde Einrichtung" 32 , als berechtigt: In die demokratisch abgewandelte staatsrechtliche Position des Monarchen rückte zwar nicht der Monarch, aber immerhin sein Feldherr ein. Hindenburgs Popularität war nicht nur die des Siegers von Tannenberg. Sie umfaßte auch eine verbreitete Sehnsucht nach der „guten alten Zeit", deren ragendes Monument Hindenburg für viele Wähler war, sie umfaßte obrigkeitsstaatliche Reminiszenzen, den Glauben an das Idol einer „überparteilichen" Staatsführung und eine mehr oder weniger latente Anhänglichkeit an das Reich der Hohenzollern, als deren getreuer Eckart Hindenburg erschien. Die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten war „eine schwere Niederlage der Republik und des Parlamentarismus" 33, sie war ein personeller Einbruch in das Gefüge der Weimarer Reichsverfassung. Allerdings erfüllten sich zunächst weder überspitzte Hoffnungen der Rechten noch übermäßige Befürchtungen der Demokraten. Der Beginn der Amtszeit Hindenburgs fiel in die Periode der Konsolidierung der Republik. Diese mag insofern mit der Person Hindenburgs zusammenhängen, als die Rechte geneigt war, sich vorläufig mit einer Republik zu versöhnen, in der sie sich mit der Wahl Hinden30 Max Weber, Staatsform, S. 362, hatte schon 1918 prophezeit, „daß der eigentliche Wahlkampf ... in starkem Maße in die Parteien selbst (bei der Frage der Aufstellung des Präsidentschaftskandidaten) hineinverlegt werden" würde. Dem kam die neue Bestimmung entgegen. Pohl, HdbDStR I § 41 S. 471 betrachtet sie als „einen zwar kleinen, aber grundsätzlich nicht ganz unbedenklichen Schritt in der Richtung der Parlamentarisierung der Präsidentenwahl". Vgl. auch Staatsleben II S. 82; Ε. H. Hoffmann, Die Stellung des Staatshaupts zur Legislative und Exekutive im Deutschen Reich und seinen Ländern, in: AöR N. F. 7 (1924) S. 268. 3
1 Max Weber, Staatsform, S. 362 f. s. o. Anm. 15. 33 Eyck, aaO. IS. 451.
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burgs zum Reichspräsidenten eine so gute Abwartebastion geschaffen hatte 34 . Im übrigen verhielt sich Hindenburg selbst wie ein parlamentarischer Monarch 35 . Er fand sich aus Friedfertigkeit, Altersmüdigkeit, politischer Indifferenz, einem Gefühl formaler Rechtsverpflichtung und dem soldatischen Respekt vor Fakten mit der bestehenden Verfassungsordnung ab, auch wenn diese ihm immer innerlich fremd blieb. Als im Jahre 1932 Hindenburgs siebenjährige Amtsperiode ablief, waren die Nationalsozialisten zu einer ernst zu nehmenden Gruppe im politischen Kräftespiel geworden. Sie waren entschlossen, die Machtpositionen des Weimarer Staates zu erobern. Es drohte eine Kandidatur Hitlers für den Posten des Reichspräsidenten. Die Parteien glaubten, mit eigenen Kandidaten sich kaum gegen eine Kandidatur Hitlers durchsetzen zu können. Es blieb der Ausweg, die Popularität Hindenburgs, der man 1925 erlegen war, jetzt gegen Hitler einzusetzen36. Was Hindenburg an Unterstützung auf der Rechten an Hitler verloren haben mochte, das ersetzten schweren Herzens - aber es blieb ihnen keine Wahl - die demokratischen Gruppen. Der sicherere Ausweg aber war wiederum, wie 1922 bei Ebert, eine Verlängerung der Amtszeit Hindenburgs auf parlamentarischem Wege. In konservativen Kreisen war bereits im Frühjahr 1931 der Plan aufgetaucht, durch Verfassungsänderung Hindenburgs Präsidentschaft auf Lebenszeit zu verlängern 37. Doch Hindenburg versagte seine Zustimmung; Bracher meint, daß er auf einer „konsequenten Restauration der Monarchie" bestanden habe38. Die demokratischen Gruppen einigten sich schließlich auf den Plan, Hindenburg durch verfassungsänderndes Gesetz auf zwei weitere Jahre in seinem Amt zu bestätigen39. Hindenburgs widerstre34 So Bracher, aaO. S. 570, auch (von seinem Standpunkt aus) Otto Meißner, Staatssekretär unter Ebert - Hindenburg - Hitler, Hamburg 1950, S. 148. Abg. Lambach (DNVP) schrieb (unter heftigem Widerspruch seiner Parteifreunde): „Dadurch, daß der monarchische Teil unseres Volkes Hindenburg zum Reichspräsidenten erkor, ist der Monarchismus zu Grabe getragen worden", zit. Staatsleben II S. 5. Das bedeutete die Registrierung der Hindenburgwahl als obrigkeitlichen Teilerfolges. 35 Vgl. Bracher, aaO. S. 444. 36 Schon am 24. September 1931 hatte der Bundestag des Reichsbanners „durch Beschluß festgestellt, ... nur durch eine Wiederaufstellung Hindenburgs sei... eine nationalsozialistische Präsidentschaft zu verhindern". Zit. aaO. S. 454 f. 37 Vgl. aaO. S. 444. 38 Vgl. aaO. S. 445 f. 39 Verfassungsrechtlich war eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten durch Reichstagsbeschluß nicht unbedenklich. Es handelte sich um eine Verfassungsdurchbrechung - Änderung der Verfassung im materiellen Sinne ohne gleichzeitige Änderung der Verfassung im formellen Sin ι κ aber unter Wahrung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Verfahrensweise. s. hierzu u. S. 202 f. Gerhard Leibholz, Die Verfassungsdurchbrechung. Betrachtungen aus Anlaß der geplanten parlamentarischen Reichspräsidentenwahl vom Januar 1932, in: AöR N. F. 22 (1932) S. 21, 22, 24 f., hielt die Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten durch Reichstagsbeschluß für bedenklich, aber im Hinblick auf das Gemeinwohl und den staatlichen Notstand für aus-
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bende Zustimmung wurde gewonnen. Doch war die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Reichstag ohne Zustimmung der KPD oder der NSDAP nicht zu erreichen. Da auf die KPD nicht zu rechnen war, war die Zustimmung der NSDAP unentbehrlich. Verhandlungen mit Hitler scheiterten schließlich, nachdem NSDAP und DNVP sich anscheinend gegenseitig in einer Art Wettlauf um die größte „Radikalität" aus der Möglichkeit, zuzustimmen, herausmanövriert hatten 40 und Hitler sich entschlossen hatte, selbst zu kandidieren. Volltönend kleidete Hitler seine Ablehnung in verfassungsrechtliche Argumente 41. Wieder einmal, wie beim KappPutsch, konnten sich verfassungsfeindliche Kräfte als Hüter der Verfassungsbestimmung der Volkswahl aufspielen. Von nun an bemühten sich die demokratischen Kräfte, nachdem sie die Volkswahl nicht hatten vermeiden können, um die Kandidatur und den Wahlsieg Hindenburgs, der sich mit Unbehagen von den ihm im Grunde wesensfremden demokratischen Gruppen gestützt und propagiert sah 42 , und darum seine „Überparteilichkeit" - mit aller hintergründigen Bedeutung dieses Wortes - deutlicher als je betonte. In einer Ansprache am 10. März 1932 erklärte er: „Kandidat einer Partei oder einer Parteiengruppe zu sein, hätte ich abgelehnt... Aber auf überparteilicher Grundlage der Kandidat des deutschen Volkes zu sein und als solcher denen entgegenzutreten, die nur Kandidaten einer Partei sind, das hielt ich für meine vaterländische Pflicht." 43 Das traf Hitler, aber es meinte den Parteienstaat im Ganzen und mit ihm auch die demokratischen Parteien. „Schlagt Hitler, darum wählt Hindenburg", hatten die Sozialdemokraten ihren Wahlaufruf überschrieben 44. Das Ziel wurde erreicht. Hindenburg wurde Reichsnahmsweise statthaft. Dagegen machte Otto Koellreutter, Verfassungstheoretische Bemerkungen zur Gültigkeit der geplanten parlamentarischen Präsidentenwahl 1932, in: AöR N. F. 22 (1932) S. 143 f., geltend, daß die Bezugnahme auf das „Gemeinwohl" jeder Subjektivität gegenüber der Verfassung die Türen öffne, und daß im übrigen die inzwischen erfolgte Wiederwahl Hindenburgs im ordentlichen Wege durch das Volk den Notstand widerlegt habe. S. 145 f. erklärte er eine Verlängerung der Amtszeit des amtierenden Präsidenten allenfalls unter der Bedingung der Aufnahme der Verfassungsänderung in den Wortlaut des Verfassungstextes für erlaubt (wie bei der Verlängerung der Amtsperiode des Reichspräsidenten Ebert im Wege einer Ergänzung des Art. 180 WRV durchgefühlt). Als Gegner der Amtszeitverlängerung Hindenburgs bezeichnet sich auch Otto Braun, aaO. S. 371. 40 Vgl. Bracher, aaO. S. 447. 41
Vgl. ein Brief Hitlers an den Reichskanzler Brüning v. 25. Januar 1932, abgedr. Staatsleben III S. 110: „Vom Standpunkt der demokratischen Grundrechte aus hat aber nur das Volk den in der Verfassung niedergelegten Rechtsanspruch, die Wahl des Reichspräsidenten persönlich und unmittelbar vorzunehmen. Dieses Volksrecht kann nicht durch irgendeine sogenannte qualifizierte Reichstagsmehrheit ersetzt werden." 42 Vgl. hierzu Bracher, aaO. S. 456 f. Er betont „wie wenig" Hindenburgs Entschluß zur Kandidatur „ein Bekenntnis zur Republik oder auch nur zu Brünings Präsidialkabinett einschloß". 43 Abgedr. Staatsleben III S. 114. 44 „Vorwärts" vom 27. Februar 1932. Vgl. auch Otto Braun im „Vorwärts" vom 10. März 1932: „Ich wähle Hindenburg", zit. Bracher, aaO. S. 455.
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Präsident, nicht Hitler. Doch war es ein reichliches halbes Jahr später derselbe Hindenburg, der Hitler durch Ernennung zum Reichskanzler, in Verbindung mit der Gewährung der Reichstagsauflösung und des Notverordnungsrechts des Art. 48, einen anderen Weg in die Macht eröffnete. Es kann hier ebenso die Frage nach der Schuld Hindenburgs an der Entartung der Weimarer Demokratie und an der Machtübernahme Hitlers nicht entschieden werden, wie der Parlamentarische Rat sie sich nicht im Sinne des abwägenden Historikers gestellt hat. Festzustellen ist, daß für den Parlamentarischen Rat die Volks wähl des Staatsoberhauptes nicht mehr in Frage kam 45 . Für den Parlamentarischen Rat lag ein Erfahrungsmaterial vor, das er verfassungsrechtlich ausweitete. Im Jahre 1925 hatte sich die Volks wähl des Staatsoberhauptes erwiesen als ein Mittel zur Bestellung eines unpolitischen, dem Monarchismus innerlich verbundenen Kandidaten. Im Jahre 1932 beschwor die Volkswahl die Gefahr der plebiszitären Etablierung der Diktatur herauf. Diese Gefahr konnte nur durch den Rückgriff auf den unpolitischen Monarchisten, den die erste Volkswahl ins Reichspräsidentenamt berufen hatte, gebannt werden; ein bescheidener Sieg, der noch dazu nicht für lange anhalten sollte. Ein derartiges Kausalverhältnis zwischen Volkswahl des Reichspräsidenten und autoritärer, dann totalitärer Staatsentwicklung muß dem Parlamentarischen Rat vorgeschwebt haben. Sonst hätte er die Volkswahl des Staatsoberhaupts nicht so leidenschaftlich und ungeteilt abgelehnt46. „Die Präsidentenwahlen von 1925 und 1932 haben bewiesen, daß diese Form der Wahl für das deutsche Volk jedenfalls nicht die geeignete Form ist. Im Jahre 1925 wurde der Kandidat der Reaktion gewählt, und im Jahre 1932 haben die demokratischen Kräfte ... geradezu als [sie!] Angst vor dem Tode Selbstmord begangen", sagte Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) 47 . Für die Bestellung des Staatsoberhaupts kam mithin nur die parlamentarische Wahl in Frage. Hierdurch werde, so sagte Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) mit deutlichem Bezug auf die Kandidatur Hitlers, „die Gefahr vermindert, daß ein Agitator unter Ausnützung der Not und Mißbrauch der emotionalen Kräfte des Volkes auf dem Wege des Plebiszits noch einmal nach der Macht zu greifen versucht" 4 8 ' 4 9 . 45
Von den Beurteilern der Weimarer Periode wird die Volkswahl des Reichspräsidenten einhellig als verfehlt angesehen. Vgl. Stampfer, aaO. S. 164, 448; Braun, aaO. S. 168; Eyck, aaO. I S. 101; Arnold Brecht, Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der Deutschen Republik, Wien 1948, S. 78 u. a. 46 Die Volkswahl des Bundespräsidenten wurde bereits im HChE darst. T. S. 41 einhellig abgelehnt. Im Parlamentarischen Rat zeigten lediglich die Abg. Dr. Dehler und Dr. Becker eine gewisse Vorliebe für die Volkswahl des Bundespräsidenten. „Wenn schon kein plebiszitärer Bundespräsident erwünscht ist ...", klagte Abg. Dr. Dehler (FDP) HA Steno S. 103. Ähnlich: aaO S. 400, 637; Abg. Dr. Becker (FDP) HA Steno S. 396. Doch standen sie selbst zu sehr unter dem Eindruck der Vergangenheit, um sich zu formulierten Anträgen entschließen zu können. - Kritisch zur Abschaffung des Präsidentenplebiszits der Bericht über die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane in: AöR 75 (1949) S. 339. 47 PlenStenBer. S. 25. Ebenso: Abg. Dr. Heuss (FDP) HA Steno S. 117; Abg. Walter (CDU) aaO. S. 103, 114.
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Der Parlamentarische Rat bemühte sich, dem Bundespräsidenten ein breiteres Fundament zu geben, als es die einfache Parlamentswahl sein kann. Das schien erforderlich, da der Bundespräsident in einigen wenigen Fällen die Rolle eines Gegenspielers zum Parlament übernehmen soll 50 . Art. 54 GG überträgt die Wahl des Bundespräsidenten einer Bundesversammlung, die aus den Abgeordneten des Bundestages und aus einer gleichen Anzahl von den Länderparlamenten gewählter Mitglieder zusammengesetzt ist. Hierbei waren föderalistische Erwägungen mit wirksam. Die Länder sollten bei der Bestellung des Staatsoberhaupts eingeschaltet werden. Eine Beteiligung des Bundesrates an der Präsidentenwahl wurde erwogen 51; wegen seiner zahlenmäßigen Schwäche gegenüber dem Bundestag konnte dies föderalistischen Wünschen nicht genügen 52 . Der Entscheidung des Parlamentarischen Rats gegen die Volkswahl des Staatsoberhauptes entsprechen gewisse Ansätze in der Verfassungsentwicklung zur Weimarer Zeit: die frühen Versuche, die Bestimmung der Volkswahl durch Verfassungsreform abzuschaffen und die Bemühungen, in der Verfassungswirklichkeit den Vollzug der Volkswahl zu vermeiden. Die Umgehung der Volkswahl durch Verlängerung der Amtszeit des jeweiligen Reichspräsidenten im Wege des Parlamentsbeschlusses ist faktisch eine parlamentarische Präsidentenwahl mit fixiertem Kandidaten. Wären die Absichten, im Jahre 1932 die Volkswahl wiederum zu umgehen, verwirklicht worden, so wäre - dies stellt Koellreutter nicht ohne Ironie fest - „in der politischen Wirklichkeit ... die parlamentarische Wahl des Reichspräsidenten die Regel, die plebiszitäre Wahl die Ausnahme geworden" 53. In der sachlich durchaus berechtigten Tendenz der Verfassungsparteien, die Volkswahl nach Möglichkeit zu vermeiden, gaben sie sich allerdings eine erhebliche taktische Blöße. Die Feinde der Demokratie konnten sich als getreue Wahrer der Verfassung hinstellen. Die Anhänger der antidemokratischen Gruppen verstanden die Proklamation der Verfassungstreue seitens ihrer Führer nicht als Verrat an den eigenen Prinzipien, sondern sehr wohl als die zweckgebundene Taktik, die sie war. So gab die demokratisch gemeinte, aber in der soziologischen und psychologischen Lage in
48 PlenStenBer. S. 25. 49 Neuerdings für Wiedereinführung der Volkswahl des Bundespräsidenten: Werner Weber, Die Verfassung der Bundesrepublik in der Bewährung, Göttingen 1957, S. 46 f. so s. u. S. 56, 78, 88, 126. 51
So HChE Art. 75. Zum allmählichen Werdegang der Bundesversammlung im Parlamentarischen Rat über Einbeziehung und Ausschaltung des Bundesrates vgl. die Entstehungsgeschichte zu Art. 54 GG in JöR N. F. 1 S. 399 ff. 52 Vgl. aaO. 53 Koellreutter,
Reichspräsidentenwahl, S. 135.
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Deutschland nicht zunutze der Demokratie ausführbare Verfassungsbestimmung der Volkswahl des Reichspräsidenten den Feinden der Weimarer Reichsverfassung Gelegenheit, die von ihnen angewandte Legalitätstaktik mit einer besonderen Arabeske zu versehen. Wenn sich die Nationalsozialisten bemühten, „legal" in die von der demokratischen Verfassung geschaffenen Positionen der Machtausübung einzudringen, handelten sie materiell verfassungswidrig, wenn auch formell verfassungsgerecht. Hierbei konnte es für sie nur günstig sein, die demokratischen Gruppen auf einer formellen Verfassungswidrigkeit zu ertappen, wenn diese auch der Sicherung der Verfassung diente und mithin materiell verfassungsgerecht war. Bei der propagandistisch leicht zu erreichenden Verwischung der Begriffe der formellen und der materiellen Verfassungstreue fanden sich nicht nur die Nationalsozialisten hinter der Schutzwehr der Legalität geborgen, sondern sie konnten sogar, gleichsam zur Bestätigung der eigenen Legalität, die demokratischen Gruppen des Rechtsbruchs zeihen. Eine Verfassungsbestimmung, die dies ermöglichte, mußte sich dem Parlamentarischen Rat als in besonderem Maße unratsam darstellen. Wahrend direkte Erfahrungen aus der Volkswahl des Reichspräsidenten den Parlamentarischen Rat veranlaßten, sich von der Volkswahl abzuwenden, war andererseits für den Parlamentarischen Rat mit dem Entschluß zur funktionellen Schwächung des Bundespräsidenten und zur prinzipiellen Abkehr von der verfassungsrechtlichen Gegengewichtskonstruktion zwischen Parlament und Präsident keinerlei verfassungsarchitektonischer Zwang zur Volkswahl mehr gegeben54. So stehen die Minderung der demokratischen Legitimation und der politischen Funktionen des Staatsoberhauptes im Zusammenhang und bedingen sich gegenseitig. Beides, die Abschaffung der Volkswahl und die Beschneidung der Funktionen, ist jedes für sich von historischen Erfahrungen diktiert. Beide Entscheidungen wirkten jeweils auf die andere zurück, sie ermöglichend und begünstigend. Ein nicht volksgewählter Präsident ist nicht geeignet zum Träger gewichtiger politischer Funktionen. Ein funktionsarmer Präsident bedarf nicht der Legitimation durch Plebiszit. So wirkt das Erlebnis der Präsidentschaft Hindenburgs, konkret gesprochen, in zwei Richtungen. Daß Hindenburg Reichspräsident werden konnte, veranlaßte den Parlamentarischen Rat, den Wahlmodus des Staatsoberhauptes zu revidieren. Wie ein Hindenburg als Präsident handeln konnte, veranlaßte den Parlamentarischen Rat, die präsidialen Kompetenzen zu verringern.
2. Die Kürzung der Amtszeit und die Beschränkung der Wiederwählbarkeit des Staatsoberhauptes im Bonner Grundgesetz Die Weimarer Reichsverfassung hatte die Amtszeit des Reichspräsidenten auf sieben Jahre festgelegt. Wiederwahl war ausdrücklich und unbegrenzt zulässig 54 „Da die unmittelbare Volkswahl die stärkste Legitimation für eine unabhängige und selbständige Präsidialgewalt darstellt, war mit der Entscheidung gegen eine starke Präsidialgewalt auch die Entscheidung gegen die Volkswahl gefallen." BK Einl. zu Abschnitt V S. 2.
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(Art. 43 Abs. 1). Die Amtszeit von sieben Jahren betrug fast das Doppelte einer normalen Wahlperiode des Reichstages. Häufige Reichstagsauflösungen trugen dazu bei, daß wechselnden Reichstagen immer wieder derselbe Präsident gegenübertrat. Hinzu kam die Möglichkeit der Wiederwahl. Die SPD hatte in der Nationalversammlung nur eine fünfjährige Amtsperiode bei einmaliger Wiederwahl befürwortet 55 . Es habe sich herausgestellt, „daß bei einer längeren Amtsdauer als zehn Jahre ein Wechsel in der Person des Präsidenten immer schwerer wird" 5 6 . Dagegen bestand die Mehrheit auf der siebenjährigen Amtsperiode, die Max Weber bereits im Dezember 1918 vorgeschlagen hatte 57 . Preuß hatte ursprünglich sogar zehn Jahre durchsetzen wollen 58 . Er befürwortete auch die permanente Wiederwählbarkeit. Sie zu beschränken, zeige „ein undemokratisches Mißtrauen gegen die Volkswahl"; „Das Mißtrauen, daß sich da stillschweigend eine neue Autokratie bildet, ist bei dieser Verfassung unbegründet." 59,60 . In der Tat hat die Autokratie in Deutschland nicht den Weg über den langfristig gewählten Präsidenten mit permanenter Wiederwahl genommen. Immerhin waren Ansätze vorhanden. Bei der Entwicklung zum Präsidialstaat hat die lange Amtsperiode des Reichspräsidenten wohl eine Rolle gespielt. Den von konservativen Kreisen geplanten Übergang zur Monarchie, der nach einer Bestätigung Hindenburgs als Reichspräsident auf Lebenszeit gefunden werden sollte 61 , hätte die Gewöhnung an einen langjährigen Reichspräsidenten psychologisch sicher erleichtert. Angesichts dieser Entwicklungsmöglichkeiten, entschlossen zur Ausmerzung monarchischer Elemente in der Präsidentenstellung62 und getragen von der Absicht, das Amt des Staatsoberhauptes in seiner politischen Bedeutung zu vermindern, kam der Parlamentarische Rat sachlich auf den Vorschlag der SPD in der Nationalversammlung zurück. Vom HChE (Art. 76) an war die fünfjährige Amtszeit des Präsidenten bei nur einmaliger Wiederwählbarkeit vorgesehen. Die Amtszeit des Präsidenten war um ein Jahr länger als die parlamentarische Wahlperiode gehalten worden, um wegen der Vermittlerfunktionen des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung ein gleichzeitiges Ende der präsidialen Amtsperiode und der
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So Antrag Abg. Fischer (SPD), vgl. VerfA S. 292. Ders., aaO. Max Weber, Staatsform, S. 363. Hugo Preuß, VerfA S. 292. AaO.
60 Ein Antrag Delbrück, die Amtsperiode auf sieben Jahre festzulegen, den ersten Reichspräsidenten aber nur drei Jahre amtieren zu lassen, wurde abgelehnt, vgl. VerfA S. 292. Vermutlich war die Absicht des Antrages, den zu erwartenden ersten sozialdemokratischen Reichspräsidenten auf eine Amtszeit von drei Jahren zu beschränken. Nach dem vermutlichen Sympathieverschleiß des in den ersten schweren Jahren Amtierenden sollte ein rechtsstehender Kandidat in den Genuß der vollen Amtszeit kommen. 61 s.o. S. 54. 62 So BK zu Art. 54 S. 7; v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 304.
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parlamentarischen Wahlperiode möglichst unwahrscheinlich zu machen. Die fünfjährige Amtszeit und die einmalige Wiederwählbarkeit - jetzt Art. 54 Abs. 2 GG sind „in den Beratungen des Parlamentarischen Rats nie streitig gewesen" 6 3 , 6 4 .
3. Qualifizierte Staatsangehörigkeit des Staatsoberhauptes im Bonner Grundgesetz? Art. 41 Abs. 2 WRV erklärte „jeden Deutschen", also jeden, der, gleichgültig seit wann, Inhaber der deutschen Staatsangehörigkeit war, als zum Reichspräsidenten wählbar. Der VerfA hatte ursprünglich vorgesehen, daß der Reichspräsident seit mindestens zehn Jahren deutscher Staatsbürger sein müsse65. Die DNVP hatte sogar verlangt, daß er von Geburt an Deutscher zu sein habe66. Mit Rücksicht auf die Deutschen in den abgetretenen Gebieten67, aber auch auf die Möglichkeit, daß ein Auslandsdeutscher, auch ein Österreicher zum Reichspräsidenten wählbar sein sollte, hat die Weimarer Reichsverfassung hierauf verzichtet 68. Diese freundliche Geste der Weimarer Reichsverfassung ist bekanntlich in der Kandidatur eines gerade eben durch einen bestellten Verwaltungsakt in die deutsche Staatsbürgerschaft hineingeschmuggelten ehemaligen Österreichers und derzeitigen Staatenlosen69 zu ungeahnter Bedeutung gekommen. Ohne Zweifel hat die so eröffnete Möglichkeit für Hitler, als Reichspräsidentschaftskandidat aufzutreten, das Ansehen seiner Person und Partei gehoben und ihn einen Schritt näher an die Macht herangebracht. Wohl in Erinnerung hieran hat der OrgA des Parlamentarischen Rates die Frage erörtert, ob für die Wählbarkeit zum Bundespräsidenten eine zeitliche Qualifikation der Staatsangehörigkeit des Kandidaten vorgeschrieben werden solle. Es wurde kein Beschluß gefaßt 70, in einer späteren Sitzung aber noch einmal angeregt, daß 63 JöR N. F. 1 S. 406. 64
Die Beschränkung der Wiederwahl erklärt Rolf Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik, iur. Diss. München v. 30. Juli 1950, S. 33, für „weniger sinnvoll, als perfektionistisch", da ja der Bundespräsident bei jeder Wahl einer anderen Bundesversammlung gegenüberstehe. - Auch der Reichspräsident stand jeweils einem „anderen" Volk gegenüber! 65 Vgl. VerfA S. 232. 66 Vgl. Heilfron V S. 3186. 67 Vgl. aaO. S. 3202 f. 68 Vgl. Pohl, HdbDStR I § 41 S. 472; Hans Gmelin, Einführung in das Reichsverfassungsrecht, Leipzig 1929, S. 108. 69 Adolf Hitler war 1925 von den österreichischen Behörden ausgebürgert worden und galt mithin als Staatenloser. Der braunschweigische Minister Klagges (NSDAP) ernannte Hitler kurz vor den Präsidentschaftswahlen von 1932 zum Regierungsrat. Damit Beamter geworden, war Hitler automatisch deutscher Staatsbürger.
Das Parlamentsauflösungsrecht
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der Bundespräsident im Lande geboren sein müsse71. Ein Antrag des Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU) im HA, daß der Bundespräsident mindestens fünf Jahre seinen Wohnsitz im Gebiet des Deutschen Reiches gehabt haben müsse72, zielte wohl weniger auf die Vergangenheit, als daß er eine gewisse innenpolitische Vertrautheit des Präsidenten garantieren wollte. Wenn auch eine zeitliche Qualifizierung der deutschen Staatsangehörigkeit des Bundespräsidenten nicht in das Grundgesetz aufgenommen wurde, ist es doch bezeichnend für die Orientierung des Grundgesetzes an der Vergangenheit, daß selbst ein Ereignis von so zufälliger Bedeutung, wie die Kandidatur des gerade eingebürgerten Hitler für das Reichspräsidentenamt, gleichsam noch eine leise Unruhe in der Verfassungsgebung zur Folge gehabt hat 73 .
Kapitel Β
Das Parlamentsauflösungsrecht des Staatsoberhauptes in Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz Die Abwendung des Bonner Grundgesetzes vom Gegengewichtsgedanken der Weimarer Verfassung Nach Art. 25 WRV hatte der Reichspräsident das Recht, den Reichstag aufzulösen. In dieser Bestimmung zeigt sich anschaulich und direkt die Absicht der Nationalversammlung, das Parlament durch ein zweites volksvertretendes Organ kontrollieren zu lassen. Die präsidiale Auflösung des Reichstags war die Kernbestimmung des Gleichgewichtssystems, das die Weimarer Reichsverfassung zwischen Reichspräsident und Reichstag hatte schaffen wollen. Bereits Redslob hatte die Auflösung der Volksvertretung durch das Staatsoberhaupt als das Essentiale des „wahren" Parlamentarismus bezeichnet1. Er hatte sie als ein Mittel zur „Befragung des Volkes"2 bei einem Konflikt zwischen Legislative und Exekutive angesehen. Max Weber sah in ihr das „Palladium der echten Demokratie" 3. Die demokratische Mitte der Nationalversammlung befürwortete die 70 Vgl. JöR N. F. 1 S. 400. 71 Vgl. v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, S. 300. 72 HA Steno S. 641. 73 Brecht, Vorspiel, S. 180 Anm. 1, wertet das Fehlen einer Bestimmung, die die Kandidatur zum Reichspräsidenten nach amerikanischem Muster Deutschen von Geburt vorbehält, ernstlich als ,3eispiel für den Einfluß, den Einzelheiten der Verfassung auf die Geschichte eines Landes haben können". ι Redslob, Die parlamentarische Regierung, S. 3, 5, 120 ff., 152. 2 AaO. S. 3. 3 Max Weber, Reichspräsident, S. 393.
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Die Neuorganisierung des demokratischen Staates
präsidiale Befugnis der Reichstagsauflösung in eben diesem Sinne als ein durchaus demokratisches Mittel. Mit der Auflösung sollte der Reichspräsident das Recht erhalten, „ganz im demokratischen Sinne vom Gewählten an die Wähler zu appellieren" 4 . Er sollte in die Lage versetzt werden, „wenn ... der Reichstag mit seinen Beschlüssen auf falschem Wege oder mit dem Völksempfinden im Widerspruch ist, das Volk gegen den Reichstag anzurufen. Das ist demokratisch, und gegen den Appell an das Volk wird sich ein guter Demokrat nicht wehren können."5 Der linke Flügel der Nationalversammlung stand dagegen der Auflösungsbefugnis des Reichspräsidenten skeptisch gegenüber6. Die Linke beantragte im VerfA, die Zustimmung oder sogar einen diesbezüglichen Antrag der Reichsregierung zur Voraussetzung der Auflösung zu machen7. Im Gegensatz hierzu wünschte die Rechte, die Auflösungsbefugnis des Reichspräsidenten zu erweitern. Er sollte in ihrer Handhabung von der für Akte des Reichspräsidenten in Art. 50 WRV allgemein vorgeschriebenen ministeriellen Gegenzeichnung befreit werden8. Der Rechten war die präsidiale Auflösungsbefugnis ein antiparlamentarischer Zug in der Weimarer Reichsverfassung und eine obrigkeitsstaatliche Reminiszenz. Art. 24 aRV wies dem Kaiser das Recht zu, den Reichstag aufzulösen - allerdings mit Zustimmung des Bundesrats. Das Auflösungsrecht des Reichspräsidenten war also weitgehender als das des Kaisers9. Der Linken wurde die Annahme der präsidialen Auflösungsbefugnis akzeptabel gemacht durch die Bestimmung des Art. 43 Abs. 2 WRV. Danach konnte der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit eine Volksabstimmung über die Absetzung des Reichspräsidenten beantragen10. Theoretisch war dies eine Ausbalancierung der Gleichgewichtskonstruktion der Weimarer Reichsverfassung. Der Präsident konnte 4
Hugo Preuß, Heilfron II S. 696. 5 Abg. Dr. Ablaß (DDP), VerfA S. 233. 6 So Abg. Fischer (SPD), Heilfron I I S. 924.
ι Antrag Abg. Bader (SPD) und Antrag Dr. Cohn (USPD), vgl. VerfA S. 251. - Die USPD hatte schon im Herbst 1918 einen Antrag auf Streichung des kaiserlichen Auflösungsrechts gestellt, vgl. Wolgast, Parlamentarismus, S. 28, 45, Anm. 10. Die Begründungen des Antrags klingen so, wie wenn sie in der Nationalversammlung gegen die präsidiale Auflösung vorgebracht worden wären. » So ein Antrag Abg. Dr. v. Delbrück (DNVP), vgl. VerfA S. 233. Vgl. auch ders., VerfA S. 252. Zustimmend äußerte sich Abg. Dr. Ablaß (DDP), VerfA S. 233, ablehnend Hugo Preuß, VerfA S. 236. 9 Darauf wies Abg, Fischer (SPD), Heilfron II Si 924, hin. Vgl. auch Anschütz, Weimarer Reichs Verfassung, S. 197. 10 Hugo Preuß, Heilfron I I S. 696: „Ich glaube, daß diese beiden Befugnisse, die Befugnis des Präsidenten zur Auflösung des Reichstags, und die Befugnis des Reichstags, die Volksabstimmung herbeizuführen, sich gegenseitig ergänzen ..." Vgl. auch Abg. Dr. Ablaß (DDP), VerfA S. 234. - Brusewitz, aaO. S. 30 Anm. 24, gibt eine persönliche Mitteilung Preuß' wieder, wonach „das Recht des Reichstages, die Absetzung des Präsidenten zu beantragen ... vornehmlich in der Absicht aufgenommen" wurde, „den Sozialdemokraten die Annahme des präsidentiellen Auflösungsrechts zu erleichtern".
Das Parlamentsauflösungsrecht
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den Reichstag auflösen, der Reichstag konnte den Präsidenten aus seinem Amt entfernen 11. Praktisch aber zeigt schon die Betrachtung der beiden Regelungen ein klares Übergewicht des Präsidenten 12. Dieser konnte das Parlament von sich aus und ohne Aufschub nach Hause schicken. Der Versuch des Parlaments, den Reichspräsidenten zu beseitigen, erforderte eine qualifizierte Mehrheit und umschloß das Risiko der Volksabstimmung, deren für das Parlament negativer Ausgang die Auflösung des Reichstags zur Folge hatte, den Reichspräsidenten aber für weitere sieben Jahre in seinem Amt bestätigte. In der Tat ist ein Absetzungsantrag vom Reichstag nie gestellt worden. Dagegen endete jeder der sieben Reichstage zwischen dem 6. Juni 1920 und dem 1. Februar 1933 vorzeitig durch präsidiale Auflösung. Damit erwies sich das Auflösungsrecht des Reichspräsidenten als eine starke Prärogative, deren er sich als Mittel zu Eingriffen in die Politik bedienen konnte. Bereits Friedrich Ebert hat hiervon Gebrauch gemacht. Beispielsweise drohte er dem Reichstag für den Fall der Weigerung, das Ermächtigungsgesetz für die Regierung Stresemann zu beschließen, mit der Auflösung 13 . Auf die gleiche Weise wurde das Ermächtigungsgesetz für die Regierung Marx durchgesetzt 14. Im Fall der Nichtannahme der Dawesgesetze stellte der Reichspräsident die Auflösung in Aussicht 15. So war das Auflösungsrecht des Reichspräsidenten seinem Inhalt nach ein gewichtiges Machtmittel 16 . Die Weimarer Reichsverfassung hatte das präsidiale Auflösungsrecht mit zwei Schranken versehen. Einmal erlaubte Art. 25 WRV nur eine einmalige Auflösung des Reichstags aus gleichem Anlaß 17 . Die Wirksamkeit dieser Beschränkung erscheint von vornherein zweifelhaft 18. Was sollte praktisch geschehen, wenn der Reichstag sich wegen wiederholter Auflösung aus gleichem Anlaß zu Unrecht aufgelöst fühlte? Der Rat Heinrich Pohls, die Auflösung zu „ignorieren, seine Tätigkeit fortzusetzen ... und den Präsidenten ... vor dem Staatsgerichtshof für das 11
Vgl. auch das Schema der Gewaltenbalancierung in der Weimarer Reichsverfassung bei Schmitt, Verfassungslehre, S. 197. 12 So Apelt, aaO. S. 203. - Den Absetzungsantrag des Reichstags überschätzen in der politischen Bedeutung Hoffmann, aaO. S. 268 f. und Wittmayer aaO. S. 363. 13 Vgl. Rudolf Wertheimer, Der Einfluß des Reichspräsidenten auf die Gestaltung der Reichsregierung, iur. Diss. Heidelberg vom 20. Januar 1930, S. 69. 14 AaO. S. 74. is AaO. S. 76 f.; ebenso Eyck, aaO. I, S. 417. 16
Vgl. Bund zur Erneuerung des Reichs, die Rechte des deutschen Reichspräsidenten nach der Reichs Verfassung, Berlin 1929, S. 73. 17 Vgl. hierzu speziell Otto Heilbrunn, Was versteht Artikel 25 der Reichs Verfassung unter „gleichem Anlaß"?, in: AöR N. F. 22 (1932) S. 239 ff.; Carl Schmitt, „Einmaligkeit" und „gleicher Anlaß" bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: AöR N. F. 8 (1924) S. 162 ff. is So Apelt, aaO. S. 203 f.; Loewenstein, Staatspräsident, S. 184.
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Deutsche Reich anzuklagen"19, wäre wohl kaum befolgbar gewesen, die Befolgung hätte das politische Chaos bedeutet. Zudem wurde „in der Praxis ... der ,Anlaß4 stets auf den Einzelfall begrenzt in enger Fassung bekanntgegeben . . . , um die Auflösungsmöglichkeit für die Zukunft noch in der Hand zu behalten"20. Die Theorie kam dieser Praxis entgegen. „Ob der neuerliche Anlaß der gleiche ist, ist unter Berücksichtigung der Verhältnisse zu ermitteln. Der Anlaß ist nicht der gleiche, wenn sich seit der... ersten Auflösung die Verhältnisse derart geändert haben, daß eine zweite Entscheidung über die gleiche Frage tatsächlich eine neue Entscheidung ist." 2 1 Das heißt mit schlichten Worten: da alles in dauerndem Russe ist, gibt es einen „gleichen" Anlaß überhaupt nicht. Die zweite Beschränkung des präsidialen Auflösungsrechts war das Erfordernis der Gegenzeichnung durch den Kanzler. Die parlamentarische Verantwortlichkeit des Kanzlers bedeutete eine mittelbare Bindung des Auflösungsrechts an das Parlament, allerdings eben nur solange, wie eine solche Verantwortlichkeit des Kanzlers faktisch bestand. Das Recht des Reichspräsidenten, den Kanzler zu ernennen und zu entlassen, enthielt bei entsprechender parlamentarischer Situation die Möglichkeit, diese zweite Beschränkung des Auflösungsrechts erheblich aufzulockern. Umgekehrt konnte das Auflösungsrecht wiederum helfen, das präsidiale Recht der Kanzlerernennung aus der parlamentarischen Bindung zu befreien 22. Die Frage, in welchem Grad des Bindungsverhältnisses zum Parlament ein Kanzler stehen müsse, um die Auflösungsverfügung wirksam gegenzeichnen zu können, wurde von der Staatsrechtslehre intensiv erörtert. Dabei kamen die verschiedensten Meinungen zum Ausdruck. Einem Kanzler, der von einem Mißtrauensvotum erst bedroht war, wurde allgemein das Recht zuerkannt, die Gegenzeichnung der Auflösungsverfügung vorzunehmen23. Zahlreiche Theoretiker wollten auch die Gegenzeichnung seitens eines Kanzlers zulassen, der bereits ein Mißtrauensvotum erhalten hatte 24 . Darin ist eine Aufweichung der parlamentarischen Bindung des präsidialen Auflösungsrechts zu sehen. Durchaus verselbständigt wurde das präsidiale Auflösungsrecht durch die von Wolgast konstruierte sogenannte „Kampfregierung" 25. Nach dieser Lehre, die sich 19 Heinrich Pohl, Die Auflösung des Reichstags, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1921, S. 28, ebenso ders., HdbDStR I § 42 S. 487. 20 AaO.
21 Heilbrunn, Art. 25 der Reichsverfassung, S. 241. 22 S. u. S.82 f. 23
Vgl. Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 197. 24 So ohne Einschränkung Richard Thoma, Walter Jellinek, Carl Schmitt u. a. Näheres s. u. S. 104 f. Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 198 und Poetzsch-Heffter, Weimarer Reichsverfassung 1928, S. 262 nur unter der Bedingung, daß der gestürzte Kanzler mit der Führung der Geschäfte beauftragt sei. Α. M.: Wolgast, Parlamentarismus, S. 107; Graf zu Dohna, aaO. S. 28.
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auf einen Ausspruch Hugo Preuß' im VerfA 26 berufen konnte, sollte der Reichspräsident jederzeit ad hoc einen Kanzler ernennen dürfen, unter dessen Gegenzeichnung die Auflösung so rasch, daß ein Mißtrauensvotum gar nicht erst zustande kommen konnte, zu verfügen war. Die Kampfregierung sollte die Auflösung ermöglichen sowohl in dem Fall, daß der amtierende Kanzler zur Gegenzeichnung nicht bereit war, wie für den, daß er bereits ein Mißtrauensvotum erhalten hatte. Die interpretatorische Aufweichung der Kontrasignatur der Auflösungsordre ist faktisch nichts anderes als die Durchsetzung der Gegenzeichnungsfreiheit des Reichspräsidenten in der Auflösung, die die Rechte, aber auch demokratische Gruppen in der Nationalversammlung gefordert 27 und deren Fehlen sie später beklagt hatten28. Der Reichspräsident, der sich für die Auflösung den Gegenzeichner parlamentarisch ungebunden ad hoc beschaffen darf, ist de facto durch das Erfordernis der Gegenzeichnung in keiner Weise beschränkt. Die Wurzel für die interpretatorische Ausweitung des präsidialen Auflösungsrechts, in Form der Lockerung seiner parlamentarischen Bindung durch die Kontrasignatur, war die alte demokratische Doktrin von der Auflösung als Aufruf des Volkes zur Konfliktsentscheidung. Hätte man konsequent die Gegenzeichnung eines parlamentarisch voll verantwortlichen Kanzlers verlangt, wäre die Auflösung im Fall eines Konfliktes Präsident - Kanzler auf der einen, Parlament auf der anderen Seite nicht möglich gewesen29 und hätte das Volk nicht zum Entscheid aufgerufen werden können. Bereits die Auflösung des ersten Reichstags am 13. März 1924 zeigte den Beginn eines bedenklichen Weges. Sie wurde damit begründet, daß der Reichstag sich anzuschicken scheine, gewisse aufgrund des Ermächtigungsgesetzes ergangene Verordnungen aufzuheben 30. Das war des Reichstags gutes Recht. Die Wahrnehmung eines parlamentarischen Rechts wurde also ausdrücklich zum Anlaß der Auflösung gemacht. Hier zeigte sich der Pferdefuß der demokratisch so wohlklin25 Ernst Wolgast, Die Kampfregierung. Ein Beitrag zur Lehre von der Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung, Königsberg 1929. 26 „Wenn der Präsident den Reichstag auflöst, und gegen die Mehrheit regieren will, dann kann er nicht mit dem Mehrheitsministerium regieren. Er muß aber eine Gegenzeichnung dafür haben. Dieser ganze politische Akt kann nur darin bestehen, daß er durch Neuwahlen versucht, die Mehrheit zur Minderheit und die Minderheit zur Mehrheit zu machen ... er muß aber dann aus der Minderheit die dafür verantwortlichen Staatsmänner berufen." VerfA S. 237. 21 s. o. S. 61 f. 2
« So Pohl, Auflösung, S. 22; ders., HdbDStR I § 42 S. 486; Graf zu Dohna, aaO. S. 27. „Wenn sie (die Auflösung des Reichstages F.) einen ... Sinn haben soll, muß sie gerade für den Fall gelten, daß die Parlamentsmehrheit der Regierung ein Mißtrauensvotum erteilt hat. Dann kann der unmittelbare Zusammenhang mit dem Volke hergestellt werden, und das Volk entscheidet als höherer Dritter den zwischen Regierung und Volksvertretung entstandenen Konflikt." Schmitt, Verfassungslehre, S. 268. 30 Die Auflösungs Verfügung ist abgedr. Staatsleben IS. 161. 29
5 Fromme
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genden Theorie der Auflösung als eines Appells „vom Mandatar an den Mandanten" 31 , vom Parlament an das Volk. Ein solcher Appell konnte in jeder Streitfrage ergehen. Damit wurde jede Begründung einer präsidialen Auflösung möglich, auch die, daß das Parlament von einem seiner Rechte Gebrauch machen wollte. Damit waren der präsidialen Auflösung alle Türen geöffnet. Die Auflösung des zweiten Reichstages vom 20. Oktober 1924 wurde mit parlamentarischen Schwierigkeiten begründet 32. Der dritte Reichstag wurde am 31. März 1928, nicht lange vor seinem natürlichen Ende, aufgelöst, weil von ihm eine Erledigung größerer gesetzgeberischer Vorhaben nicht mehr zu erwarten sei 33 . Die Monate vor einer turnusgemäßen Neuwahl, in denen die Energien der Parlamentarier sich auf die Wahl konzentrieren, sollten durch die Auflösung kurzerhand abgeschnitten werden 34. Einen unheilvollen Weg beschritt die Regierung Brüning mit der Auflösung des vierten Reichstags am 18. Juli 1930. Der Ablehnung eines Gesetzentwurfs folgte der Erlaß des abgelehnten Gesetzes auf dem Wege der Notverordnung. Dem Verlangen des Reichstags auf Aufhebung dieser Notverordnung wurde mit der Auflösung geantwortet 35; danach wurde die Verordnung von neuem erlassen 36. Die Auflösung des Reichstages durch Brüning war keine Aufrufung des Volkes zur Konfliktsentscheidung mehr, sondern einfach ein Weg um die hinderliche Instanz des Reichstages herum. Nebenbei gab die Auflösung den Nationalsozialisten Gelegenheit, ihre verstärkte Stellung in der Politik vorzeitig in parlamentarischen Einfluß umzusetzen. Der fünfte Reichstag wurde am 4. Juni 1932 aufgelöst. Die Begründung war, daß der Reichstag nach dem Ergebnis der inzwischen abgehaltenen Landtagswahlen nicht mehr dem Willen des Volkes entspreche37. Dagegen sprach, daß die Verfassung nun einmal die Bestandserhebung des Wählerwillens in Abständen von vier Jahren vorgesehen hatte, und daß während dieser vier Jahre die Vermutung für die Repräsentativität eines Reichstages sprach 38. In der Situation des Jahres 1932 mußte eine Anpassung an den offensichtlich mehr zum Nationalsozialismus tendierenden Wählerwillen vom demokratischen Standpunkte aus geradezu selbstmör31 Graf zu Dohna, aaO. S. 27. 32 Die Auflösungsverfügung ist abgedr. Staatsleben IS. 161. 33 Die Auflösungsverfügung ist abgedr. Staatsleben II S. 70. 34 „Ein Reichstag kann nur in Schönheit sterben, wenn er den Zeitpunkt seines Todes nicht im voraus weiß." Pohl, Auflösung S. 15. 35 Die AuflösungsVerfügung ist abgedr. Staatsleben III S. 66. Wie bei der Auflösung des ersten Reichstags, nur in viel drastischerer Weise, wurde die Wahrnehmung eines parlamentarischen Rechtes zum Anlaß der Auflösung genommen. 36 Zu den Vorgängen vgl. Bracher, aaO. S. 337 ff.; Stampfer, aaO. S. 573 ff. 37 Die Auflösungsverfügung ist abgedr. Staatsleben III S. 67. 38 So Reichsminister Dr. Bell in „Germania" v. 11. Juni 1932, abgedr. Staatsleben III S. 67; vgl. auch - mit weiteren Stimmen - Bracher, aaO. S. 546 Anm. 96.
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derisch sein. In der Tat war die Auflösung des Reichstages einer der Kaufpreise, die Schleicher noch zur Zeit der Regierung Brüning den Nationalsozialisten für die Tolerierung der von ihm zu inszenierenden Regierung Papen geboten hatte 39 . Die Nationalsozialisten hofften, in Neuwahlen wiederum ihre parlamentarische Position zu verbessern. So war die Auflösung des Reichstages Kampfmittel einer Diktaturpartei und Handelsobjekt im Geschäft der Festigung der konservativen Restauration geworden. Die Neuwahlen brauchten die Beseitigung des letzten im demokratischen Sinne mehrheitsfähigen Reichstages. Im neuen Reichstag saß erstmalig eine unechte „Sperrmehrheit" 40 aus NSDAP und KPD, die zusammen 52,5% der Sitze innehatten. Damit wurde die Auflösung des Reichstags zum Mittel, die Existenz der Regierungen zu sichern und den Kanzlern der Folgezeit eine Atempause zur Arbeit zu schaffen. Die Gegenzeichnung der Auflösungsurkunde durch den Kanzler, gedacht als parlamentarische Fesselung des präsidentiellen Auflösungsrechts, wurde zu einer Formsache. Jeder Kanzler mußte zur Auflösung bereit sein, weil er nur so sein Amt rettete. Umgekehrt mußte jeder Kanzler gehen, dem der Präsident die Auflösung verweigerte 41. Am 12. September 1932 mußte die Regierung Papen um ihrer Selbsterhaltung willen den gerade gewählten sechsten Reichstag auflösen 42. Es war dem Reichskanzler Papen erst gelungen, dem Reichstagspräsidenten die Auflösungsurkunde zuzustellen, als der Reichstag schon in der Abstimmung über ein Mißtrauensvotum begriffen war, das denn auch mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde 43 . So war hier ein praktischer Fall von Reichstagsauflösung unter Gegenzeichnung eines abvotierten Kanzlers gegeben, wie ihn die Theorie kategorisiert hatte 44 . Bequemerweise stellte sich aber die Regierung auf den Standpunkt, daß der Reichstagspräsident von der rechtzeitig zugestellten Auflösungsverfügung nicht Kenntnis genommen habe, so daß der Reichstag bereits aufgelöst war, als er sein Mißtrauensvotum beschloß45. Die Reichstagsauflösung durch Papen stellt sich mithin als ein interessanter Mischfall aus den verschiedensten Theorien der Auflösung dar: 39 Vgl. die ausführliche Darstellung aaO. S. 504 ff., bes. S. 522, 530 ff. Staatsleben III S. 67 bemerkt lakonisch: „Die Auflösung des Reichstags entsprach den Forderungen der NSDAP." 40 Ausdruck von Carl Misch, zit. Bracher, aaO S. 503 Anm. 103. Vgl. Loewenstein, Staatspräsident, S. 183 f. 42 Die Auflösungsverfügung ist abgedr. Staatsleben III S. 68. Wiederum war die Möglichkeit, daß der Reichstag von seinem Recht, Notverordnungen aus Art. 48 aufzuheben, Gebrauch machen könnte, zur Begründung der Auflösung genommen worden. Vgl. o. S. 65 f. Hiergegen protestierte Reichstagspräsident Göring unter Berufung auf demokratische Grundsätze in einem Schreiben an den Reichspräsidenten vom 13. September 1932, abgedr. Staatsleben III S. 69 ff. 41
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3 Vgl. zum Vorgang Staatsleben III 68 ff. s. o. S. 64 f. 45 So in einem Schreiben des Reichspräsidenten, abgedr. Staatsleben III S. 72. 44
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Nimmt man mit der Reichstagsmehrheit an, das Mißtrauensvotum sei wirksam ausgesprochen worden, handelte es sich um eine Auflösung durch eine abvotierte Regierung; dem Regierungsstandpunkt nach war die Auflösung dem Mißtrauensvotum, wenn auch denkbar knapp, zuvorgekommen; bedenkt man, daß die Regierung Papen unter der Voraussetzung der Notwendigkeit baldiger Auflösung des Reichstags ernannt worden war, handelte es sich um Auflösung durch eine Kampfregierung. Die folgende Regierung Schleicher wollte die Institution der Reichstagsauflösung zu einer langdauernden Ausschaltung des Parlaments verwenden 46. Ihr wurde jedoch die Auflösung vom Reichspräsidenten verweigert. So ihrer Existenzgrundlage beraubt und von der Verwirklichung ihres Programms abgeschnitten, trat die Regierung Schleicher zurück. Dagegen wurde die Auflösung der ihr folgenden Regierung Hitler gewährt. Sie erfolgte am 1. Februar 1933 47 , also ganz kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Die Auflösung war als ein erster Gunstbeweis dem zögernden Reichspräsidenten abgerungen worden. Hindenburg hatte sich zu ihr bereitgefunden, trotz des zynisch-doppeldeutigen Versprechens Hitlers, die folgenden Wahlen würden „die letzten Wahlen" sein 48 . So trug das Auflösungsrecht des Reichspräsidenten sein Teil bei zur Herausbildung der verfassungsfremden Institution der Präsidialregierung, die wiederum die Übertragung der Macht an die Nationalsozialisten ermöglichte 49, - jenes Auflösungsrecht, das, wie Heinrich Pohl gesagt hatte, „wie eine andere Befugnis" dem Reichspräsidenten die Möglichkeit gab, „als Hüter der Verfassung, als Wahrer der Rechte und Freiheiten des Volkes ... seines hohen Amtes zu walten" 50 . Auch in einem mehr direkten Sinne beförderte das Auflösungsrecht den Verfall der Republik. Die der Regierung Hitler gewährte Auflösung erlaubte es den Nationalsozialisten, als Verfüger über die Staatsmacht in halbdemokratischen Wahlen einen scheinlegitimen Erfolg zu erringen. Ferner führte die geringe Schwierigkeit der Auflösung zu häufigen Auflösungen. In den folgenden Neuwahlen sahen - und fanden zumeist - die Nationalsozialisten die Chance, ihren Stimmanteil im Reichstag zu vergrößern. Weiter mag die Regelmäßigkeit, mit der die Reichstage der Weimarer Republik der Auflösung verfielen, das Bewußtsein von der Bedeutung des Parlamentes im Volke geschwächt, ja es von vornherein erstickt haben. Daß der Reichspräsident fast nach Belieben dem Reichstag den Garaus machen konnte, wird kaum den Anspruch des Reichstages, höchstes Staatsorgan zu sein, gestützt haben. Die Häufigkeit der Wahlen, Folge der häufigen Auflösungen, nahm dem Er46 Vgl. Staatsleben III S. 140; Stampfen aaO. S. 667. Die AuflösungsVerfügung ist abgedr. Staatsleben III S. 72. 48 Vgl. Bracher, aaO. S. 721. 49 s. u. S. 86 f. 50 Pohl, HdbDStR I § 42 S. 486. 47
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eignis des Wahlens ein gutes Teil seiner Würde. Im Jahre 1932 etwa gesellten sich zu den termingerechten Wahlen für die Reichspräsidentschaft und zum preußischen Landtag die nicht turnusgemäßen beiden Wahlen zum Reichstag vom 31. Juli und 6. November: „Die Demokratie begann sich zu Tode zu wählen." 51 So boten Theorie und Praxis der Reichstagsauflösungen in der Weimarer Zeit dem Parlamentarischen Rat ein vielfältiges Anschauungsmaterial. Die Auflösung, gemeint als das Mittel, mit dem der Reichspräsident seine Partnerstellung zum Parlament geltend machen konnte und als Instrument einer Art Volksbefragung, hatte in der Verfassungswirklichkeit den mannigfachsten Zwecken gedient. Die Auflösung war eingesetzt worden als Mittel zur Korrektur unbrauchbarer Parlamente. Sie hatte geholfen, die unfruchtbaren letzten Monate eines Parlaments zu coupieren. Sie war Mittel der Regierung geworden, ein unbequemes Parlament auszuschalten, und sie war schließlich die Zuflucht der Regierung vor einem feindseligen Parlament geworden. Die Auflösung hatte geholfen, die Präsidialregierung zu etablieren, und sie war schließlich der sich einrichtenden Diktatur dienstbar geworden. Der demokratischen Anrufung des Volkes hat das Auflösungsrecht kaum gedient. Seine Beschränkungen hatten sich als recht unwirksam erwiesen. Im Verhältnis des Reichspräsidenten zum gegenzeichnenden Reichskanzler hatte sich mehr und mehr eine Umkehrung des von der Weimarer Reichsverfassung Beabsichtigten herausgebildet. Es war nicht so, daß der Reichspräsident auflösen wollte und die Gegenzeichnung des Kanzlers erbat, sondern die Regierung entschloß sich zur Auflösung, und der Präsident gewährte oder versagte sie 52 . Damit war die Auflösung des Reichstages sinnfällig nicht mehr ein Mittel des Ausgleichs zwischen den beiden ebenbürtigen volksgewählten Organen: Reichspräsident und Reichstag, wie es die Weimarer Reichsverfassung gewollt hatte, sondern die Auflösung wurde zu einem Regierungsmittel, dessen Schlüssel gleichsam der Reichspräsident verwahrte, woraus sich eine besondere Abhängigkeit der Regierung vom Reichspräsidenten entwickelte53. Der Parlamentarische Rat wollte, wie es schon in seinem Verzicht auf die Volkswahl zum Ausdruck kam, die Gleichgewichtskonstruktion zwischen Staatsoberhaupt und Parlament nicht wieder herstellen. Somit kam ein generelles Auflösungsrecht des Bundespräsidenten nicht mehr in Frage. Darüber hinaus war die Auflösung des Parlaments durch ihre mannigfachen Anwendungen in der Weimarer Zeit auch als für sich betrachtete Institution suspekt geworden. Von den vielen Fällen der Auflösung, die die Weimarer Praxis gezeitigt hatte, anerkannte der Parlamentarische Rat gleichsam nur einen: die Auflösung als Mittel zur Korrektur eines unbrauchbaren Parlaments. 51 Stampfen aaO. S. 611. 52 So schon Scheunen aaO. S. 359. 53 Brecht, Vorspiel, S. 182 führt das Auflösungsrecht des Reichspräsidenten, ebenso wie die Volkswahl, unter den Artikeln der Weimarer Reichsverfassung auf, „die beim Zusammenbruch der Demokratie in Deutschland eine Rolle spielten".
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„Die Auflösung ... soll nur in einem einzigen Fall möglich sein, nämlich dann, wenn das Parlament bei der Regierungsbildung versagt", hieß es im HChE 54 . Dabei blieb es im Parlamentarischen Rat. Für diesen und nur für diesen Fall erwächst dem Bundespräsidenten ein streng an jene Voraussetzung gebundenes Auflösungsrecht. Im einzelnen wird hierauf im Zusammenhang mit der Regierungsbildung einzugehen sein 55 . Die durch die Erfahrungen der Weimarer Zeit bedingte starke Abneigung des Parlamentarischen Rats gegen die Parlamentsauflösung zeigte sich darin, daß selbst die umschränkten und auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Auflösungsfälle des Grundgesetzes durchaus nicht ohne Widerspruch beschlossen wurden. Abg. Dr. Katz (SPD) meinte, „dieses Spiel mit dem Gedanken an die Auflösung eines neugewählten Bundestages halte ich für sehr gefährlich" 56. Abg. Walter (CDU) warnte: „Wir kommen damit wieder in die Verhältnisse hinein, wie sie unter der Weimarer Verfassung gewesen sind, daß Auflösungen des Parlaments am laufenden Band möglich sind." 57 In 3. Lesung im HA zeigte sich in einer besonderen terminologischen Empfindlichkeit die Aversion des Parlamentarischen Rats gegen ein Auflösungsrecht. Es hieß in der Vorlage: „Das Auflösungsrecht entfällt, wenn für den Gewählten mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages gestimmt hat." Hier sträubte man sich dagegen, daß überhaupt, wenn auch nur sprachlich, ein „Auflösungsrecht" vorgesehen wurde. Es wurde die Endfassung des Art. 63 Abs. 4 GG vorgeschlagen und beschlossen. Die Begründung: Es soll nicht den Anschein haben, als ob ein Auflösungsrecht, a priori vorhanden, durch die Mehrheitswahl des Kanzlers im Bundestag verschwindet. Sondern: „das Auflösungsrecht ist überhaupt nicht da". Es entsteht lediglich im Sonderfall des Minderheitskanzlers eine begrenzte Situation der Auflösbarkeit des Parlaments 58. Das voraussetzungsmäßig begrenzte und personell kontrollierte Auflösungsrecht im Grundgesetz hat sich nur mühsam gegen die erfahrungsbedingte Abneigung des Parlamentarischen Rats gegen die Institution der Parlamentsauflösung durchgesetzt. Die Erkenntnis des Parlamentarischen Rats, gleichfalls geschöpft aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit, daß eine stabile Regierung Voraussetzung für den Bestand der parlamentarisch-demokratischen Staatsform ist, hat der Auflösung als einem Mittel zur Korrektur solcher parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse, die eine stabile Regierung nicht zulassen, den Weg in das Grundgesetz geebnet. Daß der Bundespräsident nicht mehr Regierungsbildner ist wie der Reichspräsident, macht es dem Bundespräsidenten unmöglich, das Auflösungsrecht als Mittel seiner Verselbständigung und damit zur Führung einer eigenen Politik zu gebrauchen. 54 55 56 57 58
HChE darst. T. S. 37, ähnlich S. 42. s. u.S. 91 f., 101. HA Steno S. 28. AaO. S. 34. AaO. S. 643 f.
Das Staatsoberhaupt in der Regierungsbildung
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Kapitel C
Die Rechte des Staatsoberhauptes in der Regierungsbildung nach Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz 1. Die Regierungsbildung nach der Weimarer Verfassung Wohl am einschneidensten wurde das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung in bezug auf das Mitwirkungsrecht des Staatsoberhauptes in der Regierungsbildung und -abberufung modifiziert. Die Weimarer Reichs Verfassung hatte in Art. 53 dem Reichspräsidenten das Recht gegeben, den Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister zu ernennen und zu entlassen. Nach Art. 54 bedurften Reichskanzler und Reichsminister des Vertrauens des Reichstages; sie hatten auf dessen Mißtrauensbeschluß hin zurückzutreten. Die von der Weimarer Reichsverfassung vorgenommene Verteilung der Regierungsbildung auf Reichspräsident und Reichstag entsprach den die Nationalversammlung beherrschenden Vorstellungen von einer Gleichgewichtslage zwischen Staatsoberhaupt und Parlament. Die Regierung sollte „das bewegliche Bindeglied" zwischen beiden darstellen1. Der Einschaltung des Reichspräsidenten in die Regierungsbildung wurde von der Nationalversammlung erhebliches Gewicht beigemessen. Hugo Preuß sagte, diese sei „die wichtigste selbständige Funktion des Reichspräsidenten". Hier vor allem habe er „seine politische Führereigenschaft zu bewähren" 2. Die Nationalversammlung fürchtete, daß das Parlament nicht immer zu einer selbständigen Regierungsbildung in der Lage sein würde. Dann sollte der Präsident, sei es als Schlichter und Koordinator, sei es als Ersatzorgan wirksam werden3. Betrachtet man das Schema der Regierungsbildung nach der Weimarer Reichsverfassung, drängt sich geradezu der Vergleich mit der aRV, zum mindesten in der Fassung der Oktobergesetze von 1918, auf. Hiernach oblag es dem Kaiser, den Kanzler zu ernennen, dieser wiederum mußte sich auf das Vertrauen der Reichstagsmehrheit stützen können4. So war es nicht verwunderlich, daß sich das präsidiale Recht der Ernennung und Entlassung des Kanzlers und der Minister in der Nationalversammlung der lebhaften Zustimmung der Rechten erfreute 5, während die Linke sich skeptischer zeigte. ι So Hugo Preuß, Denkschrift vom 3. Januar 1919, abgedr. Preuß, Staat, S. 387. 2 AaO. S. 388. Ebenso Abg. Dr. Ablaß (DDP), VerfA S. 232. 3 So Abg. Naumann (DDP), VerfA S. 278; auch Abg. Dr. v. Delbrück (DNVP), aaO. S. 252. 4 Vgl. hierzu Loewenstein, Staatspräsident, S. 182.
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Die Sozialdemokratie vermochte sich aber der Einsicht, daß man die Regierungsbildung nicht allein auf das Parlament gründen dürfe, nicht zu verschließen6. Formell glich die Stellung des Reichspräsidenten in der Regierungsbildung der des Kaisers. Zum mindesten potentiell war aber der Reichspräsident tatsächlich in einer stärkeren Position als der Kaiser nach den Oktobergesetzen von 1918. Das Recht des parlamentarisierten Monarchen, die Regierung zu ernennen, mußte der ganzen Entwicklungsgeschichte des Parlamentarismus nach7 als ein Formalrecht aufgefaßt werden. Dagegen sprach im demokratischen Staat die Vermutung dafür, daß das Regierungsbildungsrecht eines volksgewählten Staatsoberhauptes als eine echte Kompetenz gedacht war. Die Weimarer Reichsverfassung hatte die beiden einander bis zu einem gewissen Grade widersprechenden Elemente der Regierungsbildung, die präsidiale Initiative und die parlamentarische Bindung, unvermittelt nebeneinandergestellt. Die Stellung des Reichspräsidenten war aber - das sollte sich für künftige Interpretationen wesentlich erweisen - vom Verfassungswortlaut insoweit begünstigt, als das präsidiale Recht der Regierungsernennung und -entlassung expressis verbis als Kompetenz in der Verfassung fixiert war, während das parlamentarische Element nur mittelbar aus der Verfassung abzuleiten war 8. Das von der Verfassung ungelöste Konkurrenzverhältnis zwischen präsidialer und parlamentarischer Regierungsbildung sollte die Verfassungsentwicklung unter der Weimarer Reichsverfassung entscheidend bestimmen. Richard Thoma sah hier einen „gewalthemmenden Dualismus, der ... gefährliche Konflikte in seinem Schöße zu tragen vermöchte" 9, und ein früher Kritiker der Weimarer Reichsverfassung erklärte die von der Weimarer Reichsverfassung versuchte Kombination von Präsidentialismus und Parlamentarismus noch schärfer für eine „Verbindung von ... unvereinbaren Gegensätzen. Indem man sich auf zwei Stühle setzen will, gelangt man glücklich zwischen beide" 10 . In der Verfassungswirklichkeit spielte sich zunächst die Konkurrenz von präsidialer und parlamentarischer Regierungsbildung in der Form ein, daß der Präsident unter Berücksichtigung der Konstellation im Parlament einer Persönlichkeit den 5 Vgl. Abg. Dr. v. Delbrück (DNVP), VerfA S. 252. 6 Vgl. Abg. Dr. Quarck (SPD), Heilfron V S. 3199. 7 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 503 bezeichnet den Parlamentarismus als die Staatsform, die „das Staatsoberhaupt von der Regierung abdrängt und diese einem von der jeweiligen Mehrheit des Parlaments gestützten Ministerium anvertraut". 8 Bezeichnend hierfür Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 313: " ... ein Recht, bei der Bildung der Regierung mitzuwirken, steht dem Reichstag, seinen Parteien und Fraktionen, nicht zu". 9 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 505; ähnlich Brusewitz, aaO. S. 46 f. 10
Conrad Bornhak, in: Kreuzzeitung vom 7. Juli 1919, zit. Wertheimer, aaO. S. 35. v. Freytagh-Loringhoven, aaO. S. 123, nennt das Nebeneinander der beiden Staatsideen einen „grellen inneren Widerspruch".
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Auftrag zur Bildung der Regierung erteilte. Dieser prädiale Emissär im Heerlager der Parteien suchte dort die Regierungsbildung auszuhandeln. Glückte ihm das, so ernannte der Reichspräsident ihn zum Kanzler, mißlang es ihm, nahm er den Auftrag zur Regierungsbildung zurück 11 . So vollzog sich in der Praxis die Regierungsbildung unter maßgeblicher Einschaltung des Reichspräsidenten, aber unter Berücksichtigung des Willens des Parlaments12. Die staatsrechtliche Theorie bemühte sich um rechtliche Fixierung des präsidialen und des parlamentarischen Anteils an der Bestimmung der Regierung. Es finden sich Meinungen in allen Abschattierungen: von der Annahme, daß der Präsident lediglich den formellen Vollzug des Parlamentswillens vorzunehmen habe 13 , bis zur Behauptung eines völlig selbständigen Regierungsbildungsrechts des Präsidenten14. In der Regel betonte man die Selbständigkeit des Reichspräsidenten in der Regierungsbildung, und gab mit mehr oder weniger starkem Widerwillen zu, daß der Reichspräsident durch Art. 54 WRV an den Parlamentswillen derart gebunden sei, daß „Ernennung und Vorschlag sich nur auf solche richten dürfen, von denen bekannt oder den Umständen nach anzunehmen ist, daß der Reichstag ihnen sein Vertrauen nicht versagen w i r d " 1 5 ' 1 6 . In der Praxis stieg der Anteil des Reichspräsidenten an der Regierungsbildung mit zunehmender Schwäche des Parlaments 17. Bis zum Ende der Nationalversammlung war dank ihrer sicheren demokratischen Mehrheit der Einfluß des Reichspräsidenten vergleichsweise gering. Nur als der Kapp-Putsch vom März 1920 die Regierung Bauer unhaltbar gemacht hatte, und das Parlament keine Alternative zu bieten vermochte, zeigte sich bereits deutlich ein Steigen des präsidialen Einflusses 18. Die erste Regierung Müller kam wesentlich auf Betreiben des Reichspräsidenten Ebert zustande19, der dem Kanzler auch in der Ministerauswahl Bindungen auferlegte 20. In allen auf die Nationalversammlung folgenden Reichstagen 11
Zur Beschreibung des Verfahrens vgl. Staatsleben IS. 162 f. So auch Hugo Preuß, VerfA S. 27: „ . . . der Ministerpräsident muß sich sein Kabinett in Fühlung und im Einvernehmen mit dem Reichspräsidenten und mit den Parteien, auf die er sich stützen will, bilden." 13 Dieser Meinung ist Stier-Somlo, aaO. S. 620 f.; Glum, Die staatsrechtliche Stellung der Reichsregierung, S. 22, 28 ff.; Hoffmann, aaO. S. 262 f., 271. 14 Deutlich dieser Auffassung ist Poetzsch, Weimarer Reichsverfassung 1921, S. 195. 15 Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 313. Die Relativierung der präsidialen Prärogative in der Regierungsbildung stellt zum ersten Male praktisch dar (mit kritischem Unterton) Kaufmann, aaO. S. 208. 12
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Eine Übersicht über die verschiedenen Lehrmeinungen gibt Bund zur Erneuerung des Reichs, Die Rechte des Reichspräsidenten, S. 114-120; auch Wertheimer, aaO. S. 107-123. π Vgl. aaO. S. 97. is AaO. S. 46. 19 AaO. S. 47. 20 Ebert hatte sich in der ersten Regierung Müller für Köster als Außenminister entschieden und führte selbständig die Verhandlungen mit ihm. Vgl. aaO.
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der Weimarer Republik fehlte eine sichere demokratische Mehrheit. Von da an „haben die ständigen Koalitionsschwierigkeiten zusammen mit dem Zwang zur Regierungskontinuität ... die Funktion des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung gestärkt" 21. Es kann hier nicht der Ort sein, durch den ganzen Verlauf der Geschichte der Weimarer Republik hindurch das wechselnde Auf und Ab des präsidialen und des parlamentarischen Einflusses auf die Regierungsbildung zu schildern 22. Die Praxis bestätigte die Skepsis der Nationalversammlung, daß die Regierungsbildung nicht allein einem unerprobten Parlament überlassen werden dürfte. Offen muß allerdings die Frage bleiben - und sie muß sich späterhin, in der parlamentarischen Krise der 30er Jahre und letzthin für den Parlamentarischen Rat noch einmal dringlicher stellen - , wie weit sich ein zur Selbständigkeit gezwungenes Parlament Koalitionsschwierigkeiten und gar anhaltende Koalitionskrisen einfach nicht hätte leisten können23. Aus dem je nach der politischen Situation wechselnd starken, aber immer latent vorhandenen Einfluß des Reichspräsidenten auf die Regierungsbildung ergab sich zwangsläufig ein Einfluß des Präsidenten auch auf die laufende Führung der Regierungsgeschäfte. Anschütz erklärte den Reichspräsidenten für einen „schaffenden ... führenden und leitenden ... Staatsmann, der weder verpflichtet noch berechtigt ist, sich von den Regierungsgeschäften fernzuhalten" 24. Reichspräsident Ebert pflegte wichtige Kabinettssitzungen zu präsidieren 25. „Keine große Entscheidung wurde ohne ihn oder gar gegen ihn getroffen." 26 Auch der „limitierte Regierungsbildungsauftrag", d. h. die Vorwegbestimmung der Art der Koalition der kommenden Regierung, war ein bereits von Ebert angewandtes Mittel zur Steuerung der künftigen Regierungspolitik 27. So erwuchs dem Reichspräsidenten aus seinem Recht zur Regierungsbildung eine Art „Mitbestimmungsrecht an den Richtlinien der Politik" 28 , deren Festlegung 21 Bracher, aaO. S. 34; ebenso Staatsleben I I S. 84; Stampfer, aaO. S. 187; Brusewitz, aaO. S. 46; Koellreutter, Reichspräsident, Sp. 554. 22 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Wertheimer, aaO. S. 36-96. 23 Vgl. Hugo Preuß, Heilfron II S. 697, zum Gedanken der erzieherischen Wirkung, die der Parlamentarismus auf das Parlament ausübt - allerdings ohne Erkenntnis der erheblichen Schwächung dieser Erziehungsfunktion durch den präsidialen Bestandteil der Weimarer Reichsverfassung. 24 Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 244; ähnlich auch Staatsleben I S. 134. 2 5 Vgl. Staatsleben I S. 135; Beispiele bei Stampfer, aaO. S. 417, 430. Die Berechtigung hierzu betonte schon Hugo Preuß, VerfA S. 237. 2 6 Eschenburg, Richtlinien, S. 197; ähnlich Apelt, aaO. S. 420. 27 So beauftragte Ebert nach dem Rücktritt der ersten Regierung Müller den Volksparteiler Heinze, eine Regierung der großen Koalition zu bilden, vgl. Wertheimer, aaO. S. 50 f. Nach dem Sturz der Regierung Stresemann beauftragte Ebert den Abg. v. Kardorff mit der Bildung einer bürgerlichen Regierung, vgl. aaO. S. 71. 28 Eschenburg, Richtlinien, S. 196.
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die Verfassung ihrem Wortlaut nach allein dem Kanzler anvertraut hatte. Faktisch war damit der Kanzler nach der Weimarer Reichsverfassung durch die beiden bei seiner Ernennung mitwirkenden Organe in seiner Richtlinienkompetenz von zwei Seiten eingeengt29. Die Schwächung des einen konkurrierenden Kontrollorgans brachte dem Kanzler in der Regel keine Befreiung. Sie fesselte ihn nur um so stärker an das die Oberhand gewinnende Organ. Die Weimarer Reichsverfassung hatte Elemente der präsidialen und der parlamentarischen Regierungsbildung nebeneinandergestellt, ohne sich für den Vorrang der einen oder der anderen zu entscheiden. Diese Entscheidung war auch nicht durch eine intensive Durchsetzung des einen oder des anderen Elements in der Verfassungswirklichkeit nachträglich gefallen. Das hatte zur Folge, daß sich vielfach die rechtlich oder auch politisch akzentuierte Bemessung des Anteils des Präsidenten an der Regierungsbildung an der Person orientierte, die das Präsidentenamt innehatte. So bedeutete die Wahl Hindenburgs auch hier eine Zäsur. Wenn Ebert in die Regierungsbildung eingegriffen hatte, hatten verschiedentlich Vertreter der politischen Rechten Protest erhoben. Bei den Vorverhandlungen, die zur Bildung der Regierung Fehrenbach führten, war der Reichspräsident durch den demokratischen Politiker Petersen ermuntert worden, von seinem selbständigen Regierungsbildungsrecht energischen Gebrauch zu machen30. Dagegen hatte ausgerechnet die Kreuzzeitung in scharfer Form protestiert 31. Nach dem Sturz der Regierung Stresemann hatte der Vorsitzende der DNVP, Hergt, in einem Brief an Ebert den Anspruch erhoben, daß dem Führer der DNVP als der stärksten bisherigen Oppositionspartei die Regierungsbildung übertragen werden müsse32. Dagegen hatte Ebert das Recht des Reichspräsidenten zu freier Entscheidung über die Berufung des Reichskanzlers geltend gemacht33. In diesem Zusammenhang nahm wiederum die Kreuzzeitung Partei für den Parlamentarismus 34. Der rechtsstehende Staatsrechtler v. Freytagh-Loringhoven betonte, „daß der Präsident bei der Ernennung nur eine formale Rolle spielen soll" und daß „die innere Zerrissenheit des Reichstages" ihm zu einer Stellung verholfen habe, „die den Absichten der Väter der Verfassung zuwiderläuft" 35 . Der gleiche Autor billigte dem Reichspräsidenten - der Ebert hieß! - weder Einfluß auf die Führung der Staatsgeschäfte, noch den Kabinettsvorsitz zu 3 6 .
29 AaO. 30
Vgl. Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Rechte des Reichspräsidenten, S. 115.
31 Nr. vom 16. Juni 1920; zit. Wertheimer, aaO. S. 52 f. 32 Der Brief Hergts ist abgedr. Staatsleben I S. 163. 33 34
Die Antwort Eberts ist zu finden aaO. S. 164. Artikel von Georg Foertzsch, in: Kreuzzeitung Nr. 530 Jg. 1923, zit. Wertheimer,
S. 72. 35
v. Freytagh-Loringhoven, 6 AaO. S. 167.
3
aaO. S. 165; ebenso S. 72.
aaO.
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Die Neuorganisierung des demokratischen Staates
Nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten fand ein Meinungswechsel statt 37 . Hindenburg nahm - bis 1930 - seine Machtbefugnisse etwa in dem Rahmen wahr, in dem sich Ebert gehalten hatte. Auch unter Hindenburg stieg der präsidiale Einfluß in der Regierungsbildung mit dem Sinken des parlamentarischen und umgekehrt 38. Diese Machtposition des Reichspräsidenten wurde nicht nur - auch und gerade von der Rechten - gebilligt, sondern es entstand in ihren politischen Bezirken eine Bewegung, die sich den Ausbau und die Steigerung der präsidialen Rechte, zumal in der Regierungsbildung, zum Ziele gesetzt hatte. Die Parole „Mehr Macht dem Reichspräsidenten" kam auf 39 . Die eingesetzten Mittel waren verschieden; sie reichten von der vorsichtigen Propagierung einer Verfassungsausweitung bis zum Staatsstreichplan, von diffizil deutelnder Staatsrechtstheorie bis zur elementaren Massenpropaganda. Die Bewegung zur Machtsteigerung des Reichspräsidenten profitierte in gleicher Weise von der Popularität Hindenburgs wie von der verbreiteten Abneigung gegen das Parteigetriebe. Sie gewann angesichts unerfreulicher Vorgänge im Parlament auch in demokratischen Kreisen eine gewisse Sympathie. Die Machtsteigerung des Reichspräsidenten wurde auf verschiedenen Wegen angestrebt. Man versuchte, die parlamentarische Bindung des Reichspräsidenten in der Regierungsbildung durch formelle Verfassungsänderung zu beseitigen. Man plante unter Einbeziehung Hindenburgs und unter Nutzung seiner Popularität eine staatsstreichartige Beseitigung des Parlamentarismus. Eine Reihe von Staatsrechtlern bemühte sich, die parlamentarische Einengung der präsidialen Rechte in der Regierungsbildung interpretatorisch zu beseitigen. Versuche der Verfassungsreform Am 18. Januar 1926 erklärte Graf Westarp in der Reichsgründungsfeier der DNVP: „Die Stellung des Präsidenten müßte durch Streichung des Art. 54 RV dahin geändert werden, daß er Minister unabhängig von dem Vertrauen oder Mißtrauen des Reichstags berufen oder entlassen könne." 40 Die DNVP stellte am 20. Februar 1926 im Reichstag den Antrag, „daß Art. 54 aufgehoben oder wenigstens im Sinne der Stärkung der Regierungsgewalt wesentlich abgeändert wird" 4 1 . Der Antrag verfiel der Ablehnung. In der Bundeszeitung „Der Stahlhelm" vom 30. September 1928 erschien die Ankündigung und Begründung eines Volksbegehrens auf Aufhebung des Art. 54 4 2 . Man vermutete, daß sich die DNVP diesem Vorhaben 37
So Wertheimer, aaO. S. 80; vgl. auch Karl Rothenbücher, Der Kampf um Artikel 54 der deutschen Reichsverfassung, in: ZöR 7 (1928) S. 339. 38 Hierzu wiederum Wertheimer, aaO. S. 82 ff. 39 Vgl. Stampfer, aaO. S. 494 ff. 40 Zit. n. Wertheimer, aaO. S. 80. 41 Zit. n. Wolgast, Parlamentarismus, S. 2. Weitere diesbezügliche Ausführungen von Seiten der DNVP in der Reichstagssitzung vom 10. März 1926, vgl. Staatsleben II S. 103.
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des Stahlhelms anschließen werde 43. Auf der Bundesversammlung des Stahlhelms aus Anlaß seines zehnten Gründungstages kündigte der Bundesführer wiederum ein Volksbegehren auf Aufhebung des Art. 54 WRV an 44 . Zu einer Einleitung der Volksbegehren kam es jedoch nicht. Staatsstreichpläne gegen den Parlamentarismus Jeweils in Situationen parlamentarischer Krise empfahlen rechtsstehende Politiker als Ausweg den präsidialen Staatsstreich. So forderte v. Loebell, der „Vorsitzende des Bürgerrats und Wahlmacher Hindenburgs" 45 nach dem Sturz der ersten Regierung Luther im Januar 1926, „der Reichspräsident solle wieder Luther betrauen, und, wenn die Sozialdemokraten und das Zentrum sich mit diesem Programm nicht einverstanden erklären, den Reichstag nach Hause schicken, um, während einer nicht allzu knapp berechneten Zeit des Übergangs durch eine Diktatur gemäß Art. 48 sich alle Sorgen wegen der Regierungsbildung vom Halse zu halten" 46 . Während der Regierungskrise nach dem Sturz der dritten Regierung Marx im Dezember 1926 schrieb Justizrat Class in der „Deutschen Zeitung" vom 2. Januar 1927: „Der Rpr. solle einen führenden Mann der Deutschnationalen zum Reichskanzler machen, ihm es überlassen, eine Regierung zu bilden, vor den Reichstag zu treten und - wenn dieser versage - , das Volk selbst aufrufen." 47 Wenn auch Hindenburg diesen Anregungen nicht Folge gab, so zeigen sie doch die Möglichkeiten, die man auf der Rechten in dem - geeignet besetzten - Präsidentenamt sah. Ausschaltung des Parlamentarismus durch Verfassungsinterpretation Es war nicht gelungen, die parlamentarische Bindung des Reichspräsidenten in der Regierungsbildung mit einem Schlage - durch Verfassungsänderung oder durch Staatsstreich - zu beseitigen. So blieb als Weg zu diesem Ziel übrig, die Rechte des Parlaments in der Regierungsbildung durch entsprechende Auslegung der Verfassung einzuschränken, ein mühsamer, langwieriger Weg, der mit Geduld und Hartnäckigkeit verfolgt wurde. Die Verfassungsinterpretation hätte ihre Kraft überschätzt, hätte sie mit einem Male in krassem Widerspruch zu den politischen Tatsächlichkeiten den Parlamentarismus negiert. Sie spürte aber jedes Anzeichen parlamentarischer Schwäche auf und suchte den momentanen Zustand parlamenta42 43
Vgl. Wolgast, Parlamentarismus, S. 3 Anm. 7. Vgl. aaO. S. VII.
44
Abgedr. Staatsleben II S. 137. 5 Stampfer, aaO. S. 486. 46 Wertheimer, aaO S. 83. 4
4
? AaO. S. 88.
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rischer Krisen - deren es nur allzuviele gab - zur Voraussetzung bestimmter allgemeiner und bleibender Schlußfolgerungen zu machen. Diese interpretatorische Minierarbeit gegen den Parlamentarismus führte zwar nicht allein zum endlichen Ziele seiner Ausschaltung. Durch sie wurde aber der Parlamentarismus in die Diskussion gezogen. Es erschien zum mindesten zweifelhaft, ob er nun wirklich verfassungsrechtlich gefordert sei, und es wurde eine Bereitschaft geschaffen, sich mit der Ausschaltung des Parlamentarismus, als sie schließlich eintrat, abzufinden. Eine gewisse Abneigung gegen die parlamentarische Bindung der Regierungsbildung war in der Staatsrechtslehre verbreitet. Ältere Staatsrechtslehrer, die mit ihrem Werdegang weit in den Obrigkeitsstaat zurückreichten, pflegten die - an die konstitutionelle Monarchie erinnernde - präsidialen Rechte in der Regierungsbildung freudig zu betonen, während sie die parlamentarische Bindung der Regierungsbildung - positivistisch gestützt auf die zurückhaltende Formulierung des Parlamentarismus in der Weimarer Reichsverfassung - in mürrischer Resignation zur Kenntnis nahmen: sie sei „keine staatsrechtliche Pflicht, sondern eine politische Notwendigkeit" 48 . Andererseits war diese Generation von Staatsrechtlern zu sehr an die Anerkennung des (jeweils) Gültigen gewöhnt, als daß ihre Zurückhaltung in der rechtlichen Anerkennung des Parlamentarismus mehr bewirkt hätte als eben eine latente Anzweiflung des Rechtscharakters des Parlamentarismus und die Berufungsmöglichkeit auf unverdächtige staatsrechtliche Autoritäten für die Späteren. In der Ära Hindenburg nämlich setzten Angehörige einer jüngeren Generation von Staatsrechtlern, die nicht mehr so sehr von der Erinnerung an den alten monarchischen Obrigkeitsstaat geprägt waren, sondern denen ein verschwommenes Ideal einer plebiszitär legitimierten Obrigkeitsstaatlichkeit neuen Stils, einer auf mystische Weise volksbejahten Diktatur vorschwebte, zu einem massiven interpretatorischen Frontalangriff auf die parlamentarischen Bestandteile der Weimarer Reichsverfassung an. Hierbei bot ihnen eine Situation offensichtlichen parlamentarischen Versagens eine günstige Ausgangsstellung. Am 16. Dezember 1926 war die dritte Regierung Marx durch ein Mißtrauensvotum gestürzt worden, für das im wesentlichen DNVP und SPD gestimmt hatten. Der Heterogenität der Opposition entsprechend, erschien eine neue parlamentarische Regierungsbildung sehr schwierig. Die Regierungskrise zog sich bis zum 22. Januar 1927 hin, wobei der Reichspräsident an der Bildung der neuen Regierung in erheblichem Ausmaße beteiligt war 49 . Hierauf fußend, stellte Carl Schmitt die Lehre auf, daß ein Mißtrauensvotum, dessen „Motive sich offen widersprechen", keinen Rücktrittsgrund der Regierung 48
Adolf Arndt, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 3. Aufl. Berlin und Leipzig 1927, S. 168. Auch Anschütz, Weimarer Reichs Verfassung, S. 314, erklärte die Auffassung, der Präsident sei in der Regierungsbildung an den Willen der Parlamentsmehrheit gebunden, als eine „Verwechslung von Faktum und Recht". Ähnlich auch Lukas, aaO. S. 39. 49 Vgl. Wertheimer, aaO. S. 88 ff.; Staatsleben I I S. 85.
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darstelle, »jedenfalls dann nicht, wenn gleichzeitig die Auflösung des Reichstags angeordnet wird" 5 0 . Nur unter ganz bestimmten Umständen sollte die Wiederholung des Mißtrauensvotums durch den neugewählten Reichstag die Pflicht des Reichspräsidenten begründen, dann die Regierung zu entlassen51. Carl Schmitt setzte bei der Einschränkung der Wirkung des Mißtrauensvotums ein. Diese mußte aber implizite auch eine Befreiung des Reichspräsidenten von der parlamentarischen Bindung in der Regierungsbildung bedeuten: denn die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums war es, die den Reichspräsidenten bereits bei der Ernennung der Regierung zur Rücksicht auf das Parlament zwang. Den Gesichtspunkt der Freistellung des Reichspräsidenten vom parlamentarischen Einfluß nicht nur in der Erhaltung, sondern bereits in der Bildung der Regierung rückte Heinrich Herrfahrdt deutlicher als Schmitt in den Mittelpunkt seiner Theorien. Er erklärte, daß die „Vorgänge bei den bisherigen Kabinettskrisen ... eine selbständige Stellung des Reichspräsidenten gegenüber dem Willen der Reichstagsmehrheit in der Frage der Kabinettsbildung dringend erforderlich machen" 52 . Herrfahrdt unterschied eine „mildere und eine ernstere Form" der Krisen, die sich aus einer „selbständigen Entscheidung des Reichspräsidenten bei der Kabinettsbildung" ergeben könnten53. Der mildere Fall bestand darin, daß eine vom Reichspräsidenten bei Fehlen einer klaren Mehrheit im Parlament selbständig gebildete Regierung ein Mißtrauensvotum erhielt. Dieses sollte der Reichspräsident nach Herrfahrdt lediglich verstehen als „eine Aufforderung . . . , die Zusammensetzung des Kabinetts im Sinne eines besseren Zusammenwirkens mit dem Reichstag nachzuprüfen" 54. Der ernstere Fall der Krise lag vor, wenn im Parlament „eine feste Mehrheitskoalition ... die Berufung des Kabinetts aus ihren Reihen verlangt" 55 . Auch dann sollte der Reichspräsident nach freiem Ermessen eine Regierung bilden dürfen. Wenn dieser das Mißtrauen ausgesprochen wird, werde „gar nichts anderes übrigbleiben, als daß der Reichspräsident das Kabinett trotz des Mißtrauensvotums vorläufig im Amt beläßt, bis irgendwie eine Änderung der Verhältnisse eintritt" 56 . Die Lehren Herrfahrdts gingen auch darin über die von Carl Schmitt vertretenen hinaus, als dieser wenigstens in undeutlicher Weise (" ... jedenfalls dann nicht, wenn ...") die Auflösung des Reichstages zur Voraussetzung der Nichtbeachtung eines Mißtrauensvotums gemacht hatte 57 . Herrfahrdt dagegen 50
Schmitt, Verfassungslehre, S. 345. Nämlich bei der sogenannten „ministeriellen" Auflösung, bei der die Initiative von der Regierung ausging, vgl. aaO. S. 359. 52 Heinrich Herrfahrdt, Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, Berlin 1927, S. 48. 53 AaO. S. 49. 54 AaO. S. 52. 55 AaO. S. 53. 56 AaO. S. 53. 51
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meinte ausdrücklich, der Reichspräsident werde „den überflüssigen Aufwand einer Reichstagsauflösung besser vermeiden" 58 ' 59 . Die Lehren Schmitts60 und vor allem die Herrfahrdts wurden allgemein scharf abgelehnt61. Die letzteren bezeichnete Anschütz als „mit der Verfassung schlechthin im Widerspruch" 62, Rothenbücher unterstellte Herrfahrdt die Absicht, „seine persönliche Ansicht über den richtigen Aufbau des Staates an die Stelle des Gesetzes ... setzen" zu wollen 63 . Zunächst war den Lehren Schmitts und Herrfahrdts ein Hineinwirken in die politische Praxis versagt, indem die nach den Reichstagswahlen von 1928 gebildete Regierung Hermann Müller fast rein parlamentarisch, wenn auch unter Schwierigkeiten zustande kam 64 . Im Jahre 1932 jedoch wurde die Lehre Schmitts praktisch vollzogen: Auflösung statt Rücktritt als Folge des Mißtrauensvotums 65 Etwa in die Richtung der Lehren Schmitts und Herrfahrdts zielte eine populäre Schrift des „Bundes zur Erneuerung des Reiches"66, die sich die Aufgabe gestellt hatte, „die Rechte des Reichspräsidenten der Kenntnis und dem Herzen des Volkes nahe zu bringen" 67 . Die recht flüchtig gearbeitete Schrift folgte insoweit Carl Schmitt, als sie die präsidiale Auflösung nach Mißtrauensvotum bejahte68. Sie scheint bis zu einem gewissen Grade unter dem Einfluß Herrfahrdts gestanden zu haben, indem sie die Konkurrenz von Art. 53 und 54 WRV zwar nicht klar zugunsten des Art. 53 entscheidet, immerhin aber sagt, es sei „die große Aufgabe bei der richtigen geistigen Einstellung zum Artikel 54 . . . , sich von der Vorstellung freizumachen, als ob der Artikel 54 eine positive Mitwirkung des Reichstages bei dem Vorgang der Regierungsbildung erheische" 69. Die Schrift setzte sich zum Ziele, die „Volksüberzeugung von der hohen Stellung des Reichspräsidenten" schließlich 57
Dies übersieht Beeck, aaO. S. 36. 58 Herrfahrdt, Kabinettsbildung, S. 53 Anm. 43. 59 Brusewitz, aaO. S. 46 Anm. 43, bezeichnete die Theorien Herrfahrdts als einen „äußersten Ausläufer der von Redslob beeinflußten Theorie des dualistischen Parlamentarismus". 60 s. u. S. 105 f. 61 So Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 322 f.; Thoma, HdbDStR I § 43 S. 409; Wolgast, Parlamentarismus, passim; Wertheimer, aaO. S. 116 ff., 124 ff.; Rothenbücher, aaO. passim u. a. 62 Anschütz, Weimarer Reichs Verfassung, S. 323. 63 Rothenbücher, aaO. S. 341. 64 Die SPD, gestärkt aus den Wahlen von 1928 hervorgegangen, präsentierte Hermann Müller als Kanzlerkandidaten. Hindenburg akzeptierte. Vgl. Wertheimer, aaO. S. 95. Hindenburgs Einfluß beschränkte sich auf eine Verhinderung der Vizekanzlerschaft Wirths. Vgl. aaO. S. 96; auch Stampfer, aaO. S. 514; Staatsleben I I S. 24. 65 s. u. S. 82 f. 66 Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Rechte des Reichspräsidenten, passim. 67 AaO. S. 50. 68 AaO. S. 39. 69 AaO. S. 47.
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stark genug werden zu lassen, „um die Anwendung der Rechte des Reichspräsidenten aus Artikel 53 zu sichern" 70 . Alle diese mit der Absicht der präsidialen Machtsteigerung gerittenen Attacken gegen den Parlamentarismus mußten erfolglos bleiben, solange der Inhaber des Präsidentenamtes sich dem parlamentarischen Gedanken zum mindesten formell verbunden fühlte. Sie mußten sich aber als eine gewichtige Vorbereitung erweisen, sobald dies nicht mehr unbedingt der Fall war, um so mehr, wenn die parlamentarische Wirklichkeit nicht mehr stark genug war, die präsidialen Prärogativen in verfassungsmäßigen Schranken zu halten. Als im März 1930 die zweite Regierung Müller, zwar auf Parteieninitiative zustande gekommen71, doch in ihrer inneren Heterogenität „problematisch und voll böser Ahnungen" 72 an den durch die Wirtschaftskrise zur Existenzfrage gesteigerten sozialpolitischen Interessengegensätzen ihrer Träger zerbrochen und keine parlamentarische Ersatzlösung zu finden war 73 , blieb der Reichspräsident als alleiniger Regierungsbildner auf dem Plan. Die parlamentarische Bindung des Reichspräsidenten, die man durch Verfassungsänderung, Staatsstreich und Auslegung zu lokkern versucht hatte, entfiel durch eigenes parlamentarisches Versagen. Das pendelnd labile Gleichgewicht zwischen dem präsidialen und dem parlamentarischen Einfluß auf die Regierungsbildung brach in eine stabile Präsidentenprärogative um. Es war eine Frage der Verfassungstreue des Präsidenten und des Machtwillens der Parteien, ob die Ausweitung der präsidialen Rechte nur eine temporäre Notstandsregelung sein oder ob sich eine anhaltende Rückwendung zum Konstitutionalismus ergeben würde. Der Reichspräsident ernannte den Zentrumsabgeordneten Brüning zum Kanzler 74 , ausdrücklich ohne eine Bindung an eine Koalition 75 . Die Wahlen vom 14. September 1930 ergaben mit dem Ansteigen der Mandate der NSDAP auf 107 ein Parlament, das zur Regierungsbildung noch ungeeigneter war als das vergangene. So sah sich die Regierung Brüning weiter auf den Reichspräsidenten angewiesen. Zwar vermied es die Reichstagsmehrheit, gegen die Regierung Front zu machen und eventuell den ernstlichen Konflikt mit dem Reichspräsidenten heraufzubeschwören 76. Der sogenannte Brüningblock, der alle Parteien außer der KPD auf
70 AaO. S. 53 f. 71 Vgl. o. Anm. 64. 72 Artikel „Billigung statt Vertrauen", in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 311/312 vom 7. uni 1928. 73
Vgl. hierzu Helga Timm, Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der großen Koalition im März 1930, Düsseldorf 1952, passim; Bracher, aaO. S. 303 ff. 74 Zur Bildung der Regierung Brüning vgl. Bracher, aaO. S. 287 ff. 75 In der amtlichen Meldung zur Beauftragung Brünings mit der Regierungsbildung hieß es, daß es dem Reichspräsidenten „angesichts der Schwierigkeiten der parlamentarischen Lage nicht zweckmäßig erscheine, die künftige Reichsregierung auf einer koalitionsmäßigen Bindung aufzubauen". Vgl. Staatsleben III S. 157. 6 Fromme
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der einen und NSDAP und DNVP auf der anderen Seite umfaßte und rund 56% der Sitze im Reichstag innehatte77, bildete eine Art parlamentarischer Schutzwehr für die Regierung Brüning, indem er Mißtrauensanträge von Seiten der Nationalsozialisten und Kommunisten niederstimmte 78. Bereits unter Brüning näherte sich die Regierungsweise dem Modell der konstitutionellen Monarchie 79. Ein vom Staatsoberhaupt ernannter Regierungschef regierte unter abwartender Duldung seitens einer Parlamentsmehrheit, über der für den Fall aktiver Opposition das Damoklesschwert der Auflösung hing. Die Doppelabhängigkeit des Regierungschefs von Staatshaupt und Parlament war gelöst. An ihre Stelle war die alleinige Abhängigkeit vom Reichspräsidenten getreten 80. Dieser mußte den Kanzlerkandidaten nicht mehr nach Maßgabe der parlamentarischen Situation auswählen, und er war auch in der Entlassung des Kanzlers frei. So schied die Regierung Brüning Mitte des Jahres 1932 aufgrund der Initiative des Reichspräsidenten aus dem Amt 8 1 - gleichviel, welche unkontrollierten und unkontrollierbaren persönlichen Einflüsse den Entschluß des Reichspräsidenten geformt hatten82. Brüning selbst scheint die Absicht gehabt zu haben, eine Rückkehr zur parlamentarischen Regierungsweise zu ermöglichen 83. Er hatte wenigstens einen gewissen parlamentarischen Rückhalt gehabt. Mit der Ernennung des nicht nur vom Reichstage, sondern sogar von seiner eigenen Fraktion fast einmütig abgelehnten v. Papen84 zum Kanzler wurde ein weiterer Schritt in die antiparlamentarische Regierungsweise hinein getan. Der offene Kampf mit dem Parlament war unvermeidlich 8 5 ; die eigentliche „Präsidialregierung" war entstanden86 und sie fühlte sich
76 Es „entwickelte sich ein eigentümlicher Schwebezustand, ein System, das man ... als parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung bezeichnen kann". Stampfer, aaO. S. 580. 77 Vgl. Bracher, aaO. S. 580. ™ Vgl. aaO. S. 378. 79
„Brüning regierte fürderhin mehr mit halbabsolutistischen als mit parlamentarischen Methoden und beschränkte das Parlament auf die Funktion des kaiserlichen Reichstages, d. h. auf eine bloße Stellungnahme zu den Regierungsgesetzen." aaO. so Brüning selbst hat dies einmal in Worte gefaßt. In einem Briefe an Hitler aus dem Jahre 1932, abgedr. Staatsleben III S. 107, bezeichnete er seine Regierung als „vom Vertrauen des Herrn Reichspräsidenten auf unseren Posten gestellt". 81 „Zum erstenmal in der Geschichte der Weimarer Republik wurde der Reichskanzler nicht durch die parlamentarische Entwicklung, sondern durch den Reichspräsidenten gestürzt." Staatsleben III S. 159; vgl. auch Stampfer, aaO. S. 569; Meißner, aaO. S. 221. 82 Vgl. hierzu Bracher, aaO. S. 481 ff. 83 So Timm, aaO. S. 195. 84 Vgl. hierzu die Entschließung des Reichspartei Vorstandes des Zentrums vom 8. Juni 1932, abgedr. bei Kuno Horkenbach, Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, 3. Band, Berlin 1932, S. 177. 85 „Eine stillschweigende Tolerierung des Kabinettes durch den Reichstag war nicht zu erwarten. Im Gegenteil mußte die neue Regierung von vornherein in Kampfstellung zur Volksvertretung treten. Sie konnte ihre Autorität und Machtbefugnisse ausschließlich vom Reichspräsidenten herleiten." Staatsleben III S. 160.
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durchaus als eine selbständige staatsrechtliche Erscheinung 87. Den zu erwartenden Mißtrauensvoten wurde die Auflösung des Reichstags entgegengesetzt88. Die Verspätung der Auflösung vom 12. September 1932 bis nach dem Mißtrauensbeschluß machte dieses Faktum evident 89 . Gegen das überwältigende Mißtrauensvotum des Reichstags wurde unter Auflösung des Reichstags die Regierung Papen durch den Reichspräsidenten im Amte belassen: Eine praktische Anwendung der Lehre Carl Schmitts90. Praktisch war das Regierungsschema des Konstitutionalismus wiederhergestellt. Staatsoberhaupt und Regierung standen in enger Verbindung gegen das auf negative Opposition beschränkte - und zu beschränkende! - Parlament 91. Ebenso wie die Rolle des Reichspräsidenten in der Regierungsbildung war auch die Frage seines Anteils an der Regierungsführung in der Weimarer Verfassungsdiskussion kontrovers. Die einen - zumeist politisch rechtsstehend92 - leiteten aus dem Recht des Reichspräsidenten, die Regierung zu ernennen und zu entlassen, ein ihm zustehendes Recht der „Mitwirkung bei der Bestimmung der »Richtlinien der Politik' " ab 93 . Eine maßvoll führende Rolle billigten jedoch auch demokratische Theoretiker dem Reichspräsidenten zu. Er solle „der Reichsregierung assistieren, darf... sie indes moderieren und insofern korrigieren. Er soll aber nicht versuchen, sie zu dirigieren und darf sie keinesfalls in Konfliktsabsicht konterkarieren", meinte Richard Thoma 94 . Zunächst hielt Hindenburg seinen Einfluß auf die Regierungsführung in verfassungsmäßigen Grenzen 95. Gelegentliche limitierte Aufträge zur Regierungsbildung 86
Zum Begriff vgl. Horst Hausen, Das Präsidialkabinett. Eine staatsrechtliche Betrachtung der Kabinette von Brüning bis Hitler, Erlangen 1933, S. 23 ff. Hausen sah S. 46 das Wesensmerkmal des Präsidialkabinetts im „Willen des Gegensatzes zum parlamentarischen System"; diesen Willen bescheinigt er S. 47 ff. der Regierung Brüning noch nicht, wohl aber der Regierung Papen. 87 So die Erklärung des Reichskanzlers Papen vor dem deutschen Landwirtschaftsrat vom 11. Juni 1932: „Ich lege Wert darauf, zu betonen, daß die Bildung der neuen Regierung wenig zu tun hat mit dem gewöhnten ... Wechsel parlamentarischer Kabinette, sondern daß es sich hier um die Dokumentierung einer grundehrlich neuen Richtung der Staatsführung handelt ..." abgedr. Horkenbach, aaO. 3. Bd. S. 181. 88 Schon die Auflösung vom 4. Juni 1932 mit einer besonderen Nuance: Sie war der Preis für die Tolerierung des Kabinetts Papen durch die NSDAP. 89 s. o. S. 67 f. 90 s. u. S. 105. 91 „Die Struktur des Präsidialkabinetts ... gleicht damit der des monarchischen Kabinetts in den Bundesstaaten und im Reich vor 1918." Hausen, aaO. S. 29; ebenso S. 1 und 67. Vgl. auch Loewenstein, Staatspräsident, S. 184. 92 Vgl. aber die einschränkende Interpretation der präsidialen Stellung von Seiten der Rechten zur Amtszeit Eberts. s. o. S. 62. 93 Pohl, HdbDStR I § 42 S. 491. Ähnlich: Poetzsch-Heffter, HdbDStR I § 44 S. 514; Marschall v. Bieberstein, HdbDStR I § 45 S. 541 ff. 94 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 508. 95 Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Hindenburg betont, daß die Festlegung eines Arbeitsprogramms für die Regierung nicht zu seinen Obliegenheiten gehöre, vgl. Wertheimer, aaO. S. 82.
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vermochten sich auf Präzedenzfälle unter Ebert berufen 96. Heftige Kontroversen entfesselte ein Brief Hindenburgs an Marx v. 20. Januar 1927. Hier schrieb Hindenburg dem zum Kanzler designierten Marx nicht nur die Zusammensetzung der Regierung, sondern in groben Umrissen auch' ihr Arbeitsprogramm vor 9 7 . In dem Maße, in dem Hindenburgs Einfluß auf Bildung und Erhaltung der Regierungen stieg, steigerte sich auch die präsidiale Mitbestimmung der Regierungspolitik 98. Das war schon bei der Regierung Brüning fühlbar. Hindenburg nahm Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der Regierung 99, und er soll weitgehend die Richtlinien der landwirtschaftlichen Politik bestimmt haben 100 . So gehörte es zur inneren Gesetzlichkeit der Präsidialregierung als einer quasi-konstitutionalistischen Regierung, daß die Stellung des Kanzlers auf die „Gehilfenposition des Konstitutionalismus" reduziert wurde 101 . Brüning wollte sie nicht akzeptieren und mußte gehen 102 . Von der Regierung Papen ab, die allein auf Initiative des Reichspräsidenten und ohne jede noch so lockere parlamentarische Bindung zustande gekommen war, bestimmte der Reichspräsident - tatsächlich die seine Entschlüsse formende Kamarilla - selbständig die Zusammensetzung der Regierung 103 und die Führung der Geschäfte 1 0 4 . Dem konnte sich ein Kanzler nur um den Preis seiner Entlassung widerset-
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Bereits in seiner ersten Regierungsbildung erteilte Hindenburg einen solchen Auftrag, nämlich an Koch und dann an Fehrenbach, die eine Regierung der großen Koalition bilden sollten, vgl. aaO. S. 83 f. 97 „Diese neue Regierung soll, wenn ihr auch Vertreter der Linksparteien nicht angehören, dennoch die besondere Pflicht haben, in gleicher Weise wie andere Staatsnotwendigkeiten die berechtigten Interessen der breiten Arbeitermassen zu wahren." Der Brief ist abgedr. Staatsleben II S. 85. Zur Diskussion der Frage, ob ein derartiger Auftrag in die Kompetenz des Reichspräsidenten falle, vgl. Wertheimer, aaO. S. 130 (verneinend); Friedrich Giese, Reichspräsident und Reichsverfassung, in: DJZ 32 (1927) Sp. 275 ff. (bejahend). 98 „Neben der wachsenden Einflußnahme des Reichspräsidenten auf die Bildung und Erhaltung der Reichsregierungen zeigte sich ... auch eine intensivere Beeinflussung in der Geschäftsführung der Regierungen." Staatsleben III S. 145; vgl. auch Hausen, aaO. S. 43. 99 Als „Vertrauensmänner des Reichspräsidenten" in der Regierung Brüning galten die Minister Treviranus und Schiele. Vgl. Staatsleben III S. 157; auch Stampfer, aaO. S. 569. Das Ausscheiden des Innenministers Wirth im Herbst 1931 kam präsidialen Wünschen entgegen. Vgl. Bracher, aaO. S. 417. 100 Vgl. Staatsleben III S. 147; auch H. G. Bölling, Verfassungspolitische Strukturwandlungen, in: RuL 6 (1932) S. 160. ιοί Eschenburg, Richtlinien, S. 197. 102 AaO. S. 197. 103 Auf Initiative Hindenburgs traten in die Regierung Papen die Minister v. Neurath und Graf Schwerin-Krosigk ein; vgl. Bracher, aaO. S. 533 f. Bezeichnend ist auch, daß Hindenburg sich in einem Briefwechsel mit Hitler über eine eventuelle Betrauung mit der Regierungsbildung ausdrücklich die Besetzung des Reichswehr- und des Außenministeriums vorbehielt, vgl. Staatsleben III S. 167. 104 Vgl .Bölling, aaO. S. 161.
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Rechtsstehende Staatsrechtler sahen in der Praxis der Präsidialkabinette die endliche Durchsetzung des von der Weimarer Reichsverfassung eigentlich Gewollten. Mit der Ernennung des Kanzlers ohne Rücksicht auf Koalition und Parlament schien ihnen die Verfassung aus den Fesseln befreit, in die die Parteien sie geschlagen hatten 106 . Daß die konsequente Präsidialregierung der Ära Papen sich selbst nicht als eine Übergangs- und Aushilfslösung verstand, erhellt daraus, daß durch eine Verfassungsreform der momentan nicht wirksame, aber verfassungsrechtlich noch vorhandene Parlamentarismus ausgeschaltet werden sollte 107 . Eine Mehrheit im Reichstag war hierfür nicht zu erlangen. Die Durchsetzung der Verfassungsreform im Wege des Art. 48 wurde erwogen. Hiervor schreckte man aber doch zurück 108 . Der Parlamentarismus blieb also formell weiter bestehen. Damit blieben der Präsidialregierung drei Möglichkeiten, ihre Existenz zu erhalten: die Tolerierung durch das Parlament, die Verhinderung von Mißtrauensvoten durch immer wiederholte Auflösung, oder der klare Verfassungsbruch: Auflösung und Hintanhaltung der Neuwahlen. Zum letzteren hätte Papen die Verfügung über das Machtmittel der Reichswehr gebraucht, die Reichswehrminister v. Schleicher ihm versagte 109. Eine Tolerierung durch die Reichstagsmehrheit war nach dem Wahlausgang vom November 1932 nicht zu erreichen. So wurde Papen durch Schleicher abgelöst110. Hierbei bekundete Hindenburg seinen Willen, „auf keinen Fall auf eine Präsidialregierung zu verzichten und zu den früheren parlamentarischen Methoden zurückzukehren" 111 .
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Über die Meinungsverschiedenheiten zwischen Hindenburg und Schleicher in Fragen der Agrarpolitik und ihren Zusammenhang mit Schleichers Sturz vgl. Staatsleben ΙΠ S. 153; Bracher, aaO. S. 696 f.; Stampfer, aaO. S. 665 f. 106 Die Regierungsbildung durch den Reichspräsidenten hatte „die Verfassungsentwicklung ... wieder auf die Form zurückgeführt, die dem eigentlichen Sinn der Verfassung entsprach, die aber durch die Staatspraxis der vorangehenden Jahre verfälscht worden war". Staatsleben III S. 101 f.; ebenso S. 158. Ähnlich auch Simons, Die Stellung des Reichspräsidenten, in: DJZ 38 (1933) Sp. 23. 107 Reichskanzler Papen in einer Rede vor Vertretern der bayerischen Wirtschaft in München am 12. Oktober 1932: „Die Reichsregierung muß unabhängiger von den Parteien gestellt werden. Ihr Bestand darf nicht Zufallsmehrheiten ausgeliefert sein. Das Verhältnis zwischen Regierung und Volksvertretung muß so geregelt werden, daß die Regierung und nicht das Parlament die Staatsgewalt handhabt." Zit. n. Fritz Poetzsch-Hejfter, Die Reichsreform seit Abschluß der Länderkonferenz, in: DJZ 38 (1933) Sp. 8 ff. Innenminister v. Gayl kündigte am 28. Oktober 1932 vor der Berliner Presse eine Einschränkung des Art. 54 WRV Zwecke der Befreiung vom „überspitzten Parlamentarismus" an, vgl. Bracher, aaO. S. 658; Hausen, aaO. S. 55. los Vgl. Bracher, aaO. S. 624, bes. Anm. 101, auch S. 660. Zu der Rechtsfrage vgl. auch Heinrich Herrfahrdt, Reichsreform durch Notverordnung?, in: RuL 5 (1931) S. 257 ff., bes. S. 258 f., mit einer vorsichtigen Tendenz zur Bejahung. 109 Vgl. Bracher, aaO. S. 660 f. no Zu den Vorgängen vgl. die ausführliche Darstellung aaO. S. 644 ff.
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Die Institution der Präsidialregierung mußte aber in sich zusammenfallen, sobald das Parlament zu neuer Mehrheitsfähigkeit erstarkte. Allerdings war dank der Tatsache, daß seit dem Juli 1932 Kommunisten und Nationalsozialisten im Reichstag über mehr als 50% der Sitze verfügten, an eine parlamentarische Mehrheitsregierung nicht zu denken. Pläne einer nationalsozialistischen Koalition mit dem Zentrum, die nach den Juliwahlen 1932 gespielt hatten 112 , waren nach dem Wahlausgang vom November 1932, die eine Kombination der beiden Parteien um die Mehrheit gebracht hatte, gegenstandslos geworden 113. Auch hatten auf seiten der NSDAP wohl mehr taktische als reale Absichten vorgelegen. Tatsächlich konnte keine der denkbaren Parteigruppierungen das parlamentarische Regierungssystem mehr ernstlich wollen. Das politische Heerlager Deutschland war in vier Blöcke aufgespalten: in die demokratische Mitte, die gemäßigten Konservativen, die Nationalsozialisten und die Kommunisten 114 . Keiner dieser Gruppen war eine parlamentarische Mehrheit erreichbar. So suchten sie alle, bis auf die Kommunisten, die in der Erwartung der Weltrevolution jede Form von Chaos begrüßten und jede Form von Ordnung bekämpften, ihr Heil in der Präsidialregierung. Die Konservativen sahen in ihr entweder bereits eine Erfüllung ihrer staatsrechtlichen Wunschvorstellungen oder die direkte Vorstufe zur Monarchie, die Demokraten erhofften von der Präsidialregierung - wie Brüning sie verwirklicht hatte - die Abwehr des drohenden Totalitarismus, und die NSDAP sah in der Präsidialregierung die Chance zum legalen Machterwerb. In der Tat gab es für die NSDAP nur zwei Wege in die Macht. Der eine war der gewaltsame Umsturz, der andere führte über die Mehrheit im Parlament 115. Auf den ersten Weg war ausdrücklich Verzicht geleistet worden 116 , er erschien auch angesichts der realen Machtverteilung nicht erfolgversprechend. Der Weg zur parlamentarischen Majorität war mit gutem Erfolg beschritten worden. Doch war mit den Ergebnissen der Wahlen vom Juli und November 1931 allem Anschein nach die Grenze der Expansionsfähigkeit der NSDAP erreicht 117 . Das Dilemma der NSDAP war, daß der programmatische Verzicht auf den gewaltsamen Umsturz der Stimmenwerbung abträglich war, daß aber wiederum die Propagierung des Um111 v. Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, zit. n. Bracher, aaO. S. 661. Vgl. auch das amtliche Kommuniqué vom 10. November 1932 über die Unterredung HindenburgPapen: „Der Reichspräsident betonte, daß er an dem der Bildung der Regierung Papen zugrunde liegenden Gedanken der nationalen Konzentration auch weiterhin festhalte." Staatsleben III S. 162. Π2 Staatsleben III S. 161. 113 Nach der Juliwahl 1932 verfügte die NSDAP mit dem Zentrum und der BVP über 53% der Sitze, nach der Novemberwahl nur noch über 48,8%. Vgl. Bracher, aaO. S. 645.
114 Vgl. Brecht, Vorspiel, S. 91. 115 So Alan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1953, S. 179. u 6 Dies sehr häufig; einschlägige Äußerungen von maßgebender nationalsozialistischer Seite vgl. aaO. S. 173. 117 So Bracher, aaO. S. 608.
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sturzes dringend benötigte einflußreiche Kreise vor den Kopf stieß 118 . Die NSDAP war also gezwungen, zwischen Revolution und Legalität propagandistisch zu lavieren. Die Institution der Präsidialregierung war es, die der NSDAP Gelegenheit bot, Revolution und Legalität zu versöhnen 119. Die Präsidialregierung schien so weit vom Geruch der Revolution und des Staatsstreiches umwittert, daß sie den Wählern der NSDAP als ein hinlänglich revolutionäres Ziel angeboten werden konnte 120 . Auf der anderen Seite war die Präsidialregierung, von den demokratischen Gruppen notgedrungen, von der Rechten mit Befriedigung, als legale Form der Staatsführung anerkannt. So wurde das Vorhandensein der Präsidialregierung für die NSDAP Voraussetzung und Chance des Machterwerbs, eine Chance, deren die Partei zum Überstehen der gefährlichen Karenzzeit zwischen Aufstieg zu politischem Einfluß und endgültiger Machtergreifung dringend bedurfte. Auf der anderen Seite bot die Freiheit der Kanzlerauswahl durch den Reichspräsidenten die Möglichkeit der Betrauung einer jeden Person: auch die Möglichkeit also der Betrauung Hitlers. Da die sicherste und risikoloseste Garantie der Existenz der Präsidialregierung die parlamentarische Duldung war, ergab sich ein gewichtiges Argument für die Berufung des Führers der stärksten Partei zum Chef eines Präsidialkabinetts, wie sie mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 erfolgte 121 . Daß der Schöpfer der Präsidialregierung, der Reichspräsident, eine Präsidialregierung jederzeit abberufen konnte und ihre Geschäftsführung kontrollierte, ließ darüber hinaus die Berufung eines offensichtlich zur absoluten Macht strebenden Politikers vertretbar erscheinen 122. Das galt allerdings nur solange, wie die Regierung Hitler Präsidialregierung blieb. Spätestens mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das für die Zukunft die parlamentarische Mehrheit entbehrlich machte 123 , vielleicht aber schon mit dem Ausgang der Wahl vom 5. März 1933 us Vgl. aaO. S. 633. 119 „Wenn Hitler nun diese Männer (die Umgebung des Reichspräsidenten F.) bewegen konnte, ... mit ihm eine Präsidialregierung ... zu bilden, dann konnte er auf die ihm noch fehlende Stimmenmehrheit und auf das riskante Experiment eines Putsches verzichten." Bullock, aaO. S. 180 f. Im Herbst 1932 hatten zwischen Hindenburg (für den Meißner zeichnete) und Hitler schriftliche Verhandlungen über eine Regierungsbildung stattgefunden. Hindenburg wollte nur eine parlamentarische Kanzlerschaft zugestehen, Hitler verlangte ein Präsidialkabinett. Der Briefwechsel ist abgedr. Staatsleben III S. 166 ff. 12° Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzler, zit. n. Bracher, aaO. S. 623 Anm. 96: „Ich bleibe bei der Meinung, daß die Lösung eines Präsidialkabinetts die einzige Möglichkeit ist. Sie hat wenigstens den Geruch der Illegalität an sich." 121 Vgl. zu den Vorgängen Bracher, aaO. S. 724 ff. Hausen, aaO. S. 60, bezeichnet die Regierung Hitler ausdrücklich als Präsidialregierung. Diesen Charakter leite sie aus der parlamentarischen Minderheitssituation und aus der bevorzugten Stützung ihrer Maßnahmen auf Art. 48 WRV ab. 122 Zu den Hoffnungen der bürgerlichen Rechten, die NSDAP zu „kanalisieren", sie „einzurahmen", vgl. Brecht, Vorspiel, S. 109 f.; Bullock, aaO. S. 254; Bracher, aaO. S. 712, 716, 724.
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war die Regierung Hitler keine Präsidialregierung mehr 124 , unterlag sie nicht mehr der Überwachung durch den Reichspräsidenten, die ihre Betrauung gerechtfertigt hatte. Schließlich gewöhnte die autoritäre Regierungsweise des Präsidialsystems die deutsche Öffentlichkeit wieder an den Obrigkeitsstaat 125. Die Regierung Hitler, zunächst vorsichtig die Diktaturschraube anziehend, vermochte sich hier ohne unruhestiftende Zäsur anzuschließen126. So wurde die Institution der Präsidialregierung, gegründet auf das präsidiale Regierungsbildungsrecht der Weimarer Reichsverfassung, begünstigt und ins Leben gerufen durch das Versagen der Parteien, zur Vorbedingung und Vorbereitung, zum Mittel und zur Entschuldigung für die Berufung der NSDAP in die Macht 1 2 7 .
2. Die Regierungsbildung nach dem Bonner Grundgesetz Der Parlamentarische Rat sah die Präsidialregierung als eine Entartungserscheinung der parlamentarischen Demokratie an, und, was schwerer wog, als die institutionelle Voraussetzung für die Etablierung der Diktatur. Der Parlamentarische Rat faßte die Entwicklung der Endphase der Weimarer Republik intuitiv als eine zwangsläufige auf. Er erwog nicht die Möglichkeit, daß sich die NSDAP auch bei anderer Verfassungskonstruktion, dann eben auf andere Weise, hätte durchsetzen können 128 , sondern er bemühte sich, eben den verfassungsrechtlichen Weg zur Diktatur zu verbauen, den diese in der Vergangenheit genommen hatte. Voraussetzung für die Präsidialregierung war der gewichtige Einfluß des Reichspräsidenten auf die Regierungsbildung gewesen. Mithin wurde bereits im HChE „eine bestimmende Einflußnahme des Bundespräsidenten auf die Regierungsbildung, wie sie der Reichspräsident ... hatte ..., einmütig abgelehnt" 129 . Auch im Parlamentari123 s. u. S. 147 ff. 124
Hausen, aaO. S. 61 erklärt, daß „mit diesem Tage die Geschichte des Präsidialkabinetts endete". 125 Die Präsidialregierung war „ein Zustand, der ungewollt die Elemente eines Obrigkeitsstaates bereits in sich trug und den Weg für die Entstehung des späteren autoritären Staates eröffnete". Meißner, aaO. S. 210. 126 Vgl. Brecht, Vorspiel, S. 28, 155. 127 Bracher, aaO. S. 40 Anm. 52, betont gegen Herrfahrdt, daß Hitler sich über den Reichspräsidenten, nicht als Führer der stärksten Partei im Reichstage, durchgesetzt habe. Irrig auch neuerdings Alfred Rapp, Bonn auf der Waage. Ist unser Staat wetterfest?, Stuttgart 1959, S. 30. Rapp behauptet, Hindenburg habe sich erst bereit finden lassen, Hitler zum Kanzler zu ernennen, als dieser ihm eine parlamentarische Mehrheit präsentierte. Die Regierung Hitler war zunächst - bis zur Wahl vom 5. März 1933 - Minderheitsregierung und Präsidialregierung; vgl. o. Anm. 121. 128 Etwa daß in einem reinen parlamentarischen System die NSDAP als stärkste Partei eine Minderheitsregierung hätte bilden können, von der aus sie dann mit den ihr vertrauten halbrevolutionären Mitteln sich eine diktatorische Machtstellung hätte erobern können. 129 HChE darst. T. S. 43.
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sehen Rat wurde „von keiner Seite die Rückkehr zu dem parlamentarischen System der Reichs Verfassung befürwortet" 130 . Nachdem der Parlamentarische Rat zur Ausschaltung des präsidialen Einflusses auf die Regierungsbildung entschlossen war, blieb nur die Bestellung der Regierung durch das Parlament 131. Doch widerrieten die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit einen reinen Parlamentarismus ebenso wie einen präsidial kontrollierten Parlamentarismus. Die Überlegung der Nationalversammlung, daß man die Aufgabe der Regierungsbildung nicht auf ein vielleicht unzuverlässiges Parlament allein fundieren dürfe 132 , hatte sich im Verlauf der Weimarer Republik als gerechtfertigt erwiesen. Nur hatte sich das Weimarer Aushilfsmittel, der Reichspräsident, nicht bewährt. Der Parlamentarische Rat mußte sich daher um anderweitige Kautelen bemühen, um Kautelen, die soweit wie möglich gegen erneuten diktatorialen Mißbrauch immun erschienen. Kennzeichnend dafür, daß der Parlamentarische Rat wohl eine klare Indikation gegen den präsidialen Einfluß auf die Regierungsbildung sah, auf diesen Einfluß aber doch nicht glatt verzichten zu können glaubte, war das zögernde, schrittweise Verkümmern der präsidialen Machtstellung in der Regierungsbildung im Laufe der Beratungen des Parlamentarischen Rats 133 . Nach Art. 87 HChE „benennt" der Bundestag dem Bundespräsidenten den Bundeskanzler. Der Bundespräsident kann gegen den Kanzler Bedenken erheben, wodurch ein neuer Beschluß des Bundestages notwendig wird. Absicht dieser Bestimmung war, daß der Bundestag „allein über die Besetzung des Kanzleramtes verfügt und nicht, wie nach der Weimarer Verfassung, in der Durchsetzung seines Willens ... vom Bundespräsidenten abhängt" 134 . Im OrgA des Parlamentarischen Rats wurde beschlossen, den Bundespräsidenten bei der Benennung des Bundeskanzlers stärker einzuschalten135. Hieraus entwickelte sich ein Antrag, der umgekehrt als der HChE den Bundespräsidenten ermächtigte, dem Bundestage einen Bundeskanzler vorzuschlagen 136. Erst in der Sitzung des HA vom 16. November 1948 lag ein Vorschlag des ARA vor, der die in dem Recht des Bundespräsidenten zur Benennung des Bundeskanzlers wieder erheblich angewachsene präsidiale Position durch die Bestimmung einer einfachen Kanzlerwahl durch das Parlament entscheidend reduzierte 137. Weite130 JÖRN. F. 1 S.71. 131 „Es bestand ... Einigkeit darüber, daß die Bundesregierung in ein möglichst enges Verhältnis zum Bundestag gebracht werden müsse und daß es daher zweckmäßig sei, den Bundeskanzler vom Parlament wählen zu lassen." HChE darst. T. S. 43. 132 s.o. S.71. 133 Zu beachten ist, daß nach dem Grundgesetz allein der Bundeskanzler vom Parlament gewählt wird; vgl. hierzu u. S. 119 ff. 134 HChE darst. T. S. 36. 135 Sitz, vom 29. September 1948; vgl. JöR N. F. 1 S. 428. 136 Vgl. aaO. S. 428.
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re in gleicher Sitzung vorliegende Anträge wollten allerdings eine Benennung des Kanzlers durch den Bundespräsidenten, abgeschwächt durch innerhalb zweier Wochen notwendigen Vertrauensspruch des Parlaments 138, oder gar eine ausdrückliche Ernennung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten, wobei dem Bundestag nur das Recht blieb, durch Vorschlag eines neuen Bundeskanzlers den Bundespräsidenten zur Entlassung zu zwingen 139 . Ein Antrag der SPD kehrte zur Kanzlerwahl durch das Parlament mit Ernennungspflicht seitens des Bundespräsidenten zurück 140 . Der Antrag wurde vom HA angenommen. In einem neuen Vorschlag des ARA wurde zwischen der Benennung des Kanzlers durch den Präsidenten und der einfachen Parlamentswahl des Kanzlers ein Mittelweg gesucht: dem Bundespräsidenten wurde in einem ersten Wahlgang ein Vorschlagsrecht gewährt 141 . Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, ist das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten vertan. In einem zweiten Wahlgang wählt der Bundestag von sich aus den Kanzler. Diese Anregung des ARA ist mit einigen Verbesserungen, Umgruppierungen und Strahlungen als Art. 63 in das Grundgesetz eingegangen. Der Bundespräsident ist trotz seines einmaligen Vorschlagsrechts ganz klar an den Willen des Bundestages gebunden. Die Ernennung des Bundeskanzlers durch ihn bleibt Formalität, höchstinstanzliche Beurkundung. Sein Vorschlagsrecht setzt den Bundespräsidenten nicht in die Lage, dem Parlament einen Kanzler aufzuzwingen. Ein Bundespräsident, der über große Autorität verfügt, wird lediglich vielleicht dem Willen des Parlaments eine Richtung weisen, wird einem schwankenden Parlament den nötigen Anstoß zur Entscheidung geben können. Die Parlamentswahl des Bundeskanzlers schmiedet eine feste, klare und keinerlei Auslegungskunststückchen zugängliche Verbindung zwischen Regierung und Parlament; aber sie setzt auch eine Bindung des Parlaments an die Regierung voraus. Die Besinnung auf die Weimarer Zeit veranlaßte den Parlamentarischen Rat, auch dem Fall des Fehlens einer arbeitsfähigen Mehrheit zu begegnen, der einerseits das Eingreifen des Reichspräsidenten provoziert, andererseits auch dessen bedurft hatte. Bereits der HChE konstatierte, daß Vorkehrungen getroffen werden müßten, zu verhindern, daß eine arbeitsunfähige Mehrheit im Parlament die Regierungsbildung blockiere. Hierbei sei aber der Ausweg einer Präsidialregierung zu vermeiden 1 4 2 . Zunächst - so Art. 88 HChE - wurde anstelle des Präsidenten der Bundesrat als Ersatzorgan, als „Legalitätsreserve" 143 in die Regierungsbildung eingeschaltet. Diese Verlagerung des Parlamentarismus auf den Bundesrat im Krisenfalle wurde 137 138 139 140
Vgl. aaO. S. 430. Antrag der CDU-Fraktion, aaO. Antrag Abg. Dr. Löwenthal (SPD), aaO. Vgl. HA Steno S. 41.
141 Vgl. JöR N. F. 1 S. 432. 142 Vgl. HChE darst. T. S. 10. 143 Vgl. Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) PlenStenBer. S. 22.
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in den ersten Beratungen im Parlamentarischen Rat aufrechterhalten 144. „Durch die Gefahr, das höchste Recht, die Regierungsbildung, unter Umständen zu verlieren", hielt Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) das Parlament für „unter allen Umständen gezwungen, alle Kräfte für eine Mehrheitsbildung aufzubringen" 145. Erst mit der Entscheidung für die Wahl des Kanzlers durch das Parlament entfiel die Legalitätsreserve des Bundesrats 146. Damit wurde darauf verzichtet, dem Bundestag im Falle seines Versagens das Recht der Regierungsbildung völlig zu nehmen, aber auch darauf, die totale Arbeitsunfähigkeit des Parlaments vorauszusetzen 1 4 7 . Die Mehrheitsfähigkeit des Parlaments wurde vielmehr gleichsam in einzelne Stufen aufgeteilt, deren Abfolge dem Parlament einerseits eine möglichst große Regierungsmehrheit abverlangen soll, es aber andererseits auch ermöglicht, daß eine Regierung mit geringerer Mehrheit zustande kommt. Die Legalitätsreserve durch Übergang der Regierungsbildung an den Bundesrat wurde durch das Zugeständnis der Eventuallösung der parlamentarischen Minderheitsregierung ersetzt. Die Minderheitsregierung war eine häufige Erscheinung der Weimarer Verfassungswirklichkeit gewesen. Der Parlamentarische Rat nahm sie, zögernd und gleichsam nur als ultima ratio, in das Verfassungsrecht auf. Nach Art. 63 GG ist der auf Vorschlag des Bundespräsidenten zu wählende Kandidat nur gewählt, wenn er die absolute Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Wird sie nicht erreicht, folgen binnen 14 Tagen beliebig viele Wahlgänge, in denen ebenfalls die absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erforderlich, der Bundestag aber nicht mehr an den Vorschlag des Bundespräsidenten gebunden ist. Verstreicht diese Frist, ohne daß das erforderliche Quorum erreicht wurde, dann folgt ein weiterer Wahlgang, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhalten hat, auch wenn diese nur eine Minderheit darstellen. Kritisch bemerkte hierzu Abg. Walter (CDU), daß mit der Minderheitsregierung das wieder möglich wird, „was in der Weimarer Zeit, namentlich in den letzten Jahren der Weimarer Republik, so schweren Schaden angerichtet hat" 1 4 8 . Dagegen meinte Abg. Dr. Katz (SPD), er ziehe „sozusagen die Legalitätsreserve in Gestalt einer relativen Mehrheit der Volkskammer der Einschaltung der Länderkammer vor" 1 4 9 . Abg. Dr. Heuss (FDP) sah im Verzicht auf die Legalitätsreserve des Bundesrates - im Gegensatz zu Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) 1 5 0 - einen „Erziehungszwang" für das Parlament 151. ι** So OrgA vom 29. September 1948, vgl. JöR N. F. 1 S. 428; OrgA vom 30. September 1948, vgl. aaO. S. 429. 145 PlenStenBer. S. 22. 146 JöR N. F. 1 S. 430. 147 Letzteres bemerkt nicht ohne Kritik v. Mangoldt, Grundgesetz, S. 225. 148 HA Steno S. 41. 149 AaO. S. 42. 150 s. o. S. 90 f. 151 HA Steno S. 408.
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Wenn nur eine Minderheitsregierung zustande kommt, erhält der Bundespräsident einen Teil der regierungsbildnerischen Kompetenz des Reichspräsidenten wieder. Nach Art. 63 Abs. 4 GG hat er zu entscheiden, ob er die Minderheitsregierung ernennen oder den Bundestag auflösen will. Dem Reichspräsidenten wuchs bei parlamentarischer Schwäche eine praktisch unbegrenzte Macht zu. Der Bundespräsident bekommt nur eine alternative Entscheidung, deren Voraussetzungen vom Parlament selbst geschaffen werden. Die Auflösung, die nach der Weimarer Reichsverfassung als eine ständige Drohung über den Reichstagen stand, wird nach dem Grundgesetz vom Bundestag dann und nur dann als Möglichkeit heraufbeschworen, wenn er den Bundeskanzler nicht als Mehrheitskanzler wählt. Die derart spezifizierte Gefahr der Auflösung soll aus den Bundestagen die letzten Möglichkeiten zur Wahl eines Mehrheitskanzlers herauszwingen. Das Grundgesetz, so faßt Eschenburg zusammen, „strebt einerseits an, daß der Regierungschef mit einer möglichst großen Mehrheit gewählt wird. Es will andererseits vermeiden, daß eine Wahl deswegen nicht zustande kommt, weil eine qualifizierte Mehrheit sich nicht finden läßt" 1 5 2 .
3. Die Stabilisierung der Regierung im Bonner Grundgesetz Nachdem im wesentlichen das Erlebnis der Präsidialregierung den Parlamentarischen Rat veranlaßt hatte, die Bestellung der Regierung allein dem Parlament anzuvertrauen, mußte sich der Parlamentarische Rat auch dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Regierungen zuwenden. Das Verfassungsleben unter der Weimarer Reichsverfassung zeigte den Regierungssturz im wesentlichen in vier Formen. Zunächst trat nach Neuwahlen zum Reichstag die Regierung regelmäßig zurück, um eine Anpassung an die neue parlamentarische Konstellation zu ermöglichen. In der Endphase dominierte die Entlassung durch den Reichspräsidenten 153. Weiterhin traten Regierungen zurück wegen des Zerfalls der Koalitionen, auf die sie gegründet waren, und schließlich war ein vom Reichstag angenommenes Mißtrauensvotum verfassungsmäßiger Rücktrittsgrund. Der Rücktritt der Regierung nach Neuwahlen gehört zum parlamentarischen Regierungssystem. Ihn sieht Art. 69 Abs. 2 GG ausdrücklich vor. Die willkürliche Entlassung durch das Staatsoberhaupt kommt nach der Konstruktion des Grundgesetz nicht mehr in Frage und wurde vom Parlamentarische Rat bewußt abgelehnt 154 . Dadurch, daß der Bundestag - im Regelfall mit absoluter Mehrheit - den 152 Eschenburg, Staat, S. 592. 153 Darum handelte es sich faktisch, wenn auch formell so verfahren wurde, daß dem Kanzler nahegelegt wurde, zurückzutreten. 154 „In Abweichung von der Weimarer Verfassung ist eine Entlassung des Bundeskanzlers ohne und gegen dessen Willen durch den Bundespräsidenten nicht möglich." Abg. Walter (CDU) HA Steno S. 25.
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Kanzler zu wählen hat, wird Anlaß gegeben, daß sich im Bundestag wenigstens im Moment der Regierungsbildung eine feste Mehrheitskoalition zusammenfindet. Das bedeutet auch eine gewisse Prävention gegen Koalitionszerfall. Einem Mißtrauensvotum erlagen in der Weimarer Republik zwei Regierungen, die zweite Regierung Luther und die dritte Regierung Marx. Die zweite Regierung Luther wurde am 12. Mai 1926 auf die von Reichskanzler Luther gegengezeichnete sogenannte Flaggenverordnung Hindenburgs vom 5. Mai 1926 155 hin mit 176 gegen 146 Stimmen gestürzt 156 . Hiermit hatte der Reichstag, wie zu Zeiten des Konstitutionalismus, seine Mißbilligung ausgedrückt, um beinahe mit Schrecken die neuerliche Wirkung eines solchen Beschlusses festzustellen. Dem entspricht, daß die neugebildete Regierung eine fast genaue Kopie der gestürzten war. Lediglich der Reichskanzler Luther wurde gegen Marx ausgewechselt. Insbesondere blieb der Stein des Anstoßes, die Flaggenverordnung, bestehen. Das Schwert des Mißtrauensvotums war „aus ... Verärgerung geführt und dann in die Scheide gesteckt" 157 worden. Auch der zweite Fall eines Mißtrauensvotums zeigt deutlich das problematische Bild der parlamentarischen Unzufriedenheit mit der bisherigen Regierungsführung, ohne daß die opponierende Mehrheit geneigt gewesen wäre, sich über die Richtung der künftigen Politik und die Gestaltung der neuen Regierung zu einigen. Am 16. Dezember 1926 wurde der dritten Regierung Marx mit 249 Stimmen der SPD, DNVP, KPD und der Volkischen Arbeitsgemeinschaft gegen 171 Stimmen des Zentrums, der BVP, der DVP, der DDP und der Wirtschaftlichen Vereinigung das Vertrauen entzogen. Die Heterogenität der Motive der oppositionellen Mehrheit ergibt sich klar aus ihrer parteipolitischen Zusammensetzung. SPD und DNVP wollten in die Regierung, aber jeweils unter Ausschluß des anderen 158. In diesem Regierungssturz „offenbarte sich ... einer jener Fälle, in denen eine weit verbreitete Meinung das Regierungssystem der Weimarer Verfassung als in besonderem Maße unzulänglich erwiesen" sah 159 . Einer heterogenen Opposition war bereits die Regierung Stresemann am 23. November 1923 zum Opfer gefallen. Nur handelte es sich hier nicht um den Beschluß eines Mißtrauensvotums, sondern um die Ablehnung eines Vertrauensvotums, das die Regierung beantragt hatte. Für die Verneinung der Vertrauensfrage hatten in erster Linie die Deutschnationalen und die Sozialdemokraten gestimmt 160 .
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RGBl. I S. 217. Nach der Verordnung sollten die auswärtigen Vertretungen des Reichs nicht nur die (schwarz-rot-goldene) Reichsfahne, sondern auch die (schwarz-weiß-rote) Handelsflagge zeigen. 156 Vgl. Stampfen aaO. S. 482. 157 Hellpach, aaO. S. 19. 158 Vgl. Stampfen aaO. S. 493 f. 159 Wolgast, Parlamentarismus, S. 12. 160 Vgl. hierzu Stampfer, aaO. S. 384 f.
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Das Phänomen, daß die Mißtrauensvoten der Weimarer Zeit jeweils von parlamentarischen Mehrheiten beschlossen wurden, die entweder nicht die Absicht gemeinsamer künftiger Regierungsarbeit hatten, oder deren Motive sogar eine Zusammenarbeit ausschlossen, veranlaßte den Parlamentarischen Rat zu einer Revision der Institution des Mißtrauensvotums. „Die Erfahrungen der Weimarer Zeit legen", so heißt es schon im HChE, „den Gedanken nahe,... in das Grundgesetz Bestimmungen aufzunehmen, die eine Anwendung des Mißtrauensvotums nur durch eine zu konstruktiver Arbeit bereite Mehrheit zulassen" 161 . Art. 90 HChE verwirklichte dieses Programm. Sein Abs. 1 lautete: „Der Bundestag kann dem Bundeskanzler sein Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er den Bundespräsidenten unter Benennung eines Nachfolgers ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen."162 Bemerkenswert ist, daß der HChE einhellig hinter diesem Vorschlag stand; es gibt zu Art. 90 HChE keine Variante. Im Parlamentarische Rat wurde, nachdem zur Wahl des Kanzlers durch den Bundestag übergegangen worden war 1 6 3 , eine weitere Qualifikation des Mißtrauensvotums angeregt: der Nachfolger eines Bundeskanzlers sollte nur mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt werden können 164 . Dieses Prinzip, das Mißtrauensvotum nur in der Form der Wahl des neuen Regierungschefs durch die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zuzulassen, wurde praktisch durch die Verhandlungen des Parlamentarische Rat bis in die Endfassung des Art. 67 GG aufrechterhalten (sogenanntes konstruktives 165 oder auch gekoppeltes 1 6 6 Mißtrauensvotum). Vorschläge einer Abgeordnetengruppe um die Abg. Dr. Dehler und Dr. Becker (FDP), die die Verantwortlichkeit der Regierung bis zur Konstruktion einer Regierung auf Zeit verkümmern wollten, verfielen der Ablehnung 167 . Diese Einmütigkeit des Parlamentarische Rat könnte bei oberflächlicher Betrachtung verwunderlich wirken. Bietet doch die Weimarer Zeit mit zwei angenommenen Mißtrauensvoten und einem abgelehnten Vertrauensvotum - das nach herrschender Lehre noch nicht einmal einen Rechtsgrund zum Rücktritt der Regierung dargestellt hätte 168 - unter insgesamt 20 Regierungen (gerechnet von der Re161 HChE darst. T. S. 44. 162 Art. 90 Abs. 2 HChE gab dem Bundespräsidenten ein umgrenztes Vetorecht gegen den neugewählten Bundeskanzler. 163 s. o. S. 89 f. 164 Beschlossen in der Sitzung des OrgA vom 7. Oktober 1948; vgl. JöR N. F. 1 S. 443. 165 Diesen Ausdruck gebrauchte der Parlamentarische Rat. Er wurde z. B. vom BK übernommen, vgl. Β Κ zu Art. 67 S 5. 166 Diese Bezeichnung gebraucht v. Mangoldt, Grundgesetz, S. 358. 167 Angeregt in 5. Sitzung OrgA, vgl. JöR N. F. 1 S. 422. Wieder aufgenommen in 8. Sitzung OrgA, vgl. aaO. S. 423. Abgelehnt in 11. Sitzung OrgA, vgl. aaO. Der Antrag wurde auch im HA gestellt und in dritter Lesung abgelehnt, vgl. HA Steno S. 637 ff. Er wurde in vierter Lesung HA erneut gestellt und wieder abgelehnt, vgl. aaO. S. 754. 168 s. u. S. 103 f.
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gierung Scheidemann bis einschließlich Schleicher) kein so erschreckendes Bild, daß eine derart entschlossene Reaktion des Parlamentarischen Rats verständlich erscheinen könnte 169 . Bezeichnete doch Abg. Katz (SPD) das konstruktive Mißtrauensvotum sogar als den „Kern des neuen Regierungssystems" 170. Das Verständnis für die ablehnende Haltung des Parlamentarischen Rats gegenüber dem Mißtrauensvotum in seiner traditionellen, an keine Bedingungen geknüpften Form ergibt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in der Weimarer Zeit der Beschluß von Mißtrauensvoten durch heterogene Mehrheiten, die zur positiven Zusammenarbeit in einer neuen Regierung weder willens noch fähig waren, das parlamentarische System in besonderem Ausmaß als unpraktikabel und sinnlos erwiesen hat. „Sollen beliebige Mehrheiten, unechte Mehrheiten ... die Regierungstätigkeit blockieren können?"; diese Frage, vom Abg. Dr. Schmid (SPD) formuliert 171 , war für den Parlamentarische Rat wichtig genug, um hinter den zahlenmäßig wenigen Mißtrauensvoten in der Weimarer Zeit ihre eklatante materielle Bedeutung für Funktion und Anerkennung des parlamentarischen Regierungssystems zu sehen 172 . Darüber hinaus ist die Zahl der zwei unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung durch Mißtrauensvoten gestürzten Regierungen trügerisch. Statt auf die zwei durch Mißtrauensvotum beendigten Regierungen, ist das Augenmerk auf die Zahl der so insgesamt im Laufe von 13 Jahren verbrauchten Regierungen zu richten. Die Rücktritte der Kabinette der Weimarer Zeit waren „in der Regel die Folge von Koalitionszerwürfnissen" 173. Auch der entscheidungsschwere, die Abwendung vom parlamentarischen System signalisierende Rücktritt der zweiten Regierung Hermann Müller ging auf einen Zerfall der Regierungskoalition zurück. Das Mißtrauensvotum war gleichsam die Rechtsfolge eines Koalitionszerfalls. Das heißt, daß in einem Rücktritt aus Anlaß des Koalitionszerfalls häufig nur die Wirkung eines bevorstehenden Mißtrauensvotums durch die Regierung scheinbar freiwillig vorweggenommen wurde. Es wäre also das Scheiden einer ganzen Anzahl weiterer Regierungen faktisch den Rücktritten auf Mißtrauensvotum hinzuzurechnen 174 . Derart in ihrem Bestand durch den Zerfall ihrer Koalition - ohne daß 169
Etwa Friedensburg, aaO. S. 230, zieht den Schluß, eine Einschränkung des Mißtrauensvotums scheine nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit nicht dringend geboten. 170 HA Steno S. 413. 171 AaO. S. 45. 172 Für das konstruktive Mißtrauensvotum als von den Erfahrungen der Weimarer Zeit dringend geboten sprachen sich Redner aller Parteien aus: Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) PlenStenBer. S. 22; Abg. Dr. Lehr (CDU) aaO. S. 202; Abg. Dr. Menzel (SPD) aaO. S. 28; auch HA Steno S. 44 f.; Abg. Dr. Katz (SPD) PlenStenBer. S. 90; Abg. Dr. Schmid (SPD) aaO. S. 173; Abg. Dr. Heuss (FDP) aaO. S. 42; Abg. Dr. Seebohm (DP) aaO. S. 47 f. 173 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 506. Ebenso Staatsleben I S. 165. 174 So Schmitt, Verfassungslehre, S. 344; Gmelin, Einführung in das Reichsverfassungsrecht, S. 126; Luther, aaO. S. 23 f. Etwa die Regierung Cuno trat wegen eines mit Sicherheit zu erwartenden Mißtrauensvotums zurück; die SPD hatte bereits in der Fraktion beschlossen,
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sich eine neue Koalitionsbildung anbahnt - bedrohte Regierungen brauchen angesichts des konstruktiven Mißtrauensvotums nicht einem zu erwartenden Mißtrauensvotum durch den Rücktritt zuvorzukommen. Die Häufigkeit des Koalitionszerfalls in der Weimarer Republik hängt mit der Eigenart des damaligen Parteienfeldes zusammen. Eine die Verfassung bejahende, also prinzipiell koalitionsfähige, aber in wesentlichen Detailfragen durchaus nicht homogene Mitte wurde von grundsätzlich oppositionellen Gruppen zu beiden Seiten flankiert. Mithin mußte sich die Regierungsbildung immer wieder - mit Verschiebungen von untergeordneter Bedeutung - auf die arbeitsfähigen Mittelgruppen stützen. Daß nach einer Koalitionskrise, ob sie nun in einem Mißtrauensvotum endigte oder bereits vorher zum Rücktritt der Regierung führte, zumeist die gleiche Regierung mit unbedeutend erscheinenden Variationen wiederkehrte, hat dazu beigetragen, im Bewußtsein der Öffentlichkeit das parlamentarische Regierungssystem zu diskreditieren. Der Kurswechsel, der als äußerlich erkennbare Folge den Koalitionskrisen einen Sinn gibt, blieb aus. Das konstruktive Mißtrauensvotum schafft die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, daß eine Koalitionskrise sich nur in der sinnfälligen Erscheinungsform eines tatsächlichen Regierungswechsels auswirken kann. Insoweit klingt im konstruktiven Mißtrauensvotum ein gewisses, durch die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit nahegelegtes Mißtrauen des Parlamentarische Rates in die Verantwortungsbereitschaft der Parteien an 1 7 5 . Das Mißtrauensvotum als bloße Demonstration, dem eine gleichsam reumütige Retablierung der alten Regierung mit einigen Schönheitskorrekturen folgt, wird ebenso ausgeschaltet wie die Koalitionskrise als Ergebnis unausgereifter parteitaktischer Umgruppierungsversuche, aus der als Ausweg nur die Rückkehr zur alten oder zu einer ähnlichen, meist nicht tragfähigeren Koalition bleibt. Die Mittelparteien waren durch ihre dauernde Einspannung in der Regierung einem ständigen Verschleiß ausgesetzt. Da auch innerhalb dieser Mittelgruppe Spannungen bestanden, waren die von ihr gestellten Regierungen in ihrer Führungsfunktion stark behindert. Es waren prinzipiell zwei Gruppierungen möglich: Die Mehrheitsregierung unter Einbeziehung auch von stark divergierenden Randgruppen der verfassungsbejahenden Parteien 176 , die parlamentarisch stark war, in sich aber schwere Spannungen barg, und eine Minderheitsregierung jeweils vom linken oder rechten Flügel der verfassungsbejahenden Gruppen bis zur Mitte 1 7 7 , die Zusammenfassung also der einander nahestehenden Teile der arbeitseinem von der KPD eingebrachten Mißtrauensantrag zuzustimmen. Vgl. Wertheimer, aaO. S. 67; Stampfer, aaO. S. 340 f. Auch die zweite Regierung Hermann Müller nahm mit ihrem Rücktritt im März 1930 ein Mißtrauensvotum vorweg. Vgl. Timm, aaO. S. 187. 175 „Es gab Abgeordnete ... für die Mißtrauensanträge stellen und Minister stürzen der Inbegriff des Parlamentarismus war", schreibt Otto Braun, aaO. S. 140. Vgl. hierzu auch Stampfer, aaO. S. 466. 176 Die sogenannte große Koalition von SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP. 177 Die sogenannte Weimarer Koalition von SPD, DDP und Zentrum bzw. die sogenannte Regierung der Mitte von DDP, Zentrum, BVP bis DVP oder der sogenannte Bürgerblock
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fähigen Mitte. Diese Regierungen kamen aber seit der Wahl vom 6. Juni 1920 zumeist nur als Minderheitsregierungen in Frage, sie waren innerlich relativ homogen, aber parlamentarisch schwach. Die Regelung des Grundgesetzes, daß der Nachfolger eines Bundeskanzlers nur mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags gewählt werden kann, besagt, daß faktisch überhaupt nur eine Minderheitsregierung gestürzt werden kann, aber dies auch nur bedingt. Dadurch, daß sich die absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf einen neuen Kanzler einigt, ist die bestehende Regierung von dem Moment an, wo die Einigkeit der Mehrheit für den neuen Regierungschef besteht, zu einer Minderheitsregierung geworden. Die Mehrheitsregierung ist also, solange sie es ist, überhaupt nicht stürzbar. Die Minderheitsregierung ist es dann, und nur dann, wenn die Mehrheit sich auf einen neuen Kanzler einigen kann, sie ist also nur durch eine Mehrheitsregierung ablösbar. Von den Juli-Wahlen des Jahres 1932 an hatten die verfassungsfeindlichen Rügelgruppen, hatten NSDAP und KPD zusammen die absolute Mehrheit im Reichstag. Eine Mehrheitsbildung der verfassungsbejahenden Parteien, selbst unter dem Einschluß der DNVP, war rein rechnerisch nicht mehr möglich. Von diesem Zeitpunkt an stand notwendig jede Regierung in der ständigen Gefahr eines Mißtrauensvotums, dem nun nicht mehr die Neubildung einer ähnlichen Regierung folgen mußte, sondern dem keine parlamentarische Regierungsbildung mehr folgen konnte. Auch der hier vorliegende Sonderfall der Minderheitsregierung, der im demokratischen Sinne nicht ersetzbaren Minderheitsregierung, wird durch das konstruktive Mißtrauensvotum geschützt. Das war in besonderem Maße das Anliegen des Parlamentarischen Rats. Das konstruktive Mißtrauensvotum wurde sogar im Hinblick auf seine Brauchbarkeit als Verfassungseinrichtung in der Debatte des Parlamentarischen Rats dadurch überprüft, daß es in die Situation des Jahres 1932 hineinprojiziert wurde 178 . Damit ergab sich für den Parlamentarischen Rat ein dreifaches Motiv der Reform des parlamentarischen Mißtrauensvotums. Zunächst einmal mußten Mißtrauensvoten verhindert werden, die als reine Demonstration, als Verärgerungsreaktion, als Ergebnis parteipolitischen Taktierens ohne bereits abgeklärte Regierungsbildung zum Sturze einer Regierung führen. Zweitens mußte die Minderheitsregierung in ihrem Bestände gesichert werden, solange es die wünschenswertere Lösung einer Mehrheitsregierung nicht gibt. Und schließlich mußte die spezielle Form der Minderheitsregierung, die als einzige demokratisch tragbare Alternative gegen eine Mehrheit verfassungsfeindlicher Gruppen noch in Frage kommt, gegen die zu erwartenden Mißtrauensvoten gestützt werden, nachdem das Grundgesetz keinen Reichspräsidenten mehr bereitstellt, der in Handhabung seines Auflösungsunter Einschluß der DNVP. Vgl. die Verzeichnisse der Regierungen der Weimarer Republik (mit Angabe der Koalition), Staatsleben I S. 165 ff., Staatsleben II S. 103 f., Staatsleben III S. 154 ff. 178 So Abg. Walter (CDU) HA Steno S. 413 f. 7 Fromme
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rechts und als Inhaber des Rechts der Regierungsernennung und -entlassung derartigen Regierungen Bestand, wenn auch von seinem Willen abhängigen Bestand, zu verleihen vermag. Die Wirksamkeit des konstruktiven Mißtrauensvotums gründet sich in allen diesen Fällen auf eine Verbindung einer quantitativen Forderung an die opponierende Mehrheit mit der qualitativen Forderung der Arbeitsfähigkeit. Die Heterogenität der Opposition - sei sie nun grundsätzlich wie im Jahre 1932 oder sei sie nur partiell und taktisch heterogen wie in der vorangehenden Zeit - wird zum Ausschließungsgrund für den Beschluß eines wirksamen Mißtrauensvotums. Eine Art Vorwegnahme des konstruktiven Mißtrauensvotums findet sich in der Denkschrift des Kreisauer Kreises über den „politischen Wiederaufbau Deutschlands" aus dem Jahre 1942. Hiernach sollte der Reichspräsident mit Zustimmung des Reichstages den Reichskanzler ernennen. Dieser sollte vom Reichstag mit qualifizierter Mehrheit gestürzt werden können, wenn gleichzeitig ein Nachfolger vorgeschlagen wurde 179 . Nach den Verfassungsplänen von Goerdeler sollte um der Stabilität der Regierungen willen ein Mißtrauensvotum nur durch eine qualifizierte Mehrheit der ersten, oder aber durch übereinstimmenden Beschluß beider Kammern beschlossen werden können 180 . Die Beratungen des Parlamentarische Rat geben keinen Anhaltspunkt dafür, daß er von diesen Vorschlägen Kenntnis hatte. Mit Sicherheit aber haben die vor 1948 beschlossenen westdeutschen Landesverfassungen für den Parlamentarische Rat als Hinweise und Vorbilder gewirkt. Sämtliche Landesverfassungen aus der Zeit vor 1948, bis auf die vorläufige Verfassung von Hamburg aus dem Jahre 1946, bemühen sich um eine Stabilisierung der Regierung. Die bayerische Verfassung etabliert in Art. 44 sogar eine Regierung auf Zeit. Sämtliche anderen Verfassungen verlangen für ein Mißtrauensvotum die Zustimmung der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags. Die Verfassungen von Hessen (Art. 114) und Rheinland-Pfalz (Art. 99) sehen die automatische Auflösung des Landtages vor, wenn nach einem Mißtrauensvotum nicht binnen einer bestimmten Frist einer neuen Regierung das Vertrauen ausgesprochen wurde. Die Verfassungen von Baden (Art. 8o), Bremen (Art. 110), Württemberg-Baden (Art. 73) und Württemberg-Hohenzollern (Art. 51) lassen ein Mißtrauensvotum zu, doch wird es erst wirksam, wenn der Landtag binnen einer bestimmten Frist einer neuen Regierung das Vertrauen ausspricht bzw. eine neue Regierung wählt. Ein derart abgeschwächtes konstruktives Mißtrauensvotum wurde von einer Minderheit im Parlamentarische Rat vertreten 181 , wobei ausdrücklich auf das Vorbild der Württemberg-Badischen Verfassung angespielt wurde 182 . Man argumentierte, daß 179 Vgl. Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Krefeld 1949, S. 147 f. 180 Vgl. aaO. S. 127. 181 So ein Antrag Walter, unterstützt in erster Linie von Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU), vgl. HA Steno S. 33. 182 So Abg. Walter (CDU), JöR N. F. 1 S. 444.
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eine völlige Unterdrückung jedes nicht von einer Regierungsbildung uno actu begleiteten Mißtrauensvotums unrealistisch sei. Wenn ein solches sich anbahne, würde hinter dem Rücken des nach außen hin intakten Kanzlers agitiert und intrigiert. Ehrlicher und wirklichkeitsnaher sei es, hier ein Mißtrauensvotum zuzulassen, dem erst eine Neubildung der Regierung Wirkung verleihen könne 183 . In diesen Vorschlägen sah aber die Mehrheit des Parlamentarische Rates einen „schlimmen und bedauerlichen Rückfall in das Mißtrauensvotum der Weimarer Verfassung, das in keiner Weise ... wieder zum Vorschein kommen sollte" 184 . Die Mehrheit des Parlamentarische Rates war von einer „tief eingewurzelten Furcht vor jedem Mißtrauensvotum geradezu befallen, das nicht sofort eine neue Regierung an die Stelle der alten setzte" 185 . Abg. Dr. Katz (SPD) wollte sogar bereits den Antrag auf ein Mißtrauensvotum ausgeschlossen wissen, wenn es nicht mit dem Vorschlag eines neuen Bundeskanzlers gekoppelt war 1 8 6 . Abg. Walter (CDU) sprach sich - in Änderung seiner ursprünglichen Auffassung 187 - dafür aus, daß auch die GeschO des kommenden Bundestages keinesfalls einen Mißtrauensantrag, der nicht in den Formen des Art. 67 GG gestellt ist, zulassen dürfe 188 . Hier hat vielleicht die Erinnerung daran nachgewirkt, daß unter der Weimarer Reichsverfassung die Regierungen unter dem ständigen psychologischen Druck möglicher und tatsächlich beantragter Mißtrauensvoten standen, selbst wenn diese mehr oder weniger knapp ihr Ziel, den Regierungssturz, verfehlten 189 . Den unmittelbaren zeitlichen Anschluß der kommenden Regierung an die stürzende, den das konstruktive Mißtrauensvotum erzwingt, hatte schon die Weimarer Verfassungspraxis, allerdings in Form einer in der Weimarer Reichsverfassung nicht vorgesehenen Aushilfslösung erreicht. Der Rücktritt einer Regierung - gleichviel aus welchen Gründen - durfte nicht die sofortige Preisgabe des Amtes bedeuten. Eine zurücktretende Regierung wurde 183 So Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU) HA Steno S. 33. 184 Abg. Dr. Katz (SPD) HA Steno S. 415; vgl. auch ders., aaO. S. 33. 185 v. Mangoldt, Grundgesetz, S. 355. 186 Vgl. HA Steno S. 6. 644. 187 s. o. S. 98. iss Vgl. JöR N. F. 1 S. 445. Gegenteiliger Meinung Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU) HA Steno S. 644: einem Kanzler - ohne Rechts Wirkung - das Mißtrauen auszusprechen, werde ein Bundestag nicht zu hindern sein. 189 Gegen die Regierung Wirth wurden im Februar 1921 von links und rechts verschieden motivierte Mißtrauensanträge eingebracht. Sie wurden abgelehnt, doch von verschiedenen Gruppen, wobei die Addition der Opponenten eine Mehrheit ergeben hätte. Diese politische Schlappe wollte Wirth durch die Erlangung eines positiven Vertrauensvotums ausgleichen. Es gelang ihm; das gleiche mißlang zweieinhalb Jahre später der Regierung Stresemann. Vgl. auch die stattlichen Listen von beantragten, aber abgelehnten Mißtrauensvoten bei Staatsleben I S. 171 f., Staatsleben II S. 106 ff. und Staatsleben III S. 175. *
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zunächst vom Reichspräsidenten entlassen. Sie wurde aber als „geschäftsführende Regierung" wiederernannt. Die neugebildete ordentliche Regierung löste dann die geschäftsführende Regierung im Amte ab 1 9 0 . Wenn es nicht zu einer neuen parlamentarischen Regierungsbildung kam, ernannte eben der Reichspräsident eine Regierung, die bis zur Bildung einer parlamentarischen Regierung amtieren konnte. Dies war dann praktisch eine „Dauergeschäftsregierung" 191 oder auch - Präsidialregierung. War die Präsidialregierung willkürlich vom Präsidenten bestellt, hatte sie immer noch mit der Geschäftsregierung das Fehlen des parlamentarischen Vertrauens gemein. „Dauergeschäftsregierung" war sie dann insofern, als eine dauernde Emanzipation vom parlamentarischen Vertrauen angestrebt wurde. Daß mit dem konstruktiven Mißtrauensvotum, das Regierungssturz und Regierungsbildung in einen einzigen Akt zusammenzwingt192, die Geschäftsregierung verschwindet, ist nicht nur unbeabsichtigte Begleiterscheinung, auch nicht nur notgedrungenes Ergebnis des Verzichtes auf den in die Bestellung der Geschäftsregierung eingeschalteten Reichspräsidenten als Regierungsbildner. Die Ausschließung der Geschäftsregierung, als eines unerfreulichen Zwittergebildes zwischen Regierung und Nichtregierung, war bereits im HChE ausdrückliches Motiv der neuen Regelung der Regierungsabberufung 193. Die Ablehnung der erwähnten Vorschläge 1 9 4 , Mißtrauensvoten zuzulassen, die erst mit der Regierungsneuwahl wirksam werden sollten, wurde im Parlamentarische Rat mit den „bösen Erinnerungen an die Geschäftsregierungen der Weimarer Zeit" 1 9 5 begründet. Nach dem Grundgesetz gibt es nur dann eine Geschäftsregierung, wenn eine Regierung von sich aus zurücktritt und nach Art. 69 Abs. 3 vom Bundespräsidenten um Fortführung der Geschäfte ersucht wird. Allerdings wird eine Regierung, die nach Neuwahlen bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages (Art. 69 Abs. 2), tatsächlich wohl bis zum Vollzug der Ernennung der neuen Regierung amtiert, den Charakter einer geschäftsführenden Regierung haben. Wie bereits von Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU) zur Verteidigung des Vorschlages, Mißtrauensvoten zuzulassen, ihnen aber erst bei Bildung einer neuen Regierung Wirksamkeit zu verleihen, angedeutet196, wäre auch die im Prozeß eines sich anbahnenden konstruktiven Mißtrauensvotums stehende Regierung faktisch eine Geschäftsregierung, wenn sie 190
Die Institution der Geschäftsregierung fand im § 12 des Reichsministergesetzes vom 27. März 1930 (RGBl. I S. 96) Eingang in das positive Recht. Vgl. Thoma, HdbDStR I § 43 S. 507. 191 Vgl. Hausen, aaO. S. 25 f. 192 Nur glücklicher Zufall führte in der Weimarer Zeit zum zeitlichen Zusammenfall von Regierungsbildung und Regierungssturz. Beim Rücktritt der Regierung Cuno stand die Regierung Stresemann schon bereit. Rücktritt und Regierungsernennung fielen auf einen Tag. Vgl. Wertheimer, aaO. S. 67. 193 Vgl. HChE darst. T. S. 44. 194 s. o. S. 98 f. 195 So v. Mangoldt, Grundgesetz, S. 355. 196 Vgl. o. Anm. 181; auch v. Mangoldt, Grundgesetz, S. 359.
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auch äußerlich als eine voll intakte Regierung erscheint. In der Unterdrückung der Eigenschaft einer Regierung als Geschäftsregierung wie überhaupt als Mittel, eine Regierung über den Koalitionsschwund hinaus im Amte zu halten, zeigt das konstruktive Mißtrauensvotum eine gewisse Analogie zu einem fiebersenkenden Medikament. Man darf bezweifeln, ob die Unterdrückung der Krise immer erfolgreich, und ob sie immer, wenn erfolgreich, günstig ist 1 9 7 . Das konstruktive Mißtrauensvotum ist gewissermaßen ein Schutzschild, den das Grundgesetz dem Regierungschef gegenüber einer destruktiven Opposition gewährt. Darüber hinaus gibt Art. 68 GG dem Kanzler eine Waffe in die Hand, mit der er aktiv auf die Festigung eines sich lockernden Koalitionsgefüges hinwirken kann. Art. 68 GG gibt dem Bundeskanzler das Recht, die Vertrauensfrage zu stellen. Wird sie verneint, ohne daß der Bundestag gleichzeitig mit Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl einen neuen Kanzler wählt, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen. Damit wird ein Bundestag, in dem keine arbeitsfähige Mehrheit vorhanden ist, unter die Drohung der Auflösung gestellt, wie auch ein Bundestag, der nur einen Minderheitskanzler wählt, aufgelöst werden kann 198 . Bei allem Mißtrauen gegenüber der Institution der Parlamentsauflösung 199 wollte der Parlamentarische Rat der Regierung einer arbeitsunfähigen Mehrheitsopposition gegenüber die „Waffe der Auflösung" 200 gewähren. Durch Art. 68 GG soll der Bestand der Mehrheitsregierung, die der Parlamentarische Rat bei der Kreation der Regierung begünstigt hatte, gesichert werden. Wenn ein Parlament nur eine Minderheitsregierung gebildet hat, kann der Minderheitskanzler durch die Vertrauensfrage einen Druck ausüben und vielleicht die Erweiterung der Koalition erzwingen. Sinkt während der Amtszeit einer Regierung die Mehrheitskoalition zur Minderheitskoalition herab, schafft das Parlament selbst die Voraussetzung für seine Auflösung, die mit der Vertrauensfrage akut werden kann. Richard Thoma hatte drei unklare Punkte des Regierungssystems der Weimarer Reichsverfassung kritisiert, nämlich, daß nicht deutlich sei, was unter dem „Vertrauen" des Art. 54 WRV zu verstehen sei, daß nicht klar werde, was zwischen Demission und Neubildung einer Regierung zu geschehen habe, und daß das Zusammenspiel von Mißtrauensvotum und Auflösung nicht geregelt sei 2 0 1 . Genau an die197 Wegen der Eigenschaft, eine Krise verfassungsrechtlich zu unterdrücken, kritisierte Abg. Dr. Schmid (SPD) HA Steno S. 397 f. die von Abg. Dehler-Becker (FDP) vorgeschlagene Regierung auf Zeit. Die Verwandtschaft der Regierung des konstruktiven Mißtrauensvotums mit einer Regierung auf Zeit gerade im Krisenfall (so Abg. Dr. Schmid [SPD] HA Steno S. 398) läßt etwas von dieser Kritik auch auf das konstruktive Mißtrauensvotum fallen. 198 s. o. S. 91 f. 199 s. o. S. 69 f. 200 Abg. Dr. Dehler (FDP) HA Steno S. 34. 201 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 505.
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sen drei Punkten setzt die klärende und bessernde Arbeit des Parlamentarischen Rats ein. Durch die dem Parlament übertragene Regierungsbildung ist das „Vertrauen" Inbegriffen. Durch den Zusammenfall von Regierungsbildung und Regierungssturz entfällt das Interregnum zwischen zwei Regierungen. Das Zusammenspiel der Auflösung mit dem Mißtrauensvotum ist dahin geklärt, daß die Auflösung nur Folge einer Vertrauensversagung ohne neue Vertrauenskundgabe sein kann. Das Grundgesetz versucht eine Einschränkung des parlamentarischen Prinzips zum Heile des Parlamentarismus. Ein Zuviel an parlamentarischer Kontrolle der Regierung hatte dazu geführt, daß die am Boden schleifenden Zügel der Staatsmacht antiparlamentarischen Gewalten in die Hand glitten, um von diesen dann nicht wieder fahren gelassen zu werden. Die Weimarer Reichsverfassung, so schreibt Stampfer, „gab dem Volk zwei Chancen: es konnte einen brauchbaren Reichstag und einen brauchbaren Reichspräsidenten wählen. Jeder von diesen beiden ... konnte im Notfall für sich allein die Staatsmaschine in Gang halten" 202 . Der Parlamentarische Rat verzichtete auf diese zweigleisige Sicherheitslösung. Das Staatsoberhaupt wurde weitgehend ausgeschaltet. Dafür wurde dem Parlament - zumal in der Regierungsbildung - der Zwang auferlegt, „brauchbar" zu sein. Zwischen den beiden Zielen der Regierungskontrolle und der Regierungsstabilität entschied sich der Parlamentarische Rat nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit für eine gewisse Vernachlässigung der ersteren zugunsten der letzteren 203 ' 2 0 4 . Daß der Parlamentarismus des Grundgesetzes die Gefahren einer nur virtuellen Stabilität der Regierung wie Ansätze zu einer autoritären Ausweitung der Position des Regierungschefs in sich birgt, sei nur angedeutet205. Die beiden Tendenzen, einerseits den Parlamentarismus zu wollen und andererseits Kabinettskrisen auszuschalten, stehen in einem gewissen inneren Widerspruch. Es sind „Kabinettskrisen nun einmal der Preis . . . , den ein Volk für den Luxus des Mehrparteienstaates zahlen muß" 2 0 6 .
4. Ansätze zur Stabilisierung der Regierung in Verfassungspraxis und Verfassungsdiskussion der Weimarer Republik Nicht erst der Parlamentarische Rat hat die Reformbedürftigkeit des parlamentarischen Regierungssystems der Weimarer Reichsverfassung erkannt. Das parlamentarische Regierungssystem, wie es die Weimarer Reichsverfassung festgelegt hatte, unterlag schon früh gewissen Wandlungen in der Verfassungswirklichkeit, 202 Stampfer, aaO. S. 136. 203 So Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 408. 204 Vgl. hierzu eine Äußerung von Abg. Dr. Löwenthal (SPD) HA Steno S. 30. 205 Vgl. Herbert v. Borch, Obrigkeit und Widerstand. Zur politischen Soziologie des Beamtentums, Tübingen 1954, S. 226. 206 Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 410.
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löste Kritik aus und das Verlangen nach einer - allerdings im Stadium des Planens steckengebliebenen - Verfassungsreform. In mancher Weise ist der Parlamentarische Rat als der nachträgliche Vollzieher dieser Pläne anzusehen. Häufig zielt die Diskussion um den Weimarer Parlamentarismus in die Richtung, die dann im Grundgesetz eingeschlagen wurde. Da die Regierung nach der Weimarer Reichsverfassung dem Parlament vom Staatsoberhaupt präsentiert wurde, mußte die Bindung zwischen Parlament und Regierung in einer besonderen Vertrauenserklärung zum Ausdruck kommen. Dieser Vertrauensspruch machte keine Schwierigkeiten, wenn die Regierung im Einvernehmen mit einer festen Mehrheitskoalition zustande gekommen war. Wenn aber eine Minderheitsregierung gebildet wurde, mußte die Staatspraxis versuchen, den Vertrauensspruch zu vermeiden 207 . Der Ausweg war die sogenannte „Billigungserklärung", ein „Vertrauensvotum zweiter Klasse" 208 . Parlamentarische Gruppen, die nicht zur Regierungskoalition gehörten, konnten nicht für ein ausdrückliches Vertrauensvotum stimmen. Sie konnten aber, ohne ihr Gesicht zu verlieren, die „Regierungserklärung billigen" 2 0 9 . Mit einer solchen Billigungserklärung mußte sich erstmals die Regierung Fehrenbach 210 begnügen. In der Einführung der Billigungserklärung für den Vertrauensspruch ist eine stillschweigende Einschränkung des Parlamentarismus zu sehen, die die Praxis angesichts der Situation der Minderheitsregierung um der Regierungsstabilität willen erzwang. Diese Einschränkung des Parlamentarismus wurde von der Theorie aufgenommen. Man folgerte aus der Praxis als Rechtens, daß ein ausdrückliches Vertrauensvotum für eine Regierung nicht erforderlich sei. Daraus Schloß man in einer etwas mühsam anmutenden Negierung des Art. 54 Satz 1 zugunsten des Art. 54 Satz 2 weiter, daß auch die Ablehnung eines Vertrauensvotums - wie etwa gegenüber der Regierung Stresemann im Herbst 1923 - keinen rechtlichen Rücktrittsgrund darstelle, indem das Spezialerfordernis des Art. 54 Satz 2, der ausdrückliche Vertrauensentzug, im strengen Sinne nicht erfüllt sei 211 . Apelt kennzeichnet diese Auslegung des Art. 54 als eine „künstliche, innerlich unwahre Konstruktion", zu der man „seine Zuflucht nehmen mußte, um die Zahl der schon überreichlichen Regierungskrisen nicht noch weiter anschwellen zu las207
Das Grundgesetz, das auch Minderheitsregierungen zulassen will, verzichtet konsequent auf ein Vertrauensvotum und läßt den Grad des Vertrauens in der Qualifikation der parlamentarischen Kanzlerwahl zum Ausdruck kommen. 2 °8 Stampfer, aaO. S. 438. 2 09 Vgl. hierzu Staatsleben IS. 168 f. 210 Vgl. Stampfer, aaO. S. 194; Kaufmann, aaO. S. 216 vermochte den „Zustand" der Regierung Fehrenbach als einer durch die Tolerierung seitens koalitionsfremder Gruppen erhaltenen Minderheitsregierung als „einen parlamentarischen nicht mehr anzusehen". 211 Vgl. Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 320; Staatsleben I S. 169; Thoma, HdbDStR I § 43 S. 507; Staatsleben I I S. 105; Fritz Feller, Erschwerungen des Sturzes der Reichsregierung und der Landesregierungen ohne Änderung der Reichsverfassung, Berlin 1930, S. 29.
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sen" 212 . Derartige Konstruktionen sind nach dem Grundgesetz nicht mehr nötig, da die Minderheitsregierung als Aushilfslösung ausdrücklich durch die Verfassung legitimiert und geschützt ist. Damit wird den Feinden der demokratischen Verfassung ein propagandstischer Effekt unmöglich gemacht, dessen sie sich in der Weimarer Zeit häufig bedienten. Sie stellten, bestehend auf der vollen Erfüllung des Wortlautes des Art. 54 WRV, fiktive Vertrauensanträge, denen sie selbst nicht zustimmen wollten, die aber geeignet waren, die Regierung als nicht im Vertrauen des Reichstages stehend bloßzustellen und die Parteien, die nur zur Tolerierung der Regierung bereit waren, in Verlegenheit zu setzen 213 . Derartige fiktive Vertrauensanträge wurden mit einer von den demokratischen Gruppen beschlossenen Änderung der GeschO des Reichstages vom 9. Februar 1931 für unzulässig erklärt 214 . Dies erregte den Zorn der Nationalsozialisten; sie sprachen von „Verfassungsbruch" 215. In den ersten Jahren der Republik genügte es, die Regierungsstabilität durch eine einschränkende Auslegung des Vertrauenserfordernisses zu sichern. Die beiden Mißtrauensvoten des Jahres 1926 aber lösten nicht nur eine dem parlamentarischen Prinzip feindlich gegenübertretende Welle von Verfassungsreformbestrebungen und Verfassungsinterpretationen aus 216 , sondern sie schufen auch in demokratischparlamentarisch eingestellten Kreisen das Bewußtsein, daß der Parlamentarismus in seiner vorliegenden Gestalt einer Überprüfung bedürfe. Willy Hellpach ermahnte die Parlamente, das Mißtrauensvotum nur „in höchstem Verantwortungsbewußtsein" zu gebrauchen 217. Graf zu Dohna spezifizierte diese allgemeine Mahnung deutlich in der Richtung des Grundgedankens des konstruktiven Mißtrauensvotums: „Wir erwarten, daß sich die großen Parteien des 212 Apelt, aaO. S, 209. Die Deutsche Allgemeine Zeitung vom 7. Juni 1928 schrieb, die Praxis der Billigungserklärungen habe „den vielumkämpften Art. 54 der Verfassung ... längst gegenstandslos gemacht". Zit. n. Wolgast, Parlamentarismus, S. 8 Anm. 4. 213 So auch Anträge Abg. Graefe (DNVP) in der zweiten Wahlperiode, vgl. Staatsleben I S. 171; Feller, aaO. S. 30 Anm. 47. Am 4. Juli 1928 brachte die NSDAP-Fraktion einen Vertrauensantrag für die zweite Regierung Müller ein. Den fiktiven Charakter des Antrages gab Abg. Dr. Frick (NSDAP) in der Begründung offen zu. Vgl. Wolgast, Parlamentarismus, S. 113 Anm. 42; Feller, aaO. S. 30 Anm. 47. 214 Mit Einbeziehung einer Reihe früherer Änderungen wurde die GeschO des Reichstages durch Bekanntmachung vom 31. März 1931 (RGBl. I I S. 221) neu verkündet. § 54 Abs. 2 GeschO erhielt folgende Fassung: „Ein Antrag, der feststellen will, ob der Reichskanzler, die Reichsregierung oder einzelne Mitglieder der Reichsregierung das nach Art. 54 der Reichsverfassung erforderliche Vertrauen besitzen oder nicht, darf nur in der Form eingebracht werden: ,Der Reichstag entzieht dem Reichskanzler (der Reichsregierung, dem Reichsminister) das Vertrauen'." Vgl. Staatsleben II S. 80 f.; Max Kühnemann, Die Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages vom Rechtsstandpunkt, in: RuL 5 (1931) S. 92 ff. 2 15 So Vizepräsident des Reichstages Stöhr (NSDAP), vgl. Bracher, aaO. S. 387; Stampfer, aaO. S. 601. 2 16 s. o. S. 78 f. 217 Hellpach, aaO. S. 19.
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Reichstags dessen bewußt werden, daß der Sturz einer Regierung nur dann verantwortet werden kann, wenn Vorsorge getroffen ist, daß eine andere Regierung an deren Stelle treten kann." 218 . Carl Schmitt hatte die Lehre aufgestellt, daß einem Mißtrauensvotum mit der Auflösung des Reichstages geantwortet werden dürfe, und zwar unter Gegenzeichnung des ab votierten Kanzlers 219 . Carl Schmitt nahm damit einen der Gedanken des parlamentarischen Systems des Grundgesetz insoweit voraus, als er einen Zusammenhang konstruierte zwischen der Regierungsunfähigkeit eines die Regierung stürzenden Reichstages und der Auflösung. Von diesem Argument her begründete Carl Schmitt seine Lehre: Man könne nicht „verlangen, daß der Zustand der Regierungsunfähigkeit oder Regierungsunwilligkeit des Reichstags als eine Art verfassungsgesetzlich geschützten Rechtsgutes behandelt wird" 2 2 0 . Wenn es auch Carl Schmitt mehr daran gelegen gewesen sein dürfte, mit seinen Theorien den Parlamentarismus zu treffen, als ihn zu bessern, sahen sich doch eine Reihe die Weimarer Reichsverfassung prinzipiell bejahender Autoren sachlich weitgehend mit ihm einig. Richard Thoma 221 , Walter Jellinek 222 , Adolf Arndt 2 2 3 , Wertheimer 224 und andere waren bereit, die Reichstagsauflösung auf Mißtrauensvotum zuzulassen, und zwar in der Form, daß der gestürzte Kanzler selbst und sofort die Auflösungsverfügung gegenzeichnen dürfte. Anschütz war zurückhaltender und wollte die Gegenzeichnung durch einen gestürzten Kanzler nur zulassen, wenn dieser vorher zum geschäftsführenden Regierungschef ernannt war 2 2 5 . Doch stimmte auch Anschütz der Lehre Carl Schmitts, daß die Wirkung eines Mißtrauensvotums, dessen „Motive sich offen widersprechen" 226, beschränkt werden müsse, „de lege ferenda vollauf 4 zu 2 2 7 . Eine besondere Form der Auflösung auf Mißtrauensvotum wurde von Wolgast in seiner Lehre von der „Kampfregierung" 228 vertreten: Die Auflösungsverfügung sollte durch einen ad hoc ernannten Kanzler, dem das Parlament noch keine Zeit gehabt hatte, das Mißtrauensvotum auszusprechen, gegengezeichnet werden. Da das Vorhandensein des parlamentarischen Vertrauens nach herrschender Lehre so218 Graf zu Dohna, aaO. S. 35. 219 s. o. S. 78 f. 220 Schmitt, Verfassungslehre, S. 358. 221 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 506. 222 Walter Jellinek, Verfassung und Verwaltung des Reiches und der Länder, Leipzig und Berlin 1925, S. 87. - Diese Vorwegnahme Carl Schmitts erregte seinerzeit - im Gegensatz später zu dessen Lehren - kaum Aufsehen. Vgl. hierzu Wolgast, Parlamentarismus, S. 77. 223 Arndt, Verfassung des deutschen Reiches, S. 168. 224 Wertheimer, aaO. S. 133. 225 Anschütz, Weimarer Reichs Verfassung, S. 198. 226 Schmitt, Verfassungslehre, S. 345. 227 Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 322. 228 s. o. S. 64 f.
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lange fingiert wurde, wie noch kein ausdrücklicher Mißtrauensbeschluß gefaßt war 2 2 9 , erschien der Kampfkanzler vollauf berechtigt, die Gegenzeichnung zu leisten. Die Fingierung des Vertrauens bis zum Beweise des Gegenteils war eine erste Einschränkung des Parlamentarismus in der Verfassungswirklichkeit und in der Verfassungstheorie gewesen. Auf dieser ersten Einschränkung wurde mit der Konstruktion einer Gegenzeichnung der Auflösung nach einem Mißtrauensvotum durch eine wirklich nur im fiktiven Vertrauen des Reichstags stehende Regierung eine weitere Einschränkung basiert 230 . Da es als nicht befriedigend empfunden wurde, die als notwendig erkannte Einschränkung des aus heterogenen Motiven entspringenden Regierungssturzes auf eine bloße Verfassungsinterpretation zu stützen, schlugen einige Autoren die Einfügung entsprechender Verfassungsartikel in den Text der Weimarer Reichsverfassung vor. Graf zu Dohna etwa regte an, den Art. 54 WRV wie folgt zu ergänzen: „Die Verpflichtung zum Rücktritt besteht nicht, wenn der Reichspräsident von seiner Befugnis, den Reichstag aufzulösen, Gebrauch macht." 231
Wertheimer befürwortete eine Einschränkung des „inkongruenten" Mißtrauensvotums durch eine entsprechende Abänderung der Verfassung 232. Ein Reformvorschlag Richard Thomas lag etwa in Richtung des Gedankens des konstruktiven Mißtrauensvotums. Unter lebhafter Zustimmung 233 regte er an, daß eine Änderung des Art. 54 WRV beschlossen werde, „welche für die Entziehung des Vertrauens einen ausdrücklichen, einheitlich begründeten Beschluß fordert" 234 . Angesichts der parlamentarischen Schwierigkeit einer Verfassungsreform lenkten sich die Blicke auf die weniger änderungsgeschützte Ebene der GeschO des Reichstages. Walter Jellinek führte im April 1927 in einem Vortrag aus, „daß eine Reform ... erwünscht sei . . . , damit verhindert werde, daß eine Regierung durch zwei Flügelparteien gestürzt werde, die unfähig seien, die neue Regierung zu bilden. Vielleicht könnten geschäftsordnungsmäßige Bestimmungen hier helfen .. . " 2 3 5 Jellineks Anregungen wurden in einer unter seinem Referat angefertigten Dissertation von Fritz Feller 236 näher ausgestaltet. Eine Korrektur des Parlamenta229 s. o. S. 103. 230 Nach Wolgast, Parlamentarismus, S. 118, sollte die Kampfregierung ein Mittel sein, „um zu erreichen, daß eine Regierung vorhanden ist, ohne daß es nötig wäre, dem Wortlaut des Art. 54 entgegenzuhandeln". Ebenso ders., Kampfregierung, S. 26. 231 Dohna, aaO. S. 28. 232 Wertheimer, aaO. S. 135. 233 Anschütz, Weimarer Reichsverfassung, S. 322; Marschall v. Bieberstein, § 45 S. 539 u. a. 234 Thoma, HdbDStR I § 43 S. 511. 235 Zit. n. Wolgast, Parlamentarismus, S. 106 Anm. 36. 236 Feller, aaO.
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rismus auf der Ebene der GeschO sei zulässig - hierbei verbinde sich dem Vorteil der leichten Erreichbarkeit der Nachteil der leichten Aufhebbarkeit 237 - , weil Art. 54 Abs. 2 eigentlich eine Bestimmung mit GeschO-Charakter und nur zufällig hinter den Schutzwall der Verfassung geraten sei 2 3 8 . Unter Abänderung des § 54 Abs. 1 GeschO des Reichstages sollten Anträge auf Mißtrauensvotum nur noch selbständig, nicht mehr zu jedem Punkt der Tagesordnung gestellt werden dürfen. Die Zahl der erforderlichen Unterschriften, derzeit 15, sollte rigoros erhöht werden 2 3 9 . Eine ausführliche Begründung könnte verlangt werden, wenn auch die Möglichkeit gegeben sei, daß sich divergierende Parteien taktisch auf eine Begründung einigen 240 . Durch Einführung einer Verweisung auf § 36 GeschO des Reichstages in § 54 sollten drei getrennte Lesungen eines Mißtrauensantrages notwendig gemacht werden. Fristverkürzungen sollten nur bei Einstimmigkeit zulässig sein und die Abstimmung sollte namentlich erfolgen 241 . Fellers Anregungen hatten kein praktisches Ergebnis. Der einzige praktische Versuch, den Parlamentarismus der Weimarer Reichsverfassung zu reformieren, blieb ein Antrag der DVP vom 14. Dezember 1928 (Drucks. IV. WP 1928, Nr. 704), wenn man von den gegen den Parlamentarismus als solchen gerichteten Bemühungen der DNVP und des Stahlhelms absieht 242 . Art. 54 WRV sollte dahin geändert werden, daß dem Reichskanzler oder einem Reichsminister das Mißtrauen nur mit Zweidrittelmehrheit ausgesprochen werden könnte. Nur für ein mit der Schlußabstimmung des Haushaltsplanes eingebrachtes Mißtrauensvotum sollte einfache Mehrheit genügen. Ferner sollte der Reichstag zu Beginn der Amtszeit einer Regierung dieser das Vertrauen aussprechen müssen243. Der Antrag der DVP fand „unfreundliche Aufnahme" 244 und wurde abgelehnt245. 237 238 239 240
AaO. AaO. AaO. AaO.
S. 82, 84. S. 29. S. 85 f. S. 69.
241 AaO. S. 86 ff. Feller schlug die folgende Neufassung des § 54 GeschO des Reichstages vor: „Der Antrag, dem Reichskanzler und den Reichsministern oder einem von ihnen das Vertrauen zu entziehen, kann nur als selbständiger Antrag eingebracht werden. Er muß ausführlich begründet sein und mindestens die Unterschriften von einem Drittel der Abgeordneten tragen. Er ist wie ein Gesetzentwurf zu erledigen. Die Schlußabstimmung muß eine namentliche sein. Die Fristen zwischen Verteilung der Drucksache und der ersten Beratung, zwischen der ersten und der zweiten Beratung und zwischen der zweiten und der dritten Beratung können nur dann verkürzt werden, wenn kein Mitglied widerspricht." 242 s. o. S. 76 f. 243 Der Antrag ist im Wortlaut abgedr. bei Wolgast, Parlamentarismus, S. 152 ff.; auszugsweise auch Staatsleben II S. 108. 244 Gmelin, Einführung in das Reichsverfassungsrecht, S. 150. 245 Daß er jedoch von der DVP für wichtig gehalten wurde, zeigt ein Vorstandsbeschluß der Partei vom 26. Februar 1929, der seine Weiterverfolgung forderte. Vgl. Gustav Stresemann, Vermächtnis. Der Nachlaß in 3 Bänden, hrsg. v. Henry Bernhard, Berlin 1932/33, 3. Bd., S. 433.
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In der Präsidial-Ära war die Lage einer Verfassungsreform im parlamentarischen Sinne nicht günstig. Das Feld wurde von denen beherrscht, die lediglich „das Staatsoberhaupt von der Fessel des Art. 54 der Weimarer Verfassung ... befreie n " 2 4 6 und die präsidiale Autokratie verabsolutieren wollten 247 . Ein Vorschlag zur „Rettung des parlamentarischen Systems" wurde im Jahre 1932 von Karl Pfister vorgebracht 248. Nach Lage der Dinge mußte ihr Ausgangspunkt eine Überspielung der Mehrheitsunfähigkeit des Reichstages sein. In kleinen Wahlkreisen sollten parteipolitisch unabhängige Persönlichkeiten gewählt werden, die als sogenannter „Vertretertag" 249 den Reichstag zu bestellen hätten 250 . Der stärksten Gruppe im Parlament sollte willkürlich die absolute Mehrheit der Sitze zugeteilt werden 251 . Angesichts der dringenden Gefahr, daß auf diesem Wege eine Diktaturpartei billig mit der absoluten Mehrheit im Parlament beschenkt werden konnte 252 , vermochte Pfister nur auf den Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung" hinzuweisen253. Im gleichen Jahre legte Eugen Schiffer einen Rohentwurf einer neuen Verfassung vor 2 5 4 . Angesichts der parlamentarischen Verhältnisse hielt Schiffer es für unumgänglich, die Regierung „an den Reichspräsidenten heranzurücken" 255. In der jederzeitigen Stürzbarkeit der Regierung, auch „durch Mehrheiten . . . , die, in sich gegensätzlich und gespalten, völlig außerstande sind, ihrerseits eine Regierung von Dauer zu bilden und zu tragen", sah Schiffer die „Wurzel des Übels" 256 . Es zu kurieren, sollte nach Art. 30 des Schifferschen Verfassungsentwurfs 257 der Reichstag lediglich das Recht haben, „die Entlassung der Regierung zu verlangen". Lehnte der Reichspräsident dies ab, sollte der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit die Absetzung des Reichspräsidenten durch Volksabstimmung verlangen dürfen. Wurde sie beschlossen, mußte der Reichspräsident mit seiner Regierung gehen, wurde die Absetzung abgelehnt, galt der Reichstag als aufgelöst. Die Reformbestrebungen an der Weimarer Reichsverfassung und die Arbeit des Parlamentarischen Ratses haben eine gleichgerichtete Tendenz: Einschränkung der Regierungskrisen, Begünstigung der Stabilität der Regierungen und Betonung der Verantwortlichkeit auch des Parlaments für die Regierung neben der Verantwort246
Müller, Reichs Verfassungsreform, Sp. 529. Vgl. die Vorhaben der Regierung Papen, o. S. 85 f. 248 Karl Pfister, Die Rettung des parlamentarischen Systems, Tübingen 1931. 24 9 AaO. S. 4, 30. 2 50 AaO. S. 31.
247
2
51 AaO. S. 32. 5 AaO. S. 40. 2 53 AaO. S. 41.
2 2
2 4
^ 55 2 56 2 57
2
Vgl. Schiffer, AaO. S. 21. AaO. S. 19. AaO. S. 39.
Die neue Verfassung, S. 35 ff.
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lichkeit der Regierung vor dem Parlament. Nur mündeten alle Weimarer Reformbestrebungen am Parlamentarismus wegen der nicht zu beseitigenden Grundstruktur der Weimarer Reichsverfassung in eine Stärkung des Reichspräsidenten aus 258 . Der Vorschlag Schiffers, der bewußt der in der Staatspraxis herausgebildeten präsidialen Prärogative gerecht werden wollte, zeigt dies in aller Deutlichkeit. Die verständliche Bereitschaft, Fakten hinzunehmen, in Verbindung mit gerade in demokratischen Kreisen verbreiteten Illusionen über die Institution des Reichspräsidenten 2 5 9 , veranlaßte auch demokratisch-parlamentarisch eingestellte Autoren, die Machtsteigerung des Reichspräsidenten nicht nur hinzunehmen, sondern zu bejahen 2 6 0 . Den entscheidenden Schritt, den die Weimarer Verfassungsdiskussion nicht einmal zu empfehlen wagte, tat der Parlamentarische Rat. Er schaltete das Staatsoberhaupt weitgehend aus dem parlamentarischen System aus. Im Rahmen dieser Grundsatzentscheidung aber nahm der Parlamentarische Rat in verschiedenen Richtungen Ansätze und Anregungen aus der Verfassungsentwicklung und Verfassungsdiskussion von Weimar auf. Der Entschluß des Parlamentarischen Ratses, über die Existenz einer Regierung nur eine qualifizierte Mehrheit des Parlaments entscheiden zu lassen, ist im Antrag der DVP vorgeformt worden. Das Zusammenspiel von Mißtrauensvotum und Auflösung, von der Weimarer Reichsverfassung nicht geregelt, von der Theorie in einen mühsamen und nicht immer aus einer Verpflichtung gegenüber dem Parlamentarismus motivierten Zusammenhang gebracht, wurde für den Fall der parlamentarischen Arbeitsunfähigkeit zugelassen, aber auch auf diesen beschränkt. Der Grundgedanke des konstruktiven Mißtrauensvotums, daß nur eine homogene, arbeitsfähige Opposition zum Regierungssturz berechtigt sein solle 261 , klang in der Weimarer Verfassungsdiskussion häufig an. Doch konnte sich die Weimarer Staatsrechtslehre im allgemeinen nicht entschließen, die Arbeitsfähigkeit der Opposition durch die Koppelung von Regierungssturz und Regierungsbildung zu institutionalisieren. Man ging hier zu sehr von den Vorstellungen des Zweiparteiensystems als der natürlichen Grundlage eines Wechsels zwischen Regierung und Opposition aus. Hier bleiben beim Regierungswechsel Regierung und Opposition klar voneinander geschieden und es gibt keine Überschneidungen. Dies war nach der Eigenart des deutschen Parteiensystems nicht möglich 262 - schon die Existenz 258 Vgl. hierzu Bölling, aaO. S. 164. 259 s.u. S. 126 Anm. 8. 260 Vgl. hierzu Otto Koellreutter, Der deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat, Tübingen 1927, S. 29; Wertheimer, aaO. S. 135 f. 261 Bereits Reichskanzler v. Bethmann Hollweg habe der Frage der Homogenität einer für einen Mißfallensbeschluß stimmenden Opposition Beachtung geschenkt, berichtet Wolgast, Parlamentarismus, S. 3 Anm. 8. 262 So schon Kaufmann, aaO. S. 208 f. Die Forderung, daß die Opposition nach einem Regierungssturz die Regierung übernehmen solle, bezeichnete Scheuner, aaO. S. 363, als eine
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verfassungsfeindlicher Flügelgruppen verbot dies. So glaubte man, konstatieren zu müssen: „Das deutsche Verfassungsrecht kennt nicht den Satz, daß nach dem Sturz einer Regierung der Führer der Opposition ... mit der Regierungsbildung zu beauftragen sei." 2 6 3 Man übersah, daß die Ablösung der scheidenden Regierung durch die neue durchaus auch in der Form vor sich gehen kann, daß sich Teile der bisherigen Regierungskoalition der bisherigen Opposition anschließen und mit dieser die neue Regierung bilden. So kann auch das konstruktive Mißtrauensvotum des Grundgesetzes funktionieren, solange es kein Zweiparteiensystem gibt. Carl Schmitt stand durchaus gegen die herrschende Auffassung, als er das Postulat aufstellte, daß die „Möglichkeit des Vertrauens und einer neuen Regierungsbildung ... das notwendige und vernünftige Korrelat eines Mißtrauensvotums" sei 2 6 4 . Reichskanzler Hermann Müller sagte am 15. November 1928 im Reichstag: „Sie haben jederzeit Gelegenheit, gegen die ... Regierung ein Mißtrauensvotum einzubringen. Allerdings ... haben dann diejenigen, die für das Mißtrauensvotum stimmen,... dafür zu sorgen, daß eine neue Regierung kommt." 2 6 5 Ganz klar nahm Alexander Rüstow in einem 1929 an der Hochschule für Politik in Berlin gehaltenen Vortrag den Grundgedanken des konstruktiven Mißtrauensvotums vorweg, indem er forderte, daß „der Reichskanzler nur dadurch gestürzt werden könne, daß sich eine positive Mehrheit auf einen Nachfolger vereine" 266 . Ernst Fraenkel machte im Jahre 1932 den Vorschlag, „einem Mißtrauensvotum des Parlaments gegen den Kanzler oder Minister nur dann die Rechtsfolge des Rücktrittszwanges zu verleihen, wenn die Volksvertretung das Mißtrauensvotum mit dem positiven Vorschlag an den Präsidenten verbindet, eine namentlich präsentierte Persönlichkeit an Stelle des gestürzten Staatsfunktionärs zum Minister zu "267, 268
ernennen Die Anregung Fraenkels weist deutlich auf eine weitere Schwierigkeit hin, die sich bei einer Einfügung einer Regelung von der Art des konstruktiven Mißtrau„gedankenlose Einfügung einer im Zweiparteiensystem selbstverständlichen Regel am Unrechten Ort". 263 Wolgast, Parlamentarismus, S. 68. Vgl. die Zurückweisung des Anspruches des Deutschnationalen Parteivorsitzenden Hergt, nach dem Sturz der Regierung Stresemann mit der Regierungsbildung betraut zu werden, durch Ebert o. S. 61 f. Dieser Vorgang wurde von der Staatsrechtslehre immer wieder als Beweis für die angeführte These herangezogen. 264 Schmitt, Verfassungslehre, S. 344. Hiergegen Wolgast, Parlamentarismus, S. 90; Wertheimer, aaO. S. 132. 265 In der Debatte um den Bau des Panzerschiffes A. Zit. Wolgast, Parlamentarismus, S. 73 Anm. 6 a. 2